Festschrift 190 Jahre Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover 9783504387600

Der Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover e.V. ist einer der ältesten deutschen „Advokaten-Vereine“. Gegründet wurde e

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German Pages 235 [236] Year 2022

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Festschrift 190 Jahre Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover
 9783504387600

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Festschrift 190 Jahre Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover

„Justizpalast“ mit Verbindungsgang Mit freundlicher Genehmigung des Amtsgerichts Hannover

FESTSCHRIFT

190 JAHRE RECHTSANWALTS- UND NOTARVEREIN HANNOVER 1831-2021 Herausgegeben durch den

Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover

2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06066-4 ©2021 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Der heutige Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover e.V. wurde am 1.7.1831 gegründet. Er ist mit seinen 190 Jahren einer der ältesten – wenn nicht gar der älteste – Rechtsanwaltsverein in Deutschland. Der Verein ist genau 40 Jahre – mithin also zwei Generationen – älter als der Deutsche Anwaltverein, der erst im Jahr der Reichsgründung 1871 entstand. Der Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover e.V. kann sich damit wohl als einer der wesentlichen Wegbereiter der deutschen Anwaltschaft sehen. Diese stolze Tradition hat uns veranlasst, zu seinem „runden“ Geburtstag eine Festschrift herauszugeben. Wir freuen uns, ausgewiesene Praktiker und Wissenschaftler für diesen Band gewonnen zu haben. Das Themen­ spektrum spannt einen Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft. So ist ein Jubiläum immer ein Anlass zurück, aber auch voraus zu schauen. Was sieht man hier beim Anwaltsverein? Schaut man auf die Anfänge im Jahre 1831 zurück, so möchte man meinen, einiges habe sich gar nicht so sehr verändert: Damals wütete mit der sog. Asiatischen Cholera in Europa eine Jahrhundertseuche, die gerade im Sommer 1831 Preußen und Hannover traf. Um den Ruf des Advokatenstandes war es nicht zum Besten bestellt, was auch ein Grund für die Gründung des Vereins war. Die Qualität der Ausbildung von Juristen war Gegenstand großer Besorgnis. Ein Blick zurück zeigt also, dass manche Themen einfach immer irgendwie aktuell sind … In seiner langen Geschichte hat der Verein alle Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert mitgemacht. Die großen und kleinen Umwälzungen der letzten 190 Jahre haben auch unseren Verein stets betroffen. Da war die Reichseinigung 1871 und in ihrer Folge die Schaffung der Reichsjustizgesetze, die uns bis heute begleiten. Einer der Väter der ZPO, Dr. Gerhard Adolph Wilhelm Leonhardt, war auch einmal Mitglied unseres Vereins. Dann waren da die Einschnitte durch zwei Weltkriege und eine Diktatur von 1933 bis 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte der Aufbau des modernen bundesrepublikanischen Rechtsstaates, wie wir ihn heute kennen.

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Vorwort

All diese Entwicklungen hat unser Verein erlebt und mit bescheidenen Beiträgen selbst und über den Deutschen Anwaltverein auch ein wenig mitgestaltet. Und schaut man nun in die Zukunft: Alles ändert sich! Die Digitalisierung macht auch vor dem Anwaltsberuf nicht halt. Wie muss die Anwaltschaft auf solche Veränderungen reagieren? Grundsätzliche Fragen zur Rolle der Anwälte im Rechtsstaat werden (immer) wieder zu diskutieren sein. Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO). Aber was heißt das im 21. Jahrhundert? Der Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover e.V. war immer ein Forum für Austausch innerhalb der Anwaltschaft, aber auch zwischen Anwaltschaft, Justiz und Gesellschaft. Dieser wichtigen Funktion wollen wir auch in Zukunft nach besten Kräften gerecht werden. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre dieser Festschrift. Hannover, 1.7.2021 Für den Vorstand Rechtsanwalt Henning Schröder Vorsitzender

Rechtsanwalt und Notar Dr. Andreas Blunk Stellvertretender Vorsitzender

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Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Angela Dageförde Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im ­Vergaberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Christian Deckenbrock und Thomas Keß Deutschlands erste Tax Law Clinic in Hannover? . . . . . . . . . . . . . . 37 Martin Henssler Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertre­ tung – insbesondere von verbundenen Unternehmen – . . . . . . . . . 59 Volker Römermann Anwaltliche Core Values: Eine Abrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Ulrich Stobbe Die Gründung des Advokatenvereins zu Hannover, ein Schritt auf dem Weg vom Stand zur Profession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Volkert Vorwerk Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof – wer ist das, was ist das? . 189 Christian Wolf Der Anwaltsschriftsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

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Verzeichnis der Autoren Prof. Dr. Angela Dageförde ist Honorarprofessorin an der Leibniz Universität Hannover. Sie berät und vertritt als Fachanwältin für Vergaberecht, Bau- und Architektenrecht sowie Verwaltungsrecht seit Jahren öffentliche Auftraggeber und Unternehmen bundesweit in Ausschreibungen sowie in Nachprüfungsverfahren vor Vergabekammern und OLG-Vergabesenaten. Sie ist international als Referentin in Seminaren und Schulungen sowie als Autorin vor allem zum Vergaberecht hervorgetreten. Dr. Christian Deckenbrock wurde nach Studium und Referendariat in Köln an der Universität zu Köln mit einer Arbeit zum Thema „Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen“ promoviert, für die ihm 2009 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der CBH-Promotionspreis verliehen wurde. Er ist Akademischer Rat am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln (Geschäftsführender Direktor Prof. Dr. Martin Henssler). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen das Rechtsdienstleistungsrecht und das anwaltliche Berufsrecht: Er ist u.a. Mitherausgeber eines Kommentars zum RDG (Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021) und Mitautor eines Kommentars zur BRAO (Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019). Er begleitet den Verein zur Förderung der Steuerrechtswissenschaft (VFS) Hannover ehrenamtlich beim Aufbau einer Tax Law Clinic. Prof. Dr. Martin Henssler ist Professor für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht, Wirtschaftsrecht und Anwaltsrecht an der Universität zu Köln und geschäftsführender Direktor sowohl des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht als auch des Instituts für Anwaltsrechts und des Europäischen Zentrums für Freie Berufe. Neben einer Vielzahl von Herausgeberschaften und Veröffentlichungen aus den Gebieten des Arbeitsrechts, des Bürgerlichen Rechts und Gesellschaftsrechts ist er Mitherausgeber des Henssler/Streck, Handbuch des Sozietätsrechts und des Henssler/Prütting, Kommentar zur Bundesrechtsanwaltsordnung.

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Verzeichnis der Autoren

Dr. Thomas Keß ist  Richter am Niedersächsischen Finanzgericht, Lehrbeauftragter der Leibniz Universität Hannover am Lehrstuhl für Zivilrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht sowie Vorsitzender des VFS Hannover – Verein zur Förderung der Steuerrechtswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Außerdem ist er Mitherausgeber des Schwarz/ Pahlke, einem Großkommentar zum Steuerverfahrensrecht, und Autor im Lenski/Steinberg, einem der Standardkommentare zum Gewerbesteuerrecht. Prof. Dr. Volker Römermann ist Honorarprofessor und Direktor des Forschungsinstituts für Anwaltsrecht der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG und als Berater, Vertreter, Autor und Referent vor allem auf drei Gebieten bekannt: Im Gesellschaftsrecht, im Insolvenzrecht und im Recht der freien Berufe, insbesondere im Berufsrecht der Rechtsanwälte. Rechtsanwalt und Notar a.D. Dr. Ulrich Stobbe ist Ehrensenator der Leibniz Universität Hannover. Er ist Mitautor in mehreren berufsrechtlichen Werken und Verfasser zahlreicher Aufsätze, u.a. zur EG-Rechtschutzversicherungsrichtlinie, zur EG-Verbraucherschutzrichtlinie, zur Fachanwaltsordnung, zur Juristenausbildung, zur Anwaltshaftung und zur Berufshaftpflichtversicherung. Prof. Dr. Volkert Vorwerk ist Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, seine Schwerpunkte dort sind Privates Bauvertragsrecht, Bank- und Kapitalmarktrecht und Gewerblicher Rechtsschutz. Er ist zudem Honorarprofessor an der Leibniz Universität Hannover, Institut für Prozessrecht und anwaltsorientierte Ausbildung. Publizistisch ist er u.a. als Herausgeber des Standardwerkes „Das Prozessformularbuch“, aber auch als Autor im anwaltlichen Berufsrecht ausgewiesen. Prof. Dr. Christian Wolf ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Zivilprozessrecht der Leibniz Universität Hannover. Er ist geschäftsführender Leiter des Instituts für Prozess- und ­Anwaltsrecht (IPA) und neben einer Vielzahl weiterer Publikationen Mitherausgeber des Kommentars zum anwaltlichen Berufsrecht Gaier/ Wolf/Göcken/Ott. X

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht Angela Dageförde

I. Vorbemerkung 1. Wirtschaftliche Bedeutung des ­öffentlichen Einkaufs und des ­Vergaberechts 2. Zielsetzungen des Vergaberechts II. Entwicklung des Vergaberechts in Deutschland 1. Haushaltsrechtliches Vergaberecht 2. Zweiteilung des deutschen ­Vergaberechts 3. Konsequenz der Zweiteilung hinsichtlich des Rechtsschutzes 4. Komplexität des Vergaberechts III. Vergaberecht als Betätigungsfeld für Anwälte und Anwältinnen IV. Rolle des Anwalts im Vergaberecht auf Seiten der öffentlichen Auftraggeber 1. Wer sind öffentliche Auftraggeber? 2. Die anwaltliche Tätigkeit als Berater und Vertreter der öffentlichen Auftraggeber

a) Begleitung und Durchführung von Vergabeverfahren b) Anwaltliche Vertretung in Vergabenachprüfungsverfahren c) Anwaltliche Vertretung vor ­Zivilgerichten in Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes und im Schadensersatzprozess d) Anwaltliche Vertretung im ­Verwaltungsprozess e) Schulungen, Seminare f) Fazit V. Rolle des Anwalts im Vergaberecht auf Seiten der Bieter 1. Begleitung in Vergabeverfahren 2. Anwaltliche Vertretung in Ver­ gabenachprüfungsverfahren 3. Anwaltliche Vertretung vor Zivilgerichten in Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes und im Schadensersatzprozess VI. Fazit

I. Vorbemerkung 1. Wirtschaftliche Bedeutung des öffentlichen Einkaufs und des Vergaberechts Die öffentliche Hand vergibt pro Jahr Aufträge im Umfang zwischen 280 bis 360 Milliarden Euro, um Güter und Leistungen einzukaufen, die sie zur

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Angela Dageförde

Erfüllung der ihr zugewiesenen Aufgaben benötigt.1 Europaweit beträgt der Anteil des öffentlichen Beschaffungswesens etwa 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.2 Mit seinen Normen, Regeln und Vorschriften bestimmt das Vergaberecht, was ein Träger öffentlicher Gewalt bei der entgeltlichen Beschaffung der von ihm zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben benötigten Bau-, Liefer- oder Dienstleistungen zu beachten hat. Im Gegensatz zum Einkauf durch Privatpersonen ist der Weg bis zur Erteilung des Auftrags in einem förmlichen Verfahren – dem Vergabeverfahren – vorgezeichnet. Am Ende dieses Verfahrens steht regelmäßig ein Zuschlag.3 Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen hoheitlichen Akt, sondern um die Annahme des Auftrages des Bestbieters per Willenserklärung. Obwohl das Vergaberecht in Deutschland ganz überwiegend dem Privatrecht zugeordnet worden ist, handelt es sich um ein Referenzgebiet des allgemeinen Verwaltungsrechts.4 Die Vorschriften des Vergaberechts als „Recht der Verwaltung“ bestimmen also die Vorgehensweise, die einzuhalten ist, wenn beispielsweise eine Gemeinde ein Bauunternehmen mit der Errichtung eines neuen Verwaltungsgebäudes beauftragt oder eine Schulbehörde für die Schulen im Landkreis eine Lernmanagementsoftware mittels privatrechtlichem Vertrag anschaffen möchte. In der Summe bildet das Vergaberecht als Teilgebiet des öffentlichen Wirtschaftsrechts eine Rechtsmaterie, die mit prägender Kraft einen Ausschnitt im Umfang von etwa einem Fünftel der Gesamtwirtschaft determiniert.5 Aus der Sicht der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer (gleichgültig, ob es sich um große internationale oder um kleine und mittelständische Unternehmen handelt) besteht die Bedeutung des Vergaberechts darin, dass hierdurch ein großer Sektor des gesamten Wirtschaftskreislaufes speziellen 1 Die Schätzung entstammt BMWi, Schlaglichter der Wirtschaftspolitik  – Monatsbericht September 2017, S.  10 (abzurufen unter https://www.bmwi.de/Re​ daktion/DE/Publikationen/Schlaglichter-der-Wirtschaftspolitik/schlaglich​ ter-der-wirtschaftspolitik-09-2017.pdf?__blob=publicationFile&v= 45). 2 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 1 Rz. 15; EU-Kommission, Public Procurement Indicators, 2014 (abgerufen unter https://ec.europa.eu/internal_market/ scoreboard/performance_per_policy_area/public_procurement/). 3 Dageförde in Dageförde, Handbuch für den Fachanwalt für Vergaberecht, 1. Aufl. 2019, S. 36. 4 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 1 Rz. 8.  5 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 1 Rz. 15. 2

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht

Regelungen unterworfen wird. Dadurch erhöht sich aufs Ganze gesehen die Chancengerechtigkeit, und zwar insbesondere dort, wo der Staat der wichtigste oder gar der einzige infrage kommende Auftraggeber ist (wie etwa in Teilen des Straßenbauwesens oder im Verteidigungssektor). Für den einzelnen Wirtschaftsteilnehmer kann dies je nach Ausgang des Verfahrens zu Erfolgen, aber auch zu Misserfolgen führen, wobei in beiden Fällen nicht unerhebliche Transaktionskosten entstehen.6 Daraus ergibt sich zwanglos die enorme und permanent wachsende Bedeutung des Vergaberechts für die berufliche Praxis. Dies gilt sowohl für die Verwaltung in Bund, Ländern und Kommunen sowie bei den zahlreichen weiteren Einrichtungen des öffentlichen Sektors als auch für die Unternehmen auf der Bieterseite und schließlich für die Anwaltskanzleien, die in diesem Bereich beraten.7 An den vorstehenden Ausführungen wird bereits  – unabhängig von der Einbindung auf das Vergaberecht spezialisierter Rechtsanwälte – erkennbar, dass die Vergabepraxis zu einem Großteil nicht in den Händen von Juristen8, sondern von Kaufleuten, Technikern, Verwaltungsmitarbeitern usw. liegt.9 Das Vergaberecht gilt daher seit jeher als „Laienrecht“.10 Dies liegt auch daran, dass das öffentliche Beschaffungswesen in Deutschland dezentral organisiert ist. Unabhängig von der Möglichkeit, den Beschaffungsbedarf in Einkaufsgemeinschaften zu bündeln oder sich – beispielsweise als kleinere Stadt oder Gemeinde – der zentralen Vergabestelle „seines“ Landkreises zu bedienen, beschafft im Grundsatz jede Verwaltungseinheit für sich selbst. Dies führt dazu, dass grundsätzlich jede Verwaltungseinheit eigenes vergaberechtliches Know-how vorhalten muss. Dass es sich bei den mit der Beschaffung befassten Bediensteten der öffentlichen Hand nicht immer um Juristen handelt, liegt auf der Hand. 6 So Burgi in der sehr lesenswerten Einführung in Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 1 Rz. 14 m.w.N. 7 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 1 Rz. 16. 8 In diesem Beitrag wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet. Sie bezieht sich auf Personen beiderlei Geschlechts. 9 Rittner, EuZW 1999, 677, 678; Dageförde, Umweltschutz durch öffentliche Auftragsvergabe, 1. Aufl. 2004, S. 11. 10 Rittner, EuZW 1999, 677, 678; Dageförde, Umweltschutz durch öffentliche Auftragsvergabe, 1. Aufl. 2004, S. 11. 3

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Angela Dageförde

2. Zielsetzungen des Vergaberechts Ursprünglich sollten die vergaberechtlichen Regeln und Vorschriften in Deutschland lediglich gewährleisten, dass der Staat mit dem Geld, das er vom Steuer- oder Gebührenzahler zwangsweise erhoben hat, sparsam und wirtschaftlich umgeht und es nicht „verschwendet“, wenn er Lieferungen und Leistungen einkauft, um seine Aufgaben zu erfüllen.11 Diese herkömmlichen deutschen haushaltsrechtlichen Regeln wurden in den letzten Jahrzehnten maßgeblich erweitert durch europäisches Vergaberecht, das ein weiteres Ziel verfolgt. Das EU-Vergaberecht bezweckt nicht primär die sparsame Verwendung öffentlicher Mittel, sondern die Vollendung des EU-Binnenmarkts. Auf europäischer Ebene soll der grenzüberschreitende Wettbewerb gefördert und Chancengleichheit für alle Unternehmen in der gesamten Europäischen Union gewährleistet werden. Der Zugang zu öffentlichen Aufträgen für alle Unternehmer in allen Mitgliedstaaten kam als weiteres Ziel hinzu.12 Es geht mithin auch um Wettbewerbs- und Verteilungsgerechtigkeit. Damit hat sich das Vergaberecht in Deutschland vom reinen Haushaltsrecht hin zum Wettbewerbsrecht entwickelt; die Ausschreibungsverwaltung ist damit zugleich eine Wettbewerbsverwaltung.13 Dabei dient das Vergaberecht mit seinen detaillierten Regeln, die die Pflicht zur transparenten Ausschreibung im Geheimwettbewerb konkretisieren, letztlich auch in erheblichem Maße der Korruptionsvermeidung und -bekämpfung. Denn das öffentliche Beschaffungswesen mit seiner ökonomischen Dimension kann als ein korruptionsgefährdeter Bereich eingestuft werden, wie gerade die jüngsten Beispiele gezeigt haben, bei denen angeblich Provisionszahlungen in sechs- und siebenstelliger Höhe für die Vermittlung von Lieferverträgen für Schutzausrüstung zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie geflossen sind.14 Die rechtssichere Durchführung einer EU-weiten Ausschreibung für die Anschaffung dieser Schutzausrüstung durch eine seriöse Fachanwaltskanzlei hätte lediglich einen Bruchteil dieser Provisionszahlungen gekostet. Zu Recht sieht die EU-Kommission 11 Dageförde, Einführung in Vergaberecht, 2. Aufl. 2013, S. 2 12 Dageförde, Einführung in Vergaberecht, 2. Aufl. 2013, S. 2. 13 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 6 Rz. 9.  14 So z.B. die Berichterstattung der Tagesschau über die Maskenaffäre in der CDU, abgerufen unter https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/masken​ geschaefte-provisionen-101.html oder durch die NZZ, abgerufen unter https:// www.nzz.ch/international/unruhe-in-unionsfraktion-wegen-provisionszah​ lungen-fuer-masken-ld.1605324 (Abruf jeweils am 5.4.2021). 4

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht

in der Bekämpfung von „Günstlingswirtschaft und Korruption“ ein zentrales Reformfeld.15 Neben diesen Zielen hat in den letzten zwei Jahrzehnten die sog. „strategische Beschaffung“ an Bedeutung gewonnen, bei der wirtschafts-, umweltund sozialpolitische Zwecke mitverfolgt werden. Im Rahmen der GWB-Novellen in den Jahren 2009 und 2016 wurde der gesetzgeberische Wille insbesondere in § 97 Abs. 3 GWB dahingehend deutlich erkennbar, dass auch gesellschaftliche und politische Anliegen bei der vergaberechtlichen Beschaffungstätigkeit bedeutsam sein sollen.16 Der Thematik der „vergabefremden Zwecke“, die zuvor jahrelang äußerst kontrovers diskutiert worden war, wurde damit seitens des Gesetzgebers eine Absage erteilt. Mit der strategischen Beschaffung wird die Kaufkraft der öffentlichen Hand genutzt: Durch die Nachfragemacht der öffentlichen Hand sollen eine nachhaltige Beschaffung angestrebt und strategische Ziele gefördert werden. Der Staat dient hierbei als Vorreiter und Vorbild. Durch den umweltfreund­ lichen und sozialverträglichen Einsatz von Steuergeldern für qualitativ hochwertige Produkte und innovative Leistungen können neue Märkte geschaffen werden. Dadurch sollen zum einen Anreize für private Unternehmen geschaffen werden, solche Leistungen zu entwickeln und anzubieten. Zum anderen dient die staatliche Beschaffungstätigkeit aufgrund der enormen ökonomischen Dimension des öffentlichen Beschaffungssektors auch als Instrument der Umwelt- und Sozialpolitik.17

II. Entwicklung des Vergaberechts in Deutschland Auch die Bundesrepublik Deutschland musste sich dem Verständnis des europäischen Richtliniengebers vom Beschaffungswesen beugen und die Vergabekoordinierungs- sowie die dazugehörenden Rechtsmittelrichtlinien in nationales Recht umsetzen. Am schwersten tat sich Deutschland dabei mit der Einführung des vergaberechtsspezifischen Rechtsschutzes für Bieter: Hier bedurfte es zur vollständigen Umsetzung unter anderem zweier Verurteilungen durch den EuGH. 15 Kommissionsbericht über die Korruptionsbekämpfung in der EU, 3.2.2014 (KOM (2014) 38 final, S. 25 ff.). 16 Dageförde in Dageförde, Handbuch für den Fachanwalt für Vergaberecht, 1. Aufl. 2019, S. 75. 17 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 7 Rz. 11. 5

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Angela Dageförde

1. Haushaltsrechtliches Vergaberecht Ursprünglich waren die für die Vergabe öffentlicher Aufträge geltenden Regelungen in Deutschland ausschließlich im Haushaltsrecht verankert. Bei diesen Vorschriften handelt es sich um reine Verwaltungsvorschriften, die die korrekte und wirtschaftliche Verwendung öffentlicher Gelder sichern sollen. Adressat des Haushaltsrechts ist allein die öffentliche Hand. Einen vergaberechtsspezifischen Primärrechtschutz mit dem Ziel, die Erteilung eines Auftrags an den Konkurrenten zu verhindern, gab es deshalb im deutschen Vergaberecht traditionell nicht.18 Aus dem Haushaltsrecht ergibt sich für Unternehmer und andere Teilnehmer an Vergabeverfahren weder ein Anspruch auf Einhaltung der Vergabevorschriften noch die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes.19 Die Entwicklung der europäischen Union und insbesondere des europäischen Binnenmarkts wirkte sich auf das Vergaberecht in Deutschland in erheblichem Maße aus. Seit den 1970er Jahren wurden bzw. werden Richtlinien zur Harmonisierung des Vergaberechts in den EU-Mitgliedstaaten erlassen. Diese verfolgen das Ziel, das öffentliche Auftragswesen für den Wettbewerb in der Europäischen Gemeinschaft zu öffnen. Zu diesem Zweck sehen die die Koordinierungsrichtlinien ergänzenden Überwachungsrichtlinien Rechtsschutz zugunsten der Bieter vor: Bei Verletzungen der Ver­ gaberegeln durch den öffentlichen Auftraggeber sollen Bieter den Zuschlag an den Konkurrenten verhindern können, indem sie ein sogenanntes Nach­ prüfungsverfahren beantragen.20 In seinen ersten Umsetzungsversuchen, die Anfang der 1990er Jahre erfolgten, entschied sich der deutsche Gesetzgeber noch gegen den soeben beschriebenen gerichtlichen Rechtsschutz für die Bieter, zu dem die Richtlinien die Mitgliedstaaten verpflichten. In Deutschland wurde befürchtet, dass sich regelmäßig die Zuschlagserteilung durch langwierige Gerichtsverfahren von sich benachteiligt fühlenden Bietern verzögern würde, wodurch die öffentliche Hand dann nicht mehr zeitnah die für ihre Arbeit erforderlichen Mittel würde beschaffen können.21 Folge hiervon waren mehrere Vertragsverletzungsverfahren, die zwischen 1993 und 1995 gegen Deutschland eingeleitet wurden. Der EuGH betonte, dass die Richtlinien 18 Dageförde, NZBau 2020, 72, 72. 19 Dageförde, Einführung in Vergaberecht, 2. Aufl. 2013, S. 17. 20 Dageförde, Umweltschutz durch öffentliche Auftragsvergabe, 1. Aufl. 2004, S. 20. 21 Dageförde, Einführung in Vergaberecht, 2. Aufl. 2013, S. 21. 6

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht

über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge den Bieter vor Willkür des öffentlichen Auftraggebers schützen sollen. Dies sei nur gewährleistet, wenn sich der Bieter gegenüber dem Auftraggeber auf diese Vorschriften berufen und deren Verletzung vor den nationalen Gerichten geltend machen könne.22 Mit der sog. „haushaltsrechtlichen“ Lösung versuchte der deutsche Gesetzgeber die Mängel des ersten Umsetzungsversuchs aus dem Jahr 1990 zu beheben. Der Gesetzgeber führte unter anderem ein einheitliches Nachprüfungsverfahren für alle öffentlichen Auftraggeber und für Vergaben oberhalb der in den EG-Vergaberichtlinien bestimmten Auftragsvolumina ein. Dadurch wurden zwei Instanzen für die Überprüfung einzelner Vergabeverfahren geschaffen, welche jedoch keine Gerichte, sondern Teile der Verwaltung darstellten. Ihre Kompetenzen waren begrenzt und weder Bieter noch öffentliche Auftraggeber hatten irgendwelche Antrags- oder Beteiligungsrechte. Dadurch genügte der deutsche Gesetzgeber jedoch nicht den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs. Gleichzeitig führte die Vergabepraxis zu einem Handelsstreit mit den USA: Mangels effektiven Rechtsschutzes konnten zwei US-amerikanische Unternehmen die gleichberechtigte Teilnahme an einem Vergabeverfahren nicht erzwingen, wodurch Handelssanktionen gegenüber Deutschland angedroht wurden. Wegen der Forderungen aus Brüssel, Luxemburg und Washington entschied sich die Bundesregierung für die Überarbeitung des deutschen Vergaberechts. Das Gesetz zur Reform des Vergaberechts, das am 1.1.1999 in Kraft trat, führte zu einer grundlegenden Änderung des deutschen Vergaberechts sowie zu einem Paradigmenwechsel.23 Erstmalig wurden subjektive Rechte der Bieter anerkannt: Nach § 97 Abs. 6 GWB haben sie einen Anspruch darauf, dass die Bestimmungen des Vergabeverfahrens eingehalten werden. Zur Verfolgung dieser subjektiven Rechte wurde das heute in §§ 155, 160 ff. GWB geregelte Nachprüfungsverfahren als Rechtsschutzinstrument geschaffen.24 Durch die Anerkennung subjektiver Rechte der Bieter und die Einführung eines vergaberechtsspezifischen Rechtsschutzes wurde das Vergaberecht 22 EuGH v. 28.10.1999 – C-81/98, NJW 2000, 569, 569 ff.; EuGH v. 11.8.1995 – C-433/93, NVwZ 1996, 367, 367 ff.; vgl. Dageförde, NZBau 2020, 72, 72. 23 Dageförde, Umweltschutz durch öffentliche Auftragsvergabe, 1.  Aufl. 2004, S. 20. 24 Dageförde, NZBau 2020, 72, 72. 7

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Angela Dageförde

seit 1999 immer mehr zu einem Betätigungsfeld für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. 2. Zweiteilung des deutschen Vergaberechts Für die Umsetzung der europäischen vergaberechtlichen Bestimmungen wurde eine Konzeption im Rahmen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gewählt. Auf ein eigenständiges Vergabegesetz wurde verzichtet.25 Die europäischen vergaberechtlichen Bestimmungen finden sich daher auf nationaler Gesetzesebene im 4. Teil des GWB (§§ 97 ff.) wieder sowie auf Verordnungsebene primär in der Vergabeverordnung. Die europäischen Vergabekoordinierungsrichtlinien beanspruchen allerdings nur oberhalb bestimmter Auftragsvolumina, den sogenannten Schwellenwerten, Geltung. Die Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen Ver­ gaberegelungen nur für solche Aufträge, die bestimmte Schwellenwerte erreichen, hat zu einer Zweiteilung des deutschen Vergaberechts geführt mit der Konsequenz, dass vergleichbare Sachverhalte, die sich allein aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung voneinander unterscheiden, unterschiedlichen Rechtssystemen unterworfen sind.26 Aus Sicht des europäischen Gesetzgebers besteht nicht die Notwendigkeit, kleinere Aufträge unionsweit auszuschreiben. Zum einen dürfte der Aufwand für öffentliche Auftraggeber, für kleinere Aufträge ein EU-weites Vergabeverfahren durchzuführen, zu groß sein und zum anderen dürften sich Unternehmen kaum grenzüberschreitend um Aufträge bemühen, deren Volumen aufgrund der geringen Größe nicht attraktiv genug sind. Im Vorfeld einer beabsichtigten Auftragsvergabe ist daher zunächst zu prüfen, ob sie allein nationalen Vorgaben standzuhalten hat oder ob sie in den in §§ 97 ff. GWB auf der Grundlage der EU-Vergaberichtlinien definierten Anwendungsbereich fällt, mit der Folge, dass ein europaweites Vergabeverfahren i.S.d. §§ 97 Abs. 6, 127 GWB, § 4 VGV erfolgen muss.

25 Dageförde, Umweltschutz durch öffentliche Auftragsvergabe, 1.  Aufl. 2004, S. 24. 26 Dageförde, Umweltschutz durch öffentliche Auftragsvergabe, 1.  Aufl. 2004, S. 24 f. 8

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht

Die maßgeblichen EU-Schwellenwerte ergeben sich aus Art. 4 der Richtlinie 2014/24/EU, auf den § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB „in der jeweils geltenden Fassung“ verweist. Sie werden alle zwei Jahre angepasst. Seit dem 1.1.2020 gelten im Wesentlichen folgende Schwellenwerte: 5.350.000 Euro für Bauaufträge sowie für (Bau- und Dienstleistungs-) Konzessionen, 214.000 Euro für Liefer- und Dienstleistungsaufträge, 139.000 Euro für Liefer- und Dienstleistungsaufträge, die von obersten und oberen Bundesbehörden vergeben werden sowie 428.000 Euro für Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Sektoren Trinkwasser-, Energieversorgung und Verkehrsleistungen. Es wird geschätzt, dass etwa 90 Prozent der in Deutschland jährlich durchgeführten Vergabeverfahren Aufträge betreffen, deren Auftragsvolumen die EU-Schwellenwerte nicht erreichen, so dass nicht ein EU-weites, sondern lediglich ein nationales Vergabeverfahren durchzuführen ist.27 Der Großteil des öffentlichen Beschaffungswesens in Deutschland hat mithin keine EU-weite, sondern lediglich eine bundesweite Dimension. 3. Konsequenz der Zweiteilung hinsichtlich des Rechtsschutzes Diese Zweiteilung hat auch Konsequenzen für den Rechtsschutz der Bieter. Für die Rechtschutzmöglichkeiten der Bieter ist maßgeblich, ob sie an einem Vergabeverfahren im Unter- oder Oberschwellenbereich teilnehmen. Im Oberschwellenbereich besteht ein Primärrechtsschutzsystem. Nach § 97 Abs. 6 GWB hat ein Bieter Anspruch auf Einhaltung der Bestimmungen des Vergaberechts. Zur Verfolgung dieses subjektiven Rechts steht als Rechtsschutzinstrument das in §§  155, 160  ff. GWB geregelte Nachprüfungsverfahren zur Verfügung. Die Nachprüfung der Vergabeverfahren öffentlicher Auftraggeber für Aufträge oberhalb der Schwellenwerte erfolgt in zwei Instanzen. Zunächst findet ein verwaltungsinternes Verfahren vor den Vergabekammern statt. Sie erlassen Verwaltungsakte in Form von Beschlüssen. Gegen diese Entscheidungen können Bieter die zweite Instanz beschreiten, indem sie das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu den

27 Die Schätzung entstammt BMWi, Schlaglichter der Wirtschaftspolitik – Monatsbericht September 2017, S. 10 (abzurufen unter https://www.bmwi.de/Re​ daktion/DE/Publikationen/Schlaglichter-der-Wirtschaftspolitik/schlaglich​ ter-der-wirtschaftspolitik-09-2017.pdf?__blob=publicationFile&v= 45). 9

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Angela Dageförde

Vergabesenaten bei den Oberlandesgerichten nach § 116 GWB einlegen, wodurch ein gerichtliches Verfahren in Gang gesetzt wird.28 Sowohl der Nachprüfungsantrag in erster Instanz als auch die sofortige Beschwerde in zweiter Instanz bewirken grundsätzlich, dass der Zuschlag seitens der Vergabestelle zunächst nicht erteilt werden darf, §§ 115 Abs. 1, 118 Abs. 1 GWB. Unterhalb der EU-Schwellenwerts unterliegt ein Auftrag der traditionellen deutschen Rechtslage. Der deutsche Gesetzgeber hat bewusst davon abgesehen, ein dem Oberschwellenbereich entsprechendes Primärrechtsschutzsystem zu schaffen.29 Öffentliche Auftraggeber bleiben über das Haushaltsrecht und die dazu ergangenen Verwaltungsvorschriften gehalten, für Aufträge die Bestimmungen der VOB/A, 1. Abschnitt, und der UVgO (in manchen Bundesländern noch die der VOL/A) einzuhalten. Bieter haben in diesem Bereich jedoch keinen Anspruch gegenüber den öffentlichen Auftraggebern auf Einhaltung der Vorschriften. Ferner gibt es bisher grundsätzlich keine Pflicht für öffentliche Auftraggeber, die unterlegenen Bieter in einem Vergabeverfahren vor Zuschlagserteilung an den Bestbieter zu informieren und ihre Absage zu begründen.30 Daher steht einem Bieter grundsätzlich kein Primärrechtsschutz zur Verfügung, der auf die Verhinderung des Zuschlags gerichtet ist.31 Fühlt sich ein Bieter benachteiligt, so hat er den benötigten Eilrechtsschutz vor den ordentlichen Gerichten zu suchen. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Jahr 2017 klargestellt, dass für Streitigkeiten über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen mit einem Auftragswert unterhalb der EU-Schwellenwerte nicht der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Da die Vergabe öffentlicher Aufträge privatrechtlich erfolgt, ist der ordentliche Rechtsweg zu beschreiten.32 Unterlegenen Bietern stehen somit die „normalen“ zivilprozessualen Instrumente wie Schadensersatzklage, Antrag auf einstweilige Verfügung u.a. zur Verfügung.33 28 Dageförde, NZBau 2020, 72, 72. 29 Dageförde, NZBau 2020, 72, 72. 30 Heuvels, NZBau 2005, 570, 570. 31 Dageförde, Umweltschutz durch öffentliche Auftragsvergabe, 1.  Aufl. 2004, S. 26. 32 BVerwG v. 2.5.2007 – 6 B 10/07, NJW 2007, 2275, 2275 ff. 33 Dageförde in Dageförde, Handbuch für den Fachanwalt für Vergaberecht, 1. Aufl. 2019, S. 572. 10

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht

Ein Bieter, der an einem Verfahren zur Vergabe eines Auftrags mit einem geschätzten Wert unterhalb des EU-Schwellenwerts teilnimmt und sich übergangen fühlt, ist hinsichtlich des begehrten Rechtschutzes jedoch mehreren Problemen ausgesetzt. Im Regelfall erfährt er, wenn überhaupt, erst nach Vertragsschluss von der Zuschlagserteilung. Eine grundsätzliche Vorabinformationspflicht besteht nämlich gerade nicht. Selbst wenn der unterlegene Bieter rechtzeitig von der Zuschlagserteilung erfährt, trifft ihn der zivilprozessuale Beibringungsgrundsatz. Da ein Bieter im zivilprozessualen Eilrechtschutz jedoch kein Recht zur Akteneinsicht in die Vergabeakten hat, gelingt es ihm in der Regel nicht, einen Vergabeverstoß substantiiert darzulegen und einen Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen.34 Sofern der Bieter erst nach Vertragsschluss von der Zuschlagserteilung erfährt, ist er wegen des Grundsatzes „pacta sunt servanda“ auf den Sekundärrechtsschutz beschränkt. Er kann lediglich Schadensersatzansprüche geltend machen. Auch hier stößt die gerichtliche Durchsetzung wegen des Beibringungsgrundsatzes auf erhebliche praktische Probleme.35 Dieser erschwert es dem Bieter nicht unerheblich, umfassend vorzutragen und seinen Anspruch substantiiert zu begründen.36 Die damit einhergehende faktische Ungleichbehandlung der an Vergabeverfahren teilnehmenden Unternehmen hinsichtlich ihrer Rechtsschutzmöglichkeiten wird seit Jahren kritisiert37 – trotz eindeutiger Aussagen des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte im Jahr 2006 über die ungleichen Rechtsschutzmöglichkeiten im Unterschwellen- und Oberschwellenbereich zu entscheiden. In seinem Urteil vom 13.6.2006 befand es, dass eine Vergabeentscheidung kein Akt öffentlicher Gewalt sei.38 Die Ausgestaltung der Vergabeverfahren unterhalb des EU-Schwellenwerts genüge dem Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, denn es liege im gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum, die zügige Ausführung des Vergabeverfahrens sowie die Rechtssicherheit des erfolgreichen Bieters dem Primär34 Dageförde, NZBau 2020, 72, 73. 35 Pache in Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, 3. Aufl. 2019, BHO § 55 Rz. 210, 229. 36 Dageförde, NZBau 2020, 72, 77. 37 Pache in Pünder/Schellenberg, Vergaberecht, 3. Aufl. 2019, BHO § 55 Rz. 197 ff.; Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 26 Rz. 3 ff. 38 BVerfG v. 3.6.2006 – 1 BvR 1160/03, NVwZ 2006, 1396, Rz. 50 ff. 11

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rechtsschutz des erfolglosen Bieters vorzuziehen.39 Den Gesetzgeber treffe keine verfassungsrechtliche Pflicht, die faktisch realisierbare Möglichkeit eines Primärrechtsschutzes im Vergaberecht zu schaffen.40 Ebenso wenig sei der allgemeine Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, denn die Differenzierung aufgrund der Schwellenwerte sei nicht zu beanstanden. Der allgemeine Gleichheitssatz verlange nämlich nicht, dass der Gesetzgeber unter mehreren möglichen Lösungsmöglichkeiten die zweckmäßigste oder vernünftigste wählt.41 Die Kritik und Diskussion in der Fachwelt wurde 2017 durch ein obiter dictum des OLG Düsseldorf42 wieder angestoßen. Der 27. Senat hatte über die Vergabe einer Dienstleistungskonzession durch einen öffentlichen ­Auftraggeber zu entscheiden und befand in seinem Beschluss, dass der Gleichbehandlungssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG auch außerhalb des Anwendungsbereichs der EU-Vergabekoordinierungsrichtlinien bzw. unterhalb der Schwellenwerte und unterhalb einer Binnenmarktrelevanz erfordere, dass derartige Verträge in einem transparenten und diskriminierungsfreien Verfahren zu vergeben sind.43 Im Weiteren bemüht das OLG Düsseldorf dann nicht Art. 3 GG und setzt sich damit nicht dem Vorwurf aus, die Festlegungen des BVerfG aus dem Jahr 2006 zu missachten. Vielmehr hält das OLG Düsseldorf zunächst noch einmal fest, dass der eigentlich bei Verstößen gegen ein transparentes und diskriminierungsfreies Vergabeverfahren zur Verfügung stehende Zivilrechtsweg (genauer: der Antrag auf einstweilige Verfügung gemäß §§ 935, 940 ZPO, der auf das Zuschlagsverbot gerichtet ist) in aller Regel mangels Verfügungsgrundes ins Leere läuft, wenn der Zuschlag schon erteilt ist. Sodann kommt quasi der „Kunstgriff “ des OLG Düsseldorf: Wenn nämlich der vom Auftraggeber bereits geschlossene Vertrag nichtig oder unwirksam sei, könne der Verfügungsgrund sehr wohl gegeben sein. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit des geschlossenen Vertrages leitet das OLG Düsseldorf aus § 134 BGB her wegen der Verletzung eines (ungeschriebenen) Gesetzes. Dieses ungeschriebene Gesetz beziehungsweise die ungeschriebene Pflicht stellt für das OLG Düsseldorf die Informations- und Wartepflicht vor Zuschlagserteilung dar. Diese Pflicht

39 BVerfG v. 3.6.2006 – 1 BvR 1160/03, NVwZ 2006, 1396, Rz. 66 ff. 40 BVerfG v. 3.6.2006 – 1 BvR 1160/03, NVwZ 2006, 1396, 1396, Rz. 74. 41 BVerfG v. 3.6.2006 – 1 BvR 1160/03, NVwZ 2006, 1396, 1396, Rz. 89. 42 OLG Düsseldorf v. 13.12.2017 – I-27 U 25/17, NZBau 2018, 168. 43 OLG Düsseldorf v. 13.12.2017 – I-27 U 25/17, NZBau 2018, 168 Rz. 14. 12

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entnimmt das OLG einer Entscheidung des EuG aus dem Jahr 2011, wonach „die gemeinsamen Verfassungen der Mitgliedsstaaten und die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten einen effektiven und vollständigen Schutz gegen Willkür des öffentlichen Auftraggeber fordern.“

Ferner haben einige wenige Bundesländern in ihrem Landesvergaberecht die Position der Bieter in unterschwelligen Vergabeverfahren mittlerweile verbessert.44 Dazu zählen Thüringen (§ 19 ThürVgV), Mecklenburg-Vorpommern (§12 VgV M-V), Sachsen (§ 8 SächsVergabeG), Sachsen-Anhalt (§ 19 LSA LVG) und seit 2020 auch Niedersachen (§ 16 NdsTVergG). Die aktuell weitestgehenden Regelungen enthalten die Landesvergabegesetze der Bundesländer Thüringen und Sachsen-Anhalt, wo es neben einer Vorabinformations- und Wartepflicht auch einen vergaberechtsspezifischen Rechtsschutz gibt. 4. Komplexität des Vergaberechts Durch die nunmehr seit über 15 Jahren einheitliche Rahmenvorgabe der EU-Vergaberichtlinien, aber auch durch die Rechtsprechung der europäischen Gerichte, weisen die EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich ihres jeweiligen Vergaberechts eine zunehmende Konvergenz bei den Zwecken und Grundsätzen des Vergabeverfahrens, der Vergabeverfahrensarten und weiteren Details wie Eignungs- und Zuschlagskriterien auf.45 Der deutsche Bundesgesetzgeber stützt seine Gesetzgebung in §§  97  ff. GWB,46 der ­Vergabeverordnung (VgV)47 sowie weiterer Verordnungen wie etwa der Sektorenverordnung (SektVO)48 oder der Konzessionsvergabeverordnung 44 Dageförde, NZBau 2020, 72, 73. 45 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 5 Rz. 11. 46 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen i.d.F. der Bekanntmachung v. 26.6.2013 (BGBl. I S. 1750, 3245), zuletzt geändert durch Art. 5 Abs. 3 des Gesetzes v. 9.3.2021 (BGBl. I S. 327). 47 Verordnung über die Vergabe öffentlicher Aufträge (Vergabeverordnung  – VgV) v. 12.4.2016 (BGBl. I S. 624), zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes v. 12.11.2020 (BGBl. I S. 2392). 48 Verordnung über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen im Bereich des Verkehrs, der Trinkwasserversorgung und der Energieversorgung (Sektorenverordnung – SektVO) v. 12.4.2016 (BGBl. I S. 624, 657), zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes v. 12.11.2020 (BGBl. I S. 2392). 13

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Angela Dageförde

(KonzVgV)49 auf die Kompetenztitel in Art.  70 Abs.  1 GG (dort Nr.  11 „Recht der Wirtschaft“, Nr. 16 „Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“) sowie Art. 109 Abs. 4 GG („gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht“). Unterhalb der in § 106 GWB niedergelegten Schwellenwerte für die Vergabe von Aufträgen gelten jedoch weder die §§ 97 ff. GWB noch die VgV; eine Pflicht zur Umsetzung europäischen Sekundärrechts besteht in diesem Bereich nicht, wohl aber gelten auch hier die primärrechtlichen Vorgaben. Für die Vergabe von Aufträgen mit Auftragsvolumina unterhalb der EU-Schwellenwerte hat der Bund lediglich Bestimmungen für seinen eigenen Aufgabenbereich getroffen. Die Beschaffungstätigkeit auf Landes- und kommunaler Ebene wird durch Bestimmungen des jeweiligen Bundeslandes reglementiert.50 Gemeinsame Basis ist § 30 HGrG,51 der wie § 55 Bundeshaushaltsordnung52 und die Landeshaushaltsordnungen53 bestimmt, dass dem Abschluss von Verträgen über Lieferungen und Leistungen „eine öffentliche Ausschreibung oder eine beschränkte Ausschreibung mit Teilnahmewettbewerb“ vorausgehen muss, es sei denn, „die Natur des Geschäfts oder besondere Umstände“ rechtfertigen eine Ausnahme. Hinsichtlich der Einzelheiten wird sodann zum Beispiel in § 55 Abs. 2 BHO und § 55 Abs. 2 LHO Niedersachsen, aber auch in den landesrechtlichen Vorschriften (Landesvergabegesetz oder Rechtsverordnung) auf „einheitliche Richtlinien“ verwiesen. Darüber findet sodann die VOB/A 1. Abschnitt54

49 Verordnung über die Vergabe von Konzessionen (Konzessionsvergabeverordnung – KonzVgV) v. 12.4.2016 (BGBl. I S. 624, 683), zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes v. 10.7.2018 (BGBl. I S. 1117). 50 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 4 Rz. 28.  51 Gesetz über die Grundsätze des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder (Haushaltsgrundsätzegesetz – HGrG v. 19.8.1969 (BGBl. I S. 1273), zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes v. 14.8.2017 (BGBl. I S. 3122). 52 Bundeshaushaltsordnung (BHO) v. 19.8.1969 (BGBl. I S. 1284), zuletzt geändert durch Art. 212 der Verordnung v. 19.6.2020 (BGBl. I S. 1328). 53 Z.B. §  55 der Niedersächsischen Landeshaushaltsordnung (LHO) i.d.F. v. 30.4.2001 (Nds. GVBl. 2001, S. 276), zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes v. 10.12.2020 (Nds. GVBl. 2020, S. 477). 54 Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil  A Fassung 2019, Bekanntmachung v. 31.1.2019 (BAnz. AT 19.2.2019 B2). 14

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht

oder die Unterschwellenvergabeordnung (UVgO)55, die in den meisten Bundesländern bereits die VOL/A56 abgelöst hat, Anwendung. Subjektive Rechte zugunsten der Bieter enthalten diese jedoch nicht; solche können sich in diesem Zusammenhang nur aus Art. 3 Abs. 1 GG oder aus europäischem Primärrecht ergeben. Alle Bundesländer – mit Ausnahme Bayerns – haben zudem eigene Landesvergabegesetze geschaffen, die inhaltlich insbesondere auf Aspekte wie Mindestlohn und Tariftreue oder Umweltaspekte abzielen, aber auch zum Teil spezielle Rechtsschutzaspekte konstituieren,57 so auch in Niedersachsen das Niedersächsische Tariftreue- und Vergabegesetz (NTVergG).58 Das Rechtsgebiet Vergaberecht in Deutschland darf mithin als „zersplittert“ bezeichnet werden. Anders als beispielsweise in Österreich59 finden sich die Regelungen zur öffentlichen Beschaffung bedauerlicherweise nicht in einem (bundes-) einheitlichen Vergabegesetz, sondern in einer Vielzahl von Rechtsvorschriften; ein vollständiger Überblick und eine rechtssichere Einordnung des konkreten Einzelfalls in die jeweils einschlägige Vorschrift überfordert den einzelnen in der Verwaltung tätigen Rechtsanwender, erst recht die auf Anbieterseite agierenden Unternehmen und ihre Mitarbeiter oftmals (zu Recht). Erneut sei in diesem Zusammenhang betont, dass Vergaberecht grundsätzlich als „Laienrecht“ gilt, also gerade nicht der Anwendung durch juristisch ausgebildete Personen vorbehalten ist.

55 Verfahrensordnung für die Vergabe öffentlicher Liefer- und Dienstleistungsaufträge unterhalb der EU-Schwellenwerte (Unterschwellenvergabeordnung – UvgO) – Ausgabe 2017 – v. 2.2.2017 (BAnz. AT 7.2.2017 B1). 56 Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen (VOL/A) 2009, Teil A: Allgemeine Bestimmungen für die Vergabe von Leistungen (VOL/A) v. 20.11.2009 (BAnz. Nr. 196a v. 29.12.2009). 57 Eine Gesamtdarstellung der Landesvergabegesetze findet sich in Gabriel/Krohn/ Neun, HdbVergabeR, § 88 (mit Stand 2017). 58 Niedersächsisches Gesetz zur Sicherung von Tariftreue und Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (Niedersächsisches Tariftreue- und Vergabegesetz – NTVergG) v. 31.10.2013, zuletzt neu gefasst durch Art. 1 des Gesetzes v. 20.11.2019 (Nds. GVBl. S. 354). 59 Bundesvergabegesetz 2018 (BVergG 2018; BGBl. I Nr. 65/2018); den Landesgesetzgebern in Österreich obliegt seit 2002 allein die Regelung der Nachprüfung von Entscheidungen öffentlicher Auftraggeber im Bereich der Länder und Gemeinden. 15

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III. Vergaberecht als Betätigungsfeld für Anwälte und Anwältinnen Nicht zuletzt die soeben aufgezeigte strukturelle Komplexität des Vergaberechts trägt sicherlich dazu bei, dass dem Vergaberecht in der anwaltlichen Tätigkeit eine große und permanent wachsende Bedeutung zukommt. Seinen Ausgangspunkt fand diese Entwicklung freilich in der (von der EU erzwungenen) Umsetzung des vergaberechtspezifischen Primärrechtsschutzes in Deutschland im Jahr 1999 und der sich daran anknüpfenden „Professionalisierung“ des Beschaffungswesens infolge der Überprüfung und Beanstandung von Vergabeverfahren durch Nachprüfungsinstanzen. Die Befürchtung des deutschen Gesetzgebers, dass quasi „reihenweise“ Vergabeverfahren nicht zum Abschluss gebracht werden könnten, weil unterlegene Bieter gegen die Vergabestellen im Nachprüfungsverfahren vorgehen, hat sich sicher nicht bewahrheitet. Gleichwohl gingen schon im Jahr 1999 insgesamt 395 Nachprüfungsanträge bei den Vergabekammern in Deutschland ein, im Jahr 2019 betrug diese Zahl 799 Anträge. Der Höchstwert der Verfahrenseingänge bei den Vergabekammern wurde bisher im Jahr 2009 mit 1275 Verfahrenseingängen erreicht. Der Mittelwert von 981,7 Verfahrenseingänge pro Jahr in den Jahren 1999 bis 2019 belegt die Bedeutung des Vergaberechts für die anwaltliche Praxis.60 Die meisten im Vergaberecht tätigen Rechtsberater verfügen entweder über einen Hintergrund im klassischen Verwaltungsrecht, im Kartellrecht oder im Bau- und Architektenrecht. Seit 2015 besteht die Möglichkeit, sich zum „Fachanwalt für Vergaberecht“ zu qualifizieren.61 Die Anzahl der Fachanwälte für Vergaberecht steigt seither merklich: Im Jahr 2016 gab es im Bundesgebiet 13 Fachanwälte und Fachanwältinnen, zum 1.1.2020 hatten hingegen schon 304 Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen den Titel inne.62 Im Vergleich zum Vorjahr betrug der Zuwachs mehr als elf Prozent.63

60 Vgl. http://www.forum-vergabe.de/fileadmin/user_upload/Downloads/1999_ bis_2019_Statistik_Nachpruefungsverfahren.pdf. 61 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 1 Rz. 16. 62 Vgl. https://brak.de/w/files/04_fuer_journalisten/statistiken/2020/entwicklung_​ fachanwaltschaften_1960-2020.pdf. 63 Vgl. https://brak.de/w/files/04_fuer_journalisten/statistiken/2020/fachanwalt​ statistik_2020.pdf. 16

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IV. Rolle des Anwalts im Vergaberecht auf Seiten der öffentlichen Auftraggeber 1. Wer sind öffentliche Auftraggeber? Da das Vergaberecht für öffentliche Auftraggeber eine Reihe von Pflichten enthält, ist es von großer Bedeutung, die in Betracht kommenden Akteure zutreffend als öffentliche Auftraggeber zu klassifizieren. Für den Bereich oberhalb der EU-Schwellenwerte bestimmt §  99 GWB, wer öffentlicher Auftraggeber ist und definiert damit den persönlichen Anwendungsbereich des von den EU-Vergabekoordinierungsrichtlinien geprägten Bereichs der EU-weiten Vergabeverfahren. § 99 Nr. 1 GWB stuft die Gebietskörperschaften und deren Sondervermögen als öffentliche Auftraggeber ein. Dieser Klassifizierung liegt eine institutionelle Betrachtungsweise zugrunde, denn zu den Gebietskörperschaften gehören der Staat, die Länder sowie die Kommunen, d.h. die Gemeinden und Kreise. Diese stellen die klassischen und zahlenmäßig bis heute dominierenden Auftraggeber dar.64 Die Anwendung des Vergaberecht ist jedoch nicht auf die formal staat­ lichen oder staatsnahen Stellen wie Landkreise oder Städte beschränkt, ­sondern bindet auch die Vergabestellen ein, die in formaler Hinsicht zwar keine staatlichen Stellen im engeren Sinne sind, aber hinsichtlich ihrer Funktion staatliche Aufgaben wahrnehmen.65 Denn nach § 99 Nr. 2 GWB sind auch alle juristischen Personen des öffentlichen und des privaten Rechts, die zu dem besonderen Zweck gegründet wurden, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art zu erfüllen, sofern sie nach § 99 Nr. 2 lit. a) bis c) GWB zusätzlich das Merkmal der besonderen Staatsgebundenheit erfüllen, öffentliche Auftraggeber. Das Merkmal der besonderen Staatsgebundenheit stellt sicher, dass Einrichtungen, die über eine enge Verbindung zu dem Staat, den Gebietskörperschaften oder anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts verfügen, auch als öffentliche Auftraggeber behandelt werden.66 Die besondere Staatsgebundenheit kann sich nach §§ 99 Nr. 2 lit. a) bis c) GWB durch eine überwiegende Finanzie64 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 8 Rz. 3. 65 Dageförde, Einführung in Vergaberecht, 2. Aufl. 2013, S. 6; Pünder in Pünder/ Schellenberg, Vergaberecht, 3. Aufl. 2019, GWB § 99 Rz. 13f. 66 EuGH v. 3.10.2000 – C-380/98, NZBau 2001, 218 ff., Rz. 20. 17

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Angela Dageförde

rung, durch die Aufsicht über die Unternehmensleitung oder durch eine mehrheitliche Organbesetzung ergeben. Des Weiteren werden Verbände als öffentliche Auftraggeber nach § 99 Nr. 3 GWB qualifiziert, sofern deren Mitglieder unter § 99 Nr. 1 oder 2 GWB fallen. Dies sind etwa kommunale Abfallzweckverbände wie zum Beispiel der Abfallzweckverband Region Hannover oder der Abfallzweckverband Hildesheim, in dem sich Stadt und Landkreis Hildesheim zusammengeschlossen haben, um gemeinsam die gesetzliche Aufgabe der Abfallentsorgung zu erfüllen. Es liegt auf der Hand, dass ein Zusammenschluss zweier klassischer öffentlicher Auftraggeber (Stadt und Landkreis) ebenso wie seine beiden Akteure dem Anwendungsbereich des Vergaberechts unterworfen ist. Ferner bindet §  99 Nr.  4 GWB unter bestimmten Voraussetzungen auch Empfänger von Subventionen an das Vergaberecht.67 Neben juristischen Personen des öffentlichen Rechts können dies auch natürliche Personen oder juristische Personen des Privatrechts sein. Sie werden deshalb als öffentliche Auftraggeber qualifiziert, weil es im Ergebnis keinen rechtlichen Unterschied machen darf, ob die staatlichen oder dem Staat zuzurechnende Auftraggeber ihre Aufträge selbst vergeben oder die Mittel als Subventionen an Dritte weitergeben, die dann damit Aufträge vergeben.68 In Verfahren, in denen die EU-Schwellenwerte nicht erreicht werden, ist nach dem maßgeblichen Haushaltsvergaberecht zu bestimmen, wer öffentlicher Auftraggeber ist. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung besteht nicht. Öffentliche Auftraggeber im Sinne des Haushaltsvergaberechts sind grundsätzlich alle, die mit öffentlichen Geldern umgehen. Neben dem Bund, den Ländern und den Kommunen können sonstige Einrichtungen öffentliche Auftraggeber sein, sofern bei Letzteren besondere Umstände hinzutreten. Solche Umstände können sich aus dem Zuwendungsrecht, den Landesvergabegesetzen oder § 113 BHO ergeben.69

67 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 8 Rz. 3. 68 Dreher in Immenga/Mestmäcker/Dreher, Wettbewerbsrecht, 6.  Aufl. 2021, GWB § 99 Rz. 161. 69 Burgi, Vergaberecht, 3. Aufl. 2021, § 25 Rz. 6. 18

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht

2. Die anwaltliche Tätigkeit als Berater und Vertreter der öffentlichen Auftraggeber a) Begleitung und Durchführung von Vergabeverfahren Ein ganz wesentlicher Aspekt der anwaltlichen Tätigkeit auf Seiten der klassischen oder auch funktionalen öffentlichen Auftraggeber, der Sektorenauftraggeber und der Zuwendungsempfänger ist die korrekte und ­damit rechtssichere Durchführung von EU-weiten, aber auch nationalen Vergabeverfahren. Hier berät der mandatierte Rechtsanwalt häufig „von Anfang an“ bereits bei der Konzeptionierung eines Beschaffungsvorgangs, wenn es um Fragen der Schätzung des Auftragsvolumens, der Bereitstellung der Haushaltsmittel, die Wahl der Verfahrensart (EU-weit oder national? Vollständig wettbewerbsoffen oder mit eingeschränktem Teilnehmerkreis? Mit Verhandlungen oder ohne?) und andere grundsätzliche, wettbewerbsrelevante Aspekte, wie z.B. die Ausgestaltung der Eignungsanforderungen und der Zuschlags- d.h. der Wertungskriterien und -methodik geht. In diesem Stadium des Mandats ist es die Aufgabe des Anwalts, den Mandanten über die rechtlichen Anforderungen aufzuklären und diese dabei quasi neben die mandantenseitig bestehenden Vorstellungen, Notwendigkeiten und Wünsche an den Beschaffungsvorgang zu legen; es sind Möglichkeiten und Spielräume des Vergaberechts aufzuzeigen, aber es ist auch auf etwaige Risiken hinzuweisen. In dieser Phase hat der Anwalt mögliche Einwände und Rügen der Bieter, aber auch mögliche Beschränkungen des Wettbewerbs zu antizipieren und entsprechende Vorsorge zu tragen. Seinen Niederschlag findet diese vorsorglich äußerst (selbst-) kritische Herangehens- und Vorgehensweise sowohl in der Grundkonzeptionierung des Verfahrens als auch in den Vergabe- und Vertragsunterlagen, die sodann in Abstimmung zwischen Mandant und Anwalt erstellt werden. Nicht erst, seitdem die überwiegende Zahl der Vergabeverfahren vollständig elektronisch abgewickelt werden (müssen), fragen öffentliche Auftraggeber neben der beratenden Begleitung von Vergabeverfahren bei Fachanwaltskanzleien auch die vollständige Durchführung und administrative Abwicklung von Vergabeverfahren mithilfe elektronischer Ausschreibungsplattformen nach. Die Vergabeentscheidung muss der jeweilige öffentliche Auftraggeber ebenso wie die maßgeblichen Eckpunkte des Verfahrens freilich selbst treffen; die Pflicht zur eigenverantwortlichen Durchführung von

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Ausschreibungen verbietet ein komplettes Outsourcing an externe Berater.70 Während die Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung in der Regel ein gewisses „Basis-Know-how“ im Vergaberecht mitbringen, sind die Zuwendungsempfänger häufig komplett auf die Beratung des Anwalts bzw. der Anwältin angewiesen. Denn Zuwendungsempfänger sind nicht selten natürliche Personen oder juristische Personen des Privatrechts, die in ihrem sonstigen geschäftlichen Agieren nicht dem Vergaberecht unterworfen sind, sondern gewerblich bzw. „privat“ agieren. Wenn solche Wirtschaftsbeteiligte öffentliche Gelder (Beihilfen, Zuwendungen) mittels Zuwendungsbescheid erhalten zur Realisierung eines bestimmten Zwecks  – als Beispiel sei hier eine Stiftung des privaten Rechts, die ein Krankenhaus betreibt, und vom Sozialministerium eine Zuwendung zur Sanierung ihres Bettenhauses erhält, da die Einrichtung im Krankenhausbedarfsplan des Landes enthalten ist – werden sie kraft Gesetzes (§ 99 Nr. 4 GWB) und/ oder aufgrund der Nebenbestimmungen zum Zuwendungsbescheid dem Vergaberecht unterworfen. Beispielhaft seien hier die „Allgemeinen Nebenbestimmungen für Zuwendungen zur Projektförderung (ANBest-P)“ genannt. Diese enthalten Nebenbestimmungen i.S. des § 36 VwVfG, unter anderem die Verpflichtung, bei der Vergabe von Aufträgen zur Realisierung des geförderten Vorhabens bestimmte vergaberechtliche Bestimmungen einzuhalten. Gelingt dies nicht, ist der Erhalt der Fördergelder gefährdet, denn bei Vergaberechtsverstößen droht der (Teil-) Widerruf des Zuwendungsbescheides gem. § 49 VwVfG. Die Zuwendungsempfänger betreten dabei jedoch häufig vollkommen unbekanntes Terrain. Bei dem Versuch, sich durch den Fördergeldgeber entsprechend vergaberechtlich beraten zu lassen, treffen die ratsuchenden Fördergeldempfänger dann nicht selten auf die Argumentation, man berate nicht im Vorfeld, sondern prüfe nur im Nachgang, so dass man in Eigenverantwortung – aber korrekt – die För­ dergelder ausgeben und sich bei Bedarf eines Fachanwalts bedienen solle. 70 Vgl. etwa Vergabekammer Niedersachsen, Beschl. v. 23.11.2012 – VgK-43/2012, ZfBR 2013, S. 409 ff.: „Der öffentliche Auftraggeber darf sich bei der Vorbereitung und der Durchführung des Vergabeverfahrens der Hilfe Dritter bedienen. Er darf jedoch die Verantwortung für die Vergabe nicht vollständig delegieren. Im Verhandlungsverfahren bedeutet das, dass sich der Auftraggeber an Vertrags­ verhandlungen beteiligt, mögliche Ausschlussgründe nachvollzieht und über den Zuschlag in Kenntnis der gesamten Aktenlage entscheidet und nicht die Mitwirkung an dem Vergabeverfahren auf ein bloßes „Abnicken“ beschränkt.“ 20

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Dies kann nicht nur für den ungekürzten Erhalt der bewilligten Fördergelder wichtig sein, sondern im schlimmsten Fall auch zur Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen (hier sei lediglich auf den Straftatbestand des Subventionsbetruges in §  264 StGB hingewiesen, der auch durch falsche Angaben oder Bescheinigungen oder eine Verwendung der Sach- oder Geldleistungen entgegen der subventionserheblichen Beschränkung verwirklicht werden kann). b) Anwaltliche Vertretung in Vergabenachprüfungsverfahren Einen vergaberechtsspezifischen gerichtlichen Primärrechtsschutz mit dem Ziel, die Erteilung eines Auftrags an den Konkurrenten zu verhindern, gab es im deutschen Vergaberecht – wie oben bereits dargelegt – traditionell nicht. Heute darf der Anspruch der Bieter auf Einhaltung der ihren Schutz bezweckenden Vergaberegeln durch den öffentlichen Auftraggeber gem. § 97 Abs. 6 GWB jedoch als Selbstverständlichkeit bezeichnet werden, jedenfalls, wenn es um den Bereich der EU-weiten Vergabeverfahren geht. Als effektives Rechtsschutzinstrument zur Verfolgung dieses Anspruchs wurde zum 1.1.1999 mit dem Gesetz zur Reform des Vergaberechts das heute in §§ 155, 160 ff. GWB geregelte Nachprüfungsverfahren geschaffen. Dieses ist in erster Instanz ein verwaltungsinternes Verfahren vor den Vergabekammern und erst in zweiter Instanz ein gerichtliches Verfahren vor den OLG-Vergabesenaten. Der spezielle Rechtsweg ist dem des Kartellrechts nachempfunden. Er ist allerdings bis heute nahezu ausschließlich den EU-weiten Vergabeverfahren vorbehalten und steht damit grundsätzlich nur Teilnehmern an Vergabeverfahren für Aufträge mit Auftragsvolumina oberhalb der EU-Schwellenwerte zur Verfügung. Die Vergabekammern gewähren in erster Instanz behördlichen Rechtsschutz durch behördliche Einrichtungen, die mit der Nachprüfung von Vergabeentscheidungen betraut sind. Für die Bundesebene sind zwei Vergabekammern beim Bundeskartellamt eingerichtet; die Einrichtung, Organisation und Besetzung der Vergabekammern der Länder organisieren die Länder selbst (§ 158 GWB). Das Rechtsschutzverfahren vor den Vergabekammern ist dabei einem Gerichtsverfahren angenähert; es gelten die wesentlichen zivil- und verwaltungsprozessualen Grundsätze unter Berücksichtigung der spezifischen Verfahrensregelungen des GWB in den §§ 162 bis 167. Das Nachprüfungsverfahren wird gem. § 160 Abs. 1 GWB nur auf Antrag eines Unterneh21

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mens eingeleitet. Die Vergabekammer wird folglich nicht von Amts wegen tätig. Wenn ein Auftraggeber durch die Rüge eines Bieters mit einem Nachprüfungsantrag rechnet und das dadurch eintretende Zuschlagverbot und die zeitliche Verzögerung verhindern möchte, kann er offensiv bereits vor der Einreichung des Nachprüfungsantrags an die Vergabekammer herantreten und seine Sicht der Dinge darlegen. Denn die Vorschriften zum Nach­ prüfungsverfahren nennen zu diesem Zweck explizit das Instrument der Schutzschrift (§ 163 Abs. 2 Satz 2 GWB). Der die Auftraggeberseite begleitende Rechtsanwalt berät seine Mandantschaft über das Instrument der Schutzschrift und reicht eine solche bei der zuständigen Vergabekammer ein, insbesondere dann, wenn das Vergabeverfahren zeitkritisch ist. Die Vergabekammer prüft den Nachprüfungsantrag nach Eingang zunächst kurz im Rahmen einer Evidenzkontrolle dahingehend, ob er offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist, bevor sie ihn an den Auftraggeber übermittelt, und damit das Zuschlagsverbot des § 169 Abs. 1 GWB auslöst. Für das Verfahren vor den Vergabekammern gelten der Untersuchungsgrundsatz (§  163 Abs.  1 GWB) sowie der Beschleunigungsgrundsatz (§  167 GWB). Die Vergabekammer erforscht den Sachverhalt mithin von Amts wegen. Sie kann sich dabei darauf beschränken, was von den Beteiligten vorgebracht wird oder ihr sonst bekannt sein muss (in diesem Zusammenhang ist z.B. eine Berichterstattung in öffentlich zugänglichen Medien von Bedeutung). Zu einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle ist die Vergabekammer nicht verpflichtet. In diesem Kontext steht auch die Verpflichtung der Vergabekammer, bei ihrer gesamten Tätigkeit darauf zu achten, dass der Ablauf des Verfahrens nicht unangemessen beeinträchtigt wird (§ 163 Abs. 1 Satz 2, 3 GWB). In der Praxis beschränken die Vergabekammern ihre Prüfung des Vergabeverfahrens in der Regel zwar auf die von dem Antragsteller gerügten Aspekte; sie greifen aber auch nicht gerügte Vergaberechtsverstöße von Amts wegen auf, insbesondere, wenn der Antragsteller diese mangels Detailkenntnis des Verfahrens nicht rügen konnte, und/oder wenn es sich um besonders gravierende Vergaberechtsverstöße handelt. Das gesamte Vergabenachprüfungsverfahren steht unter dem Beschleunigungsgebot des §  167 GWB. Die Vergabekammer hat ihre Entscheidung innerhalb einer Frist von fünf Wochen ab Eingang des Nachprüfungsan22

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trags schriftlich zu treffen und zu begründen. Bei besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten kann der Vorsitzende der Vergabekammer ausnahmsweise die Frist um den erforderlichen Zeitraum verlängern; diese Verlängerung soll maximal zwei Wochen betragen. Das Beschleunigungsgebot trifft aber nicht nur die Vergabekammer, sondern insbesondere auch die Verfahrensbeteiligten und ihre Anwälte. Alle Beteiligten haben gem. § 167 Abs. 2 GWB an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, „wie es einem auf Förderung und raschen Abschluss des Verfahrens bedachten Vorgehen entspricht“. Wie auch im Zivil- und Verwaltungsprozess kann die Vergabekammer den Beteiligten zu diesem Zweck Fristen setzen, nach deren Ablauf weiterer Vortrag unbeachtet bleibt. In zweiter Instanz kann gegen Entscheidungen der Vergabekammer gem. §§  171  ff. GWB sofortige Beschwerde erhoben werden. Über diese entscheiden die Vergabesenate der Oberlandesgerichte. Die sofortige Beschwerde ist gem. § 172 Abs. 1 GWB innerhalb einer Notfrist von zwei Wochen nach Zustellung der Entscheidung der Vergabekammer einzulegen und muss die formellen Anforderungen des § 172 Abs. 2 bis 4 GWB erfüllen. Insbesondere besteht hier, im Gegensatz zum Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer, gem. § 175 Abs. 1 GWB Anwaltszwang für Antragssteller und Beigeladene. c) Anwaltliche Vertretung vor Zivilgerichten in Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes und im Schadensersatzprozess Ziel des einstweiligen Rechtsschutzes ist es, die Zuschlagserteilung und damit den Vertragsschluss zu verhindern. Im Unterschwellenbereich existieren weder Nachprüfungsverfahren noch eine entsprechende Unwirksamkeitsfolge für einen rechtswidrig erteilten Zuschlag, wie sie § 135 GWB für den Oberschwellenbereich vorsieht. Sich benachteiligt fühlende Bieter müssen daher in dem sogenannten Unterschwellenbereich auf die allgemeinen Rechtsschutzinstrumente zurückgreifen. Interessant ist dabei insbesondere der auf den Erhalt des Zuschlags gerichtete Primärrechtsschutz. Es besteht dabei die Möglichkeit, im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Zuschlagserteilung durch einstweilige Verfügung zu verhindern. Diese Möglichkeit ist bislang jedoch eher theoretischer Natur, denn auch wenn eine Informationspflicht im Unterschwellenbereich in § 46 UVgO und § 19 VOB/A normiert ist, wird hierdurch dem Bieter kein subjektives Recht auf Einhaltung dieser Vorschriften 23

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zugestanden. Vielmehr sind Bieter nach den Vorschriften nur über ihren vorzeitigen Ausschluss bzw. erst nach erfolgter Zuschlagserteilung zu unterrichten. Sanktionen für den Auftraggeber existieren nicht. Der Bieter steht dabei vor gleich zwei Problemen: Im Regelfall erfährt er, wenn überhaupt, erst nach Vertragsschluss von der Zuschlagserteilung. Im Unterschwellenbereich besteht ferner kein Akteneinsichtsrecht in die Vergabe­ akten, auch nicht in analoger Anwendung des §  165 GWB, um den Vergabeverstoß substantiiert zu beweisen bzw. glaubhaft zu machen. Der Rechtsschutz im Unterschwellenbereich ist damit von Einschränkungen und Unsicherheiten geprägt.71 In diesem Zusammenhang sei auf das oben bereits erwähnte obiter dictum des OLG Düsseldorf72 hingewiesen: Im Interesse eines unionsrechtlich ­geforderten vollständigen und effektiven Rechtsschutzes seien auch im ­Unterschwellenbereich abgelehnte Bieter vor Vertragsabschluss innerhalb ­einer vorherigen angemessenen Frist zu unterrichten. Damit würde die Informations- und Wartepflicht, wie sie im Oberschwellenbereich vorhanden ist, übertragen, sodass ein unter Verstoß gegen diese Pflicht geschlossener Vertrag gem. § 134 BGB nichtig sein würde. Leider hat das OLG Düsseldorf eine Entscheidung zu dieser Überlegung ausdrücklich offengelassen. Obwohl die Normen des Haushaltsrechts materiell-rechtlich eindeutig dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind und damit gem. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg eröffnet wäre, hat das BVerwG73 anders entschieden und ausschließlich auf den Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages abgestellt. Damit ist für Streitigkeiten über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen unterhalb der Schwellenwerte der ordentliche Rechtsweg vor den Zivilgerichten einschlägig. Das Begehren des Bieters richtet sich damit auf den Erlass einer Regelungsverfügung gem. § 940 ZPO, um eine Zuschlagserteilung durch die Vergabestelle zu verhindern. Da die Vergabestelle jedoch weiterhin den Zuschlag erteilen und damit vollendete Tatsachen schaffen könnte, bedarf es in Ergänzung noch eine Sicherungsverfügung mit dem Inhalt des vorübergehenden Zuschlagsverbotes. Dafür reicht es aus, wenn der Antragssteller 71 Ausführlich hierzu: Dageförde, Die Vorabinformationspflicht im Vergaberechtsschutz: Eine unendliche Geschichte, NZBau 2020, 72 ff. 72 OLG Düsseldorf v. 13.12.2017 – I-27 U 25/17, NZBau 2018, 168 ff. 73 BVerwG v. 2.5.2007 – 6 B 10.07, MDR 2007, 1148 = BVerwGE 129, 9 = NZBau 2007, 389 = NVwZ 2007, 820.  24

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den Verstoß gegen eine vergaberechtliche Vorschrift nach §§ 920 Abs. 2, 936, 294 ZPO glaubhaft machen kann. Der Bieter muss zunächst einen materiell-rechtlichen Anspruch (Verfügungsanspruch) gegen den Auftraggeber glaubhaft machen. Dieser wird primär als Unterlassungsanspruch auf Verhinderung des Vertragsschlusses oder aber auch auf die Unterlassung rechtswidriger Ausschreibungsbedingungen in einem bestimmten Vergabeverfahren gerichtet sein. Die Anspruchsgrundlagen sind dem Zivilrecht zu entnehmen. Vorrangig ist ein Anspruch gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB aufgrund eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses zwischen Auftraggeber und Bieter durch das begonnene Vergabeverfahren zu behandeln. Darüber hi­ naus kommt auch ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 3 GG in seiner Ausformung der Selbstbindung der Verwaltung in Betracht. Ein solcher ist nicht nur auf willkürliches Handeln der öffentlichen Hand beschränkt, sondern erstreckt sich vielmehr auf sämtliche Verstöße von Bestimmungen des Vergaberechts, die den Bieterschutz, die Transparenz und die Gleichbehandlung betreffen. Ein Verfügungsgrund liegt vor, wenn durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Diese wird regelmäßig durch eine Dringlichkeit in Form des drohenden Vertragsschlusses gegeben sein. Eine solche Dringlichkeit ist aber gerade dann nicht gegeben, wenn der Bieter selbst durch eine Rüge beim Auftraggeber Abhilfe verlangen bzw. schaffen kann. In Anlehnung an die bestehende Rügepflicht aus § 160 GWB ist eine solche vorherige Rüge beim Auftraggeber auch hier zu fordern. Neben dem Nachprüfungsverfahren als Instrument des Primärrechtsschutzes sieht das GWB auch die Möglichkeit von sekundärrechtlichen Schadensersatzansprüchen vor. So kann es für den Bieter von Interesse sein, zumindest die Kosten der Angebotserstellung bzw. der Teilnahme am Vergabeverfahren ersetzt zu bekommen. Nach § 181 Satz 1 GWB kann ein Unternehmen den Ersatz des Vertrauensschadens („negatives Interesse“) vom Auftraggeber verlangen. Die Anwendbarkeit erstreckt sich dabei auf sämtliche Vergabeverfahren im vierten Teil des GWB, mithin oberhalb der Schwellenwerte. Im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind hierfür gem. § 87 Satz 1 GWB ausschließlich die Landgerichte zuständig, und zwar unabhängig vom Streitwert. 25

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Als Tatbestandsvoraussetzungen fordert § 181 Satz 1 GWB im Wesentlichen drei Voraussetzungen: – Der Auftraggeber muss gegen eine bieterschützende Vorschrift verstoßen haben, – das Unternehmen muss eine „echte Chance“ auf Erteilung des Zuschlags gehabt haben und – diese echte Chance muss durch den Rechtsverstoß beeinträchtigt worden sein (Stichwort „Kausalität“). Nicht erforderlich ist sowohl nach dem Wortlaut als auch der Rechtsprechung des BGH und Bestätigung durch den EuGH ein Verschulden des Auftraggebers. Als nahezu wichtigste Anspruchsgrundlage im Rahmen des Sekundärrechtsschutzes dient der Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB, der sowohl den Ersatz des positiven wie auch des negativen Interesses erfasst und damit dem Bieter einen umfassenden Schadensersatzanspruch gewährt, wenn der öffentliche Auftraggeber gegen Vergabevorschriften verstößt. Grundvoraussetzung für einen solchen Anspruch ist das Bestehen eines vorvertraglichen Vertrauens- bzw. Schuldverhältnisses, welches nach dem allgemeinen Rechtsverständnis an die Aufnahme von Vertragsverhandlungen geknüpft ist. So entsteht ein solches Verhältnis regelmäßig bei Anforderung der Vergabeunterlagen bzw. der Einreichung von Teilnahmeanträgen. Nach der jüngeren Rechtsprechung des BGH genügt die Verletzung von Rücksichtnahmepflichten auf die Interessen des Bieters. Damit beginnt das vorvertragliche Schuldverhältnis bereits mit Einleitung des Vergabeverfahrens. Im Oberschwellenbereich wird dies immer mit der Veröffentlichung der Vergabebekanntmachung geschehen. Denn ab dann ist nicht ausgeschlossen, dass potentielle Bieter in Anbetracht der Bekanntmachung Aufwendungen tätigen. Führt der öffentliche Auftraggeber hingegen trotz (europaweiter) Ausschreibungspflicht überhaupt kein förmliches Vergabeverfahren durch, sondern vergibt den Auftrag rechtswidrig direkt an ein Unternehmen, so fehlt es mangels Kenntnis vom Verfahren an einer schützenswerten Vermögensdisposition und damit einem Anknüpfungspunkt für ein vorvertragliches Schuldverhältnis. Alternativ kann auch das positive Interesse als Schaden eingefordert werden. Voraussetzung ist allerdings, dass der Auftrag an einen Mitbieter tatsächlich erteilt worden ist und dem Kläger ohne Verstoß und auch sonst 26

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ordnungsgemäßem Vergabeverfahren eigentlich der Zuschlag hätte erteilt werden müssen. Ersatzfähig sind sowohl der entgangene Gewinn (abzüglich der ersparten Aufwendungen) als auch etwaige Rechtsanwaltskosten. Darunter fallen insbesondere Gebührenforderungen, die dem Schadensersatz fordernden Unternehmen aufgrund der externen Prüfung der Vergabeunterlagen und einer Rüge entstanden sind. Geschäftskosten sind zu erstatten, sofern der Auftragnehmer keinen Ersatzauftrag angenommen hat. d) Anwaltliche Vertretung im Verwaltungsprozess Da das BVerwG die Streitigkeit um den öffentlichen Auftrag den Zivilgerichten zugewiesen hat,74 beschränkt sich die anwaltliche Vertretung vor dem Verwaltungsgericht im Vergaberecht im Wesentlichen auf die Streitigkeiten, bei denen es um den Widerruf von Zuwendungsbescheiden nach § 49 VwVfG wegen der Missachtung von vergaberechtlichen (Neben-)Bestimmungen geht. Hier vertritt der Anwalt in der Regel den Zuwendungsempfänger, dem die Missachtung von Vergaberecht vorgeworfen ist und es geht darum, die eigentlich bewilligten Fördergelder vollumfänglich zu erhalten. Häufig ist dies eine zum Teil mehrere Jahre zurückreichende „Vergangenheitsbewältigung“, bei der die seinerzeit durchgeführten Vergabeverfahren nachträglich erklärt und gerechtfertigt werden (müssen), um dem Fördergeldgeber eine korrekte Verwendung der bewilligten Gelder nachzuweisen und diesbezügliche Bedenken und belastende Feststellungen aus­ zuräumen. Neben dem für die anwaltliche Arbeit besonders bedeutsamen Amtsermittlungsgrundsatz gelten hier sämtliche verwaltungsprozessualen Grundsätze. e) Schulungen, Seminare Gerade weil es sich bei Vergaberecht um „Laienrecht“ handelt,75 bietet sich mit der Durchführung von vergaberechtlichen Seminaren und Schulungen den im Vergaberecht spezialisierten Anwälten ein weiteres Betätigungsfeld. Hier wird der Anwalt weit im Vorfeld etwaiger Streitigkeiten tätig und kann seinen Beitrag dazu leisten, zu verhindern, dass „das Kind in den Brunnen fällt“. Vergaberechtliche offene Seminare oder Inhouse-Schulun74 BVerwG v. 2.5.2007 – 6 B 10.07, MDR 2007, 1148 = BVerwGE 129, 9 = NZBau 2007, 389 = NVwZ 2007, 820.  75 Siehe I. 1. 27

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gen für Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung dienen dazu, den Rechtsan­ wendern Rechtssicherheit zu geben, das komplexe Vergaberecht zu strukturieren, Sensibilität für typische „Stolpersteine“ zu vermitteln, aber auch das Blickfeld der ausschreibenden Stellen auf die Notwendigkeiten und Bedürfnisse der Anbieterseite sowie branchenspezifische Marktgegebenheiten zu lenken. Letztlich dient die so umrissene Tätigkeit des unterrichtenden Anwalts dazu, die Qualität umd Marktgerechtigkeit der Vergabeverfahren sowie die Professionalität der ausschreibenden Stellen zu steigern und so nicht zuletzt auch die Verwendung von Steuergeldern im Zusammenhang mit unnötigen Rechtsstreitigkeiten und verzögerten Auftragsvergaben, die häufig teure Interimslösungen erforderlich werden lassen, zu vermeiden. f) Fazit Mit seinem gesamten Tätigkeitsspektrum auf Auftraggeberseite trägt der Anwalt dazu bei, die Ziele des Vergaberechts in die Praxis umzusetzen. Mithilfe kompetenter und seriöser fachanwaltlicher Beratung erhält die ­öffentliche Hand in stringent strukturierten, effizient organisierten und marktgerechten Vergabeverfahren die Lieferungen und Leistungen, die sie benötigt, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Mit einer klugen Ausgestaltung von Leistungsbeschreibung sowie von Eignungs- und Zuschlagskriterien unterstützt der Anwalt die öffentliche Hand dabei, dass sie diese Lieferungen und Leistungen in fairen, wettbewerblichen Verfahren zu einem guten, bestenfalls optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis erhält und Steuergelder nicht verschwendet werden. Nicht zuletzt wird damit auch den Zielen der Korruptionsbekämpfung und Compliance zur Durchsetzung verholfen.

V. Rolle des Anwalts im Vergaberecht auf Seiten der Bieter Anwälte und Anwältinnen sind unabhängige Organe der Rechtspflege und tragen damit nicht nur an der Seite von öffentlichen Auftraggebern zur Verwirklichung des Rechtsstaates bei.76 Im Vergaberecht nehmen sie auch auf der Bieterseite eine bedeutsame Rolle ein. Hier geht es darum, die Interessen und Rechte der Anbieterseite wahrzunehmen und durchzusetzen. 76 Vgl. BVerfG v. 27.6.2018 – 2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, NJW 2018, 2385, 2388. 28

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Mandanten sind große und internationale Unternehmen, aber auch kleine und mittelständische Unternehmen, der Handel ebenso wie die Industrie, Freiberufler wie z.B. Architektur- und Ingenieurbüros, kurzum: alle, die sich wirtschaftlich am Markt betätigen und für die öffentliche Hand Liefer-, Bau- und Dienstleistungen erbringen. 1. Begleitung in Vergabeverfahren Als Berater eines Bieters oder Bewerbers in einem Vergabeverfahren hat ein Anwalt häufig zunächst einmal die Aufgabe, seinem Mandanten dabei behilflich zu sein, ein vollständiges und formal sowie inhaltlich korrektes Angebot abzugeben, um seine Chance auf den Zuschlag bestmöglich zu wahren. Da die Anforderungen der ausschreibenden Stelle häufig komplexer Natur sind, ist es die Aufgabe des im Vergaberecht versierten Anwalts, diese zu erläutern und handhabbar zu machen sowie auf mögliche Fehlerquellen hinzuweisen. Dazu wird der Anwalt die vom Auftraggeber im Internet veröffentlichte Auftragsbekanntmachung sowie die ebenfalls in der Regel im Internet zum Download bereitgestellten vollständigen Vergabeunterlagen vollständig sichten. Die Beratung des Mandanten zur Erstellung eines formal und inhaltlich korrekten und vollständigen Angebots ist schon deshalb von erheblicher Bedeutung, weil auf Auftraggeberseite vergaberechtlich kein Ermessen oder nur ein eingeschränktes Ermessen im Umgang mit formal und inhaltlich fehlerhaften Angeboten besteht. So bestimmt beispielsweise § 57 Abs. 1 VgV, dass Angebote, die nicht form- oder fristgerecht eingegangen sind, ebenso wie Angebote, die nicht die geforderten oder nachgeforderten Unterlagen enthalten, zwingend vom Vergabeverfahren auszuschließen sind. Auf eine Sichtung der Vergabeunterlagen zwecks Gewährleistung der Einhaltung von Formvorschriften und ähnlichem kann sich der Anwalt in ­diesem Zusammenhang jedoch nicht beschränken. Er wird – im Zusammenwirken mit seinem Mandanten – sämtliche inhaltlichen und formalen Anforderungen und Festlegungen des öffentlichen Auftraggebers, die in Bekanntmachung und Vergabeunterlagen verschriftlich sind, auch dahingehend überprüfen, ob vergaberechtliche Bestimmungen vollumfänglich eingehalten wurden. Der Anwalt wird mithin zur kontrollierenden Instanz, die dem Leistungsbestimmungsrecht des öffentlichen Auftraggebers unter Umständen Grenzen aufzeigt. Dies ist schon deshalb von erheblicher Bedeutung, weil etwaige Unklarheiten ebenso wie Verfahrensverstöße so frühzeitig wie möglich im Vergabeverfahren aufzuzeigen und zu klären 29

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sind, wenn der betreffende Bieter seine Rechte umfassend wahren möchte. Dies hat folgende Hintergründe: Bei Verständnisproblemen und Unklarheiten kann sich ein Bieter nicht auf eigene Annahmen und Vermutungen verlassen, denn er ist gezwungen, mit seinem Angebot exakt die vom Auftraggeber ausgeschriebene Leistung anzubieten. Ein Angebot, das Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen (und insbesondere an dem ausgeschriebenen Leistungs­ inhalt und -umfang) enthält, ist zwingend vom Vergabeverfahren auszuschließen; auch diesbezüglich kommt dem öffentlichen Auftraggeber, der davor geschützt werden soll, unter Umständen sogar unbeabsichtigt etwas zu bezuschlagen, was er so nicht ausgeschrieben hat, keinerlei Ermessen zu. Selbst marginale Änderungen des Bieters führen deshalb zum Angebotsausschluss. Vor diesem Hintergrund ist der beratende Anwalt gehalten, seinen Mandanten dabei zu unterstützen, noch während der Bewerbungs- oder Angebotsfrist Bieterfragen zu formulieren, die Defizite in der Leistungsbeschreibung aufdecken, der Beseitigung von Unklarheiten dienen oder die ausschreibende Stelle dazu veranlassen sollen, Verfahrensanforderungen zu konkretisieren. Die unverzüglich im Rahmen von Bieterrundschreiben erfolgenden Antworten des öffentlichen Auftraggebers sind dann wiederum dahingehend zu überprüfen, ob sie geeignet sind, die Unklarheit zu beseitigen, die Anforderung hinreichend zu konkretisieren etc. Verstöße gegen Vergabevorschriften unterliegen der Rügeobliegenheit durch die Bieterseite. Auf diese Rügeobliegenheit muss der beratende Anwalt das Unternehmen hinweisen und darauf hinwirken, dass die Rüge – falls eine solche geboten ist – fristgerecht erfolgt. Der auf Seiten eines Bewerbers oder Bieters beauftragte Rechtsanwalt ist daher zu einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle der Vergabeunterlagen nebst Auftragsbekanntmachung gehalten. Denn der effektive vergaberechtsspezifische Primärrechtsschutz vor der zuständigen Vergabekammer eröffnet sich einem Bieter in aller Regel nur dann, wenn er den (vermeintlichen) Vergaberechtsverstoß und die daraus resultierende Rechtsbeeinträchtigung zuvor direkt gegenüber dem Auftraggeber geltend macht. Die in § 160 Abs. 3 GWB normierte Rügeobliegenheit soll verhindern, dass Bieter Vergaberechtsverstöße des Auftraggebers „sammeln“, um diese erst am Schluss des Verfahrens – in Kenntnis der Absage des Auftraggebers – vorzubringen. Der Auftraggeber soll vielmehr durch die zeitnahe Rüge des Bieters in die Lage versetzt werden, seinen 30

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Fehler so früh wie möglich selbst zu korrigieren. Zu diesem Zweck stellt die vorherige Rüge des Bieters in aller Regel eine echte Zulässigkeitsvoraussetzung für das Nachprüfungsverfahren dar. § 160 Abs. 3 GWB normiert verschiedene Fälle der Rügeobliegenheit, die sowohl hinsichtlich des Beginns der Rügeobliegenheit als auch hinsichtlich der Frist an unterschiedlichen Zeitpunkten anknüpfen. Für den anwaltlichen Berater der Bieterseite ist es unerlässlich, die in § 160 Abs. 3 GWB normierten vier Fälle der Rügeobliegenheit genau zu unterscheiden, aber auch ihr Ineinandergreifen gut zu durchdringen: Generell und im gesamten Vergabeverfahren gilt die Rügeobliegenheit des § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB. Danach ist ein Vergabenachprüfungsantrag vor der Vergabekammer unzulässig, wenn der Antragsteller den von ihm mit dem Nachprüfungsantrag geltend gemachten Verstoß gegen Vergabevorschriften vorher (positiv) erkannt und gleichwohl nicht innerhalb von zehn Kalendertagen nach (positiver) Kenntnis gegenüber dem Auftraggeber gerügt hat. Die positive Kenntnis erstreckt sich dabei auf alle zur Be­ anstandung notwendigen, tatsächlichen Umstände sowie der laienhaften rechtlichen Wertung, dass diese Umstände einen vergaberechtlichen Verstoß im Verfahren bedeuten. Grob fahrlässige Unkenntnis reicht nicht aus; der Bieter darf sich der Kenntniserlangung nur nicht mutwillig verschließen. Letztlich muss der Auftraggeber beweisen, ob und wann der Bieter vollständige Kenntnis in diesem Sinne erlangt hat. Wichtig ist, dass eine in der Regel notwendige anwaltliche Beratung den Zeitpunkt der Kenntniserlangung (aber nicht die Frist selbst!) hinauszögern kann. Die Kenntnis muss zwar beim Antragssteller selbst vorliegen. Dazu zählen jedoch die vertretungsberechtigen Organe oder sonstige beauftragte Vertreter i.S.d. §  166 Abs. 1 BGB, insbesondere auch ein Rechtsanwalt. Die in § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 GWB normierten Fälle der Rügeobliegenheit hingegen setzen bei dem Inhalt der Bekanntmachung (Nr. 2) sowie der Vergabeunterlagen (Nr. 3) an. Während es bei § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB auf die positive Kenntnis des Bieters vom Vergaberechtsverstoß ankommt, entsteht die Rügeobliegenheit der Nr. 2 und 3 bereits dann, wenn der Vergaberechtsverstoß anhand der Bekanntmachung oder der Vergabeunterlagen „erkennbar“ war. Solche Verstöße sind spätestens bis zur Bewerbungs- oder zur Angebotsfrist zu rügen, wenn der Bieter eine Präklusion vermeiden möchte.

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Der Herbeiführung von Rechtssicherheit dient auch der vierte in §  160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB normierte Fall der Rügeobliegenheit: Danach ist ein Nachprüfungsantrag unzulässig, wenn mehr als 15 Kalendertage nach Eingang der Mitteilung des Auftraggebers, einer Rüge nicht abhelfen zu wollen, vergangen sind. Ein Bieter, der mithin auf seine Rüge nach § 160 Abs. 3 Nr. 1, 2 oder 3 GWB eine Nichtabhilfemitteilung des Auftraggebers erhält, hat daraufhin 15 Kalendertage Zeit für die Einreichung eines Nachprüfungsantrages, mit dem er seine Rechtsbeeinträchtigung weiter verfolgt; verzichtet er innerhalb der genannten Frist auf den Nachprüfungsantrag, ist er mit seinem Vorwurf – hinsichtlich des gerügten Vergaberechtsverstoßes – präkludiert. Der auf der Bieterseite tätige Rechtsanwalt muss  – unter Umständen in sehr engen Zeitfenstern – Vergabeunterlagen umfassend sichten und prüfen, und sodann versiert sein bei der Beherrschung des „Instrumentariums“ der Bieterfrage und fristgerechten Rüge. Häufig möchte der Mandant zwar einerseits seine Rechte gegenüber der ausschreibenden Stelle wahren, andererseits das Verhältnis zum Auftraggeber aber auch nicht ohne Not und nicht über Gebühr belasten. In diesem Spannungsverhältnis der Interessen des Mandanten hat sein Anwalt oftmals einen Balanceakt zu vollführen. Dass dies gelingt, ist nicht zuletzt oft auch eine Frage der Diktion, des anwaltlichen Gespürs und Geschicks bei der Formulierung von Bieterfragen und förmlichen Beanstandungen, den Rügen im Sinne von §  160 Abs. 3 GWB. 2. Anwaltliche Vertretung in Vergabenachprüfungsverfahren Wird einer Rüge nicht abgeholfen oder bedarf es womöglich – wie bei einer unzulässigen de facto-Vergabe – gar keiner vorherigen Rüge (§ 160 Abs. 3 Satz 2 GWB), besteht die Aufgabe des Anwalts darin, für seinen Mandanten fristgerecht, d. h. in jedem Fall vor Zuschlagserteilung an den Konkurrenten, einen Nachprüfungsantrag bei der zuständigen Vergabekammer einzureichen. Hierfür genügt ein – im Verwaltungsrecht häufig praktizierter – Einzeiler zur Fristwahrung nicht; der Antrag ist vielmehr umfassend zu begründen und hat ein bestimmtes Begehren zu enthalten (§ 161 Abs. 1 GWB). Alles andere wäre mit dem Beschleunigungsgebot des § 167 GWB nicht zu vereinbaren. Erleichtert wird die Arbeit des Anwalts sodann jedoch durch den grundsätzlich bestehenden Untersuchungsgrundsatz.

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht

Zur Aufklärung des Sachverhalts fordert die Vergabekammer zeitgleich mit der Übermittlung des Nachprüfungsantrags an den Auftraggeber bei diesem die Original-Vergabeakte an. Wenn eine solche Vergabeakte in Papierform nicht existiert, weil das gesamte Vergabeverfahren bereits elektronisch abgewickelt wird, stellt die ausschreibende Stelle der Vergabekammer einen Zugriff auf die elektronische Akte bzw. die Ausschreibungsdatenbank zur Verfügung. Der Auftraggeber hat die Vergabeakten der Vergabekammer sofort zur Verfügung zu stellen (der Wortlaut des § 163 Abs. 2 Satz 4 GWB ist diesbezüglich eindeutig), d.h. in dem Zustand, in dem sich diese zum Zeitpunkt der Einleitung des Nachprüfungsverfahrens befindet. Für die Bieterseite ist das in § 165 GWB normierte Akteneinsichtsrecht von erheblicher Bedeutung. Alle Verfahrensbeteiligten können die Vergabeakte bei der Vergabekammer einsehen oder sich Auszüge, Kopien etc. fertigen lassen. In der Praxis übermittelt die Vergabekammer häufig einen Auszug aus der Akte per Telefax an die Verfahrensbeteiligten, die Akteneinsicht begehren. Soweit Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der einzelnen Unternehmen, die am Vergabeverfahren teilgenommen haben, betroffen sind, werden diese von der Vergabekammer geschützt. In der Praxis sind deshalb die Auszüge aus der Vergabeakte partiell unkenntlich gemacht; nicht selten sind die Schwärzungen so umfangreich, dass sich für den einzelnen Verfahrensbeteiligten kaum verwertbare Erkenntnisse ergeben. Dass dies die Arbeit des Anwalts auf Bieter- bzw. Antragstellerseite erheblich erschweren kann, liegt auf der Hand. 3. Anwaltliche Vertretung vor Zivilgerichten in Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes und im Schadensersatzprozess Da in Verfahren unterhalb des EU-Schwellenwerts kein vergaberechtlicher Primärrechtsschutz existiert, ist aus anwaltlicher Sicht hier die Vertretung vor den Zivilgerichten maßgeblich. Die zivilprozessualen Instrumente wie Schadensersatzklage und Antrag auf einstweilige Verfügung stehen hier zur Verfügung. Im Gegensatz zu den Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern gilt im Zivilprozessrecht der Beibringungsgrundsatz. Dieser beeinträchtigt den Rechtsschutz eines Bieters noch einmal erheblich. Wie oben bereits ausgeführt, ist der Rechtsschutz für Bieter bereits dadurch erheblich erschwert, ja eingeschränkt, dass mit Ausnahme der bereits erwähnten landesrechtlichen Regelungen in einigen wenigen Bundesländern grundsätzlich keine Vorabinformationspflicht für die öffentlichen Auftraggeber besteht, so dass ein unterlegener Bieter häufig gar nicht rechtzeitig 33

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Angela Dageförde

erfährt, dass er nicht den Zuschlag erhalten soll, so dass er auch nicht rechtzeitig vor der Erteilung des Zuschlags an den Wettbewerber von dem ihm theoretisch zustehenden Primärrechtsschutz Gebrauch machen kann.77 Selbst wenn der unterlegene Bieter rechtzeitig erfährt, dass er den Zuschlag nicht erhalten soll, so trifft ihn im zivilprozessualen Eilrechtsschutzverfahren – anders als im kartellvergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren – der Beibringungsgrundsatz. Überdies verfügt der Bieter – anders als im Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer – nicht über ein Akteneinsichtsrecht in die Vergabeakten, auch nicht in analoger Anwendung des § 165 GWB, um den Vergaberechtsverstoß substantiiert zu beweisen.78 Wie auch bei der Vorabinformationspflicht versucht zuweilen die Justiz den Bietern auch bei der Frage der Akteneinsicht zu helfen, und zwar mit § 242 BGB. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BGH zu § 242 BGB gebieten es Treu und Glauben, einem Anspruchsberechtigten einen Auskunftsanspruch zuzubilligen, wenn er in entschuldbarer Weise über das Bestehen oder den Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, und wenn der Verpflichtete in der Lage ist, unschwer die zur Beseitigung dieser Ungewissheit erforderliche Auskunft zu erteilen.79 Ein solcher einem Schadensersatzanspruch oder der Feststellung einer Schadensersatzpflicht dem Grunde nach voraus­gehender Auskunftsanspruch kommt aber nur in Betracht, wenn das Bestehen des Schadensersatzanspruchs überhaupt grundsätzlich möglich ­erscheint, also für den Leistungsanspruch, der mithilfe der begehrten Auskunft geltend gemacht werden soll, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht (hier reicht schon der begründete Verdacht einer Vertragspflichtverletzung aus). Ein reiner Ausforschungsantrag kann diesbezüglich aber keinen Erfolg haben.80 Der Zivilrechtsweg ist ferner zu beschreiten, sofern Sekundärrechtsschutz in Verfahren oberhalb der EU-Schwellenwerte begehrt wird. Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, welchen im Vergleich zum Vergabenachprüfungsverfahren im Bereich der EU-weiten Vergaben bestehenden Erschwernissen der Anwalt auf Bieterseite im sogenannten 77 Dageförde, NZBau 2020, 72, 73. 78 OLG Köln v. 29.1.2020 – 11 U 14/19, NZBau 2020, 684. 79 BGH v. 6.2.2007 – X ZR 117/04, MDR 2007, 1030 = NJW 2007, 1806; vgl. auch LG Oldenburg v. 18.6.2014 – 5 S 610/13, NZBau 2014, 720 und OLG Köln v. 29.1.2020 – 11 U 14/19, NZBau 2020, 684. 80 OLG Köln v. 29.1.2020 – 11 U 14/19, NZBau 2020, 484; Otting, IBR 2020, 192.  34

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Die Rolle von Rechtsanwälten und Rechtsanwältinnen im Vergaberecht

Unterschwellenbereich, also im Zivilprozess, aufgrund des Beibringungsgrundsatzes unterliegt. Auch hier ist besonderes anwaltliches Geschick und nicht unerhebliche zivilprozessuale Erfahrung vonnöten, um unterlegenen Bietern bei der Wahrnehmung ihrer Rechte mit Erfolg behilflich zu sein.

VI. Fazit Vergaberecht ist in den letzten 20 Jahren seit 1999 ein interessantes Betätigungsfeld für Anwälte geworden und hat sich sehr dynamisch entwickelt. Der gestiegenen Nachfrage nach rechtlicher Beratung in diesem Fachgebiet hat die 5. Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer im Jahr 2015 Rechnung getragen und den Fachanwalt für Vergaberecht eingeführt. Anwälte tragen mit ihrer Tätigkeit im öffentlichen Beschaffungswesen dazu bei, dass die Ziele des Vergaberechts erreicht werden. Als Anwalt der Auftraggeberseite muss sehr vorausschauend gedacht und beraten werden; mögliche Risiken müssen bereits bei der Erstellung von Vergabeunterlagen und der Konzeptionierung von Vergabeverfahren antizipiert werden. Mithilfe kompetenter und seriöser fachanwaltlicher Beratung erhält die öffentliche Hand in stringent strukturierten, effizient organisierten und marktgerechten Vergabeverfahren die Lieferungen und Leistungen, die sie benötigt, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Mit einer klugen Ausgestaltung von Leistungsbeschreibung sowie von Eignungs- und Zuschlagskriterien trägt der Anwalt dazu bei, dass die öffentliche Hand diese Lieferungen und Leis­ tungen in fairen, wettbewerblichen Verfahren zu einem guten, bestenfalls optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis erhält und Steuergelder nicht verschwendet werden. Nicht zuletzt wird damit auch den Zielen der Korruptionsbekämpfung und Compliance zur Durchsetzung verholfen. Als Anwalt der Bieterseite ist neben dem vergaberechtlichen Know-how insbesondere Erfahrung, Geschick und Fingerspitzengefühl erforderlich, um dem Mandanten einerseits bei einer Überschreitung des vergaberechtlich Zulässigen durch den Auftraggeber zur Durchsetzung seiner Rechte und Interessen zu verhelfen, andererseits aber das Verhältnis zum Auftraggeber nicht vorschnell und über Gebühr zu belasten. Kluges und geschicktes anwaltliches Vorgehen ist auch erforderlich, um den in Deutschland im sogenannten Unterschwellenbereich existierenden erheblichen Erschwernissen und Einschränkungen im Primär- und Sekundärrechtsschutz mit den gebotenen Mitteln zu begegnen und dem Rechtsschutz der Bieter in diesem Bereich zur Durchsetzung zu verhelfen. 35

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Deutschlands erste Tax Law Clinic in Hannover? Christian Deckenbrock und Thomas Keß*

I. Einleitung II. Law Clinics in Deutschland III. Die Pläne des VFS Hannover für eine Tax Law Clinic IV. Das Verbot einer Tax Law Clinic durch das StBerG 1. Das weitgehende Verbot karitativer Steuerrechtsdienstleistungen 2. Verhältnis von StBerG und RDG

3. Verfassungsmäßigkeit der §§ 2 ff. StBerG a) Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit b) Keine sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung V. Der Rechtsstreit um die Tax Law Clinic VI. Ausblick

I. Einleitung Eines der Ziele des im Jahr 1831 als „Advocaten-Verein zu Hannover“ gegründeten Rechtsanwalts- und Notarvereins Hannover war und ist es, die „wissenschaftliche und practische Ausbildung zu fördern“.1 Seit 2015 hat er für die Realisierung dieser Zielsetzung mit dem in diesem Jahr gegründeten VFS Hannover – Verein zur Förderung der Steuerrechtswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover – einen jungen Partner an der Seite. Der VFS Hannover wurde ins Leben gerufen von Angehörigen der Anwaltschaft, des steuerberatenden Berufs, der Finanzverwaltung, der Finanzgerichtsbarkeit und einer großen Zahl an Studierenden, die dem im juristischen Studium stiefmütterlich behandelten Steuerrecht nicht nur an der hiesigen Leibniz Universität, sondern am gesamten Standort Hannover mehr Aufmerksamkeit verschaffen möchten.2 Zu diesem Zweck veranstal* Der Autor Deckenbrock begleitet den VFS Hannover ehrenamtlich bei dem Aufbau der Tax Law Clinic, der Autor Keß ist Vorsitzender des VFS Hannover. 1 §  1 des Regulativs für den in Hannover errichteten Advocaten-Verein, zitiert nach Klein, JoJZG 2010, 16 ff.; s. dazu auch den Beitrag von Stobbe auf S. 147 ff. in dieser Festschrift. 2 Das Steuerrecht und Hannover haben die Gemeinsamkeit, dass beiden allgemein ein schlechter Ruf als langweilig vorauseilt, dieser aber regelmäßig einer Begeisterung weicht, wenn man sich näher mit ihnen befasst … 37

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tet der Verein Abendsymposien zu grundlegenden und aktuellen Themen, Studienfahrten für die Studierenden nach Berlin und München, Steuerrechts-Crashkurse, Kanzleibesuche und vieles mehr. Zusammen mit dem Institut für Prozess- und Anwaltsrecht der Leibniz Universität veranstalten die beiden Vereine außerdem das „Hannoversche Symposium zum Gesellschafts- und Steuerrecht“, das in diesem Jahr bereits zum vierten Mal stattgefunden hat. Auch die abendlichen Vortragsveranstaltungen des Rechtsanwalts- und Notarvereins Hannover zum Steuerrecht werden gemeinsam angeboten. Eine der wichtigsten Ideen, die der VFS Hannover seit seiner Gründung realisieren möchte, ist die Errichtung von Deutschlands erster Tax Law Clinic an der Leibniz Universität Hannover. Auch hierbei wirken beide Vereine eng zusammen. Da die Tax Law Clinic damit auch einen Teil der 190-jährigen Geschichte des Rechtsanwalts- und Notarvereins Hannover darstellt, sollen sie und die Bemühungen um ihre Verwirklichung bis dato im Folgenden kurz vorgestellt und beleuchtet werden.

II. Law Clinics in Deutschland Law Clinics oder Legal Clinics sind in Deutschland mittlerweile ein fester Bestandteil an den meisten juristischen Fakultäten.3 Die dort stattfindende unentgeltliche Rechtsberatung durch Studierende unter Anleitung eines Rechtsanwalts bietet eine großartige Möglichkeit, bereits im Studium das theoretisch Gelernte praktisch anzuwenden.4 Dass die Erbringung unentgeltlicher Rechtsdienstleistungen in dieser Form heute überhaupt möglich ist, ist Dr. Helmut Kramer zu verdanken.5 Kramer war früher Richter am Oberlandesgericht Braunschweig und hat sich Zeit seines Berufslebens für eine Aufarbeitung des NS-Unrechts in der Justiz eingesetzt. Nach seiner Pensionierung wurde Kramer – ohne selbst als Rechtsanwalt zugelassen zu sein – als Rechtsbeistand u.a. für zwei junge Männer tätig, die als sog. Totalverweigerer sowohl die Ableistung des Wehrdienstes als auch eines Ersatzdienstes verweigert hatten, damals eine Straftat. Wäh3 Horn, JA 2013, 644 ff.; Dux/Prügel, JuS 2015, 1148 ff.; Hannemann/Dietlein, Jura 2017, 449 ff. 4 Kilian, AnwBl 2017, 950 ff.; Paal, AnwBl 2017, 956 ff. 5 Zur Person Helmut Kramers vgl. Höbermann, Betrifft JUSTIZ 2010, 333 ff. Nähere Informationen zum Leben und Wirken von Helmut Kramer finden sich auch unter https://kramerwf.de/index.php. 38

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rend des deswegen geführten Strafprozesses zeigte Kramer sich selbst wegen eines Verstoßes gegen das damals geltende, noch aus der NS-Zeit stammende Rechtsberatungsgesetz (RBerG)6 an. Er gab zu Protokoll, die beiden Männer ohne die erforderliche Erlaubnis und darüber hinaus auch unentgeltlich zu vertreten, wie er dies auch in zahlreichen anderen Fällen getan habe und künftig tun wolle. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 RBerG durfte aber die Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten geschäftsmäßig nur von Personen betrieben werden, denen dazu von der zuständigen Behörde die Erlaubnis erteilt worden war. Die Zuwiderhandlung stellte nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 RBerG eine Ordnungswidrigkeit dar. Kramer wurde deshalb durch das Amtsgericht Braunschweig zu zwei Geldbußen verurteilt,7 was das Oberlandesgericht Braunschweig in den jeweiligen Beschwerdeverfahren bestätigte.8 Außerdem stellte Kramer in einem Strafverfahren wegen Diebstahls bei dem Landgericht Heidelberg einen Antrag auf Bestellung als Verteidiger, legte eine Vollmacht des Angeklagten vor und wies auf die beiden Verurteilungen durch das Amtsgericht Braunschweig wegen unerlaubter geschäftsmäßiger Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten hin. Das Landgericht Heidelberg versagte die entsprechende Genehmigung, weil auch die unentgeltliche, rein altruistische Rechtsberatung einer behördlichen Erlaubnis bedürfe, über die Kramer aber nicht verfüge.9 Die Beschwerde zum Oberlandesgericht Heidelberg blieb erfolglos.10 Gegen die verschiedenen Beschlüsse wandte sich Kramer mit Verfassungsbeschwerden und bekam jeweils Recht. Das Bundesverfassungsgericht ­bemängelte, die Gerichte hätten bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des RBerG nicht in Erwägung gezogen, ob der Begriff der „Geschäftsmäßigkeit“ unter Berücksichtigung der durch das RBerG geschützten Interessen und des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen im konkreten Fall eine Auslegung 6 Gesetz zur Verhütung von Mißbräuchen auf dem Gebiete der Rechtsberatung (Rechtsberatungsgesetz) v. 13.12.1935, RGBl. I 1935, 1478. S. zur Geschichte des Rechtsberatungsrechts Henssler in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5.  Aufl. 2021, Einleitung Rz. 2 ff. 7 AG Braunschweig v. 13.10.1999 – 2 OWi 701 Js 9841/99, n.v.; AG Braunschweig v. 25.7.2001 – 2 OWi 701 Js 42774/99, n.v. 8 OLG Braunschweig v. 1.3.2000  – 1 Ss (B) 5/00, n.v.; OLG Braunschweig v. 13.12.2002 – 1 Ss (B) 78/01, n.v. 9 LG Heidelberg v. 12.11.2003 – 4 Ns 24 Js 25006/02, n.v. 10 OLG Karlsruhe v. 31.3.2004 – 2 Ws 1/04, n.v. 39

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erfordere, die die unentgeltliche Rechtsbesorgung durch einen berufserfahrenen Juristen nicht erfasse.11 Diese enge Auslegung der „Geschäfts­ mäßigkeit“ galt in der Folgezeit als „lex Kramer“ bei der Anwendung des RBerG. Im Jahr 2008 wurde das RBerG durch das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) ersetzt.12 Während die entgeltliche Erbringung von Rechtsdienstleistungen weitgehend der Anwaltschaft vorbehalten blieb, führte die Reform des Rechtsberatungsrechts zu weitreichenden, deutlich über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinausgehenden Öffnungen im Bereich der unentgeltlichen Rechtsberatung.13 Der Gesetzgeber betonte, dass sich das im RBerG verankerte generelle Verbot auch der unentgeltlichen Rechtsberatung durch Verbraucherschutzinteressen nicht mehr rechtfertigen ließ.14 § 6 RDG erlaubt nunmehr ausdrücklich unentgeltliche Rechtsdienstleistungen, allerdings  – bei Erbringung außerhalb familiärer, nachbarschaftlicher oder ähnlich enger persönlicher Beziehungen – nur, wenn die Rechtsdienstleistung durch einen Volljuristen oder unter dessen Anleitung erfolgt.15 Aufgrund dieser neuen Regelung können seither auch Studierende (ggf. im Rahmen eines Vereins) unter Anleitung eines Volljuristen unentgeltliche Rechtsdienstleistungen erbringen.16 Die erste Legal Clinic wurde bereits zum Wintersemester 2007/2008 – im Vorgriff auf die bevorstehende Liberalisierung des Rechtsberatungsrechts – an der Universität Gießen gegründet.17 In Hannover gibt es seit 2010 an der Leibniz Universität die Legal Clinic, in der Studierende anderen Studieren11 BVerfG v. 29.7.2004 – 1 BvR 737/00, NJW 2004, 2662; v. 20.10.2004 – 1 BvR 130/03, WM 2004, 2363 = BeckRS 2004, 25513; v. 16.12.2006 – 2 BvR 951/04, NJW 2006, 1502. 12 Gesetz über außergerichtliche Rechtsdienstleistungen (Rechtsdienstleistungsgesetz) v. 12.12.2007, BGBl. I 2007, 2840; s. einführend dazu nur Römermann, NJW 2006, 3025 ff.; Henssler/Deckenbrock, DB 2008, 41 ff. 13 S.  dazu Henssler in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5.  Aufl. 2021, Einleitung Rz. 38, 55 ff. 14 BT-Drucks. 16/3655, S. 39. 15 S.  dazu nur die Ausführungen von Dux-Wenzel in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021, § 6 Rz. 62 ff. sowie den Einführungsbeitrag von Müller, MDR 2008, 357 ff. 16 S. nur Dux-Wenzel in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021, § 6 Rz. 1 ff.; Deckenbrock, AnwBl 2017, 937 ff. 17 Kilian/Wenzel, AnwBl 2017, 963. 40

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den etwa bei miet- oder arbeitsrechtlichen Fragen Hilfestellung leisten. Seit 2015 existiert außerdem eine sehr engagierte Refugee Law Clinic, in der Studierende ratsuchenden Geflüchteten rechtlich zur Seite stehen. An anderen Universitäten bestehen studentische Law Clinics für Start-ups, für Menschenrechte und sogar für Strafrecht.18

III. Die Pläne des VFS Hannover für eine Tax Law Clinic Eine Tax Law Clinic, also eine unentgeltliche studentische Rechtsberatung im Steuerrecht gibt es bisher aber noch nicht.19 Das will der VFS Hannover ändern. Denn ein Interesse der Studierenden am Steuerrecht wird man vor allem dadurch wecken können, wenn man die große praktische und persönliche Bedeutung dieses Rechtsgebiets unmittelbar erfahrbar macht. Die Idee für eine Tax Law Clinic entstand direkt nach der Gründung des Vereins im Jahr 201520 aus dem Kreis der studentischen Mitglieder. Fragen rund um das Steuerrecht gab und gibt es unter den Studierenden viele und entsprechend besteht auch ein großer Beratungsbedarf, an den eine Tax Law Clinic anknüpfen könnte. Etwa: Wann bin ich als Studierender verpflichtet, eine Einkommensteuererklärung abzugeben? Wie funktioniert eine Steuererklärung? Kann ich Erstattung von Steuern erreichen, die von meinem Lohn als studentischer Mitarbeiter einbehalten wurden? Kann ich die Aufwendungen für mein Studium von der Steuer absetzen? etc. Die Resonanz auf die Idee der Tax Law Clinic war groß. An einem ersten Treffen zu ihrer Umsetzung nahmen mehr als 30 Studierende teil. Eine Gruppe von Rechtsanwälten innerhalb des Vereins, darunter auch der jetzige Präsident des Rechtsanwalts- und Notarvereins Hannover Henning Schröder, befasste sich mit der Konzeption und der rechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens. Nach den damaligen Überlegungen sollte die unentgeltliche steuerliche Beratung für Studenten durch Beraterteams unter dem organisatorischen Dach des VFS Hannover erfolgen. Die Beraterteams soll18 Einen Überblick über die verschiedenen Law Clinics geben Kilian/Wenzel, ­AnwBl 2017, 963 ff. 19 S. dazu bereits Deckenbrock, AnwBl 2017, 937, 943. 20 Die Veranstaltung zur Gründung des Vereins fand unter Leitung des damaligen Präsidenten des Rechtsanwalts- und Notarvereins Hannover Marc Wandersleben statt. 41

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ten jeweils aus zwei Studierenden bestehen, einem mit steuerrechtlichen Vorkenntnissen – etwa aufgrund einer Ausbildung in der Finanzverwaltung oder als Steuerfachangestellter – und einem ohne Erfahrungen auf diesem Rechtsgebiet. Die Beratung sollte außerdem unter der ständigen Betreuung und Beaufsichtigung durch einen Rechtsanwalt mit steuerrechtlicher Expertise stattfinden.

IV. Das Verbot einer Tax Law Clinic durch das StBerG 1. Das weitgehende Verbot karitativer Steuerrechtsdienstleistungen Eine Umsetzung der Pläne war jedoch nicht ohne weiteres möglich. Denn für das Steuerrecht enthält das StBerG eigene Befugnisnormen. § 2 StBerG bestimmt insoweit, dass Hilfeleistung in Steuersachen geschäftsmäßig nur von Personen und Vereinigungen ausgeübt werden darf, die dazu befugt sind. Befugt sind nach §  3 StBerG Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Rechtsanwälte, niedergelassene europäische Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer und vereidigte Buchprüfer und entsprechende Gesellschaften, nicht aber Studierende oder ein studentischer Verein, selbst wenn eine Anleitung durch Steuerberater oder Rechtsanwälte erfolgt. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass Law Clinics unentgeltlich21 tätig werden. Denn in § 2 StBerG heißt es weiter: „Dies gilt ohne Unterschied für hauptberufliche, nebenberufliche, entgeltliche oder unentgeltliche Tätigkeit.“ Ausgenommen von der Erlaubnispflicht ist nach § 6 Nr. 2 StBerG nur die unentgeltliche Hilfeleistung in Steuersachen für Angehörige i.S.d. § 15 AO. Dies entspricht in Teilen der Regelung des § 6 RDG, wenngleich „nachbarschaftliche oder ähnlich enge persönliche Beziehungen“ nach §§  2, 6 Nr.  2 StBerG noch nicht die Erlaubnisfreiheit begründen.22 Dagegen lassen sich aus dem StBerG anders als aus § 6 RDG keine Rechtsdienstleistungskompetenzen von Law Clinics herleiten. Die Vorschriften des StBerG bleiben damit in ihrer Liberalität deutlich hinter der allgemeinen Regelung des § 6 RDG zurück.

21 Zum Begriff der Unentgeltlichkeit s. im Allgemeinen Dux-Wenzel in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021, § 6 Rz. 10 ff. und bezogen auf Law Clinics Deckenbrock, AnwBl 2007, 937, 939 m.w.N. 22 Deckenbrock, AnwBl 2007, 937, 943. 42

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2. Verhältnis von StBerG und RDG Dieser Befund wirft die Frage nach dem Verhältnis der widerstreitenden Normen des § 6 RDG und des § 2 StBerG auf. Insoweit ist zunächst zu beachten, dass sich dem Erlaubnistatbestand des § 6 RDG unmittelbar keine Einschränkung auf bestimmte Rechtsgebiete entnehmen lässt. Vielmehr schließt der Begriff der Rechtsberatung an sich die Steuerrechtsberatung ein, die auch als eine auf ein Fachgebiet beschränkte Rechtsberatung mit Berührungspunkten zum außersteuerlichen Recht verstanden wird.23 Allerdings stellt § 1 Abs. 3 RDG klar, dass Regelungen in anderen Gesetzen über die Befugnis, (außergerichtliche) Rechtsdienstleistungen zu erbringen, unberührt bleiben. Der Gesetzgeber hat das RDG also als lex generalis ausgestaltet.24 Durch diese Klarstellung des Rangverhältnisses wurden zugleich Änderungen des RDG als Folge von Widersprüchen zu anderen gesetzlichen Regelungen als überflüssig angesehen.25 In erster Linie sollte durch §  1 Abs.  3 RDG zum Ausdruck gebracht werden, dass sich eine ­Befugnis zur Erbringung von Rechtsdienstleistungen auch aus anderen (Spezial-)Gesetzen ergeben kann.26 So ergeben sich solche Rechtsdienstleistungskompetenzen etwa für den Rechtsanwalt aus § 3 BRAO, den Patent­ anwalt aus § 3 PAO, den Wirtschaftsprüfer aus § 2 WPO und den Notar aus §  1 BNotO. Weitere außergerichtliche Rechtsberatungsbefugnisse folgen für den Versicherungsberater aus § 34d Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 GewO und für den Versicherungsmakler aus § 34d Abs. 1 Satz 8 GewO.27 Für den hier interessierenden Bereich der Steuerrechtsberatung finden sich in dem bereits angesprochenen § 3 StBerG für bestimmte Berufsträger Befugnisse zur unbeschränkten (geschäftsmäßigen) Hilfeleistung in Steuersachen.28 All diese Normen verstehen sich als Erlaubnistatbestände i.S.d. § 3 RDG. 23 BVerfG v. 18.6.1980 – 1 BvR 697/77, BVerfGE 54, 301, 315 = NJW 1981, 33, 34; BVerfG v. 4.7.1989 – 1 BvR 1460/85, 1239/87, BVerfGE 80, 269, 280 = NJW 1989, 2611, 2612; BGH v. 4.1.1968 – AnwZ (B) 10/67, BGHZ 49, 244, 246 = NJW 1968, 844, 845; BGH v. 1.12.1969 – NotZ 7, 8/69, BGHZ 53, 103, 105 = NJW 1970, 425. 24 BT-Drucks. 16/3655, S. 45. 25 BT-Drucks. 16/3655, S. 32. 26 BT-Drucks. 16/3655, S. 45. 27 Ein Überblick über Erlaubnistatbestände i.S.d. § 1 Abs. 3 RDG findet sich bei Deckenbrock in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021, § 1 Rz. 28 ff. 28 Für Rechtsanwälte ergibt sich die Befugnis zur Steuerrechtsberatung zudem aus § 3 BRAO, da die Steuerrechtsberatung Teil der Rechtsberatung ist. 43

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Der Gesetzesbegründung lässt sich aber auch entnehmen, dass Rechtsdienstleistungsbefugnisse, die in Gesetzen außerhalb des RDG geregelt sind, auch die Erlaubnistatbestände, die sich unmittelbar aus dem RDG ergeben, einschränken können. So wird in ihr sogar ausdrücklich hervorgehoben, dass eine Rechtsdienstleistungskompetenz aus dem RDG nicht abgeleitet werden kann, „soweit anderweitig die Rechtsdienstleistungsbefugnis auf einem Gebiet … abschließend“ geregelt ist.29 Zum Teil wird indes darauf abgestellt, dass der Gesetzgeber Law Clinics weder bei Verabschiedung der §§ 2 ff. StBerG noch bei der 2008 in Kraft getretenen Reform des Rechtsberatungsrechts vor Augen hatte. Das Vorrangverhältnis zugunsten der Regelungen des StBerG könne aber gemäß § 1 Abs. 3 RDG nur Anwendung finden, soweit das StBerG zu einer Regelung des RDG eine abweichende oder gesonderte Regelung treffe. Da das StBerG aber keine Regelung zur unentgeltlichen Erbringung von Steuerberatungsleistungen durch gemeinnützige Organisationen enthalte, müsse die Regelung des § 6 Abs. 2 RDG jedenfalls insoweit auch für den Bereich des Steuerrechts gelten.30 Aus dem Fehlen einer entsprechenden Regelung in den §§ 2 ff. StBerG lasse sich allenfalls der Schluss ziehen, dass eine Tax Law Clinic unter der Anleitung von Volljuristen erfolgen müsse, Steuerberater (die nicht zugleich die Befähigung zum Richteramt erworben haben) dagegen als anleitende Personen nicht in Betracht kämen.31 In der Tat lässt sich etwa der Begründung zu § 6 RDG nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber mit der von ihm angestrebten Stärkung des bür­ gerschaftlichen Engagements32 auch an die etwa an US-amerikanischen Universitäten bereits etablierten Law Clinics dachte. Man wird jedoch konzedieren müssen, dass in der Gesetzesbegründung der Bereich des Steuerrechts sogar ausdrücklich als ein Gebiet bezeichnet wird, in dem anderweitig die Rechtsdienstleistungsbefugnisse abschließend geregelt seien.33 Es 29 BT-Drucks. 16/3655, S. 45. 30 Günther/Grupe, NWB 2019, 2954, 2958. 31 Von Lewinski, Berufsrecht der Rechtsanwälte, Patentanwälte und Steuerberater, 4. Aufl. 2017, S. 412. 32 BT-Drucks. 16/3655, S. 39. 33 BT-Drucks. 16/3655, S. 45; vgl. auch Sächsisches FG v. 29.9.2010 – 6 V 1310/10, BeckRS 2011, 95235; Deckenbrock in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5.  Aufl. 2021, § 1 Rz. 31a; Deckenbrock, AnwBl 2017, 937, 943; Dux-Wenzel in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5.  Aufl. 2021, §  6 Rz.  7a; Dux/Prügel, JuS 2015, 1148, 1152; Henssler in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021, Einleitung Rz. 30; 44

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Deutschlands erste Tax Law Clinic in Hannover?

verwundert daher nicht, dass das Niedersächsische Finanzministerium,34 die Steuerberaterkammer Niedersachsen35 und das Finanzamt Hannover-­ Nord36 in ihren Schreiben an den VFS Hannover darauf abgestellt haben, dass die §§ 2 ff. StBerG gegenüber den Regelungen des RDG Vorrang entfalten und daher dem Tätigwerden einer sich steuerrechtlichen Fragen widmenden Law Clinic entgegenstehen. Letztlich dürfte der in der Gesetzesbegründung betonte Vorrang der Regelungen des StBerG auch darauf beruhen, dass für das Berufsrecht der drei Berufsgruppen Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer mit dem BMJV, dem BMF und dem BMWi drei unterschiedliche Bundesministerien zuständig sind,37 wobei die Zuständigkeit des BMJV nicht nur die BRAO, sondern auch das RDG umfasst. Nicht immer verläuft die Abstimmung zwischen den Ministerien so reibungslos wie bei dem sich aktuell im Gesetzgebungsverfahren befindenden Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe.38 Vielmehr haben einige frühere Gesetzgebungsverfahren gezeigt, dass das für ein Gesetzgebungsverfahren federführende Ministerium eine zeitgleich erfolgende Reform von Materien, die in die Zuständigkeit eines anderen Ministeriums fallen, mitunter scheut. Gerade ohnehin schon umfangreiche Gesetzgebungsverfahren sollen durch ministeriumsübergreifende Abstimmungen nicht unnötig „belastet“ werden. Es wird dann stattdessen darauf gesetzt, dass die jeweils anderen ­Ministerien im Zuge einer weiteren dann von ihnen initiierten Reform Änderungen – soweit sachgerecht – „nachholen“. Auch in der Frage der karitativen Rechtsdienstleistung wurde auf eine Abstimmung zwischen dem (damaligen) BMJ und dem BMF offenbar verzichtet und – zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten – der Vorrang der Regelungen des StBerG betont. Kilian, DStR 2020, 407, 408; Piekenbrock in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl. 2020, § 6 Rz. 32; Riddermann in Kuhls u.a., StBerG, 4. Aufl. 2020, § 1 Rz. 2, 12, § 2 Rz. 10; Ring, DStR-Beih 2017, 51. 34 Schreiben v. 22.2.2017. 35 Schreiben v. 3.2.2017. 36 Schreiben v. 17.8.2018. 37 Deckenbrock, AnwBl 2014, 118, 127 f.; Henssler, AnwBl 2014, 762, 769; Henssler/Deckenbrock, AnwBl 2016, 211, 215. 38 BT-Drucks. 19/27670. 45

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Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, die Tätigkeit einer Tax Law Clinic und die damit verbundene Erbringung von Steuerrechtsberatung als von § 6 RDG gedeckt anzusehen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass eine Tax Law Clinic unter der Anleitung einer nach § 3 StBerG selbst zur (geschäftsmäßigen) Erbringung von Steuerrechtsberatung befugten Person, etwa eines Rechtsanwalts oder Steuerberaters, tätig wird.39 Maßgeblich ist allein, ob die Law Clinic selbst die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erbringung (unentgeltlicher) Steuerrechtsdienstleistungen erfüllt und nicht, ob dieses in Person des Anleitenden der Fall ist. Daher dürfen etwa nichtanwaltliche Gesellschaften auch dann keine umfassenden Rechtsdienstleistungen erbringen, wenn sie die konkrete Bearbeitung einem Syndikusrechtsanwalt (vgl. § 46 Abs. 5 BRAO) oder einem Volljuristen übertragen.40 3. Verfassungsmäßigkeit der §§ 2 ff. StBerG a) Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit Geht man davon aus, dass die §§ 2 ff. StBerG vorrangiges Recht i.S.d. § 1 Abs. 3 RDG darstellen und daher im Bereich des Steuerrechts de lege lata der Etablierung einer Tax Law Clinic entgegenstehen, stellt sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Einschränkung. Insoweit liegt zunächst ein Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG, auf die sich gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auch juristische Personen und damit auch eingetragene Vereine berufen können, auf der Hand. Zwar steht die Ausübung des Grundrechts des Art. 2 Abs. 1 GG u.a. unter dem Vorbehalt, dass hiermit kein Verstoß gegen die „verfassungsmäßige Ordnung“ einhergeht. Die die allgemeine Handlungsfreiheit einschränkenden Regelungen müssen allerdings ihrerseits formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehen. Auf diesem Wege kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besondere Bedeutung zu.41

39 So aber von Lewinski, Berufsrecht der Rechtsanwälte, Patentanwälte und Steuerberater, 4. Aufl. 2017, S. 412. 40 BGH v. 22.2.2005 – XI ZR 41/04, NJW 2005, 1488 (zu Art. 1 § 1 RBerG a.F.); Seichter in Deckenbrock/Henssler, 5. Aufl. 2021, § 3 Rz. 6a; Henssler/Deckenbrock, NJW 2016, 1345, 1347. 41 S. nur Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. 2020, Art. 2 Rz. 17 f. m.w.N. 46

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Eine verfassungsrechtliche Würdigung muss dabei die Motive berücksichtigen, die den Gesetzgeber zur weitgehenden Liberalisierung des Bereichs unentgeltlicher Rechtsberatung veranlasst haben. Insoweit heißt es in der Gesetzesbegründung: „Das im geltenden Recht angelegte Verbot unentgeltlicher Rechtsberatung ist nicht zeitgemäß und steht mit dem Gedanken von bürgerschaftlichem Engagement nicht mehr im Einklang. Aus diesem Grund soll die unentgeltliche Rechtsdienstleistung durch § 6 RDG grundsätzlich erlaubt werden. … Anders als bei der Rechtsberatung im Familien- oder Bekanntenkreis handelt es sich bei denjenigen, die bei aus karitativen oder ähnlichen Beweggründen handelnden privaten Personen oder Hilfsorganisationen Hilfe suchen, überwiegend um Personen, die einerseits mittellos und zudem  – aus welchen Gründen auch immer – nicht gewillt oder in der Lage sind, die unentgeltliche Beratungsmöglichkeit, die der Staat in Form von Beratungshilfe zur Verfügung stellt, in Anspruch zu nehmen (z.B. Obdachlose, Asylbewerber, Zuwanderer etc.). Auch ist nicht zu verkennen, dass gerade in diesem Bereich eine ausreichende Versorgung dieser Bevölkerungsschichten durch die Anwaltschaft nicht immer sichergestellt ist, ein Monopol in diesem Bereich also allein schon deshalb nicht zu rechtfertigen ist. Rechtsberatung ist hier letztlich Teil einer allgemeinen Lebenshilfe, die sich allerdings in – für den Mittel- und Hilflosen durchaus folgenreichen – rechtlich relevanten Bereichen auswirken kann (z.B. Einhaltung von Fristen bei Antragstellung etc.). Hier darf der Staat einerseits das (objektiv notwendige) bürgerschaftliche Engagement nicht behindern, andererseits aber den Schutz der Rechtsuchenden nicht aus den Augen verlieren. Auch hilf- und mittellose Personen haben einen Anspruch auf qualitätsvolle Rechtsberatung. In diesem Bereich sind daher qualitätssichernde Vorgaben zur Sicherstellung des Verbraucherschutzes erforderlich. Vor diesem Hintergrund sieht der Gesetzentwurf in § 6 Abs. 2 RDG vor, dass unentgeltliche Rechtsberatung, die außerhalb des Familien- und Bekanntenkreises angeboten wird, durch eine juristisch qualifizierte Person oder jedenfalls unter Anleitung einer solchen Person erbracht werden muss.  … Ergänzend sieht der Entwurf, um seinem Anspruch als Verbraucherschutzgesetz gerecht zu werden, in den Fällen unentgeltlicher Beratung eine Untersagungsmöglichkeit für den Fall vor, dass die Belange der Hilfesuchenden durch unqualifizierten Rechtsrat gefährdet werden“42.

Angesichts dieser klaren Worte kann das weitgehende Verbot karitativer Steuerrechtsberatung im Allgemeinen und das Verbot einer Tax Law Clinic im Besonderen nur dann einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten, 42 BT-Drucks. 16/3655, S. 39 f. 47

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wenn es gerade für den Bereich des Steuerrechts einen legitimen Zweck für den damit verbundenen Grundrechtseingriff gibt. Während sich die Kommentarliteratur hierzu ausschweigt, findet sich ein Rechtfertigungsversuch in einem Beschluss des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages. Dieser hat im Rahmen einer Eingabe43 das Verbot unentgeltlicher Steuerrechtsdienstleistungen mit den „Risiken für das Steueraufkommen“ gerechtfertigt. Neben Verbraucherschutzinteressen sei „der gesetzmäßigen Festsetzung und Erhebung der Steuern als besonders wichtigem Gemeinschaftsgut besonderes Gewicht beizumessen. Das Risiko einer unentgeltlichen Schlechtberatung trägt nämlich nicht nur der Steuerpflichtige, sondern auch der Fiskus. Das Leitbild des Gesetzgebers ist daher der einer Berufsaufsicht unterliegende Steuerberater, der als Mittler zwischen Steuerpflichtigem und Finanzbehörde dafür eintritt, dass Steuern gerecht erhoben werden. Er vertritt nicht nur die Interessen seiner Klienten, sondern hat zugleich eine Vertrauensstellung gegenüber den Finanzbehörden und -gerichten. Dem werden andere als die in den §§ 3 und 4 StBerG bezeichneten Personen und Vereinigungen – auch unter fachkundiger Anleitung im Sinne des § 6 Abs. 2 RDG – grundsätzlich nicht gerecht. Es ist daher schon im Hinblick auf die Risiken für das Steueraufkommen nicht angezeigt, die unentgeltliche Hilfeleistung in Steuersachen über die Fälle des § 6 Nr. 2 StBerG hinaus grundsätzlich zuzulassen.“44

Überzeugend ist dieser Ansatz indes nicht. Abgesehen davon, dass auch ein Steuerberater trotz seiner Stellung als „Organ der Steuerrechtspflege“ (§ 32 Abs. 2 Satz 1 StBerG; § 1 Abs. 1 BOStB) in erster Linie Interessenvertreter des Mandanten und er gehalten ist, die Belange seines Auftraggebers bestmöglich zu vertreten,45 ist die Unterstellung, dass Beratungen im Rahmen einer Tax Law Clinic zwangsläufig dem Interesse des Steueraufkommens und der Steuermoral zuwiderlaufen, nicht haltbar. Im Gegenteil ist es auch dem Gesetzgeber des RDG ein Anliegen gewesen, bürgerschaftliches Engagement nur in der Form zu ermöglichen, dass Interessen der Recht­ suchenden und Dritter nicht gefährdet sind. Genau deshalb hat der Ge­ setzgeber den Bereich der unentgeltlichen Rechtsberatung außerhalb des 43 Pet 2-17-08-616-035778 v. 26.3.2012. 44 Beschluss des Petitionsausschusses v. 15.5.2013, Prot.-Nr. 17/86; vgl. auch BTDrucks. 17/13505, S. 2. Ein entsprechender Schutzzweck wird auch schon von BVerfG v. 18.6.1980 – 1 BvR 697/77, BVerfGE 54, 301, 315 = NJW 1981, 33, 34 betont. 45 Vgl. nur Raab in Kuhls u.a., StBerG, 4. Aufl. 2020, § 57 Rz. 42 ff.; Ring, DStRBeih 2019, 54, 55. 48

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Familien- und Bekanntenkreises nur insoweit geöffnet, als diese jedenfalls unter Anleitung einer hinreichend qualifizierten Person (mit Befähigung zum Richteramt) erbracht werden muss. Die von dem VFS Hannover geplante Tax Law Clinic würde sogar weit über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinausgehende Qualitätssicherungsmaßnahmen ergreifen und so jede nennenswerte Gefährdung des Steueraufkommens ausschließen und Gewähr für eine gerechte Steuererhebung übernehmen. Signifikante Gefahren für das Steueraufkommen wären auch bereits deshalb ausgeschlossen, weil sich die Tätigkeit der Tax Law Clinic ohnehin nur an Studierende richtet bzw. nur Fälle von geringem finanziellem Gewicht und geringer Schwierigkeit erfasst. Schon deshalb ist ein so weitgehendes Verbot, wie es die §§ 2 ff. StBerG für den Bereich der unentgeltlichen Steuerrechtsberatung formuliert, nicht zum Schutz des Steueraufkommens und im Interesse der Steuermoral erforderlich und damit verfassungswidrig. Im Übrigen setzt sich der Beschluss des Petitionsausschusses nicht mit den Besonderheiten der unentgeltlichen Steuerrechtsberatung auseinander. ­Bereits aus den zu Beginn dieses Beitrags angesprochenen sog. Kramer-­ Entscheidungen46 folgt, dass der pauschale Ausschluss der unentgeltlichen Steuerrechtsberatung (außerhalb des Familienkreises) durch einen berufs­ erfahrenen Juristen (und damit etwa auch einen pensionierten Finanzrichter oder -beamten) nicht mit Art. 2 Abs. 1 GG vereinbar ist.47 Es bleibt aber darüber hinaus völlig unklar, warum gerade einer auf karitativer Basis tätig werdende Law Clinic nicht eine an Recht und Gesetz orientierte Beratung zugetraut werden soll. Dass der Vergleich mit dem Steuerberater hinkt, folgt auch daraus, dass der „Kundenkreis“ der Tax Law Clinic in der Regel ansonsten selbst seine Steuererklärung anfertigen würde. Im Gegenteil dürfte es unbestritten sein, dass das steuerrechtliche Know-How bei Beteiligung der Law Clinic und ihrer Mitwirkenden gerade größer ist, als wenn die Studierenden auf sich selbst gestellt sind. Außerdem ist zu bedenken, dass der Gesetzgeber in § 13 StBerG die Institution der Lohnsteuerhilfevereine geschaffen hat. Diese Selbsthilfe-Ein46 Vgl. erneut die Nachweise in Fn. 11. 47 K.-M. Schmidt in Krenzler, RDG, 2. Aufl. 2017, § 6 Rz. 13; Piekenbrock in G ­ aier/ Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl. 2020, § 6 Rz. 32; Piekenbrock, AnwBl 2011, 848, 850; Hannemann/Dietlein, Studentische Rechtsberatung und Clinical Legal Education, 2016, S. 103 f.; offengelassen vom Sächsischen FG v. 29.9.2010 – 6 V 1310/10, BeckRS 2011, 95235. 49

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richtungen für Arbeitnehmer zur Hilfeleistung in Lohnsteuersachen und in speziellen Fällen der Einkommensteuer-Veranlagung werden in aller Regel von Personen geleitet, die nicht Steuerberater (oder sonstige Berufsträger nach §§ 3, 3a, 4 StBerG) sind. Der Gesetzgeber selbst hat damit sogar akzeptiert, dass in einem beschränkten Umfang auch weniger qualifizierte Personen Steuerberatungsleistungen erbringen dürfen. Es wäre daher ­widersprüchlich, wenn Tax Law Clinics, für die nach § 6 Abs. 2 RDG die Anleitung durch einen Volljuristen erforderlich ist, nicht – zumindest in einem beschränkten Umfang  – unentgeltliche Steuerberatung erbringen dürften. Schließlich hat die Liberalisierung unentgeltlicher Rechtsdienstleistungen offenbar keine negativen Entwicklungen ausgelöst. Ein Blick in das Rechtsdienstleistungsregister48 zeigt, dass die zuständigen Behörden im Bereich unentgeltlicher Rechtsdienstleistungen aktuell ganzen drei Personen und Vereinigungen gemäß § 9 RDG die weitere Erbringung von Rechtsdienstleistungen untersagt haben, weil begründete Tatsachen die Annahme ­dauerhaft unqualifizierter Rechtsdienstleistungen zum Nachteil der Rechtsuchenden oder des Rechtsverkehrs rechtfertigen. Anhaltspunkte von Missständen im Zusammenhang mit der Arbeit einer Law Clinic gibt es sogar überhaupt keine. Für den Bereich der unentgeltlichen Steuerberatung ist kein anderer Befund zu erwarten. Die Tatsache, dass die §§ 2 ff. StBerG weiterhin dem Regelungsansatz des früheren RBerG folgen, „macht diesen Normkomplex zu einem Relikt aus vergangener Zeit“.49 Insoweit fällt auch auf, dass die Formulierung in § 2 StBerG im Wesentlichen dem Wortlaut des früheren § 1 RBerG entspricht, dessen enges Verständnis das BVerfG im Hinblick auf die unentgeltliche Rechtsberatung durch berufserfahrene Juristen als verfassungswidrig angesehen hat. Bemerkenswert ist dies auch deshalb, weil § 2 StBerG mit der „Geschäftsmäßigkeit“ weiterhin ein Tatbestandsmerkmal kennt, das der Gesetzgeber des RDG selbst für nicht mehr zeitgemäß erachtet hat.50 Die Erforderlichkeit eines Verbots unentgeltlicher Steuerrechtsberatung (und damit auch der Tätigkeit einer Tax Law Clinic) folgt auch nicht aus der besonderen Schwierigkeit der Materie des Steuerrechts. Insoweit be48 Abrufbar unter www.rechtsdienstleistungsregister.de. 49 So zutreffend Kilian, DStR 2020, 407, 408. 50 Dazu Deckenbrock/Henssler in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021, § 2 Rz. 13 f. 50

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dürfte es einer Begründung, warum Nichtjuristen unter Beachtung der Vorgaben des § 6 Abs. 2 RDG zwar keine Steuerrechtsdienstleistungen, wohl aber Beratungen in den nicht minder komplexen Bereichen der betrieblichen Altersversorgung, des Sozialrechts und des Asyl- und Ausländerrechts erbringen dürfen.51 In diesen Bereichen stellen sich zudem für die Betroffenen oft die persönliche Freiheit und Unversehrtheit berührende Rechtsfragen und sind nicht „nur“ Steueraufkommen und Steuergerechtigkeit betroffen.52 b) Keine sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung Das weitgehende Verbot der unentgeltlichen Steuerberatung ist auch mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht vereinbar. Art.  3 Abs. 1 GG verlangt, dass die vergleichbaren Berufsgruppen Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer und ihre Berufsrechte grundsätzlich gleichbehandelt werden53. Daraus lässt sich aber auch der Schluss ziehen, dass die Voraussetzungen, unter denen Nicht-Berufsträger Rechtsdienstleistungen bzw. Steuerberatung erbringen können, grundsätzlich gleich zu gestalten sind. Es ist insoweit kein sachlicher Grund ersichtlich, Rechtsberatung und Steuerberatung im Bereich des Pro-Bono-Engagements ungleich zu behandeln. Wie schon bei der Prüfung der Erforderlichkeit eines Eingriffs in Art.  2 Abs.  1 GG ausgeführt, kann weder die Sicherung des 51 Dux-Wenzel in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021, § 6 Rz. 7b; Hannemann/Dietlein, Studentische Rechtsberatung und Clinical Legal Education, 2016, S. 103. 52 Kilian, DStR 2020, 407, 408. 53 BVerfG v. 4.7.1989 – 1 BvR 1460/85 u.a., BVerfGE 80, 269, 280 ff. = NJW 1989, 2611, 2612; BVerfG v. 8.4.1998 – 1 BvR 1773/96, BVerfGE 98, 49, 62 ff. = NJW 1998, 2269, 2271  ff. sowie BGH v. 16.5.2013  – II ZB 7/11, NJW 2013, 2674 Rz. 83 ff.; s. auch Deckenbrock in Mittwoch/Klappstein/Botthof u.a., Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2015, Netzwerke im Privatrecht, 2016, S. 119, 124; Henssler, FS Kreutz, 2010, S. 635 ff.; Henssler, JZ 1998, 1065 ff.; ders., ZIP 1998, 2121 ff.; Henssler, NZG 2011, 1121 ff. Zum Teil werden in der Rechtsprechung aber auch relevante Unterschiede ausgemacht, vgl. EGMR v. 22.5.2006 – 6213/03, NJW 2007, 3049; BVerfG v. 22.2.2001  – 1 BvR 337/00, NJW 2001, 1560, 1561; BVerfG v. 13.6.2002 – 1 BvR 736/02, NJW 2002, 2163, 2164; BVerfG v. 6.12.2011 – 1 BvR 2280/11, NJW 2012, 993 Rz. 15 ff.; BVerwG v. 26.9.2012 – 8 C 26/11, BVerwGE 144, 211 Rz. 35 = NJW 2013, 327; BGH v. 18.7.2011 – AnwZ (Brfg) 18/10, NJW 2011, 3036 Rz. 17 ff. 51

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Steueraufkommens („gesetzmäßige Festsetzung und Erhebung der Steuern“) noch die Komplexität der Materie des Steuerrechts eine derartige Ungleichbehandlung rechtfertigen. Für eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung spricht auch die Entscheidung des BVerfG54 betreffend den Ausschluss steuerrechtlicher Angelegenheiten aus dem Anwendungsbereich der Beratungshilfe in §  2 Abs. 2 des Beratungshilfegesetzes in der seit dem 23.9.1994 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Beratungshilfegesetzes und anderer Gesetze vom 14.9.199455 (BerHG a.F.). In einem solchen Ausschluss – der entschiedene Fall betraf die Versagung von Beratungshilfe in einer steu­ errechtlichen Kindergeldstreitigkeit  – sieht das BVerfG ebenfalls einen ­Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG: „Bei der Ausgestaltung der Rechtswahrnehmungsgleichheit hat der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen. Er hat insbesondere auch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zu beachten. Hiermit ist die Regelung des § 2 Abs. 2 BerHG [a.F.] nicht vereinbar, wonach Beratungshilfe nur in den dort ausdrücklich nach Rechtsgebieten aufgezählten Angelegenheiten gewährt wird. Die Vorschrift führt zu einer Ungleichbehandlung von Rechtsuchenden in beratungshilfefähigen Angelegenheiten gegenüber solchen in nicht von der Aufzählung erfassten Angelegenheiten. Für diese Ungleichbehandlung gibt es jedenfalls im Verhältnis zwischen Rechtsuchenden im Bereich des Sozialrechts und jenen im Bereich des Steuerrechts und erst recht für die damit einhergehende Ungleichbehandlung zwischen Empfängern von steuerrechtlichem und sozialrechtlichem Kindergeld keinen tragfähigen sachlichen Grund.“56

Die Entscheidung zu § 2 Abs. 2 BerHG a.F. lässt sich auf die unentgeltliche Rechtsberatung in Steuersachen übertragen. Mithilfe der Regelungen des BerHG soll sichergestellt werden, dass Bürger nicht durch ihre finanzielle Lage daran gehindert werden, sich außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens sachkundigen Rechtsrat zu verschaffen.57 Damit gewährleistet das BerHG zugleich den Anspruch auf grundsätzlich gleiche Chancen von Bemittelten und Unbemittelten bei der Wahrnehmung und Verfolgung ihrer

54 BVerfG v. 14.10.2008 – 1 BvR 2310/06, BVerfGE 122, 39 = NJW 2009, 209. 55 BGBl I 1994, S. 2323. 56 BVerfG v. 14.10.2008 – 1 BvR 2310/06, BVerfGE 122, 39, 51 f. = NJW 2009, 209 Rz. 37. 57 BT-Drucks. 8/3311, S. 1. 52

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Rechte auch im außergerichtlichen Bereich.58 Genau dieselbe Ausgangslage liegt auch der Rechtsberatung in Steuersachen durch Studierende unter anwaltlicher Anleitung zugrunde. Adressaten der Steuerrechtsberatung der von dem VFS Hannover geplanten Tax Law Clinic sind Studierende der Leibniz Universität Hannover, die selbst aufgrund ihres Ausbildungsstatus im Regelfall über kein ausreichendes Einkommen verfügen, um die Gebühren anwaltlicher Beratung zu zahlen. Die klinische Rechtsberatung soll ihnen insoweit den kostenfreien Zugang zur rechtlichen Beratung ermöglichen.

V. Der Rechtsstreit um die Tax Law Clinic Auf der Grundlage dieser rechtlichen Überlegungen erstellte der VFS Hannover zusammen mit Georg Dietlein vom Bund Studentischer Rechtsberater, dem erstgenannten Autor dieses Beitrags und vielen anderen Mitstreitern einen Schriftsatz an das für den Verein zuständige Finanzamt Hannover-Nord. In diesem kündigte er an, ab dem Wintersemester 2018/19 an der Leibniz Universität Hannover eine Tax Law Clinic errichten zu wollen.59 Das Finanzamt teilte jedoch im August 2018 – wie erwartet – mit, dass es die Errichtung der Tax Law Clinic wegen des in § 2 StBerG geregelten Verbots für unzulässig hält. Schon deshalb könne eine Erlaubnis nicht erteilt werden. Eine förmliche Untersagung komme aber auch nicht in Betracht, weil tatsächlich noch keine Beratungsleistungen erbracht worden seien. Daraufhin erhob der VFS Hannover – wie geplant – im Oktober 2018 vertreten durch Henning Schröder eine Klage beim Niedersächsischen Finanzgericht mit dem Ziel, festzustellen, dass der VFS Hannover im Rahmen einer Tax Law Clinic unentgeltliche Hilfe in Steuersachen durch Studierende unter Anleitung von Rechtsanwälten leisten darf.60 Die Klage war mit der 58 BVerfG v. 14.10.2008 – 1 BvR 2310/06, BVerfGE 122, 39, 48 ff. = NJW 2009, 209 Rz. 29 ff. 59 Dieser Schriftsatz wurde auf einer „Kick off “-Veranstaltung am 25.6.2018 der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt. An dieser wirkte auch der damals 88-jährige Dr. Helmut Kramer mit, der über seinen Streit für die altruistische Rechtsberatung berichtete. 60 Bevor der zuständige 6. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts entscheiden konnte, musste festgestellt werden, dass zwei Finanzrichter, die dem Senat angehörten, nicht wegen ihrer bloßen Mitgliedschaft im VFS Hannover befan53

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Hoffnung verbunden, dass das Finanzgericht, selbst wenn es angesichts der Sperrwirkung der §§  2  ff. StBerG von der Unzulässigkeit der Errichtung einer Tax Law Clinic ausgeht, zumindest von der Verfassungswidrigkeit des Verbots überzeugt ist und daher nach Art. 100 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholt. Bereits am 25.7.2019 fand die mündliche Verhandlung vor dem Niedersächsischen Finanzgericht statt. Schon mit der Ladung hatte der Berichterstatter darauf hingewiesen, dass Zweifel am Vorliegen des für die Klage erforderlichen Feststellungsinteresses bestünden. Diesen Zweifeln traten in der mündlichen Verhandlung nicht nur der klägerische VFS Hannover, sondern auch das beklagte Finanzamt entgegen. Beide waren der Auffassung, dem Verein könne nicht zugemutet werden, die Tax Law Clinic zu starten, denn dadurch begehe dieser eine Ordnungswidrigkeit, die zu einer Geldbuße und u.U. sogar zum Wegfall der Gemeinnützigkeit führen könne. Dennoch folgte der 6. Senat in seinem Urteil dem Votum des Berichterstatters und wies die Feststellungsklage als unzulässig ab.61 Der Verein hätte die Tax Law Clinic zuerst in Betrieb setzen und dann gegen die zu erwartende Untersagungsverfügung des beklagten Finanzamts mit einer Anfechtungsklage vorgehen müssen. Das Finanzgericht schloss sich ausdrücklich nicht der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts62 an, nach der eine vorbeugende Feststellungsklage bereits dann zulässig ist, wenn die Behörde eine Maßnahme nur angekündigt hat, die für den Adressaten ordnungswidrigkeitenrechtliche Folgen haben könnte. Angesichts der Gesamtumstände erscheine es ausgeschlossen, dass gegen den Verein durch die Finanzverwaltung tatsächlich mit den Mitteln des Ordnungswidrigkeitenverfahrens vorgegangen werde. Vielmehr sei lediglich eine Zurückweisung als Berater zu erwarten. Die Revision ließ das Finanzgericht dennoch nicht zu, weil „es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt, die einen besonders gelagerten Sachverhalt betrifft“.

gen waren, ebenso wenig wie ein weiterer Richter, der über die Befangenheit mitentscheiden musste. 61 Niedersächsisches FG v. 25.7.2019 – 6 K 298/18, EFG 2020, 222. 62 BVerwG v. 23.6.2016 – 2 C 18/15, NVwZ-RR 2016, 907 Rz. 20. 54

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Die Entscheidung des Finanzgerichts erntete in der Fachliteratur durchweg Kritik.63 Auch der Vorstand des VFS Hannover war von den Ausführungen weniger überzeugt als überrascht und entschied sich daher dazu, gegen die Entscheidung beim Bundesfinanzhof eine Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen. Auf 72 Seiten64 führte der Verein aus, die Revision sei nicht nur deshalb zuzulassen, weil mit der unzutreffenden Verneinung des Feststellungsinteresses ein Verfahrensfehler vorliege, sondern auch weil die Rechtssache entgegen der Auffassung des Finanzgerichts grundsätzliche Bedeutung habe und weil wegen der Abweichung von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts eine Rechtsprechungsdivergenz vorliege. Der Bundesfinanzhof ließ sich hiervon leider nicht beeindrucken. Mit einem recht knappen Beschluss vom 30.9.2020 wies der VII. Senat die Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurück und schloss sich der Auffassung des Niedersächsischen Finanzgerichts an.65 Die Durchführung einer unentgeltlichen Steuerrechtsberatung sei trotz eines möglicherweise drohenden Bußgeldes zumutbar und gerichtliche Schritte könnten erst gegen anschließende repressive Maßnahmen der Finanzverwaltung erfolgen.

VI. Ausblick Das Niedersächsische Finanzgericht und der Bundesfinanzhof verlangen einen Rechtsbruch, bevor die Verfassungswidrigkeit des Verbots einer unentgeltlichen Steuerrechtsberatung gerichtlich geprüft werden kann. Das ist schwer nachvollziehbar und dürfte auch im Widerspruch zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stehen. Danach ist „es einem ­Betroffenen nicht zuzumuten, die Klärung verwaltungsrechtlicher Zwei63 Deckenbrock, AnwBl 2019, 554, 555; Günther/Grupe, NWB 2019, 2954, 2957 f.; Henningfeld, EFG 2020, 226 f.; Kilian, DStR 2020, 407, 408; Krumm in Tipke/ Kruse, AO/FGO, 165. Lfg. 4/2021, § 41 FGO Rz. 16. 64 Die auf der Website des VFS Hannover (www.vfs-hannover.de/projekte/taxlaw-clinic) abrufbare Beschwerde wurde von den Vereinsmitgliedern RA/StB Dipl.-Finanzwirt (FH) Jens Röhrbein, RAin/StBin Elena Duderstadt, RRef ’in Annika Rech und RRef Philipp Busch (Luther Rechtsanwälte) verfasst. 65 BFH v. 30.9.2020 – VII B 96/19. Die Entscheidung ist bislang nicht veröffentlicht, aber auf der Website des VFS Hannover abrufbar (www.vfs-hannover.de/ projekte/tax-law-clinic). S.  dazu Behlau, JUVE Steuermarkt Januar/Februar 2021, S. 27. 55

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Christian Deckenbrock und Thomas Keß

felsfragen auf der Anklagebank erleben zu müssen. Vielmehr hat er ein schutzwürdiges anzuerkennendes Interesse daran, den Verwaltungsrechtsweg als fachspezifischere Rechtsschutzform einzuschlagen, insbesondere dann, wenn ihm ein Ordnungswidrigkeitenverfahren droht“.66 Nach reiflicher Überlegung und eingehender Diskussion hat der Vorstand des VFS Hannover jedoch Abstand davon genommen, sich gegen die gerichtlichen Entscheidungen mit einer Verfassungsbeschwerde zu wehren. Zum einen wäre es nicht absehbar, wann mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gerechnet werden kann. Zum anderen stünde man im Fall des (ungewissen) Erfolgs mit diesem Vorgehen ggf. erst nach vielen Jahren wieder am Anfang der Bemühungen und müsste die Entscheidung des Finanzgerichts in der Sache abwarten. Vielmehr hat sich der Verein entschieden, der Anstiftung durch die Gerichte Folge zu leisten und den erforderlichen Verwaltungsakt des Finanzamts durch rechtswidriges Handeln zu provozieren, damit durch die dann erhobene Klage endlich die Klärung der materiell-rechtlichen Zulässigkeit der Tax Law Clinic erreicht werden kann. Um den Verein und seinen ­Vorstand vor ordnungs-, vereins-, dienst-, berufs- und standesrechtlichen Konsequenzen zu bewahren, wird er aber wohl nicht selbst tätig. Die Einzelheiten sind derzeit noch in der Planung und werden in Kürze bekannt gegeben. Besser als die gerichtliche Klärung wäre es allerdings, wenn der Gesetzgeber endlich die notwendige Reform der unentgeltlichen Steuerrechtsberatung und die damit verbundene Harmonisierung von RDG und StBerG angehen würde. Die Unhaltbarkeit der geltenden restriktiven Regeln wird noch greifbarer, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie im Kern wie das RDG ebenfalls aus dem Jahr 1935 stammen.67 Die Ausführungen des Gesetzgebers zur unentgeltlichen Rechtsdienstleistung lassen sich eins zu eins für den Bereich karitativer Steuerrechtsberatung fortschreiben: „Die Einbeziehung auch der unentgeltlichen Rechtsberatung in den Schutzbereich des Gesetzes zur Verhütung von Missbräuchen auf dem Gebiet der Rechtspflege im Jahr 1935 war geprägt von dem Bestreben, jede Umgehung des Verbots der rechtlichen Betätigung der damals vom Beruf des Rechtsanwalts und des Rechts66 BVerfG v. 7.4.2003 – 1 BvR 2129/02, NVwZ 2003, 856, 857. 67 S.  dazu die Nachweise bei Piekenbrock in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl. 2020, § 6 Rz. 31; Piekenbrock, AnwBl 2011, 848, 849 f. 56

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Deutschlands erste Tax Law Clinic in Hannover?

beistands ausgeschlossenen Personen, vor allem der zahlreichen jüdischen Rechtsanwälte, zu unterbinden; Sozialrechtsberatung sollte nur noch durch die Orga­ nisationen der NSDAP erbracht werden können. Verbraucherschutzinteressen haben dieses umfassende Verbot unentgeltlicher Rechtsberatung nie gerechtfertigt.“68

Vielleicht kann in der Festschrift zum 200. Gründungsjubiläum des Rechtsanwalts- und Notarvereins Hannover auf die erfolgreiche Errichtung von Deutschlands erster Tax Law Clinic zurückgeblickt werden.

68 BT-Drucks. 16/3655, S. 39. 57

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung – insbesondere von verbundenen Unternehmen – Martin Henssler

I. Einführung II. Rechtliche Ausgangslage 1. Überblick über die einschlägigen Rechtsvorschriften des deutschen Rechts 2. Adressat des Vertretungsverbots III. Die erforderliche Rechtssachen­ identität 1. Die erforderliche Rechtssachen­ identität als ungeschriebenes ­Tatbestandsmerkmal des § 43a Abs. 4 BRAO 2. Der Meinungsstand in Recht­ sprechung und Literatur 3. Die Abgrenzung bei gesellschaftsrechtlichen Verbindungen IV. Die anwaltlich vertretenen ­Interessen – Grundlagen 1. Bestimmung der Interessenlage – subjektive versus objektive Theorie 2. Rechtsunsicherheit durch unklare und inkohärente Rechtsprechung 3. Subjektive Interessenbestimmung a) Interesse als subjektiv geprägtes Tatbestandsmerkmal b) Bewertung der aktuellen ­Entscheidungspraxis des BGH 4. Die Bedeutung von Mandats­ umfang und Mandatsgegenstand a) Die Zulässigkeit beschränkter Mandate



b) Die Rechtslage bei der anwalt­ lichen Mediation c) Erhöhte Fürsorgepflicht d) Zusammenfassung 5. Die grundsätzliche Interessen­ identität im „Unternehmens­ verbund“ gemäß § 15 AktG 6. Das dynamische Interessen­ verständnis 7. Die Konzentration auf die ­vertretenen Interessen 8. Zwischenergebnis

V. Die künftig zu vertretenden ­Interessen der Mandanten VI. Der Widerstreit der Interessen 1. Der Begriff des Interessengegen­ satzes 2. Kein berufsrechtlich relevanter ­Interessenkonflikt im Verhältnis zu den Minderheitsgesellschaftern 3. Anforderungen an die Konkre­ tisierung des Interessengegensatzes a) Grundsätze b) Gleichgerichtete Interessen in ­zivilrechtlichen Mandaten 4. Die Bedeutung des Einverständ­ nisses der Parteien VII. Die gemeinsame Vertretung von konzernverbundenen ­Unternehmen im Rahmen von Vergleichsverhandlungen

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Martin Henssler

VIII. Bedarf nach einer erneuten ­Konfliktprüfung IX. Abhilfe durch Einholung des ­Einverständnisses der Parteien 1. Grundlagen – Anforderungen an das Einverständnis

2. Anforderungen an die weiterhin tätigen Rechtsanwälte 3. Entgegenstehende Belange der Rechtspflege X. Zusammenfassung der ­Ergebnisse

I. Einführung Die Komplexität des Wirtschaftslebens, die zunehmende Vernetzung der Wirtschaft und zugleich der Zwang zur Kosteneinsparung bringen es mit sich, dass Anwaltsgesellschaften vermehrt mit dem Wunsch konfrontiert werden, mehrere Mandanten gleichzeitig zu beraten und prozessual zu vertreten. Neben der Vertretung mehrerer Gesellschafter geht es häufig um die gleichzeitige Vertretung verbundener Unternehmen und zwar insbesondere bei gegen die Unternehmen geführten Schadensersatzprozessen. Ähnlich gelagert sind Verfahren, die gegen ein Unternehmen und eines oder mehrere Mitglieder ihres gesetzlichen Vertretungsorgans geführt werden. Nicht nur Kostengründe lassen dann den Wunsch nach einer gemeinsamen Vertretung entstehen, die gemeinsame Mandatierung derselben Anwaltssozietät erleichtert auch erheblich die Umsetzung einer abgestimmten Prozessstrategie und stellt zugleich sicher, dass die besondere Expertise des langjährigen Beraters einer Konzern(ober)gesellschaft auch den verbundenen Gesellschaften zugutekommt. Entsprechende Fallgestaltungen können sich sowohl auf Kläger- als auch auf Beklagtenseite ergeben, allerdings lassen sich auf Klägerseite die Interessen der Mandanten typischerweise deutlich leichter bündeln, etwa durch Einschaltung eines Inkassounternehmens. Hier stellen sich dann die aktuell viel diskutierten Fragen nach der Reichweite einer entsprechenden Inkassoerlaubnis.1 Sie bleiben vorliegend ausgeklammert, da sie ihren Problemschwerpunkt im Bereich des RDG haben. Praktisch bedeutsamer ist die Mehrpersonenvertretung daher bei der Abwehr von Ansprüchen, insbesondere auch von solchen, die im Rahmen von Musterklageverfahren nach dem KapMuG geltend gemacht werden. Die höchstrichterliche Rechtsprechung2 erschwert 1 Dazu statt vieler Henssler in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021, Einleitung Rz. 47e ff.; Henssler, NJW 2019, 545 ff. 2 Dazu eingehend unter IV. 2. 60

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

entsprechende anwaltliche Dienstleistungen durch unklare und teils sogar widersprüchliche Vorgaben. Der nachfolgende Beitrag ist dem Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover, einem der ältesten Advocaten-Ver­ eine Deutschlands, in Anerkennung seiner Verdienste um die Pflege der anwaltlichen Kollegialität anlässlich seines 190-jährigen Geburtstags am 1.7.2021 gewidmet. Er zeigt auf, wie sich Kollisionen mit den Tätigkeitsverboten aus § 43a Abs. 4 BRAO, § 3 BORA und § 356 StGB vermeiden lassen, macht aber auch deutlich, dass es besonderer Vorsichtsmaßnahmen bedarf, um nicht in Konflikt mit dem Berufs- und Strafrecht zu geraten.

II. Rechtliche Ausgangslage 1. Überblick über die einschlägigen Rechtsvorschriften des deutschen Rechts Die rechtlichen Grundlagen für die Beurteilung anwaltlicher Interessenkonflikte finden sich in verschiedenen straf- und berufsrechtlichen Vorschriften, konkret in § 356 StGB, § 43a Abs. 4 BRAO und § 3 BORA. Während in § 356 StGB das Verhalten eines Anwalts unter Strafe gestellt wird, der bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient, begnügt sich § 43a Abs. 4 BRAO mit der schlichten Verbotsanordnung, dass einem Rechtsanwalt die „Vertretung widerstreitender Interessen“ untersagt ist. Eine detailliertere berufsrechtliche Regelung findet sich in der Satzungsbestimmung des § 3 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA), dessen aktuelle Fassung im Wesentlichen seit dem 1.7.2006 in Kraft ist.3 In dem aktuellen Regierungsentwurf für ein Gesetz zur Neu­ regelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe vom 20.1.20214 sollen die anwaltlichen Tätigkeitsverbote umfassend neu geregelt werden.5 Die geplanten Änderungen spielen für die in diesem Beitrag angesprochenen Probleme allerdings nur am Rande eine Rolle. Erwähnung verdient, dass die bislang in § 3 BORA verortete Sozietätsklausel Teil der BRAO werden soll. Außerdem soll das 3 Vgl. BRAK-Mitt. 2006, 79. §  3 Abs.  1 Satz  1 BORA wurde marginal zum 1.11.2018 geändert, vgl. BRAK-Mitt. 2018, 193. 4 BR-Drucks. 55/21. 5 Diller, AnwBl Online 2021, 1 ff. 61

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Martin Henssler

einschränkende Merkmal „Belange der Rechtspflege“ gestrichen und die Sozietät ausdrücklich zur Errichtung vertraulichkeitssichernder Maßnahmen angehalten werden. Nach derzeit geltendem Recht lassen sich im Zusammenspiel mit § 3 BORA vier zentrale, inhaltlich eng miteinander verwobene Tatbestandsmerkmale des § 43a Abs. 4 BRAO identifizieren, nämlich (1) die Vertretung (2) widerstreitender (3) Interessen (4) in derselben Rechtsache.6 Das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen schützt neben (1) dem Vertrauensverhältnis zum Mandanten auch (2) die Wahrung der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts und (3) die im Interesse der Rechtspflege gebotene Geradlinigkeit der anwaltlichen Berufsausübung.7 Erst die Berücksichtigung dieses Geflechts von öffentlichen und individuellen Schutzinteressen erlaubt es aus der Sicht des BVerfG und der anwaltlichen Berufsgerichtsbarkeit,8 Antworten auf die zahlreichen Zweifelsfragen zu geben, die das Verbot des § 43a Abs. 4 BRAO in der Praxis aufwirft. 2. Adressat des Vertretungsverbots Nach § 113 Abs. 1 BRAO wird gegen einen Rechtsanwalt, der schuldhaft gegen Pflichten verstößt, die in der BRAO oder in der Berufsordnung bestimmt sind, eine anwaltsgerichtliche Maßnahme verhängt. Die Berufsausübungsgemeinschaft, in der er seinen Beruf ausübt, ist dagegen bislang als taugliches Subjekt einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme nicht vorgesehen.9 Auch der Straftatbestand des §  356 StGB stellt auf den einzelnen Rechtsanwalt ab.

6 Siehe dazu, auch zur bisweilen schwierigen Abgrenzung dieser Tatbestandsmerkmale, zuletzt Henssler, AnwBl 2013, 668, 669; Henssler, AnwBl 2018, 342. 7 BT-Drucks. 12/4993, S. 27. 8 BVerfGE 108, 150, 161 = NJW 2003, 2520, 2521, ebenso BVerfGK 8, 239, 242 = NJW 2006, 2469 f.; AGH München, NJW-RR 2005, 1225, 1226. 9 Deckenbrock, AnwBl 2014, 118, 121 f.; siehe die Reformvorschläge von Henssler, AnwBl Online 2018, 564, 585  ff. sowie darauf aufbauend der jüngste Regierungsentwurf aus dem BMJV zur sog. „Großen BRAO-Reform“ (Fn.  3) und dazu Henssler, AnwBl Online 2021, 69 ff. 62

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

Obwohl stets der rechtsfähigen Berufsausübungsgesellschaft das Mandat erteilt wird, sind damit nur die für eine Sozietät tätigen Rechtsanwälte originär dem Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen unterworfen.10 Nur sie sind Berufsrechtssubjekte (§  113 Abs.  1 BRAO) und strafrechtlich für die Einhaltung des Vertretungsverbots verantwortlich. Die Sozietätsklausel des § 3 Abs. 2 S. 1 BORA ändert hieran nichts. Sie erstreckt lediglich das Vertretungsverbot auf sozietätsverbundene Rechtsanwälte.

III. Die erforderliche Rechtssachenidentität 1. Die erforderliche Rechtssachenidentität als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 43a Abs. 4 BRAO Der Wortlaut des § 43a Abs. 4 BRAO verlangt zwar nicht ausdrücklich, dass die widerstreitenden Interessen im Rahmen derselben Rechtssache vertreten worden sein müssen. Gleichwohl geht die ganz überwiegende Meinung davon aus, dass diese Einschränkung als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in § 43a Abs. 4 BRAO hineinzulesen ist, so dass insofern kein Unterschied zu § 356 StGB – die Norm sieht die Beschränkung auf „dieselbe Rechtssache“ ausdrücklich vor  – besteht. Die Satzungsversammlung der BRAK hat in § 3 Abs. 1 BORA ebenfalls ausdrücklich klargestellt, dass ein Tätigkeitsverbot nur bei Vorliegen derselben Rechtssache in Betracht kommt.11 In der Rechtsprechung wirkt das Merkmal als ein erster Filter, um Sachverhalte, die keinen unmittelbaren rechtlichen Bezug zu einem bestehenden Mandat haben, von vornherein auszuklammern. Eine entsprechende Eingrenzung ist aus deutscher Sicht bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten, weil eine Ausdehnung von Tätigkeitsverboten auch auf andere Rechtssachen uferlos wäre und einen unverhältnismäßigen Eingriff in die verfassungsrechtlich abgesicherte Berufsausübungsfreiheit des Anwalts (Art. 12 Abs. 1 GG) darstellen würde.12 Eine weitere, teilweise sich mit 10 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 3 BORA Rz. 42; Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz.  784; vgl. auch zur anwaltlichen Verschwiegenheitspflicht BGH, NJW 2018, 1095 Rz. 35. 11 Siehe dazu nur Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5.  Aufl. 2019, §  43a Rz. 199; Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 271 ff. m.w.N. 12 Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 278. 63

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Martin Henssler

der Rechtssachenidentität überlappende Eingrenzung des Tätigkeitsverbots erfolgt sodann auf der nächsten Stufe bei der Ermittlung der vertretenen (rechtlichen) Interessen. Festzuhalten ist, dass es nach deutschen Recht ohne weiteres zulässig ist, dass ein Rechtsanwalt in zwei unterschiedlichen Verfahren in einem Fall für und in einem anderen Fall gegen denselben Mandanten tätig wird. Erst recht kann ein Rechtsanwalt damit in gesellschaftsrechtlichen Sachver­ halten einerseits für einen Gesellschafter und andererseits (im Anschluss hieran) für die Gesellschaft tätig werden, an welcher der erste Mandant beteiligt ist. Insoweit wirkt sich aus, dass es für das deutsche Tätigkeits­ verbot ohne jede Bedeutung ist, ob ein Rechtsanwalt aus einem anderen Mandat relevante und sensible Informationen erhalten hat. Der insoweit notwendige Schutz wird  – wenn auch lückenhaft  – über die anwaltliche Verschwiegenheit vermittelt.13 Der Referentenentwurf aus dem BMJV zur Großen BRAO-Reform, der auch sensibles Wissen in das Tätigkeitsverbot des § 43a Abs. 4 BRAO einbeziehen wollte, ist im Schrifttum auf massiven Widerstand gestoßen.14 Der aktuelle Regierungsentwurf15 vom 20.1.2021 hat den entsprechenden Reformvorschlag daraufhin weitgehend zurückgenommen und verzichtet insbesondere auf eine sozietätsweite Erstreckung des Tätigkeitsverbots.16 2. Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur Nach der Rechtsprechung des BGH kann „dieselbe Rechtssache“ jede Angelegenheit sein, die zwischen mehreren Beteiligten mit jedenfalls mög­ licherweise entgegenstehenden rechtlichen Interessen nach Rechtsgrundsätzen behandelt und erledigt werden soll.17 Maßgebend dafür, ob zwei Angelegenheiten „dieselbe“ Rechtssache darstellen, ist der sachlich-rechtli13 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 43a Rz. 201a; Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz.  273  ff.; Kleine-Cosack, BRAO, 8. Aufl. 2020, § 43a Rz. 229. 14 Vgl. etwa Henssler, AnwBl Online 2021, 69, 77; Diller, AnwBl Online 2021, 1 f.; Hartung/Uwer, AnwBl 2020, 659; Römermann, AnwBl Online 2020, 588, 602 f. 15 Vgl. dazu Fn. 4. 16 Dazu Diller, AnwBl Online 2021, 137 f. 17 BGHSt 52, 307 Rz. 11 = NJW 2008, 2723; BGH, NJW 2012, 3039 Rz. 7; BGH, NJW 2015, 567 Rz. 11. 64

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

che Inhalt der anvertrauten Angelegenheit. Zwei Mandate betreffen bereits dann dieselbe Rechtssache, wenn sie sich sachlich-rechtlich zumindest teilweise decken.18 Es kommt dabei anerkanntermaßen nicht darauf an, ob der Streitstoff in verschiedenen Verfahren verhandelt wird, solange die in verschiedenen Mandaten unterbreiteten Sachverhalte zusammen mit den daraus resultierenden materiellen Rechtsverhältnissen zumindest teilweise identisch sind.19 Zwar wird das Tatbestandsmerkmal „dieselbe Rechts­ sache“ insgesamt eher großzügig ausgelegt. Da aber der Verhältnismä­ ßigkeitsgrundsatz der Anordnung von Berufsausübungsbeschränkungen Grenzen setzt, wird im Schrifttum zutreffend zugleich hervorgehoben, dass lediglich mittelbare Auswirkungen des einen Mandats auf das andere nicht genügen.20 Bloße wirtschaftliche Verbindungen, wie z.B. die Stellung als Gesellschafter eines Mandanten, die für die Beurteilung der Rechtsfragen in den beiden Verfahren irrelevant sind, bleiben von vornherein unberücksichtigt. Die Normzwecke der Prävarikationsverbote sind in einem solchen Fall nicht tangiert. Es fehlt an einer rechtlichen Verbindung zwischen den beiden Mandaten.21 3. Die Abgrenzung bei gesellschaftsrechtlichen Verbindungen Problematisch ist die Abgrenzung der Rechtssache bei Dauerschuldverhältnissen und zwar in besonderer Weise bei gesellschaftsrechtlichen Verbindungen zwischen den Mandanten. Würde man alle Rechtsverhältnisse einer Gesellschaft, insbesondere sämtliche Beziehungen zwischen einer Gesellschaft und ihren Gesellschaftern und außerdem alle Beziehungen zwischen den Gesellschaftern stets als eine einheitliche Rechtssache ansehen, würde dem Anwalt auch dann ein Tätigkeitsverbot auferlegt, wenn sich in zwei dieselbe Gesellschaft betreffenden Mandaten ganz unterschiedliche Rechtsfragen stellen. Eine derart weite Fassung wäre wiederum verfassungsrechtlich nicht haltbar, könnte jedenfalls der Verbotsnorm nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit entnommen werden und wäre auch 18 BGH, NJW 2012, 3039 Rz. 7 f.; BGH, NJW 2013, 1247 Rz. 9; BGH, NJW 2020, 2407 Rz. 35. 19 BGH, NJW 1953, 430; BGH, NJW 2012, 3039 Rz. 8; BGH, NJW 2013, 1247 Rz.  9; OLG Hamm, Urt. v. 9.10.2009  – 2 AGH 10/09, BeckRS 2011, 11952; AGH Hamm, Beschl. v. 4.6.2010 – 2 AGH 32/09, BeckRS 2011, 25789. 20 Ausführlich Kretschmer, Der strafrechtliche Parteiverrat (§  356 StGB), 2005, S. 171 ff. 21 Henssler, AnwBl 2013, 668, 669. 65

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Martin Henssler

von den geschilderten Normzwecken nicht gedeckt. Im Schrifttum wird allerdings vereinzelt bei gesellschaftsrechtlichen Beziehungen ein einheitlicher Lebenssachverhalt schon dann angenommen, wenn ein Rechtsanwalt sowohl für eine Gesellschaft als solche als auch für einzelne Gesellschafter und/oder Geschäftsführer tätig wird, und es jeweils um Angelegenheiten geht, die im weitesten Sinne die Gesellschaft und ihre Rechtsbeziehungen betreffen.22 Diese Auffassung überzeugt schon deshalb nicht, weil sie unberücksichtigt lässt, dass es nicht nur um einen wirtschaftlich verbundenen Sachverhalt gehen muss, sondern ein rechtlicher Zusammenhang im Sinne einer „Rechts“-sache gefordert wird.

IV. Die anwaltlich vertretenen Interessen – Grundlagen 1. Bestimmung der Interessenlage – subjektive versus objektive Theorie Die Kernproblematik einer Mehrfachvertretung betrifft die Frage, ob die mandatierte Anwaltssozietät bei der Mandatsbearbeitung  – jedenfalls auch – widerstreitende Interessen vertreten muss. Als Ausgangspunkt für diese zentrale Prüfung sind zunächst die Interessen der Parteien zu ermitteln, die den bisherigen und künftigen Mandatsbeziehungen zugrunde liegen. Im deutschen Berufs- und Strafrecht ist insoweit heftig umstritten, ob die Interessen objektiv oder subjektiv (nach dem Parteiwillen) zu bestimmen sind, wobei das objektive Interesse als „wohlverstandenes“ Interesse interpretiert wird.23 Die früher herrschende Ansicht, nach der die Interessenlage objektiv zu bestimmen ist, wird damit begründet, dass es sich beim Parteiverrat um ein Rechtspflegedelikt handele. Sei dieses Delikt somit gegen die Allgemeinheit gerichtet, verbiete sich von vornherein eine subjektive Betrachtungsweise. Das so bestimmte Rechtsgut unterliege nicht der Disposition der Parteien.24 22 Peitscher in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Bd. 7, 6. Aufl. 2020, § 4 Rz. 4; Offermann-Burckart in Kilian/Offermann-Burckart/vom Stein, Praxishandbuch Anwaltsrecht, 3. Aufl. 2018, § 13 Rz. 30. 23 Dazu eingehend Henssler, AnwBl 2013, 668, 670 ff.; Henssler, AnwBl 2018, 342, 345. 24 Siehe nur BGHSt 4, 80, 82 = NJW 1953, 428; BGHSt 5, 284, 287 ff. = NJW 1954, 482, 483; BGH, AnwBl 1954, 199, 200; BayObLG, NJW 1995, 606; OLG Hamm, 66

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

Die subjektive Theorie geht dagegen davon aus, dass allein der Mandant bestimmt, welche Interessen der Anwalt im Rahmen der Vertragsbeziehung zu vertreten hat.25 Nach einer dritten Literaturansicht, die grundsätzlich der subjektiven Theorie folgt, muss ausnahmsweise dann auf die ob­ jektive Interessenlage abgestellt werden, wenn der Streitstoff nicht der Verfügungsmacht der Parteien unterliegt. Dies sei namentlich bei Strafverteidigern im Strafverfahren und bei Statussachen der Fall.26 In den hier interessierenden Fällen der Mehrfachvertretung von konzernverbundenen Unternehmen sind diese Fallkonstellationen nicht einschlägig, so dass diese dritte Auffassung bei den folgenden Überlegungen vernachlässigt werden kann.

NJW 1955, 803, 804; OLG Zweibrücken, NStZ 1995, 35, 36; Westerwelle, Rechtsanwaltssozietäten und das Verbot widerstreitender Interessen, 1997, S. 95; O. Geppert, Der strafrechtliche Parteiverrat, 1961, S. 99 f.; O. Geppert, MDR 1959, 161, 164 f.; K. Geppert, Jura 1981, 78, 86; K. Geppert, NStZ 1990, 542, 544; Gutmann, AnwBl 1963, 90, 91; Molketin, AnwBl 1982, 12, 13; Sahan, AnwBl 2008, 698, 700. 25 Siehe nur BGHSt 5, 301, 307 = NJW 1954, 726, 727 f.; BGHSt 7, 17, 20 = NJW 1955, 150, 151; BGHSt 15, 332, 334 (insoweit in NJW 1961, 929 nicht abgedruckt); BGHSt 18, 192, 198 = NJW 1963, 668, 670; BGHSt 34, 190, 192 = NJW 1987, 335; BGH, NJW 1981, 1211, 1212; BGH, NStZ 1982, 465, 466; KG, NStZ 2006, 688; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 1997, 236, 237; OLG Koblenz, NJOZ 2005, 4119, 4124; Dahs in MünchKomm/StGB, Bd.  5, 3.  Aufl. 2019, §  356 Rz. 56; Gillmeister in LK/StGB, Bd. 9, 12. Aufl. 2010, § 356 Rz. 59; Beulke/Ruhmannseder, FS 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV, 2009, S. 259, 271; Heuchemer in BeckOK StGB, 48. Edition (Stand: 1.11.2020), § 356 Rz. 7.2; Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 43a Rz. 172 ff.; Henssler, NJW 2001, 1521, 1522; Henssler, FS Streck, 2011, S.  677, 682  ff.; Henssler, ­AnwBl 2013, 668, 670  ff.; von Falkenhausen in Hartung/Scharmer, BORA/ FAO, 7. Aufl. 2020, § 3 BORA Rz. 77; Kleine-Cosack, BRAO, 8. Aufl. 2020, § 43a Rz. 197 ff., 202; Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 147 ff. 26 Siehe etwa Hübner in LK/StGB, Bd. 7, 10. Aufl. 1988 (Stand der Kommentierung zu § 356 StGB: Juli 1980), § 356 Rz. 82 f.; Heine/Weißer in Schönke/Schröder, StGB, 30.  Aufl. 2019, §  356 Rz.  16  ff.; Rogall in SK/StGB, 9.  Aufl. 2016, §  356 Rz.  35; Fischer, StGB, 68.  Aufl. 2021, §  356 Rz.  7; Träger in Weyland, BRAO, 10.  Aufl. 2020, §  43a Rz.  64; Dingfelder/Friedrich, Parteiverrat und Standesrecht, 1987, S. 75; Kilian/Koch, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2018, B Rz. 824; Kilian, WM 2000, 1366, 1368. 67

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2. Rechtsunsicherheit durch unklare und inkohärente Rechtsprechung Nachdem die Frage, ob die Interessenlage objektiv oder subjektiv zu bestimmen ist, jahrzehntelang heftig umstritten war, hatte sich spätestens nach der Jahrtausendwende die subjektive Theorie klar durchgesetzt. Noch im Februar 2010 hatte etwa der IX. Zivilsenat des BGH ausgeführt: „Der in  der Vergangenheit zum Tatbestand des Parteiverrats geführte Mei­ nungsstreit, ob die maßgeblichen Interessen mehrerer von einem einzelnen  Rechtsanwalt vertretener Mandanten objektiv zu bestimmen sind oder  nach deren subjektiv verfolgten Zielen, ist überholt. Es besteht im Grundsatz Einigkeit, dass den subjektiven Vorstellungen der Mandanten entscheidende Bedeutung zukommt.“27 Auch das BVerfG ließ zumindest entsprechende Tendenzen erkennen, als es in der berühmten Sozietätswechslerentscheidung von 2003 ausgeführt hat: „Dies bedeutet indessen nicht, dass die Definition, was den Interessen des eigenen Mandanten und damit zugleich der Rechtspflege dient, abstrakt und verbindlich von Rechtsanwaltskammern oder Gerichten ohne Rücksicht auf die konkrete Einschätzung der hiervon betroffenen Mandanten vorgenommen werden darf.“28 2006 hat das BVerfG in einer Kammerentscheidung nochmals betont, dass „eine dem Einzelfall gerecht werdende Abwägung aller Belange unter besonderer Berücksichtigung der konkreten Mandanteninteressen“ erfolgen müsse.29 Für eine gewisse Verunsicherung hatte in der Praxis dann allerdings gesorgt, dass der Anwaltssenat des BGH sich in einer Entscheidung von April 2012 ohne Problembewusstsein und im Widerspruch zur Vorgabe des BVerfG zu einer objektiven Betrachtung bekannt hat, ohne sich mit der bereits vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung auch nur mit einem einzigen Satz auseinanderzusetzen. Die Richter begnügten sich mit dem lapidaren Hinweis, dass sich ein objektiv vorhandener Interessen­ widerspruch nicht durch den schlichten Hinweis darauf auflösen lasse, dass der Mandant mit der Mandatserteilung selbst bestimmen könne, in welche Richtung und in welchem Umfang der Anwalt seine Interessen wahrneh-

27 BGH, Beschl. v. 4.2.2010 – IX ZR 190/07, BeckRS 2010, 04533 Rz. 4. Siehe auch zur Ausarbeitung eines Vertragsentwurfs im Auftrag beider Parteien BGH, Beschl. v. 16.12.2008 – IX ZR 229/08, BeckRS 2009, 04949 Rz. 4. 28 BVerfGE 108, 150, 162 = NJW 2003, 2520, 2521 (Hervorhebung hinzugefügt). 29 BVerfGK 8, 239, 243 = NJW 2006, 2469, 2470 (Hervorhebung hinzugefügt). 68

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men möge.30 Zwischenzeitlich präferierte die neuere Rechtsprechung nach mehreren Kehrtwenden wiederum die vom Verfasser dieses Beitrags stets konsequent vertretene subjektive Theorie. In einer Entscheidung aus November 2018 heißt es sogar, dass Einigkeit bestehe, dass sich die anvertrauten Interessen nach dem Inhalt des dem Anwalt erteilten Auftrags beurteilen, der maßgeblich vom Willen der Partei gestaltet wird.31 Das kann man nur als klares Bekenntnis zur subjektiven Theorie verstehen. Ganz aktuell hat allerdings der IX. Zivilsenat32 in geradezu skandalöser Weise ohne jegliches Problembewusstsein und ohne auch nur den geringsten Hinweis auf die vorherrschende Gegenauffassung in einer nicht entscheidungserheblichen Passage apodiktisch festgestellt „Dabei sind die Interessen, welche der Anwalt im Rahmen des ihm erteilten Auftrags zu vertreten hat, objektiv zu bestimmen (BGH, NJW 2012, 3039 Rz. 10).“

um sodann freilich fortzufahren „Was den Interessen des Mandanten und damit zugleich der Rechtspflege dient, kann nicht ohne Rücksicht auf die konkrete Einschätzung der hiervon betroffenen Mandanten abstrakt und verbindlich von Rechtsanwaltskammern oder Gerichten festgelegt werden.“

Diese wörtlich aus der bereits erwähnten Entscheidung des BVerfG33 übernommene Ergänzung lässt sich nach der unreflektierten Passage nur als korrigierende Zuwendung zu einem subjektiv von den Mandanten bestimmten Interessenbegriff verstehen, jedenfalls als klare Absage an eine Bevormundung der Mandanten durch Rechtsanwaltskammern und Gerichte. Im Ergebnis bestätigt diese Entscheidung eine inakzeptable und die Praxis verwirrende Unschärfe des BGH im Umgang mit den relevanten Begrifflichkeiten, die nicht nur auf eine vollständige Ausblendung des Schrifttums, sondern darüber hinaus auf eine unzureichende Auswertung der Rechtsprechung der verschiedenen mit dieser Frage befassten Senate zurückzuführen ist. Als Konstante der höchstrichterlichen Rechtsprechung 30 BGH, NJW 2012, 3039 Rz. 10; vgl. auch BGH, NJW 2013, 1247 Rz. 11, die in eine ähnliche Richtung deutet. 31 BGH, NJW 2019, 316 Rz. 15 m. Anm. Deckenbrock. Vgl. ferner die klar subjektiv ausgerichtete Entscheidung BGH, NJW-RR 2017, 1459. 32 BGH, NJW 2020, 2407 Rz. 42. 33 BVerfGE 108, 150, 162 = NJW 2003, 2520, 2521. 69

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lässt sich gleichwohl hervorheben, dass die Definition seiner Interessen in erster Linie dem Mandanten obliegt. 3. Subjektive Interessenbestimmung a) Interesse als subjektiv geprägtes Tatbestandsmerkmal Richtigerweise ist der subjektiven Theorie zu folgen. In der Regel wird der Mandant ohnehin das anstreben, was auch objektiv in seinem wohlverstandenen Interesse liegt. Aus persönlichen Gründen kann der Mandant im Einzelfall aber auch etwas anderes wollen. Interesse ist schon dem Begriff nach ein subjektiv geprägtes Tatbestandsmerkmal. Hinzu kommt, dass der Mandant – und nicht der Anwalt – mit der Mandatserteilung bestimmt, welche Interessen zu vertreten sind.34 Bereits aus der nach §  675 Abs.  1 BGB für den Anwaltsvertrag als entgeltliche Geschäftsbesorgung entsprechend anwendbaren Regelung des § 665 BGB ergibt sich, dass der Rechtsanwalt grundsätzlich an Weisungen seines Mandanten gebunden ist. Dies gilt selbst dann, wenn diese zu Nachteilen für den Mandanten führen können.35 Diese Weisungsbefugnis folgt aus dem Umstand, dass allein der Mandant das mit der Durchführung seines Auftrags verbundene Erfolgsund Kostenrisiko trägt und deshalb den wesentlichen Gang der Mandatserledigung steuern können muss. Im Zusammenhang damit steht das Recht des Mandanten, allein darüber zu bestimmen, in welcher Weise seine Interessen wahrgenommen werden sollen.36 Diese allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätze sind bei der Auslegung des Interessengegensatzes zu berücksichtigen. Es wäre widersprüchlich, wenn das Gesetz einerseits dem Mandanten ein Weisungsrecht zubilligte, andererseits diese Weisungen, aus denen sich die Interessen des Mandanten ergeben, bei der Bestimmung der Interessen i.S.d. § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 BORA unberücksichtigt blieben.

34 Henssler, NJW 2001, 1521, 1522. 35 Vgl. nur BGH, NJW 1985, 42, 43; BGH, NJW 1997, 2168, 2169 (vorher aber Hinweispflicht des Anwalts auf etwaige Nachteile). 36 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 43a Rz. 172 ff.; Henssler, FS Streck, 2011, S.  677, 682; Henssler, AnwBl 2013, 668, 670  ff.; Henssler/­ Deckenbrock, NJW 2012, 3265, 3267 f.; Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 148. 70

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b) Bewertung der aktuellen Entscheidungspraxis des BGH Die Mehrzahl der jüngeren Entscheidungen des BGH versteht sich als Bestätigung dieser vom Verfasser seit jeher vertretenen Auffassung. Analysiert man zunächst die Entscheidungen aus dem Jahren 2012 und 2013 genauer, so ergibt sich, dass der Anwaltssenat keine Abkehr von der früheren BGH-Rechtsprechung einleiten wollte, sondern letztlich den konkreten Sachverhalt nur dogmatisch ungenau und unter unzureichender Abstimmung mit der Spruchpraxis anderer Senate beurteilt hat. Dass der Anwaltssenat im Urteil vom 23.4.2012 gerade keine rein objektive und von den Parteivereinbarungen losgelöste Interessenbestimmung vornehmen wollte, zeigen seine Ausführungen zur notwendigen Intensität eines Interessenkonflikts. Da in dem zu entscheidenden Fall der Sohn – im Beisein seines Vaters – die Rechtsanwältin lediglich mandatiert habe, Unterhaltsansprüche (nur) gegen seine Mutter geltend zu machen, und der Vater außerdem bereit gewesen sei, auch künftig allein für den Unterhalt des Sohnes aufzukommen, fehlte es nach Ansicht des BGH an einem konkreten Interessenkonflikt zwischen Vater und Sohn. Im Rahmen dieser Prüfung berücksichtigt der Anwaltssenat offensichtlich doch den konkreten Umfang des dem Rechtsanwalt erteilten Auftrags und die dem Rechtsanwalt erteilten Weisungen.37 Damit nimmt der BGH – ohne dass er dies offenlegt – de facto die notwendige subjektive Interessenbestimmung im Rahmen der Auslegung des erteilten Mandats vor. Ungeachtet der dogmatischen Ungenauigkeiten gelangt der BGH in seinem Urteil vom 23.4.2012 so zum richtigen Ergebnis, nämlich der Ablehnung eines Interessenkonflikts. Eine Gesamtbetrachtung der Entscheidung ergibt, dass der Anwaltssenat des BGH nicht in Zweifel ziehen will, dass die Parteien durch eine klare Abstimmung ihrer Interessen jedenfalls vor Mandatsbeginn eine Interessenkollision auch bei dem sie vertretenen Rechtsanwalt vermeiden können.38 Dass das Urteil vom 23.4.2012 keine generelle Kehrtwende aller Senate des BGH in der Frage der Interessenbestimmung eingeleitet hat, zeigt das Urteil des IX. Zivilsenats vom 7.9.2017, in dem sich wieder eindeutige 37 BGH, NJW 2012, 3039 Rz. 14. 38 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 43a Rz. 172c; Henssler, FS Streck, 2011, S. 677, 682; Henssler, AnwBl 2013, 668, 671 f.; Henssler/Deckenbrock, NJW 2012, 3265, 3267 f.; im Ergebnis auch de Raet, AG 2016, 225, 229. 71

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subjektive Tendenzen finden.39 Der Senat hebt hervor, dass ein Anwalt, der ein Mandat annimmt, „damit seine Bereitschaft“ erklärt, „fortan die Inte­ ressen des Mandanten ohne Rücksicht auf die Interessen Dritter umfassend zu vertreten.“ Zudem verdeutlicht der Senat, dass die Reichweite der vom Anwalt zu vertretenden Interessen entscheidend vom Umfang des konkret erteilten Mandats abhängt.40 Noch einen Schritt weiter geht der vierte Strafsenat in seiner Entscheidung vom 21.11.2018.41 Der Senat stellt einerseits klar, dass es in verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten, bei denen die mit dem begehrten Rechtsschutz verfolgten Anliegen ausschließlich der Dispositionsbefugnis der Beteiligten unterliegen, für die Interessenbestimmung entscheidend auf die subjektive Zielsetzung der Partei ankomme. Ohne Bedeutung sei die Einschätzung des Anwalts darüber, was aus seiner Sicht von den Parteibelangen vernünftigerweise vertretbar oder bestenfalls erreichbar erscheint. Für den Straftatbestand des §  356 StGB ergänzt er, dass sich die anvertrauten Interessen nach dem Inhalt des dem Anwalt erteilten Auftrags richten, der maßgeblich vom Willen der Partei gestaltet wird.42 Die Entscheidung verdient Aufmerksamkeit, weil sie zeigt, dass sich die subjektive Theorie auch zulasten des Rechtsanwalts auswirken kann. Der betroffene Rechtsanwalt, der verschiedene private und öffentliche Kläger vertreten hatte, hatte im Gerichtstermin nicht nur angekündigt, einen Vergleich unter Widerrufsvorbehalt zu schließen, obwohl er wusste, damit gegen die Weisungen der nicht anwesenden privaten Mandanten/Kläger zu verstoßen, sondern er hatte auch sonst verschiedene Maßnahmen ergriffen, um den von ihm für objektiv günstig gehaltenen Vergleich entgegen den Weisungen eines Teils seiner Mandanten durchzusetzen. Der BGH hat ihn wegen Parteiverrats verurteilt und hatte damit in der Sache durchaus recht: Wer Weisungen ignoriert, kann auch dann einen Parteiverrat begehen, wenn er davon überzeugt ist, seinem Mandanten Gutes zu tun, oder ihm objektiv sogar Vorteile verschafft.43 Auch mit Blick auf die jüngste Entscheidung des BGH44 wurde bereits dargelegt, dass sie im Ergebnis ungeachtet des verfehlten Hinweises auf das objektive Interessenverständnis 39 BGH, NJW-RR 2017, 1459. 40 BGH, NJW-RR 2017, 1459 Rz. 17. 41 BGH, NJW 2019, 316 mit Anm. Deckenbrock. 42 BGH, NJW 2019, 316 Rz. 15. 43 Deckenbrock, NJW 2019, 318. 44 BGH, NJW 2020, 2407. 72

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den Vorrang der Parteivereinbarung und die Maßgeblichkeit der Bewertung der eigenen Interessen durch den Mandanten bestätigt. 4. Die Bedeutung von Mandatsumfang und Mandatsgegenstand a) Die Zulässigkeit beschränkter Mandate Bei der danach allein sachgerechten subjektiven Bestimmung der Interessenlage kommt dem Umfang des dem Anwalt erteilten Mandats entscheidende Bedeutung zu. Vielfach wird einem Rechtsanwalt ein sog. unbeschränktes Mandat erteilt, was bedeutet, dass er seinen Auftraggeber in der gesamten ihm anvertrauten Rechtsangelegenheit umfassend zu beraten und zu vertreten hat. Zulässig und in der Praxis ebenfalls durchaus üblich sind aber auch sog. beschränkte Mandate. Der Rechtsanwalt ist dann nur beauftragt, seinen Mandanten in einer Rechtsangelegenheit bezüglich eines Teils des Gegenstands oder in einer bestimmten Art, Richtung und Reichweite zu beraten und zu vertreten.45 Gerade in wirtschaftliche Fragen betreffenden Sachverhalten und erst recht bei der Vertretung von Großunternehmen mit einer Vielzahl von rechtlichen Streitigkeiten sind solche beschränkten Mandate sogar die Regel. Hier ist es üblich, das zu vertretende Interesse zu definieren. Es kann insbesondere auch ein gemeinsames Interesse mehrerer Gesellschaften sein, so etwa, wenn das Interesse mehrerer Investoren an der erfolgreichen gemeinschaftlichen Finanzierung eines Start-up-Unternehmens durch ein und denselben Rechtsanwalt vertreten wird. Keine Rolle spielt insoweit die gesellschaftsrechtlich umstrittene Frage, ob das Interesse einer Gesellschaft identisch mit demjenigen eines Mehrheitsgesellschafter oder der Gesellschaftermehrheit ist oder ob ein vom Gesellschafterinteresse abzugrenzendes eigenständiges (verobjektiviertes) Inte­ resse der Gesellschaft bestehen kann. Für §  43a Abs.  4 BRAO ist allein dasjenige Interesse von Bedeutung, das das zuständige Geschäftsführungsorgan bei Auftragserteilung der Mandatsbeziehung zugrunde gelegt und 45 Vgl. nur BGH, NJW 1996, 2929, 2931; BGH, Beschl. v. 9.2.2012 – IX ZR 46/09, BeckRS 2012, 06067 Rz. 4; BGH, NJW-RR 2017, 1459 Rz. 17; von Falkenhausen in Hartung/Scharmer, BORA/FAO, 7. Aufl. 2020, § 3 BORA Rz. 78; Henssler/ Deckenbrock, NJW 2012, 3265, 3268; allgemein zum beschränkten Mandat Jungk, AnwBl 2019, 292 f. (auch zu bestehenden vertraglichen Hinweispflichten). 73

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damit dem Rechtsanwalt anvertraut hat. Der Rechtsanwalt kann und darf nicht die Interessen von Minderheitsgesellschaftern berücksichtigen. Für ihn ist allein jenes Interesse von Bedeutung, das im Mandatsvertrag präzisiert wurde. Dieses wird ausschließlich durch die geschäftsführungsbefugten Personen bestimmt, im Falle der dualistisch verfassten SE und der AG also durch den Vorstand bzw. den durch den Vorstand bevollmächtigten Vertreter der Gesellschaften. Selbst wenn der bevollmächtigte Vertreter gegen eine Weisung der Hauptversammlung verstoßen würde, würde dies das Mandatsverhältnis grundsätzlich nicht berühren. Die Rechtsprechung akzeptiert beschränkte Mandate als geeignetes Mittel, um einen Interessenkonflikt zu vermeiden.46 Will der Anwalt nur eingeschränkt für den Mandanten tätig werden, hat er dies vor Abschluss des Vertrags klarzustellen. Der Mandant kann dann selbst entscheiden, ob er dies – etwa in der Erwartung besonderer Kompetenz des Anwalts oder einer besseren Verhandlungsposition gegenüber dem Gegner – hinnehmen oder ob er einen anderen, ausschließlich seinen – des Mandanten – eigenen Interessen verpflichteten Anwalt beauftragen will. Gleiches gilt, wenn sich nachträglich Interessenkonflikte abzeichnen, die nur ein eingeschränktes Tätigwerden des Anwalts erlauben.47 Selbst dann, wenn zwischen verschiedenen Mandanten offenkundig Meinungsverschiedenheiten und damit unterschiedliche Interessen bestehen, ist somit eine anwaltliche Vertretung dieser Mandanten nicht ausgeschlossen. Vielmehr kann auf der Grundlage des subjektiven Interessenbegriffs gleichwohl das gemeinsame Interesse, etwa das an einer einvernehmlichen Lösung des Streits oder dasjenige an einer einvernehmlichen Scheidung etc., vertreten werden. b) Die Rechtslage bei der anwaltlichen Mediation Bestätigt wird dieses weite Verständnis durch die berufsrechtliche Zulässigkeit einer Mediation durch Rechtsanwälte.48 Der Gesetzgeber hat allerdings in § 3 MediationsG inzwischen die Voraussetzungen für die Annahme eines Mediationsmandats für alle Mediatoren ganz unabhängig von 46 BGH, NJW 2013, 1247 Rz. 7; ebenso von Falkenhausen in Hartung/Scharmer, BORA/FAO, 7. Aufl. 2020, § 3 BORA Rz. 78. 47 BGH, NJW-RR 2017, 1459 Rz. 17. 48 Dazu Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 43a Rz. 179. 74

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ihrem Grundberuf verschärft. So darf nach § 3 Abs. 2 MediationsG als Mediator nicht tätig werden, wer vor der Mediation in derselben Sache für eine Partei tätig geworden ist. Die Vorschrift stellt also anders als das anwaltliche Berufsrecht in § 43a Abs. 4 BRAO nicht auf einen konkreten Interessenkonflikt ab. Für das anwaltliche Berufsrecht war demgegenüber vor Inkrafttreten des nunmehr spezielleren und damit auch für Rechtsanwälte vorrangigen MediationsG zutreffend die Auffassung vertreten worden, es sei grundsätzlich zulässig, als rechtsanwaltlicher Vertreter einer Partei in derselben Rechtssache nachfolgend als Mediator tätig zu werden, sofern die Parteien allseits ihre Zustimmung hierzu erteilt haben.49 c) Erhöhte Fürsorgepflicht In Rechtsprechung und Schrifttum wird allerdings darauf hingewiesen, dass der Anwalt aufgrund seiner Fürsorgepflicht gehalten sei, seinen Mandanten darüber aufzuklären, welche Ansprüche bei einem eingeschränkten Mandat nicht verfolgt werden und welche Nachteile dem Mandanten dadurch drohen. Generell müsse ein Anwalt den Mandanten im Rahmen eines eingeschränkten Mandats vor Gefahren warnen, die sich bei ordnungsgemäßer Bearbeitung des Auftrags aufdrängen, wenn er Grund zu der Annahme habe, dass sein Auftraggeber sich dieser Gefahren nicht bewusst

49 Brüggemann in Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 18 BORA Rz. 6 (siehe aber jetzt Brüggemann in Weyland, BRAO, 10. Aufl. 2010, § 18 BORA Rz. 6, wo das schon 2012 in Kraft getretene MediationsG nunmehr berücksichtigt wird); Hess in Haft/Schlieffen, Handbuch Mediation, 2. Aufl. 2009, § 43 Rz. 39; Tochtermann, Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Mediators, 2008, S. 106 ff. Seit Inkrafttreten des MediationsG ist diese Auffassung für den Bereich der anwaltlichen Mediation nicht mehr haltbar; vgl. dazu auch Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5.  Aufl. 2019, §  3 MediationsG Rz.  27. Bereits durch § 18 BORA überholt war die zunächst vertretene Auffassung (vgl. Henssler in Henssler/Koch, Mediation in der Anwaltspraxis, 2. Aufl. 2004, § 3 Rz. 28; Henssler, AnwBl. 1997, 129, 130), nach der der Rollenwechsel von einem als einseitiger Interessenvertreter tätigen Rechtsanwalt zum Mediator über §  45 Abs. 2 Nr. 2 BRAO gelöst werden sollte. § 18 BORA stellt klar, dass auch die Mediation als Vertretung eines gemeinsamen Interesses mehrerer Medianten ganz normale Anwaltstätigkeit ist, für die das anwaltliche Berufsrecht unmittelbar gilt, so es zu keinem Funktionswechsel zwischen einer anwaltlichen und einer nicht anwaltlichen Tätigkeit i.S.v. § 45 BRAO kommt. 75

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sei.50 Die Aufklärung, die die Anwaltssozietät insoweit im Vorfeld eines Mandats oder bei der Ausgestaltung eines Mandats pflichtgemäß erteilt, ist keine Beratung und löst deswegen keinen Interessenkonflikt aus.51 d) Zusammenfassung Festzuhalten ist damit, dass 1) für die Bestimmung der Interessen der Beteiligten generell allein auf die Mandatsvereinbarungen abzustellen ist, 2) die Mandanten die Möglichkeit haben, einer anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft über ein beschränktes Mandat nur solche Interessen zur Vertretung anzuvertrauen, die mit denjenigen der jeweils anderen Gesellschaft identisch sind, und 3) die Berufsausübungsgesellschaft bei einer Mehrpersonenvertretung ihre Mandanten auf die Besonderheiten eines eingeschränkten Mandats hinweisen sollte. 5. Die grundsätzliche Interessenidentität im „Unternehmensverbund“ gemäß § 15 AktG Auch wenn es nach dem subjektiven Interessenbegriff vielfach nicht darauf ankommen wird, kann bei einer Mehrfachvertretung im Konzernverbund die Annahme einer jedenfalls weitgehend identischen Interessenlage durch die gesellschaftsrechtlichen Beteiligungsverhältnisse gestützt werden. Auch bei einer objektiven Betrachtung liegen identische Interessen, die einer gemeinsamen anwaltlichen Vertretung zugänglich sind, in solchen Fällen zumindest nahe. Selbst wenn kein Beherrschungsverhältnis gegeben ist, so kann aufgrund einer Mehrheit der Stimmrechte eine Mehrheitsbeteiligung (Mehrheitsbesitz) i.S.v. § 16 AktG vorliegen mit der Folge, dass von einem 50 BGH, NJW 1993, 2045; BGH, NJW 1998, 3050 (Leitsatz); BGH, NJW 2002, 1117; von Falkenhausen in Hartung/Scharmer, BORA/FAO, 7. Aufl. 2020, § 3 BORA Rz. 78. 51 So zutreffend von Falkenhausen in Hartung/Scharmer, BORA/FAO, 7.  Aufl. 2020, § 3 BORA Rz. 78, der dementsprechend auch zu Recht gegenteilige Befürchtungen des BGH (NJW 2012, 3039 Rz. 12) zurückweist. Siehe dazu auch Henssler/Deckenbrock, NJW 2012, 3265, 3267 f. 76

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Unternehmensverbund i.S.v. § 15 AktG auszugehen ist. Damit darf der von der Konzernholding beauftragte Rechtsanwalt ohne gegenteilige Hinweise davon ausgehen, dass ihn der erteilte Auftrag grundsätzlich nicht in einen Konflikt zu den Interessen des von ihm gleichzeitig vertretenen Stimmenmehrheitsgesellschafters bringt. Ausdruck dieser Besonderheiten, die auch auf die Erbringung von Rechtsdienstleistungen für verbundene Unternehmen ausstrahlen, ist die hinter der Vorschrift des § 2 Abs. 3 Nr. 6 RDG stehende Wertung. Danach liegt keine Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten vor, wenn Rechtsdienstleistungen innerhalb verbundener Unternehmen erbracht werden. Verbundene Unternehmen sind nach §  15 AktG rechtlich selbständige Un­ ternehmen, die im Verhältnis zueinander in Mehrheitsbesitz stehenden Unternehmen und mit Mehrheit beteiligten Unternehmen (§  16 AktG), abhängige und herrschende Unternehmen (§ 17 AktG), Konzernunternehmen (§ 18 AktG), wechselseitig beteiligte Unternehmen (§ 19 AktG) oder Vertragsteile eines Unternehmensvertrags (§§  291, 292 AktG) sind. Die Regelung des § 2 Abs. 3 Nr. 6 RDG stellt klar, dass Rechtsangelegenheiten zwischen verbundenen Unternehmen mangels Fremdheit des Geschäfts keine Rechtsdienstleistungen sind. Erlaubt ist danach innerhalb eines Unternehmensverbunds die Erledigung aller Rechtsangelegenheiten durch ein dem Unternehmensverbund zugehöriges Unternehmen, etwa durch die Mitglieder der zentralen Rechtsabteilung einer Holdinggesellschaft.52 Damit geht auch das RDG davon aus, dass die Angelegenheiten eines ver­ bundenen Unternehmens grundsätzlich wie eigene Angelegenheiten des Mutterunternehmens zu behandeln sind, ein Interessenkonflikt folglich jedenfalls grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Dürften aber die Mitglieder der Rechtsabteilung der Holding auch die Tochtergesellschaft beraten, ohne dass dies pauschal bedenklich wäre, dann gibt es auch keinen Grund, einer Anwaltssozietät das Tätigwerden für eine verbundene Gesellschaft zu verbieten, solange kein konkreter Interessenwiderstreit erkennbar ist.

52 BT-Drucks. 16/3655, S. 50; BGH, NJW 2016, 3441 Rz. 26; BAG, NZA 2019, 1052 Rz.  15; dazu Deckenbrock/Henssler in Deckenbrock/Henssler, RDG, 5. Aufl. 2021, § 2 Rz. 140 ff.; Henssler, FS Prütting, 2018, S. 949 ff. 77

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Die Regelung des § 2 Abs. 3 Nr. 6 RDG wird ergänzt durch die Vorschrift des § 46 Abs. 5 Nr. 1 BRAO. Danach darf der Syndikusrechtsanwalt, dessen Befugnis sich grundsätzlich auf die Rechtsangelegenheiten des Arbeitgebers beschränkt, auch Rechtsangelegenheiten innerhalb verbundener Unternehmen i.S.d. § 15 AktG wahrnehmen. Beiden Normen liegt die gesetzliche Wertung zugrunde, dass die von einem beauftragten Rechtsberater innerhalb eines Unternehmensverbunds wahrzunehmenden Interessen im Außenverhältnis jedenfalls grundsätzlich gleichgerichtet sind. Auf der vorstehend entwickelten Linie liegt es, dass sich der AGH Nordrhein-Westfalen53 auf den Standpunkt gestellt hat, dass die gleichzeitige Vertretung mehrerer verbundener Gesellschaften grundsätzlich unbedenklich sei und zwar insbesondere dann, wenn dies im Verhältnis zu Dritten erfolge. Ein Tätigkeitsverbot könne nur dann greifen, wenn es konkrete Anhaltspunkte für einen Konflikt zwischen den Interessen der verbundenen Gesellschaften gäbe. Allein der Umstand, dass an einer der verbundenen Gesellschaften Minderheitsgesellschafter beteiligt waren, störte den AGH nicht und wurde jedenfalls nicht als Anhaltspunkt für einen Konflikt gewertet. 6. Das dynamische Interessenverständnis Der Interessenbegriff ist nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen. Insbesondere kann der Mandant während einer Mandatsbeziehung seine Interessenrichtung verändern. So kann etwa aus einem zunächst gleichgerichteten Interesse während einer Mandatsbeziehung ein widerstreitendes Interesse werden. In diesem Fall muss der Anwalt alle bestehenden Mandate niederlegen. Denkbar ist aber auch der umgekehrte Fall, in dem ein Mandant zunächst gegen einen Dritte gerichtete Ansprüche endgültig aufgibt und seinen Anwalt beauftragt, nunmehr in einer anderen Interessenrichtung tätig zu werden. In diesem Fall ist ebenfalls allein die aktuelle Interessenrichtung maßgeblich. Ob ein Interessenkonflikt vorliegt, bestimmt sich allein nach dem aktuellen Interessenverständnis. Der Rechtsanwalt dürfte, selbst wenn er den Interessenwechsel für verfehlt erachtet, das bisherige Interesse seines Mandanten gegen dessen Willen gerade nicht weiterverfolgen, sondern würde sich vielmehr gerade in diesem Fall eines

53 AGH Hamm, Beschl. v. 5.4.2019 – AGH 21/18, BeckRS 2019, 46846. 78

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­ arteiverrats schuldig machen, wie auch der geschilderte vom BGH54 2018 P entschiedene Fall zeigt. Die Maßgeblichkeit der aktuellen Interessendefinition durch den Mandanten folgt ebenfalls zwingend aus dem Weisungsrecht des Mandanten im Rahmen des Geschäftsbesorgungsvertrags. Da § 43a Abs. 4 BRAO verlangt, dass der Anwalt für beide Parteien im gegensätzlichen Interesse tätig geworden ist, kommt es für die Beurteilung der Interessen frühestens auf den Zeitpunkt an, zu dem der Dienst für die zweite Partei begonnen wird. Hat sich also das ursprünglich vertretene Interesse des Erstmandanten derart geändert, dass der Widerstreit aufgehoben ist, so ist das geänderte Interesse maßgeblich. Das gilt auch dann, wenn zwar die Beratung oder Vertretung des ersten Mandanten in dem Kollisionsmandat mittlerweile abgeschlossen ist, aber weiterhin eine Mandatsbeziehung zum Erstmandanten besteht, der nunmehr das geänderte Interesse zugrunde gelegt wird. Ein Tätigwerden des Anwalts für eine andere Partei ist damit in all jenen Konstellationen möglich, in denen die Erstpartei an der vom Anwalt zunächst betreuten Rechtssache überhaupt kein Interesse mehr hat. Damit kann der Wegfall eines Interesses dazu führen, dass einem Anwalt die Übernahme eines Mandats (wieder) möglich wird. Es liegt in diesem Fall kein Interessenkonflikt mehr vor, so dass diese Sichtweise auch nicht mit dem Grundsatz, dass das Verbot der Vertretung keine zeitliche Begrenzung kennt, in Widerspruch steht.55 Allein entscheidend ist somit, welche Interessen die konzernverbundenen Gesellschaften aktuell verfolgen. Es kann sich empfehlen, bei Annahme des Zweitmandates die aktuellen Interessen des Erstmandanten neu zu definieren, um möglichst rechtssicher einen Interessenkonflikt auszuschließen.56 7. Die Konzentration auf die vertretenen Interessen Eine weitere Einschränkung des Tätigkeitsverbots ergibt sich aus dem Erfordernis der Interessenvertretung. Für die Annahme eines Tätigkeits­ verbots nach §  43a Abs.  4 BRAO reicht es nicht aus, dass zwischen verschiedenen Mandanten überhaupt widerstreitende Interessen bestehen. Ein solcher  – weit verstandener  – Interessenwiderstreit wird sogar sehr 54 BGH, NJW 2019, 316. 55 Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 172 f. 56 Dies rät auch Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 174. 79

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häufig selbst bei der anwaltlichen Vertretung gleichgerichteter Interessen der Fall sein. Berufsrechtlich ist diese Form eines Interessengegensatzes bedeutungslos, weil Mandate des Inhalts, alle denkbaren Interessen eines Mandanten zu vertreten, realitätsfremd sind, erst recht, wenn es sich bei den Mandanten um Unternehmen handelt. Voraussetzung ist vielmehr, dass die sozietätsverbundenen Anwälte diese widerstreitenden Interessen auch tatsächlich vertreten haben, das heißt, für beide Parteien auch im gegensätzlichen Interesse tätig geworden sind.57 Mit „Vertretung“ der Interessen ist dabei nicht nur eine solche nach außen gemeint, sie ist vielmehr im weitesten Sinne zu verstehen und erfasst das Dienen durch Rat oder Beistand.58 Erforderlich ist aber, dass das entsprechende Interesse dem Rechtsanwalt überhaupt anvertraut war mit der Folge, dass er zur Verwirklichung des Interesses tatsächlich tätig geworden ist. In der Praxis bestehen nicht selten widerstreitende Interessen von verschiedenen Mandanten einer Anwaltskanzlei. Berufsrechtlich relevant sind solche Gegensätze nur, wenn Mandanten ihrem Anwalt pauschal und vorab die Besorgung ihrer sämtlichen Angelegenheiten anvertrauen und der Rechtsanwalt eine derart weitreichende Mandatierung auch akzeptiert, eine Konstellation, die allerdings nicht nur nicht empfehlenswert, sondern völlig atypisch ist. Die Interessen werden, wie erwähnt, jeweils durch den Inhalt des Mandats bestimmt. Der Mandatsumfang entscheidet zugleich darüber, welche Interessen der vertragstreue Anwalt „vertritt“. 8. Zwischenergebnis Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass 1. die anwaltlich zu vertretenden Interessen eines Mandanten subjektiv zu bestimmen sind, so dass der durch Auslegung zu ermittelnde Inhalt der Mandatsverträge für § 43a Abs. 4 BRAO maßgeblich ist, 57 BGH, NStZ 1982, 331, 332; OLG Düsseldorf, NZV 2003, 297; Fischer, StGB, 68.  Aufl. 2021, §  356 Rz.  9; Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und ­berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 161; Kretschmer, Der strafrechtliche Parteiverrat (§ 356 StGB), 2005, S. 233; Schramm, Das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2004, S. 52; Henssler, AnwBl 2013, 668, 673; Henssler, AnwBl 2018, 342, 347; Henssler/Deckenbrock, NJW 2012, 3265, 3268 f. 58 Träger in Weyland, BRAO, 10. Aufl. 2020, § 43a Rz. 66. 80

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

2. durch eine sachgerechte Gestaltung der zu übernehmenden Prozessmandate ein Interessenkonflikt bei einer Mehrfachvertretung vermieden werden kann, 3. die gemeinsame Vertretung von mehreren i.S.v. §§ 15, 16 AktG verbundenen Gesellschaften grundsätzlich keinen berufsrechtlichen Bedenken begegnet.

V. Die künftig zu vertretenden Interessen der Mandanten Regelmäßig werden bei einer Mehrfachvertretung in gerichtlichen Verfahren die künftig zu vertretenden Interessen noch nicht feststehen, sondern nach dem hier vertretenen subjektiven Interessenbegriff und dem Bekenntnis zum Vorrang der Mandatsvereinbarung der Parteidisposition unterliegen. Gegenstand sollte das gemeinsame Interesse der Mandanten an der vollständigen Abweisung der Klagen sein. In den Mandatsvereinbarungen sollte von allen Mandanten klargestellt werden, dass ihre Interessen identisch zu betrachten sind und dass daher auch alle Verfahren einheitlich mit der gleichen Zielsetzung geführt werden sollen. Bei der Ausgestaltung der Mandatsvereinbarung ist darauf zu achten, dass die Parteien nicht lediglich eine (unwirksame) Einwilligung in die Vertretung von potenziell widerstreitenden Interessen erklären, sondern bereits die zu vertretenden Interessen als gleichgerichtet definieren.

VI. Der Widerstreit der Interessen Mit den vorstehenden Ausführungen ist nicht nur klargestellt worden, dass die Interessen der Mandanten bei einer Mehrfachvertretung subjektiv nach dem Gegenstand des Mandatsverhältnisses zu bestimmen sind. Vielmehr hat die Auseinandersetzung mit den konkreten Parteiinteressen bereits Hinweise zu der nun anzugehenden Kernproblematik der Prävarikationsvorschriften ergeben, nämlich dem Interessenkonflikt. Für ihn bleibt nach der Feststellung der vertretenen bzw. künftig zu vertretenden Interessen bei einer sachgerecht beschränkten Mandatsgestaltung ersichtlich kein Raum. Die Frage, nach welchen Kriterien zu ermitteln ist, ob tatsächlich eine Kollision zwischen den anwaltlich vertretenen Interessen der Parteien besteht, 81

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wird im Schrifttum häufig nicht mit der gebotenen Präzision herausgearbeitet. Meist finden sich Stellungnahmen allein zum Streit um die objektive oder subjektive Bestimmung der Interessenlage sowie zu Einzelfällen. Ausführungen zu den allgemeinen Anforderungen an einen Interessengegensatz und an die Vertretung der gegensätzlichen Interessen fehlen dagegen regelmäßig.59 1. Der Begriff des Interessengegensatzes Der Interessengegensatz ist über eine Gegenüberstellung der auf subjektiver Basis ermittelten Interessenlagen zu bestimmen. Der Begriff „widerstreitend“ beschreibt ein gegenseitiges Verhältnis von Dingen, die sich in ihrer Unvereinbarkeit, Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit gegenüberstehen. Widerstreitende Interessen sind damit gegensätzliche, widersprüchliche oder unvereinbare Interessen. Ein Interessenwiderstreit ist mithin gegeben, wenn die Verwirklichung des einen Interesses unmittelbar zulasten des anderen geht.60 Der Widerstreit muss zum Zeitpunkt der Tat vorliegen. Für die Beurteilung nicht nur der Interessen, sondern auch des Interessengegensatzes kommt es daher frühestens auf den Zeitpunkt an, zu dem der Dienst im Zweitmandat begonnen wird.61 Maßgeblich ist somit bei einer prozessualen Mehrfachvertretung der Zeitpunkt, in dem die Anwaltssozietät das zweite Prozessmandat übernimmt. 2. Kein berufsrechtlich relevanter Interessenkonflikt im Verhältnis zu den Minderheitsgesellschaftern Bei der Vertretung von konzernverbundenen Unternehmen sind ausschließlich solche Interessenkonflikte berufsrechtlich relevant, die im Ver59 Siehe exemplarisch von Falkenhausen in Hartung/Scharmer, BORA/FAO, 7. Aufl. 2020, § 3 BORA Rz. 72 ff.; Träger in Weyland, BRAO, 10. Aufl. 2020, §  43a Rz.  64  ff.; Offermann-Burckart, AnwBl 2008, 446, 447  ff.; Offermann-­ Burckart, FF 2009, 58, 60 f. 60 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 43a Rz. 171 m.w.N. 61 RGSt 71, 231, 236; OLG Karlsruhe, NJW 2002, 3561, 3563; Heine/Weißer in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 356 Rz. 21; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, §  356 Rz.  9; Kilian/Koch, Anwaltliches Berufsrecht, 2.  Aufl. 2018, B  Rz.  821; Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz.  172; Henssler/­ Deckenbrock, NJW 2012, 3265, 3268 f. 82

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hältnis zwischen den verbundenen Unternehmen aufgetreten sind oder auftreten werden. Potenzielle Interessenkonflikte zwischen den Gesellschaftern der beteiligten Gesellschaften müssen dagegen außer Betracht bleiben. In aller Regel vertritt die mandatierte Anwaltssozietät zu keiner Zeit etwa die Interessen von Minderheitsgesellschaftern. Die Vertretung einer Gesellschaft ist unter keinem denkbaren Blickwinkel eine anwaltliche Vertretung einzelner Gesellschafter. Vertritt ein Rechtsanwalt eine Gesellschaft und werden später Entscheidungen der durch ihre Geschäftsführungsorgane vertretenen Gesellschaft kritisiert, dann ist der Rechtsanwalt generell nicht gehindert, die Gesellschaft weiterhin zu vertreten. Insofern spielt es keine Rolle, ob die Mandatserteilung zunächst im Einvernehmen mit dem betreffenden (Minderheits-)Gesellschafter erfolgte oder ob von vornherein Meinungsverschiedenheiten zwischen Vorstand und Minderheitsgesellschafter bestanden. Anderenfalls wäre eine sinnvolle anwaltliche Vertretung von Gesellschaften gar nicht möglich. An diesem Grundsatz ändert sich auch nichts, wenn der Rechtsanwalt in zulässiger Weise aufgrund der gleichgerichteten (subjektiven) Interessen­ lage außerdem den Mehrheitsgesellschafter vertreten hat und weiterhin vertritt. Für die Übernahme dieses Mandats bzw. dieser Mandate ist allein entscheidend, ob im Verhältnis zwischen Gesellschaft und Mehrheitsgesellschafter aktuell gleichgerichtete Interessen bestehen. Eine divergierende Interessenlage aufseiten der Minderheitsgesellschafter ist irrelevant. 3. Anforderungen an die Konkretisierung des Interessengegensatzes a) Grundsätze Der subjektive Interessenbegriff bringt es mit sich, dass die zu beachtenden Interessenlagen nicht statisch sind. Gerade in einer Mandatsbeziehung, die sich – wie dies bei komplexen wirtschaftlichen Streitigkeiten – über einen längeren Zeitraum erstreckt, sind solche Veränderungen denkbar, zumal auf neu auftretende Herausforderungen reagiert werden muss. Jede nachträgliche Interessenänderung, die einen Interessenwiderstreit zwischen den von einem Anwalt vertretenen Parteien mit sich bringt, kann daher relevant werden, wenn sie sich tatsächlich auf die anwaltlich vertretenen Interessen bezieht.62 Zugleich folgt aus dieser Einschränkung aber, dass ein 62 Zu Einzelheiten vgl. Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 43a Rz. 172e. 83

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künftiger Interessenkonflikt, der zwischen den Parteien erst nach Beendigung eines Mandats neu auftreten kann, zunächst nicht relevant ist. Das gilt insbesondere für solche nachträglichen Interessenkonflikte, die durch die Geltendmachung von Ausgleichsansprüchen zwischen den vertretenen Parteien entstehen könnten. Mögliche künftige Interessenkonflikte genügen schon deshalb nicht, weil ansonsten in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise an den Anschein einer Interessenkollision angeknüpft würde. Ohne Bedeutung ist daher nicht nur, ob die Parteien/Mandanten früher einmal kollidierende Interessen hatten, sondern auch, ob sie künftig kollidierende Interessen haben könnten. Nicht einmal die Voraussehbarkeit ­eines künftigen Widerstreits begründet ein Tätigkeitsverbot.63 Da das Tätigkeitsverbot des § 43a Abs. 4 BRAO das Grundrecht der freien Berufsausübung der Rechtsanwälte nach Art. 12 Abs. 1 GG einschränkt, hat sich die Auslegung der Vorschrift daran zu orientieren, dass jeder Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sein muss und nicht weitergehen darf, als die rechtfertigenden Gemeinwohlbelange es erfordern. Eingriffszweck und Eingriffsintensität müssen zudem in einem angemessenen Verhältnis stehen.64 Im Interesse der Rechtspflege sowie eindeutiger und gradliniger Rechtsbesorgung muss lediglich im konkreten Fall, also etwa der Abwehr von Schadensersatz­ ansprüchen, die Vertretung widerstreitender Interessen vermieden werden. Das Anknüpfen an einen künftig möglichen, derzeit tatsächlich aber nicht bestehenden (latenten) Interessenkonflikt würde gegen das Übermaßverbot verstoßen und wäre verfassungsrechtlich unzulässig. b) Gleichgerichtete Interessen in zivilrechtlichen Mandaten aa) Die Vertretung mehrerer Gesamtschuldner Aus der Erkenntnis, dass die bloße Möglichkeit eines Interessenkonflikts für das Eingreifen der Verbotsnorm des §  43a Abs.  4 BRAO i.V.m. §  3 BORA bedeutungslos ist, folgt zwingend, dass die Vertretung mehrerer 63 OLG Karlsruhe, NJW 2002, 3562, 3563; Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 168 f.; Henssler, FS Streck, 2011, S. 677, 685 ff.; Henssler/Deckenbrock, NJW 2012, 3265, 3268 f. 64 Vgl. zu diesen verfassungsrechtlichen Grundlagen BGH, NJW 2012, 3039 Rz. 14; BGH, NJW 2020, 2407 Rz. 42. 84

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

Parteien in derselben Rechtssache unproblematisch ist, solange gleichgerichtete Interessen bestehen. So ist etwa bei zivilrechtlichen Mandaten eine Mehrfachvertretung von gesamtschuldnerisch verklagten Parteien grundsätzlich berufsrechtlich unbedenklich.65 Sie wird vom Gesetzgeber nicht nur toleriert, sondern im Gegenteil sogar als ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Entsprechende eindeutige Wertungen lassen sich den die Anwaltsgebühren regelnden Vorschriften des §  7 RVG und des §  50 WEG ­entnehmen.66 Der BGH hat noch einen Schritt weitergehend aus dem Rechtsgedanken des § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO sogar eine Obliegenheit der Prozessparteien angenommen, die Kosten so niedrig zu halten, wie sich dies mit der Wahrung ihrer berechtigten Belange vereinbaren lässt. So seien der Erstattungsfähigkeit von Rechtsanwaltskosten Grenzen gesetzt, weshalb ein Streitgenosse nicht stets die Kosten eines eigenen Anwalts erstattet verlangen könne.67 In den hier interessierenden Fällen einer Mehrfachvertretung von verbundenen Unternehmen ist von Bedeutung, dass es das BAG in Übereinstimmung mit den geschilderten Grundsätzen für zulässig erachtet, dass ein Anwalt in einem Beschlussverfahren nach § 103 Abs. 2 BetrVG gleichzeitig den Betriebsrat und das betroffene Betriebsratsmitglied vertritt. Betriebsrat und Betriebsratsmitglied verfolgen in diesem Verfahren in der Regel dasselbe Ziel, den Zustimmungsersetzungsantrag abzuwehren. Erst wenn der Betriebsrat seine Meinung ändert und an der Zustimmungsverweigerung nicht mehr festhält, können widerstreitende Interessen entstehen. Einem vorherigen Vertretungsverbot steht das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgebot entgegen, das einem gesetzlichen Eingriff in das Recht eines Anwalts auf freie Berufsausübung enge Grenzen zieht. Verhältnismäßig ist der mit einem Tätigkeitsverbot verbundene Eingriff erst, wenn der Widerstreit der Interessen tatsächlich entstanden ist.68 Hypothetische Vorgänge sind nicht zu berücksichtigen. Wenn tatsächlich ein Konflikt nie bestanden hat, darf ein solcher auch nicht durch

65 Zu Ausnahmen jüngst BGH, NJW 2019, 1147. 66 Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz.  206; Erb, Parteiverrat  – Rechtsgut und Einwilligung im Tatbestand des § 356 StGB, 2005, S. 257. 67 Siehe nur BGH, NJW-RR 2003, 1217, 1218; BGH, NJW-RR 2004, 536; BGH, NJW 2007, 2257 Rz. 12; BGH, Beschl. v. 3.2.2009 – VIII ZB 114/07, BeckRS 2009, 06496 Rz. 6; BGH, NJW 2012, 319 Rz. 6 f. 68 BAGE 111, 371, 375 = NJW 2005, 921, 922; vgl. auch BGH, NJW 2019, 316 Rz. 15. 85

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die Unterstellung fingiert werden, dass die Parteien andere Interessen hätten verfolgen können. Entsprechende Maßstäbe sind für Mehrfachvertretungen im Anschluss an Verkehrsunfälle anerkannt. Auch dort werden der beklagte Fahrer/Halter und die mitverklagte Versicherung regelmäßig von einem gemeinsamen Prozessbevollmächtigten vertreten. Dass nach Abschluss des Prozesses möglicherweise Regressforderungen der Haftpflichtversicherung im Raum stehen, spricht anerkanntermaßen nicht gegen die Zulässigkeit der gemeinsamen Mandatierung.69 bb) Ausnahmen nach der aktuellen BGH-Rechtsprechung Der BGH hat – wie es im Berufsrecht leider allzu häufig geschieht – mit einer aktuellen Entscheidung70 Zweifel gesät, ob die Vertretung mehrerer Gesamtschuldner berufsrechtlich weiterhin als – jedenfalls in aller Regel – zulässig angesehen kann. Nach den Leitsätzen der Entscheidung verstößt ein Rechtsanwalt mit der Vertretung mehrerer Gesamtschuldner gegen das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, „wenn das Mandat nicht auf die Abwehr des Anspruchs im gemeinsamen Interesse der Gesamtschuldner beschränkt ist und nach den konkreten Umständen des Falls ein Interessenkonflikt tatsächlich auftritt.“ Konkret vertrete ein Rechtsanwalt „in der Regel widerstreitende Interessen, wenn er in dem zwischen dem Bauherrn und dem Bauunternehmer wegen eines Schadensfalls geführten selbstständigen Beweisverfahren das unbeschränkte Mandat zur Vertretung mehrerer als Streithelfer beigetretener Sonderfachleute übernimmt, die teils mit der Planung, teils mit der Bauüberwachung beauftragt wurden.“ Die Entscheidung betrifft ersichtlich einen eher atypisch gelagerten Sonderfall. Es ging um ein selbstständiges Beweisverfahren, in dem der eingeschaltete Rechtsanwalt insgesamt drei Planungsgemeinschaften vertreten hatte. Diese hatten in dem selbstständigen Beweisverfahren ein gleichgerichtetes Ziel – die Abwehr des von den Antragstellern geltend gemachten 69 Dazu ausführlich Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz.  208  ff.; Scherf, Der Rechtsanwalt im Kraftfahrzeughaftpflichtprozeß, Diss. Köln 1996, S. 81. 70 BGH, NJW 2019, 1147. 86

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

Anspruchs  – verfolgt. Gleichwohl hätten die Interessen der Mandanten miteinander konkurriert. Nach den Streitverkündungsschriften hatten Fehler aller drei Planungsgemeinschaften im Raum gestanden. Im Innenverhältnis habe das Interesse einer der Planungsgemeinschaft aber auch darauf gerichtet sein müssen, gegen die Interessen der beiden anderen Planungsgemeinschaften die Sache auf Fehler in deren Bereich zu prüfen. Der BGH stellt die bisherige Rechtsprechung zur Vertretung mehrerer Gesamtschuldner ausdrücklich nicht grundsätzlich in Frage. Vielmehr verbiete es § 43a Abs. 4 BRAO einem Rechtsanwalt nicht schlechthin, in derselben Rechtssache mehrere Mandanten zu vertreten, wie sich bereits § 7 RVG entnehmen lasse. Die Vertretung mehrerer Mandanten sei zulässig, wenn das Mandat auf die Wahrnehmung gleichgerichteter Interessen der Mandanten begrenzt sei.71 Unproblematisch sei insbesondere der Fall, wenn mehrere Gesamtschuldner in Anspruch genommen würden und ihr gemeinsames Interesse im konkreten Verfahren ausschließlich auf die Abwehr des Anspruchs gerichtet sei. Die bloße (latente) Möglichkeit, dass später bei einem Ausgleich unter den Gesamtschuldnern unterschiedliche Interessen zutage treten könnten, stehe dem nicht entgegen. Unter Verweis auf eine Veröffentlichung des Verfassers dieses Beitrags72 geht auch der BGH davon aus, dass die Vertretung mehrerer Mandanten dem Rechtsanwalt nur dann verboten sei, wenn nach den konkreten Umständen des Falls ein Interessenkonflikt tatsächlich auftrete. Im vom Gericht entschiedenen Fall war nach den durchaus nachvollziehbaren Feststellungen des BGH ein solcher konkreter Konflikt bereits im Beweissicherungsverfahren gegeben, weil der beauftragte Sachverständige, wie in § 485 Abs. 2 ZPO vorgesehen, nicht nur das Schadensbild festhalten, sondern auch Feststellungen zu den Ursachen des Schadensbildes treffen soll. Die Entscheidung beruht damit auf einer zivilprozessualen Besonderheit. In der Tat muss die Feststellung der Verursachungsbeiträge für das Schadensbild zwangsläufig dazu führen, dass bereits während des Verfahrens der Konflikt zwischen den Interessen der Mandanten quasi aktiviert bzw. in das Beweissicherungsverfahren hineingetragen wird. Zu der eher unüblichen Vorverlagerung des Konflikts kommt es in entsprechenden Konstellationen auch deshalb, weil das Ergebnis des selbstständigen Beweisverfahrens nach § 493 ZPO in einem späteren Hauptsacheverfahren verwertet werden kann. Den Planungsgemein71 Unter Verweis auf BGH, Beschl. v. 4.2.2010 – IX ZR 190/07, BeckRS 2010, 4533 Rz. 4. 72 Henssler, AnwBl 2018, 342, 347. 87

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Martin Henssler

schaften müsse daher daran gelegen sein, möglichen Feststellungen zu eigenen Verursachungsbeiträgen bereits jetzt entgegenzuwirken, wobei das Interesse jeder Planungsgemeinschaft beinhaltete, dass Verursachungsbeiträge der jeweils anderen Planungsgemeinschaften festgestellt würden. Problematisch bleibt an der Entscheidung, dass sie unterstellt, dass tatsächlich Planungsfehler begangen wurden. Geht man nämlich davon aus, dass eine realistische Chance bestand, dass überhaupt keine der Planungsgemeinschaften für den eingetretenen Schaden verantwortlich war, dann hätte es durchaus nahegelegen, alle Planungsgemeinschaften gemeinsam bei der Abwehr der gegen sie erhobenen Ansprüche zu vertreten. Leider vermisst man in der Entscheidung Hinweise, wie konkret die Wahrscheinlichkeit des Verursachungsbeitrags jedenfalls eines der Mandanten war. Mehr als unglücklich und berufsrechtlich verfehlt war es sicherlich, dass der Rechtsanwalt nach dem Leitsatz 3. trotz der komplexen Rechtslage ein unbeschränktes Mandat angenommen hatte. Vor dem Hintergrund der absehbaren Konflikte musste es sich für ihn aufdrängen, schon im Beweis­ sicherungsverfahren lediglich ein eng auf die Vertretung des gemeinsamen Abwehrinteresses beschränktes Mandat zu übernehmen. 4. Die Bedeutung des Einverständnisses der Parteien In Fällen einer Mehrfachvertretung werden die Vertreter der beteiligten Gesellschaften die Mehrfachvertretung durch die Anwaltssozietät stets ausdrücklich wünschen und in Kenntnis der Besonderheiten des beschränkten Mandats bereit sein, entsprechende Vollmachten zu erteilen. Auch wenn die Verbotsnormen der § 356 StGB, § 43a Abs. 4 BRAO i.V.m. § 3 Abs. 1 BORA bei der Vertretung durch denselben Rechtsanwalt nicht zur Disposition der Parteien stehen73 und der Widerstreit der subjektiv zu ermittelnden Interessen objektiv festzustellen ist, so kommt dieser Einschätzung durch die Parteien doch eine indizielle Bedeutung zu. Entscheiden sich geschäftserfahrene Parteien in Kenntnis aller relevanten Umstände für eine gemeinschaftliche Vertretung durch denselben Anwalt, dann müssen schon gewichtige Gründe vorliegen, um sich über diese Entscheidung hinwegsetzen zu können. Die Vorteile der gemeinsamen Strategie und der Kostenersparnis betonen zusätzlich die Parallelität der Mandanteninteressen. Damit bestätigt das Einvernehmen der Mandanten, dass die 73 Etwas anderes gilt nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA bei einer Vertretung durch unterschiedliche Anwälte derselben Sozietät. 88

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

Mehrfachvertretungen im „wohlverstandenen“ Interesse aller Parteien liegen. Davon ganz unabhängig verlangt die Rechtsprechung zu Recht, bei Mehrfachvertretungen streng zwischen dem berufsrechtlichen Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen und potenziellen Pflichtverletzungen bei gleichgerichteten Mandaten zu trennen. Der BGH74 hat in einer noch relativ jungen Entscheidung die Gelegenheit wahrgenommen, die Bedeutung dieser Unterscheidung hervorzuheben. Das Gericht hatte einen Fall zu beurteilen, in dem ein Rechtsanwalt mehrere durch Falschberatung geschädigte Anleger bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen dasselbe Unternehmen (Anlageberater) vertreten hatte. Obwohl angesichts der drohenden Insolvenz des Schuldners der Ersatzansprüche die Anleger divergierende Interessen hatten, nämlich jeweils das Interesse an einer vollständigen Durchsetzung der Ansprüche, hat der BGH einen Berufsrechtsverstoß verneint. Die Parallelvertretung sei zulässig, da der Rechtsanwalt mit der Mandatsannahme seine Bereitschaft erkläre, fortan die Interessen des Mandanten/Anlegers ohne Rücksicht auf die Interessen Dritter umfassend zu vertreten. Wolle er nur eingeschränkt für den Mandanten tätig werden, müsse er dies vor Abschluss des Vertrags klarstellen. Zwar könne der Erfolg des einen Mandanten/künftigen Insolvenzgläubigers den Misserfolg des anderen bedeuten, der nicht mehr zum Zuge kommt. Das wäre aber nicht anders, wenn die Mandanten von unterschiedlichen Rechtsanwälten vertreten würden. Widerstreitende Interessen liegen nach Ansicht des Senats nicht schon deshalb vor, weil bei der Durchsetzung mehrerer Forderungen gegen denselben Schuldner in der Zwangsvollstreckung der Erfolg des einen Mandanten den Misserfolg des anderen bedeuten könne, der nicht mehr zum Zuge kommt. Die Mandatsverträge verpflichteten den Rechtsanwalt nur dazu, für jeden einzelnen Mandanten das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Bevorzuge der Anwalt einen seiner Mandanten vor anderen Auftraggebern begehe er zwar eine zum Schadenersatz verpflichtende Vertragsverletzung, verstoße damit aber noch nicht gegen das Vertretungsverbot aus §  43a Abs. 4 BRAO. An der grundsätzlichen Vereinbarkeit der Pflichten aus den

74 BGH, NJW-RR 2017, 1459. 89

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Martin Henssler

einzelnen Verträgen ändert sich also nicht einmal dann etwas, wenn es zu einer derartigen Pflichtverletzung käme.75

VII. Die gemeinsame Vertretung von konzernverbundenen Unternehmen im Rahmen von Vergleichsverhandlungen In aller Regel wird bei einer parallelen Prozessvertretung mehrerer Mandanten damit zu rechnen sein, dass es auf Anregung des Gerichts zu Vergleichsverhandlungen kommt. Grundsätzlich bestehen gegen eine ent­ sprechende Mitwirkung des anwaltlichen Vertreters keine Bedenken. Als gemeinsames Interesse lässt sich hier das beiderseitige Interesse der Mandanten an der einvernehmlichen Beilegung der Streitigkeiten definieren. Es ist auch generell nichts Ungewöhnliches, dass ein Rechtsanwalt bei der – wie erwähnt – weiterhin grundsätzlich zulässigen Vertretung mehrerer Gesamtschuldner entsprechende Vergleichsverhandlungen führt. Dem Verfasser sind solche Fälle jedenfalls bekannt. Allerdings ist darauf zu achten, dass auch insoweit tatsächlich nur das gemeinsame Interesse an einer einvernehmlichen Beilegung des Konflikts vertreten wird. Die Beteiligungsquote der vertretenen Mandanten an einer Vergleichssumme muss daher von den Parteien vorgegeben werden. Sobald über diese Beteiligungsquote ein Streit entsteht oder sich unterschiedliche Interessen auch nur konkret abzeichnen, darf die mandatierte Anwaltssozietät nicht mehr tätig werden. Eine entsprechende Tätigkeit sollte dementsprechend auch ausdrücklich vom Mandatsumfang ausgenommen werden. Entsprechende Vergleichsverhandlungen können daher nur aufgrund einvernehmlicher Vorgaben der Mandanten geführt werden. Eine Fortsetzung der Prozessvertretung, die auch die interne Aufteilung umfasst, ist damit nur unter den Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA bei einem Einverständnis der zuvor aufgeklärten Mandanten möglich.

VIII. Bedarf nach einer erneuten Konfliktprüfung Wie bei jeder Mehrfachvertretung besteht auch bei der gemeinsamen Interessenvertretung von konzernverbundenen Unternehmen ein Bedarf nach einer ständigen Nachjustierung der Mandate, sobald eine Änderung der 75 BGH, NJW-RR 2017, 1459 Rz. 18. 90

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

subjektiven Interessen der Mandanten eintritt. Anlass könnte etwa ein gerichtlicher Hinweis sein, dass das angerufene Gericht erwägt, den gegen die Mandanten erhobenen Klagen dem Grunde nach stattzugeben, so dass sich die Frage der internen Ausgleichsansprüche stellt. Nach der Entscheidung des BGH76 zur Mehrfachvertretung während eines Beweissicherungsverfahrens wird man generell davon ausgehen müssen, dass die Anforderungen an einen „konkreten“ Interessenkonflikt abgesenkt wurden. Ist ein objektiver Interessenkonflikt gegeben, so ist erneut mit den Mandanten abzustimmen, ob gleichwohl die gemeinsame Vertretung fortgesetzt werden kann. Das gemeinsame Interesse wäre dann gegebenenfalls neu zu definieren.

IX. Abhilfe durch Einholung des Einverständnisses der Parteien 1. Grundlagen – Anforderungen an das Einverständnis Eine berufsrechtlich zulässige Lösung über eine Einwilligung der Parteien nach §  3 Abs.  2 Satz  2 BORA würde voraussetzen, dass die Mandanten durch unterschiedliche Anwaltsteams betreut werden. Bei einer solchen Lösung werden allerdings die Vorteile der einheitlichen und abgestimmten Prozessvertretung nur unvollständig verwirklicht werden können. Ein Bedarf für eine Einwilligungslösung kann sich aber dann ergeben, wenn zwischen den Mandanten tatsächlich ein konkreter Interessenkonflikt auftreten würde. Die Wirksamkeit des Einverständnisses eines Mandanten setzt voraus, dass dieser vorher wahrheitsgemäß und vollständig über die Inte­ ressenkollisionslage aufgeklärt wurde. Der Mandant muss in die Lage versetzt worden sein, die sich aus der Kollisionslage ergebenden Folgen und Gefahren selbst abzuschätzen.77 Die Einverständniserklärungen sollen grundsätzlich vor Beginn der Mandatsbearbeitung abgegeben werden. Das würde bedeuten, dass an sich beide Mandate zunächst niedergelegt werden müssten, sobald der Interessenkonflikt virulent würde. Allerdings kann nach einer im Schrifttum überwiegend vertretenen Ansicht78 der Interes76 BGH, NJW 2019, 1147. 77 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 3 BORA Rz. 18. 78 Nach Hartung, NJW 2006, 2721, 2726; von Falkenhausen in Hartung/Scharmer, BORA/FAO, 7.  Aufl. 2020, §  3 BORA Rz.  115  ff.; Zuck in Gaier/Wolf/ Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 3. Aufl. 2020, § 43a BRAO/§ 3 BORA Rz. 33 Fn.  62 kann auch ein nachträglich erklärtes Einverständnis einen Verstoß 91

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Martin Henssler

senkonflikt generell durch nachträgliche Einverständniserklärungen beseitigt werden, wenn diese noch während des Mandats abgegeben werden. Der Verfasser hat dies bislang in seiner Kommentierung des §  3 BORA strenger gesehen,79 hatte dabei allerdings nicht die hier interessierende Sondersituation im Blick, in der ein Konflikt erst während der Mandatsbearbeitung auftritt. Eine vorherige Einwilligung in künftige, im Detail ohnehin nicht absehbare Konflikte wäre aber nur in der Theorie möglich. Die Forderung nach einer sofortigen Mandatsniederlegung erscheint nicht nur wenig praktikabel, sondern auch unverhältnismäßig und daher verfassungsrechtlich nicht haltbar. Mit der herrschenden Meinung im Schrifttum ist daher jedenfalls bei einem erst nachträglich auftretenden Interessenkonflikt davon auszugehen, dass es einer Mandatsniederlegung nicht bedarf, wenn das beidseitige Einverständnis unverzüglich nach Auftreten des Konflikts eingeholt wird. 2. Anforderungen an die weiterhin tätigen Rechtsanwälte Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Anschlusstätigkeit der mehrfach mandatierten Sozietät ist, dass die Mandatsbearbeitung auf zwei unterschiedliche Teams verteilt werden muss. Unproblematisch ist es somit, wenn zwei bislang mit der Sache nicht befasste Teams anschließend getrennt für die Mandanten tätig werden. Im Schrifttum nicht behandelt wird – soweit ersichtlich – die Frage, ob es in einer solchen Situation berufsrechtlich auch zulässig ist, wenn das bislang im beiderseitigen Interesse tätige Team nun für eine der beiden Mandanten – allerdings in derem Interesse tätig würde. Für einen Ausschluss des bisherigen Teams könnte sprechen, dass die Einwilligung nur dann berufsrechtlich relevant ist, wenn nicht derselbe Rechtsanwalt die widerstreitenden Interessen vertritt. An diesem Grundsatz will auch § 3 Abs. 2 BORA nichts ändern. Das bedeutet, dass die an dem bisherigen Team beteiligten Rechtsanwälte selbst – ungeachtet des Einverständnisses  – bei ihrer neuen Tätigkeit nunmehr keine ­beseitigen. Kleine-Cosack, BRAO, 8.  Aufl. 2020, §  3 Rz.  23; Kleine-Cosack, ­AnwBl 2006, 13, 16; Träger in Weyland, BRAO, 10.  Aufl. 2020, §  3 BORA Rz. 19; Kilian/Koch, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2018, B Rz. 846 verneinen einen Verstoß gegen § 3 Abs. 2, Abs. 3 BORA, wenn das Einverständnis noch während der Mandatsarbeit unverzüglich nach Bekanntgabe und vor Abschluss der Bearbeitung erteilt wird. 79 Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 3 BORA Rz. 19. 92

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Widerstreitende Interessen in Fällen der Mehrpersonenvertretung

widerstreitenden Interessen vertreten dürften. Das bisherige Team kann insoweit nicht anders als ein Einzelanwalt behandelt werden. Die sachgerechte Lösung muss insoweit erneut auf der Grundlage der vertretenen Interessen gefunden werden. M. E. greifen hier wiederum die Besonderheiten des beschränkten Mandats. Im Falle der Abwehr von Schadensersatzansprüchen haben die Rechtsanwälte des derzeitigen Teams während ihrer Tätigkeit für die Mandanten allein das entsprechende gemeinsame Interesse an der Abweisung der Klage vertreten, dagegen zu ­keiner Zeit, das Interesse eines Mandanten, möglichst wenig im Innenausgleich zahlen zu müssen. Durch das neue Mandat würde daher das bis­ herige gemeinsame Interesse, nämlich eine möglichst geringe Haftung, nicht in Frage gestellt. Die Verwirklichung des einen Interesses geht also nicht unmittelbar zulasten des anderen. Ebenso wenig lässt sich von einem gegenseitigen Verhältnis von Interessen sprechen, die sich in ihrer Unvereinbarkeit, Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit gegenüberstehen. Kein Gegenargument folgt aus der gesetzlichen Regelung der Mediation. Dort schließt § 3 Abs. 2 MediationsG Parteivertretung und Mediation in einer Person unabhängig von der Zustimmung der Parteien aus. Der Grund hierfür ist nach den Gesetzgebungsmaterialien, dass eine Partei „einer Mediatorin bzw. einem Mediator die für die Lösung des Konfliktes notwendige Offenheit nicht entgegenbringen (wird), wenn sie beispielsweise befürchten muss, dass die Mediatorin bzw. der Mediator nach einem etwaigen Scheitern der Mediation die Interessen der Gegenpartei vertritt und dabei das in der Mediation erlangte Wissen zu ihrem Nachteil nutzt. So darf etwa die anwaltliche Mediatorin oder der anwaltliche Mediator nach dem Scheitern der Mediation in einer Ehe­ sache anschließend keine der Parteien anwaltlich vertreten.“ 80

Der entscheidende Unterschied zu § 43a Abs. 4 BRAO besteht darin, dass § 3 MediationsG gerade nicht auf einen Interessenkonflikt abstellt, sondern im Interesse eines breiten Vertrauens der Bevölkerung in die Unparteilich80 BT-Drucks. 17/5335, S.  14 unter Hinweis auf Henssler in Henssler/Prütting, BRAO, 5. Aufl. 2019, § 43a Rz. 179 m.w.N. (bzw. die insoweit inhaltsgleiche Vorauflage). Der Verfasser dieses Beitrags hält nach der eigenständigen Regelung im MediationsG diese Argumentation aus der Sicht des anwaltlichen Berufsrechts nicht mehr aufrecht. Der Grund für eine besondere Beurteilung zum Schutz der Unabhängigkeit des Mediators ist seither entfallen, zumal auch der ebenfalls keinen Interessenkonflikt voraussetzende §  45 BRAO seit der Klarstellung durch § 18 MediationsG nicht mehr einschlägig ist. 93

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keit eines Mediators jede Form einer einseitigen Parteivertretung durch den Mediator unterbinden möchte. Aufgrund der bereits angesprochenen Spezialität des MediationsG gegenüber dem anwaltlichen Berufsrecht stellt sich die Frage nach der isoliert anwaltsrechtlichen Beurteilung heute nicht mehr. Gewisse Bedenken könnten sich allerdings aus der geschilderten Entscheidung des BGH zur Mehrfachvertretung während eines Beweis­ sicherungsverfahrens ergeben. In der Entscheidung heißt es u.a.: „Aufgrund dieses, dem Angekl. nach den Feststellungen bewussten Interessen­ widerstreits innerhalb der Klägergemeinschaft war es dem Angekl. nicht nur berufsrechtlich (§ 43a Abs. 4 BRAO), sondern auch durch die Vorschrift des § 356 Abs. 1 StGB strafbewehrt untersagt, die Verfahren weiter durch anwaltliches Tätigwerden in die eine oder andere Richtung zu fördern.“ 81

Das kann man so verstehen, dass der Anwalt nach Auffassung des BGH zur Niederlegung sämtlicher Mandate verpflichtet war.82 Allerdings spricht der BGH zum einen die besondere Thematik der Einwilligung nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA nicht an, da sie sich im konkreten Fall nicht stellte. Außerdem muss die gesamte Argumentationslinie des BGH vor dem Hintergrund der unbeschränkten Mandate gesehen werden, die der betroffene Rechtsanwalt in dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt mit den verschiedenen Mandanten vereinbart hatte. Er hatte somit in einem deutlich weitergehenden (vom BGH im Detail leider nicht bestimmten) Umfang die Vertretung der Einzelinteressen der Mandanten übernommen, so dass die Argumentation über die konkrete Bestimmung der vertretenen Interessen und die anschließende Ablehnung eines Widerspruchs zwischen diesen Interessen nicht in Betracht kam. Nach der hier entwickelten Auffassung ist bei der gebotenen restriktiven verfassungskonformen Auslegung die Anschlusstätigkeit des bis dato mit der Sache befassten Teams für eine der Mandanten zulässig. Es besteht in solchen Fällen kein sachlicher Grund, den Mandanten während der Vergleichsverhandlungen die Kanzlei und die Anwälte ihres Vertrauens zu entziehen. Vielmehr würde der durch die Komplexität des Sachverhaltes bedingte erhebliche Einarbeitungsaufwand für zwei neue Teams bzw. für eine erst neu hinzugezogene Kanzlei angesichts des hohen Zeitdrucks in Vergleichsverhandlungen zu einer gravierenden Schwächung der Mandanten in einer sensiblen zeitlichen Phase führen. Beide Mandanten haben es 81 BGH, NJW 2019, 316 Rz. 16. 82 So etwa Deckenbrock, NJW 2019, 318, 319. 94

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in der Hand, frei zu entscheiden, ob sie unter den geschilderten Vorzeichen das Einverständnis erteilen möchten. Im Rahmen der erforderlichen umfassenden Aufklärung sollten sie allerdings auf die geschilderten Besonderheiten im Detail hingewiesen werden. Geboten erscheint damit ein enges Verständnis des Tätigkeitsverbotes bei dem beiderseitigen Einverständnis der Mandanten. Es wird gestützt auf die Wertungen des § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA. Prämisse ist, dass sich das gemeinsame Interesse an der Abwehr der Ansprüche in der anschließenden Einwilligung in die Fortsetzung der Mandatierung, wenn auch mit unterschiedlicher Zielsetzung, weiterhin manifestiert. Der Grundkonsens über die Einschaltung derselben Rechtsanwaltskanzlei und das entsprechende Vertrauen in eine optimale Interessenvertretung durch diese Kanzlei hat in diesem Fall unverändert Bestand. Ein Tätigkeitsverbot wäre nicht im verfassungsrechtlichen Sinne „erforderlich“, um die hinter § 43a Abs. 4 BRAO stehenden Gemeinwohlbelange zu verwirklichen. Ob mit der Begründung des fehlenden Interessenkonflikts ein Tätigwerden der Mitglieder des zunächst eingeschalteten Teams zu Gunsten einer der Mandanten sogar bei Zustimmungsverweigerung durch die andere Mandantin gerechtfertigt werden könnte, erscheint sehr fraglich. Jedenfalls wäre ein solches Verhalten unter berufsethischen Gesichtspunkten keinesfalls empfehlenswert. 3. Entgegenstehende Belange der Rechtspflege Nach der derzeitigen Fassung des §  3 Abs.  2 Satz  2 BORA soll das Ein­ verständnis des Mandanten nur dann das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen beseitigen können, wenn außerdem keine Belange der Rechtspflege entgegenstehen. Den wichtigsten Fall entgegenstehender Rechtspflegebelange soll nach der Vorstellung des zuständigen Ausschusses der Satzungsversammlung der forensische Bereich bieten.83 Die Vertretung der Prozessgegner durch dieselbe Sozietät soll das Vertrauen in die Rechtspflege erschüttern und der Stellung der Rechtsanwälte als Organ der 83 Siehe den vom Ausschuss 4 der Satzungsversammlung gebilligten Begründungstext zu § 3 (SV-Mat. 12/2006), BRAK-Mitt. 2006, 213, 215 sowie von Falkenhausen in Hartung/Scharmer, BORA/FAO, 7.  Aufl. 2020, §  3 BORA Rz. 122 f.; dazu Henssler, FS Maier-Reimer, 2010, S. 219, 236; Träger in W ­ eyland, BRAO, 10. Aufl. 2020, § 3 BORA Rz. 28. 95

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Rechtspflege (§ 1 BRAO) nicht gerecht werden.84 Bei einer Mehrfachvertretung sind die Mandanten ja gerade nicht die Prozessgegner, auf die sich die von der Satzungsversammlung befürwortete Einschränkung bezieht, sondern sie verfolgen im Prozess vielmehr grundsätzlich gemeinsame Interessen an der Durchsetzung oder Abwehr der Klagen. Bei den Bemühungen um eine gemeinsame Beilegung des Konflikts kann es letztlich keinen Unterschied machen, ob der Vergleich mit den Klägern außergerichtlich oder unter Einschaltung des Prozessgerichts gefunden wird. Es liegt im erkennbaren Interesse beider Mandanten, dass hier die bislang das Mandat betreuende Sozietät nicht komplett aus der Mandatsbearbeitung ausgeschlossen wird. Ohne eine Fortsetzung der Mandatsarbeit dürfte es schon wegen der detaillierten Mandatskenntnis dieser Sozietät ausgesprochen schwierig werden, überhaupt einen Vergleich mit den Prozessgegnern auszuhandeln.

X. Zusammenfassung der Ergebnisse Die vorstehend zum Problem der Mehrfachvertretung erarbeiteten Erkenntnisse lassen sich thesenartig wie folgt zusammenfassen: 1. Die Rechtsprechung des BGH (zuletzt BGH, NJW 2020, 2407) zum Verständnis des „Interesses“ i.S.v. § 43a Abs. 4 BRAO ist durch eine für ein oberstes Bundesgericht inakzeptable Unschärfe im Umgang mit den Begrifflichkeiten gekennzeichnet, so dass sich die künftige Rechtsprechung nicht verlässlich prognostizieren lässt. Als Konstante und Leitprinzip liegt der verfassungsgerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung allerdings die Erkenntnis zugrunde, dass „was den Interessen des Mandanten und damit zugleich der Rechtspflege dient,  … nicht ohne Rücksicht auf die konkrete Einschätzung der hiervon betroffenen Mandanten abstrakt und verbindlich von Rechtsanwaltskammern oder Gerichten festgelegt werden“ kann.

84 Hierzu kritisch Deckenbrock in Henssler/Streck, Handbuch Sozietätsrecht, 2. Aufl. 2011, M Rz. 144; Deckenbrock, Strafrechtlicher Parteiverrat und berufsrechtliches Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2009, Rz. 491 f., 561; Deckenbrock, AnwBl 2009, 170, 174; Deckenbrock, AnwBl Online 2018, 209, 212; Schramm, Das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, 2004, S. 232. 96

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2. Nach dem zutreffenden subjektiven Interessenbegriff ist es verbundenen Unternehmen unbenommen, das gemeinsame Interesse an der Abwehr von Ansprüchen zum Gegenstand der parallelen Beauftragung derselben Anwaltssozietät zu machen. 3. Nach dem gebotenen dynamischen Verständnis der Mandanteninteressen kommt es darauf an, ob zum Zeitpunkt der Annahme des zweiten Mandats ein solcher Interessenkonflikt besteht. 4. Es empfiehlt sich, in den vertraglichen Vereinbarungen den identischen Mandatsgegenstand unter Hervorhebung des Interessengleichlaufs ausdrücklich festzuhalten. 5. In der Praxis bietet es sich an, die Mandanten bei einer Mehrfachvertretung auf die Besonderheiten eines beschränkten Mandats hinzuweisen und dies entsprechend zu dokumentieren. Erwähnt werden sollte das Risiko, dass bei einem künftig auftretenden Konflikt zwischen den Interessen der Mandanten grundsätzlich beide Mandate niedergelegt werden müssen. Die Vertretung widerstreitender Interessen wäre anschließend nur unter den Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA bei Einverständnis der Mandanten und Einschaltung getrennter Anwalts­ teams möglich. 6. Die auf den subjektiven Interessenbegriff abstellende Beurteilung wird bei der Vertretung von konzernverbundenen Unternehmen im Sinne einer objektiven gesetzlichen Wertung durch §  2 Abs.  3 Nr.  6 RDG gestützt. Danach liegt keine Besorgung „fremder“ Rechtsangelegenheiten vor, wenn Rechtsdienstleistungen innerhalb verbundener Unternehmen i.S.v. § 15 AktG erbracht werden. 7. Die aktuelle Rechtsprechung des BGH (NJW 2019, 1147) zu einer Mehrfachvertretung mehrerer Gesamtschuldner steht der gemeinsamen Vertretung von mehreren Mandanten nur in eher atypisch gelagerten ­Ausnahmefällen entgegen. So wurde im BGH-Fall zum Ersten ein unbeschränktes Mandat vereinbart, zweitens spielten Feststellungen zu unterschiedlichen Verursachungsbeiträgen eine Rolle und zum Dritten bestand für die Gesamtschuldner die Möglichkeit, eine eigene Haftung durch die Feststellung einer Pflichtverletzung der jeweils anderen Partei auszuschließen.

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  8. Die Rechtsprechung des BGH bietet gleichwohl Anlass, beim künftigen Auftreten von objektiven Interessenkonflikten mit den Parteien die Fortsetzung der Mandatsbeziehung zu besprechen und das gemein­ same Interesse gegebenenfalls vor dem Hintergrund der geänderten Sachlage neu zu definieren. Lässt sich ein konkret aufgetretener Interessenkonflikt nicht auflösen, müssen beide Mandate niedergelegt werden.   9. Bei Vergleichsverhandlungen, die für mehrere als Kläger oder Beklagte an einem Prozess beteiligte Mandanten geführt werden, ist darauf zu achten, dass nur das gemeinsame Interesse an einer einvernehmlichen Beilegung des Konflikts vertreten wird. Zulässig ist es daher, die Gesamtsumme einer vergleichsweisen Zahlung für mehrere Beklagte auszuhandeln. Die Beteiligungsquote der einzelnen Mandanten an der Gesamtsumme muss dagegen von den Parteien vorgegeben werden. Zur Aufteilung der Vergleichssumme auf die Mandanten darf dieselbe Kanzlei, vorbehaltlich einer Einwilligung der Parteien nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA, keinen der Mandanten beraten. Es bietet sich an, auf diese eingeschränkten Befugnisse vor Abschluss des beschränkten Mandats hinzuweisen. 10. Eine Lösung über eine Einwilligung der Parteien nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BORA ist berufsrechtlich schon im Vorfeld der gemeinsamen Inte­ ressenvertretung zulässig. Sie setzt voraus, dass für die Mandanten unterschiedliche Anwaltsteams tätig werden. Bei einer solchen Lösung werden allerdings die Vorteile der einheitlichen und abgestimmten Prozessvertretung nur unvollständig verwirklicht. 11. Nach zunächst nicht absehbaren, theoretisch aber immer möglichen künftigen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mandanten über die interne Aufteilung von Vergleichszahlungen kann die mandatierte Anwaltskanzlei weiterhin tätig werden. Voraussetzung ist das  – nach umfassender Aufklärung über die mit einer solchen Mehrfachvertretung verbundenen Probleme erteilte – Einverständnis beider Mandanten. Außerdem müsste die anschließende Mandatsbearbeitung in die Hände unterschiedlicher Anwaltsteams gelegt werden. 12. Nach der vom Verfasser vertretenen Auffassung ist es aufgrund der Beschränkung der zunächst gemeinschaftlich erteilten Mandate in einem solchen Fall, also dem erteilten Einverständnis aller Beteiligten, zulässig, wenn das bis dato mit der Vertretung des gemeinsamen Interesses der Mandanten befasste Team anschließend für einen der beiden Mandanten tätig wird. 98

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Anwaltliche Core Values: Eine Abrechnung Volker Römermann

I. Problemstellung 1. Core Values und ihre Bedeutung 2. Was sind (relevante) Werte? II. Core Values: Eine Bestands­ aufnahme 1. Unabhängigkeit a) Einführung b) Normen c) Realität d) Unabhängigkeit als politischer Kampfbegriff e) Zwischenfazit 2. Verschwiegenheit a) Einführung b) Normen c) Lücken d) Zwischenfazit 3. Verbot der Vertretung wider­ streitender Interessen a) Einführung b) Normen









c) Gesetzlicher Zwang zur ­Wahrnehmung widerstreitender Interessen d) Zwischenfazit 4. Sachlichkeit a) Einführung b) Normen c) Zwischenfazit 5. Gewissenhaftigkeit a) Einführung b) Norm c) Zwischenfazit 6. Soziale Verantwortung a) Einführung b) Zugang zum Rechtsstaat c) Rechtsanwälte und der Sozialstaat d) Zwischenfazit 7. Menschlichkeit 8. Integrität

III. Ergebnis

I. Problemstellung 1. Core Values und ihre Bedeutung Was macht einen Rechtsanwalt aus? Juristen fragen stets zunächst nach Normen. Nach den Rechten, die etwas – hier: einen Beruf – kennzeichnen. Meist noch mehr nach Pflichten. In Debatten wird das daher oft angeführt, wenn man mit Anwälten darüber spricht. Was ihn nach eigenem Selbstverständnis ausmache? Pflichten. So etwa die Verschwiegenheit, die Pflicht, keine widerstreitenden Interessen zu vertreten, die Pflicht zur Übernahme 99

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Volker Römermann

von Beratungshilfemandaten. Rechte werden seltener genannt, sie sind im Kanon des anwaltlichen Berufsrechts auch nicht so häufig anzutreffen. Ob es daraus resultiert, dass mancher sich über Verbote und Pflichten definiert, kaum jedoch über Rechte? Anwaltsinstitutionen sprechen oft eine andere, gefälligere, politischere Sprache. Nicht von Verboten ist da die Rede, sondern von Werten. Als wären „Werte“ nicht genug, wird das zuweilen verstärkt: „Kernwerte“. In Deutsch weniger gebräuchlich, erfährt es dann auch noch – gleichsam als ultimative Steigerung  – weitere Verstärkung durch die Verwendung des Anglizismus: „Core Values“. Auch in der jüngsten Diskussion über Veränderungen im anwaltlichen Berufsrecht kreist wieder Vieles um diese „Core Values“. Sie gelte es zu schützen und zu bewahren, heißt es da oft. Der Verteidigung bedarf es gegen Veränderungen, wird vorgebracht. Veränderungswünsche sind in der berufsrechtlichen Debatte gerade jetzt zahlreich. Sie sind nicht alle im Schoß der Anwaltschaft geboren, sondern entspringen auch einer mit zunehmender Vehemenz geführten Auseinandersetzung der verfassten Anwaltschaft mit den kraftvoll vordringenden neuen Anbietern auf dem Rechtsberatungssektor, die für gewöhnlich unter dem Schlagwort „LegalTech“ zu­ sammengefasst werden – sogar dort, wo ihre Geschäftsmodelle mit „Tech“, technischer Modernität also, herzlich wenig zu tun haben. In einem Positionspapier der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) vom 26.10.20201 heißt es, man habe sich „… am 25.9.2020 in Kiel intensiv mit dem Thema Digitalisierung und Zugang zum Recht befasst. Die BRAK sieht bei den aktuellen Entwicklungen nicht nur die Kernwerte der Anwaltschaft, sondern insbesondere den Verbraucherschutz in Gefahr, dem sich die Anwaltschaft in entsprechenden Mandaten besonders verpflichtet fühlt. Die Digitalisierung von Prozessen durch Legal Tech darf nicht zur Abkehr von individueller anwaltlicher Beratung sowie Gewinnmaximierung auf Kosten des Verbraucherschutzes führen. … Wir treten zudem für eine uneingeschränkte Aufrechterhaltung und Einhaltung der Core Values (Kernwerte) im Rahmen der berufsrechtlichen Bindungen ein. Diese sind in Abgrenzung zu nichtanwaltlichen Rechtsdienstleistern in Teilbereichen der 1 Abrufbar unter https://brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellung​ nahmen-deutschland/2020/oktober/positionspapier-der-brak-digitalisierung-­ und-zugang-zum-recht.pdf. 100

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Anwaltliche Core Values: Eine Abrechnung

Rechtsberatung und zu nichtanwaltlichen Legal Tech Anbietern Markenzeichen der Anwaltschaft und begründen das in sie in einem Rechtsstaat gesetzte Vertrauen. Diese Kernwerte gilt es zu schützen und zu erhalten.“ Die „Core Values“ sind insoweit auch ein Kampfbegriff, eine Waffe im Wettstreit um die Fortentwicklung des Berufes, des Berufsrechts und nicht zuletzt des Berufsbildes – wenn es ein solches noch gibt – der Anwaltschaft. Wie stark ist diese Waffe? Wie bedeutsam ist der Schutz, ist die Bewahrung tradierter Werte? Die aktuelle Generaldebatte soll Anlass sein, die Core Values einer zumindest kursorischen Betrachtung zu unterziehen. 2. Was sind (relevante) Werte? „Aber was sind Werte?“, fragte Carl Schmitt in seinem Beitrag „Die Tyrannei der Werte“ im Jahre 1959.2 Er musste die Problematik kennen, war er doch als Staatsrechtslehrer im Dritten Reich selbst in den Kampf um Recht und Werte verstrickt. In einem Diskussionspapier des BRAK-Präsidiums zur Berufsethik der deutschen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte vom 30.820103 werden folgende Werte aufgelistet: – Unabhängigkeit, – Verschwiegenheit, – Verbot der Wahrnehmung widerstreitender Interessen mit den Werten der Geradlinigkeit, Loyalität und Zurückstellung eigener Interessen, – die Gewissenhaftigkeit mit den Werten Hingabe, Sorgfalt, Vorsicht, Kompetenz und Transparenz, – die Sachlichkeit mit den Werten Mäßigung, Distanz zur Sache, Wahrhaftigkeit, Professionalität, – die soziale Verantwortung mit der Pflicht, Zugang zum Recht zu gewähren und der Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement sowie der Verantwortung für- und untereinander,

2 Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl. 2011, S. 35. 3 BRAK-Mitt. 2011, 58; siehe dazu die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Ausschuss Anwaltliche Berufsethik v. 18.7.2011. 101

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Volker Römermann

– die Menschlichkeit mit der Bereitschaft zur Folgenverantwortung, Fairness, Höflichkeit und Kollegialität sowie – die Integrität innerhalb und außerhalb des Berufs, zu der die Rechtschaffenheit gehört. Dieser Kanon wird in der Literatur etwa von Christian Wolf aufgegriffen: „Durch das Zusammenspiel von RVG, BRAO und RDG werden die anwaltlichen Core Values, also Grundwerte, abgesichert. Nach § 1 BRAO ist der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege. In diesem Begriff verdichtet sich die besondere und unabdingbare Rolle, welche die Rechtsanwaltschaft für die Rechtspflege und den Rechtsstaat spielt. Dabei sind folgende Core Values des anwaltlichen Berufs für die Tätigkeit der Rechtsanwälte unabdingbare Voraussetzung: Anwaltliche Unabhängigkeit, Verschwiegenheitspflicht und Recht zur Verschwiegenheit, Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, [S. 253] Sachlichkeitsgebot und gleiche Augenhöhe mit dem Richter. Zu den Core Values zählt aber auch die Sicherung des streitwertunabhängigen Zugangs zum Recht. Dem Rechtsanwalt ist durch die BRAO (§§ 48, 49a BRAO) die Verpflichtung auferlegt, in bestimmten Fällen Prozessvertretungen zu übernehmen und an der Beratungshilfe mitzuwirken. Darüber hinaus baut die Gebührenordnung des RVG auf dem Gedanken der Quersubventionierung auf.“4 Der Verwendung anglifizierter Begriffe gegenüber etwas skeptischer zeigt sich hingegen die damalige Präsidentin des BVerwG Marion Eckertz-Höfer in einem Aufsatz über „Organ der Rechtspflege oder Core Values?“: „Auch wenn uns heute Anglizismen weniger anstößig erscheinen: Core Values klingt doch eher wie eine Bezeichnung eines neuen PC-Prozessors von Intel oder AMD. Den anwaltlichen Kerntugenden wird der gute alte Begriff „unabhängiges Organ der Rechtspflege“ vielleicht doch besser gerecht. … Kerntugenden, Core Values, wie Integrität, Professionalität und Zuverlässigkeit sind für jeden Anwalt unverzichtbar. Erst sie geben der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts den erforderlichen Rahmen; erst sie machen ihn im eigentlichen Sinne des Wortes unabhängig“.5 Wie auch immer man über Carl Schmitt und seine persönliche, historische Rolle denkt:6 Die Warnung davor, den unmittelbaren Vollzug von Werten 4 Wolf, BRAK-Mitt. 2020, 250, 252 f. 5 Eckertz-Höfer, NJW 2013, 1580, 1581. 6 Krit. Christoph Schönberger in Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 57 ff. 102

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Anwaltliche Core Values: Eine Abrechnung

an die Stelle des Gesetzes zu setzen, das auf dem Boden der Verfassung von dem dazu berufenen Normgeber ausgeht,7 hat durch alle Zeiten hindurch eine Berechtigung. So soll denn in unserer kursorischen Betrachtung dessen, was die Bundesrechtsanwaltskammer unter den Core Values versteht, der gesetzlichen Regelung jeweils ein besonderes Augenmerk geschenkt werden.

II. Core Values: Eine Bestandsaufnahme 1. Unabhängigkeit a) Einführung Der Wert, der programmatisch in § 1 BRAO den Regelungen des anwaltlichen Berufsrechts vorangestellt wird, scheint bei erstem Hinsehen über jeden vernünftigen Zweifel erhaben: Die Unabhängigkeit, ein Kernwert par excellence. Wenn es eine Facette dieses Berufes gibt, die von der Mehrheit der Rechtsanwälte ohne Weiteres angenommen würde, dann die Unabhängigkeit vom Staat. Sie sollte das Ergebnis des nahezu ein Jahrhundert währenden Kampfes um die freie Advokatur bilden, als im Jahre 1878 die Rechtsanwaltsordnung verabschiedet wurde. Heute noch beruft sich die Anwaltschaft auf Rudolf von Gneist mit seiner 1867 erschienenen Schrift „Freie Advocatur. Die erste Forderung aller Justizreform in Preußen“. Der „Amtscharakter“ der Anwaltschaft wurde 1878 abgeschafft, auch wenn er in einzelnen Vorschriften wie etwa §  356 StGB zuweilen noch zum Vorschein kommen will: Dem „Parteiverrat“, einer Norm des anwaltlichen Berufsrechts, zu finden im 30. Abschnitt „Straftaten im Amt“ des Strafgesetzbuches (dazu noch später im Zusammenhang mit der Interessenkollision). b) Normen Die Bestimmung des § 1 BRAO lautet: § 1 Stellung des Rechtsanwalts in der Rechtspflege Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege.

7 Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 54. 103

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Volker Römermann

Auf die Idee der Lösung vom Staat deutet auch § 1 BORA mit der programmatischen, bewusst an diese Tradition anknüpfenden Überschrift „Freiheit der Advokatur“. § 1 Freiheit der Advokatur (1) Der Rechtsanwalt übt seinen Beruf frei, selbstbestimmt und unreglementiert aus, soweit Gesetz oder Berufsordnung ihn nicht besonders verpflichten. (2) Die Freiheitsrechte des Rechtsanwalts gewährleisten die Teilhabe des Bürgers am Recht. Seine Tätigkeit dient der Verwirklichung des Rechtsstaats. (3) Als unabhängiger Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten hat der Rechtsanwalt seine Mandanten vor Rechtsverlusten zu schützen, rechts­ gestaltend, konfliktvermeidend und streitschlichtend zu begleiten, vor Fehl­ entscheidungen durch Gerichte und Behörden zu bewahren und gegen ver­ fassungswidrige Beeinträchtigung und staatliche Machtüberschreitung zu sichern.

Der Rechtsanwalt übt seinen Beruf frei, selbstbestimmt und unreglementiert aus, heißt es dort also zu Beginn, aber auch gleich eingeschränkt: soweit Gesetz oder Berufsordnung ihn nicht besonders verpflichten. ­ Der zweite Absatz nimmt gedanklich Bezug zum Organ der Rechtspflege in § 1 BRAO und betont die Verwirklichung des Rechtsstaats, die doch in der Bundesrechtsanwaltsordnung gar keine explizite Erwähnung gefunden hatte. c) Realität Die hier postulierte Unabhängigkeit vom Staat harrt indes auch noch 190 Jahre nach der Gründung des Rechtsanwalts- und Notarvereins Hannover. Aber nicht nur das: Bereits an anderer Stelle8 wurde unter Anführung konkreter Beispiele analysiert, wie weit die Unabhängigkeit insgesamt tatsächlich reicht. Im Ergebnis erweist sich die Unabhängigkeit als Mythos. Im Hinblick auf Anstellungs-(Weisungsunterworfenheit im Arbeitsverhältnis), Gesellschafts-(Bindung an Gremienentscheidungen und Mehrheiten) oder Mandats-(Weisungsbefugnis des Auftraggebers) Verhältnisse, gesellschaftlich, religiös, politisch: Es gibt keinen Aspekt, unter dem die anwaltliche Unabhängigkeit im Sinne einer freien Entscheidungskompetenz gesichert wäre oder auch nur gesichert werden könnte. Das wurde 8 Römermann, NJW 2019, 2986. 104

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Anwaltliche Core Values: Eine Abrechnung

auch anhand von Beispielen aus politisch geprägten Prozessen und/oder Angeklagten im einzelnen nachgewiesen (RAF, Sylvia Stolz, NSU).9 Für Zwecke dieser Festschrift möge es daher hinreichen, sich auf die Betrachtung eines Aspekts zu beschränken: Der Bestellung und möglichen Abberufung von Strafverteidigern. Die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte wird im Hinblick auf die Person von Strafverteidigern täglich missachtet. So auch in der Entscheidung des OLG München in der Sache „Jennifer W.“ vom 6.2.2020. Die Zuständigkeit für die Bestellung und Abberufung von Verteidigern in die Hände der beteiligten Richter und Staatsanwälte zu legen, ist ein rechtsstaatliches Ärgernis und gehört dringend verändert, wenn man Beschuldigten ein faires Verfahren zubilligen möchte. Strafverteidiger wird ein Rechtsanwalt, wenn ihn ein Richter beiordnet. In besonders gravierenden Fällen (notwendige Verteidigung) wird dem Beschuldigten unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn er dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt, § 141 StPO. Zuständig für die Bestellung sind nach § 142 StPO in der Regel das Gericht, dem der Beschuldigte vorzuführen ist, oder der Vorsitzende des Gerichts, bei dem das Verfahren anhängig ist. Bei besonderer Eilbedürftigkeit kann auch die Staatsanwaltschaft über die Bestellung entscheiden. Vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers ist dem Beschuldigten Gelegenheit zu geben, einen Verteidiger zu bezeichnen. Ein so benannter Verteidiger ist zu bestellen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht. Ein wichtiger Grund liegt auch vor, wenn der Verteidiger nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung steht. Wird dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger bestellt, den er nicht bezeichnet hat, so soll aus allen Rechtsanwälten entweder ein Fachanwalt für Strafrecht oder ein anderer Rechtsanwalt, der gegenüber der Rechtsanwaltskammer sein Interesse an der Übernahme von Pflichtverteidigungen angezeigt hat und für die Übernahme der Verteidigung geeignet ist, ausgewählt werden. Ist der Beschuldigte also ein Profi, der schon eine einschlägige Karriere hinter sich gebracht hat und die Verteidiger-Landschaft hinreichend kennt, um selbst jemanden zu benennen, so hat er typischerweise Glück und bekommt den Anwalt seiner Wahl – soweit der Zeit hat und geeignet ist. Da Anwälte grundsätzlich zur Beratung und Vertretung in allen Rechtsangelegenheiten berufen (§ 3 BRAO) und daher „geeignet“ sind, liegt es am An9 Römermann, NJW 2019, 2986, 2987 f. 105

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Volker Römermann

walt selbst, ob er sich die Zeit nehmen oder unter Berufung auf Zeitmangel das Mandat ablehnen möchte. Im Zweifel wird er annehmen. Ist der Beschuldigte aber ein Laie, etwa einer, der zum ersten Mal bei etwas erwischt wird, dann herrscht die staatliche Autorität über seinen Beistand. Richter urteilen nicht nur über die Taten des Beschuldigten, sondern sie bestimmen auch gleich noch über die Person, die ihn berät und vertritt. Wenn es besonders eilig ist, üben sogar Staatsanwälte diese Wahl aus. Nun ist zwar in Lehrbüchern zu lesen, dass alle drei Organe der Justiz – Richter, Rechts- und Staatsanwälte – gleichermaßen nur das Eine im Sinn hätten: Die Verwirklichung des Rechts. Aber, so wird man hinzufügen dürfen, dieses Recht weist nun einmal unterschiedliche Facetten auf. Ganz unterschiedliche. Rechtsanwälte sind parteiisch: Nur an der Seite ihres Mandanten, hier also des Beschuldigten, den man später den Angeklagten nennt. Staatsanwälte sollen unparteiisch sein, ähnlich wie Richter: Argumente für, aber auch Argumente gegen die Anklage ermitteln und ausgewogen vorbringen. In der Praxis sieht man eher die kontradiktorische Ausprägung dieser Wahrheit: Rechtsanwälte verteidigen, Staatsanwälte klagen an. Diese Rollenverteilung prägt das Denken und die Ausrichtung. Wer diese Grundmechanismen menschlicher Psyche leugnet, sagt nicht die Wahrheit oder ist ein hoffnungslos verträumter Idealist. Dem Staatsanwalt die Auswahl seines faktischen Gegenspielers zu überlassen, ist gesetzgeberischer Zynismus. Aber auch die Auswahl durch den zur Entscheidung im Strafverfahren berufenen Richter ist ein rechtsstaatlicher Skandal. Hier wirkt ebenfalls die menschliche Psyche. Wird der Richter einen klugen, überlegenen, einen brillanten Kopf, einen, der anstrengt, einen, der erfolgreich Beschwerde und Berufung einlegt, einen, der Zeit und Nerven kostet, bestellen? Einen, der Befangenheitsanträge stellt, im schlimmsten Fall erfolgreiche? Einen, der politisch agitiert, wenn er im Gerichtssaal die Gelegenheit wittert, die Sache in Szene zu setzen, Öffentlichkeit zu erzeugen, Stimmung zu machen, Druck zu erhöhen? Einen, der ideologisch verbohrt Argumente vorbringt, die mit dem Buchstaben  des Gesetzes zumindest auf den ersten Blick rein gar nichts mehr zu tun haben? Der normal, nicht masochistisch veranlagte Richter wird sich das nicht antun. Er wird einen nüchtern denkenden, unkomplizierten Rechtsanwalt nehmen, der Prozesse effizient begleitet, sein Argumentationsarsenal zurückhaltend einsetzt, Zeit spart und nicht verschwendet, einen, der nett ist, 106

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Anwaltliche Core Values: Eine Abrechnung

die richterliche Autorität achtet, der Respekt bekundet, einen, der nicht in Zeugen eindringt, sondern sich auf die Vollständigkeit richterlicher Befragung im Wesentlichen verlässt. Teamfähigkeit nennt das der Kanon juristischer Schlüsselqualifikationen, die es im Referendariat zu erlernen gilt. Sind diese Auswahlmotive von Staatsanwälten und Richtern nun die, die allein die Interessen des Beschuldigten in das Zentrum rücken? Nein, das sind sie offenkundig nicht. Die optimale Verteidigungslinie kann durchaus die „anstrengende“ sein, die für alle Beteiligten unangenehme. Sogar die „Konfliktverteidigung“. Es bedürfte der Fähigkeit zu übermenschlicher Selbstverleugnung, würden Richter und Staatsanwälte bewusst die Weichen in diese Richtung stellen. Nicht besser steht es um die Abberufung eines Pflichtverteidigers von diesem Amt. Die Bestellung des Pflichtverteidigers ist nach §  143a StPO in einigen konkret normierten Fällen aufzuheben, insbesondere, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Diese Aufhebungsgründe sind in der Praxis immer wieder ein Thema. So war es schon im Prozess gegen Beate Zschäpe (NSU-Prozess), wo die Angeklagte ihre drei Pflichtverteidiger Heer, Sturm und Stahl auswechseln wollte – und auch diese drei Anwälte hatten die Entpflichtung beantragt. Das Gericht lehnte das ab und die Angeklagte und ihre Verteidiger verbrachten weitere Monate zusammen, ohne miteinander noch ein Wort zu wechseln. Vertrauensvolle Zusammenarbeit sieht anders aus. Nicht anders erging es den Beteiligten im Prozess um „Jennifer W.“ vor demselben Gericht, dem Oberlandesgericht München. Die Angeklagte beantragte den Verteidigerwechsel, die Pflichtverteidiger ebenfalls. Alle ohne Erfolg. Beate Zschäpe hatte sich auf unterschiedliche Strategien von ihr und ihren Verteidigern berufen. Die Presse berichtete, die Angeklagte hätte aussagen wollen und die Verteidiger hätten sie zum Schweigen verdonnert. Das habe Zschäpe wohl nicht länger ausgehalten und daher auf neuem Beistand beharrt. Das OLG München wies alle Anträge zurück. Zugleich bestellte das Gericht einen vierten Pflichtverteidiger und sah sich mit einem neuen Wahlverteidiger konfrontiert.

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Im Fall Jennifer hatte die Angeklagte beantragt, ihren Pflichtverteidigern das Mandat zu entziehen. Zwei Pflichtverteidiger hatten zuvor im Prozess vor dem OLG München Zitate aus einem anderen Prozess, nämlich einem nicht-öffentlichen Islamismus-Verfahren vor dem OLG Düsseldorf, gebracht, offenbar um damit Beweisanträge im Prozess gegen Jennifer zu unterlegen. Diese Zitate haben den Verteidigern inzwischen eine Verfolgung wegen illegaler Veröffentlichung eingetragen. Einer der Verteidiger von Jennifer hat daraufhin ausweislich der Presse10 mitgeteilt, die Anwälte müssten nun eigentlich schweigen und könnten keine weiteren Beweisanträge mehr zugunsten ihrer Mandantin stellen. Die Angeklagte argumentierte daraufhin gegenüber dem Gericht, ihre Verteidiger seien „eingeschüchtert“, deren Handlungsspielraum sei nun stark eingeschränkt, eine „sachgerechte Verteidigung nicht mehr gesichert“. Auch die beiden Anwälte selbst hatten ihre Entbindung von dem Mandat beantragt, weil sie sich in dessen Wahrnehmung gehemmt fühlten. Das Gericht lehnte das Gesuch ab.11 Die Verteidiger hätten sich keiner schweren Pflichtverstöße schuldig gemacht, meinte das OLG München, und das Vertrauen zu ihrer Mandantin sei nicht erschüttert. Aus den Kreisen der Verteidiger Jennifers wurden daraufhin Überlegungen bekannt, einen Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter zu stellen. Man muss sich die Situationen konkret vorstellen: Beate Zschäpe wollte aussagen, sah sich aber durch den Widerstand ihrer Pflichtverteidiger da­ ran gehindert und musste nun bei dem Richter, der über ihren Fall zu entscheiden hatte, ihre Gründe für den Auswechselungsantrag offenlegen. Wie hätte sie dies tun können? Indem sie gleich die Aussage macht, um die es geht, und dadurch im Grunde das vorträgt, was sie nach dem Rat ihrer Verteidiger nicht sagen sollte, und das alles ohne (neuen) Verteidiger? Das Ansinnen des Gesetzgebers wird hier zum Possenspiel: Im „Zwischenverfahren“ der Anwaltsablösung muss dem Richter Entscheidendes offenbart werden, obgleich er das zu diesem Zeitpunkt, zu dem die Angeklagte situativ ohne rechtlichen Beistand war, doch eigentlich nicht hätte hören dürfen. 10 Münchener Abendzeitung v. 31.1.2020. 11 Prozessbericht abrufbar unter https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/olg-­ muenchen-prozess-is-rueckkehr-jennifer-w-keine-entpflichtung-verteidiger/​ ?utm_medium=email&utm_source=WKDE_LEG_NSL_LTO_Daily_EM&​ utm_​campaign=wkde_leg_mp_lto_daily_ab13.5.2019&utm_source_system​ =Eloqua&utm_econtactid=CWOLT000009077842. 108

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Der Fall Jennifer ist nicht besser gelagert. Anwälte sehen sich wegen ihres prozessualen Verhaltens eigener Verfolgung ausgesetzt. Sie bekunden, nicht mehr uneingeschränkt die eigentlich gebotenen Instrumente der Strafverteidigung einsetzen zu können. Sie fürchten, die Verfolgung könne sich erneut oder ausgedehnt ereignen. Offenbar nicht ganz zu Unrecht, sonst wäre es schon zur ersten Verfolgung während des laufenden Pro­ zesses kaum gekommen. Das OLG München befindet das alles als nicht hinreichend und lässt die Anwälte mit angezogener Handbremse weiterfahren. Ob das Kalkül war? Jedenfalls taugte die Verfolgung des Geheimnisbruchs offenbar auch zur Disziplinierung der beiden Anwälte. So schnell nämlich würden sie vermutlich keinen Beweisantrag mehr stellen. d) Unabhängigkeit als politischer Kampfbegriff In der aktuellen Reformdiskussion berufen sich etwa die Verfasser der – zurückhaltenden  – Gesetzentwürfe an vielen Stellen auf die Unabhän­ gigkeit der Anwälte.12 Sie verhindere eine erfolgsbezogene Vergütung. Sie verhindere eine weitergehende Öffnung anwaltlicher Gesellschaften für Gesellschafter, die keinen der traditionell „sozietätsfähigen“ Berufe ausüben. Sie verhindere die Aufnahme von Investoren (sinnwidrige Kennzeichnung: „auswärtige Kapitalbeteiligung“). Das alles sind Behauptungen ohne argumentativen Kern. Abhängig sind Personen, die den Weisungen anderer ausgeliefert wären. Das gibt es im anwaltlichen Arbeits- und Gesellschaftsrecht, ohne dass dabei Beeinträchtigungen der Rechtspflege festgestellt worden wären. Die bloße Koppelung des Honorars an einen Erfolg zeitigt hingegen keine Abhängigkeit. Gesellschaftsrechtlich begründete Abhängigkeiten  – etwa durch Mehrheitsverhältnisse und sozietätsvertragliche Klauseln  – steigen oder sinken nicht dadurch, dass die Person des Mitgesellschafters den einen oder den anderen Beruf ausübt. Der Begriff der „Unabhängigkeit“ wird an dieser Stelle – ähnlich wie der des „Organs der Rechtspflege“ also eingesetzt, ohne dass er zu der relevanten Frage etwas beizutragen hätte. e) Zwischenfazit Die anwaltliche Unabhängigkeit im Sinne einer berufsrechtlichen, durchsetzbaren Pflicht ist eine Chimäre. 12 Näher Römermann, AnwBl Online 2020, 588, 598 f., 610 f. 109

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Es gibt eine anwaltliche Unabhängigkeit. Sie wird in den „PRINCIPES ­ESSENTIELS DE LA PROFESSION D’AVOCAT“ der UIA (Union Inter­ nationale des Avocats) – in der Hauptversammlung am 30.6.2018 in Porto verabschiedet – wie folgt formuliert: „Indépendance de l’avocat et du barreau Afin d’assurer pleinement son rôle de conseil et de représentant de son client, l’avocat doit être indépendant et préserver son indépendance professionnelle et intellectuelle tant à l’égard des juges, des pouvoirs publics, des puissances économiques, de ses confrères, de son client lui-même, que de ses propres intérêts.“

Die am Schluss genannte Wendung, die Forderung einer Unabhängigkeit des Anwalts von seinen eigenen Interessen, ist es, was in Wirklichkeit die Essenz der Unabhängigkeit ausmacht. Nicht um messbare Einschränkungen von Vertragspflichten kann es gehen. Sondern um die innere Unabhängigkeit, die sich speist aus einer Konzentration der Interessen auf diejenigen des Mandanten. Vor diesem Hintergrund sollte die „Unabhängigkeit“ im berufspolitischen Diskurs nur noch an den seltenen Stellen Verwendung finden, wo es in der Sache eine Rechtsfertigung findet, aber nicht als mehr oder weniger beliebig einsetzbare „Allzweckwaffe“ zur Bekämpfung von Veränderungen. 2. Verschwiegenheit a) Einführung Die anwaltliche Schweigepflicht oder Verschwiegenheit gehört seit jeher zu den Grundpfeilern des Selbstverständnisses dieses Berufes. Das Wesentliche kommt im Wortlaut der entsprechenden Norm gar nicht zum Ausdruck: Das, warum es die Schweigepflicht gibt. Die Schweigepflicht ist ein Privileg der Mandanten. Sie können sich rückhaltlos ihrem Anwalt anvertrauen und müssen nicht befürchten, dass er ihre Informationen preisgibt, ohne dass sie damit ihr Einverständnis erklärt hätten. Im Fokus dieses „Wertes“ steht daher der Mandant, nicht der Rechtsanwalt. Noch präziser: Es geht um den Rechtsstaat. Ein Rechtsstaat ist nicht denkbar ohne Wahrung der Rechte derjenigen, die seiner Gewalt unterworfen sind. Die Wahrung von Rechten ist nicht ernsthaft denkbar ohne anwaltlichen Rat und Beistand. Anwaltlicher Rat wiederum ist nicht denkbar ohne die rücksichtslose Offenheit des Mandanten. 110

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Inkassounternehmen, die als Rechtsdienstleister am Markt auftreten, unterliegen keiner gesetzlichen Schweigepflicht. Dennoch wird das Publikum die Erwartung hegen, dass Geheimnisse auch dort gesichert sind. In aller Regel wird die Verschwiegenheit eine vertragliche Nebenpflicht bilden, auch dann, wenn sie nicht explizit im Vertragstext ihren Niederschlag findet. Der Gesetzgeber der 2021 endenden Legislaturperiode entfaltete einigen Eifer auch bei der Neugestaltung des Rechtsdienstleistungsrechts. Die Verschwiegenheit von Rechtsdienstleistern war dabei kein Thema.13 Spielt die Schweigepflicht bei Rechtsdienstleistungen etwa gar nicht die entscheidende Rolle, anders als zu vermuten wäre, wenn man sich lediglich an den rechtspolitischen Debatten orientierte? b) Normen Hat man sich die fundamentale Bedeutung der Verschwiegenheit im Rechtsstaat zum Bewusstsein geführt, so muss der Blick darauf, welche Sorgfalt man ihr im Gesetz hat angedeihen lassen, ernüchtern. Nach verschiedenen Ergänzungen wirkt die Grundnorm der Verschwiegenheit in der BRAO wie ein lieblos zusammengewürfeltes Sammelsurium an Aspekten, denen die Gesamtheit verloren gegangen ist. Nicht mehr die rechtsstaatliche Funktion trägt die dortigen Formulierungen, sondern die dem jeweiligen Zeitgeist und einzelnen Strömungen folgende Betonung von Datenschutz oder Hilfskräften. Die Vorschrift des § 43b Abs. 2 BRAO lautet: Der Rechtsanwalt ist zur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Pflicht bezieht sich auf alles, was ihm in Ausübung seines Berufes bekanntgeworden ist. Dies gilt nicht für Tatsachen, die offenkundig sind oder ihrer Bedeutung nach keiner Geheimhaltung bedürfen. Der Rechtsanwalt hat die von ihm beschäftigten Personen in schriftlicher Form zur Verschwiegenheit zu verpflichten und sie dabei über die strafrechtlichen Folgen einer Pflichtverletzung zu belehren. Zudem hat er bei ihnen in geeigneter Weise auf die Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht hinzuwirken. Den von dem Rechtsanwalt beschäftigten Personen stehen die Personen gleich, die im Rahmen einer berufsvorbereitenden Tätigkeit oder einer sonstigen Hilfstätigkeit an seiner beruflichen Tätigkeit mitwirken. Satz 4 gilt nicht für Referendare und angestellte Personen, die im Hinblick auf die Verschwiegenheitspflicht den gleichen Anforderungen wie der Rechtsanwalt unterliegen. Hat sich 13 Einzige Ausnahme: Die Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf, BR-Drucks. 58/21 vom 5. März 2021, S. 6 zu Ziffer 8. 111

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ein Rechtsanwalt mit anderen Personen, die im Hinblick auf die Verschwiegenheitspflicht den gleichen Anforderungen unterliegen wie er, zur gemeinschaftlichen Berufsausübung zusammengeschlossen und besteht zu den Beschäftigten ein einheitliches Beschäftigungsverhältnis, so genügt auch der Nachweis, dass eine andere dieser Personen die Verpflichtung nach Satz 4 vorgenommen hat.

Die Norm beginnt mit dem Grundsatz „Der Rechtsanwalt ist zur Verschwiegenheit verpflichtet.“ Dieser Grundsatz wird kurz erläutert durch eine Selbstverständlichkeit: „Diese Pflicht bezieht sich auf alles, was ihm in Ausübung seines Berufes bekanntgeworden ist“. Da Satz 1 keine Einschränkungen enthält, ist die allgemeine Erstreckung im Grunde nicht erwähnenswert und besitzt daher nur klarstellenden Charakter. Der ganz überwiegende Teil der Norm handelt dann von Mitarbeitern. Es geht bis hin in Details, die „technisch“ anmuten. Dabei ist auch die Verschwiegenheit der Mitarbeiter eigentlich eine Banalität, zumal sich die Schweigepflicht nach der flankierenden Strafrechtsvorschrift des §  203 Abs. 4 StGB ohnehin auf mitwirkende Personen bezieht. Davon sind ohne Weiteres Mitarbeiter, Hilfspersonen, Referendare und Praktikanten umfasst. Der darüber hinausgehende Regelungsgehalt in §  43b Abs.  2 BRAO beschränkt sich auf die Pflicht, dafür zu sorgen, dass diese Personen die Schweigepflicht kennen. Dass Rechtsanwälte zur beruflichen Verschwiegenheit verpflichtet sind, ist indes allgemein bekannt, so dass die ausdrückliche Belehrung eher der Vollständigkeit der Akten dient und allenfalls noch eine gewisse Warnfunktion erfüllt, als dass damit echte Verhaltensveränderungen einher gingen. Ergänzt wird § 43b Abs. 2 BRAO durch eine weitere „Aspektesammlung“ in § 2 BORA: § 2 Verschwiegenheit (1) Der Rechtsanwalt ist zur Verschwiegenheit verpflichtet und berechtigt. Dies gilt auch nach Beendigung des Mandats. (2) Die Verschwiegenheitspflicht gebietet es dem Rechtsanwalt, die zum Schutze des Mandatsgeheimnisses erforderlichen organisatorischen und technischen Maßnahmen zu ergreifen, die risikoadäquat und für den Anwaltsberuf zumutbar sind. Technische Maßnahmen sind hierzu ausreichend, soweit sie im Falle der Anwendbarkeit der Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten deren Anforderungen entsprechen. Sonstige technische Maßnahmen müssen ebenfalls dem 112

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Stand der Technik entsprechen. Abs. 4 lit. c) bleibt hiervon unberührt. Zwischen Rechtsanwalt und Mandant ist die Nutzung eines elektronischen oder sonstigen Kommunikationsweges, der mit Risiken für die Vertraulichkeit dieser Kommunikation verbunden ist, jedenfalls dann erlaubt, wenn der Mandant ihr zustimmt. Von einer Zustimmung ist auszugehen, wenn der Mandant diesen Kommunikationsweg vorschlägt oder beginnt und ihn, nachdem der Rechtsanwalt zumindest pauschal und ohne technische Details auf die Risiken hingewiesen hat, fortsetzt. (3) Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Verschwiegenheit (§  43a Abs.  2 Bundesrechtsanwaltsordnung) liegt nicht vor, soweit Gesetz und Recht eine Ausnahme fordern oder zulassen. (4) Ein Verstoß ist nicht gegeben, soweit das Verhalten des Rechtsanwalts a) mit Einwilligung erfolgt oder b) zur Wahrnehmung berechtigter Interessen erforderlich ist, z.B. zur Durchsetzung oder Abwehr von Ansprüchen aus dem Mandatsverhältnis oder zur Verteidigung in eigener Sache, oder c) im Rahmen der Arbeitsabläufe der Kanzlei, die außerhalb des Anwendungs­ bereichs des §  43e Bundesrechtsanwaltsordnung liegen, objektiv einer üblichen, von der Allgemeinheit gebilligten Verhaltensweise im sozialen Leben entspricht (Sozialadäquanz). (5) Die Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten bleiben unberührt.

Auch hier merkt man der Vorschrift schon auf den ersten Blick an, dass sie ungepflegtem Wildwuchs entstammt. In Absatz 1 findet sich der Grundsatz, der im Wesentlichen die Anordnung in § 43b Abs. 2 BRAO inhaltlich wiederholt. Sie wird durch die bare Selbstverständlichkeit ergänzt, dass die Schweigepflicht nicht einfach endet, wenn das Mandat beendet wird  – sonst könnte jeder Rechtsanwalt nach Abschluss der Sache munter plaudern, was aber niemand erwartet. Sodann quälen sich die Verfasser der Norm sichtlich mit den neuen Kommunikationswegen. Der Rechtsanwalt müsse Maßnahmen zum Schutz der Mandanteninformationen treffen. Das ist eigentlich weder ein neuer noch ein besonders revolutionärer Gedanke. Auch vor hundert Jahren hätte ein Rechtsanwalt gegen seine Pflichten verstoßen, hätte er die Tür zu seiner Kanzlei unverschlossen gelassen. Inhaltlich geht § 2 Abs. 2 BORA über diese simple Feststellung nicht hinaus; es wird lediglich der Versuch unternommen, das in wohlklingende Worte zu hüllen, die irgendwie auf technische Belange deuten.

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All seine Hilflosigkeit manifestiert der Normgeber dann in den letzten Sätzen des §  2 Abs.  2 BORA. Zwischen Rechtsanwalt und Mandant sei die Nutzung eines elektronischen oder sonstigen Kommunikationsweges, der mit Risiken für die Vertraulichkeit dieser Kommunikation verbunden ist, jedenfalls dann erlaubt, wenn der Mandant ihr zustimmt. Natürlich, ist man versucht, zu ergänzen, denn wenn ein Mandant einwilligt, muss deren Verwendung erlaubt sein. Der Mandant ist Herr seiner Informationen. Von einer Zustimmung sei auszugehen, wenn der Mandant diesen Kommunikationsweg vorschlägt oder beginnt und ihn, nachdem der Rechts­ anwalt zumindest pauschal und ohne technische Details auf die Risiken hingewiesen hat, fortsetzt. In der Tat: Schreibt ein Mandant seinem Rechtsanwalt eine E-Mail, dann wäre er wohl überrascht, wenn der Rechtsanwalt ihm antwortete, dieser Kommunikationsweg sei verschlossen, denn er  – der Anwalt  – wisse schließlich nicht, ob der Mandant den Kommunika­ tionsweg billige. Derartige Normen im anwaltlichen Berufsrecht sind Ausweis der Wahrheit, dass Juristen sich oft selbst im Wege stehen, und vertiefen nur den Graben zwischen ihnen und der Welt der Mandanten. Der Rechtsanwalt soll aber noch einen Hinweis erteilen, heißt es. Einen Hinweis auf Risiken, die mit dem Kommunikationsweg verbunden sein könnten. Da den Verfassern der BORA offenbar selbst vor Augen stand, dass Rechtsanwälte mit den technischen Umständen elektronischer Kommunikation nicht unbedingt vertraut sind, ziehen sie ihre Anforderung im Grunde gleich wieder zurück, noch während sie statuiert wird. Der Hinweis, der erteilt werden müsse, müsse nämlich nur pauschal und ohne technische Details erfolgen. Damit wird es genügen – und darüber wird in der Praxis auch kaum hinausgegangen –, wenn ein Anwalt schreibt „Die Nutzung elektronischer Kommunikation ist mit Risiken verbunden“. Eigentlich könnte er das gleich erweitern auf „Kommunikation ist mit Risiken verbunden“, denn die Möglichkeit, dass Nachrichten abgefangen und gelesen oder auf sonstige Weise von Unbefugten erlangt werden, ist kein Spezifikum von E-Mails. Auch konventionelle Briefe können abgefangen, konventionelle Telefone abgehört werden. Über die größte Gefahr in diesem Zusammenhang besteht nach den Normen keine Belehrungspflicht. Oft kommt es vor, dass Mandanten bei ihren Anwälten, nicht zuletzt den Strafverteidigern, anrufen, um lieber mündlich die eine oder andere Information zu platzieren. Mit E-Mails sind schließlich Gefahren verbunden, da die Dateien abgefangen werden könnten. 114

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­ atsächlich ist es aber schon seit vielen Jahren so, dass in der Telefonie T ebenfalls nur Datensätze versandt werden. Das Risiko des Abfangens ist praktisch identisch mit sonstigen Daten, die auf den Weg gebracht werden. Daran denkt indes niemand, auch offenbar nicht die Satzungsversammlung. In Absatz  4 der Norm sind Ausnahmen von der Verschwiegenheit erwähnt, allen voran die Entbindung durch den Mandanten. Die Schweigepflicht kann es nicht verhindern, dass Rechtsanwälte zum Beispiel eigene Gebührenansprüche durchsetzen oder sich gegen Haftungsansprüche wehren. Schließlich wird in Absatz 4 noch auf eine „Sozialadäquanz“ abgestellt, deren konkreter Anwendungsbereich indes unklar bleibt, da die Vorschrift offenbar auf kanzleiinterne Informationsweitergabe abzielt. Da Mandate der Sozietät oder Kanzlei erteilt zu werden pflegen, stellt sich innerhalb der Organisation von vorneherein nicht die Frage einer Verschwiegenheit. In Absatz 5 des § 2 BORA findet sich noch eine Bezugnahme auf das allgemeine Datenschutzrecht. Es bleibt unberührt. Anders als vor Inkrafttreten der DSGVO, verdrängt das anwaltliche Berufsrecht im Bereich der Verschwiegenheit nicht mehr das allgemeine Datenschutzrecht. Waren schon in der Vergangenheit die Daten der Mandanten umfassend gesichert, so fragt sich, welchen Regelungszweck es verfolgt, wenn der Gesetzgeber weitergehende Verbote statuiert. Der Rechtsanwalt wird auf diese Weise vom Garanten der Vertraulichkeit für seinen Mandanten und damit im Dienste des Rechtsstaates zu einem Datenschützer mit generellem Auftrag für jedermann. Das verwässert ohne Not das Berufsbild eines Beraters und Vertreters, dessen Konzentration auf den Mandanten ausgerichtet ist. Klüger verhält sich demgegenüber die Regelung in § 9 Abs. 4 der österreichischen Rechtsanwaltsordnung: „Soweit dies das Recht des Rechtsanwalts auf Verschwiegenheit zur Sicherstellung des Schutzes der Partei oder der Rechte und Freiheiten anderer Personen oder der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche erfordert, kann sich die betroffene Person nicht auf die Rechte der Art. 12 bis 22 und Art. 34 der Verordnung (EU) 2016/679 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl. Nr.  L 119 vom 4.5.2016 S.  1 (im Folgenden: DSGVO), sowie des § 1 DSG berufen.“ Dort unterwirft man Anwälte nicht einer allgemeinen Datenschützer-Aufgabe, sondern befreit 115

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sie dort, wo es die Rechtsdurchsetzung des Mandanten erfordert, von den Fesseln des Datenschutzrechts. c) Lücken Die Sammlung von Einzelaspekten lässt wesentliche Elemente vermissen. Ungelöst ist etwa der Fall des „lebenden Organismus“ Anwaltskanzlei in einigen für die Betroffenen wesentlichen Bereichen. Zwar ist es unstreitig zulässig, dass Rechtsanwälte neue Mitarbeiter beschäftigen, ohne jeden einzelnen Mandanten um Erlaubnis gefragt zu haben, weil doch Mitarbeiter Zugang zu deren Daten bekommen. Aber es ist noch immer nicht anerkannt, dass das auch gilt, wenn ein Kanzleiinhaber seine Praxis veräußert.14 Die Interessenlage ist aus Sicht der Mandanten dieselbe. Bei der Veräußerung wird indes eine Nichtigkeit angenommen, wenn der Verkäufer sich zur Übertragung der Daten ohne Einwilligung der Mandanten verpflichtet, § 134 BGB i.V.m. § 203 StGB. Wäre es nicht Zeit, das Grundphänomen des „lebenden Organismus“ anzuerkennen und dadurch mit einem Schlag vielfältige Einzelprobleme zu lösen? Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa bilden die immer weitergehenden Regeln über die Geldwäsche eine Gefahr für die Verschwiegenheit.15 Wer befürchten muss, dass sein Berater der Behörde Mittei­ lungen macht, wird faktisch an dem Aufbau einer Vertrauensbeziehung gehindert. Der Staat bedient sich zur Verfolgung strafbarer Handlungen zunehmend der Berater und zwingt sie damit in eine Rolle, die ihren Dienst am Rechtsstaat behindert. Zudem häufen sich die Fälle von Durchsuchungen von Anwaltskanzleien. Im Zusammenhang mit Mandaten der Internal Investigation haben Gerichte erkannt, dass eine Beschlagnahme und Verwertung der Informationen durch die Staatsanwaltschaft zulässig sei.16 Der Handlungsbedarf ist seit Jahren offenkundig,17 aber es geschieht nichts. Wer eine Anwaltskanz14 Römermann, Praxisverkauf und Praxisbewertung bei Freiberuflern  – ein (scheinbar) unlösbares Problem, NJW 2012, 1694. 15 Vgl. nur Vincent Nioré, Le secret professionnel de l’avocat: un chef-d’œuvre en péril?, JCP n° 43, 20 oct. 2014. 1095. 16 BVerfG, NJW 2018, 2385; LG Hamburg, NJW 2011, 942; LG Mannheim, w ­ istra 2012, 400; näher Haefcke, CCZ 2014, 39. 17 Vgl. nur Rieder/Menne, CCZ 2018, 203. 116

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lei beauftragt, Rechtsverstößen im eigenen Unternehmen nachzuspüren, muss nach heutigem Stand der Rechtsprechung damit rechnen, dass die dabei gefundenen Erkenntnisse in die Hände von Strafverfolgungsbehörden gelangen. Die mandatierte Kanzlei muss damit rechnen, dass der zuweilen nicht leicht zu stillende Informationshunger von Staatsanwälten zu Durchsuchungen bei den Beratern führt. Durchsuchungen und Beschlagnahmen von Unterlagen bei Rechtsanwälten tragen zu einer Erosion des Vertrauensverhältnisses bei. Ein eigenes, unabhängig auszuübendes Schweigerecht von Rechtsanwälten wird in Deutschland traditionell nicht anerkannt.18 Dabei wäre es durchaus sinnvoll und geboten, weil Mandanten – insbesondere unter dem Druck des über sie befindenden Richters – in stetiger Gefahr stehen, allzu leichtfertig und ohne genaues Wissen um die Konsequenzen auf die Verschwiegenheit zu verzichten. Ein Beispiel dazu. In einem spektakulären Prozess um die Tötung eines Politikers äußerte sich der Vorsitzende Richter gleich am ersten Prozesstag gegenüber den Angeklagten:19 „Hören Sie nicht auf Ihre Verteidiger, hören Sie auf mich. Ein von Reue getragenes Geständnis lohnt sich immer. Gestehen Sie, wenn es etwas zu gestehen gibt.“ Welche Respektlosigkeit eines Richters gegenüber dem Strafverteidiger, dem anderen Organ der Rechtspflege, welche Missachtung dessen rechtsstaatlicher Funktion, nein: des Rechtsstaates selbst aus solchen Worten spricht, sei hier dahingestellt. Nur inhaltlich betrachtet: Der „Rat“ des Richters an den Angeklagten, bei dem es um eine Anklage wegen Mordes und damit um die lebenslange Freiheitsstrafe ging, war schlicht falsch. Geständnisse können, wenn die Beweislage erdrückend ist, Wohlwollen erzeugen. Sie können den Angeklagten in anderen Konstellationen aber auch erst ans Messer liefern. Da, wo Regelungen erforderlich wären, ist also insgesamt wenig Bewegung festzustellen. Das betrifft die Fälle: Sicherung der Verschwiegenheit bei Internal Investigations, Schutz vor hypertrophen Offenbarungspflichten wegen möglicher Geldwäsche oder Schutz des Mandanten vor sich selbst, indem dem Rechtsanwalt auch im Falle einer Befreiung durch den Mandanten 18 Näher Henssler, NJW 1994, 1817, 1823 f. 19 So der Prozessbericht von Felix W. Zimmermann, Legal Tribune Online vom 28.1.2021, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/1643​kauf​ mann​annelieolg-frankfurt-mord-walter-luebcke-urteil-52ste1-20-5a-3-20-­ lebens​lang-vorsitzender-richter-begruendung/. 117

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ein eigenständiges Auskunftsverweigerungsrecht eingeräumt wird, um das Interesse des Mandanten wahren zu können. d) Zwischenfazit In Deutschland fehlt Orientierung, wenn es um die Schweigepflicht geht. Im Kern ein Element der Sicherung des Rechtsstaats, kreist die Debatte seit Jahren doch nicht etwa darum, sondern um Verbote der Nutzung moderner, von Mandanten gewünschter Kommunikationsformen. Diese Diskussionen sind davon gekennzeichnet, dass weniger der Mandanten- als vielmehr der allgemeine Datenschutz die Überlegungen dominiert. Mandanten durften schon immer entscheiden, welche Art der Kommunikation sie wählen. Je restriktiver die Anwaltschaft damit umgeht, je mehr Hürden sie – aus Sicht der Klientel – zwischen sich und den Mandanten errichtet, desto leichter wird der Marktzugang für Unternehmen, die als LegalTechs mit neuen Geschäftsmodellen auf der Basis bloßer Rechtsdienstleistungs-Erlaubnisse agieren. Sie nämlich hören zu, wenn der Mandant zum Ausdruck bringt, was er möchte: Einfache, unkomplizierte Kommunikationswege. 3. Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen a) Einführung Ein dritter, stets genannter Grundpfeiler des anwaltlichen Wertesystems ist das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen. Der Gesetzgeber fühlt sich bemüßigt, gleich drei Normenkanons zu bemühen, um dem Phänomen Herr zu werden. Ein unbefangener Betrachter muss sich die Frage stellen, wozu ein solcher Aufwand betrieben wird. Inkassounternehmen, die als Rechtsdienstleister am Markt auftreten, sind von Gesetzes wegen keinem Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen unterworfen. Aber dürfen Rechtsdienstleister deswegen gleichzeitig beide Parteien gegeneinander vertreten? Das wird niemand gutheißen. Die Erwartung des Kunden geht dahin, dass seine und ausschließlich seine Interessen Beachtung finden, wenn er den Auftrag erteilt. Daraus folgt eine vertragliche Nebenpflicht, ggfs. auch dann, wenn sie nicht explizit im Vertragstext genannt wird. Wer das ins Kalkül zieht, kommt an der Frage nicht vorbei, welche Bedeutung den berufsrechtlichen Klarstellungen überhaupt beizumessen ist. 118

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b) Normen Die Unsicherheit des Gesetzgebers im Umgang mit dem Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen zeigt sich schon auf den ersten Blick, wenn man die disparaten Vorschriften zusammensieht. Eine davon findet sich im Strafgesetzbuch, dort im 30. Abschnitt „Straftaten im Amt“. Ist diese Überschrift nicht schon ausreichend, um die fehlerhafte Weichenstellung zu erkennen? Und wie kann es eigentlich sein, dass der Gesetzgeber seit 1878 nicht die Zeit gefunden hat, die Norm aus dem unhaltbaren Kontext zu befreien und sie in die BRAO einzuordnen, verschmolzen mit der dortigen Regelung zur Vertretung widerstreitender Interessen? § 356 Parteiverrat (1) Ein Anwalt oder ein anderer Rechtsbeistand, welcher bei den ihm in dieser Eigenschaft anvertrauten Angelegenheiten in derselben Rechtssache beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (2) Handelt derselbe im Einverständnis mit der Gegenpartei zum Nachteil seiner Partei, so tritt Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren ein.

Die fehlerhafte Struktur der Normen führt zu fehlerhaften Ergebnissen bei der praktischen Anwendung. Im berufsrechtlichen Alltag ergeben sich immer wieder Konstellationen, bei denen Anwälte, in aller Regel guten Willens, in den Anwendungsbereich des Parteiverrats hineinrutschen. Das gilt etwa, wenn ein Rechtsanwalt seinem Mandanten die Mediation nahelegt, die er dann auch gleich selbst durchführen möchte. Wer für beide Parteien tätig ist, kann keine anwaltliche Funktion ausüben. Das konsensorientierte Eingreifen eines Anwalts ist oft gut gemeint, leitet ihn aber dann direkt in eine Strafbarkeit und drastische Konsequenzen bis hin zum Verlust seiner Zulassung. Derartige Vorkommnisse sind auch Ausfluss heutiger Verwirrung über den Status des Rechtsanwalts insgesamt. So gibt es im Rahmen der Berufsordnung der Rechtsanwälte doch tatsächlich Normen über einen anderen Beruf, den Mediator (§ 7a BORA). Der „allparteiliche“ Mediator und der nur seinem Mandanten verpflichtete Rechtsanwalt erfüllen gänzlich unterschiedliche Aufgaben, aber der Normenkanon erweckt den Eindruck, als handelte es sich um Spielarten desselben Berufes. Wenn schon dem Normgeber die Grundprinzipien der Berufe nicht mehr klar sind, wer könnte es da einzelnen Berufsträgern verübeln, wenn sie in Irrtümer verfallen? 119

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Volker Römermann

Das Berufsgesetz verhält sich kurz und knapp: „Der Rechtsanwalt darf keine widerstreitenden Interessen vertreten“,

so lautet § 43a Abs. 4 BRAO. Damit ist nicht viel gesagt außer der baren Selbstverständlichkeit, dass, wer ein Mandat übernimmt, dann nicht zugleich dagegen arbeiten darf. Dasselbe würde bei allen anderen Berufen im Prinzip in gleicher Weise gelten, spätestens als Teil ihrer jeweiligen Vertragsverhältnisse zu den Auftraggebern. Außer bei Anwälten überhöht jedoch niemand diese Banalität oder deklariert sie voller Stolz womöglich noch zum „Core Value“. Ausführlicher verhält sich die Berufsordnung: § 3 Widerstreitende Interessen, Versagung der Berufstätigkeit (1) Der Rechtsanwalt darf nicht tätig werden, wenn er eine andere Partei in derselben Rechtssache im widerstreitenden Interesse bereits beraten oder vertreten hat oder mit dieser Rechtssache in sonstiger Weise im Sinne der §§ 45, 46 Bundesrechtsanwaltsordnung beruflich befasst war. Der Rechtsanwalt darf in einem laufenden Mandat auch keine Vermögenswerte von dem Mandanten und/oder dem Anspruchsgegner zum Zweck der treuhänderischen Verwaltung oder Verwahrung für beide Parteien entgegennehmen. (2) Das Verbot des Abs. 1 gilt auch für alle mit ihm in derselben Berufsausübungsoder Bürogemeinschaft gleich welcher Rechts- oder Organisationsform verbundenen Rechtsanwälte. Satz 1 gilt nicht, wenn sich im Einzelfall die betroffenen Mandanten in den widerstreitenden Mandaten nach umfassender Information mit der Vertretung ausdrücklich einverstanden erklärt haben und Belange der Rechtspflege nicht entgegenstehen. Information und Einverständniserklärung sollen in Textform erfolgen. (3) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für den Fall, dass der Rechtsanwalt von einer Berufsausübungs- oder Bürogemeinschaft zu einer anderen Berufsausübungsoder Bürogemeinschaft wechselt. (4) Wer erkennt, dass er entgegen den Absätzen 1 bis 3 tätig ist, hat unverzüglich seinen Mandanten davon zu unterrichten und alle Mandate in derselben Rechtssache zu beenden. (5) Die vorstehenden Regelungen lassen die Verpflichtung zur Verschwiegenheit unberührt.

Der Umstand, dass der Text und die Detailtiefe der Berufsordnung weit über das hinausgehen, was sich im Gesetz wiederfinden lässt, hat seit jeher 120

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zu juristischen Meinungsstreitigkeiten geführt. Der Normgeber der Berufsordnung, die Satzungsversammlung also, zieht schließlich Recht und Legitimität ihrer Normsetzung aus einer Ermächtigung das Gesetz. Das Gesetz bildet zugleich den Rahmen. In der Satzung darf über das Gesetz nicht hinausgegangen werden. Was aber ist im Text der BORA noch ausfüllende Interpretation der BRAO und was eine Überschreitung der gesetzlich gezogenen Grenzen? In Absatz 1 des § 2 BORA findet sich die Grundregel. Sodann folgt im selben Absatz eine klarstellende Einzelbestimmung, die Treuhandverhältnisse betrifft, sich in der Praxis aber auch im Jahre 2021 noch nicht überall durchsetzen konnte.20 Hinsichtlich der Absätze 2 bis 4 dürfte im Schrifttum weitgehend Konsens darüber herrschen, dass die Normen verunglückt und weitgehend unklar sind. Die Grenzziehung zwischen sinnvoller Erstreckung von Tätigkeitsverboten auf die Sozietät und übergriffiger Paralyse und Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) ist jedenfalls bislang nicht gelungen. Änderungen stehen an. In § 43a Abs. 4 BRAO-RegE 2021 (Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Berufsrechts der anwaltlichen und steuerberatenden Berufsausübungsgesellschaften sowie zur Änderung weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden Berufe) heißt es: Der Rechtsanwalt darf nicht tätig werden, wenn er 1. eine andere Partei in derselben Rechtssache bereits im widerstreitenden Interesse beraten oder vertreten hat oder 2. in Ausübung seines Berufs von einer anderen Partei eine für die Rechtssache bedeutsame vertrauliche Information erhalten hat. Das Tätigkeitsverbot nach Satz 1 gilt auch für Rechtsanwälte, die ihren Beruf in einer Berufsausübungsgesellschaft mit einem Rechtsanwalt ausüben, der nach Satz 1 ausgeschlossen ist. Ein Tätigkeitsverbot nach Satz 2 bleibt bestehen, wenn der Rechtsanwalt, der nach Satz 1 ausgeschlossen ist, die Berufsausübungsgesellschaft verlässt. Die Sätze 2 und 3 finden keine Anwendung, wenn die betroffenen Mandanten der Tätigkeit des Rechtsanwalts nach umfassender Information zugestimmt haben und geeignete Vorkehrungen die Einhaltung der Verschwiegenheit des Rechtsanwalts sicherstellen. Soweit es für die Prüfung eines Tätigkeitsverbots nach Satz  2 erforderlich ist, dürfen der Verschwiegenheitspflicht unterliegende 20 Krit. Römermann, Doppelnützige Treuhand: Früher verboten, jetzt richtig unzulässig, AnwBl 2015, 34. 121

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Tatsachen einem Rechtsanwalt auch ohne Einwilligung des Mandanten offenbart werden. Die Sätze 1 bis 5 gelten entsprechend für ein Tätigwerden des Rechtsanwalts außerhalb des Anwaltsberufs, wenn für ein anwaltliches Tätigwerden ein Tätigkeitsverbot nach Satz 1 bestehen würde.

Eine solche Normerweiterung gehört im Grunde gar nicht in den Kontext der Vertretung widerstreitender Interessen. Es handelt sich vielmehr um einen Ausbau der Verschwiegenheit von der bloßen Sicherung gegen unerlaubte Kundgabe hin zu einem Verbot der Nutzung vorhandenen Wissens. An anderer Stelle21 wurde bereits ausführlich dargelegt, warum eine derartige Ausweitung, für die kein Bedürfnis streitet, keine Probleme löst, sondern nur weitere Schwierigkeiten aufwirft. c) Gesetzlicher Zwang zur Wahrnehmung widerstreitender Interessen Zuweilen nötigt der Gesetzgeber, der doch das Verbot der Vertretung ­widerstreitender Interessen gleich in mehreren Vorschriften statuiert, die Anwälte zur Wahrnehmung widerstreitender Interessen. So muss etwa nach § 43d BRAO – „Darlegungs- und Informationspflichten bei Inkassodienstleistungen“ – der Rechtsanwalt, der Inkassodienstleistungen erbringt, wenn er eine Forderung gegenüber einer Privatperson geltend macht, mit der ersten Geltendmachung eine Vielzahl von Informationen klar und verständlich übermitteln. „Die Neuregelung soll sicherstellen, dass die von einem Inkassounternehmen mit einer Zahlungsaufforderung konfrontierte Privatperson alle Angaben erhält, die sie benötigt, um die Berechtigung einer gegen sie geltend gemachten Forderung zu überprüfen und sich gegebenenfalls gegen sie zur Wehr zu setzen“, so heißt es in der Entwurfsbegründung.22 Kilian fasst treffend zusammen: „Inhaltlich bewirkt die drittbezogene Informations- und Darlegungspflicht des § 43d, dass ein Rechtsanwalt zum Nachteil seines Mandanten dessen Gegner unterrichten und aufklären muss. Zu Recht ist kritisiert worden, dass dies dem tradierten Verständnis der Funktion des Rechtsanwalts als Vertreter der Interessen seines Mandanten widerspricht. … Dies steht im Widerspruch mit den das anwaltli21 Römermann, AnwBl Online 2020, 588. 22 Begründung Gesetzentwurf eines Gesetzes gegen unseriöse Geschäftspraktiken, BR-Drucks. 219/13. 122

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che Berufsbild prägenden Core Values, die Grundvoraussetzung für eine freie Anwaltschaft sind und deshalb von Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG geschützt werden.“23 d) Zwischenfazit Das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen ist einerseits eine Selbstverständlichkeit, die im Grunde auch für jeden anderen Beruf in ähnlicher Weise Geltung erheischt, dort auf vertraglicher Grundlage. Die im Kontext des Verbotes im Laufe der Jahre ergangenen Vorschriften stellen sich als Torso dar. Jüngste Planungen einer Ergänzung verschlimmern die Situation sogar noch. Rechtsanwälte sind keine Verbraucherschützer, sondern Vertreter ihrer jeweiligen Mandanten und deren Interessen. Darauf wird zurückzukommen sein. In ihrem gegenwärtigen Zustand schaden die Normen eher als dass sie Sinn stifteten. Es sollte erwogen werden, Teile davon zu streichen und alles gänzlich neu zu ordnen, soweit es einer expliziten Regelung bedarf. 4. Sachlichkeit a) Einführung Die BRAK nennt als anwaltlichen Core Value die „Sachlichkeit mit den Werten Mäßigung, Distanz zur Sache, Wahrhaftigkeit, Professionalität“. Aus dieser Beschreibung findet sich im Normenkanon lediglich die Sachlichkeit und in ihrem Zusammenhang wird auch die Wahrheit erwähnt. Ist „Professionalität“ ein Wert? Was überhaupt mag Professionalität sein? Den Beruf „professionell“, also berufsmäßig auszuüben – eine bare Selbstverständlichkeit, die sich, gäbe es keine Vorschrift in der BRAO, auch schon aus dem Vertragsverhältnis zum jeweiligen Mandanten ergäbe. „Professionalität“ ist zudem keine Sonderheit der Anwaltschaft. Jeder Beruf wird diese Charakterisierung für sich in Anspruch nehmen. Wenn man der Professionalität überhaupt einen Inhalt zubilligen möchte, der über eine leere Floskel hinausgeht, dann geht es in Richtung Fach23 Henssler/Prütting/Kilian, 5. Aufl. 2019, BRAO § 43d Rz. 7 f. 123

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kenntnisse: „Dabei bezeichnet der Begriff solche Fähigkeiten, Kenntnisse oder Verhaltensweisen, die man in Bezug auf die Ausübung oder Durchführung einer Tätigkeit von einer Person (einem „Profi“) erwarten könnte, für die diese Tätigkeit den Schwerpunkt der beruflichen Arbeit bildet“.24 Das könnte im Berufsrecht dann eher der gewissenhaften Berufsausübung i.S. des §  43 Satz  1 BRAO denn der Sachlichkeit zuzuordnen sein. Auch dort werden wir indes noch der Frage nachzugehen haben, ob denn die Gewissenhaftigkeit i.S. des § 43 BRAO über einen sinnvollen Regelungsgehalt verfügt. Mäßigung wird von der BRAK als Unterfall der Sachlichkeit angeführt. Ähnlich wie die Besonnenheit wird sie in einem Gegensatz zur Impulsivität gesehen. Blutleere, am Normentext haftende Anwälte scheinen das Ziel zu sein. Die „Distanz“ ist ein Topos, der sich nicht nur im vorliegenden Zusammenhang findet, sondern immer wieder auch im Kontext der jüngsten Berufsrechtsreformen. An anderer Stelle wurde gezeigt, dass es keineswegs ein Gebot des anwaltlichen Berufsrechts sein kann, eine „kritische Distanz“ zum Auftraggeber zu wahren.25 Begrifflichkeiten wie diejenige, Anwälte drohten, sich mit Mandanten gemein zu machen, etwa wenn ein Teil des Honorars an den Erfolg des Vorgehens geknüpft wird, lassen den Rückschluss auf eine verzerrte Wahrnehmung des Erscheinungsbildes des Anwaltsberufs zu, führen in der Sache aber nicht weiter. b) Normen Die zentrale Norm im Berufsrecht findet sich in § 43a Abs. 3 BRAO: Der Rechtsanwalt darf sich bei seiner Berufsausübung nicht unsachlich verhalten. Unsachlich ist insbesondere ein Verhalten, bei dem es sich um die bewusste Verbreitung von Unwahrheiten oder solche herabsetzenden Äußerungen handelt, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf keinen Anlass gegeben haben.

Sie wird an anderen Stellen des Rechts flankiert, etwa durch §  138 ZPO (Erklärungspflicht über Tatsachen; Wahrheitspflicht) oder die Tatbestände der §§ 185, 186 und 187 StGB. Soweit ein Rechtsanwalt den Versuch unter24 Wikipedia, Stichwort „Profi“, abrufbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/ Profi. 25 Römermann, AnwBl Online 2020, 588, 610 f. 124

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nähme, durch Lug und Trug ein für seinen Mandanten vorteilhaftes Ergebnis zu erzielen, wird zudem regelmäßig der Tatbestand des Betruges (§ 263 StGB) zum Tragen kommen. Es hätte, bezieht man das reale Erscheinungsbild der Anwaltschaft in die Betrachtung ein, eigentlich keiner berufsrechtlichen Norm bedurft, um Rechtsanwälte von Unwahrheiten abzuhalten. Die Norm spiegelt in diesem Aspekt ein Misstrauen des Gesetzgebers gegen den Beruf, den er doch in § 1 BRAO als Organ der Rechtspflege auf den Schild hebt. Soweit es um einen darüber hinausgehenden Normgehalt geht, wird die Lage diffus. „Die Neigung, im Kampf um das Recht die sachliche Ar­ gumentation zu verlassen und verbal über das Ziel hinauszuschießen, ist  offenbar eine dem Anwaltsberuf seit jeher eigene déformation profes­ sionnelle“. Mit diesem Satz beginnt Martin Henssler seine Kommentierung dieser Norm.26 Ist das wirklich wahr?, fragt sich der unbefangene Leser. Ragt der Rechtsanwalt unter den juristischen Berufen signifikant heraus, wenn es um das Problem geht, wie man sich zu benehmen hat? Bedurfte es just bei ihm einer pädagogisch ambitionierten Norm? Henssler selbst konstatiert, dass das Sachlichkeitsgebot im internationalen Vergleich eine Besonderheit des deutschen Berufsrechts darstellt.27 Dabei sind deutsche Anwälte nicht für besondere Hitzköpfigkeit bekannt und scheinen auch rhetorisch eher zu biederem Vortrag zu neigen, während ihre Berufskollegen im Westen oder Süden eine Redekunst pflegen, die hierzulande längst verloren gegangen ist – falls es sie jemals gab. Nüchternheit ist der vorherrschende Stil in deutschen Amtsstuben und Gerichtssälen. Ist Nüchternheit aber auch eine Berufspflicht? Henssler dazu:28 „Sachlichkeit ist das Kennzeichen professioneller Arbeit. Der sachbezogen arbeitende Anwalt konzentriert seine Tätigkeit auf die ihm übertragene Sache, also die Wahrnehmung eines konkreten Sachinteresses des Mandanten. Die Sachlichkeit verlangt, dass der Anwalt das Recht kennt und alle legalen und legitimen Wege ausschöpft, um es für seine Klienten durchzusetzen. Da die Rechtsfindung und Rechtsdurchsetzung ein rationaler Vorgang ist, kann der Anwalt umso eher auf den Erfolg hoffen, je mehr er sich von kühler 26 Henssler/Prütting/Henssler, 5. Aufl. 2019, BRAO § 43a Rz. 122. 27 Henssler/Prütting/Henssler, 5. Aufl. 2019, BRAO § 43a Rz. 123. 28 Henssler/Prütting/Henssler, 5. Aufl. 2019, BRAO § 43a Rz. 125 f. 125

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Vernunft leiten lässt. Der Vorteil, sich von einem Anwalt beraten und vertreten zu lassen, besteht nicht nur darin, sich dessen juristische Fachkenntnisse zunutze zu machen. Der Wert, einen unabhängigen Sachwalter für sich sprechen und handeln zu lassen, liegt nicht weniger darin, dass dieser an einer möglichst objektiven Beurteilung der Rechtslage und der eigenen Chancen nicht durch emotionale Befindlichkeiten behindert wird. Bringt somit ein sachbezogenes Vorgehen des Anwalts dem Mandanten den größten Vorteil, haben sich andererseits eine justiziable Definition der Sachlichkeit und eine Grenzziehung zwischen sachlichem und unsachlichem Verhalten unterhalb der Schwelle des Strafrechts und der Lüge als unmöglich erwiesen. Das Sachlichkeitsgebot ist deshalb über die Grenze des strafrechtlich Relevanten hinaus berufsrechtlich kaum justiziabel. Seine Wirkung erschöpft sich insoweit in einem Appell an das Berufsethos des Anwalts. Wem das zu wenig ist, mag bedenken, dass der Verlust an Reputation, der sich bei einem unprofessionell arbeitenden Anwalt unvermeidlich einstellt, in der Regel abschreckender wirkt als eine berufliche Sanktion.“ Es lohnte eine gesonderte Studie, ob die hier geäußerten Prämissen zutreffen. Auch Richter sind Menschen und entscheiden daher nur vordergründig rein sachbezogen. Tatsächlich werden sich auch Richter nicht ohne Emotion dem Fall und den damit aufgeworfenen Fragen nähern können. Nicht nur das: Schon die beteiligten Personen sind typischerweise geeignet, Emotionen auszulösen – sei es durch dem Richter persönlich bekannte Gestalten des öffentlichen Lebens oder solche aus seinem Umfeld, sei es durch ihre Rollen in der Gesellschaft  – Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verbraucher, Großkonzern etc. – oder im konkreten Prozess. Ist es da das Beste für den Mandanten, sachlich, „objektiv“ gar – als wenn das im Außenverhältnis eine Anforderung an Parteivertreter sein könnte – eine Sache zu erörtern und zu vertreten? Ist es nicht sogar umgekehrt geradezu geboten, dass Anwälte die Emotionen aufnehmen, die aus der personellen und tatsächlichen Konstellation herrühren, und das zu einem wesentlichen Aspekt bei der Planung ihres Vorgehens machen? Nicht erst der Blick nach Amerika, wo die psychologische Analyse der Geschworenen und das Einstimmen in deren emotionale Sichtweise zum Standardrepertoire gehört, lehrt: Professionelle Arbeit bedeutet gerade nicht, den notwendig mit jeder menschlichen Beziehung verbundenen emotionalen Part auszublenden und zu negieren, sondern im Gegenteil: Das Aufnehmen und Verarbeiten der emotionalen Komponente ist einer der essentiellen Bestandteile professionellen Umgangs. 126

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Im herandämmernden Zeitalter juristischer Künstlicher Intelligenz wird zuweilen der Unterschied zwischen Mensch und Maschine beschworen. Es mag manchem erscheinen, als wäre der Mensch mit all seinen Erfahrungen und Emotionen einem Rechner in der Erfassung und zutreffenden Beurteilung von Rechtsfällen überlegen. Das ist Teil eines Narrativs, der auch die grundlegende Rechtfertigung menschlicher Arbeit in diesem Sektor berührt. Bei näherem Hinsehen ist das, wenn man die Fähigkeiten aktueller IT-Systeme ganzheitlich in den Blick nimmt, Illusion, denn der Rechner kann emotionale Komponenten eher noch besser erfassen und verarbeiten als der menschliche Rezipient. Emotionslose Nüchternheit jedenfalls, so darf man als Zwischenfazit festhalten, ist die Anforderung des Berufsrechts keineswegs. Henssler favorisiert auf Grundlage seiner Feststellung, dass das Sachlichkeitsgebot kaum justiziabel sei, einen Katalog ethischer Richtlinien mit Aussagen zur Sachlichkeit der anwaltlichen Tätigkeit.29 Das „Diskussionspapier des BRAK-Präsidiums zur Berufsethik der deutschen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Stand: 30.8.2010)“ habe Hensslers Anregung aufgegriffen. Herabsetzende persönliche Angriffe verstießen danach auch dann gegen die Gebote der Mäßigung, der Distanz zur Sache und des Respekts vor jedermann, wenn andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf Anlass dazu gegeben haben. Der Wertekatalog dieses Diskussionspapiers wurde bereits eingangs angesprochen und darauf wird jeweils gesondert zurückzukommen sein. Im vorliegenden Zusammenhang ist lediglich abschließend zu erwägen, ob die Argumentation ad personam für Rechtsanwälte auch dann unzulässig ist, wenn Beteiligte oder der Verfahrensverlauf dazu Anlass gegeben haben. Die Antwort fällt eindeutig aus. Keineswegs ist Rechtsanwälten ein rhetorisches Mittel versagt, wenn es Anlass dazu gibt. Es wird sich etwa bei Zeugenvernehmungen geradezu aufdrängen, dass sich der befragende Rechtsanwalt auch mit deren Person und Glaubwürdigkeit auseinandersetzt. Ähnlich liegt es mit der Stellung und Begründung von Befangenheitsanträgen. Nur die durch nichts veranlasste bloße Schmähung wird als unethisch verworfen werden können, wobei auch das unsicher ist, solange nicht der Grad strafbarer Äußerungen erreicht ist und der Rechtsanwalt ein für seinen Mandanten nützliches Ziel verfolgt. 29 Henssler/Prütting/Henssler, 5. Aufl. 2019, BRAO § 43a Rz. 126a. 127

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Das BVerfG hat das in seiner „Bastille“-Entscheidung von 198730 wie folgt gewürdigt: „Bei der Prüfung, ob standesrechtliche Maßnahmen gegen einen Anwalt wegen Verstoßes gegen das Sachlichkeitsgebot den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen, ist davon auszugehen, dass die anwaltliche Berufsausübung grundsätzlich der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des einzelnen unterliegt … Die Wahrnehmung dieser Aufgaben erlaubt es dem Anwalt – ebenso wie dem Richter – nicht, immer so schonend mit den Verfahrensbeteiligten umzugehen, dass diese sich nicht in ihrer Persönlichkeit beeinträchtigt fühlen. Nach allgemeiner Auffassung darf er im „Kampf um das Recht” auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen, ferner Urteilsschelte üben oder „ad personam” argumentieren, um beispielsweise eine mögliche Voreingenommenheit eines Richters oder die Sachkunde eines Sachverständigen zu kritisieren. Nicht entscheidend kann sein, ob ein Anwalt seine Kritik anders hätte formulieren können; denn grundsätzlich unterliegt auch die Form der Meinungsäußerung der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung … . Die Grenze einer zumutbaren Beschränkung der Berufsausübung und der Meinungsfreiheit wird insbesondere überschritten, wenn Kammervorstände oder Ehrengerichte Äußerungen eines Anwalts als standeswidrig mit der Begründung beanstanden, sie würden von anderen Verfahrensbeteiligten als stilwidrig, ungehörig oder als Verstoß gegen den guten Ton und das Taktgefühl empfunden oder sie seien für das Ansehen des Anwaltsstandes abträglich. Solche Reglementierungen können nicht Sache der Standesorganisation für einen Beruf sein, zu dessen Aufgaben gerade das Äußern von Meinungen gehört und für den Wort und Schrift die wichtigsten „Berufswaffen” sind.“

c) Zwischenfazit Die Sachlichkeit hat nach alledem weder einen greifbaren eigenständigen Inhalt, der über die im Strafrecht und Wettbewerbsrecht verankerten Regeln zur Einhaltung der Wahrheit hinausginge, noch erfüllt sie überhaupt eine sinnvolle Funktion in einem rechtlichen Kontext. Wer es für richtig hält, mag über Ethikrichtlinien nachdenken, die allerdings keinen regulierenden Charakter haben können. Der Übergang zwischen notwendiger Regulierung  – die dann dem Gesetzgeber vorbehalten ist  – und moral­ pädagogischer Hybris ist schmal. Angesichts der Bastille-Beschlüsse des BVerfG,31 durch die die Anwaltschaft gelernt haben sollte, wohin Standes30 BVerfG, NJW 1988, 191, 193. 31 BVerfG, NJW 1988, 191. 128

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denken und selbstverordnete Richtlinien führen, sollte von solchen Überlegungen besser insgesamt Abstand genommen werden. Soweit Anwälten im Kern nur das Lügen verboten werden soll, mag der Gesetzgeber zur Kenntnis nehmen, dass die Gefahr  – wie auch die Geschichte seit Inkrafttreten der Rechtsanwaltsordnung von 1878 zeigt, wo nahezu kein Anwendungsfall verzeichnet ist – praktisch kaum existiert, jedenfalls nicht öfter als bei Angehörigen jedes anderen Berufes, wo das Gesetz auf die Ermahnung zu Selbstverständlichem verzichtet. Die Vorschrift ist im Ergebnis abzuschaffen, für den in ihr mitschwingenden Affront besteht keine Veranlassung. 5. Gewissenhaftigkeit a) Einführung Mit der „Gewissenhaftigkeit“ benennt die BRAK in ihrem Diskussions­ papier von 2010 die Werte Hingabe, Sorgfalt, Vorsicht, Kompetenz und Transparenz. Muss ein Rechtsanwalt sich einer Sache hingeben? So sollte es sein: Der Anwalt identifiziert sich mit dem Anliegen seines Mandanten, er engagiert sich, er investiert die Zeit und Mühe, um den maximalen Beitrag zum Erfolg zu leisten. Ein etwas idealistisch anmutendes Bild, das doch in einem unübersehbaren Gegensatz zur „Distanz zur Sache“ steht, welche das BRAK-Papier im Kontext der Sachlichkeit beschwört. Als Berufspflicht ist der Begriff der Hingabe kaum fassbar und schon gar nicht justiziabel. Sorgfältige Arbeit ist ein Allgemeinplatz, der auf alle Berufe gleichermaßen zutrifft. Stünde die Anforderung nicht im Berufsrecht, so ergäbe sie sich ebenso aus dem Vertragsverhältnis zum Mandanten. Muss ein Rechtsanwalt Vorsicht walten lassen? Die Frage ist in dieser Allgemeinheit nicht zu beantworten. Die Entscheidung über den Grad des Wagemuts, der anzulegen ist, obliegt dem Auftraggeber, nicht dem Anwalt. Unverzichtbar ist insoweit nur eine adäquate Informationsgrundlage. Der Rechtsanwalt muss also dafür sorgen, dass ein Mandant weiß, was er tut, wenn er dem Anwalt aufgibt, riskant vorzugehen. Keinesfalls stellt es einen Berufsrechtsverstoß dar, wenn der Rechtsanwalt eine solche informierte Weisung befolgt.

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Volker Römermann

Kompetenz ist eine Anforderung, die wiederum schon aus Vertragsrecht Geltung beanspruchte, wenn es sie im anwaltlichen Berufsrecht nicht gäbe. Jeder Beruf wird abstrakte Kompetenz für sich in Anspruch nehmen, ein Spezifikum der Anwaltschaft ist das keineswegs. Das Erfordernis der Transparenz erschließt sich – zumal im Zusammenhang mit der Gewissenhaftigkeit – nicht. Rechtsanwälte müssen ihren Auftraggeber darüber informieren, was im Rahmen der Wahrnehmung seines Mandates geschieht. Sofern das gemeint sein sollte, ist es eine Banalität, die auf Auftragsverhältnisse jeder Couleur zutrifft (vgl. nur § 666 BGB). Transparenz nach außen verbietet grundsätzlich die Verschwiegenheit. b) Norm Sedes materiae ist § 43 BRAO: § 43 Allgemeine Berufspflicht Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen.

Die Bestimmung des § 43 BRAO erweist sich bei näherer Betrachtung als eine reine Leerformel. Niemand kann ernsthaft behaupten, der Begriff der „Gewissenhaftigkeit“ sei nach allgemeinen Auslegungsmethoden objektiv für den Rechtsanwender zugänglich; was auf Grundlage des §  43 BRAO zuweilen von Kammern und Anwaltsgerichten praktiziert wird, ist eine (stets rechtlich schöner umschriebene) Bauchentscheidung i.S.v.: „Das macht man als Anwalt doch nicht“.32 Das ist erstaunlicherweise auch 34 Jahre nach den Bastille-Entscheidungen des BVerfG noch kein Allgemeingut. Zwar wird etwa von Prütting anerkannt, dass eine Generalklausel von der Weite und der Unbestimmtheit des §  43 BRAO nicht unmittelbar zur Subsumtion geeignet ist.33 Dann wird allerdings dargestellt, dass § 43 BRAO „nach wohl allgemeiner Meinung“ jedenfalls eine Transportfunktion (Transformationsfunktion) für Normen aufweise, die außerhalb der BRAO und der BORA zu finden seien. Wie sich aus § 113 Abs. 1 BRAO entnehmen lasse, kämen anwaltsgerichtliche 32 BeckOK BRAO/Römermann/Praß, 9. Ed. 1.5.2020, BRAO § 43 Rz. 4. 33 Henssler/Prütting/Prütting, 5. Aufl. 2019, BRAO § 43 Rz. 19. 130

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Maßnahmen nur dort in Betracht, wo ein Rechtsanwalt gegen Pflichten verstoße, die in diesem Gesetz oder in der Berufsordnung bestimmt seien. Würde man also § 43 BRAO als obsolet aus dem Gesetz entfernen, so könnten Verstöße des Rechtsanwalts gegen Normen des StGB und der StPO mit berufsrechtlichem Gehalt nicht zu einer anwaltsgerichtlichen Maßnahme führen. „Dies erscheint angesichts des Gewichts der §§ 203 Abs. 1 Nr. 3, 352, 356 StGB undenkbar“.34 Der Zweck, so muss wohl ergänzt werden, heiligt eben jedes Mittel. Dabei wird übersehen, dass es dieses Zwecks gar nicht bedarf, da die Strafnormen hinreichende Sanktionsmöglichkeiten bis hin zu zeitweiligen Berufsverboten beinhalten. Andere gehen sogar noch weiter und wollen § 43 BRAO eine eigenständige Auffangfunktion zubilligen. Als Hauptbeispiele für die unmittelbare Anwendbarkeit des § 43 BRAO werden dann Untätigkeit des Rechtsanwalts, schleppende Mandatsbearbeitung, Nichtbeantwortung von Mandantenanfragen oder Nichtrückgabe der Mandantenakten genannt.35 Dagegen wird ins Feld geführt,36 dass sich die Satzungsversammlung bereits im Jahre 1996 durch ihren Ausschuss 4 mit der Frage beschäftigt hatte, ob entsprechend einem Diskussionsvorschlag der Bundesrechtsanwaltskammer die Pflicht zur gewissenhaften Ausübung des Berufs in die Berufsordnung eingebracht werden solle. Die Satzungsversammlung hatte damals mit deutlicher Mehrheit beschlossen, einen solchen Tatbestand nicht in die Berufsordnung aufzunehmen. Das ist bis heute unverändert. c) Zwischenfazit Die Zentralnorm der „Gewissenhaftigkeit“, § 43 BRAO, hat seit den „Bastille“-Entscheidungen des BVerfG37 jeden Inhalt verloren. Charakteristika, die von der BRAK in ihrem Diskussionspapier zur Konkretisierung der Gewissenhaftigkeit aufgerufen werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung als nebulös oder banal. Die Vorschrift kann ohne Verlust aus der BRAO gestrichen werden.

34 Henssler/Prütting/Prütting, 5. Aufl. 2019, BRAO § 43 Rz. 20. 35 Kleine-Cosack, 8. Aufl. 2020, BRAO § 43 Rz. 16. 36 Henssler/Prütting/Prütting, 5. Aufl. 2019, BRAO § 43 Rz. 23. 37 BVerfG, NJW 1988, 191. 131

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Volker Römermann

6. Soziale Verantwortung a) Einführung Unter dem Wert der „sozialen Verantwortung“ versteht die BRAK in dem eingangs erwähnten Diskussionspapier die Pflicht, Zugang zum Recht zu gewähren, die Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement sowie die Verantwortung für- und untereinander. „Die Anwaltschaft wird ihrer sozialen Verantwortung, auch denjenigen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zum Recht zu verschaffen, die die Kosten eines Wahlanwalts nicht tragen können, durch die Übernahme von Beratungs- und Prozess-/Verfahrenskostenhilfemandaten sowie Pflichtverteidigungen gerecht“, heißt es im BRAK-Diskussionspapier,38 und weiter: „Diejenigen Kanzleien, die in den Bereichen von Beratungs- und Prozess-/Verfahrenskostenhilfe nicht oder nur in geringem Umfang tätig sind, sollten zum Ausgleich verstärkt pro bono tätig werden. … Zur sozialen Verantwortung der Anwaltschaft gehört auch ihre besondere Bereitschaft zu ehrenamtlicher Tätigkeit. … Zur besonderen sozialen Verantwortung von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten als Arbeitgeber gehört, dass sie Kollegen und Kolleginnen, aber auch andere Mitarbeiter und Auszubildende nur zu angemessenen Bedingungen beschäftigen.“

Ehrenamtliches Engagement  – wofür, lässt das BRAK-Papier offen  – hat mit dem Anwaltsberuf nichts zu tun und kann daher insoweit keinen Wert darstellen. Verantwortung „für- und untereinander“ ist im Hinblick auf die einbe­ zogenen Subjekte so vage, dass sich daraus nichts ableiten lässt. Verant­ wortung gibt es, wo es sie gibt, mag man dazu resümieren. Es ist kein ­Spezifikum der Anwaltschaft, in einigen Beziehungen  – etwa gegenüber Mandanten oder Mitarbeitern – Verantwortung zu tragen. Im Folgenden soll vor diesem Hintergrund dem sozialen Anliegen, aber auch dem übergeordneten Aspekt des Zuganges zum Rechtsstaat ein Augenmerk gewidmet werden.

38 BRAK-Mitt. 2011, 58, 62. 132

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Anwaltliche Core Values: Eine Abrechnung

b) Zugang zum Rechtsstaat aa) Kontaktbeschränkungen wegen COVID-19 In Zeiten der COVID-19-Pandemie stellt sich die Frage, ob der Kontakt zwischen Anwalt und Mandant durch staatliche Maßnahmen reduziert werden kann. Allgemeinverfügungen und Verordnungen der Bundesländer regeln in der COVID-19-Pandemie die Zulässigkeit sozialer und geschäftlicher Kontakte. Einige Bundesländer nehmen für sich in Anspruch, auch Mandantenbesuche in Anwaltskanzleien limitieren zu dürfen. Erste Gerichtsentscheidungen halten solche Vorschriften für rechtens. Dabei verkennen sie die Reichweite rechtsstaatlicher Garantien. In einer Übersicht „Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen – Folgen für die Anwaltstätigkeit“ fasste der Deutsche AnwaltVerein den Regelungsstand zum 25.3.2020 zusammen.39 Die meisten Bundesländer hatten mit dem Kontakt von Anwalt zu Mandant zu diesem Zeitpunkt kein Problem. Für einzelne Bundesländer ergab sich indes insoweit eine Beschränkung, als Mandantenbesuche in der Kanzlei nur in „dringenden und unaufschiebbaren Fällen“ möglich sein sollten (Bayern), bei „dringendem und nachweislich erforderlichem Termin“ (Brandenburg, Saarland), „bei unaufschiebbaren Terminen“ (Sachsen), und ein Bundesland stellte auf die „Einhaltung des Mindestabstands“ ab (Bremen). Für Niedersachsen kam das Merkblatt zu der Einschätzung „Mandantenbesuch in Kanzlei wohl nicht möglich“, zitierte dann allerdings als „weiterhin zulässig“ unter anderem die Ausübung beruflicher Tätigkeiten, so etwa die Wahrnehmung der Aufgaben als Organ der Rechtspflege. Dazu wird bei Rechtsanwälten als gesetzlich durch § 1 BRAO anerkannten Organen der Rechtspflege auch der Empfang von Mandanten zählen, was spiegelbildlich die Befugnis der Mandanten, den Anwalt zu besuchen, voraussetzt. Im zweiten Lockdown seit Dezember 2020 wurde auch die Frage flächendeckender Ausgangssperren aufgeworfen.

39 Abrufbar unter https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/files/anwaltsblatt.de/Doku​ mente/2020/dav-uebersicht-beschraenkung-sozialer-kontakte.pdf. 133

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bb) Berlin: Rechtslage umkämpft Für Berlin liegen aus dem ersten Lockdown Gerichtsentscheidungen vor. Hier galt nach der SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung, dass Mandantenbesuche in Kanzleien nur bei dringend erforderlichem Termin möglich sein sollten. Das Vorliegen von Gründen, die das Verlassen der Wohnung erlaubten, war gegenüber der Polizei glaubhaft zu machen. Ein solcher Grund war insbesondere die Wahrnehmung dringend erforderlicher Termine bei Rechtsanwälten. Ein Rechtsanwalt, der vorwiegend im Asylrecht tätig ist, war hiergegen mit einer Normenkontrollklage beim Oberverwaltungsgericht und mit einem Eilantrag beim Verwaltungsgericht Berlin vorgegangen, jeweils erfolglos. Dem Antragsteller drohten, so das VG Berlin,40 keine schweren und unzumutbaren Nachteile. Seine potentiellen Mandanten müssten bei einer allenfalls im Einzelfall erfolgenden Kontrolle im Wesentlichen nur Ort und Zeit eines etwaigen Besprechungstermins in der Kanzlei glaubhaft machen; dies stelle schon keine erhebliche Hürde für die Inanspruchnahme und Erbringung anwaltlicher Hilfe dar. Im Übrigen sei die geringfügige Beeinträchtigung des Antragstellers in seiner Berufsausübungsfreiheit angesichts der überragend wichtigen Schutzgüter der Gesundheit und des Lebens gerechtfertigt und insbesondere nicht unverhältnismäßig. Das OVG Berlin-Brandenburg hat den Normenkontrollantrag ebenfalls bereits als unzulässig abgewiesen.41 Der Berliner Verordnungsgeber habe eine solche Überprüfung nicht vorgesehen (vgl. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO). cc) Information der BRAK Auf der Webseite der BRAK finden sich folgende „Informationen zu einer (möglichen) Ausgangssperre“:42 „Dürfen die Behörden meine Öffnungszeiten einschränken? Das erscheint nicht ausgeschlossen. Es bleibt abzuwarten, welche Anordnungen von den einzelnen Bundesländern bzw. Kommunen getroffen werden. Bitte halten Sie sich über solche Anordnungen an Ihrem Kanzleisitz auf dem Laufenden.“ 40 VG Berlin, Beschl. v. 2.4.2020 – VG 14 L 31.20. 41 OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 30.3.2020 – 11 S 13/20. 42 Angegeben ist als „Stand“ der 22.3.2020, die Seite ist aber auch noch im Januar 2021 abrufbar: https://brak.de/die-brak/coronavirus/faqausgangssperre.pdf. 134

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Und eine weitere Frage/Antwort: „Was passiert, wenn ich mich nicht an die Ausgangssperre halte? Ein Verstoß gegen die Ausgangssperren, so wie alle Anordnungen nach dem IfSG, können mit Bußgeldern und ggf. auch mit Geld- und Freiheitsstrafen geahndet werden“.

dd) Normen über den Umgang mit Anwälten In § 3 Abs. 3 BRAO findet sich eine sonderbare Norm. Während das Gesetz ansonsten allerorten Vorschriften enthält, die Rechtsanwälten Pflichten auferlegen und  – gelegentlich  – Rechte einräumen, geht es hier um die Rechte anderer Personen. Es heißt dort: „Jedermann hat im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften das Recht, sich in Rechtsangelegenheiten aller Art durch einen Rechtsanwalt seiner Wahl beraten und vor Gerichten, Schiedsgerichten oder Behörden vertreten zu lassen.“ Darin sehen einige Stimmen in der berufsrechtlichen Literatur eine Ausprägung des Art. 103 des Grundgesetzes, nämlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör.43 Die Idee dahinter: Die eigene Position im Rechtsstaat zu formulieren, ist ohne qualifizierten rechtlichen Beistand deutlich erschwert, oft und für viele Personen praktisch unmöglich. Andere verstehen den Anspruch auf Beiziehung eines Rechtsanwalts als essentiellen Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips und ordnen ihn Art. 20 GG zu. Wie auch immer der Anspruch auf anwaltliche Beratung verfassungsrechtlich angeknüpft wird, eines steht fest: Ohne Zugang zum Rechtsanwalt kann von Rechtsstaat und der Geltung und Durchsetzung von Rechten keine Rede sein. Dabei liegt es an dem Mandanten und dem jeweiligen Rechtsanwalt, auf welche Weise sie diesen Kontakt gestalten möchten. Es gibt Fälle, bei denen reicht ein Telefonat. Andere Konstellationen sind von so überragender Bedeutung, dass sich der Mandant nur im persönlichen Gespräch umfassend anvertrauen möchte. Diese Bedeutung ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar und sie ist auch nicht immer objektiv zu ermessen. Dennoch ist der Bedarf des Mandanten zu respektieren und eine anwaltliche Beratung kann auch nur zum richtigen Ergebnis führen, wenn die Vertrauensgrundlage eine rückhaltlose Offenbarung gestattet. Der Staat darf diesen Prozess weder reglementieren noch die Beteiligten zu einer Rechtfertigung ihres Kontaktbegehrens zwingen. Schon die Tatsache 43 Vgl. Kleine-Cosack, 8. Aufl. 2020, BRAO § 3 Rz. 7 f. 135

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einer Mandatierung als solche ist nach unumstrittener Ansicht44 von der anwaltlichen Schweigepflicht umfasst – und das nicht ohne Grund. Das gilt in allen Bundesländern gleichermaßen. Soweit einzelne Länder hier Einschränkungen vorsehen, treten sie den Rechtsstaat mit Füßen. Und das ist – entgegen dem Berliner Verwaltungsgericht – keineswegs eine Marginalie in der Berufsausübung einzelner Rechtsanwälte. ee) Zwischenfazit Die Funktion der Anwaltschaft als Garantin für den Zugang zum Recht wird immer wieder gepriesen. In normalen Zeiten ist das wohlfeil, der Zugang zu rechtlicher Beratung wird nicht in Frage gestellt. Unter den Umständen der COVID-19-Pandemie erscheint es auch der BRAK aber offenbar nicht weiter problematisch, wenn Bundesländer Regeln aufstellen, die dazu angetan sind, eine Inanspruchnahme persönlicher und vertraulicher Beratung zu beeinträchtigen oder gar zu unterbinden. Anstelle einer Verteidigung des Zuganges zu Anwälten tritt in den Verlautbarungen der schlichte Hinweis auf mögliche staatliche Sanktionen, wenn sich ein Anwalt gegen die Zugangssperre wendet. Dabei halten Zugangshürden zu Rechtsanwälten einer rechtsstaatlichen Betrachtung schon auf erstes Hinsehen nicht stand. Das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 GG bricht niederrangige Landesverordnungen. c) Rechtsanwälte und der Sozialstaat Das Diskussionspapier der BRAK aus dem Jahre 2010 ist nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass sich von offizieller Seite die Auffassung manifestiert, Rechtsanwälten obläge eine besondere sozialstaatliche Aufgabe. Aktuelle Beispiele mögen das belegen. Das vermehrte Auftreten von LegalTech-Unternehmen, die Freigabe ihrer Tätigkeit durch das „LexFox I“-Urteil des BGH45 und der daraufhin einsetzende Drang zahlloser neuer Anbieter auf den Rechtsberatungsmarkt haben zu einem neuen Höhepunkt der Diskussion über das geführt, was erlaubt werden und das, was verboten sein und bleiben soll. Dabei geht es um Themen wie erfolgsbezogene Vergütung, Abtretung von Ansprüchen an Rechtsdienstleister oder Prozessfinanzierung. Weniger die technischen As44 Vgl. nur Henssler/Prütting/Henssler, 5. Aufl. 2019, BRAO § 43a Rz. 45a. 45 BGH, VuR 2020, 62 m. Bespr. Römermann, VuR 2020, 43. 136

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pekte prägen – wie man vom Wortsinne her vermuten könnte – die Debatte als vielmehr Fragen, die das Geschäftsmodell betreffen. Hier treffen nicht nur Argumente aufeinander. Man ist versucht, von Weltanschauungen zu sprechen, die um den ideologischen Vortritt ringen und sich abwechselnd beim Gesetzgeber Gehör und Raum verschaffen. Exemplarisch dafür mag eine Presseerklärung der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) vom 7.12.2020 stehen.46 Unter der begleitenden Cha­ rakterisierung „BRAK: Scharfe Kritik am ‚Legal Tech-Gesetz‘“ wird dort getitelt: „Ziel des Verbraucherschutzes wird durch Erfolgshonorar und Prozessfinanzierung gefährdet“. Die einzelnen Aspekte, unter denen die BRAK im weiteren Text den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV)47 „nachdrücklich“ kritisierte, sollen hier nicht weiter interessieren. Vielmehr soll der argumentative Ansatz in das Blickfeld genommen werden, von dem die Stellungnahme ausgeht. Er kommt bereits in der Überschrift zum Ausdruck, wenn dort der „Verbraucherschutz“ hervorgehoben wird. Die Regelungen zu Prozessfinanzierung und Erfolgshonorar gefährdeten, so heißt es dort, die Unabhängigkeit der Anwaltschaft, bedingten Inte­ ressenskonflikte und stünden mit den Systemen der Kostenerstattung sowie der Beratungs- und Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilfe nicht im Einklang. Der Anwalt rücke in den gewerblichen Tätigkeitsbereich und würde zwangsläufig eigene wirtschaftliche Interessen mit dem Ausgang des Prozesses verknüpfen, was einen strukturellen Interessenskonflikt vorprogrammiere. Das Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant würde erheblich belastet. Dieses Vertrauensverhältnis und die Integrität des anwaltlichen Berufsstandes seien Werte, die nicht aufs Spiel gesetzt werden dürften. Die BRAK trete für eine uneingeschränkte Aufrechterhaltung und Einhaltung der Kernwerte der Anwaltschaft ein. Diese seien  – anders als bei nichtanwaltlichen Rechtsdienstleistern und Legal Tech-Anbietern  – ihre Markenzeichen. Und sie begründeten das in den Rechtsstaat und in die Anwaltschaft gesetzte Vertrauen, so BRAK-Präsident Ulrich Wessels. „An46 Abrufbar unter https://www.brak.de/fuer-journalisten/pressemitteilungen-­archiv/​ 2020/presseerklaerung-22-2020/. 47 Zu diesem Entwurf eingehend Römermann, AnwBl. Online 2020, 588, 604 ff. 137

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wälte sind unabhängig und verschwiegen. Das eint uns. Diese Einheit der Anwaltschaft darf jetzt nicht dadurch gefährdet werden, dass Teilgruppen zum Zwecke der Gewinnmaximierung die Unabhängigkeit dadurch gefährden, dass sie ihr Interesse über das der Mandanten stellen“, bekräftigte Wessels. „Genau diese Gefahr bringt der vorgelegte Entwurf aber mit sich. Last but not least verkennt der Gesetzgeber die Stellung der Anwaltschaft im Rechtsstaat. Denn Rechtsanwälte gewährleisten einen maßgeblichen Beitrag zur Sicherung des Zugangs zum Recht und haben für das Funktionieren unseres Rechtsstaates eine elementare Bedeutung. Zumal – und so schließt sich der Kreis – die anwaltlichen Berufspflichten gesetzlich verankerter Verbraucherschutz sind.“ Wider die Gewinnmaximierung von Anwälten, pro Verbraucherschutz. Soziale Aspekte sind es, die oft die Außendarstellung der Anwaltsinstitu­ tionen prägen. Dabei ist die aktuelle Diskussion über Erfolgshonorare und neue Geschäftsmodelle kein Einzelfall. Die jüngeren Äußerungen der BRAK reihen sich ein in eine lange Serie vergleichbarer Bemerkungen. Im Jahre 2003 wurde diskutiert, ob auch Angehörige der freien Berufe in das System der Gewerbesteuer einbezogen werden sollten. In ihrer Presseinformation vom 18.9.200348 sprach sich die BRAK dagegen aus. Nach Auffassung der Bundesrechtsanwaltskammer sei eine Gleichbehandlung der Dienstleistungen von Anwälten mit dem Angebot von Gewerbetreibenden nicht zu rechtfertigen, heißt es dort. Die BRAK wies darauf hin, dass die Anwaltschaft in erheblichem Maße pro bono Tätigkeit leiste. Sie berate und vertrete nach Schätzungen der BRAK jährlich in ca. 1 Mio. Fällen in Beratungshilfe- und in Prozesskostenhilfeverfahren. „Durch die Unterstützung der sozial Schwächeren nehmen wir erhebliche Einkommenseinbußen in Kauf und unterscheiden uns damit ganz maßgeblich von Gewerbetreibenden. Wir sind keine EDV-Berater und haben auch keine Geschäfte, in denen es Waren zu kaufen gibt. Wir beraten unsere Mandanten und verhelfen ihnen zu ihrem Recht. Deshalb sind wir wichtiger Bestandteil in unserem Rechts- und Sozialsystem“, erklärte der damalige Präsident der BRAK.

48 Abrufbar unter https://www.brak.de/fuer-journalisten/pressemitteilungen-archiv/​ 2003/presseinformation-22-2003/. 138

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In der Pressemitteilung der BRAK vom 25.1.200549 ging es ausweislich der Überschrift um die „Rechtsberatung von Geringverdienern – Anträge auf Beratungshilfe steigen/Anwaltschaft leistet erheblichen sozialen Beitrag“. Nach Angaben der BRAK wurden, so heißt es dort, „566.556 Anträge auf Beratungshilfe im Jahr 2003 durch Bürger mit geringen Einkommen gestellt. Nach der von der BRAK veröffentlichten Jahresstatistik für 2003 stieg damit die Anzahl der Anträge gegenüber dem Vorjahr 2002 von 499.067 um 13,52  %. Lediglich 2,92  % der gestellten Anträge würden zurückge­ wiesen. Beratungshilfe erhielten in Deutschland bedürftige Personen, die mit einem Berechtigungsschein des Amtsgerichts gegen eine Pauschale von 10 Euro anwaltliche Beratung einholen könnten. Der Staat übernehme einen geringen Anteil der weiteren Kosten für die anwaltliche Beratung. Durchschnittlich würden in 2003 ca. 62 Euro pro Beratungsschein erstattet. „Von 72 Euro können die Kosten einer Rechtsberatung in nur sehr wenigen Fällen abgedeckt werden. Die Zahlen zeigen, dass die Anwaltschaft in erheblichem Maße sozial bedürftigen Menschen Zugang zum Recht gewährt. Sie leistet deshalb einen wichtigen Beitrag für das Funktionieren der Sozialstrukturen in unserer Gesellschaft“,

erklärte der damalige Präsident der BRAK Bernhard Dombek. „Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind grundsätzlich zur Beratungshilfe verpflichtet. Damit unterscheiden sich Anwälte von anderen Berufen, die ausschließlich gewinnorientiert arbeiten. Anwälte sind Organe der Rechtspflege und füllen diese Funktion auch aus, wie die Zahlen belegen.“

Die BRAK steht mit dieser Einordnung durchaus nicht allein. Die ehemalige Richterin am Bundesverfassungsgericht Renate Jaeger charakterisiert die Anwaltschaft wie folgt:50 „Der Anwalt lebt vom Vertrauen des Mandanten und arbeitet mit einem Vertrauensvorschuss des Staates. Aber er übt keinen staatlich gebundenen Vertrauensberuf aus, der ihm eine auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete amtsähnliche Stellung zuweist. Der Begriff umschreibt gerade seine Staatsferne, seine Parteinahme und seine Kontrollbefugnis zu Gunsten des Mandanten. Er ist kein Einfallstor für Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit des Anwalts, mit einer Ausnahme: 49 Abrufbar unter https://www.brak.de/fuer-journalisten/pressemitteilungen-archiv/​ 2005/presseinformation-1-2005/. 50 Jaeger, NJW 2004, 1, 7. 139

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Die Anwälte werden herangezogen, um ihren Beitrag zum Sozialstaat zu leisten. Sie tragen Mitverantwortung für das Funktionieren der Rechtspflege insoweit, als sie die Vertretung und Beratung wirtschaftlich bedürftiger Menschen übernehmen, auch wenn die hierdurch ermöglichten Verdienste gering sind.“

Die Verdienste sind nicht nur gering, ist man versucht, aus der Praxis hinzuzufügen. Es sind praktisch keine Einnahmen mit derartigen Tätigkeiten, wie sie etwa durch Beratungs- und Prozesskostenhilfe finanziert werden, verbunden. Die Kosten der Anwälte hingegen laufen weiter, und das in voller Höhe. Mandate auf Beratungshilfebasis lassen sich bei wirtschaftlicher Vollkostenberechnung fast gar nicht kostendeckend wahrnehmen. Anwälte schießen hier Geld zu, sie finanzieren die Erfüllung der sozialstaatlichen Aufgabe. Ist aber die Förderung des Sozialstaates wirklich eine Aufgabe der Anwaltschaft? Woher stammt eigentlich der Ansatz, dass Anwälte eine soziale Aufgabe zu erfüllen hätten? So selbstverständlich, wie es heute erscheinen mag, ist die soziale Komponente der anwaltlichen Berufsausübung keineswegs. Rechtsanwälte werden in § 1 BRAO definiert als Organe der Rechtspflege. Das soll ihre Stellung im Rechtsstaat symbolisieren. Der Anwaltschaft eigen ist der Kampf um das Recht. Warum eigentlich, so darf, so muss sogar gefragt werden, sollen Anwälte die Last sozialstaatlicher Aufgaben schultern? Der Sozialstaat, auch einer der Grundpfeiler unserer Verfassung (Art. 20 GG), gewährleistet einen Mindeststandard an Lebensumständen auch solchen Personen, die nicht in der Lage sind, dies aus eigener Kraft zu finanzieren. Zu diesem Standard gehört neben dem, was zum physischen Überleben benötigt wird, neben Wasser und Brot, Wänden, dem Dach über dem Kopf, Transport und – nach heutigem Verständnis – deutlich mehr als eine der Essentialia die Möglichkeit, zu seinem Recht zu kommen. Der Staat stellt in Gestalt von Beratungs- und Prozesskostenhilfe Geld zur Verfügung, um sich auch anwaltlicher Hilfe versichern zu können. Indes zahlt der Staat die Anwälte nicht so, wie er es im Übrigen in seiner Gebührentabelle als angemessen definiert. Der Staat als derjenige, der für seine Bürger Leistungen bei Rechtsanwälten einkauft, erlaubt sich, dafür Preise zu diktieren, die er selbst in anderem Zusammenhang als inadäquat niedrig einstuft. So niedrig, dass er die Qualität der Rechtsdienstleistung als gefährdet ansieht, wenn die Honorartabelle unterschritten wird. 140

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Anwälten ist es nach § 49b Abs. 1 BRAO in förmlichen Gerichtsverfahren untersagt, geringere als die gesetzlichen Gebühren zu verlangen. Dieses Verbot wird mit der Qualitätssicherung begründet. Noch im Gesetzentwurf zu dem „LegalTech-Gesetz“ wird das ausführlich dargestellt:51 Das Verbot der Unterschreitung der gesetzlichen Gebühren und Auslagen in § 49b Absatz 1 BRAO solle grundsätzlich aufrechterhalten bleiben. „Dies ist zum Schutz der Unabhängigkeit und Integrität der Rechtspflege durch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte erforderlich. … Das Verbot sichert somit auch eine angemessene Gesamtvergütung der Anwaltschaft. Zugleich ist das Unterschreitungsverbot erforderlich, um dem Risiko eines Verfalls der hohen Qualität der von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten erbrachten Rechtsdienstleistungen vorzubeugen.“ Nimmt man beide Erwägungen zusammen, so muss offen bleiben, ob der Gesetzgeber im Anwendungsbereich von Beratungs- und Prozesskostenhilfe einen Qualitätsabfall und das Herabsinken der Gesamtvergütung ­unter ein angemessenes Niveau einfach in Kauf nimmt oder ob er – umgekehrt  – seine eigenen Argumente im Zusammenhang mit der Reform­ diskussion gar nicht so überzeugend findet, wie er es dort darzustellen versucht. Die „Unabhängigkeit“ und die „Integrität“ werden auch hier wieder als politische Floskeln eingesetzt, ohne dass sich damit ein sinnvoller Inhalt verbinden ließe. Sicher dürfte nach alledem feststehen, dass die Vergütung für derartige soziale Aufgaben der Anwaltschaft unangemessen niedrig ausfällt. Zugleich verpflichtet der Gesetzgeber die Anwaltschaft dazu, diese Aufgaben zu übernehmen. Jede Weigerung wäre ein Berufsrechtsverstoß, §§  48, 49a BRAO. Anwälte werden damit in besonderer Weise in die Pflicht genommen. Keinem Bauunternehmer wird eine Pflicht auferlegt, Häuser für Bedürftige billiger, womöglich unter Selbstkosten, zu bauen. Kein Bäcker muss bedürftigen Personen die Brötchen zu niedrigeren Preisen anbieten. Kein Einzelhändler ist gezwungen, seine Waren zu staatlich aufoktroyierten, unzureichenden Preisen abzugeben. Nur Anwälten wird es zugemutet, Aufgaben des Staates mit zu finanzieren, indem sie zu Arbeit gezwungen werden,

51 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt, S. 18. 141

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Volker Römermann

die nicht angemessen vergütet wird. Das ist ein verfassungswidriges Sonderopfer.52 d) Zwischenfazit Rechtsanwälte sichern den Zugang zum Recht. Das ist ihre ureigene Aufgabe. Notfalls müssen sie unter Aufbietung all’ ihrer argumentativen Kraft dafür kämpfen, auch gegen staatliche Institutionen. Rechtsanwälten ist es aber nicht zuzumuten, das auf eigene Kosten zu tun. Soweit der Staat dafür eintreten muss, den Kampf um das Recht finanziell zu ermöglichen, darf er diese ureigene sozialstaatliche Aufgabe nicht der Anwaltschaft überwälzen. Die derzeitige Gesetzeslage erweist sich als verfassungswidrig. Keinesfalls kann es einen „Wert“ darstellen, dass sich die Anwaltschaft in die verfassungswidrige Situation fügt. Auch und gerade in schwierigen Zeiten ist es notwendig, sich für den Erhalt unbeschränkten Zugangs zu rechtlichem Beistand einzusetzen. Dieser Aufgabe wird die Repräsentation der deutschen Anwaltskammern im Zeitalter von COVID-19 nicht hinreichend gerecht. 7. Menschlichkeit Das BRAK-Diskussionspapier nennt als Wert die Menschlichkeit „mit der Bereitschaft zur Folgenverantwortung, Fairness, Höflichkeit und Kollegialität“. Einschlägige Normen fehlen. Der Kanon von „Werten“, der sich im BRAK-­ Diskussionspapier wiederfindet, zerfasert. Höflichkeit, wer wollte sich dagegen stemmen? Fairness, Kollegialität – alles bis zur Beliebigkeit konturenlose Begriffe, die angenehm klingen, aber eines konkreten Inhalts weitgehend entbehren. Folgenverantwortung hat jedermann für seine Taten und sein Unterlassen zu tragen. Auf eine Bereitschaft kommt es nicht an. Weder handelt es sich hier um ein Spezifikum der Anwaltschaft noch ist ein berufsrechtlicher Kontext ersichtlich.

52 Wolfgang Hartung/Volker Römermann, ZRP 2003, 149. 142

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8. Integrität Als letzten Wert in einer längeren Aufzählung führt das BRAK-Diskus­ sionspapier „die Integrität innerhalb und außerhalb des Berufs, zu der die Rechtschaffenheit gehört“, an. Integrität ist einer der Begriffe, mit denen im Zusammenhang mit aktu­ ellen Reformfragen des Öfteren operiert wurde.53 Dort ist von der Gefahr einer „Übervorteilung“ der Mandanten durch Rechtsanwälte die Rede. Vor diesem Hintergrund müssen Rechtsanwälten, so will es der Gesetzgeber und folgt dabei einem Ansinnen nicht zuletzt der BRAK, Ketten an­ gelegt werden. Rechtsdienstleister, die auf Grundlage einer schlichten ­Inkassolizenz tätig werden, werden derartigen Beschränkungen kaum unterworfen. Was der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang unter einer Übervorteilung konkret versteht, bleibt diffus. Mandanten werden in der Regel mit rechtlichen Gegebenheiten nicht vertraut sein. Ob ihnen aber die Dienstleistung einen bestimmten Preis wert ist, dazu haben sie typischerweise eine Einschätzung. Der Nachfrager des Jahres 2021 ist informiert und relativ verhandlungsstark. Er ist kritisch und hat seine Ehrfurcht vor Honoratioren insbesondere im juristischen oder medizinischen Bereich längst verloren. Er weiß, welche Risiken er eingehen und was er investieren möchte, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Will der Gesetzgeber der Anwaltschaft nun pauschal eine Neigung zu betrügerischem Vorgehen unterstellen? Will er andeuten, das Verbot der Unterschreitung bestimmter Honorarsätze sei geboten, damit der Mandant nicht zu viel zu zahlen habe? Das wäre schon auf den ersten Blick widersinnig. Vielleicht sollte man gar nicht versuchen, einen tieferen Sinn zu entdecken, wenn es womöglich eher darum geht, mit abschreckender Begrifflichkeit Reformdiskussionen zu unterdrücken. Als Zwischenfazit ist festzuhalten: Zweifel an der Integrität der Anwaltschaft sind nicht veranlasst. Die Anwaltschaft bedarf keiner spezifischen Verbote, um sie dazu zu ermahnen. Soweit die Integrität lediglich als politische Formel eingesetzt wird, um den Status quo zu bewahren und gegen die Marktentwicklung zu behaupten, sollte darauf im wohlverstandenen

53 Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt, S. 15, 16, 18, 34, 35. 143

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Volker Römermann

Interesse der Anwaltschaft, aber auch der Rechtspflege insgesamt verzichtet werden.

III. Ergebnis Core Values durchziehen alle Debatten, die um den Status und die Fortentwicklung des Anwaltsberufes geführt werden. Nicht die Befürworter von Veränderungen, sondern durchweg diejenigen berufen sich auf sie, die den Status Quo gutheißen. Auch in den aktuellen Reformdiskussionen kommt den Werten eine überragende Bedeutung zu. Wer sich genauer mit diesen Werten beschäftigt, dem bietet sich ein grausiges Bild. Unbestimmt ist der Begriff, offen der Kanon an Tatbeständen, die darunter gefasst werden. Mal ist der Oberbegriff ganz präzise formuliert und erweisen sich doch die Anwendungsfälle bei näherem Hinsehen als diffus – so etwa das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen. Mal steht schon bei erster Betrachtung fest, dass ein konkreter Inhalt nicht fassbar sein wird – so etwa die Sachlichkeit. Mal ist die verfassungsrechtliche Problematik durchaus bekannt und doch klammern sich einige Stimmen an eine scheinbare Möglichkeit, Pflichten zu begründen – so etwa die Gewissenhaftigkeit. In einigen Fällen zeigt eine konkrete Analyse, dass ein hehrer Anspruch immer dann, wenn es konkret wird, zu Staub zerfällt – so etwa die Unabhängigkeit. In anderen hat der Zeitgeist gewütet und zerklüftete Normen mit technischen Teilaspekten blieben ungeordnet zurück – so etwa die Verschwiegenheit. Und dann gibt es noch Fälle, da wird als Wert etikettiert, was doch ein schierer Allgemeinplatz ist  – so etwa die Menschlichkeit. Schließlich wird unter dem Deckmantel des Wertes der Anwaltschaft auch noch das Joch sozialstaatlicher Aufgaben auferlegt, obwohl die Rechtsanwälte mit dem Rechtsstaat zu tun haben, aber doch keine soziale Funktion erfüllen. An fast allen Stellen erweist sich, dass die Core Values eher als Monstranz zu dienen haben, als dass man ihnen ehrlich verbunden wäre. Anders wäre der desaströse Zustand nicht erklärbar, in dem sich zugehörige Normen, soweit es überhaupt welche gibt, befinden. Nicht etwa die ersten Paragraphen der Bundesrechtsanwaltsordnung bilden den Ort, wo Grundwerte statuiert sind. Sieht man von der knappen Erwähnung einer Unabhängig144

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Anwaltliche Core Values: Eine Abrechnung

keit in § 1 BRAO ab, so findet sich die nächste Begegnung mit den Core Values in § 43a BRAO, einer nachträglich in das Gesetz gezwängten Vorschrift mit einer lieblosen Aneinanderreihung von Begriffen, durch spätere Hinzufügungen und Modifikationen hypertroph oder verstümmelt, ohne Struktur, ohne Erscheinungsbild. Das also soll es sein, was den Beruf ausmacht? Diese hohlen Phrasen, politischen Kampfbegriffe, dieser Hemmschuh einer zukunftsgewandten Entwicklung des anwaltlichen Berufsrechts sind die Basis, auf welcher der Stolz der Berufsrepräsentanten ruht? Einhundertneunzig Jahre nach Gründung des Rechtsanwalts- und Notarvereins Hannover ist der Zeitpunkt gekommen, sich die Zeit und die Muße zu gönnen, die Werte der Anwaltschaft gründlich und mit Sorgfalt zu reflektieren. Entweder wird sich dabei erweisen, dass ihnen heute ein Sinn und Inhalt zukommt, der dann in Worte und Struktur zu gießen und künftig aufrichtig in Ehren zu halten wäre, denn die Zukunft der Anwaltschaft würde darauf gegründet. Oder es bleibt beim bitteren Befund, dass nicht mehr daraus wird als das, was sich dem heutigen Betrachter darbietet. Dann wäre die konsequente Lösung, sie offiziell zu Grabe zu tragen und die BRAO und die Berufsordnung von nutzlosen Bestimmungen zu reinigen. In Sonntagsreden wäre so der Platz geschaffen für das, was wirklich relevant ist: Die Neuorientierung der Anwaltschaft im Zeitalter der Digitalisierung und der neuen, den Mandanten zugewandten Geschäftsmodelle. Die Sicherung der Zukunft des Berufes, ohne den ein Rechtsstaat nicht existiert.

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Die Gründung des Advokatenvereins zu Hannover, ein Schritt auf dem Weg vom Stand zur Profession Ulrich Stobbe Ich glaube auch, dass über diejenigen, welche nichts von der Vergangenheit wissen wollen, sehr bald auch die Zukunft den Stab brechen werde. Jacob Grimm1

I. Vorbemerkung II. Die Jahrhundertseuche III. Der Untergang des Kurstaates und seine Wiedergeburt als Königreich 1. Wiederaufbau von Staat und ­Verwaltung 2. Liberalismus und Restauration im Welfenstaat 3. Kultur 4. Wirtschaft, Bevölkerung, ­Anwaltsdichte a) Agrarland b) Langsamer Wandel zum ­Industrieland c) Geringe Nachfrage nach ­anwaltlichen Dienstleistungen

5. Niedergang der Advokatur 6. Auswege aus der Misere IV. Die Aufstände im Januar 1831 V. Advokaten mit politischer ­Karriere 1. Gottliebe Wilhelm Freudentheil 2. Johann Carl Bertram Stüve 3. Johann Hermann Detmold VI. Aufbruch hannoverscher ­Advokaten 1. Gründung des Advokatenvereins 2. Wirkung des Vereins 3. Organisationsgrad und Versinken in Passivität VII. Schlussbemerkung

1 Aus der Paulskirchenrede Jacob Grimms, eines der Göttinger Sieben, am 28.5.1848, zitiert nach Burkhardt, Jacob Grimm als Politiker, in Burkhardt  & Cherubim, Sprache im Leben der Zeit, Tübingen 2001, S. 461. 147

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Ulrich Stobbe

I. Vorbemerkung Die Geschichte der Rechtsanwälte vom staatlich zugelassenen und staat­ licher Disziplinaraufsicht unterliegenden Advokaten zum freien, sich selbst  verwaltenden Beruf und unabhängigen Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO)2 ist verwoben mit der Geschichte der Rechtsanwaltsvereine. Einschlägige Literatur darüber gibt es reichlich.3 Auch die Gründung des Hannoverschen Advokatenvereins und seine Entwicklung bis in die jüngste Zeit sind hinreichend beschrieben.4 Mein Anliegen ist, die Gründung des Vereins, seines Zwecks und seiner Wirkung im politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext der Zeit aus anwaltlichem Blickwinkel darzustellen. Die Gründung des Advokatenvereins zu Hannover am 1.7.1831 fiel in eine unbeständige Zeit, eine Zeit voller Ängste, Nöte und Entbehrungen, eine Zeit des äußeren Friedens und inneren Unfriedens, des Aufbruchs und Verharrens, des Freiheitsstrebens und der Unterdrückung; es war die Epoche, die Biedermeier und Vormärz zugleich war und die von deren Gegensätzlichkeit geprägt war.

2 Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patent­ anwälte v. 2.9.1994, BGBl. I S. 2278. 3 Busse, Deutsche Rechtsanwälte, Geschichte der deutschen Anwaltschaft 1945– 2009, Berlin 2010; DAV, Anwälte und ihre Geschichte, Tübingen 2011; Freudentheil, Zur Geschichte des Advokatenstandes des Königreichs Hannover bis zum Jahre 1837; Göhmann, 150  Jahre Advokaten- und Rechtsanwaltsverein Hannover (1831–1981), Festschrift zur 150-Jahr-Feier des RAV Hannover, Hannover 1981; Klein, Auf dem Wege zu einer freien Anwaltschaft – Die Entstehung der Rechtsanwaltsvereine am Beispiel des Advokatenvereins zu Hannover, Journal der Juristischen Zeitgeschichte (JoJZG) 2010, Heft 1, S. 16 ff.; Kroeschell, Geschichte der Advokatur in den welfischen Landen, Sonderdruck RAK Celle 1973; Ostler, Der Deutsche Rechtsanwalt 1871–1971, Essen 1971; Roscher, Gerichtsverfassung und Anwaltschaft im einstmaligen Kurstaat und Königreich Hannover, Festschrift zum 17. DAT, Hannover 1905; Siegrist, Advokat, Bürger  und Staat, Frankfurt 1996; Siemens., Über die Mängel in unserer heutigen  Rechtspflege und die Mittel, derselben abzuhelfen unter besonderer Berücksichtigung des Königreichs Hannover, 1832; Weissler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, Leipzig 1905, unveränderter Nachdruck Frankfurt 1967. 4 Freudentheil, s. Fn. 3; Göhmann, s. Fn. 3.; Klein, s. Fn. 3. 148

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Die Gründung des Advokatenvereins zu Hannover

II. Die Jahrhundertseuche Jenseits der Grenzen des Königreichs Hannover zog eine lebensbedrohende Gefahr auf. In den ersten Junitagen des Jahres 1831 hatte die Asiatische Cholera aus Indien kommend über Russland und Polen die Stadt Danzig erreicht und sich von dort unvorstellbar schnell in Preußen verbreitet. Wenig später wütete sie in ganz Deutschland und ein Dreivierteljahr darauf in Paris, London und New York. Sie wurde neben der Tuberkulose, die vor allem in den im Zuge der Industrialisierung an den Stadträndern wachsenden Elendsvierteln ihre unter dem Namen Schwindsucht altbekannte tödliche Wirkung entfaltete, zur Jahrhundertseuche, die unzählige Menschen jämmerlich dahinraffte. Weltweit fielen ihr Hunderttausende zum Opfer. Allein in Preußen erlagen 41.000 Menschen der Seuche.5 Auf die Seuche war das Königreich Hannover nicht vorbereitet und medizinisch nicht dafür gerüstet. Erreger und Infektionsweg waren unbekannt. Den Erreger entdeckte der Italiener F. Pacini 1854, seine Entdeckung fand jedoch kaum Beachtung.6 Erst 1883/84 gelang es Robert Koch, den Erreger zu isolieren und den Infektionsweg zu beschreiben.7 Bis dahin waren die Schutzmaßnahmen der Behörden, Quarantäne, Sperrung von Häfen, Grenzkontrollen und -sperren, Absperrung von Gebäuden oder Bezirken, Beschlagnahme, Kontrolle, Handelsbeschränkungen, Reinigung und Lüftung von Kirchen und Schulen, Alkoholverbot, Chlorkalkstreuung usw., nicht mehr als mit der Hoffnung auf Erfolg verbundene Versuche, das Eindringen der Seuche zu verhindern und, als dies misslang, ihre Ausbreitung einzudämmen. Das gesellschaftliche Leben verödete. Heinrich Heine, seit Dezember 1831 Paris-Korrespondent der in Augsburg erscheinenden Allgemeinen Zeitung, berichtete im Mai 1832 aus dem schwer betroffenen Paris: „Eine Totenstille herrscht in ganz Paris. Ein steinerner Ernst liegt auf allen Gesichtern. Mehrere Abende lang sah man sogar auf den Boulevards wenig Menschen, und diese eilten einander schnell vorüber, die Hand oder ein Tuch vor dem Munde. Die Theater sind wie ausgestorben.“8 5 Eberhard-Metzger, Ries, Verkannt und heimtückisch – Die ungebrochene Macht der Seuchen, Basel 1996, S. 110. 6 Eberhard-Metzger, Ries, a.a.O., S. 118. 7 Ebenda. 8 Heine, Ich rede von der Cholera, hrsg. v. Jung, Hamburg 2020, S. 38 f. 149

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Die deshalb auch „Seuche der Armen“ genannte Epidemie wütete vor allem unter der verarmten, in Elendsvierteln hausenden Bevölkerung, aber nicht nur. Gneisenau z.B. erlag in Posen am 23.8.1831, Clausewitz in Breslau am 16.11.1831 und Hegel in Berlin am 14.11.1831 der heimtückischen Seuche. Gleichwohl vertiefte sich die Spaltung zwischen dem betuchten Bürgertum und der armen, Not leidenden Bevölkerung. H. Heine schrieb: „Das Volk murrte bitter, als es sah, wie die Reichen flohen und bepackt mit Ärzten und Apotheken sich nach gesünderen Gegenden retteten. Mit Unmut sah der Arme, dass das Geld auch ein Schutzmittel gegen den Tod geworden.“9

Ein wahnhaftes Gerücht kam in der armen Bevölkerung auf und hielt sich hartnäckig. Die Seuche gäbe es in Wahrheit nicht, sie sei eine Erfindung der Reichen und Regierenden. Die Toten seien Opfer heimtückischer Gift­ anschläge. Wohlhabende Menschen, Polizei oder Regierungen wurden verdächtigt, die Seuche erfunden zu haben, um das ihnen lästige Problem der Massenarmut zu reduzieren. Ärzte würden Gift verabreichen und erhielten für jeden Toten ein Kopfgeld.10 Es kam vereinzelt zu Aufruhr und Gewalt­ ausbrüchen. Am 28. Juli stürmte in Königsberg eine aufgebrachte Menge das Polizeirevier in der Annahme, dort das Cholera-Gift zu finden.11 Nach Heines Berichten soll in Paris ein blindwütiger Mob sechs Menschen als Giftmischer verdächtigt und auf offener Straße brutal erschlagen haben.12 Im Königreich Hannover ging es entspannter zu. Die Landdrosteien zu ­Aurich, Hannover, Lüneburg und Stade trafen seit dem 10.6.1831 Maß­ nahmen gegen das Eindringen der Seuche, indem sie z.B. Schiffen aus ­russischen, litauischen oder preußischen Ostseehäfen das Einlaufen oder Anlanden strikt untersagten13 oder Personen, „welche aus Gegenden, wo notorisch Cholera herrscht oder kürzlich geherrscht hat,“ die Einreise verboten, „wenn sie nicht mit gehörig dokumentierten Gesundheits-Attesten

9 Heine, a.a.O., S. 40. 10 Eberhard-Metzger u. Ries, a.a.O., S. 106 f. 11 Ebenda S. 100. 12 Heine, a.a.O., S. 35. 13 Bekanntmachungen der Landdrostei Aurich v. 11.6.1831 und der Landdrostei Stade v. 30.6.1831, Sammlung der Gesetze, Verordnungen und Ausschreiben f. d. Königreich Hannover 1831, (Gesetzes-Sammlung) III. Abt., S. 127 f. und 142 f. 150

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der betreffenden Staaten versehen sind.“14 Da sie das Eindringen der Seuche nicht verhindern konnten, trafen die Drosteien 1831 in kurzer Folge Anordnungen, die die Ausbreitung der Seuche eindämmen sollten. Durch königliche Verordnung vom 14.9.1831 stellte die Regierung „die Übertretung oder Nichtbefolgung der zur Abwendung der Cholera erlassenen Vorschriften“ unter z. T. drakonische Strafen, die von Karren- und Zuchthausstrafen bis zu 10 Jahren, in schwersten Fällen bis zur Todesstrafe reichten. „Medizinal-Personen“, die den Behörden „ihre Unterstützung und den Kranken ihren Beistand“ entzogen „oder sich darin säumig und nachlässig finden“ ließen, drohte der endgültige Entzug der Befugnis zur Berufs­ ausübung.15 Die von P. J. A. von Feuerbach schon vor einem halben Jahrhundert erhobene Forderung nach präzisester Beschreibung der Straftatbestände war dem Verfasser der Verordnung nicht bekannt oder nicht beachtenswert. Offenbar gelang es den hannoverschen Behörden, die Ausbreitung der Seuche einzudämmen und kontrollieren zu können. Jedenfalls wurden durch königliche Verordnung vom 27.6.1832 alle bisherigen Anordnungen aufgehoben und „die Obrigkeiten“ verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, falls es erneut zu Choleraausbrüchen kommen sollte, insbesondere sollten sie die Armen mit „angemessener Kleidung und Nahrung“ versehen und dafür sorgen, „daß sie keinen Mangel leiden.“16 Die Residenzstadt hatte in allen Stadtteilen Notapotheken eingerichtet, die die Einwohner auf Kosten der Stadt mit Medikamenten versorgen sollten. Davon machten die Einwohner nach den Kostenaufstellungen der Stadt nur spärlich Gebrauch.17 Auch das deutet, sieht man davon ab, dass es ohnehin kein taugliches Medikament gegen die Seuche gab, darauf hin, dass die Stadt von der Seuche weitgehend verschont blieb. Ein Versammlungsverbot gab es nicht. Deshalb konnten sich am 1.7.1831 sechszehn hannoversche Advokaten versammeln, um einen Verein zu gründen, der aus Advokaten bestehen und deren Belange wahrnehmen sollte.

14 Bekanntmachungen der Landdrosteien Aurich und Stade v. 11. und 30.6.1831, Gesetzes-Sammlung 1831, III. Abt. S. 127 und 142 f. 15 §§ 2 u. 9 der VO, Gesetzes-Sammlung 1831, I. Abt., S. 157. 16 Gesetzes-Sammlung 1832, I. Abt. S., 75 ff. 17 Kostenaufstellungen der Stadt aus den Jahren 1831 und 32 im Stadtarchiv Hannover. 151

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III. Der Untergang des Kurstaates und seine Wiedergeburt als Königreich Im Juli 1831 waren die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der napoleonischen Kriege und Besatzungszeit noch nicht überwunden. Drei aufeinander folgende Missernten in den Dürrejahren 1816 bis 1818 beeinträchtigten die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung und hemmten die wirtschaftliche Erholung des Landes. Der Friede, den das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland mit Frankreich am 25. und 27.3.1802 im nordfranzösischen Amiens zur Beendigung des 2. Koalitionskrieges geschlossen hatten, hielt nur ein gutes Jahr. Bereits im Mai 1803 erklärte das Vereinigte Königreich erneut Frankreich den Krieg. Die britische Regierung war überzeugt, dass die Beendigung des 2. Koalitionskrieges nicht von Dauer sein werde, weil Napoleon sich nicht mit dem begnügen werde, was er mit den Friedensschlüssen von Lunéville im Februar 1802 und Amiens erreicht hatte. Das Kurfürstentum Hannover geriet dadurch in höchste Gefahr. Da es in Personalunion mit Großbritannien verbunden war, sah Napoleon in ihm dessen Achillesferse auf dem Kontingent und drohte deshalb dem Vereinigten Königreich für den Kriegsfall die Okkupation des Kurfürstentums an. Beeindrucken konnte er die britische Regierung damit nicht, denn Wohl und Wehe des Kurfürstentums waren auf der Agenda der britischen Politik von nach­ rangiger Bedeutung.18 Alsbald nach der Kriegserklärung, in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai, überschritt die französische Armee die Grenzen des Kurfürstentums.19 Die Regierung floh, die Armee ergab sich kampflos, zog sich hinter das rechte Elbufer in das Herzogtum Lauenburg zurück und wurde wenig später aufgelöst. Doch es sollte noch fataler kommen. Nach einem kurzen Zwischenspiel preußischer Besetzung, das mit Preußens vernichtender Niederlage bei Jena und Auerstedt am 14.10.1806 endete, und nach Verhängung der Kontinentalsperre gegen das Vereinigte Königreich im Dezember 1806, besetzte Napoleon das Kurfürstentum abermals und beseitigte es nunmehr. Den kleineren südlichen Teil gliederte er in das von 18 J. C. B Stüve nannte das doppelte Kabinett in London und Hannover „eines der größten Übel“ für das Land, zitiert nach Stüve, J. C. B. Stüve nach Briefen und persönlichen Erinnerungen, Hannover u. Leipzig 1900, S. 132; Roscher, a.a.O., Fn. 3, S. 27 nennt die Personalunion ein Verhängnis für das Land. 19 Bertram, Das Königreich Hannover, Hannover 2003, S. 25, Aufruf des Generals E. Mortier v. 28.5.1803. 152

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ihm 1807 geschaffene Königreich Westphalen ein, das sein Bruder Jérome als Satrap von Kassel aus regierte. Der verbliebene nördliche Teil wurde zusammen mit Hamburg und dem preußischen Ostfriesland, aufgeteilt in  die Departments Elbe-Mündung, Wesermündung und Oberems, dem französischen Kaiserreich einverleibt. Das Kurfürstentum verschwand von der politischen Landkarte. Verfassung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit wurden nach französischem Vorbild umgestaltet, der Code Napoléon trat an die Stelle bis dahin geltenden gemeinen Rechts. Für die Bevölkerung, die bereits durch die vorangegangene Kriegszeit erschöpft war, wurde die Fremdherrschaft zur erdrückenden Last. In dem zum Königreich Westphalen gehörenden Teil wurde „das Privatvermögen nach und nach in den Alles verschlingenden Staatsschatz gezogen“.20 Der nördliche, der französischen Zentralregierung unterstellte Teil, stand zunächst besser da, wurde jedoch 1813 im Zuge des Zurückweichens der französischen und des Vordringens der alliierten Truppen „durch täglich erneuerte, mit der größten Härte ausgeschriebene und mit empörender Willkür verteilte Requisitionen von Korn, Vieh, Pferden und Geld ganz entblößt.“21 Mit der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 endete die Fremdherrschaft. Das Kurfürstentum kehrte anders als das 1806 untergegangene Heilige Römische Reich Deutscher Nation in das politische Leben zurück. Während Kaiser Franz II. am 6.8.1806 die Reichskrone niedergelegt und das Reich für aufgelöst erklärt hatte, hielten die in London residierenden hannoverschen Kurfürsten ihren Anspruch auf das Kurfürstentum aufrecht, und selbst in den trübsten Zeiten blieb im Volk die Zuversicht erhalten, das Land werde am Ende seinem angestammten Regenten wieder zufallen.22 Die Kurwürde war allerdings obsolet geworden. Nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation gab es keinen Kaiser mehr zu küren. Auf dem Wiener Kongress ließ der Kurfürst am 12.10.1814 erklären, das Kurfürstentum habe beschlossen, den Rang eines Königreiches anzunehmen.

20 Rehberg, Zur Geschichte des Königreichs Hannover in den ersten Jahren nach der Befreiung von der Westfälischen und Französischen Herrschaft, Göttingen 1826, S. 36. 21 Rehberg, a.a.O., S. 36–38. 22 Rehberg, a.a.O., S. 6. 153

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1. Wiederaufbau von Staat und Verwaltung Über den Neuaufbau der Verwaltung und Verfassung des Königreichs wurde in London entschieden. Zuständig war die Deutsche Kanzlei und deren Chef Ernst Friedrich Herbert Graf von Münster (1766–1839). Er allein hatte das unmittelbare Vortragsrecht bei Georg III., König des Vereinigten Königreichs und nunmehr auch König von Hannover, bzw. dem Prince of ­Wales, der für den unheilbar kranken Monarchen die Regierungsgeschäfte führte, und genoss deren Vertrauen. Das verschaffte ihm den Vorrang vor seinen Regierungskollegen in Hannover. Seine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit war jedoch beschränkt. Er bedurfte der Genehmigung bzw. der Weisung seines Fürsten. Georg III. war als König des Vereinigten Königreichs Monarch in einer konstitutionellen Monarchie als König von Hannover jedoch ein absolutistischer Herrscher. Der Wiederaufbau des ehemaligen Kurfürstentums sollte daran nach den Vorstellungen des konservativen Prinzregenten nichts ändern. Graf Münster war dagegen liberalen Reformvorstellungen gegenüber aufgeschlossen. Dass im Unterhaus des britischen Parlaments die reformfreudige Whig-Partei die Mehrheit erlangt und die reaktionären Torys von der Macht verdrängt hatte, mag dazu beigetragen haben. Münster stammte wie der Freiherr vom und zum Stein aus einem alten reichsunmittelbaren westfälischen Adelsgeschlecht, studierte Jura in Göttingen und machte dort die Bekanntschaft dreier englischer Prinzen, die seiner späteren beruflichen Karriere zu Gute kommen sollte.23 1784 trat er in den hannoverschen Staatsdienst ein. Nach diplomatischen Einsätzen ernannte Georg III. ihn 1805 zum Kabinettsminister und zum Chef der Deutschen Kanzlei. Mit dem Freiherrn vom und zum Stein verband ihn ein auf beiderseitigem Respekt und wechselseitigem Vertrauen beruhender reger Meinungsaustausch. Steins liberalem Reformkonzept vermochte er jedoch nur in den Grenzen zu folgen, die ihm die auf Restauration bedachte Einstellung des Prinzregenten in London und das Bestreben der in der Besatzungszeit entmachteten Adelsfamilien im ehemaligen Kurfürstentum setzten, die ihre Vormachtstellung im Lande zurückzugewinnen trachteten. Als er im Dezember 1813 nach Hannover kam, war er jedenfalls entschlossen, die Verwaltung des Landes zu modernisieren und den Einfluss der vom landbesitzenden Adel beherrschten Provinziallandtage, denen ihre 23 V. Hassel, Geschichte des Königreichs Hannover 1813 bis 1848, Bremen 1898, Nachdruck Hansebooks, S. 121. 154

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partikularen Interessen wichtiger waren als das Wohl des Staates,24 durch ein repräsentatives Verfassungsorgan einzuschränken. Im Geheimen Kanzleisekretär August Wilhelm Rehberg fand er einen gleichgesinnten Mit­ streiter. Rehberg avancierte zum Geheimen Kabinettsrat und gewann beherrschenden Einfluss auf die hannoverschen Regierungsgeschäfte. Seine progressiven verfassungsrechtlichen Pläne ließen ihn für den auf seine angestammten Rechte pochenden hannoverschen Adel zum meist gehassten Mann im Lande werden. Wortführer der adligen Opposition war pikanterweise ein Neffe des Grafen Münster, der Freiherr Georg von Schele. Rehberg setzte jedoch seine Pläne durch. Auf seiner Arbeit beruhte das Rescript des Prinzregenten vom 12.8.1814, mit dem u.a. verfügt wurde: „Die vorerwähnten Zeitumstände, und selbst die Ungewißheit über die Ausdehnung der Landesgränze, lassen es nicht zu, schon jetzt eine endliche Bestimmung über die Art der Concurrenz zu dieser allgemeinen Versammlung eintreten zu lassen. Wir wollen daher für dieses Mal festsetzen, daß auf einem am fünfzehnten Dezember dieses Jahres zu Hannover zu haltenden allgemeinen Landtag sämmtliche Stände aller zum Churfürstenthum nunmehr gehörenden Staaten sich durch Deputirte, nach der anliegenden Liste, versammeln, und erwarten, dass diese Deputirte, mit hinlänglichen Vollmachten ihrer Committenten versehen, erscheinen, um über die zur Frage kommenden Gegenstände abzustimmen, ohne weiter einer Instruction zu bedürfen. Wie denn überhaupt die gewählten Personen als Stände des ganzen Landes, und nicht als Delegirte einer einzelnen Provinz oder Corporation angesehen werden sollen.“25

Mit der Einrichtung der Ständeversammlung erhielt das Kurfürstentum durch staatliche Anordnung als erster und vorerst einziger deutscher Staat vorläufig ein repräsentatives Verfassungsorgan, dessen Mitglieder zwar nicht vom Volk frei gewählt werden konnten, aber weisungsfrei und im Interesse des ganzen Landes handeln und beschließen sollten und konnten. Die vom landbesitzenden Adel dominierten Provinziallandschaften, mit denen die Regierung bisher verhandeln musste, hatten ihren beherrschenden Einfluss einstweilen verloren. 2. Liberalismus und Restauration im Welfenstaat Der Sieg über Napoleon hatte der liberalen Bewegung in Deutschland einen kräftigen Auftrieb gegeben. Der Ruf nach Freiheit, nationaler Einheit, 24 U.a. Roscher, a.a.O., Fn. 3, S. 28. 25 Rehberg, a.a.O., Fn. 22, S. 232 ff. 155

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Rechtseinheit und Teilhabe an der politischen Willensbildung war unüberhörbar geworden. Münster avancierte zum gefeierten Hoffnungsträger dieser Bewegung. Eine ihm gewidmete Ode feierte ihn überschwänglich mit den Worten: Du hast zu rechter Zeit ein wahres Wort gesprochen, Der Sultanismuswut den Stab gebrochen, Und deine Sprache war der Freiheit Talismann.26

So die hannoversche Darstellung. Für Treitsckke, der aus seiner Parteinahme für Preußen und seiner Missachtung der deutschen „Zaunkönige“ keinen Hehl machte, war Münster hingegen mehr „Hofmann als Staatsmann, mehr Junker als Aristokrat“, der in den laienhaften Vorstellungen befangen war, „welche die gewerbsmäßige Geschichtsverfälschung des Partikularismus in den deutschen Kleinstaaten ausgebildet hatte.“27 Pikanterweise war es Münster, der die Schmähung „Zaunkönigtum“ in die politische Debatte eingeführt hatte, indem er die Herrscher der Rheinbundstaaten verächtlich „Zaunkönige“ genannt hatte. Tatsächlich reiste Münster zum Kongress nach Wien in der Absicht, in der zu etablierenden Föderation der deutschen Staaten die Einführung repräsentativer Verfassungen durchzusetzen. Er stieß jedoch nicht nur auf taube Ohren sondern auch auf die unnachgiebige Entschlossenheit der versammelten Fürsten, am absolutistischen Herrschaftssystem festzuhalten. Die Angst vor revolutionären Umtrieben saß ihnen im Nacken. In der Wiener Schlussakte, die am 8.6.1820 von der Bundesversammlung beschlossen wurde, fanden progressive, liberale Gedanken keinen Niederschlag. Die Restauration hatte sich durchgesetzt, und was sie künftig gewährleisten sollte, wurde im August 1819 in Karlsbad unter der Regie des österreichischen Außenministers und späteren Staatskanzlers Metternich auch unter Mitwirkung Münsters beschlossen und am 20. September vom Deutschen Bundestag in Frankfurt einstimmig bestätigt. Es enthielt u.a. das Verbot der Meinungsfreiheit in öffentlichen schriftlichen Bekundungen, die Pressezensur, das Berufsverbot für liberal und national gesinnte Professoren, ihre Gesinnung ihren Studenten zu vermitteln, das Verbot der Burschenschaften, die Schließung der Turnplätze bis hin zum Verbot, die altdeut26 V. Hassel, a.a.O., Fn. 23, S. 145. 27 V. Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Leipzig 1927, Bd. 1, S. 597. 156

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sche Tracht zu tragen, mit der Bürger ihrer liberalen Gesinnung Ausdruck verliehen. Ein erstes prominentes Opfer der nunmehr einsetzenden Dema­ gogenverfolgung war Ernst Moritz Arndt. Er wurde 1820 wegen seines Eintretens für die nationale Einheitsbewegung und konstitutionelle Verfassungen von seinem Lehramt an der Universität in Bonn suspendiert. Münster trug die Beschlüsse mit, obwohl sie mit seinen anfänglichen Vorstellungen schwerlich zu vereinbaren waren. Wurde ihm in Wien durch beträchtliche Gebietszuweisungen wie z.B. des Fürstbistums Hildesheim, der vormals preußischen Provinz Ostfriesland und der Grafschaft Lingen der Schneid abgekauft oder hatte auch ihn die Sorge vor umstürzlerischen Bewegungen erfasst? Als ihn in London Nachrichten über revolutionäre Umtriebe in einigen deutschen Bundesstaaten, über das Anschwellen der patriotischen Bewegung, über die Wirkung der lautstarken Proteste gegen reaktionäre Politik, Kleinstaaterei etc. auf dem Wartburgfest am 18.10.1817, über Studentenkrawalle in Göttingen im Sommer 1818 und die Nachricht von der Ermordung des stockkonservativen Schriftstellers Kotzebue am 23.3.1819 durch den Burschenschaftler Karl Ludwig Sand erreichten, ­befürchtete er jedenfalls, der Geist des Umsturzes könne sich auch im ­beschaulich bodenständigen, seinem Herrscher treu ergebenen Volk des Königreichs Hannover ausbreiten. Der reaktionäre hannoversche Adel verstand es, diese Sorge zu schüren und Münster in sein Lager zu ziehen. Dabei spielte dem Adel in die Hände, dass Deputierte der Allgemeinen Ständeversammlung von der Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit, die Ihnen das Rescript vom 12.8.1814 eingeräumt hatte, einen zu weit gehenden Gebrauch machten, indem sie z.B. für die Öffentlichkeit ihrer Sitzungen eintraten, die Einführung eines Bürgerlichen Gesetzbuches nach französischem Vorbild verlangten oder die Befreiung der Rittergutsbesitzer von der Grundsteuer abschaffen wollten.28 Dafür war das Land noch nicht reif. Die Übernahme fortschrittlicher Veränderungen, die die französische Herrschaft vollzogen hatte, wie z.B. die Einführung eines mündlichen und öffentlichen Gerichtsverfahrens, der Geschworenen-Gerichte, die Straffung und Zentralisierung der Verwaltung, der Abbau der provinzständischen Ordnung und damit verbunden der Vorherrschaft des landbesitzenden Adels, wurden aus sturem Patriotismus verworfen oder aus reaktionärem Traditionsbewusstsein abgelehnt.29 28 Bertram, Das Königreich Hannover, Hannover 2003, S. 39. 29 V. Hassel, a.a.O., Fn. 23, S. 165. 157

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Rehberg wurde entlassen. Münsters Neffe, der Freiherr Georg von Schele, ein stockkonservativer Mann, der vom gottgewollten Vorrang der Aristokraten überzeugt war, trat als Geheimer Kabinettsrat in die Regierung ein und sollte einige Jahre später bis zu seinem Tode 1844 deren Führung übernehmen. 1818 wurden die Provinziallandtage wieder einberufen. 1819 hob der Prinzregent die Allgemeine Ständeversammlung auf und verfügte, dass an ihre Stelle ein aus zwei gleichberechtigten Kammern bestehender Landtag treten solle. Die Mehrheit in der ersten Kammer sollte dem grundbesitzenden Adel vorbehalten sein. Da Beschlüsse des Landtages das übereinstimmende Votum beider Kammern erforderten, konnten sich die Kammern wechselseitig blockieren und Beschlussfassungen des Landtages verhindern. Das war kein verfassungsrechtlicher Missgriff, sondern gewollt. Gegen die Stimmen der ersten vom Adel dominierten Kammer konnte die Ständeversammlung keinen Beschluss fassen. Der Adel hatte seine Vormachtstellung zurück erobert, die bürgerliche Gesellschaft politischen Einfluss verloren. Heinrich Heine spottete: „In diesem Lande Hannover sieht man nichts als Stammbäume, woran Pferde gebunden sind, und vor lauter Bäumen bleibt das Land obskur, und trotz allen Pferden kömmt es nicht weiter. Nein, durch diesen hannöverschen Adelswald drang niemals ein Sonnenstrahl britischer Freiheit, und kein britischer Freiheitston konnte jemals vernehmbar werden im wiehernden Lärm hannövrischer Rosse.“ 30

3. Kultur Im Königreich war biedermeierliche Ruhe eingekehrt. Die Lethargie, die sich unter der französischen Herrschaft über das Land gelegt hatte, lähmte das kulturelle Leben. Für Künstler und Gelehrte war die Residenzstadt ­ohnehin unattraktiv geworden, seitdem der Hof verwaist war, der Monarch in London residierte. Heine, der 1824/25 in Göttingen das Studium der Rechtswissenschaften abschloss, promovierte und mit seinem 1826 veröffentlichten Reisebericht „Harzreise“ seinen Ruf als Schriftsteller begründete, kehrte dem Land den Rücken zu, freilich nicht ohne die Universitätsstadt mit dem Spott zu überziehen, Göttingen sei schön und am besten gefalle die Stadt, wenn man sie mit dem Rücken ansehe.31 Nur die Musik lebte in der Residenzstadt auf, nachdem Heinrich Marschner am 1.1.1831 Kapellmeister des Hoforchesters geworden war. Er gehörte, als er aus Leip30 Heine, Ges. Werke 1. Teil, Reisebilder, Die Nordsee, Hamburg 1826, S. 150 f. 31 Heine, ebenda, S. 3. 158

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zig nach Hannover kam, zur ersten Reihe deutscher Opernkomponisten. Doch er musste noch selbst gegen Ende seines Lebens erkennen, dass seine Opern aus den Spielplänen der Opernhäuser verschwanden. Sein Werk ist heute weitgehend vergessen. Geblieben ist sein Denkmal an der Georgstraße, die damals eine Nebenstraße am östlichen Stadtrand war. Die attraktiven Geschäfte befanden sich in der Calenberger Straße, und die renommierten Hotels standen am Neustädter Markt. Mit ihrer Architektur konnte die Residenzstadt glänzen. Georg Ludwig Friedrich Laves, seit 1816 Hofbaumeister, gehörte neben Schinkel in Berlin und Klenze in München zu den führenden Architekten des Klassizismus in Deutschland. Seine Bauten, z.B. das Leineschloss, das Wangenheim Palais, der Waterlooplatz mit der Siegessäule, die Anlage der Ernst-August Stadt und nicht zuletzt das Hoftheater, heute Opernhaus, bereicherten und prägten das Bild der Residenzstadt. 4. Wirtschaft, Bevölkerung, Anwaltsdichte a) Agrarland Das Königreich Hannover war Agrarland, die Agrarwirtschaft der dominante Wirtschaftsfaktor. Exportiert wurden ganz überwiegend land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse. Die gewerbliche Wirtschaft trat erst nach dem Untergang des Königreichs 1866 aus ihrem Schattendasein heraus. Ein zu Beginn der zwanziger Jahre einsetzender dramatischer Verfall der Preise für landwirtschaftliche Produkte stürzte das Land in eine schwere Wirtschaftskrise. Bis Ende 1824 fiel die Hälfte der ostfriesischen Großbauern in Konkurs.32 Kleinbauern wurden zu Tagelöhnern und zum sozialen Problem. Ab 1826 verbesserte sich auch durch moderne, durch die kö­ nigliche Landwirtschaftsgesellschaft in Celle entwickelte und propagierte Anbaumethoden die agrarwirtschaftliche Konjunktur. Die gewerbliche Wirtschaft wurde weiterhin vom Handwerk und von gewerblichen Kleinbetrieben geprägt, während in anderen Staaten des Deutschen Bundes längst die Industrialisierung eingesetzt hatte. Traditionelle ständische Verhaltensweisen und die Sorge der Regierung vor den sozialen Folgen und Begleiterscheinungen der Industrialisierung hemmten den wirtschaftlichen Fortschritt.33 Die Zünfte und Gilden unterbanden die fabrikmäßige 32 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1815–1845/49, München 2008, S. 31. 33 V. Hassel, a.a.O., Fn. 23, S. 259; Bertram, a.a.O. Fn. 28, S. 42. 159

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Ulrich Stobbe

Herstellung von Produkten, die traditionell vom Handwerk gefertigt wurden, und die Regierung verhinderte durch die sog. Domizilordnung von 1827 die Abwanderung Arbeitssuchender vom Land in die Städte. Das Heranwachsen eines Arbeiterproletariats, wie es auf der britischen Insel abschreckend zu beobachten war, sollte unterbunden werden. Dafür nahm die Regierung in Kauf, dass den verarmten Familien der oft nur saisonweise beschäftigten Tagelöhner und Wanderarbeiter die Auswanderung nach Übersee, vor allem in die Vereinigten Staaten von Amerika als einzige wenn auch ungewisse Zukunftsperspektive verblieb und dass fortschrittliche Unternehmer die für den geplanten Aufbau einer Fabrik benötigten Arbeitskräfte nicht in ausreichender Zahl finden konnten. b) Langsamer Wandel zum Industrieland Doch es gab Ausnahmen und erste Anzeichen eines Wandels. Johann ­Egestorff brachte es vom Böttchergesellen zum Unternehmer. Als er 1834 starb, hinterließ er seinem Sohn Georg 3 Kalksteinbrüche, 24 Kalköfen, die ihm den Spitznamen „Kalkjohann“ eingetragen hatten, zwei Steinkohlebergwerke, eine Zuckerfabrik, eine Mühle und eine Gastwirtschaft auf dem Lindener Berg sowie Handelsunternehmen, die die Produkte seiner Unternehmen vertrieben.34 Sein Sohn Georg (1802–1868) errichtete 1831 die Saline Egestorffhall bei Badenstedt und erhielt im April 1835 die Erlaubnis, in Linden eine Metall-Gusswaren- und Maschinenfabrik zu errichten, die Keimzelle der HANOMAG.35 1843 wurde die erste Eisenbahnstrecke im Königreich, die von Hannover nach Lehrte führte, gebaut, und 1846 lieferte die Maschinenfabrik Egestorff die erste „Ernst-August“ genannte Dampflok aus. Bernhard Hausmann (1784–1873), der das Familienunternehmen, eine Gold- und Silberstickerei sowie ein Seiden- und Tuchhandelsgeschäft betrieb, prägte das wirtschaftliche und kulturelle Leben in der Residenzstadt wie kaum ein anderer.36 In einer Denkschrift, die er im Juni 1829 an die Regierung richtete, führte er die mangelhafte Industrieentwicklung auf das Fehlen geeigneter Unterrichtsanstalten zur Ausbildung Gewerbetreibender zurück.37 Auf seinen Vorschlag wurde am 2.5.1831 im Hause des Bierbrauers, Schnapsbrenners und Essigfabrikaten Bornemann die Höhere 34 Mehr über ihn im Hannover-Archiv, Bd. VI, P 57. 35 Mehr darüber im Hannover Archiv, Bd. VII, B 42. 36 Mehr über ihn im Hannover-Archiv, Bd. VI, P 75. 37 Brosius, Geschichte der Stadt Hannover, Hannover 1994, Bd. 2, S. 297. 160

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Gewerbeschule eingerichtet, die sich unter der Leitung ihres ersten Direktors Karl Karmarsch (1803–1879) schnell zur polytechnischen Lehranstalt entwickelte. Dass sie 1879 zur technischen Hochschule wurde, erlebte Hausmann nicht mehr. Auf sein Betreiben wurde 1834 ein Gewerbeverein gegründet, der die Aus- und Weiterbildung von Handwerkern und Gewerbetreibenden landesweit fördern und Unterstützung bei der Verbesserung der Arbeits- und Produktionsmethoden leisten sollte. Ein lokaler Ableger dieses Vereins entstand in der Residenzstadt. 1835 wurde die erste Ge­ werbeausstellung im Leineschloss mit 381 Ausstellern veranstaltet. In der von der Ständeversammlung eingesetzten Eisenbahnkommission trieb Hausmann die Planung und den Bau des Streckennetzes voran, in dessen Zentrum die Residenzstadt stehen sollte.38 Der Fernhandel gewann an Bedeutung. Die maßgeblich von Johann Egestorff belebte Leineschifffahrt ermöglichte den Transport von Waren und Erzeugnissen nach und von Bremen. Die bis dahin kleinteiligen lokalen Märkte wuchsen über die Grenzen des Königreichs hinaus. Dennoch blieb das Königreich bis zu seinem unrühmlichen Untergang 1866 im preußisch-österreichischen Krieg Agrarland. Erst die preußische Regierung hob den Zunftszwang auf und beseitigte die Beschränkung der Freizügigkeit durch die hannoversche Domizilordnung.39 Die Bevölkerungsdichte war dem entsprechend im Vergleich z.B. zu Preußen, Württemberg oder Bayern gering. Das wirkte sich auf die Anwaltsdichte aus. 1840 entfielen im Königreich Hannover landesweit auf einen Advokaten 2.300 Einwohner, im Königreich Bayern waren es 12.200.40 Da die Advokaten sich überwiegend an den Gerichtsorten niederließen, war dort das Verhältnis zwischen Einwohnern und Advokaten deutlich schlechter. Von den 766 Advokaten, die 1840 im Königreich Hannover immatrikuliert waren, praktizierten 12 % (91) in der Residenzstadt, die 1833 23.751 Einwohner zählte. 1818 waren es nur 32.41 Nach Weißler steigerte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. die Überfüllung des Advokatenstandes „vielfach ins Unglaubliche.“42

38 Brosius, ebenda, S. 319. 39 § 4 Verordnung v. 29.3.1867, Gesetzes-Sammlung f. d. königl. Preuß. Staaten, S. 425 ff. 40 Siegrist, a.a.O., Fn. 3, S. 194. 41 Brosius, a.a.O., Fn. 37, S. 295. 42 Weißler, a.a.O., Fn. 3, S. 428 f.; relativierend Wehler, a.a.O., Fn. 3, S. 229. 161

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c) Geringe Nachfrage nach anwaltlichen Dienstleistungen Die statistischen Zahlen sagen nichts über Quantität und Gegenstand der Nachfrage nach anwaltlichen Dienstleistungen aus. Da Gewerbe und Industrie im Königreich Hannover, verglichen mit anderen Staaten des Deutschen Bundes, unterentwickelt waren, ergab sich die Nachfrage überwiegend aus dem Strafrecht sowie dem privaten Lebensbereich, dem Vertrags-, Familien- und Erbbrecht. Zwischen 1840 und 1851 ging die Zahl der Advokaten im Königreich von 766 auf 654 zurück. Der Beruf bot zu wenigen eine auskömmliche Existenz.43 Viele Advokaten waren darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt durch Nebenbeschäftigungen sicherzustellen, z.B. als Aktuar, Gerichtssekretär, Stadtsyndikus, Bürgermeister, Vermögensverwalter oder Amtsvormund, in der Residenzstadt bereits einige wenige als Firmensyndikus, Versicherungskommissar oder Schadenagent einer Versicherung. Zum attraktivsten Nebenamt entwickelte sich das Notariat. 1840 war fast die Hälfte der 766 Advokaten im Königreich auch Notar.44 Erst die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh. steigerte und veränderte die Nachfrage nach anwaltlichen Dienstleistungen. Die Wirtschaft brauchte verlässliche rechtliche Grundlagen. 5. Niedergang der Advokatur Das Ansehen der Advokaten war deutschlandweit beklagenswert schlecht. Sie waren als Prozesstreiber, Prozessverschlepper oder Beutelschneider verschrien; Arroganz, Wortklauberei und Rabulistik wurde ihnen vorgeworfen. Aus Geldgier würden sie bedenkenlos unrechtmäßige Anliegen – „causae iniustae“ – vertreten. Die Schmähkritik traf den Berufsstand nicht erst in jüngerer Zeit. Ihr Ursprung reichte bis in das Mittelalter zurück. Schon die Fürsprecher im mittelalterlichen deutschen Prozess und die Advokaten der kanonischen Gerichtsbarkeit genossen im Volk kein hohes Ansehen.45 Beutelschneiderei, Trickserei oder Prozessverschleppung wurden ihnen vorgeworfen. Als sich mit Beginn der Neuzeit der auf Schriftlichkeit und geschriebenem Recht beruhende sog. gemeine Prozess durchsetzte, der den „gelehrten“, durch ein Studium der Rechtswissenschaften 43 Siegrist, a.a.O., Fn. 3, S. 196. 44 Siegrist, ebenda, S. 235. 45 Kroeschell, Geschichte der Advokatur in den welfischen Landen, Festvortrag, Sonderdruck RAK Celle, S. 3; v. Kannowski, Die Ritter der Geschichte … in Anwälte u. ihre Geschichte, Tübungen 2011, S. 13. 162

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ausgebildeten Juristen erforderte, ging der schlechte Ruf wie eine Erbsünde auf den sich zeitgleich entwickelnden Stand gelehrter Advokaten über und blieb über die Jahrhunderte hinweg an ihm haften. Die Verachtung der Advokaten durch Friedrich II von Preußen ist legendär. Dass im welfischen Königreich der Gerichtsgebrauch, das Honorar der Advokaten für schriftliche Arbeiten allein nach der Zahl der beschriebenen Seiten ohne Rücksicht auf deren inhaltliche Wertigkeit zu bemessen, dem Vorwurf der Beutelschneiderei Vorschub geleistet habe, weil er zu seiner missbräuchlichen Ausnutzung durch die Advokaten geradezu verleitet habe,46 ist nur ein Phänomen ein und desselben Übels, nämlich des moralischen Versagens derer, die die Zahl der Bögen durch irrelevante Ausführungen oder Wiederholungen zu vermehren trachteten. Man macht es sich jedoch zu einfach, den Grund ausschließlich im Versagen der Advokaten zu sehen. Selbstverständlich gab es, und das war damals nicht anders als heute, Advokaten, die durch fehlerhaftes oder schäbiges Verhalten nicht nur den eigenen Ruf, sondern auch den ihres Standes beschädigten. Nur hätten Einzelfälle, so zahlreich sie auch gewesen sein mögen, den gesamten Stand nicht Jahrhunderte lang so nachhaltig in Verruf bringen können, wären nicht Fehlentwicklungen und Missbräuche des auch im Königreich Hannover praktizierten gemeinen deutschen Prozessrechts zum Nährboden für die Missachtung des Advokatenstandes geworden. Wie sollte in der Vorstellung des Laien Erlebtes oder Erlittenes seinen entsprechenden Ausdruck in leblosen Akten finden können, die aus Schriftstücken wuchsen, deren Sprache ihm fremd war und deren Begriffe er nicht begriff? „Allein ein Pergament, beschrieben und beprägt, Ist ein Gespenst, vor dem sich alle scheuen. Das Wort erstirbt schon in der Feder, Die Herrschaft führen Wachs und Leder.“47

Sagt Faust zu Mephisto. Goethe kannte den gemeinen Prozess aus seiner Praktikantenzeit beim Reichskammergericht in Wetzlar. Wer konnte nachvollziehen, was vor der Öffentlichkeit verborgen in den Amtstuben hinter verschlossenen Türen geschah? Wer konnte verstehen, dass der Richter befugt war, über seine Angelegenheiten nach Gutdünken Erkundigungen einzuziehen, ohne deren Notwenigkeit darlegen zu müssen? Wer konnte begreifen, weshalb die Verfahren unerklärlich lange dauerten und Kosten 46 So Klein, a.a.O., Fn. 3, S. 17; näher dazu AAVH 1833, 2. Heft S. 79 ff., 92. 47 Goethe, Faust I, Studierzimmer. 163

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verursachten, deren Höhe völlig unangemessen erschien? Verschleppten und verteuerten die Advokaten die Prozesse? Hatten die Richter der erst­ instanzlichen Gerichte, der Ämter, Stadtgerichte, Magistrate und der Patrimonialgerichte, die neben ihrer richterlichen Tätigkeit „sämmtliche Administrationsgeschäfte der Regierungsgewalt zu besorgen“ hatten,48 nicht die zur richterlichen Arbeit erforderliche Zeit? Das alles löste Unbehagen und Argwohn aus, und dies bekamen in erster Linie die Advokaten zu spüren. Sie waren nicht Teil der Justiz, wurden ihr aber zugerechnet,49 und das machte sie zum Blitzableiter des Frustes, den man gegenüber der hohen Gerichtsbarkeit verdrängen musste, und ließ sie zur Zielscheibe von Spott und Missachtung werden. Hinzukam, was C. J. A. Mittermaier beklagte: „Die Obergerichte zeigten gern ihr Ansehen und das Misstrauen gegen die Advokaten, und eine gewisse Ansicht, welche die Anwälte als Rechtsverdreher oder als Begünstiger vieler Prozesse darstellte, erzeugte nicht selten eine Härte gegen Anwälte und Parteien, die darunter leiden mussten.“50

In einer in den Annalen des Advokatenvereins veröffentlichten Beschwerde wurde noch weitergehend die Neigung beklagt, „welche die Richter … mit wenigen Ausnahmen sich bemächtigt haben, einen Stand herabzudrücken, welcher ihnen ein Dorn im Auge ist, weil er so oft ihren Ansichten und Meinungen … in den Weg zu treten, sich genötigt sieht.“51

Die Geringschätzung kam unverhohlen in den oft entwürdigenden Diszi­ plinarstrafen zum Ausdruck, die Gerichte über Advokaten verhängten.52 Die Disziplinaraufsicht erstreckte sich nicht nur auf die Qualität der Arbeit und die Kostenberechnung der Advokaten sondern auch auf ihren Lebenswandel und wurde mit äußerster Strenge, nicht selten schikanös gehandhabt. Disziplinarstrafen setzten keine Beschwerde eines Klienten voraus; sie konnten und wurden vielfach von Amts wegen verhängt und konnten öffentlich bekannt gemacht werden.53 Der gemaßregelte Advokat wurde 48 Siemens, a.a.O., Fn. 3, S. 24. 49 Siemens ebenda, S. 63. 50 Mittermaier, Der gemeine deutsche bürgerliche Prozess in Vergleichung mit dem preußischen und französischen Civilverfahren, 3. Aufl., Bonn 1838, S. 32. 51 Annalen des Advokatenvereins zu Hannover, (AAVH), 1831, 2. Heft, zu III. 52 U.a. Roscher, a.a.O., Fn. 3, S. 76. 53 Siemens, a.a.O., Fn. 3, S. 58. 164

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gleichsam an den Pranger gestellt, und das beförderte einmal mehr das Misstrauen gegen den Advokatenstand in der öffentlichen Meinung. Im Königreich Hannover wurde die öffentliche Bekanntmachung erst 1831 abgeschafft.54 Die sozialen Folgen blieben nicht aus. Beruhte das gesellschaftliche Pres­ tige der Advokaten ursprünglich auf ihrer rechtswissenschaftlichen Aus­ bildung und ihrer Herkunft aus dem Adel oder diesen nahstehenden wohlhabenden Patrizierfamilien, konnten sich die Advokaten im Königreich Hannover in der ersten Hälfe des 19 Jahrh. nur durch Leistung und persönliche Integrität profilieren, und das machte sie anfällig gegen die pauschale Missbilligung des gesamten Standes in der öffentlichen Meinung. Die Zeiten, in denen allein die rechtswissenschaftliche Ausbildung dem Advokaten gesellschaftlichen Aufstieg verhieß, waren vergangen. Die Advokaten waren zu Juristen minderen Ranges abgestiegen. Der Weg zu Ämtern im höheren Staatsdienst war ihnen verschlossen, es sei denn, ein Advokat konnte sich der Gunst einflussreicher Männer erfreuen, auf eine erfolgreiche Tätigkeit in einer städtischen oder landschaftlichen Stelle verweisen55 oder durch herausragende Leistungen höheren Orts Aufmerksamkeit erregt haben. Schon die Ausbildung der Advokaten entsprach bis 1832 nicht derjenigen, die der höhere Staatsdienst voraussetzte. Wer ein Regierungsoder Richteramt im welfischen Königreich anstrebte, musste ein rechtswissenschaftliches Studium vorzugsweise an der Landesuniversität und eine dreijährige praktische Ausbildung absolvieren. Zur praktischen Ausbildung wurde zugelassen, wer die Auditorenprüfung bestanden hatte. Zu dieser musste der Kandidat zugelassen werden. Eine Begünstigung des Adels oder der Söhne aus den angesehenen, den sog. schönen Familien sollte von Rechts wegen unterbleiben, geschah aber gleichwohl.56 Um eine Stellung im höheren Staatsdienst konnte sich bewerben, wer nach der Auditorenzeit und der praktischen Ausbildung eine zweite Prüfung vor einer Prüfungskommission des Oberappellationsgerichts bestanden hatte. Wer nicht zur Auditorenprüfung zugelassen wurde, dem blieb nur der Weg in die Advokatur. Um in die beim Oberappellationsgericht in Celle geführte matricula advokatorum eingetragen zu werden, musste man christlichen Bekenntnisses sein, ein rechtswissenschaftliches Studium an der Landes54 Weißler, a.a.O., Fn. 3, S. 415. 55 Spangenberg, Die neue Reform des Advokatenstandes im Königreich Hannover in AcP Bd. 15, S. 223, Heidelberg 1832; Roscher, a.a.O., Fn. 3, S. 79. 56 V. Hassel, a.a.O., Fn. 25, S. 244. 165

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universität absolviert und eine Prüfung bestanden haben. Wer promoviert war, musste sich der Prüfung nicht unterziehen. Einer praktischen Ausbildung bedurfte es nicht. Juden konnten im Einzelfall aufgrund einer „landesherrlichen Dispensation“ zur Prüfung zugelassen werden. Für Ausländer galt das Gleiche. Mit Bestehen der Prüfung erwarb man einen Anspruch auf Zulassung zur Advokatur an seinem Wohnsitz. Wann dem Antrag entsprochen wurde, lag in der Hand der zuständigen Justizkanzlei. Von Hassel schreibt: „So bildete sich allmählich eine förmliche Beamten-Aristokratie, die sich mit großer Energie gegen das Eindringen neuer Elemente abschloss und die Anwälte sogar aus der „Gesellschaft“ verbannte.“57

Umgekehrt hatte der Advokatenstand „oft den Ausschuß des Beamten­ standes aufzunehmen sich gefallen lassen“ müssen.58 Vor Gericht wurde den Advokaten kein Stuhl angeboten. Sie hatten zu stehen. Sitzen galt als „contra stylum curiae“.59 Die wirtschaftlichen Folgen der Misere, in die der Advokatenstand gesunken war, brauchen nicht beschrieben zu werden. Sie wurden verschärft durch das mehr und mehr um sich greifende Winkeladvokatentum. Winkeladvokaten, das waren Handwerker, Gewerbetreibende, Lehrer, Quacksalber, Heilsbringer, die ohne juristische Ausbildung und in vielen Fällen unbefugt rechtliche Dienstleistungen gegen vergleichsweise geringes Entgelt erbrachten, oft genug mehr zum Schaden als zum Nutzen ihrer Auftraggeber. Wie viele Winkeladvokaten es in der Residenzstadt oder im ganzen Land gab, lässt sich nicht feststellen. Dass sie von den Advokaten als wirtschaftliche Bedrohung empfunden wurden, zeigen Aufforderungen des Advokatenvereins an die Regierung, das Winkeladvokatentum einzuschränken. Nach R. Gneist soll es in Berlin „neben einer Rechtsanwaltschaft von 59 Personen für Stadt- und Kreisgericht, 300–400 Winkeladvokaten“ gegeben haben.60

57 V. Hassel, ebenda, S. 244 f.; S. 290 f. zur „sozialen Aristokratiesierung der Beamtenschaft“; Spangenberg, a.a.O., S. 223; Siemens, a.a.O., Fn. 3, S. 52; Wehler, a.a.O., Fn. 32, S. 211, 215, insbes. S. 219. 58 Siemens, a.a.O., Fn. 3, S. 59. 59 Weißler, ebenda, S. 436. 60 Gneist, Freie Advokatur. Die erste Forderung aller Justizreform in Preußen, Nachdruck der Bundesrechtsanwaltskammer, Bonn 1979, S. 60. 166

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6. Auswege aus der Misere Aus der desolaten Situation des Standes konnten nur zwei Wege herausführen. – Die obrigkeitliche Geringschätzung musste in das Maß von Achtung gekehrt werden, das die höhere Beamtenschaft genoss. Da sie ihren sichtbarsten Ausdruck in der Disziplinaraufsicht und deren oft diskriminierender Handhabung fand, galt es, diese soweit wie möglich abzulösen. – Adrian Beier (1634–1712), ordentlicher Professor an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena und Richter am Schöppenstuhl des Hofgerichts, warnte die Handwerksmeister nachdrücklich vor den Advokaten. Diesen seien die Sitten und Gepflogenheiten (mores) im Handwerk unbekannt, und sie postulierten Recht, das sie selbst nicht kennen.61 Die Advokaten vermochten es nicht, so wird man Beiers Kritik verstehen dürfen, sich mit einem Recht praxistauglich vertraut zu machen, das an der Universität nicht gelehrt wurde. Rund 125 Jahre ­später bekannte der hannoversche Advokat G. Siemens, die verfehlte ­sittliche und wissenschaftliche Ausbildung der Advokaten trage „reichlich die eine Hälfte der Schuld an der bisherigen Zurücksetzung des Standes.“62 Gewissenhaftigkeit, Aus- und Fortbildung galt es also zu fördern. Für die Verbesserung ihres Wissens und Könnens sowie für die Wahrung des Anstandes konnten und mussten die Advokaten selbst sorgen; im ­Übrigen konnten sie nur daraufhin wirken, dass der Staat sich der Reform ihres Standes annimmt, und das war im schwerfälligen Untertanenstaat des restaurativen Königreichs, dessen Regierung vor allem auf die Erhaltung des status quo bedacht war, ein schwieriges Unterfangen. Es fehlte nicht an Vorschlägen, die dem Niedergang des Advokatenstandes abzuhelfen suchten. Der aus Osnabrück stammende Justus Möser, selbst Advokat, schlug vor, das Ansehen des Standes durch Errichtung eines Advokatenkollegiums zu verbessern.63 Der Advokatenberuf müsse zu einer 61 Beier, Processus Mechanicarum Causarum Forensis Absolutus, Frankfurt  & Leipzig 1705, S. 178. 62 Siemens, a.a.O., Fn. 3, S. 65. 63 Möser, Patriotische Phantasien 1. Teil, Berlin 1775, S. 294 ff.: Vorschlag zu einem besonderen Advocatencollegio mit phantasievoller Darstellung seiner nützlichen Folgen. (Online-Ausgabe, Permalink http://digilib.hab.de/drucke/ ac 252 – 1b/start.htm). 167

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Pflanzschule des Staates werden. Der Celler Oberappellationsgerichtsrat und spätere Diplomat Basilius von Ramdohr forderte, dem Advokatenstande „den Geist eines besonderen Berufs zugleich mit einem edeln Gemeingeist“ zu geben.64 Das waren gut gemeinte aber kaum praktikable Vorschläge. Zielführender war, was Julius Wangemann, genannt von Wangenstein, 1811 vorschlug. Er wies daraufhin, dass die Verfassung des Advokatenstandes in den Ländern des mündlichen und öffentlichen Verfahrens wenig zu wünschen übrig lasse, zumal wenn die Advokaten ein esprit de corps als Resultat ihrer Vereinigung beseele. Aber auch dort, wo diese Eigentümlichkeiten der Verfahrensart nicht gegeben seien, gäbe es Mittel, das Ansehen der Advokaten zu verbessern und das Publikum vor Willkür und Lässigkeit der Advokaten zu schützen. In fünf Punkten fasste Wangemann diese zusammen:65 1. Die allgemeine Aufmerksamkeit und Achtung der Regierung für den Advokatenstand. 2. Die Bestimmung von Taxen für die Arbeit der Anwälte. 3. Die Verbindlichkeit einer Geldkaution für Strafgelder oder Entschädigungsforderungen. 4. Die Errichtung von Advokatenkammern. 5. Die Errichtung von Witwenkassen. Obwohl Wangemann sie gleichrangig neben vier anderen Forderungen nennt, war die nach Errichtung von Advokatenkammern das wichtigste Anliegen. Sie würde die Voraussetzung dafür schaffen, die Disziplinar­ aufsicht jedenfalls zum erheblichen Teil in die eigene Verantwortung der Advokaten zu übertragen. Es sollte noch länger als zwei Jahrzehnte dauern, bis sich dieser Gedanke in den Köpfen der Regierenden und der Advokaten selbst durch setzte.

64 V. Ramdohr, Organisation verschiedener Stände und Gewalten in monarchischen Staaten – Über die Organisation des Advocatenstandes in monarchischen Staaten, 1801, S. 25, 34 Anm. IV. 65 Wangemann, genannt von Wangenstein, Der Advokatenstand, mit besonderer Beziehung auf das Königreich Westphalen und alle diejenigen Länder, welche Frankreichs Gerichtsverfassung annehmen, Göttingen 1811, S. 131 f. 168

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Noch zwanzig Jahre später lehnte C. J. A. Mittermaier die Einrichtung von Advokatenkammern nach französischem Vorbild ab. Advokatenkammern, schrieb er, könnten nur unter der Voraussetzung eine wohltätige Wirkung entfalten, wenn die Advokaten selbst das hinreichende Vertrauen in eine solche Einrichtung besäßen und wenn sie zugleich selbst auf einer solchen „Stufe der Selbständigkeit und der Bildung“ stünden, dass ihnen der „feinste Sinn für die Ehre ihres Standes und so viel Unparteilichkeit zugetraut werden dürfe, dass sie sich in ihren Urteilen über Kollegen nur durch die Rücksichten der Ehre und der Wahrheit leiten“ ließen.66 Er stand mit dieser Meinung nicht allein. Die hannoversche Regierung vermochte nur sehr zögernd dem Gedanken näher zu treten, Advokaten die Aufsicht über ihre Standesgenossen auch nur zum Teil zu überlassen, und auch unter den Advokaten stieß dieser Gedanke auf strikte Ablehnung, selbst bei einem Mitglied des die Verkammerung befürwortenden Advokatenvereins zu Hannover.67 Rund 17  Jahre später änderte Mittermaier seine Meinung und schrieb, das Vertrauen in den Stand werde durch Advokatenkammern mit ausreichender Disziplinargewalt erweckt.68

IV. Die Aufstände im Januar 1831 Frustration herrschte nicht nur unter den Advokaten. Unter der Decke der biedermeierlichen Ruhe, die sich über dem Land ausgebreitet hatte, waren Enttäuschung und Unzufriedenheit gewachsen. Empörung über Missstände im Königreich, über Untätigkeit oder Versagen der Regierung oder der Behörden hatte sich aufgestaut.69 Die einfachen Bürger in den Städten litten unter Teuerung und unzureichender Lebensmittelversorgung. Bürger und Bauern klagten über Dünkel und Schroffheit der Beamten, über Desinteresse und Egoismus der adligen Herrschaften, erdrückende Abgaben sowie mangelhafte Förderung von Handel, Handwerk und Gewerbe. Sie 66 Mittermaier, AcP 15, Bd. H 3. – Über die künftige Stellung des Advokatenstandes, S. 304 ff. 67 Siemens, a.a.O., Fn. 3, S. 69 teilte z.B. Mittermaiers Bedenken und das entgegen der Auffassung des Advokatenvereins zu Hannover, dem er angehörte u. seine Schrift widmete. 68 Aus seiner Rede auf der 1. Anwaltsversammlung in Hamburg v. 6. bis 8.8.1848, wiedergegeben von Leonhardt in Annalen des Advokatenvereins zu Hannover, Neue Folge, 1848, Heft 1, S. 3. 69 V. Hassel, a.a.O., Fn. 23, S. 295. 169

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beklagten, dass über ihre Köpfe hinweg regiert werde und werden könne, weil sie in der Ständeversammlung nicht vertreten waren.70 Bauern erzürnte der Hochmut und die Rücksichtslosigkeit der adligen Gutsherrn, die ungeachtet der Missernten Zinsen, Zehnten und Fronden einforderten.71 Es bedurfte nur eines Anstoßes von außen, um die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zur Rebellion werden zu lassen, und diesen lieferte die JuliRevolution 1830 in Frankreich, die Karl X. vom Thron stieß, seine Nachfolger zum Thronverzicht zwang und Frankreich zur Republik machte. Sie löste wie in mehreren Staaten des Deutschen Bundes auch im Königreich Hannover, hier allerdings nur in wenigen Orten, revolutionären Aufruhr aus. Während es in der Residenzstadt ruhig blieb, kam es im Januar 1831 in Osterode und in Göttingen zu handstreichartiger Übernahme der Kommunalverwaltungen durch Aufständische. In Göttingen wurde der Aufstand durch ein Pamphlet des Justizrates Freiherr v. d. Knesebeck ausgelöst, dem er Napoleons sarkastisch abfällige Bemerkung voranstellte: „Wenn die Canaille die Oberhand gewinnt, so hört sie auf, Canaille zu heißen, man nennt sie alsdann Nation.“72 Er forderte u.a., dass jeder öffentliche Tadel an Maßregeln der Regierung strafbar sein müsse. Nachdem das Pamphlet in Göttingen bekannt geworden war, zogen wütende Studenten und aufgebrachte Bürger vor sein Haus und warfen die Fensterscheiben ein. Er floh und kehrte auch nach Ablauf der Gerichtsferien nicht zurück. Die Regierung bewilligte ihm einen mehrwöchigen Auslandsurlaub. Am Tage nach seiner Flucht stürmten die Advokaten Seidensticker und Eggeling an der Spitze bewaffneter Aufständischer das Rathaus und vertrieben den Polizeikommissar. In Osterode wurden die Advokaten Dr.  König und Freytag, Wortführer der Aufständischen.73 In Bovenden stellten die Einwohner aus  Angst, aufgebrachte Landleute könnten den Ort stürmen und plündern, eine Schildwache auf und übertrugen dem Advokaten von Frankenberg das Kommando.74 Nach acht Tagen genügte in Göttingen das An­ rücken der hannoverschen Armee mit der kolossalen Mannschaftsstärke von 7.000 Mann, um die Aufständischen zur Kapitulation zu bewegen und die legitime Stadtverwaltung wieder ins Amt einzusetzen.75 In Osterode 70 V. Hassel, ebenda, S. 290 ff. 71 V. Treitschke, a.a.O., Fn. 27, S. 150. 72 V. Treitschke, a.a.O., S. 151. 73 V. Hassel, ebenda, S. 295, 299. 74 V. Treitschke, a.a.O., S. 153. 75 V. Hassel, ebenda, S. 304; v. Treitschke, ebenda. 170

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konnte der Aufstand bereits nach zwei Tagen vom Landrosten Nieper aus Hildesheim, dem ein Infanteriebataillon und eine Schwadron Husaren zur Verfügung standen, beendet werden.76 Über das Schicksal der aufmüpfigen Advokaten gibt es unterschiedliche Berichte. Nach der einen Version gelang einigen die Flucht,77 nach der anderen wohl zutreffenden wurden ­König und Freytag wegen Aufruhrs zu fünf Jahren Zuchthaus ohne Anrechnung der fast fünf Jahre dauernden Untersuchungshaft, Seidensticker und Eggeling zu lebenslänglichen Zuchthausstrafen verurteilt.78 Freytag wurde gegen das Versprechen, mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern, die Verbüßung der Strafe erlassen. Der sich keiner Schuld bewusste von Frankenberg wurde in Celle eingesperrt. Nachdem er sechs Jahre eingesessen hatte, ohne dass ihm der Prozess gemacht worden war, stellte man ihn vor die Wahl, entweder das Urteil des Gerichts abzuwarten oder die Begnadigung des Königs zu erbitten. Er wählte und erhielt Letzteres.79 Durch das militärische Eingreifen wurde zwar die öffentliche Ordnung wiederhergestellt, dauerhaft konnte dies jedoch nur sein, wenn die beklagten Missstände beseitigt würden. In einer für König Wilhelm IV. bestimmten Denkschrift vom 3.2.1831 erklärte der Herzog von Cambridge, der zunächst als Generalgouverneur und seit 1831 als Vicekönig die Interessen der Krone in Hannover vertrat, die Gewährung von Reformen sei erforderlich, so lange die Regierung noch die Gewalt in Händen habe. Es müssten Reformen sein, durch die den begründeten oder eingebildeten Beschwerden einigermaßen abgeholfen und die öffentliche Meinung wieder gewonnen werden könne.80 Graf Münster, der durch eine wirre Schmähschrift des Osteroder Advokaten Dr. König mit dem Titel „Anklage des Ministeriums Münster vor der öffentlichen Meinung“ zur Zielscheibe des Protestes geworden war, legte am 12.2.1831 auf Wunsch Wilhelms IV. sein Amt nieder. Im Januar 1832 löste der König die allgemeine Ständeversammlung auf und berief eine neue, in deren zweiter Kammer die Bürger und Bauern 76 V. Hassel, ebenda, S. 298. 77 V. Hassel, ebenda, S. 306, demzufolge Seidensticker u.a. nach Straßburg entfliehen konnten. 78 Venturinis, Neue historische Schriften, 3. Bd. Der nach constitutionellen Prinzipien regierten Staaten 2. u. 3. Ranges neueste Geschichte, Braunschweig 1840, neu herausgegeben von Forgotten books 2018, S. 351 f., als Digitalisat im Internet abrufbar. 79 V. Treitschke, a.a.O., Fn. 27, S. 267. 80 V. Hassel, a.a.O., Fn. 23, S. 310. 171

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durch – freilich nicht vom Volk – zu wählende Deputierte vertreten sein sollten.81 Die von der reformierten Ständeversammlung in Angriff genommenen Reformen fanden ihren Niederschlag in zwei Gesetzgebungswerken, dem am 26.9.1833 von Wilhelm IV. verkündeten Grundgesetz für das Königreich Hannover sowie der Verordnung über die bei Ablösung der grund- und gutsherrlichen Lasten … zu befolgenden Grundsätze vom 10.11.1831 und deren Ausführung durch die Ablösungs-Ordnung vom 10.8.1833. Unter Beibehaltung des monarchischen Prinzips erweiterte das Staatsgrundgesetz die Repräsentation der Bürger und Bauern in der Ständeversammlung, übertrug dieser das Gesetzgebungsrecht und das Budgetrecht, und führte eine beschränkte Ministerverantwortlichkeit ein. Menschenrechte und Volkssouveränität, für die die Liberalen im Süden und Südwesten des Deutschen Bundes leidenschaftlich eintraten, fanden keinen Eingang in die hannoversche Verfassung. Die Ablösungsverordnungen ermöglichten den Bauern die Ablösung der auf ihren Höfen lastenden Verpflichtungen durch eine Geldzahlung, die im Regelfall den 25fachen Wert der jährlichen Abgaben ausmachte. Für die Advokaten blieb alles beim Alten. Die Reformen waren nur ein Trostpflaster. Sie konnten nicht verhindern, dass liberales Gedankengut unter der Decke gedieh, die die Staatsgewalt über das Volk ausgebreitet hatte. Die Epoche war eben Biedermeier und Vormärz zugleich. An beiden Gesetzgebungsvorhaben wirkten neben dem für das Grundgesetz federführenden Staatsrechtler Dahlmann aus Göttingen die Advokaten und Deputierten der zweiten Kammer Freudenheil aus Stade und Stüve aus Osnabrück maßgeblich mit. Die Residenzstadt wurde in der reformierten Ständeversammlung durch zwei Deputierte vertreten, die sich schnell in die Reihe der führenden Köpfe einreihten, nämlich den Stadtdirektor Rumann, der zeitweilig Präsident der zweiten Kammer wurde, und den bereits erwähnten Fabrikanten Bernhard Hausmann. Hinzukam Johann Hermann Detmold, der sich 1830 als Advokat in Hannover niedergelassen hatte und von der Stadt Münden in die Ständeversammlung entsandt worden war. Alle drei wurden neben Freudentheil und Stüve später zu den Anführern des Widerstandes gegen die staatsstreichartige Aufhebung des Staatsgrundgesetzes durch Ernst August, Herzog von Cumberland, der 1837 nach dem Tode Wilhelms IV. die hannoversche Krone erbte. Da diese anders als die englische nur im Mannesstamm vererblich war, konnte Wilhelms IV. nächste Verwandte, seine Nichte Victoria, ihm zwar auf dem englischen, 81 VO v. 28.1.1832, Gesetzes-Sammlung 1832 I. Abt., S. 9 ff. 172

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aber nicht auf dem hannoverschen Thron folgen. Ernst August, der ältere der beiden noch lebenden Brüder Wilhelms IV., wurde König in Hannover. Sein jüngerer Bruder Adolf Friedrich, Herzog von Cambridge, der seit 1816 als Generalgouverneur und seit 1831 als Vicekönig die Krone in Hannover vertreten hatte und im Volk große Beliebtheit genoss, während man Ernst August mit Sorge entgegensah, musste nach England zurückkehren. Die Personalunion zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Königreich Hannover war beendet.

V. Advokaten mit politischer Karriere Ungeachtet des beklagenswerten Zustandes und Ansehens der Advokatur gewannen einige Advokaten hohes Ansehen und erheblichen Einfluss im Politikbetrieb des Königreichs und stiegen zu höchsten Staatsämtern auf. 1. Gottliebe Wilhelm Freudentheil Der Stader Advokat Gottlieb Wilhelm Freudentheil (1792–1869) war ein Sohn des nach Stade eingewanderten Juden Hartig Igel Hertz, der zum Christentum konvertierte, den Namen Freudentheil annahm und ein betuchter Bürger wurde. Gottlieb studierte Rechtswissenschaften und Philosophie in Göttingen, wurde 1814 promoviert und anschließend als Kanzlei-Procurator in Stade zugelassen.82 Von Anbeginn an betätigte er sich politisch. Er wurde 2. Bürgermeister in Stade, Deputierter in der zweiten Kammer der Ständeversammlung und war an der Gestaltung des Grundgesetzes von 1831 maßgeblich beteiligt. Von Mai 1848 bis Mai 1849 war er Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung. Er gehörte in vor82 Schon nach kanonischem Prozessrecht bildeten sich für die rechtliche Vertretung von Mandanten zwei zunächst formal getrennte Berufe heraus, die Procuratoren, denen die Vertretung vor Gericht oblag, und die Advokaten, die die Prozesse betrieben, insbes. die Schriftsätze fertigten und die Prokuratoren instruierten. Das fand seine Fortsetzung im gemeinen deutschen Prozess. Im Laufe der 2. Hälfte des 19. Jahrh. verwischte sich diese funktionale Trennung mehr und mehr. Schon eine Preuß. VO v. 16.4.1725 verbot die Zulassung von Pro­ curatoren und übertrug die Prozessführung den Advokaten, ersetzte diese ­allerdings gegen Ende des Jahrh. zunächst durch staatliche Assistenräte und sodann durch Justizkommissare, (Gneist, Freie Advokatur, Berlin 1867, Nachdruck der BRAK 1979, S. 4 ff.). 173

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derster Front zu den Rebellen, die gegen die eigenmächtige Aufhebung des Staatsgrundgesetzes und die Auflösung der Ständeversammlung durch Ernst August aufbegehrten, und setzte sich wie kein anderer vor ihm für den Advokatenstand ein. Er forderte die Selbstverwaltung der Advokaten durch Advokatenkammern und gründete eigenmächtig eine solche in Stade. Ihm verdanken wir die nach seinem Tode von seinem Sohn herausgegebene „Geschichte des Advokatenstandes des Königreichs Hannover bis zum Jahre 1837“.83 2. Johann Carl Bertram Stüve Johann Carl Bertram Stüve wurde am 4.3.1798 in Osnabrück geboren. Er stammte aus einer angesehenen bürgerlichen Familie mit einer bis in das 16. Jh. zurück reichenden Tradition. Sein Großvater, promovierter Jurist, war Ratsherr und Syndicus der Stadt Osnabrück, sein Vater, Doktor der Rechte Heinrich David Stüve, war Advokat und Bürgermeister in Osnabrück und blieb dies bis zu seinem Tode, die Mutter Margaretha Agnes ­Stüve geb. Berghof war die Tochter eines Kanzleirates. Johann studierte Rechtswissenschaften ab dem Sommersemester 1817 in Berlin und ab dem Wintersemester 1818 in Göttingen. Sein Studium fiel in eine Zeit, in der sich ein epochaler Wandel in der Lehre vom Recht, seiner Entstehung und Geltung vollzog. In Berlin hörte Stüve Savigny in Göttingen Eichhorn. Beide gelten als die Begründer der historischen Rechtsschule,84 die die historische Bedingtheit des Rechts in das Blickfeld rückte, die Einheit von Gesetz und Recht und damit den absoluten Geltungsanspruch der natur- oder vernunftrechtlichen Kodifikationen infrage stellte.85 In Berlin gehörte Stüve zu den Mitbegründern der allgemeinen Burschenschaft und war ein eifriger Turner, ohne dem Turnvater Jahn auf dessen ideologischem Irrweg zu folgen,86 beides Aktivitäten, die 1819 dem Verdikt der Karlsbader Beschlüsse unterlagen. In Göttingen entzog er sich diesem Aspekt studentischen Lebens und widmete sich dem Studium. Eichhorn 83 Freudentheil, Stade, 1903. 84 Meder, Rechtsgeschichte, 3. Aufl., S. 283. 85 Z.B.: ALR Einl. § 6: Auf Meinungen der Rechtslehrer, oder ältere Aussprüche der Richter soll … keine Rücksicht genommen werden; § 45: Bey Entscheidungen … darf der Richter den Gesetzen keinen anderen Sinn beylegen, als welcher aus den Worten, und dem Zusammenhange derselben … erhellt. 86 V. Hassel, a.a.O., Fn. 23, S. 238. 174

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weckte in ihm das Interesse an rechtshistorischer, vornehmlich germanistischer Arbeit, das seinen Entschluss reifen ließ, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Doch der frühe Tod seines älteren Bruders und wenig später des Ehemanns seiner Schwester zwangen ihn, Advokat in Osnabrück zu werden, um für seine Mutter und seine Geschwister sorgen zu können. Im März 1819 wurde er nach mit hervorragendem Ergebnis bestandener Prüfung promoviert und am 13.7.1820 im Alter von 22 Jahren als Advokat in Osnabrück zugelassen. Schon kurz darauf wurde er beauftragt, die Archive der Stadt und des Domes zu ordnen, und der Landdrost von Bar, der sein einflussreichster Förderer werden sollte, erteilte ihm den ehrenvollen Auftrag, Mösers unvollendetes Manuskript des dritten Teils der Geschichte der Stadt Osnabrück zu vollenden und zu veröffentlichen. An dieser Arbeit fand er größeren Gefallen als an der Ausübung der Advokatur, über die er seinem Freunde Frommann im Oktober 1822 schrieb: „Die ist mir so zuwider, daß mir so ein Haufen Quackelei mehrere Tage zu andrer Arbeit den Sinn rauben kann; denn an einem Prozesse interessiert mich höchstens das, wenn ich ihn auf eine passende Weise vergleichen kann. Wo ich aber dazu keine Hoffnung sehe, da ist mir gleich die ganze Geschichte ein Greuel.“87

Er blieb jedoch Advokat sein Leben lang. 1824 entsandte die Stadt Osnabrück ihn als Deputierten in die zweite Kammer der Ständeversammlung. Im Lebensalter von 26  Jahren – Stüve erfüllte gerade das gesetzliche Alterserfordernis von 25 Jahren – begann eine politische Laufbahn, die ihn zu einem der bedeutendsten Politiker im Königreich bis zur Mitte des Jahrhunderts werden ließ. Er gehörte zu den maßgeblichen Mitverfassern des Staatsgrundgesetzes von 1833, vor allem aber der Verordnung zur Ablösung der bäuerlichen Lasten und wurde zum Wortführer des Widerstandes gegen die willkürliche Aufhebung des Staatsgrundgesetzes und die eigenmächtige Auflösung der Ständeversammlung durch Ernst August. Dieser sah in Stüve nicht nur einen Anführer der Opposition sondern einen persönlichen Feind und verstieg sich zu dem allerdings vergeblichen Versuch, die philosophische Fakultät der Universität Göttingen zu hindern, Stüve die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Dahlmann, einer der Göttinger Sieben, hatte dies mit der Begründung angeregt, Stüve sei ohne Zweifel ein um die Verfassung des Landes verdientester Mann.88 Auf dem Höhepunkt der 87 Stüve, Johann Carl Bertram Stüve nach Briefen und persönlichen Erinnerungen 1. Bd., Hannover, Leipzig 1900, S. 45. 88 Stüve, ebenda, S. 258. 175

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Verfassungskrise verteidigte Stüve den Präsidenten der 2. Kammer, Stadtdirektor Rumann, und den hannoverschen Advokaten Detmold, die wegen Hochverrats und unehrerbietiger Äußerungen über den König angeklagt worden waren und erreichte einen Freispruch vom Vorwurf des Hochverrats. Um ihn zu isolieren, verbannte ihn die Regierung 1838 nach Osnabrück mit der Auflage, dass er für jede mehr als dreitägige Entfernung von Osnabrück um Urlaub zu ersuchen habe, was er nicht tat.89 Mundtot konnte man ihn nicht machen, und seinem Ansehen als unerschrockener Kämpfer gegen staatliches Unrecht und seiner Popularität tat die Verbannung, die volle zehn Jahre dauerte, keinen Abbruch. Stüve war kein Revolutionär, kein Liberaler, kein Konservativer, er verabscheute jede ideologische Überhöhung politischen Handelns und mied jede Parteigenossenschaft. In einem Brief vom 5.5.1831 schieb er über sich: „Es ist gut, der Adel hasst die Beamten und Liberalen, die Beamten hassen den Adel und die Liberalen, die Liberalen hassen Adel und die Beamten und ich stehe mitten zwischen Allen und gelte bei Allen und treibe meine Sachen ganz ruhig.“90

Richtschnur seines Denkens und Handelns waren die Bindung an und die Verteidigung von Recht und Verfassung, sein christlicher Glaube und das Gebot von Redlichkeit und Aufrichtigkeit. In seiner Berliner Studienzeit hatten ihn Schleiermachers Vorlesungen und Predigten nachhaltig beeindruckt. Als Ernst August im März 1848 erkennen musste, dass er durch hinhaltendes Taktieren das diesmal im ganzen Land aufgebrachte Volk nicht beruhigen konnte, nahm er das Rücktrittsgesuch des ohnehin blassen Geheimen Rates von Falcke, dem er nach von Scheles Tod 1844 die Regierungsgeschäfte übertragen hatte, entgegen und beauftragte den Schatzrat Graf von Bennigsen mit der Regierungsbildung. Dieser nahm auf Drängen des Grafen Wangenheim Stüve als Innenminister in die Kabinettsliste auf mit der Befürchtung, der König werde Stüves Benennung nicht akzeptieren. Doch Ernst August sprang über seinen Schatten. Stüve, der sich nie und auch jetzt nicht nach einem Regierungsamt gedrängt hatte, wurde zur dominanten Kraft in der sog. Märzregierung Bennigsens. Deren Regierungsprogramm stammte überwiegend von seiner Hand. Seine wesentlichen Anliegen waren die Reform der Verfassung des Deutschen Bundes und im Lande selbst 89 Stüve, ebenda, S. 261. 90 Stüve, ebenda, S. 138. 176

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die Trennung von Rechtspflege und Verwaltung, die Einführung von Öffentlichkeit und Mündlichkeit in Zivil- und Strafverfahren, die Beseitigung privilegierter Gerichtsstände, die Einführung von Schwurgerichten und die Aufhebung privilegierter Befreiungen von Gemeindelasten. Stüve vermochte sein ehrgeiziges Reformprogramm nicht zu realisieren. Die Regierung von Bennigsen wurde am 26.10.1850 aus Gründen, die sich aus der Politik im Deutschen Bund ergaben, entlassen.91 Stüve verbrachte den Rest seines Lebens in Osnabrück. Die Stadt ehrte ihn als einen ihrer größten Söhne mit einem Denkmal, das erst 1920 eingemeindete Linden und die Residenzstadt Hannover mit der Benennung jeweils einer Straße. 3. Johann Hermann Detmold Johann Hermann Detmolds (1807–1856) Eltern gehörten zum gehobenen Bürgertum. Die Mutter stammte aus der hannoverschen Bankiersfamilie Oppenheimer; der Vater, ein zum Christentum übergetretener Jude, war ein angesehener Arzt in Hannover. Johann studierte Rechtswissenschaft in Göttingen und Heidelberg und ließ sich 1830 als Advokat in Hannover nieder. Er gehörte zu den Gründern des Advokatenvereins.92 Nebenher betrieb er Kunststudien. 1832 gründete er zusammen mit Bernhard Hausmann den Kunstverein Hannover, war Mitherausgeber der Hannoverschen Kunstblätter und mit Heinrich Heine befreundet. Im Verfassungskonflikt mit König Ernst August unterstützte er insbesondere durch publizistische Aktivitäten den Widerstand gegen das selbstherrliche Vorgehen des Mo­ narchen, wurde angeklagt und 1841 – von Stüve verteidigt – zwar vom Vorwurf des Hochverrats freigesprochen, aber wegen unehrerbietiger Äußerungen gegen den König zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die er durch Zahlung von 300 Talern abgelten konnte. Seinem Mitangeklagten Rumann wurde die Abgeltung später erlassen, ihm nicht. 1848 wurde er in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Im Verfassungsausschuss opponierte er gegen den Beschluss einer Reichsverfassung, weil er überzeugt war, dass eine Verfassung des Bundes nur durch Vereinbarung mit den Einzelstaaten zustande kommen könne. Er wurde Justizminister in der Regierung des Reichsverwesers Erzherzog Johann von Österreich, bis dieser die Regierungsgewalt 1849 der Bundeszentralkommission übergab. Die 91 Näher dazu Bertram, a.a.O., Fn. 28, S. 68 ff. 92 Annalen des Advokatenvereins zu Hannover, (AAVH), 1832, Heft 1, letzte S. Mitgliederverzeichnis. 177

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hannoversche Regierung bestellte Detmold daraufhin zum Gesandten des Königreichs in Frankfurt. Für diese Tätigkeit verlieh Ernst August ihm einen hohen Orden. Die Anklage wegen Hochverrats und die Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung war, wenn nicht verziehen, vergessen. 1851 kehrte Detmold nach Hannover zurück und verstarb hier am 17.3.1856. Eine Straße in der Südstadt ist nach ihm benannt.

VI. Aufbruch hannoverscher Advokaten Freudentheil, Stüve und Detmold stammten aus den sog. schönen Familien. Stüve half außerdem die Fürsprache des Drosten von Bahr. Wer diese Vorzüge nicht genoss, hatte kaum eine Chance, Rang und Ansehen zu erwerben. Erschwert wurde die Lage der Advokaten durch eine nicht nur von ihnen beklagte Überfüllung des Standes, die auf 800 bis 900 Advokaten im Königreich anzuwachsen drohte.93 Vor allem dies verschaffte der Forderung nach einer grundlegenden Reform des Advokatenstandes Nachdruck. Gefordert wurde:94   1. Gleiche Ausbildung von Advokaten und Richtern.   2. Keine Befreiung Promovierter vom Prüfungserfordernis.   3. Keine Zulassung von Ausländern, dazu gehörten auch Angehörige anderer Deutscher Staaten.   4. Beschränkung der Zahl der Advokaten.   5. Strenge Verbote gegen Winkeladvokaten.   6. Erhebung von Advokaten zu Rang, Titel und Orden.   7. Belohnung verdienter Advokaten durch Titel und Orden.   8. Aufhebung des Subordinationsverhältnisses zwischen Advokaten und Richtern.   9. Zulassung der Advokaten zu allen Staatsämtern. 10. Einrichtung von Advokatenkammern.

93 Spangenberg, a.a.O., Fn. 52, S. 228. 94 Spangenberg, ebenda. 178

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Beide Kammern der Ständeversammlung machten sich diese Forderungen im Wesentlichen zu eigen. In ihrer Vorlage an das Cabinetts-Ministerium vom 20.6.1831 führten sie u.a. aus: „Je wichtiger die Interessen sind, welche das Publikum den Advocaten anzuvertrauen hat, und je wesentlicher es bei der Wahrnehmung dieser Interessen nicht nur auf Geschicklichkeit und Fleiß, sondern auch auf treue und strenge Rechtschaffenheit ankommt, desto nothwendiger scheint es, dem Stande der Advocaten eine seiner Wichtigkeit entsprechende Stellung und Einrichtung zu geben.“95

Die Regierung zögerte. Statt den Advokatenstand, wie gefordert, zu reformieren, griff sie mit der Begründung, die Versetzung des Advokatenstandes in eine würdige Stellung sei nur allmählich und durch fortschreitende Verbesserungen zu erreichen, nur die Punkte 1, 2 und 4 des Forderungskataloges auf. Die Verordnung über die Prüfung und Anstellung der Advo­ caten vom 9.4.1832 glich die Ausbildung der Advokaten derjenigen der Staatsbediensteten an, indem sie eine dreijährige praktische bei einem älteren Advokaten zu absolvierende Ausbildung und eine anschließende zweite Prüfung einführte, die von einer ausschließlich aus Richtern bestehenden Prüfungskommission beim Oberappellationsgericht abzunehmen war. Sie hob die Befreiung Promovierter vom Prüfungserfordernis auf und führte eine Bedürfnisprüfung ein. Mit Bestehen der mit „angemessener Strenge“ durchzuführenden Prüfung, die sich, ohne dass dies ausdrücklicher Anweisung bedurfte, auch auf die politische Gesinnung der Kandidaten erstrecken sollte, erwarb der Kandidat einen Anspruch auf Zulassung zur Advokatur an einem von der Regierung zu bestimmenden Wohnsitz. Als solcher war ein Ort zu wählen, in dem die Anzahl der dort praktizierenden Anwälte eine weitere Zulassung vertrug.96 Darin erschöpfte sich die Bedürfnisprüfung. Wie zu verfahren war, wenn ein solcher Ort nicht gefunden werden konnte, ließ die Verordnung offen. Der Advokat Oppermann wurde, so berichtet v. Hassel, auf seinen Antrag auf Zulassung in Göttingen gefragt, was sein Vater sei. Auf seine Erwiderung, sein Vater sei Buchbinder, habe er die Antwort erhalten, dann hätte auch er Buchbinder werden sollen. Erst zwei Jahre später sei er als Advokat im südlich von Bremen gelegenen rund 200  km von Göttingen entfernten Hoya zugelassen worden.97 95 Zitiert nach Freudentheil, a.a.O., Fn. 3, S. 35. 96 Gesetzes-Sammlung 1832, I. Abt., S.  45  ff.: hierzu auch Spangenberg, a.a.O., Fn. 52, S. 235. 97 V. Hassel, a.a.O., Fn. 23, S. 244. 179

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1. Gründung des Advokatenvereins Inzwischen hatten sechszehn Advokaten der Residenzstadt die Initiative ergriffen und beschlossen, „daß auch von Seiten des Standes selbst jene Absicht nach Kräften unterstützt werde und zu diesem Zweck die Errichtung eines Advokatenvereins erforderlich scheine, sowohl um überall einen diesen Stand hebenden Gemeingeist unter seinen Mitgliedern zu erwecken, als auch letzteren Gelegenheit zu geben, ihre Ansichten über die Lage und Bedürfnisse untereinander auszutauschen und den höchsten Behörden zu etwaiger Berücksichtigung vorzutragen.98

Sie gründeten am 1.7.1831 den Advokatenverein zu Hannover. Die Vereinsgründung bot sich als probates Mittel an. Überall in Deutschland ­entstanden private Vereine, Gewerbevereine, Wohltätigkeitsvereine, Sportvereine, Kunst- und Gesangsvereine, die den Mitgliedern Geselligkeit, Vergnügen oder sportliche Aktivitäten boten, die ihnen aber auch Aner­ kennung durch Gleichgesinnte oder Gleichgestellte verschafften, Kontakte knüpfen ließen, einige Vereine auch zu dem Zweck, ihren Mitgliedern die gemeinsame und dadurch effektivere Verfolgung ihrer Interessen zu erleichtern. Was zu bewirken dem Einzelnen unmöglich war, konnte einer Vereinigung Gleichgesinnter eher gelingen. Politische Vereine waren unerwünscht. Sie standen unter dem Verdacht, revolutionären Umtrieben Vorschub zu leisten. In der Residenzstadt entstand eine Reihe von Interes­ senvereinen. Den Anfang bildete die Gründung der Naturhistorischen Gesellschaft (1797), ihr folgten der Ärzteverein (1829), der Advokatenverein (1831), der Kunstverein (1832), der Gewerbeverein (1834) mit seinen lokalen Ablegern und der Architekten- und Ingenieurverein (1851). Zweck des Advokatenvereins war nach § 2 des am 22.7.1831 beschlossenen Regulativs, „den Advokaten selbst ein Mittel in die Hand zu geben, um in ihrem Stande Ordnung, Gesetzlichkeit und treue Pflichterfüllung mehr und mehr zu befestigen und dadurch das gemeine Beste ebenso sehr als die Ehre und das Wohl des Advokatenstandes selbst zu fördern.“

Jegliche politische Tendenz wurde ausdrücklich ausgeschlossen; politische Gegenstände sollten nicht einmal in den „im Verein stattfindenden Unter98 Annalen des Advokaten-Vereins zu Hannover, (AAVH), Hannover 1832, 1. Heft, S. 1. 180

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haltungen“ erörtert werden. Es sollte vielmehr im Wege der geselligen Unterhaltung ein „freundschaftliches und collegialisches Zusammenhalten“ bewirkt, wissenschaftliche und praktische Ausbildung gefördert und gemeinschaftlich auf die Hebung der Standesehre hingewirkt werden.99 Das wichtigste Organ des Vereins war ein neunköpfiger aus der Mitte des Vereins jeweils für die Dauer eines Jahres zu wählender Ausschuss (§ 9), dem ein gewählter Präsident vorstand. Der Ausschuss vertrat den Verein nach außen, sollte bei Streitigkeiten unter den Mitgliedern vermitteln, die Disziplin unter den Mitgliedern aufrechterhalten und Beschwerden Dritter über anwaltliches Fehlverhalten entgegen nehmen und ihren Grund durch Vermittlung auszuräumen suchen. In § 15 des Regulativs wurden ihm sog. Disziplinarverfügungen eingeräumt, denen sich die Mitglieder freiwillig durch ihren Beitritt unterwarfen, nämlich Ermahnung zur Ordnung, einfache Zensur, Verweis sowie Entziehung des Stimmrechts oder Untersagung der Teilnahme an Mitgliederversammlungen für eine bestimmte Zeit. Diese vereinsrechtlichen Ahndungen waren verglichen mit den obrigkeitlichen Disziplinarstrafen nicht nur harmlos; der Betroffene konnte sich ihnen durch Austritt aus dem Verein auch noch leicht entziehen. Gleichwohl wollten die Vereinsgründer mit der Einrichtung eines Aufsichtsgremiums zeigen, dass hannoversche Advokaten selbst für Recht, Ordnung und Anstand in ihren Reihen sorgen können. Sie verknüpften damit wenn nicht die Erwartung so doch die Hoffnung, Vertrauen in den Advokatenstand zu fördern und die Bereitschaft der Regierung zu wecken, die Aufsicht über die Advokaten einzurichtenden Advokatenkammern zu übertragen, jedenfalls aber Advokaten an der Ausübung des Disziplinarrechts zu beteiligen. Ihrem Wunsch, die Disziplinarverfügungen des Ausschusses bis dahin obrigkeitlich zu autorisieren,100 entsprach das Ministerium nicht. Während das Cabinetts-Ministerium gegen die Vereinsgründung „im Allgemeinen“ nichts einzuwenden hatte, forderte es eine Änderung des § 21 des Regulativs, der die Vertretungsbefugnis des Ausschusses regelte. Diese Bestimmung sei unzulässig, weil darin zum Ausdruck komme, der Ausschuss könne nicht nur das Interesse des Vereins, sondern des ganzen Stan-

99 AAVH, 1. Heft, S. 2. und 11. 100 AAVH, Vortrag des Ausschusses an das Cabinetts-Ministerium v. 17.12.1831, 1. Heft S. 35 ff., 40. 181

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des vertreten.101 Als reine Privatverbindung sei der Verein nicht befugt, für den gesamten Stand zu handeln. In seiner Gegenvorstellung vom 1.11.1831 versicherte der Ausschuss dem Ministerium den „innigsten Dank für die gnädigen und wohlwollenden Gesinnungen,“ legte dar, dass die beanstandete Regelung missverstanden worden sei, versprach aber gleichwohl diese, wie folgt, zu ändern: „Der Ausschuß vertritt den Verein in allen denjenigen Fällen, wo die Zuständigkeiten desselben als Privat-Gesellschaft in Frage kommen und er selbige in seiner Gesamtheit füglich nicht wahrnehmen kann.“102

Sollte auch dies keine Billigung finden, erklärte der Verein sich „zu gänzlicher Hinweglasssung des § 21“ entschließen zu können. Das Ministerium akzeptierte die Änderung und erteilte die Imprimatur für den Druck des Regulativs. Ungeachtet dessen nahm der Verein auch die Belange des Standes wahr, zumal sich diese aus seiner Sicht mit seinen eigenen Interessen deckten. Er hatte bereits in der Gründungsversammlung beschlossen, „sich über Gegenstände des Rechts und der Gesetzgebung zu äußern, so oft ein gegenwärtiges praktisches Bedürfnis solche Gutachten erfordere.“103 Bei der Ausführung dieses Beschlusses trat er zwar als „Privatverein“ auf, sprach jedoch, ohne nach seiner Legitimation zu fragen, für den Stand, zumal dieser nur eine unstrukturierte, allein durch Ausbildung und Zulassung definierte Berufsgruppe war, die für sich selbst nicht sprechen konnte. Das Regulativ war provisorischer Natur. Nach § 3 sollte der Verein erheb­ lichen Modifikationen unterzogen werden, sollte es zur Einrichtung von Advokatenkammern kommen.104 Die dem Ausschuss eingeräumten Disziplinarbefugnisse würden, soweit sie nicht ausschließlich vereinsinterne Vorgänge betrafen, von der Kammer wahrzunehmen sein. Den Verein aufzulösen, kam für die Gründer nicht in Betracht. Das die deutsche Anwaltschaft prägende Nebeneinander von Anwaltskammern und -vereinen geht auf solche Überlegungen zurück. 101 Resolution des königl. Cabinetts-Ministeriums v. 11.10.1831, AAVH, 1. Heft, S. 21. 102 AAVH, a.a.O., S. 23 f. 103 AAVH, 1 Heft, 1832, Vorwort S. VI zu Ziff. II, Beschluss in der Gründungsversammlung. 104 AAVH, ebenda. 182

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2. Wirkung des Vereins Der Verein wirkte nach innen wie nach außen. Zur Binnenwirkung gehörte es, ein „freundschaftliches collegialisches Zusammenhalten“ unter den Vereinsmitgliedern zu entwickeln. Da standesgemäße Solidarität, wenn sie es überhaupt jemals gegeben haben sollte, rivalisierendem Eigeninteresse gewichen und Gemeinsinn von schnödem Egoismus verdrängt war, galt es, ein neues „Wir-Gefühl“ zu wecken. Kollegialität sollte die Advokaten fortan verbinden, ein von wechselseitiger Anerkennung und Rücksichtnahme bis hin zu wechselseitiger Hilfsbereitschaft geprägtes Miteinander. Die Advokaten sollten sich bei aller Konkurrenz und Rivalität durch „Gemeingeist“, durch ein sie einendes, gemeinsames Grundverständnis verbunden fühlen. Die im Schriftverkehr unter Rechtsanwälten bis heute übliche wenn auch zumeist gedankenlos gebrauchte Anrede „sehr geehrte Frau Kollegin/ sehr geehrter Herr Kollege“ und Grußformel „mit kollegialen Grüßen“ sind ein Nachklang jenes damals essentiellen Bemühens um ein „collegialisches“ Verhältnis unter den Advokaten. Die Gründer wollten als Einheit fern jeder Obskurität wahrgenommen werden und dem Stand eine Stimme geben, die in der Gesellschaft und im rechtspolitischen Diskurs wahrgenommen wird. Dementsprechend entwickelte der Verein in den ersten Jahren seines Bestehens eine beachtliche Aktivität. – In den Annalen, deren Herausgabe der Verein beschloss, wurde öffentlich Rechenschaft über die Vereinstätigkeit gegeben.105 Jedermann konnte sich über das Tun und Lassen des Vereins informieren. Außerdem bildeten die Annalen eine willkommene Plattform für wissenschaftliche oder rechtspolitische Beiträge. – Bereits auf der Gründungsversammlung beschloss der Verein, dass kein wichtiges Gesetz von der Regierung in Vorschlag gebracht werde, das der Advokatenverein nicht einer Besprechung unterziehen werde. Bei Besprechungen blieb es nicht. In den Annalen wurden zahlreiche Beiträge einzelner Advokaten zu Einzelthemen und Stellungnahmen des Vereins oder seines Ausschusses zu Gesetzesvorhaben publiziert. – Mit einer ausführlichen Stellungnahme vom 2.12.1831 beteiligte der Verein sich an der Debatte, die mit der eher kläglichen Reform durch die Verordnung vom 9.4.1832 über die Prüfung und Anstellung der Advo105 Freudentheil, a.a.O., Fn. 3, S. 36 f. 183

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katen ein vorläufiges Ende fand. Zentrales Anliegen des Vereins war die Einrichtung einer einheitlichen, den Gerichten obliegenden praktischen Ausbildung nach preußischem Vorbild sowie die Berufung von Advokaten in die Prüfungskommission für das zweite Staatsexamen. Die Forderung beruhte auf einem Mehrheitsbeschluss der Mitgliederversammlung, dem eine intensive, in der Stellungnahme wiedergegebene Debatte vorausgegangen war. Die unterlegene Minderheit war der Überzeugung, die Tätigkeit des Richters unterscheide sich so wesentlich von der des Advokaten, dass eigenständige praktische Ausbildungsgänge geboten seien.106 Die Mehrheit meinte dagegen, vom Kandidaten zu verlangen, dass er bereits nach Abschluss des Studiums entscheide, ob er Richter oder Advokat werden wolle, sei nicht zu verantworten, weil die frühe Berufswahl mit dem erheblichen Risiko verbunden sei, dass sie später bereut werde, aber nicht mehr rückgängig zu machen sei. Erst nach der praktischen Ausbildung könne die Berufswahl mit hinreichend sicherer Überzeugung getroffen werden. In dieser Argumentation war der Wunsch nach einer Wahlmöglichkeit verborgen, die für die überwiegende Zahl der Kandidaten schon nach den damaligen Gegebenheiten nicht gegeben war. Die Verordnung entsprach der Auffassung der überstimmten Minderheit. Die Beweggründe blieben unbekannt. In den Annalen des Vereins wurde das Ausbildungsthema nicht mehr angesprochen. – Für erhebliche Unruhe sorgte die Bestimmung der Verordnung, die Advokaten künftig in vorzüglicherem Maße als bisher einer näheren Aufsicht der oberen Behörden auf Ihre Geschäftstätigkeit und ihr ganzes Verhalten zu unterwerfen. Dem energischen Protest des Vereins und der zum Advokatenstand gehörenden Deputierten der Ständeversammlung kam das Cabinetts-Ministerium mit dem Versprechen entgegen, Deputationen oder Ausschüssen der Advokaten eine Teilnahme an der obrigkeitlichen Handhabung der Disziplin einzuräumen.107 Das Regulativ vom 31.1.1833 ermöglichte den Advokaten, die Bildung von Deputationen in den Obergerichtsbezirken zu beantragen, um „in ihrem Stande Ordnung, Gesetzlichkeit und treue Pflichterfüllung mehr und mehr zu befestigen.“108 Die Deputationen sollten aus acht Advokaten bestehen, die das Justizministerium aus 24 auf einer Advokatenversammlung zu 106 AAVH 1832, 1. Heft, S. 25 ff., 30–33. 107 Siegrist, a.a.O., Fn. 3, S. 370. 108 Gesetz-Sammlung. Abt. Nr. 5, 9.2.1833, S. 17 ff.; Weißler, a.a.O., Fn. 3, S. 415; AAVH, Heft 2, S. 44, Heft 3, S. 14. 184

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wählender Advokaten, die dem Stande mindestens drei Jahre lang angehören mussten, auswählte. Sie konnten in minder schweren Fällen Disziplinarverfügungen treffen. Falls der ihnen beizuordnende königliche Justizkommissar eine schärfere Ahndung für erforderlich hielt, hatten sie den Vorgang an die Justizkanzlei ihres Bezirkes abzugeben. Diese hatte, insbesondere wenn „Suspension oder Remotion“ in Betracht kommen konnten, vor ihrer Entscheidung ein Gutachten der Deputation einzuholen. Darüber hinaus sollten die Deputationen die praktische Ausbildung angehender Advokaten, die im Regelfall bei einem älteren Advokaten stattfinden sollte, überwachen, und armen Parteien unentgeltlich Rechtsrat erteilen, falls die amtlich beigeordneten Vertreter die Vertretung wegen Erfolglosigkeit ablehnten.109 – Diese soziale Aufgabe hatte sich der Verein ohnehin gestellt. Freudentheil zitiert aus den Annalen: An jedem Montag kämen die Mitglieder einige Stunden in der Wohnung des Präsidenten zusammen, um armen Parteien unentgeltlich Belehrung zu erteilen und sie mit einer Empfehlung an den von ihnen gewählten oder ihnen beigeordneten Rechtsbeistand zu geleiten. In der am 29.12.1832 erfolgten öffentlichen Bekanntmachung dieses Angebots habe der Verein den Wunsch geäußert, dass ihm recht oft Gelegenheit gegeben werden möge, in der erwähnten Beziehung den Nutzen zu stiften, welche ähnliche Einrichtungen in Frankreich seit einer Reihe von Jahren gestiftet haben.“110 In diesem sozialen Engagement liegen die ideellen Wurzeln des Gesetzes über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen vom 18.6.1980, das den längst vergessenen erbitterten Kampf zwischen den Befürwortern einer Rechtsberatung durch öffentliche Beratungsstellen einerseits und durch die Rechtsanwaltschaft andererseits zugunsten der letzteren entschied. 3. Organisationsgrad und Versinken in Passivität An der Gründungsversammlung nahmen 16 Advokaten teil.111 Das war nicht einmal ein Viertel der damals in Hannover praktizierenden Advokaten, eine Minderheit also, aber sie dürfte aus den Advokaten bestanden haben, die entschlossen waren, den Stand auch durch eigene Kraftanstrengung aus der Talsohle herauszuführen, statt auf Hilfe des Staates zu warten, 109 Weißler, a.a.O., Fn. 3, S. 415. 110 Freudentheil, a.a.O., Fn. 3, S. 36; AAVH, Heft 3, S. 12. 111 AAVH, Heft 1, S. 11 f. 185

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und die bereit waren, kollektive Verantwortung für den Stand zu übernehmen. Nach Siegrist soll der Organisationsgrad des Vereins gering gewesen sein.112 Das trifft nur für die Gründungszeit zu. Bereits zum Ende des Jahres 1831 zählte der Verein 72 Mitglieder, und in der Folgezeit stieg die Mitgliederzahl auf 82.113 Da in der Residenzstadt zu jener Zeit etwa 90 Advokaten praktizierten, war der Organisationsgrad beachtlich, und nicht zuletzt darauf dürfte beruhen, dass die Stellungnahmen des Vereins Beachtung fanden. 1836 verschwindet der Verein aus unserem Blickfeld. Er stellte die Herausgabe der Annalen ein und nahm sie erst 1848 wieder auf. In der Zwischenzeit versank er im Dunkel der Geschichte. Im Vorwort des 1. Heftes der „Neuen Folge“ der Annalen schrieb die Redaktion: „Jene Quelle (scil. Die Annalen 1–6) musste nun allmählich zu fließen aufhören, nachdem der Verein für seine eigene Entwicklung und für die Förderung der Interessen des Standes im Allgemeinen manches unter den gegebenen Umständen vor der Hand ihm Mögliche erstrebt hatte, worauf denn eine Periode des Abwartens eintrat, während welcher sich auch sonst kräftige Anstöße von außen nicht einstellten, die ihn zu festgesetzter energischer Tätigkeit und einer derselben ent­ sprechenden literarischen Produktion hätte ermuntern und fortschreiten mögen. Daneben erkaltete auch bei manchen Mitgliedern die ursprüngliche lebendige Theilnahme an dem Vereine, so daß eine Beschränkung seiner Sitzungen beschlossen werden musste.“114

Worauf das Schwinden des Interesses „mancher Mitglieder“ am Verein und seinem Wirken zurückzuführen ist, bleibt unserem Blick verborgen. Genügte Ihnen das Erreichte? Hatte das in der Vereinsgründung zum Ausdruck gelangte Aufbegehren gegen den miserablen Zustand der Advokatur seinen Reiz verloren oder ist es aufkommender Trägheit gewichen? Oder hat vielleicht der fast drei Jahre dauernde heftige Verfassungskonflikt, den Ernst August heraufbeschwor, indem er durch Patent vom 1.11.1837 das Staatsgrundgesetz von 1833 für ungültig erklärte, und der die Gesellschaft in königstreue Gefolgschaft, Unentschlossene und unbeugsame Widerständler spaltete, den Verein gelähmt? Nur würde dies nicht erklären, weshalb er, nachdem sich die Erregung nach Inkrafttreten des Landesverfas-

112 Siegrist, a.a.O., Fn. 3, S. 364. 113 Die Mitgliederverzeichnisse auf den letzten Seiten jedes Hefts der Annalen. 114 AAVH Neue Folge, Hannover 1846, 1. Bd., 1. Heft, S. III f. 186

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Die Gründung des Advokatenvereins zu Hannover

sungsgesetzes vom 1.7.1840 beruhigt hatte, weitere sechs Jahre aus dem Gesichtsfeld verschwand. Wie dem auch sei, der Gründung des Advokatenvereins zu Hannover folgten zahlreiche Vereinsgründungen anderenorts. Das trug dazu bei, dass der Stand der Advokaten Schritt für Schritt aus seinem Schattendasein heraustreten und ein eigenständiges Profil entwickeln konnte. Am Ende dieser Entwicklung, deren Darstellung den Rahmen dieses Beitrages überschreiten würde, standen die am 8.11.1850 verkündeten und 1852 in Kraft ­getretenen Justizorganisationsgesetze des Königreichs, das Gerichtsverfassungsgesetz, die Bürgerliche Prozessordnung, die Allgemeine Strafprozessordnung und das Gesetz über die Einrichtung von Anwaltskammern,115 bahn­brechende Kodifikationen, die zum Vorbild der Reichsjustizgesetze von 1877/1879 wurden. Mit dem Anwaltskammergesetz eröffnete das Königreich Hannover die Gründungsphase der Anwaltskammern in Deutschland.116 An die Stelle der Funktionsteilung in Prokuratoren und Advokaten trat ein Nebeneinander von Advokaten und Rechtsanwälten, bis sich schließlich der auch amtlich so titulierte Rechtsanwalt als alleiniger Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten durchsetzte.117 Eingeleitet hatte die Reformen der Innenminister der Märzregierung Stüve. Verfasst wurden die Gesetze vom Justizrat Adolf Leonhardt, verantwortet wurden sie vom Justizminister Ludwig Windthorst. Leonhardt begann seine berufliche Laufbahn als Advokat am Stadtgericht in Hannover, wurde 1848 als Referent in die Justizverwaltung berufen, stieg innerhalb weniger Jahre zum Generalsekretär des von Windhorst geführten Ministeriums auf, wurde 1865 selbst Justizminister118 und nach dem Untergang des Königreichs im preußisch-österreichischem Krieg 1867 preußischer Justizminister. Solange er Advokat in Hannover war, gehörte er dem Verein an und war Mitglied der Redaktion, die ab 1846 die Neue Folge der Annalen redigierte. Windhorst begann seine berufliche Laufbahn als Advokat in Osnabrück, ging in die Politik und sollte nach der Reichsgründung als führender Repräsentant der Zentrumspartei im Deutschen Reichstag Bismarcks einfluss­ reichster parlamentarischer Widersacher werden.

115 Gesetzessammlung f. d. Königreich Hannover, 1850, S. 589–600. 116 Siegrist, a.a.O., Fn. 3, S. 379. 117 Weißler, a.a.O., Fn. 3, S. 422 f. 118 Roscher, a.a.O., Fn. 3, S. 41. 187

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Ulrich Stobbe

VII. Schlussbemerkung Es waren praktizierende oder ehemalige Advokaten, die den Reform­ prozess vorbereitet, eingeleitet und vollendet haben: Freudentheil, Stüve, Leonhardt und Windthorst. Der Advokatenverein brachte sich in den Re­ formprozess mit mehreren Stellungnahmen ein. Der Rechtsanwalts- und Notarverein Hannover e. V. darf getrost ein wenig stolz auf seine in der Geschichte der Advokatur bemerkenswerte Tradition und seine sechzehn beherzt handelnden Gründungsväter sein. Durch ihre Vereinigung und ihr zukunftsweisendes Konzept sowie durch ihre von der Regierung unerwünschte Anmaßung, für den ganzen Stand handeln zu wollen, traten sie aus dem Schatten heraus, der seit Generationen über dem Stand lag, und gaben der hannoverschen Advokatur ein neues Gesicht und eine Stimme, die im rechtspolitischen Diskurs Beachtung fand. Ihre Vereinsgründung und die zahlreichen Advokatenvereine, die anschließend vielerorts in Deutschland entstanden, waren ein wichtiger Schritt vom Stand zum Beruf auf dem unendlichen Weg der Professionalisierung. Der von den sechzehn Gründern beschlossene Zweck ihrer Vereinigung, einen auf Rechtlichkeit und Unbescholtenheit gerichteten Gemeingeist zu wecken und zu erhalten, wissenschaftliche und praktische Ausbildung zu fördern und dadurch zur Hebung des Advokatenstandes mitzuwirken, mag in seiner altfränkischen Diktion fremd klingen, sinngemäß ist er heute so aktuell wie vor 190 Jahren.

188

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Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof – wer ist das, was ist das? * Volkert Vorwerk

I. Rechtsanwalt beim Bundes­ gerichtshof 1. Voraussetzungen 2. Stellung und Besonderheiten 3. Wie wirkt sich das Ganze im ­Zusammenspiel mit dem Bundesgerichtshof aus? a) BGH – Anträge auf Beiordnung eines Notanwalts b) Nichtzulassungsbeschwerden – Rücknahmequote c) Zugelassene Revision – ­Rücknahmequote d) Nichtzulassungsbeschwerden – Verwerfungsquote

e) Zugelassene Revision – ­Verwerfungsquote f) Erledigungsquoten Oberste ­Gerichtshöfe des Bundes II. Tätigkeit in der Praxis 1. Lauf des Verfahrens 2. Darstellung des Zulassungsgrundes 3. Zulassungsentscheidung III. Rechtsprüfung des Gerichts 1. Uneinheitliche Zulassungspraxis 2. Keine Begründung des Zurück­ weisungsbeschlusses 3. Wertgrenze bei Revisionen 4. Zulassungsrecht ist Richterrecht

I. Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof 1. Voraussetzungen Die Tradition reicht in die Zeit des Reichsgerichts zurück.1 Mit Errichtung des Bundesgerichtshofes im Jahre 1950 ist die Tradition fortgesetzt worden.2 Wer Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof werden will, muss das * Dem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, den der Verfasser anlässlich der Tagung der Deutschen Richterakademie 16b/2019 vom 26. bis 29.5.2019 zum Thema „Praxis der Nichtzulassungsbeschwerde und Revision“ vor Vertretern der Obersten Bundesgerichte gehalten hat. Die Statistiken sind, soweit neueres Zahlenmaterial zur Verfügung stand, aktualisiert worden. Der Verfasser nahm auf Initiative der Teilnehmer des Bundesgerichtshofes an dieser Tagung als einziger Rechtsanwalt teil. 1 Hartung in Henssler/Prütting, 5. Aufl. 2019, § 162 BRAO Rz. 1. 2 Vorwerk in Gaier/Wolf/Göcken, 3. Aufl. 2020, § 162 BRAO Rz. 1. 189

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Volkert Vorwerk

Mindestalter von 35 Jahren überschritten haben3 und mindestens fünf Jahre ununterbrochen vor der Zulassung als Rechtsanwalt tätig gewesen sein.4 Es gibt einen Wahlausschuss;5 dieser Wahlausschuss besteht aus den Vorsitzenden der Zivilsenate des Bundesgerichtshofes sowie dem Präsidenten – jetzt der Präsidentin – des Bundesgerichtshofes einerseits sowie den Mitgliedern des Präsidiums der Bundesrechtsanwaltskammer des Präsidiums der Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof andererseits.6 Diese Zusammensetzung bedeutet, dass der Wahlausschuss derzeit aus den dreizehn Vorsitzenden der gegenwärtig dreizehn Zivilsenate des Bundesgerichtshofes, der Präsidentin des Bundesgerichtshofes und den jeweils fünf Mitgliedern des Präsidiums der beiden genannten Rechtsanwaltskammern besetzt ist. Diese ungleiche Besetzung hat in der Diskussion zu dem Vorwurf geführt, es könne nicht angehen, dass sich die Richter eines Gerichts die vor dem Gericht auftretenden Anwälte selbst aussuchen. Dieser Vorwurf ist unbegründet; es hat in der Praxis weder eine „Kampfabstimmung“ noch unterschiedliche Beurteilungen darüber gegeben, ob ein Bewerber als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof geeignet oder ungeeignet ist. Das ist zumindest das Ergebnis von Befragungen und eigener Beobachtung über zwei Jahrzehnte Tätigkeit als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof. Im Wahlausschuss wird für jeden Bewerber von einem richterlichen und einem anwaltlichen Mitglied des Wahlausschusses jeweils ein Gutachten gefertigt;7 die Gutachter haben das Recht, den Bewerber zu einem Gespräch einzuladen; auch der persönliche Eindruck des Bewerbers fließt mithin in die Beurteilung ein.8 Der Wahlausschuss bestimmt auf der Grundlage der Eingangszahlen des Bundesgerichtshofes und der beim Bundesgerichtshof im Zeitpunkt der Wahl zugelassenen Rechtsanwälte die Zahl der Rechtsanwälte, die aus seiner Sicht neu zuzulassen sind. Alsdann werden unter den geeigneten Bewerbern die doppelte Anzahl derer gewählt, die der Wahlausschuss für die Tätigkeit als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof für besonders geeignet erachtet.9 Die Liste der gewählten 3 § 166 Abs. 3 BRAO. 4 § 166 Abs. 3 BRAO. 5 §§ 164, 165 BRAO. 6 § 165 Abs. 1 BRAO. 7 Vgl. Vorwerk in Gaier/Wolf/Göcken, 3. Aufl., § 167 BRAO Rz. 5. 8 Vgl. Vorwerk in Gaier/Wolf/Göcken, 3. Aufl., § 167 BRAO Rz. 6a. 9 § 168 Abs. 2 BRAO. 190

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18.05.2021 12:57:38

Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof – wer ist das, was ist das?

Bewerber und deren Personalakten geht an den Bundesminister der Justiz (jetzt Justiz- und Verbraucherschutz). Aus der Zahl der Gewählten lässt der Bundesminister die Bewerber zu, deren Zulassung er für richtig erachtet. Einen Anspruch auf Zulassung erlangt der gewählte Bewerber nicht.10 2. Stellung und Besonderheiten Der Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof hat gegenüber den übrigen Rechtsanwälten eine besondere Stellung. Seine Tätigkeit ist auf die Vertretung bei den Obersten Bundesgerichten und den internationalen Gerichtshöfen sowie auf die Vertretung vor dem Bundesverfassungsgericht beschränkt.11 Eine Beschränkung in der Beratungstätigkeit ist nicht vorgesehen. In der Praxis findet die klassische Beratungstätigkeit allerdings nicht statt; prozessbegleitende Beratung ist eine Aufgabe, die ab und zu wahrgenommen wird. In Verfahren, die der Zivilprozessordnung sowie aufgrund der Anordnung in Spezialgesetzen unterliegen, können beim Bundesgerichtshof nicht zugelassene Rechtsanwälte nicht auftreten.12 Das stellt sich für alle nicht zugelassenen Anwälte als Berufsausübungsbeschränkung dar mit der Folge, dass die Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof im Rahmen ihrer Tätigkeit dem Gemeinwohl dienen müssen, um ihre besondere Zulassung zu rechtfertigen. In der Praxis bedeutet dies, dass Mandate auch mit geringen Streitwerten13 nach den vom RVG vorgesehenen Sätzen abgerechnet werden. Ziel dieser Handhabung ist, jedem Rechtssuchenden unabhängig von der Höhe des Honorars eine qualifizierte Prozessführung zu sichern. Gegenleistung für das Oligopol, in dem die Rechtsanwälte beim Bundesgerichthof tätig sind, ist die Möglichkeit der Quersubvention: Mandate mit höheren und sehr hohen Streitwerten werden ebenfalls nach den Sätzen der RVG abgerech10 § 168 Abs. 3 BRAO; vgl. auch Vorwerk in Gaier/Wolf/Göcken, 3. Aufl., § 168 BRAO Rz. 9. 11 § 172 Abs. 1 BRAO. 12 Vgl. § 78 Abs. 1 Satz 3 ZPO; § 85 Abs. 5 MarkenG; § 102 Abs. 5 PatG. 13 Im Jahr 2015 lag der Anteil der Revisionen mit einem Streitwert von bis zu 20.000 Euro bei 64,3 % der Verfahren; im Jahr 2016 bei 69,0 %. Rund 90 % aller zugelassenen Revisionen hatten einen Streitwert von bis zu 100.000 Euro. 191

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Volkert Vorwerk

net. Wettbewerb findet statt; und zwar in einer Stärke, wie man sie als Anwalt im tatrichterlichen Bereich so nicht erlebt. Rechtliche Phantasie und sorgfältigste Arbeit erhöhen die Aussicht, im Verfahren mit hohen Streitwerten mandatiert zu werden. Qualität gibt den Ausschlag für die Erteilung des Mandats. Der Golfplatz oder die Mitgliedschaft im Verein sind für die Tätigkeit als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof ohne jede Bedeutung. Die Rechtsprechung eröffnet dem Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof gegenüber dem Anwalt, der im Verfahren vor dem Tatrichter tätig ist, eine freiere Tätigkeit. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof im Rahmen seiner Tätigkeit eine aus den Belangen des Gemeinwohls abgeleitete Filterfunktion;14 aussichtslose Rechtsmittel hat er vom Bundesgerichtshof fernzuhalten.15 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat kein Mandant Anspruch darauf, dass seinen rechtlichen Überlegungen, das Rechtsmittel zu begründen, gefolgt wird.16 Die Bereitschaft zur Eigenverantwortung17 und die diese Verantwortung erfordernde Sorgfalt in der Bearbeitung der Mandate geben in der Praxis die Gewähr, dass die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Filterfunktion auch wahrgenommen wird. Um diese Filterfunktion ausüben zu können, bedarf es aber auch einer „über die Bank hinweg gesicherten“ wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit. Das heißt: die Zahl der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte muss so bemessen sein, dass jene Anwälte „nicht fett und unbeweglich“ werden; andererseits aber auch so, dass sie nicht aus wirtschaftlichen Gründen ihre Filterfunk­ tion aufgeben müssen.

14 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.8.2008 – 1 BvR 1295/07, Umdruck, Rz. 33; Beschl. v. 31.10.2002 – 1 BvR 819/02, BVerfGE 106, 216 = juris, Rz. 14 ff. 15 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 1295/07, Umdruck, Rz. 36; Beschl. v. 31.10.2002 – 1 BvR 819/02, BVerfGE 106, 216 = juris, Rz. 18. 16 BGH, Beschl. v. 16.10.2014 – III ZR 81/14, juris, Rz. 2; Beschl. v. 18.12.2013 – III ZR 122/13, WM 2014, 425 = juris, Rz. 12; vgl. auch Beschl. v. 20.11.2012 – VIII ZR 175/12, juris, Rz. 2. 17 BGH, Beschl. v. 18.12.2013 – III ZR 122/13, WM 2014, 425, juris, Rz. 12; Beschl. v. 20.11.2012 – VIII ZR 175/12, juris, Rz. 2. 192

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18.05.2021 12:57:38

Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof – wer ist das, was ist das?

3. Wie wirkt sich das Ganze im Zusammenspiel mit dem Bundesgerichtshof aus? Der Notanwalt – eine Einrichtung,18 der man aus der Tätigkeit als Anwalt im Verfahren vor dem Tatrichter durchweg nicht begegnet – ist ein Gradmesser, der erkennen lässt, ob Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof die ihnen zugedachte Aufgabe wahrnehmen. a) BGH – Anträge auf Beiordnung eines Notanwalts beige­ Zum ander­ ordnet ­Vergleich: weitige Rechtsmittel­ ­ rledigung E eingänge

Anträge

anhängig

abge­ lehnt

2017

22



20

2



6316

2016

18



10

5

2

6531

2015

28



21

7



6466

2014

21



14

7



6230

Die Statistik zeigt mithin, dass ungeachtet des Streitwertes jede Partei einen Anwalt beim Bundesgerichtshof findet, der zur Übernahme des Mandats bereit ist. Die Entscheidungen über die Ablehnung der Bestellung eines Notanwalts eröffnen durchweg,19 dass der oder die zuvor beauftragten Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof abvotiert haben; also ein begründetes Votum zu Papier gebracht haben, aus dem folgt, dass das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat, was die Bestellung eines Notanwalts ausschließt. Zweiter Gradmesser der Funktion der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof ist die Entlastung des Bundesgerichtshofes von aussichtslosen Rechtsmitteln.

18 § 78b ZPO. 19 Vgl. BGH, Beschl. v. 25.4.2019  – III ZB 126/18, juris, Rz.  4; Beschl. v. 25.10.2018 – III ZR 121/18, juris, Rz. 4; Beschl. v. 16.10.2014 – III ZR 81/14, juris, Rz. 2. 193

_FS-Hannover.indb 193

18.05.2021 12:57:38

Volkert Vorwerk

b) Nichtzulassungsbeschwerden – Rücknahmequote BGH

BAG

BVerwG

BFH

BSG

2019

23,79 %

12,26 %

6,28 %

15,02 %

K.A.*

2018

27,38 %

15,31 %

5,34 %

14,42 %

K.A.

2017

27,61 %

12,75 %

10,23 %

14,81 %

K.A.

2016

22,32 %

15,08 %

5,32 %

13,28 %

12,83 %

2015

25,59 %

16,78 %

5,06 %

13,10 %

15,09 %

2014

21,44 %

13,47 %

4,84 %

15,17 %

13,92 %

2013

23,45 %

13,62 %

7,83 %

12,28 %

13,34 %

* keine Angabe

c) Zugelassene Revision – Rücknahmequote BGH

BAG

BVerwG

BFH

BSG

2019

21,88 %

23,27 %

10,55 %

8,76 %

K.A.

2018

30,23 %

21,94 %

12,00 %

10,59 %

K.A.

2017

32,19 %

26,84 %

12,20 %

10,07 %

K.A.

2016

28,70 %

16,43 %

10,70 %

11,82 %

11,82 %

2015

14,72 %

28,81 %

15,16 %

10,65 %

12,71 %

2014

23,73 %

15,18 %

14,75 %

9,97 %

9,79 %

2013

24,71 %

20,36 %

18,63 %

8,01 %

16,07 %

Um die Entlastungswirkung noch differenzierter beurteilen zu können, sind zu den sich aus den angeführten Statistiken ergebenden Zahlen die Abvotate hinzuzurechnen, die vor Einlegung des Rechtsmittels erfolgen. Diese Abvotate fließen nicht in die offizielle Statistik ein. Die Zahl jener Abvotate hat die Kammer der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof durch Strichlisten erfasst; es sind pro Jahr rund 2600 Verfahren, die aufgrund eines Abvotats vor Einlegung des Rechtsmittels erst gar nicht zu einer Belastung des Bundesgerichtshofes führen.20 20 Auskunft der Präsidentin der Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof 21. KW 2019. 194

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18.05.2021 12:57:39

Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof – wer ist das, was ist das?

Die Zahl der als unzulässig verworfenen Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden ist ein weiterer Gradmesser über die Effektivität der Einrichtung einer gesonderten Anwaltschaft bei einem Bundesgericht. Die folgende Zusammenstellung gibt Aufschluss über die Zahl der als unzulässig verworfenen Nichtzulassungsbeschwerden und Revisionen. d) Nichtzulassungsbeschwerden – Verwerfungsquote BGH

BAG

BVerwG

BFH

BSG

2019

4,30 %

71,97 %

39,09 %

39,05 %

88,35 %

2018

4,79 %

53,43 %

40,85 %

44,12 %

85,58 %

2017

4,37 %

70,09 %

33,51 %

46,11 %

89,37 %

2016

4,71 %

70,64 %

38,66 %

41,96 %

88,37 %

2015

5,16 %

70,94 %

31,78 %

41,29 %

91,22 %

2014

5,50 %

62,24 %

27,85 %

39,85 %

91,67 %

2013

6,04 %

58,63 %

26,78 %

39,13 %

90,94 %

e) Zugelassene Revision – Verwerfungsquote BGH

BAG

BVerwG

BFH

BSG

2019

2,67 %

0,48 %

0,67 %

2,83 %

K.A.

2018

2,60 %

3,20 %

0,56 %

6,16 %

K.A.

2017

3,49 %

3,33 %

1,53 %

4,60 %

K.A.

2016

7,29 %

4,90 %

7,75 %

3,70 %

K.A.

2015

2,97 %

K.A.

12,81 %

2,66 %

K.A.

2014

2,76 %

K.A.

5,38 %

3,80 %

K.A.

2013

0,53 %

K.A.

4,88 %

5,28 %

K.A.

Bei der Zahl der als unzulässig verworfenen Nichtzulassungsbeschwerden und Revisionen ist zu berücksichtigen: Wird nach einem Abvotat keine Ermächtigung zur Rücknahme des Rechtsmittels erteilt, wird durchweg das Mandat niedergelegt, ohne das Rechtsmittel zu begründen. Aller Erfah195

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18.05.2021 12:57:39

Volkert Vorwerk

rung nach gibt es deshalb beim Bundesgerichtshof praktisch kein Rechtsmittel, das aufgrund handwerklicher Fehler als unzulässig verworfen wird. Gradmesser des Nutzens einer besonderen Anwaltschaft ist zudem die Effektivität richterlicher Arbeitskraft. Die folgende Zusammenstellung gibt Aufschluss darüber, wieviel Verfahren ein bei dem jeweiligen Bundesgericht tätiger Bundesrichter jährlich abwickelt. f) Erledigungsquoten Oberste Gerichtshöfe des Bundes BGH

BAG

BVerwG

BSG

BFH

98

40

52

43

60

Erledigungen 2016 (ohne Anhörungsrügen)

6328

2195

1571

3690

2596

Erledigungen/Richter

64,57

54,88

30,21

85,81

43,27

Berufsrichter (GVPe Stand 10/2017)

Anm.: Die Anzahl der Richter wurde aus den jeweiligen Geschäftsverteilungsplänen (Stand 29.10.2017) ermittelt; die Zahl der erledigten Verfahren gilt für das Jahr 2016.

Die Erledigungsquote beim Bundesgerichtshof ist, insbesondere, wenn man einbezieht, dass dort in jeder Sache schriftliche Voten vor der Beratung erstellt werden,21 evident. Irritieren lassen darf man sich nicht dadurch, dass die Erledigungsquote beim Bundessozialgericht deutlich höher ist. Man rufe sich in Erinnerung, dass beim Bundessozialgericht jährlich rund 90 % der Nichtzulassungsbeschwerden als unzulässig verworfen werden.22

21 Die Aussprache in der Tagung hat ergeben, dass dies so nicht in allen Senaten der Obersten Bundesgerichte praktiziert wird; die Unterschiede der Art der Bearbeitung unter den einzelnen Obersten Bundesgerichten sind erheblich. 22 Siehe Zusammenstellung I. 3. d) 196

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18.05.2021 12:57:39

Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof – wer ist das, was ist das?

II. Tätigkeit in der Praxis 1. Lauf des Verfahrens Wie sieht die Tätigkeit des Rechtsanwalts beim Bundesgerichtshof über den Verlauf eines Verfahrens in der Praxis aus? Nach Einlegung des Rechtsmittels ist auf den Eingang der Gerichtsakten beim Bundesgerichtshof zu warten; alsdann bleibt nach Übergabe der Gerichtsakten für die Rechtsmittelbegründung aufgrund gesetzlicher Regelung zwei Monate Zeit.23 Da anhand der Gerichtsakten gearbeitet wird, wird der Sach- und Streitstand aus derselben Sicht beurteilt, die sich dem Richter beim Bundesgerichtshof bei der Bearbeitung der Sache eröffnet. Dadurch werden Verfahrensfehler bemerkt, die ohne kritische Durchsicht der Gerichtsakten nicht erkannt würden. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an den Fall,24 in dem über Vermerke in der Gerichtsakte zu erkennen war, dass die Nachberatung über einen nachgelassenen Schriftsatz in einer Landwirtschaftssache nicht prozessordnungsgemäß zwischen den Berufsrichtern und den ehrenamtlichen Richtern stattgefunden hat. Die nach Einführung des Zulassungsrechts erhobenen Rügen haben zudem dazu geführt, dass der Bundesgerichtshof den Katalog der Fälle der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gegenüber dem, den das Bundesverfassungsgericht zuvor geprägt hatte, erheblich ausgeweitet hat.25 2. Darstellung des Zulassungsgrundes Das Stichwort „Eigenverantwortung“ zwingt im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde nur den Zulassungsgrund herauszuarbeiten und sich auf die Darstellung des Zulassungsgrundes zu beschränken. Der Sachverhalt wird, soweit er für den Zulassungsgrund von Bedeutung ist, anhand des Berufungsurteils, möglichst unter Angabe der entsprechenden Seite des Urteils, auf der das Detail des Sachverhalts wiedergegeben wird, geschildert. Im Anschluss daran wird die Statthaftigkeit der Beschwerde im Hin-

23 Revision: § 551 Abs. 2 Satz 6 ZPO; Nichtzulassungsbeschwerde: §§ 544 Abs. 2 Satz 2, 551 Abs. 2 Satz 6 ZPO. 24 BGH, Urt. v. 28.11.2008 – LwZR 4/08, NJW-RR 2009, 286 = juris, Rz. 3, 7 ff. 25 BGH, Beschl. v. 3.4.2019 – VII ZB 59/18, juris, Rz. 17; Beschl. v. 29.10.2015 – V ZR 61/15, NJW-RR 2016, 78 = juris, Rz.  7; Beschl. v. 14.11.2017  – VIII ZR 101/17, NJW 2018, 1171 = juris, Rz. 8 ff. 197

_FS-Hannover.indb 197

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Volkert Vorwerk

blick auf § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, also die Wertgrenze, dargetan und schließlich der Zulassungsgrund ausgeführt. Auf die Beschwerdeantwort, die punktgenau auf den Zulassungsgrund rekurriert, erfolgt durchweg keine Erwiderung. Alles, was im Hinblick auf die Zulassung der Revision auszuführen ist, findet Eingang in die Rechtsmittelbegründung. Überraschungen, ausgelöst durch die Rechtsmittelanwort, darf es nicht geben. Wird dies eingehalten – und das ist zumeist der Fall –, umfasst die „ideale Rechtsmittelbegründung“ im Regelfall zwischen 13 und 18 Seiten; die Rechtsmittelerwiderung kann sich auf eine geringere Seitenzahl beschränken; sie muss den Sachverhalt, der für das Verständnis des Zulassungsgrundes erforderlich ist, nicht erneut wiedergeben. 3. Zulassungsentscheidung Nach der Rechtsmittelantwort folgt, bei einigen Zivilsenaten nach, mit Verlaub, nervtötender Dauer, die Entscheidung über die Zulassung der Revision. Jene Entscheidung ist in der Regel nicht begründet. Ist das zu bedauern oder zu beklagen? Die Antwort ist einfach: Wenn man in einem Verfahren, das angetragen worden ist, abvotiert, muss das Abvotat so klar und umfangreich begründet werden, dass der Mandant versteht, warum auf der Grundlage des für das Rechtsmittelverfahren vor dem Revisionsgericht maßgebenden Sachund Streitstandes aus Rechtsgründen kein Erfolg zu erwarten ist. Die vom Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof vertretene Partei muss aus den Ausführungen verstehen können, welche Gründe für das Unterliegen maßgebend sind; und: warum die Mittel des Revisions- und Zulassungsrechts einem Erfolg entgegenstehen. Nach der Begründung eines Rechtsmittels hat der Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof eine ähnliche Aufgabe. Er muss der von ihm vertretenen Partei verständlich machen, warum die Entscheidung des Berufungsgerichts nur in dem einen Punkt, den die Partei nicht selten sogar für nebensächlich erachtet, anzugreifen ist, weil nur dort ein Zulassungsgrund auszumachen ist. Der Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof kennt den Sach- und Streitstand, er muss also durchweg wissen, warum das Rechtsmittel trotz bejahter Erfolgsaussicht dennoch scheitern kann. Scheitern, trotz grundsätzlicher Bedeutung? Den Irrweg, den der Bundesgerichtshof zunächst mit der Forderung gegangen ist, grundsätzliche Be198

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deutung habe die Rechtsfrage, die in Rechtsprechung oder in der Literatur kontrovers diskutiert werde,26 hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen versperrt. Grundsätzliche Bedeutung hat auch eine Rechtsfrage, die nicht Gegenstand eines Meinungsstreits ist.27 Das ist nicht nur richtig, sondern lässt auch an dem Verstand derer zweifeln, die zuvor die Auffassung vertreten haben, nur das, was andere vorgedacht haben, dürfe richterlicher Entscheidung unterliegen. Grundsätzliche Bedeutung heißt aber auch, dass offen sein kann, ob sich die zu entscheidende Rechtsfrage noch mehrfach stellt; grundsätzliche Bedeutung heißt zudem, dass sich der Königsweg der offenen Rechtsfrage nicht stets sogleich eröffnet. Man muss daher für den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Partei zugleich vor Augen führen, dass im Rahmen der Zulassungsentscheidung auch richterliche Wertungen einfließen, von denen der Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde abhängt. Für die Fortbildung des Rechts, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ein Unterfall der grundsätzlichen Bedeutung ist,28 stellen sich die Dinge nicht anders dar. Bitter ist allerdings, wenn in einer Sache grundsätzliche Bedeutung verneint wird, ein Jahr später allerdings in einer anderen etwa gleich gelagerten Sache die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung erfolgt. Die Vorwürfe des Korrespondenten der eigenen Partei, also des Anwalts, der seinerzeit das Mandat angetragen hat, muss man aushalten können. Das Vertrauen, fehlerfrei gearbeitet zu haben, muss man sich vorher erwerben. Wann erfordert – so der dritte Zulassungsgrund – die Sicherung der Einheit der Rechtsprechung die Zulassung der Revision?29 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat diesen Zulassungsgrund aus unterschiedlichen Ebenen beleuchtet und einen Weg beschritten, der – diese Formulierung sei hier erlaubt – an Kuriositäten nicht hat reicher sein können. Ein schwerer Rechtsfehler  – so eine Entscheidung des V.  Zivilsenats aus der Anfangszeit des Zulassungsrechts – kann die Zulassung der Revision nicht 26 Vgl. BGH, Beschl. v. 9.10.2003 – IX ZB 34/03, WM 2004, 39 = juris, Rz. 3; Beschl. v. 27.3.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 = juris, Rz. 5. 27 BVerfG, Beschl. v. 28.6.2012 – 1 BvR 2952/08, WM 2013, 15 = juris, Rz. 24; Beschl. v. 29.9.2010 – 1 BvR 2649/06, juris, Rz. 29. 28 BGH, Beschl. v. 16.9.2013 – IX ZR 264/12, juris, Rz. 4; Beschl. v. 22.10.2009 – IX ZB 50/09, WM 2010, 237 = juris, Rz. 4. 29 § 543 Abs. 2 ZPO. 199

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gebieten; er spreche eher gegen als für die Gefahr einer Wiederholung.30 Der XI. Senat betont: Ein leichter Rechtsfehler könne eine Zulassung ebenfalls nicht begründen; es komme allein auf die Frage der Wiederholungsgefahr an.31 Eine Divergenz erfordert, so die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, die Zulassung der Revision. Aufgegeben ist diese Rechtsprechung bisher nicht, obwohl sich seit Jahrzehnten in der Begründung von Urteilen durchgesetzt hat, der Subsumtion im zu entscheidenden Einzelfall keinen Rechtssatz voranzustellen. Die Divergenz hat ihren Stellenwert erst wiedererlangt, nachdem die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes den sog. nicht notwendig geschriebenen Obersatz erfunden hat,32 der in der Begründung einer Entscheidung steckt und eine Abweichung von einem Rechtssatz des Bundesgerichtshofes begründen kann. Was kann man mit dieser Rechtsprechung anfangen? Ist das, was man in den Entscheidungsgründen liest, ein unausgesprochener Rechtssatz oder lediglich die fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall? In der Rechtsprechung nach Einführung des Zulassungsrechts in die Zivilprozessordnung findet sich ferner der Hinweis, dass die Revision zuzulassen ist, wenn das Berufungsgericht „seinen Überlegungen einen unrichtigen Obersatz zugrunde gelegt“33 hat. Was ein rechtlicher Obersatz ist, hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in diesem Zusammenhang nicht erklärt.34 „Durchgesickert“ ist allerdings, dass Fehler in der Vertragsauslegung oder der Subsumtion unter offene Tatbestände, wie etwa der Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben, keinen Zulassungsgrund abgeben. Und dann gab es da noch den Rechtsfehler, für den eine Wiederholungsund Nachahmungsgefahr dargestellt werden kann.35 Um dies auszuführen, kam man als Revisionsanwalt auf die Idee, über die allgemein zugänglichen Datenbanken Entscheidungen ausfindig zu machen, in denen der gleiche 30 BGH, Beschl. v. 27.3.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 = juris, Rz. 13 31 BGH, Beschl. v. 1.10.2002 – XI ZR 71/02, BGHZ 152, 182 = juris, Rz. 18 ff. 32 Vgl. BGH, Beschl. v. 23.3.2011 – IX ZR 212/08, WM 2011, 1196 = juris, Rz. 3 ff.; vgl. auch Beschl. v. 18.11.2010 – IX ZR 193/07, juris, Rz. 1. 33 BGH, Beschl. v. 18.3.2004 – V ZR 222/03, NJW 2004, 1960 = juris, Rz. 9. 34 Vgl. BGH, Beschl. v. 18.3.2004 – V ZR 222/03, NJW 2004, 1960 = juris, Rz. 9; vgl. auch Beschl. v. 23.3.2011 – IX ZR 212/08, WM 2011, 1196 = juris, Rz. 3 ff. 35 BGH, Beschl. v. 1.10.2002 – XI ZR 71/02, BGHZ 152, 182 = juris, Rz. 14; B ­ eschl. v. 4.7.2002 – V ZR 75/02, WM 2002, 1811 = juris, Rz. 8. 200

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Rechtsfehler unterlaufen war. Die Nachahmungsgefahr ließ sich damit begründen. Dem hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes jedoch den Grundsatz entgegengestellt, dass eine Nachahmungs- und Wiederholungsgefahr nur dann besteht, wenn konkret dargelegt wird, dass eine ständige Fehlerpraxis besteht oder die ernsthafte Gefahr einer Nachahmung durch andere Gerichte gegeben ist.36 Das lässt sich bei realistischer Betrachtung in keinem einzigen Fall darstellen. In der Praxis hat sich die hier zitierte Rechtsprechung zum Zulassungsgrund der Sicherung der Einheit der Rechtsprechung in der Wahrnehmung des Revisionsanwalts beim Bundesgerichtshof „in Luft aufgelöst“. Nach einer, wie man weiß, Sitzung der Vorsitzenden der Zivilsenate, die etwa 2003 oder 2004 stattgefunden hat, ist „die Parole ausgegeben“ worden, Zu­ lassungsgrund ist die Verletzung von Verfahrensgrundrechten und die Verletzung des Willkürverbotes. Darauf wird der Zulassungsgrund der Sicherung der Einheit der Rechtsprechung in der Wahrnehmung des Rechtsanwalts beim Bundesgerichtshof letztendlich reduziert.

III. Rechtsprüfung des Gerichts 1. Uneinheitliche Zulassungspraxis Das Zulassungsrecht schafft Ungleichheit im Recht. Wer die Zulassungshürde überspringt, hat Anspruch auf eine volle Rechtsüberprüfung. Die Messlatte wird unterschiedlich ausgelegt: Berufungsgerichte lassen die Revision zu, obwohl Zulassungsgründe bei objektiver Betrachtung nicht gegeben sind. Die Zulassungspraxis der Senate des Bundesgerichtshofes ist uneinheitlich; die Unterschiede haben nicht nur marginale Bedeutung. Beispiel mag dafür eine erst jüngst erfolgte Zulassung der Revision durch den I. Zivilsenat sein: dort hat sogar eine im Zeitpunkt der Zulassung unzulässige Klage die Zulassungshürde überschreiten können. Die Reihenfolge der Streitgegenstände, über die hat entschieden werden sollen, war im Zeitpunkt der Zulassung der Revision nicht bestimmt.37 Jene Bestimmung 36 BGH, Beschl. v. 27.3.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288 = juris, Rz. 13; vgl. auch Beschl. v. 25.11.2003 – VI ZR 184/03, FamRZ 2004, 265 = juris; Beschl. v. 23.9.2003 – XI ZR 54/03, juris, Rz. 2. 37 BGH, Urt. v. 21.2.2019 – I ZR 98/17, juris, Rz. 21, 22; Urt. v. 21.2.2019 – I ZR 99/17, juris, Rz. 19, 20. 201

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erfolgte erst in der mündlichen Verhandlung über die Revision auf Hinweis des Senatsvorsitzenden.38 Die Sache war rechtlich höchst spannend; so hob der I. Zivilsenat sie „mal schnell“ über die Zulassungshürde. Die sachgerechte Beratung, ob eine Nichtzulassungsbeschwerde zum Erfolg führen kann, erfordert Rechtssicherheit. Das gilt nicht nur für Verfahren vor dem Bundesgerichtshof; das gilt für alle Bundesgerichte. Irrwege, die die Rechtsprechung aus der Sicht späterer Richtergenerationen gegangen ist, sind offiziell als aufgegebene Rechtsprechung zu kennzeichnen. Nur dann lässt sich der Partei in Fällen, die derzeit als Zweifelsfälle zu kennzeichnen sind, verlässlich sagen, das Rechtsmittel hat keine Aussicht auf Erfolg. Die Filterfunktion, die wahrzunehmen ist, wäre noch effektiver. 2. Keine Begründung des Zurückweisungsbeschlusses Soll man sich eine Begründung der zumeist ohne Begründung ergangenen Zurückweisungsbeschlüsse wünschen? Bei sorgfältiger Bearbeitung des angetragenen Mandats ist eine Begründung der Zurückweisungsentscheidung durchweg unnötig. Wer sorgfältig arbeitet, weiß um die Schwächen der Rechtsmittelbegründung. Er kennt zumindest einen oder mehrere Gründe, aus denen das Rechtsmittel scheitern kann. Wird ausnahmsweise in der Praxis des Bundesgerichtshofes statt der Zulassung der Revision eine Begründung für die Zurückweisung gegeben, spart die Partei, die unterliegt, drei Gerichtsgebühren und die Terminsgebühr der Anwälte. Auch das ist ein Beitrag zur effektiven Rechtsfindung. 3. Wertgrenze bei Revisionen Erstreckt sich die Zahl der zugelassenen Revisionen, wie die Statistik ausweist, unterhalb der Wertgrenze auf rund 50 % bis 60 % aller zugelassenen Revisionen, erscheint die Wertgrenze mehr als ausgewogen. Ihr Wegfall würde nicht nur einen Ansturm von zusätzlichen Verfahren auf den Bundesgerichtshof entfachen. Die Zivilgerichte würden zudem einem immensen Mehraufwand unterliegen. Im Rahmen des Zulassungsrechts fordert die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes im Urteil die Wiedergabe eines Tatbestands und der Anträge, die die Parteien im Berufungsverfahren gestellt haben. Auch die nach derzeitigem Recht nicht mit der Nichtzulas38 BGH, Urt. v. 21.2.2019  – I ZR 98/17, juris, Rz.  22; Urt. v. 21.2.2019  – I ZR 99/17, juris, Rz. 20. 202

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sungsbeschwerde angreifbaren Berufungsurteile müssten mithin einen Tatbestand und die Berufungsanträge enthalten; der Mehraufwand für den Berufungsrichter wäre evident. 4. Zulassungsrecht ist Richterrecht Zulassungsrecht ist angesichts der offenen Tatbestände, die die Zulassungsgründe formulieren, Richterrecht. Bei der Ausfüllung jener offenen Tat­ bestände wird jeder Richter daran denken müssen – und dies ist zugleich Appell an alle Obersten Bundesgerichte –, dass die Perpetuierung fehlerhafter Rechtsanwendung das Vertrauen in den Rechtsstaat unterminiert. Es mag lästig sein, wie es der damalige Vorsitzende des V. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes, der sachlich für den Grundstückskauf zuständig ist, mit der Einführung des Zulassungsrechts in der Zivilprozessordnung formuliert hat, „ständig über nasse Keller entscheiden zu müssen“. Ist das Recht in jenen Fällen fehlerhaft angewendet worden, ruiniert die fehlerhafte Rechtsanwendung das bürgerliche Leben der betroffenen Partei. Rechtsprechung bedeutet die Verwirklichung von Recht. Die Korrektur von Rechtsfehlern hat „erzieherische Wirkung“. Bürgerliche Existenzen dürfen durch fehlerhafte Rechtsanwendung nicht vernichtet werden. Ziel jeder anwaltlichen Tätigkeit muss sein, dies „jeden Tag“, „jedem Richter“ deutlich zu machen.

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I. Einleitung II. Der Schriftsatz nach der ZPO 1. Der äußere Regelungsrahmen der ZPO 2. Die Bestimmung des Entscheidungsprogramms im Sachverhalt III. Reformbestrebungen der Sach­ verhaltserfassung

1. Strukturierung nach Anspruchsgrundlagen 2. Strukturierung nach dem Lebenssachverhalt IV. Die Kunst des Schriftsatzes oder die prozessrechtsdogmatische ­Leerstelle

I. Einleitung Rechtsanwälte äußern sich gegenüber dem Gericht in Form von Schriftsätzen. Die Klageerhebung erfolgt – zumindest am Landgericht – durch die Zustellung der Klageschrift, § 253 ZPO. Die mündliche Verhandlung wird durch Schriftsätze vorbereitet, §§  129, 130 ZPO. Auf die Klage ist nach §§ 275, 277 ZPO schriftlich zu erwidern. Soweit in der mündlichen Verhandlung zu einem bestimmten Vorbringen des Gegners eine Erklärung nicht möglich ist, ist sie in einem Schriftsatz nachzureichen, § 283 ZPO. Die Berufung ist mit der Berufungsschrift einzulegen, §§  519, 520 ZPO, Vergleichbares gilt für die Revision §§ 549, 551 ZPO. Die Frage, wie man diese Schriftsätze am besten verfasst, ist ein Wissen, welches in guten Kanzleien in der Regel von Generation zu Generation weitergegeben wird. Meist nimmt sich ein Seniorpartner eines jungen Rechtsanwalts an und führt ihn in die Kunst des anwaltlichen Schreibens ein. Teils wird ein eigener Kanzlei-Stil geschaffen und gepflegt. Die Kanzlei X&Y unterzeichnet mit „X&Y durch M, Rechtsanwalt“. Oder statt anliegend wird geschrieben: „Liegt hier an.“ Im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch gibt es für die Kunst des anwaltlichen Schreibens den schönen Ausdruck des Legal Writing. An den Law Schools werden Kurse in Legal Writing angeboten,1 1 Eine Übersicht bietet usnews: https://www.usnews.com/best-graduate-schools/ top-law-schools/legal-writing-rankings; vgl. hierzu aber auch die Vorlesung „An205

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Bücher dazu verfasst2 und Schreibtipps, wie das Oxford Komma, veröffentlicht.3 Im Augenblick wird die Frage, wie ein Schriftsatz zu verfassen ist, von zwei Seiten aus diskutiert. Zum einen hat der Dieselskandal ein neues Kapitel der industriellen Produktion von Schriftsätzen hervorgebracht.4 Es wird das Anwaltshandwerk industrialisiert.5 Industrielle Produktion, welche zu einer Vielzahl von Schäden führt, spiegelt sich in der anwaltlichen Fallbearbeitung wider. Über das Internet werden skalierbare Fälle eingeworben und einer standardisierten Fallbearbeitung zugeführt. In welchem Umfang die durch Textbausteine in digitalisierten Fertigungsstraßen6 entstandenen Schriftsätze noch den Anforderungen der ZPO genügen, wird derzeit in einer Reihe von Fällen in Frage gestellt.7 Die Standardisierung der Schriftsatzproduktion wird durch die Gerichte mit der Forderung nach einer auf den konkreten Sachverhalt zugeschnittenen Berufungsbegründung beantwortet. Der zweite Diskussionsstrang betrifft die Forderung, die Schriftsätze zu strukturieren. Bereits der 70. DJT in Hannover griff die Idee auf, dass Rechtsanwälte künftig ihren Vortrag strukturiert vorzutragen haben.8 Zuvor hat insbesondere Gaier schon die Idee eines strukturierten Partei­ vortrags entwickelt.9 Die Idee wurde von Vorwerk zu einem konkreten waltliches Schreiben“ von Dr. Sven Hasenstab im Rahmen des ADVO-Z Studiums und des Schwerpunkts „Anwaltsrecht und anwaltliche Rechtsgestaltung“ an der Juristischen Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. 2 Siehe nur Scalia/Garner, Making Your Case: The Art of Persuading Judges, 2008; Bacharach, Legal writing: A Judge’s Perspective on the Science and Rhetoric of the Written Word, 2020. 3 https://www.americanbar.org/news/abanews/publications/youraba/2019/april2019/10-tips-from-legal-writing-experts/. 4 Röthemeyer, VuR, 2020, 130, 131 ff. 5 So treffend Röthemeyer, VuR, 2020, 130, 131. 6 Hierzu Breidenbach in Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 2018, S. 40. 7 BGH, VI ZB 59/19; BGH, VI ZB 7/20; BGH, VI ZB 67/19; BGH, ZB 5/20; BGH, VI ZB 68/19. 8 Siehe Thesen I von Vorwerk, Thesen der Gutachter und Referenten des 70. DJT, S. 13 f. und Beschluss Nr. 13 der Abteilung Prozessrecht des 70. DJT. 9 Gaier, NJW 2013, 2871, 2874; ders., JurPC Web-Dok. 133/2015, Abs. 1  – 22; ders., ZRP 2015, 101. 206

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­Gesetzgebungsvorschlag weiterentwickelt10 und von einer von den OLG Präsidenten eingesetzten Arbeitsgruppe zur Reform des Zivilprozessrechts jüngst aufgegriffen.11 Dabei folgte die Arbeitsgruppe im Wesentlichen dem Vorschlag von Greger.12 Beide Diskussionsstränge haben nicht nur gemein, dass im Mittelpunkt die Frage steht, wie der Schriftsatz zu verfassen ist, sondern beide Diskussionsstränge haben es mit einer Leerstelle der Prozessrechtsdogmatik zu tun. Wie gewinnt der Richter seine Entscheidung? Bei dieser Frage geht es nicht darum, wie die Entscheidung später im Urteil begründet wird, sondern darum, wie die Entscheidung in der richterlichen Deliberation mit sich selbst hergestellt wird.13 Die Rechtsermittlung wird als rein interner Vorgang des Gerichts beschrieben. Der Richter müsse weder seine Rechtsquellen auf­ decken noch müsse er bei der Rechtsermittlung den Parteien rechtliches Gehör gewähren oder eine sonstige Verfahrensbeteiligung der Parteien veranlassen.14 Die Prozessrechtsdogmatik beschreibt, welche Wirkungen rechtlichen Verfahrenshandlungen zukommen. Auch erklärt man den äußeren Ablauf der richterlichen Beratung. Wie aber die Entscheidung inhaltlich zustande kommt, wie Argumente gewichtet werden, kurz die eigentliche Entscheidungsfindung, bleibt meist außen vor.15 In einem ersten Schritt sollen zunächst die Regelungen in der ZPO zum Schriftsatz kurz dargestellt werden (II.). Im Anschluss daran werden die Reformbestrebungen des schriftlichen Vortrags kritisch hinterfragt (III.). Schließlich wird die prozessrechtsdogmatische Leerstelle noch einmal aufgegriffen und der Frage nachgegangen, wie der Richter sein Urteil herstellt. Es geht dabei nicht um die Begründung der getroffenen Entscheidung. Der Rechtsanwalt muss mit seinem Schriftsatz nicht die Entscheidungsbegründung, sondern die Urteilsfindung erreichen und beeinflussen. Es geht da­ rum, den Richter bei seinem Judiz zu unterstützen, ihn bei seiner Aufgabe zu unterstützen, das Gesetz im Hinblick auf die Besonderheit des Falls zu

10 Vorwerk, NJW 2017, 2326 ff. 11 Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ Diskussionspapier, S. 31 ff. 12 Greger, NJW 2019, 3429. 13 Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 2017, S. 68. 14 So Prütting in MüKO/ZPO 6. Aufl. 2020, § 293 Rz. 4. 15 Paradigmatisch in Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 20 Rz. 61 ff. 207

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denken und weiterzuentwickeln.16 Hieraus ergeben sich bestimmte Grenzen einer verordneten Strukturierung.

II. Der Schriftsatz nach der ZPO 1. Der äußere Regelungsrahmen der ZPO Die Frage, ob der vom Gericht zu entscheidende Prozessstoff dem Gericht mündlich oder schriftlich zu unterbreiten ist, wird von Epoche zu Epoche unterschiedlich behandelt. Die Verfahrensordnungen schwanken zwischen Mündlichkeitsprinzip und Schriftlichkeit oder einer Kombination beider Prinzipien.17 Im Wesentlichen lassen sich drei Gründe ausmachen, mit denen die Entscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit gerechtfertigt wird. An erster Stelle dürften Effizienzüberlegungen stehen. Die Frage, ob der Prozessstoff dem Gericht einfacher und für das Gericht besser nachvollziehbar mündlich oder schriftlich unterbreitet wird, wird aufgrund der Erfahrungen der jeweils vorgehenden Generation unterschiedlich beurteilt.18 Der zweite Grund betrifft die Zusammensetzung der Richter. Die Beteiligung von Laien, die die Akten nicht kennen, erfordert meist ein striktes Mündlichkeitsprinzip.19 So darf die Anklageschrift den Schöffen im Strafprozess noch heute nicht zugänglich gemacht werden.20 Schließlich erfordert die demokratische Kontrolle der Rechtsprechung die Mündlichkeit, denn ohne Mündlichkeit bleibt die Öffentlichkeit ein Torso.21 Derzeit stellt sich das Verfahren nach der ZPO als eine Kombination von schriftlichem und mündlichem Verfahren dar, wobei der Schwerpunkt im schriftlichen Verfahren liegt.22 Grundsätzlich unterteilt man die Schriftsätze in vorbereitende und bestimmende Schriftsätze. Die vorbereitenden 16 Siehe hier Gröschner, Dialogik des Rechts, 2013, S. 365 f. 17 Braun, Lehrbuch des Zivilprozessrechts, 2014, S. 118 ff. 18 Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren, 2015, S. 236 ff. 19 Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren, 2015, S. 173 f. 20 RiStBV Nr. 126 Abs. 3: Nur in umfangreichen Verfahren darf eine Abschrift der Anklageschrift den Schöffen nach der Verlesung für die Dauer der Hauptverhandlung überlassen werden. 21 Eslami, Die Nichtöffentlichkeit des Schiedsverfahrens, 2016, S. 91 ff. m.w.N. 22 Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, S. 124 ff. 208

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Der Anwaltsschriftsatz

Schriftsätze müssen erst noch in der mündlichen Verhandlung zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden. Nach § 128 Abs. 1 ZPO kann Gegenstand der Entscheidung nur dasjenige sein, was dem Gericht in der mündlichen Verhandlung unterbreitet wurde.23 Dabei geht §  137 Abs. 2 ZPO immer noch davon aus, dass die Rechtsanwälte ihre Vorträge in der mündlichen Verhandlung in freier Rede zu halten haben.24 Gleichzeitig ermöglicht § 137 Abs. 3 ZPO weitgehend die Bezugnahme auf Schriftsätze. Bestimmende Schriftsätze lösen unmittelbar eine Wirkung aus, zielen also nicht auf eine gerichtliche Entscheidung ab. Die Prozesslage gestaltet sich durch den Schriftsatz selbst.25 Sowohl für vorbereitende als auch für bestimmende Schriftsätze bildet §  130 ZPO die Gestaltungsnorm. Für bestimmende Schriftsätze wird entweder direkt auf §  130 ZPO verwiesen: Beitritt des Nebenintervenienten, § 70 Abs. 2 ZPO; Klageerhebung, § 253 Abs. 4 ZPO; Berufungsschrift, § 519 Abs. 4 ZPO; Berufungsbegründungsschrift, § 520 Abs. 5 ZPO; Anschlussberufung, § 524 Abs. 3 ZPO; Revisionseinlegung, § 549 Abs. 2 ZPO; Revisionsbegründung, § 551 Abs. 4 ZPO; Anschlussrevision, § 554 Abs. 4 ZPO; Rechtsbeschwerde, § 575 Abs. 4 ZPO. Soweit keine Verweisung erfolgt, soll § 130 ZPO analog angewendet werden.26 Allerdings ist § 130 ZPO nicht umfassend zu entnehmen, wie ein Schriftsatz zu verfassen ist. Zunächst enthält die Vorschrift Angaben zu den Förmlichkeiten des Schriftsatzes.27 § 130 Abs. 1 ZPO enthält Angaben zum Schriftsatzrubrum. Hierzu zählen Angaben zu den Parteien, die gesetzlichen Vertreter der Parteien, Wohnort und Parteistellung, § 130 Nr. 1 ZPO. Für die Klageschrift ordnet § 253 Abs. 1 Nr. 1 ZPO als zwingenden Inhalt neben der Parteibezeichnung auch noch die Bezeichnung des Gerichts an. Nicht zum Schriftsatzrubrum gehört jedoch nach den Vorgaben des § 130 Nr. 1 ZPO – obwohl in der Praxis üblich –, wie auch zum Urteilsrubrum nach § 313 ZPO, das Aktenzeichen.28 Nach § 130 Nr. 1 ZPO soll auch der Streitgegenstand benannt werden. Unter dem Streitgegenstand nach § 130 Nr. 1 ZPO versteht man offensichtlich etwas anderes als den der ZPO sonst 23 Kern in Stein/Jonas, § 128, 23. Aufl. 2016, Rz. 30. 24 Kern in Stein/Jonas, § 137, 23. Aufl. 2016, Rz. 10. 25 Von Selle in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO 39. Ed., § 129 Rz 4. 26 Von Selle in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO 39. Ed., § 129 Rz. 6. 27 Michel/von der Seipen, Der Schriftsatz des Rechtsanwalts im Zivilprozeß, § 3 II. 28 BGH, NJW 1974, 48; NJW-RR 2017, 385. 209

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zugrundeliegenden Streitgegenstandsbegriff.29 Im Schriftsatzrubrum ist nicht der Antrag und der dem Antrag zugrundeliegende Lebenssachverhalt anzugeben,30 sondern lediglich eine schlagwortartige Umschreibung des rechtlichen Kerns der Auseinandersetzung.31 Im Grunde geht es im Schriftsatzrubrum, insbesondere bei der Klageschrift, um eine erste Zuordnung des Verfahrens nach dem Geschäftsverteilungsplan. In der Angabe zu dem Streitgegenstand sollte sich die Detailtiefe des Geschäftsverteilungsplans spiegeln. Mit dieser Angabe wird zunächst die unverbindliche Zuweisung für die Zuteilung der Klagen auf die unterschiedlichen Kammern und Dezernate erleichtert.32 Jenseits der unverbindlichen Empfehlungen zum Schriftsatzrubrum enthält § 130 ZPO nur wenig detaillierte Regelungen. So sind nach § 130 Nr. 2 ZPO die Anträge in den Schriftsätzen aufzunehmen, die die Parteien in der Gerichtssitzung zu stellen beabsichtigen. In der Kommentarliteratur wird darauf hingewiesen, dass die Anträge geeignet sein müssen, um verlesen werden zu können.33 Die h.M. bezieht die anzukündigenden Anträge nicht nur auf Sachanträge, sondern auch auf Prozessanträge.34 Zwar wird in der Kommentarliteratur empfohlen, dass die Anträge von den sonstigen Ausführungen deutlich getrennt und hervorgehoben dargestellt werden sollen. Wie dies zu erfolgen hat, bleibt hingegen offen.35 Über die Soll-Vorschrift des § 130 Nr. 2 ZPO hinaus fordert § 253 Abs. 1 Nr. 2 ZPO für die Klageschrift zwingend einen Sachantrag. Die inhalt­lichen Anforderungen an die Bestimmtheit des Klageantrags ergeben sich aus dessen Funktion. Mit dem Klageantrag bestimmt der Kläger den Umfang der Entscheidungsbefugnis des Gerichts.36 Für den Beklagten muss deutlich werden, wogegen er sich verteidigen muss, und die Vollstreckungsorgane müssen durch den Tenor, welcher durch den Klageantrag nach § 308 29 Allgemein hierzu Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 93 Rz. 8 ff. 30 So die Definition des Streitgegenstands nach der h.M., vgl. Rosenberg/Schwab/ Gottwald, § 93 Rz. 10 ff. 31 Stadler in Musielak/Voit, § 130 Rz. 4. 32 Zur Auflösung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen verschiedenen Spruchkörpern, Zimmermann in MüKo/ZPO, § 21e GVG, Rz. 46. 33 Stadler in Musielak/Voit, § 130 Rz. 5. 34 Stadler in Musielak/Voit, § 130 Rz. 5 und Fritsche in MüKo/ZPO § 130 Rz. 8 j.m.w.N. 35 Stadler in Musielak/Voit, § 130 Rz. 5. 36 Bacher in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 39. Ed. § 253 Rz. 57. 210

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ZPO vorgezeichnet ist, hinreichend genau wissen, was es zu vollstrecken gilt.37 Den Vollstreckungsorganen darf nicht überlassen werden, zu bestimmen, was dem Beklagten durch das Urteil aufgegeben wurde. Gleichfalls wenig detailliert ist in §  130 Nr. 5 ZPO die Bezeichnung der Beweismittel geregelt. In der Kommentarliteratur wird darauf hingewiesen, dass die Angabe der Beweismittel dem Gericht dazu dienen soll, die mündliche Verhandlung nach § 273 ZPO vorzubereiten.38 Unbefangen betrachtet überrascht demgegenüber die Detailtiefe der Diskussion, ob auch bei bestimmenden Schriftsätzen eine Unterschrift erforderlich ist39 und wie die Unterschrift auszusehen hat (nicht lesbar aber individualisierbar).40 Für den Inhalt des Anwaltsschriftsatzes und die Durchführung des Ver­ fahrens sind die zur Begründung des Antrags dienenden Tatsachen, § 130 Nr. 3 ZPO, und die Erklärungen über die tatsächlichen Behauptungen des Gegners, § 130 Nr. 4 ZPO, der bei weitem wichtigste Teil. Für die Klageschrift enthält § 253 Abs. 1 Nr. 2 ZPO eine zusätzliche Präzisierung. Gegenstand und Grund des erhobenen Anspruchs sollen angegeben werden. Dem Gegenstand des Anspruchs kommt nach überwiegender Meinung41 keine eigenständige Bedeutung zu, weil sich der Gegenstand bereits aus dem Antrag ergibt.42 In diesem Sinne wird der Gegenstand als schlaglichtartige Kurzangabe des Streitgegenstands wie der Streitgegenstand in § 130 Nr. 1 ZPO verstanden.43 2. Die Bestimmung des Entscheidungsprogramms im Sachverhalt Bedeutsam ist hingegen der Sachverhalt, auf den die Klage gestützt wird. Dieser Sachverhalt stellt die Verbindung zwischen dem vom Kläger dem Gericht unterbreiteten Lebenssachverhalt und seinem rechtlichen Begeh37 Bacher in Vorwerk/Wolf, BeckOK ZPO, 39. Ed. § 253 Rz. 57; BGH, NJW 2014, 630, 632; NJW 2013, 1809. 38 Stadler in Musielak/Voit, § 130 Rz. 5; Fritsche in MüKo/ZPO § 130 Rz. 12. 39 Stadler in Musielak/Voit, § 129 Rz. 8 m.w.N. 40 Stadler in Musielak/Voit, § 129 Rz. 12. 41 Zur Gegenansicht Anders in Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle, § 253, Rz. 30. 42 Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 96 Rz. 17; Roth in Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 23. Aufl. 2016, § 253, Rz. 23. 43 Saenger in Saenger, ZPO, 8. Aufl. 2019, § 253 Rz. 12. 211

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ren in Form des Klageantrags dar.44 Dem vom Kläger dem Gericht und auch dem Beklagten unterbreiteten Sachverhalt kommt zunächst die Funktion zu, die mit der Rechtshängigkeit verbundenen Rechtsfolgen auslösen zu können. Dies ist insbesondere die Rechtshängigkeitssperre nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO. Danach darf der gleiche Streitgegenstand während des laufenden Verfahrens nicht erneut rechtshängig gemacht werden (Rechtshängigkeitssperre). Soweit die Klageschrift den zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt hierfür hinreichend individualisiert beschreibt, ist die Klage zulässig.45 Man spricht in diesem Zusammenhang von der verbesserten Individualisierungstheorie.46 Diese ist zunächst von der, auf die Materialien zur CPO47 zurückgehende, Substantiierungstheorie abzugrenzen. Dies würde bereits für die zulässige Klageerhebung eine schlüssige Klage fordern. Da aber im laufenden Verfahren der Sachvortrag noch ergänzt werden kann, wie sich aus §§  139, 264 Nr.  1 und 282 ZPO ergibt, würde man die Anforderungen an eine zulässige Klage überspannen, wenn diese bereits schlüssig sein müsste. Die heute vertretene verbesserte Individualisierungstheorie lässt Angaben zu den Tatsachen – ohne einen vollständigen schlüssigen Tatsachenvortrag zu fordern – ausreichen, wenn diese zur Abgrenzung der vom Kläger geltend gemachten Ansprüche genügen.48 M.a.W. die verbesserte Individualisierungstheorie fordert grundsätzlich nicht, in den Worten von Hellwig, die juristisch-technische Bezeichnung des Rechtsverhältnisses.49 Dort, wo es jedoch zur Individualisierung auf die Rechtsnorm ankommt, muss die Individualisierung auch über die Rechtsnorm vorgenommen werden. Braun

44 Roth in Stein/Jonas, ZPO, § 253, Rz. 52. 45 Becker-Eberhard in MüKo/ZPO, § 253, Rz. 77; Roth in Stein/Jonas, ZPO, § 253, Rz. 52. 46 Becker-Eberhard in MüKo/ZPO, § 253, Rz. 77; Roth in Stein/Jonas, ZPO, § 253, Rz. 52. 47 Hahn, Materialien zur CPO, 1880, S. 255: Den Klagegrund bilden diejenigen Tatsachen, die nach Maßgabe des bürgerlichen Rechts an sich geeignet sind, den erhobenen Anspruch als in der Person des Klägers entstanden und zugleich als durch die Person des Beklagten verletzt erscheinen zu lassen. 48 So bereits Hellwig, System des Deutschen Zivilprozeßrechts, Teil 1, 1912, S. 308: „Nicht Rechtsausführungen (Deduktionen) sind nötig, sondern Rechtsanführungen“. 49 Hellwig, System des Deutschen Zivilprozeßrechts, Teil 1, 1992, S. 309. 212

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nennt dazu als Beispiele den Anspruch aus dem Kausalverhältnis und die Wechselforderung.50 In der verbesserten Individualisierungstheorie kommt zum Ausdruck, dass das Zivilprozessrecht nicht vom materiell-rechtlichen Anspruch her gedacht werden kann, sondern nur vom Rechtsbegehren (das, was der Kläger laienhaft gesprochen fordert, z.B. Zahlung von 1.000 Euro) und dem Sachverhalt, auf welchen er sich dabei stützt. Diesem Denken vom Rechtsbegehren kommt noch an drei anderen Stellen eine entscheidende Funktion zu. Nach § 308 Abs. 1 ZPO ist das Gericht an den Antrag gebunden, es darf einer Partei über deren Antrag hinaus nichts zusprechen. Hingegen besteht bezüglich der vom Kläger behaupteten Anspruchsgrundlage keine Bindung an den Antrag des Klägers.51 Grundsätzlich würde eine Bindung des Gerichts an die vom Kläger zur Entscheidung gestellte Anspruchsgrundlage zu einer Einschränkung der Rechtskraft­ wirkung und der Rechtshängigkeitssperre führen.52 Kann der Kläger bei einem Verkehrsunfall seinen Schadensersatzanspruch auf Vertrag, Gefährdungshaftung und Delikt stützen, umfasst die Rechtskraft der Klageab­ weisung aus einer der drei materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlagen auch die beiden vom Gericht nicht erkannten und/oder nicht geprüften Anspruchsgrundlagen.53 Eine auf die einzelnen materiell-rechtlichen Ansprüche beschränkte Ko­ gnitionsbefugnis wird auch nicht mehr im Hinblick auf die örtliche Zuständigkeit vertreten. Bei den besonderen Gerichtsständen nahm man ursprünglich an, dass das am Ort der unerlaubten Handlung zuständige Gericht nicht zugleich auch die parallelen vertraglichen Ansprüche prüfen darf.54 Für § 32 ZPO hat der BGH seine Rechtsprechung der Zuständigkeitsspaltung aufgegeben.55 Hieraus wird überwiegend gefolgert, dass aus prozessökonomischen Gründen über den prozessualen Anspruch einheitlich dasjenige Gericht zu entscheiden hat, welches der Kläger anruft und 50 Braun, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, S. 398. 51 Musielak in Musielak/Voit, 17. Aufl. 2020, § 308 Rz. 15; Althammer in Stein/ Jonas, 23. Aufl. 2018, § 308, Rz. 10. 52 Vgl. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 2012, S. 152 mit Hinweis auf Art. 100 CPC und S. 514 f. 53 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, 2012, S. 514. 54 Z.B. BGH, NJW 1971, 564; Patzina, MüKo/ZPO § 32 Rz. 19. 55 BGH, NJW 2003, 828. 213

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welches für sich die Zuständigkeit für einen der materiell-rechtlichen Ansprüche geltend machen kann.56 Hieraus folgt natürlich nicht, dass der Kläger nicht insgesamt dem Gericht einen schlüssigen Tatsachenvortrag unterbreiten muss. Dabei wird die Diskussion über die Anforderungen an einen schlüssigen Klagevortrag durch zwei Begriffe und eine Rechtsparömie geprägt. Der Sachvortrag des ­Klägers muss, wenn auch vielleicht noch nicht in der Klageschrift selbst, schlüssig sein. Schlüssig in diesem Sinne bedeutet, dass sich der Sachverhalt unter eine den Antrag oder das Rechtsfolgebegehren rechtfertigende Norm subsumieren lässt. Der vom Kläger vorgetragene Sachverhalt muss unter diejenige Rechtsnorm subsumierbar sein, welche das Gericht zur Begründung des Anspruchs des Klägers für einschlägig hält und deshalb heranziehen will.57 Der Tatsachenvortrag muss geeignet sein, eine Verbindung zu einem Rechtssatz herzustellen, der geeignet und erforderlich ist, das geltend gemachte Recht als in der Person des Klägers entstanden erscheinen zu lassen.58 Als Unterkategorie der Schlüssigkeit lässt sich die Substantiierungspflicht begreifen. Die Tatsachen, die der Kläger vorzutragen hat, müssen substantiiert sein, d.h. so genau vorgetragen werden, dass das Gericht den Sachverhalt darunter subsumieren kann.59 Wie detailliert oder konkret die Tatsachen vorgetragen werden müssen, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet.60 Allgemein wird in der Literatur gefordert, dass man an die Substantiierung nicht zu strenge Anforderungen stellen darf.61 Für die Gerichte sei der Vorwurf der fehlenden Substantiierung ein bequemes Mittel, um sich gegen die Überlastung zu wehren.62 Der Vorwurf, die gesteigerte bzw. übersteigerte Substantiierungspflicht zu benutzen, um sich zu entlasten, greift aber zu kurz. Dahinter steht ein viel grundsätzlicheres Problem, was unmittelbar mit der Rechtsparömie „iura novit curia, da mihi factum, dabo tibi ius“ verbunden ist. Mit dieser 56 Roth in Stein/Jonas, § 1 Rz. 10 m.w.N. 57 Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, 14. Aufl., 2014, Rd. 528 f. 58 BGH, NJW 1984, 2888, 2889. 59 Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, 14. Aufl., 2014, Rd. 529. 60 Vgl. z.B. BGH, NJW-RR 2019, 747, der den Vortrag des Klägers im Gegensatz zum OLG Frankfurt als substantiiert angesehen hat, OLG Frankfurt, BeckRS 2017, 155079. 61 Sacher in Kniffka/Koeble/Jurgeleit/Sacher, Kompendium des Baurechts, 5. Aufl. 2020, Teil 20, Rz. 5. 62 Michel/von der Seipen, Der Schriftsatz des Anwalts im Zivilprozeß, S. 120. 214

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Rechtsparömie, insbesondere dem zweiten Teil („da mihi factum, dabo tibi ius“), wird die Arbeitsteilung zwischen Gericht und den Parteien bis heute beschrieben.63 Friedrich Stein sprach davon, dass sich der moderne Prozess durch die schroffe Arbeitsteilung zwischen den Parteien und dem Gericht auszeichnet. Während die ersten nur den tatsächlichen Untersatz zu liefern haben, sind die Gerichte für die eigentliche Subsumtion verantwortlich. Die Rechtsauffassung der Gerichte, so Stein, sei mit staatlicher Autorität ausgestattet, die Rechtsauffassungen der Parteien schlechthin gleichgültig.64 Allerdings findet sich auch bei Stein eine Relativierung dieser Aus­ sage: „In der Erkenntnis, daß rechtliche Beurteilung und Umfang des zu würdigenden Tatbestands miteinander in Wechselwirkung stehen, hat ferner die neuste Entwicklung die scharfe Grenze hinsichtlich der dem Gericht zufallenden Aufgabe gemildert, und zwar in dem Sinne, daß dem Richter die Pflicht auferlegt wurde, auf Vollständigkeit der tatsächlichen Angaben und Beweismittel (…) hinzuwirken.“65

Bereits zuvor hat Bethmann-Hollweg darauf hingewiesen, dass die Trennung zwischen der Tatfrage und dem Rechtspunkt im Zivilprozess unmöglich ist, da der Zivilprozess den rechtlichen Willen zum Gegenstand hat: „wo also das Recht des Falles dem Thatsächlichen Verhältniß immanent ist und nur unter fortgesetzter Wechselbeziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze und die concrete Thatsache gefunden werden kann.“66

Damit ist im Grunde das Hin- und Herwandern des Blickes, wie Karl Engisch es später beschrieben hat, vorweggenommen.67 Es geht um die Kon­ struktion des Sachverhalts vor dem Hintergrund der Rechtsnorm. Die Wirklichkeit lässt sich nicht in ihrer Totalität erfassen und beschreiben. Vielmehr muss die Wirklichkeit selektiv im Hinblick auf die Rechtsnorm, 63 Musielak/Voit, Grundkurs ZPO, 15. Aufl. 2020, Rz.  125; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, § 133 Rz. 34; Pohlmann, Zivilprozessrecht, 4. Aufl. 2018, Rz. 66. 64 Stein, Grundriß des deutschen Zivilprozeßrechts und des Konkursrechts, bearbeitet von Josef Juncker, 3. Aufl. Tübingen 1928, S. 30 f. 65 Stein, Grundriß des deutschen Zivilprozeßrechts und des Konkursrechts, bearbeitet von Josef Juncker, 3. Aufl. Tübingen 1928, S. 31. 66 Bethmann-Hollweg, Der Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwicklung, Bd. 1, 1864, S. 70. 67 Engisch, Logische Studien, 1963, S. 14 f. 215

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nach der der Fall entschieden werden muss, ausgewählt werden, wie umgekehrt die Wirklichkeit die auszuwählende Rechtsnorm bestimmt.68 Es ist ein Prozess des sich wechselseitig Konkretisierens.69 Bereits die Auswahl des endgültigen Sachverhalts ist, wie Larenz/Canaris es formulieren, das Ergebnis einer gedanklichen Verarbeitung, in der die rechtliche Beurteilung bereits vorweggenommen ist.70 Die Entwicklung des substantiierten Sachvortrags ist bereits Rechtsanwendung. Die Rechtsparömie „iura novit curia, da mihi factum, dabo tibi ius“ verstellt den Blick auf das notwendige Zusammenspiel von Richtern und Rechtsanwälten. Bereits im „da mihi factum“ liegt ein Stück „da mihi ius“ oder anders formuliert: factum ist ohne ius nicht denkbar.

III. Reformbestrebungen der Sachverhaltserfassung Derzeit werden zwei unterschiedliche Modelle diskutiert, wie sich der Prozessstoff künftig besser strukturieren lässt. In ihrem Ausgangspunkt sind sich die Modelle einig. Es geht darum, den Zivilprozess effizienter zu gestalten und die Ressourcen, insbesondere die richterlichen Ressourcen, zu schonen.71 Im Nachfolgenden geht es nicht um die Frage, ob eine Effizienzsteigerung geboten ist, sondern lediglich um die Frage, inwieweit der von beiden Modellen eingeschlagene Weg überzeugen kann oder vielmehr die Leerstelle der Prozessrechtsdogmatik weiter vergrößert, also ein Verfahren ohne Verfahren der richterlichen Rechtsfindung darstellt. 1. Strukturierung nach Anspruchsgrundlagen Das eine Modell will den Prozessstoff anhand der Anspruchsgrundlagen systematisieren. Vor allem Vorwerk und Gaier wollen diesen Weg gehen. Danach soll der Kläger seinen Vortrag anhand der einzelnen Tatbestandsmerkmale der Anspruchsnorm vortragen müssen, und der Beklagte soll

68 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 419. 69 Möllers, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2019, § 4 Rz. 10 und Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 101 f. 70 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 100. 71 Gaier, NJW 2013, 2871, 2873; Vorwerk, NJW 2017, 2326; Modernisierung des Zivilprozesses  – Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“, 2021, S. 32; Greger, NJW 2019, 3429, 3431. 216

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entsprechend dieser Reihenfolge erwidern. In dem von Vorwerk vorgelegten Gesetzentwurf heißt es hierzu in § 608 Abs. 2 ZPO-Vorwerk: „Das Gericht kann anordnen, dass die Parteien die Anspruchsgrundlagen oder Einredevoraussetzungen, auf die sie sich stützen wollen, konkret nennen und den Vortrag auf diese Voraussetzungen ausrichten.“72

Der Beklagte hat sich dann an die entsprechende Struktur zu halten und anhand dieser vorzutragen. Nach dem Modell von Vorwerk findet das strukturierte Verfahren nur Anwendung, wenn das Gericht, ähnlich dem schriftlichen Vorverfahren, § 276 ZPO, dies angeordnet hat. Allerdings soll das Ermessen des Gerichts, ob ein strukturiertes Verfahren anzuordnen ist, deutlich stärker gebunden sein. So soll das strukturierte Verfahren angeordnet werden, wenn die Parteien es übereinstimmend beantragen, die ­Zivilkammer den Rechtsstreit aufgrund besonderer Schwierigkeiten im Sinne von § 348 Abs. 3 ZPO übernommen hat oder in den Fällen des § 348 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 2 lit. b, lit. c oder lit. e ZPO. Schließlich soll auch ein strukturiertes Verfahren angeordnet werden, wenn ansonsten der Anspruch der Parteien auf eine Entscheidung in einem angemessenen Zeitraum verletzt wurde, § 606 ZPO-Vorwerk. Im Gegensatz hierzu will Gaier den Beibringungsgrundsatz allgemein weiterentwickeln. Die Parteien sollen stets nach Anspruchsgrundlagen geordnet vorzutragen haben. So schreibt Gaier: „Die konkreten Tatbestandsmerkmale lassen sich im Gesetz, in der Literatur oder in der Rechtsprechung finden. Sie sind für jeden geltend gemachten Anspruch im Einzelnen und Schritt für Schritt mit den nötigen Tatsachenbehauptungen nebst etwaigen Beweisangeboten zu belegen.“73

Der Beklagte hat in der vom Kläger vorgegebenen Struktur zu antworten. Mit seinem Modell will Gaier eine aktionenorientierte Struktur schaffen.74 Dieses Modell wurde von Gaier erstmals in JurPC vorgestellt.75 Zusammen mit Breidenbach hat er seinen Vorschlag weiterentwickelt.76 Die Struktu­

72 Vorwerk, NJW 2017, 2326, 2328. 73 Gaier in Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 1. Aufl. 2018 S. 195. 74 Gaier in Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 1. Aufl. 2018 S. 195. 75 Gaier, JurPC Web-Dok133/2015 Abs. 1 bis 22, insbesondere Abs. 17. 76 Breidenbach/Gaier in Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 1. Aufl. 2018, S. 199 ff. 217

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rierung soll danach mit einem sogenannten „Rule Mapping“77 zusätzlich visualisiert werden. Die einzelnen Elemente des Anspruchsaufbaus werden dabei in einer regelbasierten Baumstruktur abgebildet. In abgemilderter Form schlägt Köbler vor, für typische Fallgestaltungen auf den jeweiligen Anspruchsgrundlagen basierende Formulare zur Verfügung zu stellen.78 Insbesondere gegen das Modell von Gaier hat die Arbeitsgruppe der „Modernisierung des Zivilprozesses“ in ihrem Diskussionspapier eingewandt, dass das Gericht in einer Vielzahl von Fällen nicht den von den Parteien als richtig angesehenen Anspruchsgrundlagen folgt. Dies würde bei einer nach Anspruchsgrundlagen geordneten Darstellung zu aufwendigen Umstrukturierungen führen.79 Allerdings dürften die Einwendungen gegen das Strukturierungsmodell grundsätzlicher sein. Das Aktionensystem ist ohne Typenzwang nicht denkbar. Im römischen Recht gab es strenge, voneinander abgegrenzte Vertragstypen, derer man sich bedienen musste.80 Das Aktionensystem ist nur unter den Bedingungen eines Typenzwangs denkbar. Ohne Typenzwang können die Parteien ihre Vertragsbeziehungen frei regeln und damit für jeden einzelnen Vertrag ein eigenes System der Anspruchsvoraussetzungen schaffen.81 So betrachtet, erweist sich die Rückkehr zu einem stärker aktionsrechtlich geprägten Prozessrecht weitaus weniger als ein prozessrechtliches Problem als vielmehr ein materiell-rechtliches Problem. Wer ein aktionsrechtliches Denken im Zivilprozessrecht wieder begründen will, muss im Grunde die Typenfreiheit im Schuldrecht abschaffen. Dasselbe Problem spricht die Frage an, wie vorzutragen ist, wenn die Rechtsfrage noch nicht entschieden ist.82 Welche Anspruchsgrundlage hätte der Kläger in dem Fall, welcher der Hühnerpest-Entscheidung83 zugrunde lag, vor der ergangenen Hühnerpest-Entscheidung wählen sollen? Vertrag zugunsten Dritter, Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter oder deliktische Verschuldenshaftung nach § 823 BGB? 77 Zum Rule Mapping: Breidenbach in Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 1. Aufl. 2018, S. 235 ff. 78 Köbler, AnwBl online, 2018, 399. 79 Modernisierung des Zivilprozesses  – Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses, 2021, S. 34. 80 Leenen, Typus und Rechtsfindung, 1971, S. 124. 81 Allgemein zur Typenfreiheit des Schuldrechts, Dilcher, NJW 1960, 1040 ff. 82 Hierzu bereits Freudenberg/Wolf, ZRP 2018, 183, 184. 83 BGHZ 51, 91, NJW 1969, S. 269. 218

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Schließlich spricht noch die Frage der Rechtskraft im Falle einer fehlerhaften Entscheidung gegen den Vorschlag. Die Problematik lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Aufgrund einer Grunddienstbarkeit hat der Eigentümer des herrschenden Grundstücks ein Durchleitungsrecht für seine Wasserleitung gegenüber dem Eigentümer des dienenden Grundstücks. Bei Bauarbeiten auf dem dienenden Grundstück wird nun diese Wasserleitung zerstört. Ursprünglich hat der BGH die Anwendung von § 278 BGB auf das Begleitschuldverhältnis abgelehnt.84 Ist sowohl dem Gericht als auch dem Klägervertreter die neue Ansicht des BGH unbekannt,85 wird sich der nach Anspruchsgrundlagen und Anspruchsvoraussetzungen gegliederte Sachvortrag des Klägers an den Voraussetzungen des § 831 BGB ausrichten und nicht an der Darstellung des Begleitschuldverhältnisses und den Voraussetzungen des § 278 BGB ausgerichtet sein. Lehnt nun das Gericht die Haftung des Eigentümers des dienenden Grundstücks ab, weil sich der Eigentümer im Sinne von § 831 BGB exkulpieren kann, ist dann auch rechtskräftig über den Anspruch nach §§ 241 Abs. 2, 278 BGB entschieden? Limitiert man – entgegen § 17 Abs. 2 GVG – die Kognitionsbefugnis des Gerichts, muss man die Frage beantworten, ob der vertragliche Anspruch bei einem anderen Gericht trotz rechtshängiger Entscheidung über den deliktischen Anspruch noch geltend gemacht werden kann. Oder  – noch problematischer  – sollen beide Ansprüche bei zwei unterschiedlichen Gerichten geltend gemacht werden können? Die Aufspaltung der Zuständigkeit in einen deliktischen Gerichtsstand und einen vertrag­ lichen Gerichtstand, an denen jeweils nur die deliktischen bzw. vertrag­ lichen Ansprüche eingeklagt werden können, hat der BGH86 aus pro­zess­ ökonomischen zu Recht aufgegeben.87 Wer aus prozessökonomischen Gründen einen nach Anspruchsgrundlagen geordneten Sachvortrag den Parteien gesetzlich aufgeben will, muss hier eine Lösung anbieten. Die Kritik der Arbeitsgruppe, dass es zu einer aufwendigen Umstrukturierung der Schriftsätze kommen muss, wenn erst im laufenden Verfahren die richtige Anspruchsgrundlage erkannt wird, ist daher nicht von der Hand zu weisen.88 84 BGH, NJW 1965, 389; BGH, NJW 1974, 1189. 85 BGH, DNotZ 1986, 25. 86 BGH, NJW 2003, 828. 87 Roth in Stein/Jonas, § 1 Rz. 10 m.w.N. 88 Modernisierung des Zivilprozesses  – Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses, 2021, S. 34. 219

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Schließlich wirft auch der Vorschlag, wie die geforderte visualisierte Struktur weiterzuentwickeln ist, Fragen auf. Nach den Vorschlägen von Breidenbach/Gaier soll in einer Art Wiki-Struktur89 über eine Weiterentwicklung der visualisierten Struktur diskutiert werden. Wörtlich heißt es: „Hier können alle beitragen. Entscheidungen darüber, etwas zu verändern oder Neues einzubeziehen, treffen nur eine kleine, von der jeweiligen Justizverwaltung organisierte Gruppe in richterlicher Unabhängigkeit. Sie steuert die Gesamtqualität.“90

Mehr noch als durch den nach Anspruchsgrundlagen strukturieren Parteivortrag, wird mit einem solchen „Rule Mapping“ ein Ankereffekt geschaffen. Die Visualisierung wirkt direkt suggestiv. Es transformiert, so Breidenbach, ein kognitives Problem in eine Wahrnehmungsaufgabe, was die Effizienz dramatisch erhöht.91 An dieser Stelle soll dahingestellt bleiben, ob sich die juristische Entscheidungsfindung mit einem System, dessen Grammatik auf „und“, „oder“ sowie „exklusiven oder“ beschränkt ist, darstellen lässt.92 Das Hauptproblem liegt in der Frage der (demokratischen und verfahrensmäßigen) Legitimation einer solchen Entscheidung des von der Justizverwaltung eingesetzten und in richterlicher Unabhängigkeit handelnden Expertengremiums. 2. Strukturierung nach dem Lebenssachverhalt Der Entwurf der Arbeitsgruppe der OLG-Präsidenten vermeidet zunächst die Engführung des Gaier/Vorwerk Modells und lässt sich so besser mit dem Streitgegenstandsbegriff und der Rechtskraft bei einer fehlerhaften Rechtsanwendung vereinbaren. Im Kern sieht der Entwurf eine im We89 Mit dem hawaiianischen Wort „Wiki“ für „schnell“, (http://wehewehe.org/ gsdl2.85/cgi-bin/hdict?a=d&d=D21021) ist eine Webseite gemeint, auf der Informationen sowohl zur Verfügung gestellt als auch von den Benutzern verändert werden können. Wikipedia basiert auf diesem System. Die Inhalte werden über ein Content-Management-System erfasst. Man setzt dabei auf die Schwarm­ intelligenz. 90 Breidenbach/Gaier in Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 1. Aufl. 2018, S. 202. 91 Breidenbach in Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 1. Aufl. 2018, S. 237. 92 Kritisch zur Abbildung von Recht in Computerprogrammen jüngst Kilian in Pohle/Lenk, Der Weg in die „Digitalisierung“ der Gesellschaft, 2021, 304, 312. 220

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sentlichen von den Parteien selbst erarbeitete Relationstabelle vor. In dieser werden drei Spalten gebildet. In der ersten Spalte wird der Sachvortrag des Klägers dargestellt, in der zweiten Spalte die Replik des Beklagten. Die dritte Spalte ist den Anmerkungen des Gerichts vorbehalten. Dabei wird zunächst dem Kläger aufgegeben, den streitrelevanten Lebenssachverhalt in Absätzen und mit Randnummern versehen in ein Basisdokument einzutragen. Der Beklagte hat anschließend in dasselbe Basisdokument, jeweils den Absätzen des Klägers zugeordnet, vorzutragen. So soll ein schneller und verlässlicher Überblick über den Tatsachenstoff erzielt werden.93 Im Grunde wird in diesem System die Relationsarbeit des Gerichts auf die Parteien ausverlagert. Aus richterlicher Perspektive scheint dies eine überzeugende Lösung zu sein. Im Idealfall reduziert das Basisdokument die Aufgabe des Gerichts auf die Feststellung umstrittener Tatsachen, die darauf gerichtete Beweiserhebung sowie schließlich die Vornahme einer einfachen Subsumtion. Auch bekennt sich das Diskussionspapier ausdrücklich dazu, den Grundsatz „iura novit curia“ nicht aufzuheben.94 Jedoch stimmt dies nur, wenn man an der Chimäre festhält, die Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen lasse sich von der Beantwortung der Rechtsfrage trennen. Beides ist eng miteinander verwoben oder, wie bereits Bethmann-Hollweg es formuliert hat, „das Recht des Falles dem thatsächlichen Verhältniß immanent ist“.95 Bereits bei der Frage, ob der Sachvortrag hinreichend substantiiert ist, zeigt sich diese Verwobenheit. Welchen Rechtsbegriff kann man als Rechtsanwalt verwenden, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, nicht substantiiert genug vorgetragen zu haben?96 Die Konnotation der Begriffe und das Framing bestimmt unser Verständnis ganz entscheidend mit.97 Für die Beurteilung der Frage, inwieweit ein 93 Modernisierung des Zivilprozesses  – Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses, 2021, S. 37; hierzu auch Formen eines Basisdokuments von Greger, der den Parteien zunächst gesonderte Spalten zuweist und dies erst in einem zweiten Schritt zusammenführt, https://www.reinhard-greger.de/dateien/Formen-eines-Basisdokuments.pdf. 94 Modernisierung des Zivilprozesses  – Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses, 2021, S. 38; die nimmt auch Vorwerk für seinen Vorschlag in Anspruch, NJW 2017, 2326, 2327. 95 Bethmann-Hollweg, Der Civilprozeß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwicklung, Bd. 1, 1864, S. 70. 96 Vgl. hierzu Schneider, Die Klage im Zivilprozess, 2. Aufl. 2004, Rz. 1861 ff. 97 Wehling, Politisches Framing, 2016, et al., insbesondere S. 21 ff. 221

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Christian Wolf

Sachmangel vorliegt, kommt es auf die sprachliche Fassung an, wie ich die Farbabweichung von der Fliesenfuge in der Wand von der im Fußboden beschreibe. Was in einer Nasszelle hinnehmbar erscheint, weil die Fuge aufgrund ständiger Benutzung ohnehin verschmutzt, kann in einem „­Private Spa“ einen erheblichen Mangel darstellen.98 Die Entscheidungsfindung beschränkt sich eben nicht auf die bloße Subsumtion eines Tatbestands unter die Rechtsnorm, um die Rechtsfolge zu bestimmen, sondern bezieht sich auch darauf, das richtige Verständnis des Sachverhalts im Spiegel der Norm zu erarbeiten. Das Schließen als solches, so Sattelmacher/ Sirp, macht, wenn die Grundlagen der Rechtsfindung  – Sachverhalt und Norm – richtig erarbeitet sind, die geringsten Schwierigkeiten.99 Diese Problematik verdeutlicht auch die von Greger veröffentlichte Relationstabelle. In dieser Tabelle wird ein einfacher Verkehrsunfall dargestellt, bei dem zwei Fahrzeuge zeitgleich rückwärts aus einem Parkplatz ausparken wollten und dabei zusammengestoßen sind. In der Tabelle reduziert sich das Geschehen auf die wechselseitige Behauptung, der jeweils andere Fahrer habe unachtsam gehandelt. Damit wird aber im Prinzip nichts anderes umschrieben als die Definition der Fahrlässigkeit in § 276 Abs. 2 BGB. Sicherlich muss auch der Rechtsanwalt seinem Schriftsatz die Relationstechnik zugrunde legen. Er hat aber den Rechtsstreit nicht zu entscheiden, sondern muss dem Gericht ein Argumentationsangebot unterbreiten, wie in den vorgetragenen Tatsachen der Tatbestand der Norm erkannt werden kann. Hier ist, und insoweit ist der Hinweis von Gaier auf die Kunst der Schriftsatzanfertigung zutreffend,100 nicht nur Logik gefragt, sondern auch Überzeugungskunst. Damit ist nicht gesagt, dass nicht bestimmte Strukturelemente des Basis­ dokuments verpflichtend werden sollten. Technische Informationen, wie Antrag, Zustellung, Rubrum, ladungsfähige Anschriften der Zeugen und Sachverständigen sowie alle vorgelegten Urkunden, an einem zentralen Ort für alle zugänglich zu halten, ist sehr wohl sinnvoll. Auch die Idee, den Parteien aufzugeben, die Schriftsätze absatzweise durchzunummerieren, 98 Hierzu bereits Freudenberg/Wolf, ZRP 2018, 183, 184. 99 Sattelmacher/Sirp, Bericht Gutachten und Urteil, 30. Aufl. 1986, S. 10. 100 Gaier in Breidenbach/Glatz, Rechtshandbuch Legal Tech, 1. Aufl. 2018, S. 193; vgl. hierzu auch Forgó in JA für Erstsemester, 2006, S. 42 mit dem Hinweis auf D 1.1.1pr (Ulp. 1 inst): Nam, ut eleganter Celsus definit, ius est ars boni et aequi. 222

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Der Anwaltsschriftsatz

ist sinnvoll. Dies erleichtert den Umgang mit der Akte erheblich, zumal den wenigsten Rechtsanwälten die gerichtliche Paginierung zum Zitieren zur Verfügung steht. Das Gericht kann so vom Gegner Stellungnahme zu bestimmten Randnummer einfordern, und der Prozessgegner kann von sich aus zu bestimmten Randnummern Stellung nehmen. Auch lassen sich die Schriftsätze als elektronische Dokumente einfacher sortieren und die Vorträge von Kläger und Beklagtem in eine richterliche Relationstabelle gegenüberstellend einfügen. Zeittafeln und graphische Übersichten sind ebenso sinnvoll, wie den frühen ersten Termin als Strukturierungstermin unter Hinzuziehung des Sachverständigen zu nutzen. Mit diesen handwerklichen Vorschlägen ist aber noch nicht die prozessrechtsdogmatische Leerstelle angesprochen, mit der der Rechtsanwalt umzugehen hat.

IV. Die Kunst des Schriftsatzes oder die prozessrechts­ dogmatische Leerstelle In der prozessrechtlichen Literatur wird dem erkennenden Gericht als Subjekt des Erkenntnisverfahrens kaum Beachtung geschenkt.101 Auch die Methodenlehre beschäftigt sich weitgehend mit der Darstellung der richterlichen Entscheidung, nicht jedoch mit der Herstellung der richterlichen Entscheidung.102 Selbst dort, wo es um die Urteilsfindung geht, nämlich in § 194 GVG, bleibt die Kommentierung blass. Es gibt wenige Hinweise da­ rauf, wie die Entscheidungsfindung, also die Herstellung der Entscheidung in einem Kollegialgericht, erfolgt. Dem vorsitzenden Richter des Kollegialgerichts wird die Aufgabe zugeschrieben, Güte und Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Kollegialgerichts zu gewährleisten.103 Der Vorsitzende muss einen richtungsgebenden Einfluss auf die Rechtsprechung des Senats haben.104 Dabei hängt diese Fähigkeit – zumindest in den Worten des Bundesverfassungsgerichts – nicht von einer überlegenen inhaltlichen Kenntnis des konkret zur Entscheidung anstehenden Falls ab. Ausschlaggebend ist vielmehr die auf Sachkunde, Erfahrung und Menschenkenntnis aufbauende geistige Überzeugungskraft des Vorsitzenden.105 Als einer der Weni101 Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 2017, S. 101. 102 Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 2017, S. 101. 103 BGH, NJW 1966, 2368. 104 BGH, NJW 1962, 1570, 1571; BGH, 1953, 1302. 105 BVerfG, NJW 2012, 2334, 2336. 223

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Christian Wolf

gen hat Uwe Berlit,106 allerdings nur im Zusammenhang mit der Frage, ob Videoberatungen zulässig sind, aus der Binnenperspektive die Funktion der Beratung beschrieben. Beratung ist ein geistig-intellektueller Vorgang der Entscheidungsfindung. Dabei steht der Austausch von Sachargumenten im Vordergrund, was allerdings nicht gruppendynamische Prozesse jenseits der juristischen Sachlichkeit ausschließt. Nonverbales Verhalten oder körpersprachliche Details haben dabei deutlich geringeren Einfluss, als dies bei der Bewertung von Zeugenaussagen der Fall wäre. Seit Kant107 wissen wir, dass die Frage, ob etwas unter eine Regel subsumierbar ist, nur durch Urteilskraft und nicht durch eine Regel entschieden werden kann. Denn die Regel, die darüber befinden soll, inwieweit etwas unter eine Regel zu subsumieren ist, muss sich wiederum durch eine Regel erklären lassen. Im Grunde würde eine Entscheidung durch eine Regel ins Unendliche gehen.108 Hierzu bedarf es daher der Urteilskraft. Welche kognitiven Prozesse bei dem einzelnen Richter dabei ablaufen, dürfte sich einer genauen Analyse entziehen. Eine reflektierende Urteilskraft baut auf dem Variieren von Mustern auf oder m.a.W. auf Beispielen. Es gilt, im Besonderen des Falls das Allgemeine des Gesetzes zu erkennen. Anders formuliert, es gilt, das Gesetz im Hinblick auf die Besonderheit des Falls weiterzudenken. Die Herstellung der Entscheidung erfolgt nicht nur deduktiv, sondern auch induktiv. Es gilt nicht nur abstrakt-allgemein zu denken, sondern eben auch das Allgemeine in der Besonderheit des Falls zu erkennen. Es gilt die Rechtskenntnis mit der Rechtsklugheit zu verbinden.109 Die Rechtsklugheit, also der Erkenntniseinfall, die Sicht auf das Allgemeine des Gesetzes durch die Besonderheit des Falls, ist nicht nur von der sprachlichen Fassung des Gesetzes, sondern auch von den anwaltlichen Schriftsätzen beeinflusst. Die reflektierende Urteilskraft im Sinne von Kant ist der „Witz“ oder ingenium.110 Gemeint ist damit ein gewitzter Einfall. Strauch zitiert in diesem Zusammenhang Lichtenberg mit seinem Aphorismus:

106 Uwe Berlit ist Vorsitzender des 1. Senats des Bundesverwaltungsgerichts. 107 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 173. 108 Sehr plastisch zusammengefasst bei Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 2017, S. 101. 109 Gröschner, Dialogik des Rechts, 2013, S. 366. 110 Strauch, Methodenlehre des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 2017, S. 566. 224

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Der Anwaltsschriftsatz

„Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel“.111

Die Schwierigkeit des anwaltlichen Schriftsatzes besteht nun vor allem darin, dass er den richterlichen Blitz auslösen muss. Der Anwalt schreibt nicht nur für die Darstellung, also die rationale argumentative Absicherung einer gerichtlichen Entscheidung, sondern vor allem für die Herstellung einer gerichtlichen Entscheidung. Die Kunst des Anwalts besteht darin, auf die jeder richterlichen Entscheidung inskribierte Subjektivität inspirierend zu wirken. Hierzu gehört sehr viel Lebenserfahrung, Einfühlungsvermögen und Wissen um die Begrenztheit der Erforschung kognitionswissenschaftlicher Ansätze. Auch wenn es hierzu nur teilweise sehr gute Betriebsanleitungen gibt, wie Platho, Effektivere Schriftsätze – Kognitionspsychologie und Rhetorik für Anwälte,112 und auch diese nur das „Wie“ des Schreibens und nicht das „Warum“ erklären, sollte immer bewusst bleiben: Es ist die Kunst des Anwalts, die den Richter zum – aus der Sicht des Rechtsanwalts  – richtigen Denken anregt. Und wie jede Kunst lässt sich auch diese nur beschränkt in einen engen Rahmen zwängen. Die Freiheit des Argumentierens, der Rhetorik, der Topik muss dem Anwalt erhalten bleiben.

111 Lichtenberg, Sudelbuch K, K 76. 112 Platho, Effektivere Schriftsätze, 3. Aufl. 2020. 225

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