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German Pages 394 [396] Year 2020
Die Bibel und die Frauen Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie Herausgegeben von Irmtraud Fischer Mercedes Navarro Puerto Adriana Valerio Mary Ann Beavis Jüdische Auslegung Band 4.1
Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky (Hrsg.)
Rabbinische Literatur Deutsche Ausgabe herausgegeben von Constanza Cordoni
Verlag W. Kohlhammer
Die Herausgabe des Werkes wird unterstützt durch
1. Auflage 2021 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-038895-6 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-038896-3 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Vorwort Die rezeptionsgeschichtliche Reihe „Die Bibel und die Frauen“ hat sich von Anfang an dazu entschlossen, nicht nur die christliche Rezeptionsgeschichte biblischer Texte und Figuren zu verfolgen, sondern auch Einblicke in wichtige jüdische Interpretationslinien zu geben. Aus diesem Grunde haben sich die Herausgeberinnen in Bezug auf die Hebräische Bibel für die jüdische Version des Kanons entschieden. Die deuterokanonischen Texte, die in der Katholischen und Orthodoxen Kirche kanonisch sind, werden dabei als frühjüdische Schriften gelesen. In diesem Zusammenhang werden die neutestamentlichen Schriften einerseits als frühe Rezeptionsgeschichte jüdischer Texte, andererseits aber auch als christliche Heilige Schrift verstanden. Dem vorliegenden Band, der sich mit dem rabbinischen Judentum befasst, kommt von diesem Ansatz her eine besondere Bedeutung zu, da die Bibelrezeption der rabbinischen Korpora für das Judentum prägend geworden ist. Er wurde von einem internationalen Herausgabeteam entworfen und ediert. Als Herausgeberin der deutschen Version dieses Bandes bedanke ich mich sehr herzlich bei diesem Team – Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá und Ronit Nikolsky – für die wunderbare Zusammenarbeit, die mir die Chance gegeben hat, an diesem Großprojekt teilzuhaben. Irmtraud Fischer danke ich herzlich für die Vermittlung eines Fellowships an der Grazer Theologischen Fakultät, in dessen Kontext ich die deutsche Edition bearbeiten konnte. Frau Dr. Gabriele Stein, die die meisten Texte ins Deutsche übersetzt hat, danke ich für die hervorragende Zusammenarbeit. Bei meinen Grazer Kollegen Ass.-Prof. Dr. Johannes Schiller, der mich beim Korrekturlesen, Formatieren und Vereinheitlichen unermüdlich unterstützt hat, möchte mich ausdrücklich bedanken, ebenso bei Dr. Patrick Marko, der das Manuskript formatiert und es damit verlagsfertig produziert hat. Großer Dank gilt auch Dr. Alexander Dubrau, der sich bereit erklärt hat, die übersetzten Teile des Manuskripts noch einmal Korrektur zu lesen. Für die Finanzierung des Forschungskolloquiums ist der Fritz Thyssen Stiftung und dem Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg sowie der Universität Graz zu danken. Besonderer Dank gebührt dem Grazer Emeritus am Alttestamentlichen Institut, Univ.-Prof. Dr. Johannes Marböck, der generös die Übersetzungen finanziell gefördert hat. Wien, im Juli 2020
Constanza Cordoni
Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky Die Bibel und die Frauen – Rabbinische Literatur: Einleitung Tal Ilan Schriftzitierende Frauen in der rabbinischen Literatur
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Gender, biblisches Gesetz und rabbinische Halakha Dvora Weisberg Erneuern oder Lösen? Das Levirat in der Hebräischen Bibel und der rabbinischen Literatur
72
Olga I. Ruiz-Morell „Mit ihrem Willen und ohne ihren Willen“ (mYev 14,1) Scheidung in der rabbinischen Literatur
89
Christiane Hannah Tzuberi Gesehen, nicht gefühlt: Der Blick auf die Haut im Traktat Nega‘im
108
Alexander A. Dubrau Talmudische Rechtslehre und Gender Der Fall von Rabbi Aqiva und Rabbi Jischmael
128
Biblische Frauen und rabbinische Darstellungen Cecilia Haendler Biblische Frauen in der Mischna und in der Tosefta
149
Gail Labovitz Die Hagar-Gestalt(en) in der Vorstellung der Rabbinen An den Schnittstellen von Gender, gesellschaftlicher Stellung und ethnischer Zugehörigkeit in Bereshit Rabba
171
8 Inhaltsverzeichnis Lorena Miralles-Maciá Andersheiten im Midrasch Levitikus Rabba über biblische Frauen
193
Susanne Plietzsch Übernatürliche Schönheit, universale Mutter und Evastochter Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
219
Judith R. Baskin Prophetinnen in bMegilla 14a–15a
246
Yuval Blankovsky Verführung um des Himmels willen Verführerische biblische Frauen aus Sicht der Rabbinen
263
Natalie C. Polzer Eva in Avot deRabbi Natan
279
Ronit Nikolsky Der Midrasch Sara und Abraham Eine verlorengegangene rabbinische Auslegung des „Lieds der fähigen Frau“
299
Devora Steinmetz Vor der Geburt vertauscht Dina und Josef in der Bibel und im Midrasch
331
Moshe Lavee Die Identität der Hebammen in Ägypten Rekonstruktion eines verloren gegangenen rabbinischen Midrasch aus der Kairoer Geniza
341
Bibliographie 359 Stellenregister 377 Autor*innen 393
Die Bibel und die Frauen – Rabbinische Literatur Einleitung Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky
1.
Vorwort
Der vorliegende Band des internationalen Kooperationsprojekts „Die Bibel und die Frauen – Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie“ ist der rabbinischen Literatur gewidmet und aus einer internationalen Konferenz zum Thema „Rezeption von biblischen Frauen und Gender in der rabbinischen Literatur“ hervorgegangen, die vom 4. bis zum 5. Dezember 2017 an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat. Die meisten der dort gehaltenen Vorträge wurden in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung in diesen Band aufgenommen. Andere Autor*innen wurden eigens eingeladen, neue, auf der Konferenz nicht vorgestellte Beiträge zu verfassen, um fehlende, aber wichtige Aspekte im Hinblick auf biblische Frauen und Gender in der rabbinischen Literatur abzudecken. Diese Literatur, die auch als die Literatur der Weisen (Sifrut Chazal) bekannt ist, umfasst jüdische Textkorpora aus der Zeit des klassischen Judentums (Spätantike bis Frühmittelalter), wie weiter unten in dieser Einleitung noch erläutert werden wird. Rabbinische Literatur ist männlich konzipiert und männlich formuliert. Wenn die Rabbinen ihre Aufmerksamkeit auf Frauen richteten, dann taten sie dies, um Regeln dafür aufzustellen, wie und in welchem Grad Frauen – das „Andere“, mit dem sie leben mussten – das Leben von Männern tangierten. Die Rabbinen betrachteten den Bibeltext, der ihre Vergangenheit beschrieb, als einen Spiegel, in dem sie ihre Ideale reflektieren konnten. In dieser Vergangenheit stellten sie biblische Frauen an ihren Platz, unter ihre Kontrolle, wie es der rabbinischen Weltsicht entsprach. In ihren Auslegungen unterwarfen sie biblische Frauengestalten einem Prozess der Rabbinisierung: Einerseits benutzten sie sie, um gesetzliche Fragen zu klären, die Frauen in ihrer eigenen Gesellschaft betrafen (z. B. Ehe, Scheidung, Sexualität u. a.). Andererseits entwickelten sie neue Handlungsstränge für die biblischen Erzählungen, indem sie biblische Frauen mit zusätzlichen Merkmalen und zuweilen mit einer neuen Familie oder einer anderen ethnischen und religiösen Identität ausstatteten. Damit die Frauen der Bibel als lehrreiche Rollenmodelle dienen konnten, wurden ihre Geschichten aus rabbinischer Perspektive überarbeitet und in kleinerem oder größerem Umfang umgeschrieben: Diese Frauen ver-
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Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky
anschaulichten ein Verhalten oder Auftreten, das nachahmens- oder tadelnswert war, und wurden je nachdem in der Community akzeptiert – oder nicht. Wie in patriarchalischen Gesellschaften üblich, ordneten die Rabbinen die biblischen Frauen in die Kategorie des „Anderen“ ein. Obwohl sie sie als Teil derselben Gesellschaft betrachteten, repräsentierten biblische Frauen in ihren Augen die Andersheit – und das nicht nur gegenüber den männlichen Gestalten der Bibel, sondern auch gegenüber dem idealen jüdischen Mann, der von den Rabbinen selbst verkörpert wurde. Die Merkmale der Andersheit, mit denen die Weisen biblische Frauen ausstatteten, geben Aufschluss darüber, wie sich Frauen in der idealen rabbinischen Gesellschaft verhalten oder nicht verhalten und welche Werte Frauen aus männlich-rabbinischer Sicht anstreben oder nicht anstreben sollten. Das vorliegende Buch untersucht sowohl die gesetzlichen Aspekte, die Frauen betreffen, als auch die psychologischen, die physischen und die Verhaltensmuster, die die rabbinische Exegese und das rabbinische Narrativ biblischen Frauengestalten zuschreiben: Wann gibt man ihnen eine Stimme? Warum lässt man sie verstummen? Welche neue Rollen übernehmen sie? Wie bringen die Rabbinen biblische Gesetze mit ihren Interessen in Einklang? usw. Was wir in den rabbinischen Texten vorfinden, ist keine Auslegung des biblischen Gesetzes, sondern eine Anpassung desselben an rabbinische Standards; wir begegnen nicht der biblischen Eva, Sara, Mirjam, Rut usw., sondern der rabbinisierten Eva, Sara, Mirjam, Rut usw. Der vorliegende Band besteht aus 15 Beiträgen, die sich dem Thema biblische Frauen und Gender auf je unterschiedliche Weise nähern und eine breite Vielfalt rabbinischer Korpora aus verschiedenen Epochen in den Blick nehmen (Mischna-Tosefta, halakhische und haggadische Midraschim, Talmud und später Midrasch). Einige der Beiträge analysieren das biblische Gesetz, Gender-Beziehungen und diesbezügliche Regelungen in der Argumentation der Weisen: Dvora Weisberg und Olga I. Ruiz-Morell untersuchen das Levirat bzw. die Scheidung in der biblischen und rabbinischen Literatur; Christiane Hannah Tzuberi geht der Frage nach, welche Bedeutung das Geschlecht nach rabbinischer Auffassung für die Untersuchung von Hautkrankheiten hat; und Alexander A. Dubrau analysiert das Sota-Ritual zur Prüfung von Frauen, die des Ehebruchs verdächtigt werden und die Ausgrenzung/Inklusion von Frauen im Ritus der roten Kuh in halak hischen Midraschim und im Babylonischen Talmud. Eine zweite Gruppe von Beiträgen setzt sich entweder mit der rabbinischen Darstellung einer bestimmten Frauengestalt oder einer Gruppe von Frauen oder mit der Rolle von biblischen Frauen in einem bestimmten rabbinischen Kontext auseinander: Cecilia Haendler sichtet die Informationen über Frauengestalten in Mischna und Tosefta; Gail Labovitz richtet ihr Augenmerk auf Hagar in Bereshit Rabba; Lorena Miralles-Maciá gibt einen Überblick über Aspekte biblischer Frauen in Wayiqra Rabba; Susanne Plietzsch analysiert Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud; Judith R. Bas-
Einleitung
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kin bietet eine Diskussion über Prophetinnen in einem Passus aus dem Babylonischen Talmud; Yuval Blankovsky untersucht einen Talmud-Abschnitt über verführerische Frauen, die jedoch positiv beurteilt wurden, weil sie ihre Verführungskünste „um des Himmels willen“ eingesetzt hatten; Natalie C. Polzer befasst sich mit Eva in Avot deRabbi Natan; Ronit Nikolsky geht der Verbindung zwischen der „fähigen Frau“ (Spr 31) und Sara im Tanḥuma auf den Grund; Devora Steinmetz beschäftigt sich mit der Überlieferung, wonach Dina und Josef vor ihrer Geburt vertauscht worden seien; und Moshe Lavee fragt nach der Identität der Hebammen in Ägypten in einem Midrasch aus der Kairoer Geniza. Tal Ilan, die den ersten Beitrag in diesem Band verfasst hat, setzt sich mit rabbinischen Episoden auseinander, in denen Frauen eine gewisse Vertrautheit mit der Schrift an den Tag legen. Der nun folgende Abschnitt dieser Einleitung bietet einen allgemeinen Überblick über die rabbinische Literatur und veranschaulicht die in diesem Buch dargestellten Ansätze und Methoden von der Bibel über die frühe und späte rabbinische Literatur bis in die Zeit der arabischen Eroberung am Beispiel der Verweise auf die biblische Prophetin Mirjam. Wie oben bereits erwähnt, sind in diesem Buch die meisten der auf dem internationalen Kongress in Berlin vorgestellten Beiträge versammelt, wo einige von uns die Gelegenheit hatten, sich auszutauschen und dieses Projekt zu planen. Irmtraud Fischer, eine der Hauptherausgeberinnen von „Die Frauen und die Bibel“ stieß dort ebenso zu uns wie mehrere Studierende und Assistent*innen, die sich an vielen produktiven Diskussionen beteiligten. Wir danken ihnen allen für diese Gelegenheit, voneinander zu lernen. Unser besonderer Dank gilt Christiane Hannah Tzuberi und Marcel Gaida, die den Kongress und die Sitzungen organisieren halfen. Wir möchten den Herausgeberinnen des Kooperationsprojekts „Die Frauen und die Bibel“ für ihre Betreuung danken: Irmtraud Fischer (Graz, Österreich), Mercedes Navarro Puerto (Madrid, Spanien) und Adriana Valerio (Neapel, Italien).1 Danken möchten wir ferner dem Verlag Kohlhammer (Stuttgart). Der vorliegende Band wird wie die anderen Bände dieser Enzy klopädie in drei weitere Sprachen, nämlich Englisch (Atlanta: SBL Press), Spanisch (Estella: Editorial Verbo Divino) und Italienisch (Trapani: Il pozzo di Iacobbe) übersetzt werden. Wir danken den Herausgeber*innen des Projekts dafür, dass sie diese schwierige Herausforderung angenommen haben, den Übersetzer*innen, und den Beitragenden, die sich die Mühe gemacht haben, ihre Texte in zwei Sprachen einzureichen. Uns ist durchaus bewusst, welche Schwierigkeiten die Besonderheiten der rabbinischen Literatur für die Übersetzungsarbeit mit sich bringen.
1
Ausführlichere Informationen über dieses Projekt finden sich auf der Homepage http://www.bibleandwomen.org/DE/.
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2.
Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky
Methodologische Einleitung: Der Fall der Mirjam in der rabbinischen Literatur
Der Begriff „rabbinische Literatur“ bezeichnet ein sehr umfangreiches Korpus von Schriften, die Juden in der Spätantike (ungefähr vom Ende des 2. Jh. bis zum Aufstieg des Islams im 7. Jh.) in Eretz Israel und Babylonien auf Hebräisch und Aramäisch (den beiden von Juden gesprochenen und geschriebenen Sprachen) verfasst haben.2 Auch wenn in der Abfassungszeit der rabbinischen Literatur nicht nur in Eretz Israel und in Babylonien, sondern auch in anderen Diasporazentren wie Ägypten, Nordafrika, Kleinasien, Rom und anderen Orten des Mittelmeerraums Juden lebten; und auch wenn diese Juden vermutlich ebenfalls in den genannten und in anderen Sprachen (meist auf Griechisch, aber möglicherweise auch auf Latein) literarische Werke schufen, wurde nur die rabbinische Literatur letztendlich von den Juden in aller Welt kanonisiert und als maßgeblich anerkannt. Den Anfang der rabbinischen Literatur bildete die Mischna (um 200 n. d. Z.): ein Versuch, die biblischen und postbiblischen Gesetzesüberlieferungen zu kodifizieren. Dieses Projekt beruhte auf der Vorstellung, dass Gott den Juden am Sinai zwei Gesetzbücher, ein schriftliches und ein mündliches, gegeben hatte: Die Mischna verfolgt den Zweck, das letztgenannte aufzuschreiben und mit erstgenanntem in Übereinstimmung zu bringen. Es ist ein kontinuierlicher Versuch, den göttlichen Ursprung des jüdischen Gesetzes zu verfechten – nicht nur des in der Bibel enthaltenen Gesetzes, sondern aller Gesetzesüberlieferungen, die sich im Lauf der Jahre bis zur Kompilation und Edition der Mischna gegen Ende des 2. Jh. angehäuft hatten.3 Neben der Mischna sind weitere Werke aus derselben Zeit auf uns gekommen: die Tosefta und die halakhischen Midraschim, laufende Kommentare zu den Gesetzesbüchern der Tora (Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium), die nachzuweisen versuchen, dass das mündliche Gesetz im schriftlichen Gesetz bereits erkennbar ist. Midrasch ist im Prinzip eine rabbinische Form der kreativen Bibelexegese. Alle diese Textzusammenstellungen – die 2 Eine gute Einführung bietet Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Mi drasch (München: Beck, 92011). 3 Es gibt zahlreiche Einführungen in die Mischna. Zwei sehr unterschiedliche Beispiele sind einerseits Jacob Neusner, Judaism: The Evidence of the Mishnah (Chicago: University of Chicago Press, 1981); und andererseits Abraham Goldberg, „The Mishnah: A Study Book of Halakha“, in The Literature of the Sages 1: Oral Tora, Halakha, Mishna, Tosefta, Talmud, External Tractates (hg. v. Shmuel Safrai; CRINT 2,3,1; Assen: Van Gorcum, 1987), 211–262. Etwas neuer ist der Beitrag von Shaye J. D. Cohen, „The Judaean Legal Tradition and the Halakhah of the Mishnah“, in The Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature (hg. v. Charlotte E. Fonrobert und Martin Jaffee; Cambridge Companions to Religion; Cambridge: Cambridge University Press, 2007), 121–143.
Einleitung
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Mischna, die Tosefta und die halakhischen Midraschim – sind als Literatur der Tannaim (wörtlich: der „Wiederholenden“) bekannt. Sie alle wurden in Eretz Israel verfasst und enthalten die Kommentare von Weisen, die vor oder zeitgleich mit Rabbi Jehuda ha-Nasi (auch bekannt als der Patriarch), dem mutmaßlichen Herausgeber der Mischna, gelebt haben. Und sie alle lassen sich in die Kategorie der Halakha (wörtlich „Weg des Gehens“, Auslegungen zu rechtlichen Fragen) einordnen. Allerdings ist es der Mischna von Anfang an nicht wirklich gelungen, einen philosophischen, unpersönlichen Gesetzeskodex zu schaffen. Neben den gesetzlichen Teilen fanden Erzählungen nichtgesetzlichen Inhalts, Präzedenzfälle, Sprichwörter, populäre Redensarten und sogar historische Anekdoten ihren Weg in den Text.4 In dieser Hinsicht war die Mischna ein echter Vorläufer aller anderen rabbinischen Werke, die Halakha und Aggada (wörtlich: „das, was erzählt wird“, also Geschichten und alles, was nicht Halakha ist) in sich vereinen. Unmittelbar nach Abschluss der redaktionellen Arbeiten wurde die Mischna in der ganzen jüdischen Welt als kanonisch anerkannt und in Umlauf gebracht. Schulen wurden gegründet, an denen die Mischna unterrichtet und interpretiert wurde, und in zwei voneinander getrennten Zentren wurden Mischna-Kommentare – die beiden Talmudim (Plural von Talmud; wörtlich: „Lernen“) – erarbeitet. Eines dieser Zentren lag in Galiläa, in Eretz Israel, nicht weit von dort, wo die Mischna selbst herausgegeben worden war, doch das zweite befand sich in einem fernen Land, das zu einem anderen Reich gehörte: in Mesopotamien, jener Region, in die die Juden nach der Zerstörung des Ersten Tempels (6. Jh. v. d. Z.) verbannt worden waren und noch immer lebten. Diese beiden Kommentare sind der Talmud Yerushalmi (4./5. Jh.) und der Babylonische Talmud (6./7. Jh.). Interessanterweise – vielleicht könnte man sogar von einer Ironie der Geschichte sprechen – war es das letztgenannte Schriftwerk, das einige Jahrhunderte später kanonischen Status erhielt: Der Babylonische Talmud entwickelte sich zum Standardwerk, das an der jüdischen Standardschule (Bet ha-Midrasch) gelehrt wurde – ein Rang, den er bis heute innehat. Die Rabbinen, die die Talmudim verfasst hatten, wurden als Amoraim (wörtlich „die Kommentierenden“) bekannt und sahen sich selbst als Nachfolger der Tannaim. Sie waren eine große Gruppe namhafter Weiser und brachten neben den beiden Talmudim (die im Grunde halakhisch sind, aber auch einen erheblichen Anteil an haggadischem Material enthalten) eine beträchtliche Menge an exegetischen und homiletischen Werken (die nicht kanonisiert, aber studiert und weitergegeben wurden) zu verschiedenen Büchern der Bibel heraus. Die frühesten dieser Werke, die sogenannten haggadischen Midraschim, entstanden in Eretz Israel zeitgleich mit dem Talmud Yerushalmi; die 4
Vgl. hierzu seit Neuerem Moshe Simon-Shoshan, Stories of the Law: Narrative Discourse and the Construction of Authority in the Mishnah (Oxford: Oxford University Press, 2012).
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Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky
Gattung hatte jedoch über die Spätantike hinaus Bestand, und in der Frage, welche Schriften noch dazuzurechnen und welche später zu datieren sind, gehen die Meinungen auseinander. Im vorliegenden Band halten wir uns an die neuesten philologischen und strukturellen Parameter der Forschung zur rabbinischen Literatur, um den historischen Hintergrund der verschiedenen Überlieferungen und das – insbesondere chronologische, aber auch geographische – Verhältnis zu rekonstruieren, in dem sie zueinander stehen; folgerichtig untersuchen wir die Möglichkeit, ideologische, theologische und literarische Entwicklungen nachzuzeichnen, die den Wandel der historischen Umstände von Überlieferungen widerspiegeln, die bei der Rezeption biblischer Frauengestalten zum Tragen kommen. Das theologische, historische und kulturelle Fundament des Judentums ist natürlich die Hebräische Bibel. Die rabbinische Literatur setzte dieses Fundament selbstverständlich voraus und gründete ihre ganze Weltsicht auf die „Wahrhaftigkeit“ und den gottgegebenen Ursprung jedes einzelnen Worts und jeder einzelnen Silbe in diesem Text. Wenn diese sich zuweilen selbst widersprachen oder nicht mit der jüdischen Weltsicht der Rabbinen vereinbaren ließen, wurden solche textlichen Schwierigkeiten von den Letztgenannten harmonisiert oder wegerklärt. Gender spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle: weil in der römischen Welt, in der die Mischna redigiert wurde (und in der iranisch-sassanidischen Welt, in der später der Babylonische Talmud entstand), völlig andere Gendernormen herrschten als im antiken Nahen Osten, wo die Bibel verfasst worden war; und weil es in der Bibel selbst nicht nur von widersprüchlichen Erklärungen, Ansichten und gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf die Frauen, sondern auch von einflussreichen Frauengestalten wimmelt, deren Handlungen dem widersprachen und noch immer widersprechen, was sich spätere jüdische Generationen unter angemessenen Genderhierarchien vorstellten. Eine dieser Frauen ist die Prophetin Mirjam, Moses Schwester, die schon in der Bibel einerseits eine beeindruckende Persönlichkeit ist, die am Ufer des Roten Meers Israels Sieg über Ägypten feiert, und andererseits von Gott mit tsara‘at (Aussatz) geschlagen wird, weil sie ihre untergeordnete Stellung gegenüber ihrem Bruder Mose vergessen hat. Auf den folgenden Seiten werden wir die wichtigsten Tendenzen skizzieren, die wir im vorliegenden Band herauszuarbeiten versucht haben, und jeweils zeigen, wie sich das betreffende Phänomen am Beispiel der Mirjam veranschaulichen lässt.5 Doch befassen wir uns zunächst mit der biblischen Mirjam. 5 Einige der hier vorgestellten Schlussfolgerungen stammen aus den verschiedenen Arbeiten, in denen sich Tal Ilan mit den Mirjam-Überlieferungen auseinandergesetzt hat, vgl. Tal Ilan, „Biblische Frauen in Schrift und Tradition in jüdischer Perspektive“, in Geschlechtergerechtigkeit: Herausforderung der Religionen: VII. Internationales Rudolf-Otto-Symposion, Marburg (hg. v. Christoph Elsas, Edith Franke und Angela Standhartinger; Berlin: EB Verlag, 2014), 143–156; Dies., Massekhet Ta‘anit:
Einleitung
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Eine Schwester des Mose wird in der Geschichte von seiner Geburt erwähnt (Ex 2,4). Sie steht am Nilufer, um über ihren Bruder zu wachen, und schlägt der Tochter des Pharao vor, eine Amme für den Säugling zu suchen, die dann dessen eigene Mutter ist. Wir können nicht mit Gewissheit sagen, dass die Schwester in dieser Geschichte dieselbe Person ist, die im weiteren Verlauf der Geschichte ausdrücklich als Mirjam benannt wird, auch wenn spätere Quellen die beiden unhinterfragt miteinander identifizieren. Der Name Mirjam fällt zum ersten Mal nach dem Durchzug durch das Rote Meer. Dort wird sie als Prophetin und als Aarons Schwester bezeichnet und setzt sich beim Siegeslied und -tanz an die Spitze der Frauen Israels (Ex 15,20f.). Als nächstes wird sie in einer rätselhaften Überlieferung in Num 12 erwähnt, wo sie sich bei Aaron über Moses Ehe mit einer Äthiopierin ()אשה כושית beklagt und für sich selbst und für Aaron ähnliche prophetische Kräfte in Anspruch nimmt, wie Mose hat (Num 12,1f.). Daraufhin wird sie mit tsara‘at bestraft (Num 12,10). Rita Burns6 hat die Vermutung geäußert, dass diese Überlieferungen Spuren der gefährlichen Erinnerung an eine weibliche Führungsfigur aus ältester Zeit bewahren, die domestiziert werden musste. Dies geschah dadurch, dass man sie zur Schwester der beiden gerade maßgeblichen männlichen Anführer machte und eine Geschichte darüber erzählte, wie Gott selbst die Überlegenheit des Mose (und des Aaron) bestätigte und die Frau bestrafte. Burns betrachtet schon die Art und Weise, wie diese Geschichte in der Bibel erzählt wird, als Domestizierung einer wirklich wilden Überlieferung von einer wirklich starken und ungewöhnlichen Frau. Tatsächlich finden sich in späteren Schichten der Bibel selbst rivalisierende Überlieferungen über Mirjam, und eine davon ist ganz ohne Zweifel auf ihre Domestizierung ausgerichtet. Im Buch Deuteronomium wird sie nur ein einziges Mal, und zwar in einem negativen Kontext erwähnt. Im Anschluss an eine Diskussion über tsara‘at heißt es dort: „Denkt an das, was der Herr, dein Gott, als ihr aus Ägypten zogt, unterwegs mit Mirjam getan hat!“ (Dtn 24,9). Wenn sich diejenigen durchgesetzt hätten, die das Buch Deuteronomium als Ersatz für frühere Versionen der Tora intendiert hatten,7 wäre Mirjams wichtige Rolle als Prophetin mit diesem Vers vollständig eliminiert worden und nur die Geschichte ihrer Bestrafung für die Nachwelt erhalten geblieben. Der Prophet Micha jedoch stellt alle drei, Mose, Aaron und Mirjam, als Retter IsText, Translation, and Commentary (FCBT II/9; Tübingen: Mohr Siebeck 2008), 132–140; Dies., Massekhet Hullin: Text, Translation, and Commentary (FCBT V/3; Tübingen: Mohr Siebeck 2017), 418–423. 6 Rita Burns, Has the Lord Indeed Spoken Only Through Moses? A Study of the Biblical Portrait of Miriam (SBLDS 84; Atlanta: Scholars Press, 1987). 7 In den Worten von Moshe Weinfeld, Deuteronomy 1–11: A New Translation with Introduction and Commentary (AB 5; New York: Doubleday, 1991), 19: „Das heißt nicht, dass der Verfasser von Deuteronomium seinen Kodex für minderwertig hält, im Gegenteil: […] Deuteronomium sollte nicht als Ergänzung, sondern als Ersatz des alten Bundesbuchs gesehen werden.“
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Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky
raels auf dieselbe Stufe und schreibt emphatisch: „Fürwahr, ich habe dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt und dich freigekauft aus dem Sklavenhaus. Ich habe Mose, Aaron und Mirjam vor dir hergesandt.“ (Mi 6,4). Diese Auslegung erkennt die biblische Geschichte aus den Büchern Exodus und Numeri als verbindlich an und versucht nicht, sie abzuändern oder zu ersetzen. Und weil sie kurz ist, beinhaltet sie kein Werturteil. Allerdings wird Mirjam in der Reihe der drei Geschwister an letzter Stelle genannt. Und da wir nicht wissen, ob Mose oder Aaron zuerst geboren wurde, wohl aber, dass Mose eine ältere Schwester hatte, können wir schlussfolgern, dass die Namen nicht chronologisch nach dem Geburtsdatum, sondern offenbar absteigend nach der Bedeutung der jeweiligen Person angeordnet sind. Mose, der Anführer, kommt zuerst, auf ihn folgt Aaron, der Priester, und die Letzte in der Reihe ist Mirjam, die Frau. Alle diese Überlieferungen werden in der ganzen rabbinischen Literatur immer wieder erörtert und interpretiert. Sie werden uns begleiten, wenn wir nun auf den folgenden Seiten die Aspekte umreißen, die der Konzeption des vorliegenden Bandes zugrunde liegen, und die genderbezogenen Vorstellungen konkretisieren, die in den betreffenden Beiträgen auf heterogene Weise und eher vereinzelt thematisiert werden.
2.1
Mischna
Dass Gender in rabbinischer Halakha eine wichtige Rolle spielt, wird daran deutlich, dass eine der sechs Ordnungen (Sedarim) der Mischna „die Ordnung Frauen“ (Seder Naschim) genannt wird. Auch wenn gezeigt worden ist, dass es darin de facto weniger um Frauen als um die Beziehungen zwischen einem Mann und einer Frau geht (wie ein Mann eine Frau bekommt, inwiefern er für sie verantwortlich ist, und wie er sich von ihr scheiden lässt),8 veranschaulicht diese Ordnung sicherlich gut, welches Verhältnis zwischen den geschriebenen, also biblischen, und den mündlichen, also rabbinischen Gesetzen über Frauen besteht. Wir haben versucht, eine angemessene Zahl von Beiträgen zu den Traktaten dieser Ordnung, die auf dem biblischen Gesetz basieren, in den vorliegenden Band aufzunehmen. Der erste Traktat in diesem Seder (Yevamot – so platziert, weil er der längste Traktat der ganzen Ordnung ist) behandelt eine sehr biblische Einrichtung: die Leviratsehe, das heißt die Verpflichtung eines Mannes, die kinderlose Witwe seines verstorbenen Bruders zu heiraten. Dvora Weisbergs Beitrag zeigt, wie die Verfasser der Mischna die biblische Formulierung mit rabbinischen Auffassungen von dieser Einrichtung durchwirken. Der zweite Traktat (Ketubbot) handelt von Eheverträ8 Jacob Neusner, A History of the Mishnaic Law of Women 5 (SJLA 33; Leiden: Brill, 1980), 13–16; vgl. auch Judith R. Wegner, Chattel or Person? The Status of Women in the Mishnah (New York: Oxford University Press, 1988).
Einleitung
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gen, einem Thema, das in der Bibel gar nicht erwähnt wird und mithin einen bedeutenden Beitrag des mündlichen Gesetzes zur Mischna darstellt. Im vorliegenden Band, der die Rezeption der Bibel thematisiert, wird dieser Traktat nicht erörtert. Weitere Traktate in dieser Ordnung – z. B. Gittin (Scheidung – vgl. hierzu den Beitrag von Olga I. Ruiz-Morell) – sind eine gute Mischung aus biblischem und nachbiblischem Gesetz. Ein Beitrag im vorliegenden Band befasst sich mit einem Mischna-Traktat, der nicht aus der Ordnung Frauen stammt und auf den ersten Blick nicht genderrelevant zu sein scheint: Der Beitrag von Christiane Hannah Tzuberi untersucht den Traktat Nega‘im (Hautkrankheiten) und stellt eine rabbinische Interpretation dieses im Buch Levitikus behandelten Phänomens vor. Dieser Beitrag ist deshalb so wichtig, weil er zeigt, dass das Geschlecht im rabbinischen Denken sogar dort eine Rolle spielt, wo die Bibel es gar nicht als solches thematisiert. Tzuberi weist darauf hin, dass Mirjam, obwohl selbst von einer Hautkrankheit (tsara‘at) befallen, in diesem Mischna-Traktat nicht erwähnt wird. Mirjam taucht in keinem der Mischna-Traktate auf, denen im vorliegenden Band ein eigener Beitrag gewidmet ist – wohl aber im Traktat Sota aus derselben Ordnung. Dieser Traktat hält sich, wie gezeigt worden ist,9 sehr eng an das in Num 5 beschriebene biblische Ritual der des Ehebruchs verdächtigen Frau, deren argwöhnischer Ehemann sie zum Tempel bringt, um ihre Schuld (oder Unschuld) zu beweisen. Das erste Kapitel dieses MischnaTraktats beginnt mit der Erläuterung, dass das Sota-Ritual auf dem göttlichen Maß-für-Maß-Prinzip basiert, und verschiebt sodann den Fokus elegant vom halak hischen Diskurs zur Haggada (die natürlich die Maß-für-Maß-Gerechtigkeit Gottes als Inspiration für das menschliche Rechtssystem heranzieht). Dies ist, wie Cecilia Haendler in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band aufzeigt, die einzige Stelle, an der Mirjam – als eines von mehreren Beispielen für das besagte Prinzip – in der Mischna Erwähnung findet. Auf der negativen Seite wird die des Ehebruchs Verdächtige (die sota) im Tempel Maß für Maß so bestraft, wie sie ihren Ehemann betrogen hat. Auf der positiven Seite wird Mirjam für eine gute Tat (dass sie über ihren Bruder Mose wachte, nachdem er in einem Korb am Nil ausgesetzt worden war) mit dem Guten belohnt, das das Volk um ihretwillen tat: Als Gott Mirjam mit tsara‘at geschlagen hatte, warteten die Israeliten auf sie und zogen erst weiter, als sie genesen war (Num 12,15). Diese Überlieferung setzt die namenlose Schwester, die am Nil auf den kleinen Mose aufpasste, unhinterfragt mit Mirjam gleich. Dass die beiden Frauen identisch sind, wird in der rabbinischen Literatur nirgends in Zweifel gezogen. 9
Neusner, A History of the Mishnaic Law of Women, 140; s. aber in neuerer Zeit Ishay Rosen-Zvi, The Mishnaic Sotah Ritual: Temple, Gender and Midrash (JSJ.S 160; Leiden: Brill, 2012), insbes. 5–11.
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2.2
Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky
Mischna – Tosefta
Beim Studium rabbinischer Quellen spielt, wie Cecilia Haendlers Beitrag im vorliegenden Band veranschaulicht, der Vergleich zwischen Mischna und Tosefta eine wichtige Rolle. Bei beiden handelt es sich um halakhische, tannaitische Werke, und beide sind thematisch in dieselben sechs Ordnungen eingeteilt. Dennoch ist das eine, die Mischna, kanonisch und das andere nicht. Über das Verhältnis dieser beiden Schriften wird viel diskutiert: Ist die Mischna älter oder jünger? Ergänzen oder widersprechen sie einander?10 Und, von unserer Warte aus betrachtet: Ist die eine frauenfreundlicher als die andere? Und wenn ja, warum? Judith Hauptman hat vor mehreren Jahrzehnten in einer Reihe von Beiträgen die These vertreten, dass die Tosefta frauenfreundlicher sei als die Mischna, und die in der Tosefta enthaltenen und in der Mischna fehlenden Überlieferungen als den „nicht eingeschlagenen Weg“ beschrieben.11 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich hier kein einheitliches Bild ergibt, denn zweifellos lassen sich Stellen anführen, an denen die Tosefta, weil sie ausführlicher ist als die Mischna, frauenfeindliches Material enthält, das in der betreffenden Mischna-Parallele fehlt – wie beispielsweise der Wortlaut eines Gebets, das ein Mann jeden Morgen sprechen sollte: „Gepriesen sei, der mich nicht als Frau geschaffen hat!“ (tBer 7,18; vgl. die Parallelstelle mBer 9, die es nicht überliefert). Im vorliegenden Band hat Cecilia Haendler es selbst übernommen, die Darstellungen biblischer Frauen in Mischna und Tosefta zu vergleichen – und gelangt eindeutig zu demselben Schluss wie Judith Hauptman: dass die Tosefta frauenfreundlicher ist. Sie stellt fest, dass „die Mischna die Erwähnung weiblicher Charaktere konsequent vermeidet. Wenn sie sich am Material der Tosefta bedienen, treffen die Verfasser der Mischna eine genderspezifische Auswahl. Und wenn sie dem Material der Tosefta etwas hinzufügen, kommen 10 Vgl. Jacob Neusner, The Tosefta Translated from Hebrew: Zera‘im (Hoboken: KTAV Publishing House, 1986), ix–xi; Shamma Friedman, Tosefta Atiqta: Pesaḥ Rishon: Synoptic Parallels of Mishnah and Tosefta Analyzed with a Methodological Introduction (Ramat Gan: Bar Ilan University Press, 2002) (Hebr.); und in neuerer Zeit Robert Brody, Mishnah and Tosefta Studies (Jerusalem: Magnes Press, 2014), 111–114.141–154. 11 Judith Hauptman, „Mishnah Gittin as a Pietist Document“, Proceedings of the Tenth World Congress of Jewish Studies C/1 (Jerusalem: World Union of Jewish Studies, 1990), 23–30 (Hebr.); Dies., „Maternal Dissent: Women and Procreation in the Mish nah“, Tikkun 6/6 (1991): 80–81.94–95; Dies., „Women’s Voluntary Performance of Commandments from which They are Exempt“, Proceedings of the Eleventh World Congress of Jewish Studies C/1 (Jerusalem: World Union of Jewish Studies, 1994), 161–168 (Hebr.); Dies., „Women in Tractate Pesahim“, in Atara L’Haim: Studies in the Talmud and Medieval Rabbinic Literature in Honor of Professor Haim Zalman Dimitrovsky (hg. v. Daniel Boyarin et al.; Jerusalem: Magnes Press, 2000), 63–78 (Hebr.).
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sie praktisch nie auf die Idee, dass biblische Frauen aussagekräftige Beispiele für ihre Regeln und ihren Diskurs liefern könnten.“ Haendler betont, dass ihre Schlussfolgerung sich sowohl auf die Quantität als auch auf die Qualität bezieht, mit anderen Worten: Die Tosefta ist erheblich frauenfreundlicher als die Mischna. Und das gilt auch für unser Rollenmodell – Mirjam. Wie in der Mischna wird Mirjam auch in der Tosefta lediglich im Traktat Sota, dem umfangreichsten haggadischen Abschnitt der gesamten Kompilation, erwähnt. Ihr Auftreten ist, wie Haendler schreibt, in der Tosefta vollkommen anders als in der Mischna: die Tosefta schreibt „auch Mirjam eine aktive Rolle im Narrativ der Errettung Israels zu und bringt sie mit dem Brunnen in Verbindung, der das Volk in der Wüste mit Wasser versorgte. Im Traktat Sota (tSot 11,8) wird Mirjam als gerecht und gemeinsam mit ihren Brüdern Mose und Aaron als ‚Versorger‘ Israels beschrieben.“ Die Vorstellung, dass Mirjam die Israeliten in der Wüste mit Wasser versorgte, wird in der rabbinischen Literatur oft und auf vielerlei Weise wiederholt, doch die grundlegende Formulierung findet sich in der Tosefta: Rabbi Jose ben Jehuda sagt: Als Israel aus Ägypten hinausgingen, wurden für sie drei gute Versorger ernannt. Diese waren Mose und Aaron und Mirjam. Durch deren Verdienst wurden ihnen drei Gaben gegeben: die Wolkensäule, das Manna und der Brunnen. Der Brunnen durch das Verdienst der Mirjam; die Wolkensäule durch das Verdienst des Aaron; das Manna durch das Verdienst des Mose. (tSot 11,8)
Wenn wir diesen Verweis auf Mirjam aus der Tosefta, der (wenngleich ohne direktes Zitat) ganz offensichtlich ein Midrasch (d. h. eine rabbinische Exegese) zu Mi 6,4 ist – jener Stelle in der auf Exodus bezogenen biblischen Literatur, die eine positive Erinnerung an Mirjam bewahrt –, mit dem Verweis auf Mirjam in der Mischna vergleichen, der sich insbesondere auf Dtn 24,9 – die negative Erinnerung an Mirjam – bezieht, dann stellen wir fest, dass beide Werke, obwohl sie Mirjam positiv sehen, im Hinblick auf das, was über Mirjam in Erinnerung behalten werden soll, eine grundsätzlich andere Auswahl treffen und damit eine Ambivalenz perpetuieren, die uns bereits in der Bibel begegnet ist. Auch hier können wir die These aufstellen, dass sich die Mischna im Vergleich zur Tosefta bewusst für Überlieferungen entschieden hat, die Frauen benachteiligen. Das bedeutet vermutlich, dass, wer immer die Mischna kanonisiert hat, weniger frauenfreundlich war als andere Mitglieder des rabbinischen Zirkels – und wir stellen fest, dass sich dieses Phänomen auch bei anderen Kanonisierungsakten in der rabbinischen Literatur wiederholt.
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2.3
Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky
Halakhische Midraschim
Die dritte Gruppe tannaitischer Texte sind, wie schon gesagt, die halakhischen Midraschim: Kompilationen, die versuchen, das gesamte rabbinische Recht auf die Gesetze aus den biblischen Büchern Exodus bis Deuteronomium zurückzuführen. Was die Frage nach der korrekten Auslegung der Texte angeht, lassen sich zwei Schulen unterscheiden: die von Rabbi Aqiva (dem vielleicht prominentesten Rabbi des 2. Jh., der nach dem katastrophalen Bar Kochba-Aufstand den Märtyrertod erlitten haben soll) und die Schule seines großen Kontrahenten Rabbi Jischmael. Die Kompilationen, die aus dieser Gruppe auf uns gekommen sind, unterteilen sich in zwei, die Rabbi Jischmael zugeschrieben werden (Exodus – Mekhilta deRabbi Yishma’el, und Numeri – Sifre Bamidbar), und zwei, die auf Rabbi Aqiva zurückgehen (Levitikus – Sifra, und Deuteronomium – Sifre Devarim).12 Die Forschung führt die Unterschiede zwischen ihnen auf zwei unterschiedliche exegetische Techniken zurück: Rabbi Jischmael arbeitet mit logischen Schlussfolgerungen, während Rabbi Aqiva extreme, zusammenhanglose Wortanalogien bevorzugt. Wie Tal Ilan nachgewiesen hat, bestehen zwischen den beiden Schulen auch genderbezogene Unterschiede. Während Rabbi Aqivas Schule exegetische Methoden einsetzt, um Frauen auszugrenzen, verwendet die Schule Rabbi Jischmaels etwas andere Techniken, um sie zu einzubeziehen.13 Ilan hat die These vertreten, dass diese Ausgrenzung/Inklusion sich auch in der Kanonizität der Texte widerspiegelt. Obwohl letztlich keiner der halakhischen Midraschim offiziell verbindlich wurde, ist Rabbi Aqiva ein weitaus einflussreicherer Weiser als Rabbi Jischmael: Ihm wird die Hauptmasse des mischnaischen Materials zugeschrieben, und viele der dort formulierten Regeln stammen aus den halakhischen Midraschim von Rabbi Aqiva. Sein (ausgrenzender) Umgang mit Frauen hat sich offensichtlich durchgesetzt. Wieder sehen wir, dass man sich, wenn man die Wahl hatte, bei der Kanonisierung nicht für den frauenfreundlicheren, sondern für den weniger frauenfreundlichen Ansatz entschied. Alexander Dubrau führt in seinem Beitrag zu vorliegendem Band zwei Beispiele für Überlieferungen an, die das biblische Gesetz und Gender betreffen. Mit dem ersten Beispiel werden Ilans Schlussfolgerungen ein Stück weit modifiziert. Dubrau weist nach, dass Rabbi Aqivas exegetische Methode der Wortanalogien zuweilen auch zu frauenfreundlicheren Regelungen führen kann. Interessanterweise zeigt er dies ebenfalls anhand des Sota-Rituals, das 12 Vgl. zu diesen Texten Menachem I. Kahana, „The Halakhic Midrashim“, in The Literature of the Sages 2: Midrash and Targum, Liturgy, Poetry, Mysticism, Contracts, Inscriptions, Ancient Science and the Languages of Rabbinic Literature (hg. v. Shmuel Safrai et al.; CRINT 2,3,2; Assen: Van Gorcum, 2006), 3–105. 13 Tal Ilan, Silencing the Queen: The Literary Histories of Shelamzion and Other Jewish Women (TSAJ 115; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006), 124–159.
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er in Form einer Synopse aus dem in Rabbi Jischmaels Schule entstandenen Midrasch SifBam und dem in Rabbi Aqivas Schule entstandenen Midrasch Sifre Zuta zu Numeri (der nur in Fragmenten auf uns gekommen ist) vorstellt. Dubraus zweites Beispiel bestätigt Ilans Ergebnisse. Die Unterschiede zwischen den beiden Schulen lassen sich in den hala khischen Midraschim auch am Beispiel der Mirjam veranschaulichen – und wieder erweist sich Rabbi Jischmaels Schule als die frauenfreundlichere. Wir führen im Folgenden zwei Überlieferungen an, die, wie es der Grundintention der halakhischen Midraschim entspricht, das rabbinische Recht auf die Bibel (in diesem Fall auf das Verhalten der Mirjam) zurückführen. Die erste dieser beiden Überlieferungen betrifft Mirjams massive Präsenz bei den Feierlichkeiten nach dem Durchzug durch das Rote Meer. Das berühmte Ende der Episode bildet das von Mose komponierte „Siegeslied“ samt der anschließenden Szene, in der Mirjam und die Frauen singen und zum Klang von Musikin strumenten tanzen. Der Midrasch in der MekhY hat hierzu einiges zu sagen, doch für unseren Zweck ist vor allem ein Satz wichtig: „Mirjam sang ihnen vor (Ex 15,21) – der Schriftvers besagt: So wie Mose den Männern das Lied vortrug, so trug es Mirjam den Frauen vor.“ (MekhY Shira 10). Auch wenn die biblische Geschichte dies eigentlich nicht expliziert, wurde dieser grundlegende Text über Generationen hinweg herangezogen, um die Trennung von Männern und Frauen bei jüdischen Andachten und Feiern zu rechtfertigen. Der zweite Text aus den halakhischen Midraschim, der unserem Anliegen auf Mirjams Spuren dienlich ist, ist eine Synopse zu einer Überlieferung, die Mirjams Kritik an Mose in Num 12 betrifft. Die folgende Gegenüberstellung bietet zwei Varianten des Schlussteils dieser Überlieferung; die eine stammt aus einem Midrasch der Schule von Rabbi Aqiva, die andere aus einem Mi drasch der Schule von Rabbi Jischmael: Sifra Metsora‘ Parascha 5,7f. (Aqiva) SifBam 99 (Jischmael) 7. Denkt an das, was der Herr, dein Gott, als ihr aus Ägypten zogt, unterwegs mit Mirjam getan hat! (Dtn 24,9). Warum ist dieser [Vers] mit dem vorherigen verbunden? Das beweist, dass sie nur für böse Nachrede ( )לשון הרעbestraft worden ist. 8. [Das ist ein Fall einer] Schlussfolgerung [Das ist ein Fall einer] Schlussfolgerung a fortiori: Wenn Mirjam, die nicht a fortiori: Wenn Mirjam, die nicht beabsichtigte, über ihren Bruder zu sprechen, um Tadel [auszudrücken], sondern Lob, und Nachwuchs nicht zu mindern, sondern zu mehren, in Moses Anwesenheit sprach, so [bestraft und nur bei sich selbst [darüber nachgewurde], dacht hatte], so bestraft wurde,
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um wieviel mehr derjenige, der seinem Mit- um wieviel mehr derjenige, der beabsichmenschen die böse Nachrede tigt, über seinen Mitmenschen zu sprechen, um Tadel und nicht Lob [auszudrücken], und Nachwuchs mindert und ihn nicht vermehrt, ins Gesicht sagt. und dies bei anderen und nicht bei sich selbst [tut].
In SifBam befindet sich diese Perikope genau an der Stelle, wo die Geschichte von Mirjams Kritik an Mose erzählt wird (Num 12,1f.). In Sifra wird sie jedoch im Zusammenhang mit der Beschreibung der tsara‘at erzählt (der Krankheit, mit der Gott Mirjam schlägt, weil sie sich gegen ihren Bruder gewandt hat). Das weist darauf hin, dass die Platzierung dieses Texts in Sifre Bamidbar die ursprüngliche ist. Beide in der Tabelle angeführten Texte arbeiten mit dem halakhischen Prinzip eines Argumentum a fortiori (das traditionell eher den von Rabbi Jischmaels Schule favorisierten logischen Prinzipien zugerechnet wird), doch es gibt einen Unterschied. In SifBam wird dieses Prinzip benutzt, um aus der Geschichte über Mirjam die Lehre zu ziehen, dass Gott sogar die bestraft, die er liebt und die gute Absichten haben, und man daher nur ahnen kann, um wie viel schlimmer die Bestrafung derer ausfallen wird, die er nicht begünstigt und deren Absichten nicht lauter sind. Tatsächlich scheint es sich um eine weitere „Maß für Maß“-Lektion zu handeln wie jene in der Mischna, die sich hierzu ebenfalls der Gestalt der Mirjam bedient hatte und die ebenfalls ursprünglich aus SifBam stammt. In Sifra zu Levitikus14 wird das a fortiori-Prinzip benutzt, um die Geschichte in einen halakhischen Präzedenzfall für die Lektion zu verwandeln, dass die böse Nachrede (( )לשון הרעvon Gott?) bestraft werden kann. Deshalb beginnt der Text mit einer allgemeinen Einführung über die böse Nachrede, die in der SifBam-Version fehlt. Im Anschluss daran nimmt Sifra weitere Veränderungen am SifBam-Text vor, bis nur ein zentrales Thema übrigbleibt, nämlich die böse Nachrede – zumal die, die man dem Betreffenden ins Gesicht sagt. Mirjams Verdienst wird vollständig ausgeblendet. Wir sehen hier, dass die Schule von Rabbi Aqiva mit Mirjams gutem Ruf weniger behutsam umgeht als die Schule von Rabbi Jischmael.
2.4
Zwischen tannaitischer und amoräischer Literatur
In der amoräischen Literatur wimmelt es von Zitaten aus tannaitischen Überlieferungen, die zuweilen nur geringfügig, zuweilen jedoch ganz erheblich 14 Vgl. außerdem SifDev 1, ein Text aus der Schule von Rabbi Aqiva, der in der Forschung als sekundär betrachtet wird.
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verändert worden sind. Wenn sich die Erscheinungsformen tannaitischer Überlieferungen in amoräischen Kompilationen nicht nur durch kleinere „Korrekturen“ oder „Fehler“ vom Original unterscheiden, sollte man versuchen, diese Unterschiede zu erklären, wofür sich laut Forschung der chronologische und der geographische Ansatz am besten eignen. Da die amoräische Literatur sowohl in Eretz Israel als auch in Babylonien entstanden ist, ist es zwar denkbar, dass die Unterschiede zwischen tannaitischen und amoräischen Quellen in Eretz Israel ausschließlich chronologische Gründe haben; die Unterschiede zwischen den Quellen aus Eretz Israel und der babylonischen Literatur resultieren jedoch nicht nur aus der chronologischen, sondern auch aus der geographischen Distanz. Auch Gender ist ein Aspekt, der die Verarbeitung von tannaitischen Quellen in amoräischen Texten beeinflusst.15 Tal Ilan zeigt im vorliegenden Band, dass ein haggadischer Midrasch aus Eretz Israel (EkhaR 3,6) und der Babylonische Talmud (bAZ 17b–18a) einen völlig unterschiedlichen Gebrauch von einer tannaitischen Überlieferung aus SifDev 307 machen, die von einer Frau handelt, die aus der Schrift zitiert. Alexander Dubrau weist nach, dass eine Überlieferung aus den halakhischen Midraschim über die Sota im Buch Numeri (5,5–31) in einem haggadischen Abschnitt des Babylonischen Talmud zur biblischen Hanna (bBer 31b) eine doch eher überraschende Verwendung findet. In den vorangegangenen Abschnitten hatten wir Gelegenheit, uns nicht alle, aber einige Überlieferungen über Mirjam anzusehen, die auf die Tannaim zurückgehen. Etliche tannaitische Mirjam-Überlieferungen tauchen in überarbeiteten und „verbesserten“ Versionen in der amoräischen Literatur wieder auf, und wir wollen uns eine davon genauer ansehen, um eines der Prinzipien zu veranschaulichen, die die moderne Wissenschaft beim Studium der rabbinischen Literatur zur Anwendung bringt. Wir werden uns mit der Überlieferung von Mirjams Brunnen befassen, um zu zeigen, wie sich diese Geschichte auf ihrem Weg von den tannaitischen zu den amoräischen Quellen verändert hat. Wie wir gesehen haben, wird Mirjam in der Tosefta mit einem Brunnen in Verbindung gebracht, der den Israeliten in der Wüste Wasser spendete; dabei wird sie in einem Atemzug mit ihren beiden Brüdern genannt: Mose, der die Israeliten mit Nahrung versorgte, und Aaron, der ihnen Schutz gewährte. Nur der amoräische Babylonische Talmud trägt diese Überlieferung weiter (bTaan 9a). Dieses Geben und Nehmen der Babylonier wird im Folgenden verdeutlicht. An der Sprache, in der die Teile jeweils tradiert worden sind, wird erkennbar, welche Überlieferung sie (auf Hebräisch) übernommen und was sie (auf Aramäisch) hinzugefügt haben.
15 Tal Ilan, Mine and Yours are Hers: Retrieving Women’s History from Rabbinic Literature (AGJU 41; Leiden: Brill, 1997), 85–120.
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Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky Aussage (auf Hebräisch): Rabbi Jochanan sagte: Regen [wird] dem Einzelnen [von Gott geschickt], Versorgung [aber nur] für die vielen; Regen dem Einzelnen, denn es heißt: […]; Versorgung der vielen, denn es heißt […] Der Aussage wird eine masgebliche Überlieferung gegenübergestellt (auf Aramäisch): Man wandte ein ()מיתיבי: Die Überlieferung aus tSot 11,8 über Mose, Aaron und Mirjam, die die ganze Gemeinschaft mit Lebensmitteln versorgen, wird zitiert (auf Hebräisch). Erklärung dazu, inwiefern die Überlieferung der Aussage widerspricht (auf Aramäisch): Wenn du sagst ([ )אלמאaus dieser Tradition], dass wegen eines Einzelnen [der gesamten Gemeinschaft] Versorgung gewährt wird, Gegenargument, dass die Anfangsaussage bekräftigt (auf Aramäisch): Anders ( )שאניist es bei Mose, da er für die Gemeinschaft bat, gleicht er der Gemeinschaft.
Die Aussage, die diese Diskussion einleitet, stammt von dem wichtigsten Amora aus Eretz Israel, Rabbi Jochanan, der erklärt, dass die Verdienste eines/einer Einzelnen ihn oder sie, nicht aber die ganze Gemeinschaft vor den Auswirkungen der Hungersnot bewahren werden. Der babylonische Herausgeber – in der Forschungsliteratur ist zuweilen von Stam die Rede – wirft da raufhin die Frage auf: Haben denn die Verdienste Moses, Aarons und Mirjams nicht die ganze Gemeinschaft Israels vor Hunger und Durst und anderen Gefahren bewahrt? Dieser Einwand wird in Form eines beinahe wortwörtlichen Zitats der tSot-Überlieferung vorgebracht. Die Überlieferung basiert, wie schon erwähnt, auf dem Vers aus dem Buch Micha, wo die drei Geschwister als gleichwertige Versorger beschrieben werden. Um Rabbi Jocha nans Aussage mit der tSot-Überlieferung in Einklang zu bringen, erklärt der anonyme babylonische Herausgeber, dass Mose anders gewesen sei: „Da er für die Gemeinschaft bat, gleicht er der Gemeinschaft.“ Der Einzelne, der das Volk versorgt hat, ist dieser Antwort zufolge ausschließlich Mose. Aaron und insbesondere Mirjam sind verschwunden. Die tannaitischen Überlieferungen werden von den babylonischen Rabbinen häufig korrekt zitiert, dann aber mit neuer Akzentuierung interpretiert. Unseres Erachtens spielt der Gender-Aspekt bei dieser Neuinterpretation eine sehr wichtige Rolle. Wir halten Gender in diesem Zusammenhang deshalb für wichtig, weil ein Teil der Tosefta-Überlieferung über die Gaben der drei Geschwister sowohl im Talmud Yerushalmi als auch in den haggadischen Midraschim aus Eretz Israel Erwähnung findet, obwohl diese Überlieferung als ganze in den amoräischen Quellen aus Palästina nicht zitiert wird. Im Talmud Jerushalmi lesen wir: „Rabbi Chijja bar Ba sagte: Jeder, der auf den Berg Yeshimon
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steigt, sieht auf dem See Tiberias eine Art von Sieb. Das ist der Brunnen der Mirjam“ (yKet 12,3 [35b]; yKil 9,3 [32c]). In haggadischen Midraschim, ebenfalls aus Eretz Israel, wird diese Überlieferung mit einer anderen in Verbindung gebracht, der zufolge kranke Menschen (die mit einer Hautkrankheit [ ]שחיןoder mit Blindheit geschlagen waren) im See von Tiberias badeten und geheilt wurden, weil sie den Brunnen der Mirjam fanden (WaR 22,4; QohR 5,5; Tan Ḥuqqat 1). Mit anderen Worten: Der Brunnen der Mirjam (und nicht das Manna des Mose oder der Schutz des Aaron) wurde unabhängig von der Tosefta-Überlieferung weitertradiert und fand als separate und singuläre Überlieferung sogar Eingang in den Babylonischen Talmud, wo wir Folgendes lesen: Die Schule von Rabbi Jischmael lehrte: Als Belohnung für drei [Dinge] verdienten drei [eine Belohnung]. Als Belohnung für die Butter und Milch (Gen 18,8) [die Abraham den Engeln gab] verdienten sie das Manna; als Belohnung dafür, dass er selbst ihnen wartete (Gen 18,8), verdienten sie die Wolkensäule; als Belohung für man wird etwas Wasser holen (Gen 18,4) verdienten sie Mirjams Brunnen. (bBM 86b)
In dieser Überlieferung werden die drei Gaben – Manna, (schützende) Wolken und Wasser – miteinander verknüpft, doch nur das Wasser wird ganz präzise mit einem der drei Geschwister – nämlich in der Form des Brunnens mit Mirjam – in Verbindung gebracht. Anscheinend war die in der Tosefta an erster Stelle erwähnte Assoziation des Manna mit Mose und des Schutzes mit Aaron sekundär und diente dazu, die Rolle der Mirjam kleinzureden, die in einer ursprünglichen Überlieferung als Einzige der drei Geschwister mit einer Gabe in Verbindung gebracht wurde, die dem ganzen Volk in der Wüste zugutekam. Wenn also der Babylonische Talmud schlussendlich nur Mose als Beispiel für eine Einzelperson nennt, die die ganze Gemeinschaft versorgt, dann ist dies – dass also Mirjam aus einer Tradition verschwunden ist, die ursprünglich ganz ihre eigene war – unter dem Gender-Aspekt ein höchst aufschlussreicher Befund. Tal Ilan hat dieses Vorgehen, Frauen ihre Überlieferung wegzunehmen und sie stattdessen Männern zuzuschreiben, als „Silencing“ bezeichnet.16
2.5
Die amoräischen Midraschim aus Eretz Israel
Die amoräische Periode in Eretz Israel (200–400 n. d. Z.) ist, wie schon gesagt, durch zwei Arten von literarischen Erzeugnissen geprägt: halakhische Werke (den Talmud Yerushalmi) und haggadische Schriften (haggadische Midra16 Ilan, Silencing the Queen, 35–42.
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schim, insbes. Bereshit Rabba und Wayiqra Rabba, aber auch Pesiqta deRav Kahana und vielleicht auch Ekha Rabba).17 Mehrere Beiträge im vorliegenden Band setzen sich mit der Darstellung biblischer Frauengestalten in den beiden erstgenannten Midraschim auseinander. Lorena Miralles-Maciá geht der Frage nach, wie biblische Frauen allgemein in WaR portraitiert werden, und Gail Labovitz untersucht die Darstellung der biblischen Hagar in BerR. Was die Ergebnisse angeht, macht es offenbar keinen großen Unterschied, ob man sich auf Frauen im Allgemeinen oder auf einen bestimmten Midrasch konzentriert. Miralles-Maciá gelangt mit Blick auf alle in WaR vorkommenden Frauen zu dem Schluss, dass die Verfasser des Midrasch „ihren Interpretationen ihre Wahrnehmung der Frauen als der ‚Anderen‘ – anders als die Norm, nämlich der jüdische Mann – zugrunde [legten] und stellten sie entsprechend der Bedeutung dar, die sie ihrer Rolle in einer von Männern geschriebenen Vergangenheit beimaßen.“ Und Labovitz folgert mit Blick auf Hagar in BerR, „dass die rabbinischen Exegesen der Erzählung und der ergänzenden Legenden über Hagar in Bereshit Rabba durch Aspekte des Gender, der ethnischen Zugehörigkeit und des gesellschaftlichen Standes beeinflusst werden und diese zum Ausdruck bringen. […] Sara und Hagar wetteifern in der gesellschaftlichen und religiösen Sphäre, tun dies aber der midraschischen Darstellung zufolge auf eine genderspezifische Weise“. Mit anderen Worten: Ganz gleich, ob die Frauen Jüdinnen waren oder von außerhalb kamen – sie werden als „anders“ wahrgenommen, weil sich der rabbinische Maßstab am jüdischen Mann orientiert. Die Mirjam-Darstellung in WaR wird bereits bei Miralles-Maciá thematisiert, weshalb wir an dieser Stelle nur kurz auf ihre Rolle in BerR eingehen wollen. Zunächst ist festzuhalten, dass Mirjam im biblischen Buch Genesis nicht vorkommt. Wenn der Midrasch zu diesem Buch sie dennoch erwähnt, handelt es sich demzufolge nicht um einen unmittelbaren, sondern um einen mittelbaren Verweis. In BerR ist an drei Stellen von Mirjam die Rede: einmal im neutralen Kontext eines Zitats aus MekhY Shira 10 in BerR 80,10 und zweimal in einem ausgesprochen positiven Kontext. Die beiden positiven Überlieferungen sind nur aus BerR bekannt und lassen sich nicht auf ältere Quellen zurückführen. Die beiden positiven Überlieferungen bringen Mirjam wie im Buch Micha symbolisch mit Mose und Aaron als Versorgerin Israels in der Wüste in Verbindung. BerR 70,8 ist eine Auslegung zu Gen 29,2: 17 Zum haggadischen Midrasch vgl. Marc Hirschman, „Aggadic Midrash“, in The Literature of the Sages 2: Midrash and Targum, Liturgy, Poetry, Mysticism, Contracts, Inscriptions, Ancient Science and the Languages of Rabbinic Literature (hg. v. Shmuel Safrai et al.; CRINT 2,3,2; Assen: Van Gorcum, 2006), 107–132; Myron B. Lerner, „The Works of Aggadic Midrash and the Esther Midrashim“, in ebd., 133– 229.
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Als er aufsah, siehe, da war ein Brunnen auf freiem Feld. Und siehe, da lagerten drei Herden von Schafen und Ziegen; denn aus dem Brunnen tränkte man die Herden. Ein großer Stein lag über der Brunnenöffnung. (Gen 29,2) Rabbi Chama bar Chanina legte es aus […] ein Brunnen auf freiem Feld – das ist der Brunnen; da lagerten drei Herden von Schafen: Mose, Aaron und Mirjam; denn aus dem Brunnen tränkte man die Herden – jeder schöpfte von da Wasser für seine Kohorte, für seinen Stamm und für seine Familie. Ein großer Stein lag über der Brunnenöffnung – Rabbi Chanina sagte: wie die Öffnung eines kleinen Siebes.
Wir stellen zunächst fest, dass der echte Brunnen, den Jakob sah, als er vor seinem Bruder nach Haran floh, symbolisch gedeutet wird. Obwohl Mirjam in der hier vorliegenden allegorischen Interpretation nicht mit dem Brunnen, sondern mit einer der drei Schafherden gleichgesetzt wird, die in dessen Nähe lagern (die anderen beiden Herden stellen ihre beiden Brüder dar), kann allem Anschein nach nicht bezweifelt werden, dass ihr Brunnen gemeint ist, denn der Stein, der als Brunnenabdeckung dient, hat der Beschreibung zufolge die Größe eines Siebs, und das sind exakt die im Talmud Yerushalmi genannten Abmessungen des Mirjambrunnens, den man vom Berg Yeshimon aus sehen kann. Das Wort „Sieb“ ( )כברהkommt in der amoräischen Literatur aus Eretz Israel vergleichsweise selten und wenn, dann meist in Zitaten aus der Mischna vor. Wenn im Zusammenhang mit diesem Wort ein Brunnen und Mirjam erwähnt werden, dann stammt dies alles vermutlich aus derselben Quelle und bezieht sich auf dasselbe Objekt. Wir sehen also, dass Bereshit Rabba Mirjam hier im Zusammenhang mit dem Brunnen und seinen besonderen Abmessungen und im Zusammenhang mit ihren Brüdern, nicht aber als diejenige nennt, der man den Brunnen zu verdanken hatte, das heißt der Brunnen wird ihr weggenommen. Der letzte singuläre Text, in dem Mirjam in Bereshit Rabba erscheint, ist ebenfalls eine allegorisch-symbolische Versauslegung. Zu Gen 40,9f., wo der Mundschenk des Pharaos seinen Traum erzählt, bietet BerR 88,5 eine andere Deutung als die Bibel: Darauf erzählte der Obermundschenk [Josef seinen Traum. Er sagte zu ihm: In meinem Traum, siehe,] da war ein Weinstock vor mir (Gen 40,9): Das ist Israel[, wie es heißt:] Einen Weinstock hobst du aus in Ägypten (Ps 80,9). Und am Weinstock waren drei Ranken (Gen 40,10): [Das sind] Mose, Aaron und Mirjam, und es war mir, als triebe er Knospen, diese [Knospen] sind die Erlösung Israels. Seine Blüten wuchsen: Die Blüten sind Israels Erlösung.
Die hier gebotene allegorische Auslegung hat apokalyptischen Charakter, im Unterschied zu der vorher zitierten, die als historisch beschrieben werden kann. Doch ebenso wie die drei Geschwister (Mose, Aaron und Mirjam) auf historischer Ebene die Retter Israels sind, fungieren sie in dieser Überlieferung als wichtige Voraussetzungen für Israels künftige Errettung.
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Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky
Die drei Reben im apokalyptischen Traum des pharaonischen Mundschenken sind – und zwar ohne jeden Hinweis auf den Geschlechtsunterschied – die drei Geschwister. Wir können also mit Labovitz schlussfolgern, dass BerR zum Thema biblische Frauen und Gender eine komplexe Botschaft anbietet. Derselbe Midrasch kann an einigen Stellen sehr negativ und verurteilend, an anderen Stellen hingegen sehr positiv sein und Mirjam eine herausragende Rolle in Israels Heilsgeschichte zuweisen.
2.6
Amoräische Literatur zwischen Eretz Israel und Babylonien
Oft fanden amoräische Überlieferungen aus Eretz Israel den Weg nach Babylonien, und die Forschung hat schon etliche der mit diesem Prozess verbundenen subtilen oder auch drastischen Veränderungen aufgezeigt, sie gründlich analysiert, als Folgen des jeweils unterschiedlichen historischen und kulturellen Entstehungskontexts der beiden Literaturen interpretiert und einen erheblichen Aufwand betrieben, um diese unterschiedlichen Kontexte näher zu bestimmen.18 Tal Ilan hat die Vermutung geäußert, dass Gender bei diesem Überlieferungsprozess eine wichtige Rolle spielt, und gezeigt, dass in vielen Geschichten im Talmud Yerushalmi, an denen zeitgenössische Frauen aus dem Umfeld der Rabbinen beteiligt sind, auf dem Weg von Eretz Israel nach Babylonien eine Abwertung stattfindet: Frauen, die der Talmud Yerushalmi als klug oder interessant darstellt, werden im Babylonischen Talmud dumm und langweilig.19 Und das liegt Ilan zufolge nicht daran, dass jüdische Frauen in Babylonien schlechter gestellt gewesen wären, sondern daran, dass die jeweilige rabbinische Aufnahmekultur (Mischna vis-à-vis Tosefta, amoräische vis-àvis tannaitische Traditionen, Babylonien vis-à-vis Eretz Israel) einige der in den Überlieferungen erwähnten Frauen als zu mächtig wahrnahm, und daher versuchte sie zurechtzustutzen.20 Dies zeigt Ilan in ihrem Beitrag zum vorliegenden Band am babylonischen Schicksal einer Frau – Matrona –, die der haggadische Midrasch BerR mehrfach als eine profunde Kennerin der biblischen Texte darstellt. 18 Vgl. z. B. Alyssa M. Gray, A Talmud in Exile: The Influence of Yerushalmi Avodah Zarah on the Formation of Bavli Avodah Zarah (BJS 342; Providence: Brown University, 2005); Ronit Nikolsky und Tal Ilan, Hg., Rabbinic Traditions between Palestine and Babylonia (AGJU 89; Leiden: Brill, 2014). 19 Tal Ilan, „‚Stolen Water is Sweet‘: Women and their Stories between Bavli and Yerushalmi“, in The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture 3 (hg. v. Peter Schäfer; TSAJ 93; Tübingen: Mohr Siebeck, 2002), 185–223. 20 Dies., Silencing the Queen, 276–278.
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Ilan vertritt jedoch die Auffassung, dass biblische Frauen, die immer als unnachahmlich galten, von dieser Abwärtsentwicklung in der Frauendarstellung von älteren hin zu jüngeren Texten nicht betroffen waren. Tatsächlich, so Ilan, seien Frauen, die in der gegenderten Wahrnehmung der Rabbinen aus ihrer weiblichen Rolle fielen, sogar in biblische Frauen der mythischen Vergangenheit umgewandelt worden.21 So wird aus Michal bat Kuschi, die laut MekhYPisḥa 17 Gebetsriemen trug, im Talmud Yerushalmi die biblische Saulstochter Michal (yBer 2,3 [4c]; yEr 10,1 [26a]). Lässt sich diese These aufrechterhalten? Diese Frage stellen wir im vorliegenden Band. Susanne Plietzsch erklärt in ihrem Beitrag über Sara in BerR und im Babylonischen Talmud, dass Sara in BerR eine ebenso prominente oder sogar prominentere Rolle spielt als Abraham, wohingegen – und das belegt sie an etlichen Beispielen – „[I]m Babylonischen Talmud wird […] der relative Vorrang Saras vor Abraham verringert.“ Auch Mirjam-Überlieferungen haben aus amoräischen Midraschim und aus dem Talmud Yerushalmi den Weg nach Babylonien gefunden. Im Folgenden stellen wir zwei Beispiele vor – eines aus Ersteren und eines aus dem Letztgenannten.
2.6.1 Von haggadischen Midraschim zum Babylonischen Talmud Wir beginnen mit der soeben erwähnten Überlieferung aus BerR über den Traum des pharaonischen Mundschenken und stellen diese in einer Synopse ihrer babylonischen Parallele gegenüber. Die babylonische Überlieferung bezeichnet sich selbst als tannaitisch, was sich allerdings an keiner uns bekannten tannaitischen Kompilation belegen lässt. Deutlich wird, dass das Gegeneinander von historischer und apokalyptischer Auslegung sowohl im Babylonischen Talmud als auch in Bereshit Rabba zum Tragen kommt. Wir werden nicht alle Einzelheiten,22 sondern lediglich diejenigen Aspekte erörtern, die Mirjams Rolle hervorheben. Die kursiven Abschnitte unten stellen jeweils eine Zusammenfassung eines längeren rabbinischen Segments dar, auf welches wir nicht eingehen. bHul 92a Rabbi Eliezer: Der Weinstock ist die Welt; die drei Ranken die Patriarchen; die Blüten die Matriarchinnen; die Trauben die Stämme. Rabbi Jehoschua sagte zu ihm: Zeigt [Gott] einem was war oder zeigt [er] einem eher nur was geschehen wird? [In diesem Sinn] vielmehr: Weinstock, das ist die Tora;
21 Vgl. ebd., 30.198. 22 Vgl. hierzu Dies., Hullin, 418–423.
BerR 88,5
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drei Ranken, das sind Mose, Aaron und Mirjam; und es war mir, als triebe er Knospen, seine Blüten wuchsen, das ist das Sanhedrin; und schon reiften die Beeren an seinen Trauben, das sind die Gerechten in jeder Generation. … Rabbi Eleazar aus Modiim: Der Weinstock ist Jerusalem; die drei Ranken der Tempel, der König und der Hohepriester; die Blüten die jungen Priester; die Trauben die Trankopfer. Rabbi Jehoschua ben Levi bezieht es auf die Gaben, denn Rabbi Jehoschua ben Levi sagte: Weinstock, das ist die Tora; drei Ranken, das ist der Brunnen, die Wolkensäule und das Manna; und es war mir, als triebe er Knospen, seine Blüten wuchsen, das sind die Erstlinge; und schon reiften die Beeren an seinen Trauben, das sind die Trankopfer. Rabbi Jirmeja bar Abba: Der Weinstock ist Israel; die drei Ranken die drei Feste; seine Blüten Israels Zeit, um fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, wie es heißt: Aber die Söhne Israels waren fruchtbar, sodass das Land von ihnen wimmelte (Ex 1,7). Seine Blüten wuchsen, es ist für Israel die Zeit der Erlösung gekommen, wie es heißt: Ihr Saft spritzte auf meine Kleider und ich befleckte alle meine Gewänder (Jes 63,3). Und schon reiften die Beeren an seinen Trauben, es ist für Ägypten die Zeit gekommen, den Becher des Zorns zu trinken (vgl. Jes 51,17.22).
Und am Weinstock waren drei Ranken (Gen 40,10): [Das sind] Mose, Aaron und Mirjam, und es war mir, als triebe er Knospen, diese [Knospen] sind die Erlösung Israels. […]
da war ein Weinstock vor mir (Gen 40,9): Das ist Israel[, wie es heißt:] Einen Weinstock hobst du aus in Ägypten (Ps 80,9) […]. Seine Blüten wuchsen: Die Blüten sind Israels Erlösung; und schon reiften die Beeren an seinen Trauben, der Weinstock trieb die Blüten und die Beeren wurden bald reif.
Der Midrasch über den Traum des pharaonischen Mundschenken erhält im Babylonischen Talmud eine gegenderte Rahmung. Die erste Auslegung, die Rabbi Eliezer zugeschrieben wird, bezieht den Weinstock allegorisch auf die Welt, die Ranken auf die Patriarchen und die Blüten auf die Matriarchinnen. Diese Interpretation fußt auf der kosmischen Vorstellung, die Patriarchen seien die drei Stützpfeiler der Welt, und die Matriarchinnen seien notwendig, damit die Patriarchen knospen und blühen und Frucht bringen können. Folgerichtig endet die Auslegung mit den Worten: „und schon reiften die Beeren an seinen Trauben, das sind die Stämme.“ Die Rolle der Matriarchinnen besteht in dieser Heilsgeschichte Israels darin, durch Fortpflanzung sein Überleben zu gewährleisten. Die letzte Auslegung zu diesem Vers beschließt die gegenderte Rahmung mit der Aussage des Rabbis Jirmeja bar Abba, der das Blühen des Weinstocks dahingehend deutet, dass für Israel die Zeit zur Fruchtbarkeit und Vermehrung gekommen ist. Das Grundmuster ist dasselbe: Israel steht im Zentrum, und die Blüte des Weinstocks ist Israels Fruchtbarkeit. Dieser Prozess wird zunächst durch die Matriarchinnen und in späteren Generationen durch die
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Frauen Israels ermöglicht. Männer sind die Pfeiler des Judentums, Frauen hingegen ermöglichen sein Überleben bis in die Zeit des Heils. Der Fall Mirjams in der Mitte des Midrasch bricht dieses Muster vollständig auf. Sie wird nicht im „Ermöglicher“-Teil der Metapher, sondern im „Pfeiler der Welt“-Teil erwähnt. Wie Abraham, Isaak und Jakob im ersten Midrasch erscheint sie im zweiten Midrasch gemeinsam mit ihren beiden Brüdern als Erläuterung zu den drei Weinreben, die blühen und Frucht bringen. Dasselbe lässt sich auch über die vierte Auslegung sagen, die Rabbi Jehoschua ben Levi zugeschrieben wird; er erwähnt Mirjam genau wie ihre beiden Brüder lediglich implizit: „Weinstock, das ist die Tora; drei Ranken, das ist der Brunnen, die Wolkensäule und das Manna.“ Das Gerüst des Midrasch über den Traum des Mundschenken, so wie es in BerR erhalten ist, weist darauf hin, dass dies der eigentliche Kern der babylonischen Textkomposition war. Die Geschichte von Israels Rettung in der Wüste beinhaltete eine weibliche Anführerin, die für das wichtigste der überlebensnotwendigen Elemente in dieser lebensfeindlichen Umgebung zuständig war: das Wasser. Der babylonische Midrasch hat diese Frau nicht eliminiert, wohl aber in der Mitte des Midrasch positioniert, dessen Anfang und Ende Frauen im Hinblick auf die Nation eine eher ermöglichende als tragende Rolle zuweisen, und damit ihre Bedeutung geschmälert. Was der babylonische Text unterlassen hat, machen zwei seiner Handschriften explizit: MS Hamburg 169 erwähnt lediglich Mose und Aaron. Mirjam verschwindet. Während man dies vielleicht noch für einen der Eile geschuldeten Abschreibfehler halten könnte, ist selbiges in MS München 95 ausgeschlossen: Hier finden wir neben Mose und Aaron anstelle von Mirjam den Namen Josua. Beide Schreiber hatten offenbar das Unbehagen gespürt, das die Verfasser des Babylonischen Talmud angesichts einer Frau empfanden, die zu den Pfeilern der Welt gezählt wurde.
2.6.2 Vom Talmud Yerushalmi zum Babylonischen Talmud Das folgende Beispiel über Mirjam aus dem Talmud Yerushalmi wird im Vergleich mit seiner (recht wortgetreuen) Parallelstelle im Babylonischen Talmud die hier vertretene These noch weiter erhärten. Yerushalmi Yom 1,1 (38b) ist ein umfänglicher Text, der den Tod der Gerechten beklagt und erörtert, was man daraus lernen kann. Unter den Gerechten wird auch Mirjam erwähnt. Dieser Text wird – allerdings in einem anderen Kontext – im Babylonischen Talmud wiederholt. Wir stellen die beiden Texte in einer synoptischen Tabelle einander gegenüber:
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yYom 1,1 (38b)23 Kontext: Jom Kippur
Rabbi Chijja bar Ba sagte: Die Söhne Aarons starben am ersten Nisan, und wa rum erwähnt [die Schrift] ihren Tod beim Versöhnungstag? Um dich zu lehren, dass ebenso, wie der Versöhnungstag für Israel sühnt, auch der Tod der Gerechten für Israel sühnt. Rabbi Ba bar Bina sagte: Warum fügt die Schrift [den Bericht vom] Tod Mirjams (Num 20,1) an den Abschnitt von der Kuh (Num 19) an? Um dich zu lehren, dass ebenso, wie die Asche der Kuh für Israel sühnt, auch der Tod der Gerechten für Israel sühnt. Rabbi Yudan ben Rabbi Shallum sagte: Warum fügte die Schrift [eine Notiz vom] Tod Aarons (Dtn 10,6) an [den Bericht vom] Zerbrechen der Tafeln (Dtn 10,2) an? Um dich zu lehren, dass der Tod der Gerechten vor dem Heiligen, gepriesen sei er, so schwer wie das Zerbrechen der Tafeln [wiegt].
bMQ 27b–28a Kontext: Die [Bahre] von Frauen [soll] nie [auf die Straße gestellt werden], wegen des Anstands (mMQ 3,8). Babylonischer Einwand: Die aus Nehardea sagten: Sie lehrten dies nur in Bezug auf eine Wöchnerin, andere Frauen darf man wohl. Eretz-Israel-Einwand: Rabbi Eleazar sagte: Dies gelte auch von anderen Frauen, denn es heißt: Dort starb Mirjam und wurde auch dort begraben (Num 20,1) – neben dem Tod[esort] das Begräbnis. Eine andere Überlieferung über Mirjam von demselben Amora: Rabbi Eleazar sagte: Mirjam starb auch durch einen Kuss; wie geschrieben steht dort (Num 20,1) und dort (Dtn 34,5) in Bezug auf Mose. Weshalb aber heißt es bei ihr nicht: durch den Mund des Herrn (Dtn 34,5)? – Weil es obs zön wäre.
Übernommene Überlieferung: Rabbi Ami sagte: Warum wurde [die Erzählung vom] Tod Mirjams direkt nach dem Abschnitt von der roten Kuh platziert? – Um dir zu sagen, dass ebenso, wie die rote Kuh sühnt, auch der Tod der Gerechten sühnt. Babylonische Bearbeitung der übernommenen Überlieferung: Rabbi Eleazar sagte: Warum wurde [die Erzählung vom] Tod Aarons direkt nach [dem Abschnitt von] den priesterlichen Gewändern platziert? – Ebenso wie die priesterlichen Gewänder sühnen, sühnt auch der Tod der Gerechten.
Die Unterschiede zwischen den beiden Okkurrenzen der Überlieferung von Mirjams Tod als einem Beleg dafür, dass der Tod der Gerechten für Israel sühnt, sind recht auffällig, auch wenn es sich eindeutig um dieselbe Überliefe23 Vgl. WaR 20,12; Pesiqta deRav Kahana 26,11.
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rung handelt. Der Kontext im Talmud Yerushalmi ist der Traktat Yoma (oder Kippurim, wie er im Yerushalmi heißt), der von Jom Kippur handelt. Der amoräische Herausgeber dieses Talmud geht der Frage nach, weshalb der Tod der Söhne Aarons im Offenbarungszelt an Jom Kippur, also im Monat Tischri, erwähnt wird, obwohl sie doch im Monat Nisan gestorben sind (vgl. Seder Olam Rabba 724). Der Amora Rabbi Chijja bar Ba erklärt dies damit, dass der Tod der Gerechten für Israel sühnt. Diese Schlussfolgerung mutet recht merkwürdig an, denn – so stellt es die Bibel explizit dar – „Nadab und Abihu […] brachten vor dem Herrn ein unrechtmäßiges Feuer dar […]. Da ging vom Herrn ein Feuer aus, das sie verzehrte“ (Lev 10,1f.). Dies ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass der Babylonische Talmud diese Überlieferung ausgelassen hat. Im Anschluss an diese Aussage über die „gerechten“ Söhne Aarons wird eine zweite Erläuterung präsentiert, die dieses Mal die gerechte Mirjam betrifft. Von ihrem Tod ist in Num 20 die Rede. Num 19 ist dem Ritual der roten Kuh gewidmet, die verbrannt wird und deren Asche der wichtigste Bestandteil des Reinigungswassers ist, mit dem ein Mensch von der Totenunreinheit befreit werden kann. Der Amora Rabbi Ba bar Bina interpretiert die Nähe der beiden Kapitel als einen Hinweis darauf, dass der Tod der gerechten Mirjam für die gesamte Gemeinschaft Israels eine reinigende Wirkung hat. Von Mirjams Tod geht der Text zum Tod des Aaron über. Auch hier wird die textliche Nähe thematisiert. Der Amora Rabbi Yudan ben Rabbi Shallum erklärt, dass Aarons Tod deshalb in der Nähe der Erzählung über Mose, der die Gesetzestafeln zerbrach, platziert sei, um deutlich zu machen, dass das eine ebenso wie das andere Ereignis Gott Kummer bereitet habe. Diese Aussage ist ebenfalls problematisch, weil Aarons Tod nicht in unmittelbarer Nähe der Episode mit den zerbrochenen Tafeln erwähnt wird, wenngleich sie an einer Stelle immerhin nur vier Verse voneinander entfernt sind (Dtn 10,2.6). Natürlich wird sich der Babylonische Talmud auch dieses Problems annehmen. Die babylonische Version dieser Überlieferung ist ein typisches Beispiel dafür, wie man in Babylonien mit den Quellen umging. Der einzige Teil der Überlieferung, der unversehrt geblieben ist, ist der Teil über Mirjam. Es fängt damit an, dass die Überlieferung, die die Söhne Aarons als gerecht bezeichnet, gänzlich ausgelassen wird. Außerdem wird die gesamte Überlieferung nicht im Kontext von Jom Kippur, sondern im Kontext der Beerdigungsriten nach dem Tod einer Frau erzählt. Auf das Zitat aus mMQ 3,8, dem zufolge die Bahre einer Frau während der Begräbnisfeierlichkeiten nicht abgestellt werden darf, um eine Lobrede auf die Verstorbene zu halten, folgt ein ano24 Vgl. zu dieser Schrift Chaim Milikowsky, „Seder Olam“, in The Literature of the Sages 2: Midrash and Targum, Liturgy, Poetry, Mysticism, Contracts, Inscriptions, Ancient Science and the Languages of Rabbinic Literature (hg. v. Shmuel Safrai et al.; CRINT 2,3,2; Assen: Van Gorcum, 2006), 231–237.
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nymer babylonischer Einwand, der den Bewohnern der babylonischen Stadt Nehardea zugeschrieben wird und zu bedenken gibt, dass in der Mischna nur von einer bestimmten Gruppe von Frauen – nämlich den im Kindbett verstorbenen – die Rede sei. Das ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass eine babylonische Praxis mit einem aus Eretz Israel übernommenen Gesetz (und möglicherweise auch mit der entsprechenden Praxis) in Konflikt gerät. An dieser Stelle schaltet sich Rabbi Eleazar ein, offenbar ein Amora aus Eretz Israel; er weist die babylonische Einschränkung zurück und begründet dies mit dem Vers über Mirjams Tod („Dort starb Mirjam und wurde auch dort begraben“ [Num 20,1]). Was an dieser Stelle geschieht, ist sehr typisch für die Arbeit am Babylonischen Talmud. Die Herausgeber fühlen sich dazu verpflichtet, eine Reihe von Überlieferungen über Mirjams Tod, die sie aus anderen Quellen übernommen haben, miteinander zu kombinieren. Bei der ersten scheint es sich um eine babylonische Eigenüberlieferung zu handeln,25 die von einer anderen Stelle im selben Talmud stammt (bBB 17a). Dieser Überlieferung zufolge war Mirjam gemeinsam mit ihren beiden Geschwistern Gottes auserwählte Anführerin. Alle drei starben gleichzeitig den Tod des Gerechten, das heißt, sie erhielten einen Todeskuss durch den Mund Gottes. Diese Auslegung basiert auf den Versen, die den Tod Moses und Aarons „gemäß dem Mund Gottes“ (על פי )ה׳beschreiben. Rabbi Eleazar erklärt ferner, dass auch Mirjam durch Gottes Kuss gestorben sei. Dies begründet er anhand des hermeneutischen Prinzips der Wortanalogie (Gezera shawa/ )גזרה שווהdamit, dass ein Wort, das sich auf ihren Tod bezieht, auch in der Beschreibung von Moses Tod vorkommt – „dort“ ()שם. Den Unterschied in der Art und Weise, wie die Schrift den Tod Mirjams und den ihrer Geschwister beschreibt, erklärt Rabbi Eleazar damit, dass die Vorstellung von Gott, der eine Frau küsst, unschicklich sei – eine ganz klar gegenderte Anmerkung, weil Gottes Verhalten nur in Mirjams Fall (und nicht im Fall ihrer beiden Brüder) als unschicklich betrachtet wird. Im Anschluss an diese babylonische Überlieferung wird unser kleiner Ausschnitt aus dem Talmud Yerushalmi eingefügt. Der Herausgeber beginnt natürlich mit Mirjam, weil ihr Tod das Bindeglied zwischen dieser kurzen Überlieferung und den beiden vorangegangenen Auslegungen darstellt. Wie im Talmud Yerushalmi folgt auf die Mirjam-Überlieferung die Überlieferung über Aarons Tod. Allerdings „korrigiert“ der Herausgeber des Babylonischen Talmud diese zweite Überlieferung und setzt sie nicht zum Zerbrechen der Gesetzestafeln – einer Episode, die nicht in unmittelbarer Nähe zum Bericht über Aarons Tod zu finden ist –, sondern zu den priesterlichen Gewändern 25 Auch wenn der Babylonische Talmud den Eindruck erweckt, dass es sich um eine tannaitische Überlieferung handelt, denn das Zitat beginnt mit den Worten: „Unsere Rabbinen lehrten“ ()תנו רבנן. Dies ist eine typische Strategie, die die Babylonier anwenden, wenn sie eine eigene Überlieferung als alt und ehrwürdig darstellen wollen.
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in Beziehung. In Num 20,28 lesen wir: „Mose nahm Aaron die Gewänder ab und legte sie seinem Sohn Eleasar an. Dann starb Aaron dort“. Die Mirjam betreffende Überlieferung wird im Babylonischen Talmud getreu aus dem Talmud Yerushalmi übernommen, doch büßt sie dabei etwas von der universalen Gerechtigkeit ein, die der Yerushalmi ihr zuerkennt. Dies geschieht durch die Assoziation mit dem gegenderten und separierten Charakter der Beisetzung von Frauen und durch den Hinweis darauf, dass der Tod einer Frau und sogar einer gerechten Frau aufgrund seiner sexuellen Unschicklichkeit nicht auf dieselbe Weise beschrieben werden kann wie der Tod eines Mannes. Zwar ist sie noch immer gerecht – aber eben nur im Rahmen der Möglichkeiten einer Frau.
2.7
Der Babylonische Talmud
Der Babylonische Talmud ist eine einzigartige Textkomposition, die wie keine andere halakhisches und haggadisches Material kombiniert und mit Vorliebe haggadische Anthologien zu einem bestimmten Thema oder Ereignis oder zu einem bestimmten biblischen Helden erstellt. Diese Anthologien schöpfen aus älteren Quellen (tannaitischen, aber auch amoräischen Überlieferungen aus Eretz Israel und sogar aus anderen Stellen des Babylonischen Talmud selbst), sind jedoch so zusammengestellt, dass ein gänzlich neuer Kontext und ein ganz anderes Bedeutungsspektrum entstehen. Besagte Anthologien werden wie alle abgrenzbaren Abschnitte im Babylonischen Talmud als Sugiot (oder Sugia im Singular) bezeichnet und stellen einzigartige literarische Einheiten dar, die eine gründliche literarische Analyse verdienen.26 Zwei Beiträge zum vorliegenden Band setzen sich mit zwei separaten haggadischen Sugiot auseinander, in denen biblische Frauen eine größere Rolle spielen. Yuval Blankov sky diskutiert eine Sugia in bḤorayot über mehrere biblische Frauengestalten, die biblische Helden verführt haben, aber positiv beurteilt werden. Er zeigt, dass das Material zu diesen Frauen großenteils bereits in BerR enthalten, dort aber über das gesamte Werk verteilt ist. Erst der Babylonische Talmud vereint alle diese Überlieferungen in einer Sugia und fügt ihnen eine eigene Auswahl weiterer Frauen hinzu. Judith Baskin befasst sich mit einer Sugia in bMegilla, die alle früheren Überlieferungen über weibliche Prophetinnen zusammenstellt und um einige Gedanken und Vorstellungen zu biblischen Frauen ergänzt, die sie ebenfalls als Prophetinnen klassifiziert, obwohl die Bibel nichts dergleichen andeutet. Von Mirjam heißt es in der Prophetinnen-Sugia in bMegilla 14a, dass sie die Geburt des Mose prophezeit habe. Diese Überlieferung ist aus dem ha26 Eine gute allgemeine Einführung in den Babylonischen Talmud bietet David Weiss Halivni, Midrash, Mishnah and Gemara: The Jewish Predilection for Justified Law (Cambridge: Harvard University Press, 1986).
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lakhischen Midrasch MekhY (Shira 10) übernommen. Sie wird an anderer Stelle im Babylonischen Talmud noch vollständig zitiert, und dieser Tradition wenden wir uns jetzt zu.27 Wie die anderen babylonischen haggadischen Sugiot, die im vorliegenden Band diskutiert werden, stellt auch diese lange haggadische Sugia (bSot 11b–13a), die als Exegese an den Verweis auf Mirjam im Mischna-Traktat Sota anknüpft, eine beeindruckende Zahl von Überlieferungen zu dem betreffenden Thema zusammen, die sie – wie eine Art Mirjam-Biographie – in der Reihenfolge der Exodusverse anordnet. Da Devora Steinmetz sich in einem vor vielen Jahren publizierten Beitrag ausführlich mit dieser Sugia beschäftigt hat,28 werden wir uns im Folgenden auf eine Liste der darin zusammengestellten Überlieferungen und einige allgemeine Anmerkungen beschränken: 1. (11b) Zu Ex 1,15–17: Mirjam und ihre Mutter Jochebed werden mit den Hebammen Schifra und Pua identifiziert. Ihre Namen werden mit ihren Taten in Zusammenhang gebracht: Schifra ()שפרה/Jochebed, weil sie die Neugeborenen besser machte ( )משפרתoder weil sie es Israel zu ihrer Zeit ermöglichte, sich zu vermehren ( ;)שפרו ורבוPua ()פועה/Mirjam, weil sie durch den Heiligen Geist inspiriert schrie ( )פועהund Moses Geburt vorhersagte. Dieser Gedanke wird auch schon im halakhischen Mi drasch SifBam 78 geäußert. 2. (11b–12a) Zu Ex 1,21: Die Aussage, dass Gott die Hebammen mit „Häusern“ ( )בתיםbelohnt habe, beziehen die Rabbinen auf eine Nachkommenschaft aus Priestern und Königen und bezeichnen daher Mirjam als eine, der es bestimmt sei, Könige hervorzubringen. Dies geschieht durch einen komplexen und fantasievollen Midrasch über den Stammbaum Kalebs in 1 Chr 1,18; 4,5–7, der alle Frauennamen in der Liste auf Mirjam bezieht und erklärt, dass Mirjam Kaleb geheiratet habe und so zu einer Stammmutter des davidischen Königshauses geworden sei. Auch diese Vorstellung stammt aus SifBam 78. Christiane Hannah Tzuberi befasst sich im vorliegenden Band eingehender mit dieser Überlieferung. 3. (12a) Zu Ex 2,1, dass Amram, der Vater der Mirjam und des Mose, „hinging“, wird erklärt, dass er „hinging“, weil er dem Rat seiner Tochter gefolgt sei. Mirjam habe ihren Vater dafür getadelt, dass er sich wegen des pharaonischen Befehls, alle israelitischen Neugeborenen zu töten, von ihrer Mutter fernhalten wollte. Diese Überlieferung wird andernorts und auch hier – wenngleich nicht im unmittelbaren Anschluss – mit ihrer Prophezeiung verknüpft, wonach es ihrem Vater bestimmt war, den Retter Israels hervorzubringen (vgl. MekhY Shira 10). 27 Außerdem wird an einer dritten Stelle darauf angespielt, vgl. bBB 120a. 28 Devora Steinmetz, „A Portrait of Miriam in Rabbinic Midrash“, Proof. 8 (1988): 35–65 (zum Babylonischen Talmud vgl. 40–48). Vgl. auch Bracha Elitzur, „Marriage and Childbirth in Exegesis of Chazal on Miriam the Prophetess“, Massekhet 14 (2018): 11–46 (Hebr.).
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4. (12b–13a) Zu Ex 2,7, wo Mirjam die Tochter des Pharaos fragt, ob sie ihr eine hebräische Amme suchen soll, erfahren wir in einem Rückblick, Mirjam habe ihrem Vater geweissagt, dass er den Retter Israels hervorbringen werde; als sich jedoch herausstellt, dass der Säugling in den Nil geworfen worden ist, weist er sie zurecht. Deshalb geht sie zum Nil, um nachzusehen, was mit Mose geschieht (vgl. auch MekhY Shira 10). In ihrer Analyse dieser Sugia im Babylonischen Talmud schrieb Steinmetz damals, „dem Bavli [sei] anscheinend sowohl die Vorstellung, dass Mirjam die Vorfahrin Davids war, als auch die Idee bekannt gewesen, dass sie bei der Trennung ihrer Eltern intervenierte und sich um die Geburt des Retters Israels sorgte“.29 Das scheint korrekt zu sein, denn alle hier angeführten Geschichten finden sich auch schon in halakhischen Midraschim aus Rabbi Jischmaels Schule. Das Verdienst des Babylonischen Talmud besteht hier (und oft auch andernorts) darin, dass er verstreute Überlieferungen geordnet, in einem laufenden Kommentar zusammengestellt und mit amoräischen Erläuterungen angereichert hat. Thema des Kommentars ist nicht Mirjam selbst, sondern Ex 1f., und ihre Sonderstellung weist weniger auf die Belange des Babylonischen Talmud als vielmehr auf die herausragende Position der Schwester Moses in den Erzählungen des zweiten Exoduskapitels und auf die Verbindung hin, die der frühere Midrasch zwischen ihr und den hebräischen Hebammen aus Ex 1,15 herstellt.
2.8
Der späte Midrasch
Als später Midrasch wird derjenige Teil der rabbinischen Literatur bezeichnet, der Werke beinhaltet, die sich vielleicht oder sicher auf die nach-amoräische Zeit datieren lassen, deren Verfasser vielleicht oder sicher den Babylonischen Talmud kannten, und die vielleicht oder sicher gegen Ende der Spätantike vor oder sehr kurz nach dem Aufkommen des Islams verfasst wurden.30 Obwohl diese Werke durchaus älteres Material enthalten können, ist ihre Endredaktion unter Umständen recht spät, das heißt in einer Zeit erfolgt, die unmittelbar nach der amoräischen Periode beginnt, sich aber zuweilen weit in die mittelalterliche Epoche und gelegentlich sogar bis ins 10. und 11. Jh. hinein erstreckt. Meist handelt es sich bei den betreffenden Werken um laufende Kommentare 29 Steinmetz, „A Portrait of Miriam in Rabbinic Midrash“, 47. 30 Den aktuellsten Überblick bietet Tamar Kadari, „Amoraic Aggadic Midrashim“, in The Classic Rabbinic Literature of Eretz Israel: Introductions and Studies 1 (hg. v. Menachem Kahana et al.; Jerusalem: Yad Yizhak Ben Zvi, 2018), 297–349 (Hebr.); vgl. auch Anat Reizel, Introduction to the Midrashic Literature (Alon Shevut: Tevunot Press, 2011) (Hebr.); den späten Midrasch behandelt Reizel insbes. ab S. 155, aber vereinzelt auch schon an früheren Stellen ihres Buches.
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zu biblischen Büchern,31 und zwar vor allem solchen, die nicht zur Tora gehören; so finden sich erst im späten Midrasch erstmals laufende Kommentare zum Buch Ester (Ester Rabba) oder zum Buch der Sprichwörter (Midrash Mishle). Zuweilen sind die sogenannten spät-midraschischen Werke nach dem Zyklus der Tora-Lesungen angeordnet (z. B. Tanḥuma, Aggadat Bereshit oder Pesiqta Rabbati, Letzterer nach den Lesungen der Festtage). Hin und wieder handelt es sich bei einer spät-midraschischen Schrift um einen Kommentar, der sich nicht auf ein biblisches Buch, sondern auf ein anderes kanonisches Werk bezieht (wie Avot deRabbi Natan zum Mischna-Traktat Avot). Im späten Midrasch finden sich zuweilen Überlieferungen, die in früheren rabbinischen Sammlungen nicht enthalten sind und zuweilen sogar aus prärabbinischer Zeit stammen. Aus diesen Midraschim spricht mitunter eine andere Einstellung gegenüber Frauen als aus den frühen oder klassischen rabbinischen Quellen. So lesen wir im Midrash Mishle nach einer langen (mit Bibelversen gespickten) Einleitung, in der bewiesen wird, dass Mirjam genau wie Mose und Aaron ein echter Prophet(inn)en-Rang gebührt, die aus MekhY Shira 10 (s. o.) übernommene und im Namen von Rabbi Eleazar getroffene Aussage, dass so wie Mose auch Mirjam gesungen hat; woher wissen wir das von Mose? Wie es heißt: Damals sang Mose mit den Israeliten (Ex 15,1); woher wissen wir das von Mirjam? Wie es heißt: Mirjam sang ihnen vor: Singt dem Herrn ein Lied (Ex 15,21). (MMish 14,1)
Zudem lässt dieser Midrasch die Wörter „den Männern“ für Mose und „den Frauen“ für Mirjam aus, die, wie wir oben gesehen haben, im MekhY enthalten sind. Diese Auslassung ist sicherlich kein Zufall, nachdem MMish sich zuvor so viel Mühe damit gegeben hat, Mirjams prophetische Qualitäten zu beweisen (MMish 14,1). Eine besondere Stellung innerhalb des späten Midrasch nimmt das Tanḥuma-Yelamdenu-Korpus (nachf. Tan-Yel) ein. Hierbei handelt es sich um eine umfangreiche Literatur palästinischen Ursprungs, die sich im Lauf mehrere Jahrhunderte entwickelt hat: Sie enthält Materialien aus dem 4.– 5. Jh. und erreichte im 7.–8. Jh. ihren Zenit, wurde aber auch später noch ergänzt und weiterentwickelt.32 Dieses Korpus besteht aus Predigten zu den wöchentlichen Tora-Lesungen nach dem Eretz-Israel-Zyklus, der (anders als der aktuelle Zyklus, der ein Jahr umfasst und aus Babylonien stammt) etwa 31 Arnon Atzmon, „Old Wine in New Flasks: The Story of Late Neoclassical Midrash“, EJJS 3 (2009): 183–203, hat diesen Typus als „neoklassischen Midrasch“ bezeichnet. 32 Marc Bregman, The Tanhuma-Yelammedenu Literature: Studies in the Evolution of the Versions (Piscataway: Gorgias Press, 2003), 173–188. Zum Aufbau der Tan-YelPredigten vgl. auch Yaakov Elbaum, „From Sermon to Story: The Transformation of the Akedah“, Proof. 6 (1986): 97–116; 97–100.
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dreieinhalb Jahre umfasste.33 Möglicherweise haben sich diese Predigten ursprünglich in einem einleitenden Abschnitt zu halakhischen Fragen geäußert, ehe sie sich dem eigentlichen Lesungstext zuwandten. Das Tan-Yel-Korpus ist durch und durch palästinisch: Es verwendet palästinisches Aramäisch und zeugt von einer genauen Kenntnis der palästinischen Geographie und der in Palästina entstandenen rabbinischen Literatur. Auch die babylonischen Materialien sind den Verfassern bekannt.34 Das Tan-Yel-Korpus legt, sowohl was seine homiletische Anordnung als auch was seine sprachliche und thematische Nähe zum palästinischen Pijjut-Korpus betrifft, eine starke Affinität zur Synagogenkultur des spätantiken Palästina an den Tag.35 Vielleicht hat Tan-Yel als ein Handbuch für Prediger gedient und sie mit Material für ihre wöchentliche Predigt versorgt. Ursprünglich könnten die darin gesammelten Texte als separate Broschüren zu den jeweiligen Wochenlesungen in Umlauf gewesen sein.36 Tan-Yel-Material ist in etlichen Fragmenten und über zahlreiche Schriftwerke verstreut, doch es gibt drei umfangreiche Sammlungen, die überwiegend aus Tan-Yel-Material bestehen: den gedruckten Tanḥuma (Tan), den Tanḥuma der Buber-Ausgabe (TanB) und Fragmente einer Textkomposition, die als Yelamdenu bezeichnet wird. Darüber hinaus gibt es Zusammenstellungen, die erheblich vom Tan-Yel beeinflusst worden sind und daher als an diesen „angrenzende“ Literatur bezeichnet werden; diese sind Aggadat Bereshit, Pesiqta Rabbati und Midrash Ḥadash. Mittelalterliche midraschische Sammlungen (Leqaḥ Tov, Sekhel Tov und der sehr späte Yalqut Shim‘oni) enthalten große Mengen an Tan-Yel-Material, und auch in midraschischen Sammlungen des Midrash Rabba, die nicht nur nach-amoräisch, sondern tatsächlich mittelalterlich sind (Teile von Shemot Rabba, Bamidbar Rabba und Devarim Rabba), finden sich etliche Tan-Yel-Überlieferungen. Das TanYel-Korpus hat auch Material beeinflusst, das wir in erhaltenen Fragmenten hauptsächlich aus der Kairoer Geniza finden. Das Tan-Yel-Korpus übernimmt midraschisches Material, das aus tannaitischer oder amoräischer Zeit bekannt ist; dieses Material wird jedoch in vielen Fällen überarbeitet; das heißt entweder neu strukturiert und ergänzt oder mit älteren Überlieferungen kombiniert, um eine Bedeutung zu konstruieren, die auf die Zuhörerschaft in der Synagoge zugeschnitten ist. Wie schon gesagt, enthält das Tan-Yel-Korpus auch halakhisches Material, das ebenfalls mit Blick auf dasselbe Synagogenpublikum überarbeitet worden ist. Dieses Material beginnt meist mit der Formel yelamdenu rabbenu („Lasst unseren 33 Shlomo Naeh, „The Torah Reading Cycle in Early Palestine: A Re-Examination“, Tarbiz 67 (1998): 167–187 (Hebr.); Yosef Ofer, „The Haftarah for Shabbat Hagadol“, Hama‘yan 36/3 (1996): 16–20 (Hebr.). 34 Bregman, Tanhuma-Yelammedenu Literature, 183f. 35 Ebd., 182. 36 Ebd., 180.
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Rabbi uns lehren“) und erläutert tannaitische Halakha. Die oben erwähnte Textkomposition Yelamdenu ist um solche halakhischen Fragen herum angeordnet. Der vorliegende Band enthält mehrere Beiträge, die den späten Midrasch thematisieren. Natalie Polzer befasst sich mit Eva in Avot deRabbi Natan und konzentriert sich dabei insbesondere auf ARN B. Ronit Nikolsky analysiert ein einzigartiges midraschisches Phänomen: eine Auslegung, die das 31. Kapitel aus dem Buch der Sprichwörter – das Lied von der fähigen Frau – ursprünglich Vers für Vers auf Sara bezogen hatte, aber in beiden Tanḥuma-Fassungen und in der Parallelliteratur nur in Teilen erhalten ist. Devora Steinmetz analysiert die Zwillingseigenschaften von Josef und Dina und stützt sich dabei in erster Linie auf eine Überlieferung, die in den späten Targum Pseudo-Jonathan zu Genesis eingebettet ist.37 Moshe Lavee stellt eine einzigartige Auslegung zu den Hebammen aus Ex 1 in einem Midrasch vor, der in der Kairoer Geniza entdeckt wurde und ansonsten unbekannt ist.
2.8.1 Mirjam im späten Midrasch Natürlich taucht Mirjam auch im späten Midrasch auf. Im Folgenden zeichnen wir nach, wie sowohl die Überlieferung von ihrer Kritik an Mose als auch die Überlieferung von ihrem Brunnen im Tan-Yel-Korpus bearbeitet worden ist. Wie oben bereits gesehen, wird die einflussreiche Anführerin Mirjam in der biblischen Überlieferung aus Num 12 in ein domestiziertes Geschwister verwandelt,38 was sich unter anderem darin äußert, dass Mirjam für ihre Kritik an Mose mit tsara‘at geschlagen wird; dieses Motiv findet sich auch im tannaitischen39 und ebenso im amoräischen Midrasch.40 Auch das Tan-Yel-Korpus bewahrt und tradiert diese Überlieferung, bearbeitet die Diskussion über Mirjams Kritik an Mose und ihre anschließende Bestrafung mit tsara‘at allerdings so, dass sich die ursprüngliche Bedeutung verändert. Dies geschieht auf zweierlei Art: Erstens wird die Kritik-undtsara‘at-Geschichte mit der nächsten Geschichte in Num 13 über die Aussendung der zwölf Spione verknüpft, die das Land Kanaan erkunden sol-
37 Die Besonderheit an Steinmetz’ Beitrag zum vorliegenden Band besteht darin, dass die Autorin das Vorkommen eines bestimmten midraschischen Motivs über einen langen Zeitraum hinweg bis zum nachislamischen Pirqe deRabbi Eli’ezer untersucht. 38 Vgl. Burns, Has the Lord. 39 Im biblischen Kontext der tsara‘at-Gesetze sowohl in SifBam 99 (laut Rabbi Jischmael) als auch in Sifra Metsora‘ Parascha 5,7f. (laut Rabbi Aqiva). 40 WaR, wie in Lorena Miralles-Maciás Beitrag erörtert: „Wenn Mirjam für sich alleine steht, schildern die meisten Stellen sie als Beispiel für eine Person, die durch ihren Mund gesündigt hatte, deshalb mit Aussatz geschlagen wurde (WaR 16,1.5; 17,3) und von dieser Krankheit genas (WaR 15,8).“
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len (Mann, Yalkut Talmud Torah, Beshallaḥ 51a;41 TanB Beshallaḥ 6; Tan Beshallaḥ 5); als diese Spione später zurückkehrten, erzählten sie Lügen über das Land. Mirjams Bestrafung hätte ihnen als Warnung dienen sollen, dass jeder, der schlecht über jemand anderen spricht, bestraft wird; doch die Spione hatten ihre Lektion nicht gelernt: Sie redeten das Land schlecht, und daraufhin erhoben sich alle Israeliten gegen Gott und wurden bestraft (Num 14,28f.). Die Verbindung zwischen der bösen Nachrede und tsara‘at wird hier in einem neuen Kontext bearbeitet. Die Schwere von Mirjams Bestrafung wird als pädagogische Maßnahme vonseiten Gottes erklärt: Das nimmt ihr zwar nichts von ihrem Schrecken – doch nun ist es nicht mehr Mirjam, sondern, überraschend genug, Gott selbst, der dafür verantwortlich gemacht wird.42 Die zweite Art, wie diese Erzählung im Tan-Yel-Korpus bearbeitet wird, geht über eine bloße Rekontextualisierung hinaus. Sowohl in TanB Metsora‘ 6 als auch in Tan Metsora‘ 2 findet sich eine Überlieferung, die den tannaitischen Midrasch wiederholt, doch den biblischen Aspekt, dass nicht nur Mirjam, sondern auch Aaron gegen Mose gemurrt hatte, wieder in die Geschichte einführt. Die Tan-Yel-Texte erklären, dass auch Aaron mit tsara‘at geschlagen, allerdings unmittelbar danach geheilt worden sei, während Mirjams Genesung sieben Tage in Anspruch genommen habe. TanB deutet außerdem an, dass Aaron und Mirjam nicht bestraft wurden, weil sie etwas Böses gesagt hätten (sie hatten lediglich ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass Mose offenbar keine weiteren Nachkommen zeugen wollte), sondern weil sie eine göttliche Offenbarung erlebt hatten, nach welcher sie – wie jeder Mensch, der eine solche Erfahrung gemacht hat – mit Wasser gereinigt werden mussten. Aus diesem Material gewinnt man den (unseres Erachtens korrekten) Eindruck, dass das Tan-Yel-Korpus die Anführerin der biblischen Israeliten günstiger beurteilt als die Tannaim oder die Amoraim. Die Überlieferung von Mirjams übler Nachrede aus Num 12,1 kommt in Tan-Yel jedoch noch in einem anderen Kontext vor, und diesmal hat sie einen negativen Beigeschmack: ein gutes Beispiel für die vielschichtigen Beziehungen zwischen dem amoräischen midraschischen Material und Tan-Yel. 41 Jacob Mann, The Bible as Read and Preached in the Old Synagogue: A Study in the Cycles of the Readings from Torah and Prophets, as well as from Psalms, and in the Structure of the Midrashic Homilies 2: The Palestinian Triennial Cycle: Leviticus and Numbers to Seder 106 (Cincinnati: The Mann-Sonne Publication Committee, Hebrew Union College Jewish Institute of Religion, 1966), Hebräischer Teil, S. קמו. 42 Zu den in der Tan-Yel-Literatur häufig wiederkehrenden kühnen Anschuldigungen gegen Gott vgl. Dov Weiss, Pious Irreverence: Confronting God in Rabbinic Judaism (Divinations: Rereading Late Ancient Religion; Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2017), 161–182; Ronit Nikolsky, „Parables in the Service of Emotional Translation“, in Parables in Changing Contexts: Essays on the Study of Parables in Christianity, Judaism, Islam, and Buddhism (hg. v. Eric Ottenheijm und Marcel Poorthuis; JCPS 35; Leiden: Brill, 2020), 37–56.
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An einigen Stellen von BerR (18,2; 80,5) wird erklärt, dass Gott Eva aus Adams Rippe und nicht aus einem anderen Körperteil erschaffen habe, weil sie bescheiden sein sollte. Wäre Eva aus einer anderen Gliedmaße erschaffen worden, so BerR, dann hätte sie womöglich negative Charaktereigenschaften bekommen: Wäre sie aus dem Kopf erschaffen worden, dann wäre sie vorlaut geworden; hätte Gott sie aus dem Ohr erschaffen, dann wäre sie eine Lauscherin geworden usw. Sodann wird jeder dieser Charakterzüge durch den Verweis auf eine biblische Frauengestalt und den entsprechende Vers belegt (mit Ausnahme einer biblischen Frau und eines auf den Mund bezogenen Verses). Yelamdenu43 und Tan bringen, offenbar gestützt auf BerR, dieselbe Überlieferung, aber nicht im Kontext der Erschaffung Evas, sondern im Zusammenhang mit den negativen Eigenschaften von Frauen im Allgemeinen: Als der Heilige Eine, gepriesen sei Er, Eva erschaffen wollte, erwog er, aus welcher Gliedmaße [wörtlich: Stelle an Adams Körper] er sie erschaffen solle […]. Er erschuf sie nicht aus dem Auge, weil sie nicht neugierig sein sollte; [doch] Eva erwies sich als neugierig, wie es heißt: Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, [dass der Baum eine Augenweide war] usw. (Gen 3,6). Er erschuf sie nicht aus dem Mund, weil sie nicht redselig sein sollte; [doch] Lea war redselig, wie es heist: Ist es dir nicht genug, mir meinen Mann wegzunehmen? [Nimmst du mir auch die Alraunen meines Sohnes weg?] (Gen 30,15). Und ebenso: Mirjam und Aaron [redeten] gegen Mose (Num 12,1). Er erschuf sie nicht aus dem Ohr, weil sie keine Lauscherin sein sollte; [doch] Sara war eine Lauscherin, wie es heißt: Sara hörte am Eingang des Zeltes hinter seinem Rücken zu (Gen 18,10). Er erschuf sie nicht aus der Hand, weil sie keine Diebin sein sollte; [doch] Rahel war eine Diebin, wie es heißt: Da stahl Rahel die Götterbilder ihres Vaters (Gen 31,19) usw. (Tan Wa-yeshev 6)
Im vorliegenden Kontext sind vor allem die fettgedruckten Aussagen interessant. Diese Überlieferung weist große Ähnlichkeiten mit den Überlieferungen in BerR 18,2 und 80,5 auf, doch im Unterschied zu BerR wird hier auch im Zusammenhang mit dem Mund auf eine Frau und eine Bibelstelle, genauer gesagt sogar auf zwei Frauen und zwei Bibelstellen verwiesen, wobei es sich bei der zweiten Frau um Mirjam und bei der zweiten Bibelstelle um unseren Vers aus dem Buch Numeri handelt. Das Beispiel der Mirjam scheint eine spätere Hinzufügung zu sein, weil es mit den Worten „und ebenso“ ( )וכןbeginnt. Als man diese Ergänzung jedoch erst einmal eingefügt hatte, wurde sie zu einem festen Bestandteil der Erzählung, und TanB (Wa-yishlaḥ 17) lässt 43 Jacob Mann, „Yalkut Talmud Torah on Bereshit“, in ders., The Bible as Read and Preached in the Old Synagogue: A Study in the Cycles of the Readings from Torah and Prophets, as well as from Psalms, and in the Structure of the Midrashic Homilies 1: The Palestinian Triennial Cycle: Genesis and Exodus (Cincinnati: The MannSonne Publication Committee, Hebrew Union College Jewish Institute of Religion, 1940), Hebräischer Teil, S. קו ע״א) שלדzu Gen 39,12).
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Lea (die sehr gut in den ursprünglichen Genesiskontext hineinpasst) sogar aus und führt als Beispiel für eine redselige Frau nur noch Mirjam an. Wir können also eine fortschreitende Entwicklung verzeichnen: von einem Midrasch über die Erschaffung Evas, der Mirjam gar nicht erwähnt (BerR), über einen Text, der sie als zweites Beispiel für Redseligkeit anführt (Tan), bis hin zu einer Auslegung, in der Lea gar nicht mehr vorkommt und Mirjam als einziges Beispiel übrigbleibt (TanB). Das ist jedoch noch nicht das Ende der Geschichte. Neben BerR 18,2 und 80,5 findet sich eine ähnliche Überlieferung außerdem in BerR 45,5 im Zusammenhang mit Sara, die sich bei Abraham über Hagar beklagt (Gen 16,5). In dieser Überlieferung wird – anders als in BerR 18,2 und 80,5, aber genauso wie in den eben zitierten Tan-Yel-Überlieferungen – nicht Lea, sondern Mirjam als redselig charakterisiert: Die Rabbinen sagen: Vier Eigenschaften werden Frauen nachgesagt – Habgier, Neugierde, Faulheit und Eifersucht. Habgier: Sie nahm von seinen Früchten (Gen 3,6); Neugierde: Sara hörte […] hinter seinem Rücken zu (Gen 18,10); Faulheit: Schnell drei Sea feines Mehl! (Gen 18,16); Eifersucht: Rahel […] wurde […] eifersüchtig auf ihre Schwester (Gen 30,1). Rabbi Jehoschua bar Nechemja sagte: Auch Rachsucht und Redseligkeit. Rachsucht: Da sagte Sarai zu Abram: Das Unrecht, das ich erfahre, komme über dich! (Gen 16,5); Redseligkeit: und Mirjam und Aaron [redeten] gegen Mose (Num 12,1). (BerR 45,5)
Die Bibelstelle, die als Beleg für die Redseligkeit von Frauen angeführt wird, ist genau wie in der oben zitierten Auslegung aus Tan und TanB der Vers über Mirjam, die Mose kritisiert. Auch hier ist wie in dem oben erörterten Fall von Tan die Redseligkeit eine Ergänzung der ursprünglichen Überlieferung, in der von vier negativen Eigenschaften die Rede gewesen war. Die Ergänzung wird klar signalisiert: „Rabbi Jehoschua bar Nechemja sagte: Auch Rachsucht und Redseligkeit.“ Da BerR, wie oben gezeigt, Mirjam im Unterschied zur tannaitischen und babylonischen Literatur typischerweise positiv bewertet und da das hinzugefügte (und vermutlich jüngere) Material hier deutlich gekennzeichnet ist, glauben wir, dass die erhaltene Version von BerR 45,5 von Tan-Yel beeinflusst und Mirjam als Beispiel für eine redselige Frau nicht Teil der ursprünglichen Überlieferung ist. Und wir haben sogar einen Hinweis darauf, worin diese ursprüngliche Überlieferung bestanden hat, nämlich in dem Element, das Yelamdenu und Tan als erstes Fallbeispiel einer redseligen Frau anführen: den Worten, die Lea in Gen 30,15 an ihre Schwester richtet: „Ist es dir nicht genug, mir meinen Mann wegzunehmen? Nimmst du mir auch die Alraunen meines Sohnes weg?“ Dieser Prozess verdeutlicht die vielschichtigen textlichen Beziehungen innerhalb der rabbinischen Literatur, die aus einer beständigen Interaktion der Textzeugen und aus der Aktivität der
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Schreiber resultieren, die ihnen vorliegende Überlieferungen je nach ihrem eigenen kulturellen Verständnis und Wissen ergänzen und korrigieren. Dieses Beispiel veranschaulicht einen Prozess, der für die jüdische Kultur der Spätantike typisch ist: Eine Erzählung, die ursprünglich in einem bestimmten Kontext und im Zusammenhang mit einem bestimmten Bibelvers verfasst worden ist, bekommt ein Eigenleben und wird benutzt, um Aussagen zu untermauern, die in ganz anderen Kontexten getroffen werden. Die Sammlung von Erzählungen und Versen, die bei diesem Austausch Verwendung fanden, ist Teil des kulturellen Kanons der jüdischen Kultur der Spätantike und wird von den verschiedenen Gruppen innerhalb dieser Gesellschaft entsprechend ihren jeweiligen kulturellen Bedürfnissen eingesetzt. Textkompositionen aus dem Tan-Yel-Korpus repräsentieren ein Segment der Gesellschaft, bei dem es sich strenggenommen nicht um dem rabbinischen Bet ha-Midrasch-Kontext handelt. Vielmehr lässt sich die hier angesprochene Zielgruppe als die Gemeinschaft der Synagogenbesucher und ihrer Prediger definieren, für die der streng legalistische oder intellektuelle Ansatz der Rabbinen eine verbindliche Wissensquelle darstellte. Der vorliegende Fall gibt uns die Gelegenheit, einen Prozess mitzuverfolgen, im Zuge dessen das Wissen einer jüdischen Elite in die Begriffe der breiteren jüdischen Gesellschaft übersetzt wurde, weil wir es hier mit einer Kultur zu tun haben, die, wenn auch in veränderter Form, über einen vergleichsweise langen Zeitraum Bestand hatte. Es kommt jedoch auch vor, dass frühe Überlieferungen im späten Mi drasch verschwinden. Die Überlieferung von Mirjam und Jochebed, die mit den Hebammen Pua und Schifra identifiziert werden, ist in der tannaitischen und amoräischen Literatur weitverbreitet, aber in den gängigen Tan-Yel-Korpora praktisch nicht existent. Nur an einer Stelle wird darauf hingewiesen, um etwas völlig anderes zu erklären: Der Passus in TanB Wa-yaqhel 5, konzen triert sich auf einen Vers: „und er [d. h. Gott] machte Häuser [d. h. bedeutende Nachkommen] für sie [d. h. die Hebammen]“ (Ex 1,21) und erklärt, damit sei Bezalel, der Kunsthandwerker, gemeint, der die Stiftshütte in der Wüste baute und ein Nachfahre Mirjams war. In diesem Kontext ist vor allem der Midrasch interessant, den Moshe Lavee im vorliegenden Band untersucht, denn, so Lavee, „die Tradition, die die Hebammen [Schifra und Pua] als Ägypterinnen bezeichnet, [ist] etwas Neues.“ Mirjam wird, wie weiter oben gesehen, in den meisten rabbinischen Textkompositionen mit einer dieser Hebammen gleichgesetzt. Anders ausgedrückt: Dieser späte Midrasch tilgt Mirjam aus einer Überlieferung, die andere Stellen unmissverständlich mit ihr in Verbindung bringen. Lavee weist jedoch darauf hin, dass man darin vielleicht weniger einen Eingriff zuungunsten Mirjams und Jochebeds als vielmehr einen Rückgriff auf eine Auslegungstradition sehen sollte, die älter ist als die Gleichsetzung der Hebammen mit Mirjam und Jochebed. Die Interpretation, wonach die Hebammen Ägyp-
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terinnen gewesen seien, hat sich in der Septuaginta-Übersetzung des Buches Exodus, bei Josephus und in christlichen Kreisen niedergeschlagen.
2.8.2 Mirjam in nicht-rabbinischen Quellen: Pseudepigraphie und Pijjut Der Nachweis einer älteren jüdischen Auslegungstradition in der rabbinischen Literatur ist für die Forschung von großem Interesse.44 Im vorliegenden Band erwähnen mehrere Wissenschaftler*innen solche möglichen Parallelauslegungen: Zu Tamar aus dem Buch Genesis verweist Yuval Blankovsky auf das Jubiläenbuch und das Testament Judas; zu Hagar verweist Gail Labovitz auf das Genesisapokryphon aus Qumran, ferner auf Josephus und auf Philo. Beide kommen jedoch, was die Möglichkeit von Parallelinterpretationen zwischen den rabbinischen und den apokryphen Textkompositionen angeht, zu negativen Schlussfolgerungen. In Mirjams Fall jedoch lässt sich ein positiver Nachweis über eine nichtrabbinische Parallele führen. In dem als Pseudo-Philo (oder Liber Antiquitatum Biblicarum) bekannten Werk findet sich die folgende Überlieferung, die wir in einer Tabelle der zu Beginn dieser Einleitung bereits zitierten Auslegung aus der Tosefta gegenüberstellen: LAB XX,845 Und das sind die drei (Dinge), die Gott seinem Volke gab wegen dreier Menschen, das heißt den Wasserbrunnen von Mara wegen Maria (Mirjam) und die Wolkensäule wegen Aaron und das Manna wegen Moses.
tSot 11,8 Rabbi Jose ben Jehuda sagt: Drei gute Versorger sind den Israeliten erstanden: Mose und Aaron und Mirjam. Durch deren Verdienst wurden den Israeliten drei Gaben gegeben: die Wolkensäule, das Manna und der Brunnen. Der Brunnen durch das Verdienst der Mirjam; die Wolkensäule durch das Verdienst des Aaron; das Manna durch das Verdienst des Mose.
Die Texte sind auffallend ähnlich.46 Die meisten Forscher*innen haben Pseudo-Philo als eine prärabbinische Textkomposition jenes Typs definiert, der gemeinhin als „Bibelnacherzählung“ („rewritten Bible“) bezeichnet wird. Aufgrund der Ähnlichkeiten zwischen dieser Schrift und zahlreichen rabbinischen Werken ging man davon aus, dass Pseudo-Philo das „fehlende Binde44 Vgl. z. B. Steven Fraade, „Rabbinic Midrash and Ancient Jewish Biblical Interpretation“, in The Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature (hg. v. Charlotte E. Fonrobert und Martin Jaffee; Cambridge Companions to Religion; New York: Cambridge University Press, 2007), 99–120. 45 Vgl. LAB X,7. 46 Eine weitere sehr gute Parallele über Mirjam ist LAB IX,10 gegenüber z. B. MekhY Shira 10.
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glied“ zwischen der Literatur des Zweiten Tempels und den Rabbinen sei. Tal Ilan hat jedoch die These vertreten, dass Pseudo-Philo im Kontext der Juden Roms in der Spätantike verortet und auf die nach-amoräische Zeit datiert werden muss; mithin wäre diese Schrift von der rabbinischen Überlieferung beeinflusst.47 Wir müssen uns an dieser Stelle auf die Feststellung beschränken, dass die Frage, wer hier wen beeinflusst hat, nicht so einfach zu beantworten ist; es kann jedoch nicht bezweifelt werden, dass zwischen beiden Texten ein enger Zusammenhang besteht. Es ist schon häufig darauf hingewiesen worden, dass die Rabbinen sich alle Mühe gegeben haben, prärabbinische Bibelauslegungen aus dem kollektiven Gedächtnis des Judentums zu löschen – doch mit dem späten Mi drasch vollzieht sich so etwas wie eine „Rückkehr der Unterdrückten“.48 Der von Moshe Lavee untersuchte Fall ist ein hervorragendes Beispiel für diese Tendenz. Dass der späte Midrasch für nicht-rabbinische Einflüsse offen war, beweisen in anderer Hinsicht auch die Beiträge von Natalie Polzer, Devora Steinmetz und Ronit Nikolsky. Diese drei Autorinnen zeigen, dass der späte Midrasch mit sehr frühen, vorislamischen Pijjut im Austausch stand – einer liturgischen Gattung, die sich nach der amoräischen Periode, aber zeitgleich mit dem späten Midrasch entwickelt hat und genau wie dieser ins Mittelalter hinüberreicht, die gesamte jüdische Geschichte hindurch weiterlebt und einen direkten Dialog mit sämtlichen Strängen der rabbinischen Literatur unterhält. Auch die Tan-Yel-Bearbeitung der Überlieferung vom Brunnen der Mirjam ist ein anschauliches Beispiel für die Verbindung zwischen diesem Korpus und der Pijjut-Gattung. Wir haben oben bereits gesehen, dass es eine Überlieferung gab, der zufolge Mirjam die Israeliten in der Wüste mit Wasser aus einem Brunnen versorgte. In der tannaitischen Literatur wird diese Überlieferung mit zwei weiteren Gaben kombiniert, die das Volk beiden Geschwistern Mirjams verdankte. Ferner haben wir gesehen, dass Mirjam in amoräischer Zeit zwar nach wie vor als eines der drei Geschwister, die die Israeliten versorgten, aber nicht mehr als diejenige in Erscheinung tritt, die den Brunnen bereitstellt (BerR 70,8), und dass Mirjam, obwohl in amoräischen Überlieferungen aus Palästina (im Yerushalmi) Verweise auf den „Mirjamsbrunnen“ zu finden sind, im Babylonischen Talmud gar nicht mit dem Brunnen in Verbindung gebracht wird. Im späten Midrasch jedoch erlebt 47 Tal Ilan, „The Torah of the Jews of Ancient Rome“, JSQ 16 (2009): 363–395, dort auch ein vollständiger Forschungsüberblick zu diesem Buch. 48 So der Titel eines Buchs über den späten Midrasch Pirqe deRabbi Eliezer: Rachel Adelman, The Return of the Repressed: Pirqe de-Rabbi Eliezer and the Pseud epigrapha (JSJ.S 140; Leiden: Brill, 2009). Zu einer ähnlichen Beobachtung im Zusammenhang mit dem Midrasch Pesiqta Rabbati vgl. Rivka Ulmer, „The Culture of Apocalypticism: Is the Rabbinic Work Pesiqta Rabbati Intertextually Related to the New Testament Book The Revelation to John?“, Review of Rabbinic Judaism 14 (2011): 37–70.
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der Brunnen der Mirjam ein eindrucksvolles Comeback. Er wird nicht nur detailliert (Tan und TanB Bemidbar 2) und mit all seinen heilsamen Eigenschaften (als im See von Tiberias verborgen, TanB Ḥuqqat 1) beschrieben, sondern obendrein mit einer positiven Sicht auf Mirjams Gesang kombiniert: Der Brunnen [wurde gegeben], weil Mirjam am Wasser [des Roten Meeres] sang ()והבאר בזכות מרים שאמרה שירה על המים. (Tan und TanB Bemidbar 2)
Durch ebendieses Lied am Meer hat sich Mirjam das Anrecht verdient, den Israeliten einen Brunnen zu beschaffen. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie der späte Midrasch aus zwei alten eine neue Überlieferung erzeugt. Dass der Mirjamsbrunnen im Tan-Yel-Korpus eine so besondere Rolle spielt, lässt sich vielleicht mit dem Zusammenhang zwischen diesem Brunnen und der Syna gogenliturgie erklären: Mirjam wird in einem Pijjut für die Hoschanot am dritten Tag des Sukkotfests erwähnt, bei denen üblicherweise um den Segen des winterlichen Regens gebetet wird. Dieser Pijjut wird Eleazar birabbi Qallir, einem Dichter des 6./7. Jh., zugeschrieben und feiert Mirjam als Prophetin, als die Spenderin des Brunnens und womöglich auch als Anführerin.49 חֹולת ַמ ֲחנָ יִ ם ַ יאה ְמ ָ ְל ַמ ַען נְ ִב הּוׂש ָמה ֵעינָ יִ ם ָ ִל ְכ ֵמ ֵהי ֵלב ְל ַרגְ ָלּה ָר ָצה ֲעלֹות וָ ֶר ֶדת ְּב ֵאר ָמיִ ם ,יעה ּנָ א ָ הֹוׁש ִ ְהֹוׁשע נָ א ו ַ , ְלטֹובּו א ָֹה ָליו ָא ִבינּו ָא ָּתה
Für die Prophetin – Lagertänze Für die mit sehnsuchtsvollen Herzen war sie als Augen gesetzt Zu ihren Füßen steigt und fällt [wörtlich: läuft hinauf und hinab] der Wasserbrunnen der Güte seiner Zelte Hosanna, bitte rette, du bist unser Vater
Das nächste Beispiel ist ein Gedicht von Pinhas ha-Kohen, den Saadia Gaon als einen der frühesten Pajtanim erwähnt und dessen Gedichte (die alle in der Kairoer Geniza entdeckt wurden) anhand ihrer Inhalte tatsächlich zweifelsfrei auf das 8. Jh. datiert werden können.50 In seinem Gedicht zum Monat Nisan lesen wir:51
פסח ודרור בא בוIn ihm kommen Pessach und Freiheit צום מרים בעשרה בוDas Fasten der Mirjam ist an seinem zehnten
49 Eine Diskussion zu diesem Pijjut bietet Yael Levine, „Lema‘an Nevi’ah Meḥolat Maḥanayim: Miryam Be-Fiyutei Sukkot U-va-Hosha‘anot“, Yeda‘-‘Am: Bamah Lefolqlor Yehudi 34/35 [69/70] (2009): 63–73 (Hebr.). 50 Shulamit Elizur, The Liturgical Poems of Rabbi Pinhas ha-Kohen: Critical Edition, Introduction and Commentaries (Sources for the Study of Jewish Culture 8; Jerusalem: World Union of Jewish Studies, 2004), 4–9 (Hebr.). 51 Ebd., 690.
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Tal Ilan, Lorena Miralles-Maciá, Ronit Nikolsky קבוע עשות ניסים בו/ ניסןNisan / an ihm werden Wunder vollbracht רגלי מבשר בוא יבואDie Füße des Retters werden kommen
Die Überlieferung, dass Mirjam am 10. Nisan gestorben ist, findet sich in SOR 10, einer eher unorthodoxen Textkomposition, die irgendwo zwischen der spätrabbinischen und der früheren hellenistischen jüdischen Literatur angesiedelt ist.52 Damit beenden wir diese Einleitung, die gleichzeitig ein Überblick über die rabbinische Literatur und ein Überblick über die dort zu findenden Mirjam-Überlieferungen ist. Der Fall Mirjams hat sich – sowohl was die Art, wie in verschiedenen Schichten der rabbinischen Literatur mit Frauen umgegangen wird, als auch was die Unterschiede zwischen der in dieser Literatur und der von anderen Teilen der jüdischen Gesellschaft vertretenen Haltung betrifft – als aufschlussreich erwiesen.
52 Vgl. Milikowsky, „Seder Olam“.
Schriftzitierende Frauen in der rabbinischen Literatur Tal Ilan Freie Universität Berlin
Waren die Frauen der rabbinischen Welt mit der Schrift vertraut? Und wenn ja, wer lehrte sie ihre Schriftkenntnisse? Erwähnen die Rabbinen Frauen, die aus der Schrift zitieren? Und wenn ja, erwähnen sie sie, um von ihnen zu lernen oder um sie zu verhöhnen? Sind die Rabbinen überrascht über das Niveau der Schriftkenntnis unter den Frauen oder nehmen sie es gelassen? Stellen die Rabbinen Frauen, die aus der Schrift zitieren, anders dar als Männer? Im vorliegenden Beitrag werde ich versuchen, einige dieser Fragen zu beantworten. Als Grundlage sollen mir dabei die rund vierzig Überlieferungen dienen, die ich im Lauf der Jahre gesammelt habe, in denen Frauen allem Anschein nach aus der Schrift zitieren oder auf die Schrift anspielen. Ich habe viele dieser Überlieferungen in der Vergangenheit in anderen Kontexten diskutiert und greife im Folgenden – wenn auch hoffentlich immer mit neuen Einsichten – hier und da auf diese früheren Arbeiten zurück. Die Überlieferungen, die ich gesammelt habe, lassen sich grob in drei Kategorien unterteilen: 1. Texte, in denen Frauen direkt aus der Schrift zitieren; 2. Überlieferungen, in denen Frauen Rabbinen über schwierige Schriftverse befragen, und 3. Überlieferungen, in denen Frauen auf bestimmte (aber nicht explizit zitierte) biblische Episoden anspielen, mit denen sie demnach offenbar vertraut sind. Ich werde jede dieser Kategorien diskutieren und dabei der Frage nachgehen, ob sie früheren oder späteren Datums sind; wer sie überliefert hat; wo sie entstanden sind (Eretz Israel oder Babylonien); und welche Haltung gegenüber schriftzitierenden Frauen in den fraglichen Texten zum Ausdruck kommt.
1.
Texte, in denen Frauen direkt aus der Schrift zitieren
Die älteste rabbinische Überlieferung, die Frauen Schriftzitate zuschreibt, findet sich in dem tannaitischen halakhischen Midrasch Sifre Devarim. Dieser Midrasch erzählt die Geschichte vom Martyrium des Chanina ben Terad-
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Tal Ilan
jon. Er wird nach dem Bar Kochba-Aufstand aufgegriffen, als er öffentlich die Tora lehrt, und dazu verurteilt, gemeinsam mit seiner Torarolle verbrannt zu werden. Seine Frau wird ebenfalls zum Tod (durch den Strang) und seine Tochter wird „zum Arbeiten“ verurteilt, was auch immer das heißen mag.1 Alle drei zitieren Verse aus der Schrift, um ihre Bestrafung zu rechtfertigen: Als sie den Rabbi Chanina ben Teradjon ergriffen, wurde über ihn der Beschluss gefasst, dass er mitsamt seinem Buch verbrannt werde. […] Er zitierte diesen Schriftvers: Der Fels. Vollkommen ist, was er tut (Dtn 32,4). Sie sagten zu seiner Frau: Über deinen Mann wurde der Beschluss gefasst, dass er verbrannt werde, und über dich, dass du getötet werdest. Sie zitierte diesen Schriftvers: ein unbeirrbar treuer Gott (Dtn 32,4). Sie sagten zu seiner Tochter: Über deinen Vater wurde der Beschluss gefasst, dass er verbrannt werde, und über deine Mutter, dass sie getötet werde, und über dich, dass du Arbeit leistest. Sie zitierte diesen Schriftverse: Groß bist du an Rat und mächtig an Tat; deine Augen wachen über alle Wege der Menschen (Jer 32,19). (SifDev 307)
Diese Geschichte wird anschließend von Rabbi (d. h. von Jehuda ha-Nasi, dem Patriarchen) kommentiert. Er erklärt: „Wie groß sind diese Gerechten; denn in der Stunde ihrer Not brachten sie drei Verse hervor, die die Gerechtigkeit anerkennen, wie es keine gleichen gibt in allen Schriften.“ Die Tatsache, dass nur eine der drei Personen, die hier aus der Schrift zitieren, ein Mann ist, ficht Rabbi nicht weiter an. Ehe wir die Geschichte dieser Überlieferung untersuchen, wollen wir einen kurzen Blick auf die zitierten Verse werfen: Die Begebenheit wird deshalb in einem Midrasch zum Buch Deuteronomium erzählt, weil der Vers, den der Vater zitiert, aus dem Lied des Mose am Buchende stammt (Dtn 32). Der Vater zitiert V4: „Der Fels. Vollkommen ist, was er tut“, doch es wird nicht auf Anhieb klar, inwiefern dieser Vers die grässliche Bestrafung rechtfertigt, die die Römer ihm auferlegen. Diese Frage wird erst in der zweiten, nicht zitierten Hälfte des Verses beantwortet: „denn alle seine Wege sind recht.“ Aus diesem Teil des Verses wird ersichtlich, dass Chaninas Hinrichtung gerecht ist, weil Gott niemals ungerecht ist. Diese sehr verbreitete rabbinische Technik zielt meines Erachtens darauf ab, vor den Nichteingeweihten zu verbergen, worum es in dieser rabbinischen Geschichte eigentlich geht. Nur wer in der rabbinischen Welt zuhause ist, weiß, wo er suchen muss, um die Antwort zu finden, die der Text allem Anschein nach geben will. Für Chaninas Frau gilt dasselbe. Sie zitiert den nächsten Versteil in V4: „ein unbeirrbar treuer Gott“, und auch diesmal wird der entscheidende Teil des Verses nicht ausgesprochen: „Er ist gerecht und gerade.“ Sie zitiert 1 Ich habe mich bereits an anderer Stelle mit diesem Text auseinandergesetzt und Vorschläge für die Interpretation dieser Phrase vorgelegt, vgl. Tal Ilan, Integrating Women into Second Temple History (TSAJ 76; Tübingen: Mohr Siebeck, 1999), 169– 190; außerdem David Goodblatt, „The Beruriah Traditions“, JJS 26 (1975): 68–85; 73–75.
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also denselben Vers wie ihr Mann; und genau wie er ihn zitiert hatte, um seine Bestrafung zu rechtfertigen, zitiert auch sie ihn zur Rechtfertigung ihrer drohenden Hinrichtung. Steht dahinter die Vorstellung von einer Situation, in der der Mann seine Frau lehrt, was sie sagen, und ihr zeigt, was sie lesen soll, oder sie, falls sie nicht lesen kann, seine Worte nachsprechen lässt? Das wird in der Geschichte nicht ausdrücklich gesagt, aber die Tatsache, dass die Frau denselben Vers zitiert wie ihr Mann, deutet auf ein solches Szenario hin und impliziert möglicherweise, dass die Frau die Schrift nicht kennt. Bei der Tochter dagegen liegt der Fall anders. Der von ihr zitierte Vers stammt aus einem völlig anderen Teil der Schrift, ja nicht einmal aus der Tora, aus der ihre Eltern zitieren; sie zitiert den Propheten Jeremia, und auch sie zitiert nur den ersten, belanglosen Teil: „Groß bist du an Rat und mächtig an Tat; deine Augen wachen über alle Wege der Menschen …“. Der entscheidende, für die Situation relevante Teil des Verses kommt erst danach: „um jedem entsprechend seinem Verhalten und der Frucht seiner Taten zu geben.“ Bezogen auf Chaninas Hinrichtung deutet auch dieser Versteil an, dass hier Gerechtigkeit geschieht, weil Gott um Chaninas Sünde weiß und ihm seine Bestrafung obliegt. Implizit aber wird an dieser Stelle deutlich, dass seine Tochter den Vers kennt und zitieren kann, obwohl er einem ganz anderen Buch der Schrift entnommen ist. Wo hat sie das gelernt? Wer hat sie die Worte des Propheten Jeremia gelehrt? Wir wissen es nicht, und die Rabbinen geben uns auch keine Antwort. Soweit ich weiß, sind dies die beiden einzigen Frauen im gesamten tannaitischen Korpus, die aus der Schrift zitieren, und nur die Tochter wird als eigenständige Bibelkennerin ausgewiesen. Wer ist diese gebildete Tochter? Es ist allgemein bekannt, dass die Tochter des Chanina ben Teradjon niemand anderes ist als die berühmte Berurja – die einzige gelehrte Frau, die in der rabbinischen Literatur Erwähnung findet –, weil sie davon ausgehen, dass eine Frau, die aus der Schrift zitiert, nicht einfach irgendjemand sein kann; sie muss jemand Besonderes sein. Und tatsächlich hat der Babylonische Talmud die Tochter des Chanina ben Teradjon – aus Gründen, die ich an anderer Stelle erläutert habe – mit Berurja identifiziert.2 In der tannaitischen Literatur jedoch und ganz allgemein in den Quellen aus Eretz Israel wird diese Tochter des Chanina an keiner Stelle mit Berurja gleichgesetzt. Berurja ist eine tannaitische Frau, die in der Tosefta erwähnt wird, und die Art und Weise, wie andere tannaitische Quellen und insbesondere die Mischna mit ihr umgehen, ist, wie ich andernorts gezeigt habe, darauf ausgerichtet, sie verschwinden zu lassen.3 Interessanterweise haben die Frau und die Tochter des Chanina ben Terad jon ein (wenn auch nur kurzes) Nachleben, und zwar in Quellen aus Eretz 2 3
Ilan, Integrating Women, 177f. Ebd., 179–181.
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Israel. Sie wissen ja nun, wie man aus der Schrift zitiert – also können sie es auch noch ein zweites Mal tun. Und genau das wird in einem Midrasch erzählt, der in zwei Kompilationen aus Eretz Israel – Ekha Rabba und Semaḥot (Evel Rabbati) – enthalten ist. Ich zitiere im Folgenden die Version aus Ekha Rabba:4 Der Sohn des Rabbi Chanina ben Teradjon hatte einer Räuberbande sich angeschlossen und ihr Geheimnis verraten. Man erschlug ihn deshalb, füllte seinen Mund mit Staub und Steinen und tat ihn nach drei Tagen in ein Weidengeflecht. Als man aus Rücksicht gegen seinen ehrwürdigen Vater eine Lobrede über ihn halten wollte, ließ er es nicht zu. Gönnt mir das Wort, bat er, ich will über meinen Sohn eine Rede halten. Er eröffnete [seine Rede] und sagte: Ich habe nicht auf die Stimme meiner Erzieher gehört, mein Ohr nicht meinen Lehrern zugeneigt. Fast hätte mich alles Unheil getroffen in der Versammlung und in der Gemeinde (Spr 5,13f.). Und seine Mutter zitierte über ihn: Ein törichter Sohn bereitet seinem Vater Verdruss und Kummer seiner Mutter, die ihn geboren hat (Spr 17,25), und seine Schwester zitierte über ihn: Süß schmeckt dem Menschen das Brot der Lüge, hernach aber füllt sich sein Mund mit Kieseln (Spr 20,17). (EkhaR 3,6)5
Diese Geschichte wirft viele auch politisch-historische Fragen auf. Wer sind diese Räuber, denen sich der Sohn des Gelehrten angeschlossen haben soll? Das hebräische Wort für Räuber ist das griechische ליסטים/lestes, ein Begriff, den Josephus regelmäßig benutzt, um jüdische Guerillakämpfer in ihrem Krieg mit Rom (z. B. die in Machaerus, Herodion und Masada belagerten Freiheitskämpfer: recte 4.555) zu beschreiben. Handelt es sich bei den lestes im vorliegenden Text um solche politischen Agitatoren, oder sind sie schlichtweg Räuber im unpolitischen Sinne des Wortes? Wenn Ersteres zutrifft, wa rum steht dann Chanina ben Teradjon, der selbst von der Hand der Römer den Märtyrertod erleiden wird, den Taten seines Sohnes so ablehnend gegenüber? Vielleicht, weil er deren Geheimnisse verraten hat? Was sind das für Geheimnisse, dass jemand um ihretwillen sterben muss, und warum hält der Vater die Geheimnisse der Räuber für so wichtig, dass er gegen seinen eigenen Sohn für sie Partei ergreift? Und wozu wird der Mund des Opfers mit Erde und Steinen gefüllt? In der Forschung ist versucht worden, diese Fragen in einem bestimmten historischen Kontext zu beantworten,6 und natürlich sind sie legitim, doch für uns hier ist vor allem interessant, dass diese Geschichte ein Spiegelbild der ersten ist: Jemand wird getötet, und drei Mitglieder seiner Familie – der Gelehrte, seine Frau und seine Tochter – reagieren mit einem Bibelzitat. Alle angeführten Verse rechtfertigen die Bestrafung, die der Sohn 4 5 6
Vgl. außerdem Sem 12,13. Eine Diskussion dieser Tradition im Kontext der Identifizierung von Chaninas Tochter mit Berurja bietet Goodblatt, „The Beruriah Traditions“, 73–75. Vgl. Gedaliah Alon, The Jews in their Land in the Talmudic Age 2 (Jerusalem: Magnes Press, 1984), 570–572.
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erhalten hatte; genau wie im vorigen Text alle Betroffenen ihre eigene Bestrafung von der Hand der Römer gerechtfertigt hatten. Und wieder wird die Genderfrage nicht gestellt, obwohl auch die Mutter und die Tochter aus der Schrift zitieren. Alle drei zitieren aus dem Buch der Sprichwörter, das viele Maximen gegen enttäuschende Söhne enthält; die Mutter zitiert hier, anders als in der vorigen Überlieferung, unabhängig vom Vater, und ihr Vers erwähnt sogar die Rolle der Mutter: „Ein törichter Sohn bereitet […] Kummer seiner Mutter, die ihn geboren hat“ (Spr 17,25). Der Vers der Tochter ist auch hier wieder der ausgeklügeltste: Sie findet ein Zitat, das den Verrat des Sohnes mit seiner Bestrafung in Verbindung bringt: „Hernach aber füllt sich sein Mund mit Kieseln“ (Spr 20,17). Ob es eine allgemeinverständliche Botschaft war, den Mund eines „paramilitärisch“ hingerichteten mit Kieseln zu füllen – ob man ihn also auf diese Weise für diejenigen, die den Leichnam auffinden würden, als Informanten kenntlich machen wollte –, oder ob diese Maßnahme hier ausgewählt wurde, damit sie zum Bibelzitat der Tochter passt, muss wohl ein Geheimnis bleiben. Fakt ist, dass die Geschichte in EkhaR als Kommentar zu einem weiteren Vers dient, in dem es als eine Bestrafung beschrieben wird, jemanden auf Kiesel beißen zu lassen (Klgl 3,16): „Meine Zähne ließ er auf Kiesel beißen“ )וַ ּיַ גְ ֵרס ֶּב ָח ָצץ ִׁשּנָ י. Könnte man in Anbetracht der Tatsache, dass die beiden Überlieferungen, die wir uns bis hierher angesehen haben, aus Eretz Israel stammen, womöglich die Vermutung äußern, dass die Rabbinen in Eretz Israel kein Problem mit schriftzitierenden Frauen hatten? Spiegeln diese Überlieferungen eine Gemeinschaft, in der dies vielleicht sogar an der Tagesordnung war? Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten, und ich werde weiter unten noch darauf zurückkommen. Einstweilen aber geht es mir darum, zu verstehen, was in Babylonien mit diesen schriftzitierenden Frauen passiert ist. Wie schon gesagt identifiziert der Babylonische Talmud die Tochter des Chanina ben Teradjon mit Berurja, der bibelzitierenden Frau par excellence. Neben dem in SifDev zitierten Vers7 schreibt ihr der Babylonische Talmud drei wei7
Der Bavli zitiert die Überlieferung aus SifDev über die Tochter von Chanina ben Teradjon außerdem in bAZ 18a. Diese Geschichte über Berurja wird in der rabbinischen Literatur am häufigsten diskutiert; wir werden uns hier jedoch nicht näher damit befassen, weil sie darin nicht aus der Schrift zitiert. Weiterführende Informationen finden sich bei Daniel Boyarin, Dying for God: Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism (Figurae: Reading Medieval Culture; Stanford: Stanford University Press, 1999), 67–92; Yifat Monnikendam, „Beruria and Rabbi Meir: Parallels and Contrasts“, Pathways through Aggadah 2 (1999): 37–63; 50f. (Hebr.). In der Regel wird diese Geschichte mit der negativen Erzählung in Verbindung gebracht, die Raschi über Berurja erzählt und die in den meisten Untersuchungen über sie thematisiert wird, vgl. insbesondere Rachel Adler, „The Virgin in the Brothel and Other Anomalies: Character and Context in the Legend of Beruriah“, Tikkun 3/6 (1988): 28–32.102–105; Daniel Boyarin, Carnal Israel: Reading Sex in Talmudic Culture (The New Historicism 25; Berkeley: University of California Press, 1993),
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tere Verse zu: Ps 10,35, Jes 54,1 (bBer 10a) und 2 Sam 23,5 (bEr 53b–54a). Ich möchte etwas näher auf das erste dieser drei Bibelzitate eingehen. Die Geschichte liest sich wie folgt: In der Nachbarschaft des Rabbi Meir wohnten Bösewichter, die ihn sehr quälten, und Rabbi Meir betete für sie, sie mögen sterben. Da sprach seine Frau Berurja zu ihm: Woran denkst du? [Daran etwa,] dass es heißt: Die Sünden sollen von der Erde verschwinden. (Ps 104,35) Heißt es denn „die Sünder“? Es heißt ja „die Sünden“; ferner, blicke hinab auf den Schluss des Verses: und Frevler sollen nicht mehr da sein (Ps 104,35): Sobald die Sünden vernichtet werden, sind auch keine Frevler mehr da; bete vielmehr für sie, dass sie Buße tun. Da betete er für sie, und sie taten Buße. (bBer 10a)8
Die hier dargestellte Frau ist nicht nur in der Lage, einen Vers aus der Bibel zu zitieren, sondern ihn überdies im rabbinischen Stil zu interpretieren. Zuerst findet sie einen Vers, von dem sie annimmt, dass er ihrem Mann als Grund dient, für den Tod seiner lästigen Nachbarn zu beten. Dann zeigt sie ihm auf der Basis einer genauen Textlektüre, dass er den Vers falsch ausgelegt hat: Er soll nicht für den Tod der Sünder, sondern für den Tod der Sünden beten. Und schließlich verwendet sie ganz offen genau dasselbe Prinzip, das uns eher versteckt bereits im ersten oben angeführten Beispiel begegnet ist: Die verständnisentscheidende Information ist im zweiten, nichtzitierten Teil des Verses enthalten. Dort wird erwähnt, dass keine Frevler mehr da sind – weil, so die hier wiedergegebene Deutung, sie Buße getan haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass sich der Babylonische Talmud hier eine ganz andere Tradition über eine gerechte Frau und ihren Mann angeeignet und diese Überlieferung verändert, das heißt aus
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184–196. Ich habe an anderer Stelle gegen diese Verbindung argumentiert, vgl. Ilan, Integrating Women, 189–194; ähnlich zuletzt Naomi Cohen, „Bruria in the Bavli and in Rashi Avodah Zarah 18B“, Tradition 48/2–3 (2015): 29–40. Der heutigen Interpretation dieses Texts im Bavli zufolge ist die Frau, die aus der Schrift zitiert, nicht Berurja, sondern ihre Schwester. Vgl. jedoch meine Diskussion und meinen Vorschlag zu einer alternativen Lesart in Ilan, Integrating Women, 190f. Vgl. zu dieser Überlieferung auch Monnikendam, „Beruria and Rabbi Meir“, 42f.; Federico Dal Bo, „Legal and Transgressive Sex, Heresy, and Hermeneutics in the Talmud: The Cases of Bruriah, Rabbi Meir, Elisha ben Abuyah and the Prostitute“, JLASt 26 (2016): 128–152; 138–141. Zu den zwei weiteren Versen, die Berurja im Babylonischen Talmud zitiert, vgl. Elitzur und Michal Bar-Asher Siegal, „‚Rejoice O Barren One Who Bore No Child‘: Beruria and the Jewish-Christian Conversation in the Babylonian Talmud“, in The Faces of Torah: Studies in the Texts and Contexts of Ancient Judaism in Honor of Steven Fraade (hg. v. Michal Bar-Asher Siegal, Tzvi Novic und Christine Hayes; JAJSup 22; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017), 199–219 (man beachte, dass die Genderfrage – nämlich, weshalb das Judentum in dieser Überlieferung durch eine Frau repräsentiert wird – nicht ein einziges Mal aufgeworfen wird).
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der Frau die gelehrte Berurja und aus ihrem Verhalten eine Lektion in Bibel und Midrasch gemacht hat. Die besagte Tradition sieht folgendermaßen aus: [Abba Chilqijja sagte]: In unserer Nachbarschaft wohnten Frevler; ich bat, dass sie sterben mögen, sie [meine Frau] bat, dass sie Buße tun mögen. (bTaan 23b)9
In diesem Zitat aus bTaan wird Abba Chilqijja als Enkel des Choni ha-Meagel (des Kreisziehers) beschrieben, der ein berühmter Regenmacher war und diese Fähigkeiten folglich seinem Enkel vererbt haben musste. In dieser Geschichte jedoch kommt, als beide um Regen beten, der Regen von der Seite des Daches her, auf der die Frau steht. Wie ist das möglich? Zwei Begründungen werden angeboten. Die erste besagt, der Regen sei von ihrer Seite hergekommen, weil sie Bettlern zu essen gibt. Die zweite Begründung, die der Babylonische Talmud für dieses Phänomen anführt, besagt, dass die Frau gerechter gewesen sei als ihr Mann, denn sie habe für die Buße ihrer lästigen Nachbarn, ihr Mann jedoch für deren Tod gebetet. Die schlüssigste Erklärung für die Parallele zwischen dieser Geschichte und der Geschichte über Berurja ist die, dass die hier vorliegende Tradition das Rohmaterial für die Geschichte über die schriftzitierende Frau geliefert hat. Diese Deutung bringt jedoch ein Problem mit sich. Zum einen wird sie im Zusammenhang mit der Frage, weshalb der Regen von der Seite der Frau herkam, erst als Zweitbegründung angeführt; und außerdem ist sie in den meisten Handschriften und in einem Fragment des betreffenden Texts aus der Geniza nicht enthalten.10 Sie könnte mithin sekundär und später sein, und in diesem Fall würde es sich um eine Überarbeitung der Berurja-Tradition handeln. Wenn dies zutrifft, dann könnten wir die These vertreten, dass der Babylonische Talmud den Bibelvers entfernt hat, als er die Geschichte von Berurja auf die Frau des Abba Chilqijja übertrug. Aus der Schrift zu zitieren ist im Babylonischen Talmud nämlich nur ganz besonderen Frauen erlaubt. Ich möchte zeigen, dass sich sowohl hinter Berurjas Identifizierung mit der Tochter des Chanina ben Teradjon wie auch hinter ihrer Darstellung als einer großen schriftzitierenden Gelehrten eine typische Strategie des Babylonischen Talmuds verbirgt. Dieses Werk hat für etwa ein Dutzend Frauen
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Ich habe diesen Text an anderer Stelle detailliert diskutiert, vgl. Tal Ilan, Massekhet Ta‘anit: Text, Translation, and Commentary (FCBT II/9; Tübingen: Mohr Siebeck, 2008), 222f. und Literaturverzeichnis. 10 Enthalten ist sie in MS München 140, in der Holon-Nahum-Sammlung 259/8 und in sämtlichen gedruckten Ausgaben seit der spanischen Druckausgabe von 1480; nicht enthalten ist sie in MS München 95, Oxford Opp. Add. fol. 23, London – BL Harl. 5508 (400), Vatikan ebr. 134, Jerusalem – Yad Harav Herzog 1 und im GenizaFragment Cambridge – TS F2 (2) 2.
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so etwas wie eine Biographie konstruiert.11 Sie werden – auf der Basis der Annahme, dass wir alle wissen, wer sie sind – mehrfach (und zuweilen auch namentlich) erwähnt. Der Babylonische Talmud hat die Biographien dieser Frauen aus ganz unterschiedlichen Quellen zusammengestellt, die mehrheitlich aus Eretz Israel, gelegentlich aber auch aus Babylonien stammen. Nur Frauen aus diesem Pool biographierter Frauengestalten und nur Frauen aus Palästina dürfen aus der Schrift zitieren.12 Die Babylonierin Bat Rav Chisda, die der Babylonische Talmud häufiger als jede andere Frau erwähnt, zitiert kein einziges Mal aus der Schrift. Jalta, die am zweithäufigsten erwähnte Frau, spielt an einer Stelle – zumindest kann man es so interpretieren – auf das biblische Verbot an, Milch und Fleisch zu mischen (bHul 109b), zitiert 11 Hier eine Liste mit ausgewählter Literatur: 1. Bat Rav Chisda (vgl. Tal Ilan, Massekhet Hullin: Text, Translation, and Commentary [FCBT V/3; Tübingen: Mohr Siebeck, 2017], 232–237; sowie den historischen Roman von Maggie Anton, Rav Hisda’s Daughter [2 Bde; New York: Plume, 2012–2014]); 2. Em (vgl. Charlotte E. Fonrobert, Menstrual Purity: Rabbinic and Christian Reconstructions of Biblical Gender [Contraversions: Jews and Other Differences; Stanford: Stanford University Press, 2000], 151–159; Shulamit Valler, Women in Jewish Society in the Talmudic Period [Tel Aviv: Ha-Kibbutz Ha-Meuchad, 2000], 161–172 [Hebr.]; zu ihren Rezepten vgl. Giuseppe Veltri, Magie und Halakha: Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen Judentum [TSAJ 62; Tübingen: Mohr, 1997], 230–238); 3. Ifra Hormiz (vgl. Ilan, Ta‘anit, 252f. und Literaturverz.); 4. Imma Schalom (vgl. Dies., Mine and Yours are Hers: Retrieving Women’s History from Rabbinic Literature [AGJU 41; Leiden: Brill, 1997], 110–118); 5. Marta bat Boethos (vgl. ebd., 88–97, und neuerdings Liat Sobolev-Mandelbaum, „The Figure of Marta bat Baitus as a Religious ‚Other‘“, Masekhet 13 [2017]: 71–94 [Hebr.] mit aktualisiertem Literaturverzeichnis); 6. Rabbi Aqivas Frau (vgl. Shulamit Valler, Women and Womanhood in the Talmud [BJSt 321; Atlanta: Scholars Press, 1999], 51–76; Boyarin, Carnal Israel, 146–156; Ilan, Mine and Yours are Hers, passim; sowie den historischen Roman von Yochi Brandes, Akiva’s Orchard [Or Yehuda: Kinneret-Zmura-Bitan; 2012] [Hebr.]); 7. Rabbis Magd (vgl. Ilan, Mine and Yours are Hers, 97–107; Valler, Women in Jewish Society, 152–160); 8. Shelamzion (Königin) (vgl. Ilan, Silencing the Queen: The Literary Histories of Shelamzion and other Jewish Women [TSAJ 115; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006], pass.); 9. Jalta (Dies., Mine and Yours are Hers, 121–129; Tamara Or, Massekhet Betsah: Text, Translation, and Commentary [FCBT II/7; Tübingen: Mohr Siebeck, 2010], 122–133; Charlotte E. Fonrobert, „Yalta’s Ruse: Resistance against Rabbinic Menstrual Authority in Rabbinic Literature“, in Women and Water: Menstruation in Jewish Life and Law [hg. v. Rahel R. Waserfall; Brandeis Series on Jewish Women; Hanover: University Press of New England, 1999], 60–81; sowie den historischen Roman von Ruhama Weiss, Yalta: A Talmudic Novel [Tel Aviv: Ha-Kibbutz Ha-Meuchad, 2017] [Hebr.]). 12 Die Ausnahme von dieser Regel, dass nur eine kleine Gruppe von mit einer Biographie ausgestatteten Frauen aus der Schrift zitieren darf, ist die Ehefrau eines frommen Mannes (Chassid), der in der Blüte seiner Jahre stirbt, woraufhin sie Dtn 30,20 zitiert, um sich über seinen verfrühten Tod zu beklagen, vgl. bShab 13a–b. Diese Geschichte stammt aus Eretz Israel, vgl. ARN A 2; B 2; SER 16.
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aber keinen Vers.13 Die schriftzitierenden Frauen im Babylonischen Talmud sind, wie Berurja, Heroinen aus Eretz Israel. Eine von ihnen ist die Dienstmagd Rabbis Jehuda ha-Nasi: Einst sah die Magd Rabbis jemand seinen erwachsenen Sohn schlagen, da sprach sie: Dieser Mann soll exkommuniziert sein, da er [das Verbot]: Du sollst einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen (Lev 19,14), übertritt. (bMQ 17a)
Rabbis Magd ist ein beliebtes rabbinisches Paradox. Obwohl selbst eine Sklavin, ist sie gebildeter als die Rabbinen und dementsprechend einflussreich. Sie verwendet die Sprache der Weisen (bEr 63b), sie korrigiert das Hebräisch der Rabbinen (bRHSh 26b; bMeg 18a). Im obigen Abschnitt exkommuniziert sie einen Mann, der seinen Sohn schlägt, und zitiert dabei einen Bibelvers. Allerdings gibt es für diese Geschichte eine Vorlage im Yerushalmi, die in dreierlei Hinsicht anders ist: Erstens ist die Frau nicht Rabbis Dienstmagd, zweitens exkommuniziert sie jemanden, der keinen Erwachsenen, sondern ein Kind schlägt, und drittens zitiert sie nicht aus der Schrift: Eine Magd [aus der Familie] des Bar Paṭṭa kam [einst] vor eine Synagoge, [da] sah sie einen [Bibel]lehrer, der einen Schüler ( )תינוקüber das notwendige Maß ( )יתיר מן צורכיschlug. Sie sagte zu ihm: Jener Mann [= du] sei gebannt! (yMQ 3,1 [81d])
Ich habe mich an anderer Stelle näher mit dieser Geschichte befasst.14 Ihre Parallele im Babylonischen Talmud hat denselben Prozess durchlaufen, von dem oben im Zusammenhang mit Berurja die Rede war. Dort war aus einer namenlosen Frau die Gelehrte Berurja geworden. Hier ist aus einer Geschichte über eine anonyme Magd mit einem hochentwickelten Sinn für soziale Gerechtigkeit die Geschichte der rabbinischen Dienstmagd schlechthin, nämlich der Magd Rabbis geworden. Im Zuge des besagten Prozesses wird beiden Frauen ein Bibelzitat in den Mund gelegt. Keines der beiden Zitate weist genderspezifische Aspekte auf. Der Babylonische Talmud lässt die Frauen diese Zitate anführen, um zu zeigen, wozu ungewöhnliche Frauen (aus Eretz Israel) 13 Vgl. Ilan, Hullin, 487–492. An anderer Stelle habe ich gezeigt, dass Jalta aus Ben Sira zitiert (vgl. Dies., Integrating Women, 171–174). Sie tut dies jedoch in aramäischer Sprache, während Ben Sira auf Hebräisch verfasst wurde. Zu einer anderen Stelle, wo sich die Babylonier vorstellen, wie eine unwissende Frau (eine Am haaretz) die Schrift aus einem aramäischen Targum falsch zitiert, vgl. bHul 5a, Dies., Hullin, 113; Dies., „Language and Gender in the Babylonian Talmud“, in On Jewish Multilingualism in Late Antiquity and the Early Middle Ages (hg. v. Leonard V. Rutgers, Wout J. van Bekkum und Constanza Cordoni; Cultural Interactions in the Mediterranean; Leiden: Brill, erscheint demnächst). 14 Dies., Silencing the Queen, 192–196.
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imstande sind. Das ist keine Aussage über Frauen im Allgemeinen. Es ist eine Aussage über sehr besondere und einmalige Frauen. Das letzte Beispiel, das ich anführen möchte, stammt ebenfalls aus einer Geschichte über eine einmalige Frau, ist aber in hohem Maße genderbezogen. Die Geschichte handelt von Rabbi Aqivas Frau, diesem babylonischen Muster an Selbstaufopferung, die ihren Mann 24 Jahre lang zum Studium fortschickt und selbst währenddessen in Armut lebt. Bei seiner Rückkehr, so hören wir, geschah Folgendes: Als er zurückkehrte, brachte er vierundzwanzigtausend Schüler mit. Als seine Frau dies erfuhr und ihm entgegenging, sprachen die Nachbarinnen zu ihr: Borge doch Gewänder und kleide dich ein. Diese aber erwiderte ihnen: Der Gerechte weiß, was sein Vieh braucht (Spr 12,10). (bKet 63a)15
Der Genderbezug dieses Zitats besteht darin, dass die Frau sich mit einem Tier vergleicht. Es ist nicht ganz klar, ob der Vers aus dem Buch der Sprichwörter ursprünglich die humane Behandlung von Tieren durch rechtschaffene Menschen betraf oder ob es sich auch im Original um eine Metapher über das wünschenswerte zwischenmenschliche Machtgefälle handelte. Jeder Herr muss gütig sein. Fest steht allerdings, dass kein früherer Midrasch aus Eretz Israel diesen Vers benutzt, um die Herrschaft von Männern über Frauen zu beschreiben. Es handelt sich hier um eine bemerkenswerte Neuerung des Babylonischen Talmuds. Er bedient sich der klassischen Methode, den Unterdrückten Worte in den Mund zu legen, die die Unterdrückung rechtfertigen und deren Akzeptanz artikulieren. Nicht die Rabbinen, sondern die Frau selbst behauptet, dass Frauen im Vergleich zu Männern wie Tiere seien. Lassen Sie mich das bis hierher Gesagte noch einmal zusammenfassen: In einem in hohem Maße stilisierten literarischen Erzeugnis beschreibt ein tannaitischer Text eine Mutter und eine Tochter, die aus der Schrift zitieren. Spiegelt sich darin eine historische Situation? Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen, ist, dass spätere rabbinische Texte diese Tradition auf unterschiedliche Weise aufgegriffen haben. Ein Text aus Eretz Israel benutzt die Geschichte als Vorlage, um eine andere Geschichte zu erzählen: Hier sind es dieselben beiden Frauen, die allerdings unter veränderten Umständen aus der Schrift zitieren. Der Babylonische Talmud dagegen verlagert die Geschichte an einen gänzlich anderen Ort und nimmt sie als Grundlage, um die namenlose Tochter mit einer durchaus namhaften Frau der tannaitischen Periode, Berurja, zu identifizieren. Ihre Fähigkeit, aus der Schrift zu zitieren, wird im Babylonischen Talmud mehrfach thematisiert.
15 Vgl. außerdem bNed 50a. Mit dieser Quelle habe ich mich an anderer Stelle ausführlich befasst, vgl. Dies., Mine and Yours are Hers, passim u. insbes. 39–48.206–215.
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Überlieferungen, in denen Frauen Rabbinen über schwierige Schriftverse befragen
In der großen Mehrheit der Überlieferungen, die Frauen mit Bibelkenntnissen in Verbindung bringen, bittet eine Frau einen Rabbi darum, ihr einen schwierigen Vers zu erklären. Der Locus classicus, an dem die vorliegende Diskussion ansetzen sollte, ist Matrona aus Bereshit Rabba. Dieser Midrasch enthält sieben Überlieferungen, in denen Matrona Rabbi Jose Fragen zu biblischen Texten stellt. Sie fragt ihn, weshalb im Zusammenhang mit dem zweiten Schöpfungstag nicht „es war gut“ geschrieben steht; warum in Bezug auf Henoch nicht vom Tod die Rede ist; wie es sein kann, dass Josef durch Potifars Frau nicht in Versuchung geriet, usw. Ich habe bereits 1994 einen Beitrag über diese Frau publiziert, auf den ich an dieser Stelle zurückgreifen werde.16 Ich erinnere in aller Kürze daran, welche Forschungssituation ich vorgefunden und welche Neuerung ich beigesteuert habe: In Anbetracht ihres Titels – Matrona – wurde in der Forschung von Anfang an gemutmaßt, dass die Frau eine Angehörige der in Palästina ansässigen römischen Oberschicht gewesen sein muss und dass ihre Fragen beispielhaft sind für die polemischen Fragen, die verschiedene Gruppen philosophisch gebildeter und mit den Heiligen Schriften des Judentums vertrauter Heiden und Häretiker an die Juden richteten.17
Ich dagegen verwies auf einen Aspekt – nämlich das Gender –, den die Forschung bis dahin nicht berücksichtigt hatte. Ich schrieb: Da in rein literarischen Erzeugnissen jede einzelne Komponente eine bestimmte narrative Funktion erfüllt, sollten die Inhalte der Matrona-und-Rabbi-JoseÜberlieferungen, wenn sie denn rein fiktiv sind, Themen umfassen, die insbesondere Frauen betreffen. Andernfalls wäre es seltsam, dass die Heldin eine Frau ist. Doch alle Fragen, die Matrona aufwirft, sind bis auf eine einzige Überlieferung [auf die wir im Folgenden zurückkommen werden] für Frauen nicht sonderlich von Belang.18
Deshalb schlug ich eine radikale These vor, der zufolge Matrona nicht unbedingt, wie zuvor angenommen, der Titel einer römischen, sondern womöglich der Eigenname einer jüdischen Frau gewesen sei. Ich unterschied zwischen den sieben frühesten Matrona-und-Rabbi-Jose-Überlieferungen in Bere 16 Dies., „Matrona and Rabbi Jose: An Alternative Interpretation“, JSJ 25 (1994): 18– 51. 17 Ebd., 19. 18 Ebd., 20.
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shit Rabba und den 13 anderen Geschichten desselben Zuschnitts in späteren Kompilationen und kam zu dem Schluss, dass wir nur die ersten sieben mit Sicherheit als authentisch betrachten können; diese Überlieferungen, so schrieb ich damals, gewähren uns Einblicke in ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen einem jüdischen Gelehrten und einer jüdischen Frau, die sich durch ihre ersten Bibellektionen hindurcharbeitet, sorgfältig liest und Fragen stellt. Rabbi Jose, ihr Mentor, tut sein Bestes, um seine Antworten einfach und im Rahmen ihres akademischen Niveaus zu halten. Es ist nur natürlich, dass die Fragen Schriftstellen betreffen, an denen der Text unklar, seine Bedeutung zweifelhaft oder missverständlich ist.19
Ich stellte sogar Vermutungen über die Vorgehensweise des Herausgebers an: Offenbar hat dem Herausgeber von Bereshit Rabba eine seltene Quelle vorgelegen: eine Sammlung von Gesprächen zwischen Rabbi Jose und Matrona, die vermutlich das gesamte Buch Genesis betrafen und aus denen er bei seiner redaktionellen Arbeit an bestimmten Punkten ausgewählte Abschnitte anführte.20
In den anderen 13 Überlieferungen machte ich dieselbe Tendenz aus, die sich auch in der modernen Forschung findet: den Namen der Frau als Titel einer vornehmen Römerin zu verstehen und die Frau für eine Heidin zu halten; demzufolge nahmen auch die Fragen, die die Frau stellte, mehr und mehr den Charakter einer antijüdischen Polemik an. Ich schrieb: „Die vielen authentischen Überlieferungen in Bereshit Rabba befeuerten die Vorstellungskraft von Herausgebern und Kompilatoren, die das literarische Potential dieses Schemas erkannten“21 – was dazu führte, dass ähnliche Texte erfunden und in Midraschim wie Wayiqra Rabba, Qohelet Rabba, Tanḥuma und selbst in einem Text von dunklerer Herkunft wie Pesiqta Rabbati aufgezeichnet wurden. Anders ausgedrückt stellte ich also die These auf, dass ein nicht auf uns gekommener antiker Text einen Katalog aus Fragen über Verse aus dem Buch Genesis, die eine bestimmte jüdische Frau namens Matrona an Rabbi Jose gerichtet hatte, samt der Antworten enthalten hatte, die der Rabbi seiner Schülerin gegeben hatte. Der Herausgeber von Bereshit Rabba hatte Zugang zu dieser Quelle und verwendete sie. Damals wie heute war und ist mir bewusst, dass diese These ins Reich der Spekulation gehört. Allerdings habe ich, seit der besagte Beitrag vor 23 Jahren erschienen ist, zwei voneinander unabhängige Entdeckungen in zwei nicht miteinander zusammenhängenden Bereichen gemacht, die diese Thesen erheblich stützen. Die erste Entdeckung 19 Ebd., 41. 20 Ebd., 42. 21 Ebd., 49.
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gehört dem Bereich der Namenskunde an. Im zweiten Band meines Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity, das namentlich erwähnte Juden aus der Zeit zwischen 200 und 650 n. d. Z. (also der Periode, in der Matrona aus BerR gelebt haben muss) dokumentiert, konnte ich zeigen, dass Matrona zu den zehn beliebtesten Namen jüdischer Frauen in Eretz Israel gehörte (unsere Matrona, die ich vorsichthalber nicht in mein Lexikon aufgenommen habe, nicht mitgezählt). Der Name findet sich auf Grabsteinen jüdischer Friedhöfe wie Bet Schearim, auf Inschriften in Synagogen und auf Amuletten, die in hebräischer Sprache verfasst sind. Derartige Belege stützen die Annahme, das Matrona der Name einer jüdischen Frau gewesen sein könnte, ganz beträchtlich.22 Einen weiteren Hinweis darauf, dass es eine Quelle mit einer fortlaufenden Liste von Überlieferungen gegeben haben könnte, die der Herausgeber von BerR an den passenden Stellen seiner Kompilation zitierte, entdeckte ich bei Recherchen in einem völlig anderen Forschungskontext. Die Mekhilta deRabbi Yishma’el (Pisḥa 14), eine tannaitische Überlieferung, die älter ist als BerR, enthält eine Liste von Veränderungen, die die siebzig Ältesten am Text vorgenommen haben, als sie die Tora ins Griechische übersetzten. Ein Teil der Liste bezieht sich auf das Buch Genesis. In MekhY werden die Veränderungen in Form einer Liste präsentiert. In BerR dagegen sind die betreffenden Überlieferungen – genau wie die Matrona-und-Rabbi-Jose-Überlieferungen – über das ganze Buch verteilt und erscheinen immer im Zusammenhang mit dem Vers, auf den sie sich jeweils beziehen.23 Ich habe diese beiden Hinweise hier angeführt, um zu erklären, warum ich nach wie vor an meiner 23 Jahre alten Hypothese festhalte. Wenn ich Recht habe und Matrona eine Frau war, die Rabbi Jose Fragen über das Buch Genesis stellte, die dann gemeinsam mit seinen Antworten auf ihre (oder seine) Veranlassung hin für die Nachwelt aufgeschrieben wurden, dann müssen wir uns fragen, ob Matrona eine normale oder eine außergewöhnliche Frau gewesen ist. Wurde ihr Wunsch, die Schrift zu studieren, von der Gesellschaft akzeptiert, oder wurde sie gemieden? Wir haben gesehen, dass auch die Herausgeber und Kompilatoren anderer haggadischer Midraschim in Eretz Israel weiterhin Matrona-und-Rabbi-Jose-Überlieferungen erfanden. Doch was ist mit den eher halakhischen Talmudim? Zunächst ist festzuhalten, dass in keinem der beiden Talmudim eine Matrona-und-Rabbi-Jose-Überlieferung enthalten ist. Mit anderen Worten: alle 20 Matrona-und-Rabbi-Jose-Überlieferungen sind außertalmudisch. Absicht oder Zufall? Ich denke, Ersteres. Eine berühmte Überlieferung im Yerushalmi liest sich wie folgt: 22 Dies., Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity 2: Palestine 200–650 (TSAJ 148; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 47.305f. 23 Vgl. Yael Fisch, „The Septuagint“, in Tal Ilan und Vered Noam, Josephus and the Rabbis 1: The Lost Tales of the Second Temple Period (Jerusalem: Yad Izhak BenZvi, 2017), 145–167; 151, Anm. 48 (Hebr.).
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Tal Ilan Matrona fragte Rabbi Eliezer: Warum gab es beim Goldenen Kalb, wo doch [alle] ein und dieselbe Sünde [begangen hatten], drei verschiedene Todesarten [als Strafe]? Er entgegnete ihr: Die Weisheit einer Frau ist auf ihre Spindel beschränkt, denn es heißt: Und alle kunstverständigen Frauen spannen mit ihren Händen (Ex 35,25). Da sagte sein Sohn Hyrqanos zu ihm: Weil du ihr in einer einzigen Sache aus der Tora keine Antwort geben wolltest, verliere ich pro Jahr dreihundert Kor Zehnt! Er erwiderte ihm: Eher sollen die Worte der Tora verbrannt werden, als dass sie Frauen übergeben werden! (ySot 3,4 [19a])
Lassen Sie uns mit einigen historischen Anmerkungen beginnen. Ist Matrona, die sich hier an Rabbi Eliezer wendet, dieselbe Frau, die Rabbi Jose Fragen stellt? Chronologisch betrachtet ist dies fast ausgeschlossen. Rabbi Eliezer war der legendäre Lehrer von Rabbi Aqiva, der seinerseits Rabbi Joses Lehrer war. Die beiden Rabbinen trennen also zwei Generationen, und als Rabbi Jose ein berühmter Lehrer geworden war, war Rabbi Eliezer gewiss nicht mehr am Leben. Historisch gesprochen haben wir es also entweder mit einer anderen Frau namens Matrona oder diesmal tatsächlich mit einer vornehmen Römerin zu tun. Auf literarischer Ebene gibt es jedoch keinen Grund, die beiden nicht miteinander gleichzusetzen. Bekanntlich besteht eine enge Beziehung zwischen der redaktionellen Arbeit an BerR und der am Yerushalmi, und die Herausgeberteams beider Werke waren vermutlich zur selben Zeit tätig, obwohl es sich wahrscheinlich nicht um ein und dasselbe Team gehandelt hat. Wenn der Herausgeber des Yerushalmi die Arbeit des BerR-Herausgebers oder sogar dessen Quelle der Matrona-Überlieferungen kannte, dann wollte er damit, dass er dieselbe Frau mit einer solchen Frage (wenn auch über Verse aus dem Buch Exodus) zu Rabbi Eliezer gehen ließ, womöglich seine Missbilligung zum Ausdruck bringen, denn Rabbi Eliezer ist berühmt für seine Aussage in der Mischna (und zwar genau in mSot 3,4, die in dem zitierten Abschnitt erläutert wird): „Wer seine Tochter Tora lehrt, lehrt sie Sinnloses.“ Eine Frau hat kein Recht, solche Fragen zu stellen. Mit dieser Geschichte trifft der Yerushalmi eine Aussage über Frauen und die Schrift: Es sollte Frauen nicht erlaubt sein, Rabbinen über die Schrift zu befragen. Das ist auch der Grund dafür, dass dieses Werk keine Matrona-und-Rabbi-Jose-Überlieferungen enthält. Und tatsächlich weiß ich auch sonst von keiner Frau, die im Yerushalmi aus der Schrift zitiert.24 Am Rande sei noch erwähnt, dass Matronas Frage in der Tat legitim ist. Nach der Episode mit dem Goldenen Kalb lesen wir in Ex 32,20, dass Mose das Kalb zu Staub zerstampft, in Wasser auflöst und die Israeliten das vergiftete Wasser trinken lässt. In V28 erfahren wir, dass 3000 Menschen von den Leviten getötet worden seien. Und in V35 steht geschrieben, Gott habe eine 24 Mir ist ein Fall bekannt, in dem Rabbis Magd zu erkennen gibt, dass ihr das biblische Gesetz vertraut ist, vgl. yBer 3,4 (6c), und ausführlicher zu dieser Überlieferung Ilan, Silencing the Queen, 188–192.
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Plage geschickt. Der Yerushalmi selbst erkennt die Legitimität der Frage an, wenn er folgenden Epilog hinzufügt: Als sie [die Frau] gegangen war, sagten seine Schüler zu ihm [Rabbi Eliezer]: Rabbi, sie hast du mit einem Schilfrohr zurückgedrängt, aber welche Antwort wirst du uns geben? Rabbi Berekhya [und] Rabbi Abba bar Kahana [sagten] im Namen des Rabbi Eliezer: [Es gab drei Todesarten:] Derjenige, [für dessen Tat] Zeugen [vorhanden waren] und [bei dem es] eine Verwarnung [durch diese gegeben hatte], wurde vom Gericht abgeurteilt; derjenige, [für dessen Tat] Zeugen [vorhanden waren, bei dem es] aber keine Verwarnung [durch diese gegeben hatte], wurde wie die Sota [durch die Wasserprobe] geprüft; derjenige, [für dessen Tat] weder Zeugen [vorhanden waren und bei dem es auch] noch Verwarnung [gegeben hatte], starb durch die Pest. (ySot 3,4 [19a])
Die hier gegebene Antwort stützt sich auf rabbinische Vorstellungen von vor Gericht zulässigen Beweismitteln. Lagen diese vor, so wurden die Schuldigen von den Leviten getötet. War die Beweislage hingegen nicht eindeutig, wurden die Beschuldigten – ähnlich wie eine des Ehebruchs verdächtige Frau – mittels eines Gottesurteils geprüft. Im vorliegenden Fall besteht die Prüfung darin, sie Wasser trinken zu lassen, das mit dem Staub des goldenen Kalbs vermischt ist. Schließlich wurde, wenn gar keine Beweise vorlagen, die Bestrafung Gott überlassen. Diese Auslegung wird, wie wir sehen können, Rabbi Eliezer zugeschrieben, ist aber nicht Teil der Geschichte, sondern wird von zwei späteren Amoraim überliefert. Der Epilog zeigt, dass die Frage nicht falsch war, sondern lediglich von der falschen Person gestellt wurde. Der Babylonische Talmud tritt in dieser Hinsicht in die Fußstapfen des Yerushalmi. Er erzählt dieselbe Geschichte, wenn auch mit einigen Abweichungen: Eine gelehrte Frau fragte Rabbi Eliezer: Beim Ereignis mit dem [goldenen] Kalb waren ja alle gleich beteiligt. Warum war nun ihre Todesart keine gleichmäßige? Dieser antwortete ihr: Die Weisheit der Frauen besteht nur an der Spindel, so heißt es auch: Alle Frauen, die sich auf Handarbeit verstanden (Ex 35,25). Es wurde gesagt: Rav und Levi [waren verschiedener Meinung]. Einer sagte: Das Opfern und Räuchern wurde mit [dem Tod durch das] Schwert, das Umarmen und Küssen mit dem Seuchentod und die Freude im Herzen mit Leibanschwellung (hadraqon) bestraft. Der andere sagte: Bei Zeugen und Warnung wurden sie mit [dem Tod durch das] Schwert, bei Zeugen ohne Warnung mit dem Seu chentod und ohne Zeugen und ohne Warnung mit Leibanschwellung (hadraqon) bestraft. (bYom 66b)
Da der vorliegende Beitrag von schriftzitierenden Frauen handelt, möchte ich (obwohl es mehrere gibt) nur einen Unterschied zwischen dieser Überlieferung und der Yerushalmi-Version herausstellen: Die Fragestellerin wird nicht
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als Matrona, sondern als „gelehrte Frau“ bezeichnet. Grund hierfür ist, wie ich andernorts gezeigt habe, dass die Bezeichnung Matrona im Babylonischen Talmud (der keine Matrona-und-Rabbi-Jose-Überlieferungen enthält) für eine vornehme Nichtjüdin steht.25 Die Frau hier ist eindeutig Jüdin und kann daher nicht Matrona genannt werden. Gemäß dem Babylonischen Talmud sind es nämlich nicht die Frauen im Allgemeinen, sondern lediglich die jüdischen Frauen, von denen erwartet wird, dass sie sich vom Studium fernhalten. Kurioserweise folgt der Babylonische Talmud nur dann der gattungstypischen Darstellung von Frauen, die Fragen über die Schrift stellen, wenn diese Frauen keine Jüdinnen sind. Ich möchte hier in aller Kürze drei mir bekannte Beispiele dieser Gattung anführen: Königin Kleopatra zitiert gegenüber Rabbi Meir aus den Psalmen (72,16) (bSan 90b); eine Proselytin stellt im Gespräch mit Rabban Gamaliel zwei Verse aus der Tora einander gegenüber (Dtn 10,17; Num 6,26) (bRHSh 17b); und die Tochter des Kaisers zitiert gegenüber Rabbi Jehoschua einen weiteren Psalmvers (104,3) (bHul 60a).26 Alle diese Überlieferungen finden sich nur im Babylonischen Talmud, und doch handeln sie alle von legendären Tannaim aus Eretz Israel. Es gibt keine entsprechende Überlieferung über sassanidische Frauen (wie Ifra Hormiz, die Mutter von König Schapur, die im Babylonischen Talmud hohe Wertschätzung genießt und des Öfteren erwähnt wird27), die aus der Schrift zitieren. Auch die babylonische Vorstellungswelt, die es zwar nicht den jüdischen, aber immerhin den nichtjüdischen Frauen erlaubt, gelehrte Fragen über die Schrift zu stellen, dehnt dieses Vorrecht nicht über die Grenzen von Eretz Israel hinaus aus. Kannte der Babylonische Talmud denn nun die Matrona-und-Rabbi-JoseGattung, die in den Midraschim aus Eretz Israel so beliebt war? Ich denke, dass er sie kannte, sich aber genau wie der Yerushalmi entschied, sie nicht zu verwenden. Mein Beweis für diese Behauptung stützt sich auf eine Überlieferung aus dem ursprünglichen Midrasch BerR, die ich auch in meinem Beitrag von 1994 erwähnt hatte, um zu zeigen, dass Matrona Rabbi Jose nur eine einzige genderrelevante Frage vorlegt, nämlich: Matrona fragte Rabbi Jose: Warum [schuf Gott die Frau] mit Diebstahl? Er antwortete ihr: Ein Gleichnis: Jemand hat dir eine Unze Silber heimlich [in aller Stille] aufzubewahren gegeben und du gibst ihm einen Litra Gold öffentlich [frei] zurück, ist das ein Diebstahl? Sie sagte zu ihm: Warum [geschah es aber zur Zeit,] da er schlief? Er antwortete: Anfangs schuf Gott sie von ihm, da er [Adam] sie aber voller Speichel und Blut fand, so trennte er sie von ihm und schuf sie zum zweiten Mal. Darauf sagte sie: Ich füge zu deinen Worten noch etwas hinzu: Ich dachte nämlich einst an den Bruder meiner Mutter verheiratet zu werden, weil ich aber in einem und demselben Hause mit ihm heranwuchs, 25 Vgl. hierzu Dies., Ta‘anit, 181. 26 Vgl. hierzu Dies., Hullin, 274–281. 27 Vgl. Dies., Ta‘anit, 252f.
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erschien ich hässlich in seinen Augen und er heiratete eine andere, die nicht so schön wie ich war. (BerR 17,7)
Hierzu hatte ich Folgendes geschrieben: In dieser Überlieferung fragt Matrona Rabbi Jose, weshalb die Frau auf eine scheinbar so unehrliche Art und Weise erschaffen worden sei. Rabbi Jose antwortet mithilfe eines Gleichnisses (vom Diebstahl) und einer Erweiterung der biblischen Erzählung (der Erschaffung der zweiten Eva) und überzeugt sie so davon, dass dies nicht der Fall war. Dann steuert Matrona eine Geschichte aus ihrem eigenen Leben bei, mit der sie Rabbi Joses Erklärung stützt.28
Das Thema dieses Midrasch ist deshalb für Frauen von besonderem Interesse, weil es die Frage ihrer Erschaffung betrifft. Obwohl eine Frage darüber, wie die Frau erschaffen wurde, ebenso gut von einem Mann hätte gestellt werden können, erhält die Erzählung dadurch, dass eine Frau diese Frage stellt, eine persönlichere Note. Rabbi Joses Antwort ist jedoch nicht provozierend oder feindselig, wie es dem Kampf der Geschlechter entsprechen würde, sondern entgegenkommend und sogar schmeichelhaft für die Frauen. Genaugenommen wäre es noch eleganter gewesen, auch die Antwort einer Frau in den Mund zu legen. Und genau das ist dieser Überlieferung im Babylonischen Talmud widerfahren.29 Der Kaiser sprach zu Rabban Gamaliel: Euer Gott ist ein Dieb, denn es heißt: Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief[, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch.] (Gen 2,21). Da sprach seine Tochter zu ihm: Lass ihn, ich will ihm Antwort geben. Sie sagte [zum Kaiser]: Weise mir einen Dux an. Er fragte sie: Wozu hast du ihn nötig? [Sie antwortete:] Räuber haben uns diese Nacht überfallen, sie nahmen uns einen silbernen Pokal fort und ließen uns einen goldenen Pokal zurück. Er sagte zu ihr: Mögen doch solche jeden Tag kommen! [Sie antwortete:] War es etwa Adam nicht lieb, dass man ihm eine Rippe fortgenommen und dafür eine Magd zur Bedienung gegeben hat? Er sagte zu ihr: Es ist wie du sagst, aber er sollte sie ihm öffentlich genommen haben! Sie sagte zu ihm: Holt mir ein Stück rohes Fleisch. Als man es ihr holte, legte sie es unter den Arm, holte es hervor und sprach zu ihm: Iss davon! Er sagte zu ihr: Es ist mir eklig. Sie sagte zu ihm: Bei Adam verhielt es sich ebenso, wenn er [die Rippe] öffentlich genommen hätte, so es wäre ihm eklig gewesen. (bSan 39a)
Wir sehen an diesem Text, wie aus einem einfachen Frage-und-Antwort-Gespräch zwischen Matrona und Rabbi Jose ein Wettstreit auf zwei Ebenen – zwischen Juden und Nichtjuden und zwischen Männern und Frauen – gewor28 Dies., „Matrona and Rabbi Jose“, 29. 29 Ebd., 30.
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den ist. Der Fragesteller ist der römische Kaiser. Und augenscheinlich wendet er sich mit seiner Frage an die prominenteste rabbinische Persönlichkeit in der tannaitischen Welt, einen Gelehrten, der im Babylonischen Talmud oft nasi („Patriarch“) genannt wird: Rabban Gamaliel. Er provoziert ihn: „Euer Gott ist ein Dieb“, sagt er und zitiert aus der Schrift, um seine Behauptung zu beweisen. In der Vorstellungswelt des Babylonischen Talmud kennen Nichtjuden (und nicht nur Nichtjüdinnen) die Schrift und können daraus zitieren. Die Form dieser Frage ist natürlich im Allgemeinen, aber auch unter dem besonderen Aspekt der Genderbeziehungen eine Herausforderung. Um die Frau zu erschaffen, so der Text, wurde der zuerst erschaffene Mann bestohlen. Es ist nur angemessen, dass die Tochter des Rabban die Herausforderung annimmt. Sie ist eine Frau, und deshalb ist es passend, dass sie Gottes Handeln in diesem Bereich verteidigt. Außerdem kann Rabban Gamaliel dadurch, dass er ihr die Antwort überlässt, zeigen, dass sogar eine jüdische Frau einem römischen Kaiser überlegen ist. Sie wird ihm so gründlich antworten, dass keine Fragen mehr offen bleiben. Vor allem aber wird sie das bestehende Machtsystem innerhalb des Judentums verteidigen: Dem Mann wurde eine Rippe weggenommen, um eine Dienstmagd für ihn zu erschaffen. Das ist die Ordnung der Dinge: Die Frauen dienen den Männern. Die Frau selbst sagt, dass es so ist. Genau wie in der Überlieferung von Rabbi Aqivas Frau, wo die Frau selbst sich mit einem Tier verglichen hatte. Frauen im Babylonischen Talmud beziehen sich auf die Schrift, um ihre untergeordnete Position im Judentum zu rechtfertigen. Verglichen mit der Matrona-und-Rabbi-Jose-Tradition sind hier mehrere Dinge geschehen. Erstens ist es hier nicht ein Mann, der einer Frau das Verhältnis zwischen den Geschlechtern erklären muss, sondern umgekehrt. Rabban Gamaliels Tochter kann, was die Rolle der Frau betrifft, sehr viel deutlicher werden als Rabbi Jose. Rabbi Jose macht Matrona (und den Frauen im Allgemeinen) ein Kompliment, wenn er sagt, dass die Rippe Silber, die Frau hingegen Gold sei. Rabban Gamaliels Tochter dagegen sagt, die Frau sei Gold wert, wenn sie dem Mann zu Diensten ist. Und zweitens wird der Frau – um auf das eigentliche Thema des vorliegenden Beitrags zurückzukommen – dadurch, dass der Kaiser die Frage stellt, das Schriftzitat weggenommen. Sie kennt die biblische Geschichte und sie ist klug, aber sie stellt nicht unter Beweis, dass sie den betreffenden Bibelvers wirklich kennt. Damit komme ich zu der letzten der oben aufgezählten Kategorien.
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Überlieferungen, in denen Frauen auf bestimmte biblische Episoden anspielen, mit denen sie demnach offenbar vertraut sind
Bestimmte Episoden aus der Bibel zu kennen ist nicht dasselbe, wie Verse zu zitieren. Eine Frau, die Verse zitiert, kennt den Text im Wortlaut. Wenn eine Frau auf Ereignisse anspielt, die in der Bibel beschrieben werden, könnte dies auf eine andere Art der Bildung hinweisen: Es war üblich, Frauen die Geschichten zu erzählen, die ein Teil ihres kulturellen Erbes waren, doch es war unüblich, sie diese Geschichten in einem akademischen oder halbakademischen Umfeld zu lehren. In der zuletzt zitierten Überlieferung kennt Rabban Gamaliels Tochter die Geschichte von der Erschaffung der Frau. Wir wissen nicht, in welchen Worten ihr diese Geschichte erzählt worden ist oder welche Worte sie benutzen würde, um sie nachzuerzählen, denn der biblische Text wird nicht zitiert, selbst wenn sie womöglich Verse daraus gekannt hat. Ich habe in der rabbinischen Literatur drei weitere Beispiele von Frauen gefunden, die auf biblische Geschichten – allesamt aus dem Buch Genesis – anspielen, ohne einen Vers zu zitieren. Zwei dieser drei Überlieferungen stammen aus Quellen aus Eretz Israel und sind, wie wir es schon bei der Matrona-und-Rabbi-Jose-Überlieferung gesehen haben, vom Babylonischen Talmud mehr oder weniger drastisch verändert worden. Im letzten Fall jedoch handelt es sich, soweit wir das zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen können, um eine babylonische Erfindung, obwohl auch hier von einer Frau aus Eretz Israel die Rede ist. Mein erstes (und zweites) Beispiel stammt aus EkhaR. In einer berühmten Reihe aus sechs Geschichten über Begegnungen zwischen Rabbi Jehoschua und weisen Menschen – nicht nur Männern, sondern auch Frauen und Kindern – aus Jerusalem (auf die wir hier aus Raumgründen nicht näher eingehen können30) schildert die fünfte Geschichte das folgende Gespräch mit einem Mädchen: In der Stadt angekommen, fand er [Rabbi Jehoschua] ein Mädchen, das aus einer Quelle schöpfte. Er sagte zu ihr: Lass mich Wasser trinken. Sie sagte zu ihm: [Recht gern gebe ich] dir und deinem Esel. Als er seinen Durst gestillt hatte, sagte er zu ihr: Meine Tochter! Du hast getan wie Rebekka. Sie sagte zu ihm: Ich habe wohl getan wie Rebekka, du hast aber nicht so gehandelt wie Eliezer. (EkhaR 1,1)
30 Vgl. zu dieser Geschichtenreihe Galit Hasan-Rokem, Web of Life: Folklore and Midrash in Rabbinic Literature (Contraversions: Jews and Other Differences; Stanford: Stanford University Press, 2000), 191–201.
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Die Geschichte, auf die sich das Mädchen bezieht, steht in Gen 24. Abrahams Knecht geht nach Haran, um eine Frau für Isaak zu finden, und trifft am Dorfbrunnen auf Rebekka, die ihn und seine Kamele mit Wasser versorgt. Daraufhin schenkt er sie und nimmt sie mit als Frau für den Sohn seines Herrn. In Gen 24 hat der Knecht keinen Namen, doch der rabbinische Mi drasch identifiziert ihn mit Eliezer, Abrahams Haussklaven aus Gen 15,2 (vgl. v. a. BerR 70 und bTaan 4a). In unserem Midrasch kennt das Mädchen, das Rabbi Jehoschua antwortet, die Geschichte, doch statt direkt aus der Bibel zu zitieren, erzählt sie sie aus rabbinischer Sicht. Sie hat wie die biblische Rebekka gehandelt, doch Rabbi Jehoschua hat sie weder mit Geschenken bezahlt noch einen Mann für sie gefunden, wie es der rabbinische Eliezer für Rebekka getan hatte. Mag sein, dass sie die Verse nicht wortwörtlich kennt, aber sie kennt die rabbinische Nacherzählung der Geschichte. Auch diese Geschichte hat eine Parallele im Babylonischen Talmud. Die Geschichten über Rabbi Jehoschuas Begegnungen mit weisen Frauen und Kindern werden im Babylonischen Talmud auf drei Episoden verkürzt und in bEr 53b erzählt, in textueller Nähe zu einer der Stellen, wo Berurja aus der Schrift zitiert. Man beachte jedoch, was hier aus der Geschichte geworden ist:31 Wie ein Mädchen? Ich war einmal unterwegs, als ich einen Steg sah, der durch ein Feld führte. Ein Mädchen sagte zu mir: Ist das nicht ein Feld? Ich sagte zu ihr: Ist das nicht ein ausgetretener Weg? Sie sagte zu mir: Räuber deinesgleichen haben ihn ausgetreten.
Diese Geschichte ist ganz offensichtlich keine Parallele zu der Quelle aus Eretz Israel. Tatsächlich handelt es sich um eine Parallele zu einer anderen Stelle aus der Erzählungsreihe in EkhaR – nämlich der ersten Erzählung, die folgendermaßen lautet: Eine Begebenheit: Rabbi Jehoschua machte einmal eine Fußreise. Unterwegs traf er auf einem Wege einen Menschen. Er sagte zu ihm: Was machst du? Er sagte zu ihm: Ich gehe auf dem Weg. Er sagte zu ihm: Du hast recht geantwortet, denn du gehst auf einem Weg, den Räuber deinesgleichen ausgetreten haben. (EkhaR 1,1)
Warum hat sich der Babylonische Talmud entschlossen, diese Geschichte nicht einfach über irgendeinen Menschen, sondern über ein Mädchen zu erzählen, und warum hat er dem Mädchen die Geschichte weggenommen, die ihr in EkhaR zugeschrieben wird? Vielleicht hat die Antwort etwas mit 31 Zu dieser Aufzählung von Erzählungen habe ich mich an anderer Stelle geäußert: Ilan, Integrating Women, 185f.
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den Bibelkenntnissen des Mädchens zu tun. In bEr 53b gibt es mehrere kluge Frauen – unser Mädchen, die Frau, der Rabbi Jehoschua begegnet, Rabbis Dienstmagd und Berurja. Doch nur die letztgenannte darf aus der Schrift zitieren. Vielleicht verbirgt sich dahinter eine absichtsvolle literarische Konstruktion: Viele Frauen sind klug, aber nur eine von ihnen hat auch die Tora studiert. Um dieses Ziel zu erreichen, wird dem Mädchen die biblische Textkenntnis weggenommen. Allerdings ist der Babylonische Talmud in dieser Hinsicht nicht konsequent, und so beende ich den vorliegenden Beitrag mit zwei Überlieferungen aus demselben Cluster, in denen Frauen auf biblische Erzählungen aus dem Buch Genesis verweisen. Das Cluster ist ein Teil der langen Sammlung von Erzählungen von der Zerstörung des Tempels im Traktat Gittin. Eine Geschichte ist ebenfalls aus EkhaR übernommen (das ebenfalls ein Cluster aus Erzählungen von der Zerstörung des Tempels enthält), doch die andere findet sich nur im Babylonischen Talmud, obwohl sie sich offensichtlich auf Ereignisse bezieht, die kurz nach und infolge der Zerstörung des Tempels in Jerusalem geschehen sind. Die erste Überlieferung ist die rabbinische Nacherzählung der Geschichte über das Martyrium der Mutter und ihrer sieben Söhne im zweiten Makkabäerbuch.32 In 2 Makk 7 hören wir von einer Frau, deren sieben Söhne während der Verfolgungen unter Antiochus Epiphanes den Märtyrertod erlitten, weil sie sich weigerten, den Götzenbildern zu huldigen. In EkhaR wird die Geschichte in der Zeit der hadrianischen Verfolgungen nach dem Bar KochbaAufstand angesiedelt und sodann im Babylonischen Talmud nacherzählt. Die Mutter aus EkhaR sagt am Ende der Geschichte zu ihrem jüngsten Sohn: Geh, mein Sohn, zu Abraham, deinem Vater, und sage ihm: So sprach meine Mutter: Überhebe dich nicht zu sprechen: Ich habe einen Altar gebaut und meinen Sohn Isaak darauf dargebracht, unsere Mutter hat sieben Altäre gebaut und sieben Söhne an einem Tage darauf dargebracht. Bei dir ist es bei einer Versuchung geblieben, bei mir ist es zur Tat geworden. (EkhaR 1)
2 Makk 7 stellt keinen Vergleich zwischen dem Tod der sieben Söhne dieser Mutter und Abrahams Bereitschaft an, seinen Sohn Isaak zu opfern (Gen 21), doch bevor dieser Abschnitt in EkhaR auf Hebräisch nacherzählt wurde, wurde er in 4 Makk noch einmal aufgegriffen, und dort findet sich interessanterweise ein solcher Vergleich:
32 Über diese Überlieferung ist viel geschrieben worden. Eine neuere Zusammenfassung bietet Jan Willem van Henten, The Maccabean Martyrs as Saviours of the Jewish People: A Study of 2 and 4 Maccabees (JSJ.S 57; Leiden: Brill 1997).
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Tal Ilan Aber nicht so der Jünglinge Mutter, die Abraham an Gesinnung glich. Sie ließ sich nicht durch das Mitgefühl mit den Kindern umstimmen. (4 Makk 14,20)
An dieser Stelle ist die Anspielung auf die Akeda-Geschichte noch implizit, doch im weiteren Verlauf des Buches wird der Bezug sehr viel deutlicher: Seinetwegen wollte unser Vater Abraham seinen Sohn, den Völkervater, in aller Eile schlachten, und Isaak erschrak nicht, als er die schwertbewaffnete Vaterhand auf sich niederzucken sah. (4 Makk 16,20)
Der Verfasser von 4 Makk vergleicht die Mutter der sieben Söhne hier genau wie EkhaR mit Abraham, geht aber nicht so weit zu sagen, dass das Opfer der Mutter weitaus größer gewesen sei als das Opfer Abrahams. Diese Kühnheit besitzt allein der Urheber dieser in EkhaR enthaltenen Überlieferung. Er behauptet, dass die Mutter Abraham in zweifacher Hinsicht überlegen sei: erstens in der Zahl der von ihr gebrachten Opfer und zweitens darin, dass sie ihre Söhne tatsächlich sterben sah. War EkhaR also vom vierten Makkabäerbuch beeinflusst, oder kam der Vergleich den beiden Autoren unabhängig vonei nander in den Sinn? Das werden wir wohl nie wissen – fest steht jedoch, dass nur der Verfasser von EkhaR diesen Vergleich der Mutter in den Mund legt. Sie ist diejenige, die die Akeda-Geschichte kennt und den Vergleich anstellt, bei dem sie ihrer Meinung nach besser dasteht als Abraham. Die Nacherzählung dieser Geschichte im Babylonischen Talmud mildert die Worte der Mutter ab; es heißt dort: Kinder, geht und sagt eurem Vater Abraham: Du hast einen Altar errichtet, ich aber habe sieben Altäre errichtet. Hierauf stieg auch sie aufs Dach, stürzte sich herab und starb. (bGit 57b)
In dieser Version fordert die Mutter Abraham, wie wir sehen können, nicht heraus und treibt den Vergleich nicht zu weit. Auch davon, dass Abraham Isaak de facto gar nicht geopfert hat, ist nicht die Rede.33 Dennoch stellt der Vergleich mit einer biblischen Gestalt eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen ihrer Geschichte und der anderen Geschichte aus dem Jerusalems-Zerstörung-Cluster dar, in der eine andere Frau ihre Vertrautheit mit einer Geschichte aus dem Buch Genesis unter Beweis stellt:
33 Weitere Informationen zu dieser Geschichte bietet Robert Doran, „The Martyr: A Synoptic View of the Mother and Her Seven Sons“, in Ideal Figures in Ancient Judaism: Profiles and Paradigms (hg. v. John J. Collins und George W. E. Nickelsburg; SCS 12; Ann Arbor: Scholars Press, 1980), 189–221.
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Einst gerieten ein Verlobter und seine Verlobte in die Gefangenschaft von Nichtjuden, und diese verheirateten sie miteinander. Da sprach sie zu ihm: Ich bitte dich, mich nicht zu berühren, da ich keine Ketubba von dir habe. Und er berührte sie nicht bis an den Tag seines Tods. Als er starb, sprach sie zu ihnen: Betrauert ihn, denn mehr als Joseph kämpfte er gegen seinen Trieb. Bei Joseph erfolgte es nur an einer Stunde, bei diesem aber jeden Tag; bei Joseph erfolgte es nicht in einem Bett, bei diesem aber in einem Bett; bei Joseph erfolgte es nicht mit seiner eigenen Frau, bei diesem aber mit seiner eigenen Frau. (bGit 57a)
Die Frau in dieser Geschichte bezieht sich auf die versuchte Verführung Josefs durch die Frau des Potifar. Der Vergleich zwischen der sexuellen Standhaftigkeit Josefs und ihres Mannes fällt zugunsten des Letzteren aus, genau wie der Vergleich zwischen der Mutter der sieben Söhne und Abraham in der nächsten Erzählung aus demselben Cluster zugunsten der Mutter ausfällt. Schlussfolgernd scheint mir, dass wir richtig daran tun, bei dem uns zur Verfügung stehenden Material zu unterscheiden, ob es sich um Überlieferungen aus Eretz Israel oder um Überlieferungen aus Babylonien handelt. Von der frühesten tannaitischen Überlieferung, die Frauen komplizierte Bibelverse zitieren lässt, über die Matrona-und-Rabbi-Jose-Überlieferungen, in denen der Gelehrte die Frau in Bibelkunde unterrichtet, bis hin zu dem Mädchen, das den rabbinischen Midrasch über Abrahams Sklaven Eliezer und Rebekka kennt, lässt sich der Fall von Frauen, die in Eretz Israel mit der Schrift vertraut sind und daraus zitieren, wenn er denn überhaupt in Erscheinung tritt, problemlos bewältigen. Was nicht heißen soll, dass dieses Phänomen keine Gegner hatte. Der Yerushalmi erzählt keine Geschichten über Frauen, die aus der Schrift zitieren, bis auf eine, in der die Frage der Frau unbeantwortet bleibt; die eher halakhisch gesinnten Rabbinen des Talmud waren über die herrschende Situation offenbar weniger erfreut. In Babylonien ist die ganze Angelegenheit vollständig literarisiert und hochkomplex. Wir lesen von keiner einzigen identifizierbaren babylonischen Frau, die aus der Schrift zitiert. Sämtliche Frauen, die im Babylonischen Talmud aus der Schrift zitieren, kommen aus Eretz Israel. Und selbst wenn heidnische Königinnen aus der Schrift zitieren, tun sie dies im Gespräch mit Rabbinen aus Eretz Israel. Der Babylonische Talmud ist sehr strukturiert: Nur ganz besondere Frauen – an erster Stelle Berurja – zitieren aus der Schrift. Der Babylonische Talmud lässt sogar lieber Nichtjüdinnen als Jüdinnen aus der Schrift zitieren. Alles, was zählt, sind die literarische Struktur und die Themen, und so kann es geschehen, dass in der einen Erzählung eines literarischen Clusters eine Frau sich selbst mit Abraham und in einer anderen Erzählung desselben literarischen Clusters eine andere Frau ihren Mann mit Josef vergleicht – und beide Vergleiche zuungunsten der biblischen Gestalten ausfallen.
Erneuern oder Lösen? Das Levirat in der Hebräischen Bibel und der rabbinischen Literatur Dvora Weisberg Hebrew Union College – Jewish Institute of Religion, Los Angeles
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der rabbinischen Umgestaltung des biblischen Leviratsgesetzes und legt besonderes Augenmerk darauf, wie sich diese Umgestaltung auf die Leviratswitwen auswirkt. Mein Interesse an der Schwagerehe wurde geweckt, als ich an verschiedenen Bibelstellen, die von der Gefährdung der Familienkontinuität durch den Tod eines kinderlosen Mannes handelten, etwas Überraschendes feststellte: Obwohl diese Bibelstellen das Produkt einer patriarchalen, patrilinealen Kultur sind, scheinen sie anzudeuten, dass es eher die Frauen als die Männer waren, die sich um das Erbe ihres toten Angehörigen und darum sorgten, dass seine Linie nicht ausstarb.1 Dies galt sogar dann, wenn die betreffenden Männer direkt mit dem Verstorbenen verwandt waren, das heißt einen gemeinsamen Vater oder anderen männlichen Vorfahren hatten, während die Frauen nur durch die Ehe mit dem Verstorbenen verbunden waren. Der Fortbestand der Abstammungslinie des Verstorbenen wäre demnach für diejenigen, die dieselbe Abstammungslinie hatten, weniger von Belang gewesen als für diejenigen, die in die Familie eingeheiratet hatten. In den Ausführungen zum Leviratsgesetz räumt Dtn 25 die Möglichkeit ein, dass ein Mann nicht unbedingt erpicht darauf ist, eine Leviratsverbindung mit der Witwe seines Bruders einzugehen. In Gen 38 ist es nicht Juda oder Onan, sondern Tamar, die sich am meisten bemüht zeigt, die Linie ihres ersten Ehemannes Er weiterzuführen. Der namenlose Verwandte in Rut 4 ist gewillt, auf seine Lösepflicht zu verzichten und die Witwe seines Verwandten nicht zur Frau zu nehmen. Nach der Beschäftigung mit diesen Bibeltexten war ich neugierig darauf, ob dieses Problem den Rabbinen bei ihrer Auseinandersetzung mit Schwagerehe und Ḥalitsa bewusst war und, wenn ja, ob sie dieses thematisierten und diskutierten. Außerdem wollte ich wissen, was die Rabbinen über die Leviratswitwe zu sagen hatten, die in der Bibel als die Hauptbefürworterin der Schwagerehe dargestellt wird. 1 Dvora Weisberg, „The Widow of Our Discontent“, JSOT 28 (2004): 403–429; 405f.
Das Levirat in der Hebräischen Bibel und der rabbinischen Literatur
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Meine vorliegenden Forschungen zum Levirat gehen der Frage nach, wie sich die Rabbinen aus dem Land Israel und aus Babylonien in der Zeit zwischen der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. d. Z. und der muslimischen Eroberung des Nahen Ostens im 7. Jh. zu einem kurzen Abschnitt aus der Bibel geäußert haben. Der betreffende Abschnitt, Dtn 25,5–10, beschreibt das Verfahren, im Zuge dessen die Witwe eines kinderlosen Mannes und ihr Schwager, der Bruder ihres verstorbenen Mannes, eine Verbindung eingehen, aus der ein Sohn und Erbe für den Verstorbenen hervorgehen soll. Ich werde zeigen, dass das rabbinische Recht die Praxis des Levirats ( jibbum/)יבום zwar aufrechterhält, das im Buch Deuteronomium festgeschriebene Ziel eines solchen Schwagerehe jedoch völlig auf den Kopf stellt.2 Das hat Folgen für beide Teile der Leviratsverbindung: einen Mann und die Witwe seines Bruders, sowie für die Kinder, die aus ihrer Verbindung hervorgehen, und für den inzwischen verstorbenen Mann der Witwe. In Gesellschaften, die die Schwagerehe praktizieren, dient sie zunächst und vor allem als eine – um mit dem Anthropologen Jack Goody zu sprechen – „Strategie der Kontinuität.“3 Solche Gesellschaften waren tendenziell patrilineal, patrilokal und patriarchal; und sie waren überwiegend bäuerlich.4 In diesen Gesellschaften stellte der Tod eines kinderlosen Mannes ein Dilemma dar: Da der Verstorbene keine Nachkommen (oder genauer: keine Söhne) hinterließ, gab es niemanden, der sein Erbe antreten oder seinen Namen und seine Abstammungslinie weiterführen konnte. Durch das Levirat – ganz gleich, ob es als Ehe oder als eine weniger formelle Verbindung zwischen der Witwe eines Mannes und einem seiner Verwandten väterlicherseits geschlossen wurde – konnte ein anderer Mann posthum Nachkommen für seinen Verwandten zeugen.5 In Gesellschaften, wo die Frauen ihre eigene Familie verließen und in die Sippe ihres Ehemanns aufgenommen wurden, diente das Levirat außerdem der Absicherung einer kinderlosen Witwe. In Gemeinschaften, wo die Familie eines Mannes einen Brautpreis gezahlt hatte, damit er heiraten konnte, erlaubte es das Levirat der Familie überdies, die Witwe an einen anderen Mann innerhalb der Familie weiterzugeben. Auf diese Weise vermied man es, für eine weitere Frau den Brautpreis bezahlen zu müssen. Auf der Grundlage des Gesetzesmaterials in Dtn 25,5–10 dürfen wir annehmen, dass die Schwagerehe im alten Israel demselben Zweck diente wie 2 Dvora Weisberg, „Levirate Marriage and Halitsah in the Mishnah“, The Annual of Rabbinic Judaism 1 (1998): 37–69; 60–68. 3 Jack Goody, The Oriental, the Ancient, and the Primitive: Systems of Marriage and the Family in the Pre-industrial Societies of Eurasia (Studies in Literacy, Family, Culture and the State; Cambridge: Cambridge University Press, 1990), 206f. 4 Dvora Weisberg, Levirate Marriage and the Family in Ancient Judaism (Waltham: Brandeis University Press, 2009), 5–7. 5 Betty Potash, „Widows in Africa: An Introduction“, in Widows in African Societies: Choices and Constraints (hg. v. ders.; Stanford: Stanford University Press, 1986), 1–43; 5–10.
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in vielen anderen Kulturen: einem kinderlos verstorbenen Mann Nachkommen und mithin Kontinuität zu bescheren. Gleichzeitig unterscheidet sich die Schwagerehe, die die Rabbinen beschreiben, von der Institution des Levirats in den meisten anderen Kulturen, in denen dieses praktiziert wird. Ein Hauptunterschied liegt darin, dass das Levirat im rabbinischen Judentum eine Form der Ehe war, während die Witwe und der Verwandte ihres Mannes in den meisten das Levirat praktizierenden Kulturen nicht heiraten, sondern ein informelles sexuelles Verhältnis eingehen, das neben der Ehe des Levir mit einer anderen Frau oder anderen Frauen besteht.6 Die Witwe lebt nicht zwangsläufig mit dem Levir zusammen. Außerdem gebot das rabbinische Gesetz die Schwagerehe nur dann, wenn der Verstorbene keine Nachkommen hinterlassen hatte. Hatte der Verstorbene Nachkommen hinterlassen, verboten die Rabbinen das Levirat sogar dann, wenn die Witwe und ihr Schwager heiraten wollten; eine solche Beziehung hielt man für inzestuös.7 Und schließlich galten die aus einer Leviratsverbindung hervorgegangenen Kinder, anders als in anderen Kulturen, im Judentum als die rechtmäßigen Kinder nicht des Verstorbenen, sondern des Levir. Der Levir – und nicht die Kinder, die er mit der Witwe seines Bruders hat – erbt den Besitz seines verstorbenen Bruders.8 Diese Unterschiede zwischen der Schwagerehe im nachbiblischen Judentum und dem Levirat in anderen Kulturen lassen sich schon in den ältesten rabbinischen Diskussionen über das Levirat nachweisen, wie sie in frühen tannaitischen Midraschim, etwa dem Sifre Devarim sowie in der Mischna und der Tosefta zu finden sind. Die Art und Weise, wie die frühen Rabbinen Dtn 25,5–10 lasen und interpretierten, prägte ein Verständnis der Leviratsehe, das alle späteren rabbinischen Kommentare zu dieser Praxis beeinflussen sollte. Ich zitiere zunächst den biblischen Text: Wenn zwei Brüder zusammenwohnen und der eine von ihnen stirbt und keinen Sohn hat, soll die Frau des Verstorbenen nicht die Frau eines fremden Mannes außerhalb der Familie werden. Ihr Schwager soll sich ihrer annehmen, sie heiraten und die Schwagerehe mit ihr vollziehen. Der erste Sohn, den sie gebiert, soll den Namen des verstorbenen Bruders weiterführen. So soll dessen Name in Israel nicht erlöschen.
Welche Probleme mussten die frühen Rabbinen wohl lösen, um das Levirat an ihr kulturelles Umfeld anzupassen? Welche Textlücken mussten interpretiert und konnten von den Rabbinen genutzt werden, um das Levirat im Einklang mit ihrer Lebenswirklichkeit zu gestalten oder umzugestalten? Diese Fragen 6 Ebd. 7 mYev 4,2; 10,3. Das Paar ist auch dann des Inzests schuldig, wenn sie bei der Heirat nicht gewusst haben, dass die Witwe mit dem Kind ihres verstorbenen Ehemannes schwanger war, und das Kind lebend zur Welt kommt. 8 mYev 4,7.
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fußen auf der Annahme, dass die Rabbinen bemüht waren, ihre Auffassung vom Judentum aus der Tora abzuleiten, und gleichzeitig auf der These, dass alle Exegeten einschließlich der Rabbinen der ersten vier oder fünf Jahrhunderte unserer Zeitrechnung in einer ganz anderen Welt lebten als die Verfasser der Tora. Um in einem neuen Zeitalter nach den Gesetzen und Werten der Tora zu leben, kamen die Rabbinen, ob sie es zugeben wollten oder nicht, nicht umhin, die Tora durch die Brille ihrer jeweiligen Zeit und Verortung zu lesen.
1.
Wann ist das Levirat geboten?
Eine wichtige Frage, mit der sich die Rabbinen befassen, ist die nach den Bedingungen, unter denen das Levirat erforderlich ist. Laut Dtn 25 ist die Schwagerehe dann geboten, wenn ein Mann ohne Sohn ()בן, aber vor seiner Frau und einem Bruder ( )אחstirbt. Dass „Bruder“ und „Frau“ hier im Singular verwendet werden, könnte zu einer strengeren Auslegung Anlass geben, die das Levirat auf Fälle beschränkt, in denen der Verstorbene nur einen Bruder und eine Frau hinterlassen hat. Da jedoch in Gen 38 eine Situation mit zwei überlebenden Brüdern beschrieben wird, ist die These vertretbar, dass das Levirat sich nicht auf Fälle beschränkt, in denen nur noch ein Bruder lebt. Das wirft die Frage auf, wie mit der Verpflichtung umgegangen wird, wenn es mehr als einen überlebenden Bruder gibt. Und im Fall eines Mannes, der mehr als eine Frau hinterlässt, müssten wir fragen, ob der Levir eine bestimmte Frau (etwa die älteste Frau oder die mutmaßlich fruchtbarste Frau usw.) auswählen muss, ob man von ihm erwartet, dass er alle Witwen seines Bruders heiratet, oder ob die Witwen unter den verbleibenden Brüdern des Verstorbenen aufgeteilt werden sollen. Hinzu kommt, dass das Wort אחals „Bruder“ im engeren Sinne, also als männliches Geschwister, oder im weiteren Sinne als Verwandter gelesen werden kann.9 Diese Uneindeutigkeit gab den Gelehrten die Möglichkeit, die Leviratsverpflichtung entweder auf sämtliche Verwandten des Verstorbenen (väterlicherseits) auszuweiten oder auf männliche Geschwister zu beschränken.10 Das Wort בןbedeutet wörtlich „ein Sohn“, was die Interpretation erlaubt, dass die Leviratspflicht auch dann besteht, wenn ein Mann Töchter 9 Weisberg, Levirate Marriage, 99–101. 10 In Kulturen, die das Levirat praktizieren, existieren beide Modelle, vgl. z. B. Betty Potash, Hg., Widows in African Societies: Choices and Constraints (hg. v. ders.; Stanford: Stanford University Press, 1986); Goody, The Oriental, the Ancient, and the Primitive; Ders., Production and Reproduction: A Comparative Study of the Domestic Domain (Cambridge Studies in Social Anthropology 17; Cambridge: Cambridge University Press, 1976).
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hinterlassen hat. Andererseits kann בןaber auch als „ein Kind“ oder „Nachkomme“ verstanden werden und so die Fälle, die die Schwagerehe erforderlich machen, weiter eingrenzen. Diese Fragen werden sowohl im Midrasch Sifre Devarim als auch in der Mischna behandelt. Dabei entscheiden sich die Rabbinen für Lesarten von Dtn 25, die die Situationen, in denen das Levirat geboten oder erlaubt ist, einschränken. Und hat keinen Sohn (( )בןDtn 25,5). Da habe ich nur einen Sohn [erwähnt]. Der Sohnessohn und die Tochter des Sohnes, und der Sohn der Tochter, und die Tochter der Tochter, woher [lässt sich erweisen, dass auch sie gemeint sind]? Die Schrift sagt: Und hat keinen Sohn. [Das ist ganz] allgemein [zu verstehen]. Wenn es so ist, warum heißt es: Und hat keinen Sohn? Ausgenommen derjenige, welcher [einen Sohn] hat von der Sklavin und [von] der Fremden. … Wenn Brüder (zusammen) wohnen (Dtn 25,5). Ausgenommen ist die Frau seines Bruders, der nicht zu seinen Lebzeiten da war. Von da [aus] haben sie gesagt: [Wenn] zwei Brüder [da waren], und einer von ihnen starb, und es wird ihnen [dann noch] ein Bruder geboren, und darnach vollzieht der zweite die Schwagerehe [und stirbt [auch], dann geht die erste frei aus, da [sie] die Frau seines Bruders [ist], der nicht zu seinen Lebzeiten da war, und die zweite als ihre Nebenfrau.] (vgl. auch mYev 2,1) … Zusammen (Dtn 25,5). Ausgenommen seine Brüder mütterlicherseits. Weil wir [aber] gefunden haben, dass es Brüder gibt in der Tora, (und) dass sie bei ihnen den Bruder mütterlicherseits gleichstellt dem Bruder väterlicherseits, ist es vielleicht auch hier [der Fall]? Die Schrift sagt: Zusammen. [Da sind] ausgeschlossen seine Brüder mütterlicherseits. (SifDev 288)
Diese Texte stellen klar, wann das Levirat geboten und wer verpflichtet ist, eine Leviratsverbindung einzugehen. Die von den Rabbinen gewählte Interpretation im Hinblick auf die Bedeutung von בןim Buch Deuteronomium beschränkt die Leviratsehe auf Fälle, in denen ein Mann keine „legitimen“ Nachkommen hinterlässt.11 Wenn der Verstorbene eine Tochter, einen Enkel oder eine Enkelin hinterlässt, ist das Levirat nicht erforderlich (und genaugenommen sogar verboten). Damit verringert sich zum einen die Anzahl der Fälle, in denen das Levirat geboten ist, und verschiebt sich zum anderen der Schwerpunkt weg vom ursprünglichen, in Deuteronomium erklärten Sinn des Levirats. Wenn der Zweck des Levirats darin besteht, die direkte Abstammungslinie vom Vater zum Sohn weiterzuführen, dann kann eine Tochter 11 Das Wort „illegitim“ ist hier nicht auf die Heirat an sich zu beziehen. Das Kind eines jüdischen Mannes und einer nichtjüdischen Mutter – ganz gleich, ob Freie oder Sklavin – wird im Kontext des Levirats nicht als Nachkomme des Mannes betrachtet, weil eine Verbindung zwischen einem Juden und einer Nichtjüdin vor dem Gesetz nicht möglich ist und auf keinen Fall anerkannt wird. Hatte ein Mann allerdings ein Kind mit einer jüdischen Frau, mit der er nicht verheiratet war, die er aber von Rechts wegen hätte heiraten können, dann bestand im Hinblick auf seinen Bruder und seine Witwe keine Leviratspflicht.
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oder können deren Kinder, die in einer patrilinealen Gesellschaft nicht als Teil der Abstammungslinie ihres Vaters betrachtet werden, diesen Zweck nicht erfüllen. Ein Mann, der als Levir in Betracht kommt, muss denselben Vater wie der Verstorbene haben und vor dem Tod seines Bruders geboren sein. Auch wenn die Beschränkung des Levirats auf Geschwister nicht ausdrücklich erwähnt wird, gehen die Mischna und der Midrasch Sifre Devarim wie selbstverständlich davon aus, dass nur die Brüder eines Mannes die Leviratsehe eingehen können; andere männliche Verwandte sind zu nichts dergleichen verpflichtet (folglich wäre jedwede Ehe zwischen einer Witwe und den Verwandten ihres Mannes durch die Inzestgesetze verboten). Hinzu kommt, dass die beiden Brüder zur gleichen Zeit gelebt haben müssen; wenn ein Mann bei seinem Tod weder Kinder noch einen lebenden Bruder hinterlässt, ist seine Witwe nicht per Leviratsgesetz verpflichtet, auf unbestimmte Zeit darauf zu warten, dass ihrem Schwiegervater womöglich weitere Söhne geboren werden.12 Die Rabbinen treffen auch Vorkehrungen für den Fall, dass ein Mann bei seinem Tod mehr als einen Bruder hinterlässt, sowie für den Fall, dass mehrere Brüder nacheinander sterben und nur ein Bruder übrig bleibt, der mithin mehr als eine Leviratsehe schließen müsste. Auch wenn diese Regelungen in ihrer Unwahrscheinlichkeit zuweilen geradezu komisch anmuten, stellen sie Strukturen bereit, die eine ordnungsgemäße Reaktion auf komplizierte Familienverhältnisse gewährleisten. Das Gebot zur Leviratsehe liegt auf dem Ältesten. Will er nicht, wendet man sich an jeden der Brüder. Wollen [auch] sie nicht, kehrt man zum Ältesten zurück und sagt zu ihm: „Auf dir liegt das Gebot, vollziehe entweder die Ḥalitsa oder die Leviratsehe!“ (mYev 4,5) Und einer von ihnen stirbt (Dtn 25,5). Da habe ich nur [den Fall] zur Zeit, da es zwei sind, und einer von ihnen stirbt. Woher [lässt sich erweisen, dass es gilt 12 Auch wenn Noomi in Rut 1, als sie ihre Schwiegertöchter auffordert, sie zu verlassen und sich Ehemänner zu suchen, die Möglichkeit erwähnt, dass die beiden Frauen potentielle Söhne, die Noomi womöglich in Zukunft noch gebären wird, heiraten könnten, muss dies nicht als Hinweis darauf gelesen werden, dass das Levirat sogar von einem Bruder geschlossen wird, der nur dieselbe Mutter hat wie der Verstorbene. Wahrscheinlicher ist, dass Noomi ihren Schwiegertöchtern Rut und Orpa einfach nur sagen will, dass sie, was ihre zukünftigen Ehemänner angeht, nicht auf Noomi setzen sollen. Wie auch immer ihre Worte gemeint sein mögen, jedenfalls wird das Buch Rut bei den Rabbinen nicht als Quelle für das Leviratsrecht angeführt. Ein unter den von Noomi beschriebenen Umständen geborener Bruder käme aus zwei Gründen nicht für eine Leviratsehe in Betracht: Erstens, weil es keinen gemeinsamen Vater gibt, und zweitens, weil die beiden Brüder eine Zeitlang miteinander gelebt haben müssen. Auch Ruts Heirat mit einem entfernteren Verwandten ihres verstorbenen Mannes wird von den Rabbinen nicht als Levirat betrachtet.
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Dvora Weisberg auch für den Fall, dass] es viele sind? Die Schrift sagt: Und es stirbt einer von ihnen. Woher [lässt sich erweisen, dass es auch gilt für den Fall, dass] sie alle sterben? Die Schrift sagt: Und es stirbt einer von ihnen. Wenn es so ist, warum heißt es: Einer von ihnen? Die Frau [nur von] Einem wird zur Schwagerehe genommen, aber nicht die Frau von zweien. Von daher haben sie gesagt: Drei Brüder, die verheiratet sind mit drei nicht verwandten Frauen, und es stirbt einer von ihnen, und es gibt ihr der zweite die Zusage, dann stirbt er, siehe, diese ziehen die Schuhe aus [d. h. vollziehen die Ḥalitsa] und werden nicht zur Schwagerehe genommen. (SifDev 288)
Die Leviratspflicht tritt sowohl dann ein, wenn der Verstorbene einen, als auch dann, wenn er mehrere Brüder hinterlässt. Jeder dieser Brüder kann die Schwagerehe eingehen. Laut mYev ruht die Verantwortung vorrangig auf dem ältesten Bruder; ist dieser aber nicht gewillt, ein anderer Bruder hingegen bereit, seine Schwägerin zu heiraten, kann er das tun. Sifre Devarim und die Mischna lehren uns, dass ein Bruder die Frauen mehrerer Brüder heiraten kann, dass aber die Leviratsverpflichtung erfüllt ist, sobald eine der Witwen eines Mannes ihren Schwager heiratet. Es gibt keinen Hinweis darauf, wer entscheidet, welche der Witwen eines Mannes für eine Leviratsehe ausgewählt wird; vermutlich ist es der Levir selbst, der diese Wahl trifft. Mishna Yevamot 4,9 spricht allerdings Empfehlungen für den Fall aus, dass durch eine strategische Wahl andere Familien- oder Eheentscheidungen aufgehoben würden. Die Schwagerehe ist nicht möglich, wenn die beiden Parteien über ihre Verschwägerung hinaus miteinander verwandt sind; daher sucht die Mischna in Situationen, die durch mehrfache Eheschließungen innerhalb derselben Familie verkompliziert werden, nach Wegen, die Leviratsverpflichtungen aufzuheben, ohne die Beziehungen anderer Familienmitglieder zu beeinträchtigen.13
2.
Ist das Levirat eine Form der Ehe oder eine irreguläre Beziehung?
Die Sprache, die in Dtn 25 verwendet wird, um die Verbindung zwischen dem Levir und seiner verwitweten Schwägerin zu beschreiben, ähnelt der Sprache, die an anderen Stellen des Buchs Deuteronomium zur Beschreibung der Ehe verwendet wird. In Dtn 24,1 heißt es: „( כי יקח איש אשהWenn ein Mann eine Frau nimmt“). In Dtn 25, wo vom Levirat die Rede ist, lesen wir: ולקחה „( לו לאשהund er soll sie [zur Frau] nehmen“). Während in Dtn 24 das Verb 13 Vgl. mYev 3; viele der dort beschriebenen Fälle sind womöglich rein hypothetisch; die Mischna stellt oft komplizierte Situationen vor, die eigens konstruiert worden sind, um die Prinzipien, die hinter den Gesetzen stehen, zu verdeutlichen.
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„( בעלbesitzen“) und in Dtn 25 das Verb „( יבםeine Leviratsverbindung eingehen“), verwendet wird, weist das Primärverb לקחin der Kombination mit אשהdarauf hin, dass eine Leviratsverbindung eine Form der Ehe ist. Wenn
das zutrifft, dann unterschied sich das israelitische Verständnis der Levirats von dem vieler anderer Gesellschaften, in denen das Levirat ein sexuelles Verhältnis zwischen einer Witwe und einem der männlichen Verwandten ihres Mannes war, das nicht den Status einer Ehe hatte. Das rabbinische Recht betrachtete das Levirat als eine Form der Ehe, die sich in zwei Aspekten von anderen Ehen unterschied. Einer dieser Aspekte betraf die Art und Weise, wie die Verbindung angebahnt und formalisiert wurde. Während die rabbinische Ehe mit einem Verlöbnis begann, das rechtliche Folgen hatte, wurde der Bund zwischen einem Levir und der Witwe seines Bruders ohne einen solchen Akt vonseiten des Erstgenannten geschlossen. Sobald ein Mann kinderlos starb, war seine Witwe an den Bruder (oder die Brüder) ihres Mannes „gebunden“, und dieser Bund war ebenso rechtskräftig wie ein Verlöbnis, d. h. die Frau war für andere Männer tabu. Eine Verlobung erfordert die Absicht des Mannes und die Zustimmung der Frau.14 Da es sich beim Levirat nicht um ein Verlöbnis handelt, hat die Witwe keine Möglichkeit, der Ehe mit ihrem Schwager zuzustimmen. Laut mYev 6,1 konnte die Schwagerehe in dem Moment, da der Bund (hebr. )זיקהbestand, dadurch formalisiert werden, dass sie – auch gegen den Willen der Frau – vollzogen wurde. In mYev 4,4 heißt es: „Hat er sie heimgeführt (und damit die Leviratsehe vollzogen), so gilt sie als seine Frau in jeder Beziehung“ – jedoch mit einer Ausnahme: Die Ketubba, die Eheverschreibung, zu der nach rabbinischem Recht jede Frau berechtigt ist, wird durch das Vermögen nicht des Levir, sondern des verstorbenen Mannes gewährleistet. Die Mischna geht nicht näher darauf ein, was damit gemeint ist, dass die Frau in einer Leviratsehe „in jeder Beziehung“ wie jede andere Ehefrau gestellt ist; wir dürfen annehmen, dass sich dies auf die Verantwortlichkeiten und Rechte bezieht, die Ehemännern und Ehefrauen in mKet und andernorts zugewiesen werden.
3.
Wer soll vom Levirat profitieren?
Es gibt mehrere Parteien, die man als Nutznießer einer Leviratsverbindung bezeichnen könnte. Zuerst wäre der Verstorbene zu nennen: ein Mann, der bei seinem Tod keine Nachkommen hinterlassen hat. In einer Gesellschaft, in der die Nachkommen eines Mannes sein Vermögen erbten, seinen Namen trugen, 14 Zur Notwendigkeit der Absicht vgl. bQid 6a. Die Bedingung, dass die Frau in die Verlobung einwilligt, wird in bQid 8b–9a diskutiert.
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seine Abstammungslinie fortsetzten und damit sein Fortleben garantierten, konnte das Sterben eines Mannes, der keine Kinder (oder vielleicht genauer: keine Söhne) hinterließ, als doppelter Tod betrachtet werden. Eine Bindung mit seiner Witwe einzugehen war für den Bruder des Betreffenden oder einen anderen männlichen Verwandten väterlicherseits eine Möglichkeit, sicherzustellen, dass der Verstorbene nicht in Vergessenheit geriet und dass sein Name und Besitz auch in der kommenden Generation Bestand hatte. Ein zweiter möglicher Nutznießer des Levirats war der Mann, der die Witwe des Verstorbenen oder, weiter gefasst, dessen Familie „erbte“. In einer Gesellschaft, die die Männer oder deren Familien zu Sach- oder Geldleistungen an die Familie der Erwählten verpflichtete, konnte der Tod eines kinderlosen Mannes als erheblicher Ressourcenverlust angesehen werden. Kehrte die Witwe zu ihrer ursprünglichen Familie zurück, verlor die Familie ihres Mannes de facto alles, was sie bei deren Einheirat in die Familie investiert hatte. Waren aus der Ehe Kinder hervorgegangen, konnte die Familie des Verstorbenen damit rechnen, dass die Frau und ihre Arbeitskraft ihr nicht verlorenging: Sie würde vermutlich bleiben, um bei ihren Kindern zu sein und für sie zu sorgen. Dadurch, dass sie ihr einen neuen Mann gab, konnte die Familie des Verstorbenen die Frau zum einen halten und sparte sich zum anderen die Mittel, die sie andernfalls hätte aufwenden müssen, um dem betreffenden Familienmitglied eine Frau zu verschaffen.15 Endlich ist auch die Witwe selbst eine potentielle Nutznießerin des Leviratsgesetzes. In einer patrilokalen Gesellschaft muss eine kinderlose Witwe womöglich feststellen, dass sie kein gerngesehener Gast im Haus der Familie ihres verstorbenen Mannes ist. Es kann geschehen, dass man sie in einer Kultur, die den Wert einer Frau großenteils nach ihrer Fruchtbarkeit bemisst, als Fehlinvestition betrachtet. Eine Leviratsehe gibt der Witwe eine zweite Chance, sich in die Familie, in die sie eingeheiratet hat, zu integrieren. Sie sichert ihren Unterhalt und die Möglichkeit, Kinder zu bekommen.16 Die Einrichtung des Levirats – darauf sei in diesem Zusammenhang hingewiesen – fußt unter anderem auf der Annahme, dass der Grund für die Kinderlosigkeit nicht unbedingt bei der Frau zu suchen sein muss. Die Ausdrucksweise in Dtn 25,5–10 und in Gen 38 legt nahe, dass der primäre Zweck des Levirats für die Verfasser der Hebräischen Bibel darin besteht, dem Verstorbenen Nachkommen zu bescheren. Das wird in Dtn 25,6f.9 und in Gen 38,8f. ausdrücklich gesagt. Und implizit wird auch die Verführung Judas durch seine Schwiegertochter Tamar als Schachzug dargestellt, der auf die Zeugung von Nachkommen abzielt. 15 G. Robina Quale, A History of Marriage Systems (Contributions in Family Studies 13; Westport: Greenwood Press, 1988), 75. 16 Zu dem Fall, dass vor allem die Witwe vom Levirat profitiert, siehe Susan Niditch, „The Wronged Woman Righted: An Analysis of Genesis 38“, HTR 72 (1979): 143– 149; 144.
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Wie wirkt es sich auf die Witwe aus, dass dem Anspruch des Verstorbenen Vorrang eingeräumt wird? Ich würde behaupten, dass ihre eigenen Wünsche dadurch grundsätzlich irrelevant werden. Zwar könnte man dies auch über den Bruder des Verstorbenen sagen, doch ist ihm nach deuteronomischem Leviratsverständnis die Möglichkeit vorbehalten, eine Leviratsverbindung abzulehnen. Ihm bleibt die Wahl, auch wenn seine Ablehnung öffentliche Schande nach sich zieht; für seine Schwägerin hingegen besteht diese Option zumindest dem Buch Deuteronomium zufolge nicht. Nach der rabbinischen Deutung des Levirats in der Mischna ist das Levirat eine Reaktion auf den Tod eines kinderlosen Mannes. Tannaitische Traditionen in der Mischna und im Midrasch Sifre Devarim lehren, dass das Levirat nur dann geboten – und de facto auch nur dann erlaubt – ist, wenn ein Mann ohne Nachkommen stirbt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Levirat notwendig wird, verringert sich dadurch, dass Töchter und Enkel als Nachkommen anerkannt werden, die das Levirat überflüssig machen. Damit liegt der Gedanke nahe, dass das Levirat hauptsächlich auf die Zeugung eines Kindes abzielt. Die Rabbinen vertreten die Auffassung, dass der Tod eines kinderlosen Mannes, der mindestens einen lebenden Bruder und eine Witwe hinterlässt, ein Band ( )זיקהzwischen dem Levir und seiner Schwägerin erzeugt. Dieses Band kann nur auf zwei Weisen gelöst werden: Schwagerehe oder Ḥalitsa. Der Levir und die Witwe sind aneinander gebunden, genauer gesagt: sie ist an ihn gebunden ()זקוק לו. Das scheint darauf hinzudeuten, dass die Rabbinen genau wie die Tora den Anspruch des Verstorbenen gegenüber seinen lebenden Verwandten höherstellen als die Belange des Levir oder der Witwe. Und doch kann man sagen, dass das rabbinische Leviratsverständnis diesen Anspruch untergräbt. Das biblische Leviratsgesetz stützt sich auf die Annahme, dass ein Mann einen Sohn braucht, der seinen Namen und Besitz erbt. Rabbinische Konstrukte des Levirats verweigern dem Verstorbenen diesen Sohn, indem sie die Vaterschaft der in einer Leviratsverbindung geborenen Kinder dem neuen Partner ihrer Mutter zusprechen. Damit verringert das rabbinische Levirat den „Wert“ des Levirats für den Verstorbenen. Das wirft die Frage auf: Dient das Levirat jetzt nicht mehr den Interessen des Verstorbenen, sondern denen des Levir und/oder der Witwe?
4.
Der Levir und die Witwe: Anreiz und Handlungsspielraum
Die Tora geht nicht davon aus, dass Männer unbedingt erpicht darauf sind, für ihre toten Brüder Kinder zu zeugen. Dtn 25 behandelt den hypothetischen Fall eines Bruders, der sich weigert, seine verwitwete Schwester zu heiraten,
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obwohl diese Weigerung öffentliche Demütigung und ein bleibendes Zeichen der Schande nach sich zieht: Sein Haus wird das „Barfüßerhaus“, genannt werden (Dtn 25,10). Onan, dem bewusst war, dass die Nachkommen, die er mit Tamar haben würde, „nicht ihm gehören würden“, vermied es, die Witwe seines Bruders zu schwängern. Diese Hinweise darauf, dass die zum Vollzug des Levirats verpflichteten Männer diesem nicht immer etwas abgewinnen können, sind möglicherweise der Grund dafür, dass die Mischna die Attraktivität des Levirats für die Brüder des Verstorbenen erhöht und ihnen gleichzeitig das Recht belässt, es gegebenenfalls auch abzulehnen. Dadurch, dass sie den Besitz des Verstorbenen dem Levir oder allen Brüdern zuspricht, wenn keiner von ihnen bereit ist, die Witwe zu heiraten, macht die Mischna das Levirat für die Männer finanziell interessant und gibt den Brüdern zugleich die Möglichkeit, das Vermögen des Verstorbenen auch dann zu erben, wenn sie sich dafür entscheiden, ihre Schwägerin zu entlassen. Die Kinder, die aus einer Leviratsverbindung hervorgehen, werden nicht als die Kinder des Verstorbenen, sondern als die Kinder des Levir betrachtet. Männer, deren Bruder kinderlos verstorben ist, haben also verschiedene Optionen. Die Brüder können übereinkommen, dass einer von ihnen die Witwe heiraten wird. Wenn ein Mann mehrere Frauen hinterlässt, kann der Levir entscheiden, welche von ihnen er heiraten will. Ein Bruder kann sich für die Ḥalitsa entscheiden und dennoch seinen Anteil am Erbe des Verstorbenen erhalten. Zudem geht das Leben der Männer, ganz gleich, welche Option sie wählen, nach dem Tod eines Bruders ohne Konsequenz oder Unterbrechung weiter. Wenn sie verheiratet sind, werden ihre Ehen durch das Leviratsband, das zwischen ihnen und ihrer verwitweten Schwägerin entsteht, nicht beeinträchtigt. Wenn die Witwe eine enge Beziehung zu der Frau eines der Brüder hat, wird der betreffende Bruder zugunsten eines anderen Bruders von der Leviratspflicht befreit oder kann die Ḥalitsa vollziehen. Obwohl es durchaus wirtschaftliche Anreize gibt, eine Entscheidung zu treffen oder das Levirat der Ḥalitsa vorzuziehen, muss ein Mann keine Geldstrafe zahlen, wenn er sich der Leviratspflicht entzieht. Die Leviratswitwe ihrerseits sitzt, solange ihr Schwager seine Optionen abwägt, zwischen allen Stühlen. Wie Judith Romney Wegner gezeigt hat, gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen der Autonomie einer Witwe, deren Mann Kinder hinterlässt, und der Situation einer Leviratswitwe.17 Eine „normale“ Witwe kann nach drei Monaten wieder heiraten18 und sich ihren neuen Ehemann aussuchen. Solange sie unverheiratet bleibt, hat sie ein Recht auf Unterhalt aus dem Vermögen ihres Ehemannes, und wenn sie das Haus ihres verstorbenen Mannes verlassen und wieder heiraten will, darf sie ihren 17 Judith R. Wegner, Chattel or Person? The Status of Women in the Mishnah (New York: Oxford University Press, 1988), 16f. 18 mYev 4,10.
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Ehevertrag ( )כתובהmitnehmen.19 Sie kann wieder selbst über das Vermögen verfügen, das sie mit in die Ehe gebracht hat, und Eigentum erwerben, verkaufen oder beleihen.20 Die Leviratswitwe hat im Gegensatz dazu praktisch keine Kontrolle über ihre eheliche und wirtschaftliche Situation. Sie kann erst wieder heiraten, wenn ihr Schwager beschließt, sie zu heiraten oder sie durch Ḥalitsa zu entlassen. Auch wenn es ihr im letztgenannten Fall freisteht, außerhalb der Familie ihres Mannes zu heiraten, kann sie nicht in eine Priesterfamilie einheiraten: Ihr Status entspricht dem einer Geschiedenen.21 Sie kann ihren Ehevertrag nicht mitnehmen. Ihr Eigentum unterliegt der Verfügungsgewalt ihres Schwagers,22 wohingegen eine Witwe die vollständige Kontrolle über ihr Eigentum besitzt. Hinzu kommt, dass die Mischna den Frauen geringen oder gar keinen Handlungsspielraum gewährt, was die Wahl zwischen Leviratsehe und Ḥalitsa betrifft. Die Entscheidung darüber, welcher der Brüder des Verstorbenen und/oder welche seiner Witwen eine Leviratsverbindung eingehen sollen, wird allein von Männern getroffen: den Brüdern des Verstorbenen (und den Rabbinen). Das Recht, sich zu weigern, ist allein dem Bruder oder den Brüdern des Verstorbenen vorbehalten. Wenn eine Witwe das Levirat, ihr Schwager aber die Ḥalitsa bevorzugt, ist es seine Präferenz, die berücksichtigt wird. Und schließlich ist anders als bei der üblichen Verlobung bei der Leviratsehe keine Zustimmung vonseiten der Frau erforderlich. Es findet kein Verlöbnis statt, weil die Witwe durch den Tod ihres Ehemannes automatisch an ihren Schwager gebunden ist. Außerdem konnte die Leviratsehe, wie weiter oben bereits erwähnt, auch gegen den Willen der Frau durch Geschlechtsverkehr formalisiert werden; es konnte also geschehen, dass der Akt, durch den ein Mann seine Schwägerin formell ehelichte, eine Vergewaltigung war. Vordergründig betrachtet scheinen die rabbinischen Leviratsgesetze den Fokus der Schwagerehe dahingehend zu verschieben, dass diese nicht in erster Linie dem Verstorbenen, sondern dessen Bruder oder dessen Brüdern zugutekommt. Als Strategie, die ursprünglich sicherstellen sollte, dass einem Mann auch nach seinem Tod noch Nachkommen geboren werden konnten, ist die Einrichtung damit obsolet geworden, und man könnte den Eindruck gewinnen, dass das rabbinische Levirat praktisch gar keinen Zweck mehr erfüllt. Es führt zu einer neuen Ehe und zu der Möglichkeit, Kinder zu bekommen. In diesem Sinne könnten wir das rabbinische Levirat als einen Versuch interpretieren, eine Familie, die durch den Tod auseinandergebrochen ist, zu reparieren. Die Familie, die aus Mann und Frau besteht, kann durch die Verbindung zwischen der Witwe und dem Bruder ihres Ehemannes wiederhergestellt werden. Die Witwe bleibt Teil der Familie ihres ersten Mannes und 19 20 21 22
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kann noch immer Kinder gebären, die im weiteren Sinne seine Nachkommen sein werden. Und ihr Schwager erhält eine Frau und den Besitz seines Bruders. Doch anders als im biblischen Leviratsverständnis, wo die Verbindung zwischen der Witwe und ihrem Schwager von wesentlicher Bedeutung war, ist die Leviratsverbindung so, wie die Rabbinen sie interpretieren, unnötig. Das biblische Levirat ist die einzige Option, die es dem Verstorbenen ermöglicht, in seinen Nachkommen fortzuleben. Das rabbinische Levirat dagegen ist, selbst wenn daraus Kinder hervorgehen, nicht geeignet, dem Verstorbenen einen Erben zu verschaffen. Überdies gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Rabbinen die Schwagerehe als die einzige oder auch nur die beste Option für kinderlose Witwen ansahen. Der nachdrückliche Hinweis auf das Recht des Levir, sich anstelle des Levirats auch für die Ḥalitsa zu entscheiden, und die Tatsache, dass er bei dieser Entscheidung augenscheinlich nicht unter Druck gesetzt wurde, lassen vermuten, dass die Rabbinen sich entweder nicht für die Zukunft einer kinderlosen Witwe interessierten oder der Meinung waren, dass eine solche Frau andere Optionen hatte. Die Tora erzählt von Frauen, die das Levirat nicht um ihrer selbst willen, sondern ihrem verstorbenen Mann zuliebe befürworteten. Im Buch Deuteronomium vertritt die Witwe das Interesse ihres verstorbenen Mannes, als sie dem widerstrebenden Levir nicht etwa vorwirft, dass er sie zurückweist, sondern dass er sich seiner Verantwortung gegenüber seinem Bruder entzieht. Unabhängig davon, ob die Möglichkeit, ihren Schwager zu heiraten, auch in ihrem eigenen Interesse oder eine verlockende Aussicht war, konzentriert sich die Witwe auf seine Pflicht, den Namen des Verstorbenen vor dem Vergessen zu bewahren. Das wirft folgende Frage auf: Besteht – da ja das rabbinische Levirat den in Deuteronomium formulierten Zweck nicht mehr erfüllt – aufseiten der Rabbinen irgendeine Bereitschaft, nicht nur den Männern, sondern auch den Frauen eine Alternative zur Schwagerehe zu eröffnen?
5.
Die Antwort des Babylonischen Talmud an die widerstrebende Witwe
Ich habe in meiner Arbeit die These vertreten, dass der Babylonische Talmud keine deutliche Präferenz für die Leviratsehe oder die Ḥalitsa erkennen lässt. Wie in der Mischna wird auch im Talmud jede der beiden Praktiken als gleichermaßen wirkungsvolle Möglichkeit betrachtet, den Leviratsbund zu lösen. Dennoch gibt es natürlich Gelehrte, die die eine oder die andere Lösung bevorzugen. Weshalb einige Rabbinen der Schwagerehe den Vorzug geben, ist nicht schwierig zu verstehen: Schließlich wird sie von der Tora vorgeschrieben. In Dtn 25 wird die Ḥalitsa-Praxis schwerlich empfohlen; sie ist ein Zu-
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geständnis an Männer mit mangelndem Familiensinn und Pflichtgefühl, und die Art der Zeremonie weist darauf hin, dass ein Mann Schmach auf sich lädt, wenn er sich weigert, die Leviratsehe einzugehen. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist also nicht, weshalb einige Gelehrte der Leviratsehe, sondern weshalb einige andere der Ḥalitsa den Vorzug geben. Einige der Rabbinen, die die Ḥalitsa als die bessere Option darstellen, sorgen sich um die Beweggründe, die einen Levir zur Schwagerehe veranlassen. Abba Saul sagte: Einer, der seine Schwägerin wegen ihrer Schönheit, wegen des Geschlechtverkehrs oder aus einem anderem Grunde nimmt, es ist als ob er mit einer ihm verbotenen Frau Geschlechtverkehr hätte und mir scheint es sogar, dass das Kind[, das aus einer solchen Beziehung hervorgeht,] ein Mamser ist. (bYev 109a)
An einer anderen Stelle, in bYev 93b–94a, wird nach der Motivation sowohl des Levir als auch der Leviratswitwe gefragt. Diese Fragen werden im Kontext einer Diskussion darüber aufgeworfen, durch wessen Zeugnis eine Frau für eine Wiederheirat freigestellt werden kann. In Anbetracht der Tatsache, dass die Mischna einer Frau die Wiederheirat auf der Grundlage der Aussage eines einzigen Zeugen erlaubt, fragt der Babylonische Talmud, ob eine Frau auch auf der Grundlage der Aussage eines einzigen Zeugen eine Schwagerehe eingehen kann. Die Diskussion räumt ein, dass eine Frau schon vor dem Tod ihres Ehemannes ein gutes oder schlechtes Verhältnis zu ihrem Schwager gehabt und dass dieses Verhältnis sich auf die Umsicht ausgewirkt haben könnte, mit der sie die Berichte über den Tod ihres Mannes oder Schwagers geprüft hat. Auch eine verheiratete Frau kann ihren Schwager bewundern und die Vorstellung, ihn zu heiraten, verlockend finden. Sollte man sich also Sorgen machen, dass ihre Gefühle für diesen Mann womöglich die Gründlichkeit beeinträchtigen, mit der sie sich über den Tod ihres Mannes vergewissert, ehe sie wieder heiratet? Vorstellbar ist auch, dass der Umgang mit ihrem Schwager Verachtung hervorgebracht hat und dass eine Frau Berichten über seinen Tod nur zu gerne Glauben schenkt, um die Leviratsehe mit ihm nicht in Betracht ziehen zu müssen. An einer späteren Stelle der Sugia befassen sich die Gelehrten mit der Möglichkeit, dass ein Mann oder eine Frau sogar vor Gericht lügen würden, um eine Leviratsehe oder die Ehe mit einem anderen angeheirateten Verwandten eingehen zu können oder nicht eingehen zu müssen. Für die Gelehrten steht fest, dass die Zuneigung zu einem angeheirateten Verwandten sogar stärker sein kann als die Gefühle für den Ehepartner oder das Geschwister. Eine andere Sugia, bYev 106a–b, die sich mit der Gültigkeit einer unter falschen Voraussetzungen vollzogenen Ḥalitsa befasst, legt nahe, dass den Rabbinen durchaus bewusst war, dass Männer, die eine Schwagerehe eingingen, zuweilen aus unangemessenen Beweggründen handelten. Außerdem
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zeigt die Sugia, dass die Rabbinen in solchen Fällen geneigt waren, den Männern das Recht auf den Vollzug der Leviratsehe nötigenfalls auch mit trickreichen Kunstgriffen zu verweigern. Die Rabbanan lehrten: Die irrtümliche Ḥalitsa ist gültig. Welche heißt eine irrtümliche Ḥalitsa? Resch Laqisch erwiderte: Wenn man zu ihm gesagt hat: Vollziehe an ihr die Ḥalitsa, dadurch heiratest du sie [in einem solchen Fall ist die Ḥalitsa gültig, obwohl der Levir die Witwe nun nicht mehr heiraten darf]. Rabbi Jochanan sprach zu ihm: Ich habe eine Lehre, wenn er es [den Vollzug der Ḥalitsa] beabsichtigt hat und nicht sie, oder sie es [den Vollzug der Ḥalitsa] beabsichtigt hat und nicht er, sei die Ḥalitsa ungültig, nur wenn beide es [den Vollzug der Ḥalitsa] beabsichtigt haben [sei die Ḥalitsa gültig], und du sagst, die Ḥalitsa sei gültig!? Vielmehr [ist dies der Fall], wenn man zu ihm gesagt hat: Vollziehe an ihr die Ḥalitsa unter der Bedingung, dass sie dir zweihundert Zuz gebe [in einem solchen Fall, ist die Ḥalitsa auch dann gültig, wenn sie ihm das Geld nicht gibt]. […] Einst ereignete es sich mit einer Frau, die einem für sie unwürdigen Schwager zufiel, dass man zu ihm sagte: Vollziehe an ihr die Ḥalitsa unter der Bedingung, dass sie dir zweihundert Zuz gebe. Als die Sache vor Rabbi Chijja kam, erklärte er sie [die Ḥalitsa] für gültig. Einst kam ein Mann vor Rabbi Chijja bar Abba [wegen der Leviratsehe]. [Rabbi Chijja bar Abba] sprach zu ihr [zur Witwe]: Meine Tochter, steh auf. Da sprach sie zu ihm: Sag: Ihr Sitzen ist ihr Aufstehen. Da fragte er sie: Weißt du etwas über ihn [was die Angelegenheit betrifft]? Sie erwiderte: Jawohl, er sieht das Geld und will es verzehren. Hierauf fragte er sie: Willst du ihn nicht? Sie erwiderte: Nein. Da sprach er [zum Schwager]: Vollziehe an ihr die Ḥalitsa, dadurch heiratest du sie. Nachdem dieser an ihr die Ḥalitsa vollzogen hatte, sprach [Rabbi Chijja bar Abba] zu ihm: Jetzt ist sie für dich ungeeignet; vollziehe nun an ihr eine gültige Ḥalitsa, damit sie Fremden erlaubt werde. Eine Tochter des Schwiegervaters Rabbi Papas fiel einem für sie unwürdigen Schwager zu, und als er vor Abaje kam, sagte dieser zu ihm: Vollziehe an ihr die Ḥalitsa, dadurch heiratest du sie. Jener sprach zu ihm [zu Abaje]: Hält denn der Meister nichts von der Lehre Rabbi Jochanans? – Was denn soll ich ihm sagen? Jener erwiderte: [Sage ihm,] er solle an ihr die Ḥalitsa vollziehen unter der Bedingung, dass sie ihm zweihundert Zuz gebe. Nachdem er an ihr die Ḥalitsa vollzogen hatte, sagte er [Abaje] zu ihr, dass sie sie [die zweihundert Zuz] ihm gebe. Da sprach jener: Sie hat ihn angeführt [und ist nicht verpflichtet, ihn zu bezahlen]. (bYev 106a–b)
Diese Sugia beginnt mit einer theoretischen Diskussion über eine unter falschen Voraussetzungen vollzogene Ḥalitsa. Wir erfahren, dass die Ḥalitsa auch dann gültig ist, wenn sie unter der Bedingung vollzogen wird, dass die Frau den Levir bezahlt und die Zahlung dann nicht erfolgt. Es steht außer Frage, dass die Zahlung eine Bestechung ist; der Levir würde die Schwagerehe vorziehen, doch die Frau will ihn nicht heiraten. Die Gelehrten sind
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bereit, bei einer List mitzuwirken: Der Levir willigt in die Ḥalitsa ein, weil er denkt, dass er seine Schwägerin anschließend wird heiraten können. Auch wenn dieses Manöver letztlich aus technischen Gründen abgelehnt wird, ist die Entscheidung doch in einem Tonfall gehalten, der deutlich macht, dass die Gelehrten keinerlei ethische Probleme damit haben. Anschließend erwähnt die Sugia mehrere Fälle, in denen die Gelehrten eine List anwandten, um eine Frau aus einer ungewollten Schwagerehe zu befreien. Im ersten und dritten Fall berichtet der Babylonische Talmud, dass der Levir „unwürdig“ gewesen sei. Er gibt jedoch keinen Hinweis darauf, was genau damit gemeint ist; vielleicht passte das Paar aus Gründen des Alters oder des Temperaments nicht zusammen, oder vielleicht hatte der Levir einen üblen Charakter. Im zweiten Fall erfahren wir, dass der Levir die Ehe aus finanziellen Gründen eingehen will; entweder ist die Witwe begütert oder der Verstorbene hat ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Ein Levir wendet sich an Rabbi Chijja bar Abba, doch als dieser die Witwe herbeizitiert, sträubt sie sich. Sie sagt: „Ihr Sitzen ist ihr Aufstehen“, und fordert ihn damit auf, ihr Widerstreben, vor den Richter zu treten, als Hinweis darauf zu deuten, was sie von der vorgeschlagenen Ehe hält. Als Rabbi Chijja bar Abba fragt, ob die Witwe irgendetwas über den Levir, also vermutlich über seine Beweggründe wisse, antwortet sie, der Levir wolle schlichtweg ihr Geld und sie habe nicht den Wunsch, ihn zu heiraten. Rabbi Chijja bar Abba fordert den Levir auf, die Ḥalitsa zu vollziehen und die Witwe anschließend zu heiraten. Nach der Ḥalitsa informiert der Rabbi den Levir darüber, dass die Witwe seines Bruders nun tabu für ihn ist, und der Levir vollzieht eine zweite Ḥalitsa, „damit sie Fremden erlaubt werde“. Diese Diskussionen und die beschriebenen Fälle weisen darauf hin, dass es tatsächlich Männer gab, die die Leviratsehe in Betracht zogen, weil sie die Frau ihres Bruders oder dessen Vermögen begehrten. Es ist nicht ganz klar, ob die Rabbinen diese Männer dazu veranlassten, die Ḥalitsa zu vollziehen, weil sie ihre Motive missbilligten oder weil sich die betreffenden Frauen unter diesen Umständen gegen eine Ehe sträubten. Rabbi Chiijja bar Abba fragt die Witwe: „Willst du ihn nicht?“, obwohl er bereits weiß, dass der betreffende Levir aus Habgier handelt. Erst nachdem die Witwe ihren Unwillen bekundet hat, ihn zu heiraten, bringt er den Levir mit einem Trick dazu, die Ḥalitsa zu vollziehen. Das deutet darauf hin, dass es nicht die Beweggründe des Levir, sondern die Einwände der Frau sind, die Rabbi Chijja zu diesem in der Sugia beschriebenen Schritt veranlassen. Dieselbe Sugia wirft Fragen nach der Gültigkeit einer „erzwungene[n] Ḥalitsa“ auf. Ohne die Einwilligung des Levir ist die Ḥalitsa ungültig, doch seine Einwilligung könnte ihm auch durch Einschüchterungen oder Drohungen abgerungen worden sein – „man nötige ihn, bis er sagt, er wolle es.“ Diese Diskussion legt den Schluss nahe, dass die Rabbinen gewillt waren, Männer auch gegen ihren Willen zur Ḥalitsa zu zwingen, weil ihre Beweggründe für eine Schwagerehe für die Rabbinen inakzeptabel waren oder weil die
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betroffenen Frauen keine Leviratsverbindung eingehen wollten. Diese Sugia beweist, dass die Rabbinen Verständnis für die Sorgen hatten, die Frauen hinsichtlich der Schwagerehe hegten.
6.
Schluss
Meines Erachtens ist das Levirat so, wie es in der Tora beschrieben wird, ein Mittel, das Nachleben eines kinderlos verstorbenen Mannes zu gewährleisten. Im Buch Deuteronomium wird die Witwe als Fürsprecherin des Verstorbenen dargestellt, die ihren Schwager drängt, seinen Verpflichtungen nachzukommen; sollte sie auch selbst ein Interesse an der Schwagerehe haben, wird dies jedenfalls nicht ausdrücklich erwähnt. Die Gelehrten der Mischna verlagern den Schwerpunkt der Vaterschafts- und Erbregelung dahingehend, dass für den Bruder des Verstorbenen Anreize geschaffen werden, seine verwitwete Schwägerin zu heiraten. Mit diesen wachsenden Anreizen verringert sich die Notwendigkeit oder Motivation, die Schwagerehe für Frauen attraktiv zu machen oder sich vorzustellen, dass sie das Levirat um des Verstorbenen willen befürworten. So, wie es in der Mischna beschrieben wird, kann das Levirat den Frauen auch mit Gewalt auferlegt werden. In einer weiteren Schwerpunktverlagerung bringt der Babylonische Talmud zumindest teilweise gewisse Bedenken gegenüber der Leviratsehe zum Ausdruck, die insbesondere die Beweggründe einer oder beider Parteien betreffen. Dies führt zu der Bereitschaft, zur Ḥalitsa zu ermutigen, wenn eine Leviratsehe nicht die beste Lösung zu sein scheint – und zwar auch dann, wenn die Frau der widerstrebende Partner ist.
„Mit ihrem Willen und ohne ihren Willen“ (mYev 14,1): Scheidung in der rabbinischen Literatur Olga I. Ruiz-Morell Universidad de Granada
1.
Einleitung
„Die Frau wird entlassen mit ihrem Willen und ohne ihren Willen.“ (mYev 14,1) Diese Worte stammen von Männern. Es sind keine Worte des Tadels oder eines verhüllten Vorwurfs etwa in Reaktion auf weibliche Ansprüche, im Gegenteil: Es handelt sich um eine prägnante, emotionslose Aussage in einem präskriptiv-deskriptiven Diskurs. Die Gesetzestexte aus dem klassischen rabbinischen Judentum sind von Natur aus männliche Texte: von Männern für Männer geschrieben. Dieser begrenzte, männliche und akademische Kreis bestimmt nicht nur den Diskurs, sondern auch Zielrichtung und Blickwinkel der betreffenden Inhalte.1 Deshalb werden die Regeln rund um die Scheidung aus einer männlichen Perspektive dargestellt. Der ganze Prozess ist aus der Sicht der Männer gedacht, und auch die Betrachtungsweise des Verfahrens ist männlich. Frauen sind nicht das Subjekt, sondern das Objekt einer Scheidung.2 1 2
Siehe Judith R. Baskin, Midrashic Women: Formations of the Feminine in Rabbinic Literature (Brandeis Series on Jewish Women; Hannover: Brandeis University Press, 2002), 16–18. Dies ist jedoch zumindest in Texten aus den ersten Jahrhunderten des klassischen Judentums nicht unbedingt ein Spiegel der Realität. Rabbinische Quellen geben in der Regel wieder, was die Weisen der betreffenden Zeit innerhalb des „richtigen“ Rechtssystems für „angemessen“ halten. Es geht folglich nicht so sehr um die tatsächliche, sondern eher um die erwünschte Praxis; nicht so sehr um eine Darstellung der Wirklichkeit als um einen Plan, der umgesetzt werden soll. Zu der diesbezüglichen Debatte empfehle ich Tal Ilan, „On a newly published divorce bill from the Judaean Desert“, HTR 89 (1996): 195–202; Adiel Schremer, „Divorce in Papyrus Se’elim 13 Once Again: A Replay to Tal Ilan“, HTR 91 (1998): 193–202; Tal Ilan, „The Provocative Approach Once Again: A Response to Adiel Schremer“, HTR 91 (1998): 203–204; David Instone-Brewer, „Jewish Women Divorcing their Husbands in Early Judaism: The Background to Papyrus Se’elim 13“, HTR 92 (1999): 347–357; und Tal Ilan, Integrating Women into Second Temple History (TSAJ 76; Tübingen: Mohr Siebeck, 1999), 253–262.
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So wie ihn die rabbinischen Gesetze darstellen, ist der Scheidungsprozess ein recht einfaches Verfahren. Erforderlich sind lediglich der Wunsch des Mannes, die Abfassung und Aushändigung eines Dokuments und dessen Entgegennahme durch die Frau. Auf diese sehr einfache Weise wird eine Ehe beendet. Ob der Mann die im Ehevertrag festgesetzte Summe bezahlen kann, ist eine ganz andere Frage und stellt, wie weiter unten noch erörtert werden wird, für einen Mann, der seine Frau aus der Ehe entlassen will, womöglich das einzige Hindernis dar.3 Die Einfachheit des Verfahrens mag weitgehend der Einfachheit des betreffenden Bibeltexts geschuldet sein, auch wenn die Kürze, mit der ein Sachverhalt in der Bibel dargestellt war, die Gelehrten meist nicht davon abhielt, komplexe Gedankengebäude zu konstruieren, in denen sie das betreffende Gesetz in langen, komplizierten Traktaten auseinanderpflückten und die verschiedensten Begleitumstände in Betracht zogen. Im diesem Fall geht es jedoch vor allem um das Dokument, das die Scheidung rechtskräftig macht und dem rabbinischen Traktat seinen Namen gibt, und weniger um die Umstände, die eine Scheidung oder ihre Folgen rechtfertigen.
2.
Scheidung in der Bibel
Für die Schließung einer Ehe hält der biblische Text keine gesetzlichen Bestimmungen bereit, doch für eine Trennung gibt es klare Regeln. Neben verschiedenen, über die gesamte Bibel verstreuten Hinweisen4 findet sich die eigentliche Regelung der Scheidung im Buch Deuteronomium. Dort heißt es: Wenn ein Mann eine Frau geheiratet hat und ihr Ehemann geworden ist, sie ihm dann aber nicht gefällt, weil er an ihr etwas Anstößiges entdeckt, wenn er ihr dann eine Scheidungsurkunde ausstellt, sie ihr übergibt und sie aus seinem Haus fortschickt, sie sein Haus verlässt, die Frau eines anderen Mannes wird, wenn dann der zweite Mann sie nicht mehr liebt, ihr eine Scheidungsurkunde ausstellt, sie ihr übergibt und sie aus seinem Haus fortschickt oder wenn der andere Mann, der sie geheiratet hat, stirbt, dann darf sie ihr erster Mann, der sie fortgeschickt 3
Siehe Aurora Salvatierra Ossorio und Olga I. Ruiz Morell, La mujer en el Talmud: antología de textos rabínicos (Barcelona: Riopiedras, 2005), 81–98. 4 Zu erwähnen wären hier vor allem einige rechtliche Hinweise wie in Ex 21,11; Lev 21,7 und Dtn 22,13, oder allegorische Prophetenworte über die Beziehungskrise zwischen Gott und seinem Volk wie in Jes 50,1 und Jer 3,8. In den biblischen Erzählungen sind die Anspielungen entweder spärlich – in Bezug auf Abraham und Hagar (Gen 21,14) oder auf unmögliche Eheschließungen mit ausländischen Frauen (Esra 10,9) – oder verhüllt (oder sogar fragwürdig, insofern sie von dem im Deuteronomium aufgestellten Gesetz abweichen) wie die Geschichten von Samson (Ri 15,2) und von König David (1 Sam 25,43).
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hat, nicht wieder heiraten, sodass sie wieder seine Frau würde, nachdem sie für ihn unberührbar geworden ist. Das wäre dem Herrn ein Gräuel. Du sollst das Land, das der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt, nicht der Sünde verfallen lassen. (Dtn 24,1–4).
Der Text ist kurz und bündig und die Wortwahl knapp. Trotz des wichtigen Inhalts wird keine Silbe zu viel auf die Beschreibung eines einfachen Verfahrens verwendet, die die Rollen sowohl der aktiven als auch der passiven Beteiligten perfekt skizziert. Der Mann führt das Verfahren durch und gibt der Frau das Recht, von einem anderen Mann zur Frau genommen zu werden. Angesichts dieser Einfachheit überrascht jedoch, dass zwei Drittel des Abschnitts einem sehr speziellen Aspekt des Gesetzes gewidmet sind: den Umständen nämlich, die einen Mann daran hindern, eine Frau zurückzunehmen, die, nachdem er sie entlassen hatte, einen anderen Mann geheiratet hat und von diesem geschieden worden ist. Hierin kommen Vorstellungen zum Ausdruck, die einige sehr wichtige Rückschlüsse auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen zulassen. Es gibt ein zentrales Prinzip: Ein Mann kann eine Frau, von der er sich zuvor geschieden hat, nicht wieder zur Frau nehmen, wenn sie in der Zwischenzeit von einem anderen Mann zur Frau genommen worden ist. Es ist kein Problem, eine Frau, die man aus der Ehe entlassen hat, wieder zur Frau zu nehmen, doch wenn in der Zwischenzeit ein anderer Mann im Spiel war, stößt die Versöhnung auf ein unverrückbares Hindernis. Was schlicht und einfach eine Regel sein könnte, um einer übereilten Scheidung vorzubeugen, ist in Wirklichkeit eine Warnung, die besagt, dass man eine Frau, die man an einen anderen Mann verliert, für immer verloren hat.5 Dies ist nicht bloß gesetzwidrig, sondern ein Gräuel, der die Frau mit einem beschmutzten Besitz gleichsetzt. Die verwendete Terminologie weist darauf hin, dass hier weniger ein öffentliches Gesetz umrissen als vielmehr eine gesellschaftliche Handlung in einer bestimmten Situation geschildert wird. Der Diskurs ist vollkommen deֽ ) ִׁש ְּל ָחּה ִמ ֵּבund gibt skriptiv. Der Mann „entlässt sie aus seinem Haus“ (ֹיתו ihr einen „Trennungsschreiben“ mit (יתת ֻ ) ֵס ֶפר ְּכ ִר. Die Wurzel גרש – der übliche Fachbegriff für Scheidung – kommt in dem zitierten Abschnitt nirgends vor, obwohl er an anderen Stellen des biblischen Texts durchaus Verwendung findet: Der Begriff גרושה, „Geschiedene“, erscheint fünfmal in der Bibel,6 und zwar jedes Mal in Bezug auf Frauen, die nicht von Priestern geehelicht 5 Dies ist im Großen und Ganzen auch der Hintergrund einer verbotenen Ehefrau in einer Stadt, die von einer fremden Armee erobert worden ist. Mangels objektiver Beweise wird entschieden, dass der bloße Verdacht ausschlaggebend ist. Eine Unschuldsvermutung ist in Anbetracht der verheerenden Folgen für die Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau nicht vorgesehen. Man denke an den Kummer des Rabbi Sacharja ben Hakatsab, als dieser gedrängt wird, sich nach der Eroberung Jerusalems durch die Heiden von seiner Frau zu trennen (bKet 27b). 6 Lev 21,7.14; 22,13; Num 30,10; Ez 44,22.
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werden können. Überdies bringt das Verb גרשin der Bibel eine Nuance zum Ausdruck, die sich eher auf einen schmachvollen Rausschmiss als darauf bezieht, dass man jemanden aus seinem Haus entlässt. So „vertrieb“ ()וַ יְ ָג ֶ�֖ר ׁש Gott Adam aus dem Garten Eden (Gen 3,24), und in der Geschichte der Vertreibung Hagars und Ismaels (Gen 21,9–14) verlangt Sara von Abraham, Hagar fortzujagen ()גרש, während der eher skeptische Abraham sie einige Verse später einfach wegschickt ()יְ ַׁש ְּל ֶח ָה. Diese Wurzel גרשmit ihrer negativen Nuance also kommt im Wortlaut des Gesetzes nicht vor. Das Dokument, das die Trennung rechtskräftig macht, ist noch kein גט oder „Scheidebrief“, sondern ein als ספר כריתותbezeichnetes Schreiben, das hier zweimal und außerdem bei Jesaja und Jeremia erwähnt wird.7
3.
Scheidung in der rabbinischen Literatur
Auch in der rabbinischen Literatur scheint das Verfahren noch immer ein privater Akt zu sein, wenngleich hier weitere relevante rechtliche Konsequenzen und Umstände in Betracht gezogen werden, die die Intervention von Zeugen und/oder Gerichten erforderlich machen. Weil der Gesetzestext überarbeitet, vervollständigt und aktualisiert werden musste, entstand auf der Grundlage des kurzen Bibeltexts ein umfangreicher Kommentar in einem eigenen Traktat über Scheidungsurkunden, Gittin. Die rabbinische Auslegung dieses Gesetzes beschreibt ein Verfahren, bei dem gewisse Elemente und Umstände darauf hinweisen, dass sich eine weiter gefasste und reflektiertere Verwendung von Begriffen des Bibeltextes durchgesetzt hat. Gemessen an der Einfachheit des biblischen Diskurses ist, angefangen bei der Begrifflichkeit, eine Entwicklung zu verzeichnen, die darauf abzielt, diejenigen Elemente und Umstände, die den Gelehrten der fortschreibenden Erarbeitung würdig schienen – etwa die Autorität und der Handlungsrahmen jeder der am Prozess beteiligten Personen sowie die Gründe, die für eine Trennung sprechen.8 Sie legen ein mögliches gesetzliches Prozedere fest, das der Scheidung eine in der Bibel nicht erwähnte Öffentlichkeit verleiht, 7 8
S. o., Anm. 4. Scheidung ist keine Ausnahme. Die in der Ordnung Nashim zusammengefasste Revision der Ehegesetze ist ein beachtliches Unterfangen innerhalb der halakhischen Arbeit der Weisen des klassischen Judentums. Nicht nur die Scheidung, sondern auch das heilige Versprechen der Eheleute, bei dem die Frau geweiht wird (Qiddushin), die Eheverträge, die die Situation des Paares regeln (Ketubbot), sowie andere biblische Gesetze wie die Schwagerehe (Yevamot) und die Feststellung der Schuld oder Unschuld einer des Ehebruchs verdächtigen Frau (Sota) waren für das rabbinische Judentum von allergrößtem Interesse.
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und machen dieses Prozedere anhand eines Dokuments überprüfbar, das eine exekutive Geltung und Bezeichnung erhält: get.
3.1
Die Scheidung aus Sicht der Gelehrten
Ehe wir uns näher mit der rabbinischen Auslegung dieses Gesetzes befassen, empfiehlt es sich, kurz über die Ethik der Rabbinen in Fragen der Eheauflösung nachzudenken. Die Rabbinen erlaubten die Scheidung, auch wenn sie sie nicht unbedingt guthießen. Viele Aussagen und Meinungen wenden sich gegen die Auflösung einer Ehe. Ich zitiere zwei Abschnitte aus dem Talmud, die diese negative Haltung gegenüber der Scheidung oder zumindest gegenüber einer missbräuchlichen Scheidung veranschaulichen. Die erste Stelle stammt aus bGit 90b: Rabbi Jehuda erklärte: Wenn du sie hasst, so verstoße sie. Rabbi Jochanan erklärte: Verhasst ist der Verstoßende. Sie streiten aber nicht; einer spricht von der ersten Frau und einer spricht von der anderen Frau. Rabbi Eleazar sagte nämlich: Wenn jemand sich von seiner ersten Frau scheiden lässt, so vergießt sogar der Altar Tränen über ihn, denn es heißt: Außerdem tut ihr noch dies: Ihr bedeckt den Altar des Herrn mit Tränen, mit Weinen und Klagen, weil er sich eurem Opfer nicht mehr zuwendet und es nicht mehr gnädig annimmt aus eurer Hand. Und wenn ihr fragt: Warum?: Weil der Herr Zeuge war zwischen dir und der Frau deiner Jugend, an der du treulos handelst, obwohl sie deine Gefährtin ist, die Frau, mit der du einen Bund geschlossen hast. (Mal 2,13f.)
In bGit 90b wird die Sache der ersten Frau vertreten, die eine Gefährtin war und den Verrat des Verlassenwerdens erleiden musste. Bemerkenswert an dieser Passage ist vor allem, dass die Rabbinen versuchen, sich in die Frau hineinzuversetzen und ihrem Kummer eine Stimme zu geben. Während sie jedoch die Worte des Propheten Maleachi zum Anlass nehmen, um über die Tugenden einer Frau aus der Jugendzeit des Mannes zu phantasieren, verschwenden sie keinen Gedanken an die Scheidung von einer in reiferem Alter geehelichten Frau. Der zweite Abschnitt, der in dieser Hinsicht von Interesse ist, stammt aus bPes 113b: Vier verträgt der Verstand nicht, und zwar: den hochmütigen Armen, den unterschlagenden Reichen, den buhlerischen Greis und den grundlos über die Gemeinde sich erhebenden Verwalter. Manche sagen, auch den, der sich einmal und zweimal von seiner Frau scheiden ließ und sie wieder heiratet. – Und der erste Tanna!? – Zuweilen kommt es vor, dass ihre Morgengabe sehr groß ist, oder daß er von ihr Kinder hat, sodaß es bei der Scheidung nicht bleiben kann.
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In bPes 113b werden diejenigen verurteilt, die eine Scheidung auf die leichte Schulter nehmen. Der Text ist deshalb bemerkenswert, weil er im Unterschied zu anderen Texten eventuelle Kinder erwähnt. Sie werden aus moralischen Erwägungen heraus in den Blick genommen. In keinem anderen Gesetzestext werden die Folgen einer Scheidung für die Kinder erwogen; dennoch scheint es in diesem Abschnitt wesentlich und allgemein anerkannt zu sein, dass die Scheidung überdacht werden muss, wenn Minderjährige in der Familie sind. Die mangelnde Sensibilität des Gesetzes tritt zurück und gibt der Empathie Raum, die aus dem moralischen Nachdenken erwächst. Wieder einmal konstruieren rabbinische Normen eine theoretische Revision des biblischen Gesetzes angesichts ihrer eigenen Realität, die sich in ihrem Gesetz nicht immer widerspiegelt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gelehrten die Scheidung nicht unterstützen, sie aber mit verhaltenem Wohlwollen betrachten und in einigen Fällen sogar für ratsam halten. Auf dieser Grundlage revidieren sie das männliches Regelwerk der Scheidung.
3.2
Terminologie
Erwartungsgemäß weisen die im rechtlichen Kontext verwendeten Begriffe, was ihren Inhalt und ihre Bedeutungen betrifft, wichtige Konnotationen auf. Die Rolle der am Prozess beteiligten Personen sowie die Art der durchgeführten Handlungen findet in der Sprache, die die Gelehrten in ihren Texten gebrauchen, ihren sowohl semantischen wie grammatischen Niederschlag.
3.2.1 Das semantische Feld Die Terminologie, die auf die Scheidung angewendet wird, entspricht der, die bei der Verehelichung des Paares zum Einsatz kommt. Dem Verb )נסה) נשא („heiraten“), steht „( גרשscheiden“), und dem Verb „( כנסhineinbringen“) „( יצאhinausgehen“) gegenüber. Wie die Dichotomie von Ehe und Scheidung konnotieren beide Wortpaare den öffentlichen bzw. den privaten Aspekt der Paarbeziehung. Wie oben bereits erwähnt, ist גרשin der Bibel negativ konnotiert (z. B. Gen 3,24; 21,10; Ex 2,17; 6,1; 23,30 usw.). Bei dieser Wurzel schwingt die Verachtung mit, die zu einer (als Akt der Strafe oder der Ablehnung verstandenen) Verstoßung führt. Im rabbinischen Hebräisch hat sich גרשals der übliche Terminus für die Trennung eines verheirateten Paares etabliert. Die implizit negative Bedeutung der Verstoßung ist verlorengegangen und der Begriff wird gänzlich emotionslos verwendet. So wie נשאdie formelle Eheschließung bezeichnet, steht sein Gegenteil für das Ende eines solchen Bundes.
Scheidung in der rabbinischen Literatur
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Demgegenüber bezieht sich die Bedeutung der Begriffe כנסund יצאauf den privaten, häuslichen Bereich. Wenn der Mann die Frau in den ehelichen Haushalt „hineinbringt“, akzeptiert er sie als seine Frau; wenn sie „hinausgeht“, bringt er sie hinaus, entlässt sie und schickt sie fort. Diese Begriffe beziehen sich auf den Anfang und das Ende des ehelichen Zusammenlebens, das durch das Betreten und das Verlassen des Hauses (oder der Chuppa, des Hochzeitsbaldachins, der das Zuhause oder das Ehebett symbolisiert) versinnbildlicht wird. Die Privatsphäre des Paares wird somit versprachlicht. Das Haus gehört dem Mann: Wenn er die Frau hineinbringt, wird die Ehe rechtskräftig und dieser Ort ist fortan ihr Zuhause; wenn er die persönliche Beziehung jedoch beendet, muss sie diesen Ort wieder verlassen.
3.2.2 Die grammatische Konnotation Die im Titel des vorliegenden Beitrags zitierte Aussage untermauert ihre Argumentation mithilfe der Verbformen. Sie beginnt wie folgt: דֹומה ָה ִאיׁש ֶ ֵאינֹו ַה ְמגָ ֵרׁש ְל ִא ָּׁשה ַה ִּמ ְתּגָ ֶר ֶׁשת, „Der Mann, der scheiden lässt, entspricht nicht einer Frau, die geschieden wird“ (mYev 14,1). Da der Mann derjenige ist, der scheiden kann, indem er die Handlung ausführt, wird für ihn ein aktives Verb verwendet (qal, pi‘el, hif‘il). Die Frau hingegen kann dieses Recht niemals ausüben, dementsprechend erscheinen die aktiven Verben nie in der weiblichen Form. Das hitpa’el, ִּמ ְתּגָ ֶר ֶׁשת, im vorliegenden Text bringt weniger eine reflexive Handlung als vielmehr die Situation oder den Status der Frau zum Ausdruck. In Bezug auf eine geschiedene Frau wird das Passivpartizip qal gebraucht, גרושה, „Geschiedene“, oder die Variante des Partizips der Passivform von pu‘al, מגורשת. Der zweite Begriff stellt den gerade erst erworbenen Status der Frau und, genauer noch, den Moment fest, da die Scheidung rechtskräftig wird, und sollte daher mit „wird geschieden“ übersetzt werden. Dieser Terminus bestätigt die Gültigkeit des Scheidungsakts. Insbesondere mittels der Verbformen liefert der Diskurs der Gelehrten Informationen über die aktive Rolle von Männern im Gegensatz zur passiven Rolle von Frauen in der Ehegesetzgebung im Allgemeinen und bei der Scheidung im Besonderen.
3.3
Die Scheidungsgründe
In der Bibel werden die Gründe für eine Scheidung nicht näher erörtert. Die Anschuldigungen, die ein Mann vorbringen kann, um sich von seiner Frau zu scheiden, werden nicht im Einzelnen benannt, weswegen die rabbinische Literatur eine Debatte eröffnen kann. Der Disput zwischen der Hillel- und
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der Schammai-Schule ist hinreichend bekannt,9 und bekannt ist auch der eher inklusive Ansatz von Rabbi Akiba. Alles hängt davon ab, wie man die Formulierungen „( ֶע ְרוַ ת ָּד ָברetwas Schändliches“) und „( שנאהsie gefällt ihm nicht“), interpretiert, die im biblischen Text vorkommen, wobei erstere in der rabbinischen Literatur größere Beachtung findet. Für die Schule Hillels steht dabar, „etwas“, im Zentrum der Aussage, was zu einer Aufweichung der Scheidungsgründe führt, während die Schule Schammais sich auf den Begriff ervat, „schändlich“ fokussiert und mithin ein tadelnswertes Verhalten vonseiten der Frau zur Bedingung macht. Die Schule Schammais sagt: Ein Mann soll seine Frau nicht scheiden, es sei denn, er hat etwas Schändliches an ihr gefunden, wie es heißt: wenn er etwas Schändliches an ihr gefunden hat. (Dtn 24,1) Und die Schule Hillels sagt: Sogar, wenn sie das Essen hat anbrennen lassen [darf er sie scheiden], wie es heißt: wenn er etwas an ihr gefunden hat (Dtn 24,1). Rabbi Akiba sagt: Sogar, wenn er eine andere schöner als sie gefunden hat [darf er sie scheiden], wie es heißt: und wenn sie ihm nicht gefällt (Dtn 24,1). (mGit 9,10) Es wird gelehrt: Die Schule Hillels sprach zu der Schule Schammais: Es heißt ja etwas!? Die Schule Schammais erwiderte: Es heißt ja Schändliches!? Die Schule Hillels entgegnete: Wenn es nur Schändliches und nicht etwas hieße, so könnte man glauben, sie müsse nur wegen einer Schändlichkeit fort, nicht aber wegen eines etwas; daher heißt es auch etwas. Und würde es nur etwas und nicht Schändliches geheißen haben, so könnte man glauben, wenn wegen eines etwas, dürfe ein anderer sie heiraten, wenn aber wegen einer Schändlichkeit, dürfe ein anderer sie nicht heiraten, daher heißt es Schändliches. (bGit 90a)
Wohlgemerkt ist auch nach all diesen Begründungen und Erörterungen immer noch der Mann derjenige, der den Scheidungsgrund vorbringt. Die Frau ist die verantwortliche Partei, die in ihrem Mann den Scheidungswunsch weckt, indem sie entweder Ehebruch begeht,10 es bei der Hausarbeit an Sorgfalt fehlen lässt oder in den Augen ihres Mannes einfach nicht mehr attraktiv ist. Jedenfalls hat die Schule Hillels bekanntlich den Sieg über die Schule Schammais davongetragen, und als schließlich auch Akiba seine Meinung äußert, ist endgültig klar, dass der Trennungsgrund nicht allzu streng gehandhabt werden muss. Tatsächlich ist es nicht einmal erforderlich, auf dem Dokument, das den Akt rechtskräftig macht, überhaupt einen Grund anzugeben. Die Gelehrten vertrauen voll und ganz auf die Klugheit und den Anstand des Ehemannes und sind davon überzeugt, dass er sich nicht leichtfertig von 9 Siehe Ilan, „The Provocative Approach“, 50–52; Dies., Integrating Women, 43–81. 10 Diese Schlussfolgerung stützt sich auf eine manipulative Auslegung des Wortes ervah (wörtl. „Nacktheit“), das als Hinweis auf eine sexuelle Verfehlung gedeutet wird; siehe Dies., Jewish Women in Greco-Roman Palestine (TSAJ 44; Tübingen: Mohr Siebeck, 1995; 22006), 142f., und Dies., Integrating Women, 50–52.
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seiner Frau trennen und dass es immer „etwas“ geben wird, das die Trennung legitimiert. Damit ist die Schlussfolgerung klar: Gemäß der Sichtweise, die dem rabbinischen Recht zugrunde liegt, sind keine besonderen Umstände erforderlich, um eine Scheidung zu verlangen; es genügt der Wunsch des Ehemannes, der als voll entscheidungsfähig gilt. Und doch gibt es gewisse Einschränkungen, die allerdings auf einer eher weltlichen als moralischen Ebene angesiedelt sind: Finanzen.11 Die Ketubba, der Vertrag, der die Bedingungen für die Ehe festschreibt was man mitbringt und was man herausbekommt, scheint eigens zu dem Zweck entworfen, die Verbreitung der Scheidungen zu verhindern. Zwar gibt das System dem Ehemann freie Hand, seine Frau nach Belieben zu entlassen – und doch ist es einem problematischen Aspekt der Scheidung gegenüber nicht blind. Die Rabbinen machen sich für die Ehe stark, wie der folgende Abschnitt aus der Tosefta belegt: Früher, als ihr Ehevertrag [d. h. das für die Zahlung desselben auf Seite gelegte Eigentum] in den Händen ihres Vaters war, war es aus seiner Sicht [d. h. des Ehemannes] eine leichte Sache, sie hinauszubringen. Simeon ben Schetach ordnete daher an, dass ihr Ehevertag [d. h. das Eigentum zu dessen Deckung] bei ihrem Ehemann sein und er für sie schreiben sollte: Alles Eigentum, das ich habe, ist verpfändet und verpflichtet für die Zahlung deines Ehe-Vertrags. (tKet 12,1)
Dieser Text legt den Gedanken nahe, dass die Verpflichtung, ein gewisses Quantum an Geld oder Gütern zu zahlen, ausreichte, um die Scheidungsabsichten eines Mannes zu konterkarieren: Es handelt sich um ein Hindernis, das darauf abzielte, die Zahl der Männer, die die Ehe beenden, möglichst niedrig zu halten. Diese finanzielle Zwangslage wird durch die Geschichte von Rabbi Jose ha-Galili und seiner „unerträglichen“ Frau veranschaulicht: Rabbi Jose […] hatte eine böse Frau, sie war die Tochter seiner Schwester und sie verachtete ihren Mann in Gegenwart seiner Schüler. Da sprachen dieselben zu ihm: Scheide dich doch von dieser Boshaften, sie macht dir keine Ehre. Er antwortete: Sie hat mir aber eine große Mitgift zugebracht und diese kann ich ihr nicht wieder zurückgeben. Einmal saß Rabbi Jose mit Rabbi Eleazar ben Asarja zusammen und sie wiederholten das Gehörte. Als sie geendigt hatten, sprach Rabbi Jose zu Rabbi Eleazar: Höre nicht mehr auf meine Vorträge, wir wollen nach Hause gehen, um zu essen. Rabbi Eleazar war damit einverstanden. Als Rabbi Jose nach Hause kam, senkte die Frau ihr Gesicht zur Erde nieder [aus Missmut] und ging hinaus. Rabbi Jose sah in den Topf und fragte sie: Ist etwas in dem Topfe zu essen? Ja, gab sie zur Antwort, es sind Gemüse darin. Als er in den Topf hineinschaute, fand er, dass gemästete Hühner darin waren. Nun verstand Rabbi Eleazar, was er gehört hatte. Sie setzten sich hierauf nieder und aßen. Da 11 Siehe Günter Stemberger, „Los derechos de las mujeres en el mundo rabínico“, MEAH.H 54 (2005): 43–53; 50.
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Olga I. Ruiz-Morell sprach Rabbi Eleazar zu Rabbi Jose: Sagte nicht deine Frau, im Topfe wären Gemüse, es sind ja Hühner darin? Rabbi Jose erwiderte: Ja, das ist ein Wunder. Als sie die Mahlzeit beendet hatten, sprach Rabbi Eleazar zu Rabbi Jose: Schicke doch die Frau fort, denn sie macht dir keine Ehre. Rabbi Jose sprach: Sie hat mir aber eine große Mitgift zugebracht und ich habe nichts, wovon ich sie ihr zurückgeben könnte, wenn ich sie fortschicke. Rabbi Eleazar entgegnete: Wir (Schüler) wollen ihr die Mitgift geben, damit sie von dir gehe. Sie brachten die Mitgift zusammen und Rabbi Jose entließ die Frau. Hierauf führten ihm die Schüler eine bessere Frau zu. (BerR 17,3)
Trotz seiner eigentlichen Absicht – nämlich darüber zu klagen, dass eine große Ketubba eine Scheidung erschwert – macht dieser Text deutlich, dass ein solcher Ehevertrag die Frauen insofern beschützt und absichert, als er ihnen ein Argument an die Hand gibt, mit dem sie sich gegen die uneingeschränkte Autorität ihrer Ehemänner in Scheidungsangelegenheiten zur Wehr setzen können.
3.4
Das rechtliche Prozedere
Weder im biblischen Präzedenztext noch in den rabbinischen Kommentaren scheint von einem formellen Scheidungsgesuch oder gerichtlichen Scheidungsprozess die Rede zu sein. Offenbar war die Scheidung, wie oben schon erwähnt, eher ein privater als ein öffentlicher, eher ein häuslicher als ein gesellschaftlicher Akt. Der Mann fasst den Entschluss und führt die Maßnahme durch. Angesichts dieser Einfachheit scheint es verfehlt, von einem rechtlichen Prozess oder Verfahren zu sprechen. Komplex sind allenfalls die Bestimmungen im Hinblick auf die Zeugen, die bei der Abfassung, Verlesung und Überreichung der Scheidungsurkunde anwesend sein müssen. Jede weitere Intervention geht mit einer Revision der Befugnis des Ehemanns, der Ehefrau oder sogar des in den betreffenden Fall involvierten Gerichts einher.
3.4.1 Die Befugnis des Ehemannes Wie die Bibel erklärt und die Gelehrten des klassischen Judentums im Traktat Gittin und den ergänzenden Texten immer wieder bestätigen, liegt die Handlungsgewalt beim Ehemann. Der Mann, der scheiden lässt, entspricht nicht einer Frau, die geschieden wird, denn die Frau wird entlassen mit ihrem Willen und ohne ihren Willen, der Mann aber entlässt nur mit seinem Willen. (mYev 14,1)
Scheidung in der rabbinischen Literatur
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Die Frau hat an der Entscheidung keinen Anteil. Sie kann mit der Scheidung übereinstimmen oder nicht, aber sie hat, wenn es nach den halakhischen Texten geht, in keinem Fall Entscheidungsbefugnis. Die zitierte Textstelle steht im größeren Kontext der Befugnisse von Ehemännern und Ehefrauen. So wird für den Fall, dass ein Mann nach der Eheschließung sein Hörvermögen verliert, festgelegt, dass er seine Frau nicht entlassen kann. Taubheit galt als Einschränkung der Verstehensfähigkeit, das heißt, es war nicht mehr gewährleistet, dass der Betreffende sich seiner Taten bewusst war. Die physische Verfassung der Frau hingegen, die diese Autorität ohnehin nie hat, ist für ihren Status irrelevant. Ob sie taub ist oder nicht, ändert nichts an der Situation. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, die einseitige Entscheidungsbefugnis des Mannes zu revidieren. In bestimmten Fällen wird die Autorität des Mannes durch das Eingreifen eines Gerichts eingeschränkt. Gelegentlich wird auch die Frau gehört. Einige Urkundenfragmente weisen sogar darauf hin, dass Frauen – ehe sich die rabbinische Orthodoxie etablierte12 – bei ehelichen Verfahren einschließlich Scheidungen ein aktiveres Mitspracherecht hatten.13 Doch auch wenn diese Interventionen von außen einen Ehemann im günstigsten Fall dazu gebracht haben mögen, auf die eine oder andere Weise zu handeln, dürfen wir davon ausgehen, dass nach wie vor er derjenige war, dem die Rechtsempfehlung der Gelehrten die letzte Entscheidungsgewalt und Befugnis zusprach.
3.4.2 Die Befugnis des Gerichts Die Vorschriften, die das Gericht, seine Autorität und die Umstände betreffen, unter denen seine Entscheidungen zur Anwendung kommen, sind nicht klar. In manchen Verfahren, die die Gelehrten als eine Art Schiedsgericht betrachteten, konnten die Gerichte anscheinend intervenieren oder zumindest versuchten sie dies. Die Mischna enthält in dieser Hinsicht eine klare und präzise Bestimmung: Dies sind solche, die man zwingt [ihre Frauen] zu verlassen: die mit Geschwüren Bedeckten, einen, der einen Polyp hat, einen Kotsammler, einen Kupferschmelzer und einen Gerber, einerlei, ob sie das waren, bevor sie heirateten, oder nachdem sie geheiratet hatten, dies lernten. Und über all diese sagt Rabbi Meir: Obwohl er das als Bedingung mit ihr ausgemacht hat, kann sie sagen: „Ich glaubte, dass ich es aushalten kann, aber jetzt kann ich es nicht aushalten.“ Die 12 Zunächst theoretisch mit der Abfassung der Mischna gegen Ende des 2. Jh. und dann, in der ausgehenden Spätantike, mit der faktischen Machtübernahme durch die Gelehrten im Zuge der rabbinischen „Revolution“. 13 S. o., Anm. 2.
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Gelehrten sagen: Sie muss es gezwungenermaßen aushalten mit Ausnahme des mit Geschwüren bedeckten, weil das zur Abzehrung führt. (mKet 7,10)
So klar umgrenzt diese Ausnahmen auch sind, öffnen sie dennoch eine Tür, die in der biblischen Überlieferung offenbar nicht existierte: Es gibt die Möglichkeit einer nicht vom Ehemann gewünschten Scheidung und eines diesbezüglichen gerichtlichen Einschreitens. Die vorliegende Halakha stellt zweierlei klar: dass eine Scheidung nicht immer auf den Wunsch des betreffenden Ehemannes erfolgen, sondern in bestimmten Fällen auch von einem Gericht erzwungen werden kann, und dass sogar in diesen Fällen der Mann derjenige ist, der die Scheidung durchführt. Der Ausnahmefall, der in dem Text aus mKet Erwähnung findet, betrifft einen Ehemann, der an einer Krankheit leidet oder einem Beruf nachgeht, der seine körperliche Verfassung oder Erscheinung in einem für seine Frau kaum mehr erträglichen Maß beeinträchtigt. Die Tatsache, dass dieses mögliche Missfallen (besser gesagt: die Abscheu) der Frau gegenüber ihrem Mann überhaupt in Betracht gezogen wird, ist überraschend oder zumindest auffallend, weil Gesetzestexte im Allgemeinen und die rabbinische Literatur im Besonderen sich nicht mit Gefühlen und Emotionen befassen.14 Empathie hat in Regelwerken nichts verloren. Dennoch ist diese Entscheidung bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar, weil sich dahinter zwei wesentliche Umstände abzeichnen, die es zu berücksichtigen gilt: die Notwendigkeit sexueller Beziehungen innerhalb der Ehe zum Zweck der Fortpflanzung und die Angst vor sich häufenden Unreinheiten. Intime Beziehungen, die für einen der beiden Partner schwer zu ertragen sind, weil der intime Kontakt unzumutbar ist, erfordern die Einschätzung und Beteiligung eines Gerichts als eines unparteiischen Dritten. Darüber hinaus ist die Unreinheit im Falle einer Krankheit, die – von der vorhersehbaren und sozusagen natürlichen Unreinheit der Samenflüssigkeit einmal abgesehen – Flüssigkeiten absondert, oder eines Berufs (wie dem des Gerbers), der den tagtäglichen Umgang mit Tierexkrementen und ähnlichen Substanzen mit sich bringt, eine Last, die die Normalisierung der betreffenden Beziehung erschwert. Die Erklärung der Gelehrten deutet allerdings darauf hin, dass ihnen in erster Linie die Gesundheit des Mannes am Herzen liegt, dem die Anstrengung des Geschlechtsverkehrs das Leben kosten könnte. Deshalb empfehlen sie, die Fälle, in denen das Gericht einschreitet, auf den „des mit Geschwüren Bedeckten“ zu begrenzen. So oder so legt der Text nahe, dass, auch wenn der Scheidungswunsch ursprünglich nicht vom Mann ausgeht, dieser die Weisung des Gerichts akzeptieren und die Scheidung vornehmen sollte. Er ist und bleibt derjenige, der 14 Siehe Natalie C. Polzer, „‚I thought I could endure him but now I cannot‘: Gendered Sensory Landscapes in MKetubot 7.7–10 and Parallels“, Women in Judaism: A Multidisciplinary e-Journal 12/2 (2015), online: https://wjudaism.library.utoronto. ca/index.php/wjudaism/article/view/26330 [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]
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die Maßnahme durchführt. Vor diesem Hintergrund muss man die Verbindlichkeit des Ausdrucks „die, die man zwingt {ihre Frauen} zu verlassen“, relativieren: Hier wird eher moralischer Druck ausgeübt, als eine rechtliche Verpflichtung formuliert. Zwar lässt sich dies – da der Ausdruck in der Mischna oder andernorts in der rabbinischen Literatur kein zweites Mal vorkommt – strenggenommen nicht belegen, doch wenn man bedenkt, dass der gesamte übrige Diskurs der Gelehrten den Ehemann mit der alleinigen Exekutive ausstattet, scheint jede andere Interpretation ausgeschlossen. Ein ähnlicher Umstand findet sich bei Paaren, denen nach zehn Jahren des ehelichen Zusammenlebens noch keine Kinder geboren worden sind. Die Trennungsempfehlung wird wie folgt begründet: „Auf dem Mann liegt das Gebot zur Fortpflanzung“ (mYev 6,6). Dieser Begründung kann dadurch Nachdruck verliehen werden, dass ein Gericht das Paar und insbesondere die Frauen an ihre Pflicht erinnert. Auch hier muss der Ehemann über die Anweisungen des Gerichts hinaus keinen weiteren Scheidungsgrund nennen, und auch hier ist er derjenige, der das Verfahren durchführt. Der heikelste und schmerzlichste Fall, der ein Eingreifen von außen vorsieht, ist der einer Frau ohne Mann, einer sogenannten Aguna. Diese traurige, wenn nicht tragische Situation zieht entsetzliche persönliche Konsequenzen nach sich. Man würde erwarten, dass die Gelehrten auf eine gerichtliche Intervention drängen, um den Mann wie im eben beschriebenen Fall zur Scheidung zu veranlassen. Doch die Angelegenheit wird auf eine Weise behandelt, die mehr Fragen als Antworten aufwirft. Das größte Problem im Hinblick auf die Aguna besteht in den Texten des klassischen Judentums oder zumindest bei den Tannaim darin, dass die Situation der Frau gar nicht in Betracht gezogen wird. Der Fall eines vermissten Ehemannes (ob seine Abwesenheit selbstgewollt oder erzwungen ist, spielt keine Rolle), dessen Tod nicht festgestellt werden kann, wird von den Rechtsgelehrten in den letzten Kapiteln des Traktats Yevamot in der Mischna, der Tosefta und den Talmudim ausführlich diskutiert. Unter solchen Umständen muss das Gericht keine Scheidung vornehmen, sondern den Ehemann lediglich für tot erklären, damit die Frau als Witwe gelten kann. Allerdings sind die Gelehrten in diesen Fällen überaus streng, weil sie die Rückkehr eines vermeintlich toten Ehemannes, der seine Frau mit einer neuen Familie vorfindet, für eine größere Katastrophe halten als die verzweifelte Lage einer Frau, die an ihren toten Ehemann gebunden ist.15
15 In diesen Fällen muss die Frau von beiden Männern geschieden werden; etwaige Kinder mit dem zweiten Mann gelten als Mamserim (uneheliche Kinder, die die gesellschaftliche und eheliche Gesetzgebung bestimmten Einschränkungen unterwirft, siehe mYev 10,1). Siehe Judith R. Wegner, Chattel or Person? The Status of Women in the Mishnah (New York: Oxford University Press, 1992), 64–70.
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Aus diesem Grund drängte man Männer, die in den Krieg zogen, dazu, ihren Frauen einen vorbehaltlichen Scheidungsbrief auszustellen.16 Welchen rechtlichen Standpunkt die Gelehrten im Falle eines Ehemanns einnehmen, der einer Frau, von der er getrennt ist, keinen Scheidungsbrief ausstellen will, ist nicht bekannt; zumindest sind keine diesbezüglichen Aussagen erhalten. Nur in den Talmudim erscheint der Begriff Agunot in Bezug auf Frauen, die in Ermangelung eines Scheidungsbriefs gewissermaßen auf Standby leben. Der hebräische Ausdruck „( יושבת עגונהsitzt verlassen“, yGit 1,1 [43a]) und der aramäische Ausdruck „( מיעגנא ויתבהverlassen sitzt“, bKet 3a) beschreiben eine wartend dasitzende Frau, die an eine Situation gekettet ist, die sie einschränkt. Dieses Problem entstehnt im Fall einer unkorrekten Abfassung, Bezeugung oder Aushändigung des Scheidungsbriefs. Der Babylonische Talmud lässt erkennen, dass die Gelehrten versucht haben, auf die Situation solcher „angeketteter“ Frauen zu reagieren, wobei ihr Diskurs weniger auf Abhilfe als vielmehr darauf abzielt, diese Situation von vorneherein zu vermeiden. Einige Rabbinen erwägen die Möglichkeit, einen schriftlichen Scheidungsbrief zu hinterlassen, der in den besagten Fällen gültig wäre: Eigentlich sollte man auch den Tenor schreiben dürfen, nur könnte es vorkommen, dass sie den Schreiber beim Schreiben beobachtet, und im Glauben, daß dieser [ihr Mann] dazu veranlasse, mit ihm in Zank gerät. Rabbi Ḥisda erklärte im Namen Abimis: Eine Fürsorge für die Verlassenen. (bGit 26b)
Es ist dennoch erstaunlich, dass man zwar einerseits versucht, eine solche Situation gar nicht erst entstehen zu lassen, andererseits aber keine nachträgliche Lösung vorschlägt. Hinzu kommt, dass die Gelehrten Geschichten über Frauen, deren Männer verschollen sind, nicht aber Geschichten über Männer erzählen, die ihre Frauen verlassen haben. Den letztgenannten Fall könnte ein Gericht ohne Weiteres lösen, denn die Richter müssten nur den Tod des Betreffenden beweisen, während die Durchführung einer Scheidung ihre Kompetenzen übersteigt. Ist das aber ein ausreichender Grund für die Gelehrten, gar keine Lösung anzubieten? Es ist kaum vorstellbar, dass sie hierzu nichts zu sagen gehabt hätten.
3.4.3 Die Befugnis der Frau Frauen hatten, wie schon gesagt, keine rechtliche Handlungsgewalt. In den hier diskutierten Fällen handelt der Ehemann; gelegentlich kommt es auch vor, dass der Ehemann erst handelt, nachdem das Gericht einen Vorschlag 16 Die Legende, dass die Soldaten aus dem Haus Davids nicht in die Schlacht zogen, ohne ihren Frauen zuvor eine Scheidungsurkunde zu hinterlassen, wird traditionell Rabbi Jonatan zugeschrieben (siehe bKet 9b).
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gemacht hat. In keinem Fall jedoch wird die Meinung der Frau berücksichtigt; die einzige Ausnahme ist der oben angeführte Fall aus mKet 7,10. Und doch gibt es eine Situation, in der eine Frau sich äußern und, was noch wichtiger ist, Gehör finden kann: dann nämlich, wenn das sogenannte Weigerungsrecht, מיאון, einer jungen Frau zum Tragen kommt. Hier ist die aktive Beteiligung der Frauen an der Weigerung zumindest, was die rechtliche Geltung ihrer Erklärung betrifft, nicht zu leugnen. Das Weigerungsrecht sieht die Möglichkeit vor, dass ein väterlicherseits verwaistes minderjähriges Mädchen, das im Rahmen eines von anderen Familienmitgliedern, etwa den Brüdern oder der Mutter, getroffenen Arrangements verheiratet werden soll, die Ehe annullieren kann, indem sie mündlich oder schriftlich erklärt, dass sie ihren Ehemann ablehnt: Welche Minderjährige muss eine Weigerung aussprechen? Jede, die ihre Mutter oder ihre Brüder in ihrem Wissen verheiratet haben. Wurde sie ohne ihr Wissen verheiratet, muss sie sich nicht weigern. (mYev 13,2)
Hieraus lässt sich zweierlei schlussfolgern: Erstens wird die väterliche Autorität bestätigt, die nur durch die Autorität des Mannes oder, nach Erreichen des Erwachsenenalters, der jungen Frau ersetzt wird. Kein anderes Familienmitglied kann diese Macht ausüben, auch nicht die Mutter, deren Autorität der des Vaters in keiner Weise gleichgestellt ist.17 Und zweitens handelt es sich hier nicht um eine Scheidung, sondern um eine Eheannullierung. Wenn die junge Frau in der für diese Situation vorgesehenen Weise erklärt: „Ich will N. nicht zum Ehemann“, oder wenn das Gericht feststellt: „An dem und dem Tag hat N., die Tochter des N., in unserer Gegenwart ihre Weigerung erklärt“, und dies akzeptiert wird, dann liegt strenggenommen keine Scheidung vor. Früher schrieb man die Weigerungsurkunde [wie folgt]: Ich will ihn nicht, ich verlange ihn nicht, und ich will mit ihm nicht verheiratet sein. Als man aber einsah, daß die Formel zu lang ist, und man sie mit der eines Scheidebriefs verwechseln könnte, redigierte man sie wie folgt: Am Tage … erklärte N., die Tochter des N., vor uns die Weigerung. (bYev 107b–108a)
Die Frau erhält unter diesen Umständen nicht einmal die Ketubba; das Gericht erklärt die Ehe schlichtweg für nichtig. Die Frau wird nicht als Geschiedene anerkannt, was auch dadurch bestätigt wird, dass sie nach wie vor von einem Priester geehelicht werden kann. Demzufolge ist der Mann nicht ohne seine Einwilligung oder durch einen Dritten, etwa ein Gericht, geschieden worden, denn ohne Ehe gibt es auch keine Scheidung. Dagegen handelt es sich nicht 17 Siehe Ilan, Integrating Women, 48–50.
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um eine Weigerung, wenn der Mann einen Scheidungsbrief ausgehändigt hat, wie die folgende Mischna belegt: Wenn eine einem Mann die Weigerung erklärt, ist er ihren Verwandten erlaubt, und sie ist seinen Verwandten erlaubt und nicht ungeeignet zur Ehe mit einem Priester. Gibt er ihr einen Scheidebrief, ist er ihren Verwandten verboten, und sie ist seinen Verwandten verboten und ungeeignet zur Ehe mit einem Priester. (mYev 13,4)
3.5
Das Dokument
Derjenige Scheidungsumstand, mit dem sich die rabbinische Literatur am systematischsten und ausführlichsten befasst, ist die Urkunde oder der Brief, der die Trennung nachweist. Genaugenommen ist dieses Schriftstück das ausführende Scheidungsinstrument. Eine solche Trennungsurkunde wird get genannt, und ihre Merkmale – Schriftträger und Schreibmaterialien, Inhalte und Aushändigung – werden genau beschrieben. Diese Fragen – und weniger die Scheidung selbst – stehen im Zentrum des Traktats Gittin. Die detaillierten Angaben zu Schriftträger und Schreibmaterialien lauten wie folgt: Mit allem schreibt man ihn, mit Tinte, Farbe, Gummisaft, Metallsäure und mit allem, das aufzeichnend ist, aber nicht mit Getränken, nicht mit Fruchtsaft und mit jeder [Flüssigkeit], die nicht dauerhaft ist. Man schreibt auf allem, auf einem Olivenblatt, auf einem Kuhhorn und gibt ihr die Kuh, auf der Hand eines Sklaven und gibt ihr den Sklaven. Rabbi Jose ha-Galili sagt: Man schreibt nicht auf etwas Lebendigem und nicht auf Speisen. (mGit 2,3)
Enthalten sein müssen das Datum und der Name des Mannes, der Frau und der Zeugen, außerdem die Scheidungserklärung sowie die Unterschrift des Mannes und der Zeugen, wobei vor allem im Hinblick auf die Namen der zu scheidenden Eheleute jedes Missverständnis ausgeschlossen werden muss: Jeder Scheidebrief, der nicht für eine bestimmte Frau geschrieben ist, ist ungültig. Wieso? Wenn einer über den Markt geht und hört die Stimme der Schreiber, die vorlesen: „Der Mann N. N. scheidet die N. N. am Ort N. N.“, und sagt: „Das ist mein Name und der Name meiner Frau“, so ist er [der Scheidebrief] ungültig, um sich damit zu scheiden. Mehr noch, hat er [einen Scheidebrief] geschrieben, um sich damit von seiner Frau zu scheiden, überlegt es sich, findet einen Mitbewohner der Stadt und sagt zu ihm: „Mein Name ist wie deiner, und der Name meiner Frau ist wie der Name deiner Frau“, so kann [jener] sich damit nicht scheiden. Mehr noch, hatte er zwei Frauen mit demselben Namen, hat er [einen Scheidebrief] geschrieben, um sich von der Älteren zu scheiden, kann er sich damit nicht von der Jüngeren scheiden. Mehr noch, hat er dem Schreiber gesagt:
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„Schreibe, von der, von der ich will, scheide ich mich“, so ist er untauglich, um sich damit zu scheiden. (mGit 3,1)
Gültig wird das Dokument jedoch erst durch die Unterschrift, und rechtskräftig wird der Akt erst durch die Aushändigung des Scheidebriefs. Sobald der Mann der Frau das Dokument aushändigt, ist die Ehe offiziell aufgelöst. Zwar kann der Scheidebrief auch durch Boten überbracht werden, doch die Absicht des Mannes und die Entgegennahme durch die Frau sind entscheidend für das Verfahren. Diese Erwägung spiegelt die beiden grundlegenden Umstände wider, die perfekt veranschaulichen, wie die Gelehrten des klassischen Judentums dem biblischen Gesetz Rechnung trugen: Der Mann entscheidet und die Frau nimmt das Dokument als Ergebnis dieser Entscheidung entgegen.
3.5.1 Die Unterschrift Die Person, die den Scheidebrief schreibt, ist weniger wichtig als die Person, die dies wünscht. Die Unterschrift bestätigt den Wunsch des Ehemannes: Alle sind befähigt, den Scheidebrief zu schreiben, sogar ein Taubstummer, ein Irrsinniger und ein Minderjähriger. Die Frau schreibt ihren Scheidebrief und der Mann schreibt seine Quittung, denn ein Scheidebrief hat ohne seine Unterzeichner keine Gültigkeit. (mGit 2,5)
Die Frau kann an der Entscheidung und dem Verfahren beteiligt werden – „mit ihrem Willen und ohne ihren Willen“ –, doch nur die Einwilligung des Ehemannes ist erforderlich, das heißt, die Entscheidung wird durch seine Unterschrift und die Unterschrift anderer Zeugen beglaubigt. Damit ist der Einfachheit des Prozesses so, wie das Buch Deuteronomium ihn beschreibt, Genüge getan.
3.5.2 Die Übergabe Die Frau muss das Dokument entgegennehmen und den Akt somit rechtskräftig machen und abschließen. Das könnte darauf hinweisen, dass die Frau für den letzten Schritt, mit dem die Scheidung vollzogen wird, verantwortlich ist und demnach in dem betreffenden Verfahren eine aktive Rolle spielt. Wichtig ist, dass die Frau wissen muss, was für ein Dokument sie in Händen hält; es kann allerdings sein, dass ihr dies erst nach der Entgegennahme bewusst wird. In diesem Fall – wenn sie das Dokument also in Empfang genommen und erst danach zu ihrer Überraschung festgestellt hat, dass es sich um eine Scheidungsurkunde handelt – ist die Scheidung nicht rechtskräftig:
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Sagte er ihr: „Steck diesen Schuldschein ein“, oder fand sie ihn hinter seinem Rücken, liest ihn und siehe, es ist ihr Scheidebrief, so ist es kein Scheidebrief, bis er zu ihr sagt: „Dies ist dein Scheidebrief.“ Hat er ihn in ihre Hand gegeben und sie schläft, wacht auf, liest und siehe, es ist ihr Scheidebrief, so ist es kein Scheidebrief, bis er zu ihr sagt: „Dies ist dein Scheidebrief.“ (mGit 8,2)
Auch wenn die Tosefta (tGit 6,1) eine Überlieferung erwähnt, der zufolge diese Halakha Rabbi [Jehuda dem Patriarchen] zuzuschreiben und von Rabbi Simeon ben Eleazar mit der Begründung verworfen worden sei, die Erklärung müsse gleichzeitig mit der Aushändigung erfolgen, ist die von der Mischna vorgesehene offizielle Kenntnisnahme des Schriftstücks die von den Gelehrten bevorzugte Version.
3.5.3 Die Formel18 Eine der interessantesten Erwägungen zum Scheidebrief betrifft den in diesem Dokument enthaltenen Text, der von den Gelehrten als wesentlich betrachtet wird: Der Hauptinhalt des Scheidebriefs ist: „Du bist erlaubt für jeden Mann.“ Rabbi Jehuda sagt: „Und diese sei für dich von mir Scheidungsschrift und Trennungsurkunde, damit du gehen kannst zu heiraten jeden Mann, den du willst.“ (mGit 9,3)
Die zentrale, grundlegende Aussage, die den Kern der Verfügung ausmacht, besteht in der Erklärung des bisherigen Ehemannes, dass seine Frau nun frei ist, einen anderen Mann zu heiraten. Hier ist zweierlei zu erwähnen. Zum einen dient das Dokument dem Zweck sicherzustellen, dass die Frau nicht länger an einen Ehemann gebunden ist und einen anderen Mann heiraten kann. Die Aussage, die die Frau für frei erklärt und bestätigt, dass mit ihrem bisherigen Ehemann keine Beziehung mehr besteht, ist von wesentlicher Bedeutung. Wenn in dieser Hinsicht noch irgendwelche Zweifel bestünden oder wenn ihre Eignung für die Ehe mit einem anderen Mann in irgendeiner Weise beeinträchtigt wäre, würde dies bedeuten, dass sie an ihren ersten Ehemann gebunden bleibt. Mithin bescheinigt das Dokument das Ende der rechtlichen Autorität des betreffenden Mannes über die betreffende Frau. Sie ist jetzt frei, allerdings – im Gegensatz zu einem freigelassenen Sklaven, von dessen Entlassbrief im selben Abschnitt der Mischna die Rede ist – nicht für sich selbst, sondern frei für einen anderen Mann, der sie nun zur Frau nehmen kann. Zum anderen enthält dieser Text einen wesentlichen Beleg für einen der 18 Zu Vorgängerformulierungen siehe Shalom E. Holtz, „‚To go and marry any man that you please…‘: A Study of the Formulaic Antecedents of the Rabbinic Writ of Divorce“, JNES 60 (2001): 241–258.
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bedeutendsten Aspekte der rabbinischen Verständnis der Scheidungspraxis. Die Formel wird auf Aramäisch zitiert, in einer Sprache also, die die Tannaim nur bei sehr seltenen und besonderen Gelegenheiten verwandten: dann nämlich, wenn sie aus nicht-rabbinischen Dokumenten zitierten. Die verwendete Sprache belegt gemeinsam mit den in der Judäischen Wüste gefundenen Scheidungsdokumenten,19 dass wir es hier mit der Formel zu tun haben, die in echten Scheidungsurkunden gebraucht worden ist. Die Rabbinen entwickeln ihr Ritual also auf der Grundlage des biblischen Texts ( )מקראmithilfe ihrer eigenen Argumentationstechniken ( )הלכהund doch auch unter Berücksichtigung der landläufigen Praxis ()מנהג. Die vorliegende Untersuchung der Scheidung in den Rechtstexten des rabbinischen Judentums hat gezeigt, dass diese ein privater Akt war und den häuslichen Bereich betraf, wo die rechtliche Autorität des Mannes nicht nur unumstritten, sondern per Gesetz institutionalisiert war. Das Gericht leistete lediglich in den heikelsten Fällen Entscheidungshilfe. Den Frauen wurde nur im äußersten Einzelfall eine etwas aktivere Beteiligung zugebilligt, und selbst dann waren sie nie Ausführende, sondern immer nur Adressatinnen des betreffenden Verfahrens. Eine männliche Stimme musste in ihrem Namen Anspruch erheben oder ihre Gesuche bestätigen. Während die Meinungen und Empfindungen der von diesen Verfahren betroffenen Frauen in der Bibel überhaupt nicht erwähnt werden, werden sie in den talmudischen Texten immerhin zur Kenntnis genommen – allerdings nur sehr eingeschränkt und aus männlicher Sicht.
19 S. o., Anm. 2.
Gesehen, nicht gefühlt: Der Blick auf die Haut im Traktat Nega‘im Christiane Hannah Tzuberi Freie Universität Berlin
Dieser Artikel befasst sich mit der rabbinischen Interpretation und Transformation einer Reihe von Gesetzen, die gemeinhin als levitische Reinheitsgesetze bezeichnet werden. Ich werde mich hier auf eine Untergruppe dieser Gesetze konzentrieren, nämlich jene, die sich auf äußerlich sichtbare „Unregelmäßigkeiten“ der Haut beziehen (Lev 13,1–14,57) und Grundlage des Mischna-Traktats Nega‘im (des dritten Traktats der Ordnung der Reinheiten, Toharot) sind. Sowohl die levitischen Gesetze zur rituellen Un/reinheit der Haut als auch der sich auf sie stützende Traktat Nega‘im eignen sich auf den ersten Blick nicht für eine Untersuchung der ihnen zugrunde liegenden geschlechtsspezifischen Struktur: In Traktat Nega‘im werden verschiedene Arten von auf der Haut sichtbaren Flecken, Verfärbungen, und anderen „Unregelmäßigkeiten“ beschrieben, die zu einer Quelle ritueller Unreinheit werden können und eine visuelle Untersuchung durch einen Priester bzw. einen rabbinischen Gelehrten erfordern. Der Blick des Priesters (oder des Gelehrten) ist dabei jedoch auf männliche und weibliche Körper gleichermaßen gerichtet: Im levitischen Text und in der Mischna scheint das Geschlecht der Inspizierten keine Auswirkungen auf die Untersuchung durch einen priesterlichen bzw. rabbinischen Blick zu haben. Ich konzentriere mich dennoch auf diesen Traktat, weil Blicke, wie verschiedene feministische Wissenschaftler*innen gezeigt haben, per Definition viel mehr sind als nur eine Beschreibung des Mechanismus des Sehens: Der Blick (Engl. „gaze“) ist ein wesentlicher Bestandteil breiterer kultureller Formationen und ihrer jeweils spezifischen Lesetraditionen, die den Blick prägen und bestimmen, welche Dinge überhaupt gesehen werden können, was beobachtet, benannt und kategorisiert werden kann und was unsichtbar bleibt.1 1 Laura Mulvey, „Visual Pleasure and Narrative Cinema“, Screen 16/3 (1975): 6–18; s. a. David Fredrick, Hg., The Roman Gaze: Vision, Power, and the Body (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 22010). Die Annahme, dass sogenannter „Phallogocularzentrismus“ ein transhistorisches Phänomen ist, wurde kritisiert. So zielt z. B. Foucaults Analyse des medizinischen Blicks darauf ab, zeitgenössisches Sehen nicht als eine „natürliche“, immer schon existierende Sichtweise, sondern in seiner historischen Gewordenheit als Ergebnis bestimmter Diskursverschiebungen darzustellen. Vgl. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des
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Das Sehen ist, mit anderen Worten, eine Aktivität, die eine Subjekt-ObjektBeziehung herstellt und unweigerlich in einem spezifischen soziokulturellen Kontext verankert ist. Angesichts der „Geschlechtsneutralität“ der levitischen Gesetze zu Hautkrankheiten ist meine Frage daher: Wie funktioniert Geschlecht/Gender in einem Traktat, der auf der einen Seite ein geschlechtsneutrales Rechtssubjekt vorauszusetzen scheint, auf der anderen Seite aber in einem Kontext verankert ist, der Geschlecht/Gender de facto als eines seiner primären strukturierenden Elemente voraussetzt? Um dieser Frage nachzugehen werde ich hier einen Ansatz verfolgen, der sich von der Lesart von Reinheitsgesetzen und -verfahren als positivistischen rechtlichen Tatsachen (die von der Existenz des Tempels und der Klasse der Priester abhängen) entfernt. Stattdessen möchte ich eine Lesart in den Vordergrund stellen, die sich auf die Entstehung eines „mischnaischen Subjekts“2 konzentriert. In dieser Lesart werden Texte der Mischna, die sich auf rituelle Un/reinheit beziehen, nicht für eine historische Rekonstruktion tatsächlicher Praktiken herangezogen, sondern als ein Diskurs gelesen, der auch nach der Zerstörung des Tempels fortleben konnte, indem er „seine Rezipienten dazu brachte, sich Menschen, Orte, Dinge und ihre Wechselbeziehungen in Bezug auf Reinheit und Unreinheit vorzustellen“.3 Das konzeptuelle Gefüge von ritueller Un/reinheit konnte damit auch nach der Zerstörung des Fixpunktes dieses Gefüges – also des Tempels – weiterbestehen, und zwar
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ärztlichen Blicks (München: Hanser, 1973); Originalausgabe: Naissance de la clinique: Une archéologie du regard médical (Paris: Presses Universitaires de France, 1963). Für einen Überblick über feministische Analysen des Blickes, vgl. Amelia Jones, Hg., The Feminism and Visual Culture Reader (London: Routledge, 22010). Mit einer Analyse des rabbinischen Blickes beschäftigt sich Rachel R. Neis, The Sense of Sight in Rabbinic Culture: Jewish Ways of Seeing in Late Antiquity (Greek Culture in the Roman World: Cambridge: Cambridge University Press, 2013). Während des letzten Jahrzehnts hat diese Verlagerung des methodologischen Ansatzes zu einer Art Wiederbelebung des Forschungsinteresses an der Ordnung der Reinheiten geführt. Vor dieser Wiederbelebung hatte diese Ordnung mit Ausnahme von Traktat Nidda nur wenig Interesse unter Wissenschaftler*innen auf sich gezogen – einschließlich jener, die sich dem Talmud sowohl als literarische Produktion der Spätantike nähern, ihn aber darüberhinaus auch als Bestandteil der jüdischen Gegenwart lesen. Für einen Überblick über verschiedene Forschungsansätze zur rituellen Un/reinheit vgl. Mira Balberg, Purity, Body, and Self in Early Rabbinic Literature (Berkeley: University of California Press, 2014), 1. Neuere Publikationen sind außerdem: Stuart S. Miller, At the Intersection of Texts and Material Finds: Stepped Pools, Stone Vessels, and Ritual Purity Among the Jews of Roman Galilee (JAJ.S 16; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 22019); Yair Furstenberg, Purity and Community in Antiquity: Traditions of the Law from Second Temple Judaism to the Mishnah (Jerusalem: Magnes Press, 2016) (Hebr.). Einen Überblick bietet Shai Secunda, „Purity and Obscurity“, Jewish Review of Books 30 (2017), online: https:// jewishreviewofbooks.com/articles/2661/purity_and_obscurity/ [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]. Secunda, „Purity and Obscurity“.
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Christiane Hannah Tzuberi als wirkmächtige konzeptuelle und hermeneutische Werkzeuge, durch die sich Vorstellungen über sich selbst und andere manifestieren, der eigene Körper und seine Umwelt erfasst und definiert werden können, und das Selbst sich als Subjekt konstituiert und formiert … Während in der Hebräischen Bibel und in der Literatur des Zweiten Tempels das Heiligtum und der Tempel, und im weiteren Sinne das Lager (der Israeliten), die Stadt und die Gemeinde die dominierenden Schwerpunkte des Diskurses über Reinheit und Unreinheit sind …, wird durch die Mischna-Ordnung der Reinheiten das Selbst, das individuelle Rechtssubjekt, als neuer Schwerpunkt eingeführt.4
Die Aufrechterhaltung des Systems von ritueller Un/reinheit wird so zu einer „Lebensweise“, einer Körperpraxis: zu einem Mittel der Selbstformung, Selbstprüfung und Selbstvervollkommnung, das ein aufmerksames, reflexives Subjekt erfordert, das sich durch eine fortwährende Wachsamkeit in Bezug auf rituelle Un/reinheit auszeichnet und sowohl das eigene Selbst als auch die Umgebung einschließt.5 In diesem Artikel werde ich diese Verschiebung von „was bedeutet rituelle Un/reinheit?“ zu „was bewirkt der Diskurs
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Balberg, Purity, Body, and Self, 2.5. Joshua Levinson, „From Narrative Practice to Cultural Poetics: Literary Anthropology and the Rabbinic Sense of Self“, in Homer and the Bible in the Eyes of Ancient Interpreters (hg. v. Maren R. Niehoff; JSRC 16; Leiden: Brill, 2012), 345–367; 345f., schlägt ähnlich vor: „Anstatt nach der Reflexion der Welt im Text zu fragen, konzentriere ich mich auf die Arbeit des Textes in der Welt … Meine Annahme ist, dass ein juristischer Diskurs eine bestimmte Art von Subjekt konstruiert, das nicht nur als Subjekt des Gesetzes (subject-to-the-law) interpelliert wird, sondern auch aufgefordert ist, eine bestimmte Subjektidentität durch das Gesetz (subject identity through-the-law) anzunehmen, ein Subjekt des Gesetzes zu werden.“ Siehe auch Ishay Rosen-Zvi, „The Mishnaic Mental Revolution: A Reassessment“, JJS 66 (2015): 36–58; 41. 5 Wie Balberg, Purity, Body, and Self, 19, argumentiert, erweitern die Tannaim beispielsweise den Bereich der Verunreinigungen erheblich – nicht indem sie neue Verunreinigungsquellen hinzufügen, sondern indem sie neue und weitreichende Modi und Prozesse der Verunreinigungsübertragung entwickeln. Balberg argumentiert, dass hier rituelle Unreinheit von einem „merkbaren Ereignis“ („noticeable event“) in eine immer andauernde Realität („ongoing reality“) transformiert wird. Balbergs Ansatz rekurriert auf die sogenannte „ethische Wende“ (ethical turn) in der Kulturanthropologie und der Religionswissenschaft, die ihren kritischen Anstoß von Talal Asads Kritik an bis zu den aktuell dominanten (von Geertz geprägten) Religionsvorstellungen erhielt. Vgl. Talal Asad, Genealogies of Religion: Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam (Baltimore: John Hopkins University Press, 1993). Für Asad geht es nicht so sehr um die kulturelle Bedeutung von als religiös markierten Praktiken, sondern um die durch diese Praktiken angestrebte ethische Selbstformation. Es geht, so Asad, um ein Verständnis der „historischen Bedingungen, die die Produktion, Aufrechterhaltung, oder Transformation von spezifischen diskursiven Traditionen ermöglichen, und die Bestrebungen der Praktizierenden durch diese (diskursive Tradition) Kohärenz zu erreichen“. Vgl. Ders., „The Idea of an Anthropology of Islam“, Qui Parle 17/2 (2009): 1–30; 23.
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der rituellen Un/reinheit?“6 aufnehmen, da die Frage nach der Diskurswirkung einen Raum eröffnet, in dem gefragt werden kann, ob und wie die Sorge um Un/reinheit eine spezifisch weibliche Subjektposition und Subjektivität konstituiert, und ob/wie die mit ritueller Un/reinheit in Zusammenhang stehenden Praktiken ihrerseits selbst geschlechtsspezifisch werden. Wenn die Ordnung der Reinheiten einen Diskurs etabliert, durch den sich Subjekte auf sich selbst, ihren Körper und ihre materielle Umgebung beziehen, so geht es mir im Folgenden um die Art des Subjekts – und speziell des geschlechtsspezifischen Subjekts –, das der rabbinische Diskurs über rituelle Hautun/reinheit voraussetzt und erzeugt. Ich werde zunächst auf ein grundlegendes Merkmal eingehen, das sowohl Traktat Nega‘im als auch seinem levitischen „Quelltext“ zugrunde liegt: die Objektifizierung. Ich werde zeigen, wie die Tannaim in Übereinstimmung mit Levitikus den Körper zu einem kategorisierbaren, erfassbaren Objekt machen, indem sie den Körper von der Subjektivität der Person, die diesen Körper „bewohnt“, epistemologisch trennen. Mein Argument hier ist, dass rituelle Un/reinheit eine solche Objektifizierung des Körpers zwangsweise erfordert, und dass ohne einen solchen Prozess der Objektifizierung keine rituelle Un/reinheit existieren kann. Im Anschluss daran werde ich die Aufmerksamkeit auf die Unterschiede zwischen der Mischna und Levitikus lenken: In Levitikus wird die Untersuchung von Haut als eine Begegnung des Priesters mit einem zweidimensionalen, stummen Objekt beschrieben, wobei der rituelle Status von der Lesbarkeit der Oberfläche des Objekts abhängt. In der Mischna geht es nicht mehr um die Frage, ob Haut „gelesen“ werden kann, sondern wie genau diese Lesung abläuft: Die Inspektion der Haut wird hier als ein den gesamten Körper umfassendes Verfahren angesehen. Ich werde argumentieren, dass speziell in späteren amoräischen Quellen die Annahme einer vollständigen Zugänglichkeit der Haut als ein rhetorisches Instrument verwendet wird, das die Zugänglichkeit jener Körper nahe legt, die für einen rabbinischen Blick praktisch und erkenntnistheoretisch unzugänglich sind: weibliche Körper. Im letzten Teil dieses Artikels werde ich das rhetorische Nachleben der rituellen Un/reinheit der Haut in einem Bereich verfolgen, den Christine Hayes als „moralische Unreinheit“ bezeichnet hat. Moralische Unreinheit, so Hayes, ist eine Art von Unreinheit, die nicht auf andere Personen übertragbar ist und nicht durch Reinigungsrituale beseitigt werden kann. In diesem Bereich entsteht Unreinheit „nicht aus bestimmten unvermeidbaren natürlichen Prozessen und ist niemals inhärent, sondern ist vom Verhalten des Einzelnen abhän-
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Für einen Überblick über das Feld der Ritual Studies und dessen Überlappungen mit rabbinischen Studien vgl. Mira Balberg, „Ritual Studies and the Study of Rabbinic Literature“, CurBR 16 (2017): 71–98.
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gig und als solche auch vermeidbar“.7 Im Gegensatz zur rituellen Un/reinheit werden hier sowohl die Person, die die Haut inspiziert, als auch die Person, deren Haut inspiziert wird, zu dreidimensional wirkenden Charakteren, so dass eine Unreinheit der Haut auch als Bestrafung für eine Übertretung interpretiert werden kann. Wie ich anhand eines Midraschs zu Mirjams Haut demonstrieren werde, wird das hierarchische Verhältnis zwischen dem priesterlich-rabbinischen Blick und dem Laien, der durch ein „Betrachtet-werden“ definiert ist, hier affirmiert und geschlechtsspezifisch beschrieben. Im Mi drasch ist Mirjams Haut eine Art Leinwand, die der Betrachter seinem eigenen Ermessen entsprechend als schön oder hässlich bewertet. Während im Traktat Nega‘im die Objekte des Blicks aus „geschlechtslosen“ Oberflächen bestehen, die aufgrund ihrer Unreinheit aus dem „Lager“ ausgeschlossen sind, kann im Kontext der moralischen Unreinheit ein Hautleiden in Hässlichkeit „übersetzt“ werden.
1.
Objektivierung: Das Sehen der Haut und das Nicht-Sehen von Geschlecht
Hauptorganisationsprinzip und biblischer Bezugspunkt von Traktat Nega‘im sind Kapitel 13 und 14 des Buches Levitikus (Lev 13,1–14,57; Lev 13 befasst sich mit den verschiedenen Arten von Ausschlägen auf der Haut, im biblischen Hebräisch tsara‘at/;צרעת8 Lev 14 wendet sich dem Prozess der Reini7 Christine Hayes, Gentile Impurities and Jewish Identities: Intermarriage and Conversion from the Bible to the Talmud (Oxford: Oxford University Press, 2002), 193. 8 In Übereinstimmung mit medizinischem Positivismus und der Übersetzung der Septuaginta von tsara‘at wird der Begriff oft als „Lepra“ übersetzt; dies obwohl verschiedene Forscher*innen bereits früh darauf hingewiesen haben, dass die levitische Beschreibung von Hautunreinheiten nicht mit den Symptomen der Lepra übereinstimmt. Einige verwenden daher Umschreibungen wie „Hautkrankheit“ oder „Schuppenkrankheit“. Häufig wird jedoch eine weitgehend medizinisch-positivistische Lesart von Levitikus beibehalten. Vgl. z. B. Joseph Zias, „Lust and Leprosy: Confusion or Correlation?“, BASOR 275 (1989): 27–31. Eine Kritik dieses Ansatzes findet sich in John J. Pilch, „Biblical Leprosy and Body Symbolism“, BTB 11 (1981): 108–113. Pilch versucht, levitische Unreinheit der Haut mit Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung: Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu (Berlin: Reimer, 1985), 152, zu verstehen: Laut Douglas wird in Systemen von Rein- und Unreinheit der menschliche Körper zu einem Modell: „Der Körper liefert ein Modell, das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann. Seine Begrenzungen können für alle möglichen Begrenzungen stehen, die bedroht oder unsicher sind. (…) Es ist ausgeschlossen, dass wir Rituale interpretieren können, in denen Exkremente, Muttermilch, Speichel und Ähnliches eine Rolle spielen, wenn wir den Körper nicht als ein Symbol für die Gesellschaft begreifen oder übersehen, dass die Kräfte und
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gung zu). Der Kontext, in dem die Passagen erscheinen, ist eine Auflistung derjenigen Menschen, die nach dem levitischen Kodex Quellen ritueller Unreinheit sein können: Frauen nach der Geburt, Männer und Frauen mit abnormem genitalem Ausfluss und menstruierende Frauen.9 Im Gegensatz zu all diesen menschlichen Verunreinigungsquellen ist ein Hautausschlag die einzige Form von menschlicher Verunreinigungsquelle, die explizit durch den Blick eines Priesters „diagnostiziert“ werden muss. Der biblische Text betont dementsprechend immer wieder die Bedeutung einer visuellen Inspektion: Das Verb „Sehen“ ( )ראהkommt in Lev 13 nicht weniger als 33 Mal vor.10 In der levitischen Beschreibung von Hautunreinheiten verwandelt sich der Blick des Priesters auf die Haut eines Israeliten niemals in eine Kommunikation mit dem Inspizierten. Der Inspizierte, dessen Haut möglicherweise unrein ist, wird „zum Priester gebracht“, der Priester „schaut“ und „macht ihn“ unrein bzw. rein. Der Priester stellt keine Fragen zu Symptomen, sondern führt eine ausschließlich visuelle Untersuchung durch. Es besteht kein Unterschied zwischen der Inspektion von Kleidung, Hauswänden oder Haut: Im Kontext der Inspektion der Oberfläche sind all diese leblose, stumme Gegenstände. Es scheint, als ob der Blick des Priesters eine Unreinheit verursacht: Erklärt er eine Person für unrein, so verleiht er nicht dem, was unabhängig von seinem Blick existiert, ein „offizielles“ Siegel. Er diagnostiziert einen Fleck auf der Haut nicht als unrein, sondern es ist sein Blick selbst und seine Aussage, die den Status der Unreinheit überhaupt erst hervorbringen: „Der Priester sieht und verunreinigt ihn ( וְ ִט ֵּמא אֹתֹו,( “) ָר ָאהּו ַהּכ ֵֹהןLev 13,3). Unreinheit scheint in diesem Sinne weniger ein essentielles Merkmal der Haut zu sein, sondern vielmehr ein ritueller Status, der eng mit dem Blick des Priesters und der Deklaration der Unreinheit verbunden ist. Ohne die Untersuchung der Haut durch einen Priester existiert keine Unreinheit.11 Insofern eine untersuchte Person nicht als dreidimensionales Subjekt existiert, spielt auch keine Rolle, ob es sich bei dem untersuchten „Objekt“ um einen Mann oder eine Frau handelt. Bei der Inspektion der Haut untersucht der Gefahren, die es in der Sozialstruktur geben soll, im Kleinen auch durch den Körper ausgedrückt werden können.“ 9 Eine Analyse der Struktur dieser Liste findet sich in Charlotte E. Fonrobert, Menstrual Purity: Rabbinic and Christian Reconstructions of Biblical Gender (Contraversions: Jews and Other Differences; Stanford: Stanford University Press, 2000). 10 Mira Balberg, „Rabbinic Authority, Medical Rhetoric, and Body Hermeneutics in Mishnah Nega‘im“, AJSR 35 (2011): 323–346. 11 Die Interpretation von levitischen Hautunreinheiten im Rahmen eines modernen Verständnisses von „Krankheit“ ist dementsprechend schwierig, da es hier eben nicht um die Fehlfunktion biologischer Prozesse im Körper geht. So ist eine Person, deren Haut vollständig von einem Ausschlag bedeckt ist, gemäß Lev 13,13 rein und bedarf keines Reinigungsrituals. Nach modernen medizinischen Plausibilitätsgrundsätzen müsste diese Person als vollständig „krank“ eingestuft werden, jedoch lassen sich die Kategorien „rein“ und „unrein“ nicht als „gesund“ und „krank“ abbilden.
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Priester eine Oberfläche, als wäre sie ein Stück Stoff oder eine Wand. Hinter der levitischen Darstellung von Hautunreinheiten verbirgt sich dementsprechend auch keine moralisierende Färbung: Eine Hautkrankheit hat weder Ursache noch Heilung; sie „passiert“ einfach, potentiell jederzeit und jedem, und an jeder Art von „Grenze“, die einen Israeliten umgibt: Haut, Kleidung oder Wände. Während in der biblischen Geschichte von Mirjam (Num 12,10–15) das plötzliche „Weiß“ ihrer Haut mit Gottes Zorn über ihr und Aarons Verhalten zusammenhängt, werden in Levitikus keine die Unreinheit begründenden Umstände benannt: Damit eine inspizierte Person sich in jemanden verwandelt, der den Zorn Gottes auf sich gezogen hat, müsste der Priester dem Inspizierten begegnen, ihm entweder durch ein Verhör oder durch eine Einschätzung seiner Person gegenüberstehen, so dass die genauen Umrisse der Person des Inspizierten in Erscheinung treten. Um ein moralisierendes Urteil überhaupt fällen zu können, müsste der „Patient“ befragt werden; die Untersuchung könnte notwendigerweise nicht rein visuell sein.12 Um die Haut des Körpers wie die Oberfläche einer Tafel lesen zu können, muss der „Träger“ der Haut also unausweichlich zu einem Objekt werden und das Sehen in der Hierarchie der Sinne priorisiert werden. In Traktat Nega‘im wird die Autorität des Blickes bestätigt. Wie in Levitikus kommt auch in der Mischna eine Unreinheit der Haut nur durch die Deklaration der Unreinheit zustande: Ohne eine Inspektion existiert keine Unreinheit. So schreibt die Mischna beispielsweise vor, dass an Festtagen und in Hochzeitsnächten Haut nicht im Hinblick auf rituelle Unreinheit begutachtet wird (mNeg 3,2, s. a. bMQ 7b und bBekh 34b) – nicht, weil an diesen Tagen keine rituellen Unreinheiten entstehen können, sondern weil ein Fleck auf der Haut, solange dieser nicht untersucht und für unrein erklärt wird, irrelevant ist. Wie in Levitikus ist die Unreinheitserklärung hier keine Diagnose, sondern macht die Unreinheit überhaupt erst aus. Dementsprechend werden auch im Traktat Nega‘im weder der Beobachter noch der oder die Beobachtete in dreidimensionale Personen verwandelt, sondern einzig in Bezug auf ihre jeweilige Aktivität bzw. Passivität beschrieben: Der Sehende, und diejenigen, die gesehen werden. Die Mischna gleicht die Geschlechter nicht aneinander an, sondern erkennt hier von vorneherein 12 Elaine Scarry, The Body in Pain: The Making and Unmaking of the World (Oxford: Oxford University Press, 1987), 4, schreibt zu der Schwierigkeit, Schmerz sprachlich auszudrücken, und den mit dieser Schwierigkeit zusammenhängenden politischen Implikationen von absichtlich zugefügtem Schmerz: „Für die Person mit Schmerzen ist der Schmerz so unbestreitbar und unverhandelbar präsent, dass das ‚Schmerzen haben‘ als stärkstes Beispiel dafür angesehen werden kann, was es heißt, ‚Gewissheit zu haben‘, während für eine andere Person der Schmerz so schwer fassbar ist, dass das ‚Hören über den Schmerz‘ als ein Modell dafür existieren kann, was es heißt, ‚im Zweifel zu sein‘. So kommt Schmerz in unsere Mitte, ohne geteilt werden zu können: als das, was nicht geleugnet, und das, was nicht bestätigt werden kann.“
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keine geschlechtsspezifischen Personen.13 Ein Beispiel: Sifra, der halakhische Midrasch zu Levitikus, sieht vor, dass auch ein Tumtum (eine Person mit unbekanntem Genital) und ein Androgynos (eine Person mit nicht eindeutig kategorisiertem Genital) auf rituelle Hautunreinheiten hin untersucht werden. In anderen halakhischen Kontexten werden Tumtum und Androgynos in den halakhischen Diskurs einbezogen, indem sie je nach Kontext als „wie eine Frau“ oder „wie ein Mann“ reguliert werden. Sie werden, abhängig vom jeweiligen Kontext, halakhisch „zerstückelt“ in „manchmal wie Männer“ und „manchmal wie Frauen“.14 Im Gegensatz zu dieser Art der Einbindung und Regulierung kommt es im Rahmen der Inspektion von Haut nicht zu einer solchen „Zerstückelung“. Tumtum und Androgynos werden nicht als „in dieser und jener Hinsicht wie ein Mann“ oder „in dieser und jener Hinsicht wie eine Frau“ eingestuft, sondern als Tumtum und Androgynos einbezogen und untersucht.15 Sie sind als eine ungeschlechtliche, neutrale Oberfläche lesbar. Ausgenommen von einer Untersuchung sind entsprechend diejenigen, die der Betrachter nicht objektivieren kann: Laut der Mischna gilt dies von der eigenen Haut, und nach Ansicht von Rabbi Meir auch von jener der Verwandten (mNeg 2,516) – man wäre nicht in der Lage, einen „neutralisierten“ Blick auf sich selbst oder auf die Haut von jemandem zu richten, den man als Person (und nicht als bloße Haut) kennt. Um Haut zu einem von außen zugänglichen Objekt des Wissens zu machen, muss also all jenes ausgeblendet werden, das 13 Balberg, „Rabbinic Authority“, 345, stellt den rabbinischen Hautunreinheitsdiskurs in den Kontext galenischer Medizin und argumentiert, dass ersterer von diesem Kontext geprägt ist. Balberg bezieht ihre Analyse dabei eher auf die Rhetorik des Traktats Nega‘im, nicht auf konkrete Parallelen zwischen medizinischen Konzepten. Die Beziehung zwischen demjenigen, der untersucht, und demjenigen, der untersucht wird, unterscheidet sich (dem Traktat entsprechend) also deutlich von der Beziehung zwischen Richter und Klient (oder: Rabbiner und Laie): Alle Faktoren, die das Handeln eines „Richters“ entscheidend beeinflussen, wie z. B. der Kontext einer Handlung, die Absicht usw., tangieren das Ergebnis bei der Untersuchung einer Unreinheit der Haut nicht. 14 Siehe Max Strassfeld, „Categorizing the Human: The androginos in Tosefta Bikurim“ (unveröffentlichter Vortrag, online: https://www.academia.edu/9625276/Categorizing_the_Human_The_androginos_in_Tosefta_Bikurim [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]. S. a. Charlotte E. Fonrobert, „The Semiotics of the Sexed Body in Early Halakhic Discourse“, in How Should Rabbinic Literature Be Read in the Modern World? (hg. v. Matthew Kraus; Judaism in Context 4; Piscataway: Gorgias Press, 2006), 79–105. 15 Siehe Sifra Tazri‘a Nega‘im Parasha 5 Pereq 7,1: „[Und ein Mann oder eine Frau, zeigt sich bei diesen eine Stelle am Kopf oder am Kinn (Lev 13,29)]: Und ein Mann – um einen Neteq in einem Neteq (als unrein) einzubeziehen. Worte des Rabbi Aqiva. Und ein Mann oder eine Frau – dies bezieht sich nur auf einen (bestimmten) Mann oder eine Frau. Woraus schließt man die Einschließung des Tumtums und des Androgynos? Die Schrift sagt: [Aus dem Wort] oder.“ 16 „Ein Mensch kann alle Nega‘im untersuchen, außer seine eigenen. Rabbi Meir sagt: Auch nicht die Nega‘im seiner Angehörigen.“
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den Blick trübt: Eine Person kann nicht die eigene Haut inspizieren, weil die Inspektion in Levitikus und Mischna den Inspizierten objektifiziert, also eine epistemologische Trennung der Haut von der Person, die dieselbe Haut fühlt, voraussetzt.17
2.
Lesbarkeit: Die Entzifferung des Unsichtbaren
Während die Mischna diese Grunddynamik von Levitikus bekräftigt, transformiert sie auch die Beziehung zwischen demjenigen, der die Untersuchung durchführt, und dem/derjenigen, der/die untersucht wird. Ich werde diese Transformation im Folgenden skizzieren und mit einer genauen Lektüre von Lev 13 beginnen. In letzterer Passage sind zwei paradigmatische Hautunreinheiten skizziert (Lev 13,2–8.9–17). Lev 13,2–8 beschreibt eine Person mit einem unregelmäßigen hellen Fleck auf der Haut (genannt se’et/שאת, sapahat/ ספחתoder baheret/)בהרת. Es werden bestimmte Symptome aufgelistet, an Hand derer ein solcher Fleck als rituell unrein eingestuft werden kann: Ist ein Haar innerhalb des Flecks weiß geworden und sieht der Fleck „tiefer als die übrige Haut“ (V3) aus, so sind keine weiteren Untersuchungen erforderlich. Der Fleck ist per se unrein. Fehlen diese Symptome jedoch, so ist der Fleck möglicherweise rein: Wenn er sich während eines Zeitraums von 14 Tagen nicht ausbreitet ( )עמד בעיניוund schließlich „dunkler wird“ (siehe V6), so ist er rein. Ein Fleck auf der Haut kann also durch Unbeweglichkeit und Farbveränderung „neutralisiert“ werden: Auch wenn er visuell immer noch als „andere“ Haut erkennbar ist, so ist er rein, wenn der Fleck sich allmählich der ihn umgebenden Haut angleicht. Der Abschnitt endet dementsprechend mit der Feststellung, dass ein solcher Fleck, wenn er sich nach der Endkontrolle des Priesters wieder ausbreitet, sofort für unrein erklärt wird. Lev 13,9–17 folgt dem Muster des ersten Falls: Die Passage beginnt mit einer Beschreibung eines Hautausschlags und seiner Symptome, die ihn als per se unrein qualifizieren. Anschließend werden die Bedingungen beschrieben, unter denen dieser Ausschlag als rein anzusehen ist, und abgeschlossen mit dem „Rückfall“ des Ausschlags in die Kategorie der Unreinheit. Auch diese Passage weist folgende Struktur auf: 1. per se unrein, 2. rein unter der 17 Ishay Rosen-Zvi, „Mental Revolution“, 44f., betont, dass der Diskurs der rituellen Un/reinheit nicht nur als weiterer Ausdruck der Subjektformation zu verstehen ist: „[Er] ist eng mit einem Rechtsdiskurs verbunden und wird zusammen mit dem Gesetz gebildet. Die Subjektformierung kann daher nicht als getrennt vom halakhischen Kontext verstanden werden.“ Das „mischnaische Selbst“ unterscheidet sich somit grundlegend von einem individuellen, inneren Selbst, wie es in hellenistisch-römischen und klassischen griechischen Quellen erscheint.
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Bedingung xyz und 3. Rückfall. Der Ausschlag ist per se unrein, wenn es ְ ( “)השְׂ ֵאV10) handelt, die weißes sich um eine „weiße Schwellung (ת־ל ָבנָ ה Haar und gesundes „lebendes Fleisch“ in ihrer Mitte hat. Diese Erhebung kann durch eine Entwicklung neutralisiert werden, die die Neutralisierung des zuvor beschriebenen Hautausschlags (in Fall 1) widerspiegelt: So wie ein Fleck durch allmähliches Angleichen an die ihn umgebende Haut rein wird, so wird der Fleck hier rein wenn er den gesamten Körper bedeckt.18 (Der skizzierten Struktur folgend schließt diese Passage mit der Aussage, dass sobald ein Stück „lebendes Fleisch“ auf dem ansonsten vollständig vom Ausschlag bedeckten Körper erscheint, der Körper sofort wieder unrein ist.)19 Der Status ritueller Unreinheit scheint hier also nicht eine wesentliche Eigenschaft eines bestimmten Hautausschlags, sondern ist Ergebnis einer Vermischung: Ein Fleck wird als unrein eingestuft, wenn er inmitten von „normaler“ Haut visuell als „andere Haut“ erkennbar ist. Und er wird für rein erklärt, wenn er entweder den gesamten Körper bedeckt, so dass keine „Hautmischung“ mehr vorhanden ist, oder wenn er allmählich der Haut ähnelt, die ihn umgibt. Anders ausgedrückt: Haut wird als rein deklariert, wenn sie homogen ist, wenn Hautflecken sich allmählich an die andere Haut visuell „assimilieren“ oder diese gänzlich verdrängen. Ein Fleck wird unrein deklariert, sobald er als sichtbar identifizierbarer, unabhängiger „Anderer“ inmitten normaler Haut existiert.20 Die rituelle Unreinheit der Haut ist damit also Resultat einer „gestörten“ visuellen Kommunikation zwischen den Augen des Priesters und der Haut, die er untersucht: Die Unreinheit entsteht, wenn der Priester die Haut nicht „lesen“ kann. Im Gegensatz zu jeder anderen Art von ritueller Unreinheit, der ein Israelit ausgesetzt sein kann, verwandelt die Deklaration des Priesters über die Unreinheit der Haut den Israeliten in eine Person, die auch räumlich abge18 Ein Fleck, der den gesamten Körper bedeckt, erfordert auch keinen Ausschluss aus dem Lager und nicht einmal, wie in Lev 13,6 (der Fall des allmählich verblassenden Flecks, der sich nicht über einen Zeitraum von vierzehn Tagen ausbreitet), das Waschen von Kleidung. 19 Für eine andere Lesart vgl. Boris Ostrer, „Leviticus 13:13 and Its Mishnaic Parallel“, JJS 53 (2002): 18–26. 20 Der levitische Text enthält einige „Untervarianten“. Lev 13,40–44 betrifft einen Mann ( )אישmit einer Glatze. Dieser ist an sich rein: Er muss nicht von einem Priester inspiziert werden. Nur wenn sich ein Hautfleck über die Glatze ausbreitet, muss er inspiziert werden. Weitere Untervarianten (nach dem Muster von Lev 13,18–23.24–28) betreffen verbrannte Haut und einen Hautausschlag namens Shehin ()שחין. Wenn die üblichen Anzeichen von Unreinheit erkennbar sind (wie weißes Haar und ein Fleck, der „tiefer als die Haut“ ist), ist der Fleck per se unrein. Wenn jedoch keine derartigen Anzeichen von Unreinheit erkennbar sind und der Fleck dunkel aussieht, wird Reinheit oder Unreinheit entsprechend der Entwicklung oder Rezession des Fleckens deklariert: Wenn er sich nicht innerhalb von sieben Tagen ausbreitet, wird er als rein erklärt (Lev 13,23.28).
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trennt ist. Die Person mit einer Hautunreinheit muss Handlungen ausführen, die jenen eines Trauernden ähneln: Der Aussätzige mit dem Anzeichen [Nega‘] soll eingerissene Kleider tragen und das Kopfhaar ungekämmt lassen; er soll den Bart verhüllen und ausrufen: Unrein! Unrein! Solange das Anzeichen an ihm besteht, bleibt er unrein; er ist unrein. Er soll abgesondert wohnen, außerhalb des Lagers soll er sich aufhalten (Lev 13,45f.).21
Auch in Aarons Plädoyer für Mirjam (in Num 12,12) wird ihr Hautausschlag mit „Tod“ assoziiert: „Mirjam soll nicht wie eine Totgeburt sein, halb verwest, wenn sie den Schoß der Mutter verlässt.“ Und in bNed 64b wird Hautunreinheit neben Kinderlosigkeit, Armut und Blindheit mit einem „lebendigen Tod“ in Verbindung gebracht. Andere Unreinheiten, deren Ursache der menschliche Körper sein kann, werden nicht als negativ oder störend beschrieben, sondern als ein gewöhnlicher, nicht weiter störender Umstand – Handlungen, die zu ritueller Unreinheit führen, wie Sex oder Geburt, sind positiv konnotiert. Entsprechend dieser Lesart hängt der Ausschluss von Israeliten mit unreiner Haut auch nicht mit dem Bedürfnis des Kollektivs zusammen, sich vor „Kontamination“ zu schützen – wenn dies der Fall wäre, würde eine Person, deren Haut vollständig von einem Ausschlag bedeckt ist, eher eine Quarantäne benötigen als für rein erklärt werden. Die räumliche Ausgrenzung scheint eher verbunden mit der sozialen Dimension der Unfähigkeit des Priesters, Haut zu „entziffern“: Wenn die „Unleserlichkeit“ der Haut zu einer räumlichen Ausgrenzung führt, wird damit auch die Abhängigkeit einer (halakhischen, sozialen und räumlichen) Inklusion von der Lesbarkeit statuiert. Die Vertreibung der „unleserlichen“ Israeliten an den Rand des Lagers markiert die Voraussetzungen für Aufnahme und Einverleibung: Als rituell unreine Personen gehören die „Vertriebenen“ zwar zum Kollektiv der Israeliten; sie fallen in den „Zuständigkeitsbereichs“ des Priesters, der folglich regelmäßig die unreine Haut inspiziert.22 Jedoch ist ihre Haut „unleserlich“ – sie befinden sich an den räumlichen Rändern jener, die „gelesen“ werden können. Ihre räumliche Position an den Rändern des Lagers entspricht ihrer „epistemologischen“ Position an den Grenzen der rabbinischen Gerichtsbarkeit: Sie bewegen sich nahe an die Grenze, die Israeliten von Nicht-Israeliten trennt – auf 21 Siehe auch Num 5,1–3:„Der Herr sprach zu Mose: Gebiete den Israeliten, jeden aus dem Lager zu schicken, der an Aussatz oder an einem Ausfluss leidet, und jeden, der sich an einer Leiche verunreinigt hat! Ob Mann oder Frau, schickt sie hinaus, aus dem Lager sollt ihr sie hinausschicken! Sie dürfen das Lager nicht verunreinigen, in dessen Mitte ich wohne.“ 22 Der biblische Text weist nicht auf die Möglichkeit einer fortwährenden, ewigen Unreinheit hin. Entweder wird die Unreinheit schließlich für rein erklärt oder sie bleibt unrein und der Priester überprüft die Stellen immer wieder.
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der einen Seite jene, die rituell unrein werden können, und auf der anderen Seite jene, die nicht gelesen werden können. Mira Balberg kommentiert zu Traktat Nega‘im in diesem Sinne: „[i]m System der Mischna können die Körper von Nicht-Juden nicht als unrein gelesen werden, da sie überhaupt nicht gelesen werden können. Sie werden nicht ‚weniger als Menschen‘ betrachtet, sondern gelten als uninterpretierbare Menschen“.23 In der Assoziation von rituell unreiner Haut mit „Tod“ ist damit angedeutet, was für die Rabbinen „Leben“ ausmacht: An den Rändern des Lagers ähnelt der „unleserliche“ Israelit einem Nicht-Israeliten. Der temporär „uninterpretierbare“ Israelit kommt der kategorischen Unleserlichkeit eines Nicht-Israeliten und damit dem Ausschluss aus der rabbinischen Gerichtsbarkeit im weiteren Sinne nahe – ein „Tod“ des durch diese Gerichtsbarkeit konstituierten Lebens. Beim Übergang vom priesterlichen zum rabbinischen Reinheitsdiskurs erweitern die Tannaim den Umfang ihrer Inspektion, indem sie ein gesamtes Wissensgebiet zu den Farben von Hautflecken entwickeln, die über den rituellen Status der Haut Auskunft geben. In der Mischna ist das Lesen von Haut also „Expertenwissen“, das durch eine entsprechende Expertensprache konstituiert und vermittelt wird. Zum Beispiel wird in mNeg 1,4 von Rabbi Hanina, dem „Oberhaupt der Priester“, angegeben, dass es 16 Farben von Hautflecken gibt, übertroffen von der Virtuosität von Rabbi Dosa, der behauptet, 36 Farben identifizieren zu können, und Akabja ben Mahalalel, der zwischen 72 Farben differenzieren kann.24 So wie in Levitikus die Inspektion selbst Hautunreinheiten entstehen lässt, so wird in der Mischna durch die Benennung einer immensen Vielzahl potenziell unreiner Farben der „Griff“ des Blicks auf die Haut und die Beziehung zwischen rabbinischem Fachwissen und der Haut intensiviert. Salman Sayyid hat die Kraft des Benennens 23 Balberg, „Rabbinic Authority“, 342. S. a. Hayes, Gentile Impurities. 24 In mNeg 3,1 statuiert eine anonyme Lehrmeinung, dass „alle zur Besichtigung des tsara‘at zugelassen sind“. Gleichzeitig schränkt der Traktat aber die Reihe derer ein, die in der Lage sind eine Inspektion durchzuführen. Balberg, „Rabbinic Authority“, 337f., analysiert: „Ich schlage vor, dass es hier nicht, wie Fraade argumentiert, darum geht zu bestätigen, dass Laien Hautflecken untersuchen können. Noch geht es hier um den Versuch, die Heiligkeit der Priester auf ganz Israel auszudehnen, wie Neusner argumentiert. Indem die Rabbiner das Inspektionsmittel entpersönlichen und gleichzeitig nachdrücklich betonen, dass rabbinisches Wissen für den Inspektionsprozess unabdingbar ist, präsentieren sie den Inspektor als objektiv, seine Macht als ein Resultat seiner Fähigkeiten und seines Verdienstes.“ Wenn die Tannaim behaupten, dass „alle in der Lage sind, ein tsara‘at zu untersuchen“, bekräftigen sie also ihren eigenen Status als Kenner des Körpers, lösen diesen Status jedoch von ihrer eigenen Persönlichkeit und präsentieren ihn somit als objektives Ergebnis von Fähigkeiten. Die Aussage „jeder ist zugelassen …“ könnte auch als eine anti-sektiererische Polemik gelesen werden, da beispielsweise in Qumran das Inspektionsrecht nur Priestern vorbehalten war. Dazu s. a. Yitzhaq Feder, „The Polemic Regarding Skin Disease in 4QMMT“, DSD 19 (2012): 55–70.
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theoretisiert: „Ein Name ist nicht nur eine kurze Bezeichnung für etwas, das bereits existiert, sondern er dringt durch den Prozess des Benennens in unser Bewusstsein ein. Ein Name ist nicht nur eine Bezeichnung, die einfach an etwas angebracht werden kann, das bereits vorhanden ist: durch das Benennen werden heterogene Elemente zusammengeführt, um dann das intrinsische Merkmal der benannten Entität zu werden“.25 Als Korrelat dieser Intensivierung scheint in der Mischna auch die Inspektion selbst viel umfassender zu sein als die im Text von Levitikus implizierte. Während Letzterer nahe legt, dass die betroffene Hautstelle selbst untersucht wird und ein Punkt, der für das Auge nicht sichtbar ist (Lev 13,12), gar nicht untersucht wird, scheint sich die Mischna eine Untersuchung des gesamten Körpers vorzustellen: Wie erfolgt eine Besichtigung des Aussatzes? Beim Mann in der Stellung, wie grabend oder Oliven pflückend, und bei einer Frau in der Stellung wie Brot herrichtend, oder ihr Kind stillend, und wenn am Unterarm, die rechte Hand, wie im Stehen webend; Rabbi Jehuda sagt, auch die linke Hand, wie Flachs spinnend. (mNeg 2,4)
Dieser Text über die Körperpositionen, in denen die Untersuchung durchgeführt wird, ist die einzige Passage im Traktat, in der explizit zwischen Frauen und Männern unterschieden wird. Männer sollen so positioniert werden, als würden sie in der Landwirtschaft arbeiten, Frauen, als verrichteten sie verschiedene Hausarbeiten. Miriam Peskowitz hat diese Passage in Bezug auf die scheinbar beiläufige Verbindung von Frauen mit Häuslichkeit und Männern mit Öffentlichkeit in einem Kontext, in dem es überhaupt nicht um Arbeit geht, analysiert.26 Im Kontext von Traktat Nega‘im würde ich diese Mischna jedoch vor allem im Hinblick auf den hier implizierten Zugang des Blickes zum gesamten Körper lesen: Nach mMiq 8,5 können Körperteile, die normalerweise bedeckt oder „versteckt“ sind, nicht rituell unrein werden, und man könnte daher annehmen, dass man diese Körperteile nicht inspizieren muss – mNeg 2,4 funktioniert hier wie ein hawa amina ()הוה אמינא, d. h., wie ein 25 Salman Sayyid, Recalling the Caliphate: Decolonisation and the World Order (London: Hurst, 2014), 2. 26 Miriam B. Peskowitz, Spinning Fantasies: Rabbis, Gender and History (Contraversions 9; Berkeley: University of California Press, 1997), 86, bemerkt in Bezug auf diese Passage: „Die Rabbinen wussten, dass Männer Brot backen und Frauen Oliven ernten können, weil sie in ihren eigenen Texten darüber geschrieben haben. Sie wussten, dass Männer als Weber arbeiteten und mit dem Positionieren der Arme am Webstuhl vertraut waren … Trotz ihres Wissens über eine Vielzahl sich überschneidender Aufgaben von Frauen und Männern wird in der Passage klar zwischen den Aufgaben von Frauen und Männern unterschieden. Männer erledigen ihre landwirtschaftlichen Aufgaben im Freien, und Frauen sind in häuslichen Umgebungen, in denen sie Kinder stillen, Brot kneten, weben und spinnen“.
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Text, der eine anfängliche Annahme artikuliert, um diese zu widerlegen: Man könnte annehmen, dass beispielweise ein weiblicher Körper nicht vollständig untersucht wird, sondern zum Teil bedeckt bleibt – wie jedoch diese Mischna lehrt, werden sowohl Männer als auch Frauen „komplett“ inspiziert.27 Dementsprechend ist im Paralleltext zu dieser Mischna in der Tosefta (tNeg 1,5) diese Passage in die Frage nach der Inspektion von Häusern mit geschlossenen Fenstern und gefalteten Laken eingebettet: „Ein dunkles Haus, dessen Fenster geschlossen sind: sie öffnen die Fenster und untersuchen den Nega‘. Ein Laken, das gefaltet ist: Sie öffnen die Falten und untersuchen den Nega‘“. Genauso wie die Fenster des Hauses geöffnet und die Falten des Lakens für die Untersuchung geglättet werden, so müssen auch normalerweise verborgene Körperteile „geöffnet“ werden.28 Darüberhinaus scheint die Ausweitung der Untersuchung auch eine Veränderung des Wesens von ritueller Reinheit zu implizieren. In Levitikus betrifft die Inspektion des Priesters diejenigen Körperteile, die sichtbar, d. h. unbedeckt sind. Damit betrifft die levitische Inspektion diejenigen Körperteile, die für das soziale Selbst einer Person relevant sind.29 Das, was für die Umgebung „unsichtbar“ ist, spielt für das soziale Selbst kaum eine Rolle. Wenn in der Mischna die Inspektion jedoch den gesamten Körper einschließt (einschließlich der normalerweise abgedeckten Teile, aber nicht unbedingt der Genitalien), so wird durch diese Untersuchung die Verbindung des rabbinischen Wissens mit der Subjektivität des Inspizierten verstärkt: Das Rechtssubjekt, das die Mischna voraussetzt, ist eines, das die Zugänglichkeit des Körpers jenseits der normalerweise sichtbaren, „sozial relevanten“ Körperstellen als selbstverständlich ansieht und den gesamten Körper als durch rabbinisches Wissen konstituiert erlebt. Der gesamte Körper kann „wie ein Laken“ ausgebreitet, gelesen und damit reguliert werden.30 27 Siehe auch Balberg, „Rabbinic Authority“, 334–336. 28 Die Fortsetzung von tNeg 1,5 lautet wie folgt: „Wird ein Nega‘ im Inneren der Räume gesehen, oder in den Spalten, dann benötigt er keine Untersuchung. Wenn man ihn weggemacht hat, dann ist er wie ein gefaltetes Laken, das geglättet wird. Und wie ein verborgener Bereich ()בית הסתרים, der aufgedeckt wird. Wie eine Weberin, die steht und (man sieht) ihre Achselhöhle am rechten Arm, sagt Rabbi Meir. Rabbi Jehuda sagt: So als ob sie mit ihrer linken Hand spinnt …“ Dies könnte bedeuten, dass man den gesamten Körper mit Ausnahme der Genitalien untersucht; Maimonides versteht in seinem Kommentar zu mNeg 2,4 jedoch, dass diese Passage impliziert, dass die Untersuchung Nacktheit erfordert. 29 In bBer 5b wird vorgeschlagen, dass ein „unsichtbares Hautleiden“ eine „Qual der Liebe“ ist, d. h. eine Qual, die von Gott auf eine Person gebracht wurde. 30 Dies spiegelt die Beobachtung von Rosen-Zvi, „Mental Revolution“, 54, wider, gemäß der es im rabbinischen halakhischen Diskurs keine „innere Person“ gibt, keine „Seele oder Logos, die, wie bei Platon oder Paulus, im Gegensatz zu ‚äußeren‘ Teilen des Selbst stehen … Die mischnaische Wahrheit kann nicht gefunden werden, indem man nach innen schaut – wie bei Augustinus – und es existiert keine nur ‚mir‘ bekannte, verborgene ‚innere Wahrheit‘, wie jene durch die moderne radikale Dicho-
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Charlotte Fonrobert arbeitet in ihrer Monographie über Menstruationsunreinheit heraus, dass Traktat Nega‘im als eine Art Blaupause von Traktat Nidda gelesen werden kann, der die levitischen Gesetze zur Un/reinheit gleichermaßen erweitert und transformiert. Während die Bestimmung levitischer Menstruationsreinheit keine externe Autorität erfordert und im Wesentlichen den Händen menstruierender Frauen selbst überlassen ist, wird im Traktat Nidda eine umfassende, spezialisierte Taxonomie von Formen und Farben entwickelt, die die Beurteilung durch einen „Experten“ erfordern, der dann selbst – und eben nicht die menstruierende Frau – darüber entschiedet, ob es sich bei einem Fleck um Menstruationsblut handelt.31 In Übereinstimmung mit dieser Beziehung zwischen Traktat Nidda und Traktat Nega‘im ist es möglicherweise kein Zufall, dass speziell in späteren amoräischen Quellen ein Hautleiden häufig mit der Nichtbeachtung der Nidda-Vorschriften in Verbindung gebracht wird, hauptsächlich mit dem Verbot des Geschlechtsverkehrs mit einer menstruierenden Frau:32 …wer bedingt den Tsara‘at eines neugeborenen Kindes? Seine Mutter, die nicht die [Gesetze zu den] Tage(n) ihrer Menstruation befolgt hat. (WaR 15,5) Rabbi Acha sagte: Wenn ein Mann Geschlechtsverkehr mit seiner Frau hat, während sie menstruiert, dann werden die Kinder Tsara‘at haben. (Tan Metsora‘ 1)
In solchen moralisierenden Aussagen dient die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen der Nichtbeachtung der Menstruationsgesetze und einer Unreinheit der Haut einem didaktischen Zweck. Im Bereich der Menstruationsgesetze sind Frauen dafür verantwortlich, jene halakhischen Vorschriften zu beachten, die mit der Menstruation zusammenhängen: bei Gesetzen, die unmittelbar mit dem Körper in Verbindung stehen, haben Frauen hier notwendigerweise eine gewisse Autonomie, die durch ihren „privilegierten Zugang“ zu Kenntnissen über ihre (eigene) Menstruation unumgänglich ist. Keine Person außer der menstruierenden Frau selbst kann letztlich die Einhaltung dieser Gesetze sicherstellen. Die „Unsichtbarkeit“ der Menstruation für einen Blick von außen, und die Unzugänglichkeit des Inneren des weiblichen Körpers erschweren es, dieses Innere halakhisch zu regulieren und die Beobachtung in diesem Bereich von außen sicherzustellen. Wenn hier also eine sichtbare Unreinheit der Haut mit einer Bestrafung für ein schwer zu „sehendes“ Gebiet wie jenes der Menstruation assoziativ verbunden wird, wirken die Sichtbartomie zwischen dem Inneren und dem Äußeren entstandene Wahrheit … Es ist eine einfache Welt, die lediglich die Äußere repliziert und ihren Regeln unterliegt“. 31 Fonrobert, Menstrual Purity, 108f. 32 Siehe dazu James A. Diamond, „Maimonides on Leprosy: Illness as Contemplative Metaphor“, JQR 96 (2006): 95–122.
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keit der Haut und der rabbinische „Griff“ auf die Haut rhetorisch wie ein Mittel, mit Hilfe dessen der „Mangel“ an Sichtbarkeit im Bereich der Mens truation quasi ausgeglichen werden kann. Die Rhetorik der Unreinheit kann somit über den Kontext der rituellen Reinheit hinaus in einen Kontext der „moralischen Unreinheit“33 übergehen: In den oben zitierten Aussagen sind die Form, Farbe, oder die Entwicklung eines Hautausschlags im Laufe der Zeit, als auch der rituelle Status eines Ausschlags, ohne Belang. Hier wird der Fleck auf der Haut als öffentliche Entstellung dargestellt, und die Aussicht auf eine solche öffentliche Beschämung wirkt wie eine Warnung vor einer „verborgenen“ Übertretung,34 die die praktische Unzugänglichkeit des weiblichen Körpers für einen Blick von außen rhetorisch überbrückt. Die Sichtbarkeit der Haut wird aufgerufen, um die erkenntnistheoretische Sichtbarkeit auch des Inneren des weiblichen Körpers zu suggerieren. Die Sichtbarkeit der Haut funktioniert damit rhetorisch wie ein Spiegel, der das Unzugängliche und Private nach außen, und damit in den Bereich des Sichtbaren, stülpt.
3.
Die Unreinheit der Haut als physische Entstellung
Ich werde mich nun einem Midrasch zuwenden, in dem zwar eine Hautunreinheit auftaucht, der aber ansonsten nichts mit dem tannaitischen Diskurs aus Traktat Nega‘im gemein zu haben scheint. Eine Hautunreinheit wird hier als Entstellung beschrieben, die Männer davon abhält eine Frau mit einer solchen Hautunreinheit zu heiraten, selbst wenn diese so „angesehen“ ist wie Mirjam, Moses’ Schwester. Der Midrasch bezieht sich auf mehrere obskure Verse aus den Büchern der Chronik, die Mirjam nicht erwähnen: Kaleb, der Sohn Hezrons, zeugte mit seiner Frau Azuva die Jeriot. Deren Söhne waren Jescher, Schobab und Ardon (1 Chr 2,18). […] Azuva ist Mirjam. Wa rum hieß sie Azuva ( ?)עזובהWeil sie anfangs von allen verlassen war ()עזבוה. Zeugte – aber er hat sie ja geheiratet! Rabbi Jochanan erwiderte: Wer eine Frau um des Himmels willen ( )שמיים לשםnimmt, dem rechnet es die Schrift an, als hätte er sie gezeugt. Jeriot ()יריעות – weil ihr Gesicht Vorhängen ( )יריעותglich. 33 Hayes, Gentile Impurities, 193. 34 Ishay Rosen-Zvi argumentiert, dass die Entwicklung des Sota-Rituals eine Manifestation von Macht und Kontrolle über den Körper der Frau ist, die (unter anderem) durch den Akt des Entblößens erreicht wird. Vgl. Ishay Rosen-Zvi, „The ‚Sotah‘ in the Temple: A Well-Ordered Choreography“, in Introduction to Seder Qodashim (hg. v. Tal Ilan, Monika Brockhaus und Tanja Hidde; FCBT V; Tübingen: Mohr Siebeck, 2012), 71–84; Ders., The Mishnaic Sotah Ritual: Temple, Gender and Midrash (JSJ.S 160; Leiden: Brill, 2012).
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Und dies sind deren Söhne – man lese nicht „deren Söhne“ ()בניה, sondern „deren Erbauer“ (… )בוניה Aschhur, der Vater Tekoas, hatte zwei Frauen, Hela und Naara (1 Chr 4,5). Ashur ist Caleb … Der Vater – er war ihr ein Vater geworden … Hatte zwei Frauen – Mirjam war wie zwei Frauen geworden. Hela und Naara – sie war nicht Hela und Naara, sondern zuerst kränkelnd (helah/ )חלהund nachher jugendlich (na‘arah/)נערה. Die Söhne der Hela waren: Zeret, Zohar und Etnan (1 Chr 4,7). Zeret ()צרת – sie war die Rivalin ( )צרהihrer Genossinnen geworden. Zohar ()צוהר – ihr Gesicht glich dem Mittag ()צהריים. Etnan ()אתנן – wer sie sah brachte seiner Frau ein Geschenk ()אתנן.35 (bSot 11b–12a)
Dieser Midrasch ist Teil einer Gruppe von Midraschim, die sich auf Mirjam im Kontext ihrer Familie beziehen (bSot 11a–12b). Midrasch-Interpretationen kreieren oft familiäre Beziehungen zwischen Charakteren der Hebräischen Bibel, verbinden „kleinere“ Figuren mit bekannteren und finden in kleinsten genealogischen Details eine gewichtige Bedeutung. Devora Steinmetz führt in einer Diskussion dieser Gruppe von Midraschim aus, dass diejenigen Midraschim, die sich mit Mirjams Beziehung zu ihrer Familie befassen, die größte Gruppe von Midraschim zu Mirjam darstellen und eine bestimmte Grundhandlung beinhalten: Mirjams Selbstverpflichtung zu genealogischer Kontinuität und damit zusammenhängend ihre Sorge um die Kontinuität der Führung der Israeliten. Im Fokus stehen hier Mirjams Interventionen in denjenigen Momenten, in denen entsprechend des biblischen Narrativs Frauen von ihren Männern verlassen wurden – was eine Gefahr für eine auf Geburt von männlichem Nachwuchs beruhende Führung beruht.36 Mirjams Belohnung für ihr Engagement um Kontinuität ist, laut dieser Reihe von Midraschim, die Institution des Königtums mit Mirjam als Gründungsmutter von König David (bSot 11b). Um diesen genealogischen Anspruch aufrechtzuerhalten, erzählt der babylonische Talmud eine Geschichte über Mirjams eigenes Verlassensein und ihre spätere Ehe mit Kaleb. 35 Etnan bezeichnet Geld, das einer Prostituierten für sexuelle Dienste gegeben wird. Möglicherweise wird dieses Wort im Midrasch verwendet, um zu implizieren, dass jeder, der sie sah, an Geschlechtsverkehr mit seiner Frau erinnert wurde. 36 Devora Steinmetz, „A Portrait of Miriam in Rabbinic Midrash“, Proof. 8 (1988): 35–65; 38. Zum Beispiel werden die in Ex 1,15 erwähnten hebräischen Hebammen Schifra und Pua in bSot 11b als „Mirjam und Jochebed“ identifiziert (mehr dazu unter Moshe Lavee, „Die Identität der Hebammen in Ägypten: Rekonstruktion eines verloren gegangenen rabbinischen Midrasch aus der Kairoer Geniza“ in diesem Band), wobei die Rabbinen die Hebammen-Episode an die zuvor dargestellte Szene binden: Ein Mädchen, das sie als Mirjam identifizieren, wacht über Moses’ Schicksal, als das Baby nach Pharaos Dekret in den Fluss gelegt wird.
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Die Identifizierung von Mirjam als Frau Kalebs und Vorfahrin Davids findet sich bereits in SifBam 78, wobei die Etymologie des Namens Azuva nicht als „Verlassensein“ gedeutet wird. Steinmetz kommt daher zu dem Schluss, dass „es kaum Belege dafür gibt, dass die im babylonischen Talmud überlieferte Erzählung der Komposition dieser Passage vorausging“.37 Dies steht im Einklang mit der Lesart des babylonischen Talmuds von Mirjam als einer Figur, deren Hauptanliegen die Kontinuität der Führung durch die Ermöglichung von Geburten ist: „Wenn die Geschichte von Mirjams Verlassensein eine Innovation des babylonischen Talmuds ist, dann deutet dies höchstwahrscheinlich auf das Bestreben, das Porträt von Mirjam so zu erweitern, dass jedes von Mirjams Erlebnissen ein einziges Muster bildet.“38 In diesem Midrasch wird Mirjams Verlassensein als in Zusammenhang mit ihrer Haut stehend gedeutet. Als Mirjam eine Hautunreinheit hatte, nämlich „am Anfang“, wurde sie von Männern verlassen und heißt daher Azuva עזובה – die Verlassene. Die Haut wird hier als hässlich angesehen, als eine Quelle der Scham, und der Midrasch scheint die Assoziationen aufzunehmen, die im Buch Numeri im Zusammenhang mit Mirjams Hautausschlag auftauchen: Der Ausschlag macht sie „gleich einer toten Geburt, die, wenn sie aus dem Mutterleib kommt, halb verwest ist“ (Num 12,12), wie jemand, deren „Vater ihr ins Gesicht gespuckt hat“ (Num 12,14). Dennoch heiratet Kaleb sie „zugunsten eines höheren Ziels“ – um Kinder zu zeugen. Kaleb wird als ihr Vater bezeichnet, da sie ohne ihn immer noch eine Verlassene wäre: eine unverheiratete Frau, die hier als „noch nicht geboren“ metaphorisiert wird. Dies ändert sich schlagartig, als sie von ihrer Hautunreinheit geheilt wird. Sie wird „jugendlich“, eine Rivalin jeder Ehefrau, ihr Gesicht strahlt „wie mittags“, und wer sie sah, brachte seiner Frau ein Geschenk. Dieser Midrasch unterscheidet sich von der Beschreibung der Hautunreinheit in Traktat Nega‘im, überlappt aber auch mit dieser. Wie aufgezeigt, ist in Traktat Nega‘im halakhische, soziale und räumliche Inklusion von der Lesbarkeit der Haut (oder allgemeiner von der Lesbarkeit des Körpers) abhängig, wobei diese Lesbarkeit des Körpers eine hierarchische, soziale Beziehung begründet: Rituelle Unreinheit entsteht im Moment, in dem die Hautoberfläche dem inspizierendem Blick des Priesters oder Rabbiners ausgesetzt ist, und existiert nicht als privater, individueller Körperzustand. Ohne den Moment der Inspektion gibt es keine Unreinheit. Auch in diesem Midrasch wird ein Blick als konstitutiv beschrieben: Mirjam wird unverheiratet als „nicht existierend“ dargestellt. Das hierarchisierte soziale Verhältnis von Betrachter und Betrachtetem ist hier explizit gegendert, wobei der Blick nicht einen rituell un/reinen Israeliten konstituiert, sondern eine weibliche Person. Während im Kontext von ritueller Un/reinheit ein Blick die Zugehörigkeit zum israeliti37 Steinmetz, „A Portrait of Miriam“, 47. 38 Ebd.
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schen Kollektiv begründet, begründet das „Nicht-angeschaut-werden“ Mirjam als verlassene Frau, bzw. das „Angeschaut-werden“ als verheiratete Frau und Mutter von Söhnen. Wenn rituell unreine Haut dazu führt, dass der Israelit am Rande des Lagers weilt, dann ist es hier physische Entstellung, die dazu führt, dass Mirjam von dem „Zelt“ des Ehelebens und speziell der Geburt eines Kindes ausgeschlossen wird. So wie in Traktat Nega‘im Haut objektiviert und in Übereinstimmung mit dem Protokoll der Farben der rituellen Unreinheit gelesen wird, so wird Haut in diesem Midrasch in Übereinstimmung mit den Ansichten und Vorlieben eines Mannes gelesen: Ein Hautleiden greift, wenn es als Entstellung relevant ist, in Mirjams soziales Selbst ein und wird zu einer Quelle der Verwundbarkeit. Während in diesem Midrasch diejenigen Midraschim nachhallen, in denen Mirjams Engagement für Geburten hervorgehoben ist, ist der „Wegbereiter“ der Kontinuität hier jedoch Kaleb.39 In den anderen Midraschim setzt sich Mirjam für verlassene Frauen ein und überredet Männer, die ehelichen Beziehungen zu ihnen aufrechtzuerhalten, während in diesem Midrasch niemand zu Mirjams Gunsten einzugreifen scheint. Es ist nicht Mirjam, die als Wegbereiterin der kollektiven „Kontinuität durch Verpflichtung zur Geburt“ auftritt, sondern Kaleb, der sie trotz ihres Leidens „zeugt“. In der Tat wird in Übereinstimmung mit Traktat Nega‘im auch hier die von Hautunreinheit Betroffene durch einen Akt der Unterwerfung unter einen Blick in die Gesellschaft „reintegriert“, sei es in die Familie oder das größere Kollektiv. Es scheint, dass in einem Kontext, in dem die raison d’etre ritueller (Un-) Reinheit – der Tempel – nicht mehr existiert, der Diskurs der rituellen (Un-) Reinheit seine „Lesbarkeit“ in einer Art und Weise beibehält, die sich einerseits zwar grundlegend unterscheidet, sich andererseits aber auch mit ihm überschneidet: Objektifizierung und Lesbarkeit, die ich als grundlegende strukturellen Elemente von Traktat Nega‘im beschrieben habe, können in einen anderen erkenntnistheoretischen Bereich „migrieren“ und eine geschlechtsspezifisch artikulierte Hierarchie konstituieren, die genau wie in Traktat Nega‘im vom Primat des Sehens als Vermittler von Wissen ausgeht und das inspizierte „Ding“ dadurch gleichzeitig mitkonstitutiert. In dem Moment, in dem rituelle Unreinheit der Haut als eine physische Entstellung re39 In bSot 12a zeigt ein Midrasch, wie Mirjam die Entscheidung ihres Vaters, sich von seiner Frau Jochebed scheiden zu lassen, in Frage stellt. Sie fordert ihn auf, die ehelichen Beziehungen zu ihrer Mutter wieder aufzunehmen. In Sifre Zuta 12,1 wird die biblische Geschichte über Mirjam und Aarons Klatsch über Moses als von derselben Sorge inspiriert gelesen: Zippora erzählt Mirjam, dass Moses die ehelichen Beziehungen zu ihr nicht wieder aufgenommen hat, seit Gott zu ihm gesprochen hat, und Mirjam vermittelt dies Aaron. Der Midrasch ist ambivalent in Bezug auf ihr Handeln, da ihr Klatsch in dieser Lesart durch eine Absicht motiviert ist, die die Rabbinen befürworten (Geburt, Kontinuität), während Moses andererseits aber ein so außergewöhnlicher Anführer war, dass sein „Amt“ von ihm eine Art Zölibat verlangte.
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levant wird, kann der Ausschluss eines Israeliten aus dem Lager „übersetzt“ werden in den Ausschluss einer Frau aus dem „Heiratsmarkt“ – und es ist vielleicht dieser Aspekt von Traktat Nega‘im, der ohne die Existenz eines Tempels auskommt.
Talmudische Rechtslehre und Gender Der Fall von Rabbi Aqiva und Rabbi Jischmael Alexander A. Dubrau Universität Tübingen
Tal Ilan weist im Kapitel „Daughters of Israel, Weep for R. Ishmael“ in ihrem Buch Silencing the Queen anhand mehrerer Textbeispiele nach, dass die in der talmudischen Literatur tradierte Position der Schule von Rabbi Aqiva in den meisten Fällen eine strengere Ansicht in Bezug auf Frauen vertritt als die entgegengesetzte Position der Schule von Rabbi Jischmael.1 Dies ist der Tatsache geschuldet, dass eine Reihe von Aussagen, die Rabbi Aqiva zugeschrieben werden, aus der Gender-Perspektive für Frauen zum Nachteil gereichen. Deutlich zeigt sich dies beispielsweise dann, wenn der Lehrmeinung von Rabbi Aqiva ein Standpunkt von Rabbi Jischmael gegenübergestellt wird, der eine für Frauen positivere Aussage vertritt. Genderfragen sind damit ein integraler Bestandteil des innerrabbinischen Diskurses. Aussagen über die rabbinische Rechtslehre sind in talmudischen Texten gewöhnlich in Form gelehrter Diskurse formuliert. Die Aussage eines rabbinischen Gelehrten erscheint häufig im Zusammenhang mit der entgegengesetzten Ansicht seines Gegners (Hebr. bar plugta, eine rabbinische Autorität mit widersprechender Position in Detailfragen der Halakha). Der rabbinischen Chronologie folgend tritt diese Korrelation im Selbstverständnis der Rabbinen zum ersten Mal mit den Kontroversen zwischen Hillel und Schammai und ihren Schulen in Erscheinung.2 Diese argumentative Struktur ermög1 Tal Ilan, Silencing the Queen: The Literary Histories of Shelamzion and Other Jewish Women (TSAJ 115; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006), 124–159. Dieser Beitrag basiert auf zwei überarbeiteten älteren Beiträgen der Autorin: „,Daughters of Israel, Weep for Rabbi Ishmael‘ (mNed 9:11): The Schools of Rabbi Aqiva and Rabbi Ishmael on Women“, Nashim: Journal of Jewish Women’s Studies and Gender Issues 4 (2001): 15–34 und „The Wife of Tinius Rufus and Rabbi Akivah“, Massekhet 3 (2005): 103–112 (Hebr.). Unter der „Schule Aqivas“ und der „Schule Jischmaels“ sind keine Schulformen im traditionell-historischen Sinne zu verstehen, sondern Schülerkreise, welche den Traditionen ihrer Lehrer folgten und diese weiterentwickelten. 2 Zur Entwicklung talmudischer Rechtsmethodologie in tannaitischer Literatur siehe: Hanina Ben-Menahem, Neil Hecht und Shai Wosner, Hg., Controversy and Dialogue in Halakhic Sources (3 Bde; Jerusalem: Institute for Research in Jewish Law, 1991–2002) (Hebr.); Benjamin De Vries, המחלוקת, Sinai 53 (1963): 296–301 (Neudr. in Ders., מחקרים בספרות התלמוד, Jerusalem, 1968); Shlomo Naeh, „עשה עיון נוסף בדברי חז״ל על המחלוקת:“לבך חדרי חדרים, in Renewing Jewish Commitment: The Work and Thought of David Hartman (hg. v. Avi Sagi und Zvi Zohar;
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licht die Untersuchung von exegetischen Charakteristiken und Denkweisen, auf welche die Rabbinen rekurrieren. Aus diesem Kontinuum an Lehren und Anschauungen lassen sich weiterführende, die Genderfrage betreffende rabbinische Positionen ableiten. Ausgehend von den Kontroversen zwischen Rabbi Aqiva und Rabbi Jischmael geht der vorliegende Beitrag anhand von zwei Textbeispielen auf verschiedene die Genderfrage betreffende exegetische Prinzipien ein. Dem Aufsatz liegt damit die Auffassung zugrunde, dass durch die Analyse der rabbinischen Hermeneutik ein unmittelbares Verständnis des rabbinischen Gender-Diskurses möglich ist. Das erste Textbeispiel diskutiert ein Kommentar von Rabbi Aqiva zum sogenannten Sota-Ritus (Num 5,11–31, hier V28), der Frauen im Vergleich zur exegetischen Auslegung von Rabbi Jischmael eine aktivere Rolle zuschreibt. Während Rabbi Jischmael faktische Argumente mit exegetischen Erwägungen kombiniert, lässt Rabbi Aqiva nur exegetische Argumente gelten. Rabbi Jischmaels Zugang wirkt sich in dieser Exegese im Vergleich zur Position Aqivas negativ auf den Genderdiskurs aus. Das zweite Textbeispiel setzt sich mit einer Aussage Rabbi Aqivas auseinander, die Frauen von kultischen Aktivitäten während der Herstellung von Reinigungswasser aus der Asche der roten Kuh ausschließt (Num 19). Ich möchte zeigen, wie die Rabbinen, aufbauend auf den exegetischen Prämissen Rabbi Aqivas, in der Entwicklung dieser Tradition Frauen in diese rituellen Aktivitäten partiell integrieren. Mit beiden Textanalysen soll auf die grundlegende Bedeutung exegetischer Auslegungstechniken für die Untersuchung von Genderfragen in der rabbinischen Literatur aufmerksam gemacht werden. Die hermeneutische Position von Rabbi Aqiva kann einen frauenfreundlicheren oder frauenfeindlicheren Standpunkt vertreten, wenngleich, wie Tal Ilan bewiesen hat, letztere Position überwiegt. Der vorliegende Beitrag möchte zeigen, dass Genderfragen an sich für die Exegese von Rabbi Aqiva – anders als für Rabbi Jischmael – nicht von zentraler Bedeutung sind. Rabbi Aqivas Herangehensweise ist allein von hermeneutischen Gesichtspunkten bestimmt, bei denen Genderpositionen keine Rolle spielen. Die misogyne Tendenz der Exegese von Rabbi Aqiva, für Rabbi Jischmael ein Angriffspunkt, ist daher als Ergebnis seiner exegetischen He rangehensweise zu werten.
Tel Aviv: Ha-Kibbutz Ha-Meuchad, 2001), 851–875 (Hebr.); Chana Safrai und Zeev Safrai, תרבות המחלוקת וההכרעה, in Jewish Culture in the Eye of the Storm: A Jubilee Book in Honor of Yosef Ahituv (hg. v. Avi Sagi und Nahem Ilan; Tel Aviv: Ha-Kibbutz Ha-Meuchad, 2002), 326–344 (Hebr.).
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1.
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Können rituell reine Frauen mithilfe des SotaRituals einen Sohn gebären? Hanna, weibliche Fertilität und das Sota-Ritual in bBer 31b
Aus der Perspektive der Gender-Forschung ist viel zum biblischen Sota-Ritual zu sagen. Kaum ein biblisches Ritual bietet mehr Material zum Thema Gender als der in Num 5,11–31 beschriebene Vorgang. Das Ritual, welches beweisen soll, ob sich die von ihrem Ehemann des Ehebruchs verdächtigt Frau der sexuellen Unreinheit schuldig gemacht hat oder nicht, ist nicht zufällig Gegenstand feministischer Kritik.3 Ausgehend von der biblischen Beschreibung des Rituals konzentriert sich die Forschung dabei vor allem auf die rabbinische Auslegung des Rituals, das nach Rabban Jochanan ben Zakkai nicht mehr praktiziert wurde, „seitdem sich die Ehebrecher mehrten“ (mSot 9,9). Ein Blick auf die rabbinische Interpretationen des Sota-Rituals offenbart den kreativen Umgang der Rabbinen mit dieser Tradition, der wiederum zu neuen, Gender-relevanten Diskursen führt, wie beispielsweise die Auseinandersetzung über Pflicht und Verdienst des Torastudiums von Frauen (bSot 20a und Parallelen). Im Folgenden möchte ich mich auf die Erzählung im Babylonischen Talmud Berakhot 31b über Hanna, die Frau Elkanas und Mutter des Propheten Samuels, konzentrieren. Aufbauend auf exegetischen Traditionen tannaitischen Ursprungs legt der Talmud die Annahme zugrunde, dass Hanna beabsichtigte, mithilfe des Sota-Rituals schwanger zu werden. Hannas Verständnis des Sota-Rituals, wie es bBer 31b nahelegt, stützt sich auf zwei bereits in der tannaitischen Literatur diskutierte Kommentare zu Num 5,28. Die Kontroverse über V28 thematisiert weibliche Fertilität wie auch den vorgeburtlichen Einfluss des Rituals auf den Fötus der rituell reinen Sota. Dieser Auseinandersetzung liegen zwei methodische Herangehensweisen zugrunde: Ein teleo3
In den letzten Jahrzehnten haben einige Studien zum Sota-Ritual dazu beigetragen, den Zugang zu rabbinischen Ritualbeschreibungen auf eine neue Grundlage zu stellen, siehe v. a. Ishay Rosen-Zvi, The Mishnaic Sotah Ritual: Gender, Temple and Midrash (JSJ.S 160; Leiden: Brill, 2012); Lisa Grushcow, Writing the Wayward Wife: Rabbinic Interpretations of Sotah (AGJU 62; Leiden: Brill, 2006); Michael L. Satlow, „,Texts of Terror‘: Rabbinic Texts, Speech Acts, and the Control of Mores“, AJSR 21 (1996): 273–297; Ders., Tasting the Dish: Rabbinic Rhetorics of Sexuality (BJSt 303; Atlanta: Scholars Press, 1995); Moshe Halbertal, Interpretative Revolutions in the Making: Values as Interpretative Considerations in Midrashei Ha lakhah (Jerusalem: Magnes Press, 1997), 94–102 (Hebr.). Für Fragen der Genderforschung siehe besonders Rosen-Zvi, The Mishnaic Sotah Ritual; Judith Hauptman, Rereading the Rabbis: A Woman’s Voice (Boulder: Westview Press; 1998), 15–29; Tal Ilan, Jewish Women in Greco-Roman Palestine (TSAJ 44; Tübingen: Mohr Siebeck, 22006), 136–141; Judith R. Baskin, „Rabbinic Reflections on the Barren Wife“, HTR 82 (1989): 101–114.
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logischer Ansatz der Schule von Rabbi Jischmael und eine sich ausschließlich auf die exegetische Auslegung stützende Entscheidungsfindung der Schule von Rabbi Aqiva.4 Während Rabbi Jischmael faktische Argumente mit exegetischen Erwägungen kombiniert, verneint Rabbi Aqiva diese Möglichkeit, indem er ausschließlich exegetische Argumente zulässt. Die verschiedenen exegetischen Anschauungen erklären die divergierenden Aussagen zu weiblicher Fertilität, Embryogenese, Verdienst (Zechut) und Genderfragen.5 Hannas Gebet beendet, so der biblische Bericht in 1 Samuel 1, ihre langwährende Unfruchtbarkeit. Hanna weint und betet inbrünstig für die Geburt eines männlichen Kindes. Sie schwört, ihren zukünftigen Sohn als Nazir Gott zu weihen. Für die Rabbinen bildet Hannas Gebet Inspiration für die ehrfurchtsvolle Stimmung vor und während des Gebets. Ihr tiefes und ernstes Gebet, wie es in 1 Sam 1,10–19 beschrieben ist, ist Vorbild für das obligatorische tägliche Gebet. Im Kontext der rabbinischen Kommentierung von Hannas Gebet im Tempel von Schilo, in dem der Hohepriester Eli amtiert, ist in bBer 31b zu lesen: a – ( אם ראה תראה (שמ״א א יאWenn du [das Elend deiner Magd] ansehen wirst (1 Sam 1,11) – : אמר ר׳ אלעזרRabbi Eleazar sagte: אמרה חנה לפני הקדוש ברוךHanna sprach vor dem Heiligen, gepriesen sei Er: :הוא – ( רבונו של עולם אם ראה (שםHerr der Welt, wenn du siehst (ebd.) – so ist es מוטבrecht, – אלך ) ואם לאו תראה (שםwenn aber nicht – wirst du sehen (ebd.). ואסתתר בפני אלקנה בעלי וכיוןIch werde gehen und mich vor meinem Mann דמסתתרנא משקן לי מי סוטהElkana verbergen, und da ich mich verborgen habe, wird man mich das Bitterwasser trinken lassen. 4 Zum teleologischen Rechtsverständnis siehe Fernando Leal, Ziele und Autorität: Zu den Grenzen teleologischen Rechtsdenkens (Studien zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie 61; Baden Baden: Nomos, 2014). Für detaillierte Diskussionen der Begriffe Deontologie und Teleologie in der christlichen Theologie siehe die Anthologie von Adrian Holderegger und Werner Wolbert, Hg., Deontologie – Teleologie: Normtheoretische Grundlagen in der Diskussion (SThE 135; Fribourg: Academic Press, 2012). Viele rabbinische Quellen thematisieren die Spannung zwischen einer exegetischen Auslegung und einer sich auf Tatsachen berufenden Argumentation. Der vorliegende Beitrag folgt einer Forschungsrichtung, die darauf abzielt, Überlieferungsprozesse in der rabbinischen Literatur im Kontext rabbinischer Rechtsgeschichte und -methodik zu verstehen. Für diesen Ansatz vgl. Ronen Reichman, „Von vier und mehr Gründen, warum man die Pe’a für die Armen am Feldende stehen lassen soll“, Trumah 15 (2005): 79–98. 5 Für eine Diskussion der Baraita in bBer 31b aus hermeneutischer und medizinischhistorischer Perspektive siehe Alexander A. Dubrau, „,So bleibt sie unversehrt und empfängt Samen‘: Weibliche Fertilität, Embryogenese und Rechtsdenken in rabbinischer Auslegung am Beispiel von Numeri 5,28“, Jud. 72 (2016): 49–84.
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ואי אתה עושה תורתך פלסתרDu aber wirst ja deine Tora nicht verfälschen, ונקתה ונזרעה זרע: ‹שנאמרwie gesagt ist: So bleibt sie unversehrt und 6 ›( )במדבר ה כחempfängt Samen (Num 5,28). b1 אם היתה: הניחא למאן דאמרAllerdings nach demjenigen, welcher sagt, dass, שפיר, עקרה נפקדתwenn sie kinderlos war, bedacht werden wird. : אלא למאן דאמרWie ist dies aber nach demjenigen zu erklären,
welcher sagt, [dass sie], אם היתה יולדת בצער יולדתwenn sie mit Schmerzen gebar, nun sanft gebiert; בריוח נקבות יולדת זכריםwenn sie Mädchen [gebar], nun Jungen gebiert; שחורים יולדת לבניםwenn sie schwarze [Kinder gebar], nun weiße [Kinder] gebiert; קצרים יולדת ארוכים מאיwenn sie kleine [Kinder gebar], nun große ? איכא למימרgebiert? b2 : דתניאEs wird nämlich gelehrt: – ( ונקתה ונזרעה זרע (שםSo bleibt sie unversehrt und empfängt Samen (ebd.) – , מלמד שאם היתה עקרהdies lehrt, dass, wenn sie kinderlos war, נפקדתbedacht werden wird, . דברי רבי ישמעאלWorte Rabbi Jischmaels. : אמר ליה ר׳ עקיבאRabbi Aqiva sprach zu ihm: b3 ילכו כל העקרות כולן, אם כןWenn [dem so ist], verbergen sich alle Kinder וזו שלא קלקלה, ויסתתרוlosen, die aber, die sich nicht ruiniert, wird נפקדתbedacht? אלא מלמ׳Vielmehr lehrt dies, dass, שאם היתה יולדת בצער יולדתwenn sie [die Frau] mit Schmerzen gebiert, בריוחnun sanft gebiert; קצרים יולדת ארוכיםwenn sie kleine [Kinder gebar], nun große gebiert; שחורים יולדת לבניםwenn sie schwarze [Kinder gebar], nun weiße [Kinder] gebiert; אחד יולדת שניםwenn sie ein [Kind gebar], nun zwei [Kinder] gebiert. b4 מאי אם ראה תראהWas bedeutet: Wenn du [das Elend deiner Magd] – ?( )שמ״א א יאansehen wirst (1 Sam 1,11)? – . דברה תורה כלשון בני אדםdie Tora spricht die Sprache des Menschen.
Hannas Geschichte in bBer 31b veranschaulicht exemplarisch die Transformation des biblisch-priesterlichen Sota-Rituals hin zu einem Gegenstand talmudischer Argumentation und Entscheidungsfindung. Dies erlaubt den Rabbinen, durch Exegese das Ritual teilweise in die Kontrolle der Frauen zu überführen. Dieser Tradition im Bavli zufolge wird eine Frau, die des Ehebruchs verdächtigt wird, nicht a priori negativ gesehen. Dies ist talmudisch keineswegs selbstverständlich. Rabbi Simeon ben Eleazar zum Beispiel folgert in tSot 2,3 aus dem Lemma in Num 5,28 („So bleibt sie unversehrt [und empfängt Samen]“) mit Bezug auf die reine Sota, dass diese nicht zu bestrafen ist, obwohl 6
MS Firenze: דכת׳ ואם לא נטמאה האשה וטהורה היא ונקתה ונזרעה זרע.
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sie bereits aufgrund des Verbergens vor ihrem Mann eigentlich eine Bestrafung verdient hätte. Gemäß der Erzählung im Babylonischen Talmud kann die Unfruchtbarkeit von Frauen mithilfe des Sota-Rituals überwunden werden. Hanna übermittelt Gott, dass sie, sollte sie weiterhin unfruchtbar sein, sich mit einem fremden Mann absetzen wird, um das Sota-Ritual zu initiieren. Exegetisch trainiert interpretiert Hanna 1 Sam 1,1 für ihren Zweck: Wenn Gott in der Tora von der rituell reinen Sota, das heißt einer Frau, die trotz eines Verdachts auf rituelle Unreinheit mit keinem fremden Mann eine sexuelle Beziehungen einging, behauptet, dass sie Samen empfangen wird (V28), kann dies nur bedeuten, dass das Sota-Ritual, welches den rituell reinen Status der Frau bestätigt, zur gewünschten Schwangerschaft führt. Eine Schlüsselstellung nimmt in diesem Zusammenhang die Schlussfolgerung in b4 ein: Die Aussage, die Thora spricht die Sprache der Menschen (בני )אדם, wird im Gegensatz zu anderen Stellen in der talmudischen Literatur in dieser Baraita Rabbi Aqiva und nicht Rabbi Jischmael zugeschrieben. Nach dieser Lesart kritisiert Rabbi Aqiva Hannas entkontextualisierte Auslegung von 1 Sam 1,11 zugunsten einer teleologischen Interpretation des Sota-Rituals. Die Aussagen in b1–b4 verweisen auf Traditionen, die im Zusammenhang ihrer tannaitischen Quellen zu analysieren sind. Basierend auf dem Verständnis von Num 5,28 führen die Rabbinen eine kontroverse Diskussion über den Einfluss des Bitterwassers auf die weibliche Fertilität und Embryogenese und fragen nach dem vorgeburtlichen Einfluss auf Geschlecht und Aussehen des Kindes. In Num 5,27f. heißt es: )כז) וְ ִה ְׁש ָקּה ֶאת ַה ַּמיִ ם וְ ָהיְ ָתה ִאם נִ ְט ְמ ָאה וַ ִּת ְמעֹל ַמ ַעל ּובאּו ָבּה ַה ַּמיִ ם ָ יׁשּה ָ ְּב ִא ַה ְמ ָא ֲר ִרים ְל ָמ ִרים וְ ָצ ְב ָתה ִב ְטנָ ּה וְ נָ ְפ ָלה יְ ֵר ָכּה וְ ָהיְ ָתה ָה ִא ָּׁשה ְל ָא ָלה ְּב ֶק ֶרב ַע ָּמּה
)כח) וְ ִאם ל ֹא נִ ְט ְמ ָאה ָה ִא ָּׁשה ּוטה ָֹרה ִהוא וְ נִ ְּק ָתה וְ נִ זְ ְר ָעה זָ ַר ע ְ
(27) Und wenn sie das Wasser getrunken hat und unrein ist und sich an ihrem Mann versündigt hat, so wird das fluchbringende Wasser der Bitterkeit in sie gehen und ihr zum Verderben werden, dass ihr der Bauch anschwellen und ihre Hüfte schwinden wird, und es wird die Frau zum Fluch werden unter ihrem Volk. (28) Und wenn die Frau nicht verunreinigt wurde, sondern rein ist, so bleibt sie unversehrt und empfängt Samen.
Nach biblischem Verständnis wird der Uterus der Ehefrau durch das Bitterwasser zerstört. Anders als das rabbinische Verständnis spricht die Bibel nicht explizit vom Tod der unreinen Sota, doch ist es nach dem einfachen Schriftsinn offenbar, dass das Bitterwasser eine mögliche zukünftige Schwangerschaft der Frau verhindert.
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Wenn die Sota jedoch unschuldig ist, wird sie gemäß der Lesart in V28 Samen erhalten: „Sie [die Frau] bleibt unversehrt und empfängt Samen (ונקתה )ונזרעה זרע.“ Num 5,28 führt die Aussage von V19 weiter aus, in dem die rituelle Reinheit der unschuldigen Sota zum ersten Mal erwähnt wird: „Wenn kein Mann bei dir gelegen hat […], so bleibe unversehrt von diesem fluchbringenden Wasser (אם לא שכב איש אתך […] הנקי ממי המרים המאררים )האלה.“ Zusätzlich zur Frage der körperlichen Unversehrtheit der rituell reinen Sota im V19 geht es in V28 auch um weibliche Fruchtbarkeit. Nach Frymer-Kensky ist es sogar denkbar, dass die Bibel aufgrund der (magischen) Eigenschaften des Bitterwassers – einer mit Staub vom Boden der Stiftshütte und reinem Wasser vermischter Substanz mit „ausgewaschenem Gottesnamen“ – die Schwangerschaft auf das Wasser selbst zurückführt. In diesem Falle würde eine Befruchtung ohne männlichen Samen stattfinden: „We cannot discard the further possibility that the waters themselves, coming from the sacred realm (holy water, with dust from the tabernacle floor) and bearing the name of God, were believed to function as an impregnating force, and that the woman was believed to become pregnant as a direct result of this trial.“7 Die Hypothese einer asexuellen Reproduktion ist mit Bezug auf das levitische Reinheitssystem der Bibel höchst zweifelhaft.8 Die im V28 verwendete nif’al-Form der Verbwurzel ( זרעwörtlich „gesät werden“, hier „schwanger werden“) bedarf jedoch weiterführender Erklärungen. Aus dem biblischen Text geht nicht hervor, ob die Wiederherstellung der Fruchtbarkeit nach V28 mit dem Verdienst (Zechut) als Ausgleich für das überstandene Ritual der rituell reinen Sota, bei der die Frau öffentlich beschämt und verflucht wird, in Verbindung zu bringen ist. Der Zweck des SotaRituals besteht biblisch vielmehr darin, die rituelle Reinheit der Sota zu definieren und – im Hinblick auf die rituell-sexuelle Reinheit – den rechtlichen Status der Verbindung zwischen Mann und Frau festzusetzen. Eine (erneute) Schwangerschaft der rituell reinen Frau bezeugt somit auch ihre Unschuld. Moralische Implikationen wie die Kategorie des Verdienstes, als Ausgleich 7 Tikva Frymer-Kensky, „The Strange Case of the Suspected Sotah (Numbers V 11– 31)“, VT 34 (1984): 11–26; 19. 8 Wenn die Bibel davon ausgeht, dass eine Schwangerschaft durch das Bitterwasser ausgelöst werden kann, wäre es natürlich, das Bitterwasser in das biblische System von Rein und Unrein zu integrieren. Es gibt jedoch in der Bibel keinerlei Hinweise auf eine rituelle Verunreinigung derjenigen Personen, die das Bitterwasser berühren oder damit Umgang haben. Ebenso gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Personen Kleidung wechseln, ein rituelles Tauchbad nehmen sollten und auf den Zustand der rituellen Reinheit bis zum Sonnenuntergang warten müssen. Wäre dies der Fall, so zum Beispiel im Ritual der Verbrennung der roten Kur zur Gewinnung von Reinigungswasser, so würde dies den kultischen Status des Bitterwassers im biblischen Reinheitssystem definieren und die Hypothese einer asexuellen Vermehrung bei Einnahme des Bitterwassers bestärken.
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für das für Frauen erniedrigende Verfahren, spielen im biblischen Textverständnis somit offensichtlich keine Rolle. Die rabbinischen Auslegungen zum Sota-Ritual zeichnen ein Bild, das sich von dem in der Schrift dargestellten unterscheidet. Der in den rabbinischen Kommentaren zum V28 diskutierte Topos des Verdienstes (Zechut) für die rituell reine Sota ist Teil eines umfassenden rabbinischen Diskurses über Verdienst und Lohn in der talmudischen Literatur. Im Fall der rituell reinen Sota ist der Verdienst jedoch für die gegenwärtige Zeit bestimmt ()העולם הזה und nicht – so in anderen rabbinischen Diskussionen zum Verdienst des Menschen für bestimmte Taten – für die zukünftige Welt ()העולם הבא.9 Sifre Bamidbar und Sifre Zuta kommentieren zu Num 5,28 die positiven Auswirkungen des Bitterwassers wie folgt:
Sifre Bamidbar 19 (5,28)10
Sifre Zuta 5,2811
– ( ונזרעה זרע (במדבר ה כחa
– ( ‹ונזרעה זרע (במדבר ה כחa
דב׳, נפקדת, שאם היתה עקרה ר׳ עקי׳ : א׳ לו ר׳ ישמעאלb1 ילכו כל העקרות ויקלקלו,אם כן וזו שישבה לה,בשביל שיפקדו הפסידה מה ת״ל ונקתה ונזרעה – ? זרעb2 אלא שאם היתה יולדת בצער יולדת בריוח נקבות יולדת זכרים אחד יולדת שנים שחורים יולדת לבנים קצרים יולדת ארוכים
,} כדיי הוא הצער:}ר׳ אלעזר או׳ שינתן לה שכרה בנים 12 ›: ר׳ יהודה או׳b1
14
תלד13, היתה יולדת כאוריםb2 נאים שחורים תלד לבנים קצרים תלד ארוכים נקבות תלד זכרים לשתי שנים15היתה יולדת יולדת בכל שנה
9 Während die Rabbinen über die Bedeutung des Lemmas „und empfängt Samen“ (V28) bezüglich der rituell reinen Sota unterschiedlicher Auffassung sind, interpretieren sie die Formulierung „ihr Bauch wird anschwellen und ihre Hüften schwinden“ (V27) als Todesurteil der unreinen Sota, auch wenn mit Bezug auf V15 die Frage diskutiert wird, ob ein Verdienst der Frau vor dem Zeitpunkt des Ehebruchs das Todesurteil verschiebt. 10 Nach MS Vatikan ebr. 32.2 (Rom Assemani); ed. Horovitz 23/18–24/3 und ed. K ahana 53/11–18. 11 Nach Yalq. Numeri § 709 (MS Oxford 2637); ed. Horovitz 237/18–238/3. Siehe auch MHG ad. loc., BamR 9,25 (ed. Mirkin, Bd. 9, 202) und 9,41 (ebd., 218). 12 Fehlt in MHG. 13 MHG כעורים. 14 An dieser Stelle und im Folgenden in MHG: יולדת. 15 MHG fügt hinzu אחת.
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ם17 תלד שנים16יולדת אחד אין נותנים: ר׳ שמעון או׳c 18 לעבירה שכר Sifre Bamidbar
Sifre Zuta
a [Und wenn die Frau nicht verun- a reinigt wurde, sondern rein ist, so bleibt sie unversehrt] und empfängt Samen (Num 5,28) –
›[Und wenn die Frau nicht verunreinigt wurde, sondern rein ist, so bleibt sie unversehrt] und empfängt Samen (Num 5,28) –
so dass sie, wenn sie kinderlos war, [Rabbi Eleazar sagt:] Aufgrund der bedacht wird, Worte Rabbi Aqivas. Bedrängnis, welche auf sie kommt, besteht ihr Verdienst in Söhnen. b1 Rabbi Jischmael sagte ihm: b1 Rabbi Jehuda sagt:‹19 Wenn dem so wäre, würden alle Kinderlosen [hin]gehen und sich ruinieren, um geprüft zu werden. Diejenige aber, welche für sich bleibt, ist im Nachteil! b2 [Vielmehr], was lehrt die Schrift mit so bleibt sie unversehrt und empfängt Samen (ebd.)? – dass, wenn sie [die Frau] mit b2 [Dies meint], wenn sie [die Frau] Schmerzen gebar, nun sanft gebiert; hässliche [Kinder] gebar, nun schöne gebiert; wenn sie Mädchen [gebar], nun wenn sie schwarze [Kinder gebar], Jungen gebiert; nun weiße gebiert; wenn sie ein [Kind gebar], nun zwei wenn sie kleine [Kinder gebar], nun [Kinder] gebiert; große gebiert; wenn sie schwarze [Kinder gebar], wenn sie Mädchen [gebar], nun Jungen nun weiße gebiert; gebiert; wenn sie kleine [Kinder gebar], wenn sie alle zwei Jahre [Kinder] gebar, nun große gebiert. nun jedes Jahr gebiert; wenn sie ein [Kind] gebar, nun zwei [Kinder] gebiert. c Rabbi Simeon sagt: Man gibt keinen Lohn für eine Übertretung.
Nach Rabbi Aqiva in Sifre Bamidbar (a) gebiert eine rituell reine, kinderlose Frau nach dem Sota-Ritual ein Kind; Rabbi Jischmael widerspricht dieser Interpretation. Rabbi Aqiva folgt dem einfachen Wortverständnis des Verses, 16 MHG אחד אחד. 17 MHG שנים שנים. 18 MHG אם כן ילכו כל הנשים ויקלקלו בשביל שיפקדו. 19 Fehlt in MHG.
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ebenso wie die anonyme Tradition in Sifre Zuta (a). Die Position von Rabbi Jischmael in Sifre Bamidbar (b) und die Aussage von Rabbi Jehuda in Sifre Zuta (b) stehen dagegen im Widerspruch zu dem in der Schrift übermittelten Wortlaut. Es fällt auf, dass Sifre Zuta (a) im Gegensatz zu Sifre Bamidbar (a) die Kinderlosigkeit der Sota nicht als Kriterium für die zukünftige Schwangerschaft betrachtet und das in Sifre Bamidbar (a) fehlende Thema des Leidens erwähnt. In Sifre Bamidbar (b) rechtfertigt Rabbi Jischmael das wörtliche Schriftverständnis von Num 5,28 – eine Sota-Zeremonie, welche die Frau ohne „Schaden“ übersteht, führt zu einer Schwangerschaft – mit einer teleologischen Begründung: Kinderlose, rituell reine Frauen, die sich dem Sota-Ritual zur Initiierung einer Schwangerschaft verweigern, sind gegenüber denjenigen Frauen im Nachteil, die dieser Praxis folgen. Mit anderen Worten: Rabbi Jischmael lehnt die biblische Exegese von Rabbi Aqiva mit Verweis auf dem übergeordneten Ethos der Schrift ab. Rabbi Jischmael widerspricht in (b1) somit weder mit Rekurs auf eine alternative Schriftexegese der Aussage von Rabbi Aqiva zu V28 noch argumentiert er streng teleologisch und erklärt die Verwendbarkeit des Sota-Rituals per se für unzulässig. Er schließt in (b2) vielmehr aus der grammatischen Exegese, dass das Bitterwasser einen positiven Einfluss auf zukünftige Schwangerschaften und Kinder für die rituell reine Frau ausübt. Die Position von Rabbi Jischmael vereint eine objektive (b1) und exegetische (b2) Auslegungsweise. Damit widerspricht Rabbi Jischmael nicht vollständig der Meinung Rabbi Aqivas. Auf einer Skala zwischen Zustimmung und Ablehnung eines wörtlichen Schriftverständnisses des Lemmas „sie empfängt Samen“ erscheint die Position von Rabbi Jischmael als Kompromiss: Das Bitterwasser hat einen positiven Einfluss auf mögliche Geburtsund Schwangerschaftskomplikationen, Geschlecht, Anzahl und Aussehen der Kinder. Obwohl Rabbi Jischmaels „eugenisch-orientierte“ Interpretation des Lemmas, wie auch die Exegese von Rabbi Aqiva, auf eine zukünftige Schwangerschaft der Sota abzielt, ist dies nicht zwingend aus V28 zu schließen: Rabbi Jischmaels Kommentar beinhaltet anders als die Auslegung in Sifre Zuta keine Aussagen über zukünftige Schwangerschaften für kinderlose Frauen. Mit der Voraussetzung einer eingeschränkten positiven Wirkung des Bitterwassers auf die Fruchtbarkeit der rituell reinen Sota will Rabbi Jischmael die Gefahr eines persönlichen Interesses der unfruchtbaren Frauen am Ritual abwenden. Die beiden in Sifre Bamidbar überlieferten Interpretationen von Rabbi Jischmaels objektiver Argumentation (b1) und exegetischer Schlussfolgerung (b2) sowie Rabbi Aqivas Wortexegese verschmelzen in Sifre Zuta im Topos der Bedrängnis ( )צערzu einer einheitlichen Argumentationsfigur: Da die Sota trotz ihrer Unschuld gezwungen wurde, sich dem erniedrigenden Ritual zu unterziehen, verdient sie eine Belohnung, die sich darin äußert, dass sie
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Kinder gebären wird, die schöner und besser sind als ihre bisherigen Kinder. Nach diesem Verständnis erscheinen die Unterschiede zwischen Rabbi Aqiva und Rabbi Jischmael, die in Sifre Bamidbar vermittelt werden, in einem neuen exegetischen Kontext. Sifre Zuta assoziiert die Kontroverse nicht mit rabbinischen Autoritäten wie Rabbi Aqiva und Rabbi Jischmael, sie wird vielmehr zwischen der anonymen Aussage und der Position von Rabbi Jehuda in Sifre Zuta (b) verortet. Die Kontroverse ist differenzierter als die Tradition in Sifre Bamidbar: Aufgrund der Bedrängnis des Sota-Rituals wird die rituell reine Frau Söhne (im Plural) zur Welt bringen. Nach Rabbi Jehuda zeigt sich der positive Einfluss des Bitterwassers nur bei Frauen, die bereits Kinder geboren haben. Die Argumentation in Sifre Bamidbar und Sifre Zuta lenkt die Diskussion auf den Topos des Verdienstes der rituell reinen Frau (Sifre Bamidbar [a]) sowie auf die Prämisse der Kinderlosigkeit der Sota als Bedingung für zukünftige Kinder. Wenn der biblische Text die rituell reine Frau aufgrund der durch das Ritual verursachten Bedrängnis belohnt, ist es jedoch nicht einsichtig, warum zukünftige Schwangerschaften nur unfruchtbaren Frauen vorbehalten sind und keine Frauen betreffen, die bereits zuvor Kinder geboren haben. Wie aus dem Textvergleich hervorgeht, steht die kinderlose Frau im Mittelpunkt der Argumentation von Rabbi Jischmael, da die Gefahr des Missbrauchs des Rituals vor allem von kinderlosen Frauen ausgeht (Sifre Bamidbar [b1]). Die exegetische Schlussfolgerung einer Verbesserung der Schwangerschaft und der Vervollkommnung der Kinder in (b2) richtet sich daher vor allem an Frauen, die bereits Kinder hatten, während kinderlose, rituell reine Frauen nicht explizit berücksichtigt werden. Die Exegese des Lemmas „sie bleibt unversehrt und empfängt Samen“ zeigt, wie Rabbi Aqiva aufgrund seiner ausschließlich exegetischen Herangehensweise gegenüber Rabbi Jischmael eine frauenfreundlichere Interpretation vertritt. Der teleologische Ansatz von Rabbi Jischmael hingegen fokussiert eine Meta-Halakha, deren ideologischer Kern in den Worten von Antigonos von Socho in mAv 1,3 wie folgt wiedergegeben werden kann: „Sei nicht wie Diener, die dem Herrn dienen mit der Absicht, eine Belohnung zu empfangen, sondern seid wie Diener, die dem Herrn dienen ohne Absicht, Lohn zu empfangen, und es sei Gottesfurcht über euch.“20 20 Stemberger fasst den Diskurs über Lohn und Verdienst in der rabbinischen Literatur wie folgt zusammen: „[…] die klassischen rabbinischen Texte in Talmud und Mi drasch[,] sind von einer unauflösbaren Spannung bestimmt, die aus zwei Grundüberzeugungen hervorgeht: einerseits der Haltung, dass die Erfüllung der Tora und jedes sittliche Tun um seiner selbst willen, aus Liebe, erfolgen muss, andererseits dem Glauben, dass Gott ein gerechter Richter ist, der – ob im Diesseits oder Jenseits – jedenfalls das Gute belohnt.“ Günter Stemberger, „Verdienst und Lohn – Kernbegriffe rabbinischer Frömmigkeit? Überlegungen zu Mischna Avot“, in ders., Judaica Minora 2: Geschichte und Literatur des rabbinischen Judentums (TSAJ 138; Tübingen: Mohr Siebeck, 2010), 434–452; 451.
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Mit der Möglichkeit der Geburt eines Sohnes mithilfe des Sota-Rituals übernimmt die Baraita in bBer 31b die Position von Rabbi Aqiva. Der Talmud begrüßt Hannas kreativen Aktivismus. Die positive Wertung Hannas zeigt sich auch anderswo in der rabbinischen Literatur. Hannas Gebet in 1 Sam 1 wird im Talmud als Präzedenzfall statuiert, aus dem Weisungen für das richtige Gebet abgeleitet werden.21 bBer 31a–b bezieht sich bei der Begründung von halakhischen Aussagen das Gebet betreffend auf Hanna, beispielsweise bei Aussagen über das stille Beten des Achtzehn-Bitten Gebets (Amida, Schmone Esre), bei der die Worte leise gesprochen werden können und es verboten ist, die Stimme zu erheben. Darüber hinaus lernen die Rabbinen von Hanna, dass man im Gebet sein Herz auf den Sinn des Wortlautes ausrichten soll,22 dass es verboten ist, in einem Abstand von vier Ellen zu einer betenden Person zu sitzen,23 dass eine betrunkene Person nicht beten darf24 und dass eine betrunkene betende Person mit Götzendienern gleichzusetzen ist.25 Darüber hinaus leitet Rabbi Eleazar folgende moralische Prinzipien aus Hannas Verhalten: Wer in seinen Mitmenschen etwas Unanständiges sieht, soll ihn zurechtweisen;26 jemand, der zu Unrecht verdächtigt wird, muss sich erklären27 und derjenige, der jemanden eines Fehlers verdächtigt, den er nicht begangen hat, muss diesen um Verzeihung bitten und ihn segnen.28 Ebenso wird Hanna mit drei Kriterien des perinatalem Kindstod in Verbindung gebracht, die auch in die Liturgie am Sabbatabend Eingang gefunden haben (bShab 32a): „Bei drei Verstößen stirbt die Frau bei der Geburt; weil sie mit Nidda, Challa und dem Anzünden des Lichts nicht vorsichtig sind.“ Nach bBer 31b fragt Hanna Gott rhetorisch, ob sie diese drei Sünden begangen hat. Dieser Traditionskomplex bildet die Grundlage der sogenannten Hanna-Literatur im Mittelalter (Challa, Nidda, Hadlakat ha-Ner).29 21 Zu diesem Thema siehe Ishay Rosen-Zvi, „– תפילת חנה בדרשות ''האישה הניצבת “חז״ל, in Jewish Culture in the Eye of the Storm: A Jubilee Book in Honor of Yosef Ahituv (hg. v. Avi Sagi und Nahem Ilan; Tel Aviv: Ha-Kibbutz Ha-Meuchad, 2002), 675–698 (Hebr.). 22 bBer 31a mit Bezug auf 1 Sam 1,13. 23 bBer 31b mit Bezug auf 1 Sam 1,26. 24 bBer 31a mit Bezug auf 1 Sam 1,13. 25 bBer 31a mit Bezug auf 1 Sam 1,16. 26 bBer 31a–b mit Bezug auf 1 Sam 1,14. 27 bBer 31b mit Bezug auf 1 Sam 1,15. 28 bBer 31b mit Bezug auf 1 Sam 1,17. Rabbi Eleazar berichtet ebenfalls von einem Gleichnis, welches Hannas Gebet mit dem eines armen Bittstellers in Beziehung setzt. Der König, welcher Gott symbolisiert, bereitet seinen Dienern ein Fest. Ein armer Mann kommt zur Tür und bittet um Brot, aber niemand bemerkt ihn. So drängt er sich in die Gegenwart des Königs und sagt zu ihm: „Herr und König, fällt es Dir denn so schwer, mir vom Gastmahl, welches Du ausgerichtet hast, ein Stückchen abzugeben?“ (bBer 31b). 29 Siehe Rosen-Zvi, „“האישה הניצבת. Dennoch sind sich die Rabbinen der kühnen Art Hannas bewusst, etwa wenn sie Hanna einen insolenten Geist zuschreiben. Es
ן
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Das folgende Textbeispiel befasst sich mit dem von Rabbi Aqiva geforderten Ausschluss von Frauen aus dem Prozess der kultischen Zubereitung der Asche der roten Kuh (Num 19). Rabbi Jischmael widerspricht dieser Position und vertritt im Vergleich zu Rabbi Aqiva eine frauenfreundlichere Interpretation. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass bei der Weiterentwicklung dieser halakhischen Tradition nach Rabbi Aqiva Frauen partiell in den kultischen Prozess einbezogen werden, was als Entgegenkommen an die Auslegung von Rabbi Jischmael gedeutet werden kann.
2.
Wer darf das Reinigungswasser sprengen? Die Beteiligung der Frau am Ritual der roten Kuh
Die rabbinische Tradition zur Auslegung des Abschnitts zur roten Kuh in Numeri 19 wendet sich unter anderem der Befugnis des Sprengens des aus dieser Asche gewonnenen Reinigungswassers auf unreine Personen oder Gegenstände zu. Sifre Bamidbar und Sifre Zuta legen diesen Zusammenhang aus und befragen das Lemma „Mann“ ( )אישin Num 19,18 („Und ein reiner Mann nimmt Ysop und taucht ihn in das Wasser und besprengt die Stiftshütte und alle Geräte und alle Personen, die darin sind […]“):30
Sifre Bamidbar 129 (19,18)31
Sifre Zuta 19,1832
– ( איש (במדבר יט יח1 ולקח אז׳ [וט]בל במים איש טהור1 – ()במדבר יט יח – איש2 להוציא את הקטן2 משמע מוציא את הקטן3 פרט לאשה3 ? ומוציא את האשה4 – או איש4 – ( ת״ל טהור (שם5 ? פרט לקטן5 דב׳ ר׳ ישמעאל, להביא את האשה6 – טהור: א׳6 ? טהור (שם) למ׳ נא׳: ר׳ עקיבה או׳7 את הקטן33} לרבות {לרבות7 עד שלא יאמר יש לי בדין8 מסעדת האשה את הקטן והוא: אמרו8 אבל לא תיטבול את האיזוב,מזה
30 31 32 33
ותתן לו
ist wieder Rabbi Eleazar, der aus 1 Sam 1,10 („Hanna betete zu Gott“, ותתפלל על ה׳anstelle von - )ותתפלל אלexegetisch ableitet, dass Hanna in vorlauter Weise zum Himmel spricht (bBer 31b). Vgl. dazu auch Ilan, Silencing the Queen, 129f. Nach MS Vatikan ebr. 32.2 (Rom Assemani); ed. Horovitz 166/7–10 und ed. Kahana 420/8–421/11. MS Firkovitch II A 31343 (5b/20–23), ed. Horovitz 314/6–8. In MS Firkovitch fehlerhafte Doppelung.
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אם האוסף טהור המזה לא יהא טהור – ?( הא מה ת״ל טהור (שם9 – מכל טומאה טהור10 ? ואי זה זה11 זה טבול יום Sifre Bamidbar
141 אם טבלה ונתנה לו הזיתו פסולה
Sifre Zuta
1 Ein Mann (Num 19,18) – 1 Und ein reiner Mann nimmt Ysop und taucht ihn in das Wasser (Num 19,18) – 2 um den Minderjährigen auszu- 2 ein Mann (ebd.) – schließen. 3 Dies bedeutet, [die Schrift] schließt 3 um die Frau auszuschließen. den Minderjährigen aus, 4 und sie schließt die Frau aus. 4 Oder Mann (ebd.) – 5 Die Schrift sagt: Rein (ebd.) – 5 um den Minderjährigen auszuschließen. 6 um die Frau einzuschließen; dies 6 Die [Schrift] sagt: Rein (ebd.) – sind die Worte von Rabbi Jischmael. 7 Rabbi Aqiva sagt: Rein (ebd.), 7 um den Minderjährigen einzuschließen. warum ist dies gesagt? 8 Solange [die Schrift] uns darüber 8 Sie sagten: Die Frau hilft dem Minder nicht belehrt, kann ich [dies] durch jährigen und er sprengt – aber sie soll ein Argument folgern: den Ysop nicht eintauchen und ihm geben. Wenn derjenige, der [die Asche] Wenn sie [diesen] eintaucht und ihm sammelt, rein sein muss, ist dann gibt, ist seine Sprengung untauglich. nicht auch derjenige, der [das Wasser] sprengt, rein? 9 Warum [also] sagt die Schrift Rein (ebd.)? – 10 Rein – von aller Unreinheit. 11 Wer ist dies? Dies ist der tevul jom.
Sifre Bamidbar tradiert eine Kontroverse zwischen Rabbi Jischmael und Rabbi Aqiva zum Lemma „Mann“, die zwei Gruppen erwähnt: Minderjährige und Frauen. Während Rabbi Jischmael die Frau aufgrund des – seiner Meinung nach überflüssig gewordenen – Lemmas „rein“ ( )]איש] טהורin die rituelle Handlung einbezieht, bezeichnet Rabbi Aqiva das Lemma „rein“ nur im Sinne des kultischen Zustands einer Person, die ein Reinigungsbad genommen hat und den kultischen Reinheitsstatus nach Sonnenuntergang abwarten muss (tevul yom).34 Er widerspricht somit der Interpretation von Rabbi Jischmael
34 Dieses Konzept wurde von den Rabbinen aus Lev 11,32; 22,6f. abgeleitet.
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und schließt die Frau von der Tätigkeit des Sprengens von Reinigungswasser aus.35 Sifre Zuta 2f. schließt Frauen vom Ritual der roten Kuh aus – eine Aussage, die Rabbi Aqiva in Sifre Bamidbar 124 zu 19,9 in Bezug auf die Frage, wer die Asche der roten Kuh sammelt, zugeschrieben wird. Sifre Zuta 4–7 schließt den Minderjährigen in das Ritual ein, ein Diktum, das auch aus Sifre Zuta 19,9 bekannt ist. Nach Sifre Zuta 8 darf eine Frau jedoch nicht ein Bündel Ysop eintauchen, um das Wasser der roten Kuh zu sprengen und es direkt dem Minderjährigen, der das Ritual durchführt, zu übergeben. Sie darf ihm jedoch bei der Durchführung des Rituals helfen. Die Beschreibung der Einbeziehung der Frau und des Minderjährigen in die Zeremonie des Besprengens des Reinigungswassers in Sifre Zuta 8 (durch die Einleitung אמרתformal unterstrichen) erklärt die Ein- und Ausschlüsse: Der Minderjährige ist nur zu dem Ritual zugelassen, wenn er die Handlungen in der beschriebenen Weise ausführt. Die Mischna und Sifre Zuta lassen demnach eine aktive Rolle der Frau im Ritual der roten Kuh erkennen. Zur Frage der Besprühung des Reinigungswassers durch Frauen heißt es in mPar 12,10 (MS Kaufmann): הכל כשירין להזות1 Alle sind zum Sprengen tauglich חוץ מטומטום ואנדרגינס והאשה2 außer dem Geschlechtsunkenntlichen36 und ותינוק שאין בו דעתdem Zwitter37 und der Frau und dem
unverständigen Kind.
]ו]אם אחזה בידו אפילו בשעת5 – פסול הזייה
ein und sprengt. [Und] wenn sie seine Hand hält, ist, sogar zum Zeitpunkt des Sprengens, [das Wasser] untauglich.
והאשה מסעדתו ומזה3 Und die Frau hilft ihm und er sprengt. והוא טובל ומזה, ואוחזת לו במים4 Sie hält ihm das Wasser und er taucht
Der Text listet die meisten Personengruppen auf, die mPar 5,4 und tPar 5,7 mit Bezug auf die Frage der Vermischung der Asche der roten Kuh mit rituell reinem Wasser erwähnt. Im Gegensatz zu Sifre Zuta bezieht sich jedoch nur 35 Diese Kontroverse ist ebenso Bestandteil der Auslegung von Sifre Bamidbar 124 zu Num 19,9. Zu diesem Thema siehe auch Menachem I. Kahana, Sifre on Numbers: An Annotated Edition 4 (Jerusalem: Magnes Press, 2015), 1068–1070 (Hebr.). Dieser Text wird detailliert aus juristisch-methodologischer Perspektive diskutiert in Ale xander A. Dubrau, Der Midrasch Sifre Zuta: Textgeschichte und Exegese eines spät antiken Kommentars zum Buch Numeri (Tübinger Judaistische Studien 2; Münster: Lit Verlag, 2017), 424–432. 36 Ein Tumtum ist nach rabbinischem Verständnis eine Person mit äußerlich nicht eindeutig erkennbaren Sexualorganen. Die Geschlechtszugehörigkeit kann demnach nicht auf Anhieb festgestellt werden. 37 Ein Androgynos ist nach rabbinischem Verständnis eine Person, die sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale besitzt.
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die Mischna auf das „unverständige“ Kind.38 Die Formel „( הכלalle“) in Verbindung mit einer Verbform (z. B. כשרים, נאמניםoder )חייביםund die Liste exegetischer Ausschlüsse geht in vielen Fällen mit einen Widerstand der Rabbinen gegen Priesterkreise einher.39 In der vorliegenden Tradition kommt, wie es die Mischna verdeutlicht, ebenfalls eine Spannung zwischen rabbinischen und alten priesterlichen Traditionen zum Ausdruck. Mischna Para 3–5 weist der Frau eine ähnliche Rolle wie Sifre Zuta 8 zu: Der Minderjährige ist zum Sprengen des Reinigungswassers befugt. Die Frau kann ihm dabei helfend zur Seite stehen, indem sie ihm während der Zeremonie das Wasser reicht, allerdings ohne ihn zu berühren.40 Ein ähnliches Konzept zur Einbindung der Frau in dieses Ritual wird in der Parallelstelle in bYom 43a41 vermittelt: Wie in Sifre Zuta schließt die anonyme Baraita Frauen aus dem Ritual aus („Mann“ – um die Frau auszuschließen), Rabbi Jehuda jedoch schließt Frauen mit Bezug auf das Lemma „rein“ ( )טהורein. Für die Einbeziehung des Minderjährigen in das Ritual der roten Kuh gibt es auch Verweise in der christlichen Tradition.42 Ein pseudepigraphi38 Da in den Handschriften von Mischna Para die Begriffe תינוקund קטןsynonym verwendet werden ( תינוקin mPar 3,4; 12,10; קטןin mPar 5,4; in tPar ist dagegen nur קטןüberliefert) wird im Folgenden terminologisch auch differenziert. Nach rabbinischer Tradition ist ein Kind bis zum Alter von neun Jahren minderjährig ( קטןoder )תינוק. 39 So heißt es in mYom 6,3 mit Bezug auf das Ritual am Versöhnungstag: „Jeder eignet sich zum Wegführen (des Bockes am Versöhnungstag), aber die Hohepriester hatten zur Norm erhoben, dass sie keinen Israeliten zum Wegführen aufstellen.“ Zu dieser Tradition siehe Meir Bar-Ilan, Polemics Between Sages and Priests Towards the End of the Days of the Second Temple (Diss., Bar-Ilan University, 1982), besonders 26–29.262f. (Hebr.). 40 Die Präsenz der Reinheitsbestimmungen in mPar 3–5 weisen auf Rabbi Aqivas Exe gese in Sifre Bamidbar 124 und 129 zu Num 19,9.18 gegen die Rabbi Jischmael zugeschriebene exegetische Einbeziehung der Frau: „Rein – um Frauen einzuschließen“. 41 – אשה הכל כשרין להזות חוץ מטומטום ואנדרוגינוס ואשה וקטן שיש בו דעת מסייעתו ומזה. 42 Neben den Tätigkeiten des Einsammelns der Asche der roten Kuh, der Vermischung der Asche mit „reinem Wasser“ und dem Sprengen des Reinigungswassers (vgl. mPar 12,10) wird in der rabbinischen Literatur auch die Einbeziehung Minderjähriger in das Ritual der Gewinnung von „reinem Wasser“ diskutiert (siehe dazu v. a. mPar 3,2 und tPar 3,2). Dabei bezieht sich mPar 3,1 auf minderjährige Jungen ()בנים, die zur Vorbereitung der Gewinnung des Wassers an einem rituell reinen Ort zur Welt kommen und dort aufgewachsen. In diesem Kapitel der Mischna findet der Begriff ( תינוקMinderjähriger) Anwendung. Die Tosefta definiert in tPar 3,2 das Alter eines תינוקmit 18 Jahren (MS Wien und ed. princ.), wobei auf die Vernunft des Kindes Bezug genommen wird. Dies erinnert an das Kriterium der „Vernunft“ in der Halakha, widerspricht jedoch der Tradition in der Mischna. Nach Lieberman bezieht sich die Überlieferung ursprünglich auf Jungen im Alter von sieben und acht Jahren: Die Weisen hätten im Laufe des Traditionsprozesses die Abkürzung י׳ח׳dann falsch aufgelöst und als יחinterpretiert (Raschi )בני ז׳ ח׳ שנה, siehe Saul Lieberman,
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scher christlicher Text, der Barnabasbrief, aus der ersten Hälfte des 2. Jh. n. d. Z.,43 also zeitgleich mit der Mischna, erwähnt Kinder für die Tätigkeit des Sammelns der Asche der roten Kuh und des Sprengens des Reinigungswassers.44 Wenngleich nach dem Targum Pseudo-Jonathan zu Num 19,18 das Sprengen des Reinigungswassers sowie das Sammeln der Asche (Tg. Ps. J. zu Num 19,9) nur von einem reinen Priester ausgeführt werden kann (גבר )כהן דכי, findet sich im Qumran-Fragment 4Q277 1 II,7 folgende Aussage bezüglich der Asche der roten Kuh: „Und der Minderjährige soll nicht über einen Unreinen sprengen“ ()ועולל אל יז על הטמא.45 Es wird deutlich, dass das Qumranfragment auf eine alte Praxis der Einbeziehung von Minderjährigen in das Ritual reagiert. Diese Traditionen stützen die historische These, wonach Minderjährige aktiv am Ritual beteiligt waren, eine Position, die in der rabbinischen Literatur Rabbi Aqiva exegetisch begründet. Nur die Mischna wendet sich dem Fall des vernunftbegabten Minderjährigen zu. Wie am Beginn der Mischna m2 („außer […] dem unverständigen Kind“) handelt es sich auch bei der Fortsetzung in m3 („Und die Frau hilft ihm und er sprengt“) um ein Kind, was noch als unverständig eingeschätzt wird. Die Auslegung in m3 impliziert daher auch die Einbeziehung und Ausgrenzung von Minderjährigen, wie sie im Namen von Rabbi Aqiva in den halakhischen Midraschim tradiert sind. Im mischnaischen Kontext ist es unklar, warum die Frau dem Kind helfen sollte. Wenn das verständige Kind nach m2 das Reinigungswasser sprengen darf, warum ist dann die Unterstützung der Frau notwendig? Dieses Textproblem tritt in der Sifre Zuta-Tradition nicht Tosefeth Rishonim 3: Kelim – Niddah (Jerusalem: Bamberger & Wahrmann, 1939), 215f. (Hebr.). Raschi bestätigt diese Lesart auch in seinem Kommentar zu bSuk 21a, wo er das Alter der Kinder mit sieben oder acht Jahren angibt. 43 Siehe auch Apg 4,36f.; 9,27; 11,22–30; 13–15. 44 Barnabasbrief 8,1–4: „[…] und dann [sollen] kleine Kinder die Asche aufheben und in ein Gefäß füllen und die scharlachrote Wolle auf eine Stange wickeln […] und den Ysop [nehmen], und so sollen die kleinen Kinder jeden einzelnen aus dem Volk besprengen, damit sie von den Sünden gereinigt werden […]. Die besprengenden Knaben [sind die, die] uns den Erlaß der Sünden verkünden […]. Warum aber [sind es] drei kleine Kinder, die besprengen? Zum Zeugnis für Abraham, Isaak [und] Jakob, denn diese [sind] groß bei Gott.“ (Deutsche Übersetzung von Ferdinand R. Prostmeier, Der Barnabasbrief [KAV 8; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999], 317f.) Zur Halakha im Barnabasbrief siehe Gedaliah Alon, „The Halakha in the Epistle of Barnabas“, in ders., Studies in Jewish History in the Times of the Second Temple, the Mishna and the Talmud (2 Bde; Tel Aviv: Ha-Kibbutz Ha-Meuchad, 1967), 1:295–312 (Hebr.). 45 Zu dieser Tradition siehe Joseph M. Baumgarten, „The Red Cow Purification Rites in Qumran Texts“, JJS 46 (1995): 112–119; 119: „The Qumran texts now corroborate that the use of young boys described in the Mishnah and in the Epistle of Barnabas was a prevalent practice in the days when the Temple was standing. Qumran exegesis, however, emphatically opposed the use of minors for what they deemed to be a priestly rite of כפרה.“
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auf, da Rabbi Aqiva nicht zwischen einem verständigen und einem unverständigen Kind unterscheidet. Es liegt nahe, dass sich die mischnaische Tradition redaktionell aus zwei Quellen entwickelte. Einerseits vermittelt Sifre Zuta eine (alte) Tradition, demnach eine Frau dem Minderjährigen während des Rituals hilft. Auf der anderen Seite unterscheidet eine spätere Tradition, die auch Sifre Bamidbar 129 zu 19,18 und 124 zu 19,9 bekannt ist, zwischen einem verständigen und einem unverständigen Kind. Diese beiden Traditionen werden in der Mischna redaktionell nicht überzeugend zusammengeführt. Daher können diese Hinweise in der Mischna möglicherweise auf den Entstehungshorizont des Textes verweisen und lassen die Annahme zu, dass die Traditionen von Sifre Zuta und Sifre Bamidbar die Ausformung der Mischna-Version beeinflussten. Die Unterscheidung zwischen einem vernünftigen und einem unvernünftigen Kind erweist sich als eine mischnaische Innovation, die – unabhängig der historischen Tempelpraxis – darauf zielt, aus exegetischen Überlegungen heraus rabbinische Aussagen zur Praxis des Rituals zu definieren.46 Die Rabbi Aqiva zugeschriebene Tradition, wonach die Frau vom Ritual der roten Kuh ausgeschlossen ist, wird damit zumindest teilweise bestätigt. Dies findet seinen Ausdruck in der Mischna, die charakteristischerweise der exegetischen Auslegung Rabbi Aqivas folgt.
3.
Zusammenfassung
In der talmudischen Erzählung in bBer 31b über Hannas Gebet argumentiert Rabbi Aqiva rein exegetisch und widerspricht damit Rabbi Jischmaels und Rabbi Simeons teleologischem Verständnis der Schrift. Beide Herangehensweisen bestimmen die halakhischen Entscheidungen über Frauen im SotaRitual. Vor diesem Hintergrund ist der Schlusssatz der Baraita entscheidend: „Die Tora spricht die Sprache der Menschen“. Die Tora bevorzugt demnach eine Lesart, die sich nicht ausschließlich an der grammatikalisch-wörtlichen Exegese der Schrift orientiert. Die Betonung der Inkonsistenz zwischen der wörtlichen Lesart eines Verses und der einer die grammatikalische Interpretation überlegenen Argumentation gilt als charakteristisch für Rabbi Jischmaels Ansatz, während Rabbi Aqiva für seine dekontextualisierte Exegese 46 Eine andere Erklärung wird von Rabbi Jischmael ben Rabbi Jochanan ben Beroqa gegeben. Für ihn ist das Mischen des Wassers mit der Asche der roten Kuh für einen Androgynos (und damit auch für Frauen), einem Taubstummen, einem Verrückten und einem Minderjährigen zulässig, sofern diese Arbeit unter Beobachtung ausgeführt wird (tPar 5,7; die anonyme Tosefta und mPar 5,4 stimmen darin überein, dass eine Frau das Wasser mit der Asche mischen kann, während Rabbi Jehuda anderer Meinung ist).
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bekannt ist. Im Unterschied zu parallelen tannaitischen Quellen und den hermeneutischen Methoden, die Rabbi Aqiva und Rabbi Jischmael in der rabbinischen Literatur zugeschrieben werden, wird die Aussage „Die Tora spricht die Sprache der Menschen“ an dieser Stelle mit Rabbi Aqiva und nicht mit Rabbi Jischmael verbunden. Die umgekehrte Zuschreibung der Aussagen im Talmud kann damit erklärt werden, dass die babylonischen Amoräer sich nicht dem Verständnis der Rabbi Aqiva zugeschriebenen Position in tannaitischen Quellen anschließen wollten – eine zuvor kinderlose reine Sota wird ein männliches Kind zur Welt bringen –, zumindest nicht in der Art und Weise, wie es im Hannas Gebet zum Ausdruck kommt. Der Bavli bevorzugt damit eine Zuschreibung der teleologischen Argumentation in der HannaErzählung an (die halakhische Autorität) Rabbi Aqiva. Auch wenn das Sota-Ritual ohne ein Priestertum nicht praktiziert werden kann und auch nach mischnaischem Verständnis praktisch abgeschafft wurde, kreiert die rabbinische Interpretation zu Num 5,28 einen Diskurs, der den Einfluss der Frau auf das Ritual thematisiert. Zwar wird die Macht der Frau im Rahmen dieser fiktiven Elemente auf den Bereich der Kindesgeburt reduziert, doch verliert durch eine Erzählung wie die in bBer 31b das Sota-Ritual, insbesondere in seiner mischnaischen Interpretation, seine frauenfeindliche Aura. Aus biblischer Sicht ist Hannas Initiative, das Sota-Ritual zur Initiierung einer Schwangerschaft zu verwenden, als eine ausweitende Interpretation des Rechts zu interpretieren. Der rabbinisch-exegetische Ansatz Rabbi Aqivas beruht auf der Verwendung einer Rechtslücke und steht im Gegensatz zur göttlichen Gesetzgebung (contra legem). Die von Rabbi Jischmael und Rabbi Simeon vertretene widersprechende hermeneutische Herangehensweise spricht sich für einen theologischen Ansatz im Hinblick auf das biblische Ethos des Sota-Rituals aus.47 In seiner Exegese zu Num 5,28 in Sifre Zuta geht Rabbi Simeon sogar über die Vermittlerposition von Rabbi Jischmael hinaus, indem er die Möglichkeit des Verdienstes der rituell reinen Sota grundsätzlich ausschließt. Rabbi Simeon wird bereits im Talmud als Vertreter des teleologischen Ansatzes par excellence angesehen.48 47 Während diese Position die Belohnung der reinen Sota, im Gegensatz zum biblischen Ethos des Rituals, in Frage stellt, interpretiert die Gegenposition V28 wörtlich: „So bleibt sie unversehrt und empfängt Samen“. Die teleologische Sicht des Gesetzes rechtfertigt den positiven pränatalen Einfluss auf das zu gebärende Kind. 48 Rabbi Simeons methodischer Ansatz wird im Talmud an mehreren Stellen als דריש ( טעמיא דקראer legt die Grundlage der Schrift aus) definiert. Mit dieser Formel bezeichnen die Amoräer eine Hermeneutik, die logisches Denken mit einer wörtlichen Interpretation der Schrift verbindet und sich gegen die Exklusivität einer exegetischen Interpretation wendet. Die Spannung zwischen einem teleologischen Ansatz und einem ausschließlich auf das Primat der Exegese ausgerichteten Ansatz ist in der rabbinischen Literatur häufig anzutreffen. Tannaitische Quellen konfrontieren zuweilen beide Ansätze direkt miteinander.
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Bei der Diskussion des Ein- und Ausschlusses der Frau im Ritual der Besprengung mit Reinigungswassers beziehen sich Rabbi Jischmael wie auch Rabbi Aqiva auf exegetische Argumentationen. In den halakhischen Midraschim schließt die Auslegungstradition Rabbi Jischmaels die Frauen im Ritual ein, Rabbi Aqiva schließt diese aus. Die Mischna inkludiert Frauen in das Ritual der roten Kuh, anders als die Texttradition Rabbi Aqivas. Der mischnaische Ansatz greift wiederum den auch aus Sifre Zuta bekannten exegetischen Diskurs einer teilweisen Einbeziehung der Frauen auf. Die mischnaische Textschicht unterscheidet jedoch zwischen einem verständigen und einem unverständigen Kind. Die Mischna verbindet die Tradition des Aus- und Einschlusses eines Minderjährigen, die Rabbi Aqiva bzw. Rabbi Jischmael zugeschrieben werden – die Einbeziehung von Minderjährigen in das Ritual wird auch im Barnabasbrief erwähnt – mit dem Kriterium des Verständnisses des Minderjährigen. Während Rabbi Jischmael Frauen vollständig in das Ritual integrierte, verschiebt sich die Aqiva-Tradition im Midrasch und in der Mischna von einer allgemeinen Ablehnung der Frau im Ritual zu einer partiellen Beteiligung der Frau. Dieses Textbeispiel verdeutlicht eine Genese einer tannaitischen Tradition gemäß der Tradition Aqivas, die mit einer frauenfreundlichen Entwicklung einhergeht. Die tannaitischen Diskussionen über die positive Wirkung des Bitterwassers auf die reine Sota sowie die Einbeziehung von Frauen in das Ritual der roten Kuh lassen sich jedoch nicht allein durch verschiedene methodische Herangehensweisen von Rabbi Jischmael und Rabbi Aqiva erklären. Oft ist es Rabbi Jischmael oder einer seiner Schüler wie Rabbi Jochanan ben Beroqa, welcher der Exegese von Rabbi Aqiva im Sinne einer frauenfreundlicheren Interpretation widerspricht. Im Kontext der Sota ist dies beispielsweise in der Auslegung zu Num 5,18 der Fall („und er [der Priester] soll die Frau vor den Ewigen stellen und ihr Haupthaar lösen“); Rabbi Jischmael kommentiert: „Der Priester wandte sich hinter sie und entblößte sie (gerade) so weit, dass an ihr das Gebot der Entblößung erfüllt war.“ Auch die mischnaische Anweisung der Herausstellung der Hässlichkeit der Sota kommentiert Rabbi Jocha nan ben Beroqa wie folgt: „Man verunehrt die Töchter Israels nicht mehr, als in der Tora geschrieben steht: (Man stelle sie) vor Gott und entblöße das Haupt der Frau (Num 5,18).“49 Diese der Schule Jischmaels zugeschrieben Aussagen präsentieren eine frauenfreundliche Interpretation gegenüber dem für die jüdische Tradition autoritativen Text der Tora und der Mischna.50 Die 49 Sifre Bamidbar 11 zu Num 5,18 (ed. Horovitz 17/1f.6f.). 50 Für die verschiedenen methodischen Ansätze von Rabbi Aqiva und Rabbi Jischmael siehe Menachem I. Kahana, „The Halakhic Midrashim“, in The Literature of the Sages 2: Midrash and Targum, Liturgy, Poetry, Mysticism, Contracts, Inscriptions, Ancient Science and the Languages of Rabbinic Literature (hg. v. Shmuel Safrai et al.; CRINT 2,3,2; Assen: Van Gorcum, 2006), 3–105; 26–28.35–39.
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Entscheidung von Rabbi Jischmael über die Aufnahme der Frau in das Ritual der roten Kuh reiht sich in diese Auslegungspraxis ein. Der rein exegetische Ansatz von Rabbi Aqiva wiederum wird im Talmud selber kritisiert. So ist Moses erstaunt, als er von im Lehrhaus von Rabbi Aqiva vernimmt, eine ihm unbekannte Lehrmeinung sei eine „Halakha von Mose am Sinai“ (bMen 29b), oder als Rabbi Aqiva eine in einer halakhischen Detailfrage für die Todesstrafe auf Grundlage des Buchstaben Waw argumentiert (bSan 51b). Rabbi Aqiva rechtfertigt im exegetischen Diskurs meist die Ausgrenzung von Frauen und verfolgt eine weniger frauenfreundliche Auslegung als Rabbi Jischmael. Diese Tendenz ist jedoch auf den methodischen Ansatz der reinen Schriftauslegung von Rabbi Aqiva zurückzuführen. Rabbi Jischmael hingegen spricht sich auch ideologisch für eine frauenfreundliche Exegese aus. Anders als Rabbi Aqiva argumentiert er im Rahmen der exegetischen Möglichkeiten für eine stärkere Integration der Frau. Damit begründet sich auch sein teleologischer Ansatz in Bezug auf die wörtliche Interpretation von Num 5,28, der schließlich die im Vergleich zu Rabbi Aqiva passivere Rolle der Frau begründet.
Biblische Frauen in der Mischna und in der Tosefta Cecilia Haendler Freie Universität Berlin
Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, wie das biblische Material, in dem weibliche Charaktere vorkommen, in der Mischna und in der Tosefta weiterverarbeitet wird. Eine solche Analyse trägt dazu bei, sowohl das Verhältnis zwischen Mischna und Tosefta als auch deren jeweilige genderspezifische Lesart des biblischen Materials besser zu verstehen. Es ist wichtig, diese tannaitischen Lesarten von weiblichen biblischen Charakteren zu kartieren, denn in tannaitischen Texten ist eine weibliche biblische Protagonistin eine signifikante, hermeneutische Markierung – und zwar aus mehreren Gründen: a) Biblisches Material besitzt Autorität: Es handelt sich um kanonisches Material mit normativer Kraft; seine Figuren sind Helden, Rollenmodelle und Musterbilder für das ideale moralische Verhalten. Wenn der Leser/ die Leserin oder der Zuhörer/die Zuhörerin ihnen in rabbinischen Texten wiederbegegnet, fungieren sie nicht nur als Signalwörter, sondern, wie alle biblischen Materialien (z. B. Zitate), auch als eine Form der Legitimation. b) Charaktere ziehen die Leser*innen/Zuhörer*innen stärker in ihren Bann als abstrakte Begriffe oder allgemeine Kategorien. Sie stoßen einen Erzähl- und Vorstellungsprozess an, der aufgrund seiner emotionalen Kraft besser im Gedächtnis haften bleibt. Charaktere sind ein zentraler Bestandteil des Geschichtenerzählens. Sie präfigurieren das Leben der Zuhörerschaft und sprechen ihr Publikum auf einer persönlichen Ebene an. Sie verzaubern und wecken besonderes Interesse. c) In einem Text, der in einer maskulinen Sprache formuliert und mit überwiegend männlichen Subjekten und einer Vielzahl männlicher Namen und Protagonisten – biblischer, rabbinischer oder anderer Provenienz – bestückt ist, fallen die wenigen namentlich erwähnten Frauen unweigerlich auf und besitzen Signalwirkung. Oder, um es mit Michael Satlow zu sagen: „Das Auftreten von Frauen dient als eine Art Leuchtrakete für den Leser.“1 Da wir in einem einzigen literarischen Element drei solche „Leuchtraketen“ – biblische Frauen – identifizieren konnten, ist davon auszugehen, dass die tan1 Michael L. Satlow, „Fictional Women: A Study in Stereotypes“, in The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture 3 (hg. v. Peter Schäfer; TSAJ 93; Tübingen: Mohr Siebeck, 1999), 225–243; 232.
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naitischen Autoren/Herausgeber sie mit großem Bedacht und sehr bewusst eingesetzt haben. Eine zentrale Frage der Mischna- und Tosefta-Forschung betrifft die redaktionellen Beziehungen zwischen den beiden Texten.2 Eine weitere Frage ist die, ob ihre jeweilige kanonische bzw. nicht-kanonische Einstufung auch mit einem unterschiedlichen Umgang mit Frauen und Genderthemen zusammenhängt.3 Weil die Redaktionsgeschichte dieser Texte so schwierig zu rekonstruieren ist, ist man in beiden Fragen zu widersprüchlichen Antworten gelangt. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen werde ich im Folgenden keine diachrone, sondern eine synchrone Analyse vorlegen, die sich auf die beiden endredigierten Fassungen stützt, wie wir sie heute kennen. Diese Analyse ist nur vorläufig; deshalb wurden die handschriftlichen Befunde und Textvarianten nicht berücksichtigt.4 Die Resultate, die ich vorstellen werde, 2
Vgl. z. B. Robert Brody, Mishnah and Tosefta Studies (Jerusalem: Magnes Press, 2014), 111–154; Joshua Kulp, „Organizational Patterns in the Mishnah in Light of their Toseftan Parallels“, JJS 58 (2007): 52–78; Shamma Friedman, Tosefta Atiqta: Pesaḥ Rishon: Synoptic Parallels of Mishnah and Tosefta Analyzed with a Methodological Introduction (Ramat Gan: Bar Ilan University Press, 2002) (Hebr.); Ders., „The Primacy of Mishnah to Tosefta in Synoptic Parallels“, in Introducing Tosefta: Textual, Intratextual, and Intertextual Studies (hg. v. Harry Fox und Tirzah Meacham; Hoboken: KTAV Publishing House, 1999), 99–121; Alberdina Houtman, Mishnah and Tosefta: A Synoptic Comparison of the Tractates Berakhot and Shebiit (TSAJ 59; Tübingen: Mohr Siebeck, 1996). 3 Tal Ilan, Silencing the Queen: The Literary Histories of Shelamzion and Other Jewish Women (TSAJ 115; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006), 111–121; Judith Hauptman, Rereading the Mishnah: A New Approach to Ancient Jewish Texts (TSAJ 109; Tübingen: Mohr Siebeck, 2005); Dies., „The Tosefta as a Commentary on an Early Mishnah“, JSIJ 4 (2005): 109–132; Dies., „Mishnah as a Response to Tosefta“, in The Synoptic Problem in Rabbinic Literature (hg. v. Shaye J. D. Cohen; BJS 326; Providence: Brown University Press 2000), 13–34. 4 Dieser nächste, wünschenswerte Schritt bleibt der Anschlussforschung überlassen. Der vorliegende Beitrag stützt sich, was die Mischna angeht, auf die Wilnaer RommAusgabe (auf der Grundlage der Heller-Ausgabe) und, was die Tosefta betrifft, auf die Lieberman-Ausgabe (bis BB) und die Zuckermandel-Ausgabe, wie sie in der Global Jewish Database zugänglich ist (פרוייקט השו״ת – The Responsa Project Bar Ilan University). Vgl. auch Jason Kalman, „Building Houses on the Sand: The Analysis of Scripture Citation in the Mishnah“, JSem 13 (2004): 186–244, der die These vertritt, dass etwa 20 % der Bibelzitate in der Mischna spätere Hinzufügungen sind, und die Untersuchung der Bibelzitate in der Mischna als ein Desiderat für die künftige Forschung bezeichnet. Die Arbeit von Alexander Samely, Rabbinic Interpretation of Scripture in the Mishnah (Oxford: Oxford University Press, 2002), und die damit verbundene Online-Datenbank „Database of Midrashic Units in the Mishnah“ (The University of Manchester, 2018, online: http://mishnah.llc.manchester.ac.uk/search.aspx [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]) wurden von mir zu Rate gezogen, auch wenn sein Fokus nicht auf biblischen Charakteren, sondern auf Bibelzitaten liegt. So fehlt in der Datenbank und dem dazugehörigen Buch beispielsweise die für die vorliegende Untersuchung relevante Stelle mNaz 1,2, wo von „Simson“, dem „Sohn Manoachs“,
Biblische Frauen in der Mischna und in der Tosefta
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sind eindeutig, oder anders ausgedrückt: Es gibt im Hinblick auf biblische Frauengestalten ein deutlich erkennbares Muster der Unterschiede zwischen Mischna und Tosefta.
1.
Biblische Frauen in der Mischna: Quantität
Ich habe in der Mischna nur sehr wenige Texte gefunden, die biblische Frauen erwähnen. Dieses „wenig“ misst sich an der Zahl der Frauen in der Hebräischen Bibel,5 am Umfang der gesamten Mischna, an der Zahl der darin zitierten Bibelstellen6 und an der Gesamtmenge der darin erwähnten biblischen Charaktere. Je nach Zählweise kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen; ich lege im Folgenden einige Zahlen vor, damit man sich ein ungefähres Bild von den Proportionen machen kann. Es gibt in der gesamten Mischna nur fünf Mischnajot (d. h. Abschnitte in der Mischna), die biblische Frauengestalten erwähnen und keine Parallelstellen in der Tosefta haben. Lediglich zwei dieser fünf Abschnitte stellen die betreffenden Frauen als zentrale und bedeutende Charaktere dar, nämlich: 1. Eine Mischna, die die biblische Geschichte einer namenlosen Schwester des Mose zitiert, die bei seiner Aussetzung half, am Nil über das Baby wachte und die von den Rabbinen mit Mirjam ( )מריםidentifiziert wird. Das Volk Israel wartete in der Wüste auf Mirjam, so die Mischna, weil dem „Ehemann der Delila, […] der die Tore der Stadt Gaza aushob“, die Rede ist, weil sie kein direktes Bibelzitat enthält. Samelys Arbeit basiert auf der KaufmannHandschrift der Mischna (Samely, Rabbinic Interpretation, 21), in der mNaz 1,2 mit den betreffenden biblischen Gestalten enthalten ist (online: http://kaufmann.mtak. hu/en/ms50/ms50-113v.htm [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]). Wenn diese Mischna dennoch in der Datenbank fehlt, dann deshalb, weil die biblische Figur nicht im Rahmen eines Bibelzitats erwähnt wird. 5 Vgl. Carol Meyers, Toni Craven und Ross S. Kraemer, Hg., Women in Scripture: A Dictionary of Named and Unnamed Women in the Bible, the Apocryphal/Deuterocanonical Books, and the New Testament (Boston: Houghton Mifflin, 2000), 34: Bei der Zählung der in der Hebräischen Bibel und im Neuen Testament namentlich erwähnten Personen listet diese Untersuchung, auch wenn es zwischen den verschiedenen möglichen Zählweisen gewisse Abweichungen gibt, ungefähr 162 verschiedene Frauennamen auf (etwa 70 % davon in der Hebräischen Bibel). Das heißt, dass „Frauen oder Frauennamen [je nach Zählweise] zwischen 5,5 und 8 % aller namentlich erwähnten Personen ausmachen“ (ebd.). Dazu kommen die nicht namentlich erwähnten Frauen. 6 „Die Mischna enthält in ihrer allgemein anerkannten gedruckten Textfassung [Albeck-Ausgabe und Wilnaer Romm-Ausgabe] fast 600 Bibelzitate“ (Kalman, „Building Houses in the Sand“, 191). Diese sind auch bei Herbert Danby, Hg., The Mishnah (London: Oxford University Press, 1933), 807–811, im „Index of Biblical Passages Quoted in the Text of the Mishnah“ aufgelistet.
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Mirjam zuvor auf Mose gewartet hatte (mSot 1,9, mit Zitaten aus Ex 2,4 und Num 12,15). Man beachte, dass die Tosefta Mirjam noch an zwei weiteren bedeutenden Stellen in anderen Kontexten erwähnt; 2. Ein Text über Ester (אסתר – mAv 6,6), in dem Ester gepriesen und mit einem rabbinischen Gelehrten verglichen wird, der einen anderen Gelehrten zitiert: „Hast du nicht gelernt, dass jeder, der einen Ausspruch im Namen seines Verfassers überliefert, Erlösung für die Welt bringt? Wie es heißt: Und Ester sprach zum König im Namen Mordechais (Est 2,22)“. Allerdings ist anzumerken, dass das sechste Kapitel des Traktats Avot eine spätere Hinzufügung ist.7 Die anderen drei Frauengestalten erscheinen als Teil einer Personenbezeichnung: „der Ehemann der Delila“ (דלילה – mNaz 1,2);8 „Joab ben Zeruja“ (צרויה – mMak 2,7, als Kommentar zu Num 35,25f.28/Dtn 19,4),9 und in dem Verweis auf „die Liebe Amnons und Tamars“ (2 Sam 13) (תמר – mAv 5,16), die negativ als eine vergängliche Art der Liebe charakterisiert wird. Die Mischna spricht von Liebe ()אהבת אמנון ותמר, doch nach der biblischen Erzählung handelt es sich eindeutig um eine Vergewaltigung.10 Die Geschichte von Amnon und Tamar, dem Sohn und der Tochter König Davids, wird in der Tosefta in einem anderen Zusammenhang als „Vorfall“ oder „Geschichte“ erwähnt ()מעשה. 7 Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch (München: Beck, 92011), 131f. 8 Delila (Ri 16) „ist die einzige Frau in der Simson-Geschichte, deren Name erwähnt wird […]. Anders als sonst bei biblischen Frauen üblich wird sie nicht über einen Mann (Ehemann, Vater oder Bruder) identifiziert. […] Sie und Simson sind augenscheinlich ein Liebespaar, aber nicht verheiratet. […] [Sie] wird nicht als Hure bezeichnet.“ J. Cheryl Exum, „Delilah“, in Women in Scripture: A Dictionary of Named and Unnamed Women in the Bible, the Apocryphal/Deuterocanonical Books, and the New Testament (hg. v. Carol Meyers, Toni Craven und Ross S. Kraemer; Boston: Houghton Mifflin, 2000), 68. Die Mischna macht sie zu Simsons Frau und zu einem bloßen Bestandteil seines Namens, d. h. derjenige, der ihren Namen erwähnt, spricht nicht über sie, sondern über Simson, erinnert sich aber eher an ihren (als an seinen) Namen. 9 Tal Ilan verdanke ich den Hinweis, dass das zweite Beispiel strenggenommen gar nicht zählt: Joab ben Zeruja ist unter keinem anderen Namen bekannt, und wer seinen Namen liest, wird dabei – und das gilt aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die Verfasser der Mischna – kaum an die Gestalt von Joabs Mutter Zeruja denken. Zeruja und Abigajil sind Schwestern König Davids und die Mütter der Rivalen Amasa (des Befehlshabers von Abschaloms Heer) und Joab (2 Sam 17,25). Zeruja hatte drei Söhne, die alle als Soldaten in Davids Heer kämpften und alle gleichermaßen mit dem Matronym „Sohn der Zeruja“ bezeichnet werden. Vgl. Diana Vikander Edelman, „Zeruiah“, in Women in Scripture: A Dictionary of Named and Unnamed Women in the Bible, the Apocryphal/Deuterocanonical Books, and the New Testament (hg. v. Carol Meyers, Toni Craven und Ross S. Kraemer; Boston: Houghton Mifflin, 2000), 168. In der Tosefta werden die Namen Ester, Delila und Zeruja gar nicht erwähnt. 10 Auch diesen Hinweis verdanke ich Tal Ilan.
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Zu weiteren sechs Passagen in der Mischna, die biblische Frauen erwähnen, gibt es Parallelen in der Tosefta. Wieder sind es nur zwei dieser sechs Passagen, die die betreffenden Frauen als Protagonistinnen und positive Beispiele behandeln: 1. „die Töchter des Zelofhad“ (בנות צלפחד – mBB 8,3; tBB 7,811 mit Bezug auf Num 27, insbes. V7, ohne direktes Bibelzitat) und 2. Davids Frau Abigajil (אביגיל – mSan 2,4 und tSan 4,5, in einer Exegese zu Dtn 17,17 mit implizitem Bezug auf 1 Sam 25). Der positive Inhalt dieser Mischnajot wird weiter unten im Abschnitt „Qualität“ analysiert. Die dritte Frau ist Tamar (Gen 38), die in mMeg 4,10 in dem Satz: „Die Geschichte der Tamar ( )מעשה תמרwird gelesen und übersetzt“, erwähnt wird; demgegenüber lautet die Parallelstelle tMeg 3,31: „Die Geschichte von Juda und Tamar wird gelesen und übersetzt.“ Der Text bezieht sich auf die biblische Erzählung von Tamar, die Juda zum Geschlechtsverkehr überlistet; die Formulierung in der Mischna schreibt den aktiven Part in der Geschichte eindeutig Tamar zu. Dieser Vorfall ist jedoch nur ein Glied in einer ganzen Kette aus Ereignissen, die als beschämend zusammengefasst werden (s. u.). Man könnte aus dem Text darauf schließen, dass diese Bibelpassage gelesen und übersetzt wird, weil ihr Ende Juda zur Ehre gereicht (s. untenstehende Analyse). Die Tamar aus Gen 38 wird noch an einigen anderen Stellen der Tosefta erwähnt. Die verbleibenden drei Passagen sind inhaltlich ähnlich und die Identitäten der weiblichen biblischen Charaktere offenbar rein zufällig: –– Abschalom, der mit zehn Nebenfrauen seines Vaters David Geschlechtsverkehr hat (עשר פילגשי אביו – mSot 1,8; tSot 3,16, mit Bezug auf 2 Sam 16,21f.); –– David, der Sauls Witwe heiratet (אלמנתו של שאול – mSan 2,2, mit Zitat aus 2 Sam 12,8: „Ich gab […] die Frauen deines Herrn [ ]נשי אדוניךin deinen Schoß“), obwohl es der Witwe eines Königs verboten ist, wieder zu heiraten, und David, der, wie in tSan 4,2 zitiert, seine zehn Nebenfrauen einsperrt: „und sie blieben bis zu ihrem Tod eingesperrt und lebten als Witwen [“]אלמנות חיותn(2 Sam 20,3); –– die Erwähnung der Töchter der Philister ( )בנות פלשתיםin mNed 3,11 innerhalb des Zitats: „damit die Töchter der Philister sich nicht freuen, damit die Töchter der Unbeschnittenen nicht jauchzen“ (2 Sam 1,20), das angeführt wird, um anhand der typischen Äquivalenz der beiden Vershälften zu zeigen, dass „Philister“ das Gleiche bedeutet wie „unbeschnitten“. Die Töchter der Philister werden auch in tSot 3,15 (s. u.) und auch dort als nichtjüdisches Paradigma – in diesem Fall der Versuchung und Sünde für männliche Israeliten – erwähnt: „Simson empörte sich mit seinen Augen, wie es heißt: Und es sprach Simson zu seinem Vater [und zu 11 Die Nummerierung der Tosefta folgt der Lieberman-Auflage bis nach den Bavot, und dann der Zuckermandel-Auflage.
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seiner Mutter: Ich sah eine der Töchter der Philister in Timna]: Sie nimm mir [zur Frau]; denn sie ist recht in meinen Augen (Ri 14,2f.).“ In der Parallel-Mischna zu dieser Tosefta, mSot 1,8, ist nicht explizit von Frauen die Rede: „Simson ging seinen Augen nach“. In allen drei Überlieferungen stehen nicht die Frauengestalten, sondern die Taten der männlichen Charaktere in den betreffenden Bibelgeschichten im Blickpunkt des Interesses. Die biblischen Frauen sind in diesen Texten aus der Mischna/Tosefta bloße Schatten im Hintergrund. Deshalb würde ich sie – auch wenn diese Positionierung in puncto Gender sehr aussagekräftig ist – nicht in einen Katalog von biblischen Frauengestalten aufnehmen, die in der Mischna als Subjekte auftreten. Ein weiteres Bibelzitat, das in der Mischna angeführt wird, erwähnt „die Töchter Israels“ ()בנות ישראל. Diese Wendung ist generisch, kollektiv und geschlechtsspezifisch. Die „Töchter Israels“ sind einerseits Protagonistinnen und dienen andererseits in den Geschichten, in denen sie auftreten, dazu, das Schicksal einer männlichen Figur, nämlich des Königs Saul, besser zur Geltung zu bringen. In mNed 9,10 wird – wie das Zitat aus 2 Sam 1,24: „Töchter Israels, weint um Saul“, verdeutlicht – Rabbi Jischmaels Verhalten nach dem Muster des besagten Königs dargestellt. Die Klage der „Töchter Israels“ um den toten Saul dient als Vorbild für die Klage der „Töchter Israels“ um Rabbi Jischmael. Im biblischen Text spiegelt die Erwähnung des Geschlechts die Rolle wider, die den Frauen bei der Klage und bei den Begräbnisriten zugedacht war; in der Mischna hebt sie die Güte von Rabbi Jischmael hervor. Die „Töchter“ beklagen die, die ihnen helfen. Zu bedenken ist ferner, dass diese Mischna am Ende des Kapitels steht und mithin eine sekundäre Hinzufügung des Herausgebers sein könnte. In der letzten Gruppe führe ich vier weitere Stellen aus der Mischna auf, die indirekte, metaphorische oder interpretatorische Anspielungen auf biblische Frauengestalten enthalten: mYev 6,6 und tYev 8,4 zitieren Gen 5,2, den Bibelvers über das erste menschliche Wesen, das als „Mann und Frau“ (זכר )ונקבהgeschaffen wurde, und leiten daraus die Verpflichtung ab, dass man wenigstens einen Sohn und eine Tochter haben müsse, um das Gebot der Fortpflanzung zu erfüllen. Ähnlich inklusiv ist die Interpretation des biblischen Segens für Israel in mMSh 5,13: „Blick von deiner heiligen Wohnung, vom Himmel, herab und segne dein Volk Israel“ (Dtn 26,15), der bei den Rabbinen wie folgt gedeutet wird: „[Segne Israel] mit Söhnen und Töchtern (בבנים “)ובבנות. Zwei weitere Überlieferungen sind rein metaphorisch. In mBer 9,5; tBer 6,23 wird Spr 23,22 – „Verachte deine Mutter nicht, wenn sie alt ist (אל “)תבוז כי זקנה אמך – verwendet, um die Ältesten als eine alte Mutter zu
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beschreiben;12 mTaan 4,8 beendet den Traktat Ta‘anit mit einem Midrasch, der in den Handschriften fehlt und daher nicht original ist und der eine weibliche Metapher enthält: Geht raus und seht, Töchter Zions ()בנות ציון, den König Salomo [mit der Krone! Damit hat ihn seine Mutter ( )אמוgekrönt am Tag seiner Hochzeit, am Tag der Freude seines Herzens] etc. (Hld 3,11). Am Tag seiner Hochzeit, das ist die Gabe der Tora ( ;)ביום חתונתו זו מתן תורהam Tag der Freude seines Herzens, das ist der Bau des Tempels. Es möge sein Wille sein, dass er schnell in unseren Tagen erbaut werde.
Man könnte die Auffassung vertreten, dass diese letzte Gruppe insofern nicht ganz in die Kategorie der „in der Mischna erwähnten biblischen Frauen“ passt, als die darin enthaltenen figurativen Konstruktionen zwar unter Genderaspekten relevant sind, aber anspielenden Charakter haben und sich nicht ausdrücklich auf eine biblische Frauengestalt beziehen. Als Ergebnis der quantitativen Analyse können wir also festhalten, dass in der Mischna nicht mehr als fünf bedeutende Frauengestalten erwähnt werden: Mirjam (mSot 1,9), Ester (mAv 6,6, mit Sicherheit eine spätere Hinzufügung), die Töchter des Zelofhad (mBB 8,3; tBB 7,8), Abigajil (mSan 2,4; tSan 4,5), und Tamar aus dem Buch Genesis (mMeg 4,10 und tMeg 3,31). Ich werde dieses quantitative Resultat im Folgenden analysieren und versuchen, seine Bedeutung zu bewerten. Aus dem vorangegangenen Überblick könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Autoren und Redaktoren der Mischna biblischen Charakteren generell keine sonderlich große Bedeutung beimessen und sie deshalb nur äußerst selten erwähnen. Dies trifft jedoch nicht zu, denn wenn wir anstelle der weiblichen die männlichen Charaktere in den Blick nehmen, stoßen wir innerhalb der Mischna auf eine Fülle an biblischen Gestalten und etliche bedeutsame Geschichten, die zur Veranschaulichung halakhischer Regeln oder moralischer Verhaltensweisen herangezogen werden. Ich habe 92 Mischnajot gezählt, die bedeutende männliche biblische Charaktere namentlich erwähnen (wobei in vielen davon mehrere männliche Figuren erwähnt oder die betreffenden Charaktere sehr ausführlich behandelt werden), wohingegen sich die Zahl der Mischnajot, die bedeutende biblische Frauengestalten namentlich erwähnen, lediglich auf fünf beläuft (das sind 5,2 % aller Mischnajot, die biblische Charaktere erwähnen). Den 69 Namen biblischer Männer, die in der Mischna genannt werden (s. Anhang), stehen nur acht Namen biblischer Frauen gegenüber. Insgesamt also enthält die Mischna 69 Namen von biblischen Männern (das sind 90 % aller namentlich erwähnten biblischen Charaktere) und acht Namen von biblischen Frauen (10 % der gesamten Anzahl); jede dieser Frau12 Vgl. meine Dissertation Women-Related Metaphors in Tannaitic Literature (in Arbeit). Das Tosefta-Material scheint in diesem Fall älter zu sein als das der Mischna.
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en wird – im Gegensatz zu den meisten männlichen Namen, die in mehreren Mischnajot vorkommen – immer nur in einer Mischna erwähnt. Dieses Verhältnis ähnelt dem oben erwähnten Verhältnis in der Bibel, wo 5,5 bis 8 % aller erwähnten Namen Frauennamen sind. Wir finden also in der Mischna eine signifikante Anzahl männlicher biblischer Charaktere und eine überaus kleine Anzahl weiblicher biblischer Charaktere. Obendrein vergrößert sich die Kluft zwischen der Erwähnung männlicher und weiblicher Namen dadurch, dass die Geschichten, in denen männliche Charaktere eine Rolle spielen, sehr viel ausführlicher erzählt werden und dieselben männlichen Namen in verschiedenen Texten vorkommen. Man kann dieses Ergebnis unterschiedlich interpretieren; fest steht jedoch, dass die Mischna bei der Auswahl und Erwähnung von Personen aus der Bibel ganz eindeutig eine genderbezogene Entscheidung trifft, die auf dem biblischen Ungleichgewicht basiert und dieses verschärft. Mit anderen Worten: Wir finden in der Mischna durchaus aggadisches Material (wenn auch weniger als in der Tosefta), doch dieses aggadische Material erwähnt fast ausschließlich männliche biblische Charaktere. Biblische Frauengestalten werden beinahe gar nicht erwähnt. Ein Vergleich mit dem Material aus der Tosefta hilft die Arbeitsweise der Mischna besser zu verstehen. Abraham zum Beispiel kommt in der Tosefta 28-mal und Sara fünfmal vor. In der Mischna wird Abraham in 14 Mischnajot, Sara hingegen kein einziges Mal erwähnt. Der Umgang der Mischna mit Abraham ist derselbe wie in der Tosefta: Sie legt – wenn auch in deutlich geringerer Anzahl – Bibelverse aus, die den Patriarchen betreffen, und verwendet diese biblischen Texte als Grundlage für gesetzliche Regelungen. Die biblische Gestalt der Sara wird jedoch in der Mischna kein einziges Mal als Beispiel angeführt. Das ist bezeichnend für die Art und Weise, wie die Mischna genderspezifische Entscheidungen trifft und biblische Frauen damit fast gänzlich unsichtbar macht.
2.
Biblische Frauen in der Tosefta: Quantität und Vergleich mit der Mischna
Die Tosefta enthält weitaus mehr – nämlich ungefähr zehnmal so viel – Material über biblische Frauen als die Mischna. Signifikante 25 % aller Frauen, die in der Hebräischen Bibel namentlich erwähnt werden, kommen auch in der Tosefta vor. Ich habe etwa 43 Passagen in der Tosefta mit namentlichen Erwähnungen biblischer Frauen gezählt (davon ungefähr 19, das heißt knapp die Hälfte, im Tosefta-Traktat Sota), die an den Parallelstellen der Mischna nicht genannt werden. Von fünf Frauengestalten abgesehen (die in anderen
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Kontexten auftreten: Mirjam, Tamar aus dem Buch Genesis, Tamar aus 2 Samuel, „die Töchter der Philister“ und „die Nebenfrauen Davids“), werden alle übrigen Frauen, die ich in diesem und im nächsten Abschnitt aufliste – 26 insgesamt –, in der Mischna nicht erwähnt: Eva (חוה – tSan 8,9; tSot 4,16f., mit Zitat aus Gen 3,15); „Töchter Adams“ (בנות האדם – tSot 3,9, mit Zitat aus Gen 6,2); Sara (שרה – tBer 1,13, mit Zitat aus Gen 17,15; tRHSh 2,13, mit Zitat aus Gen 21,1; tMeg 3,6, mit Zitat aus Gen 21,1; tSot 5,12, mit Zitat aus Gen 16,5; 21,10–12; tSot 6,6, mit Zitat aus Gen 21,9f.); Hagar ( הגרtSot 5,12); Bakol, die Tochter Abrahams (בתו של אברהם בכל – tQid 5,16–21, mit Zitat aus Gen 24,1);13 Tamar (aus Genesis) (תמר – tBer 4,17f., mit Zitat aus Ijob 15,18f.; tSot 9,3, mit Zitat aus Gen 38,25f.); Serach, die Tochter Aschers (סרח בת אשר – tSot 4,7); Brunnen der Mirjam (מרים – tSot 11,1, mit Zitat aus Num 20,1f.; 11,8, mit Zitat aus Sach 11,8); Frauen, die der Tora zuhören (נשים באו לשמוע –tSot 7,9, mit Zitat aus Dtn 31,12); Rahab (רחב –tSot 8,4, mit Zitat aus Jos 2,10f.); Siseras Mutter, seine Frau und seine Schwiegertöchter (אמו של סיסרא אשתו וכלותיו – tSot 9,4, mit Zitat aus Ri 5,28–31); Töchter der Philister (בנות פלשתים – tSot 3,15, mit Zitat aus Ri 14,3);14 Hanna (חנה – tBer 3,6, mit Zitat aus 1 Sam 1,13; tHag 1,1, mit Zitat aus 1 Sam 1,22; tSan 13,3, mit Zitat aus 1 Sam 2,6); Merab und Michal, die Töchter Sauls, und Noomi aus dem Buch Rut ( נעמי, מרב,מיכל בת שאול – tSot 11,17–20, mit Zitat aus 2 Sam 21,8; 1 Sam 25,44; 2 Sam 3,14; 21,8; 6,23; Rut 4,17); die kluge Frau (aus der Stadt Abel-Bet-Maacha) (ותבא האשה אל כל העם בחכמתה – tTer 7,20, mit Zitat aus 2 Sam 20,22); Isebel (איזבל – tSan 4,5, mit Zitat aus Dtn 17,17); Atalja (עתליה – tSan 4,11); die Tochter Omris (בתו של עמרי – tSot 12,3, mit Zitat aus 2 Chr 22,7); Hulda (חלדה – tBB 1,11; tNeg 6,2);15 Maacha, Mutter des Königs Asa (מעכה – tAZ 3,19, mit Zitat aus 2 Chr 15,16).
Zusätzlich zu diesen Charakteren werden in einem Abschnitt der Tosefta (tMeg 3,31–36), der eine Reihe von als beschämend kategorisierten Bibelgeschichten auflistet, mehrere Frauengestalten erwähnt: Die Töchter Lots ( ;)לוט ושתי בנותיוBilha ( ;)בלההTamar aus Genesis ( ;)תמרdie Nebenfrau von Gibea ( ;)פלגש בגבעהBatseba ( ;)בת שבעTamar aus 2 Samuel ( ;)תמרdie Nebenfrauen Davids ()פילגשי אביו. 13 Dieser Charakter ist eine Erfindung der Tosefta-Verfasser. 14 Zu tSot 3,15 gibt es, wie schon gesagt, eine Parallele in mSot 1,8, die die „Töchter der Philister“ nicht ausdrücklich erwähnt. 15 Die „Hulda-Tore“ im Tempel werden in der Mischna lediglich erwähnt (mMid 1,3), während sie bei einem anderen Tor, das nach einem männlichen biblischen Charakter namens Jechonja benannt ist, nach dem Grund dieser Namensgebung fragt (mSheq 6,3; mMid 2,6): „Warum nennt man es Jechonja-Tor? Weil Jechonja (durch dieses Tor) in die Verbannung ging.“ Zu den „Hulda-Toren“ in mMid 1,3 vgl. Dalia Marx, Tractates Tamid, Middot and Qinnim: A Feminist Commentary (FCBT V/9; Tübingen: Mohr Siebeck, 2013), 131–134.
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Von diesen in Tosefta Megilla erwähnten Frauengestalten kommt an der Parallelstelle der Mischna (mMeg 4,10, s. o.) nur Tamar (aus dem Buch Genesis) vor; in allen übrigen Fällen werden nur die männlichen Protagonisten erwähnt. Außerdem erfindet die Tosefta mehrere weibliche Metaphern (an mindestens sieben Stellen), die mithilfe von Bibelversen konstruiert sind, aber im biblischen Text selbst (und in der Mischna) nicht vorkommen: Die G-ttheit, die die Welt erschafft, wird mit einer klugen Frau verglichen, die ihr Haus baut (tSan 8,9, in Anlehnung an Spr 9,1–5; 14,1); Manna als Milch für einen Säugling und G-tt als stillende Mutter (tSot 4,3, auf der Grundlage von Num 11,8); Jerusalem als Mutter (tSot 15,15, mit Bezug auf Ez 16,2 unter Hinzufügung des Bildes der Mutter); Israel in Babylon als eine Frau, die in das Haus ihres Vaters (Abraham) zurückkehrt (tBQ 7,3, vgl. Gen 11,27f.); Israel als eine Frau, die um ein Verlobungsschreiben bittet (tBQ 7,4, auf der Grundlage von Ex 32,16); Israel als Sota, die das Wasser trinkt (tAZ 3,19, zu Ex 32,20); die Tora als Königin Ester (tBer 5,2, mit Zitat aus Est 7,8).
Die Tosefta erwähnt nicht nur Frauen aus der Bibel, sondern erfindet auch neue Charaktere, um die biblischen Erzählungen auszuschmücken (zum Beispiel Bakol, die Tochter Abrahams, oder Siseras Frau und Töchter als Ausschmückung des biblischen „die Klügsten ihrer Fürstinnen“, während in der Bibel selbst nur von „Siseras Mutter“ die Rede ist). Wenn man die metaphorischen Konstruktionen mitzählt, enthält die Tosefta 50 Stellen mit weiblichen biblischen Charakteren, die in der Mischna nicht enthalten sind. Es trifft zu, dass die Tosefta insgesamt mehr aggadisches Material und biblische Bezüge als die Mischna und eine beträchtliche Menge an aggadischem Material über biblische Charaktere umfasst, zu dem es in der Mischna keine Parallelen gibt. Insbesondere der Traktat Sota besteht in großen Teilen aus Erzählstoffen, die auch von biblischen Frauen handeln. Doch neben der Tatsache, dass die Mischna von männlichen biblischen Charakteren durchaus ausgiebig Gebrauch macht, weisen auch andere Details darauf hin, dass die biblischen Frauen in der Tosefta nicht nur deshalb zahlreicher sind, weil das biblische Material hier insgesamt mehr Raum erhält. Ein erkennbares Muster betrifft das Material, das die Tosefta vor und nach einem genderspezifischen Passus bietet, oder sogar den betreffenden Passus selbst, dessen Mischna-Parallele den weiblichen Charakter in etlichen Fällen gar nicht erwähnt, wie die folgende Übersicht zeigt:
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Paralleltexte über dasselbe Thema, in denen die Mischna die biblische Frauengestalt nicht erwähnt Tosefta tSan 8,9 Adam und Eva tSot 5,12 der Himmel ist auf Saras Seite eine positive Botschaft über Frauen Simson wurde an sei- tSot 3,15 nen Augen bestraft Töchter der Philister Tempelwallfahrt tHag 1,1 für Frauen Hanna ging nicht hinauf Auslieferung einer tTer 7,20 die kluge Frau aus der Stadt Person, damit nicht (Abel-Bet-Maacha) die ganze Gruppe vergewaltigt/getötet eine Gruppe von Männern, die getötet werden sollen wird Gräber in Städten tBB 1,11 das Grab der Prophetin Hulda Abschaffung von tAZ 3,19 Götzendienst Maacha, die Mutter des Königs Asa
Erschaffung der Menschheit Friede zwischen Frau und Mann
Parallele Mischna mSan 4,5 Adam ha-Rischon mNed 11,12 Sara wird nicht erwähnt eine negative Botschaft über Frauen mSot 1,8 Töchter werden nicht erwähnt mHag 1,1 Hanna wird nicht erwähnt mTer 8,12 die kluge Frau wird nicht erwähnt eine Gruppe von Frauen, die vergewaltigt werden sollen mBB 2,9 Hulda wird nicht erwähnt mAZ 3,3 Maacha wird nicht erwähnt
In sämtlichen Beispielen erklärt die Tosefta die betreffende Regel anhand eines Bibelzitats, in dem ein weiblicher Charakter vorkommt, während die Parallelstelle in der Mischna dieselbe Regel, aber kein biblisches Beispiel anführt. In anderen Fällen – wenn nämlich ein männlicher Charakter im Zen trum der biblischen Erzählung steht – verwendet die Mischna sehr wohl biblische Beispiele. Parallelstellen, an denen die Mischna das aggadische Beispiel mit einem weiblichen Charakter nicht erwähnt Eine Sota wird ihrem Ehemann und ihrem Liebhaber verboten
Eva und die Schlange (tSan 4,17f.)
Abraham war mit allem (bakol) gesegnet
Bakol – die Tochter Abrahams (tQid 5,16–21)
Bekenntnis über Tamars Rechtschaffenheit
tBer 4,17
Hanna und Daniel als vorbildliche Beter
tBer 3,6
mSan 5,1 parallel zu tSan 4,16 über die halakhische Regel, aber ohne das Beispiel über Eva mQid 4,14 in der Mischna wird die Tochter nicht erwähnt tBer 4,16 parallel zu mBer 6,8; keine Parallelen in den biblischen Beispielen tBer 3,5.7 (halakhische Regeln) haben Parallelen in der Mischna
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beschämende Geschichten
tMeg 3,31–36 die Töchter Lots Bilha und Ruben Tamar und Juda (Gen) die Nebenfrau von Gibea Batseba und David Tamar und Amnon (2 Sam) die Nebenfrauen Davids und Abschalom
mMeg 4,10 Ruben Tamar David Amnon
In der letztgenannten Parallelstelle zieht es der Mischna-Traktat Megilla ausdrücklich vor, die männlichen Subjekte zu nennen, die vermutlich als der aktivere Part in der Geschichte betrachtet werden. Aggadische Parallele vor und nach einer Stelle mit einem weiblichen Charakter, zu der es in der Mischna keine Parallele gibt Josef begrub seinen Vater Serach, die Tochter Aschers Mose machte sich verdient um die Gebeine Josefs
Tosefta tSot 4,7 tSot 4,7 tSot 4,8
Parallele Mischna mSot 1,9 mSot 1,9
Hier macht die Mischna genau wie die Tosefta Gebrauch von biblischen Charakteren und legt den Bibeltext aus, erwähnt aber lediglich männliche Subjekte. Die Mischna hat nur ein (männliches) Beispiel aus der Bibel Männliches biblisches Subjekt Älteste und Kalb, dem das Genick gebrochen wurde Dasselbe Prinzip, „Gleich wie du sagst […] aber keine Parallele sagte Tamar“
tSot 9,2
mSot 9,6
tSot 9,3
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Mischna die Erwähnung weiblicher Charaktere konsequent vermeidet. Wenn sie sich am Material der Tosefta bedienen, treffen die Verfasser der Mischna eine genderspezifische Auswahl. Und wenn sie dem Material der Tosefta etwas hinzufügen, betrachten sie biblische Frauen nicht als aussagekräftige Beispiele für ihre Regeln und ihren Diskurs.
Biblische Frauen in der Mischna und in der Tosefta
3.
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Erwähnung biblischer Frauen: Qualität
Ein weiterer Aspekt, der untersucht werden soll, ist die Qualität des Materials über biblische Frauen in der Mischna und in der Tosefta. In der Mischna besitzt lediglich die Geschichte über Mirjam (mSot 1,9) eine positive Qualität. Diese Erzählung ist Teil einer Perikope zum Thema: „Einem Menschen wird nach demselben Maß zugeteilt, mit dem er selbst misst“. Die Mischna konnotiert Mirjam mit Gerechtigkeit: „Und so zur Seite des Guten: Mirjam wartete auf Mose eine Stunde, wie es heißt […] (Ex 2,4), so wartete Israel auf sie sieben Tage in der Wüste, wie es heißt […] (Num 12,15)“. Diese Stelle fehlt in der Tosefta. Es ist die einzige signifikante, positive Bewertung einer biblischen Frau, die ausschließlich in der Mischna vorkommt. Es scheint, dass die Mischna Mirjam an dieser Stelle braucht, um eine harmonische Struktur aufzubauen – ihre Erwähnung dient kompositorischen Zwecken: mSota
Drei sündige Menschen (eine Frau, zwei Männer): die Sota (1,7) Simson (1,8) Abschalom (1,8)
Drei gerechte Menschen (eine Frau, zwei Männer): Mirjam (1,9) Josef (1,9) Mose (1,9)
Außerdem wird die Geschichte von Mirjam gebraucht, um zu zeigen, dass der göttliche Lohn um ein Mehrfaches größer ist als die guten Taten der Gerechten. Mirjam wartete nur kurz auf ihren Bruder, während ganz Israel, die göttliche Gegenwart und die Wolken der Herrlichkeit sieben Tage lang auf sie warteten, bis sie geheilt war. Zwei weibliche biblische Charaktere sind in der Mischna und in der Tosefta qualitativ gleichrangig: 1. Das positive Licht, das die Bibel auf die Töchter des Zelofhad wirft, wird in beiden Sammlungen (mBB 8,3; tBB 7,8) durch dasselbe Bild hervorgehoben: Die Töchter des Zelofhad nahmen drei Anteile vom Erbe des Landes: den Anteil ihres Vaters und zwei Anteile ihres Großvaters Hefer, der ein Erstgeborener gewesen war. Das entspricht der traditionellen Haltung der gesamten rabbinischen Literatur, die nur Worte des Lobes für die Töchter Zelofhads hat. So heißt es in SifBam 133: Nachdem die Töchter Zelofhads gehört hatten, dass das Land an die Stämme [und zwar] an männliche und nicht an weibliche [Personen] verteilt werden sollte, kamen sie alle zusammen, um sich zu beraten. Sie sagten: Das Erbarmen G-ttes ist nicht wie das Erbarmen des Menschen. Das Erbarmen des Menschen ist mehr auf männliche [Personen] als auf weibliche [gerichtet]. Aber der, der sprach und die Welt wurde, ist nicht so. Vielmehr [richtet sich] sein Erbarmen
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auf männliche und weibliche [Personen]. Sein Erbarmen [richtet sich] auf alle […].
2. Sowohl die Mischna als auch die Tosefta loben Davids Frau Abigajil als einzigartig und als ein Muster der Güte und Rechtschaffenheit (mSan 2,4; tSan 4,5).16 Im Zusammenhang mit dem biblischen Gebot in Dtn 17,17, wonach sich ein König in Israel „keine große Zahl von Frauen nehmen“ soll, ergänzen die Rabbinen in der Mischna: „selbst solche wie Abigajil“ – das bedeutet, der König sollte nicht einmal dann viele Frauen haben, wenn seine Frauen alle so wären wie Abigajil, die „ideale Frau“. In der Tosefta heißt es dagegen, dass der König sich so viele Frauen nehmen dürfte, wie er wollte, wenn sie alle so wären wie Abigajil und ihn nicht vom Pfad der Frömmigkeit abbrächten. An beiden Stellen ist Abigajil „die einzige von Davids Frauen, die in diesem Kontext – und zwar als Sinnbild für etwas Positives – Erwähnung findet“.17 In denjenigen Textüberlieferungen, die nur in der Tosefta enthalten sind, finden sich einige Beispiele für negativ konnotierte weibliche Charaktere: 1. Das Thema „Frauen als sexuelle Versuchung“: Eva (tSot 4,17) als Versuchung für die Schlange, die sie heiraten wollte; „Töchter der Menschen“ als Versuchung für die Männer der Flut (tSot 3,9); die Töchter der Philister als Versuchung für Simson (tSot 3,15). Alle, die in Versuchung gerieten, wurden danach entsprechend bestraft. 2. Isebel (tSan 4,5), Atalja, Königin von Juda (tSan 4,11), die Töchter Omris (tSot 12,3) und Maacha, die Mutter des Königs Asa (tAZ 3,19) werden als böse Frauen dargestellt. 3. Laut tMeg 3,31–36 sind die (Beischlafs-/Vergewaltigungs-)Geschichten über die Töchter Lots, Juda und Tamar, Amnon und Tamar, Abschalom und Davids Nebenfrauen, die Nebenfrau von Gibea und die Gräueltaten Jerusalems (Ez 16,2) gemeinsam mit ihrem aramäischen Targum Bestandteil der öffentlichen Toralesung. Die Geschichte der Nebenfrau in Gibea ist eine der erschütterndsten Geschichten in der gesamten Bibel, doch die Tosefta hat kein Problem mit der Vorstellung, dass sie einem großen Publikum vorgelesen wird. Die Geschichte der Vergewaltigung durch Amnon ist beschämend für das Haus Davids, doch auch hier scheuen die Verfasser der Tosefta eine öffentliche Lesung derselben nicht. Die Geschichte Judas wird vorgelesen, weil Judas Bekenntnis bezüglich Tamar, wie es an einer anderen Stelle der Tosefta heißt (tBer 4,17f.), als Beweis für seine Rechtschaffenheit gedeutet wird. Die Geschichte Rubens jedoch, der „mit Bilha, der Nebenfrau seines Vaters, schlief“, wird vorgelesen, aber nicht übersetzt, und „der Bericht von David mit Batseba […] [wird] nicht 16 Vgl. Tamar Kadari, „Abigail: Midrash and Aggadah“, in Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia (2009), online: https://jwa.org/encyclopedia/article/ abigail-midrash-and-aggadah [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]. 17 Ebd.
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verlesen und […] nicht übersetzt“. Damit soll, wie sich aus dem Babylonischen Talmud erschließen lässt (bMeg 25b), Davids und Jakobs guter Ruf geschützt werden. Das Gleiche gilt für die Geschichte von David und Batseba, die ebenfalls als beschämend für David interpretiert wird. Die Geschichte über Ruben wird nicht übersetzt, um Ruben und seinen Vater nicht zu beschämen. Die Geschichte über das Goldene Kalb (Ex 32,1–20) wird nicht übersetzt, um Aaron nicht zu beschämen, der von Mose beschuldigt wurde. Wir sehen hier also, dass die Tosefta weibliche Charaktere nicht um ihrer selbst willen, sondern lediglich in Bezug auf den männlichen Protagonisten in derselben Geschichte erwähnt. 4. Auf der Grundlage von Dtn 31,12 („Versammle das Volk – die Männer und Frauen, Kinder und Greise, dazu die Fremden, die in deinen Stadtbereichen Wohnrecht haben –, damit sie zuhören und auswendig lernen und den Herrn, euren G-tt, fürchten“) erklärt tSot 7,9, dass die Frauen der Tora lediglich zugehört und nur die Männer die Tora auch studiert hätten.
Andererseits sind in der Tosefta deutlich mehr weibliche Charaktere positiv als negativ konnotiert. So wird Sara als Herrscherin beschrieben (tBer 1,13): „Im Anfang war sie Fürstin über ihr Volk ( ;)שרי על עמהjetzt aber ist sie Fürstin über die Völker der Welt (“)שרה על כל באי עולם. Ihr Namenswechsel weist wie die Namensänderung Abrahams (von „Vater von Aram“ zu „Vater einer Menge von Völkern“, tBer 1,12) darauf hin, dass ihre Lehren nun nicht mehr von lokal-partikularem, sondern universalem Charakter sind. Sie hat sich die Auszeichnung eines anderen Namens verdient – und das sagt der Tosefta zufolge auch etwas über ihre Sendung aus: Sie spielt eine Rolle bei der Verbreitung des Monotheismus. Dass G-tt sich an Sara und an das Versprechen erinnert, das er ihr gegeben hat, wird in der Tosefta erwähnt, um die Regel zu bestätigen, wonach Verse über Erscheinungen [pikdonot] gleichbedeutend sind mit Versen über das Erinnern [zikhronot] (tRHSh 2,13). Die Tosefta legt fest, dass die Toralesung an Rosh HaShana [am Neujahrstag] zu Sara vorgetragen werden soll (Gen 21,1–34) (tMeg 3,6). Derselbe Text wird bei diesem Anlass auch heute noch gelesen. Nach Interpretation der Verfasser der Tosefta hat sich der Himmel zweimal gegen Abraham und für Sara entschieden: „Denn so haben wir es bei unserer Mutter Sara gefunden, dass sie zu unserem Vater Abraham sagte: Der Herr richte zwischen mir und dir. (Gen 16,5) […] Der Allgegenwärtige entschied nach den Worten Saras, denn es heißt: Hör auf alles, was dir Sara sagt! (Gen 21,12)“ (tSot 5,12).18 Die Phrase „Sara sah“ (tSot 6,6), die dem Traktat Sota zufolge bedeutet, dass sie „die Wahrheit verstand“, dient als Ausgangspunkt für einen langen Abschnitt mit vier unterschiedlichen Auslegungen. Darin wird Hagar als eine Königin bezeichnet ()מלכה, und Abraham bringt den Einwand vor, dass man den Namen 18 Vgl. zu diesem Text Ronit Nikolsky, „Ishmael Sacrificed Grasshoppers“, in Abraham, the Nations, and the Hagarites: Jewish, Christian, and Islamic Perspectives on Kinship with Abraham (hg. v. Martin Goodman; TBN 13; Leiden: Brill 2010), 243–262; 259–262.
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des Himmels entweihen würde, wenn man sie schlecht behandelte (tSot 5,12). Bakol, die Tochter Abrahams (tQid 5,16–21), ist ein Charakter, den die Tosefta als Beweis für die Auffassung erschaffen hat, dass es ein Segen, eine Erfüllung und ein Lebensziel ist, eine Tochter zu haben. Tamar (aus dem Buch Genesis) wird als Muster der Sittlichkeit betrachtet: „Er gestand im Hinblick auf Tamars Rechtschaffenheit“, dass sie gerechter ist als er (tBer 4,17; tSot 9,3). Der Vers, den Tamar spricht: „Sieh genau hin: Wem gehören der Siegelring, die Schnüre und dieser Stab?“ (Gen 38,25), dient zur Erklärung eines exegetischen Prinzips (tSot 9,3). In tSot 4,7 findet sich eine komplette Erzählung über Serach, die Tochter Aschers:19 Und woher wusste Mose, wo Joseph begraben war? Serach, die Tochter Aschers, war bei dieser Generation. Sie ging und sagte zu Mose: Im Nil-Fluss ist Joseph begraben; denn die Ägypter machten ihm einen Sarg aus Metall und umwanden ihn mit Zinn.
Wie Serach schreibt die Tosefta auch Mirjam eine aktive Rolle im Narrativ der Errettung Israels zu und bringt sie mit dem Brunnen in Verbindung, der das Volk in der Wüste mit Wasser versorgte. Im Traktat Sota (tSot 11,1; tSot 11,8) wird Mirjam als gerecht und gemeinsam mit ihren Brüdern Mose und Aaron als „Versorger“ Israels beschrieben (vgl. mAv 5,6, wo der Brunnen zwar erwähnt, aber nicht mit Mirjam in Verbindung gebracht wird). Ähnlich beeindruckend ist die Stelle tSot 6,4, wo im Zusammenhang mit dem Lied, das Mirjam und die anderen Frauen in der Bibel singen, davon die Rede ist, dass die „Kinder auf dem Schoß ihrer Mütter und Säuglinge an der Brust ihrer Mütter ( “)עולל מוטל בין ברכי אמו ותינוק יונק משדי אמוund „Föten im Leib ihrer Mütter das Lied mitsangen (;“)עוברין שבמעי אמותן אמרו שירה an der Mischna-Parallelstelle (mSot 5,4) ist lediglich davon die Rede, dass die Kinder Israels (also entweder die Männer oder, neutral, das Volk) und Mose gesungen hätten. In Bezug auf Rahab (tSot 8,3f.) erfahren wir, dass sie die Wunder, die an den Israeliten geschahen, sah, wie „alle Könige der Völker“ sie sahen, wobei auf ihre Rechtschaffenheit und ihre G-ttesfurcht hingewiesen wird. Hanna 19 „Aschers Tochter Serach wird in der Bibel in der Aufzählung der Israeliten, die nach Ägypten hinunterzogen (Gen 46,17), und in der Aufzählung der Israeliten in den Steppen von Moab erwähnt (Num 26,46). Ansonsten erfährt man nichts über sie und spielt sie in keiner Erzählung eine Rolle. Dennoch gibt es eine Fülle an midraschischen Überlieferungen zu dieser Frau, die diesen gesichtslosen biblischen Charakter in eine faszinierende Persönlichkeit verwandeln“, schreibt Tamar Kadari, „Serah, Daughter of Asher: Midrash and Aggadah“, in Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia (2009), online: https://jwa.org/encyclopedia/article/serahdaughter-of-asher-midrash-and-aggadah [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]. Vgl. auch James L. Kugel, In Potiphar’s House: The Interpretive Life of Biblical Texts (San Francisco: Harper, 1990), 134–146.
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wird als Beispiel und Vorbild für das Amida-Gebet (tBer 3,6), für die halakhische Regel, wonach Frauen von der Pilgerschaft ausgenommen sind (tHag 1,1), und im Zusammenhang mit ihrem Lied erwähnt, in dem sie beschreibt, was nach dem Tod geschieht (tSan 13,3): „Diejenigen, die mitten zwischen diesen [beiden Gruppen der Gerechten und der Sünder] stehen, steigen zum Gehinnom hinab und schreien, [später aber] steigen sie von dort herauf und werden geheilt […]. Ihretwegen hat Hanna gesagt: Der Herr macht tot und lebendig, er führt zum Totenreich hinab und führt auch herauf (1 Sam 2,6).“ Merab und Michal (die Töchter Sauls) und Noomi werden gemeinsam in tSot 11,17–20 erwähnt; dort heißt es in einem langen Abschnitt über die Töchter Sauls, die beide an anderen Stellen als die Frauen Davids genannt werden: „Michal zog sie [die Kinder ihrer Schwester] auf, und sie wurden nach ihrem Namen genannt [obwohl sie nicht ihre Kinder waren]“ – genauso, wie Noomi Ruts Sohn seinen Namen gab, obwohl er nicht ihr Sohn war. Die Namensgebung ist ein wichtiger Akt, und es ist bezeichnend, dass wichtige Frauenfiguren, die nicht die Mütter der betreffenden Kinder sind, mit dem Privileg geehrt werden, dem Neugeborenen seinen Namen zu geben. Die kluge Frau aus der Stadt Abel-Bet-Maacha (2 Sam 20,22) wird in tTer 7,20 zur Bestätigung der halakhischen Regel erwähnt, dass es für einen Menschen besser ist, hingerichtet zu werden, als den Untergang seines ganzen Volkes mitanzusehen: „Und so sagt sie [die Schrift]: Dann ging die kluge Frau zu allen Leuten (2 Sam 20,22).“ Hulda wird in der Tosefta mit ihrem Prophetinnentitel erwähnt, und ihr Grab wird mit den Gräbern des Hauses David verglichen (tBB 1,11; tNeg 6,2): „Und man lässt in ihr keine Gräber bestehen mit Ausnahme der Gräber des Hauses David und des Grabes der Prophetin Hulda, die dort [bereits] seit den Tagen der ersten Propheten gewesen sind.“ Insgesamt habe ich also 15 Frauen gezählt, die als bedeutende und positive weibliche Charaktere in der Tosefta Erwähnung finden (einige von ihnen werden mehrere Male genannt, und sechs von ihnen erscheinen ausschließlich im Traktat Sota): Sara, Hagar, Bakol, Tamar (aus dem Buch Genesis), Aschers Tochter Serach, Mirjam, die Töchter des Zelofhad, Abigajil, Rahab, Hanna, Merab, Michal (Sauls Töchter), Noomi, die kluge Frau aus Abel-Bet-Maacha und die Prophetin Hulda. Damit ergibt sich im Hinblick auf die Anzahl der Nennungen positiv bewerteter biblischer Frauengestalten zwischen der Tosefta (15) und der Mischna (3) ein Verhältnis von 5:1 und, wenn man tSota herausrechnet, ein Verhältnis von 3:1, nämlich neun in der Tosefta und drei in der Mischna. Hinzu kommt, dass die Frauen in der Mischna lediglich einmal, in der Tosefta dagegen viele Frauen mehrfach erwähnt werden. Da die Tosefta etwa dreimal so lang ist wie die Mischna, ist die Zahl der Abschnitte, in denen biblische Frauen als Heldinnen erwähnt werden, signifikant größer, als es aufgrund dieses Verhältnisses zu erwarten wäre (13 Abschnitte in der Tosefta gegenüber drei Abschnitten in der Mischna) – den Traktat Sota gar nicht mitgezählt. Dies alles legt nahe, dass das Material an biblischen Frauengestalten in
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der Tosefta (und zwar auch dann, wenn man den Traktat Sota herausrechnet, der wegen seiner eher „aggadischen“ Beschaffenheit unter Umständen noch als Erklärung für diesen Befund hätte herangezogen werden können) dem entsprechenden Material in der Mischna sowohl quantitativ als auch qualitativ klar überlegen ist. Sowohl die Mischna als auch die Tosefta spiegeln das biblische Missverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Charakteren wider und zeichnen sich insgesamt durch eine eher begrenzte – wenngleich nicht irrelevante – Verwendung biblischer Gestalten aus. Die Mischna hat die Anzahl der biblischen Frauen jedoch auf ein solches Minimum reduziert, dass ihre Präsenz praktisch gegen Null geht, während die Tosefta in quantitativer wie qualitativer Hinsicht einen relevanten und nennenswerten Gebrauch von weiblichen Bibelcharakteren macht. Am Anfang meiner Untersuchung stand die Annahme, dass „biblische Frauen“ in der tannaitischen Literatur ein besonders auffälliges literarisches Element darstellen, anhand dessen sich klar aufzeigen lässt, welche Entscheidungen die Mischna und die Tosefta bei ihrer Verwendung genderspezifischer Muster treffen. Die Tosefta macht einen vergleichsweise signifikanten Gebrauch von biblischen Frauengestalten und legt, wenn sie deren Geschichten weiter ausführt und erläutert, im Allgemeinen eine positive Haltung an den Tag. Bei der Mischna ist dies eindeutig nicht der Fall. Hat dieses Phänomen etwas mit der Kanonizität der Mischna und ihrem autoritativen Status zu tun? Darüber können wir nur spekulieren, aber ich halte es für wahrscheinlich. Schlussendlich blieb die Mischna jedoch nicht der letztverbindliche Text über biblische Frauen, weil die Tosefta-Texte über biblische Frauen in spätere kanonische midraschische und amoräische Korpora aufgenommen wurden. Festzuhalten ist, dass die Mischna in der Zeit, als der Text redigiert wurde, biblische Frauengestalten redaktionell nicht genügend einarbeitete. Judith Hauptman hat die These aufgestellt, dass die Mischna grundsätzlich anders an Genderaspekte herangeht als die Tosefta.20 Andere Forscher*innen verfolgten die Frage weiter und fanden heraus, dass dies nicht immer der Fall ist. Dennoch hat die vorliegende Analyse, die die besagten Korpora in ihrer endredigierten Fassung auf ihren Wortinhalt untersucht, eine Diskrepanz in der Verwendung einschlägiger literarischer biblischer Helden und „Schurken“ ergeben, die entlang der Gendergrenzen verläuft.
20 Vgl. Judith Hauptman, „Women in Tractate Pesahim“, in Atara L’Haim: Studies in the Talmud and Medieval Rabbinic Literature in Honor of Professor Haim Zalman Dimitrovsky (hg. v. Daniel Boyarin et al.; Jerusalem: Magnes Press, 2000), 63–78 (Hebr.).
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Anhang: Männliche biblische Gestalten in der Mischna (69 Namen, 92 Mischnajot):21 Tora: Genesis: Adam (אדם – mAv 5,222); Kain (קין – mSan 4,5); Noach (נח – Shab 12,3); mNed 3,11; mAv 5,2; mShab 12,323); Sem (שם – Sohn des Noach, m Nahor (נחור – Bruder oder Großvater Abrahams, mShab 12,3); Abraham (אברהם – mTaan 2,4,24 mTaan 2,5 אברהם אבינו, „Abraham, unser Vater“; mNed 3,11, mit Zitat aus Gen 17,1, zweimal erwähnt; mSot 7,5, „Abram“, mit Zitat aus Gen 12,6, über die Terebinthe von More; mQid 4,14, „Abraham, unser Vater“, mit Zitat aus Gen 24,1; 26,5, viermal erwähnt; mBQ 8,6f., mit Zitat aus Gen 20,17; mBM 7,1; mAv 3,11, „Abraham, unser Vater“; 5,2 zweimal erwähnt; 5,3, „Abraham, unser Vater“, zweimal erwähnt; 5,6, „Abraham, unser Vater“; 5,19, „Abraham, unser Vater“, viermal erwähnt; 6,10, mit Zitat aus Gen 15,19, dreimal erwähnt); Abimelech (אבימלך – mBQ 8,7); Isaak (יצחק – mBQ 8,6;
21 Kalman, „Analysis of Scripture Citation in the Mishnah“, 189, erklärt, dass die Mischna „in 140 verschiedenen Mischnajot die Namen diverser biblischer Charaktere“ erwähnt und beruft sich dabei auf den „General Index“ in Danby, Mishnah, 812–844. Ich habe Erwähnungen wie „das Buch Esra“, geschlechtsneutrale Formulierungen wie „das Volk von Ninive“ oder „die Leute der Flut“, allgemeine Bezeichnungen wie „die Kundschafter aus Num 13“ (obwohl allesamt auf Männer bezogen) oder „unsere Väter in Ägypten“ und „die Söhne Kehats“ (Leviten) (obwohl genderspezifisch) nicht in meine Liste aufgenommen. Fügt man diese Nennungen hinzu, kommt man auf die bei Danby angegebenen Zahlen. Kalman, ebd., 189, Anm. 7: „Es kommt vor, dass ein Name in ein und demselben Kapitel mehrfach erwähnt wird, doch dieses Phänomen wurde hier nicht berücksichtigt. Wollte man zählen, wie oft jeder Name tatsächlich vorkommt, dann könnte sich die Zahl der Nennungen durchaus verdoppeln oder verdreifachen.“ Das ist die Zählung, um die es hier geht. 22 Diese Mischna scheint den Eigennamen Adam zu verwenden und mithin vom ersten Mann (und nicht vom ersten Menschen) zu sprechen, wie aus dem Kontext geschlossen werden kann: „Zehn Generationen sind es von Adam bis Noach […]. Zehn Generationen sind es von Noach bis Abraham.“ 23 In mShab 12,3 heißt es: „Wir haben gesehen, dass ein kleiner Name ein Teil eines großen sein kann: Shem für Shim‘on oder Shmu’el und Noaḥ für Naḥor und Dan für Daniel [und Gad für Gadiël (einen der Kundschafter)].“ Im Text ist von Namen die Rede, doch es handelt sich ausschließlich um Namen männlicher biblischer Charaktere. Ich halte diesen Text aufgrund der Konzentration von Namen für wichtig: Diese Namen beschwören biblische Bilder herauf, die nicht ohne Wirkung bleiben. Deshalb habe ich sie hier aufgenommen. 24 mTaan 2,4 erstellt nach dem Muster „Wer Abraham antwortete auf dem Berg Morija“ im Rahmen eines liturgischen Texts eine Liste von biblischen Figuren, deren Flehen von der G-ttheit beantwortet wurde. Diese Liste hätte durchaus auch biblische Frauen enthalten können, deren Bitten Gehör gefunden hatten (z. B. Hanna, die die Tosefta als vorbildliche Beterin erwähnt, s. u.), doch die Mischna erwähnt keine von ihnen, sondern wählt ausschließlich männliche Beispiele: „Wer Abraham antwortete auf dem Berg Morija […] Euren Vätern am Schilfmeer […] Josua in Gilgal […] Samuel in Mizpa […] Elija auf dem Berg Karmel […] Jona aus dem Bauch des Fisches […] David und Salomo, seinem Sohn, in Jerusalem […].“
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mBM 7,1 בני אברהם יצחק ויעקב, „die Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs“25); Jakob (יעקב – mBQ 8,6; mBM 7,1; mHul 7,6 בני יעקב, „Kinder Jakobs“); Ruben (ראובן – mMeg 4,10; mQid 3,4 בני ראובן, „Kinder Rubens“); Simeon (שמעון – mShab 12,3; mSot 8,1, mit Bezug auf den Stamm26); Juda (יהודה – mSot 8,1; mTaan 4,5, beide mit Bezug auf den Stamm27); Dan (דן – mShab 12,3); Gad (גד – mShab 12,3; mQid 3,4 בני גד, „Kinder Gads“); Josef (יוסף – mSot 1,9, mit Zitat aus Gen 50,7.9 und Ex 13,19); Manasse (מנשה – mMen 11,5, mit Zitat aus Num 2,20); Benjamin (בנימין – mSot 8,1; mTaan 4,5, beide mit Bezug auf den Stamm). Exodus: Mose (משה – mPea 2,6; mYom 3,8; 4,2; 6,2; mRHSh 2,9, mit 25 Die Mischna verwendet häufig Beispiele wie „Sohn/Söhne Levis“ für männliche Leviten (z. B. mPea 2,2; mTer 2,2; vgl. auch mShab 11,2, wo der Dienst der Leviten als Modell für halakhische Bestimmungen dient); „Söhne Kehats“ (die Leviten, die das Heiligtum auf den Schultern trugen, mShab 10,3 mit Bezug auf Num 7,9); „Söhne Aarons“ (z. B. mTa‘an 2,5); „Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs“ hier, „Kinder Jakobs“ in mHul 7,6; „Kinder Rubens und Gads“, mQid 3,4, immer unter Verwendung des Begriffs bnei/בני, der männlich oder geschlechtsneutral sein kann (und den ich mit „Söhne“ übersetze, wenn es um Priester und Leviten geht, die im Heiligtum dienen, denn dieser Dienst war Männern vorbehalten). Dadurch, dass der „Namensvorfahr“ einer Gruppe benannt wird, werden die Verbindung zu ihm und die von der männlichen Stammlinie abgeleitete Legitimation betont. Ebenso findet auch der Ausdruck „unsere Väter“ ()אבותינו, der auf die biblischen Vorväter verweist, in der Mischna häufig Verwendung, nämlich 20-mal gegenüber lediglich acht Vorkommen in der Tosefta (s. z. B. mBer 9,1; mMSh 5,13; mOrl 1,2; mBik 1,4; mPes 10,5f.). Manchmal bezieht sich der Begriff auf die Patriarchen und manchmal auf das Volk Israel im Allgemeinen (vgl. auch den Ausdruck „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer“ aus Dtn 26,5 in mBik 3,6; mPes 10,4). Dieser Satz betont die Verbindung zwischen namentlich erwähnten „Vorvätern“ und ihren „Söhnen“: eine männlich deklinierte Verbindung, die über den Namen seiner Nachkommen auf den männlichen biblischen Charakter zurückverweist. Man beachte jedoch, dass die Tosefta Sara „unsere Mutter“ nennt (tSot 5,12, s. u.). 26 In dieser Mischna heißt es: „Höre, Israel, ihr zieht heute aus zum Krieg gegen eure Feinde (Dtn 20,3), gegen eure Feinde und nicht gegen eure Brüder, nicht Juda gegen Simeon und nicht Simeon gegen Benjamin“. Ich habe dieses Zitat mitgezählt, obwohl es sich auf den Stamm bezieht, weil die Verbindung zwischen dem Patriarchen, dem Sohn Jakobs, und seinem Sohn in diesem Text (s. den Begriff „Bruder“) und allgemein sehr stark in den Vordergrund gerückt wird. Überdies verändert sich das grundsätzliche Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Charakteren nicht dramatisch, und es hat keine Auswirkungen auf die Schlussfolgerungen des vorliegenden Beitrags, wenn Kriterien, die mich dazu bewogen haben, strittige Passagen in die Liste aufzunehmen, letztlich wieder verworfen werden. 27 mTaan 4,5 lautet: „die Familie Arach ben Jehuda“ (erwähnt in Esra 2,5, Neh 7,10), „die Familie David ben Jehuda“, „die Familie Parosch ben Jehuda“ (erwähnt in Esra 2,3, Neh 7,5), „die Familie Jonadab ben Rekhav“ (Jer 35,8), „die Familie Senaa ben Benjamin“ (erwähnt in Esra 2,35; Neh 7,38), „die Familie Zattu’el ben Jehuda“ (erwähnt in Esra 2,8, Neh 7,13), „die Familie Pahat-Moab ben Jehuda“ (erwähnt in Esra 2,6; Neh 7,11) und „die Familie Adin ben Jehuda“ (Esra 2,15, Neh 7,20). Auch in diesem Fall schien mir die Verbindung zwischen der Person und dem Stamm Juda offensichtlich genug, um den Text als Anspielung auf den biblischen Charakter in die Liste aufzunehmen.
Biblische Frauen in der Mischna und in der Tosefta
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Zitat aus Ex 24,9, dreimal wiederholt; 3,8, mit Zitat aus Ex 17,11, zweimal erwähnt; mMeg 3,6, mit Zitat aus Lev 23,44; mKet 7,6, Gesetz des Mose, zweimal; mNed 3,11, Mose der Gerechte; mSot 1,9, sechsmal erwähnt; mSot 5,4, mit Zitat aus Ex 15,1, zweimal erwähnt; mQid 3,4, mit Zitat aus Num 32,29f.; mSan 1,6 zu Num 11,16; mEd 8,7; mAv 1,1; 5,6; 5,18; mKel 17,9, zweimal erwähnt; mPar 3,5; mYad 4,3.8); Josua (יהושע – mTaan 2,4; mMeg 1,1; mSan 1,6 zu Num 14,27; 6,2 zu Jos 7,19f., zweimal erwähnt; mAv 1,1, zweimal erwähnt; mAr 9,6f.); Aaron (אהרן – mTaan 2,5, Söhne Aarons; mRHSh 2,9, mit Zitat aus Ex 24,9; mSot 7,6, mit Zitat aus Lev 9,22; mAv 1,12; mZev 12,1, mit Zitat aus Lev 7,33, Söhne Aarons; mHul 10,1, mit Zitat aus Lev 7,34; mTam 7,2, mit Zitat aus Lev 9,22; mYom 4,2, Söhne Aarons, zweimal, zu Lev 16,30; mNed 2,1, Aarons Challa; mMid 5,4, Söhne Aarons, dreimal); Nadab und Abihu (נדב ואביהוא – mRHSh 2,9, mit Zitat aus Ex 24,9); auch Bösewichter werden erwähnt: Pharao (פרעה – mYad 4,8, mit Zitat aus Ex 5,2; 9,27); Amalek (עמלק – mMeg 3,6, mit Zitat aus Ex 17,8; mQid 4,14). Numeri: Israels Fürsten (נשיאים – mMeg 3,6); Kaleb (כלב – mSan 1,6 zu Num 14,27); Gadiël (גדיאל – mShab 12,3); Korach (קרח – mSan 10,3; mAv 5,17); Bileam (בלעם הרשע – mAv 5,19; mSan 10,228); Hefer (חפר – mBB 8,3). Vordere Propheten: Achan (עכן – mOhal 15,7; mSan 6,2, mit Zitat aus Jos 7,19f., zweimal erwähnt); Simson (שמשון – mNaz 1,2; 9,5, mit Zitat aus Ri 13,5; mSot 1,8), Manoach (מנוח – mNaz 1,2); Samuel (שמואל – mTaan 2,4; mNaz 9,5, mit Zitat aus 1 Sam 1,11; 16,2; mShab 12,3); unbeschnittener Philister (הפלשתי הערל – mNed 3,11); Saul (שאול – mNed 9,10, mit Zitat aus 2 Sam 1,24: „Töchter Israels, weint um Saul“; mNaz 9,5, mit Zitat aus 1 Sam 16,2; mSan 2,2, mit Zitat aus 2 Sam 12,8); David (דוד – mTaan 2,4; mMeg 4,10, mit Bezug auf 2 Sam 11; mSan 2,2, mit Zitat aus 2 Sam 12,8; mSan 2,3, mit Zitat aus 2 Sam 3,31, zweimal erwähnt; mAv 3,7, mit Zitat aus 1 Chr 29,14; 5,16; 6,3, mit Zitat aus Ps 55,14; 6,9, „das Buch der Psalmen von David, dem König Israels“; mMid 4,7, mit Zitat aus Jes 29,1); Abner (אבנר – mSan 2,3, mit Zitat aus 2 Sam 3,31); Jonatan (יהונתן – mAv 5,16); Goliat (גלית – mSot 8,1, mit Bezug auf 1 Sam 17,4ff.; Joab (יואב – mMak 2,7; mSot 1,8, mit Zitat aus 2 Sam 18,15); Schobach (שובך – mSot 8,1, mit Zitat aus 2 Sam 10,16–18); Amnon (אמנון – mMeg 4,10; mAv 5,16); Salomo (שלמה – mTaan 2,4; mBM 7,1); Ahitofel (אחיתופל – mAv 6,3, mit Zitat aus Ps 55,14; mSan 10,2); Abschalom (אבשלום – mSot 1,8, mit Zitat aus 2 Sam 18,15; 15,6; 18,14, dreimal erwähnt); Doëg (דואג – mSan 10,2); Gehasi (גחזי – mSan 10,2); Jerobeam (ירבעם – mAv 5,18, mit Zitat aus 1 Kön 15,30, zweimal erwähnt; mSan 10,2); Ahab (אחאב – mPar 8,11; mSan 10,2); Elija (אליהו – mSheq 2,5; mBM 1,8; 2,8; 3,4f., „bis Elija kommt“; mTaan 2,4; mSot 9,15; mEd 8,7, mit Zitat aus Mal 3,23f.); Hiskija (חזקיה – mPes 4,9, die ganze Mischna bezieht sich auf ihn, mit Verweis auf 2 Chr 29,27; Num 21,6–9; 2 Kön 18,4.16; 2 Chr 32,30; 30,2f.); Sanherib (סנחריב מלך אשור – mYad 4,4, mit Zitat aus Jes 10,13); König Manasse (מנשה – mSan 10,2); Jojachin (יכניה – mSheq 6,3; mMid 2,6). Hintere Propheten: Jeremia (ירמיהו – mTaan 2,3, mit Zitat aus Jer 14); Ezechiel (יחזקאל – mTam 3,7; mMid 4,2, mit Zitat aus Ez 44,2); Gog und Magog 28 In mSan 10,2 werden mehrere biblische Gestalten aufgelistet: „Drei Könige und vier Privatmänner haben keinen Anteil an der kommenden Welt. Die drei Könige sind folgende: Jeroboam [1 Kön 13,34; 14,10], Ahab [1 Kön 21,21f.] und Manasse [2 Kön 21,1–3]. […] Und vier Privatmänner: Bileam [Num 22–24], Doëg [1 Sam 22,9– 22], Ahitofel [2 Sam 17,1–23] und Gehasi [Elischas Diener, 2 Kön 5,20–27].“
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Cecilia Haendler
(גוג ומגוג – mEd 2,10); Jona (יונה – mTaan 2,4); Helem (חלם – mMid 3,8, mit Zitat aus Sach 6,14); Tobija (טוביה – mMid 3,8, mit Zitat aus Sach 6,14); Jedaja (ידעיה – mBQ 9,12, zweimal erwähnt; mMid 3,8, mit Zitat aus Sach 6,14); Hen, der Sohn Zefanjas (חן בן צפניה – mMid 3,8, mit Zitat aus Sach 6,14). Schriften: Ijob (איוב – mSot 5,5, mit Zitat aus Ijob 13,15; 27,5; 1,8; mEd 2,10); Boas (בעז – Buch Rut, mBer 9,5, mit Zitat aus Rut 2,4); Mordechai (מרדכי – mAv 6,6, mit Zitat aus Est 2,22); Jojarib (יהויריב – mBQ 9,12, zweimal erwähnt); Daniel (דניאל – mShab 12,3); Esra (עזרא – mSheq 1,5, mit Zitat aus Esra 4,3; mPar 3,5).29
29 Was die Bücher der Bibel betrifft, so handelt mMeg von der Lesung des Buchs Ester; mYom 1,6 erwähnt Ijob, Esra, die Bücher der Chronik und Daniel; mMQ 3,7 das Buch Esra; mYad 3,5 das Hohelied und Kohelet; mYad 4,5 Esra und Daniel. Selbst wenn man alle späteren, nicht originalen redaktionellen Hinzufügungen (etwa die häufigen Mischnajot mit Bibelzitaten am Kapitelende) aussortierte, würden, wie es scheint, gegenüber einer verschwindend geringen Anzahl biblischer Frauengestalten noch immer genügend Texte über männliche biblische Charaktere übrig bleiben.
Die Hagar-Gestalt(en) in der Vorstellung der Rabbinen: An den Schnittstellen von Gender, gesellschaftlicher Stellung und ethnischer Zugehörigkeit in Bereshit Rabba Gail Labovitz American Jewish University, Los Angeles
Unfruchtbarkeit ist ein wiederkehrendes Thema in den Erzählungen aus der frühen Familiengeschichte der Patriarchen und Matriarchinnen des Volkes Israel. Das gilt für jede Generation, angefangen bei Abraham und Sara: Dass Sara (die zu diesem Zeitpunkt noch Sarai heißt) unfruchtbar ist, erfährt der Leser gleich nach ihrer ersten Erwähnung (Gen 11,29f.). Saras und Abrahams Kinderlosigkeit ist der Grund dafür, dass auch Hagar in der Geschichte eine Rolle spielt. Sie ist eine Sklavin in Abrahams und Saras Haushalt, was bedeutet, dass die Matriarchin und der Patriarch sie als eine Art Ersatzmutter in Dienst nehmen können: Sara schlägt vor, dass Abraham Hagar schwängert, Abraham setzt Saras Vorschlag um, und Hagar bringt Abrahams Sohn Ismael zur Welt. Im Verlauf der beiden Episoden, in denen sie in Erscheinung tritt (Gen 16 und 21), stellt sich jedoch heraus, dass Hagar mehr ist als bloß ein willfähriger Mutterschoß oder ein Objekt von Saras (und Abrahams) Bemühungen, eine Familie zu gründen: Sie wird in der Geschichte als Person charakterisiert, die unabhängig und zuweilen sogar eigenverantwortlich agiert, sich auflehnt, davonläuft und göttlichen Boten begegnet. Auch wenn die biblische Erzählung die Charaktere und die Beziehungen zwischen ihnen alles andere als vereinfachend darstellt, neigen jüdische Texte aus vorrabbinischer Zeit, was die Lesart und Deutung der betreffenden Passagen und insbesondere den durch Hagars Schwangerschaft und Ismaels Geburt zwischen Hagar und Sara ausgelösten Konflikt angeht, zu einem eher pauschalen Muster. In diesen frühen Auslegungen und Nacherzählungen – etwa im Jubiläenbuch, im Genesisapokryphon oder bei Josephus – wird der Konflikt typischerweise als Dichotomie zwischen Sara und Hagar angelegt. Die ägyptische Sklavin Hagar wird aufgrund ihrer Nationalität und ihres sozialen Standes klar zu Saras Gegenspielerin stilisiert, während Saras Verhalten gerechtfertigt und in einem positiven Licht dargestellt wird.1 Gegen 1
So schlussfolgert Troy A. Miller, „Surrogate, Slave and Deviant? The Figure of Hagar in Jewish Tradition and Paul (Galatians 4.21–31)“, in Early Christian Literature and Intertextuality 2: Exegetical Studies (hg. v. Craig A. Evans und H. Daniel
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Gail Labovitz
Ende der besagten Epoche gibt Philo der Geschichte eine neue, allegorische Interpretation – die Paulus im Galaterbrief (Gal 4) übernimmt (und erheblich umarbeitet) –, konstruiert jedoch ebenfalls ein stark dichotomisches Verhältnis zwischen Sara und Hagar, insofern „Hagar die niedrigere Einheit darstellt und Sara die höheren Qualitäten verkörpert …“.2 Wendet man sich dagegen der ältesten bekannten zusammenhängenden rabbinischen Diskussion dieser Episoden zu, die in der aus Palästina stammenden amoräischen Sammlung Bereshit Rabba enthalten ist,3 erhält man ein komplizierteres Bild. Die Midrasch-Literatur deutet diese Episoden und mithin auch den Charakter Hagars und der anderen in der Erzählung auftretenden Figuren (einschließlich Abrahams in Gen 25,1–4 erwähnter späterer Konkubine Ketura, die in einigen rabbinischen Auslegungen mit Hagar verschmilzt), selbst wenn man eventuelle ideologische Implikationen einstweilen außen vor lässt, schon in stilistischer Hinsicht ganz anders als andere jüdische und frühchristliche Texte.4 Wenn, wie im vorigen Absatz geschehen, die Ausdrücke „zusammenhängend“ und „Sammlung“ in ein und demselben Satz vorkommen, verweist dies zunächst auf eine grundsätzliche Schwierigkeit, mit der man es zu tun bekommt, wenn man versucht, in diesem Text oder andernorts irgendetwas über das rabbinische Hagar-Bild auszusagen. Die Midrasch-Exegese der klassischen rabbinischen Zeit ist typischerweise atomistisch, d. h. sie befasst sich selten mit einer Einheit, die mehr als ein paar Wörter oder Phrasen oder einen Vers umfasst. Sie beruht oft auf einer sorgfältigen, zuweilen geradezu obses-
2 3
4
Zacharias; LNTS 392; SSEJC 15; London: T & T Clark, 2009), 138–154; 148, nach seiner Materialsichtung: „Hagar wird in der jüdischen Tradition überwiegend als Gegenspielerin oder sogar als Bösewicht gespiegelt […] auch wenn alle diese Schriften sich nicht mit letzter Sicherheit datieren lassen, hat sich die Negativcharakterisierung der Hagar in der Zeit des Zweiten Tempels […] doch allem Anschein nach weitestgehend durchgesetzt.“ Wenngleich „die Form der philonischen Hagar-Überlieferung in der jüdischen Tradition ein Novum darstellt, spiegelt die Verwendung oder Funktion der (höher bzw. niedriger gestellten) Figuren dasselbe Interpretationsmuster wider“ (ebd., 148). Der Begriff „amoräisch“ bezeichnet jüdische Gelehrte und ihre literarische und intellektuelle Aktivität in der Zeit zwischen der Abfassung der Mischna (also etwa zu Beginn des 3. Jh. n. d. Z.) bis zum Abschluss des Babylonischen Talmuds wahrscheinlich irgendwann zwischen der Mitte des 6. und der muslimischen Eroberung Anfang des 7. Jh. Insgesamt endete die Periode der Amoräer – zumindest, was die Abfassung der betreffenden Werke angeht – im Land Israel früher als in Babylonien; die gängigste Hypothese datiert den Abschluss des Midrasch Bereshit Rabba auf Anfang bis Mitte des 5. Jh., obwohl das Werk Kommentare enthält, die Rabbinen aus deutlich früheren Perioden zugeordnet werden; vgl. Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch (München: Beck, 92011), 309–311. Wie noch gezeigt werden wird, halte ich Millers Behauptung, dass „Hagar […] auch in den Targumim und frühen Midraschim negativ charakterisiert […] und in der gesamten rabbinischen Literatur durchgängig als ‚die Andere‘ karikiert [wird]“ (Miller, „Surrogate, Slave and Deviant“, 148, Anm. 19), für übertrieben oder zumindest unvollständig.
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siven Aufmerksamkeit für Vokabular und Sprachgebrauch und arbeitet mit Techniken wie einer hypergenauen Literalsinnauslegung und Wortspielen. Außerdem liegt dem Genre Midrasch und dessen Techniken die Annahme zugrunde, dass die gesamte Schrift (d. h. die Hebräische Bibel) das Werk eines einzigen Verfassers und mithin von Querverweisen durchzogen ist, will sagen, dass man Verse, die aus scheinbar völlig unterschiedlichen Texten und Gattungen innerhalb des biblischen Kanons stammen, miteinander erklären oder aufeinander beziehen kann. Gleichzeitig ist, wie Carol Bakhos schreibt, die rabbinische Exegese in hermeneutischer Hinsicht recht zwanglos, und etliche Faktoren geben – aus Gründen, die von theologischen bis hin zu philologischen Erwägungen reichen – zu vielfältigen Interpretationen Anlass […]. Manchmal lassen sich außertextliche Faktoren – wie etwa die Notwendigkeit, das Verhalten eines biblischen Helden reinzuwaschen oder ethische Grundsätze der Rabbinen zu verdeutlichen – leichter erkennen als in anderen Fällen und spielen eine größere Rolle bei der Interpretation eines bestimmten Wortes.5
Die Ergebnisse sind anthologisch und zuweilen geradezu zusammenhanglos; man kann nicht davon ausgehen, dass sie ein einheitliches Bild und eine einheitliche Deutung einer Episode oder eines Charakters liefern. In Bereshit Rabba sind die besagten Elemente midraschischer Technik(en) samt der Komplikationen, die dadurch entstehen können, schon in den Erläuterungen zu Gen 16,1f. zu erkennen, jener Bibelstelle also, wo Hagar zum ersten Mal erwähnt wird: „Sarai […] hatte aber eine ägyptische Sklavin. Ihr Name war Hagar.“ Ich werde daher die zentralen Aspekte des vorliegenden Beitrags an den beiden Kommentaren zu diesem Vers festmachen. Der erste lautet: Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin, sie war eine melog Sklavin, die Sarai ihrem Mann zugebracht hatte; er war zu ihrer Ernährung verpflichtet und durfte sie nicht verkaufen. (BerR 45,1)6
Der Midrasch weist zunächst darauf hin, dass Hagar als eine Sklavin eingeführt wird, die Sara gehört. Das heißt, der Midrasch nimmt etwas zur Kenntnis, das man für eine zweitrangige linguistische Information halten könnte („sie hatte“), das aber im Hinblick auf die einander überschneidenden Regelungen von Belang ist, die das rabbinische Rechtssystem für das eheliche Eigentum – das Eigentum einer verheirateten Frau unterlag bis zu einem nicht unerheblichen Grad der Kontrolle ihres Ehemannes – und für die Sklaverei 5 Carol Bakhos, „The Family of Abraham in Genesis Rabbah“, in Genesis Rabbah in Text and Context (hg. v. Sarit Kattan Gribetz et al.; TSAJ 166; Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 115–127; 126. 6 Zitate aus Bereshit Rabba basieren auf der Ausgabe Theodor/Albeck.
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getroffen hatte.7 Die Rabbinen lesen die Geschichte also aus dem Blickwinkel ihrer eigenen gesellschaftlichen und rechtlichen Institutionen, nämlich der Ehe, des ehelichen Eigentums und der Sklaverei: Auf diese Weise verorten sie Abraham und Sara innerhalb der aus ihrer Sicht für jüdische Männer und Frauen angemessenen normativen Grenzen, charakterisieren sie (oft, aber nicht immer, wie wir noch sehen werden, im Gegensatz zu Hagar) als rechtschaffene Personen und stellen ihr Handeln als gerechtfertigt dar, womit sie die religiösen und ethnischen Unterschiede zwischen den Charakteren betonen.8 Überdies wird sowohl der Sklavinnenstatus als auch das Geschlecht in den Blickpunkt gerückt. Hagar ist Saras Sklavin, doch im Hinblick auf Abraham befinden sich beide in einer untergeordneten Position. Im weiteren Verlauf der Erläuterung zu V1, die sich der Einführung von Hagars ägyptischer Herkunft sowie der impliziten Frage zuwendet, weshalb dieser Punkt erwähnt werden sollte, wird die Vielfalt der Ebenen, auf denen sich der Midrasch bewegt, größer. Es werden gleich mehrere potentiell interessante Aspekte auf einmal thematisiert: Rabbi Simeon ben Jochai sagte: Hagar war die Tochter Pharaos,9 und als dieser die Wunder sah, welche der Sarai in seinem Hause geschahen,10 nahm er seine Tochter und gab sie ihr, indem er dachte: Es ist besser, meine Tochter ist Sklavin in diesem Hause, als Herrin in einem andern. Das wollen die Worte sagen: Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin. Ihr Name war Hagar, hier hast du deinen Lohn ()אגריך. Auch Abimelech, als er die Wunder sah, die Sara in seinem Hause geschahen, nahm seine Tochter und gab sie ihr, indem er dachte: Es ist besser, meine Tochter ist eine Sklavin in diesem Haus, als eine Herrin in einem andern. Deshalb steht geschrieben: Königliche Prinzessinnen sind unter deinen Lieblingen [– (dies sind) die Töchter von (zwei) Königen], die Gemahlin steht zu deiner Rechten im Glanz von Ofirgold (Ps 45,10) – das ist Sarai. (BerR 45,1) 7 Adin Steinsaltz, The Talmud: A Reference Guide (New York: Random House, 1989), 230, erklärt den Ausdruck melog wie folgt: „Alles bleibt auch nach ihrer Heirat ihr Eigentum, und der Ehemann darf es nicht verkaufen, wenngleich ihm die Nutznießung seiner […] ‚Früchte‘ (Gewinne) erlaubt ist. Der Ehemann muss für dieses Eigentum Sorge tragen, auch wenn er für einen Wertverlust, den er nicht absichtlich herbeigeführt hat, nicht verantwortlich gemacht wird. Das Eigentum geht an die Frau zurück […] und jede Steigerung oder Minderung seines Werts […] ist ihr Gewinn oder Verlust.“ 8 Vgl. auch Chana Safrai, „The Image of Hagar in Rabbinic Literature“, in Kor’ot miBereshit: Nashim Yotsrot Kotvot al Sefer Bereshit (hg. v. Ruti Ravitsky; Tel Aviv: Miskal Publisher, 1999), 164–173; 166 (Hebr.). 9 Die Parallelstelle im späteren PRE 16 (8./9. Jh.; vgl. Stemberger, Einleitung, 365f.) legt nahe, dass Hagars Mutter eher eine Konkubine als eine Ehefrau des Pharao war. 10 „Doch der Herr schlug den Pharao und sein Haus wegen Sarai, der Frau Abrams, mit schweren Plagen“ (Gen 12,17). Vgl. auch BerR 40,17, wo sich der Kommentator ausmalt, was dem Pharao und seinem Haus alles widerfahren sein könnte.
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Hier lassen sich mehrere gängige Midrasch-Techniken nachweisen. Die Vorstellung, Hagar sei Sara im Zusammenhang mit den in Gen 12 beschriebenen Ereignissen vom Pharao geschenkt worden, ist nicht rabbinisch-midraschischer Herkunft – tatsächlich handelt es sich um eine nachvollziehbare Schlussfolgerung aus der Tatsache, dass die biblische Erzählung Hagar ausdrücklich als Ägypterin bezeichnet11 – und findet sich im Genesisapokryphon, einer aus Qumran bekannten pseudoepigraphischen Schrift.12 Der Midrasch bedient sich jedoch eines Wortspiels, das heißt, er nutzt die klangliche Ähnlichkeit zwischen dem Namen Hagar und dem hebräischen/aramäischen Wort für Belohnung oder Entgelt – agar –, um zwar nicht unbedingt die Annahme, dass Hagar die Tochter, wohl aber, dass sie ein Geschenk des Pharaos gewesen sei, zu stärken. Bemerkenswert ist auch die Funktion, die der Psalmvers hier übernimmt. Es mag sein, dass der Vers das Midrasch-Motiv gewissermaßen hervorgebracht, will sagen, dass er die Entwicklung des Hagar-Themas – von einer „gewöhnlichen“ Sklavin, die Sara vom Pharao zum Geschenk gemacht wird, bis hin zu einer Prinzessin und des Pharaos eigener Tochter – vorangetrieben hat. Oder man deutet den Zusammenhang genau umgekehrt: Der Verfasser des Midrasch könnte das Thema aus anderen, äußeren Gründen weiterentwickelt und sich sodann an einen Vers erinnert haben, der zu dem bereits etablierten Thema passte. Vielleicht liegt die Wahrheit auch irgendwo dazwischen: Hat die Entfaltung des Themas und seine spätere Verknüpfung mit dem Vers unter Umständen dazu geführt, dass das Thema in einem begrenzteren Rahmen auf Abimelechs (ansonsten namenlose und biblisch nicht belegte) Tochter ausgeweitet wurde?13 Jedenfalls hebt die Passage dadurch, 11 „Es scheint vernünftig anzunehmen, dass [diesem Motiv] keine erzählerische Notwendigkeit im unmittelbaren Kontext […], sondern eine Problematik zugrunde liegt, die von einem ganz anderen Vers herrührt“ – nämlich Gen 16,1. „Wie, wenn nicht in Ägypten, hätte Hagar in ihren Besitz gelangen sollen? […]. Also haben wir hier einen einfachen Midrasch, der die Frage beantwortet, wie Sara zu einem ägyptischen Dienstmädchen kam.“ (Joshua Levinson, „Bodies and Bo[a]rders: Emerging Fictions of Identity in Late Antiquity“, HTR 93 [2000]: 343–372; 350). 12 Vgl. auch Miller, „Surrogate, Slave and Deviant“, 145, und Carol Bakhos, The Family of Abraham: Jewish, Christian, and Muslim Interpretations (Cambridge: Harvard University Press, 2014), 111. Bakhos weist außerdem darauf hin, dass „Hagar dem Targum Pseudo-Jonathan zufolge Nimrods Enkelin“ und nicht nur die Tochter des Pharaos ist (Nimrod, eine in Gen 10,8–12 erwähnte, eher zweitrangige Figur wird in der rabbinischen Legende zu einem Gegenspieler Abrahams in den Jahren, ehe dieser auf göttliches Geheiß nach Kanaan auswanderte; vgl. z. B. die in BerR 38f. beschriebenen Episoden). 13 Dies wird allerdings als die Einschätzung eines einzelnen Gelehrten – nämlich des Rabbis Simeon ben Jochai – dargestellt, der jedoch allgemein als eine herausragende Gestalt der tannaitischen (frührabbinischen) Periode gilt. Ist die Erwähnung/Zuschreibung dieser Einschätzung womöglich ein Hinweis darauf, dass der oder die Verfasser von Bereshit Rabba der Meinung waren, sie als eine doch recht geläufige und anerkannte Deutung von Hagars Identität präsentieren zu müssen? Eine ange-
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dass sie die Dimension von Hagars königlicher Geburt hinzufügt, den gesellschaftlichen Stand als zentrales Element der Geschichte und der Beziehung zwischen Sara und Hagar noch stärker hervor. Zudem fungiert Hagar (genau wie Abimelechs namenlose Tochter) ungeachtet ihrer Geburt und gesellschaftlichen Stellung aufgrund ihres Geschlechts als kommodifiziertes Tauschobjekt, das von ihrem Vater nach Belieben verschenkt werden kann. Man fragt sich (allerdings nicht ernsthaft), ob sich die Rabbinen ebenso leicht hätten vorstellen können, dass ein fremder Herrscher seinen Sohn weggibt. Schon das Wenige, was wir bis hierher an Midrasch-Material gesehen haben, deutet also darauf hin, dass – auch wenn es so etwas wie die rabbinische Herangehensweise oder Einstellung zu den betreffenden Charakteren wahrscheinlich nicht gibt – rabbinische Lesarten der Erzählungen, in denen Hagar vorkommt (und sogar der Erzählungen, in denen Hagar als Ketura wiederkehrt), dennoch vielversprechend sind, wenn es darum geht, die vielfältigen und einander überschneidenden Faktoren von Identität und gesellschaftlicher Stellung herauszuarbeiten, die sich anhand dieser Episoden und Charaktere womöglich thematisieren lassen – und zwar vielleicht gerade weil diese Lesarten keinen bestimmten Aspekt der Erzählung bevorzugen und keine scharfe Dichotomie zwischen Sara und Hagar herstellen.14 Daher hoffe ich im vorliegenden Beitrag einen ähnlichen Weg zu beschreiten wie Carol Bakhos, die in ihrer (allerdings nicht auf Bereshit Rabba beschränkten) Überblicksdarstellung von Midraschim über Abrahams Familie Folgendes schreibt: „Beobachtungen, die die Standpunktabhängigkeit einer Auslegung betreffen, sind durchaus legitim […] wir können Darstellungen im Ganzen betrachten und feststellen, welche Darstellungen – wenn denn überhaupt – de facto vorherrschend oder wenigstens möglich sind.“15 Das heißt, dass die Midrasch-Auslegungen neben Faktoren wie der Sprache oder intertextuellen Lesarten ganz ohne Zweifel auch ideologische und kulturelle Gegebenheiten widerspiegeln. Diese lassen sich – in Anlehnung an die von mir gewählte Überschrift – wie folgt unterteilen: in Fragen der gesellschaftlichen Position, der Stellung Hagars innerhalb der Familie und des vom Midrasch hergestellten Kontrasts zwischen Sklavin (shifha) und Herrin/Ehefrau (gevira); in Fragen der ethnischen Zugehörigkeit und religiösen Identität, das heißt Hagars ägyptischer Herkunft messene Beantwortung dieser gleichwohl wichtigen Frage würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. 14 Vgl. auch Bakhos, The Family of Abraham, 109: „Die rabbinische Auseinandersetzung mit biblischen Figuren muss sowohl philologische als auch theologische Faktoren berücksichtigen; es geht nicht bloß darum, die jüdischen Vorfahren zu entlasten. Angesichts der verschiedenen textlichen und außertextlichen Faktoren ist es vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass die Einstellung der Rabbinen zu Hagar uneinheitlich ist und zahlreiche Schattierungen aufweist: Ihre Beschreibung in der rabbinischen Literatur fügt sich nicht nahtlos in eine Schwarz-weiß-Darstellung ein, die sie als ganz und gar gut oder absolut böse zu fassen versucht.“ 15 Dies., „The Family of Abraham in Genesis Rabbah“, 126.
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und ihrer Integration oder Nicht-Integration in die Glaubensgemeinschaft von Abraham und Sara; und in Fragen des Gender, da sowohl Sara als auch Hagar als Frauen in einem patriarchalischen System, genauer gesagt im ur-patriarchalischen Narrativ der israelitischen Kultur leben. Natürlich sind alle diese Fragen im vorliegenden Midrasch und in allen Kommentaren aus Bereshit Rabba eng miteinander verwoben; dennoch werde ich im Folgenden versuchen, jede für sich zu betrachten und einer kurzen Analyse zu unterziehen.
1.
Stellung/Sklaverei/die Familie
Durch Hagars Rollenwechsel bedingt – aus der Sklavin Saras wird die Mutter von Abrahams Kind – weist das midraschische Material genau wie der biblische Text gewisse Spannungen auf, was Hagars Stellung gegenüber den beiden primären Mitgliedern des Haushalts, nämlich Sara und Abraham, und ihre Position innerhalb der Familie betrifft. Wie soeben gezeigt, wird Hagar in Bereshit Rabba zunächst als Sklavin – oder, genauer, als Saras Sklavin – eingeführt, während der Midrasch gleichzeitig die Vorstellung evoziert, sie sei als Tochter des ägyptischen Königshauses aufgewachsen; diese Widersprüchlichkeit im Hinblick auf Hagars gesellschaftliche Stellung durchzieht alle Passagen in Bereshit Rabba, die sich mit ihr befassen. Hagar ist eine Frau, die in ihrer eigenen Heimat und Kultur eine Herrin hätte sein können, stattdessen jedoch versklavt worden ist, was damit gerechtfertigt wird, dass ihr Status als Sklavin ein Segen für sie sei. Chana Safrai vermutet neben den bereits genannten Erklärungsmöglichkeiten einen weiteren (womöglich mitwirkenden) Grund für diesen exegetischen Schachzug, der vielleicht ebenso sehr durch die Sorge um den Status anderer Charaktere – insbesondere Abrahams – wie durch das Anliegen motiviert ist, Hagar selbst sozial zu verorten: „Wenn Hagar eine Ägypterin ist, dann ist es angemessen, dass Abraham mit dem Besten in Verbindung gebracht wird, was Ägypten zu bieten hat – der Würde und der Person des Pharaos.“16 Und wirklich behauptet ein anonymer Kommentar zu Gen 16,3, 16 Safrai, „The Image of Hagar“, 171. Auch wenn Safrai dies nicht ausdrücklich sagt, wird doch deutlich, dass sie die Frau (Hagar) als Objekt eines (auf den Status wie auch auf ihre Person bezogenen) Austauschs zwischen Männern (Abraham und Pharao) auffasst. Auch Irene Pabst, „The Interpretation of the Sarah-Hagar Stories in Rabbinic and Patristic Literature: Sarah and Hagar as Female Representations of Identity and Difference“, lectio difficilior (1/2003), online: http://www.lectio.unibe. ch/03_1/pabst.htm [zuletzt abgerufen am 21.7.2020], schreibt im Zusammenhang mit einer anderen Stelle, wo Hagar als Proselytin bezeichnet wird, dass „hinter dieser Interpretation womöglich der Gedanke steht, dass Abrahams Frau keine Heidin sein sollte.“
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sie sei Abraham zu nichts Geringerem gegeben worden als zu seiner Ehefrau (so das im Vers verwendete Wort): Und sie gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau (Gen 16,3), nur ihrem Manne, nicht einem andern, und zur Frau, nicht zur Konkubine. (BerR 45,3)
Durch ihre Beziehung zu Abraham scheint Hagar ihren früheren Status einer Frau zurückzugewinnen, die von hoher Geburt und daher für die Rolle der Herrin bestimmt ist. Dies ist jedoch bestenfalls ambivalent. Schon in der biblischen Erzählung wird Hagars Reaktion auf ihre Schwangerschaft dahingehend beschrieben, dass „ihre Herrin in ihren Augen nichts mehr [galt]“ (Gen 16,4); Sara ist noch immer die Herrin, und Hagar muss sie als solche respektieren. Der Midrasch führt aus: Und vornehme Frauen kamen [zu Sara], um sie zu begrüßen, Sara aber sprach zu ihnen: Geht und grüßt diese elende Frau [Hagar]. Und Hagar sagte zu ihnen: [Was] meine Herrin Sara [anlangt,] so gleicht ihr Inneres nicht ihrem Äußeren. Sie scheint gerecht, sie ist es aber nicht. Wäre sie es – seht wie viele Jahre ist sie nicht schwanger geworden, ich bin in einer Nacht schwanger geworden.17 (BerR 45,4)
Hagar schätzt die Situation falsch ein und spricht zudem beleidigend über Sara. Einstweilen sei hier nur festgehalten, dass sie in sozialer Hinsicht (vom religiösen Aspekt wird weiter unten noch die Rede sein) „ihren Platz nicht kennt“: Obwohl sie Sara noch immer als ihre „Gebieterin“ bezeichnet, setzt sie sie vor anderen vornehmen Frauen herab: den vornehmen Frauen, die die Erzählung nicht etwa mit Hagar, sondern mit Sara auf eine Stufe stellt. Der Verfasser dieses Midrasch geht davon aus, dass Sara die gesellschaftlich Höhergestellte ist, und will auf diese Weise vielleicht Saras späteres Verhalten gegenüber Hagar rechtfertigen. Später bringt die Tatsache, dass Hagars Position im Haushalt nicht eindeutig definiert ist, Abraham in Verlegenheit, denn als es zum Streit zwischen Sara und Hagar kommt, weiß er nicht, wie er sich Hagar gegenüber verhalten soll: Da sagte Abram zu Sarai: Siehe, sie ist deine Sklavin, sie ist in deiner Hand etc. (Gen 16,6). Er sagte: Ich bin nicht darüber besorgt, ob es ihr [Hagar] gut oder schlecht geht. […] Nachdem wir sie gequält haben, sollen wir sie noch verskla-
17 Dieses Detail wird im unmittelbar vorangehenden Abschnitt vorgestellt und erörtert.
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ven? […] Nachdem wir sie zu einer Herrin ( )גבירהgemacht haben, sollen wir sie wie eine Sklavin ( )שפחהbehandeln? (BerR 45,6)18
Diese Passagen sind beispielhaft dafür, wie die rabbinischen Exegeten in Bereshit Rabba immer wieder mit den Begriffen „Sklavin“ und „Herrin“, mit den Spannungen zwischen diesen beiden Begriffen und mit Hagars wiederholten Rollenwechseln arbeiten. Sara jedenfalls hat sowohl in der biblischen Erzählung als auch in der (den) rabbinischen Darstellung(en) in Bereshit Rabba offenbar keinerlei Bedenken, Hagar in erster Linie als Sklavin zu behandeln. Als Kommentar zu Gen 16,6, wo es heißt, dass Sarai Hagar „misshandelte“, bieten zwei amoräische Rabbinen die folgenden Erläuterungen an: Da misshandelte Sarai sie und Hagar lief ihr davon. (Gen 16,6) Rabbi Abba sagte: Sie hielt sie [Hagar] davon ab, mit ihm [mit Abraham] Beischlaf zu vollziehen; Rabbi Berechja sagte: Sie schlug sie mit den Pantoffeln ins Gesicht. Rabbi Berachja im Namen des Rabbi Abba sagte: Sie gab ihr Eimer und Badewäsche[, damit sie diese] ins Bad [schleppe]. (BerR 45,6)
Während Judith Baskin die Auffassung vertritt, dass „Saras keineswegs nachahmenswertes Verhalten gerechtfertigt wird: Schließlich darf eine Herrin mit ihrer Dienerin umspringen, wie es ihr beliebt“,19 möchte ich zu bedenken geben, dass der Midrasch auch als unmittelbarere „Veranschaulichung“ gelesen werden kann. Jeder der beiden Kommentare beruht auf der Vorstellung, dass einer der wesentlichen Aspekte der Sklaverei darin besteht, dass die betreffende Person keine körperliche Integrität beanspruchen kann; ihr Besitzer kann sie in sexueller Hinsicht benutzen oder ihren Körper nach Belieben anderweitig (etwa durch Schläge) misshandeln. Alternativ oder ergänzend kommentiert Rabbi Berachja im Namen von Rabbi Abba, Sara habe Hagar Aufgaben verrichten (Dinge ins Bad bringen) lassen, die damals sowohl in der Welt der Rabbinen als auch in der griechisch-römischen Umgebungskultur als typische Sklavenarbeiten galten. Vielleicht verbirgt sich hinter der Schwere der Arbeiten (z. B. dem Tragen schwerer Eimer) auch die Absicht, eine Fehlgeburt herbeizuführen.20 Im biblischen Text heißt es, Sara habe Hagar „misshandelt“; der Midrasch skizziert Maßnahmen, die sich durchaus als Misshandlungen werten lassen – und doch war es legitim, wenn ein Sklaven18 Weiter unten biete ich eine vollständigere Version dieses Abschnitts (mit Blick auf Parallelen in der Tosefta). 19 Judith R. Baskin, Midrashic Women: Formations of the Feminine in Rabbinic Literature (Brandeis Series on Jewish Women; Hanover: Brandeis University Press, 2002), 152. 20 Für diesen Hinweis danke ich Tal Ilan. Weiter unten führe ich eine Quelle an, wo Sara dasselbe Ergebnis mit anderen Mitteln zu erreichen sucht.
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halter seinem Sklaven solche Arbeiten auftrug. Saras Verhalten mag nicht richtig sein, doch dass es rechtmäßig ist, steht außer Frage.21 Davon abgesehen stellt auch ein anonymer Kommentator Hagars WiederHerabsetzung in seiner Erläuterung zu Gen 16,7f., wo Hagar vor der Behandlung durch Sara flieht, als angemessen dar: [Der Engel des Herrn fand sie an einer Wasserquelle …] und er sprach: Hagar, Sklavin Sarais (Gen 16,7f.). Ein Sprichwort sagt: Wenn einer dir sagt, du hast Eselsohren, glaube nicht daran, sagen es dir zwei, so besorge dir das Halfter. So sagte Abraham: Siehe, sie ist deine Sklavin, sie ist in deiner Hand (Gen 16,6), der Engel sagte: Hagar, Sklavin Sarais etc. (Gen 16,8), [daher] und sie [Hagar] sagte: Vor Sarai, meiner Herrin, bin ich davongelaufen. (Gen 16,8) (BerR 45,7)22
Zudem wird die Behandlung, die ihrem früheren Sklavinnenstatus entspricht, nicht allein Sara angelastet. Als Hagar in Gen 21 aus Abrahams Haushalt verbannt wird, weist der Midrasch auf den Krug mit Wasser hin, den der Pa triarch ihr gibt (Gen 21,14), und erläutert, dass das Tragen des Krugs sie als Sklavin kennzeichnet: Früh am Morgen stand Abraham auf, nahm Brot und einen Schlauch mit Wasser (Gen 21,14). [Im] Haushalt Abrahams waren sie freigebig, wie es heißt: Früh am Morgen stand Abraham auf etc. [und gab es Hagar] (ibid.) [Nur Brot und Wasser,] denn so war es die Sitte, dass die Knechte ihre gefüllten Krüge auf den Schultern trugen. (BerR 53,14)23
Die Erläuterung stellt sein Verhalten nicht nur als angemessene Behandlung eines Sklaven oder einer Sklavin dar, sondern deutet außerdem an, dass diese dem Zweck dient, Hagar als Sklavin zu kennzeichnen, damit andere, die ihr womöglich unterwegs begegnen, sie nicht irrtümlich für eine Herrin – falls sie das denn jemals war – aus dem Haushalt des Patriarchen halten.
21 Vgl. aber Saras weniger legitime Reaktion auf Hagar (und Ismael) an den weiter unten angeführten Stellen BerR 45,5; 53,13. 22 Auch in Gen 16,9 bezeichnet der Engel Sara als Hagars Herrin und bestätigt damit, dass Hagar das Dienstverhältnis (wieder) als solches akzeptiert. Vgl. auch bBQ 92b. 23 Vgl. auch die Darstellung in PRE 30, die nahelegt, dass Abraham Hagar, ehe er sie fortschickt, einerseits einen formellen Scheidebrief ausstellt, sie aber andererseits sichtbar als Sklavin kennzeichnet.
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2.
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Ethnische Zugehörigkeit/religiöse Identität
Im Kontext des patriarchalischen Narrativs bedeutet die ägyptische Abkunft, dass man sowohl in ethnischer als auch in religiöser Hinsicht ein Anderer ist (was allerdings auch für die Kanaaniter gilt). Unsere Eröffnungspassage und andere Stellen betonen wiederholt und auf unterschiedliche Weise, dass die Verbindung mit Abrahams und Saras Haushalt – ganz unabhängig von der Stellung, die Hagar in ihrer Herkunftsgesellschaft innehatte – für die Ägypterin in jedem Fall von Vorteil ist. Ein Kommentar malt sich zum Beispiel aus, wie Sara Hagar davon zu überzeugen versucht, dass die Bereitschaft, Abrahams Sexualpartnerin zu werden, auch für sie ein großer Vorteil und eine Ehre sei: Sarai, Abrams Frau, nahm [also die Ägypterin Hagar, ihre Sklavin] etc. (Gen 16,3) – sie gewann [wörtl. „sie nahm“24] sie mit Worten, indem sie zu ihr sagte: Du Glückliche, dass du diesem heiligen Körper dich anschließt!25 (BerR 45,3)
Doch worin genau besteht eigentlich dieses „Wohl“? Inwieweit wird Hagar (wie im vorangegangenen Teil erörtert) nicht nur in Abrahams Familie, sondern auch in seine göttliche Bestimmung und die damit einhergehenden Verpflichtungen integriert, und inwieweit bleibt sie marginalisiert und/oder wird – und, wenn ja, mit welchen Mitteln – noch stärker ausgegrenzt? Vor allem was diese Frage betrifft, scheint es keine eindeutige und alleinige Antwort und Herangehensweise zu geben. Joshua Levinson schreibt zu unserer Eingangspassage, in der davon die Rede ist, dass Hagar eine Tochter des Pharaos und mithin königlicher Abstammung gewesen sei: „Hier wird […] insofern die Entstehung eines neuartigen Charakters und Plots veranschaulicht, als eine religiöse Erfahrung eine zweifache Verwandlung bewirkt: eine religiös-ethnische Grenzüberschreitung und die Akzeptanz eines untergeordneten gesellschaftlichen Status.“26 24 Dies ist auch im tannaitischen Midrasch eine bekannte Wendung: Wenn etwa in einem biblischen Text davon die Rede ist, dass eine Person eine oder mehrere andere „nimmt“, dann ist damit gemeint, dass sie sie mit Worten überzeugt, vgl. z. B. MekhY Beshallach 1 (und ähnlich MekhSh 14,6), SifBam 92.141 und insbes. Sifra Tsaw, Mekhilta de-Milu’im 2. 25 Das hier verwendete Wort guf bedeutet in den meisten Fällen Leib oder Körper. Die Stelle verweist also geschickt auf die körperliche und die geistige Vereinigung, die gleichzeitig vollzogen werden sollen. Auffällig ist, dass eine Sklavin überhaupt überzeugt werden muss und nicht einfach gezwungen wird, sich zu fügen. Ich werde weiter unten noch auf diese Anomalie zurückkommen. 26 Levinson, „Bodies and Bo(a)rders“, 350.
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Was man bei oberflächlicher Betrachtung für eine Bekehrungsgeschichte halten könnte, ist deshalb, so Levinson, in Wirklichkeit etwas anderes: In dieser Erzählung überschreitet eine sozial eigentlich höhergestellte Figur infolge einer religiösen Erfahrung ethnisch-religiöse Grenzen. Diese Figur konvertiert jedoch nicht, sondern knüpft eine Beziehung der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft. Diese Beziehung weist zwei Merkmale auf: eine familiäre Verbundenheit und, damit einhergehend, einen Status der Unterordnung.27
Levinson greift dieses Motiv (und andere Themen aus Bereshit Rabba, die in diesem Beitrag nicht erörtert werden) heraus und deutet es vor dem Hintergrund des Phänomens der „Gottesfürchtigen“ innerhalb der jüdischen Gemeinde des römischen Palästina und der westlichen jüdischen Diaspora in den frühen Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. In einem Kommentar zu Gen 21,16 (wo die verzweifelte Situation beschrieben wird, in die Hagar gerät, nachdem sie Abrahams Haushalt verlassen musste) wird Hagar allerdings als ( גרger) bezeichnet (tatsächlich könnte man ihren Namen – הגר – auch mit „die ger“ wiedergeben); in der Bibel steht der Begriff ger für eine(n) im Land ansässige(n) Fremde(n), im Sprachgebrauch der tannaitischen Rabbinen darüber hinaus für einen Proselyten oder eine Proselytin: Das ist, was geschrieben steht: Die Wege meines Elends hast du gezählt (Ps 56,9) – Du hast meine Wege gezählt; in deinem Schlauch sammle meine Tränen! (ebd.) – bezogen auf ebendiese Trägerin eines Wasserschlauchs [Hagar]. [Steht nicht alles] in deinem Buch? (ebd.), wie [an einer anderen Stelle] im Buch der Psalmen geschrieben steht: Hör mein Gebet, Herr, vernimm mein Schreien, schweig nicht zu meinen Tränen! (Ps 39,13) Sagst du aber: Weil sie eine Fremde/ Proselytin war[, war sie besonders] beliebt war – das bin ich auch: denn ich bin ein Gast bei dir, ein Beisasse wie alle meine Väter (ebd.).28 (BerR 53,14)
Ganz ähnlich wie Chana Safrai, die (wie im vorigen Abschnitt zitiert) die Vorstellung von Hagar als einer Königstochter darauf zurückführt, dass Abraham nur mit dem „Besten“ in Verbindung gebracht werden soll, was Ägypten zu bieten hat, äußert auch Irene Pabst die Vermutung, dass „hinter dieser In27 Ebd., 351. Wenigstens eine zusätzliche Variation dieses Themas erscheint in BerR 82 im Zusammenhang mit der Identität der Timna, einer Konkubine eines der Söhne Esaus, die (was eher ungewöhnlich ist) in Gen 36,12 namentlich erwähnt wird. 28 Damit suggeriert der Verfasser dieses Midrasch-Abschnitts, dass Gottes Barmherzigkeit gegenüber Hagar ein Muster für Gottes Barmherzigkeit gegenüber allen ist, die aus der Not zu ihm rufen; und für den Fall, dass jemand meint, Gott erweise der Hagar als einer Konvertitin/Fremden besondere Barmherzigkeit, wird auf Ps 39,13 verwiesen, der es allen erlaubt, den Status von Konvertiten/Fremden und mithin die gleiche Barmherzigkeit zu beanspruchen.
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terpretation womöglich der Gedanke steht, dass Abrahams Frau keine Heidin sein sollte“; gleichwohl kommt sie zu dem Schluss, dass dieses Thema auch positiv gedeutet werden könnte: Dieses Attribut betont Hagars Glauben und stärkt ihr positives Bild. Bemerkenswerterweise verkleinert der Midrasch den Unterschied zwischen der NichtIsraelitin Hagar und der Israelitin Sara […] In der rabbinischen Interpretation wird Hagar zu einem Symbol für Außenseiter […], die Zugang zur Gemeinschaft erhalten können. Diese Auslegung spiegelt die Offenheit des Judentums gegenüber Proselyten sowie die Tatsache, dass man ein Interesse daran hatte, für sie attraktiv zu sein.29
Safrai fügt hinzu, dass Hagar „als eine Proselytin zumal in der Zeit ihrer Not dem Heiligen, gepriesen sei Er, besonders lieb“ sei und „sowohl durch ihren Namen [ha-ger] als auch, biblisch gesprochen, aufgrund ihrer Rolle als der ersten Konvertitin in der kulturellen Tradition des Judentums, als Prototyp des Konvertiten dient.“30 Safrai weist ferner darauf hin, dass im rabbinischen Gesetz/Denken eine Verbindung zwischen Versklavung und Konversion besteht: Wie wir gesehen haben, gehen beide Komponenten Hand in Hand. Fremdheit/ Konversion (ha-gerut) hat damit zu tun, dass man verkauft wird und seine Freiheit verliert. Hagar wird aus einem rechtschaffenen Grund von ihrem Vater verkauft […]. Es bringt sozusagen Vorteile mit sich, eine Sklavin im Haushalt Abrahams zu sein!31
Mithin ist die Dichotomie – wenngleich Levinson es offenbar für ausgeschlossen hält, dass Hagar eine Sklavin und gleichzeitig Konvertitin war – nicht ganz so scharf. Denn im Kontext sowohl der rabbinischen als auch der römischen Kultur waren Sklaverei und Freilassung ein bewährtes Mittel, um die Akkulturation/Konversion von Personen mit ausländischem Hintergrund zu fördern.32
29 Pabst, „The Interpretation of the Sarah-Hagar Stories“. 30 Safrai, „The Image of Hagar“, 166. Im weiteren Verlauf ihrer Arbeit befasst sie sich mit der Verbindung zwischen Hagar und der biblischen Vorstellung des „im Land wohnenden Fremden“ ()גר תושב. 31 Ebd. 32 Nähere Informationen zu diesem Vorgehen im rabbinischen/jüdischen Kontext bietet insbes. Natalie B. Dohrmann, „Manumission and Transformation in Jewish and Roman Law“, in Jewish Biblical Interpretation and Cultural Exchange: Comparative Exegesis in Context (hg. v. ders. und David Stern; Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2008), 51–65.
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Zudem kann Hagar wenigstens bis zu einem gewissen Grad an der privilegierten Beziehung zwischen Abrahams und Saras Haushalt und Gott teilhaben: Rabbi Chijja sagte: Komm und sieh, wieviel [d. h. welcher Unterschied] zwischen den frühen und späteren [Generationen] ist! Manoach sagte zu seiner Frau: Sicher müssen wir sterben, weil wir Gott gesehen haben (Ri 13,22). Und Hagar, ihre [Sarais] Sklavin, sah fünf Engel nacheinander33 und sie fürchtete sich nicht vor ihnen. […] Rabbi Isaak sagte: Sie achtet auf das, was in ihrem Haus vorgeht (Spr 31,27) – Die Hausgenossen unseres Vaters Abraham waren Seher und sie war mit ihnen vertraut. (BerR 45,7)
Auch diese Interpretation lässt sich jedoch, wie Safrai anmerkt, ebenso gut (wenn nicht sogar besser) zu Abrahams wie zu Hagars Gunsten auslegen: Auf den ersten Blick ist dies ein zusätzliches Verdienst Hagars, doch es ist interessant zu sehen, welche Schlüsse die Exegeten aus dieser literarisch-midraschischen Behandlung ziehen. Ihrem Urteil zufolge ist der Sachverhalt nämlich ein Beleg für Abrahams Sonderstatus: Wenn sogar eine Sklavin in seinem Haushalt zu solchen Ehren gelangen kann, um wie viel größer muss dann der Herr dieses Haushalts sein.34
Ähnlich deutet einer der Rabbinen auch Hagars Kontakt mit dem Göttlichen als Ausdruck ihrer fehlgeleiteten Hybris im Hinblick auf Sara und stellt dadurch eine Verbindung zwischen diesem und dem im vorangegangenen Teil erörterten Thema her. Der Midrasch malt sich aus, dass sich Hagar, nachdem sie die Offenbarung von Ismaels Geburt und Zukunft empfangen hat (Gen 16,9f.), für privilegiert hält, weil sie einen Engel gesehen hat, ohne dass Sara dabei war. Dies veranlasst einen rabbinischen Kommentar in Form eines Gleichnisses: Denn sie sagte: Gewiss habe ich dem nachgeschaut, der auf mich schaut! (Gen 16,13) Sie sprach: Ist es nicht genug für mich, dass ich mich mit Sprechen [mit Engeln] befasst habe, sondern [auch] mit Herrschaft? […]. Ist es nicht genug für mich, dass ich mich [gemeinsam] mit meiner Herrin [mit dem Sprechen mit Gott] befasst habe, sondern auch ich alleine [mich mit dem Sprechen mit Gott befasst habe]? Rabbi Samuel sagte: Gleich einer vornehmen Frau, zu welcher der König sprach: Gehe vor mir her! Sie ging vor ihm her, gestützt auf ihre Sklavin und das Gesicht [gegen die Sklavin] gepresst, [sodass der König sie nicht sah]. Die Sklavin sah ihn und sie sah ihn nicht. (BerR 45,10) 33 Vgl. die unmittelbar vorangehenden Kommentare, in denen die Frage erörtert wird, wie viele Engel mit Hagar gesprochen hätten. Vgl. ähnlich auch BerR 75,4 und bMeil 17b. 34 Safrai, „The Image of Hagar“, 167.
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Der Midrasch verbindet die gesellschaftliche Stellung, die Sara als vornehme Frau innehat, mit ihrer religiösen Überlegenheit; aus der gesellschaftlichen Anmaßung und Dreistigkeit der Sklavin wird ihre religiöse Anmaßung gegenüber dem Gott Abrahams. Die bescheidene Herrin nähert sich der königlichen/göttlichen Majestät auf die gebührende Weise, und damit ist es nicht Hagar, sondern Sara, die Anerkennung verdient. An anderen Stellen bleiben die ägyptischen und polytheistischen Wurzeln eine potentielle Bedrohung. Dass Hagar auch nach ihrer Verstoßung unerschütterlich an ihrer Frömmigkeit, am monotheistischen Glauben und an ihrer Treue zum Gott der Israeliten festhält, wird unterschiedlich ausgelegt. Manche Kommentatoren deuten das, was Hagar nach ihrer und Ismaels Verstoßung am Brunnen sagt und tut, als Zeichen ihres mangelnden Vertrauens in die göttliche Vorsehung: Und sie ging und setzte sich in der Nähe hin ()מנגד, etwa einen Bogenschuss weit entfernt ()כמטחוי קשת. (Gen 21,16) […] Rabbi Berachja sagte: Wie eine, die in Anwesenheit der Hoheit rebellisch spricht ()כמטחת.35 Sie sprach: Gestern sagtest du mir: Mehren, ja mehren werde ich deine Nachkommen (Gen 16,10) und heute kommt er vor Durst um. (BerR 53,13) Sie ging hin, füllte den Schlauch (Gen 21,19). Die Worte besagen, dass Hagar Mangel an Glauben hatte. (BerR 53,14)36
Ähnlich wird auch die Art und Weise, wie Hagar ihren Sohn nach ihrer beider Vertreibung großzieht, als „Rückfall“ in ihre ägyptische Herkunft interpretiert: Er ließ sich nieder in der Wüste Paran (Gen 21,21). Rabbi Isaak sagte: Wirf einen Stock in die Luft, er fällt immer wieder auf seine Wurzel zurück. So, weil geschrieben steht: sie hatte aber eine ägyptische Sklavin. Ihr Name war Hagar (Gen 16,1), deshalb steht geschrieben: und seine Mutter nahm ihm eine Frau aus Ägypten (Gen 21,21). (BerR 53,15)
35 Der Midrasch spielt hier mit der Wurzel תבךin Gen 21,16, die – laut Marcus Jastrow, A Dictionary of the Targumim, the Talmud Babli and Yerushalmi, and the Midrashic Literature (London: Luzac, 1903), 522f. – zwei unterschiedliche (wenn auch verwandte) Bedeutungsfamilien hat, nämlich einerseits „drücken“, (eine Bogensehne) „spannen“, d. h. (wie im zitierten Vers) einen Pfeil abschießen, und andererseits (wie im Midrasch des Rabbi Berachja) vorwurfsvoll oder „rebellisch sprechen“; hier war die Grundbedeutung ursprünglich „beschichten“ oder (z. B. mit Schlamm) „bedecken“. 36 PRE 30 deutet sogar an, dass mit Hagars „Umherirren“ (Gen 21,14) eine Rückkehr zu götzendienerischen Praktiken gemeint sein könnte.
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Für diejenigen, die Hagar mit Ketura in Verbindung bringen, ist der neue Name hingegen ein Hinweis auf Hagars vortreffliche Eigenschaften, ihre Treue zu Gott37 und darauf, dass sie sich während ihrer Verbannung so verhalten hat, wie man es von einer Israelitin erwarten kann:38 Abraham nahm sich noch eine andere Frau (Gen 25,1). Rabbi Jehuda sagte: Das war Hagar. Rabbi Nechemja sagte zu ihm: Es steht doch geschrieben, Abraham nahm sich noch ( )ויוסףeine andere Frau. [Er nahm sie] entsprechend dem [göttlichen] Wort, so wie du sagst, Der Herr sprach weiter ( )ויוסףzu mir etc. (Jes 8,5). Er sagte zu ihm: Es steht doch geschrieben: namens Ketura (Gen 25,1) – sie duftete ([ )מקוטרתvon] Geboten und guten Werken. Er sagte zu ihm: Es steht doch geschrieben: Den Söhnen der Nebenfrauen ()פלגשים, die Abraham hatte (Gen 25,6).39 Er sagte zu ihm: פילגשםsteht geschrieben – [gemeint ist wahrscheinlich, dass das Wort gelesen werden muss als „die Konkubine/pilegesh dort/sham“] – [in Bezug auf] die, die am Brunnen saß (vgl. Gen 16,14) und zum Leben der Welt sprach: Siehe meine Demütigung!40 (BerR 61,4)
Hagar/Ketura ist eine fromme und rechtschaffene Frau, die sich in ihrer Not an den einen Gott um Hilfe gewandt und, als Abraham sie letztlich wieder zu sich nahm, ihren gebührenden Lohn empfangen hat. Die biblischen Erzählungen über Hagar stellen die Verfasser von Bereshit Rabba und die darin zitierten Autoren jedoch vor religiöse Herausforderungen, die ebenso sehr mit Abrahams und Saras Rechtschaffenheit wie mit Hagar zu tun haben. Warum konnten Abraham und Sara keine Kinder bekommen, während Hagar offenbar mühelos schwanger wurde? Und wie konnten sie tun, was sie taten: Abraham damit, dass er sie zur Frau nahm, Sara damit, dass sie Hagar daraufhin so grob behandelte (und Abraham damit, dass er nicht intervenierte), und beide damit, dass sie sie letztendlich verstießen? Die im vorangegangenen Teil zitierte Erzählung von Sara, Hagar und den vornehmen Frauen, die zu Besuch kommen (BerR 45,4), ist ein Versuch, gleich mehrere dieser Fragen auf einmal dahingehend zu beantworten, dass Hagar sich die Behandlung, die ihr widerfuhr, aufgrund ihrer religiösen (und gesellschaftlichen) Anmaßung selbst zuzuschreiben habe: „Was meine Gebieterin Sara anlangt, so gleicht ihr Inneres nicht ihrem Äußeren, das sie zur Schau trägt, sie scheint tugendhaft, sie ist es aber nicht; denn wäre sie es, seht, so viele Jahre ist sie bereits verheiratet und sie ist nicht schwanger geworden, ich dagegen bin es schon in einer Nacht geworden“ (BerR 45,4). Doch der Verfasser dieses Midrasch setzt Saras Rechtschaffenheit eher voraus, als dass 37 Und zu Abraham – vgl. die weiter unten zitierte Fortsetzung von BerR 61,4. 38 Vgl. wieder PRE 30 (die Ambivalenz dieses Textes ähnelt ein Stück weit der in BerR). Vgl. auch Tan Chayye Sara 8. 39 Das heißt, „Konkubinen“ im Plural, während in der Bibel nur von einer Konkubine (im Singular) die Rede sein müsste, wenn Hagar und Ketura dieselbe Person wären. 40 Vgl. auch die Teilparallele in BerR 60,14.
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er sie erklärt. Die Art und Weise, wie Sara Hagar daraufhin behandelt, wird zwar gerechtfertigt, Hagars ursprüngliche Frage jedoch nicht beantwortet: Was spricht dagegen, Saras Unfruchtbarkeit als ein Zeichen des göttlichen Missfallens zu deuten? Wahrscheinlich verlässt sich der rabbinische Exeget hier auf die Vertrautheit des Lesers mit dem Rest der Genesiserzählung, wo Gott erklärt, dass Sara die Mutter von Abrahams wahrem Erben (nämlich Isaak) sein wird; als dies geschieht, wird Saras Status als der einer rechtschaffenen Frau, die einer solchen Nachkommenschaft würdig ist, (rückwirkend) bestätigt. Dennoch wird Abrahams und Saras Verhalten – insbesondere im Zusammenhang mit der späteren Verbannung Hagars und Ismaels – nicht immer gerechtfertigt oder positiv dargestellt. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Abraham an der (oben zitierten) Stelle BerR 53,14 getadelt wird, weil er Hagar allem Anschein nach nur eine Flasche Wasser und etwas Brot mitgibt, obwohl er in anderen Situationen weitaus großzügiger ist. Und Saras moralisch fragwürdiges Verhalten gegenüber Hagar wird an einigen Stellen des Midrasch von den Rabbinen eher verschärft als gerechtfertigt. Wenngleich sie im Recht gewesen sein mag, als sie ihre Sklavin Hagar schlecht behandelte (wie in BerR 45,6), wird doch auch zweimal die Vermutung geäußert, dass sie andere Personen in der Geschichte – nämlich zunächst Hagar und dann Ismael – beneidet: [Der Herr richte] zwischen mir und dir (( )ובינךGen 16,5) […] Rabbi Hoschaja sagte: Es steht geschrieben dein Sohn ()בינך. Es steht bereits geschrieben: Er ging zu Hagar und sie wurde schwanger. (Gen 16,4) Was lehrt die Schrift, wenn sie sagt: Siehe, du wirst schwanger (Gen 16,11)?41 Sie lehrt, dass sie [Sara42] einen bösen Blick auf sie warf und sie eine Fehlgeburt hatte (BerR 45,5).43 Er legte es ihr auf die Schulter[, übergab ihr das Kind] etc. (Gen 21,14): Es war 2744 Jahre alt und du sagst hier: er legte es ihr auf die Schulter, übergab ihr das 41 Dieser Midrasch arbeitet mit einem Wortspiel und mit einer Informationslücke, die als echtes Textdefizit betrachtet werden kann: Warum muss ein göttlicher Bote Hagar mitteilen, dass sie schwanger ist, obwohl ihre Schwangerschaft ihr und den anderen Personen in der Geschichte längst bekannt ist (und die nachfolgenden Ereignisse der Geschichte allem Anschein nach ausgelöst hat)? 42 Saras Name fehlt in der Ausgabe von Theodor/Albeck, wird jedoch in der häufig verwendeten Wilnaer Ausgabe in Klammern ergänzt. Auch die Reihenfolge der Erläuterungen (der veränderten Vokalisierung und Lesart von Gen 16,5 und der Gegenüberstellung und Harmonisierung von Gen 16,4.11) ist in den beiden Versionen unterschiedlich; meine Übersetzung folgt Theodor/Albeck. 43 Von der Deutung, dass Sara Hagar absichtlich schwere Aufgaben auferlegte, um eine Fehlgeburt zu provozieren, war weiter oben bereits die Rede. 44 Dass die Rabbinen – wenn die Bibel selbst hierzu keine Angaben macht – genau auszurechnen versuchen, wann und in welchem zeitlichen Abstand zueinander die biblischen Ereignisse jeweils stattgefunden haben (und dabei oft zu sehr unterschied-
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Kind? Vielmehr lehrt dies, dass sie [Sara45] einen bösen Blick auf ihn geworfen hatte, infolge dessen ihn ein Frost und hitziges Fieber befiel. Du sollst wissen, dass es so ist, denn es steht geschrieben: Als das Wasser im Schlauch zu Ende war (Gen 21,15), weil ein Fieberkranker viel zu trinken pflegt. (BerR 53,13)
Vor diesem Hintergrund könnte man die Vorstellung, Abraham habe Hagar (in der „Verkleidung“ der Ketura) nach Saras Tod wieder zu sich genommen, als einen Versuch deuten, zwar nicht Saras, aber sein eigenes Verhalten bei Hagars Verstoßung wiedergutzumachen.
3.
Gender
Nachdem er herausgestellt hat, was im Eröffnungs-Midrasch über Hagars religiöse Zugehörigkeit gesagt und was nicht gesagt wird, schreibt Levinson treffend: „Wenn Pharao der Nutznießer dieser neuen religiösen Erfahrung ist, so ist seine Tochter – darauf sei an dieser Stelle hingewiesen – die Währung, in der sie sich ausdrückt.“46 Es ist keine neue Erkenntnis, dass Frauen bei Transaktionen zwischen Männern häufig als Tauschobjekte gedient haben.47 Die Vorstellung, dass Hagar die Tochter des Pharao war und von ihrem Vater in die Sklaverei gegeben wurde, erinnert an das biblische und rabbinische Gesetz, wonach die Gewalt, die ein israelitischer Vater über seine Tochter hat, so weit geht, dass er sie in die Sklaverei verkaufen darf (Ex 21,7–11), was unter anderem zur Folge haben kann, dass sie mit ihrem neuen Herrn oder mit dessen Sohn verheiratet wird. Genau dieses Gesetz legt der Midrasch zu Gen 16,6 Abraham in den Mund, als dieser versucht, sich der Verantwortung zu entziehen und, was Hagars Status als den einer Herrin oder Sklavin betrifft, keine Entscheidung zu fällen: Da sagte Abram zu Sarai: Siehe, sie ist deine Sklavin, sie ist in deiner Hand etc. (Gen 16,6). Er sagte: Ich bin nicht darüber besorgt, ob es ihr [Hagar] gut oder schlecht geht. Es steht geschrieben: Auch darfst du sie nicht als Sklavin kennlichen Ergebnissen kommen), ist ein übliches Vorgehen in dieser und in anderen Mid rasch-Sammlungen. Auf welcher Grundlage Ismaels Alter berechnet wird, ist jedoch hier nicht unmittelbar von Belang. 45 Theodor/Albeck lassen den Namen wieder aus, die Wilnaer Ausgabe stellt ihn in Klammern. 46 Levinson, „Bodies and Bo(a)rders“, 350; auf diesen Punkt habe ich bereits in der Einleitung hingewiesen. Der Aspekt der Geschlechterrolle ist im Midrasch auch im Zusammenhang mit Timna präsent, von der weiter oben bereits die Rede war (s. Anm. 27). 47 Levinson zitiert Forscher*innen wie Gayle Rubin und Luce Irigaray, die sich mit diesem Thema befasst haben.
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zeichnen. Denn du hast sie dir gefügig gemacht. (Dtn 21,14) Nachdem wir sie gequält haben, sollen wir sie noch versklaven? Ich bin nicht darüber besorgt, ob es ihr [Hagar] gut oder schlecht geht. Es steht geschrieben: Da misshandelte Sarai sie und Hagar lief ihr davon (Gen 16,6) und es steht geschrieben: Er hat nicht das Recht, sie an Fremde zu verkaufen, da er seine Zusage nicht eingehalten hat. (Ex 21,8) Nachdem wir sie zu einer Herrin ( )גבירהgemacht haben, sollen wir sie wie eine Sklavin ( )שפחהbehandeln? Ich bin nicht darüber besorgt, ob es ihr [Hagar] gut oder schlecht geht. Es steht geschrieben: Da misshandelte Sarai sie und Hagar lief ihr davon etc. (Gen 16,6) (BerR 45,6)48
Die andere Stelle, die zitiert wird, ist die Regelung bezüglich der „schönen Frau“, die ein israelitischer Mann im Krieg erbeutet hat (Dtn 21,10–14). Auch hierbei handelt es sich um ein Gesetz, das die seltsame und komplexe Verbindung zwischen der Ausbeutung des weiblichen Körpers und der Garantie ihres „Rechts“ auf Schutz – im patriarchalischen Sinne des Wortes, nämlich auf Verheiratung mit dem, der sie gefangen hält – festschreibt. Zu den Kennzeichen der Sklaverei gehört, wie oben bereits erwähnt, dass der oder die Betreffende nicht über den eigenen Körper verfügen kann. Dies bedeutete vor allem – wenn auch nicht nur – für weibliche Sklaven, dass die Rechte und Privilegien der Freien auch den sexuellen Gebrauch/Missbrauch des Sklavenkörpers beinhalteten. An und für sich ist es also aus historischer Perspektive nicht überraschend, dass biblische Charaktere – nicht nur Abraham, sondern auch sein Enkel Jakob (Gen 30) – Sklavinnen aus ihrem Haushalt als Sexualobjekte benutzten und schwängerten, damit sie ihnen Kinder gebaren. In BerR 45,6 stellt sich Rabbi Abba bar Kahana vor, dass Sara Hagar vom Geschlechtsverkehr mit Abraham abhalten kann (und dass sie sie in ebendieser Absicht schlecht behandelt). Die Erklärung zu Gen 16,3 in BerR 45,3 scheint jedoch anzudeuten, dass Sara nicht in vollem Umfang über die sexuelle Verfügbarkeit ihrer Sklavin bestimmen kann und, wie bereits erwähnt, stattdessen versucht, Hagar davon zu überzeugen, dass es auch zu ihrem eigenen Nutzen sei, wenn sie ihrem Herrn ein Kind gebiert. Ist dies durch Hagars nicht eindeutig definierte Position zwischen dem Status einer Sklavin und dem einer Prinzessin/Herrin bedingt? Oder könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass auch die freien Mitglieder eines patriarchalischen
48 Vgl. auch die Parallelversion dieser Überlieferung in tSot 5,12; man beachte, dass darin weder die Verse aus Exodus noch aus Deuteronomium zitiert werden und dass Abraham andeutet, dass sie Hagar sowohl zu einer „Königin“ als auch zu einer „Herrin“ gemacht hätten (sowie noch mehrere weitere Details). Zu diesem Tosefta-Material über die Vertreibung Hagars vgl. Ronit Nikolsky, „Ishmael Sacrificed Grasshoppers“, in Abraham, the Nations, and the Hagarites: Jewish, Christian, and Islamic Perspectives on Kinship with Abraham (hg. v. Martin Goodman et al.; TBN 13; Leiden: Brill, 2010), 243–262.
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Haushalts, abhängig von ihrem Geschlecht, nicht dieselbe Macht über die Sklaven hatten?49 Der religiöse Wettstreit zwischen Sara und Hagar spielt sich auch vor dem Hintergrund rabbinischer Vorstellungen von der Identität, den Rollen und dem angemessenen Verhalten der Geschlechter ab. Sara ist in den Augen des Königs nicht einfach nur eine vornehme Frau, während Hagar eine Sklavin ist; vielmehr äußert sich Saras Vornehmheit in ihrer Bescheidenheit, einer in der rabbinischen Literatur entschieden genderbezogenen Charaktereigenschaft. Und auch die Rabbinen, die Hagar mit Ketura gleichsetzen, definieren ihr Verdienst klar genderbezogen, wenn sie nicht nur ihre Treue gegenüber Abrahams Gott, sondern im gleichen Maß auch ihre sexuelle Treue gegenüber Abraham selbst betonen: Rabbi Berachja sagt: Obwohl es von Hagar heißt: Sie zog fort und irrte [in der Wüste von Beerscheba] umher etc. (Gen 21,14), sollst du [deswegen] sagen, dass [irgendjemand] ihretwegen in Verdacht geriet [sich unangemessen verhalten zu haben]? Die Schrift lehrt, namens Ketura (Gen 25,1), wie einer, der einen Schatz versiegelt und ihn später mit seiner Siegelung [verbunden und gesiegelt] vorfindet.50 (BerR 61,4)
Es versteht sich von selbst, dass das biblische System von einem Mann keine solche Exklusivität erwartet: Die ganze Geschichte samt des daraus erwachsenden Beziehungsgefüges setzt ein Recht auf Sexualität voraus, das den Männern eingeräumt, den Frauen dagegen verweigert wird. Vor diesem Hintergrund bietet der Midrasch auch Deutungen an, die einen grundsätzlicheren Wettbewerb zwischen Frauen konstruieren: einen Wettbewerb, der auf dem „Spielfeld“ der männlichen Aufmerksamkeit und des Kinder- bzw. Söhne-Gebärens für Männer ausgetragen wird. Die im Midrasch nicht nur einmal, sondern zweimal erwähnte Vorstellung, dass Sara einen bösen Blick auf Hagar und ihr Kind wirft, entspricht ganz offenkundig diesem Muster. Nicht nur, dass die Rivalität hinsichtlich ihrer Stellung in der Gesellschaft und im Haushalt jedwede Solidarität zwischen den beiden Frauen ausschließt – das Geschlecht selbst scheint zu verhindern, dass die beiden am selben Strang ziehen oder einander auch nur mit einem gewissen Wohlwollen begegnen. Schließlich ist – wenn man den religiösen und gesellschaftlichen Wettstreit zwischen Sara und Hagar in den Blick nimmt – die eine wie die andere sogar in ihrer Beziehung zum Gott Abrahams benachteiligt. Hagars Begeg49 Erwähnung verdient vielleicht, dass einem Midrasch zu Gen 30,2f. zufolge (BerR 71) Jakob derjenige war, der Rahel daran erinnerte, dass seine Großmutter Abraham ihre Sklavin als Ersatzmutter zugeführt hatte. Damit suggeriert Jakob, dass Rahel dasselbe tun könnte, d. h. der Anstoß kommt eher von ihm als von ihr. 50 Wahrscheinlich ein Wortspiel mit der Wurzel קתר, die im Aramäischen „binden“ bedeutet, daher „versiegeln“.
Die Hagar-Gestalt(en) in der Vorstellung der Rabbinen
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nungen mit Engeln, ganz gleich, ob man sie zu ihren Gunsten oder zugunsten von Abrahams Haushalt oder als Ausdruck ihrer fehlgeleiteten Anmaßung versteht, sind in jedem Fall eine bestenfalls zweitrangige Form der Kommunikation mit dem Göttlichen. Und Hagars Beschränkung ist nicht allein ihrem nationalen, religiösen oder gesellschaftlichen Status, sondern außerdem und in erster Linie ihrem Geschlecht geschuldet. Dass Sara in dieser Hinsicht genauso im Nachteil ist, zeigt der Kommentar zu Gen 16,13: Niemals hat sich Gott an einem Gespräch mit einer Frau beteiligt, außer mit jener Gerechten,51 und [es war] aus einem besonderem Grund. […] Es steht doch geschrieben: Da nannte sie den Namen des Herrn, der zu ihr gesprochen hatte (Gen 16,13). Rabbi Jehoschua ben Rabbi Nechemja im Namen des Rabbi Idi: [Das geschah] durch einen Engel. (BerR 45,10)
Ungeachtet ihrer ethnischen und religiösen Herkunft und ihrer Stellung im patriarchalen Haushalt befindet sich eine Frau im Hinblick auf Gott immer in einer minderwertigen Position, denn er gewährt den Frauen, wenn denn überhaupt, nur einen eingeschränkten Zugang zu seiner Gegenwart.
4.
Schluss
Es sind – in der hier untersuchten Sammlung Bereshit Rabba und andernorts – zahlreiche Kräfte, die den klassischen rabbinischen Midrasch hervorbringen: Intra- und intertextuelle exegetische und ideologische Impulse treffen aufeinander und interagieren. Doch welchen Kräften auch immer sie ihr Dasein verdanken – fest steht, dass die rabbinischen Exegesen der Erzählung und der ergänzenden Legenden über Hagar in Bereshit Rabba durch Aspekte des Gender, der ethnischen Zugehörigkeit und des gesellschaftlichen Standes beeinflusst werden und diese zum Ausdruck bringen. Die Vorstellung, dass Hagar die Tochter des Pharaos gewesen und von diesem in die Sklaverei gegeben worden sei, dient als Anlass zu Spekulationen über ihre religiöse, soziale und genderspezifische Identität. Weit komplizierter ist es hingegen, diese unterschiedlichen Aspekte zu entwirren, und tatsächlich kommt es, was ihre Funktionen in der Kultur und Vorstellungswelt der Rabbinen betrifft, zu Überschneidungen. Saras soziale Überlegenheit und Kontrolle über Hagar ist gleichzeitig ihre religiöse Überlegenheit. Sara und Hagar wetteifern in der gesellschaftlichen und religiösen Sphäre, tun dies aber der midraschischen Darstellung zufolge auf eine genderspezifische Weise, die sich in besonders 51 Aus dem Folgenden (dem hier ausgelassenen Stück) lässt sich schließen, dass Sara gemeint ist; vom Kontext her wäre jedoch auch ein Bezug auf Hagar denkbar.
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„weiblichen“ Tugenden wie Bescheidenheit und sexueller Treue ausdrückt. So wie der Midrasch vielfältige Stimmen wiedergibt und der diesbezügliche Disput der Rabbinen zahlreiche Auslegungen anbietet und in der Regel nicht nach Einheitlichkeit strebt, können und müssen auch wir Wege finden, um die Komplexitäten und Komplikationen der Hagar-Erzählung überzeugend zu lesen.
Andersheiten im Midrasch Levitikus Rabba über biblische Frauen1 Lorena Miralles-Maciá Universidad de Granada
Der Midrasch Levitikus Rabba (Wayiqra Rabba), ein rabbinischer Kommentar zu Versen aus dem Buch Levitikus, dessen Endfassung im 5. Jh. in Palästina entstanden ist,2 enthält Abschnitte, die in unterschiedlichen hermeneutischen Kontexten auf biblische Frauengestalten verweisen. Diese Verweise stellen entweder selbst die ältesten bekannten Quellen dar – stammen also aus amoräischer Zeit (3.–4. Jh.) – oder gehen auf sogar noch ältere Überlieferungen zurück, die bei ihrer Aufnahme in den besagten Midrasch umformuliert oder neu kontextualisiert wurden. Wie sein beträchtlicher Umfang (37 Kapitel) erwarten lässt, ist die Zahl der Verweise auf biblische Frauen beachtenswert. Zuweilen werden diese Frauengestalten nur beiläufig erwähnt (etwa in den Versen, wo die Rabbinen sich auf die betreffenden Frauen beziehen, um ihre Argumentation zu untermauern); bei anderen Gelegenheiten jedoch stehen die weiblichen biblischen Charaktere im Fokus der Interpretationen und verdienen es daher, dass man sich eingehender mit ihnen befasst. Der begrenzte Umfang des vorliegenden Beitrags lässt es nicht zu, sämtliche Informationen in jedem Interpretationskontext zu untersuchen. Deshalb sollen im Folgenden nur die repräsentativsten Aspekte biblischer Frauengestalten anhand einiger Beispiele veranschaulicht werden. Vor über 15 Jahren hat Burton L. Visotzky den Frauen in Wayiqra Rabba ein Kapitel seines Buches Golden Bells and Pomegranates gewidmet. Für ihn waren Frauen in anthropologischer Hinsicht eine „besondere Kategorie“, und er befasste sich auf ein und derselben Ebene mit biblischen wie nichtbiblischen Gestalten – mit dem Ziel, wie er damals schrieb, „die Texte über Frauen in den Gesamtkontext von WaR einzubetten.“ Visotzky klassifizierte die Texte danach, ob sie eine insgesamt positive, eine neutrale oder eine negative Einstellung der Rabbinen gegenüber Frauen widerspiegelten.3 Der vorliegende Beitrag befasst sich ausschließlich mit biblischen Frauengestalten. 1
Die vorliegende Untersuchung wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Lengua y literatura del judaísmo rabínico y medieval“ (FFI2016-78171-P) des spanischen Ministeriums für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit durchgeführt. 2 Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch (München: Beck, 92011), 319–323. 3 Burton L. Visotzky, Golden Bells and Pomegranates: Studies in Midrash Leviticus Rabbah (TSAJ 94; Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), 99f.
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Ihre Darstellung im Midrasch vermittelt nicht nur Einblicke in die (positive/ negative) Wahrnehmung der Rabbinen, sondern zeigt auch den Prozess der „Rabbinisierung“,4 im Zuge dessen die biblischen Frauen ein anderes Profil erhielten und in Rollenmodelle verwandelt wurden, die rabbinischen Maßstäben entsprachen.5 Die in WaR erwähnten biblischen Charaktere wurden mit zusätzlichen guten oder schlechten Eigenschaften und in manchen Fällen auch mit neuen religiösen, ethnisch-tribalen und familiären Beziehungen ausgestattet. In diesen „Fiktionen“6 stilisierten die Rabbinen biblische Frauen als „das Andere“ im Unterschied zum „Normativen“, nämlich dem jüdischen Mann. Als Frauen wurden sie, um es mit Tal Ilan zu sagen, „Kategorien zugerechnet, die vom Normalen abweichen“.7 Und fremdländische Frauen füllten überdies die Position des „externen Anderen“ aus, weil sie womöglich auch im religiösen Sinne „anders“ waren.8 Die vorliegende Untersuchung wird daher zeigen, dass biblische Frauengestalten in WaR durch bestimmte Merkmale der Andersheit gekennzeichnet werden, insofern sich das Interesse der Rabbinen auf ihre Rollen als Frauen und auf die Beziehungen richtete, die sie sowohl in ihrer Herkunfts- als auch in ihrer Aufnahmefamilie zu ihren männlichen Verwandten geknüpft hatten. Aus diesem Blickwinkel lassen sich die Aussagen über die betreffenden Frauen nach dem jeweiligen Schwerpunkt klassifizieren: (1) familiäre Bindungen (einschließlich jene der mütterlichen Seite), (2) ihre Sexualität und (3) wenn es sich um Frauen aus der Fremde handelt, der Einfluss, den sie mittels unterschiedlicher Mechanismen auf das Volk Israel ausüben. 4
Laut Isaiah Gafni, „Rabbinic Historiography and Representations of the Past“, in The Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature (hg. v. Charlotte E. Fonrobert und Martin S. Jaffee; Cambridge Companions to Religion; Cambridge: Cambridge University Press, 2007), 295–312; 305, „die Darstellung früherer Gestalten oder Einrichtungen der jüdischen Geschichte […] nach dem Bild der rabbinischen Welt, in der die Gelehrten tätig waren.“ 5 Günter Stemberger, Das klassische Judentum: Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit (BSR 1904; München: Beck, 22009), 168. 6 Chaim Milikowsky, „Midrash as Fiction and Midrash as History: What Did the Rabbis Mean?“, in Ancient Fiction: The Matrix of Early Christian and Jewish Narrative (hg. v. Jo-Ann A. Brant, Charles W. Hedrick und Chris Shea; SBLSymS 32; Atlanta: SBL, 2005), 117–127. 7 Tal Ilan, „The Woman as ‚Other‘ in Rabbinic Literature“, in Jewish Identity in the Greco-Roman World (hg. v. Jörg Frey, Daniel R. Schwartz und Stephanie Gripentrog; AGJU 71; Leiden: Brill, 2007), 77–92; 78. 8 Wenn ich im vorliegenden Kontext von „internen Anderen“ als einem „spiegelverkehrten Bild der Rabbinen“ und „externen Anderen“ als einem „spiegelverkehrten Bild der Israeliten“ spreche, wende ich die Terminologie von Christine Hayes auf biblische Frauengestalten an. Vgl. Christine Hayes, „The ‚Other‘ in Rabbinic Literature“, in The Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature (hg. v. Charlotte E. Fonrobert und Martin S. Jaffee; Cambridge Companions to Religion; Cambridge: Cambridge University Press, 2007), 243–269; 243.246.
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Die Verweise und Überlieferungen, die biblische Frauengestalten betreffen, finden sich in ganz WaR in beiden Abschnitten, in die die Kapitel jeweils unterteilt sind: in den Petiḥta’ot (den „Proömien“) und in der Gufa (dem „Haupttext“).9 Jedes Kapitel bietet einen rabbinischen Kommentar zu einem Vers aus dem Buch Levitikus und verknüpft ihn mit weiteren Bibelversen, die meist aus den Schriften stammen und auf den ersten Blick scheinbar keinerlei thematische Berührungspunkte aufweisen. Der Vers (oder die Verse) aus Levitikus – das Lemma des betreffenden Kapitels – bildet den (in der Regel expliziten) Ausgangs- und Endpunkt für den Kommentar. Die Meinungen, Geschichten und anderen rabbinischen Materialien, die in diesem Auslegungsgeflecht integriert werden, lassen die Verbindung zwischen dem Levitikus-Vers und den anderen Versen erkennbar werden. Diese Auslegungen werden gelegentlich am Beispiel biblischer Frauengestalten veranschaulicht. Dabei beziehen sich die Anspielungen in aller Regel nicht direkt auf den Lemmavers (aus Levitikus),10 sondern auf das Thema, das in den anderen (durch andere Verse eingeführten oder beleuchteten)11 Interpretationskontexten – in denen die Haggada eine wichtige Rolle spielt12 – erörtert wird.
1.
Die Sichtbarkeit von Frauen in der biblischen Vergangenheit13
Wenn die Rabbinen in die biblische Vergangenheit blickten, stellten sie Frauen häufig in ihrer Abhängigkeit von einem oder von mehreren männlichen 9
10 11
12
13
Zur literarischen Struktur s. Stemberger, Einleitung, 321f. und zur Literatur ebd., 284; Visotzky, Golden Bells, 23–30; Ders., „The Misnomers ‚Petihah‘ and ‚Homiletic Midrash‘ as Descriptions for Leviticus Rabbah and Pesikta De-Rav Kahana“, JSQ 18 (2011): 19–31; 26–28. Einige wenige Beispiele, von denen weiter unten noch die Rede sein wird, beziehen sich direkt auf den Lemmavers/die Lemmaverse. Tal Ilan hat mich, nachdem sie einen Entwurf des vorliegenden Beitrags gelesen hatte, darauf aufmerksam gemacht, dass die beträchtliche Zahl von Verweisen auf biblische Frauengestalten in WaR insbesondere dann bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass das Buch Levitikus selbst nur sehr wenige weibliche Charaktere erwähnt. Zur Komplexität der Haggada im Hinblick auf die Anpassung biblischer Gestalten an die Parameter der jeweiligen rabbinischen Gegenwart vgl. Judith R. Baskin, Midrashic Women. Formations of the Feminine in Rabbinic Literature (Brandeis Series on Jewish Women; Hanover: Brandeis University Press, 2002), 5. Die Texte aus WaR basieren auf der Ausgabe von Margaliot. Die Handschriftensynopse von Chaim Milikowsky und Margarete Schlüter, Synoptic Edition of Wayyiqra Rabbah, online: https://www.biu.ac.il/JS/midrash/VR/ [zuletzt abgerufen am 21.7.2020], wird ebenfalls berücksichtigt.
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Charakteren oder bestenfalls in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit dar. Die Rabbinen banden ihr Schicksal, wie auch immer es sich gestaltete, grundsätzlich an das der Männer, mit denen sie in Beziehung standen. In der rabbinischen Literatur waren biblische Frauen Mütter, Töchter, Schwestern, Ehefrauen oder Liebhaberinnen, das heißt, um es mit Judith Baskin und in Anlehnung an Simone de Beauvoir zu sagen, im Verhältnis zum Mann das „andere Geschlecht“.14 Die Präsenz biblischer Frauen war also in der rabbinischen Aktualisierung der Geschichte Israels oft dadurch geprägt, dass man sie über ihre Beziehungen zu einem Mann definierte, der ihnen Sichtbarkeit verlieh.
1.1
Sichtbarkeit durch Verwandtschaft
Das vielleicht repräsentativste Beispiel einer durch eine familiäre Beziehung zu männlichen Charakteren bedingten weiblichen Sichtbarkeit im Midrasch ist Elischeba in WaR 20,2. Der Abschnitt findet sich in der letzten Auslegung zu Ps 75,5, die direkt zum Lemmavers des Kapitels (Lev 16,1) zurückführt: Elischeba, die Tochter Amminadabs (Ex 6,23), hatte keine Freude in meiner Welt und ihr wollt in meiner Welt Freude haben? Elischeba sah fünf Kronen an einem Tage: Ihr Schwager [Mose] war König, ihr Bruder [Nachschon] Prinz, ihr Mann [Aaron] Hohepriester, ihre beiden Söhne Stellvertreter des Hohepriesters, ihr Enkel Pinchas war ein zum Kriege Gesalbter. Als ihre Söhne [Nadab und Abihu] hineingingen, um zu opfern, wurden sie verbrannt und ihre Freude wurde in Trauer verwandelt. Das ist, was geschrieben steht: Nach dem Tod der beiden Söhne Aarons (Lev 16,1).15
In diesem Text findet Elischeba Beachtung, weil sie die Tochter Amminadabs (vom Stamm Juda), die Schwägerin des Mose, die Schwester Nachschons (eines „Fürsten“ vom Stamm Juda), die Ehefrau Aarons (des Hohepriesters), die Mutter von Nadab und Abihu (ihren beiden ältesten Söhnen, den Priestern, die starben, weil sie dem Herrn ein fremdes, nicht gebotenes Feuer dargebracht hatten) und die Großmutter des Pinchas (des Priesters und Sohnes Eleasars, eines ihrer beiden jüngeren Söhne) ist. Aus Sicht der Rabbinen hängen Elischebas sozialer Wert und ihre Stellung in der biblischen Vergangenheit vom Rang und von den Taten ihrer männlichen Verwandtschaft ab, und gleichzeitig benutzt der Midrasch ihre Gefühle („ihre Freude wurde in Trauer verwandelt“), um die emotionale Wirkung des Todes von Nadab und Abihu 14 Baskin, Midrashic Women, 2; vgl. auch 13. 15 Zu dieser Episode mit ihren Varianten und in unterschiedlichen Kontexten vgl. u. a. PesK 26,2; Tan Shemini 2 (TanB Shemini 3); Tan Aḥare 1 (TanB Aḥare 2); bZev 102a; QohR 2,2,2.
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zu veranschaulichen.16 Ihr Schicksal – ihre Freude und ihre Trauer – war nicht durch ihre Persönlichkeit, sondern durch ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu bedeutenden Gestalten bedingt, derentwegen die Nachwelt sie in Erinnerung behielt. Dass Frauen der biblischen Vergangenheit aufgrund ihrer Verbindung zu männlichen Charakteren Bedeutung beigemessen wird, zeigt sich auch in Fällen, in denen der Midrasch der Frauengestalt eher ambivalent begegnet. Eines der am häufigsten wiederkehrenden Beispiele ist das der Eva, die in WaR mehrfach, und zwar immer als Teil der Phrase „Adam und Eva“, erwähnt wird. In WaR 11,1 werden die beiden Gestalten sowohl im Hinblick auf ihre positive Charakterisierung und ihre privilegierte Stellung in der Schöpfung als auch im Hinblick auf ihre beiderseitige Sünde als gleichrangig dargestellt. Mit Bezug auf Spr 9,3f. werden beide als „Gottheiten“ ( )אלהותbezeichnet,17 und von beiden heißt es, dass sie auf die Schlange gehört und Gottes Gebot übertreten hätten. „Adam und Eva“ haben also denselben Rang und dieselbe Verantwortung. Andere Stellen betonen lediglich die negativen Folgen ihrer Taten. So erklärt WaR 12,1,18 dass „der Wein die Trennung von Adam und Eva bewirkt“ habe, weil Adam von dem Baum aß, der Rabbi Jehuda bar Ilai zufolge ein Weinstock war „mit giftigen Trauben und bitteren Beeren“ (Dtn 32,32), die „Bitterkeit in die Welt brachten.“19 In einem anderen Text, WaR 18,2, steht Eva für die Selbstzerstörung Adams, die an einer midraschischen Lesart von Hab 1,7 festgemacht wird: „Seine Gerechtigkeit und Untergang20 gehen von ihm selbst aus“. Die Existenz Evas, die die Rolle der Gefährtin spielt, hängt von der Existenz Adams ab, doch gleichzeitig ist sie die Ursache seines Untergangs: „Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen“ (Gen 3,12).21 An allen drei Stellen hängt das 16 Ich danke Tal Ilan für ihren diesbezüglichen Hinweis. 17 Vgl. u. a. tSan 8,9; ySan 4,13 (22c); bSan 38a. 18 Die Überlieferung erscheint in einer der Auslegungen zu Lev 10,9 („Weder Wein noch Bier dürft ihr, du und deine Söhne, trinken“ usw.) auf der Grundlage der mi draschischen Lesart von Spr 23,32: „Zuletzt beißt er wie eine Schlange; verspritzt Gift gleich einer Viper: wie die Viper zwischen Tod und Leben trennt ()מפריש, so hat auch der Wein zwischen Adam und Eva und dem Tod getrennt ()יפריש.“ 19 Zur Art des Baumes und der Meinung des erwähnten Rabbi vgl. BerR 15,7; PesK 20,6. Zum Weinkonsum im Kontext der Schöpfung vgl. BamR 10,4.8; bBer 40a; bSan 70a. 20 Der Midrasch liest „( ֵׁשאתUntergang“) statt „( ְׂש ֵאתWürde“) wie im masoretischen Text. 21 Demgegenüber sind anderen Überlieferungen zufolge beide gleich erschaffen worden; an den betreffenden Stellen (WaR 14,1; BerR 8,1) wird ein androgynes Wesen beschrieben; vgl. Lieve Teugels, „The Creation of the Human in Rabbinic Interpretation“, in The Creation of Man and Woman: Interpretations of the Biblical Narratives in Jewish and Christian Traditions (hg. v. Gerard P. Luttikhuizen; TBN 3; Leiden: Brill, 2000), 107–127; vgl. außerdem den Beitrag von Natalie Polzer, „Eva in Avot deRabbi Natan“, im vorliegenden Band.
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Interesse der Rabbinen an Eva mit dem Schicksal des männlichen Charakters zusammen, den sie begleitet und ergänzt.22 Eine weitere Paarung, die weibliche und männliche Gestalten zueinander in Beziehung setzt, ist die der Matriarchinnen (Sara, Rebekka und Lea/Rahel), die in WaR an allen Stellen nach den Patriarchen (Abraham, Isaak und Jakob) genannt werden.23 Von allen Nennungen biblischer Frauengestalten sind die Verweise auf die Matriarchinnen und insbesondere auf Sara im Midrasch die häufigsten.24 Doch weil sie als Gruppe wahrgenommen werden, haben sie einen Sonderstatus. Die Erzählungen betonen das Verdienst der Matriarchinnen, das direkt zu dem der Patriarchen in Beziehung gesetzt wird. So heißt es beispielsweise in WaR 21,11, dass das Leinen der priesterlichen Gewänder in Lev 16,4 wegen der vier Matriarchinnen viermal erwähnt wird, genauso wie die Opferung von drei Tieren (nach Lev 16,3.5) mit den drei Patriarchen in Verbindung gebracht wird. WaR 36,5 erwähnt die drei Vorkommen der Akkusativpartikel ( )אתin Gen 49,31, womit – genau wie in Lev 26,42 auf die Patriarchen25 – auf drei Matriarchinnen verwiesen werde.26 Der darauffolgende Abschnitt, WaR 36,6, zieht (genau wie die talmudische Parallelstelle ySan 10,1 [27d]) einen Vergleich zwischen den Verdiensten beider Gruppen, wobei die Patriarchen mit den (hohen) Bergen und die Matriarchinnen mit den (weniger hohen) Hügeln aus Jes 54,10 gleichgesetzt werden:27 Rabbi Judan bar Chanan sagte im Namen des Rabbi Berachja: Wenn du siehst, dass das Verdienst der Väter schwankt und das Verdienst der Mütter nachlässt, so geh und beschäftige dich mit Liebeswerken. Das ist, was geschrieben steht: Mögen auch die Berge weichen ( )ימושוund die Hügel wanken (Jes 54,10). Berge sind die Väter und Hügel sind die Mütter. Darauf folgt: meine Huld wird nicht von dir weichen (( )ימושJes 54,10).
Sogar in WaR 30,10, wo der Titel „Matriarchinnen“ nicht verwendet wird, werden diese Frauengestalten als eine Gruppe wahrgenommen, die mit den Patriarchen korreliert. Der Abschnitt bietet zwei parallele Interpretationen 22 An anderen Stellen wird Adam ohne Eva erwähnt: WaR 1,9; 2,7; 2,8–10 (in einigen Handschriften und der editio princeps); 10,5; 14,1; 20,2; 25,2; 27,4; 29,1.12. 23 Vgl. Sarit Kattan Gribetz, „Zekhut Imahot: Mothers, Fathers, and Ancestral Merit in Rabbinic Sources“, JSJ 49 (2018): 263–296. 24 Sara: WaR 2,1; 9,9; 16,1; 19,2; 20,2; 27,4; 31,9; 32,5; Rebekka: WaR 18,2; 23,1; 37,4; Lea und Rahel: WaR 37,1. 25 Vgl. Sifra Beḥuqqotai parasha 2, pereq 8,7. 26 Tatsächlich ist im Text nur von drei Matriarchinnen die Rede, wobei allerdings nicht klar ist, welche fehlt. Vielleicht deutet die unmittelbar darauffolgende Erwähnung von Saras Begräbnis darauf hin, dass es sich bei der fehlenden Matriarchin um Rahel handelt, die nicht in der Höhle Machpela begraben lag. Ich danke Ronit Nikolsky für ihren diesbezüglichen Hinweis. 27 Vgl. Gribetz, „Zekhut Imahot“, 271.
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der verschiedenen Syntagmen in Lev 23,40. Die erste Interpretation bezieht sie auf Abraham, Isaak, Jakob und (man beachte die Hinzufügung) Josef; und die zweite auf Sara, Rebekka, Lea und Rahel. Eine weitere biblische Frauengestalt, die in einigen Zusammenhängen als Teil einer Gruppe auftritt, ist Mirjam, die zu Mose und Aaron in Beziehung gesetzt wird. Eine thematische Analyse aller in WaR überlieferten Verweise auf Mirjam zeigt, dass die rabbinische Wahrnehmung dieses weiblichen Charakters variiert – je nachdem, ob der betreffende Text sie direkt mit ihren Brüdern in Verbindung bringt oder nicht. Wenn Mirjam für sich alleine steht, schildern die meisten Stellen sie als Beispiel für eine Person, die durch ihren Mund gesündigt hatte, deshalb mit Aussatz geschlagen wurde (WaR 16,1.5; 17,3) und von dieser Krankheit genas (WaR 15,8). Eine andere Erzählung, WaR 20,12, erklärt, weshalb die Schrift den Abschnitt über Mirjams Tod (Num 20) gleich im Anschluss an den Abschnitt über die rote Kuh (Num 19) überliefert: Beide haben mit Sühne zu tun.28 Diese Texte stellen Mirjam als negatives oder bestenfalls neutrales Rollenmodell dar. Zweimal jedoch tritt sie als Teil der Triade aus Mose, Aaron und Mirjam auf. Die erste dieser Stellen, WaR 27,6, kommentiert Mi 6,3 („Mein Volk, […] womit habe ich dich ermüdet?“). Im Nimschal (der Anwendung) des vorangegangenen Gleichnisses von den drei Boten, die von einem König in eine Stadt gesandt werden, macht Gott den Israeliten Vorwürfe und sagt ihnen, dass diese drei Boten keine Last, sondern ein Segen gewesen seien: „Das Manna kam [zu Israel] wegen des Verdienstes Moses, der Brunnen wegen des Verdienstes Mirjams, das Herrlichkeitsgewölk wegen des Verdienstes Aarons.“29 Im zweiten Text, WaR 31,4 (ebenfalls ein Nimschal zu einem weiteren Gleichnis über einen König, der jedes Mal, wenn er an einen bestimmten Ort kommt, an den Schaden denken muss, den sein Sohn bei einem Unfall erlitten hat), erinnert sich Gott dreimal in seiner Tora an die Wasser von Meriba: „Hier habe ich Mose, hier Aaron und hier Mirjam um das Leben gebracht“ (vgl. Num 20,13; 27,14; Dtn 32,51). In diesen beiden abschließenden Passagen bilden die drei Gestalten eine Gruppe, die ein ähnliches Schicksal erleidet, und stellen eine dreiseitige Abhängigkeitsbeziehung her, innerhalb deren Mirjam ihre Rolle in der biblischen Vergangenheit als Schlüsselfigur in diesem Geschwistertrio spielt, das sich in der gleichen Situation befindet.
28 In WaR 22,4 findet sich auch ein Verweis auf den „Brunnen der Mirjam“. 29 Vgl. u. a. BamR 1,2; 13,20; ShirR 4,5,2; bTaan 9a. Die Assoziation zwischen den drei Gestalten und den drei Wohltaten für Israel findet sich auch in früheren Quellen (z. B. tSot 11,8). Tal Ilan zufolge ist die Überlieferung vom Brunnen der Mirjam älter als die beiden anderen: Tal Ilan, „Biblische Frauen in Schrift und Tradition in jüdischer Perspektive“, in Geschlechtergerechtigkeit: Herausforderung der Religionen: VII. Internationales Rudolf-Otto-Symposion, Marburg (hg. v. Christoph Elsas, Edith Franke und Angela Standhartinger; Berlin: EB-Verlag, 2014), 143–156; 151–153.
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Mutter sein, Frau werden
Eine Facette biblischer Frauengestalten, die die rabbinische Literatur häufig in den Blick nimmt, ist die Mutterschaft, die oft mit dem Thema der weiblichen Fruchtbarkeit/Unfruchtbarkeit einhergeht. Aus Sicht der Rabbinen sicherte das Gebären bestimmten Frauen einen Platz in der Geschichte Israels, weil sie Personen oder Generationen hervorgebracht hatten, die aus dem einen oder anderen Grund herausragten. In solchen Fällen boten die Gelehrten Interpretationen an, die unangenehme Situationen in der biblischen Erzählung erklärten und auflösten. Das Motiv der durch göttliches Eingreifen überwundenen Unfruchtbarkeit ist schon im biblischen Text selbst weit entwickelt, und die Matriarchinnen dienen als repräsentative Fallbeispiele (Gen 18; 25; 30). Die Rabbinen waren bestrebt, den Topos unfruchtbarer Frauen, die später schwanger werden, zu erklären und in ihren Interpretationen Verse miteinander in Einklang zu bringen, die unterschiedliche Erklärungen für das Ausbleiben von Kindern anbieten. Beispiele hierfür finden sich in WaR 9,9 im Hinblick auf Sara und die Frau des Manoach.30 Der letzte Abschnitt in Kapitel 9 kombiniert eine Reihe von Überlieferungen über Frieden31 mit drei Äußerungen, die dem Gelehrten Bar Qappara zugeschrieben werden. Zwei dieser drei Äußerungen beziehen sich auf unfruchtbare Frauen: Bar Qappara sagte: Groß ist der Friede, denn um den Frieden zwischen Abraham und Sara zu erhalten, sprechen die Schriften Irreführendes in der Tora. Das ist, was geschrieben steht: Ich bin doch schon alt und verbraucht und soll noch Liebeslust erfahren? Auch ist mein Herr doch schon ein alter Mann! (Gen 18,12), aber zu Abraham hat er nicht so gesagt, sondern: und ich bin alt (Gen 18,13). Bar Qappara hat [ferner] gesagt: Groß ist der Friede, denn um den Frieden zwischen Mann und Frau herzustellen, sprechen die Schriften Irreführendes in den Propheten: Siehe, du bist unfruchtbar und hast nicht geboren; aber du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären (Ri 13,3). Aber zu Manoach hat er gesagt: Die Frau soll sich vor all dem hüten, was ich ihr gesagt habe (Ri 13,13). Jedenfalls benötigt sie Medikamente.32
Bar Qappara war sich der Tatsache bewusst, dass die Aussagen der biblischen Erzählung über die Unfruchtbarkeit sowohl Saras als auch der Frau Manoachs 30 Zum Thema dieses Abschnitts s. u. a. SifBam 42; BerR 48,18; BamR 11,7; bYev 65b; Tan Tsaw 7 (TanB Tsaw 10). 31 Vgl. Miguel Pérez Fernández, „Shalom: El modelo rabínico de la paz“, in Cosmovisiones de Paz en el Mediterráneo Antiguo y Medieval (hg. v. Francisco Muñoz und Beatriz Molina Rueda; Granada: Editorial Universidad de Granada, 1988), 63–122. 32 In anderen Worten: Sie ist nicht unfruchtbar, aber braucht Hilfe um zeugen zu können.
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widersprüchlich sind, und er erklärte, dass die Schrift um des innerfamiliären Friedens willen sogar „Irreführendes“ spreche. Doch was genau ist an den Worten über Abraham oder Sara, über Manoach oder seine Frau irreführend? Auch wenn anerkannt wird, dass der Text – je nachdem, ob sich die Worte an die Frau oder an den Mann richten – unterschiedlich ist, ist der Kindermangel durch die Situation der Frau bedingt. Folglich betrifft der Widerspruch nicht die Frage, wer unfruchtbar ist; vielmehr nimmt die Schrift Bar Qappara zufolge Rücksicht auf die Reaktion des Mannes und der Frau. Sie sagt der Frau, dass sie unfruchtbar ist, dem Mann aber sagt sie nur, dass seine Frau schwanger werden wird. Mit anderen Worten: Der Mann sollte besser nicht wissen, an wem es liegt, und die Frau sollte es wissen. So oder so aber muss die Frau nach Ansicht der Rabbinen die Erfahrung der Mutterschaft machen, um ihren geziemenden Platz an der Seite ihres Mannes zu finden. Das andere Extrem sind die Frauen der Generation der Flut mit ihrer erstaunlichen Fruchtbarkeit. Wayiqra Rabba enthält mehrere Erzählungen über die Generation vor der Sintflut, die (im Gegensatz zu der nüchternen biblischen Darstellung, die nur von Noach handelt) ergänzende Informationen über ihre Vorzüge und ihre Fehler liefern.33 Die bemerkenswerteste dieser Stellen, WaR 5,1, ist ganz und gar darauf fokussiert, Ijob 34,29 zu erklären und auf die Generation der Flut anzuwenden.34 Der Text erörtert die Zeiten der Fülle, die Gott der Menschheit vor der Flut gewährte: einem Geschlecht, das (gemäß der Lesart von Ijob 21,8) ganze Generationen von Nachkommen heranwachsen sah. Rabbi Levi und die Rabbinen führen diesen Umstand auf die Fruchtbarkeit der Frauen zurück:35 Eine andere Auslegung: Hält er [Gott] sich still, wer spricht ihn schuldig? (Ijob 34,29): er gewährt der Generation der Flut Ruhe, wer kommt und erklärt es für schuldig? Welche Ruhe gab er ihnen? Ihre Nachkommen stehen fest ()נכון vor ihnen, ihre Sprösslinge vor ihren Augen (Ijob 21,8). Rabbi Levi und die Rabbinen [sind unterschiedlicher Ansicht]. Rabbi Levi sagte: In drei Tagen wurde schon eine Frau von ihnen schwanger und gebar. Es heißt hier: stehen fest ( )נכוןund dort heißt es: Haltet euch für den dritten Tag bereit (( !)נכוניםEx 19,5) So wie das Wort נכוןhier von drei Tagen [gilt], so [gilt] es auch dort von drei Tagen. Die Rabbinen sagen: Eine Frau wurde schon an einem Tag schwanger und gebar. Es heißt hier stehen fest ( )נכוןund dort heißt es: Halte dich für morgen früh bereit (( !)נכוןEx 34,2) So wie das Wort נכוןhier von einem Tag [gilt], so [gilt] es auch hier von einem Tag. 33 WaR 4,1; 5,1; 7,6; 10,1; 11,7; 12,5; 22,3; 23,3.9; 27,1.5. 34 Vgl. BerR 36,1. 35 Lorena Miralles-Maciá, „La generación del diluvio según la descripción del Midrás Levítico Rabbá“, Sef 67 (2007): 283–309; 297–300.
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Der Midrasch enthält noch eine weitere Überlieferung über Kinder und Frauen in diesen fruchtbaren mythischen Zeiten, die die Stärke beider Gruppen nach der Geburt hervorhebt. Diese Überlieferung entspricht anderen Texten über die außerordentliche Konstitution der damaligen Menschen.36 Von ihren Neugeborenen heißt es, dass sie „tanzen“ (Ijob 21,11) wie „Dämonen“, und über ihre Frauen schreibt der Text: Wenn eine Frau von ihnen am Tage niedergekommen war, sprach sie zu ihrem Sohn: Gehe und bringe mir ein scharfes Felsstück, ich will deine Nabelschnur abschneiden. War sie des Nachts niedergekommen, da sagte sie zu ihrem Sohne: Geh und zünde mir das Licht an, ich will dir die Nabelschnur abschneiden.
Auch wenn Sara und die Frau des Manoach einerseits und die vorsintflutliche Generation andererseits aus rabbinischer Sicht an den entgegengesetzten Enden der Skala stehen, ist es ihr Fortpflanzungspotential, das sie in ihrer weiblichen Andersheit kennzeichnet. Ihre weibliche Natur beruht wesentlich darauf, dass sie Mütter sind.
2.
Weibliche Sexualität aus der Perspektive des Midrasch
Ein weiterer Aspekt biblischer Frauengestalten, der die Aufmerksamkeit der Rabbinen auf sich zog, ist die Sexualität (im Sinne sowohl der physiologischen Merkmale, die den Unterschied zwischen den Geschlechtern ausmachen, als auch der mit diesem Unterschied verbundenen Verhaltensmuster). Die Gelehrten nehmen in manchen ihrer Auslegungen darauf Bezug und heben in dieser Hinsicht entweder das – lobens- oder tadelnswerte – Verhalten weiblicher biblischer Charaktere oder ihre Beziehung zu den männlichen Figuren hervor. Auch Wayiqra Rabba wirft Fragen zu diesem Thema auf und stellt Frauen bald als aktive Handlungsträgerinnen und bald als passive Subjekte dar.
2.1
Begehrte Frauen und selbstbeherrschte Männer
Einige Texte heben das Verdienst einer prominenten Gestalt aus der biblischen Vergangenheit hervor, weil der betreffende Charakter in einer be36 So werden z. B. in WaR 12,5 die Mitglieder der Generation vor der Sintflut mit „Königen“ verglichen.
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stimmten Situation auf den Geschlechtsverkehr mit einer Frau verzichtete.37 In solchen Fällen richtet sich das Interesse der Rabbinen auf die Reaktion der betreffenden Männer und ihre Gesetzestreue, während die Frau, die das Objekt des männlichen Begehrens ist, im Hintergrund bleibt. Einige dieser Beispiele behandeln Szenen, die im biblischen Text beschrieben oder zumindest angedeutet werden, andere sind haggadische Schöpfungen. Zu den berühmtesten Episoden in der Geschichte der biblischen Überlieferung zählt die Begebenheit mit der Frau des Potifar und Josef (Gen 39), der dem Midrasch zufolge dafür belohnt wurde, dass er sie zurückwies (WaR 23,9–11).38 Derselbe hermeneutische Kontext beinhaltet auch die Fälle von Lajischs Sohn Palti, auch unter dem Namen Paltiel bekannt, und Davids Frau Michal (WaR 23,9f.)39 sowie von Boas und Rut (WaR 23,11).40 In WaR 23,11 zählt Rabbi Jose Josef und Boas (gemeinsam mit König David) zu den drei Männern, die ein Gelübde ablegen mussten, um ihr Begehren zu zügeln.41 Ein weiteres Beispiel gezügelten Begehrens ist König Jojachin von Juda, der dem Midrasch zufolge belohnt wurde, weil er auf den Geschlechtsverkehr mit einer menstruierenden Frau verzichtet hatte (WaR 19,6 zu Lev 15,25). Die Episode beschreibt, wie Jojachin als Gefangener Nebukadnezars im Gefängnis die Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr mit seiner eigenen Frau erhält. Der Midrasch erzählt, dass Jojachin, als seine Frau zu ihm kam, das Verbot, mit einer Nidda (einer menstruierenden Frau) zu verkehren, befolgte und sich, als sie erwähnte, dass sie einen Fleck „wie eine rote Rose“ gesehen habe, mindestens zweimal von ihr fernhielt. Erst als er sicher sein konnte, dass sie keine Nidda mehr war, hatte er Verkehr mit seiner Frau und wurde mit der Geburt seines Sohnes Schealtiël belohnt (1 Chr 3,17). Das Bild dieser Frau steht im Kontrast zu dem der Frau des Nebukadnezar, die, wie weiter unten noch erörtert werden wird (s. 3.2), in derselben Episode eine aktive Rolle spielt. Erwähnung verdient im vorliegenden Kontext auch „der Fall der Schunemiterin“ in WaR 24,6, anhand dessen erklärt wird, weshalb der Abschnitt über die Regelung verbotener sexueller Beziehungen (Lev 18) unmittelbar vor dem Abschnitt über die Heiligkeit (Lev 19) zu finden ist. Die Worte von Rabbi Jehuda ben Pazzi bringen den Zusammenhang auf den Punkt: „Wer sich selbst von der Unzucht abzäunt ()גודר עצמו מן הערוה, heißt ein Heiliger.“ Als Bei37 Ein Beispiel für das Gegenteil ist König Jojachin, der sexuelle Beziehungen zu den Frauen in seiner Familie verboten hatte (WaR 19,6). 38 In WaR 32,5 heißt es: „Josef kam nach Ägypten hinab und zäunte sich von der Unzucht ab.“ 39 Laut Midrasch zeugte Gott für Palti, dass er Michal nicht berührt hatte, während er mit ihr verheiratet war, und fügte seinem Namen deshalb das göttliche Epitheton hinzu: Palti in 1 Sam 25,44 und Paltiel (Palti + El) in 2 Sam 3,15; vgl. bSan 19b. 40 Vgl. SifDev 33. 41 Zu dieser Art von Gelübde vgl. SifBam 88; BamR 15,16; Tan Beha‘alotkha 10; TanB Bo 16.
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spiel führt er die Episode von der Schunemiterin, dem Propheten Elischa, der sie von Zeit zu Zeit besuchte (2 Kön 4), und dessen Diener Gehasi an:42 Rabbi Jehoschua von Sikhnin im Namen von Rabbi Levi beweist es anhand [der Episode von] der Schunemiterin. Das ist, was geschrieben steht: Sie aber sagte zu ihrem Mann: Ich weiß, dass dieser Mann, der ständig bei uns vorbeikommt, ein heiliger Gottesmann ist (2 Kön 4,9). Rabbi Jona sagte: Er ist ein Heiliger, aber seine Diener sind nicht heilig. Das ist, was geschrieben steht: Gehasi trat hinzu, um sie wegzudrängen (2 Kön 4,27). Rabbi Jose ben Rabbi Chanina sagte: Er stieß ( )הדפהan den Glanz ihrer Schönheit ()הוד יופיה, an ihre Brüste. Rabbi Abin sagte: Das [2 Kön 4,9] lehrt, dass er [Elischa] sie sein Lebtag nie angeblickt hat. Die Rabbinen sagten: Weil sie nie Spuren von Samenerguss auf seinem Leintuch sah.
Die Interpretation von 2 Kön 4,9 lobt Elischas mangelndes sexuelles Interesse an der Schunemiterin als Beweis für seine Heiligkeit und stellt dieser das unmoralische Verhalten seines Dieners Gehasi gegenüber, der, so die mi draschische Auslegung von 2 Kön 4,27, die Frau begehrt habe. Der Midrasch unterstellt Gehasi also ein ungeziemendes sexuelles Verhalten und verschärft auf diese Weise seinen ohnehin schon schlechten Ruf.43 Der Schunemiterin ihrerseits werden physische Eigenschaften zugeschrieben, die im biblischen Text nicht vorkommen und deren Anziehungskraft Elischas asexuelle Reaktion umso erstaunlicher wirken lassen. Das Hauptaugenmerk der Rabbinen liegt also in den erwähnten Passagen nicht auf den Frauen, sondern auf den männlichen Gestalten, die sich lieber an das Gesetz halten, als ihren Trieben freien Lauf zu lassen. Aus dieser Perspektive erscheinen die Frauen als passive Subjekte, die die moralische Stärke der Männer auf die Probe stellen.
2.2
Vorbildliches weibliches Verhalten
Einige Erzählungen lenken die Aufmerksamkeit auf das vorbildliche Verhalten biblischer Frauen, die sich der rabbinischen Interpretation zufolge in bestimmten Situationen für die Keuschheit oder gegen sexuelle Beziehungen entschieden haben. Deshalb unterstreichen die Gelehrten die Vertrauenswürdigkeit dieser Frauen, die sich an das jüdische Gesetz halten oder ein göttliches Gebot beachten. So sind Sara und die Frauen der Wüstengeneration
42 Diese Episode und ihre Varianten finden sich in yYev 2,4 (3d); ySan 10,2 (29b); bBer 10b; PRE 33. 43 In der Bibel haben ihn seine Habgier und sein Ungehorsam gegenüber dem Propheten in Verruf gebracht (2 Kön 5,20–27).
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Rollenvorbilder, und ein Rollenvorbild ist auch Jaël, von der unter Punkt 3.2 noch die Rede sein wird. In dem Kapitel zu Lev 24,10f. („[…] Sohn einer Israelitin und eines Ägypters […]“) bezieht WaR 32,5 Hld 4,12f. („ein verschlossener Garten […] an deinen Wasserrinnen […]“) auf das Volk Israel (Frauen, Männer und ihre Nachkommen). Verschiedene Deutungen dieser Verse sollen belegen, dass sich die Israeliten in Ägypten von sexuell unziemlichen Verhaltensweisen abgezäunt haben. Sie haben sich ihre Befreiung verdient, weil sie es vermieden haben, mit den Ägyptern zusammenzuleben. Unter den verschiedenen Auffassungen findet sich auch die von Rav Huna im Namen des Rabbi Chijja bar Abba getroffene Aussage, die in diesem Kontext auf Sara Bezug nimmt:44 Sara zog hinab nach Ägypten und zäunte sich von der Unzucht ab (וגדרה עצמה ]…[ )מן הערוה,45 und durch diese ihre verdienstliche Handlung zäunten sich auch alle anderen Frauen von der Unzucht ab.
Hier erscheint Sara als aktive Verkörperung des weiblichen Rollenmodells schlechthin – genau wie der gleich nach ihr erwähnte Josef als Vorbild für die Männer dient. Ein anderer Fall beispielhaften Verhaltens betrifft die Frauen der Wüstengeneration und wird in WaR 2,1 (zu Lev 1,2) erwähnt. Mit Blick auf die Erfolgsquote der Männer, die sich dem Torastudium widmen, wird Koh 7,28 als Beleg angeführt: „Unter Tausenden46 habe ich nur einen einzigen Menschen gefunden, eine Frau habe ich unter ihnen allen nicht gefunden.“ Im vorliegenden Kontext wird der erste Teil des Verses jeweils auf einen Mann, der aufgrund seiner Gerechtigkeit/Weisheit als herausragend gilt, und der zweite Teil auf eine Frauengestalt angewendet (Abraham und Sara, Amram und Jochebed, Mose und die Frauen der Wüstengeneration)47 und betont, dass nicht einmal diese Ausnahmefrauen in die Quote miteingerechnet werden können. Rabbi (Jehuda ha-Nasi) jedoch fügt ein Detail hinzu, das die Frauen der Wüstengeneration betrifft:
44 Zu Saras Zeit in Ägypten s. Gen 12,10–20. Parallelstellen sind PesK 11,6; ShirR 4,12,1. Zur Befreiung Israels aus Ägypten aufgrund ihrer Taten s. u. a. BamR 3,6; 20,22; TanB Balaq 25. 45 Das Verb גדרbedeutet „einpferchen, abzäunen“ im Sinne einer Schutzmaßnahme. Wer sich fernhält („sich abzäunt“), macht es sich nicht zur Gewohnheit, verbotene sexuelle Beziehungen einzugehen; vgl. WaR 24,6 und die diesbezügliche Diskussion weiter oben unter Punkt 2.1. 46 מאלףkann als me-elef („unter Tausend“, so der masoretische Text) und als me’allef („der lehrt“) gelesen werden: „Einer unter Tausend“ ist „einer, der lehren kann“, weil er alles erfolgreich studiert hat. 47 Ebenso in der Parallelstelle zu QohR 7,28,1.
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Die Frauen der Wüstengeneration waren fromm […].48 Als sie hörten, dass sie ihren Männern verboten sein sollten, verschlossen sie sofort ihre Türen.
Es waren die Frauen der Wüstengeneration, die am Berg Sinai die Tora empfing (vgl. WaR 13,2), die ihren Männern aus dem Weg gingen, solange diesen der Geschlechtsverkehr verboten war, wie Rabbi Jehuda ha-Nasi metaphorisch erklärt: Sie „verschlossen […] ihre Türen“. Auch wenn der Text dies nicht ausdrücklich sagt, bezieht sich der Midrasch hier wahrscheinlich auf Ex 19,15: „Haltet euch für den dritten Tag bereit! Berührt keine Frau!“ – das war die Bedingung, die die Israeliten erfüllen mussten, um das Gesetz entgegennehmen zu können (Ex 19).49 Genau wie Sara leisten auch diese Frauen einen aktiven Beitrag zur sexuellen Enthaltsamkeit und erfüllen damit ein göttliches Gebot.
2.3
Verwerfliche Frauen
Wayiqra Rabba lenkt die Aufmerksamkeit auch auf biblische Frauengestalten, die sich auf verbotene sexuelle Beziehungen eingelassen haben, und stellt sie als Negativbeispiele weiblichen Verhaltens dar. Die midraschische Darstellung macht sie – wie im Fall von Schelomit (s. Lev 24,11) und Dina (s. Gen 34) – für unselige Beziehungen verantwortlich. Das Ende des Abschnitts in WaR 32,5, einem Passus über die Situation der Israeliten in Ägypten (s. o. Punkt 2.2), listet die Gründe ihrer Befreiung auf. Einer dieser Gründe ist die Tatsache, dass sie sich kein sexuell unmoralisches Verhalten zuschulden kommen ließen – mit einer Ausnahme: In Lev 24,11 heißt es: „Der Name der Mutter war Schelomit; sie war die Tochter Dibris aus dem Stamm Dan.“ Die Rabbinen interpretieren dies so, dass sie hemmungslos jeden grüßte (und damit die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zog): Schelomit (Lev 24:11): Rabbi Levi sagte: Weil sie immer plapperte: Friede (Schalom) dir! Friede euch!, Friede euch!, Bat Dibri (ebd.): Rabbi Isaak sagte: Sie hatte eine Pest (deber) über ihren Sohn Dan gebracht. Aus dem Stamm Dan
48 כשירות, hier möglicherweise in der Bedeutung „würdig, tapfer“ oder auch „ehrbar, züchtig“, d. h. sie wussten, wie sie sich davor bewahren könnten. 49 Vielleicht ist dies auch der Tatsache geschuldet, dass sie den Passus über verbotene sexuelle Beziehungen in Lev 18 gehört hatten (vgl. ed. Margaliot, 36, Anm.). Andere Versionen stellen einen Zusammenhang mit der Episode vom Goldenen Kalb her; demnach hätten die Frauen sich geweigert, ihren Schmuck einschmelzen zu lassen (vgl. Ex 32,2), weil sie hofften, dass sie ihre Ehemänner auf diese Weise davor würden bewahren können, in Götzendienerei zu verfallen (ShirR 4,9,1; 6,4,1; s. auch PRE 45).
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(ebd.): Es war Schande für seine Mutter, Schande für ihn [ihren Sohn], Schande für ihre Familie und Schande für den Stamm, aus dem sie hervorgegangen war.50
Schelomit ergriff also diesem Midrasch zufolge die Initiative, das heißt, sie nahm von sich aus Kontakt zu (ägyptischen) Männern auf und brachte schließlich einen ägyptischen Sohn zur Welt. Bei Dina dagegen liegt der Fall anders. Sie wird in dem gesamten Werk nur zweimal erwähnt,51 und eine der beiden Stellen bringt ihr Verhalten direkt mit den Taten ihres Vaters Jakob in Verbindung. Die betreffende Darstellung findet sich in WaR 37,1 (zu Lev 27,2) als Kommentar zu Koh 5,4: „Es ist besser, wenn du nichts gelobst, als wenn du etwas gelobst und nicht erfüllst.“ In diesem Kontext erklärt Rabbi Samuel bar Nachman, es führe zu Götzendienerei, sexueller Unsittlichkeit und Blutvergießen (den drei Hauptsünden nach der Lehre des rabbinischen Judentums), wenn man die Erfüllung eines Gelübdes aufschiebt, statt es in der gebotenen Frist einzulösen. Diese Aussage erläutert er sodann am Beispiel Jakobs (mit Bezug auf Gen 38,2; 34,1f.25). Die sexuelle Unsittlichkeit, die Jakob verursacht, wird von zwei Versen abgeleitet: „Dina […] ging aus“ und „Sichem, der Sohn des Hiwiters Hamor […], erblickte sie“ (Gen 34,1f.).52 Obwohl die Bibelstelle nur zitiert und nicht weiter interpretiert wird, suggeriert die Kombination der Verse, dass Dina durch ihr „Ausgehen“ eine aktive Rolle gespielt und sich Sichems Blicken ausgesetzt habe.53 Auch wenn die letzte Verantwortung bei Jakob liegt, der die Erfüllung seines Gelübdes aufgeschoben hat,54 ist deshalb Dina diejenige, die sich durch ihr Verhalten in unzulässige sexuelle Praktiken verstrickt.
3.
Die Rolle der Fremden
Die in Wayiqra Rabba erwähnten biblischen Frauengestalten, die mit ihrem Verhalten und ihren Beziehungen als Schnittstelle zwischen dem Volk Israel und anderen Nationen fungierten, verdienen einen eigenen Abschnitt. Der 50 S. auch Sifra ’Emor parasha 14, pereq 18,4; Tan Wa-yaqhel 4 (TanB Wa-yaqhel 3); ShemR 1,28; 48,2. 51 In WaR 14,8, wo Gen 46,15 zitiert wird (einer der Verse, die die Behauptung stützen, ein Mädchen komme aus dem Samen des Mannes), und in WaR 37,1. 52 S. auch QohR 5,4,1; Tan Wa-yishlaḥ 8 (TanB Wa-yishlaḥ 20). 53 Eine explizite Lesart von „ging aus“ findet sich in BerR 80,1 (in Bezug auf Leas Bestrafung). Einige Überlieferungen machen Dina ganz offen dafür verantwortlich, dass sie sich öffentlich gezeigt hat, z. B. BerR 8,12. Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Devora Steinmetz, „Vor der Geburt vertauscht: Dina und Josef in der Bibel und im Midrasch“. 54 Jakob hatte versprochen, in Bet-El einen Stein aufzustellen (Gen 28,22), erfüllte dieses Versprechen jedoch erst sehr viel später (Gen 35,7).
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Midrasch behandelt den Fall einer Jüdin (Ester), die sich auf ein sexuelles Verhältnis mit einem Nichtjuden einlässt, und (aus verschiedenen Blickwinkeln) mehrere Fälle fremder Frauen, die dasselbe mit israelitischen Männern tun. Gemeinsam ist all diesen Frauen in den rabbinischen Darstellungen, dass sie aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Verhaltens bedeutende Gestalten waren und einen Wendepunkt in der biblischen Geschichte markierten. Deshalb kommen neben den Merkmalen der Andersheit, die sie oft gegen die Männer abgrenzen, weitere Aspekte ins Spiel, die die Frage ihrer Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zum Volk Israel betreffen. Ausgehend von diesen besonderen Merkmalen gaben ihnen die Rabbinen (positive oder negative) Rollen, die die normativen Grenzen ihres weiblichen Handlungsspielraums sprengten, und schrieben ihnen sogar größeren Einfluss zu als die zugrundeliegende biblische Erzählung.
3.1
Jüdin unter Nichtjuden: Ester
Auch wenn weiter oben bereits von Sara in Ägypten die Rede war (WaR 32,5; s. o. Punkt 2.2), ist Ester, die nach ihrer Hochzeit mit Ahasveros Königin des Perserreiches wurde, vermutlich das repräsentativste Beispiel einer mit einem Nichtjuden verheirateten jüdischen Frau. Wie bewerteten die Rabbinen diese Verbindung? Die Überlieferungen heben nicht nur die Rolle hervor, die Ester bei der Rettung ihres Volkes (oder bei der Rettung von Mordechais Leben) oder bei der Vernichtung Hamans spielt, sondern betonen auch ihre jüdische Herkunft. Die Verweise in Wayiqra Rabba sind hierfür ein gutes Beispiel. Dieser Midrasch erwähnt Ester an mehreren Stellen (WaR 13,5; 26,8; 28,4.6). WaR 28,4 benennt „Mordechai, Ester und alle ihre Anhänger“ als diejenigen, die Hamans Untergang herbeigeführt haben. WaR 28,6 erwähnt Ester im Rahmen einer Episode, in der erzählt wird, wie Mordechai, der Protagonist einer relativ langen Haggada, Haman schlau hinters Licht führt, um nicht mit ihm gehen zu müssen. In diesem Zusammenhang wird zweimal auf Ester Bezug genommen: das eine Mal, als sie die Badeanstalten schließen lässt, damit Mordechai sich nicht waschen kann, um Haman zu begleiten,55 und das zweite Mal am Ende der Geschichte, als sie Mordechais Erfolg wiederholt, indem sie Ps 30,9f. intoniert. Zwei weitere Darstellungen (WaR 13,5; 26,8) befassen sich mit der Frage nach Esters Herkunft. WaR 26,8 erklärt mit Bezug auf Lev 21,1 („Sag zu den Priestern […] und sag zu ihnen […]“), dass jede Stelle, an der das Verb „sagen“ zweimal vorkommt, der Erläuterung bedarf. Um dies zu veranschaulichen, werden mehrere Verse diskutiert, in denen das betreffende Phänomen auftritt – darunter auch Est 7,5: 55 Vgl. zu dieser Szene auch EstR 10,4; bMeg 16a; PRE 50.
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Da sagte König Ahasveros und sagte zu Königin Ester (Est 7,5). Was bedeutet zweimal „sagte“ ( )ויאמרund „sagte“ ( ?)ויאמרRabbi [Jehuda ha-Nasi] im Namen von Rabbi Eleazar sagt: So lange er nicht erkannte, dass sie Jüdin war, sprach er direkt zu ihr. Als er darauf gekommen war, dass sie Jüdin war, sprach er zu ihr durch einen Dolmetscher. Da sagte der König zum Dolmetscher und sagte der Dolmetscher zu Königin Ester.56
Dass König Ahasveros Ester in der rabbinischen Lesart dieses Verses als Jüdin erkennt, weist auf einen erheblichen kulturellen Unterschied zwischen den beiden Personen hin – mit allem, was das bedeutet. Die andere Episode, WaR 13,5, misst diesen Unterschied überdies qualitativ und liefert weitere Informationen darüber, wie die Rabbinen diese Verbindung bewerteten. In dem Text werden verschiedene Tiere mit „den Reichen“ identifiziert, die „Mose vorhersah“. Ein Teil der Diskussion betrifft die „Bergmaus“ aus Dtn 14,7 (mit Bezug auf Lev 11,5), die Medien symbolisiert, und in diesem Zusammenhang wird auf die außergewöhnliche Natur des Falls der Ester hingewiesen: Die Bergmaus (Dtn 14,7), [das bedeutet] Medien.57 Die Rabbinen und Rabbi Jehuda bar Rabbi Simeon [sind unterschiedlicher Ansicht]. Die Rabbinen sagen: Wie die Bergmaus Zeichen von Unreinheit und Zeichen von Reinheit an sich hat, so hat auch das medische Reich einen gerechten und einen frevlerischen Teil hervorgebracht.58 Rabbi Jehuda bar Rabbi Simeon sagte: Der zweite Darius, der Sohn Esters, war rein mütterlicherseits und unrein väterlicherseits.59
Genau wie der Klippdachs als Wiederkäuer rein und als Nichtpaarhufer gleichzeitig unrein ist (Lev 11,5), ist auch Darius als Sohn einer jüdischen Mutter (nämlich Esters) und eines persischen Vaters (nämlich des Ahasveros) zugleich rein und unrein. Die Gesetzesauslegung der Rabbinen60 stellt mithin seine Herkunft mütterlicherseits über das Königtum seines Vaters.61
56 S. auch EkhaR 1,41. Im Gegensatz dazu schlägt bMeg 16a die Deutung vor, dass er zunächst durch einen Dolmetscher mit ihr geredet und sie dann, nachdem er erfahren hatte, dass Ester königlicher Abkunft war, direkt angesprochen habe: „Königin Ester“ (aus dem Hause Sauls). Diese Deutung stimmt mit der Editio princeps von Wayiqra Rabba überein. Tal Ilan hat mich darauf hingewiesen, dass diese Ausgabe vermutlich durch den maßgeblichen Babylonischen Talmud beeinflusst worden ist. 57 Vgl. Tan Shemini 8 (TanB Shemini 14). 58 Entweder Mordechai und Haman oder vielleicht Darius (= Kyros; Dan 6,1; 11,1) und Haman. 59 Dieselbe Aussage findet sich in EstR 8,3. 60 Zu dieser Frage vgl. Shaye J. D. Cohen, „The Origins of the Matrilineal Principle in Rabbinic Law“, AJSR 10 (1985): 19–53; 35.52. 61 S. WaR 32,3 zu dem Recht, das das väterliche gegenüber dem mütterlichen Haus verleiht.
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3.2
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Nichtjüdinnen im Dienst der biblischen Vergangenheit
Aus Sicht der Gelehrten spielten einige fremde Frauen in der biblischen Vergangenheit insofern eine entscheidende Rolle, als ihre Beteiligung an bestimmten Situationen für das jüdische Volk einen günstigen oder für seine Feinde einen ungünstigen Ausgang markierte. In den Augen der Rabbinen erfüllten diese Frauen einen göttlichen oder menschlichen Zweck, ohne dass ihre Taten eine Zugehörigkeit zu Israel oder eine Abkehr von ihren eigenen Glaubensüberzeugungen bedeutet hätten. Sie waren, kurz gesagt, ein wesentliches Hilfsmittel bei der Durchführung eines strategischen Plans, wie die Beispiele in Wayiqra Rabba veranschaulichen. In der oben bereits erwähnten Haggada in WaR 19,6 über Jojachin in der Verbannung nimmt der Plan, seine Frau zu ihm ins Gefängnis zu bringen, während einer Sitzung des Sanhedrins Gestalt an, der nun im Exil tagt und der den Fortbestand des Hauses David sichern will (s. o. Punkt 2.1). Um ihr Ziel zu erreichen, wollen sich die Ratsherren einer Reihe einflussreicher Persönlichkeiten bedienen, an deren Ende Nebukadnezar steht: In jener Zeit tagte der große Sanhedrin aufgrund dieser Frage und sprach: Wird die Herrschaft des Hauses Davids, von dem es heißt: Sein Thron habe Bestand vor mir wie die Sonne (Ps 89,37), in unseren Tagen ein Ende nehmen? Was sollen wir tun? Lass uns gehen und die Erzieherin überreden, und diese die Königin und die Königin den König. […] Wie hieß denn Nebukadnezars Frau? Rabbi Chananja sagte: Ihr Name war Schemiram. Rabbi Abin sagte: Ihr Name war Schemiramot. Die Rabbinen sagten: Ihr Name war Schemiram, weil sie in einer stürmischen (ra‘am) Zeit geboren worden war. Als Nebukadnezar kam, um mit ihr zu schlafen, sagte sie zu ihm: Du bist König. Ist Jojachin nicht König? Du verlangst die Erfüllung deines Wunsches. Verlangt denn Jojachin nicht die Erfüllung seines Wunsches? Darauf befahl er, dass man ihm seine Frau gebe.
In dieser Geschichte wird Schemiram, wie die Rabbinen sie nennen,62 als leicht beeinflussbare Frau dargestellt, die ihre sexuellen Reize einsetzt, um ihrerseits Nebukadnezar zu beeinflussen. Das Verdienst, dieses Ziel erreicht zu haben, gebührt aus Sicht der Rabbinen dem Sanhedrin, der die aktive
62 In der rabbinischen Literatur sind verschiedene Varianten des Namens bekannt; vgl. Tan Wa-yiqra 6 (TanB Wa-yiqra 10); EstR 3,2. Schemiram verweist allem Anschein nach auf die mythische assyrische Königin Semiramis.
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Rolle, die Schemiram in ihrem Eheleben spielte, für seine Zwecke zu nutzen wusste.63 Ein weiteres Beispiel einer fremden Frau, die zum Wohl Israels handelt, ist Jaël, die der Midrasch in WaR 23,9 als eine von drei Personen nennt, die von Gott belohnt wurden: „Ich bin der Herr (Lev 18,4), ich bin es, der […] den Josef, Jael und Palti belohnt hat, ich werde auch in Zukunft jeden belohnen, der ihrem Beispiele folgt“ (s. o. Punkt 2.1). Jaëls Tat bestand darin, dass sie Sisera tötete (Ri 4,17–21; 5,24–27). Im folgenden Abschnitt erwähnt der Midrasch dieselben drei Personen ein weiteres Mal: „Drei entflohen der Sünde, und Gott verband seinen Namen mit ihnen, es sind Josef, Jaël und Palti“ (WaR 23,10). Zu Jaëls Fall wird folgende Erklärung geboten: Woher entnehmen wir dies über Jaël? Jaël trat heraus, Sisera entgegen, usw. und bedeckte ihn mit einer semikha (( )שמיכהRi 4,18). Was heißt mit einer semikha? Die hiesigen Rabbinen [in Palästina] sagen: Mit einem Schal; die Rabbinen von dort [Babylonien] sagen: Mit einer Decke. Resch Laqisch sagte: Wir haben in der ganzen Schrift nachgesucht und kein Gerät gefunden, dessen Name שמיכהist. Was ist also semikha? Es ist mit שgeschrieben. [Das bedeutet:] „mein Name hier (“)שמי כה – mein Name bezeugt, dass dieser böse Mann sie nicht berührt hat.
Die midraschische Lesart des Hapax legomenon in Ri 4,18 ( )שמיכהerklärt nicht nur, wie Gott seinen Namen mit dem der Jaël verband, sondern liefert auch eine zusätzliche Information über Jaëls Verhalten: Sie hatte keinen Geschlechtsverkehr mit Sisera.64 Deshalb kann ihr Handeln mit dem der Frauen (aus dem Volk Israel) auf eine Stufe gestellt werden, die ein vorbildliches Verhalten (s. o. Kap. 2.2) an den Tag legten.
3.3
Fremde Frauen, die ein Teil Israels wurden
Eine andere Facette biblischer Frauen wird durch fremde Frauen repräsentiert, die familiäre und emotionale Bindungen zu einem bedeutenden Mitglied des Volkes Israel knüpften. Diese Frauen hatten in der Wahrnehmung der Rabbinen oft einen segensreichen Einfluss auf die Männer, mit denen sie in Kontakt kamen, und sogar auf die jüdische Geschichte selbst. Die Art, wie sie im Midrasch charakterisiert werden, ist mehr oder weniger dadurch bestimmt, wie die Gelehrten den Grad ihrer Nähe zum Judentum beurteilten. 63 Ein Hinweis auf eine andere Haggada über Nebukadnezar findet sich in WaR 18,2, wo eine Frau als Bindeglied zwischen ihm und Hiram, dem König von Tyros, fungiert. 64 Im Gegensatz zu anderen Überlieferungen wie z. B. bYev 103a; bNaz 23b. Vgl. im vorliegenden Band auch den Beitrag von Yuval Blankovsky, „Verführung um des Himmels willen: Verführerische biblische Frauen aus Sicht der Rabbinen“.
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Weil sie sich einem israelitischen Mann gegenüber tapfer oder großherzig verhalten hatten, waren sie trotz ihrer heidnischen Wurzeln Musterbeispiele einer biblischen Vergangenheit und herausragende weibliche Rollenmodelle in der rabbinischen Gegenwart. So gesehen waren sie außergewöhnliche Frauen, die, ihren neuen Bindungen entsprechend, von den Rabbinen so dargestellt wurden, dass sie sich an jüdische Glaubensüberzeugungen und Gebräuche hielten und ihren männlichen israelitischen Pendants an moralischer Stärke gleichkamen – oder sie sogar übertrafen. Eine der bemerkenswertesten Frauen aus einer nichtjüdischen Nation, die in das Volk Israel einheirateten, war die Moabiterin Rut, deren Schicksal im gleichnamigen Buch ausdrücklich an dieses Volk gebunden wird. Neben der oben bereits erwähnten Stelle, wo davon die Rede ist, wie Boas sein Verlangen nach Rut zügelte (WaR 23,11; s. o. Punkt 2.1), nimmt der Midrasch auf Boas und Rut auch in WaR 34 Bezug. In WaR 34,8 bezeichnet Rabbi Simeon im Namen von Rabbi Eleazar Boas als ein Muster an Freundlichkeit, dessen Verhalten reich belohnt worden sei: Rabbi Simeon im Namen des Rabbi Eleazar nannte einen weiteren Grund diesbezüglich: Wer zeigte Freundlichkeit gegen den, der der Freundlichkeit bedurfte? Das war Boas gegen Rut, denn es heißt: Zur Essenszeit sagte Boas zu ihr: גשי ( הלוםRut 2,14), d. h. komm hierher; und iss von dem Brot (ebd.), vom Brot der Schnitter; tauch deinen Bissen in die Würztunke! (ebd.), denn so pflegen Schnitter zur Erntezeit ihren Bissen in Essig zu tunken. Rabbi Jochanan sagte: Daraus [entnehmen wir], dass sie verschiedene Essigsorten zur Tenne zu bringen pflegten. Sie setzte sich neben die Schnitter (ebd.), an die Seite der Schnitter;65 er reichte ihr qalli ()קלי66 (ebd.): eine Prise (qalil, )קליל, soviel wie man mit den Fingern fasst. Heißt es denn aber nicht: und sie aß sich satt und behielt noch übrig (ebd.)! Rabbi Isaak sagte: Du kannst zweierlei daraus schließen: Entweder ruhte ein Segen in der Hand eines gerechten Mannes [Boas] oder es ruhte ein Segen in dem Innern einer gerechten Frau [Rut]. Von dem, was geschrieben steht, aber: und sie aß sich satt und behielt noch übrig, scheint es, dass ein Segen im Innern einer gerechten Frau ruhte.67
In der midraschischen Auslegung von Rut 2,14 wird die Großherzigkeit des Boas durch die der Moabiterin noch übertroffen, die sich mit Wenigem zufriedengibt; Rut wird nach rabbinischen Maßstäben als „Gerechte“ eingestuft.68 Sie wird als Beispiel für weibliches Verhalten gelobt, vor allem wird es aber mit Werten der jüdischen weiblichen Bescheidenheit in Verbindung gebracht.
65 Sie mischte sich nicht unter sie, was für ihre Zurückhaltung spricht. 66 Im masoretischen Text „geröstetes Korn“. 67 Vgl. die Parallele in RutR 5,6. Zu Ruts Verhalten vgl. u. a. PesK 6,2; BamR 21,20; Tan Pinḥas 13. 68 Vgl. auch das Ende des Abschnitts in WaR 34,8.
Levitikus Rabba über biblische Frauen
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Gegen Ende des Passus in WarR 34,8 erklärt Rut Noomi, sie habe gute Taten Boas gegenüber getan „aufgrund des Bissens, den er mir gab“. Eine andere Fremde, die sich an Israel bindet, ist die Tochter Pharaos, die Mose aus dem Wasser rettet (Ex 2).69 In rabbinischen Quellen ist sie aufgrund der midraschischen Lesart von 1 Chr 4,18 unter dem Namen Bitja bekannt. In WaR 1,3 heißt es: „Die Bücher der Chronik sind nur zur Auslegung gegeben“,70 und auf diese Aussage folgt eine Reihe von Erklärungen über die Zuordnung von Namen, die in dem betreffenden Vers genannt werden. Zwei Nennungen in 1 Chr 4,18 beziehen sich auf Frauen: „Seine Frau Jehudija“ wird mit Moses leiblicher Mutter Jochebed (vgl. Ex 6,20)71 und „Bitja“ wird mit der ägyptischen Prinzessin identifiziert, die dem biblischen Text zufolge seine Adoptivmutter war. Außerdem liefert der Abschnitt weitere Informationen, die Bitja durch familiäre Beziehungen an Israel und seinen Gott binden und damit eine gewisse Distanz zwischen ihr und ihren nichtjüdischen Wurzeln herstellen: Das waren die Söhne der Bitja, der Tochter des Pharao (1 Chr 4,18). Rabbi Jehoschua von Sikhnin im Namen von Rabbi Levi sagte: Gott sprach zu Bitja [gelesen als Bat-Jah], der Tochter Pharaos: Du hast Mose, der doch nicht dein Sohn war, deinen Sohn genannt, auch du bist nicht meine Tochter, und ich nenne dich meine Tochter (bity).
Bei ihrer ersten Erwähnung wird Bitja mithilfe des Notarikon genannten hermeneutischen Verfahrens, das ihren Namen in zwei Teile zerlegt (Bat-Jah), als „Tochter Gottes“ identifiziert. Dieser Beiname ist keineswegs überflüssig, 69 Zu den rabbinischen Überlieferungen und den Namen, die dieser Person in jüdischen Quellen gegeben werden, vgl. Tal Ilan, „Biblical Women’s Names in the Apocryphal Tradition“, JSP 11 (1993): 3–67; 24f.42; Lorena Miralles-Maciá, „Judaizing a Gentile Biblical Character through Fictive Biographical Reports: The Case of Bityah, Pharaoh’s Daughter, Moses’ Mother, According to Rabbinic Interpretations“, in Narratology, Hermeneutics, and Midrash: Jewish, Christian, and Muslim Narratives from the Late Antiquity through to Modern Times (hg. v. Constanza Cordoni und Gerhard Langer; Poetik, Exegese und Narrative 2; Göttingen: V&R Unipress, 2014), 145–175 mit Literatur; Tal Ilan, „Flavius Josephus und die Frauen der Bibel“, in Frühjüdische Schriften (hg. v. Eileen Schuller und Marie-Theres Wacker; Die Bibel und die Frauen 3.1; Stuttgart: Kohlhammer, 2017), 156–173; 169–173. 70 Vgl. Isaac Kalimi, „Biblical Text in Rabbinic Context: The Book of Chronicles in the Mishnah, Talmud and Midrash“, in Midrash and the Exegetical Mind: Proceedings of the 2008 and 2009 SBL Midrash Sessions (hg. v. Lieve Teugels und Rivka Ulmer; Judaism in Context 10; Piscataway: Gorgias Press, 2010), 21–39. 71 „Unter ‚Jehudija‘ ist Jochebed gemeint. War sie denn vom Stamm Juda? War sie nicht vom Stamm Levi? Warum heißt sie ‚die Judäische‘ ( ?)היהודיהWeil sie Juden ( )יהודיםin der Welt gestellt hat“, wobei der Begriff „Juden“ sich hier auf die Religionszugehörigkeit bezieht; vgl. aber bMeg 13a, wo „die judäische Frau“ mit Bitja identifiziert wird.
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denn er impliziert eine religiöse Neuorientierung. Aus der Szene geht hervor, dass Bitja einen neuen Glauben angenommen und den ihres ursprünglichen Volkes mithin aufgegeben hat. In einigen Überlieferungen bezieht Bitja sogar ausdrücklich gegen den Götzendienst Position (vgl. bMeg 13a; bSot 12b). Die ägyptische Prinzessin geht also nicht nur eine emotionale Bindung mit Mose ein, den sie als ihren Sohn anerkennt, sondern wird aus Sicht der Rabbinen selbst ein Teil von Israel.72 WaR 1,3 fährt mit zwei Auslegungen fort, die die Tochter des Pharao mit einem weiteren biblischen Charakter in Verbindung bringen; demzufolge wurde sie später die Frau Kalebs, eines der Männer der Wüstengeneration, die Mose aussandte, damit sie das Land Kanaan erkundeten (Num 13): Das waren die Söhne der Bitja, […] die Mered geheiratet hatte (1 Chr 4,18): Das ist Kaleb. Rabbi Abba bar Kahana und Rabbi Jehuda bar Simeon [sind unterschiedlicher Ansicht]. Rabbi Abba bar Kahana sagte: Dieser [Kaleb] rebellierte ( )מרדgegen den Ratschluss der Kundschafter und sie [Bitja] rebellierte ()מרדה gegen den Ratschluss ihres Vaters. Möge der, der rebelliert, die heiraten, die rebelliert.73 Rabbi Jehuda bar Simeon sagte: Dieser [Kaleb] rettete ( )הצילdie Schafe und diese [Bitja] rettete ( )הצילהden Hirten. Möge der, der die Herde gerettet hat, die heiraten, die den Hirten gerettet hat.
Nach Einschätzung des Rabbi Abba bar Kahana widersetzte sich Bitja dem Befehl, die Kinder der Israeliten zu töten (Ex 1,22; vgl. auch den Targum zu 1 Chr 4,18), während sich Kaleb gegen die anderen Kundschafter wandte, die davon abrieten, das Land Kanaan in Besitz zu nehmen (Num 13,30), und dafür belohnt wurde (Num 14,24.30). Für Rabbi Jehuda bar Simeon rettete Kaleb das Volk Israel aus der Wüste, weil er sie zur Inbesitznahme Kanaans ermutigte, und rettete Bitja Mose davor, im Nil zu ertrinken. Kurz gesagt: Bitjas Beziehung zu Israel bestand auch darin, dass sie eine Schlüsselfigur der Heilsgeschichte des jüdischen Volkes heiratete und selbst eine ähnliche Rolle spielte. Eine letzte Überlieferung zu Bitja findet sich in WaR 1,3 gegen Ende des Abschnitts, wo im Zusammenhang mit dem Namen des Mose betont wird, wie wichtig es ist, jemanden bei einem bestimmten Namen zu nennen. Die betreffende Auslegung handelt von Gottes eigener Vorliebe für den Namen, den Bitja dem hebräischen Kind gegeben hatte, und verleiht ihr damit eine einzigartige Position: 72 Inwiefern Mose dazu beitrug, dass sie sich zu Gott hingezogen fühlte, schildert DevR 7,5. Zu den Möglichkeiten, seine Zuneigung zum Judentum zu bekunden, vgl. Shaye J. D. Cohen, „Crossing the Boundary and Becoming a Jew“, HTR 82 (1989): 13–33; 14f. 73 Diese Deutung findet sich auch in bMeg 13a und bSan 19b. Laut bMeg lehnte sich Bitja auf „gegen die Götzen ihres Vaterhauses“.
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Der Heilige, gepriesen sei Er, sprach zu Mose: Bei deinem Leben! Von allen diesen Namen, mit denen du benannt wirst, rufe ich dich nur mit dem Namen, mit dem Bitja, die Tochter Pharaos, dich genannt hat: Sie rief seinen Namen Mose (Ex 2,10). [Darum heißt es hier]: Und er rief Mose (Lev 1,1).74
Die Rabbinen erläutern also, wie wir sehen können, in den in Wayiqra Rabba enthaltenen Überlieferungen über Rut und Bitja, wie zwei nichtjüdische Frauen die Gelegenheit erhielten, ein Teil Israels zu werden, und wie sie diese Gelegenheit mit ihren Taten und Verhaltensweisen zu nutzen wussten. Die Charakterstärke, die die Gelehrten an ihnen wahrnehmen, machte nicht nur ihre nichtjüdische Herkunft vergessen, sondern festigte zudem ihre Bindung an Israel und seinen Gott.
3.4
Exotische Liebe brachte Salomo vom rechten Weg ab
Ein weiterer Fall einer Nichtjüdin, die eine Beziehung mit einem Israeliten eingeht, ist der der Tochter des Pharao, die Salomo zu seiner Frau macht. Die rabbinische Darstellung dieser Frauengestalt lässt sich weder mit der Frau des Potifar, die ja von Josef nicht angerührt wurde (s. o. Punkt 2.1), noch mit den unter Punkt 3.3 angeführten Beispielen vergleichen, weil ihre Charakterzeichnung in den rabbinischen Quellen von Grund auf negativ ist. Warum gehört diese Frau einer anderen Kategorie an? Weil sie, obwohl sie wesentliche Merkmale der Andersheit mit Rut und der anderen Pharaostochter in Ex 2 (im letztgenannten Fall sogar die Herkunft und den gesellschaftlichen Status) gemeinsam hat, ihren heimischen Sitten auch dann noch treu blieb, als sie bereits eine enge Bindung zum Volk Israel geknüpft hatte. Salomos Wunsch, die Zahl seiner Frauen zu vergrößern, ist ein häufiges Thema in den rabbinischen Quellen, die ihn (wie WaR 19,2) entweder direkt für seine Polygamie oder (wie bSan 21b) deshalb kritisieren, weil er unter dem Einfluss seiner Frauen in götzendienerische Praktiken verfällt. Von all seinen Frauen und Nebenfrauen erregte die ägyptische Prinzessin, die auch in der Bibel selbst eine herausragende Rolle spielt (in 1 Kön 11,1f. wird sie ausdrücklich erwähnt), das größte Interesse. Obwohl nur eine der sechs Stellen in 1 Kön und 2 Chr, die auf diese Frauengestalt Bezug nehmen (1 Kön 3,1; 7,8; 9,16.24; 11,1; 2 Chr 8,11), die Heirat zwischen Salomo und der Ägypterin als Übertretung bewertet (vgl. 1 Kön 11,1f.), war in der Regel genau diese Sichtweise für die rabbinischen Darstellungen ihres Charakters ausschlaggebend.75 74 Vgl. auch ShemR 1,26. 75 Vgl. Shaye J. D. Cohen, „Solomon and the Daughter of Pharaoh: Intermarriage, Conversion, and the Impurity of Women“, JANES 16–17 (1984–1985): 23–37; Lorena Miralles-Maciá, „Doubly the Other: An Egyptian Princess for King Solomon in Rabbinic Traditions“, in Biblical Women in Patristic Reception (hg. v. Agnethe
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Eine der ausführlichsten (und amüsantesten) Schilderungen über sie findet sich in WaR 12,5, wo das Weintrinkverbot aus Lev 10,9 kommentiert wird.76 In mehreren Szenen stellt die Haggada die Hochzeitsnacht von König Salomo und der Tochter des Pharaos nach, deren Folgen sich auf das Schicksal des Tempels auswirkten. Zu Beginn des Abschnitts wird die Hochzeitsfeier selbst beschrieben: Rabbi Judan sagte: Salomo hat alle jene sieben Jahre, in welchen er den Tempel erbaute, keinen Wein getrunken, als dieser aber vollendet war und er die Tochter Pharaos geheiratet hatte,77 da trank er in jener Nacht Wein, und es wurden damals zwei Feste veranstaltet, nämlich [anlässlich der] Freude über den vollendeten Tempelbau und [anlässlich der] Freude über die Tochter Pharaos. Da sprach der Heilige, gepriesen sei Er: Welche [Freude] soll ich aufnehmen, diese oder jene? In jener Stunde kam ihm der Gedanke, es zu zerstören. Das ist, was geschrieben steht: Diese Stadt hat meinen Zorn und meinen Grimm ( )אףerregt (Jer 32,31). Rabbi Hillel bar Rabbi Vallas sagte: So wie einer, der vor einem schmutzigen Ort vorübergeht und sich seine Nase zuhält.78
Hier erfahren wir, dass Salomo am Tag der Vollendung des Jerusalemer Tempels – des Sinnbilds der israelitischen Religiosität schlechthin – eine fremdländische Prinzessin heiratete. Die Freude über die Vermählung mit der Pharaostocher ist ein Hinweis auf Salomos Toleranz gegenüber dem Götzendienst, mit der er den Keim für seinen eigenen Untergang und für die Zerstörung des Tempels legt. Der Abschnitt fährt fort mit einer zweiten Überlieferung über die Hochzeitsnacht, die auch in anderen Werken enthalten ist (BamR 10,4; bShab 56a). Rabbi Hunja sagte über die Zerstreuungen, die die Prinzessin ihrem Ehemann bot: Achtzig verschiedene Tänze hat die Tochter Pharaos in jener Nacht getanzt, und Rabbi Isaak ben Eleazar sagte: Dreihundert verschiedene Tänze hat die Tochter Pharaos in jener Nacht getanzt.
Siquans; JAJSup 25 / Reading Scripture in Judaism and Christianity 5; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017), 104–126. 76 Eine Analyse des kompletten Abschnitts bietet Lorena Miralles-Maciá, „Salomón, la hija del Faraón y la dedicación del Templo de Jerusalén. La versión de Levítico Rabbá 12,5“, in Ierà kaì lógoi: Estudios de literatura y de religión en la Antigüedad Tardía (hg. v. Alberto J. Quiroga Puertas; Saragossa: Pórtico, 2011), 13–31. 77 In einigen Handschriften „Bitja, die Tochter Pharaos“ mit demselben Namen wie die Prinzessin in Ex 2. 78 Das hier gebrauchte Wort חוטםist ein Synonym für Nase. Das Wort אףin Jer 32,31, auf das die Auslegung Bezug nimmt, hat eine zweifache Bedeutung (Zorn und Nase) als Ausdruck der Verachtung.
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Dienten diese Tänze nur der Unterhaltung, waren sie ein bloßes Beispiel für die Reize der Pharaostochter? Parallelstellen erläutern, dass die Tänze götzendienerische Praktiken umfassten, weil die Prinzessin Salomo eine beträchtliche Anzahl an Musikinstrumenten vorgelegt und ihm erklärt habe, welches davon der Anbetung welches Götzen diente.79 Anschließend wird die Geschichte des nächsten Morgens erzählt, als Salomo bis zur vierten Stunde schlief und deshalb – weil die Schlüssel zum Tempel unter seinem Kopfkissen lagen – das in der Mischna (mEd 6,1) vorgeschriebene tägliche Opfer (Tamid) nicht stattfinden konnte: Wie ist das [möglich]? Sie [die Tochter Pharaos] machte ihm eine Art Decke und befestigte Sterne und Planeten daran und spannte sie über ihn. Als er aufstehen wollte, sah er sie und dachte, es sei noch Nacht, und schlief bis zur vierten Stunde. Wegen dieses um vier Stunden verzögerten Morgenopfers ging seine Mutter [Batseba] zu ihm und gab ihm einen Verweis.
Aus Sicht des Midrasch ist die Prinzessin das eigentliche Hindernis, das der Einweihung des Tempels im Weg steht – und das nicht nur, weil sie ihre weiblichen Verführungskünste einsetzt, sondern vor allem, weil sie aufgrund ihres heidnischen Glaubens selbst ein Interesse daran hat, den letzten Schritt zur Vollendung des salomonischen Tempelprojekts zu verzögern und Salomo auf Abwege zu führen. Folgerichtig verwandelten die Rabbinen diese Frauengestalt, die zumindest theoretisch die Gelegenheit gehabt hätte, (wie andere fremde Frauen auch) mit Israel zusammenzuarbeiten und seinen Gott zu akzeptieren, in ein negatives Rollenmodell und charakterisierten sie über ihre Merkmale der Andersheit: als Frau und als nichtjüdisch. Kurz gesagt: Die Tochter des Pharaos hat, vom rabbinischen Standpunkt aus betrachtet, ihre Chance, ein Teil von Israel zu werden, ungenutzt verstreichen lassen.
4.
Schluss
Die wenigen in einem einzelnen Midrasch überlieferten Beispiele reichen nicht aus, um die Frage, wie sich die Rabbinen biblische Frauen vorgestellt haben, erschöpfend zu beantworten. Wir können jedoch sehen, dass gewisse Themen, die in Wayiqra Rabba vorkommen, für die Gelehrten der amoräischen Zeit von Interesse waren. Sie legten ihren Interpretationen ihre Wahr79 Z. B. BamR 10,4; bSan 21b; yAZ 1,2 (39c). In bShab 56b geht die Geschichte folgendermaßen weiter: „Als Salomo die Tochter des Pharao heiratete, stieg Gabriël herab und steckte ein Rohr ins Meer, dieses brachte eine Sandbank hervor, auf der die große Stadt Rom erbaut wurde.“ Diese Heirat hatte also mit anderen Worten auch Konsequenzen für den Zweiten Tempel.
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nehmung der Frauen als der „Anderen“ – anders als die Norm, nämlich der jüdische Mann – zugrunde und stellten sie entsprechend der Bedeutung dar, die sie ihrer Rolle in einer von Männern geschriebenen Vergangenheit beimaßen. Deshalb machten sie die Sichtbarkeit der Frauen von ihren familiären Beziehungen zu wichtigen männlichen Charakteren der Bibel abhängig. Außerdem griffen sie in diesen Figuren diejenigen Aspekte der weiblichen Sexualität auf, die sich in ihren Augen unmittelbar auf das Leben der Männer auswirkten. Wo es sich überdies um fremdländische Frauen handelte, kamen weitere Merkmale der Andersheit ins Spiel, weil die Rabbinen erklären mussten, in welcher Beziehung diese Frauen und Nichtjüdinnen zum Volk Israel standen. Deshalb machten sie es sich zur Aufgabe, die betreffenden Frauen, die die Chance hatten, das jüdische Glaubenssystem nach den Spielregeln der Rabbinen zu akzeptieren, positiv oder negativ zu charakterisieren. Kurzum: Wenn die Rabbinen auf ihre biblische Vergangenheit zurückblickten, dann taten sie dies, wie anhand von Wayiqra Rabba gezeigt, unter dem Aspekt verschiedener randständiger Merkmale, die zu ihren Werten und ihren jeweiligen Aussageabsichten passten.
Übernatürliche Schönheit, universale Mutter und Evastochter: Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud Susanne Plietzsch Universität Salzburg
In der rabbinischen Literatur erscheint Sara als eine Frauengestalt, die durch ihre außerordentliche Schönheit und ihre alle Geschöpfe umfassende Mütterlichkeit gekennzeichnet ist.1 Die Art und Weise, in der die rabbinischen Autoren das Profil der biblischen Sara ausgestalten – etwa durch das Motiv des Strahlens oder das der Rückkehr vom Alter in die Jugend (einschließlich übernatürlicher Fruchtbarkeit und der Fähigkeit des Stillens) – lässt die Erzmutter mitunter wie eine mythische Göttin erscheinen.2 War eine solche Rezeption in der Spätantike oder schon zu biblischen Zeiten geläufig – und, wenn ja: Musste sie den Rabbinen nicht problematisch erscheinen? Im Folgenden sollen anhand von Textlektüren einige Beispiele aus dem zu Beginn
1
2
Ein Überblick zu den mit Sara verbundenen Midrasch-Motiven findet sich in Tamar Kadari, „Midrash and Aggadah“, in: Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia (2009), online: https://jwa.org/encyclopedia/article/sarah-midrashand-aggadah [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]. Siehe auch Dies., „The Beauty of Sarah in Rabbinic Literature“, in Hebrew Texts in Jewish, Christian and Muslim Surroundings (hg. v. Klaas Spronk und Eveline van Staalduine-Sulman; SSN 69; Leiden: Brill, 2018), 65–82; Gary G. Porton, „How the Rabbi Imagined Sarah: A Preliminary Study of the Feminine in Genesis Rabbah“, in A Legacy of Learning: Essays in Honor of Jacob Neusner (hg. v. Alan J. Avery-Peck et al.; BRLA 43; Leiden: Brill, 2014), 192–209. Vgl. dazu die Übereinstimmungen zwischen der rabbinischen Sara und den Motiven der (kanaanäischen) Aschera und der Astarte/Anat z. B. bei Raphael Patai, The Hebrew Goddess (Detroit: Wayne State University Press, 31990), 37.55.61; Othmar Keel und Silvia Schroer, Eva – Mutter alles Lebendigen: Frauen- und Göttinnenidole aus dem Alten Orient (Fribourg: Academic Press, 22006), 10f.30f. Zur Verbindung der Aschera, Astarte und Anat mit dem Thema des Überflusses, der Ernährung und der weiblichen Brust siehe Tikva Frymer-Kensky, In the Wake of the Goddesses: Women, Culture and the Biblical Transformation of Pagan Myth (New York: Free Press, 1992), 156–159. Maren Niehoff zeigte die Identifikation der Sara mit Athene bei Philo, wobei besonders die sich erneuernde „Jungfräulichkeit“ Saras als die Abkehr von körperlicher Weiblichkeit eine Rolle spielt. Siehe Maren Niehoff, „Mother and Maiden, Sister and Spouse: Sarah in Philonic Midrash“, HTR 97 (2004), 413– 444; 438f.
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Susanne Plietzsch
des 5. Jh. kompilierten Midrasch Bereshit Rabba3 diskutiert werden, in denen überhöhende bzw. mythologisierende Darstellungen Saras positiv in die rabbinische Bibelinterpretation eingearbeitet werden. Daneben gibt es aber auch Sara-Interpretationen, die die Heldin zurücksetzen oder maßregeln, was im Widerspruch zu ihrer Bedeutung als Erzmutter zu stehen scheint. Um den Prozess der Überlieferung in den Blick zu bekommen, sollen einige der zuerst in Bereshit Rabba auftretenden Motive im Babylonischen Talmud weiter verfolgt werden.
1.
BerR 18,2: Sara, die Lauscherin4
Im Midrasch Bereshit Rabba wird, worauf Gary Porton hinweist,5 Sara zum ersten Mal in BerR 18,2 im Rahmen der Auslegung von Gen 2,22 erwähnt. Trotz ihrer besonderen Relevanz als Erzmutter erscheint sie dort als Beispiel für die Frau im Allgemeinen, die, aus einer Rippe erschaffen, züchtig und zurückhaltend sein soll – es aber nicht ist: „Und JHWH Gott baute die Rippe, die er von dem Menschen genommen hatte, zu einer Frau, / und er brachte sie zum Menschen.“ (Gen 2,22)6 Der Midrasch fragt: Warum wurde die erste Frau aus einer Rippe und nicht aus einem anderen Körperteil erschaffen? Diese Frage ermöglicht die Antwort, dass dadurch eine Charakteristik der idealen Frau gegeben sei. Die Verbform ( ויבןdie als wa-jiven [„und er baute“] und als wa-javen [„und er verstand“] gelesen werden kann) wird als Verweis auf das planende, erwägende, abwägende Handeln Gottes gelesen:
3
ר׳ יהושע דסכניןRabbi Jehoschua von Sikhnin [ בשם ר׳ לויsagte] im Namen des Rabbi Levi: ( ויבן ויבן כת׳wa-jiven/wa-javen) steht geschrieben,
Siehe Sarit Kattan Gribetz und David M. Grossberg, „Introduction: Genesis Rabbah, a Great Beginning“, in Genesis Rabbah in Text and Context (hg. v. Sarit Kattan Gribetz et al.; TSAJ 166; Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 1–21; Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch (München: Beck, 92011), 306–311. 4 Vgl. zu BerR 18,2 Susanne Plietzsch, „Warum gerade die Rippe? Die Auslegung von Gen 2,22 in GenR 18,2“, in Ein pralles Leben: Alttestamentliche Studien, für Jutta Hausmann zum 65. Geburtstag und zur Emeritierung (hg. v. Petra Verebics, Nikolett Móricz und Miklós Kőszeghy; ABIG 56; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2017), 159–167. 5 Siehe Porton, „How the Rabbi Imagined Sarah“, 198. 6 Die Übersetzungen der Bibelverse sind aus der Elberfelder Bibel (2013) entnommen bzw. basieren darauf.
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
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[ התבונןd. h.] er „erwog (betrachtete genau)“ (hitbonen),7 מאיכן לברותהworaus sie [am besten] zu erschaffen [sei].
אמרEr sprach: לא נברא אותה מן הראשWir werden sie nicht aus dem Kopf erschaffen, שלא תהא מזקפת ראשהdamit sie nicht [eine sei, die] ihren Kopf erhebe, ולא מן העיןauch nicht aus dem Auge, שלא תהא סוקרניתdamit sie keine Neugierige sei, ולא מן האוזןauch nicht aus dem Ohr, שלא תהא צייתניתdamit sie keine Lauscherin sei, ולא מן הפהauch nicht aus dem Mund, שלא תהא מדברנתdamit sie keine Schwätzerin sei, ולא מן הלבauch nicht aus dem Herzen, שלא תהא קנאתנתdamit sie keine Eifersüchtige sei, ולא מן הידauch nicht aus der Hand, שלא תהא משמשנתdamit sie keine Diebin sei,8 ולא מן הרגלauch nicht aus dem Fuß, שלא תהא פרסנתdamit sie keine Herumtreiberin sei – אלא מן מקוםsondern von einer Stelle aus, שהוא צנוע באדםdie beim Menschen verborgen ist; שאפילו בשעה שהוא עומד ערוםselbst wenn er nackt dasteht, אותו המקום מכוסהist jene Stelle bedeckt. ועל כל אבר ואבר שהיה בורא בהUnd über jedes einzelne Körperteil, das er schuf, היה אומר להsprach er zu ihr: 9 אשה צלועה צנועהEine „aus der Rippe stammende“, züchtige Frau!
(BerR 18,2)10
7
Die lapidare hebräisch-aramäische Formulierung könnte paraphrasiert werden: „Die Form wa-jiven, die auch als wa-javen gelesen werden kann, steht dort geschrieben. Daraus kann geschlossen werden, dass sie auf התבונןverweist: er erwog, er betrachtete“; vgl. Kommentar in der Ausgabe Theodor/Albeck (I, 162). 8 Wörtlich: Damit sie nicht eine sei, die alles anrührt. 9 Die Ausgabe Theodor/Albeck liest: אשה צנועה אשה צנועה. Als einzige Textzeugin leitet MS Vat. Ebr. 30 ( צנועtsanua) bzw. ( צנועהtsenuah) sogar mittels klanglicher Assoziation von ( צלעtsela, „Rippe“) ab, indem sie den Übergang צלועה צנועה (tseluah – tsenuah) bildet. Was bedeutet ?צלועהDas Wort scheint ein hapax legomenon in der rabbinischen Literatur zu sein. Es könnte sich um eine letztendlich unübersetzbare ad hoc-Bildung handeln, bei der der Leitbegriff der Auslegung, צלע („Rippe“), adjektivisch gebraucht wird. Ob diese Bildung im Zusammenhang mit weiteren Bedeutungsnuancen von צלעgedacht werden kann, muss offenbleiben. In dieser Lesart wird die Frau im Prozess ihrer Erschaffung immer wieder als bereits Erschaffene angesprochen und ermahnt, jedes ihrer Körperteile gleichsam als „Rippe“ zu betrachten. 10 Die Übersetzung (SP) folgt dem Text von MS Vat. Ebr. 30. Zur Handschriftensituation siehe Michael Sokoloff, „The Major Manuscripts of Genesis Rabbah“, in Genesis Rabbah in Text and Context (hg. v. Sarit Kattan Gribetz et al.; TSAJ 166; Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 23–32; 31f.
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Susanne Plietzsch
Die Frau wird aus einer Rippe (der ihres zukünftigen Mannes) geschaffen, deren Bedecktheit zu ihrem wesentlichen Charakteristikum werden soll: Aus der Bedecktheit der Rippe wird im Midrasch das Adjektiv ( צנועtsanua‘, „zurückgezogen“, „züchtig“) abgeleitet. (Das abstrakte Substantiv צניעות [tseniut]11 erscheint hier noch nicht.) Etwas sarkastisch könnte dies paraphrasiert werden: Die ideale Frau ist wie eine Rippe – unsichtbar. Ihre einzige Funktion ist es, Stabilität zu geben; im Idealfall wird sie dabei nicht einmal wahrgenommen! Neben den nicht zu leugnenden misogynen Aspekten des Textes – immerhin wird darin jede physische, geistige und emotionale Aktivität von Frauen symbolisch negiert – sollten allerdings auch seine ambivalent-humorvollen Qualitäten Beachtung finden. Diese kommen am deutlichsten über das in der weiteren Folge aufgegriffene Zitat Spr 1,25 zum Ausdruck,12 sind aber auch schon in der hier zitierten Passage wahrnehmbar: Eine Frau, die neugierig ist? Unvorstellbar – Gott hat sie schließlich nicht aus dem Auge erschaffen! Im Anschluss daran wird der Gedanke entwickelt, dass Gottes Plan nicht aufging: Für jedes erwähnte Körperteil lässt sich (mindestens) eine biblische Frau finden, die es in sehr individueller und eigennütziger Weise gebrauchte; so z. B. Sara, die am Eingang des Zeltes hörte, was die Engel ihr und Abraham ankündigen:
ולא מן האוזןUnd nicht aus dem Ohr, והרי היא צייתניתAber siehe, sie ist eine Lauscherin: ושרה שומעת פתח האהלUnd Sara horchte am Eingang des Zeltes (Gen 18,10).
(BerR 18,2)
Der Midrasch ist sehr vielschichtig und ambivalent: Frauen sollen „eigentlich“ züchtig, passiv, unsichtbar, nicht wahrnehmbar sein – aber sie sind es nicht. Indem Sara „am Eingang des Zeltes horchte“ repräsentiert sie, obwohl Erzmutter, die Frau als solche, die, auch wenn eigens aus der Rippe geschaffen, nicht so züchtig ist, wie deshalb zu erwarten gewesen wäre. Die in ihrer Überhöhung ironisch-selbstironisch anmutende Argumentation der Autoren stellt zwar eine misogyne Perzeption der Passage wieder in Frage, das Konzept der „züchtigen“, d. h. in ihrer unbefangenen Lebendigkeit in Frage gestellten Frau bleibt jedoch stehen, auch wenn es sich als nicht realistisch erweist. Die ideale Eva, die „züchtige“ Frau, scheint selbst im Bewusstsein der rabbinischen Autoren weniger eine Realität als ein faszinierend unerreichbares Maß zu sein – und damit ein bereitstehendes Instrument der Kritik an konkreten Frauen. In gewisser Weise bilden Interpretationen wie diese eine eigene Kategorie, in 11 Der Begriff ist nur schwer in die deutsche Gegenwartssprache zu übersetzen und kann am besten mit dem englischen modesty wiedergegeben werden. 12 Plietzsch, „Warum gerade die Rippe?“, 166f.
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
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der biblische Heldinnen ungeachtet ihrer Bedeutung speziell als Frauen angesprochen und kritisiert werden können.13
2.
BerR 39,14: Abram und Sarai „erschaffen“ Proselyten
Sara ist als die Ahnfrau Israels in der Hebräischen Bibel und im rabbinischen Denken die erste Frau, die aktiv und zukunftsgerichtet im Sinne des einen Gottes, des späteren Gottes Israels, wirkt. Insofern besteht zwischen Abraham und ihr eine funktionale Gleichrangigkeit,14 die zur literarischen Herausforderung wird – bzw. deren „Unerhörtheit“ die Autoren literarisch umsetzen wollen. Im folgenden Textbeispiel erscheinen das Paar Abram und Sarai in Analogie zu Adam und Eva; während die Letzteren physisches Leben hervorbrachten, „erschaffen“ Abram und Sarai Proselyten, Menschen, die sich dem einen Gott anschließen. BerR 39,14 diskutiert Gen 12,5: „Und Abram nahm seine Frau Sarai und Lot, den Sohn seines Bruders, und all ihre Habe, die sie erworben, und die Seelen, die sie in Haran gewonnen [gemacht] hatten ()אשר־עשו בחרן, / und sie zogen aus, um in das Land Kanaan zu gehen; und sie kamen in das Land Kanaan.“ (Gen 12,5)
ויקח אברהם את שרי אשתוUnd Abram nahm seine Frau Sarai. (Gen 12,5)
ר׳ אלעזר בשם ר׳ יוסי בן זימראRabbi Eleazar [sagte] im Namen des Rabbi Jose ben Simra: אם מתכנסים הם כל באי העולםWenn sich alle Weltbewohner versammeln würden, לברות יתוש אחדum eine einzige Mücke zu erschaffen: לזרוק בו את הנשמהDie Seele in sie hineinzubringen אינן יכוליןvermöchten sie nicht! ואת אמ׳Und du sagst: ואת הנפש אשר עשוUnd die Seelen, die sie gemacht hatten! אלאVielmehr: אילו הגרים שגיירוDas sind die Proselyten, die sie bekehrt hatten.
ויאמרDann sollte er [der Schriftvers] sagen: „ שגיירוdie sie bekehrt hatten“! למה שעשוWarum: die sie gemacht hatten? אלאVielmehr,
13 Vgl. z. B. den Abschnitt über die sieben Prophetinnen in bMeg 14a–b, der mit der „Kritik“ am Hochmut Huldas und Deboras endet. Vgl. auch BerR 45,5. 14 Siehe auch den Beitrag von Ronit Nikolsky, „Der Midrasch Sara and Abraham: Eine verlorengegangene rabbinische Auslegung des ‚Lieds der fähigen Frau‘“ in diesem Band.
224 ללמדך שכל מי שהוא מקרב את הגוי כאילו בראו
Susanne Plietzsch um dich zu lehren, dass jeder, der einen Nichtjuden herzubringt [d. h. bekehrt] – [ist] als ob er ihn erschaffen hätte.
ויאמרDann sollte er [der Schriftvers] sagen: „ שעשהdie er gemacht hatte“! למה שעשוWarum: die sie gemacht hatten? אמר ר׳ חוניאRabbi Chunja sagte: אברהם היה מגייר את האנשיםAbraham bekehrte die Männer ושרה את הנשיםund Sara die Frauen. (BerR 39,14)
„Und Abram nahm Sarai, seine Frau“ – der Beginn der Hervorbringung Israels, noch vor der Zeugung Isaaks, geschieht hier zwar durch ein Paar, aber ohne Sexualität. Der Midrasch lässt eine vollständig geistige Erschaffung von Menschen stattfinden, bei der für strikte Geschlechtertrennung unter den Erschaffenden wie unter den Erschaffenen gesorgt ist. Über das Verb „machen“ ( )עשהbringen die Autoren den auszulegende Vers Gen 12,5 in die Nähe von Gen 1,26: „Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unserm Bild, uns ähnlich!“ Mit dieser Hervorhebung einer „geistigen Fruchtbarkeit“ klingt das weiter unten (in BerR 40,5) diskutierte Motiv der Überhöhung Saras über Eva indirekt an und wird hier auf beide Partner ausgeweitet: Abraham und Sara können, wie Gott, Menschen „erschaffen“.15 Diese Auslegung hat keine direkte Parallele im Babylonischen Talmud, jedoch ist die Erwähnung von Gen 12,5 in bSan 99b zu nennen. Dort wird das im Midrasch vorgegebene Thema der Konversion, eine Grenzüberschreitung von außen nach innen, abgewandelt und erscheint nun als ein Geschehen innerhalb der rabbinischen Gemeinschaft,16 bzw. sogar als ein intrapersonaler Prozess: אמר ריש לקישResch Laqisch sagte: כל המלמד את בן חבירו תורהJeder, der den Sohn seines Mitbürgers Tora lehrt – מעלה עליו הכתוב כאילו עשאוdie Schrift rechnet es ihm an, als ob er ihn gemacht hätte, שנאמרdenn es ist gesagt: 15 Ein ganz anderes Beispiel für die Verbindung von Schöpfung und Geschlecht wäre die Vorstellung des androgynen Menschen als Gottes Ebenbild in BerR 8,1. 16 Moshe Lavee, „No Boundaries for the Construction of Boundaries: The Babylonian Talmud’s Emphasis on Demarcation of Identity“, in Rabbinic Traditions between Palestine and Babylonia (hg. v. Ronit Nikolsky und Tal Ilan; AGJU 89; Leiden: Brill, 2014), 84–116;107–109. S. a. Ders., The Rabbinic Conversion of Judaism: The Unique Perspective of the Bavli on Conversion and the Construction of Jewish Identity (AGJU 99; Leiden: Brill, 2018), 176.
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
225
ואת הנפש אשר עשו בחרןUnd die Seelen, die sie in Haran gemacht hatten (Gen 12,5).
רבי אלעזר אומרRabbi Eleazar sagt: כאילו עשאן לדברי תורהAls ob er die Worte der Tora gemacht hätte, שנאמרdenn es ist gesagt: ושמרתם את דברי הבריתUnd bewahrt die Worte dieses Bundes הזאת ועשיתם אתםund tut sie (Dtn 29,8).
רבא אמרRabba sagte: כאילו עשאו לעצמוAls ob er sich selbst gemacht hätte, שנאמרdenn es ist gesagt: ועשיתם אתםUnd tut sie (wa-asitem otam). אל תקרי אתם אלא אתםLies nicht „sie“ ([wa-asitem] otam), sondern: „ihr/euch“ ([wa-asitem] attem).17 (bSan 99b)
Der Babylonische Talmud scheint hier nicht nur die selbstverständliche Offenheit gegenüber Konvertitinnen und Konvertiten, die in BerR 39,14 zum Ausdruck kommt, korrigieren zu wollen, sondern auch die „schöpferische“ Kraft Abrahams und Saras. Sollte damit ein mythologisches Verständnis dieses Midrasch-Motivs im Sinne Abrahams und Saras als eines „göttlichen Paares“, von vornherein ausgeschlossen werden? In bSan 99b wird der Vers Gen 12,5 ganz ohne die Erwähnung Abrahams und Saras diskutiert. Das Thema des Erschaffens wird zwar aus BerR 39,14 übernommen, aber nun völlig auf den Prozess des Toralernens begrenzt und auf dessen drei Instanzen bezogen: den Schüler, die Tora und den Lehrer.
3.
BerR 40,5: Das Maß der Schönheit – Sara, Eva und Abischag von Schunem
In BerR 40,5 wird der Gedanke einer übernatürlichen Schönheit Saras erzählerisch umgesetzt.18 Der Vers Gen 12,14 ermöglicht dies, indem er Saras Schönheit thematisiert: „Und es geschah, als Abram nach Ägypten kam, da sahen die Ägypter die Frau, dass sie übermäßig19 schön war (כי יפה היא )מאד.“ 17 Statt „und tut sie“ kann theoretisch auch „und macht/erschafft euch (selbst)“ gelesen werden. 18 Siehe zu BerR 40,5 und (im Folgenden) bSan 39b sowie bBB 58a Kadari, „The Beauty of Sarah“, 67–77. 19 Das Wortspiel des Midrasch mit מאדin diesem Vers und עד מאדin 1 Kön 1,4 kann mit der üblichen Übersetzung – in beiden Fällen „sehr“ – nicht wiedergegeben wer-
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(1)20
ויהי כבוא אברם מצרימה וגו׳Und es geschah, als Abram nach Ägypten kam (Gen 12,14). ושרה היכן היאUnd Sara – wo war sie? נתנה בתבה ונעל בפניהEr hatte sie in eine Truhe gegeben und vor ihr zugeschlossen. כיון דמטה למכסאAls er zum Zoll[haus] kam, אמרון ליהsagten sie [die Zöllner] zu ihm: „ הב מכסאEntrichte den Zoll!“ אמרEr sagte: „ אנא יהבIch werde [ihn] entrichten.“ אמרון ליהSie sagten zu ihm: „ מנין את טעיןHast du Kleider geladen?“ אמרEr sagte: „ אנא יהב דמניןIch werde [den Zoll] für Kleider entrichten.“ אמרון ליהSie sagten zu ihm: „ מטכסין את טעיןHast du Seide geladen?“ אמרEr sagte: „ אנא יהב מטכסיןIch werde [den Zoll] für Seide entrichten.“ אמרון ליהSie sagten zu ihm: „ מרגלין את טעיןHast du Edelsteine geladen?“ אמר להוEr sagte zu ihnen: „ אנא יהב דמרגליןIch werde [den Zoll] für Edelsteine entrichten.“ אמרון ליהSie sagten zu ihm: „ לית איפשר אלא פתחנאEs ist unmöglich [dass du passierst], ohne dass wir [die Truhe] geöffnet haben וחמינן מה בגווהund gesehen haben, was darin ist.“ וכיון שפתחהUnd als er sie öffnete, הבהיקה ארץ מצרים מאורהstrahlte das Land Ägypten von ihrem [Saras] Licht. (2)
ר׳ עזריה ור׳ יונתן בר׳ חגיי משם ר׳ יצחק איקונין שלחוה מסורה לראשי דורות להלן כת׳ והנערה יפה עד מאד
מגעת עד איקונין שלחוה ברם הכא כי יפה היא מאד מאיקונין שלחוה
Rabbi Azarja und Rabbi Jonathan, Sohn des Rabbi Haggai [sagten] im Namen von Rabbi Isaak: Das Abbild Evas war den Ersten der Generationen übermittelt worden. Später steht geschrieben: Und die junge Frau war schön bis zum Übermaß (1 Kön 1,4) – sie reichte an das Abbild Evas heran; aber hier: [da sahen die Ägypter die Frau,] dass sie übermäßig schön war21 (Gen 12,14) – [schöner] als das Abbild Evas.
den. Deshalb wird מאדhier mit „übermäßig“ und עד מאדmit „bis zum Übermaß“ wiedergegeben. 20 Gliederungen innerhalb der Abschnitte: SP. 21 Vgl. den Kommentar in der Ausgabe Theodor/Albeck (1,385) zur Stelle: דורש „( מאד ממאדer interpretiert ‚sehr‘ als ‚mehr als sehr‘“). D. h. der Midrasch versteht
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
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(3)
ויראו אותה שרי פרעה ויהללו אותה ר׳ יוחנן אמר מתעלה והולכת ההן אמר אנא יהב מאה דינרין ועלל עימה
Und die Hofbeamten des Pharao sahen sie und rühmten sie (Gen 12,15). Rabbi Jochanan sagte: Sie stieg immer weiter [im Preis] an.22 Dieser sagte: „Ich gebe hundert Denare, um mit ihr hineinzugehen!“23 וההן אמרUnd jener sagte: „ אנא יהב דינרין מאתן ועלל עימהIch gebe zweihundert Denare, um mit ihr hineinzugehen!“ […] (BerR 40,5)
Das Motiv der übernatürlichen Schönheit wird hier in einen biblisch-rabbinischen Diskurs integriert.24 Insbesondere aufgrund des überfließenden Strahlens (1) liegt die Vermutung nahe, dass hier das Attribut einer Göttin aufgenommen wurde, etwa der ägyptischen Göttin Hathor, die für Schönheit, Liebe und Fruchtbarkeit stand und mit der griechischen Aphrodite verglichen wird.25 Im ersten Teil (1) steht, noch ohne dass der Begriff der Schönheit explizit erwähnt wird, zur Debatte, ob Sara überhaupt zu sehen sein sollte – das Motiv der Bedecktheit ist hier in einem ganz anderen Kontext als in BerR 18,2 zu erkennen. Nur unter Protest öffnet Abraham das Behältnis, in das er seine Frau eingeschlossen hatte, und damit wird klar, warum dies der Fall war: Sarai/Sara verkörperte ein übernatürliches Licht, das nun über ganz Ägypten erstrahlte. Die Episode könnte damit enden, doch es wird noch eine weitere Erklärung angeschlossen (2): Was da leuchtete, war nicht nur jenes Licht, sondern Saras Schönheit, die die Schönheit Evas noch überstrahlte. Eva steht für die Ur-Frau, die Frau der Schöpfung, die hier in einem ganz positiven Sinn angeführt wird: Sie steht für das Maß der Schönheit, für die Schönheit an sich. Es gibt sogar eine Statue ( איקונין/ εἰκόνιον), anhand derer Evas Schönheit bewundert werden kann! Damit beginnt allerdings auch der kontrollierende Charakter der Auslegung: Das „Abbild Evas“ wurde, so der Midrasch,
22 23
24 25
Gen 12,14b folgendermaßen: „Da sahen die Ägypter, dass die Frau mehr als sehr schön war.“ ( וַ ֻּת ַּקחGen 12,15b) wird im Sinne von „sie wurde gehandelt“ gelesen. ועללwird in den Übersetzungen und Kommentaren entweder als „ עלהmit ihr in das Haus des Pharao hineingehen bzw. hinaufsteigen“ oder euphemistisch als „mit ihr (sexuell) zu tun haben“ gelesen. Vgl. Michael Sokoloff, A Dictionary of Jewish Palestinian Aramaic (Ramat Gan: Bar Ilan University Press, 2002), 409, übersetzt „ ועלל עימהto have sexual relations with her;“ siehe auch Jakob Levy, Wörterbuch über die Talmudim und Midraschim vol. 3 (Berlin: Harz, 1924), 654. Vgl. EstR 6,10. Vgl. auch bMeg 15a; BerR 38,14; 45,4. Vgl. Deborah Vischak, „Hathor“, in OEAE 2 (2001): 82–85. Vgl. C. J. Bleeker, Hathor and Thoth: Two Key Figures of the Ancient Egyptian Religion (SHR 26; Leiden: Brill, 1973), 26.66.
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durch die Generationen überliefert; seine Funktion war die Bestimmung des Maßes der Schönheit einer Frau. In der Imagination der Schönheit Evas zeigt sich ein vermeintlicher „Maßstab“, ein „Kontrollwert“, auch wenn die Absurdität einer solchen Annahme leicht zu durchschauen ist. Von Abischag der Schunemiterin (1 Kön 1,4) kann dann jedenfalls gesagt werden, dass sie Evas Schönheit fast erreichte, Sara jedoch übertraf diese noch. Wenn Sara in (2) mit Eva verglichen wird, kann das kaum anders gelesen werden denn als eine Darstellung der theologischen Relation von Schöpfung und Offenbarung, die hier anhand von zwei Frauengestalten vermittelt wird. Das Licht, das in und aus Sara erstrahlt, ist die Faszination des Bundes, letztendlich das ursprüngliche Schöpfungslicht,26 bzw. das spätere Licht der Tora, das aus der Verborgenheit heraustritt und in ferne Regionen gebracht wird. Der Vergleich von Sara mit Eva lässt auch an die christliche Überbietung der Eva durch Maria denken, doch enthält BerR 40,5 keine Verunglimpfung Evas, sondern in Sara eine Überhöhung des Positiven. Wenn nämlich BerR 40,5 die außergewöhnliche Schönheit Saras aus dem Wort „( מאדsehr“, „außerordentlich“, „stark“ bzw. „übermäßig“) ableitet (bzw. mit מאדsignalisiert), so erinnert das auch an die in Bereshit Rabba geläufigen Analogiesetzungen von מאדund אדם, „sehr“ und „Mensch“.27 Sara ist insofern schöner als Eva, als dass sie die ist, die Eva eigentlich hätte sein sollen. Der Begriff der Schönheit in einem theologischen Sinn findet sich an manchen Stellen der rabbinischen Überlieferung. Indem jedoch hier Eva und Sara miteinander verglichen werden, kommt eine erotische Perspektive im Sinne des bewertenden Blicks der männlichen Auslegenden auf (biblische) Frauen und ihre Schönheit ins Spiel. Es kann nur vermutet werden, dass diese Gestalt der Auslegung auf Überlieferungstraditionen beruht, in denen die betreffenden Frauengestalten Objekte uneingeschränkter Bewunderung und Überhöhung waren.28 In (3) wird eine Episode angeschlossen, die auf (1) zurückverweist. Das Motiv der „Unbezahlbarkeit“ Saras, das zuerst positiv umgesetzt wurde – Abraham hätte jeden Preis bezahlt, weil es immer zu wenig gewesen wäre –, wird nun so variiert, dass die ägyptischen Zollbeamten Geld für sie bieten. Während (1) ein Bewusstsein für den unermesslichen Wert Saras enthält und durch Abrahams Haltung der Verehrung und des Beschützens geprägt ist (nachdem er Sara in Gen 12,13 aufgefordert hatte, sich als seine Schwester 26 Vgl. z. B. BerR 12,6. 27 Vgl. BerR 8,5; 9,12. 28 Vgl. z. B. die oft in diesem Zusammenhang zitierte Passage 1QapGen 20,2–8, vgl. dazu Kadari, „The Beauty of Sarah“, 79–80; Max Küchler, Schweigen, Schmuck und Schleier: Drei neutestamentliche Vorschriften zur Verdrängung der Frauen auf dem Hintergrund einer frauenfeindlichen Exegese des Alten Testaments im antiken Judentum (NTOA 1; Fribourg: Universitätsverlag, 1986), 131–133. Küchlers Bemerkung zu diesem Text: „Die Beschreibung läuft von oben nach unten, den Körperteilen nach […]“ (ebd., 133) lässt eine strukturelle Analogie von 1QapGen 20,2–8 zu BerR 18,2 assoziieren.
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
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auszugeben), geht es für die Zollbeamten um ein derbes Machtspiel: Wer bietet am meisten, um Sara zu „bekommen“? Es entsteht der Eindruck, dass die in (1) enthaltene Idealisierung die Autoren oder Redaktoren dazu provozierte, eine gebrochene Version des unermesslichen Werts der Sara zu erfinden. Die Episode von Sara in der Gepäcktruhe findet sich außer in Bereshit Rabba nur in den späteren mittelalterlichen Midrasch-Werken Yalqut Shim‘oni (Bereshit 67) und Tanḥuma (TanB Lekh lekha 8). Eine verkürzte Anspielung auf diese Tradition, d. h. ein Vergleich zwischen Abischag und Sara, ist allerdings in bSan 39b enthalten: והנערה יפה עד מאד אמר רבי חנינא בר פפא עדיין לא הגיעה לחצי יופי של שרה דכתיב עד מאד ולא מאד בכלל
Und die junge Frau war schön bis zum Übermaß. (1 Kön 1,4) Rabbi Chanina bar Papa sagte: Sie erreichte nicht die Hälfte der Schönheit Saras, denn es steht geschrieben: Bis zum Übermaß, und nicht einschließlich übermäßig (Gen 12,14). (bSan 39b)29
Die Talmud-Passage übernimmt aus BerR 40,5 nicht die Erzählung, sondern nur das exegetische Wortspiel; außerdem entfällt hier Eva aus dem ursprünglichen Dreiervergleich Abischag – Eva – Sara. Deshalb ist es allein aus bSan 39b kaum verständlich, warum Sara mehr als doppelt so schön wie Abischag von Schunem sein sollte. Wird Eva jedoch als „Vergleichskriterium“ mitgedacht,30 entsteht die Vorstellung, dass Sara doppelt so schön wie Eva sei und Abischag das Maß Evas fast erreichte. Der Text erweckt den Eindruck, dass „Eva“ als Repräsentantin natürlicher Schönheit und Weiblichkeit hier nicht gefragt ist; für diese Qualitäten steht nun Sara als Vertreterin des Bundes. Dafür, dass der Babylonische Talmud nicht daran interessiert war, Sara im physischen Sinne „schöner als Eva“ sein zu lassen (und deshalb den Vergleich auf Sara und Abischag begrenzte), wäre auch eine Passage aus bBB 58a zu nennen. Dort erhält Eva sogar Priorität vor Sara:
הכל בפני שרה כקוף בפני אדם שרה בפני חוה כקוף בפני אדם חוה בפני אדם
Alle [Geschöpfe] vor Sara31 sind wie ein Affe vor einem Menschen. Sara vor Eva ist wie ein Affe vor einem Menschen. Eva vor Adam
29 Text des Babylonischen Talmud nach der Wilnaer Ausgabe; Übersetzung: SP. 30 Dass Eva hier implizit mit dabei ist, ergibt sich auch daraus, dass bSan 39b die Diskussion von mSan 4,5 und damit anthropologische Grundfragen enthält. 31 In Gegenwart von Sara, verglichen mit Sara.
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כקוף בפני אדם אדם בפני שכינה כקוף בפני אדם
ist wie ein Affe vor einem Menschen. Adam vor der Schechina ist wie ein Affe vor einem Menschen. (bBB 58a)
In bBB 58a wird allerdings – anders als in BerR 40,5 – nicht (oder allenfalls indirekt) das Kriterium der physischen Schönheit angewendet. Stattdessen wird eine „chronologische“ Hierarchie der Nähe zur unmittelbaren Gottes ebenbildlichkeit erstellt.32 In der angeführten kurzen Rangfolge kommt Adam, der einzige Mann darin, erst dann ins Spiel, wenn es um einen Vergleich mit der Schechina geht. Vor ihr „wie ein Affe“ zu erscheinen ist sicher keine Schande! Die niedrigeren Hierarchiestufen werden von Sara und Eva bekleidet. Eine Aussage wie „Sara vor Eva ist wie ein Affe vor einem Menschen“ muss als subtile Herabwürdigung Saras bezeichnet werden, die so dem Abraham wohl nicht zugemutet worden wäre.
4.
BerR 47,2; 48,19; 53,5: Gott schafft die Voraussetzungen der Empfängnis
Zur motivischen Ausgestaltung Saras im Midrasch gehört ihre wundersame Rückführung aus dem Alter in die Jugend. Bereshit Rabba diskutiert diese Thematik u. a. in den Abschnitten 47,2 und 53,5, die die Verse Gen 17,16 bzw. 21,1 auslegen. Beide Verse enthalten einen Parallelismus, einen zweifachen segnenden Zuspruch Gottes an Sara. In BerR 47,2 wie in BerR 53,5 wird dieser Parallelismus nach einem ähnlichen Schema erklärt: In einem ersten Durchgang (1) wird er mit Saras Schwangerschaft und zusätzlich mit ihrer Fähigkeit, Muttermilch zu spenden, gedeutet. Diese Deutung wird in einem zweiten Schritt (2) durch die Auffassung ergänzt, dass der Parallelismus eine nachdrückliche Ermahnung an die Völker darstelle, Sara nicht länger als „Unfruchtbare“ zu verunglimpfen. In der Abschlusswendung (3) steht der doppelte Segen schließlich dafür, dass Sara zusätzlich dazu, dass sie mit Schwangerschaft bedacht wurde, von Gott selbst eine Gebärmutter gebildet wurde, die sie vorher nicht besessen hätte. Der Midrasch in BerR 47,2 basiert auf der zweimaligen Wendung „ich werde sie segnen“ (וברכתי אותה, )וברכתיהin Gen 17,6: „Und ich werde sie segnen, und auch von ihr gebe ich dir einen Sohn; / und ich werde sie segnen, und sie wird zu Nationen werden; Könige von Völkern sollen von ihr kommen.“ 32 Im Umfeld der zitierten Passage aus bBB 58a wird dies im selben Sinn auch anhand von Adam und Abraham diskutiert.
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
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וברכתי אותה וגם נתתי ממנה לך בןUnd ich werde sie segnen, und auch von ihr gebe ich dir einen Sohn. (Gen 17,16a) (1) ר׳ יודה ור׳ נחמיהRabbi Juda und Rabbi Nechemja [diskutierten darüber]: ר׳ יודן אמ׳Rabbi Judan sagte: וברכתי אותהUnd ich werde sie segnen, ליתן לה בןihr einen Sohn zu geben; וברכתיהund ich werde sie segnen (Gen 17,16b), לברכה בחלבsie mit Milch zu segnen. אמר לה ר׳ נחמיהDa sagte Rabbi Nechemja zu ihm: וכי כבר נתבקרה בחלבWurde sie denn schon von der Milch heimgesucht?33 אלא מלמדDas34 lehrt vielmehr, 35 הקב״ה בנערותהdass der Heilige, der gesegnet ist, [sie] in ihre Jugend [zurückbrachte]. (2)
ר׳ אבהו בשם ר׳ יוסי בר׳ חנינאRabbi Abbahu [sagte] im Namen des Rabbi Jose ben Rabbi Chanina: נותן אני יראתה על כל אומותIch will die Furcht vor ihr allen Völkern der Welt העולםauferlegen, דלא יהוון מונין להdass sie sie nicht [geringschätzig] über sie sprechen וצבחין לה עקרתאund sie nicht „Unfruchtbare“ nennen sollen. (3)
ר׳ יודן בשם ריש לקישRabbi Judan sagte im Namen des Resch Laqisch: עיקר מיטרין לא היה להSie hatte keine Gebärmutter, וגלף לה הקב״ה עיקר מיטריןaber der Heilige, der gesegnet ist, formte ihr eine
Gebärmutter. (BerR 47,2)
Anhand dieser Passage wird deutlich, was als das eigentliche rabbinische Auslegungsinteresse bezüglich der Gestalt der Sara bezeichnet werden kann: die ausschließlich von Gott geplante und gelenkte Fortpflanzung zum Zweck der Zeugung Isaaks. Diesem Gesamtinteresse werden die einzelnen Überlieferungsstoffe, die vorher für sich allein bestanden haben mögen, untergeordnet. Saras Fortpflanzungsfähigkeit, wenn nicht sogar ihre gesamte Sexualität, ist direkt und unmittelbar physisch von Gott eingesetzt. Und nicht nur das: 33 Die Midrasch-Autoren lesen bzw. interpretieren ( וברכתיהGen 17,16b) offenbar nicht futurisch. 34 Die zweifache Segnung bzw. die zweite Segnung. 35 Die Formulierung הקב״ה בנערותהist in MS Vat. Ebr. 30 vermutlich unvollständig, da das Verb fehlt, oder sogar fehlerhaft, wenn man annimmt, dass statt בנערותהeine Form wie לנערותהstehen müsste.
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„JHWH suchte Sara heim“ (Gen 21,1) – er ist derjenige, der für die Empfängnis verantwortlich ist. Das bringt die rabbinische Sicht der Sara in die Nähe neutestamentlichen und frühchristlichen Verständnisses der jungfräulichen Geburt Jesu von Nazaret durch Maria und seiner Zeugung durch den Heiligen Geist. Die Parallele zu BerR 47,2 in BerR 53,5 bringt entsprechend der dargestellten Struktur eine Auslegung, die die Rückkehr in die Jugendfrische und Reproduktionsfähigkeit auf beide, Abraham und Sara, bezieht. Der Midrasch ist länger und ausführlicher gestaltet. In einer in BerR 47,2 nicht vorhandenen Eingangssequenz (1), die mit dem auszulegenden Vers Gen 21,1 schließt, wird Abraham zunächst (über 1 Kön 8,24) in Analogie mit David gebracht. (MS Vat. Ebr. 60 und MS British Library schließen daran eine auf Ps 113,9 basierende Parallelsequenz an, die sich auf Sara bezieht und ebenso mit dem auszulegenden Vers schließt.) Es folgt ein doppelter Austausch von Argumenten zwischen Rabbi Jehuda und Rabbi Nechemja (2a und b). Im ersten geht es um das Phänomen der direkten Kommunikation Gottes mit Sara, im zweiten wird wie in BerR 47,2 die eigene Segnung mit der Milch gegen die allgemeine Rückführung – Abrahams und Saras – in die Jugendzeit eingetauscht. Es folgt in Übereinstimmung mit der Parallele der Ausspruch über die Völker der Welt (3) und schließlich die unerhörte Bildung der Gebärmutter Saras (4). (1) אשר שמרת לעבדך דוד אבי אתDer du deinem Knecht, meinem Vater David, אשר דברת לו ותדבר בפיך וביד ךgehalten hast, was du ihm zugesagt hast. Mit כיום הזה36 מלאתdeinem Mund hast du es geredet, und mit deiner Hand hast du es erfüllt, wie es am heutigen Tag ist. (1 Kön 8,24) אשר שמרת לעבדךDer du deinem Knecht gehalten hast (1 Kön 8,24) – זה אברהםdas ist Abraham. אשר דברת לוWas du ihm zugesagt hast (1 Kön 8,24); למועד אשוב אליך כעט חיהzur bestimmten Zeit komme ich wieder zu dir, ולשרה בןübers Jahr um diese Zeit, dann hat Sara einen Sohn. (Gen 18,14b) ותדבר בפיך ובידך מלאתMit deinem Mund hast du es geredet, und mit deiner Hand hast du es erfüllt (1 Kön 8,24) – וי״י פקד את שרהund JHWH suchte Sara heim. (Gen 21,1) Einschub in MS Vat. Ebr. 60 (par. MS British Library) מושיבי עקרת הביתDer die Unfruchtbare des Hauses wohnen lässt (Ps 113,9a) – זו שרהdas ist Sara: ותהי שרי עקרהUnd Sara war unfruchtbar (Gen 11,30); אם הבנים שמחהals eine fröhliche Mutter von Söhnen! (Ps 113,9b); 36 MS Vat. Ebr. 30 hat מלאת לאמ׳ כיום, mit Spuren einer Korrektur im Sinne des überlieferten Texts.
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
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היניקה בנים שרה וגו׳Sara stillt Söhne usw. (Gen 21,7) ויעש י״י לשרה כאשר דברUnd JHWH tat an Sara, wie er geredet hatte.
(Gen 21,1b) (2a)
ר׳ יהודה ור׳ נחמיהRabbi Jehuda und Rabbi Nechemja [diskutierten darüber]; ר׳ יהודה אמרRabbi Jehuda sagte: וי״י פקד את שרה כאשר אמרUnd JHWH suchte Sara heim, wie er gesagt hatte (Gen 21,1a), שאמר לה באמירהdass er es ihr durch einen [direkten] Ausspruch gesagt hatte: ויעש י׳׳י לשרה כאשר דברUnd JHWH tat an Sara, wie er geredet hatte. (Gen 21,1b)
ר׳ נחמיה אמרRabbi Nechemja sagte: וי״י פקד את שרה כאשר אמרUnd JHWH suchte Sara heim, wie er gesagt hatte
מה שאמר לה על ידי מלאך ויעש י״י לשרה כאשר דבר מה שדיבר לה הוא
(Gen 21,1a), was er ihr durch einen Engel gesagt hatte. Und JHWH tat an Sara, wie er geredet hatte (Gen 21,1b), was er [selbst] zu ihr gesprochen hatte.
(2b)
ר׳ יהודה ור׳ נחמיהRabbi Jehuda und Rabbi Nechemja [diskutierten darüber]; ר׳ יהודה אמרRabbi Jehuda sagte: וי׳׳י פקד את שרה כאשר אמרUnd JHWH suchte Sara heim, wie er gesagt hatte (Gen 21,1a), ליתן לה בןihr einen Sohn zu geben. ויעש י״י לשרה כאשר דברUnd JHWH tat an Sara, wie er geredet hatte (Gen 21,1b), לברכה בחלבsie mit Milch zu segnen.
אמר לו ר׳ נחמיהDa sagte Rabbi Nechemja zu ihm: וכי כבר נתבשרה בחלבWar ihr die Milch nicht schon angekündigt
worden?37 אלא מלמדDas38 lehrt vielmehr, שהחזירן הקדוש ברוך הואdass der Heilige, der gesegnet ist, sie (Pl.) zu den 39 לימי נערותןTagen ihrer Jugend zurückbrachte. (3)
ר׳ אבהוRabbi Abbahu [ בשם ר׳ יוסי בן חנינאsagte] im Namen des Rabbi Jose ben Chanina: [ נותן אני יראתה על כל אומותDas bedeutet:] Ich will die Furcht vor ihr allen
37 Zusammen mit der verheißenen Schwangerschaft. 38 Die zweite Anrede. 39 MS Vat. Ebr. 60 liest ebenso; MS British Library dagegen: שהחזירה הקדוש ברוך הוא לימי נערותה.
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העולםVölkern der Welt auferlegen, דלא יהוון מוניין לה וצווחין להdass sie nicht geringschätzig über sie sprechen und עקרתאsie nicht „Unfruchtbare“ nennen sollen.
(4)
ר׳ יהודן בשם ר׳ שמעון בן לקיש עיקר מיטרין לא הוות וגלף לה הקדוש ברוך הוא עיקר מיטרין
Rabbi Jehudan [sagte] im Namen des Rabbi Simeon ben Laqisch: Sie hatte keine Gebärmutter, aber der Heilige, der gesegnet ist, formte ihr eine Gebärmutter. (BerR 53,5)
Im Kontext der gesamten Passage würde in (2b) der Singular, d. h. die ausschließliche Rede von der Rückführung Saras in ihre Jugend, besser passen. Doch Bereshit Rabba kennt auch an anderer Stelle eine Tradition der Rückführung von beiden, Abraham und Sara, in ihre Jugend (ein Abschnitt, der erst wieder im Yalqut Shim‘oni Va-yera 82,5 eine Parallele aufweist); in BerR 48,19 werden Abraham und Sara mit einem beschädigten Schlosssystem aus Ketten (קופליות, copula) verglichen. Das unerhörte Wunder, das Gott vollbringt, ist, dass er die Partner wieder zueinander passend machen kann: „Sollte für JHWH eine Sache zu wunderbar sein? / Zur bestimmten Zeit komme ich wieder zu dir, übers Jahr um diese Zeit, dann hat Sara einen Sohn.“ (Gen 18,14) היפלא מי״י דבר למועד אש׳ ר׳ יודן בר׳ סימון לאחד שהיו בידו שתי קופליות הוליכן אצל נפח אמר לו יכול אתה לתקנה לי אמר לו לברותן אני יכול ולתקנם איני יכול כן לברותן אני יכול ולהחזירן לידי נערותן איני יכול
Sollte für JHWH eine Sache zu wunderbar sein? Zur bestimmten Zeit, usw. Rabbi Judan [sagte] im Namen von Rabbi Simon: [Ein Gleichnis] von einem, in dessen Hand zwei Ketten [Teile eines Schlosses] waren. Er brachte sie zu einem Schmied. Er sagte zu ihm: „Kannst du diese für mich reparieren?“ Er [der Schmied] sagte zu ihm: „Ich kann sie herstellen [erschaffen], und ich sollte sie nicht reparieren können?“ So [auch hier]: Ich kann sie erschaffen, und ich sollte sie nicht wieder in ihre Jugend zurückbringen können? (BerR 48,19)
Während es hier für beide Partner um die Wiederherstellung des funktionalen Zustandes der Jugend geht, wird im Babylonischen Talmud ein anderer Akzent gesetzt. Dort wird betont, dass Saras wie Abrahams Geschlechtsorgane seit ihrer Geburt nicht funktionsfähig waren und dies erst im späten Alter
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
235
durch Gottes Eingreifen wurden. In bYev 64a–b wird Saras späte Fruchtbarkeit anhand von mYev 6,6 diskutiert; dort wird ein Zeitraum von zehn Jahren festgesetzt, nach dem sich ein Mann von seiner Frau trennen soll, wenn sie bis dahin nicht geboren hat: „Hat jemand eine Frau geheiratet und war zehn Jahre mit ihr zusammen und sie gebar nicht, ist es ihm nicht mehr gestattet (das Gebot der Fruchtbarkeit länger zu vernachlässigen).“ (mYev 6,6) In der Gemara dazu findet sich eine haggadische Sequenz über die mangelnde Fortpflanzungsfähigkeit von Isaak und Abraham und ihren Frauen. Darin werden Abraham und Sara in zwei der nicht-binären rabbinischen Geschlechtskategorien40 eingeordnet: 64a
64b
אמר רבי אמי אברהם ושרה טומטמין היו שנאמר הביטו אל צור
Rabbi Ami sagte: Abraham und Sara waren Tumtumin, wie gesagt ist (Jes 51,1b): Blickt hin auf den Felsen,
חוצבתם ואל מקבת בור נוקרתםaus dem ihr gehauen, und auf den Brunnen schacht, aus dem ihr gegraben seid! וכתיבUnd es steht geschrieben (Jes 51,2a): הביטו אל אברהם אביכם ואל שרהBlickt hin auf Abraham, euren Vater, und auf תחוללכםSara, die euch geboren hat! אמר רב נחמן אמר רבה בר אבוהRav Nachman sagte, Rabba Bar Awuha sagte: שרה אמנו אילונית היתהUnsere Mutter Sara war eine aylonit, שנאמרdenn es ist gesagt (Gen 11,30): ותהי שרי עקרה אין לה ולדUnd Sara war unfruchtbar, sie hatte kein Kind. אפי׳ בית ולד אין להSie hatte nicht einmal einen Ort für ein Kind. (bYev 64a–b) Zunächst werden beide den so genannten Tumtum(im/n) zugerechnet. Mit dieser Kategorie meinen die rabbinischen Autoren Menschen, deren Fortpflanzungsorgane nicht zugänglich, sondern (im Körper) „verschlossen“ sind, so dass bei der Geburt nicht unbedingt klar ist, welchem biologischen Geschlecht sie angehören. Wieder begegnet das Motiv der „Bedecktheit“! Abraham und Sara werden in erheblicher Distanz zu allem Sexuellen gezeigt; erst im späten Alter wären ihre Geschlechtsorgane „geöffnet“, gleichsam „freigelegt“ worden. In einem weiteren Denkansatz wird nun ausschließlich von Sara gesagt, dass sie eine aylonit gewesen sei, d. h. zwar eindeutig weiblich geboren, aber ohne Ausbildung weiblicher sekundärer Geschlechtsmerkmale in der Pubertät.41 Als Beleg dafür dient Gen 11,30 – aus der verdoppelten Aus40 Vgl. Charlotte E. Fonrobert, „Gender Identity in Halakhic Discourse“, in Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia (2009), online: https://jwa.org/ encyclopedia/article/gender-identity-in-halakhic-discourse [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]. 41 Vgl. Sarra Lev, „How the ‚aylonit‘ Got her Sex“, AJSR 31 (2007): 297–316.
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Susanne Plietzsch
sage („unfruchtbar“ und „kein Kind“) wird abgeleitet, dass der Text eine inhaltliche Steigerung intendiert hätte: das Fehlen der Gebärmutter. Damit wird das bereits aus der palästinischen Überlieferung bekannte Motiv in die Argumentation aufgenommen. In diesem Abschnitt finden sich wieder die schon bekannten unterschiedlichen Positionen dazu, ob die Unfruchtbarkeit bzw. das Wunder der späten Fruchtbarkeit Sara allein oder beide Partner betreffe.
5.
BerR 53,6: Gott bewirkt Empfängnis (für Abraham)
Es erscheint wie eine Steigerung des Motivs der Schwangerschaft der alten Frau, der sogar zuvor eine Gebärmutter fehlte, wenn Bereshit Rabba feststellt, dass diese Schwangerschaft ohne Begehren von Seiten Saras zustande kam. Dies alles wird zusammengetragen, um zu zeigen, dass es allein Gottes Kraft war, die die Empfängnis bewirkte. Was hat das Thema der „ehebruchsverdächtigen Frau“ (Num 5) damit zu tun, das in BerR 53,6 der „Heimsuchung“ Saras gegenübergestellt wird? Es wird in die Auslegung eingeflochten, um zu zeigen, dass das gezeugte Kind unzweifelhaft Abrahams Kind war – bzw. als solches zu gelten hätte. Mit diesem Gedanken wird die Auslegung des für das rabbinische Verständnis Saras zentralen Verses Gen 21,1 abgeschlossen: „Und JHWH suchte Sara heim, wie er gesagt hatte, / und JHWH tat an Sara, wie er geredet hatte.“ (Gen 21,1) (1) וי״י פקד את שרהUnd JHWH suchte Sara heim. (Gen 21,1) אמר ר׳ יצחקRabbi Isaak sagte: כת׳Es steht geschrieben: ואם לא נטמאה האשה וטהורהWenn aber die Frau sich nicht unrein gemacht היאhat ונקתה ונזרעה זרעund rein ist, dann wird sie unversehrt bleiben und Samen empfangen (Num 5,28). וזו נכנסה לביתו שלפרעה ויצאתהUnd diese [d. i. Sara] hat das Haus des Pharao טהורהbetreten und rein verlassen, לביתו שלאבימלך ויצאתה טהורהdas Haus des Abimelech [betreten] und rein verlassen, אינו כדין שתפקדist es nicht rechtens, dass sie heimgesucht würde? (2) אמר ר׳ יודהRabbi Juda sagte: אפעלגב דאמר רב הונאAuch wenn Rav Huna sagte: ‚ מלאך הוא שהוא ממונה עלEin Engel ist es, der über das Begehren gesetzt התאוהist‘, אבל שרה לא צרכה לדברים הללוbrauchte doch Sara diese Dinge [das natürliche Begehren] nicht,
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אלא הוא בכבודוsondern: Er [Gott] in seiner Herrlichkeit [war es, der sie empfangen ließ]. וי״י פקד את שרה וגו׳Und JHWH suchte Sara heim usw. (3) ותהר ותלד שרה לאברהם בן לזקניוUnd Sara wurde schwanger und gebar dem Abraham einen Sohn seines Alters (Gen 21,2); מלמדdas lehrt, שלא גינבה זרע ממקום אחרdass sie nicht Samen von einem anderen Ort gestohlen hatte. בן לזקניוEinen Sohn seines Alters; מלמדdas lehrt, שהיה זיו איקונין שלו דומה לוdass seine strahlende Erscheinung ihm glich. […] (BerR 53,6)
Im ersten Ausspruch (1) wird die „Heimsuchung“ als rechtmäßige Folge dessen gesehen, dass Sara dem Abraham treu geblieben sei. Der Midrasch greift diejenigen Situationen auf, in denen der Verdacht entstanden sein könnte, Sara hätte mit anderen Männern – mit dem Pharao (Gen 12,14–20) bzw. mit Abimelech (Gen 20) – Verkehr gehabt. Das würde, auch wenn es gegen ihren Willen geschehen wäre, ihr zur Last gelegt werden. Sara wird in diesem Abschnitt experimentell als „Ehebruchsverdächtige“ dargestellt, wobei sich der Verdacht gegen sie nicht bestätigt. Im Sinne von Num 5,28 kann damit ihre Schwangerschaft, als „Belohnung“ für normgemäßes Verhalten gelesen werden, eine Belohnung, auf die sie nun ein Anrecht hatte.42 Der Ausspruch Rabbi Isaaks kann zu jenen Wendungen, in denen die Heldin kontrolliert werden soll, gerechnet werden, wird sie doch (bzw. werden die Lesenden) noch einmal darauf hingewiesen, dass eine sexuelle Gewalterfahrung gesellschaftliche Ächtung zur Folge gehabt hätte. – Der Kontrast des zweiten (2) zum ersten Abschnitt besteht in dem Verweis darauf, dass Pharao oder Abimelech gerade nicht für Saras Schwangerschaft verantwortlich waren. Auch die Meinung, dass die Heimsuchung durch einen Engel (der das Begehren zwischen Abraham und Sara bewirkt hätte) geschehen wäre, wird abgewiesen bzw. gesteigert: Es war Gott selbst. „Und JHWH suchte Sara heim“ – das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als dass Gott selbst Sara begegnete und sie
42 Vgl. bBer 31b; dort „droht“ Hanna Gott, dass sie, wenn sie weiter nicht schwanger würde, einen unbegründeten Ehebruchsverdacht auf sich lenken würde, so dass sie dann aufgrund von Num 5,28 empfangen müsste, vgl. Susanne Plietzsch, „Zwischen Widerstand und Selbstaufopferung. Die rabbinische Rezeption der Gestalt der Hanna (Babylonischer Talmud, Berachot 31a–32b)“, lectio difficilior (2/2006): 7, online: http://lectio.unibe.ch/06_2/plietzsch_widerstand.htm [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]. S. a. den Beitrag von Alexander Dubrau, „Talmudische Rechtslehre und Gender: Der Fall von Rabbi Aqiva und Rabbi Jischmael“ in diesem Band.
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Susanne Plietzsch
daraufhin schwanger war.43 Die Auslegenden nehmen in BerR 53,6 (3) den anschließenden Vers – „und Sara wurde schwanger und gebar dem Abraham einen Sohn seines Alters, zu der bestimmten Zeit, die Gott ihm gesagt hatte“ (Gen 21,2) – zum Anlass zu betonen, dass es außer Zweifel stünde, dass Abraham (dessen Alter gerade hervorgehoben wird) tatsächlich der Vater Isaaks ist.44 Damit wird der Vers in sehr kunstvoller Weise gegen den Strich gelesen und für die Gesamtaussage in besonderer Weise akzentuiert. Es bestehen – das deshalb das Thema der Ehebruchsverdächtigen – eine Menge Zweifel an Abrahams Vaterschaft; der größte Anlass zum Zweifel ist Abrahams Alter. Dazu kommen Saras Aufenthalte beim Pharao und bei Abimelech. Aber: Das auf Gott zurückzuführende Kind sieht aus wie Abraham! Der Midrasch leitet das aus der Formulierung „einen Sohn seines Alters“ (ben lisequnav) in Gen 21,2 ab und hört darin einen ähnlichen Klang wie „der Glanz seiner Erscheinung“ (siv ikonin shelo, wörtlich: der Glanz seines Abbildes). Isaak gleicht Abraham an Glanz; es ist also ausgeschlossen, dass er aus „fremdem Samen“ entstanden wäre. Diese Formulierung vermeidet allerdings die Feststellung, dass Isaak „aus Abrahams Samen“ entstanden wäre und verweist damit indirekt auf den Topos der göttlich-physischen Empfängnis. Für eine solche ist tatsächlich kein Begehren nötig und das Wunder besteht dann darin, dass das so entstandene Kind tatsächlich Abrahams Kind ist und tatsächlich seinen Glanz trägt.
6.
BerR 53,9: Sara lactans
In BerR 53,9 begegnet wiederum das Motiv der Sichtbarmachung der „eigentlich“ verborgenen Sara. Anders als in BerR 40,5 ist es hier weniger die strahlende Schönheit, die sichtbar gemacht wird, als vielmehr die Nacktheit ihrer Brüste beim Stillen! Das Konzept der „Bedecktheit“ – in BerR 18,2 anhand der Rippe verdeutlicht – wird hier an seine Grenzen geführt. Noch deutlicher allerdings als in BerR 40,5 wird mit dem Bedecken und Aufdecken dessen 43 Ein Beispiel für diese Bedeutung der Wurzel פ-ק-( דGrundbedeutung: beauftragen, auferlegen, übermitteln, hier übersetzt als „aufsuchen“) bietet bYev 62b: „Rabbi Jehoschua ben Levi sagte: Jeder, der von seiner Frau weiß, dass sie gottesfürchtig ist, und sie nicht aufsucht ()ואינו פוקדה, wird ein Sünder genannt, denn es ist gesagt: Und du wirst erkennen, dass dein Zelt im Frieden ist, usw. (Ijob 5,24) Und Rabbi Jehoschua ben Levi sagte: Ein Mann ist verpflichtet, seine Frau aufzusuchen (לפקוד )את אשתו, Ein Mann ist verpflichtet, seine Frau aufzusuchen ()לפקוד את אשתו, bevor (wörtlich: wenn) er sich auf eine Reise macht, denn es ist gesagt: Und du wirst erkennen, dass dein Zelt im Frieden ist, usw.“ 44 Bemerkenswert ist, dass BerR 53,6 das Motiv der Ähnlichkeit Isaaks mit Abraham mit Gen 21,2 verbindet, während es in bBM 87a für die Erklärung von Gen 25,19 („Abraham zeugte Isaak“) herangezogen wird.
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
239
Kontrolle verknüpft: Abraham, und nicht etwa Sara selbst, entscheidet, wann und in welcher Weise ihre Brüste verborgen oder sichtbar sind! BerR 53,945 legt Gen 21,7 aus: „Und sie sagte: Wer hätte [je] dem Abraham verkündet: Sara stillt Söhne ( !)בניםDenn ich habe [ihm] in seinem Alter einen Sohn geboren.“ (Gen 21,7) Das exegetische Problem, das als Ausgangspunkt der Diskussion gewählt wird, besteht darin, dass der Vers die Pluralform „Söhne“ (banim) gebraucht. Wer sind diese „Söhne“?
[…] […]
[ הניקה בניםSara] stillte Söhne (banim). הניקה בנאייןSie stillte Erbauer (bana’im).
(1)
שרה אמינו היתה צנועה יתר מדיי אמר לה אבינו אברהם אין זו שעת הצניע אלא גלי את דדייך כדי שידעו הכל שהתחיל הקדוש ברוך עשות ניסים
וגילה את דדיה והיו נובעים כשני מעיינות היו מטרוניות באות ומניקות את בניהן ממנה והיו אומרות אין אנו כדיי להניק את בנים מחלבו שצדיק שליצחק
Sara, unsere Mutter, war über die Maßen züchtig. Unser Vater Abraham sagte zu ihr: „Jetzt ist nicht die Zeit, um züchtig zu sein! Vielmehr: Entblöße deine Brüste, dass alle wissen mögen, dass der Heilige, der gesegnet ist, begonnen hat, Wunder zu tun.“ Und er entblößte ihre Brüste und sie strömten wie zwei Quellen. Angesehene Damen kamen herbei, ließen ihre Kinder bei ihr trinken und sagten: „Wir sind nicht würdig, [unsere] Kinder von der Milch des gerechten Isaak trinken zu lassen.“
(2)
רבנין ור׳ אחאDie Gelehrten und Rav Acha [diskutierten darüber]. רבנין אמר׳Die Gelehrten sagten: כל מי שבא לשם שמיםWer immer um des Himmels willen kam, נעשה ירא שמיםwurde zu einem Gottesfürchtigen. ר׳ אחא אמרRav Acha sagte: אף מי שלא בא לשם שמיםAuch wer nicht um des Himmels willen kam, נתן לו ממשלה בעולםes wurde ihm [dennoch] Herrschaft in der Welt gegeben. ולא עשוAber sie übten [sie] nicht aus, אלאdenn: כיון שהפליגו עצמן בסיניAls sie sich am Sinai abseits stellten ולא קיבלו את התורהund die Tora nicht annahmen, 45 Vgl. zu BerR 53,9 Joshua Levinson, „Bodies and Bo(a)rders: Emerging Fiction of Identity in Late Antiquity“, HTR 93 (2000): 343–372; 352–354.365–371.
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Susanne Plietzsch
ניטלה אותה מהם אותה הממשלה הדה הי׳ מוסר מלכים פתח ויאסור אזור במתניהם
wurde jene von ihnen genommen, jene Herrschaft. Das ist es, was geschrieben steht: Fesseln von Königen löst er auf und schlingt einen Gurt um ihre Hüften. (Ijob 12,18) (BerR 53,9)
Das Kapitel BerR 53 legt den gesamten Abschnitt Gen 21,1–21 aus; der Hauptakzent liegt dabei jedoch auf der Diskussion des Verses Gen 21,1: „Und JHWH suchte Sara heim, wie er gesagt hatte, und JHWH tat an Sara, wie er geredet hatte.“ Dieser Vers wird in BerR 53,1–6, d. h. in sechs von insgesamt fünfzehn Teilabschnitten des Kapitels behandelt. Die Auslegungen zu diesem Vers bestehen überwiegend aus anderen Versen, die anhand der verschiedensten Analogieannahmen mit Gen 21,1 zusammen gelesen werden, allenfalls unter Hinzufügung kurzer inhaltlicher Statements. In dieser poetischen Textcollage geht es um immer neue Facetten des wunderbaren Handelns Gottes. BerR 53,9 (1) unterscheidet sich davon insofern, als dass es nur hier ein vergleichsweise längeres Narrativ gibt, in dem Sara im Mittelpunkt steht: Sara zeigt sich (erstmals) als stillende Mutter der Öffentlichkeit. Als unerhörtes Geschehen wird hier – anders als etwa bei den Narrativen der Geburt Jesu – weniger das Gebären als das Stillen des Säuglings gezeigt. Wie schon in BerR 40,5 geht es um eine Wundererzählung, die auch ohne einen Schriftvers oder speziellen theologischen Bezug „funktionieren“ würde: eine alte Frau, die stillt und so viel Milch hat, dass sie alle Säuglinge, die zu ihr gebracht werden, nicht nur ernähren, sondern in einem viel weiter reichenden Sinn prägen und versorgen kann! Der Einbezug dieses Stoffes in einen rabbinisch-jüdischen Diskurs erfolgt über die Pluralform „Söhne“ in Gen 21,7, wo doch nur ein Sohn, Isaak, vorhanden ist. Zwar hatte Sara nur einen leiblichen Sohn, aber diejenigen, die als „Erbauer“ (bana’im) Israels46 bezeichnet werden, sind in einem weiteren Sinne ihre Kinder – die Begründung dafür ist, dass sie von Sara gesäugt wurden. Das schon erwähnte mit Sara verbundene Motiv der Bekehrung (hier ohne völlige Übernahme einer jüdischen Identität) wird hier mit der Metapher des Stillens verbunden. Sara erscheint im Bild einer universalen Mutter, vergleichbar wiederum mit Hathor47 bzw. mit Isis, die ihren Sohn Horus säugt; Levinson weist im Zusammenhang mit diesem Text auf die Popularität des Isiskults im Römischen Reich hin.48 In den mit diesen Gestalten verbundenen Narrativen hat das Gesäugtwerden durch eine göttliche Mutter die Über46 Oder als „Erbauer“ Saras, vgl. Gen 16,2. 47 Vischak, „Hathor“, 85. 48 Vgl. Levinson, „Bodies and Bo(a)rders“, 367–368; Othmar Keel, Gott weiblich: Eine verborgene Seite des biblischen Gottes (Fribourg: Bibel+Orient-Museum, 2008), 72– 75.
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
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eignung einer göttlich-königlichen Identität zur Folge.49 Doch auch das Neue Testament spricht von der Milchnahrung der Säuglinge als Bild für die Annahme des Glaubens und die frühe Marienverehrung thematisiert ausdrücklich Maria als Stillende und die heilbringende Qualität ihrer Milch.50 In welcher Weise ist Ijob 12,18 in diesem Zusammenhang zu verstehen? Der Vers selbst scheint nicht unbedingt zu der unmittelbar mit ihm verbundenen Aussage, dass denjenigen Völkern, die die Tora nicht annahmen, keine Herrschaft gegeben wurde, zu passen. Ijob 12,18 könnte vielmehr aus der Gesamtpassage Ijob 12,1–25 gewählt worden sein, um mehrere ihrer Themen aufzugreifen und im Midrasch zu (ver)orten, etwa den Machtverlust der Völker mit 12,18–25,51 das Alter Abrahams und Saras mit 12,12 oder mit 12,1–15 das Leiden der Gerechten als das Leiden Abrahams und Saras unter ihrer Kinderlosigkeit. Im Sinne eines im Midrasch verwendeten Bildes könnte Ijob 12,18 für die zum Stillen halb entkleidete Sara stehen, was durch 12,15 noch unterstützt würde: „Siehe, er hemmt die Wasser, und sie trocknen aus; er lässt sie los, und sie kehren das Land um.“52 Während BerR 53,9 eine weibliche Wundererzählung präsentiert, ist die babylonische Version dieses Stoffes in bBM 87a daran interessiert, das Wunder paritätisch zu beschreiben, „Geschlechtergerechtigkeit“ herzustellen. Schlussendlich wird sogar das wunderhafte Geschehen an Abraham dem an Sara übergeordnet:
ותאמר מי מלל לאברהם הניקהUnd sie sagte: Wer hätte [je] dem Abraham בנים שרהverkündet: Sara stillt Söhne! כמה בנים הניקה שרהWie viele Kinder stillte Sara?
אמר רבי לויRabbi Levi sagte: אותו היום שגמל אברהם אתAn dem Tag, als Abraham den Isaak, seinen יצחק בנוSohn, entwöhnte, עשה סעודה גדולהveranstaltete er ein großes Mahl. היו כל אומות העולם מרנניםAlle Völker der Welt redeten untereinander und ואומריםsagten: „ ראיתם זקן וזקנהHabt ihr den Alten und die Alte gesehen, שהביאו אסופי מן השוקdie ein Findelkind von der Straße hergebracht haben 49 Vgl. Joachim Kügler, „Why should Adults want to be Sucklings again? Some Remarks on the Cultural Semantics of Breastfeeding in Christian and Pre-Christian Tradition“, in ders., Exegese zwischen Religionsgeschichte und Pastoral (SBAB 64; Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2017), 61–84; 68–73; Bleeker, Hathor and Thoth, 52. 50 Kügler, „Why should Adults want to be Sucklings again?“, 73. 51 Zu den Völkern der Welt, die nun nicht mehr über Abraham und Sara spotten können vgl. im Folgenden bBM 87a. 52 Vgl. BerR 53,1; dort wird das Bild der vormals dürren und nun blühenden Bäume für Sara verwendet.
242
Susanne Plietzsch ואומרים בנינו הוא ולא עוד אלא שעושין משתה גדול להעמיד דבריהם
und sagen: ‚Es ist unser Sohn!‘ Und nicht nur das, sondern sie geben [sogar] ein großes Gastmahl, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen!“
מה עשה אברהם אבינוWas tat unser Vater Abraham? הלך וזימן כל גדולי הדורEr ging und lud alle Großen der Generation ein ושרה אמנו זימנה את נשותיהםund Sara, unsere Mutter, lud ihre Frauen ein. וכל אחת ואחת הביאה בנה עמהJede Einzelne brachte ihr Kind mit, ומניקתה לא הביאהaber ihre Amme brachte sie nicht mit. ונעשה נס בשרה אמנוDa geschah an unserer Mutter Sara ein Wunder ונפתחו דדיה כשני מעיינותund ihre Brüste öffneten sich wie zwei Quellen והניקה את כולןund sie säugte sie alle. ועדיין היו מרננים ואומריםAber sie redeten immer noch und sagten: „ אם שרה הבת תשעים שנה תלדSelbst wenn Sara, die Neunzigjährige, gebären könnte, אברהם בן מאה שנה יולידkönnte Abraham mit hundert Jahren zeugen?“ מיד נהפך קלסתר פנים של יצחקSogleich veränderten sich Isaaks Gesichtszüge, ונדמה לאברהםund er glich dem Abraham. פתחו כולם ואמרוAlle sprachen es aus: אברהם הוליד את יצחקAbraham zeugte den Isaak (Gen 25,19). (bBM 87a)
Es kann vorausgesetzt werden, dass die babylonischen Autoren mit der palästinischen Tradition der universalen Mutter Sara, der zeitlos nährenden und versorgenden Frau, vertraut waren. Es ist deshalb mehr als bemerkenswert, wie Abraham in jeden Schritt der Wundergeschichte eingetragen wird. Auch wenn in der Szene des Nährens aus Saras Brüsten die Protagonistin immer noch für sich steht, ist sie im gesamten Abschnitt nicht mehr die unabhängige Heldin, die sie in BerR 53,9 war. Es beginnt damit, dass der Erzählstoff ausgerechnet in das Fest der „Entwöhnung“ Isaaks – durch Abraham! – eingebaut wird. (Das bedeutet letztendlich: Alle anderen Kinder werden gestillt, nur Isaak nicht mehr.) Die Einladung dazu erfolgt durch das Gastgeberpaar nach Geschlechtern getrennt (vgl. die Geschlechtertrennung in BerR 39,14), während in BerR 53,9 nur die Frauen erwähnt werden, die Sara besuchten. Doch die auffallendste Differenz beider Versionen ist wohl die Hierarchie der Wunder: Das eigentlich zentrale Nährwunder wird zwar erwähnt, aber nicht weiter besprochen; stattdessen wird indirekt die Behauptung aufgestellt, dass Abrahams Zeugungsfähigkeit ein größeres Wunder als Saras Gebärfähigkeit sei. Erstere wird durch die plötzlich offenbar werdende Ähnlichkeit Isaaks mit seinem Vater unter Beweis gestellt, so dass Gen 25,19 den Abschnitt beschließt und Gen 21,7 der Sache nach übergeordnet wird. Der Ausgangsvers „Sara stillt Söhne“ (Gen 21,7a) wird hier in „Abraham zeugte den Isaak“ überführt.
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
7.
243
Fazit: Saras Schönheit, Mütterlichkeit und Sexualität im rabbinischen Denken
In der rabbinischen Rezeption der Sara geht es im Anschluss an die biblische Erzählung um Saras Rolle als weibliche Repräsentantin des Abrahambundes, als Mutter des ersten im Bund geborenen Kindes und somit als Ahnfrau des Bundesvolkes. Sie und Abraham vereinigen in sich (als literarischtheologische Gestalten) die physische und die metahistorische Dimension des Bundes. Die Faszination des Zusammentreffens dieser beiden Aspekte wird allerdings – schon in der Hebräischen Bibel, aber noch mehr in den rabbinischen Interpretationen – vor allem bei Sara als Frau gesehen. Ihre Rückkehr vom Greisinnenalter in die Jugend, ihre Schwangerschaft, ihr Gebären und Nähren begründen das Volk Israel physisch, stehen aber gleichzeitig für das Leben als unvergängliche Qualität. In diesem universalen bzw. geradezu kosmologischen Zusammenhang steht das Motiv der Schönheit Saras, aber auch ihre relative Gleichrangigkeit im Zusammenwirken mit Abraham. Ihre und Abrahams Komplementarität erinnert an die gleichrangige Verschiedenheit der Geschlechter in Gen 1,27. Saras Schönheit, Mütterlichkeit und Sexualität werden im biblischen Text wie auch bei den rabbinischen Autoren fast durchweg positiv behandelt, wenngleich sie durchaus Probleme aufwerfen: Saras Schönheit lässt sie auch für andere Männer außer Abraham attraktiv sein und Saras relative Gleichrangigkeit in der Paarbeziehung stellt einen erheblichen Kontrast zum Alltag der Autoren und ihrer Umwelt dar. Zur Herausforderung wird vor allem Saras Sexualität. In der Hebräischen Bibel wird sehr offen darauf referiert (z. B. Gen 18,11f.), wobei die Wirklichkeitsferne – es geht um die Fruchtbarkeit einer Greisin – auch wieder Abstand schafft. Im Anschluss daran setzt die rabbinische Überlieferung gezielt Akzente, die die Sexualität Saras in den Bereich des Surrealen rücken. Die hier angeführten Texte lassen dabei einen Prozess erkennen, in dem die babylonischen Auslegungen die palästinischen teilweise voraussetzen und überarbeiten. Diese Überarbeitungen zielen auf „mythologische“ Motive, die Sara im Sinne einer Göttin erscheinen lassen könnten, sowie auf die Unabhängigkeit Saras gegenüber Abraham und auf Szenen mit unbefangenem Körperbezug. In Bereshit Rabba wird unbefangen und poetisch zugleich vom Körperlichen gesprochen, z. B. von Saras (und von Evas) Schönheit und Attraktivität oder vom „Milchwunder“, das eingehend beschrieben wird. Es wird sehr lebendig erzählt, z. B. von Sara in der Reisetruhe. Dabei entsteht der Eindruck, dass durchaus vorrabbinisches, auch volkstümliches Material aufgegriffen und in die strukturellen Vorgaben des Midrasch eingearbeitet wurde. Zu jeder kleinen Erzähleinheit tritt die Ebene der rabbinisch-theologischen Reflexion hinzu, die das Erzählte zum auszulegenden Vers, aber auch zum rabbinischen Weltbild in Beziehung setzt. Ein „mythologischer“ Aspekt ist für das Ver-
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Susanne Plietzsch
ständnis der Sara in Bereshit Rabba zentral: Die „Heimsuchung“ wird – besonders in BerR 53 – sehr stark als eine Angelegenheit zwischen Sara und Gott herausgearbeitet. Der Gott Israels kann die alte Frau wieder zum Blühen bringen.53 Er ist derjenige, durch den Saras gesamte Reproduktionsfähigkeit determiniert ist, indem ihr primär ein Uterus fehlte, den Gott ihr eigens für sie erschuf. Letztendlich ist es Gott, der mit Sara ein Kind zeugt. Abraham steht demgegenüber – in der biblischen Erzählung wie im Midrasch – eher im Hintergrund, auch wenn es heißt, dass Sara dem Abraham gebar (Gen 21,2) oder an einzelnen Stellen davon gesprochen wird, dass Sara und Abraham ihre Jugend zurückgegeben wurde. Im Babylonischen Talmud fällt auf, dass die einzelnen Episoden teilweise weniger dramatisch gestaltet sind. In ihrer Einfachheit komplexe Kurzerzählungen – wie die von Sara in der Reisetruhe (BerR 40,5) – können wegfallen, ebenso auch Stoffe, in denen Sara und Abrahams Wirken unmittelbar mit dem Gottes verglichen wird (BerR 39,14). Die aus dem Babylonischen Talmud angeführten Texte tun sich weitaus schwerer, was direkte Analogien zwischen Gott und Menschen betrifft. Besonders auffällig ist, dass im Babylonischen Talmud eine Tendenz der Entsexualisierung Abrahams und Saras zu erkennen ist. Das Motiv des Bedecktseins wird hier in surrealer Weise auf Abrahams und Saras Geschlechtsorgane bezogen, die im Körper verborgen bzw. nicht zugänglich sind. Die bloße Existenz ihrer Sexualität wird so weit als möglich auf die Zeugung Isaaks begrenzt. Im Babylonischen Talmud wird außerdem der relative Vorrang Saras vor Abraham verringert. Wenn aufgrund des Textbefundes vermutet werden kann, dass das „Milchwunder“, die Vorstellung von Sara als nährender Mutter, auf populäre Überlieferungsstoffe verweist, so werden diese im Babylonischen Talmud dezidiert mit dem Verweis auf Abrahams Zeugungsfähigkeit verknüpft. Die Frage nach den „mythologischen“ Motiven im Midrasch konnte hier nur angerissen werden. Angesprochen wurden die übernatürliche Schönheit und der Glanz Saras, ihre Rückführung vom Alter in Jugend und Fruchtbarkeit, ihre universale, nährende Mütterlichkeit sowie vor allem die Empfängnis unter göttlicher Mitwirkung. Meines Erachtens sollte ein Zusammenhang zwischen diesen Motiven und der biblischen Redaktions- und Überlieferungsgeschichte nicht ausgeschlossen werden. Es erscheint zumindest denkbar, die Relation beider Literaturen so zu beschreiben, dass die rabbinische Tradition Material präsentiert, das überlieferungsgeschichtlich vielleicht schon von Beginn an mit den einzelnen biblischen Stoffen verknüpft war und im biblischen 53 Bei der Lektüre von Bleeker, Hathor and Thoth, 37, erinnerte mich der Hinweis darauf, dass Hathor als lebensstiftende Baumgöttin angesehen wurde, an BerR 53,1: „In a land such as Egypt, where the sun can shine mercilessly, the tree provides a refreshing shadow that is beyond estimation. And that not only during life, but after death as well. The bestower of this benefaction is the tree-goddess Hathor, who reveals her power of renewal in the tree.“
Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud
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Text selbst angelegt sein konnte, wenn auch verschlüsselt. Wenn es von Sara heißt, „dass die Frau sehr schön war“ (Gen 12,14), wird den kundigen Lesenden und Hörenden von Anfang an klar gewesen sein, dass damit keine nur-empirische Schönheit gemeint sein sollte. Die Texte erwecken nicht den Eindruck, dass die Autoren diese Motive in irgendeiner Weise für problematisch gehalten hätten – jedenfalls nicht wegen ihrer „paganen“ Herkunft. Sie erforderten allenfalls deshalb ein Regulativ, weil sie ihrer Protagonistin eine Eigendynamik und eine Bedeutungsfülle verliehen hätten, die zumindest potentiell der Absolutheit des Gottes Israels Konkurrenz geboten hätten. Unter anderem in diesem Sinn sind diejenigen Passagen zu lesen, die Sara maßregeln oder begrenzen, womit sogar ein Kontrast zu ihrer Bedeutung im biblischen Gesamtnarrativ gesetzt wird. Neben Saras Bezeichnung als „Lauscherin“ wäre in den hier gelesenen Texten außerdem die Episode mit den um sie handelnden ägyptischen Zollbeamten zu nennen, oder die Tatsache, dass sie überhaupt mit dem Verdacht des Ehebruchs in Verbindung gebracht wird. Auch dass Abraham derjenige ist, der das Nährwunder demonstriert, gehört in diese Kategorie. Durch solche literarischen Strategien wird sichergestellt, dass der israelitisch-jüdische monotheistische Rahmen gewahrt wird und weibliche Schönheit und Fruchtbarkeit in der Hand des einen Gottes bleiben.
Prophetinnen in bMegilla 14a–15a Judith R. Baskin University of Oregon
Die umfangreiche Sugia, die sich von fol. 10a bis 17a des Traktats Megilla im Babylonischen Talmud erstreckt, beinhaltet einen fortlaufenden Kommentar zu Versen aus dem biblischen Buch Ester. Da dieser Abschnitt eine Reihe von Überlieferungen enthält, die in Quellen aus dem Land Israel nicht zu finden sind, wird er zuweilen als babylonischer Ester-Midrasch bezeichnet. Im Folgenden untersuche ich eine exegetische Einheit innerhalb dieser größeren Sugia, fol. 14a–15a, die sich mit biblischen Prophetinnen befasst. Dabei konzentriere ich mich darauf, was bMeg über die dort als Prophetinnen bezeichneten Frauen zu sagen hat und worin sich diese Bemerkungen vom Seder ‘Olam Rabba, einer ältere Quelle aus Palästina, unterscheiden. Da der Babylonische Talmud diese Überlieferungen innerhalb eines größeren Midrasch zum Buch Ester tradiert, befasst sich der vorliegende Beitrag ferner mit der Frage, inwiefern Anspielungen und Parallelen zu Ester in einigen dieser Prophetinnenportraits eine Rolle spielen.
1.
Weibliche Prophetie in bMeg 14a
Laut bMeg 14a gab es 48 Propheten und sieben Prophetinnen. Diese Überlieferung erscheint zuerst im Seder ‘Olam Rabba (SOR), einer tannaitischen Chronik aus dem Land Israel. Kapitel 21 dieses Werks liefert anhand biblischer Belegstellen einen knappen Nachweis für die prophetische Glaubwürdigkeit dieser sieben Frauen: Sara, Mirjam, Debora, Hanna, Abigajil, Hulda und Ester. In Anlehnung an diese Quelle erklärt bMeg, dass die Zahl der männlichen Propheten in Wirklichkeit weitaus größer gewesen sei, und zitiert dabei die folgende Aussage aus SOR 21 als Baraita (d. h. als eine frühe, nicht in der Mischna verzeichnete Überlieferung aus dem Land Israel): „Viele Propheten standen für Israel auf, doppelt [so viele] wie beim Auszug aus Ägypten. Nur: Die Prophetie, die für die [späteren] Generationen notwendig war, wurde aufgeschrieben, und die, die nicht notwendig war, wurde nicht aufgeschrieben.“
Prophetinnen in bMegilla 14a–15a
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Mirjam, Debora und Hulda werden in der Hebräischen Bibel ausdrücklich als Prophetinnen bezeichnet1 und die betreffenden Bibelverse werden im SOR und in bMeg zitiert. Die prophetische Glaubwürdigkeit der anderen vier Frauen zu belegen ist jedoch eine größere Herausforderung, zumal bMeg 14a–b schon bei der bloßen Vorstellung weiblicher Prophetie deutliches Unbehagen erkennen lässt. So unterscheiden sich einige der im Babylonischen Talmud zitierten Belegtexte von denen im SOR, und die jeweiligen Kommentare zielen allem Anschein nach darauf ab, sechs der sieben anerkannten Prophetinnen zu infantilisieren, zu domestizieren oder zu sexualisieren. Zu erwähnen ist ferner, dass die Prophetinnendarstellungen in bMeg 14a–15a nicht nur die Ambivalenz der Rabbinen gegenüber Prophetinnen im Allgemeinen, sondern auch personenbezogene Vorbehalte insbesondere gegen Ester zum Ausdruck bringen. Ausgelöst wird die Diskussion über die weibliche Prophetie in bMeg 14a durch folgenden Vers aus dem Buch Ester: „Da zog der König seinen Siegelring vom Finger und gab ihn dem Agagiter Haman, dem Sohn Hammedatas, dem Feind der Juden“ (Est 3,10). Mit dieser Geste billigt König Ahasveros Hamans erklärte Absicht, die Juden in Persien zu vernichten, was letztlich die heldenhaften und heilbringenden Taten Esters und Mordechais in Gang setzt. Ihre erfolgreichen Bemühungen, die jüdischen Gemeinden des Persischen Reichs zu retten, haben die Einführung des Purimfests und das Gebot zur Folge, die Ester-Rolle (Megilla) zu lesen oder zu hören. Der erste Kommentar eines Rabbinen zu diesem Vers wird Rav Abba bar Kahana zugeschrieben: „Das Abziehen des Siegelringes war mehr als 48 Propheten und sieben Prophetinnen, die für Israel prophezeiten, denn sie alle brachten sie [Israel] nicht auf den rechten Weg zurück. Hingegen brachte sie das Abziehen des Siegelringes auf den rechten Weg zurück.“ Das ist ein reumütiges Eingeständnis, dass das Volk nicht auf die Warnungen der Propheten gehört hat: Es braucht ein De-facto-Todesurteil, um eine Gemeinschaft zur Umkehr zu bewegen. Daran schließt sich eine zweite Auslegung an, die auf eine Baraita zurückgehen soll und ein Sondergut des Babylonischen Talmud darstellt: „48 Propheten und sieben Prophetinnen prophezeiten für Israel. Sie verringerten nichts und fügten nichts zu dem hinzu, was in der Tora geschrieben steht, außer dem Lesen der [Ester]Rolle.“ Diese überraschende Aussage macht geltend, dass sich nur eine einzige Ergänzung der Gebote aus dem Pentateuch auf nachmosaische biblische Propheten zurückführen lässt, nämlich das Gebot, die Ester-Rolle zu hören oder zu lesen: ein zentraler ritueller Bestandteil des postpentateuchischen Purimfests. Darüber hinaus habe es keinen anderen prophetischen Beitrag zur jüdischen Praxis gegeben – eine Aussage, die die Bedeutung und Einzigartigkeit der Offenbarung am Sinai mit Nachdruck 1
Eine vierte Frau, Noadja (Neh 6,14), wird in der Hebräischen Bibel ebenfalls als Prophetin ( )נביאהbezeichnet. Sie wird der Personengruppe zugerechnet, die Nehemias Plänen, die Mauern Jerusalems wiederaufzubauen, ablehnend gegenüberstand.
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hervorhebt. Und die von einigen Forschern auch als Teil einer größeren rabbinischen Polemik bewertet wird, die sich gegen den von Christen vertretenen Anspruch einer neuen und substituierenden prophetischen Botschaft richtet.2 Dieser thematische rote Faden beweist, dass das vergleichsweise neue Purimfest und der kanonische Status des Buches Ester den Rabbinen zu denken gaben. Ein ähnliches Anliegen steht, wie Tal Ilan gezeigt hat, auch im Zentrum einer Überlieferung in bHul 139b, wo die Rabbinen Verse aus dem Pentateuch vorlegen, die sich auf Haman, Mordechai und Ester beziehen und belegen sollen, dass das Fest und seine zentralen Charaktere bereits in der Tora eine Rolle gespielt hätten.3
2.
Sara
Die Reihenfolge, in der die Prophetinnen in bMeg 14a vorgestellt werden, ist chronologisch und beginnt mit Sara. Sie, so heißt es dort, sei mit Abrahams Nichte Jiska identisch gewesen, die in der Tora nur ein einziges Mal erwähnt wird. In einem Kommentar zu Gen 11,29 („Abram und Nahor nahmen sich Frauen. Der Name von Abrams Frau war Sarai. Der Name von Nahors Frau war Milka, die Tochter Harans, des Vaters der Milka und des Vaters der Jiska“) wird Rabbi Isaak mit der Aussage zitiert: „Jiska ist [identisch mit] Sara. Und warum wird sie Jiska genannt? Weil sie im Heiligen Geist voraussah (sakhta), wie es heißt: Alles, was Sara zu dir sagt – höre auf ihre Stimme. [Denn nach Isaak sollen deine Nachkommen benannt werden.] (Gen 21,12)“ Und noch eine zweite Auslegung, die, diesmal mit Bezug auf ihre allseits bekannte Schönheit, dieselbe sprachliche Analogie verwendet, wird vorgebracht, um zu beweisen, dass Sara mit Jiska identisch ist: „weil alle auf ihre Schönheit sahen (sokhin).“ Bei der ersten Gleichsetzung mit Jiska wird gezeigt, dass Sara eine Prophetin war: Dass sie Abraham aufforderte, Hagar fortzujagen, beruhte auf einer göttlichen Eingebung, in der sie gesehen hatte, dass der Bund auf Isaak übertragen werden würde. Der zweite Belegtext, der ihre Schönheit betont, scheint für die weibliche Prophetie ohne Belang. In diesem Kommentar, der Sara sexualisiert und ihre privilegierte Stellung auf subtile Weise untergräbt, spiegelt sich offenbar das Unbehagen der Rabbinen über Saras Dominanz, die sich in dem göttlichen Gebot ausdrückt, dass Abraham auf seine Frau hören 2 Eliezer Segal, The Babylonian Esther Midrash: A Critical Commentary (3 Bde; Atlanta: Scholars Press, 1994), 2:146; vgl. auch Amram Tropper, „A Tale of Two Sinais: On the Reception of the Torah according to bShab 88a“, in Rabbinic Traditions between Palestine and Babylonia (hg. v. Ronit Nikolsky und Tal Ilan; AGJU 89; Leiden: Brill, 2014), 147–157. 3 Tal Ilan, Massekhet Hullin: Text, Translation, and Commentary (FCBT V/3; Tübingen: Mohr Siebeck, 2017), 596–600.
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soll. Es ist die erste einer ganzen Reihe von Stellen in bMeg 14a–b, an denen die Rabbinen die Macht der Prophetinnen kleinreden und die Überheblichkeit kritisieren, mit der sie sich über die männliche Autorität hinwegsetzen. Dass die Frauen betont als Objekte des männlichen Blicks dargestellt werden, ist im hier untersuchten Textstück ebenfalls ein Leitmotiv. SOR 21, die Vorläuferquelle der Überlieferung über die Prophetinnen in bMeg, belegt Saras Prophetinnenstatus ebenfalls anhand zweier Textstellen. Die erste ist Gen 11,29, was darauf hinweist, dass die Gleichsetzung Saras mit Abrahams Nichte Jiska auf einer alten Tradition beruht.4 Die zweite bekräftigt die Lehre, wonach alle Patriarchen und Matriarchinnen „Propheten genannt wurden“, und stützt sich auf die folgenden Verse: „[Als sie] noch zogen von Volk zu Volk, von einem Reich zu einem anderen Volk, da gestattete er niemand, sie zu bedrücken, wies ihretwegen Könige zurecht: Tastet meine Gesalbten nicht an, tut meinen Propheten nichts zuleide!“ (Ps 105,13–15). Diese Bestätigung der prophetischen Fähigkeiten Saras und der anderen Matriarchinnen kommt in bMeg 14a nicht vor. Die Aussage, wonach Sara Jiska und Abraham mithin ihr Onkel war, die sich sowohl in SOR 21 als auch in bMeg 14a findet, war für die Rabbinen der Polemik halber von Bedeutung. Der Ester-Midrasch erklärt in bMeg 13a, dass Mordechai mit seiner Nichte Ester verheiratet gewesen sei, ehe diese an den Hof des Ahasveros kam. Wie Eliezer Segal gezeigt hat, sprechen signifikante Hinweise aus der Zeit des zweiten Tempels dafür, dass die Pharisäer und die rabbinischen Gelehrten eifrig darauf bedacht waren, ihre Befürwortung von Eheschließungen zwischen Onkel und Nichte – eine verbreitete Praxis, die sie gegen den erheblichen Widerstand anderer jüdischer Gruppen wie der Sadduzäer und der Sekten vom Toten Meer erlaubten – durch biblische Belege zu untermauern. Er schreibt: „Die [auf die Ehe bezogenen] gesetzlichen Einschränkungen aus Lev 18 ließen wenig Spielraum für sachdienliche Manipulationen des Midrasch […]. Wenn positive Belege angeführt werden sollten, so fand man diese eher in den erzählenden Teilen der Bibel, die nach Präzedenzfällen von Eheschließungen zwischen Onkel und Nichte durchforstet wurden. Die Geschichten von Sara und Ester schienen vielversprechend, was eine derartige Auslegung betraf.“5 4
5
Diese Verbindung wird erstmals in der Version des elften Genesiskapitels hergestellt, die Flavius Josephus in A.J. 1,6,5 vorlegt. Es liegt auf der Hand, dass Abrahams Aussage, Sara sei seine Halbschwester (Gen 20,12), für viele spätantike Juden problematisch war. Vgl. zu dieser Überlieferung Eliezer Segal, „Sarah and Iscah: Method and Message in Midrashic Tradition“, JQR 82 (1991–1992): 417–429; 425, Anm. 26; Ders., The Babylonian Esther Midrash, 2:48–52; und Barry Walfisch, „Kosher Adultery? The Mordechai-Esther-Ahashuerus Triangle in Midrash and Exegesis“, Proof. 22 (2002): 305–333; 305–307.327f., Anm. 37. Segal, The Babylonian Esther Midrash, 2:170f.; vgl. auch ebd., 3:249. In ebd., 2:51f., weist Segal darauf hin, dass „die Aussage, wonach Mordechai Ester geheiratet habe, sich parallel zu der Deutung entwickelte, dass Ester Mordechais Nichte gewesen sei,
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3.
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Mirjam
Mirjam ist die zweite der in SOR 21 und bMeg 14a aufgelisteten Prophetinnen. Der Seder Olam Rabba macht ihren prophetischen Rang an den Eröffnungsworten aus Ex 15,20 fest: „Die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm die Pauke in die Hand […].“ Auch die Diskussion im Babylonischen Talmud beginnt mit diesem Vers. Dort wird Mirjams Prophetie jedoch in ihrer Kindheit verortet, als sie die Geburt ihres Bruders Mose vorhergesagt und geweissagt habe, dass er Israel erlösen werde. Dieser Überlieferung liegt eine Erklärung dafür zugrunde, dass Mirjam in Ex 15,20 als Aarons, nicht aber als Moses Schwester beschrieben wird: Rav Nachman sagte, Rav habe gesagt, dass sie prophezeite, als sie [noch nur] die Schwester Aarons war. Und [zwar] sagte sie: Es wird meiner Mutter geschehen, dass sie einen Sohn gebären wird, der Israel befreien wird. Und in der Stunde, in der er geboren wurde [und] das ganze Haus vollständig [mit] Licht erfüllt wurde, stand ihr Vater auf und küsste sie auf ihr Haupt. Er sagte zu ihr: Meine Tochter, deine Prophezeiung hat sich erfüllt. Und als sie ihn in den Nil geworfen hatten, stand ihr Vater auf und schlug sie auf ihr Haupt und sagte zu ihr: Meine Tochter, wo ist deine Prophezeiung? Und das ist es, was geschrieben steht: Seine Schwester stellte sich von ferne auf, um zu erfahren[, was mit ihm geschehen würde.] (Ex 2,4) Um zu erfahren, was das Ende ihrer Prophezeiung sei.
In diesem Midrasch wird Mirjam infantilisiert: Da sie in Ex 15 nicht als die „Schwester des Mose“ bezeichnet wird, muss ihre Prophetie vor dessen Geburt stattgefunden haben, als sie noch ein kleines Mädchen war. bMeg 14a äußert sich nicht zu Mirjams öffentlichen Führungsrollen, sondern schöpft lieber aus einem reichen Vorrat an haggadischen Überlieferungen über Moses Geburt und Kindheit.6 Mirjam wird, wie Rachel Elior schreibt, hier „als ein Kind […] auf eine Weise dargestellt, die ihre prophetische Einzigartigkeit und ihr außergewöhnliches öffentliches Auftreten in Abrede zu stellen sucht.“7 um so einen biblischen Präzedenzfall für die umstrittene pharisäische Praxis der Onkel-Nichten-Ehe zu schaffen.“ 6 Diese Überlieferungen finden sich auch in MekhY Shira 10; mSot 1,9; bSot 12a–13a; ShemR 1,13. Die in der Mekhilta vertretenen Lehrmeinungen, dass Mose am Schilfmeer (Ex 15) für die Männer und Mirjam für die Frauen gesungen habe und dass die Frauen sich „Pauken und Flöten“ vorbereitet hätten, weil sie „wussten, dass Gott ihnen Wunder und Machttaten bei ihrem Auszug aus Ägypten tun werde“, werden hier jedoch nicht erwähnt (und kommen auch nicht in der Erzählung über die Kindheit des Mose in bSot 11b–13a vor). 7 Rachel Elior, „Female Prophets in the Bible and Rabbinical Tradition: Changing Perspectives“, Contemplate: The International Journal of Cultural Jewish Thought 2 (2003), online: http://jbooks.com/secularculture/Elior/Prophets.htm. [zuletzt abgerufen am 21.7.2020].
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4.
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Debora
In SOR 21 wird lediglich der Vers „Damals war Debora, eine Prophetin, die Frau des Lappidot, Richterin in Israel“ (Ri 4,4) zitiert, um Deboras Prophetinnenstatus zu belegen. Auch bMeg 14a zitiert diesen Vers, geht jedoch darüber hinaus und konstruiert basierend auf dem Namen von Deboras Ehemann eine herabsetzende Erklärung für diesen Status, wonach Debora „Schnüre für den Tempel anzufertigen pflegte“. Diese Domestizierung der Debora wird durch eine plumpe Verbindung zwischen lappidot („Flammen“) und ptilot („Schnüre“, „Dochte“) erreicht. Ferner wird in bMeg 14a der Frage nachgegangen, weshalb der biblische Text erwähnt, dass Debora, wenn sie Recht sprach, unter einer Palme saß (Ri 4,5). Rabbi Simeon ben Abschalom begründet dies damit, dass eine Frau nicht mit einem Mann habe allein sein dürfen; wenn Debora vor aller Augen unter einem markanten Baum saß, waren private Unterhaltungen mit Männern ausgeschlossen. Dass sie entschlossen und mutig Streitkräfte in die Schlacht führt und sich gleichzeitig über die Autorität eines männlichen Generals hinwegsetzt, wird nicht erwähnt. Eine andere Auslegung von Ri 4,5 blendet Debora aus und konzentriert sich ganz auf eine pa triarchalische Manifestation der Gottheit: „Wie diese Palme nur ein Herz hat, so hatte auch Israel in jener Generation nur ein Herz für seinen Vater im Himmel.“ An einer späteren Stelle dieses Textstücks haben die Rabbinen jedoch noch mehr über Debora zu sagen – und nichts davon ist positiv.
5.
Hanna
Hannas Prophetinnenrolle wird in SOR 21 anhand eines Bibelzitats belegt: „Hanna betete. Sie sagte: Mein Herz ist voll Freude über den Herrn, erhöht ist meine Macht durch den Herrn Weit öffnet sich mein Mund gegen meine Feinde; denn ich freue mich über deine Hilfe“ (1 Sam 2,1). bMeg 14a zitiert denselben Vers und erklärt anschließend, weshalb die Worte ihres Gebets prophetisch waren: „Mein Horn ist erhoben und nicht mein Flakon? David und Salomo sind die, die mit einem Horn gesalbt wurden – ihr Königtum war beständig. Saul und Jehu sind die, die mit dem Flakon gesalbt wurden – ihr Königtum war nicht beständig.“ Danach werden weitere Worte aus Hannas Gebet ausgelegt. Der Anfang von 1 Sam 2,2 – „Niemand ist heilig wie der Herr, außer dir ist niemand“ – wird als Hannas Lobpreis der Ewigkeit Gottes
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verstanden; die Fortsetzung des Verses – „Und es ist kein Bildner ( )צורwie unser Gott“ – wird als Jubel der göttlichen Kunstfertigkeit gedeutet.8 Anders als die anderen Prophetinnen, die in dieser Sugia behandelt werden, wird Hanna in bMeg 14a–b in keiner Weise herabgewürdigt. Sie ist eine biblische Gestalt, deren Überschreitung ihrer Geschlechterrolle über jeden rabbinischen Tadel erhaben ist. Wie Tal Ilan schreibt: „Auch wenn dies nicht üblich ist, verwenden die Rabbinen hin und wieder eine biblische Heldin als Musterbeispiel dafür, wie man sich im Rahmen einer jüdischen Lebensweise korrekt verhält.“9 Der beste Beleg hierfür, so Ilan weiter, sei der Hinweis auf Hanna als vorbildliche Beterin (yBer 4,1 [7a]; bBer 31b). Hanna allerdings, warnt Ilan, „ist kein Musterbeispiel dafür, wie jüdische Frauen beten sollten. Sie ist ein Musterbeispiel dafür, wie jüdische Männer beten sollten. Von den meisten Gebeten, für die sie mustergültig ist, sind jüdische Frauen ohnehin ausgeschlossen.“10 Die Beispiele der Hanna und einiger weniger anderer bi blischer Frauen, die als Paradigmata für bestimmte wünschenswerte halakhische Verhaltensweisen eingesetzt werden, „sind kein Beweis dafür, dass die Rabbinen etwa gewillt gewesen wären, Frauen eine bedeutungsvolle Rolle bei der Formulierung von Halakha zuzuweisen, sondern weit eher ein Hinweis auf die absolute Heiligkeit der Bibel.“11 Da das biblische Zeugnis unmöglich in Frage gestellt werden kann, müssen weibliche biblische Charaktere, die mit ihrem lobenswerten Verhalten aus der normativen Geschlechterrolle fallen, über den unmittelbaren sozialen Kontext des Exegeten hinaus neu gedacht und akzeptabel gemacht werden. Hanna wird also in dieser Sugia nicht als Prophetin in Frage gestellt, weil sie in gewisser Weise gar nicht als Frau betrachtet wird.12
8 Der Beweis dieser göttlichen Kunstfertigkeit besteht darin, dass Gott die Leibesfrucht „in ein Bild“ ( )צורהmalt ( )צרund mit Atem, Seele und inneren Organen ausstattet. 9 Ilan, Hullin, 465. 10 Ebd. 11 Ebd., 463–465. Interessanterweise nehmen die beiden anderen biblischen Frauen, die Ilan hier als rabbinische Modelle eines exemplarischen männlichen Verhaltens anführt – nämlich Rahab als das Musterbild des Proselyten und Ester als das Musterbild dessen, der sich auf eine Autorität beruft, um eine Aussage zu treffen (bHul 104b) –, auch in der Diskussion über die Prophetinnen in bMeg 14a–b eine zentrale Stellung ein. 12 Ilan, ebd., 465, deutet an, dass gewisse biblische Frauen „irgendwie männlich werden“, wenn sie mit ihrem vorbildlichen Verhalten als Musterbeispiel männlicher Frömmigkeit und Praxis dienen. Zu einer ähnlichen Verwandlung der Rahab vgl. Admiel Kosman, „The Woman who Became a Man: The Figure of Rahab in Midrash“, in Blessed is He Who Made me a Woman: The Woman in Judaism from the Bible to Our Days (hg. v. David Yoel Ariel, Maya Leibovich und Yoram Mazor; Tel Aviv: Yediot Aharonot, 1999), 91–102 (Hebr.); weitere Literatur zu Rahab s. u.
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6.
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Abigajil
Die fünfte Frau aus der Liste der sieben Prophetinnen ist Abigajil, die Frau des Toren Nabal; ihre Geschichte wird in 1 Sam 25 erzählt. Als ihr Mann sich weigerte, David mit Vorräten zu versorgen und sich unter seinen Schutz zu stellen, ergreift Abigajil selbst die Initiative, um David zu helfen und so ihren Mann und ihren Haushalt zu schützen. Sie erkennt, dass David früher oder später König werden wird, und gibt ihm den Rat, Nabal nicht zu töten, weil eine solche Tat seinen Triumph beflecken werde: „Wenn dann der Herr meinem Herrn all das Gute erweist, das er dir versprochen hat, und dich zum Fürsten über Israel macht, dann sollst du nicht darüber stolpern und dein Gewissen soll meinem Herrn nicht vorwerfen können, dass du ohne Grund Blut vergossen hast und dass sich mein Herr selbst geholfen hat.“ (1 Sam 25,30f.) Die biblische Erzählung dieser Begegnung enthält ein ausgeprägt erotisches Element, denn Abigajil beendet ihren Appell an David mit den Worten: „Wenn der Herr aber meinem Herrn Gutes erweist, dann denk an deine Magd!“ (1 Sam 25,31) Als Nabal kurz nach diesen Ereignissen stirbt und David davon erfährt, schickt er nach Abigajil und nimmt sie als eine seiner Frauen zu sich (1 Sam 25,39–42). In SOR 21 wird Abigajils prophetischer Rang mit folgenden Worten bestätigt: „Abigajil weissagte David, und David sagte zu ihr: Gepriesen sei deine Klugheit und gepriesen seist du, weil du mich heute daran gehindert hast, Blutschuld auf mich zu laden und mir selbst zu helfen. (1 Sam 25,33)“ Diesem Text zufolge ist Abigajil deshalb eine Prophetin, weil sie vorhergesehen hat, dass David König werden wird, und weil sie ihn davon abgehalten hat, Nabal zu töten. In bMeg 14a wird jedoch eine andere Belegstelle ausgewählt, um Abigajils Prophetinnenrolle zu belegen; dort wird 1 Sam 25,20 zitiert: „Als sie auf ihrem Esel im Schutz („im Verborgenen“, )בסתרeines Berges hi nabritt, kamen ihr plötzlich David und seine Männer entgegen, sodass sie mit ihnen zusammentraf.“ Dieser Vers leitet über zu einem Diskurs, der Abigajils Begegnung mit David sexualisiert und an das Buch Ester erinnert: Im Verborgenen des Berges [herab]? „Vom Berg“ – müsste es heißen! Rabba bar Samuel sagte: Wegen des Blutes, das aus den verborgenen [Körperstellen] ( )סתריםkommt. Sie nahm Blut und ließ es ihn [David] sehen [nach Meinung der Rabbinen vermutlich, um ihm zu zeigen, dass sie ihm sexuell nicht zur Verfügung stand]. Er sagte zu ihr: Zeigt man nachts Blut? Sie sagte zu ihm: Richtet man nachts Gerichte über Leben? Er sagte zu ihr: Ein Rebell gegen das Königtum ist er [Nabal]. Es ist nicht nötig, ihn zu richten. Sie sagte zu ihm: Noch lebt Saul, und deine Münze gilt noch nicht in der Welt. Er sagte zu ihr: Gepriesen sei dein Urteil und gepriesen du, die mich an diesem Tage davon zurückgehalten hat, in Blut[schuld] ( )דמיםzu kommen. (1 Sam 25,33)
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Die Rabbinen sind fasziniert davon, dass das Wort ( דמיםwörtlich „Blute“) im Plural erscheint, und erklären, dass diese Form auf zweierlei Blut hinweise: das Monatsblut und das Leben Nabals. Abigajil verhandle demnach nicht nur mit David, um das Leben ihres Mannes vor Davids Zorn und David vor der Schuld an Nabals Tod zu beschützen, sondern halte David gleichzeitig aufgrund ihrer rituellen Unreinheit vom Geschlechtsverkehr ab. Der Bezug auf das Monatsblut ist überraschend und verstörend zugleich und ein klarer Beweis dafür, wie untrennbar rabbinische Sichtweisen auf die Frau mit der weiblichen Sexualität und mit dem Gedanken an eine durch Frauen verursachte rituelle Unreinheit verbunden sind. Erwähnung verdient außerdem die nicht ausgesprochene Analogie zwischen Abigajil und Ester im Zusammenhang mit dem Wort סתר, das in diesem Kontext als etwas „Verborgenes“ verstanden wird. In 1 Sam 25,20 ist die Bedeutung von סתרzwar unklar, scheint aber auf einen versteckten Fußweg oder Pfad hinzuweisen. Eine andere mögliche Bedeutung wäre, dass Abigajil sich heimlich auf den Weg machte. Die Rabbinen verstanden das Wort aber als eine Anspielung auf Abigajils „verborgene Teile“ ()סתרים. In einer analogen haggadischen Überlieferung über Ester, die an einer früheren Stelle derselben Sugia, nämlich in bMeg 13a, Erwähnung findet, wird das Wort סתרals Etymologie für Esters Namen gedeutet: „Und warum wird sie Ester genannt? Weil sie ihre Angelegenheiten verheimlichte ()מסתרת, denn es heißt: Ester aber erzählte nichts [von ihrer Abstammung und] ihrem Volk[, wie Mordechai ihr aufgetragen hatte. Ester hielt sich an die Worte Mordechais, wie früher, als sie noch seine Pflegetochter war.] (Est 2,20)“ Ähnliches liest man auch im Midrasch Tehillim zu Ps 22,3: „Ester heißt sie, denn sie erstand in der Verborgenheit; weil sie Israel aber leuchten sollte, trat sie hervor an die Öffentlichkeit.“ Was dieser etymologische Kommentar darüber hinaus noch impliziert, ist, dass Frauen eher geneigt seien, Geheimnisse zu haben und eigenmächtig Pläne zu schmieden, die ihren Männern oder Vormunden nicht bekannt sind: ein Thema, das sich in den weiteren Erörterungen der Rabbinen über Abigajil noch deutlicher herauskristallisieren wird. Auch an einer anderen Stelle des Ester-Midraschs spielt bMeg – und zwar mit Bezug auf den entscheidenden Augenblick in Esters Geschichte – direkt auf das Monatsblut an: „Als die Dienerinnen und Eunuchen zu Ester kamen und ihr berichteten [dass der König die Vernichtung der Juden in Persien angeordnet hatte], erschrak die Königin sehr (( “)ותתחלחלEst 4,4). Laut bMeg 15a fragten sich die Gelehrten, was damit gemeint sei, dass sie sehr in Angst geriet ()ותתחלחל. „Rav sagte: Sie bekam ihre Menstruation. Und Rabbi Jirmeja sagte, dass es sie bedrängte, sich zu erleichtern.“ Sogar in diesem Augenblick, als sie ihr Leben aufs Spiel setzt, um ihr Volk zu retten, wird die heldenhafte Ester wie alle Frauen über ihren Körper und seine Funktionen und die verstörende Wirkung, die er auf Männer ausübt, definiert und vergegenständlicht. Man fühlt sich unwillkürlich an die rabbinische Aussage in
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bShab 152a erinnert: „Die Frau ist ein Schlauch voll Unrat und ihr Mund ist voll Blut, dennoch laufen ihr alle nach.“ In einer ergänzenden Interpretation von Abigajils Prophetinnenstatus mutmaßt der Ester-Midrasch, דמיםbedeute, dass Abigajil vor David „ihren Schenkel entblößte.“ Der Text erklärt, dass David, als er ihre Geschlechtsteile sah, „in ihrem Licht drei Parasangen ging“, was auf sein Verlangen hinweist. Die Rabbinen vermuten, dass David versucht habe, Abigajil zu verführen, dass aber Abigajil ihn mit ihrer Antwort vom Ehebruch abgehalten habe: „dann sollst du nicht darüber stolpern.“ (1 Sam 25,31) Weiter heißt es in bMeg 14a: „Dies – daraus ist zu schließen, dass es [noch] etwas anderes gab. Und was war das? Die Geschichte mit Batscheba. Und am Ende geschah es so.“ Abigajils prophetische Glaubwürdigkeit wird also im Kontext des EsterMidrasch daran festgemacht, dass sie Davids späteren Fehltritt mit einer anderen Frau vorhersagt. Die Erörterungen zu Abigajil in bMeg 14b enden mit einigen Bemerkungen zu dem Vers: „Als sie sich von ihm trennte, sagte sie zu ihm: Wenn der meinem Herrn Gutes geschehen lässt, gedenke deiner Magd. (1 Sam 25,31)“ Vor dem Hintergrund einer generellen Missbilligung von Abigajils Kühnheit und der Tatsache, dass sie dem Tod ihres Ehemannes und einer eventuellen Vermählung mit David freudig entgegensieht, wird Rav Nachman in Bezug auf diverse Redensarten über die geheimen Pläne der Frauen zitiert: „Das ist es, was die Leute sagen: Die Frau spinnt [einen Faden] beim Sprechen“, will sagen: Noch während eine Frau mit einer Sache beschäftigt ist, schmiedet sie schon Pläne im Hinblick auf eine andere, und: „Eine Ente geht gebeugt, aber ihre Augen schweifen umher.“ In bMeg 14b wird die Gestalt der Abigajil auf eine explizit sexualisierte Weise umgeschrieben und sogar ihre völlig unzweideutige Prophezeiung, dass David letztlich König werden wird, als Vorhersage seiner späteren unmoralischen Beziehung zu einer anderen Frau interpretiert. Gleichzeitig setzt dieser Abschnitt aus dem Diskurs über die sieben Prophetinnen den Moment von Esters Entscheidung herab, indem er ihre Reaktion anhand der weiblichen Körperlichkeit und einer weiblichen Vorliebe für geheime Pläne erklärt.
7.
Hulda
Hulda wird in 2 Kön 22,14–20 und 2 Chr 34,22–28 explizit als Prophetin bezeichnet. In SOR 21 heißt es schlicht: „Über Hulda steht geschrieben: zur Prophetin Hulda (2 Kön 22,14).“ Dieser Vers wird auch in bMeg 14b zitiert, doch die Rabbinen haben noch mehr dazu zu sagen. Sie denken zunächst darüber nach, wie diese Frau sich anmaßen konnte, am Wirkungsort ihres
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männlichen Zeitgenossen Jeremia prophetisch zu reden. Die Antwort, die der „Schule Ravs […] in Ravs Namen“ zugeschrieben wird, besagt, dass Hulda eine nahe Verwandte des Jeremia war und er nichts gegen ihre Prophetie einzuwenden hatte. Anschließend fragen sich die Rabbinen, weshalb Joschija, der König, seine Gesandten nicht zu Jeremia, sondern zu Hulda geschickt habe. Die Schule Rabbi Schelas antwortet, dass Joschija sich für die Prophetin Hulda entschieden habe, weil Frauen „barmherziger“ seien, eine Beschreibung, die nicht so recht zu Huldas harschen Weissagungen über Israel passen will. Eine andere Begründung wird Rabbi Jochanan zugeschrieben; demnach habe sich Joschija nur deshalb an Hulda gewandt, weil Jeremia unterwegs gewesen sei, um die zehn verlorenen Stämme aus der Verbannung zurückzubringen. Hinter allen drei Erklärungen steht offenbar die Absicht, eine starke und unabhängige biblische Frau herabzusetzen und zu domestizieren und ihre prophetische Integrität zu untergraben. An einer späteren Stelle der Sugia erscheinen weitere negative Bemerkungen über Hulda sowie Spekulationen über ihre Vorfahren, von denen weiter unten noch die Rede sein wird.
8.
Ester
Zur Bestätigung von Esters Prophetinnenrolle zitiert SOR 21 den Vers; „Um den Purimerlass mit allem Nachdruck zu bestätigen, verfassten die Königin Ester, die Tochter Abihajils, und der Jude Mordechai ein zweites Schreiben.“ (Est 9,29) In diesem Text wird Esters prophetischer Rang hauptsächlich mit ihrer biblischen Rolle als Mitverfasserin des Buches begründet, das ihren Namen trägt. In den kurzen Bemerkungen über Esters Prophetie in bMeg 14b wird dies jedoch völlig übergangen. In einer schwachen Erklärung dafür, dass Ester eine Prophetin ist, zitieren die Rabbinen: „Am dritten Tag legte Ester Königtum an ()מלכות. (Est 5,1)“ Den rabbinischen Kommentatoren zufolge hätte es im Vers „Königskleider“ heißen sollen. Also erklären sie, dass „ “מלכותdarauf hinweise, dass Ester sich mit רוח הקודשׁgekleidet habe: „Heiliger Geist kleidete sie“. Als Beleg wird eine Analogie zu 1 Chr 12,19 herangezogen: „Und ein Geist kleidete Amasia“, da in beiden Versen das Verb לבש, „kleiden“, vorkommt. Worin Esters Prophetie de facto bestanden haben könnte, wird nicht weiter erörtert. Esters mutmaßliche Rolle bei der Abfassung des nach ihr benannten Buchs wird jedoch in einem Kommentar in bMeg 16b direkt angesprochen, der einen weiteren Beleg für das Unbehagen liefert, das die Rabbinen angesichts Esters öffentlicher Macht und Eigenständigkeit empfanden. Mit Bezug auf den letzten Vers des biblischen Buchs: „Esters Anordnung bestimmte[, wie das Purimfest zu begehen sei, und alles wurde in einer Urkunde aufgezeich-
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net]“ (Est 9,32), bringen die Rabbinen ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass Ester anscheinend bei der Einrichtung eines jüdischen Fests als maßgebliche Autorität das letzte Wort gehabt habe. Sie fragen sich: „Esters Anordnung – nicht aber die [nämlich Mordechais] Vorschriften für das Fasten?“ Das ist eine Anspielung auf den vorangehenden Vers: „um das Datum der Purimtage festzulegen, wie es der Jude Mordechai und Königin Ester angeordnet und wie sie es selbst sich und ihren Nachkommen zur Pflicht gemacht hatten.“ (Est 9,31) Laut Rabbi Jochanan kann Est 9,32 („Esters Anordnung bestimmte, wie das Purimfest zu begehen sei, und alles wurde in einer Urkunde aufgezeichnet“) nicht für sich stehen, sondern muss als Ergänzung zu V31 gelesen werden. Ganz offensichtlich waren die abschließenden Worte des Buches Ester, die Ester im Hinblick auf das Gebot, wonach die Juden in Persien und nachfolgend alle Juden das Purimfest zu begehen hätten, eindeutig königliche Autorität zusprechen, in einer babylonischen Rabbinenkultur, die in den öffentlichen Bereichen der Gemeindeleitung und rituellen Observanz keine weibliche Vorherrschaft duldeten, inakzeptabel.
9.
Die Verurteilung weiblichen Hochmuts
Die Unterstellung, dass Ester mit ihrer unabhängigen Anordnung der Vorschriften des Purimfests unangemessen gehandelt habe, leitet zu dem abschließenden Passus der Diskussion über die sieben Prophetinnen in bMeg 14a–15a über. Er beginnt in bMeg 14b mit der folgenden Erklärung, die Rav Nachman zugeschrieben wird: Hochmütigkeit ist nichts für Frauen! Zwei Frauen waren hochmütig, und ihre Namen sind zu verachten. Der Name der einen [Debora] ist Ziburta, Wespe, und der Name der anderen [Hulda] ist Karkuschta, Wiesel [oder ein Nagetier, das die Pest überträgt]. Über Ziburta steht geschrieben: Sie sandte aus und ließ Barak rufen (Ri 4,6). Sie ging nämlich nicht selbst. Karkuschta, über sie steht geschrieben: Sprecht zu dem Mann (2 Kön 22,15). Sie sagte aber nicht: „Sprecht zu dem König“.
Ähnlich kommentiert auch bPes 66b, dass Debora aufgrund ihres Hochmuts die Gabe der Prophetie genommen worden sei. Dort wird „Rabbi Jehuda […] im Namen Ravs“ zitiert: „Wenn jemand stolz ist, so verlässt ihn, wenn er Gelehrter ist, die Gelehrsamkeit […]. Ist er ein Prophet, so verlässt ihn die Prophetie, wie es bei Debora geschah“. Deboras Hochmut, so heißt es dort weiter, habe sich daran gezeigt, dass sie sagte: „Bewohner des offenen Landes gab es nicht mehr, es gab sie nicht mehr in Israel, bis ich, Debora, mich erhob, bis ich mich erhob, eine Mutter in Israel.“ (Ri 5,7) Der nachfolgende Vers:
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Judith R. Baskin
„Wach auf, wach auf, Debora! Wach auf, wach auf, sing ein Lied!“ (Ri 5,12) wird als Beleg für das Schwinden ihrer prophetischen Kräfte angeführt.13 Diese rabbinischen Kommentare wenden sich explizit gegen die öffentliche Machtausübung von Frauen. Im Kontext des babylonischen Ester-Midraschs unterstützen sie Ahasveros’ Anordnung aus Est 1,22, wonach jeder Mann auf häuslicher wie auf gemeinschaftlicher Ebene Herr in seinem eigenen Haus zu sein habe. Darüber hinaus lässt diese harsche Kritik an zwei bewundernswerten biblischen Frauen, die von Gott auserwählt worden waren, um Israel voranzubringen, auch Missbilligung daran erkennen, dass Ester sich anmaßt, unaufgefordert vor den König zu treten, Israels Schicksal bestimmen zu wollen und aus eigener Machtvollkommenheit rituelle Vorschriften zu erlassen. Der Angriff auf Ausdrucksformen weiblicher Macht wird im nächsten Abschnitt von bMeg 14b fortgesetzt, wo Rav Nachman erklärt, dass Hulda eine Nachfahrin Josuas gewesen sei. Diese scheinbar zusammenhanglose Aussage basiert auf einer linguistischen Analogie, die eine recht dürftige Verbindung zwischen den beiden herstellt. Rav Ena, der Alte, wird jedoch mit einem Einwand gegen Rav Nachmans Lehre zitiert, der sich auf eine Baraita stützt, der zufolge Hulda tatsächlich „aus Rahab, der Dirne“ hervorgegangen sei (Jos 2).14 Die Baraita erklärt, dass acht Propheten, die außerdem Priester waren, von Rahab abstammten und dass Jeremia einer von ihnen gewesen sei. Rabbi Jehuda führt folgende Belegstelle an: „Auch Hulda, die Prophetin, war [eins] von den Kindeskindern Rahabs, der Dirne. Hier steht geschrieben: Sohn Tiqwas (2 Kön 22,14). Und dort steht geschrieben: Den Tiqwat, einen roten Faden. (Jos 2,18)“ Rav Nachman erwidert jedoch, dass dies kein Widerspruch sei, weil Rahab sich bekehrt und Josua geheiratet habe, eine Tradition, die in SifBam 78 und in anderen Midrasch-Sammlungen aus dem Land Israel vorkommt. Rav Nachmans Erklärung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch; ein unmittelbarer Einwand wird vorgebracht, als die Gemara fragt: „Hatte Josua denn Nachkommen? Steht denn nicht geschrieben: Sein Sohn Nun, sein Sohn Josua? (1 Chr 7,27)“ Da die in der Chronik verzeichnete Genealogie mit Josua endet, wird angenommen, dass er keine Söhne hatte. Die versöhnliche Antwort stützt Rav Nachmans Aussage, wonach Josua und Rahab verheiratet gewesen seien: „Söhne hatte er nicht, Töchter hatte er“; offenbar erklärt also der Bavli, dass Hulda aus dieser Verbindung hervorgegangen sei. Ich habe an anderer Stelle die These vertreten, dass die angebliche Heirat zwischen Rahab und Josua ebenso wie die damit einhergehenden rabbinischen Über13 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kritik an Debora in bPes 66b Teil einer umfassenderen Diskussion ist, die Hochmut und Zorn bei Frauen und Männern kritisiert. 14 Zu den Rahab-Darstellungen in der Midrasch-Literatur vgl. Judith R. Baskin, Midrashic Women: Formations of the Feminine in Rabbinic Literature (Brandeis Series on Jewish Women; Hanover: Brandeis University Press, 2002) 154–160, und Kosman, „The Woman who Became a Man“.
Prophetinnen in bMegilla 14a–15a
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lieferungen, dass Rahab keine Prostituierte, sondern schlicht Gastwirtin oder Leinenmacherin gewesen sei,15 auf ihre Domestizierung abzielten und ihre Darstellung als reuige Dirne, die die Souveränität des Gottes der Israeliten anerkannte und zu einer vorbildlichen Proselytin wurde, erheblich schwächten.16 Ein Überlieferungsstrang über Rahab betont nämlich das überwältigende Ausmaß ihrer früheren Exzesse, um die Größe ihrer späteren Reue und Erlösung zu betonen.17 Es scheint plausibel, dass bMeg 14b Rahabs Ehe mit Josua und ihre nachfolgende Darstellung als eine Mutter in Israel auch deshalb so betont, weil die Bedeutung der Prophetie ihrer Nachfahrin Hulda geschmälert werden soll. Die Erwähnung Rahabs führt dazu, dass in bMeg 15a eine weitere Baraita zitiert wird, die eine Reihe beeindruckender biblischer Frauengestalten auf bloße sexuelle Objekte reduziert: „Die Rabbanan lehrten: Vier schöne Frauen hat es auf der Welt gegeben: Sara und Abigajil, Rachel und Ester. Und derjenige, der sagt, Ester sei grünblässlich gewesen, schließt Ester aus und nimmt Waschti mit hinein.“18 Dieser Tausch ist besonders interessant. Die Aufzählung von „schönen Frauen“, Frauen also, die beim Mann sexuelles Begehren hervorrufen, besteht nun aus zwei Israelitinnen und zwei Frauen, die außerhalb der ethnischen Gemeinschaft stehen. Was diese Gestalten in der Bibel verbindet, ist nicht so sehr ihre Schönheit, sondern die Tatsache, dass sie der männlichen Autorität nach rabbinischen Maßstäben nicht den angemessenen Respekt erwiesen haben. Zudem könnte man sagen, dass sie sich alle zumindest dem Anschein nach sexuell unangemessen verhalten haben.19 Unter diesen Vorzeichen hätte auch Ester in der Liste verbleiben können, doch einmal mehr ziehen die Rabbinen es vor, sie indirekt zu kritisieren. Ester, Sara und Waschti werden im weiteren Verlauf der Diskussion über die „vier schönen Frauen“ nicht mehr erwähnt. Stattdessen geht bMeg 15a zu den verführerischen Eigenschaften Rahabs und Abigajils und zweier weiterer biblischer Frauen, nämlich Jaëls (Ri 4–5) und Michals über, der Tochter des Saul, die eine der Frauen Davids war. Sie alle sind eine Herausforderung für die rabbinischen Exegeten, weil sie unabhängig handeln und zumindest implizit – Rahab durch ihren Beruf, Jaël durch die Art und Weise, wie sie Sisera 15 SifBam 78 und SifZ zu Num 10,28; vgl. auch Judith R. Baskin, „The Rabbinic Transformations of Rahab the Harlot“, NDEJ 11 (1979): 141–157. 16 Baskin, Midrashic Women, 154–160; und Ilan, Hullin, 465. Zu Rahabs herausragender Stellung unter den Konvertiten vgl. MekhY Amaleq 3, und o., Anm. 11. 17 Baskin, Midrashic Women, 156–167. 18 bMeg 13a schreibt die Bemerkung: „Ester war grünlich [wie eine Myrte], aber ein Band der Anmut war über sie ausgebreitet“, Rabbi Jehoschua ben Qarcha zu. Diese Beschreibung rührt offenbar daher, dass Ester mit hebräischem Namen Hadassa („Myrte“), hieß (Est 2,7). 19 Bei Sara bezieht sich das implizierte sexuelle Missverhalten auf die Episoden in Gen 12; 20, wo Abraham sie als seine Schwester ausgibt und zunächst der Pharao und später Abimelech sie als Frau zu sich nachhause holen, bis der Betrug auffliegt.
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Judith R. Baskin
beschwichtigt, und Abigajil durch das Angebot, das sie David macht – ihre Sexualität zum Ausdruck bringen. Dass Michal zu dieser Liste hinzugefügt wird, scheint ungewöhnlich, denn sie wird nirgends in den biblischen Quellen für ihre Schönheit gepriesen. Allerdings waren eine Reihe ihrer Handlungen für die Rabbinen beunruhigend. Dazu gehört, dass sie ihre Liebe zu David vor ihrer Heirat bekannt machte (1 Sam 18,20); dass sie David zuliebe ihren Vater täuschte (1 Sam 19,11); ihre beunruhigende Ehegeschichte (sie wurde einem früheren Ehemann zurückgegeben, nachdem sie mit einem zweiten verheiratet worden war); und ihre Zurechtweisung Davids in 2 Sam 6,14–22.20 In der Baraita, die bewusst auf Erregung abzielt, während sie gleichzeitig die Tugend der betreffenden Frauen in Frage stellt, heißt es: „Rahab war verführerisch durch ihren Namen. Jaël durch ihre Stimme. Abigajil durch die Erinnerung an sie,21 Michal, Tochter Sauls, durch ihr Aussehen. Rabbi Isaak sagte: Jeder, der sagt, Rahab, Rahab, hat sofort einen Samenerguss. Rav Nachman sagte zu ihm: Ich sage Rahab, Rahab, und nichts geschieht mir. Sagte er zu ihm: Ich sage [es] von dem, der sie kennt und mit ihr intim war.“ Dieser anzügliche Austausch zwischen Rabbi Isaak und Rav Nachman erscheint auch in bTaan 5b, wo er als die letzte von acht Überlieferungen aufgeführt ist, über die sich Rabbi Isaak – in diesem Fall bei einem Fest – mit Rav Nachman unterhalten haben soll. Diese Überlieferung über Rahab ist „rein babylonisch“22 und wird, wie Tal Ilan vermutet, von Rav Nachman ganz gezielt eingesetzt. Während der ursprüngliche Midrasch betont hatte, Gott habe Rahab als Lohn für ihre Taten zur Mutter von Priestern und Propheten gemacht, stellt Rav Nachmans Behauptung, dass Rahab Josua geheiratet habe, diese Lehre in Frage. Da Josua nicht aus einer Priesterfamilie stammte, können die Nachkommen, die aus seiner Verbindung mit Rahab hervorgingen, keine Priester gewesen sein.23 Ilan vertritt die Auffassung, dass bMeg 14b Rav Nachmans Überlieferung in diesem Kontext erwähnt, um der tendenziell positiven Bewertung der Rahab in den Überlieferungen aus dem Land Israel entgegenzuwirken, die sie „als reuige und gottgefällige Konvertitin“ darstellen. Hier dagegen wird Rahab „in einer besonders negativen, sexuell verführerischen Rolle“ geschildert.24 Ilan mutmaßt, dass „hier offenbar eine leicht antichristliche Polemik gegen das christliche literarische Motiv der reu20 Ein Verweis auf Michals als anmaßend wahrgenommenes Verhalten findet sich in yEr 10,1 (26a), wo es heißt, dass sie täglich die Gebetsriemen (tefillin) angelegt habe und dass die Weisen ihrer Zeit keinen Protest erhoben hätten. 21 Von Abigajil, auf die hier nicht mehr näher eingegangen wird, war in den Anmerkungen zu den sieben Prophetinnen bereits ausführlich die Rede. Sie ist die Einzige, die sowohl in der Liste der Prophetinnen als auch in der abschließenden Erwähnung besonders schöner Frauen erscheint. 22 Tal Ilan, Massekhet Ta‘anit: Text, Translation, and Commentary (FCBT II/9; Tübingen: Mohr Siebeck, 2008), 93f. 23 Ebd. 24 Ebd., 94.
Prophetinnen in bMegilla 14a–15a
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igen Prostituierten zum Zuge kommt“, das populär wurde, als die apokryphen frühchristlichen Geschichten über Maria Magdalena in Umlauf kamen. Sie schreibt: „Möglicherweise hat sich der Bavli vor diesem Hintergrund dazu entschlossen, Rahabs sexuelle Abenteuer stärker als ihre Reue und kontrastierend zu dieser zu betonen.“25 Ich stimme mit dieser Einschätzung überein, möchte aber ergänzen, dass die Absicht, Huldas Bedeutung dadurch zu schmälern, dass man sie mit dieser ausländischen Dirne in Verbindung bringt, bei der Betonung von Rahabs reißerischen Vergangenheit in diesem besonderen Kontext in bMeg 14b ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben dürfte. Durch die Nebeneinanderstellung der sieben Prophetinnen und der vier schönen und moralisch fragwürdigen Frauen in bMeg 14a–15a sollte verdeutlicht werden, was unausgesprochen blieb: dass auch Ester ihr Ziel durch Betrug, Hochmut und sexuelle Verführungskünste erreicht hat. Das beweisen ihr erfolgreicher Versuch, bei Hof aufgenommen zu werden, ihre angebliche Heirat mit Mordechai und die spätere Beziehung zu Ahasveros sowie ihr Anteil an Hamans Untergang. Die Sugia betont mithin, dass ihr wie in bMeg 14b nur eine Nebenrolle bei der Rettung ihres Volkes und der Einsetzung des Purimfests zugebilligt werden sollte.
10.
Schluss
Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass rabbinische Exegeten zutiefst verstört auf Ester reagierten und von ihren Taten beunruhigt, aber angesichts ihrer heilsbringenden Rolle in dem nach ihr benannten Buch nicht imstande waren, sie direkt zu kritisieren.26 Stattdessen untergruben sie ihre Stärke und Autorität dadurch, dass sie viele ihrer Taten erotisierten und klarstellten, dass Mordechai die eigentliche Kraft hinter ihrem Thron gewesen sei. Auch wenn Esters Ruf in der Diskussion über die sieben Prophetinnen unbeschadet bleibt, ist nicht zu leugnen, dass die anderen Frauen, die in bMeg 14a–15a verunglimpft werden, teilweise als Ersatzziele für die Missbilligung herhalten mussten, die die babylonischen Rabbinen darüber empfanden, dass Ester Macht hatte und auch bereit war, sie auszuüben, und dass sie überdies einen Nichtjuden heiratete, während sie noch mit ihrem Onkel Mordechai verheiratet war. So wird Sara als ein Objekt männlichen Begehrens und obendrein als Frau dargestellt, die die Kühnheit besitzt, ihren Mann zu beherrschen; Mirjam wird infantilisiert; Abigajil für ihren Ehrgeiz und ihre sexuellen Reize ge25 Ebd., 94f.; zu Rahab-Darstellungen im frühen Christentum vgl. Baskin, Midrashic Women, 200f., Anm. 29. 26 Judith R. Baskin, „Erotic Subversion: Undermining Female Agency in bMegillah 10b–17a“, in A Feminist Commentary on the Babylonian Talmud: Introduction and Studies (hg. v. Tal Ilan et al.; FCBT I; Tübingen: Mohr Siebeck, 2007), 228–244.
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tadelt; und Debora und Hulda herabgesetzt und als anmaßend verunglimpft, weil sie es gewagt haben, Rollen zu übernehmen, die eigentlich Männern vorbehalten waren. Diese Kommentare sprechen für ein generelles Unbehagen der Rabbinen gegenüber jeder biblischen Frau einschließlich Esters, die in der öffentlichen Sphäre Führungsqualitäten und Mut bewiesen, und zeigen, wie die Rabbinen solche Frauen mithilfe von Midrasch-Techniken auf ihre eigenen Vorstellungen von einem angemessenen weiblichen Verhalten zurechtgestutzt haben.
Verführung um des Himmels willen: Verführerische biblische Frauen aus Sicht der Rabbinen Yuval Blankovsky Henrietta Szold Institute, Jerusalem
In manchen Kommentaren der Weisen zu verschiedenen biblischen Verführungsgeschichten findet sich ein überraschendes Interpretationsmuster. In den betreffenden Fällen neigt der rabbinische Kommentar dazu, die (meist nichtjüdischen) Frauen in den Geschichten positiv zu bewerten und ihnen eine gute Absicht zu unterstellen, während die Männer von den Rabbinen verurteilt werden. Dieses bislang unerforschte Muster ist einmalig in der rabbinischen Literatur1 und in anderen, nicht-rabbinischen Werken derselben Zeit nicht nachweisbar; so finden wir beispielsweise keine nicht-rabbinischen Kommentare, die Lots Töchter loben und Lot, der mit seinen Töchtern geschlafen hat, verurteilen. Und ebenso wenig finden wir Kommentare, die Tamar dafür loben, dass sie Juda verführt hat, und Juda im Gegenzug verurteilen, wie es in Teilen der rabbinischen Literatur der Fall ist. Demgegenüber finden wir im Testament Judas und im Jubiläenbuch die Botschaft, dass Juda unschuldig sei, während Ersteres Tamar und Letzteres Judas Frau, der Tochter Schuas, die Schuld gibt.2 Und schließlich finden wir – und das ist äußerst erstaunlich – in der rabbinischen Literatur sogar einen Kommentar, der die Frau des Potifar lobt und erklärt, sie habe Josef um des Himmels willen verführen wollen. Auch dies ist eine Vorstellung, die meines Wissens in nicht-rabbinischen Kommentaren derselben Zeit nicht nachweisbar ist. Der vorliegende Beitrag verfolgt zwei Ziele: dieses bislang unbemerkt gebliebene Interpretationsmuster, das nichtjüdische Frauen lobt und Männer tadelt, erstens vorzustellen und zweitens sein Vorkommen in der rabbinischen 1
2
Der vorliegende Beitrag handelt, soweit nicht anders vermerkt, von der „klassischen rabbinischen Literatur“, die im Folgenden zuweilen auch als „talmudische Literatur“ oder „Literatur der Weisen“ bezeichnet wird und aus rabbinischen Schriften der ersten acht Jahrhunderte unserer Zeitrechnung besteht. Vgl. Jub 41,1–28; TestXII.Jud 12,3. Zur Darstellung des Falls im Jubiläenbuch vgl. Michael Segal, The Book of Jubilees: Rewritten Bible, Redaction, Ideology and Theology (Jerusalem: Magnes Press, 2007), 58 (Hebr.); Betsy Halpern-Amaru, The Empowerment of Women in the Book of Jubilees (JSJ.S 60; Leiden: Brill, 1999), 113– 116. Eine detaillierte Diskussion der Sichtweise im Testament des Juda bietet Esther Marie Menn, Judah and Tamar (Genesis 38) in Ancient Jewish Exegesis (JSJ.S 51; Leiden: Brill, 1997), 107–211.
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Literatur zu erklären. Warum schlagen die Rabbinen, eine Gruppe jüdischer Männer, eine Auslegung vor, die biblische nichtjüdische Frauen lobt? Mehrere Erklärungen sind denkbar. Wir könnten mutmaßen, dass die Rabbinen nicht etwa misogyn, sondern den Frauen gegenüber positiv eingestellt gewesen seien (was spontan vielleicht die nächstliegende Vermutung wäre). Wie ich noch zeigen werde, ist diese Sichtweise jedoch eindimensional und wird dem Gesamtkontext und der Nuanciertheit der Quellen nicht gerecht. Eine weitere mögliche Erklärung ist die, dass die betreffenden Kommentare darauf abzielen, den Stammbaum des davidischen Königshauses reinzuwaschen, aus dem der künftige Messias hervorgehen soll.3 Diese Vermutung bringt jedoch zwei Probleme mit sich: Erstens beschränkt sich die Vorstellung von der Verführung um des Himmels willen nicht auf Frauen, die mit der Abstammungslinie von König David in Verbindung stehen, und zweitens werden männliche Gestalten, die Teil ebendieser Linie sind, von den Rabbinen sehr wohl verurteilt. Wollte man die Wurzeln des Messias schützen und legitimieren, bräuchte es einen Kommentar, der beide an der Verführung beteiligten Seiten – die männliche und die weibliche – rechtfertigt. Ein Beispiel für eine positive Bewertung der verführerischen Frauen findet sich im Midrasch Bereshit Rabba, der ihnen eine gute Absicht „um des Himmels willen“ ()לשם שמים zuschreibt. Was diese Absicht aus Sicht der Rabbinen zu bedeuten hat, werde ich im Folgenden erläutern. Ehe ich jedoch ins Detail gehe, ist es wichtig, meiner Argumentation einen Rahmen zu geben und einige Bemerkungen hinsichtlich der Besonderheiten rabbinischer Literatur voranzuschicken. Die Literatur der Weisen umfasst die Kommentare hunderter Verfasser aus hunderten von Jahren. Ich behaupte nicht, dass beispielsweise die Geschichte von Lot und seinen Töchtern in der talmudischen Literatur nur auf eine einzige Weise wahrgenommen wird. Die hier vorgestellten Quellen enthalten mehrere widersprüchliche Einschätzungen der Rolle, die diese Frauen bei der Verführung ihres Vaters spielen. Gleichwohl finden wir in den Kommentaren der Rabbinen eine grundsätzlich positive Sicht auf die Frauen in den betreffenden Geschichten. Dieses Interpretationsmuster korreliert mit der Sachlage in den biblischen Geschichten selbst. So werde ich beispielsweise eine Lehre (Derascha) vorstellen, der zufolge Rut Boas um des Himmels willen in Versuchung führt. Dennoch wird Boas in der klassischen rabbinischen Literatur nicht verurteilt: Sowohl Rut als auch Boas werden getreu ihrer Darstellung in der Bibel positiv bewertet. Was hingegen Lot und seine Töchter betrifft, so schildert die biblische Geschichte ihre Taten als eine „Komödie der Irrtümer“ – eine allseitige Fehlkommuni3
Diesen Ansatz vertritt Ruth Kara-Ivanov Kaniel, „Gedolah averah lishmah“, Nashim 24 (2013): 27–52. Zu einer möglichen Verbindung mit dem Stammbaum Jesu in Mt 1, wo die davidische Abstammung als Hauptmerkmal Jesu hervorgehoben wird, siehe Dies., „The Myth of the Messianic Mother in Jewish and Christian Traditions: Psychoanalytic and Gender Perspectives“, JAAR 82 (2014): 1–48.
Verführerische biblische Frauen aus Sicht der Rabbinen
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kation zwischen Töchtern und Vater: Sie denken, er sei der einzige Mann auf der Welt, während er betrunken ist und den Inzest, in den er verwickelt wird, nicht bemerkt.4 In der Literatur der Weisen finden sich zahlreiche Aussagen, die Lots Rolle bei dem Inzestereignis verurteilen, während die Rolle seiner Töchter, wie wir noch sehen werden, umstritten ist: Lag in ihrem Fall eine gute Absicht um des Himmels willen vor oder war ihre Absicht böse? Kurzum, das Interpretationsmuster, das die verführerischen Frauen lobt und die Männer verurteilt, ist nicht in jeder der fraglichen Bibelgeschichten in derselben Weise präsent, sondern korreliert mit der biblischen Darstellung der betreffenden Charaktere. Gleichwohl existiert dieses Muster und verdient eine Erklärung. Ich werde das besagte Interpretationsmuster zunächst am Beispiel einiger rabbinischer Lehren aus dem Midrasch Bereshit Rabba vorstellen. Danach werde ich eine talmudische Diskussion (Sugia) aus dem Babylonischen Talmud vorstellen, die einen ganz eigenen Gebrauch von diesem Muster macht. Und schließlich werde ich zu erklären versuchen, warum sich dieses überraschende Muster herausgebildet hat und was es darüber aussagt, wie die Weisen verführerische Frauen der Bibel und Frauen und Sexualität im Allgemeinen wahrgenommen haben.
1.
Verführung um des Himmels willen in Bereshit Rabba
1.1
Eine Verurteilung Judas
Wie schon erwähnt, finden wir in der Literatur der Weisen keine Lehre, die Tamar verurteilt, wohl aber eine Reihe von Lehren über Juda, die ihn in einigen Fällen rechtfertigen und in anderen Fällen stärker belasten, als in der biblischen Geschichte vorgegeben.5 Die folgende Diskussion über das Geständnis, das Juda ablegt, als ihm die persönlichen Gegenstände gebracht werden, 4
5
Für diese biblische Geschichte und die missglückte Kommunikation zwischen Lot und seinen Töchtern sind verschiedene Erklärungen vorgeschlagen worden, siehe Talia Sutskover, „Lot and his Daughters (Gen 19:30–38): Further Literary & Stylistic Examinations“, JHS 11 (2011): 1–11. Zu diesem Schluss kommen mehrere wissenschaftliche Arbeiten über die rabbinischen Kommentare zu dieser Geschichte; allerdings wird nirgends darauf hingewiesen, dass die Rabbinen gegenüber Tamars Rolle anders eingestellt sind als gegenüber Judas Rolle; vgl. Menn, Judah and Tamar; Stefan Reif, „Early Rabbinic Exegesis of Genesis 38“, in The Exegetical Encounter between Jews and Christians in Late Antiquity (hg. v. Emmanouela Grypeou und Helen Spurling; JCPS 18; Leiden: Brill, 2009), 221–244.
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die er Tamar als Sicherheit gegeben hat, ist ein Beispiel für eine Reihe von Lehren, die Judas Schuld stärker gewichten: Sie wurde herausgeführt (( )והיא מוצאתGen 38,25). Rabbi Judan sagte: Sie [Jehudas persönliche Gegenstände] waren verlorengegangen, Gott aber lässt sie andere an ihrer Stelle finden, wie geschrieben steht: Oder er hat Verlorenes gefunden (( )או מצא אבדהLev 5,22). Rabbi Huna sagte: Sie wurde herausgeführt [sollte] mit einem Fragezeichen [gelesen werden]: nicht nur sie, sondern sie und er hätten hinausgeführt [und bestraft] werden müssen. Sie schickte zu ihrem Schwiegervater [und ließ ihm sagen: Erkenne doch!] etc. (Gen 38,25) Er wollte [ihren Anspruch] leugnen, sie aber sprach zu ihm: Erkenne doch deine Schöpfung, jene [Gegenstände] sind von dir und deinem Schöpfer. (BerR 85,11).
Die erste Lehre basiert auf der Beziehung zwischen dem Verb מצא, das in der Schrift für das Finden verlorener Gegenstände steht, und dem Wort מוצאת (aus der Wurzel )יצא, mit dem ausgedrückt wird, dass Tamar herausgeführt wurde. Rabbi Judan schließt aus dieser Ähnlichkeit, dass die Gegenstände, die Tamar von Juda erhalten hatte, verlorengegangen seien und dass Gott ihr anstelle der verlorenen andere, ähnliche Gegenstände gegeben habe. Für sich genommen drückt die erste Lehre aus, dass Gott in Judas und Tamars Geschichte eingegriffen hat: eine Vorstellung, die sich auch in anderen rabbinischen Traditionen findet. Damit wäre die biblische Gestalt von jedem Vorwurf freigesprochen.6 Ich erwähne diese Lehre hier, weil die dritte Lehre, die Judas Schuld stärker gewichtet, darauf aufbaut. Die zweite Lehre betont natürlich Judas Schuld, wenn sie behauptet, dass nicht nur Tamar, sondern auch Juda hätte bestraft werden sollen. Die dritte Lehre wirft Juda außerdem vor, er habe lügen und Tamars Anspruch leugnen wollen. Tamar weist Juda zurecht und fordert ihn auf, Gott zu erkennen und zuzugeben, dass er Geschlechtsverkehr mit ihr hatte, weil die Gegenstände, die er ihr gegeben hatte, auf wundersame Weise aufgefunden worden waren. Die Frage ist also: Was veranlasst die Rabbinen dazu, einen solchen Kommentar zu verfassen? Warum machen sie sich die Mühe, Judas Schuld schwerer zu gewichten, und warum können wir, was Tamars Anteil an der Affäre betrifft, nicht dieselben Bemühungen feststellen?
6
BerR 85,15.
Verführerische biblische Frauen aus Sicht der Rabbinen
1.2
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Ein Lob auf Tamar und die Frau des Potifar
Die folgende Lehre lobt nicht nur Tamar und ihre mutmaßliche gute Absicht um des Himmels willen, sondern schreibt auch der Frau des Potifar bei ihrem Versuch, Josef zu verführen, eine ähnlich gute Absicht zu. Das ist die einzige Lehre in der gesamten rabbinischen Literatur, die die Frau des Potifar positiv bewertet; andere Lehren sehen sie negativ.7 Deshalb bedarf diese überraschende Lehre einer Erklärung: Warum loben die Rabbinen die Frau des Potifar, die doch in der biblischen Geschichte negativ dargestellt wird? Die Lehre antwortet auf die Frage, weshalb die Geschichte von Josefs missglückter Verführung durch die Frau des Potifar mit den Worten „in derselben Zeit“ ( )ויהי בעת ההיאbeginnt. Für uns sind die folgenden Antworten von Interesse: Rabbi Samuel bar Nachman sagte: um die Geschichte der Tamar mit der Geschichte von Potifars Frau zu verbinden. Wie diese um des Himmels willen handelte, so handelte auch diese um des Himmels willen ( ;)לשם שמיםdenn Rabbi Jehoschua ben Levi sagte, sie hatte in den Sternen gelesen, sie werde einst von Jehuda einen Sohn stellen, sie wusste nur nicht, ob derselbe von ihr oder von ihrer Tochter kommen werde. (BerR 85,2)
Die Lehre geht der Frage nach, weshalb die biblische Josefsgeschichte durch die Geschichte von Juda und Tamar unterbrochen wird.8 Laut Rabbi Samuel bar Nachman soll uns auf diese Weise gezeigt werden, dass Tamar und die Frau des Potifar etwas gemeinsam haben: Ihrer beider Absichten waren gut und sie handelten um des Himmels willen. Doch was genau hat man sich unter einer solchen Absicht vorzustellen? Die zweite Lehre stammt von Rabbi Jehoschua, der erklärt, dass die Absicht „um des Himmels willen“ im Falle der Frau des Potifar bedeutet, dass sie Josef verführt habe, um von ihm schwanger zu werden. Diese Erklärung der Wendung „um des Himmels willen“ passt zu der nächsten Lehre, die auch Lots Töchtern ebendiese Absicht zuschreibt. 7
8
Eine Analyse der rabbinischen Lehren zur biblischen Geschichte über Potifars Frau und Josef bietet Joshua Levinson, „An-other Woman: Joseph and Potiphar’s Wife. Staging the Body Politic“, JQR 87 (1997): 269–301. Die nächste Lehre, die Potifars Frau lobt, wird bei Levinson nicht diskutiert. Eine Rechtfertigung der Frau des Potifar findet sich im Midrasch Tanḥuma zu Genesis 39,7 und im Koran, Sure 12,30–32. Diese Quellen erklären, dass Josef von unwiderstehlicher Schönheit gewesen sei; vgl. James L. Kugel, In Potiphar’s House: The Interpretive Life of Biblical Texts (San Francisco: Harper, 1990), 28–51. Auf diese Frage sind in der Forschung mehrere Antworten vorgeschlagen worden. Siehe Yairah Amit, „Hidden Polemics in the Story of Judah and Tamar (Genesis 38:1– 30)“, Shnaton: An Annual for Biblical and Ancient Near Eastern Studies 20 (2010): 11–25; 22, Anm. 37.
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1.3
Yuval Blankovsky
Lot und seine Töchter
Die nächste Lehre, die der Herkunft der Moabiter auf den Grund geht – das Volk der Moabiter war einer der in der Bibel erwähnten Gegenspieler Israels und aus dem Inzest zwischen Lot und seiner älteren Tochter hervorgegangen –, stellt zwei Absichten einander gegenüber: „um des Himmels willen“ und „aus Wollust“: Es steht geschrieben: Ich kenne seinen Übermut, Spruch des Herrn, sein Geschwätz ist nicht wahr. (Jer 48,30) Rabbi Huna bar Papa und Rabbi Simeon [sind unterschiedlicher Meinung]. Rabbi Huna sagte: Die Zeugung Moabs geschah im Anfang nicht aus Wollust, sondern um des Himmels willen, denn es wird gesagt: Seine Äste taten das nicht (Jer 48,30) um des Himmels willen, sondern aus Wollust, Als sich Israel in Schittim aufhielt, begann das Volk mit den Moabiterinnen Unzucht zu treiben. (Num 25,1) Rabbi Simeon sagte: Im Anfang geschah die Zeugung Moabs nicht um des Himmels willen, sondern aus Wollust, denn es wird gesagt: Seine Äste taten das nicht (Jer 48,30), handelten nicht aus Wollust, sondern um des Himmels willen: Sie ging zur Tenne und tat genauso, wie ihre Schwiegermutter ihr aufgetragen hatte. (Rut 3,6) (BerR 51,10)
Die Absicht der Töchter Lots ist bei den Rabbinen umstritten. Laut Rabbi Huna bar Papa haben sie um des Himmels willen, laut Rabbi Simon dagegen aus Wollust gehandelt. In dieser Derascha wird die Motivation um des Himmels willen als Gegenteil der Wollust dargestellt ( לשם שמיםvs. )לשם זנות. Wie schon erwähnt, wird Lots Schuld in mehreren rabbinischen Schriften eigens betont, während seine Töchter freigesprochen werden; ich werde weiter unten eine solche Lehre vorstellen, die Teil der talmudischen Diskussion ist, die ich zu erforschen beabsichtige. Nachdem wir die Bedeutung der Motivation um des Himmels willen geklärt und festgestellt haben, dass diese der Motivation der Wollust kontrastierend gegenübergestellt wird, können wir eine Erklärung für das Interpretationsmuster anbieten, das (nichtjüdische) verführerische Frauen lobt und Männer verurteilt. Meiner Meinung nach wollen die Rabbinen mit den oben zitierten Lehren ihrer Leserschaft folgende Botschaft vermitteln: 1. Die Rabbinen kennen den Willen Gottes. 2. Geschlechtsverkehr zu dem Zweck, schwanger zu werden, ist ein positiver Akt und steht im Einklang mit Gottes Willen. 3. Geschlechtsverkehr zum Zweck der Lustbefriedigung ist kein positiver Akt und wird verurteilt. Neben der Botschaft, dass Geschlechtsverkehr dann angemessen ist, wenn er dem Zweck dient, Kinder zu bekommen, sind in den Geschichten über die
Verführerische biblische Frauen aus Sicht der Rabbinen
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Verführung jüdischer Männer durch nichtjüdische Frauen noch weitere Botschaften enthalten. In ihrem Kommentar zu Tamar und der Frau des Potifar übermitteln die Rabbinen folgende Botschaften: 1. Die Kultur der Juden ist der der anderen, nichtjüdischen Umgebungskulturen überlegen. 2. Nichtjüdische Frauen erkennen die Überlegenheit der jüdischen Kultur an. 3. Frauen, die in der richtigen Absicht Geschlechtsverkehr haben, können Kinder gebären, die später hohes Ansehen genießen. Dadurch, dass sie nichtjüdischen Frauen eine Motivation um des Himmels willen zuschreiben, stärken die Rabbinen ihre Selbstwahrnehmung und insbesondere ihre Sicht auf Sexualität. Die Rabbinen behaupten, dass die jüdische Kultur anderen Kulturen überlegen ist und dass nichtjüdische Frauen diese Überlegenheit obendrein anerkennen. Wenn also in der Bibel nichtjüdische Frauen versuchen, mythische jüdische Männergestalten wie Juda und Josef zu verführen, dann tun sie das deshalb, weil sie ein Teil des jüdischen Volkes werden wollen. Die Rabbinen nutzen die biblischen Verführungsgeschichten zu Fantasien über nichtjüdische Frauen. In ihrer Vorstellung fühlen sich nichtjüdische Frauen von jüdischen Männern angezogen: nicht aus Wollust, sondern weil sie sich Kinder wünschen, die dem jüdischen Volk angehören. Andererseits scheuen die Rabbinen nicht davor zurück, die jüdischen Männer in diesen Geschichten zu kritisieren, um ihre Leserschaft vor der Gefahr sexueller Verfehlungen zu warnen: Selbst so vorbildliche Gestalten wie Juda können ins Straucheln geraten, weil sie sich von ihren Begierden leiten lassen. Was Lot und seine Töchter betrifft, die allesamt Nichtjuden sind, muss die Tatsache, dass die Töchter von den Rabbinen gelobt werden, eine andere Ursache haben. Offenbar besteht hier ein Zusammenhang mit der rabbinischen Interpretation des biblischen Konversionsverbots für Moabiter, das die Rabbinen nur auf männliche Moabiter beziehen, während sie die Konversion von Moabiterinnen für zulässig halten.9 Diese rabbinische Auslegung stützte sich auf die Geschichte der Rut, einer Moabiterin, die eine Angehörige des jüdischen Volkes wurde.10 Die Bibel enthält weitaus mehr Geschichten über nichtjüdische Frauen, die einen Juden heiraten und in das jüdische Volk aufgenommen werden, als über männliche Nichtjuden, die jüdische Frauen heiraten und Juden werden. Dies ist wahrscheinlich durch die patriarchale Struktur der biblischen Gesellschaft bedingt, die darauf abzielt, den jüdischen Männern eine größere Menge an jüdischen und nichtjüdischen Frauen zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig die legitimen Optionen der jüdischen Frauen einzuschränken.11 In rabbinischer Zeit waren die Erlaubnis, Moabi9 Vgl. mYev 8,13; BerR 51,36; SifDev 249; RutR 7,9. 10 Zur Botschaft der Rut-Geschichte siehe Amit, „Hidden Polemics“, 11–25. 11 Das hat Athalya Brenner, The Israelite Woman: Social and Literary Role and Literary Type in Biblical Narrative (BiSe 2; Sheffield: JSOT Press, 1985), 116, gezeigt.
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terinnen zu heiraten, und das Verbot, Moabiter zu heiraten, nicht länger von Belang, da das besagte biblische Volk nicht mehr existierte.12 Dennoch hielten die Weisen an dieser patriarchalischen biblischen Botschaft fest, weil die Unterscheidung zwischen den Männern und den Frauen von Moab zu ihrer eigenen patriarchalischen Weltanschauung passte.
2.
Die talmudische Sugia: bHor 10b
Eine im Babylonischen Talmud überlieferte Diskussion stellt gleich mehrere Fälle zusammen, in denen die Frauen nach dem besagten Muster gelobt und die Männer getadelt werden. Die talmudische Diskussion gliedert sich in drei Teile und listet drei Paare aus lobenswerten Frauen und tadelnswerten Männern auf.13 Zu Beginn kreist die Diskussion um den Vers „Ja, die Wege des Herrn sind gerade; die Gerechten gehen auf ihnen, die Treulosen aber kommen auf ihnen zu Fall.“ (Hos 14,10) Die Sugia nimmt an, dass die Frommen und die Frevler auf dieselbe Weise wandeln und das Ergebnis dennoch ein anderes ist.
2.1
Die Absicht Lots und seiner Töchter
Die Sugia versucht zu erklären, auf welche Weise die Frommen wandeln und die Frevler straucheln, und bewertet den Inzest zwischen Lot und seinen Töchtern abschließend wie folgt: Vielmehr, dies [der Vers] ist mit Lot und seinen beiden Töchtern zu vergleichen; über sie, die eine gute Handlung bezweckten, heißt es: die Gerechten gehen darauf, über ihn, der eine Sünde bezweckte, heißt es: die Treulosen aber kommen zu Fall darauf. (Hos 14,10) (bHor 10b; vgl. auch bNaz 23a)
Lots Motivation wird der guten Absicht seiner Töchter kontrastierend gegenübergestellt. Interessanterweise gebraucht der Talmud nicht die in Bereshit Rabba verwendete Formulierung „um des Himmels willen“ ()לשם שמים, sondern erklärt, Lots Töchter hätten „eine gute Handlung“ bezweckt, das heißt, in der Absicht gehandelt, „ein Gebot zu erfüllen“ ()לשם מצווה. Die12 Vgl. mYad 4,4. 13 Zum Phänomen der talmudischen Diskussionen mit ihrem dreiteiligen Aufbau und zu ihrer Verbindung mit der mündlichen Form des Talmuds vgl. Yaakov Elman, „Orality and the Redaction of the Babylonian Talmud“, Oral Tradition 14 (1999): 52–99.
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se Wortwahl hat einigen Forschern Schwierigkeiten bereitet: Welches Gebot wollten Lots Töchter erfüllen? Man behalf sich mit der These, dass die Wendung „ein Gebot erfüllen“ in diesem Kontext mit der Wendung „um des Himmels willen“ identisch sei.14 Tatsächlich ersetzen mehrere Handschriften aus talmudisch-aggadischen Sammlungen und die Tosafot-Kommentare „ein Gebot zu erfüllen“ durch „um des Himmels willen“.15 Gleichwohl scheint Letzteres eine sekundäre Version zu sein, die darauf abzielt, das Problem der erstgenannten Version, die in sämtlichen Handschriften der besagten TalmudStelle die ursprüngliche ist, zu lösen.16 Der Ausdruck „Absicht, ein Gebot zu erfüllen“ findet sich nur in der rabbinischen Literatur und bezog sich ursprünglich auf die Absicht, die Voraussetzung für eine Leviratsehe war. So lesen wir in der Mischna: […] früher, als man die Absicht hatte, [es zu tun, um] ein Gebot zu erfüllen, war das Gebot der Schwagerehe [Jibbum] der Ḥalitsa vorzuziehen; jetzt, wo man nicht die Absicht hat, [es zu tun, um] ein Gebot zu erfüllen, sagt man, das Gebot der Ḥalitsa ist dem Gebot der Schwagerehe vorzuziehen (mBekh 1,7).17
Man darf mit Sicherheit davon ausgehen, dass der Erzähler der Sugia, die Lots Töchtern die Absicht zuschreibt, ein Gebot zu erfüllen, diese Mischna kannte und bewusst darauf anspielte. Der Zweck einer Leviratsehe besteht darin, einem ohne Erben verstorbenen Bruder das Fortleben seines Namens zu garantieren, und Lots Töchter handelten in der Absicht, das Fortleben der Menschheit zu garantieren, von der sie glaubten, dass sie ausgerottet sei. Die talmudische Diskussion nimmt einen anderen Standpunkt ein als Bereshit Rabba, wo Lots Töchtern, wie eben gesehen, eine Motivation um des Him14 Vgl. Ephraim E. Urbach, The Sages: Their Concepts and Beliefs (Jerusalem: Magnes Press, 1975), 341; Oriel Neuwirth, Between Intention and Action: An Ethical and Theological Analysis of the Conception of Mitzvah in Rabbinic Literature (Diss., Bar Ilan University, 2012), 305 (Hebr.); Kara-Ivanov Kaniel, „Gedolah averah lishmah“, 27. 15 Vgl. Tosafot zu bNaz 23a, s. v. Diese Variante findet sich auch in anderen indirekten Textzeugen von bNaz, nämlich in MS Parma 3010 und MS London 406, die talmudische Aggadot enthalten; sowie in der ersten gedruckten Ausgabe von Haggadot hatalmud (Konstantinopel, 1511), einem weiteren Korpus talmudischer Aggadot, das einem unbekannten spanischen Gelehrten zugeschrieben wird. 16 Diese talmudische Diskussion erscheint an zwei Stellen, nämlich in den Trakten Nazir und Ḥorayot, die jeweils in vier Textzeugen vorliegen. Die Textzeugen zum Traktat Nazir sind MS München 95; MS Vatikan 111; Ginzburg 1134; und der Bomberg-Talmud zu Nazir. Die Textzeugen zum Traktat Ḥorayot sind MSS München 95; Paris 1337; Modena Archivio Storico Comunale 26.1 (ein Fragment der italienischen Geniza, das nur einen Teil der talmudischen Diskussion abdeckt); und der BombergTalmud zu Ḥorayot. 17 Diese Übersetzung folgt MS Kaufman; andere Handschriften bieten eine abweichende Reihenfolge, die sich jedoch nicht auf meine Argumentation auswirkt.
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mels willen zugeschrieben wird; hier wird ihr Handeln zu der halakhischen Regelung der Leviratsehe in Beziehung gesetzt.
2.2
Tamar und Zimri
Die nächste Aussage in der Sugia betrifft Tamar und Zimri und stammt von Ulla, einem Rabbinen, der häufig zwischen Babylon und Palästina hin- und herreiste: Ulla sagte: Tamar trieb Hurerei und Zimri trieb Hurerei, Tamar trieb Hurerei und Könige und Propheten kamen aus ihr hervor, Zimri trieb Hurerei und viele Myriaden von Israel fielen durch ihn. (bHor 10b)
Juda wird bei Ulla gar nicht erwähnt; entsprechend dem Muster des Frauenlobs und Männertadels erwähnt er stattdessen Zimri, der in der Schrift (Num 25,14) beschuldigt wird, weil er mit einer Moabiterin Geschlechtsverkehr gehabt und Götzenbilder verehrt hatte. Auf diese Weise umgeht die talmudische Diskussion eine Verurteilung Judas, dessen Rolle in der TamarGeschichte in der rabbinischen Literatur umstritten ist. Die Schrift bringt Tamars Verhalten ausdrücklich mit der Leviratsehe in Verbindung: „Juda nahm für seinen Erstgeborenen Er eine Frau namens Tamar. Aber Er, der Erstgeborene Judas, missfiel dem Herrn und so ließ ihn der Herr sterben. Da sagte Juda zu Onan: Geh zur Frau deines Bruders, vollzieh mit ihr die Schwagerehe und verschaff deinem Bruder Nachkommen!“ (Gen 38,6–8) Wir stellen fest, dass die Sugia einen ganz besonderen literarischen Kunstgriff anwendet: die Wiederholung eines oder mehrerer Wörter innerhalb eines Satz- oder Aussagenpaars. Zu Beginn erläutert sie den Vers „Ja, die Wege des Herrn sind gerade; die Gerechten gehen darauf, die Treulosen aber kommen zu Fall darauf“ (Hos 14,10), der eine Epipher benutzt, also eine Wortwiederholung am Ende zweier aufeinanderfolgender Klauseln. Die Sugia verweist in ihrer Erläuterung auf den Inzest zwischen Lot und seinen Töchtern und verwendet dabei das Stilmittel der Wiederholung. Die nächste Aussage von Rabbi Ulla verwendet das Stilmittel der Wiederholung bei der Gegenüberstellung von Jaël und Zimri. Dank dieses literarischen Kunstgriffs ordnet die Leserschaft Ullas Aussage in dasselbe Paradigma ein, will sagen: Tamar handelt in einer ähnlichen Absicht wie die Töchter Lots. Diese Einschätzung wird durch die klassischen mittelalterlichen Kommentare Raschis und der Tosafot gestützt. Wie bereits erwähnt, schreibt die Sugia – ähnlich wie die Lehre in Bereshit Rabba – in der Version des talmudischen Texts, die in den Tosafot zitiert wird, Lots Töchtern eine Motivation „um des Himmels willen“ zu.
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Analog dazu schreiben die Tosafisten Tamar in ihrem Kommentar zu Ullas Aussage eine Motivation „um des Himmels willen“ zu. Und auch Raschi vertritt die verbreitete Auffassung, Lots Töchter hätten gehandelt, um „ein Gebot zu erfüllen“ und schreibt Tamar eine vergleichbare Absicht zu.
2.3
Jaël und Sisera
Der letzte Kommentar in der Sugia, der verführerische Frauen lobt, ist folgende ambivalente Aussage: Rav Nachman bar Isaak sagte: Besser ist eine Sünde um des Himmels willen ( )עבירה לשמהals ein Gebot, das nicht um des Himmels willen erfüllt wird ()מצווה שלא לשמה, denn es heißt: Gepriesen sei Jaël unter den Frauen, die Frau des Keniters Heber, gepriesen unter den Frauen im Zelt. (Ri 5,24) (bHor 10b)18
Rav Nachman bar Isaak lobt Jaël, die Frau des Heber, und nennt ihre Tat „eine Sünde um des Himmels willen“, wobei jedoch auf den ersten Blick unklar ist, was genau er mit dieser Formulierung meint. Die verschiedenen Übersetzungen, die für diese Aussage vorgeschlagen worden sind, veranschaulichen ihre Ambivalenz und ihr radikales Potential: 1. Traktat Ḥorayot in der Schottenstein-Ausgabe: „Eine um [des Himmels] willen begangene Übertretung ist verdienstvoller als eine aus anderweitigen Gründen befolgte Mitzwa.“ 2. Jeffrey Kalmanofsky: „Eine um Gottes willen getane Sünde ist größer als ein aus anderweitigen Gründen getanes Gebot.“19 3. Traktat Nazir in der Soncino-Ausgabe: „Eine in guter Absicht begangene Übertretung ist besser als eine in böser Absicht befolgte Vorschrift.“ 4. Martin Jaffees Übersetzung des Traktats Ḥorayot: „Eine um der Erfüllung eines Gebots willen begangene Übertretung ist größer als ein nicht um seiner selbst willen erfülltes Gebot.“20
18 Diese Übersetzung folgt den Textzeugen zu Ḥorajot. In den Textzeugen zu Nazir wird Rav Nachman bar Isaaks Aussage durch eine Frage und eine Antwort unterbrochen. Dieses Thema habe ich an anderer Stelle eingehend erörtert, vgl. Yuval Blankovsky, „A Transgression for the Sake of God – ‘Averah Li-shmah: A Tale of a Radical Idea in Talmudic Literature“, AJSR 38 (2014): 321–338. 19 Jeffrey Kalmanofsky, „Sins for the Sake of God“, Conservative Judaism 54 (2002): 2–24; 11. 20 Jacob Neusner, Hg., The Talmud of Babylonia: An American Translation 26: Tractate Horayot (übers. v. Martin Jaffee; BJSt 90; Atlanta: Scholars Press, 1987).
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5. Alternativer Übersetzungsvorschlag: „Eine um des Himmels willen begangene Sünde ist größer als ein nicht um des Himmels willen erfülltes Gebot.“ Die von mir vorgeschlagene Übersetzung hat den Vorteil, dass das Wort lischma ()לשמה, das in der ursprünglichen Aussage zweimal vorkommt, beide Male gleich übersetzt wird.21 Die vernünftige Erklärung der Sünde Jaëls ist die, dass Rav Nachman die Auffassung vertritt, Jaël habe mit Sisera Geschlechtsverkehr gehabt, ehe sie ihn im Schlaf tötete. Davon ist in der Schrift nicht ausdrücklich die Rede. Die Geschichte der Jaël kommt im Buch der Richter zweimal vor: einmal als Teil der biblischen Erzählung (Ri 4) und das zweite Mal in Deboras Lied (Ri 5). Deboras Lied, das als Teil einer alten Überlieferungsschicht gilt, enthält explizitere Hinweise auf eine erotische Beziehung zwischen Jaël und Sisera als die Prosaversion. Deshalb vermuten einige Wissenschaftler, dass Letztere die abgewandelte Version der ursprünglichen Geschichte ist, in der Jaël mit Sisera geschlafen habe.22 In der Sugia wird Sisera von Rabbi Jochanan verurteilt: „Siebenmal vollzog jener Frevler Geschlechtsverkehr [an Jaël]“. Damit folgt die Sugia dem Interpretationsmuster des Frauenlobs und Männertadels und vervollständigt ihren dreiteiligen Aufbau. Rabbi Jochanan belegt seine Lesart anhand eines Verses aus Deboras Lied. In Wayiqra Rabba vertritt Rabbi Jochanans Gegenüber Resch Laqisch die Auffassung, dass zwischen Jaël und Sisera kein Geschlechtsverkehr stattgefunden habe, und belegt dies anhand eines Verses aus der Prosafassung.23 Rav Nachman bar Isaak scheint wie Rabbi Jochanan in unserer Sugia der Meinung zu sein, dass Jaël, eine verheiratete Frau, mit Sisera Geschlechtsverkehr hatte. Die Wendung awera lischma ( )עבירה לשמהin der Aussage von Rav Nachman bedeutet „Sünde um des Himmels willen“, und diese Aussage steht im Widerspruch zu dem grundlegenden rabbinischen Dogma, dass die Sünde gemieden werden muss. Laut Rav Nachman ist eine Situation vorstellbar, in der eine Sünde als mit dem Willen Gottes übereinstimmend gedacht werden könnte. Rav Nachman lobt Jaël, weil sie ihren Körper und ihre Sexualität 21 In diesem Zusammenhang verdient Erwähnung, dass das Wort lischma ( )לשמהin der Bedeutung le-schem schamajim (לשם שמים – „um des Himmels willen“) bereits in yHag 2,1 (77c) vorkommt, vgl. Yehuda Liebes, Elisha’s Sin (Jerusalem: Akademon, 1990), 79, Anm. 22 (Hebr.). Belege für die Austauschbarkeit der beiden Wendungen finden sich möglicherweise in einer Baraita, die den weiten Weg von Palästina nach Babylonien zurückgelegt hat, nämlich tBik 2,16 in bPes 50b. Man könnte das Wort lischma auch mit „angemessene Absicht“ oder „gute Absicht“ übersetzen. Für die Übersetzung „um des Himmels willen“ spricht jedoch der erwähnte sprachliche Zusammenhang zwischen lischma und leschem schamajim ( )לשם שמיםin der rabbinischen Literatur. 22 Vgl. Avigdor Shinan und Yair Zakovitch, That’s not what the Good Book says (Tel Aviv: Mischal, 2005), 223–229 (Hebr.). 23 Vgl. WaR 23,10.
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dem Interesse des jüdischen Volkes zum Opfer bringt. Das radikale Potential dieser Aussage liegt auf der Hand, und vielleicht formuliert Rav Nachman diese Botschaft ebendeshalb bewusst unscharf. Anstelle des Ausdrucks leschem schamajim ( )לשם שמיםgebraucht er das Wort lischma, das zwar unter Umständen als Ersatz für den Ausdruck „um des Himmels willen“ verwendet werden kann,24 wörtlich übersetzt aber „um seiner selbst willen“ bedeutet.25 Ähnlich wie die vorangegangenen Aussagen, die den Gegensatz zwischen Lot und seinen Töchtern und zwischen Tamar und Zimri herausstellen, kontrastiert die Aussage von Rav Nachman eine Sünde in angemessener Absicht mit einer Gebotsbefolgung ohne angemessene Absicht. Das veranlasst die Leserschaft dazu, die positive Absicht in der Aussage von Rav Nachman mit der positiven Absicht Tamars und der Töchter Lots – nämlich der Absicht, ein Gebot zu erfüllen – gleichzusetzen. Meines Erachtens erörtert der Erzähler der Sugia die Aussage von Rav Nachman im Kontext dieser talmudischen Diskussion, um ihr radikales Potential abzumildern, und stellt aus ebendiesem Grund einen Zusammenhang zwischen der Aussage von Rav Nachman und der angemessenen Absicht bei der Leviratsehe her. Dadurch, dass er die Aussage von Rav Nachman in diesen Abschnitt hineinnimmt, gibt er der Leserschaft zu verstehen, dass beides, diese Aussage und die Leviratsehe, demselben Grundsatz folgen: Genau wie das Gesetz der Leviratsehe das Verbot, die eigene Schwägerin zu heiraten, aufhebt, um ein geheiligtes Ziel zu erreichen, kann Rav Nachman auch Jaëls Ehebruch rechtfertigen, weil er begangen wurde, um ein geheiligtes Ziel zu erreichen, nämlich einen Feind Israels zu töten. Dadurch, dass die Aussage von Rav Nachman im Kontext der Leviratsehe, eines im biblischen Gesetzeskanon verankerten Gebots, erörtert wird, überzeugt der Verfasser seine Leserschaft auf subtile und kluge Weise davon, dass die Botschaft von Rav Nachman nicht etwa im Widerspruch zum Gesetz steht, sondern ein wesentlicher Bestandteil desselben ist. Nachdem wir die dreiteilige Struktur der Sugia und die Leviratsehe als ihren thematischen Hintergrund festgestellt haben, sind wir auch in der Lage, das Fehlen der Ester-Geschichte in unserer Sugia zu erklären, die der biblischen Geschichte der Jaël doch aus rabbinischer Sicht sehr ähnlich zu sein scheint.26 Der Vergleich zwischen Jaël und Ester findet sich zuerst bei den 24 S. o., Anm. 22. 25 Wie in allen Wörterbüchern angegeben. 26 Im Unterschied zu den Frauen, deren Fälle in der Sugia diskutiert werden, ist Ester Jüdin. Dennoch scheuen die Rabbinen nicht vor der Vorstellung zurück, dass sie ihre Sexualität im Interesse des jüdischen Volkes geopfert hat, vgl. Christiane Tzuberi, „Rescue from Transgression through Death: Rescue from Death through Transgression“, in Rabbinic Traditions between Palestine and Babylonia (hg. v. Ronit Nikolsky und Tal Ilan; AGJU 89; Leiden: Brill, 2014), 147–161. Deshalb bedarf es einer Erklärung, weshalb die Sugia sie nicht erwähnt, obwohl ihr sexueller Frevel dem der Jaël ähnelt.
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Tosafisten.27 Nach einigen rabbinischen Kommentaren zu urteilen gelten beide als Frauen, die ihre Sexualität geopfert haben, um den Interessen des israelitischen Volkes zu dienen.28 Bei einigen Kommentatoren findet sich sogar der Gedanke, dass die sexuelle Beziehung, die Ester im Interesse der israelitischen Nation mit König Achaschwerosch eingegangen ist, als „Sünde um des Himmels willen“ ( )עבירה לשמהzu bewerten sei.29 Dennoch werden Esters Taten nicht mit der Schwagerehe in Verbindung gebracht, weshalb der Erzähler in der talmudischen Sugia trotz der Ähnlichkeit zwischen Ester und Jaël kein Interesse daran hatte, Esters Geschichte in unsere talmudische Diskussion aufzunehmen. Natürlich hinderte dies die rabbinischen Kommentatoren späterer Zeiten nicht daran, die Vorstellung von der „Sünde um des Himmels willen“ auch auf Ester auszuweiten. Eine andere Ausweitung – diesmal der Midrasch-Vorstellung der Verführung um des Himmels willen – findet sich im Midrasch Chanukka, der eine hebräische Version des Buches Judit enthält. In diesem Midrasch finden wir den folgenden Dialog: „Sie sprachen zu ihr [Judit]: Fürchte den Herrn nicht, fühlst du dich etwa zu diesem unreinen Heiden hingezogen? Sie antwortete ihnen: Gewiss nicht; ich habe keinerlei böse Absicht in der Welt außer um des Himmels willen.“30 Diese Quelle weist darauf hin, dass die Vorstellung von einer Verführung um des Himmels willen in späteren Generationen auf andere Geschichten ausgeweitet wurde.
3.
Schluss
Sowohl in den Lehren des Midrasch Bereshit Rabba als auch in der talmudischen Diskussion finden wir dasselbe Muster, wonach verführerische biblische Frauen gelobt und Männer getadelt werden. Allerdings hat jede der beiden Quellen ihre eigenen Gründe für die Wahl dieses Interpretationsmusters. Jede der beiden Quellen wendet dieses Interpretationsmuster auf eine bestimmte Gruppe von biblischen Frauen an. Bereshit Rabba schreibt Lots Töchtern, Tamar, der Frau des Potifar und Rut Verführung um des Himmels willen zu, und die talmudische Diskussion erwähnt Lots Töchter, Tamar und Jaël. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit Frauen in biblischen Verführungsgeschichten befassen und Gruppen von Frauen mit 27 Tosafot, bNaz 23a, s. v. veha ka mithanya me-aveirah. Der Tosafot-Kommentar kommt zu dem Schluss, dass Ester im Unterschied zu Jaël vergewaltigt worden sei. 28 Zur rabbinischen Wahrnehmung dieses Aspekts der Taten Esters vgl. Tzuberi, „Rescue from Transgression“. 29 Vgl. Rabbi Zadok Ha-Cohen Me-Lublin, Mehshevet harutz, Kap. 20; Rabbi Zvi Alimelech Me-Dinov, Benei isaschar, mamarei hodesh nisan 4,7. 30 Midrasch Chanukka 133.
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bestimmten Gemeinsamkeiten zu identifizieren suchen. Interessanterweise werden die in Bereshit Rabba und in der talmudischen Sugia erwähnten Frauen in keiner dieser Arbeiten als eigene Gruppe benannt.31 Es entsteht der Eindruck, dass die rabbinische Literatur besondere Gründe hatte, biblische Verführungsgeschichten so anzuordnen, wie sie es tut. Um diesen Gründen auf die Spur zu kommen, müssen wir uns auf die Denkweise, die Glaubens- und die Wertewelt der Weisen einlassen. In Bereshit Rabba schreiben die Rabbinen biblischen Frauen Verführung um des Himmels willen zu, um die patriarchalische Botschaft zu übermitteln, dass Geschlechtsverkehr zum Zweck der Fortpflanzung angemessen ist und dass nichtjüdische Frauen jüdische Männer begehren, weil sie ihre kulturelle Überlegenheit anerkennen. Der Talmud hingegen hat ein Interesse daran, die Vorstellung von der Sünde um des Himmels willen, die sich um die Jaël-Geschichte herum entwickelt hat, im Kontext der Schwagerehe zu verorten. Deshalb erwähnt die Sugia auch Lots Töchter und Tamar, nicht aber die Frau des Potifar und interessanterweise auch nicht Rut, obwohl ihre Geschichte in direktem Zusammenhang mit der Schwagerehe steht. Grund hierfür ist, dass Rut nach dem Verständnis der klassischen rabbinischen Literatur keine sexuelle Sünde begangen hat.32 Mehrere Forscher haben die These vertreten, die rabbinische Literatur habe verführerischen Frauen der Bibel eine Motivation um des Himmels willen zugeschrieben, um die königliche Abstammungslinie Davids und des Messias reinzuwaschen.33 Wenn diese Hypothese zuträfe, dürfte sich die besagte Vorstellung nur im Kontext der biblischen Geschichten über Lots Töchter, über Tamar und über Rut entwickelt haben. Tatsächlich gehört sowohl die Vorstellung von der Sünde um des Himmels willen als auch die entgegengesetzte Vorstellung, wonach die biblischen Charaktere in den Verführungsgeschichten unter göttlichem Zwang gehandelt hätten,34 zu den Hilfsmitteln, auf die die Rabbinen zurückgriffen, um die Genealogie des davidischen Königshauses in Schutz zu nehmen. Doch es gibt keinen Hinweis darauf, dass die rabbinische Literatur irgendeinen besonderen Zusammenhang zwischen der Vorstellung von der Verführung um des Himmels willen und dem Stammbaum dieser königlichen Familie hergestellt hätte. Überdies lässt sich die Verurteilung Lots und Judas, die in den besagten Verführungsgeschichten keine 31 Vgl. z. B. Levinson, „An-other woman“; Brenner, The Israelite Woman; Johanna Bos, „Out of the Shadows: Genesis 38; Judges 4:17–22; Ruth 3“, Semeia 42 (1988): 37–67. Ich habe mich an anderer Stelle mit diesem Thema befasst: Yuval Blankov sky, Sin for the Sake of God: A Tale of a Radical Idea in the Talmudic Literature (Jerusalem: Magnes Press, 2017), 80–83 (Hebr.). 32 Rut wird in der späteren Version der Sugia in bNaz zwar erwähnt, aber nicht der Gruppe der drei Frauen zugerechnet, die der früheren Version der Sugia in bHor zufolge sexuell gesündigt haben. 33 Vgl. Kara-Ivanov Kaniel, „Gedolah averah lishmah“, 27–52; Menn, Judah and Tamar. 34 Vgl. BerR 85,16.
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unwesentliche Rolle spielen, nicht wirklich mit dem Vorhaben vereinbaren, die davidische Abstammungslinie reinzuwaschen. Erst in späteren Midraschim wird die Verführung um des Himmels willen einer klar umrissenen Gruppe von Frauen zugeschrieben, die mit der königlichen Familie in Verbindung stehen.35 Die Art, wie diese Traditionen die Vorstellung von der Sünde um des Himmels willen anwenden, ist geschlechterdifferenziert. Es gibt mehrere talmudische Geschichten, in denen sich die Rabbinen über stringente halakhische Regelungen sexueller Fragen – etwa das Verbot, eine Frau zu berühren – hinwegsetzen.36 Offenbar wenden diese Geschichten die Praxis der „Sünde um des Himmels willen“ auf ihre Protagonisten an. In all diesen Geschichten erlauben es sich die Rabbinen, halakhische Regeln zu übertreten, weil sie von der Reinheit ihrer Absichten überzeugt sind. Interessanterweise bietet der Kabbalist Rabbi Mosche Chaim Luzzatto in späterer Zeit eine Lesart unserer Sugia, die diese Geschlechterdifferenzierung umkehrt: Anhand der im Talmud diskutierten Fälle erklärt er, dass nur Frauen, nicht aber Männer um des Himmels willen sündigen könnten.37 Die rabbinische Vorstellung von der Sünde um des Himmels willen korreliert mit der rabbinischen Wahrnehmung verführerischer biblischer Frauen und bringt die Einstellung der Rabbinen gegenüber Frauen und Sexualität zum Ausdruck. Ihre spezielle Glaubens- und Vorstellungswelt brachte ein erstaunliches Interpretationsmuster hervor, wonach verführerische (nichtjüdische) Frauen gelobt und die von ihnen verführten Männer getadelt wurden. Dieses genuin rabbinische Interpretationsmuster übermittelt die Botschaft, dass Frauen ihre Sexualität zum Nutzen der jüdischen Gruppe einsetzen sollen, stärkt die sexuelle Selbstwahrnehmung der Rabbinen und bildet die Grundlage für eine radikale Denkweise, die Sünden, sofern sie in guter Absicht begangen wurden, bis zu einem gewissen Grad für legitim erklärt.
35 Vgl. Pirke Rabbenu ha-Kadosch 30b. 36 Zu solchen Geschichten vgl. bKet 17a; bShab 13a; bQid 81b. 37 Kinat Ha-Schem Tzevaot 96. Eine Diskussion dieses Abschnitts findet sich bei Jonathan Garb, Kabbalist in the Eye of the Storm (Tel Aviv: Tel Aviv University Press, 2014), 168–171 (Hebr.).
Eva in Avot deRabbi Natan Natalie C. Polzer University of Louisville
In den bibelbasierten religiösen Kulturen des Westens steht Eva in der Regel als paradigmatisches Modell für eine große Bandbreite an normativen Praktiken und Ideologien von den wesentlichen Eigenschaften und sozialen Rollen von Frauen und von angemessenen Genderbeziehungen. Die meisten dieser mehrheitlich frauenfeindlichen Darstellungen machen Eva für den Sündenfall, die sexuelle Verführung und den Tod in der Welt verantwortlich und betrachten es als ihre Bestrafung, dass Frauen sich den Männern unterordnen und Kinder zur Welt bringen müssen.1 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die normative Darstellung in der Tradition der rabbinischen Haggada Eva unter dem Aspekt ihrer Ehe mit Adam, d. h. als Teil eines Paares in den Blick nimmt. So sind Adam und Eva einer babylonischen Überlieferung zufolge eines von vier Patriarchenpaaren, die in der Höhle von Machpela in Kirjat-Arba – wörtlich „Stadt der vier“ – begraben liegen (Gen 23,2).2 Selbst die wenigen frührabbinischen Auslegungen der biblischen Aussage von Evas Einzigartigkeit – „sie wurde die Mutter aller Lebendigen“ (Gen 3,20) – betrachten Eva nicht für sich genommen, sondern in ihrer Beziehung zu Adam.3 Bedenkt man dieses normative Eva-Bild der rabbinischen Tradition, so ist es bemerkenswert, wie Eva in der rabbinisch-haggadischen Kompilation Avot deRabbi Natan dargestellt wird, die in zwei verschiedenen Versionen (ARN A und ARN B) erhalten ist.4 Vor allem ARN B ist in dieser Hinsicht singulär, 1
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In den traditionellen christlichen und jüdischen Auslegungen wird Eva in aller Regel mit moralischer Schwäche, Sexualität und Sünde assoziiert. Nach ihm erschaffen, ist sie Adam in sozialer wie physischer Hinsicht unterlegen. Vgl. Pamela Norris, Eve: A Biography (New York: New York University Press, 1999), 163–194; John A. Phillips, Eve: The History of an Idea (San Francisco: Harper and Row, 1984), 16–37.78–95. Eine vergleichende Diskussion bietet Daniel Boyarin, Carnal Israel: Reading Sex in Rabbinic Culture (The New Historicism 25; Berkeley: University of California Press, 1992), 78–95. bEr 53a; bSot 13a. So wird der Satz beispielsweise als Anspielung darauf gedeutet, dass Adam und Eva nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies 130 Jahre lang sexuell enthaltsam gewesen seien und mit körperlosen Geistern (Adam mit weiblichen und Eva mit männlichen) zusammengelebt hätten. See BerR 20,20 (TA 1:195f.). So bezeichnet von Solomon Schechter in seiner kritischen Ausgabe: Aboth deRabbi Natan: Solomon Schechter’s Critical Edition with Notes Indicating Variants in the Versions and Additional Notes from Schechter’s Edition (Ndr. mit Prolegomenon
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insofern es Eva als unabhängige, sprechende Akteurin darstellt und jüdischen Frauen die Fähigkeit zuspricht, den Sündenfall unter anderem durch das ritualisierte Vergießen von weiblichem Blut zu sühnen. Tatsächlich kann man die These vertreten, dass ARN B Evas urweibliche biologische Funktionen – Menstruation und Schwangerschaft –, die im normativen Kontext als Teil ihrer Bestrafung aufgefasst werden, in ein Blutopfer umdeutet, das der Sühne dient und den Fortbestand des jüdischen Lebens und der jüdischen Gemeinschaft garantiert. Diese radikale Auffassung von der sühnenden Kraft des weiblichen Blutes findet sich meines Wissens nur in zwei vormittelalterlichen jüdischen Texten: ARN B und einem Pijjut – einem jüdischen liturgischen Gedicht – von Eleazar birabbi Qallir mit dem Titel Aḥat Sha’alti („Ich habe eine flehentliche Bitte“).5 Eine feministische Lesart dieser beiden Texte geht der bemerkenswerten Tatsache auf den Grund, dass sie Eva und die jüdischen Frauen nach ihr als Akteurinnen darstellen, die durch die Befolgung dreier nur Frauen vorbehaltener Gebote und durch das rituelle Vergießen von weiblichem Geburts- und Menstruationsblut – in ARN B implizit (nämlich durch redaktionelle Kunstgriffe) als Sühneopfer dargestellt, das die Zerstörung des Tempels überdauert – für die Ursünde Sühne leisten.6 Diese Auffassung weicht grundlegend von der normativen rabbinischen Darstellung Evas als eines paradigmatischen Modells für die untergeordneten sozialen Rollen von Frauen und von ideologischen Konstrukten ab, die Frauen bestimmte Wesenszüge, Erfahrungen und Genderbeziehungen zuweisen.7
v. Menachem Kister; New York: Jewish Theological Seminary of America, 1997) (Hebr.). 5 Kritische Ausgabe: Shulamit Elizur, „‚Aḥat Sha’alti‘: A Kedushah for Shabbat Parah by Rabbi Eleazar berabbi Qillir“, Kovez Al Yad NS 10 (1982): 11–56 (Hebr.). Zur exegetischen Kreativität des Pijjut vgl. Michael Fishbane, „Piyut and Midrash: Between Poetic Invention and Rabbinic Convention“, in Midrash Unbound: Transformations and Innovations (hg. v. dems. und Joanna Weinberg; Oxford: Littman Library of Jewish Civilization, 2013), 99–135. Der allegorische Vergleich, den der Pijjut zwischen Eva und der roten Kuh herstellt, begegnet auch in einem späteren mittelalterlichen Kommentar, der den Pijjut ganz klar als direkte Quelle benutzt hat; vgl. Ephraim E. Urbach, Sefer Pitron Torah: A Collection of Midrashim and Interpretations (Jerusalem: Magnes Press, 1978) (Hebr.), 178f. 6 Zur Veränderung der theologischen Bedeutung des Blutopfers in den post-opferkultischen Formen des spätantiken Juden- und Christentums vgl. Raanan S. Boustan, „Confounding Blood: Jewish Narratives of Sacrifice and Violence in Late Antiquity“, in Ancient Mediterranean Sacrifice (hg. v. Jennifer Wright Knust und Zsuzsanna Vārhely; Oxford: Oxford University Press, 2011), 265–286. 7 Die Eva-Darstellung von ARN habe ich kürzlich an anderer Stelle erörtert; vgl. über die hier gebotene Zusammenfassung hinaus Natalie C. Polzer, „Misogyny Revisited: The Eve Traditions in Avot de Rabbi Natan, Versions A and B“, AJSR 36 (2012): 207–255.
Eva in Avot deRabbi Natan
1.
281
Methodologie
Die vorlegende feministische Untersuchung der Eva-Darstellung bedient sich gängiger normativer fachwissenschaftlicher Hilfsmittel, um die Form, die Gattung, den ideologischen Inhalt und die historischen und kulturellen Kontexte rabbinischer Texte und der darin enthaltenen Traditionen auszuwerten. Die theoretische Perspektive des Feminismus nimmt die historische und kulturenübergreifende Darstellung von Frauen, Gender und Genderbeziehungen in den Blick und verfolgt dabei in der Hauptsache zwei Ziele: (1) normative und unkonventionelle Darstellungen von Frauen und Gender voneinander zu unterscheiden und (2) die Entstehung der betreffenden Darstellungen historisch nachzuvollziehen und – soweit dies in Anbetracht des eingeschränkten handschriftlichen Befunds und unserer begrenzten Kenntnis der Überlieferungsgeschichte der meisten rabbinischen Schriften möglich ist – in einem kulturellen und historischen Kontext zu verorten.8 Zwei hier vorausgesetzte und ineinandergreifende feministische Annahmen werden durch die Textanalyse gestützt: (1) dass Texte „mit einer bestimmten Tendenz herausgegeben und abgeschrieben wurden, nämlich der, Frauen herabzusetzen, zu verunglimpfen und zum Schweigen zu bringen“,9 und (2) dass die Weitergabe von Texten mit einer Zensur einherging, bei der Inhalte, die Frauen und Gender betrafen – biblische Figuren eingeschlossen –, abgewandelt oder ganz entfernt wurden.10 Eine kritische Analyse rabbinischer Literatur im Licht dieser feministischen Grundannahmen zeigt, dass die Einstellungen zu Frauen und Gender im Zuge der Weitergabe rabbinischer Texte mit der Zeit immer konservativer und monolithischer wurden.
2.
Avot deRabbi Natan: Fassung A und B
Aufgrund der unklaren Herkunft sowie der eigenwilligen Gattungsmerkmale und Inhalte von ARN ist jeder Versuch, auch nur irgendetwas Allgemeines über diese Textsammlung auszusagen, mit ungewöhnlich großen Schwierig-
8
Die frühesten erhaltenen Handschriften vollständiger rabbinischer Texte stammen aus dem Mittelalter; zu den methodologischen Problemen vgl. Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch (München: Beck, 92011), 248–251. 9 Tal Ilan, Massekhet Ta‘anit: Text, Translation, and Commentary (FCBT II/9; Tübingen: Mohr Siebeck, 2008), 8. 10 Dies., Mine and Yours are Hers: Retrieving Women’s History from Rabbinic Literature (AGJU 41; Leiden: Brill, 1997), 51–84.
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Natalie C. Polzer
keiten verbunden.11 Denn, wie die Herausgeber des Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature schreiben, „eine der Kompilationen, die sich einer räumlichen, zeitlichen und gattungstechnischen Einordnung am erfolgreichsten entzogen haben, ist der Kommentar zu Mischna Avot selbst, Avot deRabbi Natan.“12 Was mit Sicherheit über ARN gesagt werden kann, ist, dass es sich dabei um den ersten zusammenhängenden Kommentar zu mAv handelt und dass dieser irgendwann in vormittelalterlicher Zeit in zwei unterschiedlichen Fassungen, nämlich ARN A und ARN B, entstanden ist. Diese Fassungen haben eine gemeinsame Grundstruktur (bei beiden handelt es sich um einen fortlaufenden Kommentar zu mAv) und einen nicht unwesentlichen Bestand an Parallelinhalten. Sie unterscheiden sich jedoch – anders als es bei zwei Varianten desselben Texts der Fall wäre – hinsichtlich ihrer redaktionellen und textlichen Entwicklung, ihrer handschriftlichen Überlieferung und einiger inhaltlicher wie stilistischer Alleinstellungsmerkmale. In der Forschung besteht Einigkeit darüber, dass ARN B, was die Form angeht, weniger ausgereift und mithin die ältere Textfassung ist.13 ARN A war, wie die Zahl der erhaltenen Handschriften belegt, populärer als ARN B: so populär, dass sie im 16. Jh. als „außerkanonischer“ Traktat – eine Art Gemara zu mAv – in die Druckausgabe des Babylonischen Talmuds aufgenommen wurde. In der Folgezeit war die B-Fassung in den traditionellen Zirkeln immer weniger geläufig und fing erst wieder an, unter den Gelehrten zu kursieren, nachdem Solomon Schechter sie 1887 in seiner ersten kritischen Ausgabe eines rabbinischen Texts ediert hatte.14 Bis gegen Ende des 20. Jh., als Menachem Kister seine Neubewertung von ARN vorlegte, galt die Textsammlung allgemein als amoräischer Kommentar zu mAv, der, wie man annahm, die Kultur, die Geschichte und das religiöse Denken der Tannaim aus Palästina authentisch widerspiegelte.15 Diese 11 Einen Überblick bieten Schechters Einleitung zur kritischen Ausgabe und Myron B. Lerner, „The External Tractates“, in The Literature of the Sages 1: Oral Tora, Halakha, Mishna, Tosefta, Talmud, External Tractates (hg. v. Shmuel Safrai; CRINT 2,3,1; Assen: Van Gorcum, 1987), 369–379. 12 Charlotte E. Fonrobert und Martin S. Jaffee, Hg., Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature (Cambridge Companions to Religion; Cambridge: Cambridge University Press, 2007), 8. 13 Schechter, Aboth, xx–xxiv. 14 Ebd. Die textkritische Arbeit ist vor kurzem durch eine neue synoptische Ausgabe erleichtert worden: Hans-Jürgen Becker, Hg., Avot de-Rabbi Natan: Synoptische Edition beider Versionen (TSAJ 116; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006). 15 Z. B.: Louis Finkelstein, Introduction to the Treatises Avot and Avot of Rabbi Nathan (TSJTSA 16; New York: Jewish Theological Seminary of America, 1950) (Hebr.); Anthony Saldarini, Scholastic Rabbinism: A Literary Study of the Fathers according to Rabbi Nathan (BJSt 14; Chico: Scholars Press, 1982). Denselben Standpunkt vertreten auch die englischen Übersetzungen: Judah Goldin, The Fathers according to Rabbi Nathan (YJS 10; New Haven: Yale University Press, 1955); Anthony Saldarini, The Fathers According to Rabbi Nathan (Abot de Rabbi Nathan):
Eva in Avot deRabbi Natan
283
Annahme stützte sich auf die Sprache und Gestaltung von ARN (Mischnahebräisch mit einigen wenigen aramäischen Wörtern) und ihre beinahe exklusive Fokussierung auf tannaitische Gestalten. Aufgrund ihres einfachen, volkstümlichen Stils, ihres haggadischen Inhalts und ihrer vielen Erzählungen über tannaitische Rabbinen hielt man sie für einen pädagogischen Text, der verwendet worden war, um Rabbinen, die an einer Schule in Palästina zu Tannaim oder Amoraim ausgebildet wurden, die Werte und die hierarchische Ordnung einer rabbinischen Gemeinschaft zu vermitteln.16 Kisters akribische Textanalyse hat jedoch gezeigt, dass (1) ARN nicht amoräisch, sondern frühestens gaonäisch ist; und dass (2) beide Fassungen von ARN sich so ungleichmäßig entwickelt haben, dass sich, was den Prozess ihrer Redaktion und Textüberlieferung betrifft, keine allgemeinen Aussagen treffen lassen.17 Obwohl Schechters Einschätzung, wonach ARN B die weniger ausgereifte Fassung darstellt, nach wie vor Bestand hat, hat Kister doch deutlich gemacht, dass es unmöglich ist, eine Fassung oder auch nur eine bestimmte Handschrift einer Fassung als Beispiel für eine getreuere Textüberlieferung zu benennen; überdies sind stichhaltige Aussagen über die Redaktions- und Überlieferungsgeschichte aufgrund der ungleichmäßigen Entwicklung beider Fassungen auf einzelne Abschnitte beschränkt, während über den Text als Ganzes nichts Endgültiges gesagt werden kann.18
3.
Eva in ARN: Ein Überblick
Um die Eva-Darstellung von ARN zu kontextualisieren, muss man wissen, wie die Textsammlung grundsätzlich mit Themen umgeht, die Frauen, Gender und Genderbeziehungen betreffen. Soweit ich weiß, ist mein 2012 publizierter Artikel19 bislang der einzige Beitrag, der auf einer umfassenden Analyse der Version B (SJLA 11; Leiden: Brill, 1975). Die Tendenz, ARN als authentisches Beispiel für die frührabbinische Periode zu betrachten, zeigt sich auch in der jüngeren Forschung. So glaubt etwa Jonathan Schofer, The Making of a Sage: A Study in Rabbinic Ethics (Madison: University of Wisconsin Press, 2005), 27f.31–34, dass darin die hegemonische Präsenz des klassischen römischen Imperiums gespiegelt werde. 16 Eine zusammenfassende Darstellung dieser Auffassung bietet Natalie C. Polzer, Interpreting the Fathers: A Literary-Structural Analysis of Parallel Narratives in Avot de Rabbi Natan, Versions A and B (Diss., University of Cambridge, 1991), 42–44 und Endnoten. 17 Menachem Kister, Studies in Avot de-Rabbi Natan: Text, Redaction and Interpretation (Jerusalem: Yad Izhak Ben-Zvi, 1998), 5–7 (Hebr. mit einer englischen Zusammenfassung, ix). 18 Ebd., 5–7.13–22. 19 Polzer, „Misogyny“.
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Muster basiert, die bei der Darstellung von Frauen und Gender in ARN wirksam werden.20 Ältere feministische Arbeiten zu den Eva-Überlieferungen von ARN betrachten beide Fassungen als grundsätzlich und ARN B im Besonderen als extrem frauenfeindlich,21 weil diese Fassung sich so übertrieben deutlich auf die Tradition der drei Gebote bezieht, die Frauen als Sühne für die Ursünde der Eva auferlegt sind: Nidda (das rituelle Bad nach der Mens truation und nach einer Niederkunft), Challa (das Hebeopfer) und das Anzünden des Sabbatlichtes.22 Wenngleich ich mich der feministischen Auffassung anschließe, wonach die allgemeine Einstellung von ARN zu Frauen und Gender und die Einstellung zu Eva im Besonderen frauenfeindlich ist, glaube ich dennoch, dass man die Überlieferungen in ARN nur angemessen beurteilen kann, wenn man sie in einem größeren textlichen und gedanklichen Kontext liest. Und wenn die Eva-Überlieferungen von ARN in ihrem redaktionellen Gesamtkontext in den Blick genommen werden, hat dies auch Konsequenzen für die Schlussfolgerung von der vergleichsweise misogynen Haltung der Fassung ARN B. Tatsächlich ist die Version der Eva-Überlieferungen in ARN B insofern einzigartig oder sogar radikal, als sie Eva als proaktive Akteurin und jüdische Frauen im Hinblick auf die Sühne ihrer Sünde als rituell Handlungsbevollmächtigte darstellt, d. h. ihnen ein erhöhtes Maß an halakhischer Verpflichtung und eine zentrale Rolle in der religiösen Observanz zuspricht. Die Version der Eva-Überlieferungen in ARN B ist in zweifacher Hinsicht singulär: erstens ist sie die einzige Stelle in der gesamten rabbinischen Literatur, an der eine zusammenhängende Sequenz von Überlieferungen, 20 Zu einigen grundlegenden Befunden vgl. ebd., 225, Anm. 79. Eine Analyse der Befunde in ihrer Gesamtheit ist noch in Arbeit. Sie wurde im Rahmen eines Vortrags auf der Jahreskonferenz der Association for Jewish Studies (21.–23. Dezember 2008, Washington D. C.) vorgestellt; der Titel des Vortrags lautete: „Patriarchal Stewardship: Women and Gender Relations in Avot de Rabbi Natan, A and B.“ Schofer, Sage, 36–38, benennt die Genderdarstellung als eine von mehreren Strategien, die der Text anwendet, um die rabbinischen Werte gegen die im Land Israel vorherrschende römische Kultur abzugrenzen. 21 Judith R. Baskin, Midrashic Women: Formations of the Feminine in Rabbinic Literature (Brandeis Series on Jewish Women; Hanover: Brandeis University Press, 2002), 44–87; Dies., „‚She Extinguished the Light of the World‘: Justifications for Women’s Disabilities in Abot de-Rabbi Nathan B“, in Current Trends in the Study of Midrash (hg. v. Carol Bakhos; JSJ.S 106; Leiden: Brill, 2006), 277–298; Boyarin, Carnal Israel, 77–106; Charlotte E. Fonrobert, Menstrual Purity: Rabbinic and Christian Reconstructions of Biblical Gender (Contraversions: Jews and Other Differences; Stanford: Stanford University Press, 2000), 29–34. 22 Der früheste Beleg für diese Überlieferung findet sich – nicht ausdrücklich auf Eva, sondern auf den Tod im Kindbett bezogen – in mShab 2,6: „Um dreier Verfehlungen willen sterben Frauen beim Gebären: Wenn sie sich nicht bei der periodischen Unreinheit in Acht genommen haben, wenn sie beim Brotteig-Absondern und beim Anzünden des (Shabbat)Lichtes [unachtsam waren].“ Einen detaillierten Vergleich der Parallelüberlieferungen bietet Polzer, „Misogyny“, 234–246.
Eva in Avot deRabbi Natan
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die die Zerstörung des Zweiten Tempels beschreiben (nachf. „ZerstörungsCluster“),23 einer zusammenhängenden Sequenz von Überlieferungen über die Erschaffung Adams und Evas, ihren Sündenfall und die damit verbundenen Konsequenzen gegenübergestellt wird;24 zweitens setzt ARN B mithilfe einiger redaktioneller Kunstgriffe die drei Gebote, die jüdischen Frauen als Sühne für Evas Ursünde auferlegt sind, explizit zu den drei (für Männer geltenden) Geboten aus der in mAv 1,2 überlieferten Maxime Simeons des Gerechten in Beziehung: „Auf drei Dingen ruht die Welt – auf der Tora, auf dem Tempeldienst und der Liebestätigkeit.“25 Diese Beziehung wird durch thematische und linguistische Assoziationen zwischen der Zerstörung des Tempels und den Adam- und Eva-Überlieferungen in die redaktionelle Struktur von ARN B eingebettet.26 Das bedeutet, dass ARN B jüdischen Frauen – und zwar im Sinne sowohl einer halakhischen Verantwortung als auch eines spirituellen Empowerments – insofern eine Handlungsvollmacht zuspricht, als sie die Erfüllung der drei Frauengebote – Nidda, Challa und das Entzünden des Sabbatlichtes – im kosmischen Plan der Dinge verortet und „jüdischen Frauen einen entscheidenden Platz in der Aufrechterhaltung der kulturellen Welt jüdischer Männer“ zuweist.27 Beide Fassungen von ARN schenken Eva erstaunlich viel Aufmerksamkeit, wenn man bedenkt, dass sie ansonsten kein wirklich großes explizites Interesse an Frauen und Genderbeziehungen an den Tag legen – was bei einem Kommentar zu mAv auch nicht weiter verwunderlich ist, da nur wenige Stellen dieses Mischna-Traktats von Frauen und Genderbeziehungen handeln.28 Tatsächlich beziehen sich nur zwei der in mAv überlieferten Lehrsätze ausdrücklich auf derartige Themen.29 Eva jedoch – und das ist in Anbetracht des insgesamt eher geringen Interesse von ARN an Frauen und Genderbeziehungen durchaus überraschend – kann sich, was ihre Präsenz im Text betrifft, mit vielen zentralen Männergestalten messen: „Nur Adam, Mose, Rabban
23 Zum Zerstörungs-Cluster und der diesbezüglichen Forschung vgl. ebd., 246, Anm. 119; zu den einzigartigen redaktionellen Kunstgriffen in ARN B vgl. Dies., Interpreting the Fathers, 68–100. 24 Meines Wissens gibt es nur noch eine weitere Stelle mit einer ähnlichen Gegenüberstellung, nämlich den Avoda-Ritus an Jom Kippur, der die Schöpfung und die Sünden Adams und Evas mit dem Tempeldienst in Verbindung bringt; vgl. Philip Birnbaum, Hg., High Holiday Prayer Book: Yom Kippur (New York: Hebrew Publishing Company, 1980), 528–546. 25 ARN A 4/ARN B 8–9. Schechter, Aboth, 21–25. 26 Polzer, „Misogyny“, 249–253. 27 Ebd., 255. 28 Ebd., 225f. 29 „Rede nicht viel mit einer Frau“ (mAv 1,5); „Viele Sklavinnen – viel Unzucht; […] viele Frauen – viel Zauberei“ (mAv 2,7).
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Jochanan ben Zakkai, Rabbi Akiba und Rabbi Eliezer ben Hyrkanos können größere Textanteile vorweisen.“30 Die Adam- und Eva-Überlieferungen sind Teil des Kommentars zu zwei mAv-Maximen: (1) der ersten Maxime, die im Namen der Männer der großen Versammlung überliefert wird: „Macht einen Zaun um die Tora“ (mAv 1,1; ARN A 1; ARN B 1);31 und (2) der Maxime Simeons des Gerechten: „Auf drei Dingen ruht die Welt – auf der Tora, auf dem Dienst und der Liebestätigkeit.“ (mAv 1,2; ARN A 4; ARN B 8f.).32 Darüber hinaus finden sich in ARN B 42 zwei Listen mit Evas Sünden und deren Konsequenzen.33 Allgemein gesprochen handelt es sich bei den Adam- und Eva-Materialien in beiden Fassungen um Anthologien von Überlieferungen, die aus anderen Quellen kompiliert worden sind.34 Insbesondere in ARN B weisen diese Anthologien eine fortgeschrittene Narrativität auf; die einzelnen Einheiten, die unterschiedlichen Gattungen zuzuordnen sind (biblische Erzählung, biblischer Kommentar, Gleichnisse, direkter Kommentar, Aufzählungen), schildern mit der typischen Beliebigkeit eines zusammengesetzten rabbinischen Texts die Geschichte von der Erschaffung Adams und Evas, ihre Erlebnisse im Garten Eden, ihren Ungehorsam und die damit verbundenen Konsequenzen.35 Die fortgeschrittene Narrativität von ARN zeigt sich auch an der literarischen Form ihrer einzelnen Überlieferungen. Die meisten exegetischen Überlieferungen erscheinen getrennt von ihren jeweiligen biblischen Rubriken und wurden unter Hinzufügung narrativer Wendungen („zu jener Zeit“) oder rhetorischer Fragen, die die Erzählung vorantreiben („Was dachte die Schlange?“), miteinander verbunden. Überdies ist die Zahl der rabbinischen Zuschreibungen – obwohl beide Fassungen zugeschriebene Überlieferungen enthalten – deutlich geringer als in den Parallelquellen. Alles in allem lesen sich die Adam- und EvaÜberlieferungen in ARN in puncto Narrativität nicht so sehr wie ein exegetischer Kommentar, sondern eher wie eine Nacherzählung der Schrift. Dass Eva in ARN eine so bemerkenswerte Aufmerksamkeit genießt, weist auf eine Ideologie der Genderbeziehungen hin, die ich als „patriarchale Haushalterschaft“ bezeichne. Patriarchale Haushalterschaft lehrt jüdische Männer, Herren in ihrem Haus zu sein, indem sie in selbigem für ein geziemendes moralisches Klima sorgen, was es unter anderem erforderlich macht, die Frauen, für die sie verantwortlich sind, als verletzliche und abhängige Wesen 30 31 32 33 34
Polzer, „Misogyny“, 226. Schechter, Aboth, 4–8. Ebd., 21–25. Polzer, „Misogyny“, 231–233. Die Beziehungen zwischen den Quellen sind viel zu komplex, als dass sie hier im Einzelnen erörtert werden könnten. Detailliertere Informationen bieten die Anmerkungen zu den einzelnen Überlieferungen bei Schechter, Aboth, und bei Saldarini, The Fathers. Außerdem Polzer, „Misogyny“, 230–238. 35 Ebd., 227.
Eva in Avot deRabbi Natan
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zu behandeln, die in moralischer Hinsicht Anleitung und Schutz benötigen.36 Adam in ARN ist das Musterbild des patriarchalen Haushalters und für die moralische Integrität seines Haushalts – nämlich Evas – verantwortlich. Und wirklich wird er in letzter Konsequenz dafür verantwortlich gemacht, dass Eva in ihrer Verletzlichkeit von der Schlange verführt werden konnte, weil er ihr Gottes Verbot nicht Wort für Wort übermittelt hat: „Adam wollte nicht der Eva den göttlichen Befehl so mitteilen, so wie der Heilige, gepriesen sei er, zu ihm sprach […]. Wer verursachte diese Strafe? Der Zaun, den Adam um seine Worte machte.“ (ARN A 1).37
4.
Eva in ARN A und ARN B: Ein Vergleich
4.1
Zensur in ARN A
Ein zusammenhängender Vergleich des Textbefundes in ARN bestätigt Tal Ilans These, wonach die Weitergabe der rabbinischen Texte – genauer gesagt der darin enthaltenen Materialien bezüglich Frauen und Gender – im Lauf der Zeit mit einem historischen Zensurprozess einherging.38 Folgerichtig enthält die Fassung ARN B, die eine weniger ausgereifte Form von ARN konserviert,39 im direkten Kommentar eine größere Menge an Material über Frauen und Genderbeziehungen.40 Ein Vergleich der Paralleltraditionen in beiden Fassungen fördert ganz konkrete Fälle einer solchen Zensur zutage. Ein interessantes Beispiel ist der Kommentar zur Maxime des Akabja ben Mahalalel, die in der überlieferten Mischna folgendermaßen lautet: Betrachte drei Dinge, und du kommst nicht in die Hände der Übertretung. Wisse, woher du kommst, wohin du gehst und vor wem du zukünftig Recht und Rechenschaft abgeben musst. Wisse: Woher du kommst – aus stinkender Feuchtigkeit; wohin du gehst – zu Gewürm und Wurm; und vor wem du zukünftig Rechenschaft abgeben musst – vor dem König der Könige, dem Heiligen, gelobt sei Er. (mAv 3,1)
36 37 38 39 40
Polzer, „Misogyny“, 226–228, insbes. 227, Anm. 84. Schechter, Aboth, 4. S. o. Anm. 10f. S. o. Anm. 14. In der weiter entwickelten Fassung ARN A kommen jedoch 14 Erzählungen mit anonymen Frauen hinzu, zu denen es in ARN B keine Parallelen gibt. Diese Geschichten veranschaulichen in der Regel die vorbildlichen moralischen Qualitäten berühmter Rabbinen.
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Der Kommentar von ARN ist vor allem deshalb so interessant, weil er zeigt, wie die Weitergabe des überlieferten Av-Texts41 durch den Zensurprozess beeinflusst worden ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist nämlich in ARN B eine weniger ausgereifte Version der mAv-Maxime konserviert als im überlieferten und oben zitierten Wortlaut des Mischna-Traktats. Sowohl ARN A als auch der überlieferte Wortlaut von mAv 3,1 sprechen vom männlichen Samen – „stinkender Feuchtigkeit“ – und nicht vom Schoß der Frau als dem Ort, woher die Menschen kommen. In der in ARN B wiedergegebenen Version der Maxime hingegen findet sich kein Hinweis auf den männlichen Samen: „Akabja ben Mahalalel sagt: Vier Dinge betrachte ein Mensch, dann kommt er nicht in die Hände einer Übertretung: Woher er kam; und wohin er geht; und wozu zu werden er bestimmt ist: Staub, Wurm und Made; und wer das ist: der Richter aller Taten, gesegnet ist er.“ (ARN B 32).42 Der nachfolgende Kommentar der Fassung ARN B zu der besagten Maxime bietet einen durchkomponierten Vergleich zwischen Schoß und Grab: „Rabbi Simeon ben Eleazar sagt: Woher kommt er? Von einem Ort des Feuers, und kehrt zurück an den Ort seines Feuers. […] Von einem engen Ort, und kehrt zurück an einen engen Ort. […] Von einem Ort, den kein Geschöpf sehen kann, und kehrt zurück an einen Ort, den kein Geschöpf sehen kann. […] Von einem unreinen Ort, und kehrt zurück und macht [nach seinem Tod] andere unrein.“ (ARN B 32).43 Gewiss steht hinter dieser Analogie zwischen dem weiblichen Schoß und dem Tod eine negative Sicht auf diejenigen Teile des weiblichen Körpers, die der Fortpflanzung dienen; wahr ist aber auch, dass ARN B die männliche Zeugungskraft mit keinem Wort erwähnt. Demgegenüber bewahrt ARN A nur mehr ein kleines Reststück aus diesem in ARN B so sorgfältig ausgestalteten Vergleich zwischen dem Grab und dem Schoß, nämlich den Verweis auf einen „finstern Ort“ als Ursprung des Menschen. Hier hat der Same, die unreine Flüssigkeit der männlichen Fortpflanzung, den Schoß als den unreinen Ort der Finsternis ersetzt (ARN A 19).44 Ich vermute, dass der Text des überlieferten Mischna-Traktats zu einem bestimmten Zeitpunkt überarbeitet und an ARN A angeglichen wurde, was dazu führte, dass Verweise auf die weibliche Fortpflanzung getilgt und gegen die „stinkende Feuchtigkeit“ des Mannes ausgetauscht wurden.
4.2
Die bemerkenswerte Eva aus ARN B
Die bemerkenswerte Eva-Darstellung der Fassung ARN B äußert sich auf zwei Textebenen: in ihrem expliziten Inhalt und in ihrer redaktionellen Ge41 Albeck, Mishnah, 4:363. 42 Schechter, Aboth, 69. 43 Ebd. 44 Ebd.
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samtstruktur. Ein Vergleich des Inhalts der zusammengesetzten biblischen Erzählung zeigt, dass die Aufmerksamkeit sich in ARN A deutlich stärker auf Adam und in ARN B deutlich stärker auf Eva richtet. ARN B bietet nicht nur mehr Material zu Eva einschließlich einer beträchtlichen Anzahl einzigartiger Überlieferungen,45 sondern stellt sie obendrein als unabhängigen Charakter mit aktiver Sprechrolle dar: „Da lernen wir aus Chawas Worten, dass der erste Mensch ihr (dieses Gebot) einzäunte.“ (ARN B 1).46 Die Eva der Fassung ARN A dagegen ist still und passiv und beschränkt sich auf einen inneren Monolog: „Was dachte sich Eva? Alle Dinge, die mir mein Lehrer anbefohlen, sind unwahr.“ (ARN A 1).47 Ganz deutlich zeigt sich dieses Muster der Darstellung von Adam und Eva in der Versuchungsszene. ARN B beschreibt einen dramatischen Dialog zwischen Eva und der Schlange, an dem Adam nicht beteiligt ist. In ARN A dagegen zielt die List der Schlange eigentlich auf Adam ab – Eva ist nur die zweite Wahl: „Zur selben Zeit hat die verführerische Schlange den Plan ersonnen. Sie sagte: Wenn sie den Adam nicht zum Falle bringen könne, so will sie die Eva verführen.“ (ARN A 1).48 Nur in der Fassung ARN A werden Adam und die Schlange als sexuelle und politische Rivalen beschrieben: „Was dachte sich hier zur selben Zeit die verführerische Schlange? Ich will den Adam umbringen und die Eva ehelichen, dann will ich ein König über die Welt sein.“ (ARN A 1).49 Während ARN A Adam mit dem Tempel vergleicht (ARN A 1),50 ist, wie weiter unten noch gezeigt werden wird, in ARN B Eva diejenige, die mit dem Tempel verglichen wird. Dass die A-Fassung ganz offensichtlich Adam den Vorzug vor Eva gibt, zeigt sich auch in zwei Gleichnissen, die Evas Verführung durch die Schlange allegorisch thematisieren. Rein theoretisch sind die beiden Gleichnisse identisch, doch ARN A wendet sie explizit auf Adam, ARN B dagegen auf Eva an (ARN A 1/ARN B 1).51 Ein weiterer Beleg dafür, dass die Fassung ARN B der Eva besondere Aufmerksamkeit schenkt, ist ihr singulärer exegetischer Kommentar zu Ps 139,5: „Hinten und vorne hast du mich beengt [und hast deine Hand auf mich gelegt].“ Die zahlreichen Deutungsversuche lesen diesen Vers gemeinhin als eine Beschreibung der Erschaffung Adams und Evas. Dies gelingt dadurch, dass man die Verbalwurzel von „beengt“ ( )צרתניnicht als „( צורdu hast mich beengt“), sondern als „( יצרdu hast mich erschaffen“) liest. Anders als die Parallelversionen dieser exegetischen Tradition in BerR (8,1; 21,3; 45 Vgl. Saldarini, The Fathers, 76, Anm. 9. 46 Schechter, Aboth, 4. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd., 5. 50 Ebd., 8. 51 Ebd., 6f.
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24,2), ARN A 1,52 dem Babylonischen Talmud (bBer 61a; bEr 18a; bHag 12a; bSan 38b), WaR (14,1; 18,2) und MidTeh 139,5, interpretiert ARN B dagegen die Erschaffung Evas (übereinstimmend mit der ersten Schöpfungserzählung in Gen 1,27) als zeitgleich mit der Erschaffung Adams und spricht nicht einmal andeutungsweise von ihrer untergeordneten Position (ARN B 8).53 Zwei der exegetischen Traditionen aus BerR stellen den ersten Menschen als physische und sexuelle Einheit dar, der (1) als androgynes Wesen bzw. (2) mit zwei Gesichtern erschaffen wurde; in keiner der beiden Interpretationen ist ausdrücklich von der Erschaffung Evas die Rede. Eine anonyme (stam) Exe gese von Ps 139,5 im Babylonischen Talmud erwähnt Eva zwar, tut dies jedoch nur, um die untergeordnete Stellung von Frauen in der geschaffenen Ordnung der Dinge zu betonen (bBer 61a; bEr 18a).54 WaR fügt den beiden Exegesen aus BerR eine Glosse hinzu, die sich auf die Erschaffung der Frau bezieht, Eva aber nicht ausdrücklich erwähnt. Auch die mittelalterliche Interpretation im MidTeh55 glossiert eine der Überlieferungen aus BerR und führt aus, dass, wenn Mann und Frau ursprünglich als ein androgynes Wesen mit zwei Gesichter geschaffen worden seien, Evas Gesicht sich auf der Rückseite befunden habe, womit ihre Unterordnung unter Adam betont wird. Nur ARN B interpretiert den Vers dahingehend, dass Eva und Adam gleichzeitig geschaffen worden seien: „Das sind Adam und Chawa, die als Eines ()כאחת erschaffen wurden“ (ARN B 8).56 ARN A lässt an dieser Stelle Anzeichen einer möglichen Zensur erkennen; die Fassung deutet den Vers nicht in Bezug auf die Erschaffung des Menschen, sondern darauf, dass Gott den ersten Menschen vor der Feindschaft und Eifersucht der dienenden Engel beschützt habe (ARN A 1).57 Obwohl beide Versionen Adam tadeln, weil er „einen Zaun für seine Worte machte“ (ARN A 1/ARN B 1)58 und Eva so in die Irre geführt habe, spricht ARN B der Eva doch durchgängig mehr Verantwortung für die Folgen ihres Ungehorsams zu. Besonders deutlich schlägt sich dies in den Listen nieder, die die Sünden Adams, Evas und der Schlange sowie deren Konsequenzen 52 Ebd., 22f. 53 Ebd. 54 Die Frage, ob Eva ein „Schwanz“ oder eines der beiden „Gesichter“ ist, ist letztlich nicht von Belang, da die Männer den Frauen so oder so vorangestellt sind. 55 Zu MidTeh vgl. Stemberger, Einleitung, 358f. Der Kommentar zu Ps 119–150 ist nur in einer frühen Druckausgabe von 1515 erhalten. Er stammt vermutlich aus dem 13. Jh.; demgegenüber gilt der Kommentar zu Ps 1–118 allgemein als vormittelalterlich. 56 Schechter, Aboth, 23. Zwar ließe sich „als Eines“ auch als versteckter Hinweis auf ein androgynes oder zweigesichtiges Geschöpf verstehen, doch der anschließende Kommentar stellt klar, dass es „gleichzeitig“ bedeutet. 57 Ebd., 8. 58 Ebd., 4f.
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aufzählen. Die Folgen von Evas Sünde finden sich in zwei Arten von Listen:59 einer Liste mit zehn Flüchen in ARN B 4260 und den Listen in ARN B 961 und 42,62 die die drei Verfehlungen aus mShab 2,6, aufgrund deren eine Frau im Kindbett stirbt, mit drei Sünden der Eva in Verbindung bringen: „Um dreier Verfehlungen willen sterben Frauen beim Gebären: Wenn sie sich nicht bei der periodischen Unreinheit in Acht genommen haben, wenn sie beim Brotteig-Absondern und beim Anzünden des (Shabbat)Lichtes [unachtsam waren].“63 In der feministischen Forschung werden diese Überlieferungen „nicht nur, was ihre Sicht auf die mythologische Rolle von Frauen am Anfang der menschlichen Zivilisation, sondern auch, was den strafenden Charakter der rabbinischen Ritualisierung der Menstruation angeht“,64 als besonders problematisch betrachtet. Einige der zentralen frauenfeindlichen Genderideologien der Rabbinen kommen darin zum Ausdruck: „der späte und zweitrangige Charakter sowie die negativen Resultate der Erschaffung der Frau, […] die angeborenen physischen und moralischen Einschränkungen von Frauen, die göttlichen Strafen, unter denen sie leiden, und die ‚Flüche‘, die ihr Schicksal prägen.“65 Auch wenn ich mit den feministischen Einschätzungen dieser Listen im Großen und Ganzen übereinstimme, glaube ich nicht, dass sie den Nuancen der singulären Formulierung in ARN B gerecht werden, die die Stellung der Eva – und damit aller jüdischen Frauen – in Wirklichkeit aufwertet. Der Vergleich mit den Parallelquellen zeigt, dass die Listen aus ARN B Eva zwar einerseits sündiger machen, andererseits jedoch allen jüdischen Frauen die halakhische Handlungsbefugnis und spirituelle Macht zuerkennen, ihren Sündenfall durch die Erfüllung der drei Frauengebote zu sühnen. So weisen die Listen in ARN B 9 gegenüber den Parallelstellen in BerR und im Yeru shalmi zwei singuläre Merkmale auf: (1) die größere Anzahl und Schwere der Sünden Evas und (2) die sühnende Funktion der Erfüllung der drei Frauengebote. Während die beiden anderen Quellen Eva nur für eine Sünde, nämlich den Tod Adams, verantwortlich machen, wirft ARN B 9 ihr die drei Hauptsünden des Judentums vor: Mord, sexuelle Unmoral und Götzendienst (oder die vorsätzliche Abkehr von Gott).66 Der singulären Formulierung in ARN B scheint die präzise Anwendung einer rabbinischen hermeneutischen Strategie 59 Der vollständige Text dieser Listen samt Übersetzung und Parallelen findet sich bei Polzer, „Misogyny“, 230–238. 60 Schechter, Aboth, 117. Mit Parallelstelle in ARN A 1. 61 Ebd., 25. 62 Ebd., 117. 63 Parallelen finden sich in yShab 2,6 (5b) und BerR 17,8. 64 Fonrobert, Menstrual Purity, 13. 65 Baskin, „Light of the World“, 277f. 66 Sie tötete Adam, machte ihn sexuell unrein und entstellte durch den Mord an einem nach seinem Bild geschaffenen Menschen Gott selbst. Eine detailliertere Analyse findet sich in Polzer, „Misogyny“, 243.
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zugrunde zu liegen: Die Regel Midda ke-neged Midda („Maß um Maß“) besagt, dass, wenn jüdischen Frauen als Sühne für Evas Taten drei verschiedene Gebote auferlegt worden sind, Eva nicht nur eine, sondern drei Sünden begangen haben muss. Hinzu kommt, dass die Liste in ARN B 9 als einzige unter den Parallelquellen das Verb „sühnen“ enthält, das überdies dreimal wiederholt wird, um hervorzuheben, welchem Zweck das Handeln von Frauen dient. Die Aufwertung der Eva in ARN B erfolgt im theologischen Kontext der paradoxen Logik des Bundesexklusivismus, der zufolge man umso mehr Gebote erfüllen muss, je mehr man von Gott begünstigt oder auserwählt ist. Dieser Logik entsprechend wertet die ARN B-Liste nicht nur Evas Stellung, sondern auch die Stellung jüdischer Frauen auf, denen die halakhische Handlungsvollmacht zuerkannt wird, auf täglicher (durch das Hebeopfer), wöchentlicher (durch das Anzünden des Sabbatlichtes) und monatlicher (durch die rituelle Reinigung) Basis für den Sündenfall Sühne zu leisten. Darüber hinaus stellt die Liste die biologische Rolle von Frauen bei der Fortpflanzung in einen bundestheologischen Rahmen, indem sie weniger die biologische Bestimmung als vielmehr die spirituelle Handlungsmacht von Frauen betont. Im Unterschied zu der in 1 Tim 2,15 ausgedrückten christlichen Überzeugung67 ist es nicht der biologische Akt der Kindsgeburt, der Frauen das Heil sichert: Vielmehr gewährleisten sie dadurch, dass sie Gebote erfüllen, nicht nur ihr eigenes, sondern – indem sie jüdische Kinder gebären – auch das Heil des ganzen jüdischen Volkes. Auf diese Weise werden weibliche biologische Prozesse, die mit Blut, Menstruation und Geburt zu tun haben, in eine theologische Sühne- und Heilsökonomie eingebunden. Eine feministische Lesart dieser Einbindung kann nicht über ihren problematischen Gender-Essentialismus hinwegsehen; dennoch ist und bleibt es im Kontext der normativ-androzentrischen rabbinischen Theologie ein Einzelfall, dass ARN B jüdische Frauen, Evas Bundesnachfolgerinnen, als proaktive Akteurinnen der Sühne und des Heils darstellt. Bemerkenswert ist die Eva-Darstellung der B-Fassung von ARN auch durch ihre singuläre Gegenüberstellung der Adam- und Eva-Traditionen einerseits und des Tempelzerstörungs-Clusters andererseits. Der auffallende Unterschied zwischen der redaktionellen Struktur und Anordnung dieser Einheiten in ARN A und ARN B weist darauf hin, dass der Redaktionsprozess eine bestimmte Absicht verfolgt haben könnte.68 Die redaktionelle Anordnung in ARN B stellt drei zusammenhängende Vergleiche her, und zwar (1) zwischen Eva und dem Tempel; (2) zwischen der Vertreibung Adams und Evas und der Zerstörung des Tempels; und (3) zwischen den drei Frauen67 Eine Diskussion von 1 Tim 2,15 und der Quelle des Jerusalemer Talmud bietet Hayim Lapin, Rabbis as Romans: The Rabbinic Movement in Palestine, 100–400 (Oxford: Oxford University Press, 2012), 142f. 68 Eine detaillierte vergleichende Beschreibung und Analyse der Zerstörungs-Cluster in ARN bietet Polzer, Interpreting the Fathers, 68–100.
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geboten und Jochanan ben Zakkais Weiterführung des Judentums nach der Zerstörung. Diese Vergleiche werden durch die redaktionelle Gegenüberstellung bestimmter Einheiten erreicht, die durch thematische und lexikalische Signale zueinander in Beziehung gesetzt werden. Vereinfacht lässt sich die Struktur wie folgt zusammenfassen: ARN A 1: Adam- und Eva-Traditionen; ARN A 4–5: Zerstörungs-Cluster; ARN B 1: Adam- und Eva-Traditionen; ARN B 5–8: Zerstörungs-Cluster; ARN B 8–9: Adam- und Eva-Traditionen. Während die redaktionelle Anordnung in ARN A die Adam- und Eva-Traditionen vom Zerstörungs-Cluster trennt, sind die Adam- und Eva-Traditionen in ARN B so aufgeteilt, dass sie das Zerstörungs-Cluster einrahmen. Das bedeutet, dass die redaktionelle Anordnung der B-Fassung sich dadurch, dass der Text zwei katastrophale geschichtliche Ereignisse und ihre Folgen – Adams und Evas Sündenfall und die Zerstörung des Tempels – nebeneinanderstellt, direkt auf die Eva-Darstellung auswirkt. Die redaktionelle Struktur von ARN B stellt einen Vergleich zwischen diesen beiden katastrophalen Ereignissen an, die die natürliche und/oder geschichtliche Ordnung aufgebrochen und den Fortbestand des menschlichen/ jüdischen Lebens bedroht haben, und schlägt Gegenmaßnahmen vor. Nur in ARN B besteht die Maßnahme gegen die drohende Diskontinuität darin, dass die Angehörigen jedes Geschlechts je drei einander ergänzende Gebote erfüllen; diese sind für die jüdischen Männer das Torastudium, der Tempeldienst und Werke der Liebe und Güte gemäß der Maxime Simeons des Gerechten (mAv 1,2); und für die Jüdinnen die drei Frauengebote. Die ausgewogene Komplementarität dieser jeweils drei Gebote wird durch ihre redaktionelle Anordnung veranschaulicht. Die Maxime Simeons des Gerechten, die die drei Männergebote enthält, eröffnet die Einheit (ARN B 5); die dreigeteilte Liste der drei Frauengebote steht ganz am Ende (ARN B 9). Damit ist ARN B der einzige Text, der jüdischen Frauen ebenso wie jüdischen Männern drei Möglichkeiten an die Hand gibt, den Fortbestand der Welt zu gewährleisten.69 Ein weiterer Beweis für das redaktionelle Geschick der B-Fassung ist eine zusammenhängende Homologie zwischen Eva und dem Tempel, die durch lexikalische Signale – genauer gesagt durch die Wiederholung von Schlüsselphrasen in verschiedenen Überlieferungseinheiten – angezeigt wird.70 Eine kurze rabbinische Erzählung bildet die allerletzte Einheit des ZerstörungsClusters (ARN B 8);71 sie beschreibt die Folgen der Zerstörung des Tempels für den Fortbestand des jüdischen Gottesdiensts. Der Verzweiflung nahe, sagt Rabbi Jehoschua zu Rabban Jochanan ben Zakkai: „Weh uns, dass wir das Haus unseres Lebens ( )בית חיינוverloren haben, (den) Ort, der für unsere Übeltaten sühnte ( “!)מכפרDarauf entgegnet Rabban Jochanan: „Wir haben eine andere Sühne ( )כפרה אחרתan seiner Statt (]…[ )תחתיה. Denn 69 Dies., „Misogyny“, 246–248. 70 Für eine detaillierte Analyse siehe ebd., 248–253. 71 Schechter, Aboth, 22.
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an Barmherzigkeit habe ich Gefallen, nicht am Schlachtopfer (Hos 6,6).“ Die Phrase „an seiner Statt“ oder „an seiner Stelle“ steht in enger Beziehung zu Eva, denn sie kommt in Gen 2,21 vor, wo ihre Erschaffung aus Adams Rippe beschrieben wird: „Anstelle“ ( )תחתנהder fehlenden Rippe verschließt Gott die Seite mit Fleisch. Weiter unten in ARN B 8 wird die Phrase in zwei Gleichnissen (zu denen es in ARN A keine Parallelen gibt) über die Erschaffung Evas wiederaufgegriffen, die lehren, dass Eva ein besserer Ersatz für die Rippe war, aus der sie gebildet wurde.72 Im ersten Gleichnis, einer polemischen Erzählung, stellt eine nichtjüdische vornehme Frau (matrona) Rabbi Jehoschua die provokative Frage, warum Gott nicht als Dieb gelte, da er doch Adam eine Rippe gestohlen habe, um Eva zu erschaffen.73 Rabbi Jehoschua vergleicht Eva daraufhin mit einem goldenen Ziegel, der anstelle ()תחתיה eines Lehmziegels eingesetzt wird. Das zweite Gleichnis vergleicht Eva mit einem Stück Fleisch, das ein Metzger seinem Kunden anstelle ( )תחתיהeines Knochens gibt. In beiden Fällen ist der Ersatz besser als das Original. Diese Lehre aus dem Vergleich lässt sich anhand der Aussage von Rabban Jochanan ben Zakkai in der kurzen rabbinischen Erzählung auf die gesamte Einheit ausdehnen: Obwohl im Tempel keine Opfer mehr gebracht werden können, sind bessere Gebote an die Stelle ( )תחתיהdes Tempelopfers getreten, nämlich für die Männer die Gebote, die Tora zu studieren und Werke der Liebe und Güte zu tun, und für Frauen die drei Gebote der Sühne für die Sünde Evas. Die zweite Schlüsselphrase, die Eva mit dem Tempel in Verbindung bringt, ist „das Haus unseres Lebens“ ()בית חיינו, die ungewöhnliche Bezeichnung, die Rabbi Jehoschua in der kurzen rabbinischen Erzählung für den Tempel verwendet. Auch diese Phrase ist ein höchst assoziativer Verweis auf Eva, deren Name in Gen 3,20 mit „Leben“ übersetzt wird, wenn Adam sie „die Mutter aller Lebendigen“ nennt. Ebenso weist das Wort „Haus“ ( )ביתeine Vielzahl metaphorischer Bedeutungen auf und weckt eine ganze Reihe vielschichtiger, ineinander verwobener haggadischer und halakhischer Assoziationen von der „Frau als Haus“ einschließlich der weiblichen Gebärmutter und des Mutterleibs als Quelle des menschlichen Lebens.74 Und schließlich stärkt ARN B durch die Wiederholung des Wortes „Sühne“ ( )מכפרdie Verbindung zwischen Eva und dem Tempel. Eine Form des Verbs kommt zweimal in der rabbinischen Erzählung und ein drittes Mal am Ende der Einheit, nämlich in der Liste mit den drei Sünden Evas und den drei Frauengeboten, vor. Mithin stellt ARN B durch redaktionelle Kunstgriffe wie beispielsweise wiederholte und mit Sorgfalt platzierte lexikalische Signale eine Analogie zwischen Eva 72 Ebd., 23f. Eine Version des ersten Gleichnisses findet sich auch in BerR 17,7. 73 Man kann darüber streiten, ob diese Erzählung polemisch ist oder nicht – es hängt davon ab, ob man die matrona als Jüdin oder als Nichtjüdin betrachtet. Vgl. Tal Ilan, „Matrona and Rabbi Jose: An Alternative Interpretation“, JSJ 25 (1994): 18–51. 74 Vgl. die Diskussion bei Polzer, „Misogyny“, 251f., Anm. 133.
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und dem Tempel und im weiteren Sinne auch zwischen dem weiblichen Schoß und dem Altar her. Implizit wird das Blut von Frauen mit einem „goldenen Ziegel“ verglichen und damit zu einem wirksamen Werkzeug der göttlichen Vermittlung und der Sühne erklärt. Die Unterschiede zwischen den Eva-Darstellungen in ARN A und ARN B sind so erheblich, dass ich sie nicht für zufällig halten kann. Vermutlich ist die weniger konventionelle und daher schwierigere Darstellung weiblicher Handlungsmacht die ältere; in der populäreren A-Fassung wurden im Zuge eines redaktionellen Umschichtungs- und Zensurprozesses schwierige Materialien, die mit Frauen und Gender zu tun hatten, ausgesondert. Wie genau dies vonstattengegangen ist, lässt sich nicht rekonstruieren. Doch angesichts der vorliegenden Befunde dürfen wir vermuten, dass der Überlieferungsprozess der Fassung ARN A die Verbindung zwischen Eva und dem Tempel und die sühnende Kraft der drei Frauengebote, die in ARN B erhalten geblieben sind, eliminiert hat.
5.
Die Eva der Fassung ARN B: historischer und kultureller Kontext
Die einzige vormittelalterliche thematische Parallele zu der Eva-Darstellung in ARN B begegnet in einem Pijjut mit dem Titel Aḥat Sha’alti,75 den Eleazar birabbi Qallir für die Keduscha (die Hymnen, die die Amida ausschmücken) am Schabbat Para gedichtet hat. Schabbat Para ist der Sabbat, an dem Num 19 gelesen wird, das die Herstellung des Wassers für die Reinigung von Totenunreinheit beschreibt; dieses Wasser wird mit der Asche einer rituell geschlachteten roten Kuh vermischt. Der Pijjut stellt Eva vergleichsweise positiv76 als „die Mutter allen Lebens“ dar, die befugt ist, für schwere Sünde und Unreinheit Sühne zu leisten. Qallir, ein bekannter liturgischer Dichter, lebte vor der muslimischen Eroberung – in einer Zeit, die als die klassische Epoche der Pijjut-Dichtung gilt (6.–8. Jh.) – im byzantinischen Palästina.77 Er war ein überaus eigenständiger und gebildeter Dichter und bestens mit den biblischen und rabbinischen halakhischen und haggadischen Quellen vertraut, auf die er 75 Zur kritischen Ausgabe s. o. Anm. 6. 76 So stellen Verweise auf Eva in den Pijjutim des Avoda-Ritus, die im Musaf an Jom Kippur rezitiert werden, sie auf die übliche negative Weise dar; vgl. Michael D. Swartz und Joseph Yahalom, Hg., Avodah: An Anthology of Ancient Poetry for Yom Kippur (University Park: Pennsylvania State University Press, 2005), 134f.138– 140.142.300–302. 77 Einen neueren Überblick über den Pijjut und die Pijjut-Forschung bietet Wout J. van Bekkum, „The Hebrew Liturgical Poetry of Byzantine Palestine: Recent Research and New Perspectives“, Proof. 28 (2008): 232–246.
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in seinen Dichtungen auf kunstvolle Weise anspielt. Leider können wir seinem Gedicht Aḥat Sha’alti – von der genderbezogenen Darstellung biblischer Gestalten im Pijjut ganz zu schweigen78 – im vorliegenden Beitrag nicht die gebührende Aufmerksamkeit widmen.79 Im typischen barocken, anspielungsreichen und gereimten Stil des Pijjut, der geradezu gespickt ist mit Verweisen auf Midrasch und Bibel, vergleichen die 13 Strophen von Aḥat Sha’alti Eva mit der roten Kuh. Beide werden als paradoxe Gestalten dargestellt, die gleichzeitig Unreinheit verursachen und Reinigung und Sühne für eine schwere Sünde ermöglichen. Jede Strophe stellt eine typologische oder analoge Entsprechung zwischen Eva und der roten Kuh her, wobei zuweilen sehr genau auf den Wortlaut des Bibeltexts geachtet, in der Mehrheit der Fälle jedoch mit midraschischen Auslegungen der biblischen Geschichte gearbeitet wird.80 Aḥat Sha’alti und ARN B haben drei Themen gemeinsam: (1) die zentrale Bedeutung und vergleichsweise positive Darstellung der Eva; (2) die Vorstellung, dass das Kindergebären sowohl eine Strafe als auch eine Sühne für Evas Sündenfall ist (Strophe 3), und (3) eine Entsprechung zwischen dem Menstruations- und dem Opferblut, die im Gedicht (Strophen 1 und 7) explizit artikuliert und in ARN B durch die Assoziation zwischen Eva und dem Tempel implizit angedeutet wird. Genau wie die dreiteilige Auflistung in ARN B 8 stellt das Gedicht sowohl Evas Sünde als auch ihre Sühnefähigkeit übertrieben dar.81 Der in jeder Strophe wiederkehrende Refrain des Gedichts: „wie die Mutter, die …“, „wie sie, die …“, betont die positive Seite von Evas paradoxer und einmaliger weiblicher Fähigkeit, durch Schwangerschaft und Mutterschaft Sühne zu leisten. Ob die im Gedicht herausgearbeitete Entsprechung zwischen Kindsgeburt, Menstruation und Sühne Qallirs eigenständige Erfindung oder von einer damals noch lebendigen midraschischen Tradition beeinflusst ist, lässt sich unmöglich mit Gewissheit sagen. Sicherlich gibt es nicht genügend Belege für die Annahme, dass ARN B zu Qallirs Lebzeiten in einer Form existiert haben könnte, die der heutigen irgendwie ähnelt. Was Gattung, Stil und 78 Neuere Arbeiten deuten darauf hin, dass dies ein vielversprechendes Gebiet für künftige Forschungen sein könnte, vgl. z. B. Ophir Münz-Manor, „All About Sarah: Questions of Gender in Yannai’s Poems on Sarah’s (and Abraham’s) Barrenness“, Proof. 26 (2006): 344–374. 79 Eine englische Übersetzung und weitere Erforschung der von Qallir verwendeten Quellen steht noch aus; bis auf Weiteres muss man sich daher auf Elizurs kritische Anmerkungen und die kurze Analyse von Fishbane stützen. 80 Etwa dass Adam ein Priester ist und Opfer darbringt und dass Adam nach der Vertreibung aus dem Garten Eden 130 Jahre lang sexuell enthaltsam war. Zu den Quellen vgl. die Anmerkungen bei Elizur, „‚Aḥat Sha’alti‘“. 81 Der Pijjut beschreibt außerdem Evas negative Taten: Sie brachte Widerspruch in die Welt (Strophe 2), sie war Gott ungehorsam (3), sie machte Adam Schande (4), sie hörte auf die Schlange (5), sie befleckte die Reinheit ihres Gatten (10), sie „trank aus dem Kelch des Todes“ (13).
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Funktion betrifft, sind die Eva-Überlieferungen aus ARN B und Aḥat Sha’alti keine Texte, die einen Vergleich zulassen – was nicht weiter erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie hebräische liturgische Dichter aus ihren biblischen und midraschischen Quellen neue Kunstformen geschmiedet haben.82 Doch während Herkunft und Funktion von ARN im Dunkeln liegen, steht die Verfasserschaft und Funktion von Aḥat Sha’alti außer Frage. Es handelt sich um eine dichterische liturgische Homilie, die die Themen der Tora- und HaftaraLesungen83 in die Gebetserfahrung des womöglich normativsten Nicht-Fachpublikums einbetten, das man sich vorstellen kann: der jüdischen Gebetsgemeinschaft.84 Auch wenn Qallirs genaue Lebensdaten und seine Herkunft nicht ganz unumstritten sind, herrscht Einigkeit darüber, dass er zwischen dem 5. und 7. Jh. vor dem Aufstieg des Islams in einer christlichen Umgebung gelebt hat.85 Aḥat Sha’alti könnte durchaus ein Anker sein, um die unübliche Darstellung Evas und der jüdischen Frauen in ARN B in ihrem geschichtlichen und kulturellen Kontext festzumachen. Aus dieser Hypothese ergibt sich eine Frage, die verlockende Perspektiven für die Anschlussforschung eröffnet. Wenn „die symbolische Funktion von Opferblut“, wie Raanan Boustan erklärt, „im gesamten Spektrum der religiösen Gruppen des Mittelmeerraums einen zunehmend belasteten Überschneidungs- und Rivalitätsbereich“ darstellte,86 was lässt sich dann aus Qallirs Entwurf von der sühnenden Macht von Frauenblut in einem byzantinisch-christlichen Kontext schlussfolgern? Die Vermutung, dass Qallir mit seinem Werk Kritik an seiner Meinung nach götzendienerischen Praktiken des byzantinischen Christentums geübt haben könnte,87 führt uns zu der Frage, wie Qallirs ausdrückliches Bekenntnis zur Opferfunktion und sühnenden Kraft von Evas weiblichem Blut im Hinblick auf die vorherrschende christliche Überzeugung von der Sühneopferkraft des Bluts des gekreuzigten Christus gedeutet werden muss. ARN B und Aḥat Sha’alti haben noch eine weitere Gemeinsamkeit. Beide Texte kamen nach der Erfindung des Buchdrucks im 16. Jh. nicht in den allgemeinen Umlauf. ARN A, nicht ARN B, wurde in die ersten gedruckten Ausgaben des Babylonischen Talmuds aufgenommen, und diese Entscheidung führte dazu, dass ARN B nicht mehr aufgelegt wurde, bis Schechter 82 Eine Diskussion und Beispiele finden sich bei Fishbane, „Piyut and Midrash“. 83 Die Haftara-Lesung ist Ez 35, wo rituelle und durch Sünde bedingte Unreinheit verschmelzen und auf den Garten Eden angespielt wird. 84 In der Frage, ob der Pijjut für ein einfaches oder gebildetes Publikum bestimmt war, herrscht in der Forschung keine Einigkeit. Die soziale Normativität des Publikums wäre allerdings meines Erachtens in beiden Fällen dieselbe; vgl. Wout J. van Bekkum, „Hearing and Understanding Piyyut in the Liturgy of the Synagogue“, Zutot 1 (2001): 58–63. 85 Ders., „The Hebrew Liturgical Poetry“, 233. 86 Boustan, „Confounding Blood“, 265. 87 Leon J. Weinberger, Jewish Hymnography: A Literary History (London: Littman Library of Jewish Civilization, 1998), 38.
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es in seine kritische Ausgabe aufnahm. Ein Begleitgedicht zu Aḥat Sha’alti, Atzulat Oman (das Eva gar nicht erwähnt), fand Aufnahme in die gedruckten Ausgaben des aschkenasischen Gebetbuchs für Schabbat Para und ist in manchen davon bis heute enthalten.88 Aḥat Sha’alti dagegen wurde, obwohl seine frühe Beliebtheit durch die Vielzahl von Fragmenten aus der Kairoer Geniza ganz unzweifelhaft belegt ist,89 nicht in das gedruckte aschkenasische Gebetbuch aufgenommen und musste als Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses in Shulamit Elizurs kritischer Ausgabe zu neuem Leben erweckt werden. Vielleicht ist es purer Zufall, dass die beiden Texte, die Eva und die jüdischen Frauen als machtvolle Sühnegestalten darstellen, in der Frühzeit des Buchdrucks nicht in den allgemeinen Umlauf gebracht worden sind – vielleicht aber auch nicht.
88 Z. B. Seligmann Baer, Hg., Seder Avodat Yisrael (Berlin: Schocken, 1937), 691 (Hebr.). 89 Elizur, „Aḥat Sha’alti“.
Der Midrasch Sara und Abraham Eine verlorengegangene rabbinische Auslegung des „Lieds der fähigen Frau“1 Ronit Nikolsky Universität Groningen
1.
Einleitung
Herz- und Kernstück der Frauenforschung ist es, das Zum-Schweigen-Bringen (Silencing) von Frauen anzuerkennen und sich damit auseinanderzusetzen. Das gilt auch für die jüdische Frauenforschung.2 Während Machtspiel und Hegemonie darauf abzielen, das Eine zur Geltung und „das Andere“ zum Schweigen zu bringen, handelt es sich bei Frauen um eine gesellschaftliche Gruppe, die notwendiger und sichtbarer ist als jede „andere“, weil sie die Hälfte der Bevölkerung stellen und mithin (zumindest zuhause) täglich sichtbar sind.3 Wie ist diese condition féminine entstanden? Natürlich kann diese Frage im vorliegenden Beitrag nicht erschöpfend beantwortet werden, doch wie Tal Ilan in Silencing the Queen und anderen Arbeiten gezeigt hat, ist einer der Faktoren, die maßgeblich daran beteiligt sind, dass Frauen zum Schweigen gebracht werden, die vergehende Zeit: Frauen, die in früheren Manifestationen einer Kultur noch sichtbar waren, sind in späteren Erzeugnissen derselben Kultur verschwunden. Ein genauerer Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen fördert einen weiteren Aspekt des Frauen-Silencing zutage: Das Zum-Schweigen-Bringen von Frauen ist desto ausgeprägter, je offizieller die soziale Einrichtung ist – man vergleiche etwa die häusliche Rolle der Köchin/des Kochs mit der öffent-
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Ich möchte Tal Ilan und Joseph Yahalom für ihre sehr hilfreichen Anmerkungen zu früheren Versionen des vorliegenden Beitrags danken. Für etwaige Fehler bin ich natürlich ausschließlich selbst verantwortlich. Vgl. v. a. Tal Ilan, Silencing the Queen: The Literary Histories of Shelamzion and other Jewish Women (TSAJ 115; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006). Vgl. Christine Hayes, „The ‚Other‘ in Rabbinic Literature“, in The Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature (hg. v. Charlotte E. Fonrobert und Martin S. Jaffee; Cambridge Companions to Religion; Cambridge: Cambridge University Press, 2007), 243–269; 243.246. Ich danke Lorena Miralles-Maciá für diesen Hinweis.
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lichen Rolle der Küchenchefin/des Küchenchefs.4 Allem Anschein nach ist Ersteres – obwohl sich der Status von Frauen gewandelt hat – auch heute noch eher Frauen und Letzteres eher Männern vorbehalten. Und weil von offizieller Seite gemeinhin Schrift als ein Mittel der Autorität und Anerkennung eingesetzt wird, fehlen Frauen eher in den schriftlichen als in den mündlichen (und mithin meist nicht erhaltenen) Berichten. Von daher können wir im Kontext der jüdischen Gesellschaft der Spätantike zwischen dem Silencing von Frauen in der Gesellschaft und dem Silencing von Frauen in Texten unterscheiden (auch wenn dieser Unterschied letzten Endes oft nicht so erheblich ist). Der Wandel im Laufe der Zeit und von einer gesellschaftlichen Gruppe zur anderen sind verantwortlich dafür, dass ein Text, den ich als Midrasch Sara und Abraham (MidSarAb) bezeichne, in Vergessenheit geraten ist. Dieser Text ist das Thema meines Aufsatzes. Mein Ziel ist ein zweifaches: erstens, einen unabhängigen Text vorzustellen und zu rekonstruieren, der heute als Fragment im Tanḥuma-Yelamedenu-Korpus (Tan-Yel) erhalten ist. Der besagte Text erklärt jeden Vers aus dem Lied der fähigen Frau in Spr 31,10–31, dem Eschet Chajil-Lied, anhand von Versen aus dem Zyklus von Geschichten über Abraham und Sara in Gen 12,1–25,10. Mein zweites Ziel besteht darin, das Entstehungsumfeld sowohl des Tan-Yel als auch des MidSarAb näher zu bestimmen, indem ich der Frage nachgehe, wie es dazu kam, dass der MidSarAb zunächst in das Tan-Yel-Korpus aufgenommen und dann bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Dabei lege ich die Annahme zugrunde, dass die Art, wie Frauen eingeführt und mit welchen Handlungsmöglichkeiten sie ausgestattet werden, von der Subkultur abhängt, mit der wir es jeweils zu tun haben. Es ist anzunehmen, dass die klassische rabbinische Literatur in einem Umfeld entstanden ist, das Frauen als „das Andere“ begriff. Obwohl sich halakhische Diskussionen mit ihnen befassten, spielten Frauen im Bet haMidrasch (dem Lehrhaus) keine Hauptrolle und waren dort vermutlich nicht einmal zugelassen.5 Das Tan-Yel-Korpus andererseits nimmt (wie auch andere Korpora der späteren Zeit) in der rabbinischen Literatur insofern eine Sonderstellung ein, als es sich hierbei nicht um ein Standard-Produkt des rabbinischen Bet haMidrasch handelt. Die Tan-Yel-Literatur ist ein Korpus, das sich über mehrere Jahrhunderte hinweg entwickelt hat, mit den Ursprüngen im Palästina des
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Dass dies auch schon in der rabbinischen Kultur der Fall war, belegt das Wort für „Bäcker“, das nur in der maskulinen Form ( )נחתוםexistiert, obwohl das Backen zuhause natürlich weitestgehend Frauenarbeit war. Möglicherweise mit einigen wenigen Ausnahmen: Frauen, die die Rabbinen in Diskussionen verwickelten, vgl. Tal Ilan, „Schriftzitierende Frauen in der rabbinischen Literatur“, im vorliegenden Band.
Der Midrasch Sara und Abraham
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4. Jh. und seinem Höhepunkt im 7. Jh.6 Ähnlich wie die Midrasch-Literatur ist es nach biblischen Perikopen angeordnet; es zeigt Kenntnis und Einfluss sowohl der tannaitischen als auch der amoräischen Literatur Palästinas und eine gewisse Vertrautheit mit babylonischen Materialien.7 Das Tan-Yel-Material verdichtete sich zu zwei Parallelsammlungen: dem „gewöhnlichen“ oder „gedruckten“ Tanḥuma (Tan), der sich in einer vom Babylonischen Talmud beeinflussten Umgebung entwickelt zu haben scheint, und dem Tanḥuma Buber (TanB), der im Kontext einer südeuropäischen jüdischen Kultur endredigiert wurde.8 Materialien aus diesen Werken finden sich auch in anderen Texterzeugnissen der jüdisch-byzantinischen Literatur, und zwar mitunter in einem solchen Ausmaß, dass sie als angrenzende Literatur bezeichnet werden können; hierzu gehören Aggadat Bereshit und Pesiqta Rabbati. Zudem enthalten einige mittelalterliche jüdische Sammlungen große Stücke des Tan-YelMaterials; hierzu gehören Shemot Rabba, Bamidbar Rabba, Devarim Rabba9 und andere.10 Auch wenn es sich augenscheinlich um ein „Handbuch für Darschanim“ handelt,11 legt die Tan-Yel-Literatur eine breite Kenntnis der älteren rabbinischen Literatur – insbesondere des Midrasch, aber auch der halakhischen Literatur – an den Tag, bearbeitet diese Überlieferungen jedoch und entwickelt so ein eigenes Profil, das Frauen – wie andere und ich in früheren Arbeiten 6 Mark Bregman, Tanhuma Yelammedenu Literature: Studies in the Evolution of the Versions (Piscataway: Gorgias Press, 2003) (Hebr.), 1–5; Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch (München: Beck, 92011), 335–339. 7 Ronit Nikolsky, „From Palestine to Babylon and Back: The Place of the Bavli and the Tanhuma on the Rabbinic Cultural Continuum“, in Rabbinic Traditions between Palestine and Babylonia (hg. v. ders. und Tal Ilan; AGJU 89; Leiden: Brill, 2014), 284–305. 8 Bregman, Tanhuma Yelammedenu Literature, 173–188, insbes. 186. 9 Dov Weiss, Pious Irreverence: Confronting God in Rabbinic Judaism (Divinations: Rereading Late Ancient Religion; Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2017), 11–14, bietet eine gute Kurzzusammenfassung, doch Bregman, Tanhuma Yelammedenu, ist die maßgebliche und detaillierteste Untersuchung zu Tan-Yel. 10 Der Midrasch Hadasch, der ebenfalls ähnliches Material wie Tan-Yel enthält, hat sich vermutlich parallel zu den bekannten Tan-Yel-Sammlungen entwickelt (vgl. Gila Vachman, Midrash Hadash al Hatorah, also known as Tanhuma Mann, Based on JTS Rab. 1671, with an Introduction, References and Notes [Jerusalem: The Midrash Project of the Schechter Institute of Jewish Studies, 2013], [Hebr.] [ לו–להin der Einleitung]), die Stoffe verarbeiten, aus denen auch Tan und TanB schöpfen. 11 Ich stimme in diesem Punkt eher mit Bregman als mit Elbaum überein, der die Auffassung vertritt, dass Letzteres weniger geordnetes Tan-Yel-Material sei, weil es sich um eine literarische, vom Leben der Synagoge losgelöste Komposition handele, vgl. Yaakov Elbaum, „How Many Benedictions Does One Say Every Day? Methods of Forming a Tanhuma Homily”, in Knesset Ezra: Literature and Life in the Synagogue: Studies Presented to Ezra Fleischer (hg. v. Shulamit Elizur et al.; Jerusalem: Yad Izhak Ben-Zvi, 1994), 149–167; 166f. (Hebr.).
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gezeigt haben12 – eine größere Sicht- und Hörbarkeit verleiht. Ich habe dies darauf zurückgeführt, dass das Tan-Yel-Korpus trotz des Bet ha-MidraschHintergrunds seines/seiner Verfasser(s) kein Bet ha-Midrasch-Text, sondern dem gesellschaftlichen Kontext der Synagoge zuzuordnen ist. Gesellschaftlicher Kontext ist der Schlüssel hier. Historische Forschung und Frauenforschung sind nicht immer ganz sorgfältig, wenn es um die Berücksichtigung der Tatsache geht, dass der gesellschaftliche Kontext einen wichtigen Faktor der Sichtbarkeit von und der Einstellung zu Frauen darstellt. Das gilt nicht nur für Frauen, sondern ist ein generelles soziales und kulturelles Phänomen: Während eine Gesellschaft im Hinblick auf ihren gemeinsamen semiotischen (kulturellen) Kanon beschrieben werden kann, lassen sich verschiedene Gruppen innerhalb dieser Gesellschaft, was ihre Haltung und ihre Werte betrifft, auf je unterschiedliche Weise auf den besagten Kanon ein.13 Barbara Rosenwein hat für die Kombination aus einer gesellschaftlichen Gruppe und ihrer Ideologie oder ihrem Wertebestand den Begriff der „emotionalen Gemeinschaften“ geprägt. Der Begriff ist insofern ein wenig irreführend als das Konzept, das dahintersteht – und das auch für den vorliegenden Beitrag zweckdienlich ist – sich nicht nur auf Emotionen, sondern auch auf Einstellungen und Engagements einer Personengruppe bezieht.
2.
Emotionale Gemeinschaften
Barbara Rosenwein, Historikerin und Expertin für das mittelalterliche Europa an der Loyola University, beschreibt das Konzept der „emotionalen Gemeinschaften“ wie folgt: Emotionale Gemeinschaften sind weitgehend dasselbe wie soziale Gemeinschaften: Familien, Nachbarschaften, Verbände, akademische Einrichtungen, Klöster, Fabriken, militärische Einheiten oder Fürstenhöfe. Doch wer sie erforscht, versucht vor allem ihre Systeme des Fühlens zu entdecken, um herauszufinden, was die betreffenden Gemeinschaften (und die Individuen, die ihnen angehören) als für sie wertvoll oder schädlich definieren und beurteilen (denn auf solche Dinge beziehen sich die Gefühlsäußerungen von Menschen); welche 12 Vgl. z. B. Ronit Nikolsky, „Are Parables an Interpretation?“, in Sources and Interpretation in Ancient Judaism: Studies for Tal Ilan at Sixty (hg. v. Meron M. Piotrkowski, Geoffrey Herman und Saskia Dönitz; AGJU 104; Leiden: Brill, 2018), 289–315; 310–314; Dies., „Parables in the Service of Emotional Translation“, in Parables in Changing Contexts: Essays on the Study of Parables in Christianity, Judaism, Islam, and Buddhism (hg. v. Eric Ottenheijm und Marcel Poorthuis; JCPS 35; Leiden: Brill, 2020), 37–56. 13 Itamar Even-Zohar, „Polysystem Theory“, Poetics Today 1 (1979): 287–310; 293– 295.
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Emotionen sie schätzen, nicht schätzen oder ignorieren; welche Art von affektiven zwischenmenschlichen Bindungen sie anerkennen; und welche emotionalen Ausdrucksformen sie erwarten, ermutigen, tolerieren und missbilligen.14
Rosenwein betont, dass es sich beim Konzept der „emotionalen Gemeinschaften“ um eine neue Art handelt, eine gesellschaftliche Gruppe zu bestimmen, und dass das Konzept insofern innovativ ist, als sich das Augenmerk auf die gemeinsamen Werte und Einstellungen sowie auf die Emotionalität der Gruppe richtet. Anders als äußerliche Beschreibungen gesellschaftlicher Gruppen spricht es über Inhalt, Engagement und Bindung, d. h. über Bedeutungswelten der Gruppe, die innerlich sind und daher in der realen Welt nur indirekte Erkennungsmerkmale aufweisen. Viele Aspekte der emotionalen Gemeinschaft sind hegemonisch im Gramsci’schen Wortsinn, das heißt, sie sind innerhalb der Gruppe so selbstverständlich und allgemein anerkannt, dass sie durchsichtig sind.15 So wäre es durchaus möglich, dass den Mitgliedern der Bet ha-MidraschGruppen, die Frauen zum Schweigen brachten, nicht einmal völlig bewusst war, was sie da taten. Deshalb – und das ist ein allgemeiner Hinweis und betrifft nicht nur das Thema des vorliegenden Beitrags – machen wir uns ein verzerrtes Bild vom spätantiken Judentum, weil der Großteil der schriftlichen Informationen, die wir darüber haben, aus einer einzigen Subkultur, nämlich dem Bet ha-Midrasch, stammen.
3.
Die emotionale Gemeinschaft des Tanḥuma-Yelamdenu
Über die emotionale Gemeinschaft des Tan-Yel ist – ob dieses Konzept zugrunde gelegt wurde oder nicht – in der bisherigen Forschung schon einiges geschrieben worden. In seinem 2016 erschienenen Buch Pious Irreverence hat Dov Weiss gezeigt, wie das Herausfordern Gottes in diesem Korpus präsenter ist als in jeder früheren rabbinischen Komposition.16 Weiss behandelte dies als theologisches Phänomen, was es natürlich auch ist; darüber hinaus aber besitzt der Befund sicherlich eine Relevanz, wenn es darum geht, die emotionale Gemeinschaft zu charakterisieren, aus der Tan-Yel entstanden ist. 14 Barbara H. Rosenwein, „Problems and Methods in the History of Emotions“, Passions in Context 1/1 (2010), online: https://www.passionsincontext.de/index. php/?id=557 [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]. 15 Eine Erklärung des Hegemonie-Begriffs bei Gramsci bietet Dick Hebdige, „From Culture to Hegemony“, in ders., Subculture: The Meaning of Style (London: Routledge, 1979), 5–19. 16 Weiss, Pious Irreverence, 131.
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In meiner Arbeit über Gleichnisse habe ich gezeigt, wie Tan-Yel „emotional übersetzt“ und halakhische Diskussionen zu menschlichen Erzählungen umgearbeitet hat, die eher geeignet waren, die Zuhörer in ihren Bann zu ziehen.17 Früher als diese beiden Arbeiten hat jedoch schon Tal Ilan mit ihrer Arbeit über Jiftachs Tochter einen Schritt in Richtung einer Charakterisierung der emotionalen Gemeinschaft des Tan-Yel getan: Es ist überraschend festzustellen, dass dieser Text [d. h. Tanḥuma] Jiftachs Tochter zu seiner Heldin macht, ihr eine Stimme gibt und sie gegen ihren Vater und gegen das gesamte Establishment, das sich verschworen hat, sie zu töten, für sich selbst sprechen lässt […]. [S]ie zitiert aus der Schrift, um zu beweisen, dass der Gott Israels keine Menschenopfer eingesetzt hat […]. Folglich bringt der Tanḥuma an dieser Stelle ein wichtiges Prinzip zur Anwendung, das auch feministischen Lesestrategien zugrunde liegt, nämlich die Frau ins Zentrum zu stellen und dem Ausgegrenzten eine Stimme zu geben. Dass sie nicht gehört wird, ist ihrer Meinung nach eine schwerwiegende Anklage von einem System, das den Worten einer weisen Frau keine Beachtung schenkt.18
Aus Ilans Worten lässt sich herauslesen, dass die Gemeinschaft, die mit dem Tan-Yel in Verbindung steht, sich von der in anderen rabbinischen Texten repräsentierten Bet ha-Midrasch-Kultur unterscheidet; in der letztgenannten wurden die Stimmen und die Präsenz von Frauen zum Schweigen gebracht und unterdrückt. In der Tan-Yel-Kultur hingegen spielen Frauen eine wesentliche aktive und nicht-apologetische Rolle.
4.
Der Midrasch Sara und Abraham
Eschet Chajil ist ein alphabetisches Lied aus dem 31. Kapitel des biblischen Buchs der Sprichwörter. Es beschreibt die Vorzüge einer fähigen Frau und listet ihre zahlreichen Aktivitäten, Verhaltensweisen und Einstellungen insbesondere ihrem Mann und ihrer Familie gegenüber auf. Es beginnt mit den Worten: „Eine fähige Frau [Eschet Chajil], wer findet sie? Sie übertrifft alle Perlen an Wert“, und beschreibt anschließend, wie vertrauenswürdig sie ist, wie sie die Geschäfte führt (kauft und verkauft), ihren Haushaltspflichten nachkommt, ihre Familie ernährt usw. Das Lied ist ein Akrostichon, das heißt, jeder Vers beginnt mit einem Buchstaben in der Reihenfolge des Al17 Vgl. z. B. Ronit Nikolsky, „Are Parables an Interpretation?“; Dies., „Parables in the Service of Emotional Translation“. 18 Tal Ilan, „Gender Difference and the Rabbis: Bat Yiftah as Human Sacrifice“, in Human Sacrifice in Jewish and Christian Tradition (hg. v. Karin Finsterbusch, Armin Lange und K. F. D. Römheld; SHR 112; Leiden: Brill, 2007), 175–189; 183.186.188f.
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phabets: Das erste Wort des ersten Verses beginnt mit Alef, das erste Wort des zweiten Verses mit Bet usw. Heute assoziiert man dieses biblische Lied mit der rituellen Begrüßung des Shabbat, und in praktizierenden jüdischen Familien wird es der Frau an jedem Freitagabend vor dem Kiddusch (d. h. dem Segensspruch über den Wein) von ihrem Mann vorgelesen oder vorgesungen oder von der ganzen Familie gelesen oder gesungen. Dieser im 16. Jh. entstandene Brauch stammt aus dem kabbalistischen Zirkel des HaAri (Rabbi Isaak Luria Aschkenasi aus Safed), wo man das Frauenlob metaphorisch auf den Shabbat oder die Schechina (d. h. die im Hebräischen weiblich deklinierte Gegenwart Gottes) bezog.19 In der jüdischen Gesellschaft der Spätantike und des frühen Mittelalters – also dem Entstehungsumfeld des Tanḥuma – finden sich für einen solchen Brauch keinerlei Belege. Das Sicherste, was wir über die Rezeption dieses Lieds aus dem Buch der Sprichwörter im Material des frühen und klassischen Midrasch sagen können, ist, dass es nicht eben häufig zitiert oder ausgelegt worden ist.20 Das ist nicht verwunderlich, denn eine Faustregel besagt, dass die rabbinischen Sammlungen sich desto später mit einem Buch der Bibel befassen, je weiter es von der Tora entfernt ist; die Tora wird in den früheren rabbinischen Quellen am häufigsten und die Weisheitsbücher werden erst deutlich später interpretiert.21 Im späteren Midrasch ist das 31. Kapitel aus den Sprichwörtern deutlich stärker vertreten. So überliefert der nachklassische Midrasch, zu dem auch das Tan-Yel-Korpus gehört, im Midrasch zum Buch der Sprichwörter eine Auslegung des besagten biblischen Liedes.22 Das Material in diesem Midrasch ist mit dem Text des Tan-Yel-Korpus nicht verwandt. Darüber hinaus findet sich unser Text, ein vergleichsweise langer Midrasch zu besagtem biblischem Lied, in drei miteinander zusammenhängenden Versionen im Tan-Yel-Korpus und der daran angrenzenden Literatur. Die betreffenden Textzeugen sind:
19 Yael Levine, „Eshet Hayil in Jewish Ritual“, BetM 31 (1985/86): 339–347 (Hebr.). 20 Shulamit Valler, „Who is the ēšet ḥayil in Rabbinic Literature“, in A Feminist Companion to Wisdom Literature (hg. v. Athalya Brenner; FCB 9; Sheffield: Sheffield Academic Press 1995), 85–97; 87. 21 Jonah Fraenkel, Darkhe ha-aggadah veha-midrash (Givatayim: Modan, 1991) (Hebr.), 8; vgl. auch Timothy H. Lim, „The Origins and Emergence of Midrash in Relation to the Hebrew Scriptures“, in Encyclopaedia of Midrash: Biblical Interpretation in Formative Judaism (hg. v. Jacob Neusner und Alan J. Avery-Peck; 2 Bde; Leiden: Brill, 2004), 2:595–612, mit einer Überblicksdarstellung zum Verhältnis zwischen Midrasch und Schrift. 22 Burton L. Visotzky, Hg., Midrash Mishle: A Critical Edition Based on Vatican MS Ebr. 44, with Variant Readings from all Known Manuscripts and Early Editions, and with an Introduction, References and a Short Commentary (New York: The Jewish Theological Seminary, 1990), ז.
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TanB Ḥayye Sara 3; Tan Ḥayye Sara 4; und AgBer 34.23 Ursprünglich scheint es sich um einen unabhängigen durchgängigen Midrasch zu Spr 31,10–31 mit Auslegungen zu jedem Vers gehandelt zu haben, wobei immer der erste Versabschnitt auf Sara und der zweite Versabschnitt auf Abraham bezogen wurde. Ich nenne diesen Text MidSarAb und werde im Folgenden versuchen, dieses kurze Werk zu rekonstruieren.
4.1
Parallelen zu Spr 31,10–31 in der rabbinischen Literatur
Ehe wir uns näher mit dem Text befassen, der das Eschet Chajil-Lied mit Sara in Verbindung bringt, wollen wir uns die Stellen ansehen, an denen Verse aus dem betreffenden Bibelkapitel in frühen und klassischen rabbinischen Schriften vorkommen.24 1. Ein früher tannaitischer Midrasch, SifDev 48, interpretiert Vers He, „( היתה כאניות סוחר ממרחק תביא לחמהSie gleicht den Schiffen des Kaufmanns: Aus der Ferne holt sie ihre Nahrung“): Du solltest [die Tora] vom Lehrer deiner eigenen Stadt lernen und dann fortziehen [um an anderen Orten zu lernen], wie es heißt: Sie gleicht den Schiffen des Kaufmanns.
Hier wird das „Sie“, die Eschet Chajil, als Tora verstanden. 2. Die Worte aus Vers Alef, „( רחוק מפנינים מכרהSie übertrifft alle Perlen an Wert“), werden in BerR 45,1 zwar mit Sara in Verbindung gebracht, aber lediglich auf ihre Unfruchtbarkeit bezogen („Wert“, מכרה, im Hinblick auf Nachkommen). 3. Die Worte aus Vers Lamed, לא תרא לביתה משלג כי כל ביתה לבוש „( שניםIhr bangt nicht für ihr Haus vor dem Schnee; denn ihr ganzes Haus ist in prächtigem Rot gekleidet“), werden in PesK 4 mit dem Beschneidungsgebot in Verbindung gebracht, wobei das Rot auf das bei der Beschneidung vergossene Blut bezogen wird. 4. Ebenfalls in PesK 12 wird die Eschet Chajil in Vers Resch, רבות בנות „( עשו חיל ואת עלית על כלנהViele Frauen erwiesen sich als fähig, doch du übertriffst sie alle“), mit ganz Israel gleichgesetzt.
23 Laut Buber fehlt dieser Abschnitt in Tan, in den gedruckten Ausgaben aus Konstantinopel und Venedig und in den Tan-Handschriften Oxford בund ה. 24 Einen Überblick über die Eschet Chajil in der rabbinischen Literatur bietet Valler, „Who is the ēšet ḥayil in Rabbinic Literature“. MidSarAb findet bei Valler keine Berücksichtigung.
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5. Auch Vers Schin, „( שקר החן והבל היופי אשה יראת ה׳ היא תתהללTrügerisch ist Anmut, vergänglich die Schönheit, eine Frau, die den Herrn fürchtet, sie allein soll man rühmen“), wird in PesK 12 ausgelegt, aber auf Noach, Adam und Mose bezogen. 6. Midrash Mishle, den sein Herausgeber Burton Visotzky auf das 9. Jh. datiert, enthält einen Midrasch über das Eschet Chajil-Lied, der aber laut Visotzky eine spätere Hinzufügung und nicht vor dem 13. Jh. entstanden ist und deshalb separat unter dem Namen Midrasch Eschet Chajil geführt wird.25 Dieser Midrasch MMish 31 beinhaltet lediglich einige ausgewählte Buchstaben und bezieht, genau wie Sifre Devarim, die Verse in den meisten Fällen auf die Tora. Hier und da finden sich andere Geschichten und Auslegungen, aber keine davon stellt eine Verbindung zu Sara her. 7. Einige Parallelen zu diesem Werk finden sich im Midrasch HaGadol (einer jemenitischen Sammlung aus dem 13. Jh.).26 8. Im Midrasch Zuta zu Rut (dessen östliche Version aus dem 11. Jh. stammt) erfahren wir, dass das Eschet Chajil-Lied in alphabetischer Reihenfolge geschrieben ist, weil eine fromme Frau der (mit dem Alphabet geschriebenen) Tora gleicht (RutZ 4,11). Dieser kurze Überblick über spätantike und frühmittelalterliche Auslegungen des Eschet Chajil-Liedes zeigt, dass der in Tan-Yel überlieferte Text trotz einer gewissen Nähe zur rabbinischen Literatur einzigartig ist. Die einzige andere Stelle, an der die Eschet Chajil mit Sara in Verbindung gebracht wird, ist die oben erwähnte Auslegung in Bereshit Rabba, die sich auf einen problematischen, um nicht zu sagen negativen Aspekt ihres Lebens bezieht. In allen übrigen Auslegungen wird die Eschet Chajil allegorisch oder metaphorisch gedeutet und die reale Frau, von der das biblische Lied handelt, zum Verschwinden gebracht. 9. Außerhalb des Bet ha-Midrasch-Kontexts verdient allerdings noch ein von Jannai (6. Jh.) verfasster Pijjut Erwähnung,27 der jeden Vers des Lieds aus dem Buch der Sprichwörter auf die Rolle einer verheirateten Frau und insbesondere auf die menstruelle Reinheit bezieht. Eine gute Frau ist dieser Beschreibung zufolge eine Frau, die die betreffenden Regeln perfekt beachtet und damit für ihren Mann und für sich selbst Vertrauen und Freude stiftet. Ich zitiere im Folgenden einige ausgewählte Verse (1–8 und 33–40):
. אשת חיל מי ימצאEine fähige Frau, wer findet sie? (Spr 31,10) . ארחה לא טועהSie macht keinen Fehler mit ihrer Periode.
25 Ebd., 87; ed. Visotzky, 197. 26 Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, 392f. 27 MS Cambridge University Library, T-S Sammlung 6H, 6 1, Ma’agarim, dort auch die Zuschreibung zu Jannai.
308
4.2
Ronit Nikolsky . כגפן נטועה . לא חטאה ולא החטיאה . לא נטמאה ולא טימאה . בטח בה לב בעלה . בשלטון אשר נתן לה . ברשיון אשר הואמן לה . לומר טמאה אני . ולומר טרה אני
Wie ein [gut] gepflanzter Weinstock. Sie sündigt nicht und verursacht [anderen] keine Sünde, ist nicht entehrt und nicht entehrend. Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie (Spr 31,11), in der Eigenständigkeit, die er ihr gegeben hat, in der Autorität, die er ihr anvertraut hat, zu sagen: „Ich bin unrein“, und zu sagen: „Ich bin rein.“ … … . ט?ע?מה כי טוב סחרהSie spürt den Erfolg ihrer Arbeit (Spr 31,18). . טוב וגם נעיםSchön und angenehm . היא ואישה נחיםruhen sie und ihr Mann. . זה בזה שמחיםFroh miteinander . במצות רם מסחיםunterhalten sie sich über das Gebot des Höchsten. . ידיה שילחה בכישורNach dem Spinnrocken greift ihre Hand (Spr 31,19). .[ יד לבדוק מושלחתWenn] ihre Hand ausgestreckt ist, um zu prüfen, .[ למאד משובחתdann] wird auf eine sehr gute [Weise] . היתה מקורה ברוךihre Quelle gesegnet . ושלחנא בטוהר ערוךund ihr Tisch in Reinheit gedeckt.
Der Kontext von MidSarAb im TanB
Im TanB findet sich MidSarAb in einer Perikope zur wöchentlichen Tora-Lesung (Parascha) Ḥayye Sara (Leben der Sara), die die gleichnamige biblische Perikope in Gen 23,1–25,18 interpretiert. Diese Perikope erzählt von Saras Tod, davon wie Abraham einen Begräbnisplatz für sie erwirbt, von ihrem Begräbnis, von Abrahams Leben nach ihrem Tod und davon, dass er eine Frau für Isaak sucht, von Abrahams Tod und vom Leben Ismaels. Der Vers, der in unmittelbarster Nähe zu MidSarAb steht, ist Gen 24,1: „Abraham war alt“. Dieser Vers gibt Anlass zu der (hypothetischen) midraschischen Frage, wa rum dieser Satz über Abrahams fortgeschrittenes Alter hier geschrieben steht. War er nicht schon vorher alt? Diese Frage wird mit einem Proömium beantwortet: einer typischen Midrasch-Technik, bei der der Vers aus der Parascha mit einem anderen Bibelvers (meist aus den Propheten oder den Schriften) verknüpft wird und die Verbindung zwischen den beiden Versen dem Darschan Gelegenheit zu interessanten Predigten gibt, die auch pädagogischen Zwecken dienen: Der Vers „Abraham war alt“ wird mit den Versen Alef bis Nun (10–23) aus Spr 31 verknüpft, und der letzte Vers lautet: נודע בשערים בשבתו עם זקני ארץ,„( בעלהIhr Mann [der Mann der Eschet Chajil] ist in den Torhallen bekannt, wenn er zu Rat sitzt mit den Ältesten des Landes“). Der Verfasser des Midrasch brauchte den Vers Nun, weil dieser das Ansehen eines alten Ehemannes thematisiert, was die Verbindung zum ersten Vers der Lesung (Gen 24,1) herstellt, der Abrahams Alter erwähnt. Warum MidSarAb hier eingefügt wurde, ist klar. Es ist gängige Praxis in der Midrasch-Literatur,
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den eingefügten Text abbrechen zu lassen, sobald die relevante Stelle erreicht ist. Es ist möglich oder sogar wahrscheinlich, dass diese Einheit genau wie das biblische Kapitel bis Taw weiterging, aber wir haben dafür keine Belege. Obwohl MidSarAb in TanB wegen des Verses Nun zitiert wird, der in den Kontext von Abrahams fortgeschrittenem Alter passt (Gen 24,1), wird dieses Verbindungsglied in jeder der in Tan-Yel überlieferten Versionen anders weiterverarbeitet: TanB beginnt: „über wen diese Worte gesagt wurden“, und erklärt, dass sie über Sara gesagt werden und dass sie Abrahams Trauerrede auf Sara sind. Tan folgt dem Argument der Totenklage, doch AgBer erklärt den Zusammenhang so, dass Abraham alt geworden sei, weil Sara gestorben war, sodass nicht das fortgeschrittene Alter, sondern Saras Tod zum Bindeglied und Anlass wird, MidSarAb an dieser Stelle einzufügen. Diese Rahmung – dass also MidSarAb in den Kontext von Saras Tod eingebettet wird – ändert unsere Erwartungen im Hinblick darauf, was der zitierte Text enthalten sollte. Erstens gibt es nun keinen Grund mehr, das Zitat bei Vers Nun enden zu lassen: Ein Text, der Sara beklagt und sie mit der Eschet Chajil vergleicht, könnte bis zum Ende des Alphabets weitergehen. Und tatsächlich geschieht genau das in den beiden anderen Textzeugen: Sowohl Tan als auch AgBer zitieren sämtliche verbleibenden Verse bis Taw. Zweitens würde man erwarten, dass der Text, wenn er nicht von Abrahams vorgerücktem Alter, sondern von Saras Tod handelt, von Sara und nicht von Sara und Abraham spricht. Auch dies ist in sämtlichen Textzeugen – TanB, Tan und AgBer – der Fall: In den meisten Versen wird nur Sara, nicht aber Abraham erwähnt.28 Also fügt sich der in Frage kommende Midrasch in den Kontext von Saras Tod und nicht von Abrahams fortgeschrittenem Alter ein. Gleichwohl lassen die erhaltenen Textzeugen erkennen, weshalb MidSarAb ursprünglich in den TanB integriert wurde: Anlass für die Einfügung war der Vers über Abraham, der alt war, denn der Text endet eindeutig mit dem Vers Nun; die Hinzufügungen von Samech bis Taw in Tan und AgBer sind – wie an den stilistischen und inhaltlichen Unterschieden unschwer zu erkennen ist – späteren Datums. Es gibt weitere Gründe, der Version TanB hier (und an anderen Stellen) den Vorzug zu geben, doch ich werde mir diese Argumentation für eine spätere Gelegenheit aufheben. An dieser Stelle sei, was den Vergleich zwischen den drei Versionen von MidSarAb in der Tan-Yel-Literatur betrifft, lediglich darauf hingewiesen, dass AgBer von der TanB-Version abhängt und TanB und Tan vermutlich eine ähnliche Quelle verwendet haben. Dennoch ist es 28 Ich erkläre die Tatsache, dass der Text auch in TanB überwiegend von Sara spricht, als eine Entwicklung, die in Abhängigkeit von oder parallel zu den beiden anderen Textzeugen stattgefunden hat; d. h. nachdem nicht mehr Abrahams Alter, sondern Saras Tod den Anlass bildete, den Text aufzunehmen, passte sich auch der eingefügte MidSarAb an den veränderten Kontext an.
310
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wahrscheinlich, dass in sämtlichen Textzeugen Teile des Originalmaterials erhalten geblieben sind, sodass sich MidSarAb bis zu einem gewissen Grad aus den drei Parallelen in der Tan-Yel-Literatur rekonstruieren lässt.
4.3
Dem unabhängigen Text auf der Spur
Ich werde nun näher auf den Text eingehen und zunächst erklären, warum ich die Existenz eines unabhängigen Midrasch MidSarAb konjiziert habe. Anschließend werde ich meine Rekonstruktionsmethode erläutern, den rekon struierten Text vorlegen und in aller gebotenen Kürze analysieren. Ich zitiere vorab den Anfang der Auslegung des Liedes aus dem Buch der Sprichwörter, der mich auf den Gedanken gebracht hat, dass es eine ältere, unabhängige Version geben könnte. Die Auslegung der ersten drei Verse in TanB liest sich wie folgt: (Zu Vers Alef, Spr 31,10) Eine fähige Frau, wer findet sie? – das ist Sara, wie es heißt: Ich weiß, du bist eine Frau von großer Schönheit (Gen 12,11). Sie übertrifft alle Perlen an Wert – denn sie ist von weit her gekommen, wie es heißt: Der vom Aufgang der Sonne einen Raubvogel ruft, aus fernem Land den Mann für meinen Plan (Jes 46,11). (Zu Vers Bet, Spr 31,11) Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie – das ist Sara, wie es heißt: [Sag doch, du seist meine Schwester … (Gen 12,13)]. Und es fehle ihm nicht an Gewinn – das ist Abraham unser Vater, wie es heißt: Abram hatte einen sehr ansehnlichen Besitz [an Vieh, Silber und Gold] (Gen 13,2). (Zu Vers Gimel, Spr 31,12) Sie tut ihm Gutes und nichts Böses – das ist Sara, wie es heißt: Er behandelte Abram ihretwegen gut (Gen 12,16). (TanB Ḥayye Sara 3 [nach MS Oxford, Bodleian Library, 154, in Ma’agarim, derselben Handschrift, die auch Buber verwendet hat]).
Werfen wir zunächst einen Blick auf den Abschnitt, der Spr 31,11, den Vers zum Buchstaben Bet, interpretiert: Der erste Versabschnitt aus dem Buch der Sprichwörter, „Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie“, wird im Hinblick auf Saras Abenteuer im Palast des Pharao ausgelegt (Gen 12; hiervon wird weiter unten noch detaillierter die Rede sein); das Wort „vertraut“ aus dem Sprichwörter-Vers wird auf das Vertrauen bezogen, das Abraham in seine Frau setzte, als er sie bat, sich als seine Schwester auszugeben (Gen 12,13). Der zweite Versabschnitt, „und es fehle ihm nicht an Gewinn“, wird darauf bezogen, dass Abraham nach Saras Erlebnissen im Palast des Pharao ein sehr reicher Mann wurde, wie der zweite Vers im nächsten Kapitel er-
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klärt: „Abram hatte einen sehr ansehnlichen Besitz an Vieh, Silber und Gold“ (Gen 13,2), offenbar wegen des Viehs und der Sklaven, die er erhielt, als Pharao Sara zu sich in den Palast nahm (Gen 12,16). Der Midrasch ist hier wie folgt aufgebaut: 1. Ein Abschnitt eines Verses aus dem Buch der Sprichwörter wird zitiert. 2. Der zitierte Versabschnitt wird interpretiert, wobei die Interpretation immer mit den Worten: „das ist Sara, wie es heißt“, beginnt und zum Zitat eines Verses aus dem Buch Genesis überleitet, der sich auf etwas bezieht, was Sara getan hat. 3. Der zweite Abschnitt des Verses aus dem Buch der Sprichwörter wird zitiert. 4. Der zweite Versabschnitt wird interpretiert, wobei die Interpretation mit den Worten: „das ist Abraham, wie es heißt“, beginnt und sodann zum Zitat eines Verses aus dem Buch Genesis überleitet, der sich auf etwas bezieht, was Abraham getan hat. Wenn wir uns nun die Auslegung des vorherigen Verses (zum Buchstaben Alef; Spr 31,10) ansehen und uns diesen Aufbau vor Augen halten, dann stellen wir fest, dass die Elemente 1) und 2) (d. h. der erste Abschnitt eines Verses aus dem Buch der Sprichwörter, der Bezug auf Sara und ein Vers aus dem Buch Genesis) vorhanden sind. Im Zusammenhang mit dem zweiten Versabschnitt, wo davon die Rede ist, dass sie Nahrung aus der Ferne holt, wird jedoch kein Vers aus dem Buch Genesis, sondern aus dem Buch Jesaja über jemanden zitiert, der in der Tat aus der Ferne kommt, aber Teil eines göttlichen Plans ist. Abraham wird an dieser Stelle nicht erwähnt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie der Text entstellt wurde, nämlich dadurch, dass das ursprüngliche Zitat aus dem Buch Genesis durch einen Jesaja-Vers ersetzt wurde. Im amoräischen Midrasch BerR 15,4 and BerR 49,2 wird dieser Vers aus dem Buch Jesaja jedoch auf Abraham bezogen. Es scheint also, dass jemand Abrahams Namen getilgt und den Genesis-Vers über ihn durch einen Vers aus dem Buch Jesaja ersetzt hat, der sich nicht explizit auf Abraham bezieht, aber von den wenigen Auserwählten, die den amoräischen Midrasch kennen, dementsprechend verstanden wird. Und wenn wir uns dem nachfolgenden Vers – zum Buchstaben Gimel zuwenden, dann finden wir wieder nur den ersten Abschnitt aus dem Sprichwörter-Vers und eine Auslegung, die einen Vers aus dem Buch Genesis über Sara enthält. Der zweite Versabschnitt aus dem Buch der Sprichwörter fehlt in TanB. Damit ist Vers Bet der einzige Sprichwörter-Vers, dessen Auslegung vom Aufbau her vollständig erhalten geblieben ist: Jede Versabschnitt aus Spr 31,11 wird einzeln interpretiert, wobei die erste auf Sara und die zweite auf Abraham bezogen wird; in beiden Fällen wird zur Unterstützung ein Vers aus dem Geschichtenzyklus über Sara und Abraham im Buch Genesis angeführt.
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Ich habe dieses verlorengegangene unabhängige Werk Midrasch Sara und Abraham genannt. Saras Name erscheint an erster Stelle, weil sich die erste Auslegung jeweils auf sie bezieht. Ich werde nun versuchen, das ursprüngliche Werk auf der Grundlage der drei mir zugänglichen Textzeugen aus der Tan-Yel-Literatur zu rekonstruieren. Ich werde jeden Vers aus dem Buch der Sprichwörter ausgehend vom TanB-Text untersuchen und mithilfe von Informationen aus den beiden anderen Textzeugen und aus der älteren rabbinischen Literatur zu rekonstruieren versuchen. Ich werde den Text nur bis zum Buchstaben Nun rekonstruieren, weil ab da kein Textzeuge das ursprüngliche Material zu zitieren scheint. Es folgt zunächst eine Erklärung der Rekonstruktionsprinzipien, anschließend die Rekonstruktion selbst und dann eine Erörterung über die Poetik von MidSarAb, seinen kulturellen Hintergrund und die Frage, weshalb er entstellt worden ist.
4.4
Prinzipien der Rekonstruktion
Die Prinzipen, nach denen ich die Verbindung eines Verses aus der Genesis-Erzählung mit dem ersten oder zweiten Versabschnitt aus dem Buch der Sprichwörter rekonstruiere, sind folgende: 1. Irrelevante und hinzugefügte Materialien und Erklärungen werden eliminiert. 2. Ein Vers über Sara sollte sich auf den ersten und ein Vers über Abraham auf den zweiten Versabschnitt aus dem Buch der Sprichwörter beziehen. 3. Wenn der primäre Textzeuge (TanB) dieses Muster teilweise oder ganz beibehält, wird er bevorzugt, weil angenommen wird, dass der primäre Textzeuge a priori die ursprüngliche Überlieferung bewahrt; sollten dennoch Verse aus dieser Version aussortiert werden, wird dies begründet. 4. Midraschim oder Verse, die in Spr 31 in der femininen Form erscheinen, können sich auf Abraham beziehen. 5. Wenn der primäre Textzeuge einen Midrasch und einen Vers enthält, der nicht den Geschichten aus dem Buch Genesis entnommen ist, ersetze ich ihn durch einen zum Midrasch passenden Vers aus der GenesisGeschichte. 6. Wenn 2. zutrifft und ein anderer Textzeuge (Tan oder AgBer) einen passenden Vers aus der Genesis-Geschichte bieten, verwende ich diesen Vers. 7. Rekonstruierte Verse können, müssen aber nicht auf einer wörtlichen Übereinstimmung mit dem Kapitel aus dem Buch der Sprichwörter basieren (wenn nicht, handelt es sich um eine Auslegung aus der Gruppe der
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sogenannten Ischmael-Midraschim, die in der Regel weniger die wortgetreue Auslegung im Blick haben als die Aqiva-Midraschim).29 8. Bei Aussagen oder Midraschim, die von genereller theologischer Natur sind, wird davon ausgegangen, dass es sich um spätere Interpolationen handelt.
4.5
(Teil-)Rekonstruktion von MidSarAb
In diesem Unterkapitel werde ich den Text von MidSarAb Vers für Vers durchgehen und nach den oben dargelegten Prinzipien rekonstruieren. Ich werde die hebräische Rekonstruktion und die deutsche Übersetzung vorlegen und meine Rekonstruktion nach jedem Vers erläutern.
4.5.1 Vers Alef (Spr 31,10) TanB
MidSarAb (Rekonstruktion)
Eine fähige Frau, wer findet sie? (Spr 31,10) – das ist Sara, wie es heißt: Ich weiß, du bist eine Frau von großer Schönheit (Gen 12,11). Sie übertrifft alle Perlen an Wert – denn sie ist von weit her gekommen, wie es heißt: Der ich von Aufgang den Raubvogel rufe, aus fernem Land den Mann für meinen Plan (Jes 46,11).
Eine fähige Frau, wer findet sie? (Spr 31,10), das ist Sara, wie es heißt: Ich weiß, du bist eine Frau von großer Schönheit (Gen 12,11). Sie übertrifft alle Perlen an Wert (Spr 31,10), [das ist Abraham], der von weit her kam, wie es heißt: [Als Abraham […] seine Augen erhob, sah er den Ort von Weitem (Gen 22,4)].
הנה נא: שנאמר,אשת חיל זו שרה ת.ידעתי כי אשה יפת מראה את
אשת חיל [מי ימצא] (משלי לא י) זו הנה נא ידעתי כי אשה: שנאמר,שרה ת.)יפת מראה את (בראשית יב יא , שבאת ממרחק,ורחוק מפנינים מכרה [זה,)ורחוק מפנינים מכרה (משלי שם קורא ממזרח עיט מארץ מרחק:שנאמר [וישא אברהם עיניו:אברהם] שנאמר ת.)וירא את המקום מרחוק (בראשית כב ד)] איש עצתי (ישעיה מו יא ו
Erklärung der Rekonstruktion Der erste Versabschnitt stammt aus TanB und bedarf keiner Veränderungen; ich habe lediglich einige Hinzufügungen eliminiert und, wo nötig, die Formeln „das ist Sara, wie es heißt“ und „das ist Abraham, wie es heißt“ ergänzt. Der zweite Versabschnitt bezieht sich so, wie er in TanB überliefert ist, auf die Worte: „Sie übertrifft alle Perlen an Wert“, und spricht von Sara, die von weit her kommt; als Beleg wird ein Vers aus dem Buch Jesaja angeführt 29 Menachem I. Kahana, „The Halakhic Midrashim“, in The Literature of the S ages 2: Midrash and Targum, Liturgy, Poetry, Mysticism, Contracts, Inscriptions, Ancient Science and the Languages of Rabbinic Literature (hg. v. Shmuel Safrai et al.; CRINT 23,2; Assen: Van Gorcum, 2006), 3–105.
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(Jes 46,11). Derselbe Vers wird in BerR 15,20 auf Abraham bezogen, der aus der Ferne kam: „[Gott erschuf] Adam aufgrund des Verdienstes Abrahams … aufgrund des Verdienstes desjenigen, der von ferne kommt, wie es heißt, Der vom Aufgang der Sonne einen Raubvogel ruft, aus fernem Land den Mann für seinen Plan (Jes 46,11).“ Offenbar fand es jemand seltsam – wie oben im Hinblick auf die emotionalen Gemeinschaften bereits angesprochen –, dass dieser Versabschnitt, der die Eschet Chajil eindeutig als Frau beschreibt, auf Abraham bezogen wurde, und änderte ihn dahingehend, dass er über Sara aussagte, sie sei von weit her gekommen; da er es jedoch nicht wagte, sich allzu weit von seiner Quelle zu entfernen, benutzte er einen Vers, der mit dem aus der Ferne kommenden Abraham assoziiert werden konnte: keinen aus dem Buch Genesis (das natürlich von Abraham handelt), sondern einen aus dem Buch Jesaja, das sich im biblischen Text nicht unmittelbar auf Abraham bezieht und nur in Bereshit Rabba mit diesem in Verbindung gebracht wird. In Tabellenform lässt sich diese Entwicklung wie folgt darstellen: Stufe 1 Vers aus den Sprichwörtern 2 Bezug auf Abraham 3 Genesis-Vers über Abraham 1
Stufe 2 Vers aus den Sprichwörtern Bezug auf Sara Genesis-Vers über Abraham
Stufe 3 Vers aus den Sprichwörtern Bezug auf Sara ein obskurer Jesaja-Vers über Abraham, der auch auf Sara bezogen werden kann
Stufe 1 – das Original – enthielt im zweiten Versabschnitt einen Verweis auf Abraham und als Belegtext einen (möglicherweise den von mir rekonstruierten) Genesis-Vers über ihn. Auf Stufe 2 wurde Abrahams Name von jemandem eliminiert, der es für unangemessen hielt, dass das Lied über eine Frau aus dem Buch der Sprichwörter auf Abraham bezogen wurde, und der Genesis-Vers wurde bedeutungslos, weil es um Sara ging. Auf Stufe 3 wurde der bedeutungslose Vers aus dem Buch Genesis, der von Abraham handelte, durch einen Jesaja-Vers ersetzt, der sich auf Abraham bezieht, ihn aber nicht direkt erwähnt. Was bleibt, ist ein unverständlicher oder sogar sinnloser Midrasch: Er besagt, dass Sara aus der Ferne kam, was natürlich logisch ist, denn in der biblischen Erzählung kam sie gemeinsam mit Abraham aus Mesopotamien, doch der Belegtext handelt von einem „Mann für meinen Plan“, was ursprünglich auf Abraham gemünzt gewesen war, sich nun auf Sara bezieht und mithin – das ist ein wenig ungewöhnlich – von Sara als Mann spricht. Meine Entscheidung, Gen 22,4 als den ursprünglichen Belegtext für Abraham zu verwenden, wird auch durch Wayiqra Rabba gestützt, wo es heißt: „Rabbi Natan sagte: Wir halten ([ )מחשביןden Ausdruck למרחוקin Ijob 36,3] für den Namen unseres Vaters Abraham, der von ferne kam. Das ist, was ge-
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schrieben steht: Als Abraham am dritten Tag seine Augen erhob, sah er den Ort von Weitem (Gen 22,4).“ (WaR 14,2)
4.5.2 Vers Bet (Spr 31,11) TanB ,)בטח בה לב בעלה (משלי ל יא למען ייטב לי: שנאמר,זו שרה ג.)בעבורך (בראשית יב יג ושלל לא יחסר (משלי שם) זה ואברם: שנאמר,אברהם אבינו ם.)כבד מאד (בראשית שם
Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie – das ist Sara, wie es heißt: [Sag doch, du seist meine Schwester,] damit es mir deinetwegen gut geht (Gen 12,13). Und es fehlt ihm nicht an Gewinn – das ist Abraham unser Vater, wie es heißt: Abram hatte einen sehr ansehnlichen Besitz [an Vieh, Silber und Gold] (Gen 13,2).
Erklärung der Rekonstruktion Hier gibt es keine Rekonstruktion, denn der Vers Bet ist vollständig erhalten. Der erste Abschnitt, der sich auf Sara bezieht, zitiert einen Vers aus der biblischen Geschichte darüber, wie Sara und Abraham nach Ägypten hi nunterzogen und Abraham Sara, die eine schöne Frau war, bat, sich als seine Schwester auszugeben. Er fürchtete, dass die Ägypter ihn töten würden, um ihrer habhaft zu werden, wenn sie erführen, dass sie seine Frau war. Ungeachtet der komplizierten moralischen Lage tat Sara, worum Abraham sie gebeten hatte, wurde daraufhin in das Haus des Pharaos geholt, beinahe von diesem entehrt, auf wunderbare Weise errettet und ihrem Mann zurückgegeben; daraufhin überschüttete der Pharao Abraham mit Geschenken und Besitz. In diesem Sinne wurde Abraham reicher, weil er Sara vertraut hatte (er hatte darauf vertraut, dass sie für ihn lügen würde und vielleicht auch, dass sie sich ihre Reinheit bewahren würde), wie es der zweite Abschnitt andeutet, indem er den Vers aus dem Buch der Sprichwörter über den Ehemann der Eschet Chajil, dem es nicht an Gewinn fehlt, mit dem Vers aus dem Buch Genesis über Abraham kombiniert, der Reichtum gewinnt.
4.5.3 Vers Gimel (Spr 31,12) TanB
MidSarAb (Rekonstruktion)
גמלתהו טוב ולא : שנאמר, זו שרה,)גמלתהו טוב ולא רע (משלי לא יב שנאמר, זו שרה,רע ז,)ולאברם היטיב בעבורה (בראשית יב טז ולאברם היטיב, שמענו אדני: שנאמר,[כל ימי חייה (משלי שם) זה אברהם נשיא אלהים אתה בתוכנו (בראשית כג ו)]ו ה.בעבורה ו
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Sie tut ihm Gutes und nichts Böses (Spr 31,12) – das ist Sara, wie es heißt: Er behandelte Abram ihretwegen gut (Gen 12,16).
Sie tut ihm Gutes und nichts Böses (Spr 31,12) – das ist Sara, wie es heißt: Er behandelte Abram ihretwegen gut (Gen 12,16). [Alle Tage ihres Lebens (Spr 31,12), das ist Abraham, wie es heißt: Hör uns an, mein Herr! Du bist ein Gottesfürst in unserer Mitte (Gen 23,6)].
Erklärung der Rekonstruktion Der erste Versabschnitt betrifft Sara, die Abraham Wohltaten erweist („Sie tut ihm Gutes“), und der Belegvers aus dem Buch Genesis beschreibt die Geschenke, die Abraham nach dem oben geschilderten Vorfall vom Pharao erhält. Zum zweiten Abschnitt gibt es keinen Belegvers; in TanB und AgBer ist der ganze Abschnitt – sogar der Halbvers aus dem Buch der Sprichwörter – spurlos verschwunden. Ich habe den zweiten Abschnitt daher rekonstruiert. Der zweite Versabschnitt im Buch der Sprichwörter lautet: „alle Tage ihres Lebens“. Ich vermute, dass der Midrasch an dieser Stelle einen Vers verwendet hat, der zeigt, wie Sara Abraham auch noch über ihren Tod hinaus Wohltaten erwies. Als Abraham die Hetiter bat, ihm einen Platz zur Verfügung zu stellen, an dem er Sara begraben konnte, wurde er von ihnen geehrt und als „Herr“ und „Fürst“ angeredet. Das zeigt, wie Sara Abraham alle Tage ihres Lebens und noch darüber hinaus Wohltaten erwies.
4.5.4 Vers Dalet (Spr 31,13) TanB
MidSarAb (Rekonstruktion)
בין ישמעאל,דרשה צמר ופשתים ,דרשה צמר ופשתים (משלי ל יג) זאת שרה ותרא שרה: שנאמר,ליצחק ותרא שרה את בן הגר המצרית:שנאמר את בן הגר המצרית וגו׳ ותאמר י.)(בראשית כא ט כל אשר לאברהם גרש (את) האמה הזאת: שנאמר,[ותעש בחפץ כפיה זה אברהם י.)י-] וגו' (בראשית כא ט.)תאמר אליך שרה שמע בקולה (בראשית כא יב
ו
ו
Sie sorgt für Wolle und Flachs (Spr 31,13) – für Ischmael und Isaak, wie es heißt: Eines Tages beobachtete Sara, wie der Sohn, den die Ägypterin Hagar etc. Da sagte sie zu Abraham: Vertreibe diese Magd etc. (Gen 21:9f.)
Sie sorgt für Wolle und Flachs (Spr 31,13) [– das ist Sara,] wie es heißt: Eines Tages beobachtete Sara, wie der Sohn, den die Ägypterin Hagar usw. (Gen 21,9). [Und arbeitet voll Lust mit ihren Händen (Spr 31,13) – das ist Abraham, wie es heißt: Hör auf alles, was dir Sara sagt! (Gen 21,12)].
Erklärung der Rekonstruktion Im ersten Abschnitt geht es um Schaatnes, ein Stoffgewebe aus Wolle und Flachs. Eine solche Kombination ist verboten, denn in der Bibel heißt es: „Du
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sollst kein aus zweierlei Fäden gewebtes Kleid anlegen“ (Lev 19,19). Diesen Vers bezieht TanB auf die Begebenheit, als Sara Abraham auffordert, Ismael, den Sohn, den er mit Hagar hatte, fortzujagen, auch wenn die Formel fehlt, die die Verbindung zwischen dem Vers aus Spr 31 und Sara herstellt. Der Belegtext, den ich in der Rekonstruktion des auf Abraham bezogenen zweiten Abschnitts ergänzt habe, stammt ebenfalls aus der Episode, als Sara verlangt, dass Abraham Hagar und Ismael wegschicken soll. Ich habe diesen Vers gewählt, weil der tannaitische Midrasch Sifra das Thema der Absonderung Israels von den anderen Völkern mit dem Schaatnes-Verbot in Verbindung bringt und im Namen von Rabbi Eleazar Folgendes erklärt: Woher [ist zu belegen], dass ein Mensch nicht sagen soll, ich mag mich nicht mit Schaatnes kleiden, ich mag nicht Fleisch eines Schweines essen, ich mag nicht einer wegen Unzucht Verbotenen beiwohnen? Ich mag aber. Was soll ich denn tun, wenn mein Vater im Himmel so über mich beschlossen hat? Die Schrift sagt: ich habe euch von all diesen Völkern unterschieden, damit ihr mir gehört (Lev 20,26). (Sifra Qedoshim, Parascha 4, Pereq 9)
Schaatnes zu vermeiden ist, wie bei anderen Geboten auch, nicht deshalb verpflichtend, weil die Tat an sich verwerflich wäre, sondern nur weil das Gebot Gottes dazu anhält. Gottes Gebote zu halten ist notwendig, um Gottes Volk von den anderen Völkern abzusondern (so wird Lev 20,26 gelesen). Anders als in Sifra, wo das Mischgewebe keine Metapher, sondern ein Mittel ist, Israel von den anderen Völkern abzusondern, verwendet MidSarAb Schaatnes ausdrücklich als eine Metapher für die Trennung von Juden und Nichtjuden. Ich habe den zweiten Abschnitt in Anlehnung an AgBer rekonstruiert. Der zweite Versabschnitt von Spr 31,13 lautet: „und arbeitet voll Lust mit ihren Händen.“ Auch der Genesis-Vers: „Hör auf alles, was dir Sara sagt“, beinhaltet, dass, wie im Fall der Eschet Chajil, Saras Wille – allerdings von Abraham – erfüllt wurde. In AgBer ist die Formel „das ist Abraham, wie es heißt“ weggefallen, wodurch der Belegtext mit dem ersten Abschnitt verbunden wird und der Interpretation nichts Relevantes hinzufügt.
4.5.5 Vers He (Spr 31,14) TanB
שהיתה מטלטלת,היתה כאניות סוחר ,ממקום למקום וממדינה למדינה כספינה הזאת ההולכת ממקום למקום ם.בים הנה: שנאמר,ממרחק תביא לחמה ו.'נתתי אלף כסף לאחיך וגו
MidSarAb (Rekonstruktion)
היתה כאנית סוחר (משלי לא יד) [זאת ותוקח האשה בית פרעה: שנאמר,שרה ו.])(בראשית יב טו ],ממרחק תביא לחמה [זה אברהם ' הנה נתתי אלף כסף לאחיך וגו:שנאמר ז.)(בראשית כ טז
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Sie gleicht den Schiffen des Kaufmanns (Spr 31,14), denn sie bewegte sich von Ort zu Ort und von Land zu Land wie ein Schiff auf dem Meer. Aus der Ferne holt sie ihre Nahrung (Spr 31,14), wie es heißt: Siehe, ich gebe deinem Bruder Silberstücke (Gen 20,16).
Sie gleicht den Schiffen des Kaufmanns (Spr 31,14) [– das ist Sara, wie es heißt: Da wurde die Frau in das Haus des Pharao genommen (Gen 12,15).] Aus der Ferne holt sie ihre Nahrung (Spr 31,14) [– das ist Abraham], wie es heißt: Siehe, ich gebe deinem Bruder tausend Silberstücke (Gen 20,16).
Erklärung der Rekonstruktion Zum ersten Abschnitt findet sich in TanB und AgBer kein Belegtext. Stattdessen enthalten beide Textzeugen eine kurze Erzählung, die erklärt, dass Sara wie ein Schiff gewesen sei, weil sie weit herumkam (AgBer: von Mesopotamien nach Kanaan; TanB: einfach von einem Ort zum anderen). Tan hingegen führt einen Belegtext an, der sich auf Sara bezieht, die in das Haus des Pharao geholt wird; diese Episode eignet sich gut als Veranschaulichung von Saras Ortswechsel. Deshalb habe ich den Vers auch in meiner Rekon struktion verwendet. Man kann sich vielleicht denken, weshalb ein solcher Vers absichtlich eliminiert worden sein könnte: Er stellt, wie oben bereits gesagt, eine Bedrohung für Saras Reinheit dar. Die in TanB und AgBer eingeführten Erzählungen bieten anstelle des Verses eine abgemilderte Version von Saras Wanderungen: Sie habe sich schlichtweg von einem Ort zum anderen bewegt. Der ideale Belegvers für den zweiten Versabschnitt: „Aus der Ferne holt sie ihre Nahrung“, wäre Gen 12,16 gewesen, wo davon die Rede ist, dass das Missgeschick in Ägypten für Abraham gewinnbringend war. Diese Stelle erscheint in MidSarAb jedoch bereits im Zusammenhang mit dem Vers Bet, dem einzigen unversehrt erhaltenen Abschnitt in unserem Text. Deshalb habe ich hier einen Vers aus der Parallelgeschichte über Sara im Haus des Abimelech gewählt. Tan ergänzt hier einen anderen Vers aus derselben Parallelgeschichte über Sara, die in Abimelechs Haus geholt wird (Gen 20,2). Vielleicht war dies der ursprünglich in diesem Midrasch verwendete Vers.
4.5.6 Vers Waw (Spr 31,15) TanB
אימתי וישכם אברהם,ותקם בעוד לילה ותתן טרף לביתה וחק.בבוקר וגו׳ בעצם היום הזה נמול אברהם,לנערותיה , ואין חק אלא מילה,)וגו' (בראשית יז כו ויעמידה ליעקב לחק לישראל:שנאמר י.)ברית עולם (תהלים קה י
MidSarAb (Rekonstruktion)
ותקם בעוד לילה (משלי לא טו) [זאת ] וישכם אברהם בבוקר:שרה שנאמר (בראשית כב ג) ותתן טרף לביתה [וחוק לנערותיה (משלי שם) זה אברהם ] בעצם היום הזה נמול אברהם:שנאמר ו.)וגו׳ (בראשית יז כו
Der Midrasch Sara und Abraham Noch bei Nacht steht sie auf (Spr 31,15). Wann? Da stand Abraham am Morgen früh auf etc. (Gen 22,3). Um ihrem Haus Speise zu geben und den Mägden, was ihnen zusteht (Spr 31,15). Noch am selben Tage wurde Abraham beschnitten etc. (Gen 17,26). Und mit dem Gesetz ist nur die Beschneidung gemeint, wie es heißt: Er stellte ihn auf für Jakob als Recht [hoq], für Israel als Bund (Ps 105,10).
319 Noch bei Nacht steht sie auf (Spr 31,15) [– das ist Sara, wie es heißt:] Frühmorgens stand Abraham auf (Gen 22,3). Um ihrem Haus Speise zu geben [und den Mägden, was ihnen zusteht] (Spr 31,15) [– das ist Abraham, wie es heißt:] Am selben Tag wurde Abraham beschnitten etc. (Gen 17,26).
Erklärung der Rekonstruktion Im ersten Abschnitt habe ich die formelhaften Worte „das ist Sara“ und „das ist Abraham“ ergänzt, die weggelassen wurden, als die Struktur des Midrasch verlorenging; außerdem habe ich einige Wörter getilgt, die hinzugefügt worden waren. Ansonsten ist dieser Abschnitt so, wie er in TanB überliefert ist, noch nahe am Original. Der Belegtext zu diesem Versabschnitt: „Frühmorgens stand Abraham auf“ (Gen 22,3), ist deshalb schwierig, weil er sich in der Genesis-Geschichte auf Abraham und nicht auf Sara bezieht. Zwar werden auch in einigen der bereits angeführten Abschnitte Verse über Abraham auf Sara bezogen, etwa im Midrasch zum Vers beginnend mit dem Buchstaben Gimel (Spr 31,12): „Er behandelte Abram ihretwegen gut“ (Gen 12,16), wo davon die Rede ist, dass Abraham durch Sara Gewinn machte, und auch in der Auslegung zu Spr 31,11, dem Vers, der mit dem Buchstaben Bet beginnt: „Abraham hatte einen sehr ansehnlichen Besitz [an Vieh, Silber und Gold]“ (Gen 13,2); dort ging es aber immer darum, dass Sara etwas tat, was Abraham zugutekam. Hier konnte ich keine Überlieferung finden, die den betreffenden Vers auf diese Weise erklärt, im Gegenteil: Ich fand eine Überlieferung, die dem Leser versichert, dass Sara noch geschlafen habe, als Abraham aufbrach, um Isaak zu opfern (Tan Wa-yera 22). Dennoch bin ich dem Prinzip treugeblieben, einen Vers, der im TanB vorkommt, beizubehalten, wenn nichts wirklich Gravierendes dagegen spricht (und der eben vorgebrachte Einwand ist nicht gravierend). Den zweiten Abschnitt habe ich mit einem Belegtext über Abrahams Beschneidung rekonstruiert (Gen 17,26), einem Vers, der in TanB bereits enthalten war. Die Verbindung zwischen dem frühmorgendlichen Aufwachen und der Beschneidung, und mit diesem besonderen Vers, wird im tannaitischen Midrasch Sifra hergestellt; dort heißt es: Es lehrt, dass der ganze Tag für Beschneidung tauglich ist, aber [auch] dass die Gewissenhaften sich früh aufmachen zu den Geboten, wie es heißt, Frühmor-
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gens stand Abraham auf, sattelte seinen Esel (Gen 22,3). (Sifra Tazri‘a Parascha 1, Pereq 1,3)30
So wird ein semantisches Feld geschaffen, in dem Beschneidung, frühes Aufwachen und Gen 22,3, zumindest für manche spätantiken jüdischen Kreise, zusammengebracht werden. Diese Konstellation finden wir auch im MidSarAB. Die Verbindung zwischen dem Wort ( חוקGesetz) aus Spr 31,15 und dem Begriff der Beschneidung aus dem Belegvers in TanB findet sich noch an anderen Stellen des Tan-Yel-Korpus und auch schon in früheren Quellen, nämlich in dem Segensgebet, das während des Beschneidungsrituals gesprochen wird und eine Parallele zwischen dem Wort hoq und der Beschneidung herstellt: המברך מהו או׳ אשר קדש ידיד מבטן וחק בשארו שם (וח׳) וצאצאיו חתם באות ברית קדש
Derjenige, der die Benediktion spricht, sagt: [Gepriesen sei,] der den Liebling vom Mutterleib an geheiligt hat! Ein Gesetz hat er an seinem Leib aufgestellt. Seine Nachkommen hat er mit dem Zeichen des heiligen Bundes ( )בריתversiegelt (tBer 6,13). ו
4.5.7 Vers Zajin (Spr 31,16) In den beiden Abschnitten des Verses zum Buchstaben Zajin ist ein großes Stück des Originalmaterials erhalten. TanB
MidSarAb (Rekonstruktion)
Sie überlegt es und kauft einen Acker (Spr 31,16), denn noch während sie am Leben war, begehrte sie die Höhle Machpela zu kaufen: Und kauft ihn (Spr 31,16); denn sie wurde darin begraben. Vom Ertrag ihrer Hände (Spr 31,16). [Wie es heißt: Abraham] aber pflanzte eine Tamariske in Beerseba (Gen 21,33). Was heißt: Und er pflanzte? Wie es heißt: Und er pflanzte einen Weinberg (Gen 9,20).
Sie überlegt es und kauft einen Acker (Spr 31,16) [– das ist Sara, wie es heißt: Das Feld samt der Höhle darauf war in das Eigentum Abrahams übergegangen (Gen 23,20)]. Vom Ertrag ihrer Hände pflanzt sie einen Weinberg (Spr 31,16) [– das ist Abraham], wie es heißt: Abraham aber pflanzte eine Tamariske (Gen 21,33).
שעד שהיא בחיים,זממה שדה ותקחהו זממה שדה ותקחהו (משלי לא טז) [זו ותקחהו, ויקם השדה והמערה אשר זממה ליטול את מערת המכפלה: שנאמר,שרה ה.שהרי נקברה בה כ.])בו לאברהם (בראשית כג כ ויטע: שנאמר,מפרי כפיה נטעה כרם (משלי לא טז) [זה מפרי כפיה נטעה כרם מהו ויטע? כד״א ויטע כרם. ויטע אשל (בראשית אשל:] שנאמר,אברהם כ.)(בראשית ט כ ג.)כא לג
30 Vgl. bPes 4a; bYom 28b und Midrasch Aggada (Buber-Ausg.) Schemini-Tazri‘a 12.
Der Midrasch Sara und Abraham
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Erklärung der Rekonstruktion Ich habe den ersten Abschnitt mithilfe eines Verses aus Tan rekonstruiert. AgBer bezieht sich auf die biblische Geschichte über den Kauf von Saras Begräbnisstätte, zitiert aber einen anderen Vers daraus, nämlich Gen 23,20. Ich habe mich deshalb für den in Tan zitierten Vers entschieden, weil Bereshit Rabba denselben Vers in den folgenden Überlieferungen verwendet: Nach Saras Tod lebte Abraham noch viele Jahre und hatte eine andere Frau und weitere Kinder. Doch obwohl der biblischen Geschichte zufolge zwischen ihrer beider Tod viele Jahre lagen, wurden Sara und Abraham im selben Grab beigesetzt. Für sich genommen besagt dieses Detail, dass Sara Einfluss auf den Ort von Abrahams Begräbnis hatte: Dadurch, dass sie einen Platz für ihr eigenes Grab gekauft hatte, hatte Sara sozusagen auch einen Platz für das Grab ihres Mannes gekauft. Die gemeinsame Bestattung wird deshalb im Midrasch als etwas Besonderes anerkannt und als ein Wunder dargestellt. Bereshit Rabba macht die Besonderheit des Grabes daran fest, dass es ursprünglich für eine kleine Person gedacht gewesen war, sich aber auf wunderbare Weise in ein Grab verwandelte, das auch für eine große Person ausreichte: So erhob sich [ ]ויקםdas Feld Efrons in Machpela (Gen 23,17) – es war gefallen und dann erhob es sich, denn es war zuerst in den Händen eines kleinen Menschen und dann ging es in die Hände eines großen Menschen über. (BerR 58,8)
„Groß“ – an Statur oder, wahrscheinlicher, im Hinblick auf seinen gesellschaftlichen Rang – bezieht Bereshit Rabba auf Abraham, der in dem künftigen Grab beigesetzt werden sollte. An einer anderen Stelle in Bereshit Rabba wird erzählt, dass Abrahams Leichenzug an der Höhle von Machpela vorbeikam und seine Söhne sahen, dass dort ein Platz bereitet war, um Abrahams Leichnam aufzunehmen, und dass sie ihn dort beisetzten (BerR 62,3). Ein anderer Midrasch in Bereshit Rabba erklärt, dass Sara Abraham mit dem Kauf der Höhle von Machpela indirekt etwas Gutes getan hatte, weil Abraham selbst davon profitierte, dass er die Höhle für Sara gekauft hatte. Dieser Midrasch ist um denselben Vers herum konstruiert, den ich bei meiner obigen Rekonstruktion des ersten MidSarAb-Abschnitts zu Spr 31,16 benutzt habe: [Dann begrub Abraham seine Frau Sara in der Höhle des Grundstücks von Machpela] usw. (Gen 23,19) Das ist, was geschrieben steht: Wer nach Gerechtigkeit und Güte strebt (Spr 21,21). Wer nach Gerechtigkeit strebt – das ist Abraham, wie es heißt: den Weg des Herrn einzuhalten und Gerechtigkeit zu üben (Gen 18,19); und Güte (Spr 21,21), weil er zu Sara liebenswürdig war, fand er Leben. (BerR 58,8)
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Vor dem Hintergrund all dieser Überlieferungen, die den Kauf von Saras Grab als etwas beschreiben, das Abraham zugutekam, ergibt es Sinn, wenn ein Vers aus der biblischen Geschichte über den Kauf der Höhle (durch Abraham) als ein Vers gedeutet wird, der sich auf Sara bezieht. Bei der Rekonstruktion des zweiten Abschnitts wurde einer der in TanB zitierten Verse – über Noach, der einen Weinberg pflanzt (Gen 9,20) – eliminiert. Der zweite Vers handelt von Abraham, der pflanzt, allerdings keinen Weinberg, sondern einen Tamariskenbaum (Gen 21,33). Das gängige Wort „pflanzen“ und das Wort für „Weinberg“ aus dem betreffenden Sprichwörter-Vers sind der Grund für den hinzugefügten (aber irrelevanten) Vers über Noach.
4.5.8 Vers Chet (Spr 31,17) TanB
MidSarAb (Rekonstruktion)
, מהרי חגרה בעז מתניה: שנאמר,] [זו שרה,)חגרה בעז מתניה (משלי לא יז ,שאמר לה אברהם ו.)שלש סאים קמח סלת וגו׳ (בראשית יח ו מהרי שלש סאים קמח : שנאמר, זה אברהם,)[ותאמץ זרועותיה (משלי לא יז י סלת וגו׳.])וישלח אברהם את ידו ויקח את המאכלת (בראשית כב י
ו
Sie gürtet ihre Hüften mit Kraft (Spr 31,17), denn Abraham sagte zu ihr: Schnell drei Sea (Gen 18,6).
Sie gürtet ihre Hüften mit Kraft (Spr 31,17), wie es heißt: Schnell drei Sea feines Mehl! Knete es usw. (Gen 18,6). [Und macht ihre Arme stark (Spr 31,17) – das ist Abraham, wie es heißt: Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer (Gen 22,10)].
Erklärung der Rekonstruktion Die Rekonstruktion des ersten Abschnitts basiert auf dem, was in allen drei Textzeugen überliefert ist. Die Rekonstruktion des zweiten Abschnittes ist absolut konjektural, weil keiner der Textzeugen einen Beleg dafür liefert. Ich habe mich für Gen 22,10 entschieden, weil dort Abrahams „Hand“ erwähnt ist, was dem Wort „Arme“ aus dem Sprichwörter-Vers übereinstimmt.
4.5.9 Vers Tet (Spr 31,18) TanB
ותאמר מי מלל,טעמה כי טוב סחרה ה.לאברהם הניקה בנים שרה אימתי ויחלק,לא יכבה בלילה נרה עליהם לילה
MidSarAb (Rekonstruktion)
[זאת,)טעמה כי טוב סחרה (משלי לא יח ] ותאמר מי מלל לאברהם: שנאמר,שרה ז.)הניקה בנים שרה (בראשית כא ז [זה,)לא יכבה בלילה נרה (משלי לא יח ויחלק עליהם לילה,]:אברהם שנאמר ו.)(בראשית יד טו
Der Midrasch Sara und Abraham Sie spürt den Erfolg ihrer Arbeit (Spr 31,18). Wann? Und sie sagte: Wer […] hätte Abraham zu sagen gewagt, Sara werde noch Kinder stillen? (Gen 21,7). Auch des Nachts erlischt ihre Lampe nicht (Spr 31,18). Wann? Und er teilte sie in der Nacht (Gen 14,15).
323 Sie spürt den Erfolg ihrer Arbeit (Spr 31,18) [– das ist Sara, wie es heißt:] Wer […] hätte Abraham zu sagen gewagt, Sara werde noch Kinder stillen? (Gen 21,7). Auch des Nachts erlischt ihre Lampe nicht (Spr 31,18), [das ist Abraham, wie es heißt:] Und er teilte sie in der Nacht (Gen 14,15).
Erklärung der Rekonstruktion TanB scheint den ursprünglichen Text zu überliefern. Ich habe lediglich die Formeln „das ist Sara“ und „das ist Abraham“ ergänzt. Von den Versen Jod (Spr 31,19) und Kaf (Spr 31,20) finden sich in TanB keinerlei Spuren, und die anderen beiden Textzeugen sind sehr unterschiedlich, sodass man, was den Originaltext angeht, nicht einmal Konjekturen wagen kann.
4.5.10 Vers Lamed (Spr 31,21) TanB
ה
? אימתי,לא תירא לביתה משלג ,כשהראה לו הקדוש ברוך הוא גיהנם ,בישרה שאין אחד מבניה יורד לתוכו ? למה. והנה תנור עשן ולפיד אש:שנאמר ם.לפי שהם מקיימים שני דברים . אלו שבת ומילה,כי כל ביתה לבוש שנים
Ihr bangt nicht für ihr Haus vor dem Schnee (Spr 31,21). Wann? Als der Heilige, gepriesen sei Er, ihm die Hölle [Gehinnom] zeigte und ihm als frohe Botschaft ankündigte, dass keiner von seinen Söhnen in sie hinabsteigt, wie es heißt: Und siehe, ein rauchender Ofen und eine lodernde Fackel (Gen 15,17). Warum? Deswegen, weil sie zwei Dinge gehalten haben[, wie es heißt]: Denn ihr ganzes Haus trägt zwiefache Kleidung – das sind der Sabbat und die Beschneidung.
MidSarAb (Rekonstruktion)
,)לא תירא לביתה משלג (משלי לא כא והנה תנור עשן ולפיד:[זו שרה] שנאמר ז.)אש (בראשית טו יז ,)כי כל ביתה לבוש שנים (משלי לא כא והוא יושב פתח: שנאמר,[זה אברהם א.])האהל כחום היום וגו׳ (בראשית יח א
Ihr bangt nicht für ihr Haus vor dem Schnee (Spr 31,21) [– das ist Sara], wie es heißt: Und siehe, ein rauchender Ofen und eine lodernde Fackel usw. (Gen 15,17).
Denn ihr ganzes Haus ist in prächtigem Rot gekleidet (Spr 31,21) [– das ist Abraham, wie es heißt: während er bei der Hitze des Tages am Eingang des Zeltes saß (Gen 18,1)].
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Erklärung der Rekonstruktion Der Text in TanB erklärt den Vers aus dem Buch der Sprichwörter: „Ihr bangt nicht für ihr Haus vor dem Schnee; denn ihr ganzes Haus ist in prächtigem Rot gekleidet“, dahingehend, dass die „Sie“, um die es hier geht, nicht fürchten musste, dass ihre Nachkommen in die Hölle hinabsteigen werden; das wird an Gen 15,17 belegt: „Und siehe, ein rauchender Ofen und eine lodernde Fackel“. Die Verbindung zwischen Ofen und Fackel einerseits und der Hölle andererseits ist nachvollziehbar; nicht ganz klar ist jedoch, was dies mit dem Sprichwörter-Vers über den Schnee zu tun hat. Und ebenfalls nicht ganz klar ist, was das alles mit der nächsten Aussage in TanB zu tun hat, wo es heißt, dass „sie“ (die Nachkommen) nicht in die Hölle hinabsteigen, weil sie den Sabbat und das Gebot der Beschneidung halten. Auch hier ist es zwar möglich, aber sehr mühsam, eine Verbindung zwischen all diesen Elementen – Schnee, Hölle, Sabbat und Beschneidung – herzustellen. Eine midraschische Überlieferung in Bereshit Rabba bringt diese Elemente miteinander in Verbindung und bezieht sich obendrein auf einen Vers über Abraham: Während er bei der Hitze des Tages am Eingang des Zeltes saß (Gen 18,1). Rabbi Levi sagte: In Zukunft ( )לעתיד לבואwird Abraham am Eingang des Gehinnom sitzen und keinen der Beschnittenen Israels hinabsteigen lassen. Und jene, die sich schwer vergangen haben, was tut er mit diesen? Er nimmt die Vorhaut von den vor der Beschneidung verstorbenen Kindern, gibt sie auf diese und lässt sie dann in das Gehinnom hinabsteigen. Das ist, was geschrieben steht: Der Feind legte Hand an seine Getreuen, seinen Bund hat er entweiht (Ps 55,21). Bei der Hitze des Tages [bedeutet] den Zeitpunkt, an dem jener Tag kommt, von dem geschrieben steht: Denn seht, der Tag kommt, er brennt wie ein Ofen usw. (Mal 3,19). (BerR 48,18)
Dieser Text verbindet den Vers über Abraham, der am Zelteingang sitzt, mit dem Bild von Abraham, der am Ende der Zeiten die Tore der Hölle bewacht und nicht zulässt, dass beschnittene Juden hineinkommen. Außerdem kombiniert der Text den Vers über den am Zelteingang sitzenden Abraham und die Hitze des Tages mit Mal 3,19, wo vom Ende der Zeiten die Rede ist und das Wort „Ofen“ verwendet wird. Dieser Text ist deshalb wichtig, weil er viele unverbundene Elemente aus TanB enthält und ein Narrativ liefert, das auch dem ursprünglichen MidSarAb als Grundlage gedient haben könnte und den Zusammenhang zwischen Hölle, Beschneidung und Ofen in TanB erklärt. Meine Rekonstruktion der beiden Abschnitte basiert auf diesem Narrativ und den darin verwendeten Versen.
Der Midrasch Sara und Abraham
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4.5.11 Vers Mem (Spr 31,22) TanB
MidSarAb (Rekonstruktion)
: אימתי? כשאמרו לו,מרבדים עשתה לה אמר לה מבושרת את,איה שרה אשתך ומהם יוצאים כהנים גדולים,שאת יולדת ד,שמשמשין באהל מועד ] שנאמר (שש) [תכלת,שש וארגמן לבושה ו.)וארגמן וגו׳ (שמות כח ו
[זו,)מרבדים עשתה לה (משלי לא כב ] איה שרה אשתך [ואמר: שנאמר,שרה ט.)הנה באהל] (בראשית יח ט
Sie hat sich Decken gefertigt (Spr 31,22). Wann? Als sie ihm sagten: Wo ist deine Frau Sara? (Gen 18,9). Er sagte zu ihr: Du hast Kunde empfangen, dass du einen Sohn gebären wirst, und von ihm gehen Hohepriester hervor, die im Offenbarungszelt dienen. Leinen und Purpur sind ihr Gewand (Spr 31,22). [Und es heißt:] [Das Efod sollen sie als Kunstweberarbeit herstellen, aus Gold,] violettem und rotem Purpur, Karmesin und gezwirntem Byssus usw. (Ex 28,6).
Sie hat sich Decken gefertigt (Spr 31,22) [– das ist Sara, wie es heißt:] Wo ist deine Frau Sara? [Dort im Zelt, sagte er] (Gen 18,9).
[זה,)שש וארגמן לבושה (משלי לא כב ויוצא העבד כלי כסף: שנאמר,אברהם ג.])וכלי זהב ובגדים (בראשית כד נג
Leinen und Purpur sind ihr Gewand (Spr 31,22) [– das ist Abraham], wie es heißt: [Dann holte der Knecht Sachen aus Silber und Gold und Kleider hervor (Gen 24,53)].
Erklärung der Rekonstruktion Die Rekonstruktion des ersten Abschnitts basiert auf TanB. Der zweite Abschnitt ist konjektural und verbindet das Wort „Gewand“ aus dem Buch der Sprichwörter mit dem Wort „Kleider“ aus Gen 24,53. Ich denke nicht, dass das Thema der Nachkommen Saras, die Priester sein werden, im ursprünglichen Text enthalten war.
4.5.12 Vers Nun (Spr 31,23) TanB
MidSarAb (Rekonstruktion)
Ihr Mann ist in den Torhallen geachtet (Spr 31,23). Als Sara gestorben war, wurde Abraham plötzlich alt und er wurde alt genannt, wie es heißt: Hör uns an, mein Herr! Du bist ein Gottesfürst in unserer Mitte (Gen 23,6). Ach, Ihr Mann ist in den Torhallen geachtet (Spr 31,23).
Ihr Mann ist in den Torhallen geachtet (Spr 31,23), [das ist Sara,] wie es heißt: Hör uns an, mein Herr! Du bist ein Gottesfürst in unserer Mitte (Gen 23,6).
כשמתה שרה קפצה,נודע בשערים בעלה ,)נודע בשערים בעלה (משלי לא כג : שנאמר,זקנה על אברהם ונקרא זקן שמעני אדני נשיא: שנאמר,][זו שרה הוי,שמעני אדני נשיא אלהים אתה בתוכנו ו.)אלהים אתה בתוכנו (בראשית כג ו מיד כשבתו עם זקני,נודע בשערים בעלה ן. לכך נאמר ואברהם זקן,ארץ הזקין לכך נאמר,מיד כשבתו עם זקני ארץ הזקין בשבתו עם זקני ארץ [זה אברהם ן.ו ואברהם זקן.) ואברהם זקן (בראשית כד א:ש]נאמר
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Dann, wenn er zu Rat mit den Ältesten des Wenn er zu Rat sitzt mit den Ältesten des Landes sitzt (Spr 31,23), wurde er alt. Deswe- Landes (Spr 31,23) [– das ist Abraham, gen heißt es: Abraham war alt (Gen 24,1). wie] es heißt: Abraham war alt (Gen 24,1).
Erklärung der Rekonstruktion Ich habe mich hier im Wesentlichen darauf beschränkt, hinzugefügte Erklärungen zu eliminieren und die Formeln „das ist Sara, wie es heißt“ und „das ist Abraham, wie es heißt“ zu ergänzen. Der erste Abschnitt: „Ihr Mann ist in den Torhallen geachtet“ handelt davon, dass Abraham mit Respekt behandelt wird; der Vers stammt aus der Erzählung darüber, wie Abraham dem Hetiter Efron das Feld mit der Höhle abkaufte, in der Sara beigesetzt werden sollte.
4.6
Analyse
4.6.1 Zur poetischen Technik Zwei poetische Techniken, die den Vers aus dem Buch der Sprichwörter mit einem Vers aus dem Geschichtenzyklus über Abraham und Sara aus dem Buch Genesis verknüpfen, sind typisch für MidSarAb. Die erste Technik besteht darin, die Verbindung über ein ähnliches Wort herzustellen, das in beiden Versen enthalten ist entweder genau dasselbe Wort oder Wörter mit derselben Wurzel oder gleichklingende Wörter. Ein Beispiel hierfür ist der Vers Gimel: „Sie tut ihm Gutes und nichts Böses (Spr 31,12) – das ist Sara, wie es heißt: Er behandelte Abram ihretwegen gut (Gen 12,16)“ (גמלתהו טוב שנאמר ולאברם היטיב בעבורה, זו שרה,)ולא רע, wo das Wort „Gutes“ aus dem Buch der Sprichwörter mit dem Verb „er tat Gutes“ ( )היטיבverknüpft wird, das von derselben Wurzel stammt. Bei der zweiten Technik werden der Sprichwörter-Vers und der Vers aus der Genesis-Geschichte über eine thematische Ähnlichkeit miteinander verbunden, das heißt, es wird entweder eine ähnliche Abfolge von Ereignissen herausgestellt, oder die GenesisGeschichte wird herangezogen, um ein Thema aus dem Sprichwörter-Vers zu veranschaulichen. Ein Beispiel hierfür ist der Midrasch zum Vers beginnend mit dem Buchstaben Bet: „Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie – das ist Sara, wie es heißt: [Sag doch, du seist meine Schwester,] damit es mir deinetwegen gut geht (Gen 12,13).“ Der Vers im Buch der Sprichwörter thematisiert das Vertrauen eines Mannes zu seiner Frau, und der Genesis-Vers bezieht sich auf eine Geschichte, in der Abraham Sara vertrauen musste. Die Verse aus dem Buch der Sprichwörter und Genesis sind nicht durch bestimmte Wörter oder Wurzeln miteinander verbunden. Der Berührungspunkt ist vielmehr die in Spr 31,11 festgestellte Vertrauenswürdigkeit der Frau und die beispielhaft angeführte Vertrauenswürdigkeit Saras im Buch Genesis. Beide
Der Midrasch Sara und Abraham
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hier angeführten Belege stammen aus TanB und sind keine Rekonstruktionen meinerseits. Ich erlaube mir daher, mich, wenn ich den Versen aus dem Buch der Sprichwörter Genesis-Verse zuordne, sowohl auf sprachliche als auch auf thematische Gemeinsamkeiten zu stützen.
4.6.2 Der mutmaßliche kulturelle Kontext von MidSarAb In seinem jüngsten Buch widmet Joseph Yahalom den Beziehungen zwischen Pijjut und Midrasch ein Kapitel. Darin zeigt Yahalom, dass midraschisches Material aus älteren Pijjutim wie denen des Jannai, die in Pirqe deRabbi Eli‘ezer oder Pitron Tora verarbeitet worden sind, oder anderer Pajtanim oder aus nachklassischen Midraschim sowie aus dem Targum entnommen sein kann.31 Die Art und Weise, wie das Pijjut-Material im Midrasch weiterverarbeitet wird, variiert. Eine Art der Weiterverarbeitung, die Yahalom vorstellt, ist dadurch bedingt, dass der Pijjut poetische Regeln wie Reimform und Metrum befolgt, während der Midrasch sich auf die Interaktion mit dem biblischen Text konzentriert und seine Aussage mit einem Verszitat untermauert. Mithin verarbeitet der Midraschist das Pijjut-Material dahingehend weiter, dass er Belegverse ergänzt.32 Doch auch wenn der Midrasch nicht an Reimform und Metrum gebunden ist, bleibt der Aufbau des Pijjut bei der midraschischen Weiterverarbeitung des Materials erhalten (wie Yahalom am Beispiel von Bereshit Rabbati veranschaulicht).33 Yahaloms Beitrag ist für unseren Midrasch deshalb wichtig, weil er zeigt, dass zwischen der Synagoge und den Bet ha-Midrasch-Kulturen ein lebhafter wechselseitiger Austausch bestanden hat. Es ist durchaus möglich, dass die bei Yahalom beschriebene kulturelle Interaktion auch der Weg gewesen ist, auf dem MidSarAb Eingang in den Tan-Yel fand. Gestützt auf die Struktur von MidSarAb und auf die Tatsache, dass das Eschet Chajil-Lied in der Welt des Pijjut populärer war als in der des Bet ha-Midrasch, möchte ich an dieser Stelle die Vermutung äußern, dass MidSarAb auf der Grundlage eines inzwischen vollständig verlorengegangenen Pijjut zum Eschet Chajil-Lied entstanden ist.
4.6.3 Wie und warum der Text entstellt wurde Das Eschet Chajil-Lied ist eine der wenigen Stellen in der Bibel, die eine Frau in den Blickpunkt rücken und zur Protagonistin einer Erzählung ma31 Joseph Yahalom, Sources of the Sacred Song: Crossroads in Jewish Liturgical Poetry (Jerusalem: Magnes Press, 2019), 239–264 (Hebr.), zu PRE vgl. 248f.; zu Pitron Tora vgl. 250f.; zum Targum vgl. 261ff. 32 Vgl. ebd., 239.251. 33 Ebd., 258ff.
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chen. Zudem war Sara sowohl in der Bibel als auch in der nachbiblischen jüdischen und insbesondere der amoräischen Kultur eine prominente und mit Handlungsmacht ausgestattete kulturelle Figur an der Seite Abrahams.34 Somit ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese beiden Bestandteile – die Eschet Chajil auf der einen und das „Powerpaar“ Sara und Abraham auf der anderen Seite – miteinander verknüpft wurden. Verwunderlich ist eher, dass die Zahl der uns vorliegenden Stellen, die Sara mit der Eschet Chajil in Verbindung bringen, nicht größer ist. Ich denke, wir können dies auf die oben bereits erwähnte Tendenz der jüdischen Bet ha-Midrasch-Kultur zurückführen, die Stimmen aktiver und selbstbewusster Frauen zum Schweigen zu bringen. Diese Haltung hat sich so sehr durchgesetzt, dass es selbst heute noch Leute gibt, die das hier analysierte Werk in Midrasch Abraham und Sara umbenennen wollen, weil ihnen der Titel Midrasch Sara und Abraham „unnatürlich“ erscheint.35 Dass MidSarAb in den Tan-Yel aufgenommen wurde, geht vermutlich auf einen Entschluss zurück, den ein Schreiber, Herausgeber oder Autor zu irgendeinem Zeitpunkt in der Überlieferungsgeschichte des Tan-Yel-Texts bewusst getroffen hat – zu einem recht frühen Zeitpunkt vermutlich, denn MidSarAb scheint angesichts seiner oben erörterten Bedeutung als Erklärung für den Vers „Abraham ist alt“ gut in das Tan-Yel-Korpus integriert gewesen zu sein. Die „Zerstörung“ des ursprünglichen MidSarAb war jedoch keine durch und durch absichtsvolle und bewusste Tat einer einzelnen Person, sondern ein Prozess, der – wie der Befund aus den drei Textzeugen belegt – in kleinen, „natürlichen“ Schritten vonstattenging und letztlich zu dem führte, was uns im heutigen Tanḥuma vorliegt. Diese Schritte erwuchsen aus dem „unguten Gefühl“, das der ursprüngliche Text seinen Lesern vermittelte: Menschen, die nicht derselben emotionalen Gemeinschaft angehörten wie die Verfasser von MidSarAb oder wie der Herausgeber, der ihn als Erster in Tan-Yel aufgenommen hatte. So fanden sie es, wie oben erläutert, zum Beispiel merkwürdig, Verse, die in der femininen Form gehalten waren, auf Abraham, oder Verse, die in der maskulinen Form gehalten waren, auf Sara zu beziehen (ich werde im nächsten Abschnitt darauf zurückkommen).
34 „Sara wird als hervorragendes Mitglied des Haushalts beschrieben. Abraham wurde durch sie geadelt und ordnete sich ihr unter; Gott befahl ihm, wegen ihrer prophetischen Macht auf seine Frau zu hören.“ Tamar Kadari, „Sarah: Midrash and Aggadah“, in Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia (2009), online: https://jwa.org/encyclopedia/article/sarah-midrash-and-aggadah [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]; ebenso Valler, „Who is the ēšet ḥayil in Rabbinic Literature“, 88–91, mit zahlreichen Verweisen auf rabbinische Quellen. 35 Das ist mir mit Personen, die den vorliegenden Beitrag vor seiner Veröffentlichung gelesen haben, mehr als einmal passiert.
Der Midrasch Sara und Abraham
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Worin bestanden diese kleinen Schritte? Ich konjiziere, dass der Bezug auf Abraham („das ist Abraham“) schon in einem sehr frühen Stadium eliminiert worden ist; bei der Entfernung von Material über Abraham lassen sich zwei verschiedene Vorgehensweisen feststellen: 1. Die Formeln „das ist Sara“ und „das ist Abraham“ werden einfach weggelassen, was dazu führt, dass der gesamte Sprichwörter-Vers in Bezug auf Sara ausgelegt wird (in den Versen Waw, Zajin und Tet); 2. der zweite Abschnitt wird weggelassen oder durch einen anderen Vers (wie den über Abraham im Vers Bet) ersetzt, oder es wird eine erzählerische Erklärung ohne Vers vorgebracht. In solchen Fällen besteht Grund zu der Annahme, dass die Interpretation des zweiten Abschnitts sich ursprünglich auf Abraham bezogen hatte (in den Versen Alef, Gimel, Dalet, He, Chet, Lamed). Der in Vers Alef unternommene Schritt – eine Tradition im Tan-Yel durch eine vertrautere aus einem amoräischen Midrasch zu ersetzen – ist bekannt, aber noch nicht systematisch erforscht. Im Anschluss an dieses Stadium entstand der Eindruck, dass die Formel „das ist Sara“ ebenfalls überflüssig war, weil sich nun ohnehin alles auf sie bezog. An diesem Punkt war es bereits möglich, den Text als Abrahams Totenklage für Sara statt als Erklärung dafür zu deuten, dass Abraham alt war. Von da an war der Weg frei, um alle auf Abraham bezogenen Verse durch andere Erklärungen für die Sprichwörter-Verse zu ersetzen. Im Licht der hier vorgelegten Rekonstruktion ist es überraschend, wie viel von dem ursprünglichen Midrasch-Material diesen Überlieferungsprozess überlebt zu haben scheint.
4.6.4 Emotionale Gemeinschaften und die Stellung von Frauen Ich habe weiter oben von den Ergebnissen meiner bisherigen Arbeit über die maßgebliche ideologische Ausrichtung des Tan-Yel gesprochen und darauf hingewiesen, dass dieser nicht im Bet ha-Midrasch-Milieu – aus dem die klassische rabbinische Literatur hervorgegangen ist und das wir üblicherweise mit dem Judentum der Spätantike assoziieren –, sondern im Umfeld der Synagoge entstanden ist. Vor diesem Hintergrund ist es schlüssiger, sich die liturgische Literatur der Synagoge als den ursprünglichen Entstehungskontext von MidSarAb vorzustellen. Neben der hier erwähnten Poetik und den Ergebnissen der bisherigen Tan-Yel-Forschung weist auch der Status Saras auf ein liturgisches Milieu hin: Wir stellen fest, dass der Midrasch das Paar Sara und Abraham mythologisiert und zu einem geradezu göttlichen Paar sti-
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lisiert hat,36 diese Herangehensweise aber im primär halakhisch ausgerichteten Babylonischen Talmud unterdrückt worden ist. In der Pijjut-Literatur gibt es eine Keduscha von Jannai (6. Jh.), die Saras Handeln und ihre Sichtbarkeit emphatisch in den Vordergrund rückt – und zwar sowohl auf individueller Ebene als auch in Fortführung der (impliziten) Metapher bei Jesaja, die eine Verbindung zwischen der (unfruchtbaren) Sara und dem (verbannten) Zion herstellt. Diese Metapher wurde von der jüdischen Literatur der persischen Periode und von der Literatur des hellenistischen und des römischen Judentums, nicht aber von den Rabbinen aufgegriffen.37 Wenn man bedenkt, dass Jannai auch den oben zitierten Pijjut über die Eschet Chajil verfasst hat, dann wird deutlich, dass sich der synagogale Diskurs von dem unterschieden haben muss, was wir im Bet ha-MidraschDiskurs finden. Das leuchtet auch insofern ein, als die Synagogengemeinde sowohl aus Männern als auch aus Frauen bestand und eine unverhohlen frauenfeindliche Perspektive in einem solchen Kontext kaum angebracht gewesen wäre. Ich spreche hier nicht von einer feministischen oder egalitären Einstellung, aber die Sichtbarkeit und Handlungsmacht von Frauen kann nicht mit derselben Geringschätzung behandelt worden sein, wie wir sie beispielsweise im Babylonischen Talmud finden. „Frauenthemen“ wie Menstruation und Geburt mussten der Hörerschaft zu pädagogischen Zwecken vorgelegt werden. Ähnlich argumentiert auch Laura Lieber in ihrer Vergleichsstudie zu Pijjut und Midrasch: „Ein wirkungsvoller Pijjut bezieht die Gemeinschaft nicht nur mit den Mitteln einer externalisierten Beteiligung (durch den Einsatz von Refrains), sondern auch innerlich mit ein, indem er die Geschichten der Bibel in Geschichten des Alltags übersetzt und sie lebhaft und anschaulich macht.“38
36 Vgl. Susanne Plietzsch, „Übernatürliche Schönheit, universale Mutter und Evastochter: Sara in Bereshit Rabba und im Babylonischen Talmud“, im vorliegenden Band. 37 Vgl. Ophir Münz-Manor, „All About Sarah: Questions of Gender in Yannai’s Poems on Sarah’s (and Abraham’s) Barrenness“, Proof. 26 (2006): 344–374; 348. 38 Laura Lieber, „Stage Mothers: Performing the Matriarchs in Genesis Rabbah and Yannai“, in Genesis Rabbah in Text and Context (hg. v. Sarit Kattan Gribetz et al.; TSAJ 166; Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 155–173; 173.
Vor der Geburt vertauscht Dina und Josef in der Bibel und im Midrasch Devora Steinmetz Drisha Institute, New York
Als Lea sah, dass sie sechs Söhne geboren hatte, sagte sie: So verabredete sich der Heilige, gepriesen sei er! mit Jakob, dass er zwölf Stämme aufstellen würde, und siehe, nun habe ich sechs Söhne geboren, und die beiden Mägde vier, siehe, das sind zehn. Und Lea war schwanger. Unsere Lehrer sagen: Sie war mit einem Knaben schwanger. Lea sagte: Siehe, ich bin schwanger, aber meine Schwester Rahel hat (noch) nicht geboren. Was tat Lea? Sie begann um Erbarmen für ihre Schwester Rahel zu flehen. Sie sagte: Er mache, dass, was in meinem Leibe ist, ein Mädchen werde, und versage nicht, dass meine Schwester einen Sohn gebiert. (TanB Wa-yetse 19; Tan Wa-yetse 8)
Dieser Midrasch erscheint mit Abweichungen in diversen rabbinischen Texten sowohl aus Palästina als auch aus Babylonien.1 Manchmal ist Lea diejenige, die betet, manchmal Rahel, und manchmal beten die Frauen Jakobs alle vier. In den meisten Quellen wird Leas männliche Leibesfrucht in ein Mädchen verwandelt und Rahel befähigt, einen bzw. letztlich zwei Jungen zur Welt zu bringen und so die zwölf Stämme zu vervollständigen. Targum Pseudo-Jonathan bietet allerdings eine noch dynamischere Version der Geschichte,2 die auch in Eleazar birabbi Qallirs Pijjut Jozrot für Rosch ha-Schana3 verzeichnet ist: Beide Schwestern sind gleichzeitig schwanger, Lea mit einem Jungen und Rahel mit einem Mädchen. Auf das Gebet der Matriarchin hin werden die Leibesfrüchte vertauscht: Josef liegt nun in Rahels und Dina in Leas Leib. Es könnte faszinierend sein, über den Unterschied zwischen den beiden Vorstellungen – der einen, wonach Dina ursprünglich männlich war, und der 1 2
3
Vor allem yBer 9,3 (14a); bBer 60a.
יֹוסף ִּב ְמ ָע ָהא ֵ עּוּב ַריָ א ִּב ְמ ֵעיהֹון וַ ֲהוָ ה יָ ִהיב ָ ית ַח ְלפּו ְ לּותא ְד ֵל ָאה וְ ִא ָ ּוׁש ִמ ַיע ִמן ֳק ָדם יְ יָ ְצ ְ ְד ָר ֵחל ְד ֵל ָאה וְ ִדינָ א ִּב ְמ ָע ָהא: „Und Leas Gebet wurde erhört in der Gegenwart des
Herrn und ihre Leibesfrüchte wurden in ihren Leibern ausgetauscht und Josef wurde in Rahels Leib und Dina in Leas Leib gelegt.“ (Tg. Ps.-J. zu Gen 30,21)
סלוף, חשבה היום זכרה להאחות. עבר להמיר בבטן אחות,זכר לה ישר ארחות דינה ביהוסף להנחות: „Er gedachte ihres rechtschaffenen Ansinnens, die Leibes-
frucht im Leib ihrer Schwester auszutauschen; er plante heute, ihrer eingedenk zu sein und Dinas Tausch mit Josef zu vollziehen.“ Siehe Shulamit Elizur und Michael Rand, Rabbi Eleazar Berabbi Qillir: Liturgical Poems for Rosh Ha-Shana; Critical Edition, Introduction and Commentary (Jerusalem: World Union of Jewish Studies, 2014), 202 (Hebr.).
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Devora Steinmetz
anderen, wonach Dina und Josef im Mutterleib vertauscht wurden – nachzudenken. Im vorliegenden Beitrag werde ich die beiden Versionen der Geschichte jedoch als Variationen desselben Themas betrachten: Dina und Josef sind eng miteinander verwoben und vielleicht die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Ich werde der Frage nachgehen, wie eine derartige Vorstellung aus einer genauen Bibellektüre hervorgegangen sein könnte und wie sie von den Rabbinen ausgelegt wird. Die Erwähnung von Dinas Geburt im Buch Genesis ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens, die biblischen Erzählungen erwähnen die Geburt von weiblichen Kindern generell nicht. Doch diese eine Tochter Jakobs wird erwähnt: Von ihrer Geburt ist mitten in der Geschichte der Geburt der Söhne Jakobs (Gen 30,21) und auch später noch die Rede, als die Jakobssöhne aufgezählt werden, die nach Ägypten hinabzogen (Gen 46,15). Dinas Geburt wird mit dem Wort אחרeingeführt: „Und danach gebar sie eine Tochter“ (Gen 30,21) und folgt unmittelbar auf Leas Feststellung, dass sie Jakob sechs Söhne geboren hat. Außerdem wird nicht gesagt, dass Lea eine Tochter empfangen habe, während die Erwähnung der Geburt jedes ihrer Söhne mit einem Hinweis auf Leas Empfängnis vorbereitet wird. Diese Merkmale bilden die Grundlage für die Vorstellung des Midrasch, wonach die Geburt von Leas Tochter Dina irgendwie mit der Geburt von Leas sechs Söhnen kausal zusammenhängt und wonach Lea eigentlich keine Tochter empfangen hat. Dem Midrasch zufolge war Lea ursprünglich mit einem Jungen schwanger gewesen; erst nachdem Lea festgestellt hat, dass sie bereits sechs Söhne geboren hatte – dass also Rahel, wenn Lea wieder einen Sohn gebären sollte, im besten Fall nur noch einen Sohn würde zur Welt bringen können –, wird Leas Leibesfrucht weiblich: „Danach [d. h. nachdem sie sechs Söhne geboren hatte und mit einem siebten schwanger geworden war] gebar sie eine Tochter“. Außerdem deutet Dinas Name – der im biblischen Text etymologisch nicht erklärt wird, wobei Urteil evoziert wird – anders als die Namen der von Lea und den anderen Müttern geborenen Söhne auf ein Urteil hin. Midraschim über den Austausch von Leas Leibesfrucht beziehen diese Namensbedeutung auf Leas Urteil, wonach sie keinen siebten Sohn gebären dürfe (z. B. bBer 60a), oder auf das Urteil, das Lea in Gott hervorruft, als sie ihn darum bittet, sich ihrer Schwester zu erbarmen (Tan Wa-yetse 8). Schließlich werden Dinas Geburt und die Geburt Josefs nebeneinandergestellt: Danach gebar sie eine Tochter und und gab ihr den Namen Dina. Nun erinnerte sich Gott an Rahel. Gott erhörte sie und öffnete ihren Schoß. Sie wurde schwanger und gebar einen Sohn. Da sagte sie: Gott hat die Schande von mir genommen. Sie gab ihm den Namen Josef – möge er noch hinzufügen – und sagte: Der Herr gebe mir noch einen anderen Sohn hinzu. (Gen 30,21–24)
Dina und Josef in der Bibel und im Midrasch
333
Die Nebeneinanderstellung der Geburten der beiden Kinder, die rätselhafte Bemerkung, dass Gott sich an Rahel erinnert habe, und die doppelte Erklärung des Namens Josef – die Wegnahme der Schande und die Hoffnung auf einen weiteren Sohn – legen den Gedanken nahe, dass zwischen Lea, die Dina gebiert, und Rahel, die Josef gebiert, ein Zusammenhang bestehen könnte. Für den Midrasch ist dieser Zusammenhang kausal: Weil Dina eine Tochter geboren hat, war Rahel imstande, einen Sohn zu gebären. Josefs Geburt hat Rahel von der Schande befreit, keine Söhne zu haben (אסף אלהים )את חרפתיund ihr die Möglichkeit gegeben, zwei Söhne zu bekommen (יסף )ה׳ לי בן אחרund damit nicht hinter den Mägden zurückstehen zu müssen. So weit die an der Oberfläche erkennbaren Unregelmäßigkeiten, die als Grundlage für die Midrasch-Erzählung dienen, wonach Dina und Josef im Mutterleib vertauscht wurden; ich möchte jedoch zu bedenken geben, dass hier noch etwas Tieferes im Spiel sein könnte. Die Midrasch-Überlieferung deutet eine tiefe Verwandtschaft oder sogar Austauschbarkeit zwischen Dina und Josef an. Ich glaube, dass diese Überlieferung auf einer Spiegelung Dinas und Josefs basiert, die schon in der biblischen Erzählung erkennbar wird. Ich habe bereits an anderer Stelle erörtert, wie ich diese Nebeneinanderstellung von Dinas und Josefs Geburt interpretiere, und vorgeschlagen, Dinas Namen auf Gottes Urteil über den Unterdrücker zu beziehen, das, wie beim Abrahambund (Gen 15,14), zur Befreiung der Unterdrückten führt. Als Josef unmittelbar nach der Erwähnung von Dinas Geburt zur Welt kommt (Gen 30,23) – die Erzählung von seiner Geburt beginnt mit dem Sich-Erinnern und Erhören Gottes (Gen 30,22), Begriffen, die andernorts verwendet werden, um Gottes Reaktion auf das Leid des Bundesvolkes zu beschreiben –, beschließt Jakob, dass er seinen Platz in der Verbannung verlassen und den Weg nach Hause finden muss (Gen 30,25).4 Außerdem habe ich gezeigt, dass die Episode von Dinas Vergewaltigung ebenfalls zum Paradigma des Bundes mit Abraham passt, da die Taten Sichems die Söhne Jakobs – die vierte Generation nach Abraham – dazu veranlassen, die Stadtbevölkerung zu überwältigen und das Land in Besitz zu nehmen.5 Ob man diese Deutung der Nebeneinanderstellung der Geburten dieser beiden Jakobskinder akzeptiert oder nicht: fest steht, dass die Verbindung zwischen Dina und Josef nicht nur auf der narrativen Nähe ihrer Geburten beruht. Erstens ist sowohl Dina als auch Josef mit Sichem verbunden. Dinas Vergewaltigung durch Sichem führt zur leidenschaftlichen Reaktion ihrer Brüder. Die Frage, ob sie aus Mitleid mit ihrer Schwester oder im Gedanken an die Ehre ihrer Familie handeln, die durch die Vergewaltigung befleckt worden ist, wird an dieser Stelle nicht erörtert; jedenfalls verhalten sie sich gegenüber Dina als ihrer Schwester, eine Formulierung, die in der Geschichte mehr4 Devora Steinmetz, From Father to Son: Kinship, Conflict, and Continuity in Genesis (Louisville: Westminster John Knox, 1991), 137–140. 5 Ebd., 140–142.
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fach vorkommt; so endet etwa auch die Rede der beiden Brüder am Schluss der Erzählung mit den Worten „unsere Schwester“ (Gen 34,31). Josef wird von Jakob nach Sichem geschickt, um zu sehen, wie es seinen Brüdern geht (Gen 37,14),6 doch es stellt sich heraus, dass die Brüder diesen Schauplatz brüderlichen Benehmens bereits verlassen haben und Josef nicht etwa die Hand reichen, sondern die Gelegenheit nutzen, ihn loszuwerden. Simeon und Levi sind es, die nach Dinas Vergewaltigung den Angriff auf Sichem anführen (Gen 34,25), und vermutlich ist es auch Simeon (und vielleicht nicht nur er), der darauf drängt, Josef zu töten. Ruben, der Älteste, ist dagegen, und Simeon, der Zweitälteste, ist derjenige, den Josef später verhaftet, als er erfährt, dass Ruben versucht hatte, seine Brüder von ihrem Vorhaben, ihm, Josef, Gewalt anzutun, abzubringen (Gen 42,22–24). Am Ende des Buches Genesis wird Josef erneut mit Sichem und mit Dinas Geschichte in Verbindung gebracht, als Jakob seinem Sohn ein zusätzliches Erbteil ( )שכםgibt: „Sichem, einen Bergrücken […], den ich der Hand der Amoriter mit Schwert und Bogen entrissen habe“ (Gen 48,22). Auch wenn die Auslegung dieses Verses etliche Probleme aufwirft, steht außer Frage, dass er Josef mit Sichem – dem Ort, an dem er letzten Endes auch begraben werden wird (Jos 24,32) – in Verbindung bringt und die gewaltsame Eroberung Sichems nach der Vergewaltigung Dinas erinnert. Sowohl Dina als auch Josef sind Opfer eines tatsächlich verübten oder versuchten sexuellen Übergriffs: Dina durch Sichem und Josef durch die Frau des Potifar. Ersterer ist ein Kanaanäer, Letztere eine Ägypterin (aus Mitsrajim, wie Ägypten im Hebräischen heißt). Kanaan und Mitsrajim sind Brüder (Gen 10,6), zwei der Söhne Hams (der sich selbst eines sexuellen Übergriffs schuldig gemacht hat [Gen 9,22]), mit denen sich die biblische Erzählung befasst und von deren Völkern her sich die patriarchalen und nationalen Erzählungen entfalten. Außerdem werden sowohl Dina als auch Josef mit dem Wort חרפה, „Schande“, in Verbindung gebracht. Josefs Geburt zeigt an, dass Gott die Schande von Rahel genommen hat, und Dinas Brüder betrachten die Möglichkeit, ihre Schwester mit einem Unbeschnittenen zu verheiraten – und umso mehr ihre Vergewaltigung durch Sichem – als Schande (Gen 34,14). Wie immer wir den Zusammenhang zwischen diesen beiden Gestalten auch deuten wollen: Für unsere Zwecke soll es genügen, darauf hinzuweisen, dass in der biblischen Erzählung tatsächlich eine tiefe Verbindung zwischen Dina und Josef besteht.7 Der hinreichend belegte Midrasch von dem in utero 6 7
Man beachte die Verwendung der Wortformen שלם/ שלוםin den beiden Geschichten. So macht sich das Buch Samuel die Parallelen zwischen diesen beiden Charakteren zunutze und kombiniert Elemente von beiden in der Geschichte von Amnon und Tamar (2 Sam 13). Diesen Hinweis verdanke ich David Silber (im persönlichen Gespräch). Zu den Parallelen zwischen der Erzählung von Amnon und Tamar und
Dina und Josef in der Bibel und im Midrasch
335
vollzogenen Tausch zwischen Dina und Josef greift diese Verbindung auf: Dina und Josef sind nicht nur miteinander verbunden, sondern ausgetauschte Versionen des oder der jeweils anderen. Die eine wird als Schwester verteidigt, der andere als Bruder abgelehnt. Die eine wird vergewaltigt, der andere vermag der Verführung und Verfolgung zu widerstehen. Die eine ist der Ort der Schande, der andere steht für die Aufhebung der Schande. Die eine geht hinaus an den Ort, wo sie vergewaltigt wird, und ist danach ausschließlich fremdbestimmt; der andere wird hinunter nach Ägypten gebracht und an Potifar verkauft, um sein Schicksal dann jedoch selbst in die Hand zu nehmen. Im verbleibenden Teil des vorliegenden Beitrags möchte ich mich mit einer Reihe von Midrasch-Texten befassen, die die Spiegelbildlichkeit dieser beiden Gestalten auf die eine oder andere Weise aufgreifen, und der Frage nachgehen, inwiefern Dina und Josef dadurch ein gewisses Maß an Erlösung ermöglicht wird. Es verdient Erwähnung, dass die Texte über Dina die übliche „Hintergründigkeit“ der biblischen Erzählungen aufweisen8 und wenig über ihre Gefühle, Motive und Reaktionen verraten. Dina ist allenfalls eine Art Strichmännchen. Abgesehen davon, dass sie hinausgeht, לראות בבנות הארץ, „um sich unter den Töchtern des Landes umzusehen“ (Gen 34,1) – ein Unterfangen, zu dem die Midrasch-Texte, wie wir noch sehen werden, einiges zu sagen haben –, tritt sie überhaupt nicht als Subjekt auf. Und wir erfahren auch nichts darüber, was mit ihr geschieht, nachdem ihre Brüder sie aus Sichem weggebracht haben. Rabbinische Texte überliefern im Wesentlichen drei Erzählungen darüber, was nach ihrer Vergewaltigung durch Sichem mit Dina geschehen ist. Eine, auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehen werde, besagt, dass sie Ijob geheiratet habe.9 Einer anderen Überlieferung zufolge verlässt sie Sichem nur widerstrebend – ויקחו את דינה, „und sie nahmen Dina“ (Gen 34,26), wird hier so interpretiert, dass die Brüder sie fortschleppen mussten –, weil sie den unbeschnittenen Mann beim Geschlechtsakt selbst liebgewonnen hat oder weil sie nach ihrer Entehrung ahnt, dass sie außerhalb Sichems keine Zukunft haben wird. Bemerkenswert ist, dass dieser Midrasch Dina eine Stimme gibt und ihr die Worte in den Mund legt, die Tamar nach ihrer Vergewaltigung durch Amnon äußert: „Wohin soll ich mit meiner Schande ( )חרפתיgehen?“ (2 Sam 13,13) – worin erneut das Wort חרפהnachklingt, das sowohl in der
8 9
der Dina-Erzählung siehe David Noel Freedman, „Dinah and Shechem, Tamar and Amnon“, in Divine Commitment and Human Obligation: Selected Writings of David Noel Freedman (2 Bde; hg. v. John R. Huddlestun; Grand Rapids: Eerdmans, 1997), 1:485–495 und Yael Shemesh, „Rape Stories in Scripture: The Shared and the Distinctive“, ‘Iyunei Miqra Ufarshanut 6 (2002): 315–344 (Hebr.). Siehe Erich Auerbach, Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Bern: Francke, 1946), 16. Eine kurze Diskussion dieser Überlieferung bietet James L. Kugel, Traditions of the Bible: A Guide to the Bible as it was at the Start of the Common Era (Cambridge: Harvard University Press, 1999), 413.
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Dina- als auch in der Josef-Erzählung erscheint. Dina gibt nach, als Simeon verspricht, sie zu heiraten, und gebiert ihm einen Sohn, שאול בן הכנענית, Saul, den „Sohn der Kanaaniterin“ (Gen 46,10). (BerR 80,11) Dieser Midrasch bringt Dina heim in den Schoß ihrer Familie. Gleichzeitig legt er nahe, dass sie nach ihrer Vergewaltigung lieber bei den Kanaanitern geblieben wäre, bezeichnet sie als הכנענית, eine Kanaaniterin, und bringt sie so für alle Zeiten mit ihrem Vergewaltiger und mit der verfluchten Nation in Verbindung, die Israels Nemesis ist. Zu erwähnen ist jedoch, dass das Wort הכנעניתin diesem Midrasch auch so verstanden werden kann, dass Simeon Dina im Land Kanaan begraben hat. Damit wäre sie im Tod in die patriarchale Familie eingegliedert und vielleicht ein weiteres Mal mit Josef in Verbindung gebracht worden, der seinen Brüdern das Versprechen abnimmt, ihn im Land Kanaan zu begraben (Gen 50,24f.). Eine dritte Überlieferung, die ich im Hinblick auf unseren EröffnungsMidrasch hier näher beleuchten will, besagt, dass Dina von Sichem schwanger geworden sei. Pirqe deRabbi Eli‘ezer zufolge (Spuren dieser Geschichte finden sich auch im Targum Pseudo-Jonathan und in anderen Quellen) wurde sie schwanger und gebar Asenet. Da befahlen die Söhne Israels, sie zu töten, denn nun würden [die Menschen im] ganzen Land sagen, es gebe eine unzüchtige Tochter in den Zelten Jakobs.10 Was machte Jakob? Er brachte ein Schild (tsits) und schrieb darauf den Namen des Heiligen und hängte es um ihren Hals und schickte sie weg, und sie begab sich hinweg. Und alles war offenbar vor dem Heiligen, gepriesen sei er. Und der Engel Michael stieg herab und führte sie hinab nach Ägypten zum Hause des Potifar, denn Asenet war auserkoren, die Frau Josefs zu sein. Und da die Frau Potifars unfruchtbar war, zog sie sie wie eine Tochter auf. Und nachdem Josef nach Ägypten gekommen war, nahm er sie [zur Frau], denn es heißt: Und er gab ihm Asenet, die Tochter des Potifar, des Priesters von On, zur Frau. (Gen 41,45) (PRE 38)11
Diese Geschichte sagt zwar nichts darüber aus, wo Dina selbst ihr Leben beschließt, erfüllt aber die Funktion, sie durch ihre Tochter Asenat wieder in die Familie einzugliedern. Interessanterweise wird Dinas Kind von ihren Brüdern abgelehnt, die – ähnlich wie in der biblischen Erzählung, wo sie den Tod ihres Bruders Josef planen – das Mädchen töten wollen. Durch das Eingreifen Jakobs und des Engels Michael (vielleicht eine Parallele zum Engel Gabriel, den der Midrasch mit dem namenlosen Mann in der Erzählung über den Verkauf Josefs identifiziert [Gen 37,15]; Tan Wa-yeshev 2) wird Asenat genau 10 „In den Zelten Jakobs“ ist ein Anklang daran, dass Dina in Zelten lebte, wie es an einer früheren Stelle in Pirqe deRabbi Eli‘ezer erwähnt und weiter unten noch erörtert werden wird. 11 Die in Bubers Midrasch Aggada edierte Version dieser Geschichte gestaltet die Details der Erzählung faszinierenderweise nach dem Muster der Pharaostochter, die den weinenden Mosesknaben findet (Mi-qets 41).
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wie Josef dadurch vor diesem Schicksal bewahrt, dass man sie nach Ägypten bringt. Josef wird an das Haus des Potifar verkauft, Asenat wird von Potifars Familie adoptiert. Und schließlich werden Asenat und Josef Mann und Frau und die Eltern zweier der Stämme Israels. Natürlich lässt sich diese Geschichte schlicht und einfach als Kunstgriff deuten, um Josef nicht mit der Tochter eines Ägypters und obendrein eines heidnischen Priesters, sondern mit einer Frau aus seinem eigenen Volk zu verheiraten.12 Ich glaube jedoch, dass die Geschichte noch einen anderen Zweck erfüllt: Sie bietet Dina durch ihre Tochter so etwas wie eine Erlösung an und suggeriert, dass Dina und Josef, deren biblische Erzählungen eng und spiegelbildlich miteinander verbunden sind, endlich ein gemeinsames Schicksal und gemeinsame Nachkommen haben.13 Und das wiederum bringt mich zu der Frage, wie die verschiedenen Mi drasch-Überlieferungen die einzige Handlung bewerten, die Dina eigenständig unternimmt: dass sie hinausgeht, „um sich umzusehen unter den Töchtern des Landes“. Einer besonders verbreiteten Tradition zufolge ist Dinas Verhalten ungehörig – „( ותצא דינה בת לאהDina, die Tochter Leas, ging aus“, Gen 34,1). Dina ist eine „( יצאנית בת יצאניתeine, die ausgeht, die Tochter einer, die ausgeht“)14: Ihre Mutter Lea war zu Jakob hinausgegangen, um ihm zu sagen, dass er mit ihr schlafen solle (Gen 30,16), und Dinas Hinausgehen ermutigt Sichem, ihr sexuelle Avancen zu machen. Diese Tradition erscheint beispielsweise in BerR 80,1, wo Dina später als כנעניתbezeichnet wird, die Sichem nur widerstrebend verlassen habe. Im Kontext einer Kultur, die annimmt, dass Frauen für das Missverhalten von Männern verantwortlich gemacht werden können, erwächst diese Tradition auch aus der Auseinandersetzung mit dem ambivalenten Begriff des „Hinausgehens“, mit der Idee, dass Dina Leas Tochter ist, und, so meine ich, mit der potentiell negativen Wertigkeit von „sehen“. Sehen konnotiert im biblischen Narrativ häufig, dass jemand sich nimmt, was ihm nicht gehört, und steht nicht immer, aber oft für eine (missbräuchliche) sexuelle Aneignung.15 Überdies folgt auf Dinas Sehen 12 Diese Erklärung der Überlieferung, dass Asenat Dinas Tochter sei, findet sich bei Victor Aptowitzer, „Asenath, the Wife of Joseph: A Haggadic Literary-Historical Study“, HUCA 1 (1924): 239–306. Kugel, Traditions of the Bible, 435, erklärt den Ursprung dieser Tradition auf dieselbe Weise. 13 Es ist bemerkenswert, dass der unter rabbinischen Texten eher ungewöhnliche PRE die Überlieferung vom „vorgeburtlichen Austausch“ nicht übernimmt, sondern sich offenbar auf die biblische Verbindung zwischen den beiden Gestalten Dina und Josef bezieht. 14 Der Satz basiert auf Raschis Kommentar zu Gen 34,1, der seinerseits BerR 80,1 paraphrasiert. 15 Z. B. Gen 3,6 (Eva und der Baum der Erkenntnis); 6,2 (die Söhne Gottes und die Töchter Adams); 12,15 (die Ägypter und Sarai). Vgl. Devora Steinmetz, „Vineyard, Farm, and Garden: The Drunkenness of Noah in the Context of Primeval History“, JBL 113 (1994): 193–207; 198, Anm. 12.
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gleich im nächsten Vers, dass Dina von Sichem gesehen wird, was möglicherweise auf einen Zusammenhang zwischen Dinas und Sichems Absichten oder zumindest ihren Handlungen hinweist.16 In Pirqe deRabbi Eli‘ezer, dem Midrasch also, der Dina als Mutter der Frau darstellt, die Josef später heiraten wird, wird die Eingangsszene der bi blischen Erzählung anders dargestellt. Dina war niemand, der hinausging, im Gegenteil: Dina war eine ( יושבת אהליםeine „Zeltbewohnerin“): „Die Tochter Jakobs blieb [stets in den] Zelten und ging nicht nach draußen.“ Sichem, der hier mit einer Schlange verglichen wird (der Text spielt mit den Wörtern [ חויHiwiter] und [ חויאSchlange auf Aramäisch]), überlistet Dina (wie die erste Schlange, die ihre Schlauheit benutzte, um Eva zu verführen): Er bringt junge Mädchen mit, die vor Dinas Zelt Tamburine schlagen, und als Dina hinausgeht, um sich diese Mädchen anzusehen, fällt sie Sichem in die Hände (PRE 38). Dina ist hier nicht die Tochter Leas, die hinausgeht, sondern die Tochter Jakobs und wie dieser eine יושבת אהלים. Dies ist eine hübsche Variante der biblischen Erzählung, die den jungen Jakob als „( יושב אהליםZeltbewohner“) beschreibt (Gen 25,27), was viele Midraschim einschließlich Pirqe deRabbi Eli‘ezer so interpretieren, dass er im Lehrhaus (Bet ha-Midrasch) gesessen und die Tora studiert habe (BerR 63,9; PRE 32, vgl. aber die Anmerkung von David Luria in seinem Kommentar zu PRE). Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Dina hier jedoch nicht als jemand beschrieben, der die Tora studiert.17 Vielmehr wird aus dem seiner Jugend angemessenen Verhalten des Vaters, der in Zelten sitzt und die Tora studiert, die ihrer Jugend angemessene Bescheidenheit der Tochter: Wie Sara (Gen 18,9) und Rebekka (Gen 24,6) ist Dina im Innern des Zeltes zu finden. Es verdient Erwähnung, dass die negative Bewertung von Dinas Hinausgehen, die Pirqe deRabbi Eli‘ezer zu vermeiden versucht, indem es Dina erst hinausgehen lässt, als sie durch List und Tücke dazu gebracht wird, offenbar recht alt ist. In der Version des Jubiläenbuchs geht Dina überhaupt nicht hi naus, sondern wird einfach entführt: Von den Sichemiten heißt es dort, „Und dort raubten sie Dina, die Tochter Jakobs, in das Haus Sichems“ (Jub 30,2). Dies weist darauf hin, dass sowohl Dinas Hinausgehen als auch ihre Verbindung zu Lea in der Entstehungszeit des Jubiläenbuchs bereits negativ bewertet wurden: Beide Motive der biblischen Erzählung werden hier ausgelassen, um der Vorstellung entgegenzuwirken, dass Dina irgendetwas Falsches getan haben könnte. Mit anderen Worten, Dina ist hier weder eine יצאניתnoch eine בת יצאנית. Außerdem stirbt Dina im Buch der Jubiläen, als sie erfährt, dass Josef umgekommen sei (Jub 34,15), womit eine weitere Verbindung zwischen 16 Vgl. z. B. TanB Wa-yishlaḥ 19 und den eher missbilligenden Midrasch Aggada zu Gen 34,1. 17 In QohR 10 ist interessanterweise genau das das Problem: Dina geht hinaus, während ihr Vater und ihre Brüder im Lehrhaus (Bet ha-Midrasch) sitzen!
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Dina und Josef und ein weiterer Zusammenhang zwischen einer positiven Bewertung Dinas und einer Schicksalsbeziehung zwischen den beiden Geschwistern hergestellt wird. Lassen Sie mich, ehe ich zum Abschluss auf einen letzten Midrasch zu sprechen komme, kurz Bilanz ziehen. Ich habe im Wesentlichen zwei Beobachtungen vorgelegt. Erstens, dass die Geschichten über Dina und Josef in einer Reihe von Midraschim über Dinas Anfänge und ihr letztendliches Schicksal eng miteinander verwoben sind, wobei ich davon ausgegangen bin, dass die betreffenden Midraschim auf einer entsprechenden Verwobenheit dieser beiden Charaktere in der biblischen Erzählung basieren. Zweitens, dass Überlieferungen, die Dina (wie in Pirqe deRabbi Eli‘ezer) nach ihrer Vergewaltigung erneut mit Josef in Beziehung bringen, mit Interpretationen korrelieren, die ihr keine Schuld daran geben, dass sie von Sichem Gewalt erleidet. Hingegen korrelieren Interpretationen, die Dinas Hinausgehen (wie in Bereshit Rabba) negativ bewerten, mit eher ausgrenzenden Deutungen dessen, was nach ihrer Vergewaltigung mit Dina geschieht. Ich möchte mit einem letzten Midrasch abschließen, der, wie ich glaube, auf den biblischen Parallelen zwischen Dina und Josef basiert. Bereshit Rabba erzählt eine Geschichte darüber, was die Söhne Jakobs zunächst taten, als sie während der Hungersnot nach Ägypten hinabgesandt wurden, um Lebensmittel zu kaufen: Und die Brüder Josefs zogen hinab (Gen 42,3). Es sollte doch eigentlich heißen: die Kinder Israels? Allein sie hatten sich früher nicht brüderlich gezeigt und hatten ihren Bruder verkauft, nachher aber bereuten sie es und sprachen: Wenn wir nach Ägypten hinabziehen, so wollen wir unseren Bruder seinem Vater zurückführen. Als ihr Vater sie hieß, nach Ägypten hinabzuziehen, nahmen sie sich alle vor, den Josef wieder zurückzubringen. [Im weiteren Verlauf des Midrasch wird erzählt, wie Josef Männer aussandte, um nach seinen Brüdern zu suchen, von denen er erfahren hatte, dass sie nach Ägypten gekommen waren.] Sie gingen und fanden dieselben auf der Straße der Buhlerinnen. Was hattet ihr auf dieser Straße zu tun? Sie antworteten: Unser Bruder Josef, der schön von Gestalt und Ansehen ist, kann vielleicht hier eingekehrt sein. [Die Brüder werden zu Josef geführt, der sie ins Kreuzverhör nimmt:] Was hattet ihr denn, fragte er sie weiter, in der Straße der Buhlerinnen zu schaffen? […] Sie sprachen: Es ist uns etwas verlorengegangen und wir suchten es dort. Er sprach zu ihnen: Was denn? Ich sehe am Becher, dass zwei von euch den großen Ort Schechem zerstört haben und dass ihr euren Bruder […] verkauft habt. (BerR 91,6)
Der Midrasch weist darauf hin, dass die Söhne, die Jakob nach Ägypten hinabschickt, hier als „Brüder Josefs“ bezeichnet werden. Als die Brüder jedoch planten, Josef zu töten, wurden sie nicht als seine Brüder bezeichnet. Jakob hatte Josef ausgesandt, um zu sehen, „wie es deinene Brüdern geht“ (Gen 37,14); zu dem Mann, der ihm begegnete, hatte Josef gesagt: „Meine
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Brüder suche ich“ (Gen 37,16). Doch als die Brüder Josef sehen und beschließen, ihn zu töten, werden sie nicht als seine Brüder beschrieben: „Sie sahen ihn von Weitem“ und „fassten den Plan, ihn umzubringen. Sie sagten zuei nander: […] Jetzt aber auf, erschlagen wir ihn“ (Gen 37,18–20). Es ist nicht zu übersehen, dass die biblische Erzählung im ersten dieser Verse das Subjekt des Verbs auslässt und im zweiten Vers ganz deutlich macht, dass die Brüder sich zueinander, nicht aber zu Josef wie Brüder verhalten. In der Dina-Erzählung hingegen werden Simeon und Levi als Dinas Brüder (Gen 34,25) und wird Dina als die Schwester der Brüder beschrieben (Gen 34,13.31). Bereshit Rabba unterstreicht diesen Kontrast in einem Kommentar zu den Worten des sterbenden Jakob: „Simeon und Levi sind Brüder (Gen 49,5) – sie zeigten sich als Brüder gegen Dina, nicht aber als Brüder gegen Josef (sie nahmen sich wohl ihrer Schwester an, jedoch Josef verkauften sie).“ (BerR 99,7) Als Jakobs Söhne jedoch nach Ägypten hinabgehen, um Lebensmittel zu kaufen, werden sie als Josefs Brüder bezeichnet. Der Midrasch entwirft eine doppelte Suche: Die Brüder werden von ihrem Vater nach Ägypten hinuntergeschickt, um Lebensmittel für die Familie zu besorgen, und sie nutzen diese Gelegenheit, um nach ihrem Bruder zu suchen. In der Midrasch-Geschichte stellen sich die Brüder vor, dass Josef als Prostituierter arbeitet! Während also der Midrasch über Dina und Asenat Dinas Geschichte in Anlehnung an Josefs Schicksal gestaltet – ihre erst kürzlich geborene Tochter wird beinahe von Dinas Brüdern getötet, kommt nach Ägypten in Potifars Haus und wird Josefs Frau –, wird Josefs Geschichte in Bereshit Rabba in Anlehnung an Dina neu interpretiert. In den Anschuldigungen, die er an seine Brüder richtet, stellt Josef Dinas und seine Vergangenheit nebeneinander: Er erinnert daran, wie die Brüder nach der Vergewaltigung ihrer Schwester die Stadt zerstört und wie sie ihren Bruder verkauft haben. Erinnert Josef nur an die wiederholten Gewalttaten der Brüder und daran, wie sich ihr Zorn über Sichem schließlich gegen ihn gerichtet hat? Oder stellt er sich vor, dass sie ihre Macht jetzt vielleicht dazu verwenden wollen, ihren Bruder zu retten? Ich bin nicht sicher, was der Josef im Midrasch über seine Brüder denkt, aber ich halte es für recht klar, was die Brüder im Midrasch denken: Die Brüder verhalten sich Josef gegenüber jetzt so, wie sie sich einst gegenüber Dina verhalten haben – Er soll vor der Prostitution gerettet (vgl. Gen 34,31) und aus der Gefangenschaft in das Haus seines Vaters zurückgebracht werden. Mithin fordert uns einerseits eine verbreitete Midrasch-Überlieferung dazu auf, uns vorzustellen, dass Dina und Josef vor ihrer Geburt vertauscht worden sind. Andererseits werden wir von einer Vielfalt von Midraschim eingeladen, den Faden weiterzuspinnen und uns auszumalen, was es bedeuten würde, wenn dieser Tausch das ganze Leben dieser beiden Charaktere durchzöge. Was würde es bedeuten, wenn Josef wie Dina oder wenn Dina wie Josef behandelt würde oder wenn beide Geschichten zu einem einzigen Schicksal verschmölzen?
Die Identität der Hebammen in Ägypten Rekonstruktion eines verloren gegangenen rabbinischen Midrasch aus der Kairoer Geniza Moshe Lavee University of Haifa
Die feministische Lektüre der rabbinischen Literatur beginnt nicht bei den Quellen selbst. Sie beginnt bei den heutigen Werten und Anliegen, die unsere Interessen diktieren, und bei dem ethischen Raster, mit dem wir uns dem Text nähern. Noch vor einer Generation wäre eine solche Aussage als Kritik an der feministischen Praxis gelesen worden. Für mich ist sie eine umfassende und aufrichtige Beschreibung des Prozesses, in den wir involviert sind. Der Kampf um die heutigen sozialen Werte der Gleichheit, um die Dekon struktion von Machtstrukturen und um die Entlarvung verletzender und gewalttätiger Praktiken – auf physischer wie emotionaler Ebene – definiert eine Reihe von Fragen im Hinblick auf die Gegenwart, die auch im Hinblick auf die Vergangenheit gestellt werden dürfen und sollen. Diese Fragen betreffen patriarchalische Machtstrukturen, soziale Hegemonien und die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie. Die feministische Lektüre versucht, gegen den Strich zu lesen, um die Perspektive der Geschwächten und Ausgegrenzten zu rekonstruieren und zu beschreiben. Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen eines Projekts entstanden, das darauf abzielte, verlorene haggadische Überlieferungen ans Licht zu bringen, die in der Kairoer Geniza überlebt haben. Schon seit den frühesten Zeiten der Geniza-Forschung haben Forscher sich um die Veröffentlichung solcher Texte bemüht, die uns Einblicke in eine protokanonische Phase von MidraschAktivität gewähren, eine Zeit, da die rabbinischen Midraschim noch in beständigem Umbau begriffen waren. In der Geniza sind einige Werke erhalten, die es nicht in das Zeitalter des Buchdrucks geschafft haben und daher verloren gegangen und vergessen worden sind. Meist ähneln solche Werke den Midrasch-Gattungen, die wir schon kennen, insbesondere den TanḥumaYelamdenu-Midraschim; doch in einigen wenigen Fällen weisen sie einmalige stilistische und strukturelle Eigenschaften auf, die uns aus keinem anderen Midrasch bekannt sind. Einer der merkwürdigsten Texte aus der Geniza, die im Rahmen des Projekts rekonstruiert werden konnten, ist ein interessantes Beispiel für eine offenbar unterdrückte rabbinische Überlieferung und stammt aus einem sehr einmaligen quasi-midraschischen Fragment, das als Infragestellung des vor-
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herrschenden patriarchalen Diskurses gelesen werden kann.1 Die besagte Überlieferung bietet uns eine hilfreiche Gelegenheit, einigen zentralen methodologischen Fragen über feministische Lesarten rabbinischer Quellen auf den Grund zu gehen. Der Text identifiziert die Hebammen aus Ex 1,15 als Ägypterinnen und nimmt sie sodann in eine Liste gottesfürchtiger biblischer Nichtjüdinnen auf. Diese Überlieferung unterscheidet sich von der allgemein anerkannten und vorherrschenden, wonach die Hebammen Jüdinnen waren und Jochebed und Mirjam hießen. Wenn man diese Überlieferung an ihren Ursprung zurückverfolgt, stellt man fest, dass sie in einer Vokalisierung des biblischen Texts wurzelt, der sich von der masoretischen Version unterscheidet. Diese abweichende Vokalisierung wurde auch von der Septuaginta übernommen und war in vorrabbinischen jüdischen Gemeinschaften und frühchristlichen Auslegungen bekannt. Auch in jüngerer Zeit ist die Überlieferung von den ägyptischen Hebammen nicht ganz vom kulturellen Horizont des Judentums verschwunden. Vielmehr gibt es einige weniger bekannte rabbinische Schriften, mittelalterliche Anthologien und spätere Bibelkommentare, die sie tradiert oder aufgegriffen haben und deren Verfasser vielleicht sogar mit dem verloren gegangenen Midrasch vertraut gewesen sein könnten, der im vorliegenden Beitrag anhand von Fragmenten aus der Kairoer Geniza rekonstruiert wird. Aus feministischer Perspektive wirft diese Überlieferung die Frage auf, ob Überlieferungen, die das – in diesem Fall sowohl weibliche als auch nichtjüdische – „Andere“ lobend erwähnen und Raum für unscharfe Identitätsgrenzen lassen, absichtlich oder unbewusst unterdrückt worden sind. Eine solche Überlieferung könnte als Infragestellung des vorherrschenden Diskurses und als Untergrabung der patriarchalen Hierarchie gedeutet werden. Gleichwohl könnte die Unterdrückung einer solchen Tradition ebenso gut das Ergebnis „neutraler“ hermeneutischer Erwägungen und eines literarischen Kanonisierungsprozesses sein, der bei der Herausbildung eines jüdischen „Kollektiv1
Mir ist diese Überlieferung bei meiner Arbeit für das Projekt „The Reception of Midrash in the Cairo Genizah“ aufgefallen. Ich danke der Grandchamp Foundation für die langfristige Unterstützung dieses Projekts. Ich habe den Text zunächst gemeinsam mit Shaul Inbari gelesen; ergänzende Kommentare und Beobachtungen kamen von Yonatan Sagiv, Dan Greenberg, Vered Raziel-Kretzmer und Shimon Fogel. Eine Vorabversion des vorliegenden Beitrags habe ich in meinem hebräischen Blog („The Egyptian Midwives: A Study for Parashat Shmot“ [2014], online: http://cafe.themarker. com/post/3031653/ [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]) und eine spätere gemeinsam mit Shana Strauch-Schick auf TheTorah.com veröffentlicht (Moshe Lavee und Shana Strauch-Schick, „The ‚Egyptian‘ Midwives: Recovering a Lost Midrashic Text and Exploring Why It May Have Been Forgotten“, online: http://thetorah.com/theegyptian-midwives/ [zuletzt abgerufen am 21.7.2020]). Ich möchte Shana StrauchSchick und Zev Farber, dem Herausgeber von TheTorah.com, für ihre Hilfe bei der Formulierung der hier vorgestellten Ideen danken.
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gedächtnisses“ zur Dominanz der anderen Überlieferung beigetragen hat.2 Wir müssen diese Frage, ob die potenziell subversive Botschaft bei der Unterdrückung der Überlieferungen von den ägyptischen Hebammen eine Rolle gespielt hat, hier unbeantwortet lassen, da wir nicht mit Sicherheit feststellen können, ob die implizit subversive Botschaft tatsächlich der Grund für die Unterdrückung dieser Überlieferung war. Ich werde bei der nun folgenden Darstellung der Überlieferung und ihrer Rezeption auch über die Eigenart feministischer Lesarten augenscheinlich unterdrückter Midrasch-Überlieferungen nachdenken und mich dabei zwischen zwei alternativen Lesestrategien hin und her bewegen: der wohlwollenden Lektüre und der Hermeneutik des Verdachts. Laut Ex 1,15–21 erteilt der König von Ägypten, den die zahlenmäßige Größe der hebräischen Bevölkerung auf seinem Herrschaftsgebiet mit Sorge erfüllt, deren Hebammen Schifra und Pua den Auftrag, jedes zur Welt kommende männliche Kind zu töten. Die gottesfürchtigen Hebammen ignorieren die Befehle des Pharao. Als dieser sie zur Rede stellt, versuchen sie sich mit der Behauptung herauszureden, die hebräischen Frauen seien „voller Leben“ (wörtl. „Tiere“, ) ָחיֹותund brächten ihre Kinder zur Welt, ehe die Hebammen überhaupt eingetroffen seien. Die Episode endet damit, dass Gott die Hebammen mit „Häusern“ ( ) ָּב ִּתיםbelohnt, was wahrscheinlich für Nachkommen und/oder materiellen Erfolg steht. Der hebräische Text ist nicht ganz eindeutig: Sind diese Hebammen selbst Hebräerinnen, oder sind es Ägypterinnen, die in der hebräischen Gemeinschaft arbeiten? Traditionelle Kommentare gehen davon aus, dass die Hebammen selbst Hebräerinnen sind. Rabbi Samuel ben Meir (ca. 1080–1160) stellt dies ebenso einfach wie emphatisch fest:
– למילדות העבריותLa-meyaldot ha-ivriyot – . למיילדות שהם העבריותden Hebammen, die selbst Hebräerinnen sind.
Dieselbe Deutung findet sich auch in allen drei traditionellen Targumim: Onkelos Pseudo-Jonathan Yerushalmi
לחיתא יהודיתא יתא ָ ְהֹוד י ַ ְיתא י ָ ָ ְל ַחי יתא ָ ְיב ַרי ְ יֹול ְד ָּתא ִע ַ
jüdische Hebammen jüdische Hebammen hebräische Hebammen
Die Interpretation des Midrasch geht sogar noch weiter und identifiziert die beiden Hebammen mit den beiden berühmtesten jüdischen Frauencharakteren der ersten Kapitel des Buches Exodus, Jochebed und Mirjam (SifBam 78): 2
Siehe Moshe Lavee, „Literary Canonization at Work: The Authority of Aggadic Midrash and the Evolution of Havdalah Poetry in the Genizah“, AJSR 37 (2013): 285– 313.
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.– זו יוכבד שפרה .– זו מרים פועה ;– שפרת ורבת שפרה .– שהיתה משפרת את הולד שפרה
Schifra, das ist Jochebed. Pua, das ist Mirjam. Schifra [wird so genannt, weil] sie die Fortpflanzung ermöglichte (sheparat we-ravat). Schifra [wird so genannt, weil] sie sich um den Säugling kümmern würde (meshaperet).
Die Gleichsetzung von Schifra und Pua mit Jochebed und Mirjam setzte sich im traditionellen Judentum als allgemein anerkannte Auslegung durch. Wir könnten sogar sagen, dass sie das jüdische „Kollektivgedächtnis“ geformt hat – mit tatkräftiger Unterstützung des Babylonischen Talmuds (bSot 11b) und Raschis (ad Ex 1,15), der beiden einflussreichsten Kräfte bei der Kanonisierung von Midrasch-Überlieferungen.
1.
Die ägyptischen Hebammen: Ein verlorener Midrasch in einem Geniza-Fragment
Ein erstaunlicher Text, der aus der Kairoer Geniza geborgen werden konnte, scheint eine andere als die vorherrschende Überlieferung zu enthalten. Das Fragment T-S 20.158 ist ein Palimpsest – ein Pergament, das ursprünglich von einer anderen Gemeinschaft für einen anderen Zweck verwendet worden war und dessen Text später abgeschabt und überschrieben wurde. Das Material dieses Fragments lässt sich etwa auf das Jahr 1000 unserer Zeitrechnung datieren. Hingegen ist die Datierung des einzigartigen Midrasch, der darauf erhalten ist, weitaus schwieriger, da er keiner der bekannten Gattungen der rabbinischen Literatur entspricht. Einige späte sprachliche Merkmale weisen darauf hin, dass der erhaltene Text in der Periode der Geonim formuliert worden sein könnte, doch der Inhalt, wie wir weiter unten noch sehen werden, besteht vermutlich aus Überlieferungen, die bis in die tannaitische Periode zurückreichen. Bei vielen der ältesten Texte aus der Kairoer Geniza handelt es sich um Palimpseste.3 Was seine Gattung betrifft, ähnelt das hier untersuchte Fragment keiner uns bekannten Form, sondern enthält eine ungewöhnliche Kombination aus zwei Bestandteilen: Auflistungen von Midraschim, gefolgt von Verslisten. Erstere beschreiben verschiedene Gruppen biblischer Gestalten, die mehrere Gemeinsamkeiten haben, zum Beispiel: Menschen, die (auf Rettung) warten; gerechte Menschen, deren Eltern schlechte Menschen waren, und 3 Michael Sokoloff und Joseph Yahalom, „Christian Palimpsests from the Cairo Geniza“, Revue d’histoire des textes 8 (1978): 109–132; Malachi Beit-Arieh, „The Munich Palimpsest: A Hebrew Scroll Written Before the Eighth Century“, Kirjath Sefer 43 (1967/68): 411–428 (Hebr.).
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umgekehrt; Könige, die zunächst verdienstvoll waren und dann gesündigt haben, usw. Wahrscheinlich standen die Verslisten jeweils am Ende – auch wenn sich dies aufgrund des schlechten Erhaltungszustands nicht mit letzter Sicherheit sagen lässt –, und womöglich bilden sie in Kombination mit den Midraschim eine rabbinische Erzählung. Die Abfolge der Verse stellt nämlich eine rabbinische Lesart dar, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird. Wenigstens in einem Fall scheint sich der Verlauf der Verse von der Sünde der Töchter Zion über ihre Bestrafung und die Zerstörung der Stadt bis zur späteren Wehklage „an den Flüssen Babylons“ zu erstrecken. Die Hebammen werden in einer Liste biblischer Beispiele erwähnt, deren Anfang und Ende fehlt. Wenn meine Rekonstruktion der ursprünglichen Textreihenfolge zutrifft, dann befindet sich besagte Liste in der dritten Spalte auf der zweiten Seite. Der erhaltene Text dieses Abschnitts lautet wie folgt:
. באסנת אשת יוסף נאמר כןSo wurde es gesagt über Asenat, die Frau Josefs.
בפועה ובשפרה, במילדות ויאמר מלך: המצריות נ׳א כן מצרים למילדות [ותיר]אן המילדות את האי׳ם ויקרא . מלך מצרים למילדות כל ה׳פ
So wurde es gesagt über die Hebammen, Pua und Schifra, die Ägypterinnen: Zu den […] Hebammen […] sagte der König von Ägypten […]. Die Hebammen aber fürchteten Gott […]. Da rief der König von Ägypten die Hebammen zu sich usw. (Ex 1,15.17f.)
ותרד בת: בבת פרעה נאמר כןSo wurde es gesagt über die Tochter Pharaos: . פרעה ל[רחו]ץ על היאורDie Tochter des Pharao kam herab, um im Nil zu baden. (Ex 2,5)
: ]ב]צפרה אשת משה נ׳א כןSo wurde es gesagt über Zippora, die Frau des : ולכהן מ[ד]ין שבע בנות ועודMose: Der Priester von Midian hatte sieben צר ותכרת את ערלת ותקח צפורהTöchter (Ex 2,16), und außerdem: Zippora ergriff … einen scharfen Stein und schnitt ihrem Sohn die Vorhaut ab. (Ex 4,25) ישלח מלך: ברחב הזונה נ׳א כן יריחו אל רחב לאמר הוצאי והמה טרם: ]ה]אנשים ועוד נאמר ישכבון ותאמר אל האנשים ידעתי …
So wurde es gesagt über Rahab, die Dirne: Da schickte der König von Jericho Boten zu Rahab und ließ ihr sagen: Gib die Männer heraus, die bei dir in deinem Haus eingekehrt sind. (Jos 2,3) Außerdem heißt es: Bevor die Männer sich niederlegten, stieg Rahab zu ihnen […] hinauf und sagte zu ihnen: Ich habe erfahren. (Jos 2,8f.)
ותקם: ברות המואביה נאמר כןSo wurde es gesagt über Rut, die Moabiterin: היא וכלותיה ותשב … ותאמרNoomi sagte: Kehrt doch um, meine Töchter! […] … רות אל תפגעיRut antwortete: Dränge mich nicht. (Rut 1,11.16)
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Hier bricht das Fragment ab. Nach einer Lacuna beinhaltet die folgende Spalte das Ende einer Liste von Versen, die sich auf Abraham beziehen und möglicherweise derselben Texteinheit zuzuordnen sind; demnach hätte sich der Fokus von den gottesfürchtigen Frauen auf Abraham, den „Vater einer Menge von Völkern“ (Gen 17,4) verschoben, was auf eine Deutung hinweist, die Abraham als Missionar oder als den Archetypus des Bekehrten begreift.4 Es scheint, dass der Text rechtschaffene Nichtjüdinnen oder zumindest rechtschaffene Frauen nichtjüdischer Herkunft auflistet, über die irgendetwas „gesagt wurde“. Da der Anfang der Spalte fehlt, wissen wir nicht, wie die Liste beginnt. Aufgeführt werden Asenat (Josefs ägyptische Frau), Schifra und Pua, die Tochter des Pharao, Zippora (die midianitische Frau des Mose), Rahab (die kanaanäische Prostituierte) und Rut. Die Beschreibung der Hebammen als „Ägypterinnen“ weicht von der Midrasch-Tradition ab, doch die Tatsache, dass sie als Nichtjüdinnen identifiziert werden, lässt sich aus dem Kontext sehr eindeutig erschließen; alle anderen aufgelisteten Frauen sind Nichtisraelitinnen, die sich Israel oder Gott gegenüber tugendhaft verhalten haben.
2.
Verstreute Belege für diese Tradition
Die Überlieferung, die die Hebammen als Ägypterinnen identifiziert, war in der Midrasch-Literatur nicht vollständig verloren gegangen. Vielmehr finden wir am Rande des traditionellen jüdischen Kanons noch vereinzelte Spuren. Die mittelalterliche (14. Jh.?) Midrasch-Anthologie Yalqut Shim‘oni zu Josua 9 überliefert eine sehr ähnliche Liste rechtschaffener Frauen, die sich zum Judentum bekehrt haben:
, הגר: יש נשים חסידות גיורות , פועה, שפרה, צפרה, אסנת ויעל, רות, רחב, בת פרעה . אשת חבר הקיני
Es gibt fromme Frauen, die Proselytinnen sind: Hagar, Asenat, Zippora, Schifra, Pua, die Tochter des Pharao, Rahab, Rut und Jael, die Frau des Keniters Heber.5
Auch der Midrasch Tadsche, ein früher verlorengeglaubtes Midrasch-Werk, das nur in handschriftlicher Form aus dem mittelalterlichen Aschkenas be4 Moshe Lavee, The Rabbinic Conversion of Judaism: The Unique Perspective of the Bavli on Conversion and the Demarcation of Jewish Identity (AGJU 99; Leiden: Brill, 2018). Siehe auch Ronit Nikolsky, „Der Midrasch Sara und Abraham: Eine verlorengegangene rabbinische Auslegung des ‚Lieds der fähigen Frau‘“ im vorliegenden Band. 5 Vgl. hierzu Yuval Blankovsky, „Verführung um des Himmels willen: Verführerische biblische Frauen aus Sicht der Rabbinen“, im vorliegenden Band.
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kannt ist (ca. 10.–11. Jh.),6 tradiert eine auffallend ähnliche Liste im breiteren Kontext einer Aufzählung lobenswerter Frauen, die auch fromme Jüdinnen und eine Liste von Prophetinnen umfasst: כ״ג נשים ישרות גדולות : ואלו הן, בצדקות היו בישראל , יוכבד, רחל ולאה, רבקה, שרה , דבורה, ה׳ בנות צלפחד, מרים אשה, אביגיל, חנה, אשת מנוח , התקועית היא אשה חכמה , השונמית, האלמנה של אליהו ואשה אחת, נעמי, חולדה, יהושבע ,( מנשי בני הנביאים (מ״ב ד א . ואסתר המלכה
Dreiundzwanzig fromme [redliche] Frauen, groß durch Mildtätigkeit, waren in Israel, und diese sind es: Sara, Rebekka, Rahel und Lea, Jochebed, Mirjam, die fünf Töchter Zelofhads, Debora, die Frau des Manoach, Hanna, Abigail, die Frau aus Tekoa, sie war eine weise Frau (2 Sam 12), die Witwe bei Elia (1 Kön 17,19), die Schunemiterin (2 Kön 4,5), Hulda (2 Kön 22,14), Noomi und Joscheba (2 Kön 11,2), eine von den Frauen der Prophetenjünger (2 Kön 4,1), und Ester die Königin.
, שרה: ויש מהן נביאות ואלו הןUnd es gibt unter ihnen Prophetinnen. Und diese , רחל ולאה ומרים, רבקהsind es: Sara, Rebekka, Rahel und Lea und . אביגיל וחולדה, חנה, דבורהMirjam, Debora, Hanna, Abigail, Hulda.
גיורות, ועוד יש נשים חסידות , אסנת: כשרות מן הגוים ואלו הן , בת פרעה, פועה, שפרה, צפורה … והראיה שלהן. רות ויעל, רחב , ועוד יש גיורות מן הגוים
Und ferner gibt es fromme Frauen, Proselytinnen aus den Völkern, redliche Frauen. Diese sind es: Hagar, Asenat, Zippora, Schifra, Pua, die Tochter Pharaos, Rahab, Rut und Jael. Und der Beweis für sie ist: […] Und ferner gibt es Proselytinnen unter den Völkern.
וימצאה מלאך: בהגר נאמרÜber Hagar heißt es: Und es fand sie der Engel וישמע: ה׳ (בראשית טז ז) ונאמרdes Ewigen (Gen 16,7); ferner heißt es: Und Gott ,( אלהים את קול הנער (שם כא יזhörte die Stimme des Knaben (Gen 21,17).
אשר: באסנת אשת יוסף נאמרÜber Asenat, die Frau Josephs, heißt es ,(( ילדה לו אסנת (שם מו כGen 46,20): die ihm Asenat gebar.
במילדות פועה ושפרה נאמרÜber die Hebammen, Pua und Schifra, heißt es: ותיראן המילדות את האלהיםUnd die Hebammen fürchteten Gott (Ex 1,17). .()שמות א יז
6
Scholem siedelt seine Herkunft im südlichen Frankreich an: Gershom Scholem, Ursprung und Anfänge der Kabbala (SJ 3; Berlin: de Gruyter, 1962), 14. Der Midrasch Tadsche war dem Verfasser von Bamidbar Rabba Teil I bekannt (vgl. Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch [München: Beck, 92011], 383f.), was möglicherweise auf eine Verbindung zu Rabbi Mosche Hadarschan und damit auf den Überlieferungsstrom hindeutet, der von Byzanz in die Provence/nach Aschkenas/nach Italien verlief.
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Moshe Lavee
Der Midrasch Tadsche erwähnt die Hebammen in einer ähnlichen Liste von Frauen, die als „Proselytinnen unter den Völkern“ bezeichnet werden. Er stützt sich auch auf dieselbe Belegstelle wie der Text aus der Geniza (Ex 1,15). Außerdem verwendet er bei der Angabe des biblischen Belegs eine besondere Formulierung, „( הראיה שלהןund der Beweis für sie ist“). In rabbinischen Quellen ist diese Wendung eher selten, doch in einer anderen Spalte des in Frage kommenden Geniza-Fragments findet sich eine vergleichbare Formulierung. In der ersten Spalte auf der zweiten Seite heißt es vor einer Gruppe von Versen, die sich in einem anderen Kontext auf Hagar beziehen, ganz ähnlich: „( והראיה שלאלוund der Beweis für diese ist“). Überdies klingt die abschließende Formel im Midrasch Tadsche, mit der der Vers angeführt wird, aus dem wir wissen, dass die betreffende Frau konvertiert ist (… ב )נאמר, sehr ähnlich wie die entsprechende Formulierung im Fragment (… וב )נאמר כן. Die Ähnlichkeit seltener Midrasch-Fachbegriffe ist in solchen Fällen extrem wichtig. Sie ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Verfasser des Midrasch Tadsche nicht nur mit der Überlieferung aus dem Geniza-Text, sondern auch mit einer Fassung des verloren gegangenen Midrasch selbst vertraut war. Wie in anderen Fällen ist davon auszugehen, dass ein bestimmter Midrasch-Text sowohl im Osten – dessen Verhältnisse die Geniza widerspiegelt – als auch in aschkenasischen Kreisen – die der Midrasch Tadsche repräsentiert – bekannt und in Gebrauch war. Dieser Midrasch-Text hat jedoch nicht in seiner Gesamtheit überlebt und wurde ab einem gewissen Zeitpunkt vor der Erfindung des Buchdrucks nicht mehr tradiert.7 Daher ist die Überlieferung – außer in dem begrenzten räumlichen und zeitlichen Kontext des mittelalterlichen Aschkenas und womöglich mit diesem verbundener provenzalischer Kreise8 – verloren gegangen.
3.
Vor aller Augen verloren
Dass die Überlieferung, wonach Schifra und Pua (ursprünglich?) keine Israelitinnen gewesen seien, in zwei verloren gegangenen Midrasch-Texten und im (nicht verloren gegangenen) Yalqut Shim‘oni existiert, weist darauf hin, dass eine Tradition zwar physisch präsent, das heißt am Rande der jüdischen Literatur weiterhin existent sein, de facto aber dennoch verloren gehen kann. Im kollektiven Gedächtnis derer, die mit Raschis Kommentaren zum Pentateuch 7 Vgl. Moshe Lavee, „Literary Canonization“. An dieser Stelle sei insbes. auf den Yelamdenu-Abschnitt hingewiesen, der nur in der Geniza und im Yalqut Shim‘oni erhalten ist (294, Anm. 23). 8 Angesichts dieser Verbindung zu Aschkenas wäre es nicht überraschend, wenn sich herausstellen würde, dass Rabbi Jehuda ben Samuel (Jehuda he-Chassid) mit dieser Überlieferung vertraut war, s. u., Abschnitt 5.
Die Identität der Hebammen in Ägypten
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und mit dem Babylonischen Talmud aufgewachsen sind, ist die Tradition, die die Hebammen als Ägypterinnen bezeichnet, etwas Neues. Das „gemeinsame jüdische Bewusstsein“ wurzelt in diesen Midrasch-Werken, die in der Regel in das öffentliche Narrativ aller jüdischen Gemeinden eingeflossen sind. Hierbei handelt es sich nicht um eine essentialistische, sondern um eine statistische Größe, das heißt um das Narrativ, das den Juden de facto bekannt ist, das in Schulen und Kindergärten unterrichtet, gemeinhin in Predigten und Homilien erwähnt, in vielen Büchern oder in den Handzetteln der Synagogen veröffentlicht wird und so fort. Vielleicht werden die Fortschritte auf dem Gebiet der Digital Humanities uns früher oder später in die Lage versetzen, diese Größe genauer zu messen. Ob es nun an der Kanonisierung des Babylonischen Talmuds lag oder daran, dass Raschi, der die andere Überlieferung vertrat, (inoffiziell) als der maßgebliche Bibelkommentator kanonisiert wurde, oder auch daran, dass sie in den gedruckten Ausgaben des Midrasch Rabba und der Tanḥuma-Midraschim nicht enthalten war – Fakt ist: Die Überlieferung von den ägyptischen Hebammen geriet irgendwann in Vergessenheit.
4.
Eine Frage der Vokale
Es gibt jedoch noch einen weiteren fundamentalen Grund dafür, dass die Gleichsetzung von Schifra und Pua mit Jochebed und Mirjam den Vorzug vor der Überlieferung erhielt, die die beiden Frauen als Ägypterinnen bezeichnete. Auf den ersten Blick würde man meinen, dass die Identität der Hebammen anhand des Bibeltexts selbst geklärt werden kann. Der vokalisierte Text von Ex 1,15 erklärt, dass der König von Ägypten ַל ְמיַ ְּלד ֹת ָה ִע ְב ִרּי ֹת, korrekt übersetzt also „zu den hebräischen Hebammen“ sprach: Hebammen also, die Hebräerinnen waren. Da sowohl das Wort „Hebammen“ als auch das Wort „hebräisch“ mit einem bestimmten Artikel beginnen – hinter dem Patach unter dem Lamed verbirgt sich der bestimmte Artikel ַה –, muss das Wort „hebräisch“, grammatisch gesehen, ein Adjektiv sein, welches das vorangegangene Wort „Hebammen“ näher bestimmt; es ist also von „hebräischen Hebammen“ die Rede, und gemeint sind Hebammen, die Hebräerinnen sind. Die Septuaginta liest den Text jedoch anders und übersetzt den betreffenden Vers mit „die Hebammen der Hebräer[innen] (μαίαις τῶν εβραίων)“; die zugrundeliegende Deutung scheint von zwei Substantiven in einer Status-constructus-Verbindung auszugehen: „die Hebammen (erstes Substantiv, im Status constructus) der Hebräerinnen (zweites Substantiv in der Verbindung)“.9 9
Vgl. Jonathan Cohen, „To the Hebrew Midwives“, Leš. 55 (1991): 295–297 (Hebr.). Cohen vermutet, dass Raschi ebenfalls mit dieser möglichen Lesart des biblischen Texts vertraut gewesen sein könnte.
350
Moshe Lavee
Diese Übersetzung bezieht „hebräisch“ auf die Identität der Frauen und sagt nichts über die ethnische Zugehörigkeit der Hebammen aus. Viele Forscher haben vermutet, dass der Lesart der Septuaginta keine ungenaue Deutung des Texts, sondern eine andere Vokalisierung zugrunde liegt, nämlich: ִל ְמיַ ְּלד ֹת ָה ִע ְב ִרּיֹת.10 Bei dieser Vokalisierung ist das Lamed nicht mit einem (erst später so bezeichneten) Patach, sondern mit einem Chiräq punktiert (wie es später genannt werden wird). Da das zweite Wort einen bestimmten Artikel, das erste aber keinen bestimmten Artikel hat, muss die Beziehung zwischen den beiden Wörtern eine Status-constructus-Verbindung sein; die Wendung wäre folglich mit „Hebammen der Hebräerinnen“ zu übersetzen. Mithin ist der Ursprung der Debatte über die korrekte Deutung der beiden Wörter למילדת העבריותkein rein exegetischer, sondern geht auf unterschiedliche Überlieferungen bezüglich der korrekten Vokalisierung des Texts zurück. Die Vokalisierung, die in der Septuaginta ihren Niederschlag gefunden hat, scheint eine ganze Zeitlang bekannt und akzeptiert gewesen zu sein. Flavius Josephus geht in seiner Nacherzählung ausdrücklich davon aus, dass die Frauen Ägypterinnen waren, die den Hebräerinnen als Hebammen gedient hätten: Er [der König von Ägypten] befahl, [dass] […] die ägyptischen Geburtshelferinnen (τὰς Αἰγυπτίων μαίας) […] genau erforschen [sollten], wann die hebräischen Frauen niederkommen würden, und die Geburt sorgsam überwachen. Und nur ägyptische Geburtshelferinnen sollten bei Hebräerinnen Dienste tun, weil nur von diesen eine strenge Befolgung des Gebotes zu erwarten war. Diejenigen aber, die dieses Gebot überträten und ihre neugeborenen Kinder zu verbergen wagten, sollten mit ihrer ganzen Familie den Tod erleiden (A. J. 2,206f.).11
Josephus hat die Geschichte erheblich ausgeschmückt, doch es steht außer Frage, dass er davon ausging, dass die Hebammen Ägypterinnen gewesen sein mussten und dass der Pharao eine solche Pflicht niemals den weiblichen Verwandten der Hebräerinnen selbst anvertraut hätte. Diese Deutung wurde, wie die Hieronymus-Übersetzung zeigt, auch in christlichen Kreisen übernommen und ist ebenso bei den Samaritanern bezeugt.12 Die im Geniza-Fragment (wie auch im Midrasch Tadsche und im Yalqut Shim‘oni) erhaltene Überlieferung lässt sich also auf eine Lesart der biblischen Texte zurückführen, die in der Literatur des zweiten Tempels verbreitet war. Interessanterweise kann der erste Beleg für die entgegengesetzte und 10 Vgl. Zev Farber, „A Torah without Vowels: Bring the Man to the Carcass or the Carcass to the Man?“, online: https://www.thetorah.com/article/bring-man-to-thecarcass-or-carcass-to-man [zuletzt abgerufen am 21.7.2020] 11 Zitiert aus Flavius Josephus, Jüdische Altertümer (übers. v. Heinrich Clementz; Wiesbaden: Fourier, 1994), 108. 12 Im Buch Asatir. Siehe Cohen, „Hebrew Midwives“, 296, Anm. 3.
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später vorherrschende rabbinische Lesart in Sifre Bamidbar als eine absichtsvolle Verkehrung einer älteren Liste gedeutet werden, die auf derselben Überlieferung beruhte. Insgesamt befasst sich der Text in SifBam 78 mit biblischen Gestalten, die als Konvertiten gelten: Jitro und seine angeblichen Nachkommen, die Rechabiter, Rahab, die Gibeoniter und Rut. Jeder Abschnitt endet mit einem Qal wa-ḥomer-Argument: ומה אילו שקירבו את עצמן כך קירבן ישראל שעושין את התורה על אחת כמה וכמה,„( המקוםWenn Gott diese […], weil sie sich [ihm] selbst genähert hat, sich nahe gebracht hat, um wieviel mehr Israel, die die Tora befolgen“) (SifBam 78). Dort, wo der Text zu Schifra und Pua übergeht, lauten die einleitenden Worte des betreffenden Abschnitts:
הלא כבר נאמר … שפרה זו יוכבד; פועה זו,אם תאמר בישראל לא היה כן … „( מריםWenn du aber sagst, in Israel war es nicht so, siehe, so heißt es beי
reits: […] Schifra, das ist Jochebed. Pua, das ist Mirjam. […] dasselbe magst du in Israel finden“). Der Absatz endet mit den Worten: הא כל המקרב עצמו „( מישראל מקרבין אותוJeder, der sich selbst nähert, Israel nähert sich ihm.“) Man kann vermuten, dass diese Fassung auf einer früheren Liste basiert, die die Hebammen als ein weiteres Beispiel für nichtjüdische Frauen, die sich Israel annäherten, aufgeführt hatte, und dass der tannaitische Midrasch die Liste neu angeordnet und umformuliert hat, sodass dieses besondere Beispiel künftig mit Bezug auf hebräische Hebammen gelesen wurde.13
5.
Zwischen Exegese und Unterdrückung
Josephus war nicht der letzte Jude, der die Überlieferung (oder biblische Lesart) von den ägyptischen Hebammen erwähnte. Neben ihrer marginalen Weitergabe im Midrasch Tadsche und im Yalqut Shim‘oni nahm auch der eine oder andere Bibelkommentator darauf Bezug. So vermerkt Jehuda he-Chassid (Juda ben Samuel aus Regensburg, 1150–1217), dass der Handlungsstrang darauf hinweist, dass die Hebammen zumindest zu Anfang Ägypterinnen waren:
13 Wie Menachem Kahana, Sifre on Numbers: An Annotated Edition 3 (Jerusalem: Magnes Press, 2011), 547 (Hebr.), gezeigt hat, gibt es noch eine weitere Tradition, die die Hebammen mit Rahab und den Gibeonitern zusammenstellt (ARN B 45): „Drei lehnten sich auf und gestanden.“ Auch andere Quellen bringen Rahabs Konversion mit einem Geständnis in Verbindung. Siehe Moshe Lavee, „From Emotion to Legislation: Asenath’s Prayer and Rabbinic Literature“, in Ancient Jewish Prayer and Emotions: Emotions Associated with Jewish Prayer in and around the Second Temple Period (hg. v. Stefan C. Reif und Renate Egger-Wenzel; DCLS 26; Berlin: de Gruyter, 2015), 259–272. Dies ist ein weiterer Hinweis auf eine frühe Vertrautheit mit der Lesart von den ägyptischen Hebammen.
352 שפרה ופועה מצריות היו מתחילה ונתגיירו דאל״כ היאך ציוה אותם ? להרוג את היהודים
Moshe Lavee Schifra und Pua waren ursprünglich Ägypterinnen und sind dann konvertiert. Wenn dies nicht so wäre, wie hätte [Pharao] ihnen dann befehlen können, Juden zu töten?14
Die bekannte Affinität zwischen den Chasidei Aschkenaz und den MidraschÜberlieferungen, die nur in Aschkenas Bestand hatten, spricht dafür, dass Jehuda he-Chassid möglicherweise durch den Midrasch Tadsche mit dieser Überlieferung vertraut war. Dennoch ist der Unterschied zwischen diesem Kommentar und der Midrasch-Überlieferung bezeichnend. Die rhetorische Frage, die die Behauptung, es habe sich um Ägypterinnen gehandelt, rechtfertigen soll, hat eine sehr wichtige Funktion. Sie basiert auf der Annahme, dass Pharao jüdischen Hebammen nicht befehlen konnte, jüdische Neugeborene zu töten. Die Identitäten sind zu deutlich abgegrenzt: Es ist ebenso undenkbar, dass jüdische Hebammen jüdischen Kindern Schaden zufügen würden, wie es undenkbar ist, dass ägyptische Hebammen jüdische Kinder retten würden: Also ist die Konversion die einzig mögliche Lösung. Dieser kleinere Kommentar erhält die soziale und kulturelle Hierarchie zwischen Juden und Nichtjuden aufrecht. Das subversive Potenzial einer Darstellung, die von gottesfürchtigen Nichtjüdinnen handelt, wird somit neutralisiert. Don Isaak Abrabanel (1437–1508) vertritt unabhängig davon denselben Standpunkt, ohne jedoch eine Konversion anzudeuten. Es ist denkbar, dass Abrabanel nicht mit der Midrasch-Überlieferung vertraut und das Wiederaufleben dieser Lesart eher durch exegetische Überlegungen und vielleicht auch durch den intellektuellen Austausch mit christlichen Gelehrten bedingt war:15 ולא היו עבריות כי איך יבטח לבוSie waren keine Hebräerinnen, denn wie konnte [ בנשים העבריות שימיתו ולדיהןPharaos] Verstand darauf vertrauen, dass hebrä אבל היו מצריות מילדות אתische Frauen die Säuglinge ihres eigenen [Volkes] , ר״ל עוזרות אותן ללדת, העבריותermorden würden?! Sie sind vielmehr die „Heb כמ״ש בילדכן את העבריות (שמותammen der Hebräer“, das heißt, sie helfen den .([ א טזhebräischen Frauen] bei der Geburt, wie es heißt: Wenn ihr den Hebräerinnen Geburtshilfe leistet (Ex 1,16).
In ihren Gesprächen mit dem Pharao – um näher auf Abrabanels letzten Punkt einzugehen – sprechen sowohl die Hebammen als auch der Pharao von den Hebräern als den „Anderen“, das heißt immer von „den Hebräern“ 14 Zitiert aus der Langa-Ausgabe seines Kommentars (ad loc.). Dieselbe Erläuterung wird in seinem Namen im Kommentar des Rabbi Chaim Paltiel (ad loc.) zitiert sowie im Pa‘aneach Raza (ad loc.). 15 Zu der Frage, wie sich Abrabanels intellektuelle Kontakte zu christlichen Gelehrten auf seine Kommentare auswirkten, vgl. Cedric Cohen Skalli, Don Isaac Abrabanel (Jerusalem: Merkaz Zalman Shazar, 2017), 109–113 (Hebr.).
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() ָה ִע ְב ִרּיֹות, was darauf hinweist, dass die Hebammen selbst kein Teil dieser Bevölkerungsgruppe waren. SchaDal (Samuel David Luzzatto, 1800–1865) übernimmt Abrabanels Lesart und fügt noch eine weitere Beobachtung hinsichtlich der Erzähllogik hinzu: כי איך ייתכן, וכן נראה שיצוה לבנות ישראל , להכרית את כל בני עמם ? ויאמין שלא תגלינה הדבר
[Abrabanels Lesart] scheint zutreffend, denn wie wäre es möglich, dass [Pharao] israelitischen Frauen den Befehl, [durch die Tötung aller männlichen Nachkommen] ihr eigenes Volk zu vernichten, erteilen und obendrein glauben konnte, dass niemand dies herausfinden würde?
Wie SchaDal vermerkt, handelte es sich um einen geheimen Befehl, denn wie hätten die Hebammen sonst Zugang zu gebärenden Hebräerinnen erhalten sollen? Selbst Pharao, so SchaDal, muss gewusst haben, dass Israelitinnen diesen Plan angesichts dessen, was auf dem Spiel stand, nicht vor ihrem eigenen Volk geheim gehalten hätten. Wieder einmal sehen wir, dass das Thema in einer Weise behandelt wird, die die Grenzen zwischen den Identitäten aufrechterhält und davon ausgeht, dass Frauen sich gegenüber der Gruppe, der sie angehören, vollkommen loyal verhalten. Indem sie die Überlieferung so präsentieren, dass das subversive Potenzial der Tradition, wonach die Hebammen Ägypterinnen waren, neutralisiert wird, helfen uns die späteren Bibelkommentatoren, zu verstehen, dass diese Überlieferung die Identitätsgrenzen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Strukturen in Frage stellte. Auf den ersten Blick scheint die Überlieferung, wonach die Hebammen Ägypterinnen waren, in Vergessenheit geraten zu sein, weil sie klar von der Bedeutung des masoretischen Texts abwich. Doch die Tatsache, dass diese Interpretation im Yalqut Shim‘oni existiert, weist darauf hin, dass es hier um mehr ging als bloß um eine Frage der Grammatik. Und dass sie sich auch bei Josephus wiederfindet – was dafür spricht, dass die Überlieferung von den ägyptischen Hebammen aus der Zeit des zweiten Tempels stammt –, weist darauf hin, dass in den verlorenen Midraschim aus der Geniza und im Midrasch Tadsche eine besonders alte Überlieferung erhalten geblieben – oder wiederbelebt worden – ist. Manche alte Überlieferungen sterben einfach aus und werden vergessen; und manche werden von anderen Quellen aktiv unterdrückt. Letzteres war ganz klar der Fall, als die Überlieferung von den ägyptischen Hebammen in den Schriften traditionalistischer Kommentatoren der modernen Zeit wiederauftauchte. Die Überlieferung, wonach die Hebammen Ägypterinnen waren, gehört in die zweitgenannte Kategorie. Rabbi Baruch ha-Levi Epstein (1860–1941) schreibt:
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Moshe Lavee
ודע דבילקוט יהושע ב׳ חשיבMan beachte, dass der Yalqut zu Josua 2 Schifra und בין הנשים הגיורות את שפרהPua zu den bekehrten Frauen zählt. Wir müssen sagen, וצ״ל דפליג אגמ׳ דידן, ופועהdass dies unserem Talmud widerspricht, der sie entwe שהיו יוכבד ומרים או יוכבדder mit Jochebed und Mirjam oder mit Jochebed und וצ״ל שנתגיירו, ואלישבעElischeba identifiziert. Und wir müssen sagen, dass sie , קודם מאורע זו שבפרשה זוsich vor den Ereignissen bekehrt haben, die in dieser : אחרי דהכתוב אומר מפורשBibelstelle beschrieben werden, denn im Text heißt es המילדות העבריות (שמותausdrücklich die hebräischen Hebammen (Ex 1,15), דדוחק לומר דהכונה,) א טוund es ergibt keinen Sinn, dies so zu lesen, als habe der כאן המילדות את העבריותText (unter Auslassung des Akkusativzeichens )אתdie .( )בחסרון יחס הפעול אתHebammen der Hebräer sagen wollen. (Tora Temima, Ex 1,15)
Auch Rabbi Menachem Mendel Kascher zitiert den Text aus dem Yalqut und verweist darauf, dass Josephus, die Septuaginta und sogar Hieronymus damit vertraut gewesen seien, betont aber, dass er „der Ansicht unserer Rabbinen seligen Angedenkens und dem Onkelos widerspricht“ (Tora Schelema, Ex 1,15, Anm. 166).16 Hier ist deutlich zu sehen, dass die besagte Überlieferung vor allem aus Gründen der Kanonisierung verworfen wird. Die masoretische Vokalisierung, Raschi und der Babylonische Talmud sind die maßgeblichen Quellen, und eine davon abweichende Überlieferung ist inakzeptabel. Man beachte auch die kanonisierende Sprache, mit der Epstein („unser Talmud“ und Kascher („Ansicht unserer Rabbinen seligen Angedenkens“) ihre Präferenzen deutlich machen. Wie oben bereits angedeutet, spricht jedoch einiges dafür, dass man der Vokalisierung „hebräische Hebammen“ zwar vielleicht nicht unbedingt in einer bewussten Abkehr von der in der Septuaginta implizierten Lesart, aber sicherlich auch nicht aus rein grammatikalischen Erwägungen heraus den Vorzug gegeben hat. Vielmehr lässt sich diese Entscheidung mit sozia16 Die Ansicht unseres Texts ist, dass die Hebammen Ägypterinnen waren, die sich bekehrt haben, und dass „die hebräischen Hebammen“ „die Hebammen der Hebräer“ bedeutet. Epstein zitiert in seinen Kommentaren Josephus, A. J. 2.9, der gesagt hat, sie seien Ägypterinnen, und Samuel David Luzzato kommentiert, dass der alexandrinische Übersetzer [= die Septuaginta] und Hieronymus dies genauso interpretieren, und der Beweis für diese Interpretation findet sich im Midrasch Tadsche. Und ergänzenswert ist auch das in der Einleitung zum Imrei Schefer, dass im Pa‘aneach Raza Folgendes steht: Rabbi Isaak von Wien hat gesagt: Ich habe im Namen von Rabbi Jehuda he-Chassid gefunden, dass Schifra und Pua Ägypterinnen waren, die sich bekehrt haben […] Und das entspricht nicht der Ansicht unserer Rabbinen seligen Angedenkens oder dem Onkelos. (מובא שס[בירא] ל[יה] שהמילדות היו מצריות
ואפשטיין בהערות.שנתגיירו והפי׳ למילדות העבריות למילדות את העבריות ושד״ל מביא שגם.שם מביא שגם דעת יוסיפוס בקדמוניות ב׳ ט׳ שהיו מצריות ומ״ש ראיה לפ׳ זה מבוא לפנינו.המתרגם האלכנסדרי והירונימוס מפרשים כן ויש להעיר גם מהמבוא באמרי נועם וכ״ה בפענח רז אור״י.במדרש תדשא מצאתי בשם רי״ח ששפרה ופועה מצריות היו מתחלה, שם האחת שפרה:מוינא )ונתגיירו… וזה לא כדעת חז״ל ואנקולוס
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len Werten und Vorstellungen in Zusammenhang bringen. Wenn wir uns mit dieser Möglichkeit befassen wollen, müssen wir zunächst die vielschichtigen Verbindungen zwischen Geschlecht und jüdischer Identität entwirren, die in dieser Überlieferung zum Tragen kommen. Die Hebammen als Ägypterinnen zu betrachten, ist eine doppelte Herausforderung im Hinblick auf zwei zentrale Konstrukte der rabbinischen Literatur, die einem „Wir“ ein „Sie“ gegenüberstellen, nämlich den Juden die Nichtjuden und den Männern die Frauen. Die Beschreibung der Hebammen als rechtschaffener Nichtisraelitinnen, die sich bei Josephus und in der Liste aus der Geniza niedergeschlagen hat, entspricht einer Kategorie gottesfürchtiger Nichtjuden aus der Epoche des zweiten Tempels bzw. aus frührabbinischer Zeit: Personen, die mit dem Judentum verbunden waren, insofern sie Aspekte jüdischer Praxis oder Theologie übernahmen, ohne unbedingt im vollen Umfang des Wortes Jude zu werden. Später jedoch, als der Bavli die Vorherrschaft übernahm, verschwand diese Kategorie. Der Babylonische Talmud hat keinen Platz für Schwellenidentitäten oder unscharfe Grenzen: Wenn es um die Gottesfurcht geht, ist man entweder Jude oder Nichtjude, und die einzige Brücke, die vom einen zum anderen führt, ist die Konversion.17 Die spätere Tradition bewegt sich in die eine oder in die andere Richtung, macht aber aus den Hebammen auf jeden Fall unzweifelhafte Jüdinnen: Sie werden entweder (wie im Midrasch Tadsche und im Yalqut Shim‘oni) zu Konvertitinnen erklärt oder mit den sattsam bekannten jüdischen Frauengestalten Mirjam und Jochebed zusammengeführt. Die Darstellung rechtschaffener Nichtjüdinnen stellt auch die überkommenen Männer-Frauen-Hierarchien in Frage. Die Forschung hat gezeigt, dass jüdische Texte – sowohl aus der Epoche des zweiten Tempels als auch aus rabbinischer Zeit – dazu neigen, Frauen und Nichtjuden zueinander in Beziehung zu setzen und in einer Gruppe von „Anderen“ zusammenzufassen.18 Diese tiefe Korrelation durchzieht eine Vielzahl von Quellen und spiegelt nicht unbedingt eine von bestimmten Kreisen vertretene Überzeugung wider. Die Überlieferung von den ägyptischen Hebammen hinterfragt diese Korrelation, 17 Vgl. Shaye J. D. Cohen, The Beginnings of Jewishness: Boundaries, Varieties, Uncertainties (Berkeley: University of California Press, 1999); Moshe Lavee, „No Boundaries to the Demarcation of Boundaries: The Babylonian Talmud’s Emphasis on Demarcation of Identity“, in Rabbinic Traditions between Palestine and Babylonia (hg. v. Ronit Nikolsky und Tal Ilan; AGJU 89; Leiden: Brill, 2014), 84–116; Ders., Rabbinic Conversion. 18 Das gilt etwa für Überlieferungen, die Josef und die Frau des Potifera betreffen, vgl. Joshua Levinson, „Cultural Androgyny in Rabbinic Literature“, in From Athens to Jerusalem: Medicine in Hellenized Jewish Lore and in Early Christian Literature (hg. v. Samuel Kottek und Manfred Horstmanshoff; Pantaleon Reeks 33; Rotterdam: Erasmus Publishing, 2000), 119–140; 130; Tal Ilan, „The Woman as ‚Other‘ in Rabbinic Literature“, in Jewish Identity in the Greco-Roman World (hg. v. Jörg Frey, Daniel R. Schwartz und Stephanie Gripentrog; AGJU 71; Leiden: Brill, 2007), 77–92.
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untergräbt diese verbreitete Machtstruktur und erklärt, dass sowohl Nichtjuden als auch Frauen – in diesem Fall nämlich nichtjüdische Frauen! – eine entscheidende Rolle bei der Befreiung des jüdischen Volkes aus der ägyptischen Sklaverei und sogar bei der Entstehung der jüdischen Nation spielen konnten. Diese Leben schenkenden ägyptischen Hebammen stehen in diametralem Gegensatz zum Bild der aufreizenden nichtjüdischen Verführerin, die die Identität des jüdischen Mannes bedroht.19 Die ägyptischen Hebammen passen sich dem System nicht an, das männliche israelitische Juden gegen die Anderen abgrenzt und stets als überlegen darstellt. Diese ägyptischen Frauen untergraben die Identität dieser imaginären männlichen Ordnung und müssen deshalb daraus entfernt werden. Ein anderer Grund für das Verblassen der Überlieferung von den ägyptischen Hebammen liegt möglicherweise in dem tiefen Argwohn gegenüber nichtjüdischen Hebammen, der in der tannaitischen Halakha zum Ausdruck kommt. Während mAZ 2,1 den Einsatz nichtjüdischer Hebammen erlaubt, lässt die Parallelstelle in der Tosefta (tAZ 3,3) diese nur unter der Bedingung zu, dass sie von (mutmaßlich jüdischen) Umstehenden genau beobachtet werden: בת ישר׳ לא תיילד את הנכרית מפני שמיילדת בן לע׳ זר׳ ונכרית לא תיילד את בת ישר׳ מפני שחשודין על הנפשות : וחכמ׳ אומ׳. דברי ר׳ מאיר נכרית מיילדת את בת ישר׳ . בזמן שאחרים עומדין על גבה מפני, בינו לבינה אסור . שחשודין על הנפשות
Eine Israelitin sollte einer Nichtjüdin keine Geburtshilfe leisten, weil sie ein Kind für den Götzendienst entbinden würde. Und eine Nichtjüdin sollte einer Israelitin keine Geburtshilfe leisten, weil sie des Mordes verdächtig ist; das sind die Worte von Rabbi Meir. Doch die Weisen sagen: Eine Nichtjüdin kann einer Israelitin Geburtshilfe leisten, wenn andere zugegen sind, wenn sie aber allein sind, ist es verboten, weil sie des Mordes verdächtig ist.
Der Babylonische Talmud fügt eine Geschichte hinzu, in der eine nichtjüdische Hebamme damit prahlt, das Blut jüdischer Frauen und Kinder vergossen zu haben: אפי׳ אחרות עומדות: ור״מ אומר דזימנין דמנחא, על גבה נמי לא ליה ידא אפותא וקטלא ליה ולא כי ההיא איתתא דאמרה. מתחזי מולדא יהודייתא בת: לחברתה
Rabbi Meir sagt: [Es ist verboten,] selbst wenn andere zugegen sind, weil sie die Hand auf die Schläfe [des Kinds] drücken und es töten kann, ohne dass man es merkt. So nannte einst eine Frau ihre Gefährtin: Juden-Hebamme, Tochter
19 Vgl. z. B. den Midrasch über die Midianiterinnen (bBekh 5b). Dieses Bild stammt aus Spr 1–9, wo die gefährliche verführerische Frau im Mittelpunkt steht. Vgl. Moshe Lavee, „The ‚Other‘ Bursts from Within: Gender, Identity and Power Structures in Halakhic and Aggadic Texts“, Mikan 15 (2016): 181–208 (Hebr.).
Die Identität der Hebammen in Ägypten
: מולדא יהודייתא! אמרה לה , נפישין בישתא דההיא איתתא דקא משפילנא מינייהו דמא כי . אופיא דנהרא
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einer Juden-Hebamme. Da erwiderte diese: Zahlreich mögen deine Leiden sein; ich ließ ihr [der Kinder] Blut fließen wie der Schaum des Meers. (bAZ 26a)
Dies steht in direktem Gegensatz zu der Überlieferung von den ägyptischen Hebammen, der zufolge Nichtjuden das Leben jüdischer Kinder retten, wodurch die misstrauische Haltung der tannaitischen Rechtsgelehrsamkeit in Frage gestellt wird. Offenbar sahen gewisse rabbinische Kreise den Einsatz nichtjüdischer Hebammen mit Unbehagen und glaubten, dass von der nichtjüdischen Hebamme eine Bedrohung für das Leben jüdischer Kinder ausging. Die Kanonisierung und der Einfluss dieser Halakha ist folglich ein weiterer Grund für das Verblassen der Überlieferung von den ägyptischen Hebammen. Sowohl die masoretische Vokalisierung, die die Hebammen als Jüdinnen identifiziert, als auch die vorherrschende Midrasch-Überlieferung, die sie mit Jochebed und Mirjam gleichsetzt, unterstützt einen eher hierarchischen und patriarchalen Gesellschaftsaufbau.20 Keine dieser beiden Festlegungen ist aus rein sprachlichen Erwägungen heraus entstanden oder übernommen worden. In diesem Sinne lässt sich die Überlieferung von den ägyptischen Hebammen als eine unterdrückte Überlieferung betrachten, die auch deshalb verworfen wurde, weil sie die patriarchale Gesellschaftsstruktur in Frage stellte.
6.
Schlussfolgerung: Frauen in der Geniza, Hermeneutik des Verdachts und wohlwollende Lesart
Das hier vorgestellte Fragment ist nicht der einzige Fall, in dem der Geniza-Midrasch Frauen gegenüber eine eher inklusive Haltung einnimmt. Das Midrasch-Projekt in Haifa hat andere, nur in der Geniza überlieferte Mi drasch-Texte zutage gefördert, die wichtigen weiblichen Charakteren eine ähnliche Anerkennung zollen. So gibt einer der Texte der Perspektive Tamars den Vorzug vor dem Blickwinkel Judas; ein anderer schildert die eheliche Gegenseitigkeit zwischen Rebekka und Isaak und stellt sie der angeblichen
20 Das reduziert auch die Anzahl der namentlich genannten Frauen: Pua und Schifra sind nur die Namen zweier Frauen, die ohnehin schon erwähnt worden sind, damit verringert sich die Zahl der Frauen, die erwähnt und deren mit ihrem Namen gedacht wird, wie Tal Ilan, Silencing the Queen: The Literary Histories of Shelamzion and Other Jewish Women (TSAJ 115; Tübingen: Mohr Siebeck, 2006), 38–39, zu bedenken gibt.
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Moshe Lavee
Misshandlung Saras durch Abraham gegenüber.21 Dass diese Werke verloren gegangen sind, könnte durch eine Art traditionalistischer Selbstzensur bedingt sein, auch wenn man nur darüber spekulieren kann, ob diese Zensur bewusst oder unbewusst vorgenommen wurde. Ein feministischer Ansatz wie der hier vorgestellte, also der Versuch, subversive Überlieferungen, die den vorherrschenden patriarchalen Diskurs untergraben, aufzuspüren und zu identifizieren, spiegelt eine wohlwollende Lesart rabbinischer Quellen wider, die darauf abzielt, Stimmen ausfindig zu machen, die im Blick auf heutige Ziele der sozialen Gerechtigkeit hilfreich und ermutigend sein könnten. Allerdings hat Charlotte E. Fonrobert in einem wichtigen kritischen Beitrag vorgeschlagen, auf die, wie sie es nennt, „feministische Würdigung des Midrasch“ mit einer Hermeneutik des Verdachts zu antworten, wenn nicht zu reagieren. Feministische Leser*innen, so ihre These, neigen dazu, den Midrasch (als diskursive Methode wie auch als ein Korpus von Überlieferungen) als ein Mittel zu feiern, dem Anderen – im feministischen Kontext also den Frauen, die den in den Corpora der Bibel und der rabbinischen Rechtsgelehrsamkeit vorherrschenden patriarchalen Strukturen als ein Anderes gegenüberstehen – eine Stimme zu geben. Als diskursive Methode ermöglicht der Midrasch demnach eine subversive Lesart, die die in den biblischen Texten verborgene Machtstruktur herausfordert, und enthält mithin als Korpus Überlieferungen, die den Bestrebungen und heimlichen, listigen Handlungsweisen der Frauen eine Stimme geben. Betrachtet man jedoch den größeren Kontext solcher Überlieferungen und kreativen exegetischen Argumente, so Fonrobert, dann sieht man, dass sie die patriarchale Machtstruktur in Wirklichkeit unterstützen. Anhand der von ihr untersuchten Texte vertritt sie die These, dass erfolgreiche und listige weibliche Manipulationen dominanter männlicher Gestalten nicht als beispielhaft für das Empowerment von Frauen gesehen werden sollten, weil sie in letzter Konsequenz doch immer nur dem Fortbestand der herrschenden Machtstruktur dienten.22 Die Überlieferung, die ich hier analysiert habe, ist ein Teil desselben Diskurses, der Frauen lobt, Grenzen in Frage stellt und die patriarchale Hegemonie herausfordert – aber nur in solchen Fällen, in denen das subversive Vorbild letztlich als Mittel zum Erhalt der bestehenden Gesellschaftsstruktur dient. Die Hebammen waren dazu da, Söhne zu retten und die Geburt des männlichen Helden sicherzustellen, der „das jüdische Volk aus Ägypten herausführen“ würde.
21 Vgl. Moshe Lavee und Shana Strauch-Schick, „Equally Good: Mutual Marriage and Proactive Women in a Midrash from the Cairo Genizah“ (ersch. demn.). 22 Charlotte E. Fonrobert, „The Handmaid, the Trickster, and the Birth of the Messiah“, in Current Trends in the Study of Midrash (hg. v. Carol Bakhos; JSJ.S 106; Leiden: Brill, 2006), 245–273.
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Stellenregister Hebräische Bibel Genesis (Gen) 1,26 ............................................. 224 1,27 .............................................. 243 2,21 ......................................... 65.294 2,22 ............................................ 220 3,6 ................................................ 337 3,12 .............................................. 197 3,15 .............................................. 157 3,20 ............................................. 294 3,24 .......................................... 92.94 5,2 ................................................ 154 6,2 ........................................ 157.337 9,20 ........................................... 320f. 9,22 .............................................. 334 10,6 .............................................. 334 10,8–12 ........................................ 175 11,29f. .......................................... 171 11,29 ......................................... 248f. 11,30 ............................................ 235 12,1–25,10 .................................. 300 12 .......................................... 175.259 12,5 ........................................... 224f. 12,6 .............................................. 167 12,10–20 ..................................... 205 12,11 ..................................... 310.313 12,13 ............................... 310.315.326 12,14–20 ...................................... 237 12,14 ............................. 225–228.245 12,15 ............................... 223.317.337 12,16 ............................ 310f.315.318f. 12,17 ............................................ 174 13,2 ................................ 310f.315.319 13,16 ..................................... 310.326 14,15 ............................................ 322 15,2 ............................................... 68
15,14 ............................................ 333 15,17 ............................................ 323 15,19 ............................................ 167 16 ................................................. 171 16,1f. ............................................ 173 16,1 ........................................ 175.185 16,2 ............................................. 240 16,3 .......................... 177f.181.189.191 16,4 ....................................... 178.187 16,5 ................................. 157.163.187 16,6 ............................. 178–180.188f. 16,7 .............................................. 347 16,7–9 .......................................... 180 16,9f. ........................................... 184 16,10 ............................................ 185 16,11 ............................................ 187 16,13 ............................................ 184 16,14 ............................................ 186 17,1 .............................................. 167 17,4 ............................................. 346 17,15 ............................................ 157 17,16 .......................................... 230f. 17,26 .......................................... 318f. 18 ................................................ 200 18,1 ........................................... 323f. 18,6 .............................................. 322 18,9 ....................................... 324.338 18,10 ........................................... 222 18,11f. .......................................... 243 18,12f. ......................................... 200 18,14 ..................................... 232.234 18,19 ............................................ 321 20 ................................................. 259 20,2 .............................................. 318 20,16 ............................................ 317 20,17 ............................................ 167 21 ................................ 69.163.171.180 21,1–21 ....................................... 240
378 Stellenregister 21,1 ........................ 157.232f.236.240 21,2 ..................................... 237f.244 21,7 ....................................... 242.322 21,9–14 ......................................... 92 21,9f. ...................................... 157.316 21,10–12 ...................................... 157 21,10 ............................................. 94 21,12 .............................. 163.248.316 21,14 .................... 90.180.185.187.190 21,15 ............................................ 188 21,16 ..................................... 182.185 21,17 ............................................ 347 21,19.21 ........................................ 185 21,33 ......................................... 320f. 22,3 ........................................... 318f. 22,4 ............................................ 313f. 22,10 ............................................ 322 23,1–25,18 ................................... 308 23,2 ............................................. 279 23,6 ....................................... 315.325 23,17.19 ........................................ 321 23,20 ..................................... 279.320 24 .................................................. 68 24,1 ......................... 157.167.308f.325 24,6 .............................................. 338 24,53 ............................................ 325 25 ................................................ 200 25,1–4 .......................................... 172 25,1 ....................................... 186.190 25,6 .............................................. 186 25,19 ........................................... 242 25,27 ............................................ 338 26,5 .............................................. 167 28,22 .......................................... 207 30 .......................................... 189.200 30,2f. .......................................... 190 30,6 .............................................. 337 30,21–24 ...................................... 332 30,22.23.25 .................................. 333 34 ................................................ 206 34,1 .............................................. 337 34,1f. ........................................... 207 34,13 ........................................... 340
34,14 ............................................ 334 34,25 .............................. 207.334.340 34,26 ............................................ 335 34,31 ..................................... 334.340 35,7 ............................................. 207 36,12 ............................................ 182 37,15 ............................................ 336 37,16 .................................... 339–340 37,18–20 ..................................... 340 38 ........................................ 72.75.153 38,6–8 ........................................ 272 38,8f. ............................................ 80 38,25f. ......................................... 157 38,25 ..................................... 164.266 39 ................................................ 203 41,45 ............................................ 336 42,3 .............................................. 339 42,22–24 ...................................... 334 46,10 ............................................ 336 46,15 ..................................... 207.332 46,17 ............................................ 164 46,20 ........................................... 347 48,22 ........................................... 334 49,5 ............................................. 340 49,31 ............................................ 198 50,7.9 ........................................... 168 50,24f. ......................................... 336 Exodus (Ex) 1f. ................................................. 37 1 ................................................... 40 1,15–21 ........................................ 343 1,15–17 ......................................... 36 1,15 ...................... 342.344f.348f.354 1,16 .............................................. 352 1,17f. ............................................ 345 1,17 .............................................. 347 1,21 .......................................... 36.44 1,22 .............................................. 214 2 ......................................... 213.215f. 2,1 ................................................. 36 2,4 ............................. 15.152.161.250 2,5 ............................................... 345
Stellenregister 2,7 ................................................. 37 2,10 .............................................. 215 2,17 ............................................... 94 4,25 .............................................. 345 5,2 ................................................ 169 6,1 ................................................. 94 6,20 ............................................. 213 6,23 ............................................. 196 9,27 .............................................. 169 13,19 ............................................ 168 15 ................................................ 250 15,1 ......................................... 38.169 15,20 ....................................... 15.250 15,21 ......................................... 21.38 17,8.11 .......................................... 169 19,5 .............................................. 201 19,15 ........................................... 206 21,11 ............................................. 90 23,30 ............................................. 94 24,9 .............................................. 169 28,6 .............................................. 325 32,1–20 ........................................ 163 32,2 ............................................. 206 32,20.28.35 ................................... 62 34,1 .............................................. 335 34,2 .............................................. 201 35,25 ........................................... 62f. Levitikus (Lev) 1,1 ................................................ 215 1,2 ............................................... 205 5,22 ............................................. 266 7,34 .............................................. 169 9,22 .............................................. 169 10,9 ....................................... 197.216 11,5 ............................................. 209 11,32 ............................................ 141 13,1–14,57 ............................. 108.112 13 ......................................... 112f.116 13,2–8 .......................................... 116 13,3 .............................................. 113 13,6 .............................................. 117 13,9–17 ........................................ 116
379 13,10 ............................................ 117 13,12 ........................................... 120 13,13 ............................................ 113 13,18–23.24–28.40–44 ................ 117 13,45f. .......................................... 118 15,25 ........................................... 203 16,1 .............................................. 196 16,3–5 .......................................... 198 16,30 ............................................ 169 14 ................................................. 112 18 ................................... 203.206.249 18,4 .............................................. 211 19 ................................................ 203 19,14 ............................................. 57 19,19 ............................................ 316 20,26 ............................................ 317 21,1 ............................................. 208 21,7 ............................................. 90f. 21,14 .............................................. 91 22,6f. ........................................... 141 22,13 .............................................. 91 23,40 ............................................ 199 24,10f. ......................................... 205 24,11 ........................................... 206 26,42 ............................................ 198 27,2 ............................................. 207 Numeri (Num) 2,20 ............................................. 168 5 .................................................... 17 5,1–3 ............................................ 118 5,5–31 ........................................... 23 5,11–31 ...................................... 129f. 5,19 ....................................... 129.134 5,27f. ........................................... 133 5,28 ................ 129–137.146.148.236f. 6,26 .............................................. 64 10,2.6 .......................................... 32f. 12 ......................................... 15.21.40 12,1f. ......................................... 15.22 12,1 .......................................... 41–43 12,10–15 ...................................... 114 12,10 .............................................. 15
380 Stellenregister 12,12 ..................................... 118.125 12,13 ........................................... 228 12,14 ........................................... 125 12,15 ................................. 17.152.161 13 ............................................ 40.214 13,30 ............................................ 214 14,24.30 ....................................... 214 14,27 ............................................ 169 14,28 .............................................. 41 19 ............................................ 32.140 19,18 .................................... 140f.144 19,19 ............................................ 142 20 ............................................ 33.199 20,1f. ............................................ 157 20,1 ........................................... 32.34 20,13 ............................................ 199 20,28 .............................................. 35 25,1 ............................................. 268 25,14 ........................................... 272 26,46 ............................................ 163 27,14 ............................................ 199 30,10 .............................................. 91 32,39f. ......................................... 169 35,25f.28 ...................................... 152 Deuteronomium (Dtn) 10,17 ............................................. 64 14,7 ............................................. 209 17,17 ................................ 153.157.162 19,4 .............................................. 152 20,3 .............................................. 168 22,13 ............................................. 90 24,1–4 ......................................... 90f. 24,1 ........................................... 78.96 24,9 ....................................... 15.19.21 25 .............................. 72.75f.78.80.83 25,5–10 ................................... 73f.80 25,5 .......................................... 76–78 25,6f.9 ........................................... 80 25,10 ............................................. 82 26,5 .............................................. 168 26,15 ............................................ 154 29,8 ............................................. 225
31,12 ...................................... 157.163 32,4 ............................................... 50 32,32 ............................................ 197 32,51 ............................................ 199 34,5 ............................................... 32 Josua (Jos) 2 ................................................. 258 2,8f. ............................................. 345 2,10f. ............................................ 157 2,18 ............................................. 258 7,19f. ............................................ 169 24,32 ............................................ 334 Richter (Ri) 4–5 .............................................. 259 4 .................................................. 274 4,4f. ............................................. 251 4,6 ................................................ 257 4,17–21 ........................................ 211 5 .................................................. 274 5,7 ................................................ 257 5,12 ........................................... 257f. 5,24–27 ........................................ 211 5,24 ............................................. 273 13,3 ............................................. 200 13,5 .............................................. 169 13,13 ........................................... 200 13,22 ............................................ 184 14,2f. ............................................ 154 14,3 .............................................. 157 15,2 ............................................... 90 16 ................................................. 152 28,31 ............................................ 157 1 Samuel (1 Sam) 1 .................................................. 131 1,1 ................................................ 133 1,10–19 ........................................ 131 1,10 .............................................. 139 1,11 ................................ 131–133.169 1,13 ....................................... 139.157 1,14–17 ........................................ 139
Stellenregister 1,20 .............................................. 153 1,22 .............................................. 157 1,26 .............................................. 139 2,1f. ............................................. 251 2,6 ......................................... 157.165 12,8 .............................................. 153 16,2 .............................................. 169 17,4f. ............................................ 169 18,20 ........................................... 260 19,11 ........................................... 260 20,3 .............................................. 153 25 ................................................. 153 25,20 ......................................... 253f. 25,30f. ......................................... 253 25,31 ............................................ 255 25,33.39–42 ................................. 253 25,43 ............................................. 90 25,44 ..................................... 157.203 2 Samuel (2 Sam) 1,24 ....................................... 154.169 3,14 .............................................. 157 3,15 ............................................. 203 3,31 .............................................. 169 6,14–22 ....................................... 260 6,23 ............................................. 157 10,16–18 ...................................... 169 11 ................................................. 169 12 ................................................. 347 12,8 .............................................. 169 13 ................................................. 334 13,13 ............................................ 335 15,6 .............................................. 169 17,25 ............................................ 152 18,15 ............................................ 169 20,22 ...................................... 157.165 21,8 .............................................. 157 23,5 ............................................... 54 1 Könige (1 Kön) 3,1 ................................................ 215 7,8 ................................................ 215 9,16.24 ......................................... 215
381 11,1f. ............................................ 215 15,30 ............................................ 169 17,19 ............................................ 347 2 Könige (2 Kön) 4 ................................................. 204 4,1.5 ............................................. 347 4,9.27 .......................................... 204 5,20–27 ....................................... 204 11,2 .............................................. 347 22,14–20 ...................................... 255 22,14 ..................................... 258.347 22,15 ............................................ 257 Jesaja (Jes) 8,5 ............................................... 186 10,13 ............................................ 169 29,1 .............................................. 169 46,11 ..................................... 310.313 54,1 ............................................... 54 54,10 ............................................ 198 Jeremia (Jer) 32,19 ............................................. 50 32,31 ............................................ 216 35,8 .............................................. 168 48,30 ........................................... 268 Ezechiel (Ez) 16,2 ....................................... 158.162 44,22 ...................................... 91.169 Hosea (Hos) 6,6 ............................................... 294 14,10 ..................................... 270.272 Micha (Mi) 6,3 ............................................... 199 6,4 .................................................. 19 Habakuk (Hab) 1,7 ................................................ 197
382 Stellenregister Sacharja (Sach) 6,14 .............................................. 170 11,8 .............................................. 157 Maleachi (Mal) 2,13f. ............................................. 93 3,19 .............................................. 324 3,23f. ........................................... 169 Psalmen (Ps) 10,35 ............................................. 54 22,3 ............................................ 254 30,9f. .......................................... 208 39,13 ............................................ 182 45,10 ............................................ 175 55,14 ............................................ 169 55,21 ............................................ 324 56,9 .............................................. 182 72,16 ............................................. 64 75,5 .............................................. 196 80,9 ........................................... 27.30 89,37 ............................................ 210 104,3 ............................................. 64 104,35 ........................................... 54 105,10 .......................................... 318 105,13–15 ................................... 249 139,5 ......................................... 289f. Sprichwörter (Spr) 9,3f. .............................................. 197 12,10 ............................................. 58 15,13f. ........................................... 52 17,25 ........................................... 52f. 20,17 ........................................... 52f. 21,21 ............................................ 321 23,22 ............................................ 154 23,32 ............................................ 197 31,10–31 ....................... 300.306–308 31,10 ............................... 307.310.313 31,11 ................ 308.310f.315.319.326 31,12 ........................ 310.315.319.326 31,13 .......................................... 316f. 31,14 ............................................ 317
31,15 .......................................... 318f. 31,16 ......................................... 320f. 31,17 ............................................ 322 31,18f. ................................... 308.322 31,20 ............................................ 322 31,21 ............................................ 323 31,22 ......................................... 324f. 31,23 ............................................ 325 31,27 ............................................ 184 Ijob 1,8 ................................................ 170 5,24 ............................................. 238 12,1–25 ........................................ 241 12,18 ......................................... 240f. 13,15 ............................................ 170 15,18f. .......................................... 157 21,8 .............................................. 201 21,11 ........................................... 202 27,5 ................................................. 1 34,29 ............................................ 201 36,3 .............................................. 314 Rut 1 ................................................... 77 1,11.16 .......................................... 345 2,4 ............................................... 170 2,14 .............................................. 212 3,6 ............................................... 268 4 ................................................... 72 4,17 .............................................. 157 Hohelied (Hld) 3,11 .............................................. 155 4,12f. ........................................... 205 Kohelet (Koh) 5,4 ............................................... 207 7,28 ............................................. 205 Klagelieder (Klgl) 3,16 ............................................... 53
Stellenregister
383
Ester (Est) 1,22 ............................................. 258 2,7 ................................................ 259 2,20 ............................................ 254 2,22 ............................................. 152 3,10 .............................................. 247 4,4 ............................................... 254 5,1 ............................................... 256 7,5 ............................................. 208f. 9,31f. ............................................ 257
Neues Testament
Daniel (Dan) 6,1 ............................................... 209 11,1 ............................................. 209
Jüdisch-hellenistische Schriften
Esra (Esr) 2,3.5.6.8.15.35 .............................. 168 10,9 ............................................... 90
2 Makk 7 ...................................... 69 4 Makk 14,29 ............................... 70 4 Makk 16,20 ............................... 70 Jub 30,2 ....................................... 338 Jub 34,15 ..................................... 338 Jub 41,1–28 ................................. 263 TestXII.Jud 12,3 ......................... 263 Josephus, A.J. 1,6,5 .................... 249 Josephus, A.J. 2,206f. ................. 350 LAB XX,8 ................................... 45
Nehemia (Neh) 7,5.10f.13.20.38 ............................ 168 1 Chronik (1 Chr) 2,18 ............................................. 123 3,17 ............................................. 203 4,5.7 ............................................ 124 4,18 .............................................. 213 7,27 ............................................. 258 12,19 ........................................... 256 2 Chronik (2 Chr) 8,11 .............................................. 215 15,16 ............................................ 157 22,7 .............................................. 157 29,27 ............................................ 169 32,30 ............................................ 169 34,22–28 ...................................... 255
Apg 4,36f. .................................... 144 Apg 9,27 ...................................... 144 Apg 11,22–30 .............................. 144 Apg 13–15 ................................... 144 Gal 4 ............................................ 172 1 Tim 2,15 .................................. 292
Qumran 4Q277 1 II,7 ................................ 144
Rabbinische Literatur Mischna Ar 9,6f. ........................................ 169
384 Stellenregister Av 1,1 ................................... 169.286 Av 1,2 ................................. 285f.293 Av 1,3 .......................................... 138 Av 1,5 ......................................... 285 Av 1,12 ........................................ 169 Av 2,7 ......................................... 285 Av 3,1 ......................................... 287 Av 3,7 .......................................... 169 Av 3,11 ........................................ 167 Av 5,2f. ........................................ 167 Av 5,6 ............................. 164.167.169 Av 5,16 ................................. 152.169 Av 5,17–19 ................................... 169 Av 6,3 .......................................... 169 Av 6,6 ............................. 152.155.169 Av 6,9 .......................................... 169 Av 6,10 ........................................ 167 AZ 3,3 ......................................... 159 BB 2,9 ......................................... 159 BB 8,3 ...................... 153.155.161.169 Bekh 1,7 ...................................... 271 Ber 6,8 ......................................... 159 Ber 9,1 ......................................... 168 Ber 9,5 ......................................... 170 Bik 1,4 ......................................... 168 Bik 3,6 ......................................... 168 BM 1,8 ......................................... 169 BM 2,8 ........................................ 169 BM 3,4f. ...................................... 169 BM 7,1 ................................. 167–169 BQ 8,6f. ....................................... 167 BQ 8,6 ......................................... 168 BQ 9,12 ....................................... 170 Ed 2,10 ........................................ 170 Ed 8,7 .......................................... 169
Git 2,3 ........................................ 104 Git 2,5 ......................................... 105 Git 3,1 ....................................... 104f. Git 8,2 ......................................... 106 Git 9,3 .......................................... 106 Git 9,10 ......................................... 96 Hag 1,1 ........................................ 159 Hul 7,6 ......................................... 168 Hul 10,1 ....................................... 169 Kel 17,9 ....................................... 169 Ket 4,12 ........................................ 83 Ket 7,6 ......................................... 169 Ket 7,10 ...................................... 99f. Ket 11,12f. .................................... 83 Mak 2,7 ................................ 152.169 Meg 1,1 ........................................ 169 Meg 3,6 ....................................... 169 Meg 4,10 .......... 153.155.158.160.168f. Men 11,5 ...................................... 168 Mid 1,3 ........................................ 157 Mid 2,6 .................................. 157.169 Mid 3,8 ........................................ 170 Mid 4,2.7 ..................................... 169 Mid 5,4 ........................................ 169 Miq 8,5 ....................................... 120 MQ 3,8 .......................................... 33 MSh 5,13 .............................. 154.168 Naz 1,2 .................................. 151.169 Naz 9,5 ........................................ 169
Stellenregister
385
Ned 2,1 ........................................ 169 Ned 3,11 ......................... 153.167.169 Ned 9,10 ............................... 154.169 Ned 11,12 ..................................... 159
Shab 2,6 ................................ 284.291 Shab 10,3 ..................................... 168 Shab 11,2 ..................................... 168 Shab 12,3 ............................. 167–169
Neg 1,4 ........................................ 119 Neg 2,4 ..................................... 120f. Neg 2,5 ........................................ 115 Neg 3,1 ........................................ 119 Neg 3,2 ........................................ 114
Sheq 1,5 ....................................... 170 Sheq 2,5 ...................................... 169 Sheq 6,3 ................................. 157.169
Ohal 15,7 ..................................... 169 Orl 1,2 ......................................... 168 Par 3–5 ........................................ 143 Par 3,2.4 ...................................... 143 Par 3,5 ...................................... 169f. Par 5,4 ................................... 143.145 Par 8,11 ........................................ 169 Par 12,10 ................................... 142f. Pea 2,2.6 ...................................... 168 Pes 4,9 ......................................... 169 Pes 10,4–6 ................................... 168 Qid 3,4 ...................................... 168f. Qid 4,14 .......................... 159.167.169 RHSh 2,9 .................................. 168f. RHSh 3,8 ..................................... 169 San 1,6 ......................................... 169 San 2,2 ................................. 153.169 San 2,3 ........................................ 169 San 2,4 ................................. 155.162 San 4,5 ................................. 159.167 San 5,1 ......................................... 159 San 6,2 ........................................ 169 San 10,2f. .................................... 169
Sot 1,7–9 ...................................... 161 Sot 1,8 ..................... 153f.157.159.169 Sot 1,9 ............. 152.155.160.168f.250 Sot 3,4 .......................................... 62 Sot 5,4 .................................. 164.169 Sot 5,5 ......................................... 170 Sot 7,5 ......................................... 167 Sot 7,6 .......................................... 169 Sot 8,1 ...................................... 168f. Sot 9,6 ......................................... 160 Sot 9,9 ......................................... 130 Sot 9,15 ........................................ 169 Taan 2,3 ....................................... 169 Taan 2,4f. .................................... 167 Taan 2,4 .................................... 169f. Taan 2,5 .................................... 168f. Taan 4,5 ....................................... 168 Taan 4,8 ....................................... 155 Tam 3,7 ........................................ 169 Tam 7,2 ........................................ 169 Ter 2,2 ......................................... 168 Ter 8,12 ........................................ 159 Yad 4,3 ........................................ 169 Yad 4,4 ................................. 169.270 Yad 4,8 ........................................ 169 Yev 2,1 .......................................... 76 Yev 3 ............................................ 78 Yev 4,2 .......................................... 74 Yev 4,3 ......................................... 83
386 Stellenregister Yev 4,4 ......................................... 79 Yev 4,5 ......................................... 77 Yev 4,7 ........................................... 74 Yev 4,9 ......................................... 78 Yev 4,10 ........................................ 82 Yev 6,1 ......................................... 79 Yev 6,2 ......................................... 83 Yev 6,6 ................................. 101.154 Yev 8,13 ...................................... 269 Yev 10,1 ....................................... 101 Yev 10,3 ........................................ 74 Yev 13,2 ...................................... 103 Yev 13,4 ...................................... 104 Yev 14,1 ............................... 89.95.98
BQ 7,3f. ....................................... 158
Yom 3,8 ....................................... 168 Yom 4,2 .................................... 168f. Yom 6,2 ....................................... 168 Yom 6,3 ....................................... 143
Par 3,2 ......................................... 143 Par 5,7 ......................................... 145
Zev 12,1 ...................................... 169
RHSh 2,13 ............................. 157.163
Tosefta AZ 3,19 ......................... 157–159.162 BB 1,11 ........................... 157.159.165 BB 7,8 ............................. 153.155.161 Ber 1,12 ....................................... 163 Ber 1,13 ................................. 157.163 Ber 3,5 ......................................... 159 Ber 3,6 ............................ 157.159.165 Ber 3,7 ......................................... 159 Ber 4,16 ....................................... 159 Ber 4,17f. ........................ 157.159.162 Ber 4,17 ....................................... 164 Ber 5,2 ......................................... 158 Ber 6,23 ....................................... 154 Ber 7,18 ......................................... 18 Bik 2,16 ....................................... 274
Git 6,1 .......................................... 106 Hag 1,1 ........................... 157.159.165 Ket 12,1 ........................................ 97 Meg 3,6 ................................. 157.163 Meg 3,31–36 ................... 157.160.162 Meg 3,31 ............................... 153.155 Neg 1,5 ........................................ 121 Neg 6,2 .................................. 157.165
Qid 5,16–21 .................... 157.159.164
San 4,2 ........................................ 153 San 4,5 ..................... 153.155.157.162 San 4,11 ................................. 157.162 San 4,17f. ..................................... 159 San 8,9 .......................... 157–159.197 San 13,3 ................................. 157.165 Sot 3,9 ................................... 157.162 Sot 3,15 ..................... 153.157.159.162 Sot 3,16 ........................................ 153 Sot 4,3 ......................................... 158 Sot 4,7 ............................ 157.160.164 Sot 4,8 ......................................... 160 Sot 4,16f. ..................................... 157 Sot 4,17 ........................................ 162 Sot 5,12 .................... 157.159.163f.168 Sot 6,4 ......................................... 164 Sot 6,6 ................................... 157.163 Sot 7,9 .......................................... 157 Sot 8,3f. ....................................... 164 Sot 8,4 ......................................... 157
Stellenregister Sot 9,2f. ....................................... 160 Sot 9,3 .................................. 157.164 Sot 9,4 ......................................... 157 Sot 11,1 ................................. 157.164 Sot 11,8 .................. 19.45.157.164.199 Sot 11,17–20 .......................... 157.165 Sot 12,3 ................................. 157.162 Sot 15,15 ...................................... 158 Ter 7,20 ........................... 157.159.165 Yev 8,4 ........................................ 154
Yerushalmi AZ 1,2 (39c) ................................ 217 Ber 2,3 (4c) ................................... 29 Ber 3,4 (6c) ................................... 62 Ber 4,1 (7a) .................................. 252 Ber 9,3 (14a) ................................ 331 Er 10,1 (26a) ........................... 29.260 Git 1,1 (43a) ................................. 102 Hag 2,1 (77c) ............................... 274 Ket 12,3 (35b) ............................... 25 Kil 9,3 (32c) .................................. 25 MQ 3,1 (81d) ................................ 57 San 4,13 (22c) .............................. 197 San 10,1 (27d) .............................. 198 San 10,2 (29d) ............................ 204 Shab 2,6 (5b) ............................... 291 Sot 3,4 (19a) ................................ 62f.
387 Yev 2,4 (3d) ................................ 204 Yom 1,1 (38b) ............................. 31f.
Bavli AZ 17b–18a ................................... 15 BB 17a .......................................... 34 BB 58a ............................... 225.229f. Bekh 34b ..................................... 114 Ber 10a ......................................... 54 Ber 10b ....................................... 204 Ber 31a–b .................................... 139 Ber 31a ........................................ 139 Ber 31b ............. 23.130–140.238.252 Ber 40a ........................................ 197 Ber 60a ...................................... 331f. Ber 61a ....................................... 290 BM 86b ........................................ 25 BM 87a ............................... 238.241f. BQ 92b ........................................ 180 Er 18a ......................................... 290 Er 53a ......................................... 279 Er 53b–54a ................................... 54 Er 53b ......................................... 68f. Er 63b ........................................... 57 Git 26b ........................................ 102 Git 57a ........................................... 71 Git 57b ......................................... 70 Git 90a .......................................... 96 Git 90b ......................................... 93 Hag 12a ...................................... 290 Hor 10b ................................ 270–276
388 Stellenregister Hul 5a ........................................... 57 Hul 60a ......................................... 64 Hul 92a ....................................... 29f. Hul 109b ....................................... 56 Hul 139b ..................................... 248 Ket 3a .......................................... 102 Ket 17a ........................................ 278 Ket 27b .......................................... 91 Ket 63a ......................................... 58 Meg 10a–17a .............................. 246 Meg 13a ................................ 214.249 Meg 14a–15a ...................... 246–262 Meg 14a–b .................................. 223 Meg 14a ........................ 246–251.253 Meg 14b .............................. 259f.261 Meg 15a ................................ 227.259 Meg 16a .................................... 208f. Meg 16b ..................................... 256 Meg 18a ........................................ 57 Meg 25b ...................................... 163 Men 29b ...................................... 148 MQ 7b ......................................... 114 MQ 17a ......................................... 57 MQ 27b–28a ................................ 32 Naz 23a .............................. 270f.276 Naz 23b ....................................... 211 Ned 50a ........................................ 58 Pes 50b ........................................ 274 Pes 66b ........................................ 257 Pes 113b ...................................... 93f. Qid 81b ........................................ 278 RHSh 17b ..................................... 64 RHSh 26b ..................................... 57
San 38a ........................................ 197 San 38b ....................................... 290 San 39a ......................................... 65 San 39b ....................................... 229 San 51b ........................................ 148 San 70a ........................................ 197 San 90b ........................................ 64 San 99b .................................... 224f. Shab 13a ...................................... 278 Shab 32a ...................................... 139 Shab 56a ...................................... 216 Shab 56b ...................................... 217 Shab 152a .................................... 255 Sot 11b–13a ............................ 36.250 Sot 11b–12a ................................ 124 Sot 12a–13a ................................ 250 Sot 12a ........................................ 126 Sot 12b ........................................ 214 Sot 13a ........................................ 279 Suk 21a ........................................ 144 Taan 4a ......................................... 68 Taan 5b ....................................... 260 Taan 9a ................................... 23.199 Taan 23b ........................................ 55 Yev 62b ...................................... 238 Yev 65b ...................................... 200 Yev 93b–94a ................................ 85 Yev 103a ...................................... 211 Yev 106a–b ................................ 85f. Yev 107b–108a ............................ 103 Yev 109a ....................................... 85 Yom 43a ...................................... 143 Yom 66b ....................................... 63 Zev 102a ...................................... 196
Stellenregister Außerkanonische Traktate ARN A 1 .................... 286f.289f.293 ARN A 4–5 ................................ 293 ARN A 4 .................................. 285f. ARN A 19 .................................. 288 ARN B 1 ............... 286.289–291.293 ARN B 5–8 ................................ 293 ARN B 5 .................................... 293 ARN B 8f. ........................ 285f.293f. ARN B 8 ....................... 290.293.296 ARN B 9 ............................. 291–293 ARN B 32 .................................. 288 ARN B 42 ............................ 286.291 Sem 12,13 ..................................... 52
Halakhische Midraschim MekhSh 14,6 ............................... 181 MekhY Beshallach 1 ................... 181 MekhY Pisḥa 14 ............................ 61 MekhY Pisḥa 17 ........................... 29 MekhY Shira 10 ...... 18.21.36.38.250 SifBam 11 ................................... 147 SifBam 19 ................................. 135f. SifBam 42 .................................. 200 SifBam 78 ....................... 36.125.259 SifBam 88 .................................. 203 SifBam 92 ................................... 181 SifBam 99 .................................. 21f. SifBam 124 ......................... 142f.145 SifBam 129 .................... 140.143.145 SifBam 133 ................................. 161 SifBam 141 ................................. 181 SifDev 33 ................................... 203 SifDev 48 ................................... 306 SifDev 249 ................................. 269
389 SifDev 288 .............................. 76–78 SifDev 307 ............................... 23.50 Sifra Beḥuqqotai par. 2, per. 8,7 . 198 Sifra ’Emor par. 14, per. 18,4 ..... 207 Sifra Metsora‘ par. 5,7f. ............. 21f. Sifra Qedoshim par. 4, per. 9 ...... 317 Sifra Tazri‘a Nega‘im par. 5, per. 7,1................................... 115 Sifra Tsaw, Mekhilta de-Milu’im 2 ......................... 181 Sifre Zuta 2f. ............................... 143 Sifre Zuta 4–7 ............................. 142 Sifre Zuta 5,28 .......................... 135f. Sifre Zuta 8 ................................. 142 Sifre Zuta 10,28 ........................... 259 Sifre Zuta 12,1 ............................ 126 Sifre Zuta 19,8 ............................. 140 Sifre Zuta 19,9 ............................. 142
Haggadische Midraschim BamR 1,2 .................................... 199 BamR 3,6 ................................... 205 BamR 10,4 ......................... 197.216f. BamR 10,8 .................................. 197 BamR 11,7 .................................. 200 BamR 13,20 ................................ 199 BamR 15,16 ................................ 203 BamR 20,22 ............................... 205 BamR 21,20 ................................ 212 BerR 8,1 ............................... 197.289 BerR 8,12 ................................... 207 BerR 15,4 .................................... 311 BerR 15,7 ..................................... 197 BerR 15,20 .................................. 313 BerR 17,3 .................................... 97f. BerR 17,7 .............................. 64f.294 BerR 17,8 ..................................... 291 BerR 18,2 ..................... 42f.220–223
390 Stellenregister BerR 20,20 ................................. 279 BerR 21,3 ................................... 289 BerR 24,2 ................................... 290 BerR 36,1 .................................... 201 BerR 39,14 ................... 223–225.244 BerR 40,5 .................... 225–230.244 BerR 40,17 ................................... 174 BerR 45,1 ..................... 173–175.306 BerR 45,3 ....................... 178.181.189 BerR 45,4 ............................. 178.186 BerR 45,5 .................. 43.180.187.223 BerR 45,6 ....................... 179.187.189 BerR 45,7 .............................. 180.184 BerR 45,10 ............................ 184.191 BerR 47,2 ........................... 230–236 BerR 48,18 ............................ 200.324 BerR 48,19 ......................... 230–236 BerR 49,2 .................................... 311 BerR 51,10 .................................. 268 BerR 51,36 .................................. 269 BerR 53,5 ........................... 230–236 BerR 53,6 ........................... 236–238 BerR 53,9 ............................ 238–242 BerR 53,13 .................... 180.185.187f. BerR 53,14 ............... 180.182.185.187 BerR 53,15 ................................... 185 BerR 58,8 .................................... 321 BerR 60,14 ................................... 186 BerR 61,4 .............................. 186.190 BerR 62,3 .................................... 321 BerR 63,9 .................................... 338 BerR 70 ........................................ 68 BerR 70,8 ................................ 26.46 BerR 71 ...................................... 190 BerR 75,4 .................................... 184 BerR 80,1 ............................. 207.337 BerR 80,5 ................................... 42f. BerR 80,10 .................................... 26 BerR 80,11 ................................... 336 BerR 82 ....................................... 182 BerR 85,2 ................................... 267 BerR 85,11.15 ............................. 266 BerR 88,5 ................................. 27.29
BerR 91,6 ..................................... 339 BerR 99,7 ................................... 340 DevR 7,5 ..................................... 214 EkhaR 1,1 ................................... 67f. EkhaR 1,41 ................................. 209 EkhaR 3,6 ................................. 23.52 EstR 3,2 ....................................... 210 EstR 8,3 ...................................... 209 EstR 10,4 .................................... 208 MidTeh 139,5 ............................. 290 MMish 14,1 .................................. 38 PesK 4 ........................................ 306 PesK 6,2 ...................................... 212 PesK 11,6 .................................... 205 PesK 12 .................................... 306f. PesK 20,6 .................................... 197 PesK 26,2 .................................... 196 PesK 26,11 .................................... 32 QohR 2,2,2 .................................. 196 QohR 5,4,1 ................................. 207 QohR 5,5 ...................................... 25 QohR 7,28,1 ............................... 205 QohR 10 ...................................... 338 RutR 7,9 ..................................... 269 ShemR 1,13 ................................ 250 ShirR 4,5,2 .................................. 199 ShirR 4,9,1 .................................. 206 ShirR 4,12,1 ................................ 205 ShirR 6,4,1 ................................. 206 Tan Aḥare 1 ................................ 196 Tan Beha‘alotkha 10 ................... 203 Tan Bemidbar 2 ............................ 47
Stellenregister Tan Beshallaḥ 5 ............................. 41 Tan Ḥuqqat 1 ................................ 25 Tan Metsora‘ 2 .............................. 41 Tan Pinḥas 13 .............................. 212 Tan Shemini 2 ............................. 196 Tan Shemini 8 ............................ 209 Tan Tsaw 7 ................................. 200 Tan Wa-yaqhel 4 ........................ 207 Tan Wa-yeshev 2 ......................... 336 Tan Wa-yetse 8 .......................... 331f. Tan Wa-yiqra 6 ............................ 210 Tan Wa-yishlaḥ 8 ....................... 207 TanB Aḥare 2 .............................. 196 TanB Balaq 25 ........................... 205 TanB Bemidbar 2 ......................... 47 TanB Beshallaḥ 6 .......................... 41 TanB Bo 16 ................................ 203 TanB Ḥuqqat 1 ............................. 47 TanB Lekh lekha 8 ..................... 229 TanB Metsora‘ 6 ........................... 41 TanB Shemini 3 .......................... 196 TanB Shemini 14 ....................... 209 TanB Tsaw 10 ............................. 200 TanB Wa-yaqhel 3 ...................... 207 TanB Wa-yaqhel 5 ........................ 44 TanB Wa-yeshev 6 ....................... 42 TanB Wa-yetse 19 ....................... 331 TanB Wa-yiqra 10 ....................... 210 TanB Wa-yishlaḥ 17 ..................... 42 TanB Wa-yishlaḥ 19 .................... 338 TanB Wa-yishlaḥ 20 .................. 207 WaR 1,3 ....................................... 212 WaR 1,9 ....................................... 198 WaR 2,1 ................................ 198.205 WaR 2,7.8–10 .............................. 198 WaR 4,1 ...................................... 200 WaR 5,1 ...................................... 200 WaR 7,6 ...................................... 200 WaR 9,9 ................................ 198.200 WaR 10,1 .................................... 200 WaR 10,5 ..................................... 198
391 WaR 11,1 ..................................... 197 WaR 11,7 .................................... 200 WaR 12,1 ..................................... 197 WaR 12,5 ...................... 200.202.216 WaR 13,2 .................................... 206 WaR 13,5 .................................. 208f. WaR 14,1 ............................ 197f.290 WaR 14,2 ..................................... 314 WaR 14,8 .................................... 207 WaR 15,5 .................................... 122 WaR 15,8 ..................................... 199 WaR 16,1 .................................. 198f. WaR 16,5 ..................................... 199 WaR 17,3 ..................................... 199 WaR 18,2 ...................... 197f.211.290 WaR 19,2 .............................. 198.215 WaR 19,6 .............................. 203.210 WaR 20,2 ............................. 196.198 WaR 20,12 .............................. 32.199 WaR 21,11 ................................... 198 WaR 22,3 ................................... 200 WaR 22,4 ............................... 25.199 WaR 23,1 ..................................... 198 WaR 23,9–11 .............................. 203 WaR 23,9 ..................................... 211 WaR 23,10 ................................... 211 WaR 23,11 ............................ 203.212 WaR 24,6 .............................. 203.205 WaR 25,2 ..................................... 198 WaR 26,8 .................................... 208 WaR 27,1 .................................... 200 WaR 27,4 ..................................... 198 WaR 27,5 .................................... 200 WaR 27,6 ..................................... 199 WaR 28,4.6 ................................. 208 WaR 29,1.12 ................................ 198 WaR 31,4 ..................................... 199 WaR 31,9 ..................................... 198 WaR 32,3 .................................... 209 WaR 32,5 ............... 198.203.205f.208 WaR 34,8 .................................. 212f. WaR 37,1 .............................. 198.207 WaR 37,4 ..................................... 198
392 Stellenregister
Andere Haggadawerke
Targum
Midrasch Tadsche .............. 346–348
Tg. Ps.-J. zu Gen 30,21 ................ 331 Tg. Ps.-J. zu Num 19,9 ................. 144
PRE 16 ........................................ 174 PRE 30 ............................... 180.185f. PRE 32 ........................................ 338 PRE 33 ....................................... 204 PRE 38 ................................. 336.338 PRE 45 ....................................... 206 PRE 50 ....................................... 208 SOR 7 ............................................ 33 SOR 21 ........ 246f.249–251.253.255f. Yalq Bereshit 67 ......................... 229
Liturgische Dichtung (Pijjut) Aḥat Sha’alti ........................ 295–298
Patristische Schriften Barnabasbrief 8,1–4 .................... 144
Autor*innen Judith R. Baskin ist Philip H. Knight Professor Emerita in Humanities am Department of Religious Studies des College of Art and Sciences an der University of Oregon. Yuval Blankovsky ist Mitarbeiter am Henrietta Szold Institute, The National Institute for Research in the Behavioral Sciences, in Jerusalem. Constanza Cordoni ist Post-Doc Research Fellow am Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft der Universität Graz. Alexander A. Dubrau ist Research Fellow für Judaistik am Seminar für Religionswissenschaft und Judaistik/Institutum Judaicum der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Tübingen. Cecilia Haendler ist Doktorandin am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin. Tal Ilan ist Professorin für Judaistik an der Freien Universität Berlin. Gail Labovitz ist Professor of Rabbinic Literature an der Ziegler School of Rabbinic Studies der American Jewish University, Los Angeles. Moshe Lavee ist Senior Lecturer für Talmud und Midrasch am Department of Jewish History der Universität Haifa sowie Co-Director des Bachelorprogramms für Digital Humanities und des eLijah-Lab für Digital Jewish Studies Research. Lorena Miralles-Maciá ist assoziierte Professorin am Department für Semitische Studien (Hebräische und Aramäische Studien) der Universität von Granada. Ronit Nikolsky ist Assistant Professor für Culture and Cognition an der Universität Groningen. Susanne Plietzsch ist Professorin für Judaistik und Leiterin des Zentrums für Jüdische Kulturgeschichte an der Universität Salzburg.
394 Autor*innen Natalie C. Polzer ist assoziierte Professorin für Jewish and Religious Studies an der University of Louisville. Olga Ruiz-Morell ist Lehrbeauftragte für Jüdische Studien am Department für Semitische Studien (Hebräische und Aramäische Studien) der Universität von Granada. Devora Steinmetz lehrt am Drisha Institute und am Mandel Institute for Nonprofit Leadership; sie ist Gastprofessorin am Hebrew College Rabbinical School. Christiane Hannah Tzuberi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin und Lehrbeauftragte am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück. Dvora Weisberg ist Rabbi Aaron D. Panken Professorin für Rabbinistik am Hebrew Union College – Jewish Institute of Religion.
Die auf 21 Bände angelegte internationale, in den vier Sprachen Deutsch, Englisch, Italienisch und Spanisch erscheinende Enzyklopädie „Die Bibel und die Frauen“ setzt sich zum Ziel, eine Rezeptionsgeschichte der Bibel, konzentriert auf genderrelevante biblische Themen, auf biblische Frauenfiguren und auf Frauen, die durch die Geschichte hindurch bis auf den heutigen Tag die Bibel auslegten, zu präsentieren. Christliche und jüdische Forscherinnen und Forscher aus den Wissenschaftstraditionen der vier Sprachräume erarbeiten dieses interdisziplinäre Werk, das theologische, archäologische, ikonographische, kunsthistorische, philosophische, literaturwissenschaftliche und sozialgeschichtliche Genderforschung miteinander ins Gespräch bringen und neue Untersuchungen anregen will. Im Zentrum des Interesses stehen • literarische Frauenfiguren der Bibel und • deren Rezeption in der Exegesegeschichte durch Exegeten und Exegetinnen, • geschlechtsspezifische Lebenszusammenhänge in biblischen Zeiten, • Frauen, die in bestimmten Epochen und Auslegungstraditionen die Bibel interpretierten, • Frauen, denen biblische Texte oder deren Auslegung zugeschrieben werden, • genderrelevante Texte (z.B. Rechtstexte) und Themen (z.B. kultische Reinheit), • die Rezeption biblischer Frauenfiguren und genderrelevanter Themen in der Kunst. 1. Hebräische Bibel – Altes Testament 1.1 Tora: Irmtraud Fischer/ Mercedes Navarro Puerto/Andrea Taschl-Erber (Hrsg.) 1.2 Prophetie: Irmtraud Fischer/Juliana Claassens (Hrsg.) 1.3 Schriften: Christl Maier/ Nuria Calduch-Benages (Hrsg.) 2. Neues Testament 2.1 Evangelien. Erzählungen und Geschichte: Mercedes Navarro Puerto/Marinella Perroni (Hrsg.) 2.2 Neutestamentliche Briefliteratur: Korinna Zamfir/Uta Poplutz (Hrsg.) 3. Pseudepigraphische und apokryphe Schriften 3.1 Frühjüdische Schriften: Eileen Schuller/ Marie-Theres Wacker (Hrsg.)
3.2 Frauentexte und apokryph gewordene Schriften des frühen Christentums: Silke Petersen/Outi Lehtipuu (Hrsg.) 4. Jüdische Auslegung 4.1 Talmud: Tal Ilan/Lorena Miralles-Maciá/ Ronit Nikolsky (Hrsg.) 4.2 Das jüdisches Mittelalter: Carol Bakhos/Gerhard Langer (Hrsg.) 5. Patristische Zeit 5.1 Christliche Autoren der Antike: Kari Elisabeth Børresen/Emanuela Prinzivalli (Hrsg.) 5.2 Biblische Frauenfiguren in der Exegese der Patristik: Agnethe Siquans/Markus Vinzent (Hrsg.) 6. Mittelalter und frühe Neuzeit 6.1 Frühmittelalter: Franca Ela Consolino/ Judith Herrin (Hrsg.) 6.2 Frauen und Bibel im Mittelalter: Adriana Valerio/Kari Elisabeth Børresen (Hrsg.) 6.3 Renaissance und „Querelle des femmes“: Ángela Muñoz Fernandez/Xenia von Tippelskirch (Hrsg.) 7. Zeit der Reformen und Revolutionen 7.1 Reformation und Gegenreformation in Nordund Mitteleuropa: Charlotte Methuen /Gury Schneider-Ludorff/ Lothar Vogel (Hrsg.) 7.2 Das katholische Europa im 16.-18. Jahrhundert: Maria Laura Giordano/Adriana Valerio (Hrsg.) 7.3 Aufklärung und Restauration: Ute Gause/Marina Caffiero (Hrsg.) 8. 19. Jahrhundert 8.1 Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts: Irmtraud Fischer/Angela Berlis/Christiana de Groot (Hrsg.) 8.2 Fromme Lektüre und kritische Exegese im langen 19. Jahrhundert: Michaela Sohn-Kronthaler/Ruth Albrecht (Hrsg.) 9. 20. Jahrhundert und Gegenwart 9.1 Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert: Elisabeth Schüssler Fiorenza/Renate Jost (Hrsg.) 9.2 Aktuelle Tendenzen: Maria Cristina Bartolomei/Ilse Müllner/ Lidia Rodríguez Fernández /Mary Ann Beavis (Hrsg.)