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German Pages 329 [331] Year 2020
Die Bibel und die Frauen Eine exegetisch-kulturgeschichtliche Enzyklopädie Herausgegeben von Irmtraud Fischer Mercedes Navarro Puerto Adriana Valerio Mary Ann Beavis Jüdische Auslegung Band 4.2
Carol Bakhos Gerhard Langer (Hrsg.)
Das jüdische Mittelalter Deutsche Ausgabe herausgegeben von Gerhard Langer unter Mitarbeit von Esther Heiss
Verlag W. Kohlhammer
Die Herausgabe des Werkes wird unterstützt durch
Evangelischer Oberkirchenrat A. u. H. B. in Österreich
1. Auflage 2020 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-038140-7 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-038141-4 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Vorwort
Mit diesem Band liegt ein Überblick über einen wichtigen Teil der jüdischen Rezeption der Bibel vor. Bereits im November 2014 fand in Wien ein internationales Forschungskolloquium mit den Reihenherausgeberinnen und einer Gruppe von namhaften Forscher_innen statt, das dankenswerter Weise von der Universität Wien und der Universität Graz gefördert wurde. Im Nachhall wurden wichtige Entscheidungen getroffen, welche den Umfang des Bandes und die Zeitepoche betrafen, die er abdecken sollte. Nach einigen Verzögerungen erscheint der Band nun hier in deutscher Sprache. Besonderer Dank gebührt dem Evangelischen Oberkirchenrat A. u. H. B. für die großzügige Unterstützung. Ebenso herzlich bedankt sei Em. Univ. Prof. Dr. Johannes Marböck, der auf großzügige Weise Übersetzungen gefördert hat. Dank gebührt DDr. Constanza Cordoni für viele Arbeiten im Rahmen der Tagung und der Aufbereitung des Themas. Einige Übersetzungen hat Dr. Martin Stechauner übernommen, der hier bedankt werden soll. Immer mit Rat und Tat stand Dr. Patrick Marko zur Seite. Vor allem aber gebührt Esther Heiss (BA BA MA MA) Dank und Anerkennung. Ohne ihre unermüdliche Arbeit an den Texten (Übersetzungen, Formatierungen, Korrekturen, Layout, Adaptieren der Literatur, Vereinheitlichungen der Titelnotierungen, Erstellen eines Registers) gäbe es diesen Band nicht. Wien, im April 2020, Gerhard Langer
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG Gerhard Langer ........................................................................................
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GRUNDLEGENDES Elisheva Baumgarten Rolle und Alltagsleben jüdischer Frauen im mittelalterlichen Aschkenas ....................................................................... 19 I. SPÄTE MIDRASCH-LITERATUR Constanza Cordoni „Wenn du in diesen Tagen schweigst“ (Est 4,14): Zur mittelalterlichen biblischen Heldin Ester ............................................ 37 Dagmar Börner-Klein Judit in der hebräischen Literatur des Mittelalters ..................................... 57 II. KOMMENTARLITERATUR Gerhard Langer Die Tradition um Eva in den Kommentaren von Raschi und Ramban ........................................................................... 71 Carol Bakhos Sara und Hagar in der mittelalterlichen jüdischen Kommentarliteratur ................................................................................... 88 Robert A. Harris Die Stimme der Frau: Das Hohelied in der rabbinischen Exegese des 12. Jahrhunderts .............................................. 100 Sheila Tuller Keiter Die Ironie der Eschet Chajil: Sprüche 31,10–31 in der mittelalterlichen jüdischen Exegese ............................................... 132
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Inhaltsverzeichnis
III. CHASSIDE ASCHKENAS Judith R. Baskin Repräsentationen biblischer Frauen in den Schriften der Chasside Aschkenas ............................................................ 151 IV. POESIE UND PIJJUT Meret Gutmann-Grün Die Frauenfigur Zion in der Gebetsliteratur von al-Andalus .......................................................................................... 168 Aurora Salvatierra Ossorio Biblische Frauen in der hebräischen Poesie von al-Andalus .......................................................................................... 192 V. MYSTIK Rachel Elior Die Entwicklung der weiblichen Dimension Gottes in der mystischen Tradition ...................................................................... 206 Felicia Waldman Die biblische Frau, die in der Bibel nicht erwähnt wird: Bilder des Weiblichen in der Kabbala ...................................................... 229 Yuval Katz-Wilfing Rut als Konvertitin im Sohar .................................................................... 243 VI. KUNST Katrin Kogman-Appel Weibliche Protagonistinnen in der jüdischen Buchkunst des Mittelalters ........................................................................ 264
Bibliographie ............................................................................................ 302 Stellenregister ........................................................................................... 322
Einleitung Gerhard Langer
Mittelalter bedeutet in den Augen vieler eine finstere Zeit, eine Welt der Angst, des Aberglaubens und des religiösen Fanatismus. In Bezug auf das Judentum denkt man dabei auch an die Kreuzzüge, an Blutbeschuldigungen, Hostienfrevelvorwürfe, Verfolgungen, Pogrome, Vertreibungen. Aber das Mittelalter war auch die Zeit der blühenden Gemeinden, eines regen Kulturaustausches und wichtiger Innovationen in allen Bereichen. Das heutige Judentum in Philosophie, Praxis und Ritual wäre nicht denkbar ohne die prägende Phase der mittelalterlichen Entwicklung. Sie beginnt im Grunde bereits nach der arabischen Eroberung des Landes im 7. Jh. und endet eigentlich erst mit der jüdischen Aufklärung im 18. Jh. Wir haben aus pragmatischen Gründen die Epoche jedoch eingegrenzt und die frühe Neuzeit (fast) ausgeklammert. Im Mittelalter entstehen die großen Handschriften der Traditionsliteratur, hier finden Gebete, Feste und Feiern ihre entscheidende Ausformung. Gattungen der rabbinischen Zeit werden weitergeführt, wie etwa die Schriftauslegung im Midrasch oder der Pijjut, die liturgische Dichtung. Der Talmud erhält seine letzte wichtige Redaktion. Neue Gattungen entstehen, so der Kommentar zu den entscheidenden Quellen der Tradition. Die narrativen Überlieferungen mehren sich rapid, genauso aber auch die fachkundige Auslegung des Rechts, der Halakha, die mit dem Schulchan Arukh zu ihrer Blüte gelangt. Die heilige hebräische Sprache wird auf neue Art und Weise in den Mittelpunkt gestellt, Grammatiken und Wörterbücher entstehen. Die Philosophie bahnt sich unaufhaltsam ihren Weg in engem Kontakt mit Christentum und Islam. Und ein in der Spätantike nur zartes Pflänzchen sprießt nun in gigantische Höhe, die Mystik. Mit der Kabbala eröffnen sich neue Zugänge zu Religion und Kultur. Im Zentrum der rabbinischen Spätantike stand zweifellos die Gabe der Tora am Sinai an das Volk und Mose. Die rabbinische Bewegung wollte die (jüdische) Welt – gewissermaßen horizontal – auf der Basis der Tora verstehen und gestalten, ihr Interesse an himmlischen Dingen und Esoterik war verhältnismäßig gering und sie warnte vor ihren Gefahren. Die Mystik hingegen lenkte nun ihre Aufmerksamkeit gegen den Himmel. Der Blick war vertikal den Geheimnissen des göttlichen ‚Innenlebens‘ zugewannt. Die Lehre von den Emanationen Gottes, den Seelenwanderungen und -funken, der mit den himmlischen Welten verbundenen Symbole, Buchstaben, Namen, ist zentraler Bestandteil einer kabbalistischen Hermeneutik. Die Bibel kommt im Mittelalter zu großen Ehren, sowohl im Pijjut, in den Midraschwerken und natürlich in den Kommentaren. Aber auch die Mystik ist
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ohne Bezug zur Bibel nicht verstehbar. Die Aufdeckung der Geheimnisse der Tora ist dort gleichzeitig Enthüllung des Geheimnisses Gottes selbst. In kabbalistischer Hermeneutik treten zu den alten Schriftsinnen des Peschat (Literalsinn) und des Derasch (rabbinisch-midraschische Auslegung) Sod und Raz hinzu, die Auslegungen bezeichnen, die in den Tiefenschichten der Texte und Buchstaben als Geheimnis verborgen liegen und entschlüsselt werden müssen. Neben der Philosophie oder dem halakhischen Durchdringen der Tradition bricht sich im Mittelalter auch die Erzählung breite Bahn. Sie bietet einem jüdischen Publikum eine Alternative zu christlichen oder muslimischen Erzählstoffen aus dem Fundus der Tradition, nicht zuletzt aus der biblischen Überlieferung. Diese Erzählungen heften sich an altbekannte Stoffe und Figuren, aber oft auch an neue oder an neuentdeckte, wie die Makkabäer, Josephus, Ben Sira, aber auch Judit. Mythos und Legenden durchdringen die jüdische Kreativität der Zeit. Dabei setzt man sich mit den Fragen der Existenz in der Diaspora, unter den Bedingungen bedrohlicher Herrschaft, der Bedeutung des Lebens nach den Geboten ebenso auseinander wie mit Fragen einer Öffnung gegenüber der Umwelt oder einer verstärkten Konzentration auf die eigene Identität. Biblische Berichte werden im Licht der Erfahrung von Kreuzzügen und Verfolgungen adaptiert, in der realen Existenz performativ nachvollzogen und gleichzeitig weiter in Auslegung und Predigt ausgebaut. Der Bezug zur Bibel verleiht auch dem Gedächtnis an das Martyrium während der Kreuzzüge eine besondere Bedeutung – so etwa in Leqach Tov – in einer Mischung aus liturgischer Prosa, Poesie und Exegese, die sich immer wieder an den Bibelvers heftet und ihn mit Erinnerungen an frühere und zeitgenössische Ereignisse erläutert. Kontinuitäten und Brüche prägen diese Zeit genauso wie die Abfolge von ‚guten und schlechten Zeiten‘. Waren in der Spätantike Palästina und Babylonien die großen Zentren, verschiebt sich im Mittelalter der Schwerpunkt nach Norden und Westen. Von Italien wandern Juden in den Norden; Nordostfrankreich und das Rheinland werden zu wichtigen Siedlungsbereichen und nach dem biblischen Enkel von Jafet und Sohn des Gomer (Gen 10,3) Aschkenas genannt. Die Aschkenasim, zu deren Hauptsprache das sich aus dem Deutschen entwickelte Jiddisch wurde, unterscheiden sich in Kultur und Sprache deutlich von den bis zur Vertreibung im 15. Jh. hauptsächlich auf der Iberischen Halbinsel ansässigen und auch noch später Spaniolisch/Judenspanisch sprechenden Sephardim. In diesem Band sind beide Brennpunkte vertreten und die Unterschiede werden durchaus, wenngleich auch nur beispielhaft, deutlich. Biblische Frauen spielen hier wie dort eine wichtige Rolle. Der vorliegende Band konzentriert sich exemplarisch auf einige Figuren und beleuchtet ihre Verwendung aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Eva, Sara, Hagar, Rebekka, Zippora, Rut, Ester und die nicht im hebräischen Kanon vorkommende Judit werden behandelt, dazu die nachbiblisch überaus ‚populäre‘ Lilit. Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit der namenlosen ‚tüchtigen‘ Frau aus Spr
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31, aber auch Zion als klagende und sehnsüchtige Frau wird behandelt. Das Hohelied und seine facettenreiche Deutung bekommen ebenfalls breiten Raum. Bevor die einzelnen Figuren und ihre Rezeption analysiert werden, bietet Elisheva Baumgarten, eine der herausragenden Spezialist_innen auf dem Gebiet, einen Überblick über die Stellung der Frau im mittelalterlichen Aschkenas. Sie geht dabei vom Beispiel der Dolce aus, einer gelehrten und geschäftstüchtigen Frau, die nach ihrem gewaltsamen Tod 1196 von ihrem Ehemann, Eleazar ben Juda von Worms, auf der Basis von Spr 31,10–31 (eschet chajil…= „Eine tüchtige Frau, wer findet sie?“) in Strophenform gepriesen wird. Baumgarten zeigt, dass Frauen in der mittelalterlichen Gesellschaft sehr wohl eine aktive Rolle spielten, sowohl im Geschäftsleben als auch in religiösen Belangen. Dolces Mann wurde von ihr unterhalten. Sie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau, aktiv im Gottesdienst und natürlich auch in dem, was wir heute Charity nennen, der Unterstützung Bedürftiger. Jüdische Frauen stehen in regem Austausch mit Nichtjüdinnen (und -juden) und teilen mit ihnen das Los zunehmender Veränderungen im Bereich von Ehe und Familie und auf dem religiösen Sektor. Unbeschadet des überraschend großen Beitrages in gesellschaftlichen, ökonomischen wie religiösen Aktivitäten gibt es keine Frauen in der Leitungsebene von Gemeinden oder Synagogen und es werden zunehmend auch in Fragen der religiösen Beteiligung Beschränkungen spürbar, die zum Teil zumindest in orthodoxen Segmenten bis heute gelten. Der Beitrag zeigt auf überzeugende Weise, dass gewisse Strukturen definitiv nicht in Stein gemeißelt, sondern historisch gewachsen sind und bezeugt aufs Neue die enge Verwobenheit der jüdischen und christlichen Kultur in Bezug auf Geschlechterbeziehungen und -rollen. Nach dieser wichtigen Einführung gliedert sich der Band in sechs Kapitel, die thematische Einheiten bilden. Es ist uns bewusst, dass verschiedene Bereiche entweder nur sehr kursorisch oder gar nicht beschrieben werden (können). So fehlt ein eigenständiger Beitrag zu Pijjut oder zur Philosophie. Auf der anderen Seite war es uns wichtig, bestimmte beherrschende Themen vertiefend zu betrachten. Dazu gehört etwa das Verständnis des weiblichen Aspekts in Gott (Schekhina). Kapitel I befasst sich mit dem Übergang von der klassischen rabbinischen Midraschliteratur zur mittelalterlichen Bibelauslegung. Constanza Cordoni macht den Anfang mit einer Betrachtung der Rezeption der Ester in mittelalterlichen Quellen. Dazu gehören Pirqe deRabbi Eli‘ezer, Josippon, Ester Rabba, der Psalmenmidrasch zu Psalm 22 (der auf Ester ausgelegt wird) und Leqach Tov. Cordoni zeigt auf, wie man Ester zusehends in die rabbinische Welt integriert und ihre Zugehörigkeit zum Judentum betont, mit dem sie durch gemeinsame Geschichte, Name (Hadassa), Sprache (Hebräisch) und vor allem Religion (Speisegebote und Gebet) verbunden ist. Dagmar Börner-Klein widmet sich der Figur der Judit in mittelalterlichen Texten. Dies ist besonders bedeutsam, da Judit ja nicht in der hebräischen
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Bibel auftaucht, sich aber im Mittelalter großer Beliebtheit erfreut. Sie wurde dem Zeitgeist entsprechend dem Publikum angepasst, in ihrem Aussehen, ihrem Auftreten und ihren Handlungen. Die erste hebräische Version wird von Nissim ben Jakob ibn Shahin im 11. Jh. überliefert. Hier bleibt sie eine anonyme Heldin, die zuerst die Wachen überwinden muss, um schließlich ins Heerlager vordringen zu können, Schönheit und Klugheit einsetzt, um den Feind zu besiegen. In einer daran anknüpfenden Geschichte, den Maʿase Jehudit, nennt Judit schließlich selbst ihren Namen, gerät aber nach dem Tod des Königs wieder aus dem Fokus, denn die Männer spielen eine wichtige Rolle im Befreiungskampf und ziehen von sich aus gegen den Feind. Moses Gaster überliefert eine weitere Erzählung. Hier überlistet Judit den König durch die Angabe, dass sie sich von der Menstruation reinigen müsse, was der König erlaubt. Sie bringt den Kopf des Königs so unbehelligt durch das Tor. Die aus verschiedenen Strängen zusammengesetzte Megillat Jehudit macht Judit zur Tochter Mordechais und hat dadurch eine Verbindung zur Estererzählung. Judit wird als besonders toratreu geschildert. Letztlich besiegen die Israeliten hier dann nicht nur die Griechen, sondern auch die Römer unter Caligula. Ein weiterer Zusatz verbindet sie mit den Makkabäern und bringt das Motiv der Gefährdung der Bräute durch das ius primae noctis des Souveräns ein. Dieses erfreut sich auch in weiteren Erzählstufen großer Beliebtheit und wird mehrmals aufgegriffen. Derjenige, der diese ‚erste Nacht‘ einfordert, wird jeweils getötet. Als gefährdete Braut verliert nun Judit selbst die Kraft, den König zu töten. Dies muss ihr Bruder Juda erledigen. Die Gefährdung und Errettung der jungen Bräute wird auch als Motiv für das Anzünden der Chanukka-Lichter durch Frauen bedeutsam. Laut Raschbam war dieses Wunder durch die Taten der Judit erwirkt worden, wodurch Judit eine zentrale Rolle in der Makkabäergeschichte einnimmt. In dem Werk Kol bo aus dem 13./14. Jh. schließlich verschmelzen die verschiedenen Frauenfiguren, die gefährdeten Bräute, die biblische Hanna und Judit. Die schöne und begehrenswerte Judit erstarkt erneut und tötet den nach ihr begierigen König, nachdem sie ihm ein Käsegericht zubereitet hatte, das ihn durstig machte, er sich betrank und einschlief. Ester und Judit sind Heldinnengestalten der Bibel und werden durchaus auch von den Rabbinen in dieser Rolle stark gemacht. Doch nicht nur der späte Midrasch hat den Frauen in der Bibel auf innovative Weise Aufmerksamkeit gezollt, auch die Kommentarliteratur bildet eine neue Möglichkeit, sich dem Thema zu stellen. Im Kapitel II sind daher exemplarisch zwei Frauen herausgegriffen, die bereits in der Bibel für Aufmerksamkeit sorgten, nämlich Eva und Sara. Den Anfang mache ich selbst mit einer Analyse des umfassend rezipierten Kommentators Raschi. Rabbi Schlomo ben Jitzchaq aus Troyes (1040–1105) ist eine der wichtigsten Stimmen der Tradition. Er bildet die Brücke zwischen mittelalterlicher Exegese und spätantiker rabbinischer Auslegung. In seinem Pentateuchkommentar geht er Schritt für Schritt die bedeutendsten Passagen durch und kommentiert sie mit beständigem Verweis auf die Tradition in
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Midrasch und Talmud. Auch im Fall der Eva nimmt Raschi sehr viel Traditionsgut auf, in erster Linie aus dem Midrasch Genesis Rabba aus dem 5. Jh., darunter die Diskussionen über die Schöpfung des Menschen als Androgynos. Es lässt sich zeigen, dass er bei seiner Auswahl selektiv vorgeht und frauenfeindliche Töne möglichst vermeidet. Aufgrund ihrer Schöpfung ist die Frau dem Mann nicht untergeben, aber als Folge der Sünde wird sie den Mann zwar begehren, ihre sexuelle Lust aber nicht nach Belieben ausleben können. Dies ist ein Aspekt der ‚Herrschaft‘ des Mannes über die Frau. Der zweite Kommentator, den ich exemplarisch herausgreife, ist der 1270 verstorbene Moses ben Nachman (Ramban) aus Gerona, der als vielfältiges Talent von der Mystik bis zur Medizin und Philosophie alles beherrschte und auch als Vertreter des Judentums an einer Disputation teilnahm. Gegenüber Raschi nimmt er nicht selten kritische Positionen ein. Dies gilt auch in Bezug auf Eva. Um nur ein Beispiel zu nennen, entwickelt Ramban eine besondere Variante der Vorstellung vom androgynen Urmenschen und die geschlechtliche Vereinigung hat zwar das Ziel, Kinder zu zeugen, verweist aber weit darüber hinaus auf die ganz spezifische Beziehung zwischen Mann und Frau. Im Unterschied zur tierischen Vereinigung ist sie als eine dauerhafte Bindung angelegt. ‚Ein Fleisch sein‘ meint – und hier unterscheidet er sich auch von Raschi – eben nicht nur (die Zeugung) ein(es) Kind(es), sondern die Rückkehr in die ursprünglich intendierte Einheit. Die Bindung zur Frau wiegt letztlich um ein Wesentliches intensiver als die zu den Blutsverwandten, zu denen man eine enge Beziehung pflegt. Einhellig haben beide an sich unterschiedlichen Ausleger die Bedeutung des richtigen Verhaltens betont. Dies gilt auch für die von Carol Bakhos untersuchte Tradition zu Sara und Hagar. Zurecht meint sie, dass durch die „Interpretation der jüdischen Gelehrten des Mittelalters … die biblische Geschichte … zu einem Moralkodex und einem Leitfaden für richtiges Verhalten wird“. Man kann auch aus negativem Verhalten lernen. Bakhos untersucht die Kommentare von David Kimchi, Nachmanides, Gersonides, Obadja Sforno. Keineswegs rechtfertigen sie uneingeschränkt die Behandlung Hagars durch Sara. Nachmanides übt sogar heftige Kritik an Abraham, der seiner Ansicht nach hinter Hagar hätte stehen sollen. Kimchi ist wiederum der Meinung, dass Abraham Hagar sicherlich zurechtgewiesen hätte, wenn er nur davon gewusst hätte, wie sie sich gegenüber Sara verhielt. Die Kommentatoren sind sich der Komplexität der Beziehung zwischen Hagar und Sara bewusst. Zwar ist man sich einig, dass Sara Macht über Hagar hatte, aber auch die fruchtbare Hagar war nicht machtlos. Das angespannte Verhältnis zwischen den beiden Frauen in aller Tiefe wird in den Kommentaren durchaus spürbar. Bevor Bakhos schließlich auch noch Schlussfolgerungen für heutige Leser_innen anfügt, widmet sie sich kurz einigen mittelalterlichen muslimischen Koran-Kommentatoren zu Sara und Hagar. Ath-Thaʿlabī etwa lässt u.a. Sara Hagar die Ohren durchstechen und schließlich auch noch beschneiden, was er mit einer gängigen Praxis in Verbindung bringt. Ibn Kathīr macht Hagar für
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die Eifersucht Saras verantwortlich. Hagar spielt zweifellos als die Mutter Ismaels in der islamischen Tradition eine wichtigere Rolle, doch auch Sara wird als Frau Abrahams und Mutter des Propheten Isaaks respektiert. Saras Eifersucht war demnach die eigentliche Ursache der Rivalität zwischen den Frauen, doch geben einige Kommentatoren auch Hagars Gefühllosigkeit gegenüber Saras und ihrer Situation wider. Beide Frauen werden demnach nicht nur positiv beschrieben, sondern auch kritisiert. Robert A. Harris widmet sich einem der prominentesten biblischen Beziehungstexte, der in diesem Band mehrfach thematisiert wird, dem Hohelied, und zwar in der Auslegung des 12. Jh. Dabei betont er eine „Entwicklung, weg vom Midrasch und hin zum Peschat, also weg von der Autorität der antiken rabbinischen Exegese hin zu der kontextuellen Auslegung unabhängiger Exegeten, die ihre logisch aufgebaute und grammatikalisch fundierte Lesart mit den intuitiven Sprüngen ihrer literarischen Vorstellungskraft zu verbinden wussten“ (129). Zwei Kommentare stehen im Mittelpunkt, erneut der von Raschi und der von dessen Enkel, Raschbam. Harris informiert ausführlich über Raschis Verwendung des Peschat und seiner kontextuellen, an der literarischen Gestalt und an der syntaktischen Struktur orientierten Auslegung. Für Raschi ist das Hohelied ein Liebeslied von Salomo, der in der Sprache einer Witwe prophetisch erzählt und dabei Israel in seinem Leid tröstet. Gegenüber Raschi geht Raschbam noch einen Schritt weiter, indem er das Hohelied von einer Frau erzählen lässt. Raschbam kennt die figurative Auslegung auf Israel und bindet diese in seine kontextuelle Auslegung ein. Gleichzeitig legt er den Hauptakzent auf die wörtliche Interpretation als Liebeslieder aus dem Mund einer Frau. Bei aller Angleichung an die auch im Christentum aufkommenden Tendenzen hin zum sensus literalis, ist diese Zuordnung jedoch einzigartig. Sheila Tuller Keiter analysiert das Gedicht in Spr 31, das berühmte Eschet Chajil (groß geschrieben für die Komposition, klein für die damit angesprochene Frau), das bereits bei Baumgarten eine wichtige Rolle gespielt hat. Sie widmet sich der modernen Exegese ebenso wie den rabbinischen und mittelalterlichen Interpretationen, die das Eschet Chajil vor allem metaphorisch ausgelegt haben (auf den Körper, auf die niedere Seele etc.) und den Bezug von Weisheit und Frauen meist scheuen. Keiter gibt auch der Diskussion um Salomo und seiner Funktion in Bezug auf das Lied breiten Raum. Gerade die Verbindung von Salomo, Batseba und dem Eschet Chajil stellt eine spannende Perspektive auf das Lied als „Antithese zu seinen zahlreichen, sündigenden, trägen und Götzen verehrenden Frauen“ (150) dar. Im Kapitel III geht Judith Baskin ausführlich auf die so genannten Chasside Aschkenas ein, jener Gruppe von Frommen, die im 12. und 13. Jh. im Rheinland aktiv waren und ihren Glauben und ihre Überzeugungen in den Texten reflektierten, die sie auslegten. Das bedeutsamste Werk ist das Sefer Chassidim. Die Chasside Aschkenas reflektieren darin u.a. über Sünde und Sexualität. Sexualität wird grundsätzlich positiv gesehen und in der Ehe
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sogar stark begrüßt. Gleichzeitig stellt aber die männliche Lust auf Frauen, ob nur in sündhaften Gedanken oder auf reale Weise ausgelebt, ein schwerwiegendes Problem dar. Die Chasside Aschkenas glaubten, dass sie von Frauen ausgelöst wird. Daher müssten die frommen Männer den Kontakt zu Frauen auch in der eigenen Familie so stark wie möglich einschränken. Biblische Figuren wie Isebel, Delila und Batseba dienen als herausragende Beispiele dafür, wie Frauen Männer zur Sünde verleiten würden, und sogar die Erzmutter Sara wird als Beleg genannt, wie Frauen für folgenschwere Übertretungen mit gefährlichen Folgen verantwortlich sein könnten. An einer anderen Stelle wird jedoch auch die positive Wirkung von guten Frauen auf von Sünde gefährdete Männer betont. Als lobenswerte weibliche Eigenschaften gelten Tugendhaftigkeit, Bescheidenheit, Freundlichkeit, Zurückhaltung und Gehorsam gegenüber männlicher und göttlicher Autorität, welche in besonderer Weise in Rut verkörpert werden. In einem letzten Teil behandelt Baskin das bereits mehrfach in diesem Band erwähnte Gedicht über die eschet chajil aus dem Sprüchebuch. Kapitel IV wendet sich nicht nur einem anderen Bereich zu, nämlich der Poesie und dem Pijjut, sondern auch einer eigenen Region, al-Andalus, wie die Muslime die von ihnen zwischen 711 und 1492 beherrschte Region auf der iberischen Halbinsel nannten. Hier findet sich eine faszinierende Auseinandersetzung mit den Genres der arabischen (weltlichen) Poesie und eine theologisch wie literarisch herausragende Bearbeitung biblischen Materials wieder. Meret Gutmann-Grün analysiert das Thema der Frauenfigur Zion in der Gebetsliteratur vor allem am Beispiel der Verarbeitung des Hoheliedes in der Rezeption von Salomon ibn Gabirol (gest. 1070) und Jehuda ha-Levi (gest. 1141). Zion/Jerusalem als die zeitlose ideale Gemeinde Israel tritt dabei in der Rolle der Geliebten oder der Braut Gottes auf. Alle im Hohelied verwendeten Begriffe für die Braut werden auch auf sie angewendet. Die Betenden reden sie als Mutter an. Die weltlichen Lieder, die ihren Einfluss auf die Liturgie ausüben, sind voller Liebesmotive, sprechen von der Sehnsucht, klagen, zeigen sich enttäuscht von der Zurückweisung. So klingt in den Liedern die Situation Israels an, werden Christentum und Islam benannt und die Befreiung aus dem Exil erhofft, manchmal sogar mit Vergeltungswünschen. Erstaunlich ist, dass hier die Gemeinde einerseits auf den davidischen Messias hofft, aber auch selbst die Initiative ergreift, also zur ‚Mitarbeiterin‘ Gottes bei der Befreiung aus dem Exil wird. Der zweite Beitrag, der sich mit dieser Textsorte aus al-Andalus auseinandersetzt, stammt von Aurora Salvatierra Ossorio. Sie analysiert, wie im Kalifat von Cordoba die weltliche Poesie – mit ihren Wurzeln in der arabischen Poetik – sich mit der Bibel paarte und biblische Frauen vor allem wegen ihrer Schönheit und Anziehungskraft gepriesen und auf bislang neuartige Weise zum Gegenstand von Liebesliedern und Weingesängen wurden. Auf kritische Weise zeigt sie, wie Frauen dadurch vergegenständlicht wurden und gleichzeitig eine gewisse Macht ausübten. Die Erwähnung in den Liedern war jedoch
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nicht auf den Charakter oder die Geistesgaben der Frau bezogen, sondern vor allem auf ihre Schönheit, ihr Aussehen beschränkt. Der Liebende ist gefangen und schwelgt in Sehnsucht. Auf der anderen Seite werden diese von vorgegebenen Konventionen getragenen Gedichte zum Vehikel theologisch brisanter Szenen, wie etwa, wenn Ester in einem Gedicht von Salomo ibn Gabirol zum Sinnbild einer Gemeinde wird, die sich angesichts des Schicksals und der Versuchungen anderer Kulturen von Gott abzuwenden droht und er sich in den Beweisen seiner Zuwendung und der Vergewisserung des Bundes übertrifft. Hier werden die Lieder nicht nur zu Mitteln der Klage und der Sehnsucht – wie etwa in der Hohelieddeutung – , sondern auch des Trostes und des Halts in schweren Zeiten. Das Kapitel V widmet sich ausführlich der jüdischen Mystik, der Kabbala. In einem facettenreichen Überblick erläutert Rachel Elior die Bedeutung der weiblichen Dimension Gottes, der Schekhina, über die Jahrhunderte. In der rabbinischen Ära war die Schekhina nicht zuletzt die Witwe, die im Exil sich nach Erlösung sehnende Tochter oder Mutter Zion, oder als „Versammlung Israels“ eine geliebte Braut, die sich an den Festtagen und am Schabbat mit dem Geliebten, Gott, vereinigt, und vor allem die mündliche Tora, die Mischna, die sich im Lernen, im Studium, vergegenwärtigt. Die mittelalterlichen Kabbalisten reagierten auf den Schock, den die Kunde der Zerstörung in den Zeiten der Kreuzzüge nach sich zog, mit einer neuen Sprache und Theologie, in der die Schekhina als weibliche göttliche Gestalt in vielen Namen und Facetten eine große Rolle spielte. Sie hielten an der rabbinischen Bedeutung der Halakha fest und zeigten, dass jede Handlung des Menschen Einfluss auf den kosmischen Kampf zwischen den bösen Mächten, der „anderen Seite“ und der „heiligen Seite“, zwischen der Welt von Samael, Lilit, der „Schalen“ (der Dunkelsphäre) und dem Guten im Himmel, dem Heiligen, gepriesen sei er, dem Messias, nimmt. Das historische Exil Israels wird nun zum Exil der Schekhina, die sowohl als unterste Sefira Teil der göttlichen Welt ist als auch exilierte Versammlung Israels und mündliche Tora. Vor allem in der Kabbala, der Mystiker im galiläischen Safed – Elior beschäftigt sich mit Joseph Karo und Schlomo Alqabetz – wird die „Wiederherstellung der Harmonie der Welt“, der tiqqun olam, zur Aufgabe des Menschen, um die Schekhina aus ihrer Gefangenschaft in den dunklen Welten der Schale, aus ihrem Exil zu befreien. Dazu trägt auch die Ansiedlung in Israel bei. In einem letzten Teil wagt Elior einen Ausblick auf die Chassidim Osteuropas und ihren Begründer, Israel Baal Schem Tov, kurz Bescht. Im Chassidismus wurde die verborgene göttliche Welt der Mystik in die breitere Gemeinschaft getragen. Sein Einfluss ist bis heute enorm. Felicia Waldman verweist in einem ersten Teil ebenfalls auf die Bedeutung der Schekhina in den kabbalistischen Texten, die sie anschaulich vor Augen führt, weist neben den vielen Facetten auch auf die richterliche Funktion hin und zeigt u.a., wie die Safeder Mystiker versuchten, mithilfe besonderer Techniken vor allem des Meditierens und mithilfe der Konzentration auf die
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verschiedenen Kombinationen von Buchstaben des hebräischen Alphabets in den Zustand vor dem Fall des ersten Menschen zurückzukehren, um aufs Neue in den Strahlenkranz der Schekhina zu gelangen und eine geradezu erotische Beziehung zur göttlichen Gegenwart zu erreichen. In einem zweiten Teil widmet Waldman sich einer der schillerndsten weiblichen Figuren in der jüdischen Überlieferung, Lilit. Auf kompakte und übersichtliche Weise zeichnet die Autorin das Bild dieser Frau von den Anfängen bis in die spätere Mystik nach. Lilit ist eine Figur, deren Facetten von einer männerbedrohenden und kindergefährdenden Dämonin mit altorientalischen Wurzeln zur ersten Frau Adams bis zur sexuellen Gespielin Gottes in mystischen Texten reichen und die in feministischen Werken der Gegenwart gern als selbstbewusste und sich dem Patriarchat entgegenstemmende Frau neu entdeckt wurde. Yuval Katz-Wilfing bringt eine weitere wichtige biblische Figur ins Spiel, Rut. Haben die spätantiken Rabbinen sie bereits zu einer Paradekonvertitin erklärt, so knüpfen die mittelalterlichen Mystiker daran an und entwickeln an ihrem Beispiel eine komplexe Beschreibung, was es bedeutet, zum Judentum zu konvertieren, welche Voraussetzungen es braucht und welche umfassenden Folgen es hat. Der Kandidat oder die Kandidatin bringt besondere Attribute, Fähigkeiten, wundertätige Augen oder göttliche Funken ein und steht in einer besonderen Verbindung zu Gott oder seinem Volk, er oder sie ist in jedem Fall keine normale Person, sondern besitzt spezielle Fähigkeiten, Hilfe vom Heiligen Geist und einen Zugang zu verborgenen Dimensionen der Wirklichkeit, erhält einen völlig neue Seele. Rut wird in allen Zeitepochen, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeutsam geschildert, bleibt aber in ihrer weiblichen Rolle verhaftet. Besonders positiv wird ihr die Selbstlosigkeit angerechnet, mit der sie das Erbe ihres Mannes erhalten will. Mit Boas tritt ein Mann auf, der für die gerechten Gelehrten steht und dessen wichtige Funktion im Vermittlungsprozess zwischen Himmel und Erde klar macht, dass letztlich ohne die Tora studierende männliche rabbinische Autorität keine gelungene Konversion stattfinden kann. Katrin Kogman-Appel schließt mit ihrem Beitrag zu den weiblichen Protagonistinnen in der Buchkunst des jüdischen Mittelalters (Kapitel VI) den Beitragsreigen ab und knüpft gewissermaßen wieder am Anfang an, nämlich an der von Elisheva Baumgarten beschriebenen Rollenverteilung und der intensiven Auseinandersetzung mit dem Christentum, die auch in der Buchkunst spürbar wird. Kogman-Appel konzentriert sich auf zwei Personen der Bibel, nämlich Rebekka und Zippora, die Frau des Mose. Die beschriebenen Bilder entsprechen zu einem nicht geringen Teil dem herrschenden Rollenbild, stellen es auf der anderen Seite aber auch in Frage. Kogman-Appel zeigt überzeugend, dass sich die aschkenasischen und iberischen Darstellungen von beiden Frauen deutlich unterscheiden. So treten in den iberischen Zyklen beide in aktiven Rollen auf und bestimmen maßgeblich das Schicksal ihres Volkes. Vorbilder vieler Darstellungen sind die Bilder der Jungfrau Maria, deren Bedeutung in der christlichen Welt
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anwächst. Wie Maria maßgeblich zur Erlösung aller Christen beiträgt, werden nun auch Rebekka und Zippora zu zentralen Figuren der jüdischen Heilsgeschichte, jedenfalls in den iberischen Haggada-Zyklen. In der Goldenen Haggada etwa liegt eine bildliche Polemik verborgen, wenn man die alte, unfruchtbare Gestalt des christlichen Josef dem jugendlichen Abbild des jüdischen Mose gegenüberstellt, der sich mit seinen zwei Kindern und seiner Frau auf die Reise macht. Der Baum, der hinter Mose dargestellt ist, wird als ein Symbol für Zipporas Fruchtbarkeit gedeutet. Zippora beschneidet auf der Reise ihren Sohn, ein Ritual, dessen Ausübung durch Frauen im Mittelalter von den Gelehrten mehrheitlich abgelehnt wurde, weshalb sich in der frühen Neuzeit innerhalb des Judentums der Gedanke durchsetzt, Zippora hätte sich dabei männlicher Hilfe bedient. Die aschkenasischen Beispiele hingegen repräsentieren die bestimmenden Werte wie Mutterschaft, Erziehung, Frömmigkeit und nicht zuletzt den Märtyrertod angesichts der realen Erfahrung der Verfolgung und der Gefahr der Zwangstaufe. So werden Rebekka und Zippora zu Sinnbildern dieser zentralen Werte und zu Vorbildern religiösen Handelns.
Rolle und Alltagsleben jüdischer Frauen im mittelalterlichen Aschkenas1 Elisheva Baumgarten Hebrew University of Jerusalem
In einem Gedicht in Erinnerung an seine Frau Dolce, die 1196 gemeinsam mit ihren beiden Töchtern während eines Angriffes auf ihr Haus ermordet wurde, beschrieb der Autor und Leiter der jüdischen Gemeinde, Eleazar ben Juda von Worms (gest. 1232), die vielen Taten, die Dolce zu einer frommen, gottesfürchtigen Frau und zu einer idealen Ehefrau und Mutter machten. Eleazar ben Juda gestaltete diese Eulogie nach dem letzten Kapitel des biblischen Buches der Sprüche (31,10–31), wobei er jede Strophe mit einem Zitat daraus begann und sie auf Dolces eigenes Leben bezog. Es fängt so an: Eine tüchtige Frau, wer findet sie (Spr 31,10): So eine wie meine fromme/heilige (chassida) Frau, Frau Dolce? Eine tüchtige Frau (31,10): die Krone ihres Mannes, die Tochter der Gemeindewohltäter. Eine gottesfürchtige Frau (31,30), gerühmt für ihre guten Taten. Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie (31,11): Sie gab ihm zu essen und kleidete ihn, damit er im Rat der Ältesten des Landes sitzen (31,23), Tora studieren und sich mit den guten Werken beschäftigen konnte.2
Die Beschreibung der Taten der Dolce in nur ein paar Dutzend Strophen stellt die längste Darstellung des Lebens einer jüdischen Frau im Mittelalter, die bis 1
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Dieser Beitrag ist eine von Gerhard Langer ins Deutsche übersetzte leicht adaptierte Version von „Gender and Daily Life in Jewish Communities“, in The Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe (hg. v. Judith Bennett and Ruth Karras; Oxford: University Press, 2013), 213–228. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Die Überarbeitung des Artikels wurde mit Mitteln des European Research Council (ERC: Nr. 681507, Beyond the Elite: Jewish Daily Life in Medieval Europe) gefördert. Das hebräische Original findet sich bei Avraham M. HABERMAN, Gezerot Aschkenas ve-Tzarfat (Jerusalem: Tarshish, 1945), 166–169. Dazu gibt es zwei englische Übersetzungen: Ivan G. MARCUS, „Mothers, Martyrs, and Moneymakers: Some Jewish Women in Medieval Europe“, Conservative Judaism 38/3 (1986): 34–45; und Judith BASKIN, „“Dolce of Worms”: The Lives and Deaths of an Exemplary Medieval Jewish Woman and her Daughters“, in Judaism in Practice: From the Middle Ages through the Early Modern Period (hg. v. Lawrence Fine; Princeton, NJ: Princeton University Press, 2001), 429–437.
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heute überlebt hat, dar und ist einer der wenigen Texte, die sich mit einer konkreten Frau auseinandersetzen. Sie ist repräsentativ für die hebräischen Quellen, die uns aus dem Mittelalter erhalten geblieben sind; und sie wurde, wie so oft, von einem Mann geschrieben. Tatsächlich fehlen uns Texte aus dem Mittelalter, die von Frauen stammen. Das Hauptaugenmerk liegt auf der religiösen Observanz, einem Thema, mit dem sich viele hebräische Texte aus der Zeit befassen. Unter den Juden und Jüdinnen des Mittelalters war es üblich, ihr Leben mit der Bibel zu verknüpfen und in direkten Bezug zu biblischen Ereignissen zu stellen, wobei man sich an die literararischen Konventionen der Zeit hielt. Dieser Beitrag baut sich auf den Details um Dolces Leben auf, wie sie nach ihrem Tod von ihrem Ehemann aufgezeichnet wurden. Dolce war eine atypische Frau der jüdischen Oberschicht, aber typisch, was ihre Aktivitäten in der Gemeinde betrifft. Wie andere jüdische Frauen im Mittelalter, war sie in erster Linie als Tochter, Mutter und Frau präsent. Dies waren die von jeder jüdischen Frau erwarteten Rollen. Obwohl es sicherlich auch unverheiratete Frauen gab, so wohl nur wenige, und es existieren keine Zeugnisse über sie. Dolce agierte als aktive Geschäftsfrau und Geldverleiherin. Wie viele ihrer Nachbar_innen war sie stark im Gemeindeleben integriert. Schließlich starb Dolce in Folge eines von Christen verübten Anschlages, wobei dieser an sich nicht antijüdisch motiviert war. Bei ihren Mördern handelte es sich um zwei Kriminelle auf der Suche nach Geld. Die Wormser Stadtbehörden haben einen der Mörder schnell gefasst und ihn gleich darauf exekutieren lassen. Dennoch weist der Mord auf die komplexen Beziehungen zwischen Juden/Jüdinnen und Christ_innen im Mittelalter hin.3 Die Lebensbedingungen und das kulturelle Umfeld, in dem Dolce lebte, sind repräsentativ für die Lebensart der aschkenasischen Juden und Jüdinnen (im mittelaltelichen Deutschland und Nordfrankreich) während des 12. und 13. Jh., als die Gemeinden sich am Zenit ihrer Entwicklung befanden. Die Lebensumstände der Juden und Jüdinnen in Aschkenas änderten sich drastisch gegen Ende des 13. und im frühen 14. Jh., als schwere Übergriffe (in Deutschland etwa die Massaker unter dem Anführer Rintfleisch von 1298) und Vertreibungen (England 1290, Frankreich 1306, Deutschland während der Pest) das Judentum heimsuchten. Danach begannen Juden und Jüdinnen vermehrt, 3
Hierzu ist bereits einiges aus der Forschung bekannt. Vgl. z.B. Kenneth R. STOW, Alienated Minority: The Jews of Medieval Latin Europe (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1992); Ivan G. MARCUS, Rituals of Childhood: Jewish Acculturation in Medieval Europe (New Haven: Yale University Press, 1996); Israel J. YUVAL, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007); Jonathan ELUKIN, Living Together, Living Apart: Rethinking Jewish-Christian Relations in the Middle Ages (Princeton: Princeton University Press, 2007); Robert CHAZAN, Reassessing Jewish Life in Medieval Europe (New York: Cambridge University Press, 2010).
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in großer Anzahl nach Polen auszuwandern, wobei sie ihre Gebräuche und Lebensweisen in den Osten mitnahmen. Juden und Jüdinnen waren im 12. und 13. Jh. in ihrer christlichen Umgebung durchaus integriert. Einige wichtige Bestandteile des jüdischen Lebens – im Rahmen der Synagoge, der religiösen Erziehung und der Heiratsvereinbarungen – betrafen zwar ausschließlich Juden und Jüdinnen, dennoch gab es für jüdische Frauen viele Berührungspunkte mit nichtjüdischen Menschen. Juden und Jüdinnen lebten in gemeinsamen Wohnvierteln mit Christ_innen und waren geschäftlich stark mit ihnen verbunden. Nicht nur Raum wurde von Juden/Jüdinnen und Christ_innen geteilt, sondern auch die Zeit. Juden und Jüdinnen lebten im Rhythmus mittelalterlicher Städte, wussten um die christlichen Fest- und Feiertage und mussten sich oft der christlichen Periodisierung und Zeitstruktur anpassen.4 Jüdische Autoritäten haben deshalb auch traditionelle Beschränkungen, die den Handel mit Nichtjuden und -jüdinnen an deren Festzeiten betrafen, aufgehoben. Juden/Jüdinnen und Christ_innen teilten auch die Märkte für verschiedene Güter und Produkte. Sie lebten im selben Klima, hatten Zugang zu denselben Lebensmitteln, bauten ihre Häuser und machten ihre Kleidung und ihre Bücher aus den gleichen Materialien. Trotz dieser Gemeinsamkeiten in Bezug auf Zeit, Raum und materielle Kultur – Aspekte, welche Historiker_innen bis vor Kurzem nicht genügend gewürdigt haben – unterschied sich jüdisches Leben deutlich vom christlichen. Juden und Jüdinnen agierten im christlichen Raum, handelten und wohnten sogar mit Christ_innen, teilten Ofen und Brunnen; aber die Vielzahl an Interaktionen war von Praktiken begleitet, welche gerade die Unterscheidung zwischen beiden Gruppen herausstellten.
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Familie und Haushalt Sie gleicht den Schiffen des Kaufmanns (Spr 31,14): Sie gibt ihrem Mann zu essen, sodass er sich mit der Tora beschäftigen kann, Ihre Töchter sehen sie und preisen sie glücklich (31,28), denn erfolgreich ist ihr Handel (31,18), Sie gibt ihrem Haus Speise (31,15) und Brot den Knaben… Sie öffnet ihre Hand den Bedürftigen (31,20), Gibt ihren Söhnen5, ihren Töchtern und ihrem Mann zu essen.
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5
Joanne M. PIERCE, „Holy Week and Easter in the Middle Ages“, in Passover and Easter: Origin and History to Modern Times (hg. v. Paul Bradshaw und Lawrence Hoffman; Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1999), 161–185. Der Plural bei den Söhnen bezieht sich auf die Studenten ihres Mannes. Dolce hatte nur einen Sohn.
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Dolces Leben als Mutter und Frau verlief ziemlich typisch. Sie war Mutter dreier Kinder im Alter von 15, 12 und 6 Jahren, als sie starb; die meisten Forscher_innen nehmen an, dass mittelalterliche jüdische Familien zwischen zwei und vier lebende Kinder hatten.6 Dolce war sehr wahrscheinlich Mitte Dreißig, als sie ermordet wurde. Das hieße, dass sie, wie die meisten jüdischen Frauen, ihr erstes Kind als Teenager, knapp nach ihrer Hochzeit, bekam. Die Namen in ihrer Familie entsprechen den lokalen Usancen. Frauen erhielten für die Umgebung übliche Namen (in Dolces Fall ist der Name italienisch, was vielleicht auf die Herkunft ihrer Familie verweist), während die Männer eher Namen bekamen, die auf deren jüdische Herkunft hinwiesen.7 Im Haus der Dolce lebten ihre Kernfamilie und einige der Studenten ihres Mannes. Nach der Responsen-Literatur, einer der wenigen Quellen, die uns Einblick in die Lebensverhältnisse geben, scheint es, dass die meisten Paare, wie Dolce und Eleazar, unabhängig von ihren Eltern lebten, sehr wahrscheinlich, nachdem sie einige Jahre unterstützt wurden. Gelegentlich siedelte sich ein jüdisches Paar nahe den Eltern an, aber jede Kernfamilie hatte einen eigenen, unabhängigen Haushalt.8 Juden und Jüdinnen leben im Mittelalter in Gemeinden, die aus einzelnen Familien bestanden, die nicht selten miteinander verwandt waren. In den meisten Fällen erhielten diese Gemeinden von lokalen oder regionalen Autoritäten die Erlaubnis, sich in der Stadt anzusiedeln und dort zu arbeiten. Häufig wurde ihnen auch das Privileg der Selbstverwaltung erteilt und eine gewisse ökonomische Autonomie zugestanden. Im nördlichen Teil Europas lebten Juden und Jüdinnen in der Mehrzahl in den Städten, einzelne Familien auch auf dem Land. Größere städtische Zentren hatten jüdische Gemeinden, die im 12. und 13. Jh. wuchsen.9 Juden und Jüdinnen, wie auch andere ethnische, soziale Gruppen, oder Berufsgruppen, lebten in mittelalterlichen Städten zumeist in Gemeinschaften. 6
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Kenneth R. STOW, „The Jewish Family in the Rhineland: Form and Function“, American Historical Review 92 (1987): 1085–1110; Avraham GROSSMAN, The Early Sages of Ashkenaz: Their Lives, Leadership, and Works (hebr.) (Jerusalem: Magnes Press, 2001), 8 n. 32, 10. Dolces Töchter hießen Bellette and Hanna. Vgl. BASKIN, „Dolce of Worms“. Goitein weist dies für diese Praxis auch für muslimische Länder nach, siehe dazu: Shlomo Dov GOITEIN, A Mediterranean Society. Vol. 3 (Berkeley: University of California Press, 1983), 2–14. Irving AGUS, Urban Civilization in Pre-Crusade Europe (New York: Yeshiva University Press, 1965) sammelte eine große Anzahl an Responsen aus dem 10. und 11. Jh. und übersetzte sie ins Englische. Im Abschnitt zur Familie finden sich einige Beispiele für Lebensabläufe, vgl. Bd. 2, 554–729. Zu Privilegien und ihren Empfängern vgl. Jonathan RAY, „The Jew in the Text: What Christian Charters Tell Us about Medieval Jewish Society“, Medieval Encounters 16 (2010): 246–248. Zu Leben am Land siehe Michael TOCH, „Jewish Peasants in the Middle Ages? Agriculture and Jewish Land Ownership in Eighth – Twelfth Centuries“, Zion 75 (2010): 291–312 (hebr.).
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Da es vor dem 16. Jh. keine Ghettos gab, bestand die Nachbarschaft dennoch nicht nur aus Juden und Jüdinnen. Oftmals lebten sie im selben Hof mit Christ_innen zusammen. Verschiedene Karten mittelalterlicher urbaner Zentren haben gezeigt, dass sich jüdische Viertel üblicherweise im Zentrum der Stadt befanden, in der Nähe der Kathedrale oder einer anderen wichtigen städtischen Einrichtung.10 Einige jüngere Studien haben das Innere jüdischer Wohnungen untersucht. Die räumlichen Verhältnisse glichen denen der christlichen Nachbar_innen. Auch die geschlechterspezifische Arbeitsteilung glich der unter Christ_innen. Wie christliche Frauen waren auch jüdische theoretisch für die Erziehung der kleinen Kinder zuständig. Mütter wurden von ihren Söhnen getrennt, als ihr formaler Schulunterricht begann, der entweder zu Hause durch einen Hauslehrer, in einer lokalen Schule oder häufig in der Synagoge stattfand. Männer waren für die Erziehung und die Berufsausbildung ihrer Söhne verantwortlich. Mädchen erhielten ihre Erziehung durch Hauslehrer oder durch ihre Mutter und weibliche Verwandte.11 Man erachtete es als unpassend, wenn sich Väter in die Kinderbetreuung einmischten. Diese Überzeugung war so stark, dass man Witwern mit Kleinkindern die sofortige Wiederverheiratung innerhalb der sieben Trauertage erlaubte, damit die neue Frau sich sofort um die Kleinen kümmern konnte. Obwohl mittelalterliche Texte alte Traditionen über die Arbeitsteilung aufrechthielten, entsprach die Realität des alltäglichen Lebens nicht immer den theoretischen Vorstellungen. Frauen werden des Öfteren die Kinder dazu ermutigt haben zu studieren, und tatsächlich preisen manche Abhandlungen sie, weil sie Söhne und Männer zum Studium der Tora angehalten haben. Von den Vätern heißt es, dass sie nicht nur ihre kleinen Kinder versorgt haben, sondern auch für ihr Verhalten verantwortlich waren, obwohl dies üblicherweise als Aufgabe der Frauen galt. Küchenbelange und Auf- und Zubereitung von Nahrung scheinen sowohl in männlicher als auch weiblicher Verantwortung gelegen zu haben, obwohl die Frauen speziell dafür Sorge trugen, dass die 10
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Z.B. Matthias SCHMANDT, „Cologne, Jewish Centre on the Lower Rhine“, in The Jews of Europe in the Middle Ages (Tenth-Fifteenth Centuries) (hg. v. Christoph Cluse; Turnhout: Brepols, 2004), 367–377; Pam MANIX, „Oxford: Mapping the Medieval Jewry“, in ebd., 405–420; Werner TRANSIER, „Speyer: The Jewish Community in the Middle Ages“, in ebd., 435–447; Gerald BÖNNEN, „Worms: The Jews between the City, the Bishop and the Crown“, in ebd., 449–457. Zur Provence vgl. Danièle IANCUAGOU, Provincia Judaica. Dictionnaire des géographie historique des juifs en Provence médiévale (Paris-Louvain: Peeters, 2010). Viele der Stadtbeschreibungen sind mit Karten versehen, auf welchen man die Positionierung der rue de juiverie (Judengasse) oder des Judenviertels und ihre Nähe zu zentralen urbanen Einrichtungen sehen kann. Vgl. Ephraim KANARFOGEL, Jewish Education and Society in the High Middle Ages (Detroit: Wayne State University Press, 1992). Vgl. auch MARCUS, Rituals; Elisheva BAUMGARTEN, Mothers and Children: Jewish Family Life in Medieval Europe (Princeton: Princeton University Press, 2004), 200 n. 45.
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Speisegebote eingehalten wurden.12 Diese Aufteilung von häuslichen Pflichten scheint über viele Jahrhunderte konstant geblieben zu sein, auch dann noch, als sich andere Bereiche des Familien- und Gemeindelebens änderten.
2.
Jüdische Ehe im Mittelalter: Praktiken und Neuerungen
Die Ehe begründete und festigte Familienbande und die Beziehungen zwischen Gemeinden. Die erste Strophe des Gedichtes über Dolce beschreibt sie als Tochter von Wohltätern der Gemeinde. Sie wurde wahrscheinlich in eine aschkenasische Familie aus Italien hineingeboren; solche Familien galten innerhalb der Gemeinde als hochangesehen. Ihre Ehe mit einem prominenten Rabbi stärkte die Bande zwischen Gelehrsamkeit und Herkunft. Dolce und ihr Mann Eleazar waren insofern auch tpyisch für eine jüdische Familie, als sie in sehr jungen Jahren, als Teenager, heirateten. Dieses Heiratsalter hielt sich konstant bis in die Moderne.13 Rechtlich wie praktisch ereignete sich in Bezug auf Ehe und Scheidung während des Mittelalters eine wahre Revolution, als sich in der christlichen Gesellschaft die Ehe allgemein als Sakrament durchsetzte. Im Judentum waren die Veränderungen zwar nicht so drastisch wie im Christentum, welches die sakramentale Natur der Ehe und die Kontrolle der Kirche über diese propagierte, aber auf jeden Fall signifikant. Schon der Prozess der Eheschließung veränderte sich. Verlobung (qidduschin oder erusin) und Heirat (nissuin) wurden nicht mehr getrennt. Salomon ben Isaak, besser bekannt unter seinem Akronym Raschi (gest. 1105), erörterte dazu die finanziellen Vorteile, wenn beide Ereignisse nicht auseinandergehalten werden; eine einzige Feier spart den Eltern viel Geld. Es gab aber noch einen zusätzlichen Gewinn bei der neuen Praxis, denn sobald eine Frau verlobt war, selbst als Minderjährige, benötigte sie einen Scheidebrief für den Fall, dass die Ehe nicht zustande kam. Obwohl Einzelne bis ins späte 13. Jh. weiterhin daran festhielten, beide Ereignisse Monate, manchmal auch Jahre voneinander getrennt zu halten, veränderte man die Praxis dahingehend, dass das Verlobungsritual zwar sozial bindend war, aber keine formale Scheidung notwendig machte, wenn die Eheschließung nicht zustande kam. Der neue Brauch 12
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BASKIN, „Jewish Traditions“, 9; BAUMGARTEN, Mothers and Children, 154–165. Zu Speisen vgl. R. Jacob MOLIN, Shut Maharil (Responsa of Rabbi Yaacov MolinMaharil) (hebr.) (hg. v. Yitzchok Satz; Jerusalem: Machon Yerushalayim, 1979), 314– 315, #199. Jacob KATZ, „Marriage and Sexual Life among the Jews at the Close of the Middle Ages“, Zion 10 (1945): 21–54 (hebr.).
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brachte auch einen neuen Beruf mit sich, den des Heiratsvermittlers bzw. der Heiratsvermittlerin.14 Zudem veränderte sich auch das Eheschließungsritual selbst. Elliott Horowitz und Esther Cohen haben angenommen, dass, ähnlich der Sakramentalisierung der christlichen Ehe, auch die jüdische Ehe eine gewisse Sanktifizierung erlebte. Einer der sieben traditionellen Segenssprüche zur Hochzeit wurde verändert. Im nördlichen Europa heißt es: „Gesegnet bist du…der du Israel durch die Ehe und die Verlobung (chuppa und qidduschin) heiligst.” Anstelle der biblischen Verordnung, nach welcher zwei Trauzeugen die Ehe erklären, wurde es mehr und mehr üblich, die Ehe unter Anwesenheit einer Gruppe von zehn Menschen aus der Gemeinde (Minjan) vor einem Rabbiner zu schließen.15 Abfolge und Ritual spielten eine große Rolle, aber die größten Veränderungen betrafen den Ehekontrakt selbst. Am wichtigsten waren die Vorgaben von Gerschom ben Juda aus Mainz (960 – 1028), bekannt als „Licht des Exils“, der bestimmte, dass Frauen nicht ohne ihren Willen geschieden werden und dass Männer nur eine Frau (gleichzeitig) haben durften. Obwohl in der Forschung die Bestimmung gegen Bigamie mit viel mehr Aufmerksamkeit bedacht war, hatte die erstere entscheidende Konsequenzen, da die Zustimmung der Frau zur Auflösung einer Ehe eine signifikante Veränderung des bis dahin gültigen jüdischen Rechts darstellte, laut welchem es den Männern erlaubt war, sich ohne Rücksicht auf die Wünsche der Frauen scheiden zu lassen.16 Frauen konnten im traditionellen jüdischen Recht nur unter wenigen, ganz bestimmten Umständen die Scheidung beantragen, so etwa bei Impotenz oder wenn der Mann zu einer anderen Religion übertrat. Ansonsten waren Frauen von der Zustimmung des Mannes zur Scheidung abhängig. Gerschom ben Judas Verordnung war revolutionär, da sie die Möglichkeit der Scheidung für Männer beschränkte und einen Scheidebrief verlangte, den ein Gericht und Zeugen beglaubigen mussten, ein Prozess, der im Laufe des Mittelalters zusehends formalisiert wurde. Ab dem 13. Jh. wurden Scheidebriefe oft nur akzeptiert, wenn drei unterschiedliche rabbinische Gerichte ihm zustimmten. Wie ein Rabbi im 15. Jh. kommentiert, verhinderten diese strengen Maßnahmen die Leichtigkeit, mit der manche Männer sich scheiden lassen wollten, erhöh14 15
16
Vgl. Avraham GROSSMAN, Pious and Rebellious. Jewish Women in Medieval Europe (Waltham: University of New England Press, 2004), 49–67. Esther COHEN und Elliott HOROWITZ, „In Search of the Sacred: Jews, Christians and Rituals of Marriage in the Later Middle Ages“, Journal of Medieval and Renaissance Studies 20 (1990): 225–250. Die biblische Verordnung blieb in Kraft, obwohl einige Gemeinden den Hochzeitssegen wiederholten, vgl. Zeev W. FALK, Jewish Matrimonial Law in the Middle Ages (Oxford: Oxford University Press, 1966), 58–64. Susan MOSHER STUARD, „Brideprice, Dowry, and Other Marital Assigns“, in The Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe (hg. v. Judith Bennett und Ruth Mazo Karras; Oxford: Oxford University Press, 2012), 148–162; GROSSMAN, Pious and Rebellious, 68–101.
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ten die Kosten für Scheidungen und reduzierten ihren Anreiz. Autoritäten in Rechtsfragen machten es auch für Frauen schwerer, eine Scheidung zu beantragen, besonders im Falle von „rebellischen Frauen“, also jenen, die den Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann verweigerten. Frühere Traditionen hatten diesen Frauen Scheidungen gestattet und ihnen Zugang zu dem Geld aus dem Ehevertrag, der Ketubba, gewährt. Im 13. Jh. verlangten Rabbiner aus Nordeuropa, dass solche Frauen auf das Geld aus der Ketubba verzichten müssten, um ihnen ihre finanzielle Situation zu erschweren, da sie die ehelichen Zuwendungen ihrer Männer deshalb verweigert hätten, um an Gelder zu kommen, die ihnen (nach der Scheidung) zustanden.17 Solche Einschränkungen in Bezug auf die Scheidung kamen in verschiedenen Schritten vom 10. bis ins 15. Jh. Zuerst schränkte man die Möglichkeiten der Männer ein, sich von ihren Frauen scheiden zu lassen, und im 13. und 14. Jh. wurde auch die Möglichkeit der Frauen beschränkt, Scheidungen zu beantragen. Einige Rabbiner argumentierten damit, dass Frauen mehr auf Scheidung erpicht waren als früher. Ob Frauen tatsächlich rebellischer wurden oder nicht, auf jeden Fall war es ab ca. 1250 schwieriger sich scheiden zu lassen. Betrachtet man die Sachlage unter Berücksichtigung der christlichen Sakramentalisierung von Ehe und dem strikten Scheidungsverbot, so verweisen die Änderungen auch auf einen andauernden Austausch zwischen Juden/Jüdinnen und Christ_innen über die Vorzüge der Ehe und ihre unerwünschte Auflösung. Auch die Praxis der Leviratsehe veränderte sich während des Mittelalters. Nach biblischem Recht hatte eine Witwe ohne Nachkommen entweder den Bruder des Verstorbenen zu ehelichen oder den Ritus der Chalitza zu vollziehen, wobei sie einen Schuh auszog und ihn auf den Schwager warf, ihn anspuckte und sie beide dadurch von ihren Pflichten befreite (Dtn 25,5–10). Die Leviratsehe wurde im mittelalterlichen Aschkenas praktiziert, obwohl viele Gemeindeleiter den Ritus der Chalitza bevorzugten und schon im 11. Jh. empfahlen, dass eine Witwe nicht gezwungen werden sollte, ihren Schwager zu heiraten. Eine Autorität des 11. Jh. wie Rabbenu Tam (Jakob ben Meir; 1100– 1171) empfahl sogar ein Verbot der Praxis des Levirats. Trotzdem weigerten sich einige Schwäger, die Witwe aus dem Levirat zu entlassen und verlangten dafür Geld. Manchmal zogen sie die Sache über Jahre in die Länge.18
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GROSSMAN, Pious and Rebellious, 240–244; FALK, Jewish Matrimonial Law, 13–34; R. Jacob MOLIN, in Sefer Maharil: Minhagim (hg. v. Shlomo Spitzer; Jerusalem: Machon Yerushalayim, 1989), Laws of Divorce, 493. GROSSMAN, Pious and Rebellious, 90–101, fasst die Schlussfolgerungen von Jacob KATZ, „Yibbum veHalizah baTekufah haBetar Talmudit“, Tarbiz 51 (1981): 59–106 zusammen.
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Ökonomische Aspekte von Heirat, Scheidung und Erbe
Die wirtschaftlichen Aspekte des Familienlebens änderten sich während des Mittelalters. Finanzielle Arrangements spielten eine wichtige Rolle bei Heiratsübereinkommen und der Schaffung eines neuen Hausstandes. Im 10. und 11. Jh. war es üblich, dass die Familie eine Mitgift zur Hochzeit stellte; der Beitrag der Familie des Bräutigams folgte später, wenn er den Anteil des Vermögens seines Vaters erbte. Auf diese Weise sah man eine Heirat als ein gegenseitiges Arrangement an, zu dem beide Seiten auf verschiedene Weise zur Lebenshaltung des Brautpaares beitrugen. Eine Frau ohne Mitgift fand schwer einen Partner, und die Höhe der Mitgift entschied darüber, ob sie einen vermögenden Mann heiraten konnte. Diese Praxis war nicht nur bei Juden und Jüdinnen üblich, auch bei Christ_innen war eine Mitgift vorgesehen. Im Spätmittelalter brachte die Familie des Bräutigams Güter bereits zu Beginn der Ehe ein. Dadurch, dass beide Familien Unterstützung lieferten, wurde es einfacher, Kinder großzuziehen, was, auch wegen antijüdischer Restriktionen, unter immer schwierigeren ökonomischen Bedingungen geschehen musste. Die Frage, wer nach dem Tod einer Frau, die knapp nach der Hochzeit verstarb, ihre Mitgift erben sollte, war ein anhaltender Streitpunkt während des 12. Jh. Hatte die Familie des Bräutigams Anspruch, obwohl noch kein Kind da war, bestand also eine Art biologisches Band zwischen den Familien? Im Laufe des 12. Jh. führte Rabbenu Tam eine Praxis ein, wonach Familien, deren Töchter knapp nach der Hochzeit kinderlos verstorben waren, die Mitgift zurückbekamen. Im 12. und 13. Jh. wurde es immer üblicher, dass beide Familien ihr Geld zurückbekamen, wenn einer der Partner starb und keine Kinder vorhanden waren. Die finanzielle Situation einer Geschiedenen war dramatisch, besonders, wenn sie kleine Kinder hatte. Sie konnte Anspruch auf die Summe erheben, die im Ehevertrag (Ketubba) verzeichnet und oft höher angegeben war, als in der Praxis ausbezahlt wurde. Sie hatte ebenfalls ein Recht auf ihre Mitgift, aber da die Männer während der Ehe die Verantwortung darüber hatten, gaben diese oft an, dass das Geld bereits verloren bzw. ausgegeben war. Geschiedene Mütter bekamen Armenfürsorge, aber sie mussten damit auch die Kinder versorgen, Knaben, solange sie unter sechs waren und Mädchen bis zur Heirat. Daraus resultierte, dass viele Geschiedene mit sehr wenig Geld zurückblieben und vielfach ohne Heim dastanden, da sie das gemeinsame Haus in der Regel nach der Scheidung verließen. Waren sie jung, wurden sie häufig zur Last für die Eltern. Wiederverheiratung war eine Option, auch, weil Eltern junger geschiedener Frauen fürchteten, dass diese sexuelle Befriedigung außerhalb der Ehe suchen könnten. Auf der anderen Seite gab es die Sorge, dass wiederverheiratete Frauen die Kinder aus erster Ehe vernachlässigen würden. Deshalb
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war es die Regel, dass eine Wiederverheiratung erst in Frage kam, wenn das jüngste Kind zwei Jahre alt wurde.19 Im Gegensatz zu Geschiedenen ging es Witwen ökonomisch besser. Anders als in den biblischen und spätantiken Verordnungen, wonach Witwen ein Heim und Versorgung bekamen, aber der Großteil des Besitzes den Kindern zustand, waren im Mittelalter die Witwen die ersten, die Anspruch auf das Erbe bekamen und als Verwalter der Güter des Ehemannes, ob groß oder klein, eingesetzt wurden. Tatsächlich haben viele Ehemänner explizit ihre Frauen als ihre Haupterben in ihrem letzten Willen eingesetzt. Die Bevorzugung der Witwen sorgte nicht selten für Unmut, vor allem bei den Stiefkindern.20
4.
Ökonomie und Alltag Ihre Arbeit versorgt ihn mit Büchern, ihr Name ist „wohlgefällig“… Nach dem Spinnrocken greift ihre Hand (Spr 31,19) um Schnüre (zum Binden) für Bücher zu spinnen. Eifrig in allem, spann sie Garn für Tefillin (Gebetsriemen) und Megillot (Festrollen) und Bücher (um sie zu binden).
Bevor sie von Einbrechern in ihrem Heim ermordet wurde, war Dolce eine angesehene Geschäftsfrau, verlieh Geld und stellte an die vierzig Torarollen her. Eleazar ben Juda bestätigt auch, dass sie ihn mit Geld unterstützte, das sie verlieh, was ein recht ungewöhnlicher Umstand war, denn er verdankte seinen Lebensunterhalt seiner Frau. Die meisten jüdischen Männer im Mittelalter verbanden das Lernen mit einer „weltlichen“ Beschäftigung. Es kam nicht selten vor, dass Frauen Handel, Geldverleih und andere Geschäfte betrieben. Jüdische Frauen mögen sogar darin spezialisiert gewesen sein, mit christlichen Frauen zu arbeiten. William Chester Jordan hat aufgezeigt, dass Frauen in Picardy häufig separaten Handel mit christlichen Frauen betrieben und auch Partnerschaften mit ihnen eingingen.21 Die Geschäfte von Frauen betrafen in
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Israel J. YUVAL, „Monetary Arrangements and Marriage in Medieval Ashkenaz“, in Religion and Economy: Connections and Interactions (hebr.) (hg. v. Menahem BenSasson; Jerusalem: Merkaz Shazar, 1995), 191–208; BAUMGARTEN, Mothers and Children, 144–153. GROSSMAN, Pious and Rebellious. Hierzu muss man anmerken, dass Grossmann viele Themen zwar anschneidet, die Forschung dazu aber noch rudimentär ist. Hier ist wohl auch zu erwarten, dass in künftigen Studien einige Schlussfolgerungen revidiert und modifiziert werden. William C. JORDAN, Women and Credit in Pre-Industrial and Developing Society (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1993); Martha KEIL, „Public Roles of Jewish Women in Fourteenth and Fifteenth-Century Ashkenaz: Business, Community and Ritual“, in Jews of Europe, 317–330; GROSSMAN, Pious and Rebellious, 117–121.
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der Regel niedrigere Summen, meist nicht mehr als ein Drittel von denen der Männer. Frauen aus reichem Haus bekamen häufig Besitz, Geld oder Juwelen als Teil der Ausstattung, und in manchen Fällen wurde in den Heiratsurkunden festgehalten, dass diese Güter ihnen allein gehörten, ohne Zugriffsmöglichkeit für den Mann. Manche Frauen machten unabhängig von ihren Männern Geschäfte, oft mit ihren Brüdern oder Verwandten. Die meisten Paare führten ihre Unternehmen jedoch gemeinsam. Es gibt Belege dafür, dass Frauen wie Männer häufig Geschäftsreisen unternahmen, sich mit Nichtjuden und -jüdinnen trafen und aktiv vor Gericht Strafen bei säumigen Geschäften einklagten. Wissenschaftler_innen haben drei zentrale Erklärungen für die ausgedehnte Rolle von Frauen in der mittelalterlichen jüdischen Ökonomie. Erstens waren die nordeuropäischen jüdischen Gemeinden relativ neu (im 10. Jh. gegründet) und klein, weshalb Frauen eine aktivere Rolle übernahmen, als ihnen in anderen Regionen in der Spätantike zugestanden wurde. Zweitens ahmten jüdische Frauen ihre christlichen Nachbarinnen nach. In mittelalterlichen Städten war es ganz normal, dass man christliche und jüdische Frauen gemeinsam in Betrieben und auf dem Markt antraf. Drittens waren Frauen in den Familien besonders aktiv, in welchen die Männer viel reisten und die Geschäftsbelange den Frauen überließen. Dies unterschied sie gleichfalls nicht von den christlichen Frauen. Während Reisen in muslimische Länder nach den Angriffen auf jüdische Gemeinden im Zuge des Ersten Kreuzzuges 1096 aufhörten, waren sie innerhalb Europas weiterhin üblich. Männer wie Frauen reisten regelmäßig. Obwohl die Anzahl der Texte, die über männliche Reisende berichten, jene von Frauen übersteigt, war die Anzahl reisender Frauen dennoch überraschend hoch. Wie auch unter Christ_innen waren die ökonomischen Aktivitäten von Frauen Anlass für negative Kommentare. In den Straßen und Läden mittelalterlicher Städte waren jüdische Frauen aktiv am lokalen Geschäftsleben beteiligt, als Witwen, Individuen oder gemeinsam mit ihren Männern, trotzdem sorgten sich einige Rabbiner um die Fähigkeiten von Frauen, mit großen Geldsummen zu hantieren und finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Solches Gebahren wich vom talmudischen Recht ab und konterkarierte es geradezu. Während einige Rabbiner und Rechtsgelehrte versuchten, Frauen von der Verstrickung in ökonomische Angelegenheiten abzuhalten, scheint es, dass in der Praxis die Frauen bis in die Frühe Neuzeit aktiv im Geschäftsleben verblieben, vor allem, wenn es sich um gemeinsame Familienbetriebe handelte.22 22
Alyssa GRAY, „Married Women and ‘Tsedaqah’ in Medieval Jewish Law: Gender and the Discourse of Legal Obligation“, Jewish Law Association Studies 17 (2007): 168– 212; Debra KAPLAN, „‘Because Our Wives Trade and Do Business With Our Goods’: Gender, Work, and Jewish-Christian Relations“, in New Perspectives on JewishChristian Relations (hg. v. Elisheva Carlebach und Jacob J. Schachter; Leiden: Brill, 2011), 241–264; Elisheva BAUMGARTEN, „Charitable like Abigail: The History of an Epitaph“, Jewish Quarterly Review 105 (2015): 312–339.
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Religiöse Praxis Sie sorgt für Wolle und Flachs (Spr 31,13), um Tzitzit (Gebetsfäden) zu weben, und arbeitet voll Lust mit ihren Händen (ebd.) Vorausschauend achtet sie auf die vielen Gebote, alle, die sie sehen, preisen sie… Freiwillig erfüllt sie den Willen des Schöpfers bei Tag und Nacht. Auch des Nachts erlischt ihre Lampe nicht (31,18) – sie fertigt Kerzen für die Synagoge und Schulen und sagt Psalmen auf. Sie singt Hymnen (zemirot) und Gebete (tefila), sie spricht Bittgebete (tachanunim)… In allen Städten unterrichtet sie Frauen und lehrt sie Lieder. Sie kennt die Ordnung des Morgen- und Abendgebetes Und sie kommt früh in die Synagoge und bleibt lang. Sie steht den ganzen Jom Kippur, singt und bereitet die Lichter. Den Schabbat und die Feiertage ehrt sie genau wie die Toragelehrten.
Etwa ein Drittel des Gedichtes über Dolce ist ihren religiösen Aktivitäten gewidmet. Ihr Mann betont ihre Arbeit für die Gemeinde, die Armenfürsorge, das Einkleiden der Bräute und die Vorbereitung der Toten für das Begräbnis, ebenso wie ihre persönliche Frömmigkeit und Hingabe. Er verweist auch auf ihren Status innerhalb der Gemeinde – sie unterrichtete Frauen in der Gemeinde und in anderen Städten, wie man betet und führte Frauen im Gebet an. Als Frau eines Gemeindevorstehers, der den „Pietisten“, den Chasside Aschkenas, angehörte, waren die religiösen Aktivitäten der Dolce ungewöhnlich breit.23 Die meisten ihrer Taten werden allerdings auch von anderen Frauen berichtet und galten ebenso als charakteristisch für nicht besonders gelehrte fromme Männer. Wie Dolce, von der es heißt, dass sie früh zur Synagoge ging und dort lange blieb, besuchten Frauen im Mittelalter die Synagoge regelmäßig, nicht nur an Schabbaten, auch an Wochentagen. Tatsächlich gehen manche Quellen davon aus, dass Frauen – wie die Männer – zweimal am Tag in die Synagoge gingen, und es gibt Berichte von Bediensteten und christlichen Geschäftspartner_innen, die in die Synagoge kamen, um sie für geschäftliche Angelegenheiten herauszubitten. Archäologische Befunde legen nahe, dass viele mittelalterliche Synagogen, von denen einige während des Ersten Kreuzzuges zerstört wurden, keine eigene Frauenabteilung besaßen, dass also die Frauen wahrscheinlich in einem für sie bestimmten Teil im Hauptraum gebetet haben dürften. Nach dem Ersten Kreuzug wurden 19 Synagogen mit einer Frauenabteilung, die durch kleine Fenster mit dem Hauptgebäude verbunden war, wiedererrichtet. Einige Grabsteine des Mittelalters erwähnen Frauen wie Dolce, die das Frauengebet anführten. Diese Gebetsleiterinnen, wie jene Frauen, die
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Zur Geschichte der Chasside Aschkenas vgl. Ivan G. MARCUS, Piety and Society: The Jewish Pietists of Medieval Germany (Leiden: Brill, 1981).
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andere in rituellen Belangen instruierten, waren oft Töchter oder Verwandte von männlichen Kantoren.24 Im Laufe des 13. Jh. veränderte sich der Zugang von Frauen zur Synagoge, da es üblich wurde, dass Menstruierende ihren Besuch mieden. Während im 11. und 12. Jh. aus den Quellen hervorgeht, dass nur besonders fromme Frauen während der Menstruation nicht in die Synagoge gingen, wurde diese Praxis nun für alle üblich. Manchmal beteten die Frauen außerhalb der Synagoge, während andere schlicht überhaupt nicht hingingen.25 In der Synagoge und ihrer Umgebung fanden auch viele andere Gemeindeund persönliche Feiern statt, wie Beschneidungen, Hochzeiten und Gerichtsverhandlungen. Hochzeiten wurden im Hof der Synagoge zelebriert, Beschneidungen innerhalb und Rechtsangelegenheiten oft im Eingangsbereich abgehandelt. In vielen aschkenasischen Gemeinden war die Synagoge ein Gerichtsort, vor allem zur Lösung bei schwierigen und langwierigen Beschwerden. Ein Gemeindemitglied, männlich oder weiblich, konnte Gebete unterbrechen, um eine Beschwerde vorzutragen. Das bedeutet, dass Frauen in der Öffentlichkeit beachtete und selbstbewusste Akteurinnen waren.26 Viele Frauen des Mittelalters zeigten auch ihre persönliche Frömmigkeit öffentlich. Während das Torastudium in erster Linie Männersache war, erwähnen die Quellen Frauen im Zusammenhang mit Gebet, Armenfürsorge und Fasten, in einer Weise, die auch für viele Männer bestimmend war. Fasten war eine allgemeine Praxis unter Juden und Jüdinnen im Mittelalter, für die Gemeinde, aus persönlicher Reue, oder auch als Ausdruck der Bitte. Viele dieser Frömmigkeitspraktiken wurden auch in der Synagoge bekannt gemacht. Wie auch andere Frauen instruierte Dolce Frauen in religiösen Handlungen. Im Normalfall wurden diese Leiterinnen im Zusammenhang mit Bereichen erwähnt, die Teil weiblicher Expertise waren, wie das Lichterzünden am Schabbat oder Reinheitsriten bei Menstruation. Frauen werden auch als Instanzen im Bereich der Kaschrut und als Expertinnen für rituelle Kleidung erachtet. Diejenigen Frauen, die namentlich erwähnt werden, sind praktisch in allen Fällen Schwestern, Frauen und Töchter rabbinischer Autoritäten. Von einigen heißt es, dass sie ihren Unterricht von ihren männlichen Verwandten 24
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Zu Synagogen für Frauen, eine Thematik, die noch zu untersuchen ist, vgl. Richard KRAUTHEIMER, Mittelalterliche Synagogen (Berlin: Frankfurter Verlags-Anstalt, 1927), 110–112; Monika PORSCHE, „Speyer: The Medieval Synagogue“, in Jews of Europe (hg. v. Cluse), 428–429. Dolce selbst war Gebetsleiterin. Andere werden auf Grabsteinen erwähnt; vgl. GROSSMAN, Pious and Rebellious, 181. Elisheva BAUMGARTEN, „‘And they do nicely’: A Reappraisal of Menstruating Women’s Refusal to Enter the Sanctuary in Medieval Ashkenaz“, in Ta Shma: Essays in Memory of Israel M. Ta Shma (hebr.) (hg. v. Rami Reiner et al.; Alon Shvut: Tevunot, 2011), 85–104; Moshe ROSMAN, How Jewish is Jewish History? (Oxford und Portland, Oregon: Littman Library, 2007), 131–154. Avraham GROSSMAN, „The Origins and Essence of the Custom of ‘Stopping the Service’“ (hebr.), Mil’et 1 (1983): 199–221.
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erhalten haben. Z.B. soll Bellette, die Schwester von Isaak ben Menachem aus LeMans (11. Jh.), die Frauen in ihrer Gemeinde instruiert haben, wie sie sich für das rituelle Bad in der Mikwe vorzubereiten hatten. Im Fall der Bellette betonten die Autoren, dass sie die Frauen im Namen ihres Bruders unterwies.27 Man kann nur vermuten, welche Verhaltensempfehlungen diese Frauen, die zweifellos eine autoritative Position hatten, mit oder auch ohne Zustimmung ihrer männlichen Verwandten noch gaben. In Bezug auf Festzeiten und tägliche Verrichtungen folgten jüdische Frauen im Mittelalter Regelungen, die in antiken Quellen als alleinige Männeraufgaben definiert wurden. Diese Bestimmungen, die man als „zeitgebundene Gebote“ kennt, beinhalteten etwa das Hören des Widderhorns (Schofar) am Neujahrstag oder die Teilnahme an den Ritualen beim Laubhütten- oder Pessachfest. Sie inkludierten auch das Tragen der Tefillin (Gebetsriemen) und Tzitzit (Gebetsquasten).28 Frauen, die solche Gebote befolgten, gehörten üblicherweise elitären Familien an, in denen auch die Männer sich an sie hielten. Mit anderen Worten, es handelt sich dabei um religiöse Praktiken, die nicht nur von Genderaspekten, sondern auch vom sozialen Stand bestimmt wurden. Im 11. und 12. Jh. pochten Frauen auf das Recht, diese Gebote ebenso wie Männer einhalten zu können, aber gegen Ende des 13. Jh. und zu Beginn des 14. Jh. erstarb die Praxis wieder. Rabbinische Autoritäten machten in dieser Zeit religiöse Handlungen, die bislang nur von einer rabbinischen Elite befolgt wurden, Gebote wie das Tragen von Gebetsriemen, zu einer Angelegenheit, die alle erwachsenen Männer und nicht nur einige wenige zu erfüllen hatten. Mit den Veränderungen in Bezug auf die religiösen Pflichten der Männer wuchs der Widerstand dagegen, dass Frauen sie erfüllten. Die wachsenden Einschränkungen in Bezug auf die rituelle Praxis von Frauen innerhalb der jüdischen Gemeinden spiegelte dabei erneut die Praxis in den christlichen Gemeinden wider.29 Schließlich muss betont werden, dass Frauen, unabhängig davon, wie wichtig oder fromm sie waren, formal in keiner Institution der Gemeinde vertreten waren. Sie waren nicht Mitglied des Gemeinschaftsgerichts oder des Synagogenkommittes, Spendensammler oder Gemeindevorsteher (parnasim). Genauso waren bei den Rechtsinstanzen nur Männer (meist die gleichen) vertreten, und diese sahen Frauen als untergeordnet an, sowohl in Hinsicht auf religiöse Praktiken als auch in allen anderen Angelegenheiten.
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Viele dieser Frauen wurden bereits von Abraham BERLINER in der hebräischen Version seines Aus dem inneren Leben der deutschen Juden im Mittelalter (Berlin: Julius Benzian, 1871), 8–9 erwähnt. Bitkha HAR-SHEFI, Women and Halakha in the Years 1050–1350 CE: Between Custom and Law (Jerusalem: Hebrew University of Jerusalem, 2002). Elisheva BAUMGARTEN, Practicing Piety in Medieval Ashkenaz (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2014). BAUMGARTEN, Mothers and Children, 85–91.
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Juden/Jüdinnen und Christ_innen: Geteilter Raum und getrennte Sphären
Wie schon betont wurde, führten Juden und Jüdinnen ihr Leben zwar getrennt, mit ihren eigenen Gemeindeinstitutionen und in ihrem eigenen Regelungsrahmen, jedoch auch in Verbindung zu ihren Nachbarn. Juden/Jüdinnen und Christ_innen lebten nicht nur in gemeinsamen Vierteln und waren in derselben materiellen Kultur verankert, sie teilen auch Ideen und Werte. Genderbasierte Unterscheidungen und Haltungen in Bezug auf alltägliche Verrichtungen und Religiosität wurden oft geteilt, trotz der offensichtlichen Unterschiede zwischen jüdischer und christlicher Theologie und Glaubenspraxis. Zeit und Raum waren gleichzeitig geteilt und verschieden. Juden und Jüdinnen lebten innerhalb christlicher mittelalterlicher Städte und in ihrem eigenen Rhythmus. Jüdische und christliche Frauen standen, nicht selten mehr als ihre Männer, in täglichem Kontakt. Einige Christ_innen kamen in Geschäftsangelegenheiten in jüdische Häuser, da dies der Ort war, wo diese meist abgehandelt wurden, andere, vor allem Frauen, lebten in jüdischen Häusern, als Hausbedienstete, Ammen oder Kindermädchen. Die Kirche und die Rabbiner waren sich dieser Verbindungen sehr wohl bewusst und versuchten sie oft durch gesetzliche Regelungen zu unterbinden. Mittelalterliche Quellen schreiben regelmäßig über die Anwesenheit von Nichtjuden und -jüdinnen in jüdischen Häusern, die Feuer am Schabbat machten, kochten, oder christliche Feiertage und Feste hielten. Genauso betraten Juden und Jüdinnen christlichen Raum, Häuser von Nachbarn aber auch Gotteshäuser. Jüdische Kinder wurden bei christlichen Ammen gelassen, Pfänder wurden zurückgegeben und Handel geschlossen. Juden/Jüdinnen und Christ_innen wussten, wo man sich finden konnte, trafen sich zu Hause, in der Synagoge oder in der Kirche. Einige Quellen berichten von Juden/Jüdinnen und Christ_innen beim gemeinsamen Mahl oder dem Austausch von Geschenken.30 Trotz dieser gemeinsamen Aspekte in Zeit, Raum und materieller Kultur, manifestierte das jüdische Leben auch die Unterschiede zwischen Juden/Jüdinnen und ihren Nachbarn. So, um nur ein Beispiel zu nennen, unterscheidet sich der jüdische vom christlichen Kalender. Die beiden Gemeinschaften begingen unterschiedliche Festtage und wöchentliche Ruhetage. Tägliche Rituale wie Gebet und Fasten – von Frauen wie Männern – bei Christ_innen und Juden/Jüdinnen zeigten direkt die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gemeinschaft auf. Auch die Auf- und Zubereitung von Speisen ist ein gutes Beispiel dafür, dass viele damit verbundene Verrichtungen Frauen 30
Solomon GRAYZEL, The Church and the Jews in the Thirteenth Century (New York: Hermon Press, 1966) für die christliche Gesetzgebung; Jacob KATZ, The “Shabbes Goy”: A Study in Halakhic Flexibility (übersetzt v. Yoel Lerner; Philadelphia: Jewish Publication Society, 1989) diskutierte einige Aspekte der jüdischen Gesetzgebung.
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betrafen, ihre Bediensteten und Nachbarn. Die jüdischen Koscher-Bestimmungen verboten das Essen von bestimmten Fleischsorten. Sogar wenn das Essen von einem an sich koscheren Tier stammte, hatte es korrekt von einem jüdischen Schächter geschlachtet zu werden, und es waren damit auch einige Bestimmungen in Bezug auf die Zubereitung verbunden. Tiere wurden oft von Nichtjuden/Nichtjüdinnen in Gemeinschaft mit Juden/Jüdinnen gehalten, von Juden geschlachtet und hinterher, wenn sie nicht den rituellen Anforderungen entsprachen, auch an die nichtjüdischen Nachbar_innen verkauft. Diese Praxis führte zu einigen Spannungen, da es vorkommen konnte, dass Christ_innen Fleisch von minderer Qualität aßen, das von Juden und Jüdinnen verweigert wurde.31 Feste und Fastengebräuche unterstrichen ebenso die Unterschiede zwischen den jüdischen und christlichen Gemeinschaften. Beide fasteten regelmäßig während des Jahres, im Rahmen des Jahresfestkreises und als Ausdruck von persönlicher Frömmigkeit und Hingabe. Diese Fasttage fielen selten auf dieselben Tage. Christ_innen fasteten oft am Mittwoch und Freitag, während Freitage für Juden und Jüdinnen niemals Fasttage waren, dafür aber Montage und Donnerstage. Juden und Jüdinnen fasteten in den Wochen nach Pessach, Christ_innen vor und während der Passionszeit. Auch in der Praxis des Fastens gab es merklich Unterschiede zwischen den Gemeinschaften, bei Männern wie Frauen. Fasten- und Festzeiten schrieben auch andere Alltagsverrichtungen vor, wie etwa, wann sich jemand selbst waschen konnte oder sollte. Juden und Jüdinnen badeten regelmäßig an Freitagen, Christ_innen nicht. Unterschiede gab es auch hinsichtlich materieller Objekte und Kultur. Juden/Jüdinnen und Christ_innen verwendeten andere Kochutensilien als Teil der oben erwähnten unterschiedlichen Esskultur. Juden und Jüdinnen besaßen ihre eigenen spezifischen Gegenstände für Zeremonien und Riten, wie Torarollen, Gebetsriemen, Gebetsschals und Schofar, die im Übrigen vor allem Männer betrafen, und es gab keine Reliquienverehrung, die im Christentum eine wichtige Rolle spielte. Reliquien wurden von Christ_innen nicht nur in öffentlichen Zeremonien gebraucht, sondern waren auch im häuslichen Bereich präsent. Christliche Prozessionen führten die Gebeine von Heiligen mit und der Genesungsprozess von kranken Christ_innen konnte beispielsweise durch einen Teil eines Felsens aus dem Grab Jesu beschleunigt werden. Als die Anzahl der Reliquien im christlichen Europa während der Kreuzzüge stieg, nahmen auch die substanziellen Unterschiede zwischen christlichen und jüdischen Gemeinden zu. Arzneien unterschieden sich kaum und gehörten zu einem großen Teil in die Zuständigkeit von Frauen, insofern als diese Kräuter zogen und Heilmittel für ihren Haushalt herstellten. Juden/Jüdinnen und Christ_innen teilten Märkte und Krankheiten, aber die Religion unterschied sie. Jüdische und christliche Ärzte und Schwestern haben über die Jahre zusammengearbeitet und sich oft 31
GRAYZEL, Church and the Jews, 42.
Rolle und Alltagsleben
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mit Rat ausgeholfen oder sind füreinander eingetreten. Die Arzneien, die verwendet wurden, waren mehr oder weniger die gleichen, da sie zumeist aus lokalen Erzeugungen oder Märkten stammten. Aber der religiöse Glaube gab den Ausschlag dafür, wie diese Substanzen benützt wurden, beeinflusste die Formel, den rezitierten Vers bei der Anwendung, ja sogar die Theorie, welche die Wirkung beschrieb. Und da medizinische Praktiken so oft mit Leben und Tod zusammenhängen, mied man manchmal Vertreter_innen eines anderen Glaubens und misstraute ihnen.
7.
Zusammenfassung
Wie Judith Baskin, die auch einen Beitrag in diesem Band schrieb, bemerkte, wurden jüdische Frauen im Mittelalter oftmals vom traditionellen Kern des Lernens ausgeschlossen und dürften sich nicht an gelehrten theologischen und theoretischen Konversationen beteiligt haben.32 Dies galt weithin auch für christliche Frauen. Gleichzeitig dürfte diese Exklusion nicht den Sinn für Zugehörigkeit, religiösen Glauben oder die Teilhabe an täglichen frommen Aktivitäten unter Frauen beeinträchtigt haben. Die Bibel war besonders zentral für das Zugehörigkeitsgefühl jüdischer (und christlicher) Frauen. Im Gegenatz zu anderen traditionellen Texten, zu denen Frauen keinen Zugang hatten, wurde die Bibel als Lehrmittel mit Vorbildwirkung verwendet. Im Hinblick auf die Geschlechterkonzeptionen und die weiblichen Aktivitäten innerhalb des mittelalterlichen Felds ist man sowohl von den Unterschieden als auch den Ähnlichkeiten zwischen dem jüdischen und christlichen Leben und speziell zwischen jüdischen und christlichen Frauen überrascht. Forscher des 19. Jh. imaginierten sich mittelalterliche jüdische Heimstätten als Häfen in einer feindlichen jüdischen Welt. Heute betrachten wir diese als ebenso verschieden, als auch in die christliche Umwelt integriert. Jüdisches Leben im mittelalterlichen Europa unterschied sich zweifellos von der sie umgebenden christlichen Kultur. Im Unterschied zu Christ_innen förderten Juden/Jüdinnen das Zölibat als religiöse Praxis nicht. Gleichzeitig unterstützten Juden eine Geschlechterhierarchie, die sehr dem glich, was in der mittelalterlichen christlichen Gesellschaft üblich war. Von Frauen nahm man an, dass sie ihren Männern und Vätern (bis sie geschieden oder verwitwet waren) untergeordnet waren, und in jedem Fall wurde erwartet, dass sie den männlichen Gemeindevorstehern gehorchten. Sie besaßen einen geschlechterspezifischen Status vor den jüdischen Gerichten und als Teil des jüdischen Kultus. Gemeinsam mit christlichen Frauen teilten sie die Erfahrung wachsender Einschränkungen – in Bezug auf Scheidung und Geschäftsleben – im Laufe des 12. und 13. Jh. Zwei Gemeinschaften – zwei ähnliche Geschlech32
BASKIN, „Jewish Traditions“.
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terordnungen. Um beide besser kennenzulernen, sollten wir bei unserer künftigen Erforschung der geteilten mittelalterlichen Welt von Juden/Jüdinnen und Christ_innen die gemeinsamen geschlechterspezifischen Rahmenbedingungen den religiösen Unterschieden gegenüberstellen.
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Weiterführende Literatur
ABRAHAMS, Israel, Jewish Life in the Middle Ages (London: Goldston Publishing, 1932). AGUS, Irving, Urban Civilization in Pre-Crusade Europe (New York: Yeshiva University Press, 1965). BAUMGARTEN, Elisheva, Mothers and Children: Jewish Family Life in Medieval Europe (Princeton: Princeton University Press, 2004). BAUMGARTEN, Elisheva, Practicing Piety in Medieval Ashkenaz (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2014). BAUMGARTEN, Elisheva, „Charitable like Abigail: The History of an Epitaph“, Jewish Quarterly Review 105 (2015): 312–339. BASKIN, Judith R., „Dolce of Worms: The Lives and Deaths of an Exemplary Medieval Jewish Woman and her Daughters“, in Judaism in Practice: From the Middle Ages through the Early Modern Period (hg. v. Lawrence Fine; Princeton: Princeton University Press, 2001), 436–437. BASKIN, Judith R., „Jewish Traditions about Women and Gender Roles“, in The Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe (hg. v. Judith Bennett und Ruth Mazo Karras; Oxford: Oxford University Press, 2012), 36–51. CHAZAN, Robert, Reassessing Jewish Life in Medieval Europe (New York: Cambridge University Press, 2010). CLUSE, Christoph, The Jews of Europe in the Middle Ages (Tenth-Fifteenth Centuries) (Turnhout: Brepols, 2004). GRAYZEL, Solomon, The Church and the Jews in the Thirteenth Century (New York: Hermon Press, 1966). GROSSMAN, Avraham, Pious and Rebellious: Jewish Women in Medieval Europe (Waltham: University of New England Press, 2004). KATZ, Jacob, „Marriage and Sexual Life among the Jews at the Close of the Middle Ages“, Zion 10 (1945): 21–54 (hebr.). MARCUS, Ivan, Rituals of Childhood: Jewish Acculturation in Medieval Europe (New Haven: Yale University Press, 1996). ROSMAN, Moshe, How Jewish is Jewish History? (Oxford und Portland, Oregon: Littman Library, 2007). STOW, Kenneth, Alienated Minority: The Jews of Medieval Latin Europe (Cambridge Mass.: Harvard University Press, 1992).
„Wenn du in diesen Tagen schweigst“ (Est 4,14): Zur mittelalterlichen biblischen Heldin Ester Constanza Cordoni Österreichische Akademie der Wissenschaften
Die Esterrolle (Megillat Ester) wird im Kontext der jüdischen Liturgie während Purim gelesen: Darin wird erzählt, warum dieses Fest, das jährlich am 14.–15. Adar, also im März oder April, stattfindet, überhaupt gefeiert wird.1 Bevor wir uns einem Teil der breiten mittelalterlichen Rezeption dieser zentralen biblischen Frauengestalt widmen, ist eine kurze Inhaltsangabe nötig. Worum geht es in der Ester-Erzählung? Unter der Herrschaft von König Achaschwerosch sind die jüdischen Gemeinden in seinem Reich aufgrund eines vom Wesir Haman geschmiedeten maliziösen Plans im Begriff vernichtet zu werden. Als Haman erfährt, dass sich der Jude Mordechai geweigert hat, sich vor ihm niederzubeugen, will er ihm eine Lektion erteilen und zu diesem Zweck redet er dem König ein, er solle ein Edikt erlassen, um die Vernichtung aller Juden seines Reiches anzuordnen. Mit der Hilfe seiner Cousine Ester, die unter allen schönen jungen Frauen des Reiches auserkoren worden ist, um Königin zu werden, gelingt es Mordechai sein Volk zu retten, König Achaschwerosch zu überreden, Juden Privilegien zu erteilen und Haman und all seine vermeintlichen Anhänger zu bestrafen. Die Etymologie des Ausdrucks „Purim“, mit welchem das diesen Ereignissen gedenkende Fest bezeichnet wird, ist unsicher. Abgeleitet wird er von pur (Est 9,26), einem Wort, mit dem in der Bibel das Los benannt wird, das die Perser ziehen, um den Tag festzulegen, an dem Juden vernichtet werden sollen.2 Schließlich wurden an diesem Tag jedoch nicht die Juden vernichtet, sondern Tausende Nichtjuden kamen zu Tode. Das Buch Ester schließt mit einer Erklärung der Einführung von Purim als Fest, das den Wandel von Trauer in Glück versinnbildlicht. Gegen Ende der Esterrolle lesen wir, dass Mordechai den Juden in allen Provinzen des Reiches geschrieben habe, um das Feiern dieser Ereignisse einzuführen, 1
2
Vgl. Est 9,16–19.20–22.26–28.31. Purim ist das einzige biblische Fest, das nicht in der Tora Erwähnung findet. Siehe Adele BERLIN, „Esther“, in The Jewish Study Bible (hg. v. Adele Berlin und Marc Zvi Brettler; Oxford: Oxford University Press, 22014), 1619– 1621; 1619. Sowohl beim Fest als auch bei der Bezeichnung dafür könnte es sich um ursprünglich heidnische Phänomene gehandelt haben. Vgl. Carey A. MOORE, „Book of Esther“, in The Anchor Bible Dictionary. Vol. 2 (hg. v. David Noel Freedman; New York: Doubleday, 1992), 633–643; 637.
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Constanza Cordoni und machte ihnen zur Pflicht, den vierzehnten und fünfzehnten Tag des Monats Adar in jedem Jahr als Festtag zu begehen. Sie sollten es halten entsprechend den Tagen, an denen die Juden wieder Ruhe hatten vor ihren Feinden, und entsprechend dem Monat, in dem sich ihr Kummer in Freude verwandelte und ihre Trauer in Glück. Sie sollten sie als Festtage mit Essen und Trinken begehen und sich gegenseitig beschenken und auch den Armen sollten sie Geschenke geben (Est 9,21–22).3
Etliche Vorschriften in Bezug auf Purim stammen aus der talmudischen Literatur, die aus diesem ein besonders fröhliches Fest werden ließ.4
1.
Die Auslegung der Megillat Ester
Die Geschichte der Interpretation der Esterrolle setzt mit der Septuaginta, einer Übersetzung der Tora ins Koinè-Griechische, bereits im 3. Jh. v. d. Z., ein. Kennzeichnend für diese griechische Fassung der Esterrolle ist, dass sie Religiosität in eine Erzählung hineinzubringen versucht, die völlig frei davon ist: Nach dem masoretischen Text5 erwähnt die hebräische Fassung der Ester-Erzählung weder Gott noch andere biblische Konzepte wie Essensvorschriften, Endogamie oder Opfer, und zeigt kein Interesse für das Leben in oder die Institutionen von Judäa.6 Die Alterität der Rolle ist auch darin spürbar, dass sie nicht am Makronarrativ der Hebräischen Bibel teilnimmt, der – mit den Worten von Shlomo Goitein – eine Erzählung darüber darstellt, „wie Israel das 3 4
5
6
Siehe auch Est 9,1–2. Henry MALTER, „Purim“, The Jewish Encyclopedia 10 (1965): 277, beobachtet: „The jovial character of the feast was forcibly illustrated in the saying of the Talmud (Meg 7b) that one should drink on Purim until he can no longer distinguish ‚Cursed be Haman‘ form ‚Blessed be Mordecai‘, a saying which was codified in the Shulchan Aruk (ib.), but which was later ingeniously explained as referring to the letters occurring in the sentences ארור המןand ברוך מרדכיin each of which the numerical value of the letters amounts to 502.“ Wie BERLIN, „Ester“, 1619–1620., meint, das Buch Ester könne als Komödie gelesen werden, habe aber eine ernsthafte Seite, und zwar in seiner Funktion als Diasporaerzählung: „As such, it promotes Jewish identity, solidarity within the Jewish community, and a strong connection with Jewish (biblical) tradition.“ Zu den unterschiedlichen antiken, mittelalterlichen und modernen Ansätzen zum Problem der Abwesenheit Gottes in der Esterrolle siehe Aaron KOLLER, Esther in Ancient Jewish Thought (Cambridge: Cambridge University Press, 2014), 96. Siehe Barry Dov WALFISH, Esther in Medieval Garb: Jewish Interpretation of the Book of Esther in the Middle Ages (Albany: State University of New York Press, 1993), 75– 76; Carol MEYERS, „Esther“, in The Oxford Bible Commentary (hg. v. John Barton und John Muddimann; Oxford: Oxford University Press, 2001), 325. Für einen Überblick über jüdische und christliche Einstellungen zur umstrittenen Kanonizität der Esterrolle siehe MOORE, „Book of Esther“, 635–636.
Ester
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Land Israel erhielt, wie sie das Land verloren, und wie sie zurückkehrten und das Land erneut bekamen.“7 Eine Reihe exegetischer Texte setzt in der rabbinischen Periode die in der Septuaginta aufkommende Judaisierung der Esterrolle fort und bildet dabei die Grundlage für die mittelalterliche Ester-Rezeption.8 Besonders wichtig bei dieser Judaisierung ist, dass Gott als Erzählfigur eingeführt wird und die Schilderung den menschlichen Charakteren angepasst wird. In den folgenden Seiten werde ich auf die Schilderung der Frau Ester in mittelalterlichen Texten verschiedener Genres eingehen. Jeder dieser Texte interpretiert die biblische Erzählung, einige in einer deutlich expliziteren Art und Weise als andere, z. B. indem sie den Text der Bibel zitieren und kommentieren; jeder dieser Texte fokussiert auf bestimmte Aspekte, wobei Teile der Ester-Erzählung kaum Beachtung finden. Um ein prägnantes Beispiel für eine Entscheidung, die sowohl einige rabbinische und mittelalterliche Interpreten treffen, zu geben: Wenngleich die Rolle nach der Heldin benannt ist, geht es nicht allen Texten darum, sie ins Zentrum ihrer exegetischen Anliegen zu setzen.9 In diesem Zusammenhang sind – besonders für Leser_innen, die mit der rabbinischen Hermeneutik nicht vertraut sind – ein paar Worte zu Midrasch 7
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Shlomo Dov GOITEIN, Bible Studies (hebr.) (Tel Aviv: Yavne, 1967), 59. Auch im Hinblick auf die Beschreibung des gesamten Tanakh als Reisebericht ist das Buch Ester eine Anomalie. Siehe Liliana R. FEIERSTEIN, „Diaspora“, in Handbuch Jüdische Studien (hg. v. Christina von Braun und Inge Stephan; UTB 8712; Wien: Böhlau, 2018), 99–109; 108. Für einen Überblick siehe Myron B. LERNER, „The Works of Aggadic Midrash and the Esther Midrashim“, in The Literature of the Sages 2: Midrash and Targum, Liturgy, Poetry, Mysticism, Contracts, Inscriptions, Ancient Science and the Languages of Rabbinic Literature (hg. v. Shmuel Safrai et al.; CRINT 2: The Literature of the Jewish People in the Period of the Second Temple and the Talmud 2,3,2; Assen: Van Gorcum, 2006), 176–229. Der Babylonische Talmud überliefert im Traktat Megilla (10b–17b) einen Vers-für-Vers Kommentar zum Buch Ester, wobei es sich um eine eher seltene Gattung im talmudischen Kontext handelt. Siehe Günter STEMBERGER, „Midrasch in Babylonien, am Beispiel von Sota 9b–14a,“ Henoch 10 (1988): 183–203. Insofern als er der Frage der jüdischen Identität in der Diaspora nachgeht, wird argumentiert, dass der Ester-Midrasch einen Diaspora-Midrasch darstellt. Siehe Dagmar BÖRNER-KLEIN, Eine babylonische Auslegung der Ester-Geschichte (Frankfurt am Main: Lang, 1991), 271–274; Gerhard BODENDORFER (LANGER), „Der babylonische Ester-Midrasch: Diaspora ‚positiv denken‘, ohne sie zu verklären“, Kirche und Israel 18 (2003): 134– 149; DERS., „Die Diaspora, die Juden und die ‚Anderen‘“, in „Eine Grenze hast Du gesetzt“: Edna Brocke zum 60. Geburtstag (hg. v. Ekkehard W. Stegemann und Klaus Wengst; Stuttgart: Kohlhammer, 2003), 193–214; 194. Die Auslegung der Esterrolle in Palästina umfasst kleinere Midraschim wie Abba Gurion oder Panim Acherim A und B sowie das umfangreichere Ester Rabba. Im Midrasch Abba Gurion (10. Jh.) steht Hamans Plan im Mittelpunkt der Erzählung, in der Ester nur eine Nebenfigur ist. Zu Abba Gurion siehe Günter STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrash (München: Beck, 92011), 314; Dagmar BÖRNERKLEIN und Elisabeth HOLLENDER, Die Midraschim zu Ester (Leiden: Brill, 2000), 23f.
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und seinem modus operandi erforderlich.10 Midrasch interpretiert keine Episoden aus der Erzählung der Hebräischen Bibel. Sein Fokus liegt vielmehr auf dem Wortlaut einzelner Verse aus der Schrift.11 Verse werden segmentiert und die daraus resultierenden Abschnitte in Form von anonymen oder spätantiken rabbinischen Autoritäten (Rabbinen) zugeschriebenen Aussagen ausgelegt.12 Die Rabbinen und die Stimmen, die sie zitieren, lesen atomistisch.13 Rabbinische Hermeneutik, wie Hermeneutik im Allgemeinen, ist ein schöpferisches Phänomen: Dies ist offensichtlich in der Art und Weise, wie im Midrasch Verse miteinander in Verbindung gebracht werden. Oft erfolgt Interpretation dadurch, dass ein Verssegment durch ein aus einem ganz anderen Kontext stammendes anderes Verssegment erklärt wird, wobei kein evidenter Bezug zwischen den beiden besteht. Aufgrund dieser Segmentierung und Auswahl von auszulegenden Abschnitten, aufgrund der sonstigen Prioritäten, die die rabbinische Agenda beim Lesen aufzeigt, erweist es sich für Leser_innen, die die Ester-Erzählung nicht kennen, als praktisch unmöglich, diese durch das Lesen eines rabbinischen Kommentars zum Buch Ester zu rekonstruieren. Diese ist eine von vielen Formen der ideologischen Fokalisierung, die eine Annäherung an den biblischen Text bewirken kann. Jede Neuerzählung der Esterrolle, jede Neuinszenierung eines Purimspiels enthält Elemente der ursprünglichen Erzählung und schweigt über andere, die für andere Interpreten_innen der Vergangenheit und Gegenwart von Interesse sein können. Dies trifft auch bei der Rezeption von Ester in der jüdischen Literatur des Mittelalters zu. Ein eindeutiges Beispiel für die beschriebene Fokalisierung bei der Segmentierung und Auswahl des Midrasch ist die folgende Interpretation in Seder Eliyyahu (9. Jh.):14 Um den Ausdruck wa-jaʿavor in Ex 34,6 zu erläutern, erklärt die anonyme Stimme des Seder Eliyyahu, dass wa-jaʿavor in 10 11
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Für eine ausführlichere Darstellung des Phänomens Midrasch siehe LANGER, Midrasch (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016). Arnon ATZMON, „Old Wine in New Flasks: The Story of Late Neoclassical Midrash“, European Journal of Jewish Studies 3 (2009): 183–203, weist darauf hin, dass der klassische Midrasch verszentriert ist, aber der post-klassische Midrasch sehr wohl Episoden interpretieren kann. Ester Rabba II wäre, seiner Meinung nach, ein Beispiel für eine Rückkehr zum Versfokus. Er beschreibt diesen Teil daher als neoklassisch. Über diesen Aspekt der rabbinischen Hermeneutik siehe Alexander SAMELY, Rabbinic Interpretation of Scripture in the Mishnah (Oxford: Oxford University Press, 2002), Kap. 2; DERS., Forms of Rabbinic Literature and Thought (Oxford: Oxford University Press, 2007), Kap. 4; Gerhard LANGER, Midrasch (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 62. Gerade im Hinblick auf rabbinische Lektüren der Esterrolle von KOLLER, Esther in Ancient Jewish Thought, 170–171 in Frage gestellt. Koller argumentiert, dass die Rabbinen nicht nur atomistisch gelesen haben, sondern „much of the rabbinic attention will be directed to the broad themes of Esther as a whole, […] that the Rabbis were attuned to broader issues, as well.“ Zu Seder Eliyyahu, siehe Max KADUSHIN, Organic Thinking: A Study in Rabbinic Thought (New York: The Jewish Theological Seminary of America, 1938); Constanza CORDONI, Seder Eliyahu: A Narratological Reading (Berlin: de Gruyter, 2018).
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Est 4,17 folgendes bedeute: Mordechai habe Esters Zögern vor seiner Bitte in Est 4,14 („Wenn du in diesen Tagen schweigst“) vergessen, nachdem er mit seinen Worten erreicht hatte, dass Ester sich für ihr Volk einsetzte. Die Worte Mordechais versinnbildlichen die Botschaft der Erzählung, von der nichts weiter im gesamten Text des Seder Eliyyahu gesagt wird. Wir wissen – und gehen davon aus, dass das intendierte Publikum dieses Texts auch wusste –, dass Mordechais Worte in der Bibel eine eindeutige Warnung in Esters Ohren waren.15 Dies wird aber im Seder Eliyyahu nicht ausformuliert. Ester reagiert richtig und handelt so, wie Juden und Jüdinnen es von ihr hätten erwarten können, weshalb Mordechai ihr ursprüngliches Zögern vergisst.16
2.
Ester in Pirqe deRabbi Eli‘ezer
Pirqe deRabbi Eli‘ezer, ein spätes rabbinisches Werk, allem Anschein nach von einem einzelnen Autor verfasst. Worüber in der Forschung ein ungefährer Konsens herrscht, ist, dass es sich nicht um einen Midrasch im herkömmlichen Sinn handelt. Er erzählt in zwei von den letzten Kapiteln die Ester-Erzählung nach. Kapitel 49 führt sie ein und kontextualisiert sie als Erfüllung bzw. Wiederholung der Zerstörung Amaleks und des Sieges Samuels über den Amalekiter Agag, der als Vorfahre Hamans aufgefasst wird. Esters erster Auftritt in Pirqe deRabbi Eli‘ezer zeigt sie im Gebet. Wir lesen hier: Samuel aber erwiderte: Wie dein Schwert die Frauen um ihre Kinder gebracht, / so sei unter den Frauen deine Mutter kinderlos gemacht. (1 Sam 15,33) Wie das Schwert deines Vorfahren Amaleks junge Israeliten außerhalb des Gewölks kinderlos gemacht hat, so soll deine Mutter kinderlos unter Frauen sein. Und durch das Gebet Esters und ihrer Mägde wurden alle Kinder Amaleks erschlagen und ihre Frauen blieben kinderlos und verwitwet, wie es heißt, Samuel aber erwiderte: Wie dein Schwert die Frauen um ihre Kinder gebracht. (Pirqe deRabbi Eli‘ezer 49)
Esters Gebet, welches in dieser Nacherzählung auch ihr Gefolge miteinbezieht, stimmt mit Samuels Dictum überein, insofern als beide die Zerstörung der Amalekiter, der Gegner Israels, zu Folge haben. Diese Ergänzung der Ester-Erzählung kann als ein erster Versuch gedeutet werden, die Figur und ihre Erzählung zu judaisieren. An anderer Stelle im gleichen Kapitel von Pirqe 15
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Vollständig lautet der Vers: „Wenn du in diesen Tagen schweigst, dann wird den Juden anderswoher Hilfe und Rettung kommen. Du aber und das Haus deines Vaters werden untergehen. Wer weiß, ob du nicht gerade für eine Zeit wie diese jetzt Königin geworden bist?“ Siehe Seder Eliyyahu Rabba 1,3–4.
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deRabbi Eli‘ezer wird das kompulsive Feiern Achaschwerwoschs beschrieben, wobei argumentiert wird, dass die Festmahle keine Assimilationsgefahr darstellen, denn „Wer sein Essen in Reinheit genoss, für den wurde sein Essen in Reinheit besorgt; und wer sein Essen in Unreinheit genoss, für den wurde sein Essen in Unreinheit besorgt, denn es heißt, [Denn der König hatte seinen Palastbeamten befohlen:] Jeder kann tun, was ihm beliebt (Est 1,8)“ (Pirqe deRabbi Eli‘ezer 49) Die erste Frau, die im Buch Ester in Erscheinung tritt, ist die erste Frau des Königs, Waschti. Über Waschti wird behauptet, sie habe verdient, nackt zu sterben und noch dazu an einem Schabbat, weil sie die Israelitinnen am Schabbat nackt arbeiten ließ.17 In Pirqe deRabbi Eli‘ezer wird in weiterer Folge argumentiert, dass Ester aus zwei Gründen Königin Persiens wurde: Einerseits, weil der Hofbeamte Daniel – der dem Midrasch zufolge in der Schrift Memukhan genannt wird – den reuevollen König Achaschwerosch tröstet – „Weine nicht, denn alles, was du Waschti getan hast, hast du dem Gesetz gemäß getan“ – wodurch der König ermutigt wird, erneut zu heiraten. Andererseits, weil Gott selbst gewollt habe, dass Esters Schönheit bemerkt wird: „Das Mädchen fand sein Gefallen und seine Gunst (Est 2,9). Und der Heilige, gepriesen sei Er, breitete Gunst und Anmut über ihr aus in den Augen aller, die sie sahen, denn es heißt: Ester aber gefiel allen, die sie sahen (Est 2,15).“
3.
Ester in Josippon: Ester im Gebet
Josippon – eine im frühen 10. Jh. in Süditalien verfasste hebräische Chronik18 – überliefert im neunten Kapitel eine Kurzfassung der Ester-Erzählung. Auffällig ist bei dieser mittelalterlichen Ester-Bearbeitung, dass sie sich reichlich an den Zusätzen der Septuaginta bedient. Wir verdanken es dem Josippon, dass die spätere jüdische Tradition das Materials aus der Septuaginta zur Kenntnis nimmt und rezipiert. Diese Tendenz im Josippon mag als Evidenz 17 18
Dieses voyeuristische Motiv hat eine Parallele in bMegilla 12b und Leqach Tov zu Est 2,1. Siehe BERLIN, „Esther“, 1619. Josippon ist eigentlich das erste auf europäischem Boden entstandene jüdische historiographische Werk. Zur Datierung, Quellen und Charakteristika siehe Saskia DÖNITZ, „Historiography among Byzantine Jews: The Case of Sefer Yosippon“, in Jews in Byzantium: Dialectics of Minority and Majority Cultures (hg. v. Robert Bonfil, Oded Irshai, Guy G. Stroumsa und R. Talgam; Leiden: Brill, 2012), 951–968; DIES., Überlieferung und Rezeption des Sefer Yosippon (TSMJ 29; Mohr Siebeck: Tübingen, 2013); DIES., „Sefer Yosippon (Josippon)“, in A Companion to Josephus (hg. v. Honora Howell Chapman und Zuleika Rodgers; Malden, MA: Wiley, 2016), 382–389. Maʾagarim datiert Josippon auf „vor dem Jahr 953“. Eine kritische Edition legte David FLUSSER, Hg., The Josippon (Josef Gorionides) (hebr.) (Jerusalem, 1978) vor. Für die Ester-Erzählung siehe ebd., 1:48–54.
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davon angesehen werden, dass dem Autor ein zentrales Anliegen war, unter Juden unbekannte Ester-Traditionen bekannt zu machen. In dieser mittelalterlichen, historiographischen Nacherzählung tritt Ester in der verhältnismäßig langen Gebetsepisode, die der Audienz beim König vorangeht, als jüdische Heldin auf. Das auf Septuaginta Zusatz C basierende Gebet,19 welches ca. ein Viertel der gesamten Ester-Erzählung ausmacht, lautet: Und Ester, die Königin, suchte Zuflucht beim Herrn, denn sie fürchtete sich vor dem Bösen, das aufgesprossen war. Und sie legte die Gewänder ihrer Königlichkeit ab und ihren prächtigen Schmuck und hüllte sich in Sackleinen, löste das Haar ihres Hauptes und füllte es mit Staub und Asche und kasteite mit Fasten ihre Seele und fiel auf ihr Angesicht und betete und sprach: Herr, Gott Israels, der du seit der Vorzeit herrschst und die ganze Welt erschaffst und machst und über sie herrschst, hilf doch deiner einsamen Magd, die keinen Helfer außer dir hat! | Denn einsam sitze ich hier und einsam bin ich im Haus des Königs, ohne Vater und Mutter. So wie eine arme Waise, die von Haus zu Haus um Almosen bittet, so bitte ich dich um dein Erbarmen von Fenster zu Fenster im Hause des Königs Achaschwerosch, von dem Tag, an welchem ich hierher genommen wurde. | Und jetzt, Gott, hier ist meine Seele, nimm sie aus meiner Hand, wenn es in deinen Augen wohlgefällig ist. Und wenn du sie nicht nehmen willst, so errette doch die Herde deiner Weide vor diesen Löwen, die sich gegen sie erhoben haben. Denn mein Vater hat mich gelehrt und zu mir gesagt, dass du unsere Väter aus Ägypten genommen hast und alle Erstgeborenen Ägyptens getötet hast. Und dass du dein Volk aus ihrer Mitte herausgeführt hast mit deiner starken Hand, und mit deinem ausgestreckten Arm hast du sie durch das Meer hindurchziehen lassen wie ein Ross durch die Wüste. Und dass du ihnen Brot gegeben hast von dem Himmel und Wasser aus dem Felsen des Kiesels. Und dass du ihnen auch Fleisch zur Sättigung gegeben hast. Und dass du große und herrliche Könige vor ihren her schlugst und ihnen dein gutes Land als Erbbesitz gabst. Und als unsere Väter gegen deinen großen Namen sündigten, hast du sie in die Gefangenschaft gegeben. Und siehe, wir sind im Exil bis zu diesem Tage. Ferner hat mir mein Vater erzählt, dass du durch Mose, deinen Knecht, geredet hast: Aber selbst wenn sie im Land ihrer Feinde sind[, werde ich sie nicht missachten und sie nicht verabscheuen, um ihnen etwa ein Ende zu machen und meinen Bund mit ihnen zu widerrufen; denn ich bin der Herr, ihr Gott.] (Lev 26,44) Und nun, nicht genug für sie, dass sie uns in Fron versklaven, denn sie sagen, dass nicht du uns in ihre Hand gegeben hast, sondern sie danken es ihren Götzenbildern, und vor ihnen fallen sie nieder und sagen: Ihr habt die Juden in unsere Hand gegeben. Darum verabscheue ich, deine Magd, sie und hasse sie [mit] großem Hass. Wie ein Mensch das Kleid einer Frau in der Menstruation hasst, so hasse ich meine prächtigen Gewänder und die Krone meines Königtums, die auf meinem Haupt ist, und ich habe mich seit dem Tag, da man mich hierhergebracht hat, nur an dir gefreut.
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Über die Septuaginta-Zusätze siehe C. A. MOORE, „Additions to Esther“, in The Anchor Bible Dictionary. Vol. 2 (hg. v. David Noel Freedman; New York: Doubleday, 1992), 626–633.
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Constanza Cordoni Und nun, mein Gott, Vater der Waisen, stehe zur Rechten dieser Waisen, die auf dich vertraut. Und gib mir Erbarmen vor diesem Mann, Achaschwerosch, denn ich fürchte ihn, wie ein Zicklein sich vor dem Löwen fürchtet. Erniedrige ihn mit allen seinen Ratgebern. ER soll gebeugt und niedergedrückt vor mir sein durch die Anmut und Schönheit, die du mir geben wirst, mein Gott. Und gib in sein Herz unsere Feinde zu hassen und deine Diener zu lieben. Denn das Herz der Könige ist in deiner Hand. Herrlicher, furchtbarer und erhabener Gott, rette uns doch vor der Furcht, die ich fürchte und scheue, damit ich vor ihn komme in deinem Namen und in Frieden hinausgehe von vor ihm.20
Ester zieht sich um, legt ihr königliches Gewand ab und kleidet sich, um ihre Sorge zu zeigen, ihr Haar bedeckt sie mit Asche, und sie fastet in Vorbereitung auf ihr Gebet. Auch in ihrer direkten Rede zeigt sie sich demütig, indem sie sich als Gottes Magd bezeichnet. Sie betont ihre Einsamkeit, ihre eigentliche und metaphorische Kondition als Waise, und die Tatsache, dass sie sich in einer von ihr ungewollten Lage befindet – am Hof und verheiratet mit einem heidnischen König –, von der aus sie sich Hilfe in Form von Gebeten suchte. Sie vergleicht ihre wiederholten Versuche bei Gott Gehör zu finden mit dem Betteln eines Waisenkindes. Sie wendet sich dann der Heilsgeschichte Israels zu, in der ihr Vater sie unterrichtet habe und die den Grund für ihr Vertrauen bildet, dass Gott die Juden im Reich Achaschweroschs retten werde. Esther meint, die Nichtjuden in deren Mitte sie lebt deswegen zu hassen, weil sie ihren Götzen das Exil der Juden zuschreiben. Wichtiger als das, was Nichtjuden glauben, ist im Moment für Ester, dass Gott den König dazu bewegt, mit ihr und ihrem Volk Erbarmen zu haben, wenn sie zu ihm kommt, um sich für ihr Volk einzusetzen. Sie will bewirken, dass ihr Mann nicht auf seine Ratgeber achtet, denn sie sind es, die gegen ihr Volk intrigieren. Auch ist sich Ester in diesem Gebet dessen bewusst, dass Gott sich ihrer Schönheit bedienen kann, um den König zum richtigen Handeln zu bewegen.
4.
Ester in Ester Rabba
Im Unterschied zu den zuvor besprochenen Texten interpretiert Ester Rabba explizit Verse der Esterrolle in der Reihenfolge, in der diese in der Schrift vorkommen. Die Forschung unterscheidet in dem uns erhaltenen Midrasch zwischen zwei Teilen, Ester Rabba I – einem klassischen Auslegungsmidrasch zu Est 1–2,4 – und Ester Rabba II – einem Homilienmidrasch zu Versen aus Est 2,5–9,2.21 Für beide Teile gilt, dass eine verhältnismäßig 20 21
Zitiert nach BÖRNER-KLEIN und HOLLENDER, Die Midraschim zu Ester, 286–287; vgl. FLUSSER, Josippon, 51–52. Explizit werden wenige Verse ausgelegt. Die Distribution der Auslegung ist eigentlich ziemlich unausgeglichen. Die zwölf Proömien, welche dem Hauptteil des Kommentars
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geringe Anzahl an Schriftversen zitiert wird, die den Anlass für Reflexionen im Kontext der gegenwärtigen Agenda des Midrasch bilden.22 Wenngleich zahlreiche Traditionen in Ester Rabba auf die Spätantike zurückgehen, fand die Endredaktion des Midrasch wahrscheinlich erst im 12. Jh. in Europa statt – aus diesem Grund können wir aus diesem Midrasch Informationen über die mittelalterliche Rezeptionsgeschichte der Figur von Königin Ester erhalten. Die Esterrolle stellt Juden als dermaßen assimiliert in der persischen Gesellschaft dar, dass die interethnische Ehe der Jüdin Ester mit dem Perserkönig Achaschwerosch unproblematisch erscheint. Wiederholt wird im Midrasch daran erinnert, dass die Tatsache, dass die Schrift diese Ehe nicht als Skandal einstuft, ein Problem darstellt. Zunächst befasst sich der Midrasch mit dem Problem der Namen. Die Heldin hat zwei Namen: einen ungewissen, doch wahrscheinlich babylonischen Ursprungs, Ester; und einen hebräischen, Hadassa. Die doppelte Namensgebung kann als doppelte, d.h. nichtjüdische und jüdische Identität, gelesen werden. Wir lesen in Est 2,7: „Mordechai war der Vormund von Hadassa, der Tochter seines Onkels, die auch Ester hieß. Sie hatte keinen Vater und keine Mutter mehr. Das Mädchen war von anmutiger Gestalt und war sehr schön. Nach dem Tod ihres Vaters und ihrer Mutter hatte Mordechai sie als seine Tochter angenommen.“ Aus diesem Vers, der die Heldin einführt, welche in weiterer Folge ausschließlich mit ihrem nichtjüdischen Namen genannt werden soll, legt der Midrasch nur den hebräischen sprechenden Namen Hadassah (הדסה, „Myrte“) aus: Wie die Myrte, die süß riecht, aber bitter schmeckt, war Ester süß für Mordechai aber bitter für Haman (Ester Rabba 6,5).23 Abgesehen von diesem minimalen Fokus auf den hebräischen Namen der Protagonistin, die Assimilation oder Akkulturation, die der andere,
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vorangehen, befassen sich mit dem ersten Wort in Est 1,1. Die ersten sechs Kapitel im Hauptteil des Midrasch legen Verse aus den ersten zwei Kapiteln der Esterrolle aus. Die restlichen vier Kapitel des Midrasch interpretieren ausgewählte Verse aus Est 3– 9; Kap. 10 im Midrasch legt einige Verse aus Est 6–10 aus. Ester Rabba I umfasst Kap. 1–5 und ist wahrscheinlich im Laufe des 6. Jh. in Palästina entstanden; Ester Rabba II enthält etliche Passagen, die auf die Septuaginta-Zusätze zurückgehen, die aber ihren Weg in den Midrasch über die hebräische Chronik Josippon fanden. Dieser zweite Teil von Ester Rabba könnte daher erst im Europa des 11. Jh. oder sogar später entstanden sein. Laut Maʾagarim sei Ester Rabba I vor 600, Ester Rabba II vor 1050 entstanden. Siehe LERNER, „The Works of Aggadic Midrash“, 187; und Arnon ATZMON, „Mordechai’s Dream: From Addition to Derashah“, Jewish Studies: An Internet Journal 6 (2007): 127–140. Ester Rabba ist in drei vollständigen Handschriften, der editio princeps und Geniza Fragmenten überliefert. Eine kritische Ausgabe haben Joseph TABORY und Arnon ATZMON vorgelegt: Midrash Esther Rabbah (Jerusalem: The Schechter Institute of Jewish Studies, 2014). Dieser Ausgabe folgt die Übersetzung in diesem Beitrag. Andere Interpretationen der zwei Namen Esters werden Rabbi Meir und Rabbi Jehuda in bMegilla 13a zugeschrieben. Rabbi Meir zufolge sei ihr Name Ester, aber sie werde Hadassa genannt, weil die Gerechten in Sach 1,8 Myrten (hadassim/ )הדסיםgenannt werden. Rabbi Jehuda meint ihr Name sei Hadassa, aber sie werde deswegen Ester genannt, weil sie ihre Angelegenheiten geheim gehalten habe (masteret/)מסתרת.
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viel prominentere Name Ester bezeugt, wird weder in der Esterrolle noch in Ester Rabba problematisiert.24 Dies ist insofern bemerkenswert, als gerade solche doppelten Namen für das besondere kulturelle Setting dieser Erzählung kennzeichnend erscheinen: Es geht in der Ester-Erzählung um eine im Kontext einer dominanten Mehrheitskultur lebende Minderheit, die in zwei Kulturen zu Hause ist.25 Eine babylonische rabbinische Tradition befasst sich mit dem verwandtschaftlichen Verhältnis zwischen Mordechai und Ester, auf das im letzten Teil von Est 2,7 angespielt wird – „Nach dem Tod ihres Vaters und ihrer Mutter hatte Mordechai sie als seine Tochter angenommen“. Es wird davon ausgegangen, dass nicht Tochter (bat), sondern Haus oder Frau (bajt) gemeint ist – „er nahm sie zur Frau.“26 Die zahlreichen Fragen, die der Umstand aufwirft, dass Ester bereits mit Mordechai verheiratet war, bevor sie in den Harem des Königs geführt und zur Königin auserkoren wurde, einschließlich jener nach den Emotionen der dadurch getrennten Eheleute, werden in Ester Rabba völlig ausgeblendet, genauso wie – mit der Ausnahme von Raschi – in der Esterrezeption des Mittelalters.27 Die Tatsache, dass Ester imstande ist, einen heidnischen König zu heiraten, weil sie ihre jüdische Identität verborgen hält, wird in der Schrift nicht problematisiert. Der Midrasch geht auf Esters Entscheidung ein, ihre ethnische und religiöse Identität nicht preiszugeben („Ester aber erzählte nichts von ihrer Abstammung und ihrem Volk“ – Est 2,20) und lobt sie als das richtige Verhalten eines jeden, der seine Gefühle im Griff hat: „Dies lehrt, dass sie das Schweigen für sich wählte, wie ihre Vorfahrin Rahel, die das Schweigen für sich wählte. Die Größten ihrer Nachkommen standen in Schweigen. Rahel wählte für sich das Schweigen, denn sie sah ihre Hochzeitsgeschenke in der 24
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Siehe MEYERS, „Esther“, 324. Im Unterschied zu anderen Erzählungen der Zeit des Zweiten Tempels, wie Judit und Tobit, in denen die Ursache der Zerstreuung die Übertretungen des Volkes ist, wird die diasporische Existenz der Juden von Susa nicht als das Ergebnis von Sünden gesehen. Siehe Isaiah GAFNI, Land, Center and Diaspora: Jewish Constructs in Late Antiquity (Sheffield: Sheffield Academic Press, 1997), 24. Wir lesen in bMegilla 13a die folgende Erklärung von Mordechais Auswanderung aus Jerusalem als freiwilliges Exil: „Er war mit den Verschleppten ( )הגלהaus Jerusalem gekommen“ (Est 2,6): Rava sagte: [Dieser Ausdruck besagt,] dass er freiwillig ins Exil gegangen ist ()שגלה.“ Zur Gattung der Esterrolle siehe MOORE, „Book of Esther“, 639; W. Lee HUMPHREYS, „A Life-Style for Diaspora: A Study of the Tales of Esther and Daniel“, Journal of Biblical Literature 92/2 (1973): 211–223; David G. FIRTH, „The Third Quest for the Historical Mordecai and the Genre of the Book of Esther“, Old Testament Essays 16/2 (2003): 233–243; David J. A. CLINES, The Scroll of Esther: The Story of the Story (Sheffield: Sheffield Academic Press, 1984), Kap. 1. Siehe bMegilla 13a. Siehe Barry Dov WALFISH, „The Mordecai-Esther-Ahasuerus Triangle in Midrash and Exegesis“, Prooftexts 22 (2002): 305–333; 312–315. Wie Walfish beobachtet, stellt Est 2,7 tatsächlich eine exegetische Herausforderung dar, die die Lesart von bat als bajt durchaus fördert.
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Hand ihrer Schwester und schwieg“ (Ester Rabba 6,12).28 Esters selbstauferlegtes Schweigen hat, so der Midrasch, im Verhalten der Matriarchin Rahel ein Vorbild. Beide sind Frauen, die wissen, wann sie schweigen sollen. Ab dem Moment, als Ester Königin wird, geht der Midrasch auf die Frage ihrer Assimilation ein und stellt die in Est 2,15 ausgedrückte Idee in Frage, dass Ester allen gefallen könnte, indem er die Worte als bloße Redewendung deutet: Eines Tages war Ester, die Tochter Abihajils [...] Ester aber gefiel [allen, die sie sahen] (Est 2,15). Rabbi Jehuda sagte: Sie war wie die Statue ()איקוני, die tausend Menschen anschauen und für alle erfreulich ist. Rabbi Nechemja sagte: Sie ließen medische Frauen hier stehen und persische Frauen dort stehen und sie war schöner als sie alle. Und die Rabbinen sagten: Ester aber gefiel allen[, die sie sahen] – das bedeutet, in den Augen oberer [himmlischer] Wesen und in den Augen niederer [irdischer] Wesen, denn es heißt, Dann erlangst du Gunst und Beifall bei Gott und den Menschen (Spr 3,4). (Ester Rabba 6,9)29
Auf das Problem der Mischehe wird in weiterer Folge erneut eingegangen. Es wird behauptet, dass Mordechai selbst die Stellung seiner Cousine am Hof für erklärungsbedürftig befunden habe: „Er dachte sich: Wie ist es möglich, dass dieses gerechte Mädchen mit einem Unbeschnittenen verheiratet sei? Es muss aufgrund dessen sein, dass ein großes Unheil Israel befallen soll und sie durch sie gerettet werden sollen“ (Ester Rabba 6,6).30 Nachdem das Edikt in alle Provinzen des Reiches Achaschweroschs gesandt worden ist und Königin Ester davon in Kenntnis gesetzt wird, wird in der Schrift ihre Reaktion wie folgt beschrieben: Auch in allen Provinzen herrschte bei den Juden überall große Trauer, sobald der Erlass und das Gesetz des Königs eintrafen. Man fastete, weinte und klagte. Viele schliefen in Sack und Asche. Als die Dienerinnen und Eunuchen zu Ester kamen und ihr berichteten, erschrak (wa-titchalchal) die Königin sehr. Sie schickte Mordechai Gewänder, damit er sich bekleiden und das Trauergewand ablegen könne. Doch er nahm sie nicht an (Est 4,3–4).
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Hingegen wird Est 2,10, wo behauptet wird, dass Ester ihre Identität verbirgt, weil Mordechai ihr dazu rät, nicht explizit interpretiert. Siehe KOLLER, Esther in Ancient Jewish Thought, 220–221. Carey A. MOORE, Esther: A New Translation with Introduction and Commentary (The Anchor Bible 7B; Garden City, NY: Doubleday, 1971), 28, beobachtet gerade in Bezug auf diese Tradition: „If a man can be judged by the friends he keeps, he can also be judged by the enemies he has; and, significantly, everyone had a good impression of Esther (vs. 15). For her to have accomplished this must have involved some ‚compromises‘ in the area of religion: a Judith or a Daniel could never have won the good will of all. In order for Esther to have concealed her ethnic and religious identity (see vs. 10) in the harem, she must have eaten …, dressed, and lived like a Persian rather than an observant Jewess.“
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Was ist die Ursache für Esters Leiden? Der Midrasch zitiert lediglich den oben hervorgehobenen Satz. Damit andere Ausleger des Bibeltextes, unter anderem jene Menschen, die das intendierte Publikum des Midrasch ausmachen, nicht auf die Idee kommen, dass Ester fürchtet, dass Mordechai sie in Verlegenheit bringen oder ihre Stellung am Hof gefährden könne, gibt der Midrasch präventiv eine Alternative zu dieser Interpretation. Das Hapax Legomenon watitchalchal, übersetzt mit „erschrak sehr“, beziehe sich auf spezifisch weibliche körperliche und/oder seelische Schmerzen: „Unsere Rabbinen dort [in Babylonien] meinen sie habe die Regel bekommen ( ;)פרסה נדהunsere Lehrer hier meinen, sie habe eine Fehlgeburt gehabt und seitdem sie diese Fehlgeburt hatte gebar sie nie wieder“ (Ester Rabba 8,3).31 Weiter unten im gleichen Kapitel, in einer Interpretation von Est 4,14– 15.17, schildert der Midrasch Ester bei den gleichen Symbolhandlungen wie Mordechai, d. h. als von der Situation ihres Volkes stark betroffen: Sie tauscht ihr Gewand gegen Sackleinen, bedeckt ihre Haare mit Asche und fastet, bevor sie Gott, in einer kurzen Version des Gebetes, das wir aus Josippon kennen, anspricht: In jener Zeit war Ester sehr verängstigt über das Böse, das gegen (wörtl. „in“) Israel aufgesprossen war ()צמחה. Sie legte ihre königlichen Kleider und prächtigen Schmuck ab und kleidete sie sich in Sackleinen. Sie löste das Haar ihres Kopfes und bedeckte es mit Staub und Asche und kasteite ihre Seele mit Fasten und fiel auf ihr Angesicht vor dem Herrn und betete, indem sie sprach: Herr, Gott Israels, der du seit der Vorzeit herrschst und die Welt erschaffen hast, hilf doch deiner Magd, die ich verwaist bin, ohne Vater und Mutter und gleich einer Armen, die von Haus zu Haus [um Almosen] bittet. So bitte ich um Dein Erbarmen im Haus Achaschweroschs. Und nun, Herr, gönne dieser deiner armen Magd Erfolg und rette deine anvertraute Herde von diesen Wölfen32 , die sich gegen sie33 erhoben haben, denn nichts hindert dich daran, sei es viele oder wenige zu retten. (Ester Rabba 8,7)
Sobald sie ihren Kummer im Privaten ausgedrückt und ihr Gebet fertig gesprochen hat, zieht sich Ester um, sie verkleidet sich, indem sie ihr Trauergewand ablegt und prächtige Kleider anzieht, bevor sie sich zum König begibt, um ihn anzuflehen. Entsprechend Septuaginta-Zusatz D wird die Audienz beim König wie folgt geschildert:
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Diese palästinische Tradition ist im Midrasch Abba Gurion, Panim Acherim B und Leqach Tov zu Est 4,4 überliefert, wobei folgender Belegvers zitiert wird: „Darum sind meine Hüften voll Zittern (chalchala), Wehen haben mich ergriffen wie die Wehen einer Gebärenden.“ (Jes 21,3) Die Ausgabe Wilna hat hier „die Gegner“ ()האויבים. Wilna hat „gegen uns“ ()עלינו.
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Am dritten Tag legte Ester ihre königlichen Gewänder an (Est 5,1) – von ihren schönen Kleidern und ihrem prächtigen Schmuck, sie nahm zwei ihrer Mädchen mit ... Ihr Gesicht strahlte und sie verbarg die Sorge in ihrem Herzen. Dann kam sie zum Innenhof vor den König und blieb vor ihm stehen ... Als sie ihre Augen erhob und [ihn] ansah und siehe, seine Augen waren wie brennendes Feuer aufgrund des großen Zorns in seinem Herzen. Und die Königin erkannte den Zorn des Königs und erschrak sehr, und sie wurde ohnmächtig und legte ihren Kopf auf die Magd, die sie rechts stützte. Und unser Gott sah es und erbarmte sich seines Volkes und wandte sich dem Kummer der Waisen zu, die auf ihn vertraute und er gab ihr Gnade vor dem König und fügte Schönheit zu ihrer Schönheit und Herrlichkeit zu ihrer Herrlichkeit hinzu. Und im Schreck erhob sich der König von seinem Thron und lief zu Ester und umarmte, küsste und stützte sie mit seinem Arm um ihren Hals und sprach zu ihr: Was willst du, Königin Ester? (Est 5,3)34 Ester, meine Königin, warum zitterst du? Dieses Gesetz, das wir erlassen haben, betrifft nicht dich, denn du bist meine Gefährtin, meine Freundin. Er sagte auch zu ihr: Warum warst du besorgt, als ich dich gesehen habe?35 Ester antwortete: Mein Herr, König, als ich euch sah, erschrak meine Seele vor deiner Würde. (Ester Rabba 9,1)36
Wenn wir auf den Text der Hebräischen Bibel schauen, der die Audienz Esters beim König beschreibt (Est 5,1–5), fällt auf, dass es keine Spur vom königlichen Zorn, der beschwichtigt werden muss, gibt. Ester hat keine Angst, bevor sie den König sieht, noch Furcht, als sie seine Wut bemerkt. Für die letzten zwei Passagen verwendet der Midrasch die Septuaginta-Zusätze C und D, die hierher vermutlich über den Josippon gelangt sind – und daher als Teil der europäischen jüdischen Rezeption der Esterfigur im Mittelalter anzusehen sind. Bedeutend an der zweiten Passage ist die Idee, dass Gott menschliche Emotionen verwaltet und dass er dabei das Wohl seiner erwählten Kinder sichert. Diese Textstelle lässt auch erkennen, dass in den Augen der Rabbinen nicht nur Gott menschliche Emotionen steuert, sondern auch, dass bestimmte Menschen mehr imstande sind als andere, die eigenen zu verbergen.37 Es wird hier auch nahegelegt, dass gewisse physische Symptome nicht eindeutig als Ausdruck einer Emotion gelesen werden sollen. Esters Zittern und Sprachlosigkeit zum Beispiel können als Ausdruck der Furcht und der Bewunderung gelesen werden.
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Wilna zitiert diesen Vers nicht an dieser Stelle. Wilna liest hier: „Warum hast du nicht zu mir gesprochen, als ich dich gesehen habe?“ In der Parallele in Leqach Tov zu Est 5,1 begleiten drei Menschen Ester zu ihrer Audienz entsprechend den drei Engeln, die erscheinen, als sie ohnmächtig wird. Siehe Anm. 23.
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Ester in Midrasch Tehillim 22
Für christliche Exegeten_innen ist Psalm 22 ein Text von höchster Bedeutung: Die letzten Worte Jesu am Kreuz wie sie in den Matthäus- und Markusevangelien überliefert sind, sind eine aramäische Version des ersten Verses in diesem Psalm.38 In der jüdischen Tradition lasen die Rabbinen den Psalm im Licht der Ester-Erzählung – aus diesem Grund fand der Psalm seinen Weg in die Purimliturgie. In der rabbinischen Tradition wurde er allegorisch als Klagelied über die Angst, wegen des von Haman geplanten Pogroms gegen die Juden gedeutet. Der als Midrasch Tehillim bezeichnete mittelalterliche Kommentar zu den Psalmen39 bezieht Psalm 22 auf die Ester-Erzählung, sodass das in Frage kommende Kapitel als Estermidrasch angesehen werden kann. Zunächst einmal werden Esters zwei Namen bedeutsam, nicht nur in Hinblick auf ihre eigenen Handlungen, sondern auch in Bezug auf jene Mordechais und auf ihre Konsequenzen für die Juden im Reich Achaschweroschs: Ester wurde Hadassa („Myrte“) genannt. Ester – weil sie geheim (wörtl. „im Geheimnis der Geheimnisse“, )בסיתרי סתריםgehalten wurde, bis sie für Israel glänzen musste und sie hinausging. Hadassa, wie geschrieben steht: Er war der Vormund von Hadassa (Est 2,7), aufgrund ihrer Gerechtigkeit. Mordechai wird Myrte ()הדס genannt, wie es heißt: Er stand zwischen den Myrtenbäumen (( )ההדסיםSach 1,8). Wie ein Myrtenbaum, dessen Duft gut und Geschmack bitter ist, so waren Mordechai und Ester Licht für Israel und Dunkelheit für die Völker der Welt. (Midrash Tehillim 22,3)
Die Frage, wie Ester und Mordechai zusammengehören oder in welchem Verhältnis sie stehen, wird nur flüchtig erwähnt: Dem Midrasch zufolge beziehe sich der Vers „Du bist es, [der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog,] der mich anvertraut der Brust meiner Mutter“ (Ps 22,10) auf Mordechai und Ester: Nachdem Ester gezeugt wurde starb ihr Vater und nach ihrer Geburt ihre Mutter, wie Ester selbst im Midrasch erklärt. Gott habe daraufhin Ester der Frau Mordechais gegeben, damit sie sie stille, und Mordechai, damit er ihr Vormund sei (Midrash Tehillim 22,23). 38
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Siehe Mt 27,46; Mk 15,34. Siehe Mitchell DAHOOD, Psalms I 1–50: A New Translation with Introduction and Commentary (The Anchor Bible 16; Garden City, NY: Doubleday, 1966); Frank-Lothar HOSSFELD und Erich ZENGER, Die Psalmen I. Psalm 1–50 (Würzburg: Echter, 1993); Dieter SÄNGER, Psalm 22 und die Passionsgeschichten der Evangelien (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2007). Zur Entstehungszeit des ersten Teils von Midrasch Tehillim, d. h. Midrash Tehillim 1– 118, siehe Stemberger, Einleitung, 393: „Es ist sicher mit einer längeren Entwicklungszeit zu rechnen, was genauere Aussagen unmöglich macht.“ Maʾagarim datiert den Midrasch Tehillim auf „vor dem Jahr 1050“.
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In Bezug auf die Figur Esters ist die Interpretation eines Ausdrucks von ungewisser Bedeutung gleich am Anfang des Psalms besonders interessant. Midrasch Tehillim liest ajjelet ha-schachar (Ps 22,1) – „Hinde der Morgenröte“ in der EU – als Metapher für die Frau Ester und für ihre Rolle in der Geschichte Israels: Wie eine Hinde Schlangen, so hat Ester Haman erschreckt. Darüber hinaus wird die Hinde als das frömmste aller Tierarten angesehen (siehe Midrash Tehillim 22,14). Ester wird mit der Morgenröte verglichen, weil das Wunder, das ihre Taten bewirkten, das letzte der Wunder darstellte, die für würdig gehalten wurden, in den jüdischen Kanon aufgenommen zu werden (Midrash Tehillim 22,10).40 Erwähnenswert im Hinblick auf den Genderdiskurs des Midraschs ist die Auslegung des dreimaligen Ausrufes „mein Gott“ in Ps 22,2.11 als die drei Gebote, die Frauen vorbehalten sind – nidda (Menstruationsregeln), challa (Teighebe absondern) und hadlakat nerot (Lichterzünden am Schabbat) – und welche Ester behauptet immer eingehalten zu haben, ungeachtet dessen, dass sie mit einem heidnischen König verheiratet ist (Midrash Tehillim 22,16). Sowohl in Josippon als auch in Ester Rabba ist Esters Judentum dadurch sichtbar, dass sie im Gebet dargestellt und ihr Gebet wiedergegeben wird. Auch in Midrash Tehillim 22 treten die betende Frau Ester und die Folgen ihres Gebets in den Vordergrund des Kommentars.41 Esters Gebet ist ein zentrales Konzept in Midrash Tehillim 22: Es wird behauptet, dass David ihretwegen den Psalm verfasste: „Als David erkannte, dass der Heilige, gepriesen sei Er, die Hinde hört, arrangierte er ihr zu Ehren den Psalm Für den Chormeister. Nach der Weise Hinde der Morgenröte (Ps 22,1).“ (Midrash Tehillim 22,14)42 In ihrem Gebet, welches, im Unterschied zu Josippon und Ester Rabba, über den gesamten Psalmenkommentar verstreut ist, wird Ester als schriftzitierende Frau dargestellt – sie zitiert sogar den Psalm, der ihre eigene Geschichte inspiriert haben soll (Midrash Tehillim 22,7.19.24–25). Narratologisch gesehen fällt auf: Eine anonyme rabbinische Stimme lässt eine biblische Figur einen Text zitieren, der auf der Grundlage einer Erzählung verfasst werden soll, die noch nicht fertig erzählt worden ist! Ester ist nicht nur mit diesem Psalm vertraut, sondern auch mit der Idee, dass Juden zwei Torot haben, mit den bereits erwähnten Frauengeboten, als auch mit dem Exodus als Gründungsmoment in der Heilsgeschichte Israels (Midrash Tehillim 22,6): Ester vergleicht die Ge40
41 42
Für die Auslegung des Psalms werden etliche Verse anderer biblischer Bücher herangezogen, die ebenfalls als auf Ester bezugnehmend verstanden werden, so z. B. der Ausdruck „Israels Licht“ in Jes 10,17. Wobei hier auch klar ist, dass der Autor (oder die Autoren) mit dem Kommentar des Babylonischen Talmuds vertraut war(en). Ähnlich Midrash Tehillim 22,7: „Als David erkannte, durch die Hilfe vom Geist der Heiligkeit, mit welchem Ausdruck sie bereit war, den Heiligen, gepriesen sei Er, zu rufen, [nämlich] Du, meine Stärke (ejjaluti) (Ps 22,20), verfasste („ordnete“) er über sie diesen Psalm Für den Chormeister. Nach der Weise Hinde der Morgenröte (Ps 22,1).“
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Constanza Cordoni
fahr, die sie auf sich nimmt, indem sie sich unaufgefordert zum König begibt, mit dem Überqueren des Roten Meers durch die Vorväter (Midrash Tehillim 22,27). Genderdiskursiv ist Midrash Tehillim 22 ansonsten insofern von Bedeutung in Bezug auf die mittelalterliche Esterrezeption, als dieser Midrasch – im Unterschied zur Bibel und zum sonstigen Nachleben Esters in der rabbinischen Literatur – das freiwillige Handeln Esters betont und nicht als ein Handeln in Reaktion auf Mordechais warnende Worte sieht (Midrash Tehillim 22,7.24).
6.
Ester in Leqach Tov
In der byzantinischen Stadt Kastoria im heutigen Westmakedonien verfasste ein gewisser Tobia ben Eliezer im späten 11. Jh. eine Midraschanthologie zu den fünf Büchern der Tora und zu den fünf Megillot/Festrollen. Die Sammlung wurde dann als Leqach Tov („gute Lehre“) bekannt: Der auf Spr 4,2 zurückgehende Titel spielt auf den ersten Namen des Autors an.43 Was die Auslegungen der Esterrolle anbelangt ist Leqach Tov das erste exegetische Dokument, dass nicht nur jeden Vers des hebräischen Ester-Textes zitiert, sondern auch für fast jeden eine Auslegung bietet.44 Die Kunst der mittelalterlichen Anthologie liegt nicht in der originellen Interpretation, sondern eher darin, dass sie einen Text mit Materialien diverser Provenienz in einen durchgehenden Kommentar zusammenstellt. Dabei trifft der Autor eine Auswahl: Nicht nur in Bezug auf welche Auslegungen er zitiert und welche er ausschließt, sondern auch hinsichtlich dessen, welche er mit oder ohne Quellenangabe zitiert. Im Kommentar zu Ester nennt Tobia Seder Olam, Josippon, Bereschit Rabba, bRosch HaSchana und bMegilla als Quellen, aber er unterlässt es, Midrasch Abba Gurion und Panim Acherim B anzugeben.45 Tobia ersetzt die griechischen Lehnwörter und den Großteil des aramäischen Wortlauts seiner Quellen mit hebräischen Ausdrucken. Dabei zeugt sein Schreiben von einer bereits im frühen Mittelalter ansetzenden Tendenz vor allem im Westen der jüdischen Welt in Richtung auf eine Hebraisierung oder Neuhebraisierung der jüdischen Literatur und Kultur hin.46 43 44
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Siehe STEMBERGER, Einleitung, 395. Leqach Tov zu Ester wurde von Salomon BUBER veröffentlicht: Sifre de-Aggadeta al Megillat Esther: Sammlung aggadischer Kommentare zum Buch Ester (Vilna: Romm, 1886), 83–112. Leqach Tov weist sonst die allgemeine Tendenz dazu auf, Quellen nicht anzugeben. Siehe STEMBERGER, Einleitung, 436. Für diese Entwicklung siehe Nicholas DE LANGE, „The Hebrew Language in the European Diaspora“, in Studies on the Jewish Diaspora in the Hellenistic and Roman Periods (hg. v. B. Isaac und A. Oppenheimer; Tel Aviv: Tel Aviv University, Ramot Publishing, 1996), 111–137; DERS. „Hebraists and Hellenists in the Sixth-Century
Ester
53
Was macht Leqach Tov aus der Esterfigur früherer Traditionen? Auch wenn sie in der Diaspora lebt und verheiratet mit einem persischen König ist, geht Tobia stillschweigend davon aus, dass sie eine Sprache spricht, die nicht Aramäisch ist – dies ist die Sprache der Familie Waschtis und Ester ersetzt sie als Königin (Leqach Tov zu Est 1,20). Welche Sprache Ester tatsächlich spricht wird nicht ausformuliert. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass sich Tobia, der seinen Kommentar in einem einheitlichen Hebräisch schreibt, die Figur Ester hebräischsprachig vorstellt. Esters hebräischer Name wird als Anspielung auf Abraham und dessen Ursprung in der Diaspora gedeutet. Das Alter von 75 Jahren verweist auf ein wichtiges Ereignis in der Geschichte Israels: „Der Heilige, gepriesen sei Er, sagte zu Abraham: Du bist aus deinem Vaterhaus fortgegangen, als du 75 Jahre alt warst. Bei deinem Leben, ich werde bewirken, dass der Retter (goʾel) in Medien aufsteht und nur 75 Jahre alt ist. Der Zahlenwert des Namens Hadassa ist 75 minus 1; füge den Wert 2 vom Namen Ester hinzu und du erhältst 75” (Leqach Tov zu Est 2,7). Ester wird dabei nicht nur dadurch „vermännlicht“, dass man sie Abraham gleichgesetzt, sondern auch dadurch, dass auf sie mit einem männlichen Partizip Bezug genommen wird. Wiederholt weist Tobia darauf hin, dass Ester ihre Identität vor allem im Hinblick auf die Essensvorschriften behauptet.47 Die Auslegung von Est 2,9– 11 legt nahe, dass Ester über Ihre Herkunft nichts sagte, weil Mordechai ihr erklärt hätte, eine allzu frühe Aufdeckung ihres Judentums hätte zu einer Erniedrigung vor dem König führen können.48 Ester kann ihre jüdische Identität bewahren, indem sie mit ihrer Mägden jüdisches Essen anstelle von „Reichsessen“ zu sich nimmt.49 Mordechai sei, so Tobia, vor dem Frauenhof gestanden, um darüber zu wachen, dass Ester keine Essensvorschriften übertrete. Überraschenderweise kommt keiner in ihrer Umgebung darauf, dass sie Jüdin ist – nicht einmal Haman, der dem König erklärt, dass gerade, um ihre Identität zu bewahren und dabei anders zu bleiben, Juden anders essen und nur Juden heiraten.50 Während des ersten Festmahls und als Haman und Achaschwerosch
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50
Synagogue: A New Reading of Justinian’s Novel 146“, in Let the Wise Listen: Festschrift for Günter Stemberger on the Occasion of his 75th Birthday (hg. v. Constanza Cordoni und Gerhard Langer; Berlin: De Gruyter, 2016), 217–226; Constanza CORDONI, „‘For they did not change their language’ (MekhY Pischa 5): On the Early Medieval Rehebraicisation of Jewish Culture“, Medieval Worlds (im Druck). Siehe Anm. 30. Vgl. Leqach Tov zu Est 4,8, wo behauptet wird, Mordechai hätte Ester erlaubt zu sagen, dass sie Jüdin ist. Diesbezüglich ist Ester vorbildlich, denn in weiterer Folge lässt der Midrasch den Propheten Elia behaupten, dass die Vernichtung Israels darauf zurückzuführen sei, dass sie am Festmahl Achaschwerosch teilgehabt hätten (Leqach Tov zu Est 4,1). Siehe auch Leqach Tov zu Est 4,17 („sie aß nicht bis er sie darum bat.“) Siehe Leqach Tov zu Est 3,8, Traktat bMegilla 13b.
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essen, sitzt Ester wie in Trauer.51 Abgesehen davon fällt Ester sonst dadurch auf, dass sie das einzige unter allen Mädchen, die vor den König gebracht werden, ist, das keine besonderen Wünsche hinsichtlich Schmuck oder Gewand hat52 – am ersten Pessachtag aber trägt sie königliches Gewand!53 Dadurch, dass sie Mordechai gehorchte, habe Ester auch gezeigt, dass sie einen einzigen Gott verehrt und dass sie die Bräuche der Juden ( )מנהג היהודיםbefolgt.54 Der einzige Moment in der biblischen Ester-Erzählung, in der Ester so geschildert wird, als ob sie Mordechais Aufforderung nötig hätte, um zu handeln, ist der Moment in der Midrascherzählung, in der Leqach Tov (wie auch früher Seder Eliyyahu) Ester tadelt: [Wenn du in diesen Tagen schweigst,] dann wird den Juden anderswoher ()ממקום Hilfe und Rettung kommen. Du aber und das Haus deines Vaters werden untergehen. Wer weiß, ob du nicht gerade für eine Zeit wie diese jetzt Königin geworden bist? (Est 4,14) Warum wird Gottes Namen in der Esterrolle nicht erwähnt? Weil sie unter medischen und persischen Königen geschrieben wurde und sie wollten den geehrten und furchterregenden Namen nicht eintragen. Daher schrieben sie anderswoher. (Leqach Tov zu Est 4,14)
Auch in diesem Zusammenhang wird Ester an ihre Chance erinnert, für das Volk Israel tätig zu sein und dabei an Gottes Stelle zu handeln.55 Ohne Mordechais Aufforderung zu folgen deutet Ester auf ihre ethnische Zugehörigkeit und Religion hin, als sie vom König bezüglich ihrer Herkunft befragt wird (Leqach Tov zu Est 2,19). Indem sie antwortet, sie sei königlicher Abstammung, bringt sie ihn dazu, über seine eigene königliche Abstammung zu sprechen. Ester rügt den König, weil er, im Unterschied zu anderen Herrschern, keinen Rat bei den Gelehrten Israels gesucht habe. Dabei identifiziert sie den am Palasttor sitzende Mordechai als einen solchen Gelehrten.56 Der Midrasch beurteilt Ester hierbei kritisch dafür, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht expliziter ausdrückt. Ester wird an anderer Stelle in Leqach Tov rabbinisiert: Sie wird dafür gelobt, dass sie sich die Worte der Tannaim und Amoraim zu Herzen genommen und dementsprechend gehandelt habe. Sie habe gemäß der mündlichen Tora gelebt. Hier haben wir es mit einem Midrasch zu tun, in dem die Zeit, in der die Ester-Erzählung spielt, bis in die postbiblische rabbinische Zeit hineinreicht.57 51
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Siehe Leqach Tov zu Est 5,6 („sie aßen und sie saß wie in Trauer“) und Est 7,1 („Ester aß nichts“). Auf der anderen Seite, nach Leqach Tov zu Est 6,1 wird Achaschwerosch berichtet, dass alle das gleiche gegessen und getrunken haben. Siehe Leqach Tov zu Est 2,15. Siehe Leqach Tov zu Est 5,1. Siehe Leqach Tov zu Est 2,20. Siehe auch Leqach Tov zu Est 5,9 zum Namen Gottes. Siehe auch Leqach Tov zu Est 2,21. Siehe Leqach Tov zu Est 5,4.
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Zum mittelalterlichen Genderdiskurs von Leqach Tov muss ferner auf Folgendes hingewiesen werden: Der Autor betont, dass in Bezug auf die Megillat Ester nicht nur die vorbildliche Figur Esters und ihr Agieren, ob freiwillig oder von Mordechai motiviert, als bedeutsam hervorzuheben ist. In Tobias Zeitalter soll die Schriftrolle von Priestern, Leviten und gewöhnlichen Israeliten gelesen werden, aber auch von Frauen. Frauen waren in die Ereignisse involviert, über die die Esterrolle berichtet; Frauen trugen aktiv zum Purimwunder bei.58 Dies sind einige Aspekte aus Tobias Auswahl aus verschiedenen früheren rabbinischen Quellen, die uns darüber Auskunft geben, wie Ester und ihre Erzählung für ein jüdisch-byzantinisches Publikum im 11. Jh. neuerzählt wurden. Obwohl Esters kühne Taten weiterhin als von Mordechais Aufforderungen motiviert geschildert werden, wird Ester auch in etlichen Passagen als selbstbewusste Jüdin dargestellt, die keine Aufforderung nötig hat, um ihre jüdische Identität zu behaupten. Expliziter als frühere rabbinische Texte betont Leqach Tov, sowohl in einer längeren Einführung als auch im Hauptkommentar,59 dass der Kontext der Ester-Erzählung ein Diasporakontext sei. In diesem Zusammenhang mag die Hervorhebung von Esters jüdischen Essgewohnheiten als Teil einer Strategie der Identifikation angesehen werden, einer Reaktion auf die Gefahr, welche in den Augen rabbinischer Autoren die Diasporasituation für die Einhaltung der jüdischen Identität darstellt.
7.
Ester im Mittelalter
Ester, die weibliche Protagonistin des gleichnamigen biblischen Buchs, stellte für antike und mittelalterliche Exegeten ein Faszinosum dar. Im Aschkenas der frühen Neuzeit war die Ester-Erzählung weiterhin äußerst populär und unterhielt in der beliebten dramatischen Form des jiddischen Purimspiels.60 Die Darstellung der biblischen Figur in den oben besprochenen Texten zeigt, dass die jüdischen Exegeten Ester in mehreren Richtungen entwickeln und weiterleben ließen. Wie die vielfachen Interpretationen nahelegen, verlangte der doppelte Name nach einer Erklärung – besonders in Hinblick auf die Tatsache, dass der öfter verwendete der beiden als Zeichen der Assimilation und einer gefährdeten jüdischen Identität in der Diaspora gelesen werden kann. Um „wirklich“ jüdisch zu erscheinen, musste Ester im Gebet und besonders besorgt um ihre Gemeinde dargestellt werden. Die Ester der Midraschim zeigt Solidarität und Erbarmen für das jüdische Volk, mit dem sie durch eine gemeinsame Geschichte und eine Sprache verbunden ist. 58 59 60
Siehe Leqach Tov zu Est 9,28, Traktat b‘Arakhin 3a. Siehe Leqach Tov zu Est 1,14; 3,1; 4,1. Siehe Evi MICHELS, „Purimspiel“, in Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur 5 (hg. v. Dan Diner; Stuttgart, Weimar: Metzler, 2014), 53–58.
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Wie Rut ist Ester eine zentrale biblische Frau, nach der ein Buch des jüdischen Kanons – und nicht nach dem männlichen Protagonisten Mordechai – benannt wurde. Damit die weibliche Protagonistin der Esterrolle für die Heilsgeschichte Israels aus rabbinischer Perspektive ideologisch und narratologisch weiterhin bedeutsam wird, musste man ihre Worte und ihre Erzählung mit den Worten und Geschichten männlicher biblischer Hauptfiguren wie Abraham, Mose und David in Verbindung bringen. Darüber hinaus werden – genauso wie biblische Männerfiguren eine Rabbinisierung erfahren – biblische Frauen wie Ester rabbinisiert und dabei auch „vermännlicht“. Sie werden vom und für den männlichen Diskurs vereinnahmt. Ester befolgt manchmal den Rat Mordechais, nicht anders als ein seinem Meister folgender rabbinischer Schüler, doch sie ist auch im Stande aus eigenem Antrieb zu handeln, wobei ihre Taten der Halakha entsprechen und sogar Aussagen von Gelehrten, die Jahrhunderte nach ihr wirkten, präfigurieren.
Judit in der hebräischen Literatur des Mittelalters Dagmar Börner-Klein Heinrich Heine Universität Düsseldorf
1.
Die Figur der Judit in der biblischen Tradition
Die Heldin des Buches Judit ist eine junge, schöne Witwe, die in der von Nebukadnezzars Truppen belagerten Stadt Betulia lebt.1 Angeführt werden die Truppen des assyrischen Königs von Holofernes, der Betulia einnehmen will, um nach Jerusalem vorzudringen.2 Als im belagerten Betulia das Trinkwasser zur Neige geht und die Stadtältesten eine Kapitulation erwägen, plant Judit eine spektakuläre Rettungsaktion im Alleingang. Sie zieht ihre schönsten Kleider an und geht, zusammen mit ihrer Magd, die einen Notproviant eingepackt hat, in das feindliche Heerlager und erreicht es, vor Holofernes vorzusprechen. Holofernes ist von Judits Schönheit derart beeindruckt, dass er ein Festmahl für sie ausrichten lässt. Judit, die Holofernes Vertrauen und Liebe gewinnt, bleibt nach dem Festmahl mit dem angetrunkenen General in dessen Schlafraum allein zurück. Als dieser auf seinem Bett eingeschlafen ist, enthauptet Judit Holofernes mit dessen eigenem Schwert und kehrt mit dem abgeschlagenen Kopf des Holofernes zurück nach Betulia. Dort kann Achior,3 ein mit den Assyrern verbündeter amoritischer Heerführer, der zuvor von Holofernes vor Betulia ausgesetzt worden war, weil er vor der Stärke der Juden und der Macht ihres Gottes gewarnt hatte, den Kopf des Holofernes identifizieren. Achior ist von Judit und ihrer Tat so überwältigt, dass er zum Judentum konvertiert. Die Bewohner Betulias wiederum lassen sich von Judits Rat überzeugen, einen Überraschungsangriff gegen die Assyrier zu starten, den sie auch gewinnen. Sie schlagen die Assyrer vernichtend.4 Der älteste Nachweis dieser Geschichte von Judit, die dort allerdings wesentlich ausführlicher erzählt wird, überliefert die griechische Bibel, die 1 2
3 4
Zur Historizität und Geographie siehe Benedikt OTZEN, Tobit and Judith (London: Sheffield Academic Press, 2002), 81–93. Ausführlich zu Inhalt und Aufbau der Geschichte siehe Gerald WEST, „Judith“, in Eerdmanns Commentary to the Hebrew Bible (hg. v. James D. G. Dunn und John W. Rogerson; Grand Rapids, Mi: Eerdmanns Publishing, 2003), 748–762. Siehe Barbara SCHMITZ, „Zwischen Achikar und Demaratos – die Bedeutung Achiors in der Juditerzählung“, Biblische Zeitschrift 48 (2004): 19–38. Mathias DELCOR, „Le livre de Judith et l’époque grecque“, Klio 49 (1967): 151–179; Hans Yohanan PRIEBATSCH, „Das Buch Judith und seine hellenistischen Quellen“, Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 90 (1974): 50–60.
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Dagmar Börner-Klein
Septuaginta.5 Von hier ist sie über die lateinische Übersetzung in den Kanon der katholischen biblischen Schriften aufgenommen worden. Sie fehlt aber in den evangelischen Bibelausgaben, weil sie auch nicht in der hebräischen Bibel überliefert ist. Weder diese, noch Josephus, Philo oder die rabbinische Literatur erwähnen die Geschichte von Judit. Es wird meist vermutet, dass die Geschichte von Judit aus der hellenistischen Zeit6 wahrscheinlich aus Alexandria oder aus Palästina stammt.7 Fraglich war lange, ob es ein hebräisches Original der Judit-Geschichte gab. Da die Geschichte von Judit in der Septuaginta Hebraismen aufweist, wurde vermutet, dass ein verloren gegangenes hebräisches Original existiert hat.8 Da aber die in der griechischen Judit-Geschichte vorkommenden Bibelzitate alle aus der Septuaginta stammen, spricht dies für die Annahme, dass das griechische Buch Judit die originale Geschichte von Judit enthält und Hebraismen darin
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Cameron BOYD-TAYLOR, „Ioudith“, in A New English Translation of the Septuagint (hg. v. Albert Pietersma und Benjamin G. Wright; New York, Oxford: Oxford University Press, 2007), 441–455. Siehe auch Iudith. Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum Auctoritate Academiae Scientiarum Gottingensis editum, Bd. VIII, 4 (hg. v. Robert Hanhart; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979), 7–12. Eine Datierung in persische Zeit begründet Jehoshua M. GRINTZ, The Book of Judit. A Reconstruction of the Original Hebrew Text with Introduction, Commentary, Appendices and Indices (hebr.) (Jerusalem: Mossad Bialik, 1957), 18–28. Für eine Entstehungszeit nach Esra, Nehemia argumentiert André LACOCQUE, The Feminine Unconventional: Four Subversive Figures in Israel’s Tradition (Minneapolis: Wipf & Stock Publishers, 1990), 1–6. Zu einer Datierung nach dem Fall Jerusalems im Jahr 70 unserer Zeitrechnung siehe Émile MIREAUX, La reine Bérénice (Paris: Albin Michel, 1951), 167–178. Siehe dazu Carey A. MOORE, Judith: A New Translation with Introduction and Commentary (The Anchor Bible 40; Garden City, NY: Doubleday, 1985), 67–71; Tal ILAN, „And who knows whether you have not come to domination for a time like this? (Esther 4:14): Esther, Judith and Susanna as Propaganda for Shelamzion’s queenship“, in Integrating Women into Second Temple History (hg. v. Tal Ilan; Tübingen: Mohr Siebeck, 1999; Ndr. Peabody, MA: Hendrick Publishers Inc., 2001), 127–153; 135 datiert Ilan das Buch Judith in die zeitliche Nähe der Einsetzung zur Königin von Salome Alexandra (Shelamzion) im Jahr 79 vor unserer Zeitrechnung. Siehe auch Jan Willem VAN HENTEN, „Judith as Alternative Leader: A Rereading of Judith 7-13“, in A Feminist Companion to Esther, Judith and Susanna (hg. v. Athalya Brenner; Sheffield: Sheffield Academic Press, 1995), 224–252. Zu ähnlichen Motiven in der griechischen Literatur siehe Mark CAPONIGRO, „Judith, Holding the Tale of Herodotus“, in”No One Spoke Ill of Her”: Essays on Judith (hg. v. James C. VanderKam; Atlanta: Scholars Press, 1992), 47–59. Siehe auch Barbara SCHMITZ, „Holofernes’s Canopy“, in The Sword of Judith: Judith Studies Across the Disciplines (hg. v. Kevin R. Brine, Elena Ciletti und Henrike Lähnemann; Cambridge: Open Book Publisher, 2010), 71–80. Siehe Jan JOOSTEN, „The Original Language and Historical Milieu of the Book of Judith“, in Meghillot v–vi: A Festschrift for Devorah Dimant (hg. v. Moshe Bar-Asher und Emanuel Tov; Jerusalem, Haifa: Bialik Institute, Haifa University, 2007), 159– 176; Claudia RAKEL, Judit – Über Schönheit, Macht und Widerstand im Krieg (Berlin: De Gruyter, 2003), 33–40.
Judit
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verwendet wurden, um die Geschichte dem Stil der hebräischen Bibel anzupassen.9 Hieronymus (350–420) lagen, als er eine Übersetzung der Judit-Geschichte ins Lateinische unternahm, verschiedene Versionen vor, die er zu einer für ihn schlüssigen Geschichte zusammenfasste,10 weswegen die lateinische Judit-Geschichte um einiges kürzer als die griechische Geschichte der Septuaginta ist. Zudem gab er der Figur der Judit ein anderes Aussehen als in der griechischen Bibel. Einerseits zähmte er die Schönheit Judits, indem er sie züchtig anzog,11 andererseits erklärte er ausführlich, wie Gott die Schönheit Judits in Szene setzte, um Holofernes zu besiegen. In der lateinischen Geschichte von Judit handelt diese nicht aus eigenem Ermessen, sondern sie ist das Werkzeug Gottes, um Holofernes und seine Männer zu besiegen. Gott verstärkt ihre Schönheit und ermöglicht, dass seine Pläne durch Judit erfolgreich ausgeführt werden. Judit ist damit für Hieronymus ein Werkzeug Gottes. Mit dieser Umdeutung der Judit-Figur kann Hieronymus einerseits Gott als den eigentlichen Retter Israels ins Zentrum der Geschichte rücken. Zum anderen stellt er sicher, dass Judit nicht als Soldatenhure missverstanden wird, sondern als fromme Jüdin agieren kann, die mit der Hilfe Gottes ihre Stadtbevölkerung rettet. Die Judit von Hieronymus ist im Gegensatz zur Judit der Septuaginta eine passive Figur, die von Gott geleitet ist. Die Judit-Geschichte von Hieronymus wurde im Mittelalter mehrmals ins Hebräische übersetzt.12 Im Jahr 1966 veröffentliche André-Marie Dubarle drei dieser hebräischen Übersetzungen, die er als B, C und D Version der Geschichte bezeichnete. Version B bildet den Text zweier Handschriften der 9
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Siehe Robert HANHART, Text und Textgeschichte des Buches Judit (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979), 7–23; Erich ZENGER, Das Buch Judit: Historische und legendarische Erzählungen (Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit 1,6; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1981), 429; André-Marie DUBARLE, Judith: Formes et sens des diverses traditions, 2 Bde. (Rom: Institut Biblique Pontifical, 1966), Bd. 1, 1–15; Helmut ENGEL, „Der HERR ist ein Gott, der Kriege zerschlägt: Zur Frage der griechischen Originalsprache und der Struktur des Buches Judith“, in Goldene Äpfel in silbernen Schalen (hg. v. Klaus-Dieter Schnuck und Matthias Augustin; Frankfurt am Main: Peter Lang, 1992), 155–168. Siehe Barbara SCHMITZ, „Ιουδιθ und Iudith: Überlegungen zum Verhältnis der JuditErzählungen in der LXX und der Vulgata“, in Textcritical and Hermeneutical Studies in the Septuagint (hg. v. Johann Cook und Hermann-Josef Stipp; Leiden: Brill, 2012), 358–380; André-Marie DUBARLE, Judith, Bd. 1, 15–19, 44–47; Erich ZENGER, Das Buch Judit, 429–430. Siehe „Epistulae S. Hieronymi“, in Patrologiae Cursus Completus (hg. v. Jacques Paul Migne; Series Latina 22; Paris: Excudebat Migne, 1845), 960: „Multorum codicum varietatem vitiosissimam amputavi“. Siehe Jdt 8,1: „erat autem eleganti aspectu“; Jdt 10,3: „inposuit mitram super caput suum“. Für eine Begründung, warum die hebräischen Übersetzungen auf den lateinischen Text des Hieronymus zurückgehen, siehe Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut und schöne Witwe: Hebräische Judit-Geschichten (Wiesbaden: Marixverlag, 2007), 240– 246.
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Bodleian Library in Oxford ab.13 Die Version C, eine andere Handschrift aus Oxford, war bereits 1651 in Venedig gedruckt worden.14 Der Erstdruck der Version D ist erstmals 1731/32 erschienen.15 In Version C wird Judit zur Tochter des Beeri, in der griechischen Geschichte ist Judit die Tochter eines Merari und Witwe des Menasse (Jdt 8,7– 8). Ein Vergleich der hebräischen Übersetzung von Jdt 10,3 zeigt, dass die Beschreibung von Judit in den hebräischen Versen nicht übereinstimmen. Dies weist darauf hin, dass die Figur der Judit laufend dem Zeitgeist entsprechend angepasst wurde, sodass Judit in ihrer äußeren Erscheinung stets einer Frau in der jeweiligen Zeit des Leserpublikums entspricht. So lässt Hieronymus Judit eine „mitra“ auf dem Kopf tragen, eine Kopfbedeckung, die Frauen unter dem Kinn festbanden.16 In der hebräischen Version C trägt Judit eine Krone, um zu signalisieren, dass sie dem feindlichen König ebenbürtig ist. In Version B trägt Judit einen Schleier, der Judits Schönheit sogar verdeckt.17 Die Historizität der Judit-Geschichte wurde vor allem mit dem Argument angezweifelt, dass sich viele Motive aus anderen biblischen Geschichten in der Judit-Geschichte wiederholen.18 Tal Ilan hat hervorgehoben, dass die Geschichte von Joseph als „an intertext for the book of Judith“ diene.19 Van 13 14
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Siehe André-Marie DUBARLE, Judith, Bd. 1, 20–27; Bd. 2, 8–96. Handschrift B1 = Ms. Heb. d. 11, fol. 259–265 (12. Jh.), B2 = Oppenheimer 716, fol. 164–176 (16. Jh.). Bodleian Library, Oxford Opp. 8.1105, Nummer 1211 in Catalogue of Hebrew Manuscripts of the Collection of Elkan Nathan Adler (hg. v. Elkan Nathan Adler; Cambridge: University Press, 1921), 79. Adolf JELLINEK, Bet ha-Midrash: Sammlung kleiner Midraschim und vermischter Abhandlungen aus der älteren jüdischen Literatur, 6 Bde. (Leipzig, Wien, 1853–1877; Ndr. Jerusalem: Wahrmann Books, 31967), Bd. 2, 12–22; Jehuda Dov EISENSTEIN, Ozar Midrashim: A Library of Two Hundred Minor Midrashim. Edited with Introductions and Notes, 2 Bde. (New York: Noble Offset Printers, 1915), Bd. 1, 203– 209. Siehe André-Marie DUBARLE, Judith, Bd. 1, 33–37; Adolf JELLINEK, Bet haMidrash, Bd. 1, 23; Bd. 2, 11; August WÜNSCHE, Aus Israels Lehrhallen: Kleine Midraschim zur späteren legendarischen Literatur des Alten Testaments (Leipzig, 1907; Ndr. Hildesheim: Georg Olms in 2 Bdn., 1967), Bd. 2.2, 164–181; Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 19–239. Karl Ernst GEORGES, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 2 Bde., (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985), Bd. 2, 951: „eine Kopfbinde mit Backenstücken, die man unter dem Kinn zuband“ und die von Frauen getragen wurde. Für weitere Judit-Versionen siehe Deborah LEVINE GERA, „The Jewish Textual Traditions“, in The Sword of Judith: Judith Studies Across the Disciplines (hg. v. Kevin R. Brine, Elena Ciletti und Henrike Lähnemann; Cambridge: Open Publisher, 2010), 23–40. Siehe dazu Deborah LEVINE GERA, „The Jewish Textual Traditions“, 25. Tal ILAN, „‚And who knows whether you have not come to domination for a time like this?’ (Esther 4:14): Esther, Judith and Susanna as Propaganda for Shelamzion´s Queenship“, in Integrating Women into Second Temple History (hg. v. Tal Ilan; Tübingen: C. B. Mohr, 1999; Ndr. Peabody, MA: Hendrick Publishers Inc., 2001), 127–153; 147–148.
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Henten sieht in der Figur von Judit die Verkörperung einer weiblichen MoseFigur.20 Es wurden auch Anspielungen auf Kleopatra21 oder Antiochus IV. Epiphanes oder auf den seleukidischen General Nikanor in der Judit-Geschichte gesehen.22
2.
Die hebräischen Kurzgeschichten, die Judit anonymisieren
Die erste hebräische Version einer Judit-Geschichte überliefert Nissim ben Jakob ibn Shahin (ca. 990–1062).23 Rabbi Nissim verortet die Geschichte in Jerusalem, ohne anzudeuten, in welcher Zeit sie spielt und um welche Personen es sich handelt, die involviert sind. Die Heldin, eine junge Prophetentochter, bleibt anonym, ebenso der König, den die Heldin enthauptet. Im Gegensatz zu den Geschichten der griechischen und lateinischen Bibel, muss die anonyme Prophetentochter die Wachen am Stadttor von Jerusalem passieren, die sie verdächtigen, nur deswegen die Stadt verlassen zu wollen, weil sie diese an den Feind verraten will. Die junge Frau muss daher zunächst die Wachen überzeugen, ihr zu vertrauen, die Stadt retten zu wollen. Als dies gelingt, begibt sie sich in das Heerlager des Feindes vor den Toren der Stadt. Dort bittet sie den König, sie und ihre Familie zu retten, wenn er Jerusalem einnimmt. Dies nämlich, so beteuert sie dem König, habe ihr Vater, der ein Prophet sei, vorhergesehen. Der König glaubt der jungen Frau und verspricht, ihre Bitte zu gewähren, wenn sie ihm zur Frau wird. Sie willigt ein, der König feiert ein großes Fest, auf dem er sich betrinkt. Nachdem der König eingeschlafen ist, „richtet die junge Frau ihr Herz zum Himmel“, enthauptet den König und wickelt seinen Kopf in ihr Obergewand, durchquert unbeschadet das Lager, bis sie wieder 20
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Siehe Jan Willem VAN HENTEN, „Judith as a Female Moses: Judith 7-13 in the Light of Exodus 17, Numbers 20, and Deuteronomy 33:8-11“, in Reflections on Theology and Gender (hg. v. Fokkelien van Dijk-Hemmes und Athalya Brenner; Kampen: Kok Paros Pub. House, 1994), 33–48. Siehe Peter W. HAIDER, „Judith – eine zeitgenössische Antwort auf Kleopatra III. als Beschützerin der Juden?“, Grazer Beiträge 22 (1998): 117–128. Siehe Solomon ZEITLIN, „The Books of Esther and Judith: A Parallel“, in The Book of Judith: Greek Text with English Translation, Commentary and Critical Notes (hg. v. Morton Scott Enslin; Leiden: Brill, 1972), 1–37; 29–30; Deborah LEVINE GERA, „The Jewish Textual Traditions“, 26–38. Siehe André-Marie DUBARLE, Judith, Bd. 1, 82–84; Bd. 2, 104–109; Adolf JELLINEK, Bet ha-Midrash, Bd. 1, 130–131; Richard Adelbert LIPSIUS, „Jüdische Quellen zur Judithsage“, Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 10 (1867): 345–366; 348; August WÜNSCHE, Aus Israels Lehrhallen, Bd. 2, 183–185; Deborah LEVINE GERA, „Shorter Medieval Hebrew Tales of Judith“, 81–95; Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 247–257.
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zu den Wächtern an der Stadtmauer von Jerusalem gelangt. Diese wiederum meinen sie lüge, als sie ihnen zuruft: „Öffnet das Tor. Denn der Heilige, gepriesen sei er, half mir, sodass ich den Feind erschlagen konnte.“24 Ein Fürst des feindlichen Königs, der vor den Toren Jerusalem zur Strafe aufgehängt worden war, kommt wie Achior in der biblischen Geschichte zu Hilfe:25 Der König aber hatte einen Fürsten unter seinen Fürsten, der dem König zu sagen pflegte: „Wende dich ab von diesem Volk, befeinde sie nicht und befehde sie nicht,26 denn ihr Gott liebt sie und wird sie nicht in deine Hände überliefern. Siehe, was er denen getan hat, [die] vor dir Könige und Fürsten waren, was ihr Ende war.“ Und er hatte dem König Vorwürfe gemacht, bis der König zornig geworden war und befohlen hatte, ihn zu binden und ihn lebendig beim Stadttor aufzuhängen.27 Und als die junge Frau sah, dass sie ihren Worten nicht glaubten, sagte sie: „Wenn ihr mir nicht glaubt, siehe, der Fürst, der beim Tor hängt, wird das Haupt des Königs erkennen.“ Da glaubten sie ihren Worten und öffneten das Tor. Und sie zeigte das Haupt dem aufgehängten Fürsten. Und er erkannte es und sprach: „Gepriesen sei JHWH, der ihn in eure Hand überliefert28 und euch aus seiner Hand errettet hat.“29
Die Bewohner Jerusalems kämpfen daraufhin erfolgreich gegen das feindliche Heer, das sie bis nach Antiochia verfolgen. In Jerusalem preisen die Stadtväter Gott mit der Rezitation von Lev 26,42: „Ich will meines Bundes mit Jakob gedenken.“ Diese anonymisierte Judit-Geschichte reduziert die biblische Judit-Erzählung auf das Wesentliche: Eine Frau setzt ihre Schönheit und Klugheit ein, um einen feindlichen König zu enthaupten. Neu in dieser Version der Geschichte ist das Gefährdungsmotiv der Heldin durch die Wachen der Stadt, vor denen sie ihr Vorgehen verteidigen muss. Neu ist außerdem das Motiv des angeblich vorhergesehenen Siegs des feindlichen Königs durch Familienmitglieder der jungen Frau, der es für den König plausibel macht, warum diese von ihm gerettet werden möchte. Dies steigert die Erzählspannung und bietet plausible Erklärungen für das Handeln der Heldin. Die von Rabbi Nissim überlieferte anonyme hebräische Geschichte wird in einem nächsten Schritt weiter ausgearbeitet, indem Erzählinhalte eingeflochten werden.30 Auch in dieser Geschichte, Maʿase Jehudit, bleibt die Judit-
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Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 254. Ebd. Vgl. Dtn 2,19. Siehe Dtn 21,22–23. Vgl. 2 Sam 18,28. Vgl. 1 Sam 12,11. Zur Entwicklung des Textes siehe Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 260– 275.
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Figur, die ebenfalls eine Prophetentochter in Jerusalem ist, zunächst anonym.31 Als sie sich aber im feindlichen Heer vorstellt, nennt sie ihren Namen: Da öffneten sie32 ihr das Tor der Stadt, und sie ging mit ihrer Dienerin hinaus. Sie kam zum Lager. Und es geschah, als die Heerestruppe sie sah, die auf ihrer Wache stand, fragten sie sie: „Wer bist du, woher kommst du und wohin gehst du?“ Und die junge Frau antwortete und sprach zu ihnen: „Ich bin Judit, von den Menschen [in] Jerusalem. Als ich die Halsstarrigkeit der Menschen Jerusalems sah, dass sie sich nicht dem König, unserem Herrn, Oliforni, beugen und sich vor ihrem Tod retten wollen, bin ich durch eine List von ihnen geflohen. Ich habe dem König, unserem Herrn, etwas mitzuteilen, einen guten Plan, wie er die Stadt einnehmen kann. Mein Leben aber werde zur Beute.33 Und ihre Worte waren gut in ihren Augen, und sie fand Gunst in den Augen aller, die sie sahen,34 und sie freuten sich sehr über sie35 und gingen mit ihr. Und sie brachten sie vor den König. Und als der König sie sah, fand sie Gunst in seinen Augen.36
Der wesentliche Unterschied zur Erzählung von Rabbi Nissim liegt aber darin, dass das abgeschlagene Haupt des Königs, das in Jerusalem gezeigt wird, die Männer Jerusalems motiviert, gegen den Feind in den Kampf zu ziehen. Damit nimmt diese Erzählung Judit weiter aus dem Fokus des Geschehens heraus. Die Männer Jerusalems sind aus eigenen Stücken motiviert zu kämpfen, nachdem sie den abgeschlagenen Kopf des Königs gesehen haben. Sie werden nach dieser Version nicht in Kriegsdingen von Judit, einer Frau, beraten. Eine dritte Version dieser Judit-Geschichte findet sich in Moses Gasters Exempla of the Rabbis.37 In dieser Erzählung ist Judit die Tochter Achitobs, die aus einer der angesehensten Familien Jerusalems stammt. Sie ist eine fromme und schöne Frau von königlicher und priesterlicher Herkunft. Der
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Siehe André-Marie DUBARLE, Judith, Bd. 1, 94–98; Bd. 2, 152–163; Dagmar BÖRNERKLEIN, Gefährdete Braut, 258–275. Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 262. Die Elemente der Erzählung, die auch bei Rabbi Nissim vorkommen, sind in Times New Roman gedruckt, diejenigen, die neu hinzugefügt wurden, in Tahoma. Jer 21,9: „Wer in dieser Stadt bleibt, stirbt durch Schwert, Hunger und Pest. Wer aber hinausgeht und sich den Chaldäern, die euch belagern, ergibt, der wird überleben und sein Leben wie ein Beutestück gewinnen.“ Vgl. Est 2,15. Vgl. 1 Kön 1,40. Vgl. Est 5,2. Siehe André-Marie DUBARLE, Bd. 1, 80–81; Bd. 2, 100–103; Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 276–283; Moses GASTER, The Exempla of the Rabbis, being a Collection of Exempla, Apologues and Tales (London: Ktav, 1924), 166.
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Dagmar Börner-Klein
feindliche König trägt den Namen Seleukos38 und die Begebenheit wird auf den 18. Adar datiert, „an dem Seleukos [nach Jerusalem] hinaufzog“. Mit diesem Zusatz wird signalisiert, dass die Geschichte als historische Begebenheit aufgenommen werden soll. Auch in dieser Geschichte handelt Judit nicht aus eigenem Ermessen, sondern, weil Gott es in ihr Herz eingibt, durch sie ein Wunder geschehen zu lassen. Das Gefährdungsmotiv durch die Torwächter ist so kurz wie möglich gestaltet. Im Heer des Seleukos angekommen, verkündet Judit den Dienern des Königs, sie habe dem König eine Geheimsache mitzuteilen. Als sie bei dem König eintritt, fragt dieser sie nach ihrem Rang und sie antwortet, aus einer Familie von Königen und Hohepriestern zu stammen. Einerseits wird die Figur der Judit dadurch dem Rang des feindlichen Königs angeglichen, aber die zusätzliche hohepriesterliche Herkunft stellt sie über die nur königliche. Als der König für Judit ein großes Mahl ausrichten lässt und sie „zu einer sündigen Sache auffordert“, wird das Unreinheitsmotiv aus der biblischen Judit-Geschichte übernommen. Judit gibt vor, für den König unrein zu sein und bittet um Erlaubnis, in der Nacht zur Wasserquelle gehen zu dürfen, um sich zu reinigen. Danach, so verspricht sie dem König, geschehe mit ihr, wie es in seinen Augen gut sei. Der König stimmt zu, richtet das Festmahl aus, betrinkt sich und Judit enthauptet den betrunkenen König. Sie kann sich unbehelligt durch das Lager in Richtung Jerusalem bewegen, weil der König die Erlaubnis erteilt hat, dass sie nachts die Wasserquelle besuchen kann. Die Wachen lassen sich durch den abgeschlagenen Kopf des Königs davon überzeugen, dass Judit keine Feindin ist. Die Erzählung schließt abrupt mit der Bemerkung, man habe diesen Tag zu einem Festtag erklärt. Auch in dieser Erzählung spielt zwar die Schönheit Judits eine wichtige Rolle, wichtiger ist aber dennoch ihr Status: sie ist von königlicher und hohepriesterlicher Herkunft. Erst dies ermöglicht ihr den Zutritt zum König.
3.
Die Figur der Judit – zwischen biblischer und römischer Zeit
In einer dritten hebräischen Geschichte, in Megillat Jehudit,39 wird die Figur der Judit in Anspielung auf die Ester-Geschichte zur Tochter Mordechais. Die Geschichte von Megillat Jehudit, die acht Kapitel umfasst, erwähnt zu Beginn 38 39
Siehe Elias J. BICKERMAN, The Jews in the Greek Age (Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 1988), 6–7. Siehe Text „E“ und Midrasch Nr. 7 bei André-Marie DUBARLE, Judith, Bd. 2, 126–137; Bd. 1, 90–92; Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 296–325; Susan WEINGARTEN, „Food, Sex, and Redemption in Megillat Yehudit“, in The Sword of Judith, 110–125; Deborah LEVINE GERA, „Shorter Medieval Hebrew Tales of Yudith“, 81–95.
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einen Konflikt zwischen Nebukadnezzar und Arpachschad und datiert damit die Erzählung zunächst in medisch-persische Zeit. In Kapitel 1,10 werden dann allerdings Männer aus dem Heer Alexanders, des Makedoniers, aufgegriffen und Judit begibt sich in das Lager der Griechen. Oliforni ist der Oberbefehlshaber des Heers von Nebukadnezzar, Achior der Statthalter (Hegemon) des Oliforni, der allerdings erst vor dem Gott der Juden warnt, nachdem dies die Obersten von Moab und Ammon getan haben. Dadurch wird eine Motivverdopplung der Warnung vor dem Überfall auf die Juden erreicht und die Erzählspannung gesteigert. Auffällig ist, dass Judit sich nicht zu Holofernes begibt, sondern zu „einem König“. Dies, und der Punkt, dass Megillat Jehudit acht Kapitel umfasst, lässt darauf schließen, dass eine der kurzen anonymen Erzählungen und eine der hebräischen Judit-Geschichten, die auf eine Übersetzung der lateinischen Judit-Geschichte der Bibel aufbauen, miteinander zu einer Erzählung verbunden wurden, ohne alle Unstimmigkeiten aufzulösen. Die Figur der Judit wird in Kapitel 8,1 in einer genealogischen Reihe auf den Stamm Ruben zurückgeführt. Sie ist, wie in den biblischen Judit-Geschichten, eine Witwe, der Name ihres verstorbenen Mannes lautet Manasse. Judit schreitet erst zur Rettung, nachdem sie gesehen hat, dass sich die Israeliten an die Gebote halten (8,7), denn nur dann erweist sich Gott als Retter. Dieses Motiv der Gesetzesfrömmigkeit taucht hier erstmals auf, auch wenn in den biblischen Geschichten die Frömmigkeit Judits durch ihr ausführliches Gebet und Fasten hervorgehoben werden. Entsprechend wird in Megillat Jehudit der Feind als der „Unbeschnittene und Unreine“ bezeichnet (8,7). Judit hat in Megillat Jehudit keinen königlichen Rang. Sie beruft sich lediglich vor dem König auf ihre Brüder, die Propheten sind (8,7). Die Israeliten ziehen, nachdem Judit mit dem abgeschlagenen Kopf des Königs die Stadt erreicht hat, am Morgen mit dem „Höre Israel“ (Dtn 6,4) auf den Lippen gegen das Heer der Griechen. Ein Zusatz zu dieser Geschichte erwähnt, dass die Israeliten unzählige Griechen getötet hätten sowie Gaskalga, dessen Verordnungen sie abschafften. Es ist anzunehmen, dass mit „Gaskalga“ Gaius Caligula gemeint ist,40 denn die Schrift Megillat Ta‘anit erwähnt, dass am 22. Schewat der Tempel von dem Abbild des „Gasqelges“ gereinigt wurde und Tacitus berichtet, dass Caligula, der im Jahr 41 ermordet wurde, im Tempel von Jerusalem ein Bild von sich habe aufstellen lassen.41 Die Geschichte von Megillat Jehudit endet damit in römischer Zeit.
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Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 323–325. Siehe Charles Dennis FISHER, Cornelii Tacii Historiarum libri (Oxford: Clarendon Press 1910; Ndr. 1990), 5, 9.
66
4.
Dagmar Börner-Klein
Judit – die Tochter des Mattatias
Durch einen zweiten Zusatz zu Megillat Jehudit, der über das Auffinden des durch den Hohepriester versiegelten Ölflakons durch die Makkabäer berichtet, wird die Judit-Geschichte zusätzlich mit der Makkabäerzeit und der Wiedereinweihung des Tempels verbunden. Ein dritter Zusatz vergleicht Israels Stärke mit der Sonne zur Sonnenwende. Dass aber in dieser Zeit Israels Frauen als besonders gefährdet galten, weil in Jerusalem feindliche Soldaten stationiert waren, geht aus Megillat Ta‘anit zum 17. Elul hervor.42 In dem Eintrag zu diesem Datum wird berichtet, dass die Römer aus Jerusalem vertrieben worden seien, und ein späterer Zusatz erklärt dazu Folgendes:43 Die griechischen Könige ließen Kriegslager in den Städten kampieren, damit sie die Bräute [vor der Hochzeit] vergewaltigen könnten, und [erst] danach wurden sie an ihre Männer verheiratet. Und sie hielten Israel [dadurch] davon ab, sich mit ihren Frauen zu freuen, um zu bestätigen, dass gesagt ist: Eine Frau wirst du dir verloben, aber ein anderer Mann wird bei ihr liegen (Dtn 28,30). Und kein Mann wollte eine Frau heiraten, weil die [aus dem] Kriegslager sie wiederholt heimlich [in das Lager] hineinbrachten, denn es heißt: Und ich nehme von ihnen die Stimme der Wonne und die Stimme der Freude, die Stimme des Bräutigams und die Stimme der Braut, das Geräusch der Mühle und das Licht der Leuchte (Jer 25,10). Und als sie das Geräusch der Mühlen in Burni hörten, sagten sie: „Schwur des Sohnes, Schwur des Sohnes.“ Und als sie das Licht der Leuchte sahen in Beror Chajil: „dort ist ein Fest, dort ist ein Fest.“ Und Mattatias, dessen Sohn der Hohepriester Jochanan war, hatte eine Tochter. Als ihm das Zeichen für eine Heirat mitgeteilt wurde, kam [eine Gruppe aus] dem Kriegslager, um sie zu verunreinigen, und sie ließen ihn nicht in Ruhe. Da ereiferten sich Mattatias und seine Söhne. Und ihre Hand war stark im Kampf gegen Griechenland, und sie wurden in ihre Hand überliefert und sie töteten sie. Und den Tag, an dem sie vernichtet wurden, machten sie zum Feiertag.
Damit wird die Angabe korrigiert, die Römer seien aus Jerusalem vertrieben worden. Laut Erklärung sind es die Griechen, weil sie das ius primae noctis an allen Bräuten praktiziert hätten, was bedeutet, dass sich der Souverän eines Bezirkes das Recht nahm, eine Braut zu deflorieren. Um dies zu verhindern, so Megillat Ta‘anit zum 17. Elul, hätten die Israeliten nur noch heimlich geheiratet und geheime Signale vereinbart, um einander auf eine bevorstehende Hochzeit aufmerksam zu machen. Nach Megillat Ta‘anit zum 17. Elul seien allerdings Probleme entstanden, als die Tochter des Mattatias, Sohn des Hohepriesters Jochanan, heiraten wollte, denn eine königliche Hochzeit habe nicht verheimlicht werden können, 42 43
Siehe Vered NOAM, Megillat Taanit . Versions, Interpretations, History. With a Critical Edition (hebr.) (Jerusalem: Yad Ben-Zvi Press, 2003), 90–92, 229–231. Zitiert nach Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 324–325.
Judit
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da sie als öffentliches Ereignis gefeiert wurde. Als Soldaten bei der Hochzeitsfeier eindringen, um an der Braut das ius primae noctis vollziehen zu lassen, vereiteln dies die Männer des Mattatias. Das in Megillat Ta‘anit zum 17. Elul erwähnte Motiv der gefährdeten Braut wird in weiteren hebräischen Erzählungen erstaunlicherweise mit der Judit-Geschichte verflochten.44 In diesen Geschichten45 wird jeweils ein Stellvertreter des Königs, der das Recht des ius primae noctis an einer Braut einfordert, getötet. Als Reaktion darauf belagert der König, dessen Stellvertreter getötet wurde, Jerusalem und Judit, die schöne Tochter des Mattatias, schmiedet Pläne, um den König zu besiegen.46 Sie versteckt einen Dolch bei sich, um sicher zu stellen, dass sie ein Instrument zur Hand hat, um den König im richtigen Augenblick zu töten. In diesen Judit-Geschichten richtet der König ebenfalls ein Fest für Judit aus, aber er betrinkt sich nicht maßlos. Er küsst Judit vor den Augen aller Gäste. Ein Zitat aus Ri 16,19 („und sie schläferte ihn auf ihrem Schoß ein“) deutet an, dass mehr als nur Küsse zwischen Judit und dem König ausgetauscht wurden. Als der König eingeschlafen ist, zieht Judit ihren Dolch und enthauptet den König. Mattatias und seine Männer schlagen daraufhin den Feind vernichtend.
5.
Hanna, Tochter des Hasmonäers, Tochter des Hohepriesters Jochanan
Ähnlich wie in Megillat Ta‘anit zum 17. Elul wird das Motiv der Gefährdung der Bräute in weiteren hebräischen Erzählungen durch die Fokussierung auf eine bestimmte Frau in griechisch-römischer Zeit aufgegriffen. Diese Frau wird entweder als „Tochter des Hasmonäers“ oder als „Tochter des Hohepriesters Jochanan“ bezeichnet, oder sie trägt den Namen „Hanna“.47 Sie lebt in einer Zeit, in der die Griechen strenge Verordnungen gegen Israel erlassen haben, um sie daran zu hindern, die Gebote auszuüben. Beschneidung und rituelle Tauchbäder sind verboten, das ius primae noctis wird angeordnet. Wieder eskaliert die Situation, als die Tochter des Hohepriesters bzw. die Tochter des Hasmonäers heiratet und der König seinen Statthalter zur Hochzeitsgesellschaft schickt und die Herausgabe der Braut fordert. Die Braut weigert sich, dem Statthalter ausgeliefert zu werden. Sie klagt die Hochzeitsgesellschaft an, 44 45 46 47
Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 326; Deborah LEVINE GERA, „Shorter Medieval Hebrew Tales of Yudith“, 81–95. Bibl. Nat. de France, Hebr. 1459,2 (fol. 83v–84rv) gedruckt in André-Marie DUBARLE, Judith, Bd. 1, 100–101; Bd. 2, 170–177. Siehe Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 326–337. Siehe André-Marie DUBARLE, Judith, Bd. 1, 84–85, 86–88; Bd. 2, 110–117, 118–125; Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 338–394.
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die nichts unternimmt, um sie zu retten. Diejenigen, die fromm und gerecht zu sein meinen, sehen untätig zu, wie sie ausgeliefert werde, so die Klage der jungen Frau. Schließlich ist der Bruder der Braut bereit, gegen den Statthalter einzuschreiten. Der Name dieses Bruders lautet „Juda“. Die Figur dieses Juda ersetzt damit die Figur der Judit, die durch ihre Schönheit den Tod des Feindes erwirken kann. Juda schmiedet nun einen Hinterhalt, um den Statthalter umbringen zu können. Er bringt die Schwester zum Statthalter, gewinnt durch Schmeicheleien dessen Vertrauen und erreicht so, dass die Wachen weggeschickt werden. Als Juda mit seiner Schwester und dem Statthalter allein bleibt, zieht er sein Schwert und enthauptet den Feind. Da aber mit dem Tod des Statthalters die Gefahr noch nicht gebannt ist, da der feindliche König weiterhin lebt, wird in dieser Erzähltradition die biblische Judit-Geschichte angeschlossen, um Judit, die hier als Witwe auftritt, zur Tat schreiten zu lassen. Allerdings fließen Erzählelemente aus den kurzen Judit-Geschichten mit ein.48 In einer weiteren Erzählstufe wird schließlich in einer Auslegung zu Ps 37,15 („ihr Schwert komme in ihr Herz“) die Geschichte von Hanna angeschlossen, die von ihrem Ehemann Eleasar, der der Schwiegersohn des Hohepriesters Jochanan ist, vor der drohenden Vergewaltigung eines Griechen im Tempel gerettet wird, indem Eleasar den Angreifer seiner Frau tötet. An diese Geschichte schließt sich eine Anmerkung eines Rabbi Isaak an, dass Galisko gegen das hasmonäische Haus Krieg geführt habe. Gegen sein Heer waren die Hasmonäer durch die himmlische Hilfe der Engel erfolgreich. Allerdings geht auch dieser Text davon aus, dass das Heer des Galisko aus Griechen bestand. Die Erzählung schließt mit der Geschichte des Ölwunders zu Chanukka.49
6.
Von Judit zu Juda
Wie bereits erwähnt wurde, taucht die Judit-Geschichte im Mittelalter um das Jahr 1000 bei Rabbi Nissim auf. Auch Raschi (Rabbi Solomon ben Isaak, 1041–1105) erwähnt die Figur der Judit noch nicht, als er in seinem Kommentar zum Traktat bShabbat 23a des Babylonischen Talmud darauf hinweist, dass auch Frauen dazu verpflichtet seien, das Chanukka-Licht anzuzünden, da die Griechen über alle jungfräulichen Frauen verordnet hätten, dass ein Hofbeamter ihnen zuerst (vor dem Ehemann) beischlafen solle und durch eine Frau ein Wunder geschehen sei. Raschi macht keine Angaben über die Art des
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Siehe Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 340–342. Interessant ist, dass weitere hebräische Erzählungen um die Errettung von Frauen in hasmonäischer/makkabäischer Zeit auch ohne Einflechtung einer Judit-Erzählung überliefert sind. Siehe Dagmar BÖRNER-KLEIN, Gefährdete Braut, 395–436.
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Wunders.50 Nach Raschbam (Rabbi Samuel ben Meir, 1085–1174), dem Enkel Raschis, sei, so hebt der Kommentar der Tosafot zu bMegilla 4a hervor, das Wunder von Chanukka durch Judit erwirkt worden. Die anonyme Judit-Figur der kurzen hebräischen Judit-Erzählungen muss sich vor den Wachen der belagerten Stadt bewähren, vor dem feindlichen König gibt sie an, die Brüder seien Propheten oder der Vater sei ein Prophet. Damit wird das Schönheitsmotiv der biblischen Judit-Geschichten wesentlich abgeschwächt. Nicht mehr die Schönheit der Frau ist für den König ausschlaggebend, sich ihr anzuvertrauen, sondern es sind die geheimen Informationen, die sie ihm verspricht mitzuteilen. Sie machen die Frau für den König attraktiv. Judits Schönheit wird damit aus dem Fokus der Erzählung herausgenommen. Sie ist nur vordergründig das Mittel, sich dem König anzunähern. Die Judit, die dann den König enthauptet, wird wie in den biblischen Judit-Geschichten als eine Frau beschrieben, die auf Gott vertraut. Sie ist aber in den hebräischen Judit-Geschichten als Figur weniger konturiert als in den biblischen Erzählungen, weil sie in ihnen weniger zu Wort kommt. Die Judit der hebräischen Erzähltradition betet nicht zu Gott wie in der lateinischen und griechischen JuditGeschichte. Zudem verschmilzt die Judit-Figur, die schöne Witwe, in der hebräischen Erzähltradition mit der Figur der gefährdeten Braut, wie in Kol bo, dem letzten Text, auf den hier Bezug genommen werden soll, deutlich wird.51 In dem Werk, das wahrscheinlich aus dem 13./14. Jh. stammt, widmet sich der anonyme Autor zunächst der erzählerischen Unstimmigkeit der Judit-Geschichte, dass der König sich während des Festmahls betrinkt, obwohl er die Nacht mit Judit zu verbringen gedenkt. So heißt es in der Erklärung des Kol bo zu bShabbat 23a:52 Und auch die Frauen sind in Bezug auf das Licht von Chanukka verpflichtet, denn auch sie sind in dieses Wunder eingeschlossen. Erklärung: Die Feinde waren gekommen, um alle Männer, Frauen und Kinder zu vernichten. Da geschah es, dass ihnen durch die Hand einer Frau ein großes Wunder geschah. Und ihr Name war Judith, wie es in der Haggada53 dargelegt ist. Sie war die Tochter des Hohepriesters Jochanan, und sie war von sehr schöner Gestalt. Und der griechische König hatte gesagt, dass er mit ihr schlafen wolle. Sie aber ließ ihn ein Käsegericht essen, damit er durstig werde und viel trinke, sich berausche, niederlege und schlafe. Und er wurde betrunken, legte sich nieder und schlief ein. Und sie war da, als er eingeschlafen war. Da nahm sie sein Schwert und schlug sein Haupt ab und brachte es nach Jerusalem. Als aber das Heer sah, dass ihr Held tot war, floh es. 50 51 52 53
Siehe Regina GRUNDMANN, „Judit, Hanna und Chanukka“, in Gefährdete Braut, 471– 482. Kol bo: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/inchebr/content/titleinfo/5307135. Zitiert nach Richard Adelbert LIPSIUS, „Jüdische Quellen zur Judithsage“, 357. Die wörtliche Bedeutung ist: „Erzählung“. Die Haggada oder Aggada umfasst den Bereich der rabbinischen Literatur, der sich auf die nicht gesetzlichen Texte der Bibel bezieht.
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Dagmar Börner-Klein Und deswegen pflegt man ein Käsegericht für Chanukka zu bereiten. […] wie wir im Midrasch54 lesen: Jochanans Tochter gab dem Anführer der Feinde Käse zu essen, dass er sich berausche. Und sie schnitt ihm das Haupt ab, sodass alle [Feinde] flohen. Deswegen ist es Sitte, am Einweihungsfest55 Käse zu essen.
Deutlich wird hier in Kol bo aber auch, dass die verschiedenen Frauenfiguren, die in den hebräischen Judit-Geschichten vorkommen, die gefährdete Braut und die schöne Witwe, in der mittelalterlichen hebräischen Erzähltradition verschmelzen. Eingegraben in das jüdische kollektive Gedächtnis um das Wunder, das nach bShabbat 23a Frauen in griechischer Zeit geschah, ist das Handeln einer Heldin, die entweder wie die biblische Judit, den Feind enthauptet, oder die durch das ius primae noctis gefährdete Braut, die sich dagegen auflehnt, zum Beischlaf mit dem Souverän ausgeliefert zu werden. Als gefährdete Braut verliert sie aber die Schlagkraft der Judit. Es ist ihr Bruder Juda, der den feindlichen König tötet. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass in Kol bo die Tochter Jochanans, die eine Verkörperung der gefährdeten Braut ist, die Schlagkraft Judits wiedergewinnt.
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Die Schriften der rabbinischen Literatur, die sich auf die Auslegung der Bibel beziehen. Das Chanukka-Fest ist gemeint.
Die Tradition um Eva in den Kommentaren von Raschi und Ramban Gerhard Langer Universität Wien
Biblische und parabiblische Themen treten im Mittelalter in vielfältiger Form auf. Dabei wird z.B. auch eine Figur wie Judit, die lange kaum eine Rolle in der jüdischen Tradition spielte, aus der Versenkung geholt.1 Neben den bereits aus der Spätantike bekannten Genres wie Midrasch, Pijjut oder parabiblischen Erzählungen treten nun u.a. auch der Kommentar, die Predigt und die mystische Verarbeitung der Tradition auf. Die halachische Durchdringung der Gebote wird weiterentwickelt, Glaubensregeln werden aufgestellt, in der Liturgie werden bis heute gültige Normen gesetzt, aber auch die Erzählung bekommt weiteren Raum. Der Gedanke eines mehrfachen Schriftsinns wird gegenüber der Antike massiv ausgebaut. Bekannt wird die Abkürzung Pardes als Kürzel für die Schriftsinne Peschat (allgemein anerkannte Auslegung, auch Literalsinn), Remez (Allegorie), Derasch (rabbinische midraschische2 Auslegung) und Sod (mystische Auslegung). Diese kann sich in verschiedene weitere Schriftsinne verzweigen. Auf die kabbalistische Deutung wird in diesem Sammelband ein eigener Beitrag eingehen. Zweifellos agiert die mittelalterliche Tradition nicht im luftleeren Raum. Im mitteleuropäischen Kontext (Aschkenas) wird die Begegnung mit dem Christentum auch in der religiösen Praxis und Theorie spürbar. Im Zusammenhang mit dem Thema Geschlecht soll nur auf einen Umstand verwiesen werden. So ist die Bedeutung des Blutes im Mittelalter in der christlichen Theologie stark gewachsen, aber auch im Judentum enorm präsent. Der französische Gelehrte Rabbi Joseph Bechor Schor (12. Jh.) setzte das Menstruationsblut der Frauen dem Bundesblut der Beschneidung gleich und reagierte damit auf den Vorwurf der Christen, die Frauen nicht in das Heilsgeschehen einzubeziehen. Während Christen Frauen wie Männer tauften, gab und gibt es im Judentum keine Beschneidung von Frauen. Für Bechor Schor vollzog sich durch das Blut der Menstruation im Rahmen der richtigen Beachtung der Regeln von Reinheit und Unreinheit ein der Beschnei-
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Vgl. dazu Kevin R. BRINE, Elena CILETTI und Henrike LÄHNEMANN (Hg.), The Sword of Judith. Judith Studies Across the Disciplines (Cambridge: Open Book Publishers, 2010). Zum Thema Midrasch vgl. Gerhard LANGER, Midrasch (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016).
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Gerhard Langer
dung vergleichbarer Vorgang, wobei auch in der Beschneidung der Fokus auf dem Bundesblut zu liegen kommt.3 Wenige Geschichten der Bibel haben in Bezug auf die Beziehung der Geschlechter so viel Wirkung erzielt und Rezeption erfahren wie die von Eva und Adam. Auch die jüdische Tradition hat sie intensiv interpretiert, kommentiert und weiterentwickelt. Ich konzentriere mich in der Folge auf zwei Auslegungen in Kommentarform.
1.
Raschi
Der bedeutende mittelalterliche Kommentator Rabbi Schlomo ben Jitzchaq (meist kurz Raschi genannt) aus Troyes (1040–1105) ist eine der wichtigsten Stimmen der Tradition. Er bildet geradezu die Brücke zwischen mittelalterlicher Exegese und spätantiker rabbinischer Auslegung. Sein Pentateuch-Kommentar nimmt zahlreiche Überlieferungen auf und verknüpft sie zu einer eigenen Synthese. Robert Harris wird in diesem Band noch einiges zu seiner Methode sagen, weshalb ich hier nur erwähnen will, dass Raschi 75% seines Bibelkommentars aus dem Midrasch, also der rabbinischen Bearbeitung des biblischen Stoffes, übernommen hat. Dieser dient ihm sowohl zur Klärung von Textschwierigkeiten, zur Deutung überflüssiger Wörter, zur Identifikation anonymer Personen oder Orte, zur Erläuterung der Motive von Protagonisten und deren Handlungen und auch für pädagogische Zwecke. Raschi sucht gezielt aus verschiedenen Midraschim aus und reflektiert auch darüber, stellt Midraschim um und verändert sie. Raschi sieht seine Schriften in keinem Fall als eine Anthologie vorhandener Texte, sondern als Erläuterungen verschiedener Probleme. Eine seiner Ansicht nach angemessene Auslegung (davar davur al ofnaw) ist jedenfalls eine, die sich mit den linguistischen und grammatischen Strukturen des Textes vereinen lässt. Leider erweist sich Raschis Kommentieren keineswegs als so klar, und das Verständnis von Peschat und Derasch ist nicht durchgängig das gleiche. In Bezug auf seinen Zugang zum Thema Frau und Sexualität ist hier auf einen Beitrag von Tal Ilan zu verweisen, der sich jedoch nicht auf den Pentateuchkommentar, sondern auf Talmudkommentare Raschis bezieht.4 Dieser lesenswerte Beitrag kommt u.a. zum Schluss, dass Raschi Frauen als stark von ihrem sexuellen Trieb gesteuert darstellt und dabei auch die ursprüngliche 3 4
Vgl. dazu Shaye J. D. COHEN, Why Aren’t Jewish Women Circumcised? Gender and Covenant in Judaism (Berkeley, CA: University of California Press, 2005), Kap. 4. Vgl. Tal ILAN, „Folgenreiche Lektüren: Gender in Raschis Kommentar zum babylonischen Talmud“, in Der Differenz auf der Spur: Frauen und Gender in Aschkenas (hg. v. Christiane E. Müller und Andrea Schatz; Berlin: Metropol, 2004), 21–49.
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Intention rabbinischer Texte verkehrt bzw. vereinseitigt. Im Kontext des Torastudiums ist hier einmal Raschis Interpretation von Mischna Sota 3,4 zu nennen, wo er den Begriff tiflut5 mit sexueller Ausschweifung gleichsetzt: Rabbi Eliezer sagte: Jeder, der seine Tochter Tora lehrt, ist, als ob er sie tiflut lehrte. Rabbi Jehoschua sagt: Eine Frau will lieber ein Maß tiflut als neun Maß perischut.
Dazu Raschi: Sie möchte sich lieber von wenig Nahrung ernähren und in sexuellen Beziehungen ihre tiflut haben als neun Maß mit perischut – [d.h.] auf die tiflut zu verzichten (zu bSota 21b).
In dem Kommentar zu b‘Avoda Zara 18b wird die gelehrte Berurja mit dem Hinweis verunglimpft, dass sie einen Test nicht bestand, als ihr Mann, Rabbi Meir sie durch einen Schüler prüfte, der sie schließlich verführte. Darauf erdrosselte sie sich selbst und ihr Mann floh vor Schande. Sie wurde zu dem maßgeblichen Text dafür, was die Rabbinen uns eigentlich über eine mögliche weibliche Gelehrte mitteilen wollten – dass ein solches Geschöpf weder existiert hat noch existieren kann, da es ihr unmöglich wäre, ihre natürlichen weiblichen Sexualinstinkte zu überwinden. 6
In der Forschung ist es allerdings umstritten, ob die in den letzten Jahren wieder vielbeachtete Erzählung um Berurjas Ende wirklich von Raschi stammt. Es fällt auf, dass sie im aschkenasischen Raum erst sehr spät rezipiert wurde und sich vorher zuerst in dem sefardischen MS Parma Palatina 3155 (De Rossi 1292) aus dem 14. Jh. und später in den Talmuddrucken findet. Eine Verfasserschaft im Schülerkreis ist nicht ausgeschlossen.7 Es wird zu fragen sein, ob Raschi in Bezug auf die Schöpfung der ersten Frau problematische Töne anklingen lässt. Indirekt kommt er auf die Schöpfung der Frau in seiner Erläuterung zu Gen 2,8 zu sprechen. Darin expliziert Raschi mithilfe eines hermeneutischen 5
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Tal Ilan versteht perischut hingegen als pharisäische Lehre und deutet den Text als Bevorzugung des Torastudiums der Frauen gegenüber der – als falsch verstandenen – pharisäischen Interpretation. Ebd. 48. Vgl. dazu Eitam HENKIN, ta´alumat ma´asse de´Berurja (hebr.). Itamar DRORI weist in „The Beruriah incident: tradition of exclusion as a presence of ethical principles: PaRDeS“, Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien 20 (2014): 99–116 auf die folkloristischen Gemeinsamkeiten mit einer Reihe von nichtjüdischen Erzählungen hin, u.a. auf das „Leben des Secundus“.
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Schlusses, dass in Gen 1,27 eine allgemeine Aussage von der Schöpfung des Menschen gemacht wird, die man schließlich in Gen 2,8 konkretisiert. Demnach ist im ersten Schöpfungsbericht nur der allgemeine Plan, im zweiten jedoch die aktuelle Durchführung dargestellt. In Gen 2,18 kommt es schließlich zur Schöpfung der Frau. Hier stützt sich Raschi auf den Midrasch Pirqe deRabbi Eli‘ezer 12, in dem es heißt: Der Heilige, gepriesen sei er, sagte: Ich bin einzig in meiner Welt und dieser ist einzig in seiner Welt. Ich vermehre mich nicht, und jener vermehrt sich auch nicht. Schließlich werden alle Geschöpfe sagen: Da er sich nicht vermehrt, ist er es, der uns erschaffen hat. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Ich will [ihm] eine Gehilfin machen, ihm entsprechend (Gen 2,18). Rabbi Jehuda sagte: Lies nicht ihm entsprechend ()כנגדו, sondern: gegen ihn ()לנגדו. Wenn er würdig ist, wird sie ihm eine Hilfe sein, wenn nicht, wird sie gegen ihn kämpfen.8
Raschi hat: „Es ist nicht gut usw.“9 – damit die Menschen nicht sagen: Es gibt zwei Gewalten: Der Heilige, gepriesen sei er, ist allein unter den oberen Wesen, und er hat keine(n) Partner(in), so ist auch dieser eine (Mensch) unter den unteren Wesen allein und hat keine Partnerin. „Eine Hilfe, die ihm entspricht usw.“ – wenn sie es verdient (dann ist sie ihm eine Hilfe), und wenn nicht, wird sie gegen ihn kämpfen (vgl. auch bYevamot 63a).
Die Schöpfung der Frau ist demnach nicht zuletzt deshalb erfolgt, um die Menschen nicht in der irrigen Annahme zu belassen, dass der Mensch göttliche Gewalt besitzt. Der Begriff ezer (Hilfe) hat viel Diskussion hervorgerufen. Er bezeichnet in der Bibel niemals eine untergeordnete Person, sondern mindestens eine ebenbürtige. 8
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Übersetzung nach Dagmar BÖRNER-KLEIN, Pirke de-Rabbi Elieser. Nach der Edition Venedig 1544 unter Berücksichtigung der Edition Warschau 1852 (Studia Judaica 26; Berlin: de Gruyter, 2004), [62]. Interessant sind hier z.B. die Auslegungen in Genesis Rabba 17,2, wo es heißt: „‚Und Gott sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibe‘. Es wurde gelehrt: jemand ohne Frau bleibt ohne Gutes, ohne Hilfe, ohne Freude, ohne Segen und ohne Versöhnung… Rabbi Chijja ben Gumadi sagte, er ist auch kein vollständiger Mensch, weil es heißt: ‚[Als Mann und Frau erschuf er sie], er segnete sie und nannte ihren Namen Adam/Mensch [an dem Tag, da sie erschaffen wurden.]‘ (Gen 5,2). Und es gibt solche, die sagen, dass er sogar das Abbild Gottes schmälere, wie es heißt: ‚Im Abbild Gottes machte er Adam‘ (Gen 9,6). Und wie heißt es danach? ‚Und ihr, seid fruchtbar und vermehrt euch‘ (Gen 9,7).“
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Die Auslegung basiert auch auf der Bedeutung von ke-negdo, das wohl mit „ihm entsprechend“ am besten übersetzt werden kann. Da es jedoch auch die Bedeutung „ihm gegenüber“ haben kann, wird schon von den Rabbinen der Begriff auf das jeweilige Verhalten der Frau bezogen. Raschi fährt zu Gen 2,20 fort: 20f.: „Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht. Da ließ Gott, der HERR, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen.“ – Als er sie vor ihn brachte, brachte er sie alle nach ihrer Art, männliche und weibliche. Da sagte er: Alle haben einen Partner, nur ich habe keinen Partner. Sofort ließ er auf ihn einen tiefen Schlaf fallen (vgl. Genesis Rabba 17,4). 21: „Von seinen Rippen/Seiten“ – von seinen Seiten, wie (in Ex 26,20): „für die Seite der Wohnstätte“; das entspricht, was sie (in b‘Eruvin 18a) sagten: „doppelgesichtig10 wurden sie erschaffen.“
An dieser Stelle greift Raschi auf die Vorstellung der Schöpfung eines androgynen Urmenschen zurück, wie sie in Genesis Rabba 8,1 oder eben im Talmud b‘Eruvin beschrieben wird: Rabbi Schmuel bar Nachman sagte: Als der Heilige, gepriesen sei er, den ersten Menschen schuf, machte er ihn doppelgesichtig, dann sägte er ihn entzwei und machte für diese und jenen einen Rücken. Man wandte ein, dass es heißt: „Er nahm eine seiner Rippen (tzela)“. Er antwortete: „eine seiner Seiten“, vergleichbar dem, wie es heißt: „Und die Seite des Altars“ (Ex 26,20).11
Anstelle von Rippe ist der Begriff Seite vorzuziehen, womit sprachlich ein Anklang an die Seitenteile des Altars mitklingt. „Und er schloss“: Er schloss die Stelle des Schnittes (vgl. bBerakhot 61b). „Er schlief ein und er nahm“ – er schlief ein und er nahm, damit er nicht seine Wunde am Fleisch sähe, von dem sie geschaffen wurde, und sie ihm verächtlich würde (vgl. bSanhedrin 39a). 22: „Und er baute“: wie ein Gebäude, unten weit und oben schmäler, um den Fötus aufzunehmen; wie ein Weizenspeicher unten weit und oben schmäler ist, damit das Gewicht nicht die Wände belaste.
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Das Bild des Doppelgesichtes spielt vor allem in der jüdischen Mystik noch eine große Rolle. Dort drückt es u.a. die Verbindung zweier göttlicher „Teile“, des männlichen Tiferet und der weiblichen Malkhut aus. Vgl. zu der Vorstellung von du-partzufin Moshe IDEL, „Panim: Faces and Re-Presentations in Jewish Thought“, in Representing God (hg. v. Hava Tirosh-Samuelson und Aaron W. Hughes; Leiden/Boston: Brill, 2004), 71–102. Vgl. auch Midrasch Levitikus Rabba 14,1 sowie im mystischen Buch Sohar die Abschnitte Bereshit 34b–35a und Shemot 55a; 231a.
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Gerhard Langer „Baute aus der Rippe eine Frau (le-ischa)“ – damit sie eine Frau würde, wie: „Und Gideon machte daraus ein Efod (le-efod)“ – damit es ein Efod würde“ (Ri 8,21).
Auch an diesen Stellen übernimmt Raschi Vorlagen. In bSanhedrin 39a dient die Erzählung von der Erschaffung der Frau aus dem schlafenden Adam einer Instruktion des (nichtjüdischen) Kaisers zur Schöpfung. Wenn jemand rohes Fleisch sieht, will er es auch gebraten nicht genießen, da es ihn davor ekelt. Analog wäre es auch Adam ergangen, hätte er mitbekommen, dass Eva aus seinem rohen Fleisch geschaffen wurde, weshalb Gott ihn gewissermaßen anästhesierte. In der Vorlage bBerakhot 61a ist ausführlich über die Schaffung der Frau die Rede. Es heißt u.a.: Man kann es mit Rabbi Jirmija ben Elazar erklären, denn Rabbi Jirmija ben Elazar sagte: Zweigesichtig schuf der Heilige, gepriesen sei er, den ersten Menschen, wie es heißt: „Hinten und vorne hast du mich gebildet“ (Ps 139,5). „Und es baute Gott, der Herr, aus der Seite“: Rav und Schmuel (diskutieren): Einer sagt: (aus dem) Gesicht (hat er sie gebaut), und der andere sagt: (aus dem) Schwanz (hat er sie gebaut).“
Dem bereits aus Genesis Rabba bekannten Zitat von der ursprünglichen Androgynität des Menschen folgt hier eine Diskussion zweier großer rabbinischer Schuloberhäupter in Babylonien, Rav und Schmuel, zu Ps 139,5. Nach Schmuel habe Gott die Frau aus einem hinteren Teil des Mannes, einem Schwanz gebildet, was einen negativen Beigeschmack hinterlässt. Beiden Positionen fehlt das in Genesis Rabba 8 durch Schmuel bar Nachman repräsentierte positiv verstandene Element des androgynen Urmenschen und der brutalen Trennung, die nach erneuter Vereinigung sucht. Etwas weiter im Text werden einige Folgerungen aus der „Operation“ gezogen. So wird aus dem Begriff „bauen“ (bana), der in Gen 2,22 auf die Frau bezogen wird, auf Zöpfe geschlossen (weil sie in „Seestädten“ binjata – „Gebäude“ – heißen) bzw. der Körperbau der Eva erklärt, der einem Speicher gleiche: wie dieser oben schmal und unten breit sei, um Früchte einzulagern, so analog der Körper der Frau, um den Fötus zum Baby heranwachsen zu lassen.12 Raschis Kommentar übernimmt nur einen Teil der Diskussion in einer Auswahl, die Abwertungen der Frau meidet. 23: „dieses Mal“ – lehrt, dass der Mensch alles Vieh und die wilden Tiere beschlief, und bei ihnen keine Befriedigung fand.
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Zur Konstruktion des Körpers der Frau als Gebäude vgl. Charlotte E. FONROBERT, Menstrual Purity. Rabbinic and Christian Reconstruction of Biblical Gender (Stanford: Stanford University Press, 2000), Kap. 2.
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Diese Auslegung ist aus bYevamot 63a bekannt. Die Verbindung von Mann und Frau wird hier sehr wohl auf die Sexualität bezogen und nicht auf Fortpflanzung enggeführt. „Sie nannte er Frau (ischa), denn vom Mann (isch) usw.“ – das ist ein Wortspiel, aus dem wir ableiten, dass die Welt in der heiligen Sprache (Hebräisch) erschaffen wurde (nach Genesis Rabba 18). „Darum verlässt der Mann“ – der Heilige Geist sagt dies, um den Kindern Noachs eine unerlaubte geschlechtliche Verbindung zu verbieten (vgl. bSanhedrin 57b). „Zu einem Fleisch“: das Baby wird durch beide geschaffen, und da wird ihr Fleisch zu einem gemacht.
Sieht man die Vorlage in bSanhedrin 57b genauer an, so läuft dort die Argumentation etwas anders. Die Rabbinen suchen Schriftbelege, die sich auf die Kinder Noachs, also die Nichtjuden beziehen, die gewisse Grundregeln einhalten. Demnach geht es darum, ob eine Frau eines Nichtjuden analog zum Mann bei sexueller Untreue bestraft werden könne. Dies leiten die Rabbinen schließlich aus dem „zu einem Fleisch werden“ ab. Sie verstehen den Ausdruck als Hinweis auf eine Verbindung, die Treue verlangt. Raschi übernimmt den Duktus der Auslegung, deutet aber „zu einem Fleisch“ auf die Zeugung von Kindern und schließt, dass das Baby Anteile von beiden Eltern hat.13 25: „Aber sie schämten sich nicht voreinander“ – sie kannten nicht den Weg der tzeniut zu unterscheiden zwischen Gutem und Bösem. Obwohl ihm die Vernunft gegeben war, mit Namen zu benennen, war ihm der böse Trieb nicht gegeben, bis sie vom Baum gegessen hatten. Und (dann) ging der böse Trieb in ihn hinein und er konnte zwischen Gut und Böse unterscheiden (Genesis Rabba). 3,1: „Die Schlange war listiger“ – welche Verbindung gibt es zwischen dem Folgenden und der gerade gemachten Aussage? Dieser hätte folgen sollen: „Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit“ (3,21). Sondern (der Zusammenhang besteht darin), dich zu lehren, mit welchem Plan die Schlange sie überfiel. Sie sah sie nackt und vor den Augen aller Geschlechtsverkehr ausüben, da wurde sie lüstern auf sie.
Sexualität hat hier nicht an sich eine negative Bedeutung, vielmehr wird mit dem Stichwort böser Trieb einerseits und dem Verhalten der Schlange andererseits darauf verwiesen, dass Sexualität in einem bestimmten Rahmen unter dem Aspekt der tzeniut erfolgen soll. Schamhaftigkeit ist eine verkürzte Übersetzung, auch wenn der Aspekt mitgemeint ist. Unter tzeniut ist ein Verhaltenskatalog gemeint, eine Art Habitus, der den von rabbinischer 13
Vgl. bNidda 31a, wonach die Frau durch ihren „Samen“ alle „roten Anteile“ einbringt, woraus die Haut, das Fleisch, die Haare, Blut und das „Schwarze“ im Auge entstehen, der Mann hingegen das Weiße, woraus die Sehnen, die Nägel, das Hirn, der Kopf und das „Weiße“ der Augen geformt werden.
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Gelehrsamkeit geprägten Menschen auszeichnen soll. Dazu gehört natürlich auch, Geschlechtsverkehr nicht in der Öffentlichkeit zu vollziehen. Der böse Trieb wird rabbinisch häufig auf falsches Sexualverhalten gedeutet.14 … 3,6: „Da sah die Frau“ – sie stimmte den Worten der Schlange zu, sie gefielen ihr, und sie glaubte ihr (Genesis Rabba 19,3); „dass der Baum gut war“ – um wie Gott zu werden; „dass er eine Augenweide war“ – wie er es ihr gesagt hatte: „und eure Augen werden geöffnet werden“; „und sie verlockte zu erkennen“ – wie er ihr gesagt hatte: Gut und Böse zu erkennen. „Und sie gab auch ihrem Mann“ – dass sie nicht sterbe und er am Leben bleibe und eine andere Frau nehme (Genesis Rabba 19,5). „Auch“ bedeutet eine Hinzufügung von Vieh und wilden Tieren.
Raschi weicht hier nicht von der Vorgabe in Genesis Rabba ab. Interessant ist der Aspekt, wonach Eva Adam von den Früchten gibt15, weil sie eifersüchtig auf eine mögliche spätere Verbindung Adams nach ihrem eigenen Tod ist, den sie als Strafe für das verbotene Essen erwartet. Eva habe auch allen Tieren zu essen gegeben. Dies wird von einem hermeneutischen Schluss abgeleitet, denn mit der Partikel gam (auch) ist in der rabbinischen Tradition ein so genannter Ribbui verbunden, wonach das Wort anzeige, das in der Aussage auch weitere Elemente mitgemeint sind. In diesem Fall bezieht sich das gam auf Tiere, die damit als mögliche Sexualpartner für Adam ausgeschlossen werden. … 11: „Wer hat dir gesagt“ – woher konntest du erkennen, welches Schamgefühl den erfüllt, der nackt dasteht? … 14: ... Unsere Lehrer haben im Traktat bBekhorot (8a) folgende Deutung aufgestellt, der Vers lehrt uns, dass die Schlange sieben Jahre lang trächtig ist. „Auf dem Bauche sollst du kriechen“ – sie hatte Füße gehabt, und diese wurden ihr abgeschnitten (Genesis Rabba 20,5). 15: „Feindschaft setze ich“ – du hast nichts anderes beabsichtigt, als dass Adam sterben sollte, nachdem er zuerst davon gegessen hat, und du (dann) Eva nähmest,
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Vgl. dazu Ishay ROSEN-ZVI, Demonic Desires. “Yetzer Hara” and the Problem of Evil in Late Antiquity (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2011). Welche Früchte damit gemeint sind, ist umstritten. Raschi geht später von Feigen aus, in Genesis Rabba z.St. ist von Weintrauben die Rede. Vgl. dazu auch Gerhard LANGER, „Die Bibel und die Rabbinen. Exegese und Aktualisierung und noch etwas anderes!“, in Gottes Name(n). Zum Gedenken an Erich Zenger (hg. v. Ilse Müllner, Ludger Schwienhorst-Schönberger und Ruth Scoralick; HBS 71; Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2012), 37–51.
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79 und hast nur darum zuerst mit Eva gesprochen, weil Frauen leicht zu überreden sind und ihre Männer zu überreden verstehen, darum will ich Feindschaft setzen.
An dieser Stelle findet sich ein Seitenhieb auf eine konstatierte „genderspezifische“ Eigenschaft. Frauen wären sowohl leichter beeinflussbar als Männer, aber sie verstünden diese auch leicht zu überreden. Daraus entsteht im Prinzip keine Abwertung der Frau, weil der Seitenhieb genauso die Männer trifft. Raschi schließt sich aber hier einer langen Tradition von Zuschreibungen von Charaktereigenschaften an, die sich verstreut vielfach in der jüdischen Überlieferung finden, unter anderem auch schon in Genesis Rabba. Dort finden sich z.B. in 17,8 negative Charakteristika der Frau, die sich auf ihre Schöpfung aus einem Knochen ableiten und der Schöpfung des Mannes aus der Erde gegenüberstehen: Frau muss sich parfümieren Frau ist lauter als Mann Frau schwer zu besänftigen
Erde riecht gut Fleisch gibt beim Kochen keinen Ton von sich Erde löst sich in Wasser auf
Knochen beginnen zu stinken Knochen gibt Ton von sich Knochen lösen sich nicht auf
Genesis Rabba hat jedoch auch eine Auslegung zu bieten, die Frauen aufwertet. In der Interpretation von bana (bauen) heißt es in 18,1: „Rabbi Elazar sagte im Namen des Rabbi Jose ben Simra: Gott hat ihr mehr Verstand als dem Mann gegeben…“ Hier wird bana auf bina (Verstand) gedeutet. … 16: „[Zur Frau sprach er]: Viel Mühsal bereite ich dir“ – das ist der Schmerz beim Aufziehen von Kindern (Söhnen) (vgl. b‘Eruvin 100b). „Und deine Mutterschaft“ – das ist der Schmerz der Schwangerschaft. „Unter Schmerzen gebierst du Kinder“ – das ist der Schmerz der Geburt (vgl. b‘Eruvin 100b). „Dein Verlangen richtet sich nach deinem Mann“ – nach Geschlechtsverkehr. Und doch wirst du nicht die Kühnheit haben, es wörtlich von ihm zu verlangen, sondern vielmehr wird er über dich herrschen. Alles ist von ihm abhängig und nichts von dir. „Dein Verlangen“ – dein Sehnen, wie (in Jes 29,8): „Seine Seele ist voll Verlangen“.
Erneut wird hier u.a. das sexuelle Verlangen thematisiert. Die Vorlage in b‘Eruvin 100b wird jedoch nur zum Teil übernommen. Dort und in Avot
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deRabbi Natan B 9; 4216 und Pirqe deRabbi Eli‘ezer 14 werden Listen der zehn negativen Folgerungen für Eva aus dem Sündenfall angefertigt.17 Dazu gehören in der Variante Avot deRabbi Natan B 42: Menstruation, Beschwernisse in Bezug auf Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre der Kinder, die Herrschaft des Mannes über sie, seine Eifersucht, frühe Alterung, Ende der Fruchtbarkeit mit dem Klimakterium. Außerdem hält sie sich im Haus auf und muss ihren Kopf bedecken, wenn sie ausgeht. Schließlich begräbt sie ihr Mann. Die Beobachtung der Nidda-Regeln, das Zünden der Schabbatlampen und das Absondern des Teigs ergeben sich daraus als Mittel der Sühne. Werden sie nicht eingehalten, so erklären die Rabbinen, sterben die Frauen im Kindbett.18 In b‘Eruvin 100b werden genannt: Menstruation, schmerzhafter Verlust der Jungfräulichkeit, Schmerzen der Kindererziehung, Schwangerschaft, der Geburt, Lust auf den Mann, Herrschaft des Mannes, befohlene Kopfbedeckung, Aufenthalt im Haus, Verbot der Polygamie bzw. lange Haare (, die sie wie die Dämonin Lilit trägt), Sitzen beim Urinieren und die Stellung beim Geschlechtsverkehr (unter dem Mann). Raschi übernimmt diese Liste nur sehr selektiv und meidet die besonders frauenfeindlichen Passagen. Allerdings betont er sehr wohl die sexuelle Lust, die Frauen empfinden. In b‘Eruvin 100b heißt es dazu: „Dein Verlangen richtet sich nach deinem Mann“ lehrt, dass die Frau ihren Mann sexuell in der Zeit begehrt, in der er auf Reisen ist; „und er wird über dich herrschen“ lehrt, dass die Frau in ihrem Herzen begehrt und der Mann mit dem Mund. Das aber ist ein guter Charakterzug an Frauen.
Raschi nimmt nur den ersten Teil der Auslegung auf und betont die sexuelle Lust von Frauen. Dies entspricht der von Tal Ilan schon festgestellten Haltung des Gelehrten in dieser Hinsicht. Für Raschi besteht die Strafe Evas in der Unmöglichkeit, Sexualität verbal von den Männern einzufordern. Wir werden sehen, dass Nachmanides ihm mit dem Verweis auf den zweiten Teil des Talmudzitates widersprechen wird. Die weiteren Auslegungen brauchen keine nähere Erläuterung bzw. verweisen auf bereits Gesagtes zurück.
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Vgl. Avot deRabbi Natan A 1 und palästinischer Talmud Shabbat 2,6,5b. Vgl. Judith R. BASKIN, „‘She extinguished the light of the world’: Justifications for women’s disabilities in Abot de-Rabbi Nathan B“, in Current Trends in the Study of Midrash (hg. v. Carol Bakhos; Journal for the Studies of Judaism Supplement Series 106; Leiden/Boston: Brill, 2006), 277–298. Vgl. dazu Natalie C. POLZER, „Misogyny Revisited: The Eve Traditions in Avot de Rabbi Natan, Versions A and B“, AJS Review 36 (2012): 207–255. So schon die Mischna Shabbat 2,6, ohne den Sündenfall zu erwähnen: „Wegen dreier Vergehen sterben Frauen in der Stunde ihres Gebärens: weil sie nicht aufmerksam sind in Bezug auf die Menstruation, die Teighebe und das Anzünden des (Sabbat)lichtes“.
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81 … 20: „Und Adam nannte“ – die Schrift kehrt zu ihrem ersten Gegenstand zurück, „der Mensch gab Namen“ (2,20), und er hat nur unterbrochen, um dich zu lehren, dass infolge der Benennung mit Namen Eva ihm zur Partnerin gegeben wurde, wie es dort heißt: „Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht.“ Dementsprechend „ließ er einen tiefen Schlaf auf ihn fallen.“ Aber weil er am Ende der Geschichte geschrieben hat „sie waren beide nackt“, schloss er den Abschnitt von der Schlange an, um dir zu zeigen, dass dadurch, dass sie/er ihre Nacktheit gesehen und sie beim Geschlechtsverkehr betrachtete, sie/er sie begehrte und über sie kam mit einem Plan und mit Hinterlist. „Eva/Chawa“ – ist ein Sprachspiel mit „die Lebende, die ihren Kindern das Leben schenkt“, wie du (in Koh 2,22) liest: „Was erhält der Mensch (ma howe laadam)“, wo hawa in dem Sinne von haja (sein) verwendet wird. 21: „Röcke aus Fellen“ – es gibt aggadische Auslegungen, die sagen, glatt wie ein Fingernagel, an ihrer Haut anliegend, und manche sagen, ein Material, das von der Haut stammt, wie zum Beispiel Hasenhaare, weich und warm, und davon machte er ihnen Röcke. 22: „Ist geworden wie einer von uns“ – siehe, er ist einzigartig unter den Irdischen, so wie ich einzigartig bin unter den Himmlischen. Und worin ist er einzigartig? Dass er Gut und Böse unterscheidet, was bei Vieh und wilden Tieren nicht der Fall ist (Genesis Rabba 21,5).
Raschi nimmt fast ausschließlich traditionelles rabbinisches Material auf, vor allem aus Genesis Rabba, aber auch aus dem Talmud. Wie wir sehen konnten, geht er dabei selektiv vor. Raschi vermeidet misogyne Töne. Dies macht ihn definitiv nicht zum Feministen, wie wir auch aus einer Reihe anderer Auslegungen wissen, aber in keinem Fall lässt sich aus Raschis Kommentar eine prinzipielle Herabwürdigung der Frau aufgrund ihrer Schöpfung herauslesen, wie sie gelegentlich in manchen rabbinischen Texten vorliegt und im Mittelalter zumindest in Ansätzen bei David Kimchi (1160–1235), Levi ben Gerschon (Gersonides) (1288–1344) oder Isaak Abravanel (1437–1508) zu finden ist.19 Ein Punkt ist hier jedenfalls zu betonen: Obwohl die Frau von Raschi (im Anschluss an rabbinische Texte und gelegentlich darüber hinaus) als sexuell verführerisch und mit Begierde versehen vorgestellt wird, entsteht daraus nirgendwo eine grundlegende Abwertung von Sexualität, weder mit noch ohne Bezug zu Eva. Frauen haben ein Recht auf Sexualität in der Ehe und sollen in ihren Bedürfnissen durchaus ernst genommen werden, auch wenn die Tendenz, die männliche Vorherrschaft zu betonen nicht zu leugnen ist. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch der jüngere Iggeret ha-Qodesch aus dem 12. Jh., ein anonymes Werk, das Sexualität als einen heiligen Akt schildert und von der Beschreibung des „Vorspiels“ bis zur richtigen Ernährung viele „Empfehlungen“ gibt. Dieser Text wurde des Öfteren Nachmanides zugeschrieben,
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Vgl. dazu Julia SCHWARTZMANN, „The Medieval Philosophical Interpretation of the Creation of Woman “, Da’at 39 (1997): 69–87 (hebr.).
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der jedoch nicht der Verfasser ist. Mit ihm beschäftige ich mich im zweiten Teil dieses Beitrages.
2.
Ramban/Nachmanides (1194–1270)
Wie so mancher Gelehrte des Mittelalters war auch Moses ben Nachman, der im spanischen Gerona geboren wurde, ein Multitalent, Arzt, Philosoph, Mystiker, Dichter, Ratgeber des Königs, Vertreter des Judentums bei der Disputation von Barcelona. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er im Heiligen Land, zuerst im desolaten Jerusalem, dann in Akko, wo er als spiritueller Leiter der Gemeinde wirkte. In seinen Bibelkommentaren setzt er sich auch immer wieder kritisch mit den Positionen Raschis auseinander. In der Folge soll am Beispiel der Exegese zu Eva Rambans Zugang nachvollzogen werden. 2,18: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibe“ – Es sieht nicht so aus, als sei der Mensch geschaffen, um allein in der Welt zu sein und keine Kinder zu zeugen, wo doch alle Geschöpfe – männlich und weiblich von allem Fleisch – geschaffen wurden, um Samen aufzuziehen. Die Pflanzen und Bäume tragen auch ihren Samen in sich. Aber es ist möglich zu sagen, dass es in Entsprechung zum Ausspruch geschah „doppelgesichtig schuf er ihn“ – und er machte sie, dass in ihnen etwas von Natur an ist, das im Fortpflanzungsorgan steckt, eine Zeugungskraft von Mann zu Frau, du kannst sie auch „Samen“ nennen, entsprechend der bekannten Auseinandersetzung über die Schwangerschaft. Und das zweite Gesicht ist eine Hilfe für das erste bei der Fortpflanzung. Und der Heilige, gepriesen sei er, sah, dass es gut war, das die Hilfe ihm gegenüber steht, und dass er sehen möge und von ihr getrennt oder verbunden sein möge, wie er es will. Und das ist, wie es heißt: „Ich mache ihm eine Hilfe, ihm gegenüber“. Und der Grund, dass es „nicht gut“ ist, liegt darin, dass man nicht vom Menschen sagt, dass es gut ist, wenn er allein ist, denn er kann so nicht bestehen. Im Schöpfungswerk bedeutet „gut“ das Bestehen/die Existenz, wie ich oben zum Abschnitt „Und Gott sah, dass es gut war“ erläuterte.
Dieser Abschnitt braucht Erklärung. Man sieht hier deutlich, dass Ramban auf einer stärker reflektierenden Ebene mit dem Text umgeht als dies Raschi tut, der zumeist selektiv die Traditionsliteratur zitiert. Er arbeitet hier vor allem mit dem u.a. aus Genesis Rabba und bYevamot 61a bekannten Bild des ersten Menschen, der aus zwei Teilen in einem einzigen Körper besteht und deutet die beiden Gesichter als männlichen und weiblichen Teil der Menschheit vor allem im Hinblick auf ihre Fortpflanzung. Der eine Mensch wird also geteilt, um ihm ein Gegenüber zu schaffen, mit dem er sich nach Wunsch geschlechtlich vereinigen und Nachkommen zeugen kann.
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83 19: „Und wie immer der Mensch das lebendige Wesen benannte, [so sollte es heißen].“ – Entsprechend der Auslegung von Raschi: Dreh den Satz um und deute ihn: Und jedes lebendige Wesen, welches der Mensch benannte, so sollte sein Name auf ewig sein. Und Rabbi Abraham (Ibn Ezra) meint: Denn das Lamed in „wie er benannte (jiqra lo)“ bezieht sich auf „wie immer der Mensch das lebendige Wesen (le-nefesch) benannte, so sollte es auf ewig heißen“. Es ist möglich, dass die Auslegung sich auf die Sache mit der „Hilfe“ bezieht und die Absicht hatte zu sagen, dass der Mensch ein lebendiges/beseeltes Wesen sei, wie es heißt: „So wurde der Mensch zu einem lebendigen/beseelten Wesen“ (2,7), wie ich ausgelegt habe: Und man brachte vor ihn alle Arten von Tieren, sodass alle von ihnen, die der Mensch benannte und sagte, dass sie lebendige/beseelte Wesen wären wie er, einen dauerhaften Namen erhielten und ihm eine Hilfe wären. Er benannte alle, aber er fand keine Hilfe, die ihm entsprach, die er ein lebendiges/beseeltes Wesen wie seinen eigenen Namen nennen konnte. „Aber eine Hilfe, die dem Menschen ebenbürtig war, fand er nicht“ – Nach der Auslegung von Raschi: Als er sie vor ihn brachte, brachte er sie alle nach ihrer Art, männliche und weibliche. Da sagte er: Alle haben einen Partner, nur ich habe keinen Partner. Sofort ließ er auf ihn einen tiefen Schlaf fallen. Raschi hat hier gut ausgelegt, denn, da die Schrift die Benennung mit Namen im Kontext der Sache mit der „Hilfe“ für den Menschen bringt, zeigt sich, dass die obige Auslegung richtig ist. Das „Benennen mit Namen“ soll nach der Meinung der Kommentatoren (Raschi, Radaq) im Peschat (Wortsinn) verstanden werden, insofern jeder einen Namen für sich bekommt, damit man ihn erkennt und wiedererkannt wird in den Nachkommen mit dem Namen, mit dem er benannt worden ist, der sein ewiger Name ist. Und siehe, als der Heilige, gepriesen sei er, ihm eine Hilfe schaffen wollte, brachte er sie (die Tiere) vor ihn, da er sie in Paaren vor ihn bringen musste, damit er den weiblichen (Tieren) auch einen Namen geben konnte. Denn es gibt welche, die mit einem (gemeinsamen) Namen benannt sind und andere, bei denen es unterschiedliche gibt, wie bei Stier und Kuh und Bock und Ziege und Widder und Schaf und anderen. Als der Mensch sie sich paaren sah, begehrte er sie, aber da er unter ihnen keine „Hilfe“ für ihn selbst fand, wurde er betrübt und fiel in einen Schlaf. Da ließ Gott einen tiefen Schlaf auf ihn fallen, damit er nicht die Entfernung seiner Rippe aus seinem Körper spüre (vgl. Pirqe deRabbi Eli‘ezer 12). Meiner Ansicht nach entspricht die Benennung mit Namen der „Hilfe“, und die Sache ist die: Der Heilige, gepriesen sei er, brachte vor den Menschen alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und er erkannte ihre Natur/ihr Wesen und benannte sie mit Namen, das heißt Namen, die zu ihnen von ihrem Wesen her passten. Durch die Namen wurde klar, wer als „Hilfe” geeignet war für sein Gegenüber, was bedeutet, geeignet, um sich miteinander fortzupflanzen. Und selbst, wenn wir glauben, dass Namen nur Übereinkünfte sind und nicht der Natur/dem Wesen entsprechen, so kennzeichnen sie doch die Trennung der Arten, denn er führte vor ihm männliche und weibliche (Tiere) vorüber und er erkannte ihr Wesen, welchen von ihnen „Hilfe“ für den anderen sein konnte, so dass sie sich fortpflanzen könnten. So benannte er die großen Tiere mit einem Namen, damit sie sich gegenseitig „Hilfe“ wären in der Fortpflanzung und die wilden Tiere mit einem anderen Namen, damit sie sich nicht untereinander fortpflanzen würden, und so (machte er es) mit allen. Und unter allen fand er keine, die dem Wesen nach als „Hilfe“ für ihn geeignet gewesen wäre, damit er sie mit seinem Namen benennen könnte, denn die Benennung mit Namen verweist auf die Trennung der Arten und die Absonderung der Kräfte voneinander, wie ich oben ausgelegt habe. Das bedeutet nicht, dass es in der Hand des Menschen gelegen wäre, für ihn eine „Hilfe“ zu finden, denn sie waren alle mit ihrem (eigenen) Wesen
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Gerhard Langer geschaffen, aber wenn er in einem von ihnen in seinem Wesen etwas gefunden hätte, das seiner Begierde entsprach, und er es gewählt hätte, dann hätte der Heilige, gepriesen sei er, dessen Wesen für ihn/ihm verbessert/angepasst, wie er es mit der Rippe getan hat. Und er fand es nicht für notwendig, ein neues Gebäude zu schaffen. Und das ist der Grund für den Vers: „Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte sein Name sein.“ Der Heilige, gepriesen sei er, würde den Namen bestätigen entsprechend dem Sachverhalt, den ich (oben) dargelegt habe. Es ist in meinen Augen richtig, dass es solange nicht der Wille des Heiligen, gepriesen sei er, war, eine Rippe vom Menschen zu nehmen, bis der Mensch erkannte, dass unter den Geschöpfen keine „Hilfe“ für ihn war und er begehrte, dass es eine „Hilfe“ für ihn gäbe, die ihm entspräche. Und deswegen war es notwendig, von ihm eine von seinen Rippen zu nehmen. Und das ist der Grund für „Aber eine Hilfe, die dem Menschen/Adam entsprach, fand er nicht“ – bedeutet: „und für den Namen Adam fand er keine Hilfe, die geeignet wäre als seine Entsprechung und mit seinem Namen benannt würde, um sich mit ihm fortzupflanzen. Und es besteht keine Notwendigkeit, den Worten der Kommentatoren (Ibn Ezra, Radaq/David Kimchi – 1160–1235) zu folgen, die sagen, dass der Name „Adam“ hier anstelle eines Reflexivpronomens stünde: und für ihn selbst fand er keine Hilfe, die ihm entsprach, wie bei „die Frauen Lamechs“ (Gen 4,23) (zu lesen als „meine Frauen“) und Jiftach und Samuel (1 Sam 12,11) (zu lesen als „und Jiftach und ich selbst“). Und das ist, wie es heißt: „Das endlich ist Bein von meinem Bein“, das bedeutet: Dieses Mal habe ich eine Hilfe für mich gefunden, die ich bis jetzt nicht gefunden habe unter den anderen Arten, denn das ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch, und geeignet, dass sie mit meinem Namen genannt würde und dass wir uns miteinander fortpflanzen. … „Darum verlässt ein Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an usw.“ – der Heilige Geist sagt dies, um den Kindern Noachs verbotene Geschlechtsbeziehungen zu untersagen. „Und sie werden ein Fleisch“: Das Kind wird von beiden Eltern geschaffen, und in ihm vereinigt sich ihr Fleisch in eines. So die Ansicht Raschis. Aber dafür gibt es keinen Grund, denn auch das Vieh und die wilden Tiere werden zu einem Fleisch durch die Fortpflanzung. Die in meinen Augen richtige Auslegung ist, dass weder im Vieh noch in den wilden Tieren eine Bindung zu ihren Weibchen existiert. Sondern, das Männchen kommt zu jedem Weibchen, das er findet, und dann gehen sie wieder (auseinander). Und deshalb sagt die Schrift, weil das Weibliche Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch war, er an ihm hängt und es in seinem Inneren wie sein (eigenes) Fleisch ist und er immer mit ihm zusammen sein möchte. Und wie es mit dem ersten Menschen war, so liegt es in der Natur seiner Nachkommen, dass die Männer an ihren Frauen hängen, ihre Väter und ihre Mütter verlassen und ihre Frauen ansehen, als wären sie mit ihnen ein Fleisch. Und so ist es auch in „Denn er ist doch unser Bruder und unser Fleisch“ (Gen 37,27 – Josef), „Niemand von euch darf sich einer Blutsverwandten/sche’er besaro [nähern, um ihre Scham zu entblößen]“ (Lev 18,6). Die Blutsverwandten werden sche’er basar („Fleischnahe“) genannt. Deshalb wird er den, der dem Fleisch seines Vaters und seiner Mutter nahe und verwandt ist, verlassen und sehen, dass seine Frau ihm näher ist als diese.20
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Hebräischer Text z.B. in der Datenbank des Bar Ilan Responsa Projects bzw. auch unter http://www.sefaria.org/Ramban_on_Genesis.3.7?lang=bi. Eine englische
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Nachmanides deutet die „Hilfe“ konsequent auf die im Namen verborgene Natur, Essenz, das Wesen einer Kreatur. Demnach könnte man ezer auch als wesensverwandt übersetzen. Damit wird die Gleichwertigkeit der Frau deutlich. Die Schöpfung der Frau geht schließlich auf ein Ersuchen des ersten Menschen zurück. Die Bindung zwischen Mann und Frau liegt laut Ramban im Umstand verborgen, dass der Mann sich beständig nach seiner eigenen Substanz sehnt, nach dem zu ihm gehörigen Fleisch. Dies ist eine besondere Variante der Vorstellung vom androgynen Urmenschen, wie sie auch in Genesis Rabba und im Talmud auftaucht. Eva ist zwar demnach eine sekundäre Schöpfung aus dem Urmenschen, steht ihm aber in keinster Weise nach oder unter ihm. Die geschlechtliche Vereinigung hat zwar auch bei Nachmanides das Ziel, Kinder zu zeugen, aber die Beziehung zwischen Mann und Frau geht weit darüber hinaus. Sie ist eben im Unterschied zur tierischen Vereinigung eine dauerhafte Bindung und „Anhänglichkeit“ in einem positiven Sinne. Ein Fleisch sein bedeutet demnach im Unterschied zu Raschi nicht nur sich in einem Kind zu „vereinigen“, sondern zu einer ursprünglich natürlichen wesensmäßigen Einheit zurückzukehren. Die Beziehung zur Frau wiegt letztlich stärker als die zu den Blutsverwandten, auch wenn die enge Zusammengehörigkeit der Familie vorher betont wird. Auch in der anschließenden Auslegung bietet Ramban keinerlei misogyne Ansätze und zitiert keine bekannten diesbezüglichen Erläuterungen aus Genesis Rabba oder dem Talmud. Interessant ist allerdings vor allem noch der Kommentar zu Gen 3,12–16, der hier wiedergegeben werden soll. „Die Frau, die du mir beigesellt hast“ – entsprechend: Die Frau, die deine Herrlichkeit selbst mir zur Hilfe gegeben hat, sie gab mir von dem Baum, und ich dachte, dass alles, was sie zu mir sagt, eine Hilfe und Unterstützung für mich sein würde. Das ist, warum er beim Verkünden seiner Strafe sagte: „weil du auf die Stimme deiner Frau gehört hast“ (3,17) – dass du nicht befugt warst, mein Gebot aufgrund ihres Rates zu übertreten, und unserer Weisen (in b‘Avoda Zara 5b) nennen ihn deshalb undankbar und möchten damit ausdrücken, dass die Absicht dieser Antwort (Adams) war zu sagen: Du hast mich dazu gebracht zu sündigen dadurch, dass du mir die Frau als Hilfe gegeben hast, sie aber hat mir geraten zu freveln. „Was hast du getan“ – mein Gebot zu übertreten, denn die Frau ist in der Warnung an den Menschen (vor der Übertretung des Gebotes) inbegriffen, denn sie war Bein von seinem Bein in dieser Zeit, und so ist sie auch in seiner Strafe inbegriffen. Und er sagte nicht zur Frau: Und du hast vom Baum gegessen“, denn sie wurde für das Essen bestraft und für den Rat, den sie (Adam) gegeben hat, wie auch die Schlange für ihren Rat bestraft wurde. Und deshalb sagt sie: „Die Schlange hat mich verführt, und ich aß“, denn die Strafe ist (für das Verführen) größer als für das Essen. Und siehe, von dort wird die Strafe für jene abgeleitet, Übersetzung bietet Charles B. CHAVEL, RAMBAN. Commentary on the Torah (New York: Shilo, 1999).
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Gerhard Langer die Menschen in irgendeiner Sache verleiten, wie unsere Weisen von dem Vers lehrten (in bPesachim 22b): „Du sollst einem Blinden kein Hindernis in den Weg stellen“ (Lev 19,14).
Hier wird Evas Verhalten zwar gerügt, aber keine grundlegende Abwertung der Frauen vollzogen. Vielmehr dient die Strafe Evas dazu, einen allgemeinen Grundsatz – für Männer wie Frauen – einzuschärfen, dass nämlich die Verleitung zu einer Straftat als noch schlimmer anzusehen ist als die Tat selbst. Adam hingegen wird geradezu als Gotteslästerer dargestellt, da er Gott einen Vorwurf macht, ihm eine Frau geschenkt zu haben, die ihn in die Bredouille brachte. … „Dein Verlangen richtet sich nach deinem Mann“ – nach Geschlechtsverkehr. Und doch wirst du nicht die Kühnheit haben, es wörtlich von ihm zu verlangen, sondern vielmehr wird er über dich herrschen. Alles ist von ihm abhängig und nichts von dir. So die Auslegung Raschis. Doch ist das nicht richtig, denn es ist lobenswert bei einer Frau, wie es heißt (in b‘Eruvin 100b): Das ist eine guter Charakterzug an Frauen. Rabbi Abraham Ibn Ezra sagte: „Dein Verlangen richtet sich nach deinem Mann“ – dein Gehorsam. Und der Grund ist, dass du allem gehorchen wirst, was er dir befiehlt, denn du bist unter seiner Herrschaft, um zu tun, was er will. Aber ich habe den Gebrauch von „Verlangen“ (teschuqa) nur im Zusammenhang von Begierde und Lust gefunden. Richtig ist es in meinen Augen, dass er sie damit straft, dass ihr Sehnen nach ihrem Mann sehr groß ist und sie nicht durch den Schmerz von Schwangerschaft und Geburt oder dadurch abgeschreckt wird, dass er sie als Magd hält. Es ist nicht Brauch, dass ein Sklave sich selbst einen Herrn erwirbt, sondern er wünscht sich, ihm zu entfliehen. Und siehe, es ist (eine Bestrafung) Maß für Maß, denn sie hat sie (die Frucht) auch ihrem Mann gegeben und er aß nach ihrer Anordnung und er (Gott) bestrafte sie, dass sie nicht mehr länger eine Anordnung über ihn verfügen könne, sondern er über sie nach seinem Willen bestimme.
An dieser Stelle wird deutlich, dass Ramban sich von seinen Vorgängern absetzt. Er akzeptiert weder die Meinung Raschis noch die Ibn Ezras. Raschi hatte – wie oben gezeigt wurde – Frauen als sexuell begierig dargestellt und auf die Tradition verwiesen, wonach sie Sexualität nicht verbal einfordern sollten. Dies hatte er als Strafe verstanden. Im Talmud b‘Eruvin, auf den er sich bezieht, spielt der Bibelbeleg der Genesis sehr wohl eine Rolle, um das an sich legitime Bedürfnis nach Sexualität, das in diesem Text prinzipiell nicht bestritten wird, in gewisse Bahnen zu lenken. Frauen sollten ihr Begehren weniger bis gar nicht verbal artikulieren, sondern „über Umwege“ deutlich machen, etwa, indem sie sich für ihre Männer attraktiv machten. Aber dieser Umstand wird nicht als Strafe gesehen, sondern als prinzipiell richtiger Charakterzug an Frauen. Auch Ramban sieht darin dementsprechend keine auf das biblische Vergehen Evas zurückgehende Strafe, sondern ein allgemeines
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lobenswertes weibliches Verhalten, also einen Ausdruck der tzeniut. Er teilt auch nicht Ibn Ezras Ansatz, wonach die Frau grundsätzlich und in allen Dingen zum Gehorsam verpflichtet sei. Streng genommen bleibe Verlangen eben immer auf Sexualität bezogen, weshalb auch die Strafe sich nicht auf Unterordnung der Frau im Allgemeinen beziehen könne. Nach Ramban besteht die Strafe vielmehr darin, dass die Frau ihrem Mann in sexuellen Dingen nichts vorschreiben könne, obwohl ihr Verlangen nach ihm übermächtig sei.
3.
Zusammenfassung
Raschi wie Ramban setzen sich intensiv mit ihren Vorlagen auseinander. Raschi verwendet sie selektiv, Ramban erlaubt sich offene Kritik gegenüber den Vorgängermeinungen. Beiden ist gemein, dass sie die sexuelle Begierde der Frau betonen und in geregelte Bahnen lenken wollen, die bereits von der talmudischen Tradition vorgegeben sind. Ramban betont die intensive Bindung des Mannes an seine Frau, die in der besonderen Schöpfung der Frau aus dem Mann ihre Begründung hat. Von einer grundlegenden Abwertung von Frauen oder gar einer theologisch fundierten Erbsünde bzw. einer „Verteufelung“ von Sexualität kann bei beiden nicht die Rede sein. Obwohl Sexualität prinzipiell positiv gesehen wird, dient die Erzählung vom Sündenfall dazu, das richtige Verhalten – die tzeniut – zu betonen und herauszustreichen.
Sara und Hagar in der mittelalterlichen jüdischen Kommentarliteratur Carol Bakhos University of California, Los Angeles
Ähnlich wie in der klassischen rabbinischen Literatur wird auch in der mittelalterlichen Kommentarliteratur versucht diverse Lücken in der Geschichte von Sara und Hagar zu schließen und viele potenziell verstörende Implikationen in Bezug auf den moralischen Charakter von Abraham und Sara zu thematisieren. Wie ihre exegetischen Vorgänger in der Spätantike, so waren auch die jüdischen Kommentatoren im Mittelalter nicht immer einer Meinung, wenn es um die Charakterisierung dieser biblischen Figuren ging. Sie hinterfragten Bibelstellen hinsichtlich dessen, was gesagt wird bzw. ausgesagt werden soll, nicht nur ihrer offensichtlichen Bedeutung nach, sondern auch in Bezug auf das, was zwischen den Zeilen geschrieben steht. Dies gilt insbesondere für die Beziehung zwischen Sara, der Matriarchin, und ihrer ägyptischen Magd Hagar, die moralische Fragen aufwirft, die auch zeitgenössische Leser_innen immer wieder beschäftigen. Bekanntlich versuchen klassische rabbinische Werke Lücken in der Heiligen Schrift auf kurze und spielerische Art und Weise zu schließen; davon abgesehen verstärken mittelalterliche Kommentatoren im Allgemeinen den Prozess der Interpretation und erklären diesen als einen Vorgang, der der Bedeutungsgebung mehr Wertschätzung verleiht und der tatsächlich eine Vielzahl an Bedeutungen zulässt. Durch die Interpretation der jüdischen Gelehrten des Mittelalters wird die biblische Geschichte eher zu einem Moralkodex und einem Leitfaden für richtiges Verhalten. Auch wenn sich die jüdischen Stammväter und Stammmütter nicht vorbildlich verhalten, können wir durch ihre Unzulänglichkeiten lernen. Diese Art der Interpretation stellt eine deutliche Verschiebung gegenüber der Tendenz in klassischen rabbinischen Texten dar, in welchen die Handlungen der Protagonisten eher beschönigt werden und ihr manchmal zweifelhafter Ruf wiederhergestellt wird. Abrahams Ehefrauen Sara und Hagar haben in der Vergangenheit weitaus weniger Aufmerksamkeit erfahren als ihr Mann und ihre Söhne, sowie Ketura, die Frau, die Abraham laut Genesis nach dem Tod Saras heiratete. Exegeten haben dennoch die Notwendigkeit erkannt, spezifische Verse und Handlungsstränge zu interpretieren und die Rollen zu definieren, die sie in der breiteren
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theologischen und moralischen Rahmenerzählung spielten.1 Wie werden diese Frauen dargestellt? Welche Rolle spielen Sara und Hagar als Matriarchinnen in der Gründerfamilie Abrahams? Wie wirkt sich ihre Darstellung auf die herkömmliche Charakterisierung von Abraham aus? Welche tieferen Erkenntnisse bietet uns die Lesart der mittelalterlichen Ausleger?
1.
Der biblische Hintergrund
Gott verkündet Abraham, dass er der Stammvater vieler Nationen sein werde, doch seine Frau Sara (an dieser Stelle in der Erzählung lautet ihr Name noch Sarai) will nicht untätig auf Gottes Versprechen auf Nachkommenschaft vertrauen. Sie tritt an ihren Mann mit der Idee heran, er möge einen Sohn mit ihrer ägyptischen Magd Hagar zeugen, um so durch diese Kinder zu bekommen: Sarai, Abrams Frau, hatte ihm nicht geboren. Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin. Ihr Name war Hagar. Da sagte Sarai zu Abram: Siehe, der HERR hat mir das Gebären verwehrt. Geh zu meiner Sklavin! Vielleicht komme ich durch sie zu einem Sohn. Abram hörte auf die Stimme Sarais. Sarai, Abrams Frau, nahm also die Ägypterin Hagar, ihre Sklavin, zehn Jahre, nachdem sich Abram im Land Kanaan niedergelassen hatte, und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau (Gen 16, 1– 3).2
Hagar wird schwanger, doch der ewige Bund, der Abrahams Nachkommen versprochen wurde, kommst erst durch Isaak, seinen Sohn mit Sara, zustande 1
2
Zu diesem Thema wurde bereits viel Literatur verfasst, weshalb hier eine kurze Auswahl an Werken folgt, die einen Überblick geben sollen: Elizabeth CASTELLI, „Allegories of Hagar: Reading Galatians 4:21–31 with Postmodern Feminist Eyes“, in The New Literary Criticism and the New Testament (hg. v. Elizabeth Struthers Malbon und Edgar McKnight; Sheffield: University of Sheffield Press, 1994), 228–250; Phyllis TRIBLE, Texts of Terror: Literary-Feminist Readings of Biblical Narrative (Philadelphia: Fortress, 1984), 9–36; Jo Ann HACKETT, „Rehabilitating Hagar: Fragments of an Epic Pattern“, in Gender and Difference in Ancient Israel, (hg. v. Peggy L. Day; Philadelphia: Fortress, 1989), 12–27; J. Cheryl EXUM, Fragmented Women: Feminist (Sub)versions of Biblical Narratives (Valley Forge: Trinity Press International, 1993), 130–147; sowie John L. THOMPSON, Writing the Wrongs: Women of the Old Testament among Biblical Commentators from Philo through the Reformation (Oxford: Oxford University Press, 2001), 17–99. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen der hebräischen Bibel und des Neuen Testament aus der deutschen Einheitsübersetzung (2016). Für eine Diskussion der jüdischen, christlichen und muslimischen Interpretationen der abrahamitischen Erzählung, siehe Carol BAKHOS, Family of Abraham: Jewish, Christian and Muslim Interpretations (Cambridge: Harvard University Press, 2014).
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und nicht durch Ismael, seinen Sohn mit Hagar, oder durch die Söhne, die er mit Ketura zeugt (Gen 25,1–2): Gott entgegnete: Nein, deine Frau Sara wird dir einen Sohn gebären und du sollst ihm den Namen Isaak geben. Ich werde meinen Bund mit ihm aufrichten als einen ewigen Bund für seine Nachkommen nach ihm. Auch was Ismael angeht, erhöre ich dich: Siehe, ich segne ihn, ich mache ihn fruchtbar und mehre ihn über alle Maßen. Zwölf Fürsten wird er zeugen und ich mache ihn zu einem großen Volk. Meinen Bund aber richte ich mit Isaak auf, den dir Sara im nächsten Jahr um diese Zeit gebären wird (Gen 17,19–21).
Isaaks auserwählter Status und der seiner Nachkommen als Erben des Bundes sind ganz klar definiert und spielen eine wichtige Rolle, nicht nur bei der Gestaltung der Beziehung zwischen Isaak und Ismael, sondern auch zwischen der ihrer Mütter. Dass der Bund gerade durch Isaak aufrechterhalten wird, ist entscheidend, um zu verstehen, wie Sara und Hagar nicht nur im Mittelalter, sondern im Laufe der gesamten Geschichte dargestellt werden. Ebenso ist es wichtig dies im Hinterkopf zu behalten, um die marginale Stelle Hagars und die theologischen Implikationen, die sich durch die Auserwählung Isaaks ergeben, besser nachvollziehen zu können. Das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen den Frauen spiegelt sich auch in der Beziehung zwischen den beiden Söhnen wider. Auch wenn Ismael als Erstgeborener als rechtmäßiger Erbe Abrahams anzusehen ist, ist es Isaaks Status als auserwählter Sohn, der den Bund aufrechterhält, und die Bevorzugung des einen Sohnes gegenüber dem anderen bzw. die Bevorzugung der einen gegenüber der anderen Mutter rechtfertigt. Die Praxis, Kinder durch eine Leihmutter zu bekommen, war in nahöstlichen Gesellschaften nicht ungewöhnlich. Eine ähnliche Regelung im Falle der Unfruchtbarkeit einer Frau finden wir beispielsweise in einem Vertrag, der aus dem antiken Nuzi stammt (Mesopotamien, 14. Jh. v. u. Z.). Laut dem Ehevertrag aus Nuzi, war eine kinderlose Ehefrau dazu verpflichtet, ihrem Mann einen Ersatz anzubieten, was erklären dürfte, warum Sara Abraham ihre Sklavin Hagar als Konkubine zuführte (Gen 16,14). Für den Fall, dass ein Sohn aus dieser Vereinigung hervorging, war es verboten, die Sklavenfrau und ihr Kind zu verstoßen: „Kelim-ninu [eine Frau] wurde mit Schennima [einem Mann] verheiratet .... Sollte Kelim-ninu (Kinder) gebären, soll Shennima keine andere Frau nehmen; wenn aber Kelim-ninu nicht gebären sollte, soll Kelim-ninu eine Frau aus dem Land Lillu als Frau für Shennima erwerben, und Kelim-ninu darf den Nachwuchs nicht wegschicken.“3 Dies erklärt vielleicht teilweise Abrahams große Bedenken, Hagar und Ismael wegzuschicken. Außerdem wird, wie wir noch sehen werden, Hagars Status als Abrahams Zweitfrau von den 3
James B. PRITCHARD, The Ancient Near East: An Anthology of Texts and Pictures (Princeton: Princeton University Press, 2010), 188.
Sara und Hagar
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mittelalterlichen Kommentatoren übernommen; während in der klassischen rabbinischen Literatur noch vermieden wird, sie ausdrücklich als seine Frau zu bezeichnen, stimmen die mittelalterlichen Kommentatoren im Großen und Ganzen darüber überein, dass sie seine Frau war, wobei sie auch festhalten, dass sie Saras Dienstmagd war. Dass Hagar beides zur gleichen Zeit sein konnte, kontextualisiert und legitimiert das Verhalten der mittelalterlichen Kommentatoren ihr gegenüber. Abraham kommt dem Wunsch seiner Frau nach; Hagar wird schwanger und Ismael wird geboren. Als Hagar jedoch schwanger wird, „galt ihre Herrin in ihren Augen nichts mehr“ (Gen 16,4). Sara beschwert sich daraufhin bei Abraham, der ihr wiederum sagt, sie möge mit Hagar tun, was immer sie will. Als Sara hart mit ihr umgeht, flieht Hagar in die Wüste, wo sie schließlich der Bote Gottes findet. Er teilt ihr mit, dass Gott ihren Samen sehr zahlreich machen wird, dass sie mit einem Sohn schwanger ist, und dass sie ihn Ismael nennen soll, was „Gott hört“ bedeutet, „denn der HERR hat dich in deinem Leid gehört“ (Gen 16,11). Als Abraham erfährt, dass nun auch Sara schwanger ist und der Bund durch Isaak und seine Nachkommen aufrechterhalten wird, äußert er Sorge um seinen älteren Sohn Ismael. Also segnet Gott auch Ismael, um ihn zu einer großen Nation werden zu lassen. Doch obwohl Ismael gemeinsam mit Abraham und den anderen männlichen Mitgliedern seines Haushalts beschnitten wird, ist er dennoch kein Teil des Bundes. Kurz gesagt, der jüngere Sohn wird gegenüber dem älteren bevorzugt. Sara bringt Isaak zur Welt, und an dem Tag, an dem dieser entwöhnt wird, gibt Abraham ein großes Fest; doch was die Freude der einen Mutter ist, ist der Kummer der anderen. In Genesis 21 wird den Sohn des Bundes in die Gesellschaft eingeführt, während der Sohn der Magd hinauskomplimentiert wird, denn wir lesen: „Eines Tages beobachtete Sara, wie der Sohn, den die Ägypterin Hagar Abraham geboren hatte, spielte und lachte. Da sagte sie zu Abraham: Vertreibe diese Magd und ihren Sohn! Denn der Sohn dieser Magd soll nicht zusammen mit meinem Sohn Isaak Erbe sein“ (Gen 21,9–10). Diese Situation beunruhigt Abraham sehr, der Saras Bitte nicht ohne weiteres nachgeben möchte. Schließlich schreitet Gott ein und gibt ihm zu verstehen, dass er auf Sara hören soll. Er beschwichtigt Abrahams Sorge um Ismaels Schicksal. Also schickt Abraham Hagar und ihren Sohn in die Wüste von Beerscheba. Abraham vertraut auf Gott und steht „früh am Morgen“ auf,4 nimmt etwas Brot und einen Schlauch Wasser und gibt es Hagar. Er legt es auf ihre Schulter, „übergab ihr das Kind“,5 schickt sie weg und überlässt sie der Wüste von
4 5
„Früh am Morgen stand Abraham auf“ (Gen 21,14) ist eine der vielen literarischen Parallelen zwischen beiden Opfergeschichten. Für eine philologische Erläuterung zu Gen 21,14 und die Verortung dieser Bibelstelle in einer breiteren Erzählstruktur, sowie für die theologischen und moralischen Fragen, die dabei aufgeworfen werden, siehe Larry LYKE, „Where Does the Boy Belong?
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Beerscheba, wo ihnen bald das Wasser ausgeht. Hagar will ihren Sohn nicht sterben sehen und lässt ihn unter einem Strauch zurück, setzt sich in der Nähe hin und bricht in Tränen aus. Gott hört den Knaben schreien und ein Engel Gottes ruft ihr aus dem Himmel zu, um ihr mitzuteilen, dass Gott sein Schreien gehört hat und eine große Nation aus ihm machen wird. Gott öffnet ihr die Augen und sie erblickt eine Wasserquelle. Das Kind ist gerettet und wächst zum Stammvater von zwölf Nationen heran. Wir erfahren, dass Ismael seinen Vater gemeinsam mit Isaak beisetzt, doch von Hagar ist nichts Weiteres bekannt. Die Vertreibung von Hagar und Ismael in Genesis 21 ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich.6 Antike, mittelalterliche und moderne Kommentator_innen haben sich gleichermaßen mit dem Vers auseinandergesetzt, in dem Sara ihre Meinung über die Stellung ihrer Magd innerhalb der Familie ändert. Warum will Sara, die Abraham Hagar zum Zwecke der Fortpflanzung zugeführt hat, plötzlich, dass sie und ihr Sohn „vertrieben“ werden? Was bedeutet es, dass Hagar ihre Herrin geringer achtet? Rechtfertigt dies Hagars schlechte Behandlung durch Sara?
2.
Die mittelalterlichen Kommentatoren
Vormoderne christliche und jüdische Exegeten bekräftigen im Wesentlichen Hagars niedrigen Status, genauso wie sie Saras Taten rechtfertigen. Jüdische, christliche und muslimische Kommentatoren liefern eine Vielzahl von Darstellungen der beiden Frauen. Als Ehefrau Abrahams und Mutter Isaaks ist Sara, was ihr Verhalten betrifft, meist über jede Kritik erhaben, obwohl es auch einige Darstellungen gibt, die ihre Gesinnung gegenüber Hagar in Frage stellen, und sie tatsächlich wegen ihrer Gefühllosigkeit und Ungerechtigkeit anprangern.
6
Compositional Strategy in Genesis 21:14“, Catholic Biblical Quarterly 56 (1994): 637–648. Für einen erhellenden Vergleich zwischen Ismaels Vertreibung aus dem gelobten Land und Kains Vertreibung aus dem Garten Eden, siehe Jon D. LEVENSON, The Death and Resurrection of the Beloved Son: The Transformation of Child Sacrifice in Judaism and Christianity (New Haven: Yale University Press, 1993), 91–92, sowie 102, wo er schreibt, „die knappe Erzählung in Gen 21,9–13 blickt, gleich einem Januskopf, sowohl auf die Geschichte der Urfamilie zurück, eröffnet aber auch Perspektiven auf die nächste Generation der Patriarchen.“ Darüber hinaus lenkt Levenson (108) unsere Aufmerksamkeit auf die „intertextuelle Verbindung zwischen der übernatürlichen Rettung Ismaels in Genesis 21 und einer anderen Geschichte, nämlich jener von Joseph, die ebenfalls von einem erstgeborenen Sohn handelt, dessen Leben verschont bleibt.“
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Ziehen wir als Beispiel die Kommentare des berühmten Grammatikers und Exegeten Rabbi David Kimchi (Radak) heran, der von etwa 1160 bis 1235 in der Provence lebte:7 Sie [Sarah] quälte sie und behandelte sie strenger als notwendig. Auch ist es möglich, dass sie sie schlug und sie beleidigte [wörtlich „verfluchte“], bis sie es nicht mehr ertragen konnte und floh. Diesbezüglich hat Sarah weder ethisch noch wohltätig gehandelt. Nicht ethisch, denn obwohl Abraham sagte, „[t]u mit ihr, was in deinen Augen gut erscheint“, hätte sie sich um seinetwillen zurückhalten müssen und sie nicht bestrafen dürfen. Nicht wohltätig, denn ein guter Mensch, auch wenn es ihm erlaubt wäre, würde nicht so hart handeln. Gott billigte ihr Verhalten nicht, wie aus den Worten des Engels hervorgeht, der zu Hagar sagte: „denn der HERR hat dich in deinem Leid gehört“ (Gen 16,11) und sie für ihre Duldsamkeit gesegnet. Abraham hinderte Sarah nicht daran, Hagar zu peinigen, obwohl er es für falsch hielt, um den Frieden zwischen ihm und seiner Frau (schalom bajit) zu wahren. Die Geschichte ist in der Tora niedergeschrieben, um uns zu lehren, wie man sich zu benehmen und schlechtes Verhalten zu vermeiden hat. (Kimchi zu Gen 16,6)8
Obwohl Abraham Sara freie Hand gelassen hatte, als er sagte, „[t]u mit ihr, was in deinen Augen gut erscheint“, hätte sie Hagar aus moralischer Sicht so behandeln sollen, wie es ihrem Status als Ehefrau bzw. rechtmäßige Gefährtin Abrahams zustand. Unter dem Aspekt der Ausübung menschlicher Güte (chassidut), hätte sie ihre Untergebene mit aller nötigen Rücksicht behandeln müssen. Stattdessen erklärt uns Kimchi, dass Sara sich rücksichtslos an Hagar vergangen hat, sie möglicherweise geschlagen und verflucht hat, bis letztere ihr Leid und die Erniedrigung nicht mehr länger ertragen konnte. Darüber hinaus hält Kimchi fest, dass Sara, um der Ehre Abrahams willens, Hagar mit größerem Mitgefühl behandeln hätte müssen. Saras Verhalten gegenüber Hagar stieß auch bei Gott auf großes Missfallen, und zwar so sehr, dass er es Hagar mit einem Segen vergalt. Davon zeugt v.a. Vers 11 (Gen 16,11), „denn der HERR hat dich in deinem Leid gehört.“ In seinem Kommentar zu Gen 17,16 schreibt Kimchi, dass Hagar gleich schwanger wurde, kurz nachdem sie Abraham durch Sara zugeführt wurde, weil sie ihm „die Freude an diesem Sohn“ gewähren wollte, aber auch weil es ihren Status erhöhen und ihr einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihrer Herrin verschaffen hätte sollen. Hagar wird deshalb auch als liebevolle Ehefrau
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Kimchi wurde 1160 in Narbonne geboren, wo er 1235 auch starb. Für weitere Informationen siehe Adele REINHARTZ und Miriam-Simma WALFISH, „Conflict and Coexistence in Jewish Interpretation“, Hagar, Sarah and their Children: Jewish, Christian and Muslim Perspectives (hg. v. Phyllis Trible und Letty M. Russell, Louisville; Westminster John Knox Press, 2006), 101–126. Falls nicht anders angegeben wurden alle hebräischen Zitate von der Autorin ins Englische übersetzt und von Martin Stechauner ins Deutsche übertragen.
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dargestellt. Diese Darstellung ist übrigens in Einklang mit Kimchis generellen Einstellung Hagar gegenüber. Kimchis harsche Kritik an Sara hebt sich von den Kommentaren anderer klassischer rabbinischer Exegeten ab, die alles daransetzten, den positiven Charakter der jüdischen Patriarchen und Matriarchinnen zu wahren.9 Ohne Ausflüchte verurteilt Kimchi Sara für ihre Misshandlung von Hagar. Bemerkenswert ist sein Versuch, dabei auch das Schweigen Abrahams zu rechtfertigen. Ist Abraham die Harmonie innerhalb der Ehe wichtiger, als sich gegen offensichtliches Unrecht auszusprechen? Kimchi weicht dieser Frage geschickt aus und lässt Abraham damit außen vor. Stattdessen stellt er Abraham wiederholt als Vorbild für eine tugendhafte Lebensführung dar. Hätte Abraham persönlich davon Kenntnis gehabt, dass Hagar Sara gegenüber überheblich war (Gen 16,5: „gelte ich in ihren Augen nichts mehr“), hätte er Hagars Verhalten sicherlich nicht gutgeheißen, auch wenn Hagar „dem Status nach seiner Frau gleichkam, anstatt nur Sarais Sklavin zu sein.“ Nichtsdestotrotz behagt Abraham die Forderung Saras, Ismael und seine Mutter zu vertreiben, nicht. Laut Kimchi schmerzt ihn diese Forderung nicht nur wegen Ismael, sondern auch wegen Hagar: „Gott wusste, dass Abraham nicht nur aufgrund von Saras Wunsch, Ismael zu vertreiben, bekümmert war, sondern auch, weil er gebeten wurde, Hagar zu verstoßen.“ Die Tora, so merkt Kimchi an, bezieht sich hier nur auf Ismael, weil sein Schicksal Abrahams größte Sorge war; doch Gott wusste, welche Gefühle Abraham für Hagar wirklich hegte. Tatsächlich stellt Abraham Hagar, als er sie und Ismael in die Wüste schickt, Vorräte zur Verfügung, um ihr Überlegen für wenigstens ein oder zwei Tage zu sichern, denn mehr konnte sie nicht tragen. Außerdem gab er ihr Silber und Gold mit, damit sie ihre Vorräte bei Bedarf auffüllen konnte; trotzdem stellt Kimchi fest: „Die Tora erwähnt dies nicht ausdrücklich“ (Kimchi zu Gen 21,14). Abraham wird hier dennoch durchaus als fürsorglicher Ehemann und Vater dargestellt.10 Tatsächlich hätte Saras höhere Stellung sie dazu bringen müssen, sich gegenüber ihrer Dienstmagd wohlwollender zu verhalten, allein aus menschlichem Anstand heraus, aber auch aus Respekt vor ihrem Ehemann. Auch als 9
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Es gibt natürlich Ausnahmen, denn nicht alle rabbinischen Exegeten versuchten ihren Charakter zu beschönigen. Beispielsweise wird in Genesis Rabba 45,6 darauf verwiesen, dass Sara ihre Magd mit dem bösen Blick straft, was dazu führt, dass Hagar ihr Kind verliert. Dies soll auch eine Erklärung dafür sein, dass der Engel Hagar ausrichten lässt: „Siehe, du bist schwanger geworden“ (Gen 16,11). Der Engel teilt Hagar mit, dass sie (wieder) schwanger ist, weil Saras böser Blick zu einer Fehlgeburt führte. Derselben Meinung ist auch Raschi. Genesis Rabba 45,6 schreibt den Matriarchinnen im Übrigen wenig schmeichelhafte Eigenschaften zu. In seinem Kommentar zu Genesis 21,11 betont Kimchi, dass Ismael, obwohl er der Sohn einer Sklavenfrau war, dennoch der Erstgeborene Abrahams war, und Abraham ihn wie ein Vater seinen Sohn liebte. Er zeigte sich ihm gegenüber barmherzig, wie ein Vater gegenüber allen seinen Kindern. Abraham lehrte Ismael, wie man sich benimmt, und unterwies ihn in den Wegen des Herrn.
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Abraham ihr die Erlaubnis gab, zu tun „mit ihr [Hagar], was in [ihren] Augen gut erscheint“, hätte Sara sich aus Respekt vor ihrem Mann zurückhalten müssen und Hagar nicht misshandeln dürfen. Sara hätte sie in einer Weise behandeln müssen, die ihrer Position als Ehefrau bzw. rechtmäßige Angetraute Abrahams entsprach. Darüber hinaus stellt Kimchi fest, dass Abraham, obwohl er Saras Misshandlungen von Hagar missbilligte, nichts dagegen tat, um den Hausfrieden (schalom bajit) nicht zu gefährden. Laut Kimchi ist diese Geschichte in der Tora deshalb enthalten, um ein moralisches Exempel an Saras Verhalten zu statuieren. Während Kimchi davon absieht, Abraham für die ungerechte Behandlung von Hagar mitverantwortlich zu machen, ist es genau das, was Nachmanides (Ramban), der von 1194 bis 1271 in Spanien lebte, zu tun pflegt.11 Er betont jedoch, dass Abraham sich trotz allem wie ein pflichtbewusster Ehemann verhalten hat. In einem Kommentar zu „Abram hörte auf die Stimme Sarais“ (Gen 16,2), schreibt Nachmanides: „Die Schrift sagt nicht: ‚Und so hat er dies getan‘, sondern lediglich, dass er auf Saras Stimme hörte, um darauf hinzuweisen, dass Abraham zwar Kinder wollte, doch dafür nichts ohne die Zustimmung Saras tun würde. Er hatte nie die Absicht gehabt mit Hagar eine Familie zu gründen, nur um Saras Willen ist er diesem Wunsch nachgekommen, damit sie Frieden finde und durch sie (Hagar) ihr Wunsch in Erfüllung gehe.“ Gleichzeitig betont Nachmanides ausdrücklich, dass Sara auf Grund ihrer harten Behandlung Hagars gesündigt hat, ebenso wie Abraham, der ihr erlaubt hatte, so zu handeln. Doch wie kommt Nachmanides zu diesem Schluss? In Gen 16,11–12 steht geschrieben: Ein Engel bringt Hagar gute Nachricht: „Siehe, du bist schwanger, du wirst einen Sohn gebären und du sollst ihm den Namen Ismael – Gott hört – geben, denn der HERR hat dich in deinem Leid gehört. Er wird ein Mensch sein wie ein Wildesel.“ Nachmanides zufolge gab Gott Hagar einen „Sohn, der ein wilder Mann sein würde, um den Samen Abrahams und Saras mit allerlei Misshandlungen zu quälen.“ Die Verfolgung, der Juden unter der Knechtschaft der Kinder Ismaels ausgesetzt sind, wird als Strafe für die Leiden angesehen, die Hagar durch Abraham und Sara ertragen musste. Trotzdem erwähnt er auch die Überlegenheit der Kinder Saras gegenüber jener Hagars. Der Engel befiehlt Hagar also, zu Sara zurückzukehren und ihre Autorität anzuerkennen. „Dies“, kommentiert Nachmanides, „deutet auf die Tatsache hin, dass sie sich von Saras Autorität nie hätte befreien können und die Kinder Saras für immer über ihre Kinder herrschen würden.“12 Wie wir in Kürze sehen werden, interpretiert Obadja Sforno diese Geschichte ganz ähnlich, das heißt, als eine Vorhersage zukünftiger Ereignisse.
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Barry D. WALFISH, „An Introduction to Medieval Jewish Biblical Interpretation“, in With Reverence for the Word: Medieval Scriptural Exegesis in Judaism, Christianity and Islam, (hg. v. Jane Dammen McAuliffe, Barry Walfish und Joseph Ward Goering; New York: Oxford University Press, 2003), 3–12. Nachmanides zu Gen 16,6–11.
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Während Kimchi und Nachmanides das Verhalten Saras und Abrahams als moralisch unzulässig, bzw. im Falle von Nachmanides als völlig verwerflich einstufen, schiebt Rabbi Levi ben Gershon („Gersonides“ oder „Ralbag“), der von 1288 bis 1344 in Frankreich lebte, die Schuld Saras auf Hagar. Nach Ansicht dieses berühmten Talmudisten, Philosophen und Mathematikers folterte Sara Hagar nur deshalb, um sie von ihren schlechten Charakterzügen zu befreien, im Speziellen, ihrer Weigerung, ihren niedrigeren Status gegenüber Sara anzuerkennen. Saras Züchtigung geschah allein zu Hagars eigenem Wohl, „nicht, um Rache in ihr zu schüren“, sondern um sie zu einer besseren Person zu machen (Ralbag zu Gen 16). Betrachten wir nun die Kommentare eines weiteren mittelalterlichen Exegeten, Rabbi Obadja Sforno, der 1470 in Cesena nahe der Ortschaft Bertinoro in Mittelitalien (Romagna) geboren wurde und um 1550 starb. Sforno legt Saras Misshandlung von Hagar – „[d]a misshandelte Sarai sie“ (Gen 16,6) – als Versuch aus, Hagar daran zu erinnern, dass sie immer noch Saras Sklavin war und ihre Herrin deshalb nicht beleidigen sollte. Darüber hinaus hält er fest: „Sie wollte klarstellen, dass jeder Nichtjude, der einen Israeliten beleidigt, eine ähnlich harte Strafe zu erwarten hat. Vergleiche hierzu Jes 60,14: ‚Gebückt kommen die Söhne deiner Unterdrücker zu dir, alle, die dich verachtet haben, werfen sich dir zu Füßen.‘“ Sforno ist der Meinung, dass Hagar die strenge Behandlung durch Sara nicht nur verdient hat, sondern dass diese Geschichte auch als Warnung an alle Nichtjuden zu verstehen ist, die wagen sollten Israel zu verurteilen. Sie werden einmal an Hagars Stelle sein, d.h. eine untergeordnete Rolle einnehmen. Wie Nachmanides liest auch Sforno die Geschichte prophetisch, als Warnung an alle Nichtjuden, sollten sie sich Juden gegenüber je schlecht benehmen. Seine negative Haltung gegenüber Hagar kommt außerdem auch in seinem Kommentar zu Gen 21,9 („Eines Tages beobachtete Sara, wie der Sohn, den die Ägypterin Hagar Abraham geboren hatte, spielte und lachte“) zum Ausdruck. Ismael sprach nämlich abschätzig über Isaak, weil er dies von seiner Mutter gelernt hatte. Und was hat er über Isaak gesagt? Dass Abimelech sein wahrer Vater war, womit er die Legitimität Isaaks als Erbe Abrahams in Frage stellte. Sforno behauptet, dass sich Ismael über das große Fest, das Abraham anlässlich der Entwöhnung Isaaks veranstaltete, lustig machte. Ismael, behauptete, dass Sara gewiss von Abimelech schwanger geworden war. Auch auf die Frage, warum Ismael diese Bemerkung nicht schon früher gemacht hatte, z.B. als Sara schwanger gewesen war oder als Isaak geboren wurde, sondern erst bei der Entwöhnungszeremonie, hat Sforno eine Antwort: Ismael erfuhr von diesem bösartigen Gerücht erst zu einem späteren Zeitpunkt, nach der Geburt Isaaks, weshalb er erst jetzt wiederholt, was er zuvor gehört hatte. Sara verlangte, dass er für diese Verleumdungen, zu denen ihn seine Mutter angestiftet hatte, vertrieben werden sollte. Mit anderen Worten, Ismael verbreitete Lügen über die Legitimität Isaaks, um seinen Anspruch auf Abrahams Erbe geltend zu machen.
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Machen wir nun einen Schritt zurück und halten ein paar Beobachtungen fest: die Untersuchung der mittelalterlichen Kommentare zu den Vorfällen zwischen Sara und Hagar spiegelt eine Vielzahl von Standpunkten in Bezug auf diese Frauen und ihren Mann Abraham wider. Antiken Exegeten wäre es sicherlich fern gelegen, Hagars Erfahrungen als eine Form von „Gebrauch, Missbrauch und Zurückweisung“ zu bezeichnen, wie dies wohl viele zeitgenössischen Kommentator_innen tun würden. Nichtsdestotrotz zeigen manche mittelalterlichen Exegeten, wie beispielsweise Kimchi, Sympathie für Hagar. Allerdings machen sie keine Anstalten, die Geschichte aus einer anderen, kritischen Perspektive zu lesen; so stellen sie weder Hagars gesellschaftlichen Abstieg in Frage, noch ihre Verbannung in die Wüste mit nur wenig Proviant, als würde dies Gottes Wille in Frage stellen. Unter Berücksichtigung der jüdischen Meta-Erzählung bzw. Einbeziehung eines christlich-theologischen Bezugsrahmens, haben einige biblische Ausleger Saras und Abrahams Verhaltens im Großen und Ganzen gutgeheißen, während sie Hagars Marginalität weitgehend hinnahmen; andere wiederum kritisierten die Vertreibung Hagars und ihres Sohnes aus Abrahams Haushalt bereits im Mittelalter. Dies ist nicht als eine Infragestellung der großen Matriarchin und des großen Patriarchen zu sehen; vielmehr versuchten diese Exegeten moralische Lehren daraus zu ziehen, indem sie die Aufmerksamkeit auf ihre Unzulänglichkeiten lenkten. Einige Kommentatoren waren sehr darauf bedacht, das Verhalten der beiden, insbesondere das Abrahams, zu rechtfertigen, doch selbst diejenigen, die einen liberaleren bzw. kritischeren Kurs verfolgten, war es wichtig ihre Vorväter nicht auf eine Weise darzustellen, die deren Bedeutung untergraben hätte. Die rabbinischen Kommentatoren haben die Tendenz die biblische Erzählung ihrer Komplexität zu berauben, um das Verhalten Saras gegenüber ihrer Magd und die Behandlung Abrahams gegenüber seiner Zweitfrau zu rechtfertigen.13 Die mittelalterlichen jüdischen Kommentatoren hingegen unterscheiden bereits zwischen Saras Beziehung zu Hagar (Herrin-Dienerin) und der Abrahams zu Hagar (Ehemann-Zweitfrau). Dabei rechtfertigen nicht alle Hagars Behandlung durch Sara; Nachmanides übt sogar offen Kritik an Abrahams Angebot, Sara mit Hagar tun zu lassen, was immer sie will. Nachmanides zufolge hätte Abraham Hagar beschützen sollen; Kimchi ist wiederum der Meinung, dass Abraham Hagar sicherlich zurechtgewiesen hätte, wenn er gewusst hätte, wie sie sich gegenüber Sara verhielt. Alles in allem sind sich die mittelalterlichen Kommentatoren der Komplexität der Beziehung zwischen Hagar und Sara bewusst. Zwar stimmt es, dass Sara Macht über Hagar ausübte, aber genauso hatte Hagar, die fruchtbar und schwanger war, Macht über die unfruchtbare Sara. Je nach Kommentator wird
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Für eine Erläuterung der Ansichten mehrerer mittelalterlicher jüdischer Kommentatoren der Behandlung Hagars durch Sara, siehe REINHARTZ und WALFISH, „Conflict and Coexistence“, 112–115.
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das angespannte Verhältnis zwischen den Frauen, sowie die emotionale Tiefe und Kraft der Geschichte in unterschiedlichem Maße spürbar gemacht. Auch mittelalterliche muslimische Koran-Kommentatoren verliehen der Spannung zwischen Sara und Hagar Ausdruck, denn auch nach islamischer Tradition gelten beide Frauen als Matriarchinnen. Ath-Thaʿlabī überliefert eine Erzählung, laut der Sara mit Isaak schwanger wurde, nachdem Hagar bereits schwanger gewesen war, jedoch beide Frauen zur gleichen Zeit ihre Söhne zu Welt brachten. Saras Neid und ihre Angst, Ismael könnte ihrem Sohn etwas zu Leide tun, sowie ihre Angst, er könnte noch vor Isaak erben, werden als Hauptgründe für Hagars Vertreibung angegeben. Saras Eifersucht war so heftig und überwältigend, dass „sie schwor, ein Stück von Hagars Fleisch herauszuschneiden und ihr Aussehen zu verunstalten“, doch als sie noch einmal darüber nachdenkt, durchbohrt sie lediglich ihre Ohren. Ath-Thaʿlabī erwähnt auch, dass die Jungen miteinander kämpften. Als Sara davon erfährt wird sie wütend und eifersüchtig auf Hagar und schickt diese weg, holt sie zurück, nur um sie dann wieder wegzuschicken und abermals zurückzubringen. Laut dieser Auslegung geht Sara noch einen Schritt weiter und durchbohrt Hager nicht nur die Ohren: „Sie sagte zu sich selbst: ‚Ich werde ihr die Nase abschneiden, ich werde ihr das Ohr abschneiden – aber nein, das würde sie verformen. Ich werde sie stattdessen beschneiden.‘ Also beschnitt sie sie, und Hagar nahm ein Stück Stoff, um das Blut abzuwischen. Aus diesem Grund werden Frauen heute noch beschnitten und benutzen unten ein Stück Stoff.“14 Ibn Kathīrs Darstellung der Geburt Ismaels in seinem Werk al-bidāyah wa-n-nihāyah kommt jener der biblischen Geschichte am nächsten; anders als andere Kommentatoren hebt Ibn Kathīr nicht einfach nur die Eifersucht Saras hervor. Vielmehr macht er Hagar für die Eifersucht Saras verantwortlich: „Als sie (Hagar) schwanger wurde, wurde ihre Seele erhaben und sie wurde stolz und arrogant gegenüber ihrer Herrin, also wurde Sara eifersüchtig auf sie.“15 Als Ismaels Mutter spielt Hagar in der islamischen Tradition eine wichtigere Rolle, aber ebenso wird Sara als Frau Abrahams und Mutter des Propheten Isaak anerkannt. Zwar stimmen mittelalterliche muslimische und jüdische Kommentatoren darüber überein, dass Saras Eifersucht die eigentliche Ursache der Rivalität war, aber sie verkomplizieren die Situation auch. Während einige Sara die Schuld geben, weisen andere auf Hagars Gefühllosigkeit gegenüber Sara und ihrer Situation hin. Mit anderen Worten, beide Frauen werden gepriesen, aber auch kritisiert. Zeitgenössische Leser_innen betrachten Hagar als ein Opfer des Patriarchats, einer Kultur, die durch Klassen- und Rassenzugehörigkeit geprägt war, und als Bauernopfer der familiären Dynamik zwischen Sara und Abraham, doch gleichzeitig wird sie auch als Siegerin gesehen, die aus eigener Kraft und 14 15
Ibn Muhammad IBN Ibrahim AL-THAʿLABI, Arais AL-Majalis Fi Qisas Al-Anbiya or “Lives of the Prophets” (übersetzt von William Brinner; Leiden: Brill, 2002), 139. Ismā‘īl ibn ‘Umar IBN KATHĪR, Al-Bidāyah wa al-Nihāyah. Vol. 1 (Kairo: Ma\\TNT189\\tba'at al-Sa'ādah, 1933), 153.
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mit der Hilfe Gottes ihre Unterdrückung in eine Form der Befreiung verwandelt konnte. Die biblische Geschichte von Hagar zeugt von Gottes Sorge um marginalisierte Randgruppen, aber auch von der zentralen Bedeutung des abrahamitischen Bundes. Tatsächlich liegt der ermächtigende Aspekt dieser Geschichte, für all diejenigen, die unterdrückt werden und denen die Teilhabe an der Macht verwehrt wird, auf der Hand. Trotzdem, obwohl Gott Hagar tröstet, werden sie und Ismael, ebenso wie seine Nachkommen an den Rand der Haupterzählung gedrängt. Als Hagar zum ersten Mal vor Sara und ihrer Peinigung flieht, spendet Gott ihr Trost und Zuversicht mit dem Versprechen der bevorstehenden Geburt von Ismael. Doch bald werden sie und ihr Sohn aus Abrahams Haus vertrieben und in die Wüste geschickt, wo sie den Schmerz ertragen muss, Ismael fast verdursten zu sehen. Heutige Leser_innen interessieren sich auch dafür, wie die Geschichte von Sara und Hagar in Bezug auf politische und soziale Themen gelesen werden kann; wie sie zum Beispiel neues Licht auf Machtdynamiken, Klassenkämpfe und Opferrollen werfen kann und was sie über die Ängste werdender Mütter aussagt. Moderne Leser_innen sind tief ergriffen von dem Wunsch, dass die Nachkommen Saras und Hagars – Araber und Juden, israelische Juden und Palästinenser, sowie Juden, Christen und Muslime im Allgemeinen – in friedlicher Koexistenz miteinander leben mögen. Was diejenigen, die diese Geschichte politisch lesen, jedoch zu ignorieren scheinen, ist, dass die eigentliche Rahmenerzählung diesen Wunsch nicht unterstützt. Die paradigmatische Rivalität zwischen den beiden Frauen und die Machtdynamik, die die biblische Handlung untermauert, unterstützt keine derartige Lesart, die auf ein glückliches Zusammenleben der beiden Frauen und ihrer Nachkommen hinausläuft. Sinnvoller wäre es, in Bezug auf diese Geschichte eine alternative Lesart zu finden, die es erlaubt, den persönlichen Kampf beider Frauen in Bezug auf ihre jeweilige Situation wertzuschätzen, anstatt sich auf die Feindschaft zwischen ihnen zu konzentrieren. Eine solche Lesart würde die Emotionen, die schlussendlich zu Angst und Hass führten, und die gemeinsame Herausforderung, sowie die persönliche Aufopferung beider Mütter hervorheben, die das Überleben des jeweils eigenen Sohnes sichern wollten; denn nur so lässt sich die Geschichte von Ismael und Isaak als eine Geschichte der Versöhnung verstehen, wobei dieses Verständnis dazu beitragen könnte, dass die ideologischen Einengungen, die frühere und heutige Interpret_innen der Geschichte aufgezwungen haben, keine Geltung mehr haben.
Die Stimme der Frau: Das Hohelied in der rabbinischen Exegese des 12. Jahrhunderts Robert A. Harris The Jewish Theological Seminary, New York
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Einführung
Seit Beginn der Kanonisierung der Bibel bis in die frühe Neuzeit galt das Hohelied im Allgemeinen als allegorisches Werk. Dies gilt für das Christentum ebenso wie für das Judentum. Rabbinische Gelehrte, wie beispielsweise Rabbi Akiva, priesen das Buch, da sich in ihm die Liebe Gottes gegenüber dem Volk Israel, (u.a.) während des Auszugs aus Ägypten und auf dem Berg Sinai, offenbart.1 Zwar sind in der gesamten rabbinischen Literatur Auslegungen des Buches zu finden (in den beiden Talmudim ebenso wie in den Midraschim), doch zweifelsohne hat das Hohelied in der mittelalterlichen Edition des Midrasch seine bedeutendste rabbinische Auslegung erfahren.2 The rabbinische Allegorese des Lieds findet seine Entsprechung in den Schriften der frühen Kirchenväter. Spätestens seit Origenes verbreitete sich unter Christen im 3. Jh. die Ansicht, dass sich im Hohelied die Liebe Gottes bzw. die Liebe Christi für seine Kirche offenbart.3 Im Hochmittelalter wurden die allegorischen 1
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Rabbi Akivas berühmter Ausspruch über die Heiligkeit des Hohelieds findet sich im mYadayim. 3,5: „die Welt war niemals vollkommener als Israel das Hohelied gegeben wurde; zwar sind alle Schriften heilig, aber das Hohelied ist die heiligste von allen.“ Diese Edition wird manchmal auch als מדרש חזיתoder מדרש חזיתאbezeichnet, da die erste Interpretation (der Standardeditionen) mit einem Zitat aus dem Buch der Sprüche beginnt, in dem das Wort חזיתenthalten ist. Siehe Günter STEMBERGER, Einleitung in Talmud und Midrasch (München: C.H. Beck, 92011), 382–384; siehe auch Joseph Chaim WERTHEIMER, Midrash Shir Ha-Shirim: Printed From a Geniza Manuscript (hebr.) (Jerusalem: Ketav-Yad va-Sefer Institute, 1981), 11–23. Eine moderne Ausgabe der Standardedition stammt von Samson DUNSKY, Midrash Rabah Shir HaShirim: Midrash Hazit (Jerusalem: Devir, 1980). Eine brillante Diskussion des Hohelieds in der jüdischen Kultur des Altertums und des Mittelalters hat auch Gerson Cohen vorgelegt; siehe Gerson COHEN, „The Song of Songs and the Jewish Religious Mentality“, in Studies in the Variety of Rabbinic Cultures (Philadelphia, PA: Jewish Publication Society, 1991), 3–17. Für mehr Informationen über den antiken Zeitgeist und die möglichen gegenseitigen Beeinflussungen der antiken Auslegung des rabbinischen Midrasch und der christlichen Allegorien, siehe Marc HIRSHMAN, A Rivalry of Genius: Jewish and Christian Biblical Interpretation in Late Antiquity (Albany: State University of New York Press, 1996), 84–95; sowie Reuben KIMMELMAN, „Rabbi Yokhanan and Origen
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christlichen Zugänge in Bezug auf das Hohelied noch zusätzlich durch die Marienverehrung erweitert.4 Doch auch rabbinische Exegeten entwickelten im späten 11. bzw. frühen 12. Jh. neue Zugänge. Bereits Raschi hatte begonnen, das Buch auf eine neue Art und Weise auszulegen – während er an die allegorischen Auslegungen der frühen Rabbinen anknüpfte (, die er selbst als dugma bezeichnete und aus verschiedenen Midraschim entwickelt hatte), betonte er stets, dass die Allegorien gemäß ihrem eigenen Kontext ausgelegt werden müssten.5 Diese Art der Hohelied-Auslegung gilt bis heute als revolutionär. Raschis Herangehensweise ist als Teil einer Entwicklung zu verstehen, im Zuge derer sich die antike rabbinische Exegese (Midrasch, ein Wort, das vom hebräischen Verb „suchen“ abgeleitet wird) in Richtung einer einfachen, d.h. wörtlichen Auslegung weiterentwickelte (Peschat, ein Wort, das im Hebräischen soviel wie „abbauen“ oder „offenlegen“ bedeutet6). Letztere war v.a. unter den rabbinischen Bibelexegeten Nordfrankreichs während des 12. Jh. verbreitet.
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on the Song of Songs: A Third-Century Jewish-Christian Disputation“, Harvard Theological Review 73/3–4 (1980): 567–595. Siehe E. Ann MATTER, The Voice of My Beloved: The Song of Songs in Western Medieval Christianity (Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press, 1990); sowie Ann W. ASTELL, The Song of Songs in the Middle Ages (Ithaca, NY und London: Cornell University Press, 1990). Unter den zeitgenössischen Wissenschaftlerinnen, die sich mit der historischen Kontextualisierung des Hoheliedes beschäftigen, gilt Sarah Kamin mit Sicherheit als herausragendste und innovativste Pionierin. Siehe Sarah KAMIN, „Rashi’s Commentary on the Song of Songs and Jewish-Christian Polemic“, Shnaton Lemikra Uleheker Hamizrah Hakadum 7–8 (1983): 218–248 (hebr.); Ndr, in Jews and Christians Interpret the Bible (Jerusalem: The Magnes Press, 1991), 31–61; und Sarah KAMIN, „ דוגמאin Rashi’s Commentary on the Song of Songs“, Tarbiz 52 (1983): 41– 58; Ndr. in Jews and Christians Interpret the Bible, 13–30. Siehe auch Sara JAPHET, „Rashi’s Commentary on the Song of Songs: The Revolution of the Peshat and Its Aftermath“, in Mein Haus wird ein Bethaus für alle Völker genannt werden (Jes 56,7). Judentum seit der Zeit des Zweiten Tempels in Geschichte, Literatur und Kult. Festschrift für Thomas Willi zum 65. Geburtstag (hg. v. Julia Mannchen und Torsten Reiprich; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2007), 199–219. Die Argumentationslinie des letztgenannten Artikels kommt meiner eigenen Herangehensweise mit Sicherheit am nächsten. Ich bin Prof. Japhet für den regen persönlichen Austausch über die vergangenen Jahre sehr dankbar, besonders was die Frage der Geschichte der kontextuellen Auslegung des Hohelieds betrifft. Ich möchte ihr an dieser Stelle für die vielen Beiträge danken, die mein Verständnis der rabbinischen Bibelauslegung entscheidend mitgeprägt haben. Raschi selbst bevorzugte den verwandten Begriff Peschuto; das Wort Peschat kam erst nach Raschis Tod in Mode. Siehe dazu Sarah KAMIN, Rashi’s Exegetical Categorization in Respect to the Distinction Between Peshat and Derash (hebr.) (Jerusalem: The Magnes Press, 1986). Für den Übergang von Derasch zu Peschat in der rabbinischen Exegese, siehe Robert A. HARRIS, „Jewish Biblical Exegesis in the Middle Ages: From Its Beginnings Through the Twelfth Century“, in The New Cambridge History of the Bible (hg. v. Richard Marsden und Ann Matter; Cambridge: Cambridge University Press, 2012), 596–615.
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Während Raschi als Initiator dieser Entwicklung angesehen werden muss – d.h. weg von einer midraschischen und hin zu einer wörtlichen Interpretation – war es v.a. Rabbi Samuel ben Meir (Raschbam), ein Enkel Raschis, der sich etwa zwei Generationen danach klar von den exegetischen Erläuterungen seines Großvaters abgrenzte – dies betrifft jedoch nicht nur Kommentare zum Hohelied, sondern auch zu anderen Bücher der Bibel.7 Bereits Sara Japhet hat richtigerweise darauf hingewiesen,8 dass sich für Raschbam der oberflächliche 7
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In diesem Beitrag werde ich nicht auf Fragen der Authentizität von Raschbams Hohelied-Kommentaren eingehen; ich habe bereits an anderer Stelle meinen Standpunkt zu diesem Thema offengelegt und teile im Übrigen Japhets Meinung über Raschbams Auslegungen. Siehe Robert A. HARRIS, „The Rashbam Authorship Controversy Redux: On Sara Japhet’s the Commentary of Rabbi Samuel Ben Meir (Rashbam) on the Book of Job“, The Jewish Quarterly Review 95/1 (2005): 163–181 (siehe v.a. 169 und 169 Fn. 23). Gewiss hat Sara Japhets Edition der RaschbamKommentare dazu beigetragen, die Frage der Authentizität derselben ein für alle Mal zu klären; siehe Sara JAPHET, The Commentary of Rabbi Samuel Ben Meir (Rashbam) on the Song of Songs (hebr.) (Jerusalem: World Union of Jewish Studies, 2008). Menachem Cohen spricht sich ebenfalls für Raschbam als Autor dieser Kommentare aus; siehe Menachem COHEN, Mikra’Ot Gedolot ‘Haketer’: A Revised and Augmented Scientific Edition of ‘Mikraot Gedolot’ Based on the Aleppo Codex and Early Medieval Mss: The Five Scrolls (hebr.) (Ramat Gan: Bar Ilan University, 2012). Japhet verfährt in ihrer Analyse des Hohelieds ebenso genau und präzise, wie bereits in ihren Arbeiten über die Kommentare zu den Büchern Kohelet und Ijob. In jedem Fall kann festgehalten werden, dass die Kommentare für sich selbst sprechen, egal ob diese Raschbam zugeschrieben werden können oder nicht. Alle Übersetzungen vom Hebräischen ins Englische (dieser oder anderer rabbinischer Texte) gehen auf mich selbst zurück. (Ins Deutsche übersetzt von Martin Stechauner, die Übersetzungen hebräischer Bibelverse orientieren sich an der deutschen Einheitsübersetzung). Für weitere Studien zu Raschbams Auslegungen anderer biblischer Bücher, siehe Elazar TOUITOU, Exegesis in Perpetual Motion: Studies in the Pentateuchal Commentary of Rabbi Samuel Ben Meir (hebr.) (Ramat Gan: Bar Ilan University Press, 2003); Sara JAPHET und Robert SALTERS, The Commentary of R. Samuel Ben Meir (Rashbam) on Qoheleth (Jerusalem/Leiden: The Magnes Press/ E. J. Brill, 1985), 11–68 (englische Sektion); Avraham GROSSMAN, The Early Sages of France: Their Lives, Leadership and Works (hebr.) (Jerusalem: The Magnes Press, 1995). Darüber hinaus hat Martin Lockshin die Pentateuch-Kommentare Raschbams übersetzt und kritisch kommentiert; siehe Martin LOCKSHIN, Rabbi Samuel Ben Meir’s Commentary on Genesis: An Annotated Translation (Lewiston, NY et al.: The Edwin Mellen Press, 1989), siehe v.a. die Zusammenfassung und Kommentare 391–424; DERS., Rashbam’s Commentary on Exodus: An Annotated Translation (Atlanta, GA: Scholars Press, 1997); DERS., Rashbam’s Commentary on Leviticus and Numbers: An Annotated Translation (Providence, RI: Brown Judaic Studies, 2001); DERS., Rashbam’s Commentary on Deuteronomy: An Annotated Translation (Providence, RI: Brown Judaic Studies, 2004). Siehe auch DERS., „Rashbam as a ‘Literary’ Exegete“, in With Reverence for the Word: Medieval Scriptural Exegesis in Judaism, Christianity and Islam (hg. v. Jane Dammen McAuliffe, et al.; Oxford: Oxford University Press, 2003), 83–91. Sara JAPHET, The Commentary of Rabbi Samuel Ben Meir (Rashbam) on the Song of Songs (hebr.) (Jerusalem: World Union of Jewish Studies, 2008), v.a. 82–85 und 165–195.
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Sinn des Buches in erster Linie durch ein figuratives Verständnis des Textes erschließt (zumindest lässt sich dies in seiner Auslegung des Hohelied feststellen, in der Raschbam Allegorien als eine Art des Peschat sieht); dennoch kommt im Großteil seines Hohelied-Kommentars eine literarisch-kontextuelle Interpretation zur Anwendung. Obwohl er eine figurative Ebene des Textes anerkennt (welche er als Dimjon, also als „metaphorische“ oder „figurative“ Interpretation bezeichnet), die seiner Meinung nach als Teil der damaligen christlich-jüdischen Polemiken zu verstehen ist, berief sich Raschbam im überwiegenden Teil seiner Kommentare – wie so oft – auf eine Methode, die zeitgenössische Interpreten auch als „tatsächlichen“ Peschat bzw. „kontextuelle Exegese“ bezeichneten: d.h. er interpretiert das Buch als einen kontinuierlichen Dialog zwischen einer jungen Frau und ihren Freundinnen, in dem erstere die Unterhaltungen und Handlungen zwischen ihr und ihrem Geliebten wiedergibt. Wie wir noch sehen werden, zieht Raschbam schließlich einen Vergleich zwischen der Textsorte des Hohelieds, die er als (erotische) Liebesdichtung klassifiziert, und den Liedern der damaligen jongleurs, französischer Spielleute, die im 12. Jh. volkstümliche Weisen über die Liebe vortrugen.9 Darüber hinaus gibt es eine Reihe anderer anonymer Bibelkommentare, die an Raschis und Raschbams wegweisende Arbeit anknüpfen und diese weiterführen. Eine kritische Edition eines dieser Kommentare (der zuvor im sogenannten Eger Pentateuch bzw. Ms. Prag veröffentlicht worden war) ist erst kürzlich von Sara Japhet in einem Sammelband veröffentlicht worden, den sie gemeinsam mit Eran Viezel herausgegeben hat.10 Ein weiterer anonymer
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Sara Japhet hat sich eingehend mit diesem Kommentar, sowie anderen PeschatInterpretationen des Hohelieds auseinandergesetzt. Ergänzend zu den zuvor zitierten Artikeln, siehe v.a. Sara JAPHET, „Exegesis and Polemic in Rashbam’s Commentary on the Song of Songs“, in Jewish Biblical Interpretation and Cultural Exchange: Comparative Exegesis in Context (hg. v. Natalie B. Dohrmann und David Stern; Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press, 2008), 182–195, 304; DIES., „Two Introductions By Rabbi Samuel Ben Meir (Rashbam): To the Song of Songs and Lamentations“, in Transforming Relations: Essays on Jews and Christians Throughout History (hg. v. Franklin T. Harkins; Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press, 2010), 205–223; DIES., „‘Lebanon’ in the Transition From Derash to Peshat: Sources, Etymology and Meaning (With Special Attention to the Song of Songs)“, in Emanuel: Studies in Hebrew Bible, Septuagint and Dead Seas Scrolls in Honor of Emanuel Tov (hg. v. Shalom M. Paul, Robert A. Kraft, Lawrence H. Schiffman und Weston W. Fields; Leiden, Boston, MA: Brill, 2003), 707–724. Für weitere Artikel (auf Hebräisch), siehe DIES., Collected Studies in Biblical Exegesis (Dor Dor Ufarshanav: Asufat Mehqarim be-Farshanut Hamiqra) (Jerusalem: Bialik Institute, 2008), 55–102; 135–156; 275–309. Für gegenteilige Stellungnahmen siehe Hanna LISS, „The Commentary on the Song of Songs Attributed to R. Samuel Ben Meir (Rashbam)“, Medieval Jewish Studies-Online 1 (2007): 1–27. Siehe Sara JAPHET, „The Anonymous Commentary on the Song of Songs in Ms. Prague: A Critical Edition and Introduction“, in “To Settle the Plain Meaning of the Verse”: Studies in Biblical Exegesis (hg. v. Sara Japhet und Eran Viezel; Jerusalem:
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Kommentar wurde bereits 1896 von H. J. Mathews veröffentlich;11 eine kritische Edition dieses Kommentars wurde erst vor Kurzem von Sara Japhet und Barry Walfish vorgelegt.12 Was all diesen anonymen Kommentaren gemein ist, ist eine vollkommene Außerachtlassung der allegorischen Auslegung des Hohelieds; stattdessen legen sie das Buch ausschließlich gemäß seinem eigenen literarischen Kontext aus.13 Der vorliegende Beitrag widmet sich eben dieser Peschat-Tradition innerhalb der Hohelied-Exegese und wird dabei sowohl auf die Entstehung dieser Tradition eingehen, als auch auf ihr späteres Verschwinden.14
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The Bialik Institute; The Mandel Institute of Jewish Studies – The Hebrew University, 2011), 206–247. Urheber der Erstausgaben war Adolf HÜSCH, Die Fünf Megilloth, Nebst dem Syrischen Thargum genannt “peschito” (Prag: Druck von Senders und Brandeis, 1866). Siehe auch JAPHET , „The Anonymous Commentary on the Song of Songs in Ms. Prague“, 206 Fn. 2. H. J. MATHEWS, „Anonymous Commentary on the Song of Songs. Edited From a Unique Manuscript in the Bodleian Libray Oxford“, in Festschrift zum achtzigsten Geburtstage Moritz Steinschneiders (Leipzig: Otto Harrassowitz, 1896), 238–240, (nicht hebräischer Teil), 164–185 (hebräischer Teil). Für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Kommentar und seiner Erstausgabe, siehe Sara JAPHET, סימביוה תרבותית בפירוש אנונימי לשיר:הביניים דרך החושקים-השירים מימי, in Collected Studies in Biblical Exegesis (Dor Dor Ufarshanav: Asufat Mehqarim be-Farshanut Hamiqra) (hg. v. Sara Japhet; Jerusalem: Bialik Institute, 2008), 313–327; sowie Sara JAPHET, „‘The Lovers’ Way’: Cultural Symbiosis in a Medieval Commentary on the Song of Songs“, in Birkat Shalom: Studies in the Bible, Ancient Near Eastern Literature, and Postbiblical Judaism Presented to Shalom M. Paul on the Occasion of His Seventieth Birthday, Vol. 2 (hg. v. Avi Hurvitz; Winona Lake, IN: Eisenbrauns, 2008), 863–880. Sara JAPHET und Barry WALFISH, The Way of Lovers: The Oxford Anonymous Commentary on the Song of Songs (Leiden: Brill, 2017). Siehe JAPHET, The Commentary of Rabbi Samuel Ben Meir (Rashbam) on the Song of Songs, v.a. 306 Fn. 9. Baruch Alster setzt sich mit einem anonymen Kommentar eines weiteren mittelalterlichen Liedes auseinander, das sich durch eine Kombination von einer Peschat- bzw. einer wörtlichen Exegese mit einer rabbinischen Allegorie auszeichnet; siehe Baruch ALSTER, Human Love and Its Relationship to Spiritual Love in Jewish Exegesis on the Song of Songs (hebr.) (Ramat Gan: Bar Ilan University, 2006). Alster selbst bezeichnet den Kommentar als „Pseudo-Rashi“. Für eine nähere Beschreibung, siehe ebd., 14–17. Für die Darlegung eines anderen Standpunkts, der viele Bereiche der Auslegung betrifft, siehe Michael FISHBANE, The JPS Bible Commentary: Song of Songs (Philadelphia, PA: Jewish Publication Society, 2015), 245–255. Interessanterweise behauptet Fishbane (245), dass Raschi in Spanien studiert hätte, wobei es sich mit Sicherheit um eine Fehleinschätzung handelt. Darüber hinaus enthält sein Aufsatz eine Reihe von problematischen Aussagen über die rabbinischen Exegeten Nordfrankreichs; trotz dieser Fehler handelt es sich bei Fishbanes Buch um ein sehr aufschlussreiches Werk.
Hohelied
2.
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Der antike rabbinische Midrasch
Um das Werk der mittelalterlichen Exegeten und ihre kontextuelle Auslegung des Hohelieds im vollen Maße würdigen zu können, ist es notwendig, dass wir uns wenigsten kurz einem spätantiken Beispiel der „reinen Allegorie“ zuwenden, da dieser in den rabbinisch-midraschischen Texten eine zentrale Rolle zukommt. Zur Erinnerung, die Rabbinen legten das Hohelied in erster Linie allegorisch aus und sahen darin v.a. einen Ausdruck für Gottes Liebe gegenüber der „Versammlung Israels“ ()כנסת ישראל, insbesondere zur Zeit des Exodus.15 Es sollte uns deshalb wenig überraschen, dass der Vers 4,5 des Hohelieds ( ְשׁנֵי שָׁ דַ יִ כִּ ְשׁנֵי ֳﬠפ ִָרים ְתּאוֹמֵ י צְ בִ יָּה הָ רוֹﬠִ ים בַּ שּׁוֹשַׁ נִּ ים, „Deine [zwei] Brüste sind wie zwei Kitzlein, die Zwillinge einer Gazelle, die unter Lilien weiden“) als Anspielung auf Mose und Aaron verstanden wurde: כך משה ואהרן הודן והדרן, מה השדים הללו הודה והדרה של אשה: אלו משה ואהרן:שני שדיך מה השדים הללו. כך משה ואהרן נוין של ישראל, מה השדים הללו נויה של אשה.של ישראל , מה השדים הללו מלאים חלב. כך משה ואהרן כבודן ושבחן של ישראל,כבודה ושבחה של אשה ומה השדים הללו כל מה שהאשה אוכלת התינוק אוכל.כך משה ואהרן ממלאים ישראל מן התורה ויגד משה לאהרן את כל: הדא הוא דכתיב, כך כל תורה שלמד משה רבינו לימדה לאהרן,ויונק מהן .’דברי ה Deine zwei Brüste: Diese sind Mose und Aaron: Ebenso wie Brüste16 die Pracht und Herrlichkeit einer Frau sind, so sind Mose und Aaron die Pracht und Herrlichkeit Israels. Ebenso wie Brüste die Schönheit einer Frau sind, so sind Mose und Aaron die Schönheit Israels. Ebenso wie Brüste die Ehre und der Lobpreis einer Frau sind, so sind Mose und Aaron die Ehre und der Lobpreis Israels. Ebenso wie Brüste mit Milch vollgefüllt sind, so füllen auch Mose und Aaron Israel voll aus der Tora. Und ebenso wie Brüste – alles was eine Frau isst, das isst und trinkt auch ein Säugling von ihnen, so lehrte Mose, unser Rabbi, Aaron die gesamte Tora, so wie er sie gelernt hatte, so steht es geschrieben: Mose erzählte Aaron von dem Auftrag, mit dem der HERR ihn gesandt hatte (Exodus 4,28).17
Man beachte, dass sich zur Mitte des Abschnitts hin (nach „Ebenso wie Brüste die Ehre und der Lobpreis einer Frau sind“), die etablierte Form des Midrasch leicht zu ändern beginnt. Dem etablierten Schema („Ebenso wie ... so auch“) folgend, hätte der Leser wohl am ehesten „so sind auch Mose und Aaron 15
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Für eine aufschlussreiche Darlegung darüber, wie sich innerhalb des rabbinischen Judentums ein allegorisches Verständnis des Hohelieds in Verbindung mit anderen biblischen Textsorten entwickeln konnte, siehe abermals Gerson COHEN, „The Song of Songs and the Jewish Religious Mentality“. Wortwörtlich „diese Brüste“; so auch in folgenden Passagen. Midrasch zu Hld 4,5; siehe WERTHEIMER, Midrash Shir Ha-Shirim, 83. Das hebräische Original wurde vom Autor ins Englische übersetzt und anschließend von Martin Stechauner ins Deutsche übertragen.
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vollgefüllt mit der Tora“ erwartet, anstatt der tatsächlichen Formulierung des Midrasch, „so füllen auch Mose und Aaron Israel voll aus der Tora“. In ähnlicher Weise durchbricht die casus-pendens-Konstruktion am Ende des Midrasch das anfängliche Schema. Doch was den Leser, abgesehen von diesen strukturellen Änderungen, wohl am meisten verblüfft, ist die offenkundige Verweiblichung zwei der wohl zentralsten männlichen Charaktere des Buches Exodus; diese interpretative Umdeutung ist umso bemerkenswerter, da sie jeglicher Ironie entbehrt, die die Verknüpfung männlicher Charaktere mit weiblichen Qualitäten normalerweise mit sich bringt. Obwohl es nicht Ziel dieses Beitrags ist biblischer Narrative in midraschischen Texten auf Geschlechterverschiebungen hin zu untersuchen, oder die Prävalenz solcher Verschiebungen in antiken rabbinischen Auslegungen des Hohelieds aufzuzeigen, ist der Hinweis darauf dennoch nicht unerheblich; diese Art der Auslegung war möglicherweise wegweisend für die Grundhaltung späterer Interpreten im mittelalterlichen Nordfrankreich, die die im Hohelied enthaltene Erzählung in erster Linie aus weiblicher Perspektive zu schildern pflegten. Ungeachtet der Häufigkeit und Ausprägung derartiger Geschlechterverschiebungen in midraschischen Texten, knüpfen diese in jedem Fall an einen wesentlich älteren biblischen Topos an, der Altisrael in erster Linie eine weibliche Rolle zukommen lässt – nämlich jene der Gemahlin Gottes.18
3.
Raschi und Raschbam: Ein Großvater und sein Enkel kommentieren das Hohelied
Bevor wir uns nach den antiken Midrasch-Auslegungen nun den mittelalterlichen Kommentaren zuwenden, sollten wir zunächst dem Raschi-Kommentar etwas mehr Beachtung schenken. Raschis Exegese des Hohelieds bezieht sich nämlich in vielerlei Hinsicht nach wie vor stark auf die midraschische Tradition. Doch anders als im Midrasch verfolgt Raschi ein neuartiges exegetisches Programm, indem er die midraschischen Interpretationen mit der Ordnung und Struktur der biblischen Komposition in Verbindung bringt. In seiner Einleitung zum Hohelied greift Raschi auf dieselben methodologischen Anweisungen zurück, die er bereits zu Beginn seines Pentateuch-Kommentares zu geben
18
Siehe z.B. Hos 1–3; Jer 3,1–13; Ez 16; Jes 50,1; Num 15,39. Für eine eingehende Analyse dieser und anderer Abschnitte der Bibel, siehe Nelly STIENSTRA, Yhwh is the Husband of His People: Analysis of a Biblical Metaphor With Special Reference to Translation (Kampen: Peeters Publishers, 1993).
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pflegte;19 darüber hinaus skizziert er auch den Rahmen, innerhalb dessen das Hohelied seiner Meinung nach verortet werden muss: אין לך מקרא יוצא: וסוף דבר, מקרא אחד יוצא לכמה טעמים.אחת דבר אלהים שתים זו שמענו צריך ליישב הדוגמא על אופנה ועל, ואף על פי שדברו הנביאים דבריהם בדוגמא.מידי משמעו יש סדורים כל, ראיתי לספר הזה כמה מדרשי אגדה. כמו שהמקראות סדורים זה אחר זה,סדרה ואינן מתיישבין על לשון המקרא, מקראות לבדם, ויש מפוזרים בכמה ספרי אגדה,הספר במדרש אחד - והמדרשות, ליישב ביאורם על הסדר, ואמרתי בלבי לתפוס משמע המקראות.וסדר המקראות .רבותינו קבעום מדרש ומדרש במקומו ולהתאונן, חורבן אחר חורבן,אומר אני שראה שלמה ברוח הקדש שעתידין לגלות גולה אחר גולה אלכה ואשובה: לאמר, ולזכור חבה ראשנה אשר היו סגלה מכל העמים,בגלות זו על כבודם הראשון ואת מעלם אשר מעלו ואת הטובות אשר, ויזכירו את חסדיו.אל אישי הראשון כי טוב לי אז מעתה .אמר לתת להם באחרית הימים מתרפקת על, משתוקקת על בעלה,וייסד הספר הזה ברוח הקדש בלשון אשה צרורה אלמנות חיות ומזכיר חסדי נעוריה ונוי יפייה וכשרון, גם דודה צר לו בצרתה. מזכרת אהבת נעוריה אליו,דודה כי עוד היא, ולא שילוחיה שילוחין, להודיעה כי לא מלבו ענה,פעלה אשר נקשר עמה באהבה עזה 20 .אשתו והוא אישה Eines hat Gott gesprochen, zweierlei habe ich gehört (vgl. Ps 62,12). Ein biblischer Vers enthält viele Bedeutungen, was letztendlich bedeutet, dass kein biblischer Vers seinem Sinn entkommt.21 Auch wenn die Propheten ihre Worte in Form einer Allegorie [ ]דוגמאkundtaten, muss diese Allegorie zunächst ihren Eigenschaften und ihrer Ordnung nach erfasst werden, ebenso wie die Verse der heiligen Schrift, die ebenfalls einer bestimmten Ordnung unterliegen. Ich habe für dieses Buch [das Hohelied] bereits viele Predigt-Midraschim gesehen, von welchen einige das Buch in einem einzigen Midrasch auslegen, während andere einzelne Verse in verschiedenen Abschnitten eines Midrasch diskutieren. Doch werden diese weder mit der Sprache der heiligen Schrift noch mit ihrer Ordnung in Einklang gebracht. Deshalb habe ich den Versuch unternommen, den Sinn der biblischen Verse zu erfassen, um ihre Auslegung mit ihrer Anordnung [in der Bibel] in Einklang zu bringen. Und was die Midraschim selbst betrifft – die Rabbinen haben diese in eine bestimmte Ordnung gebracht, jeden Midrasch an seinen Ort.
19 20
21
Vgl. die bahnbrechenden methodologischen Anweisungen seines Kommentars zu Genesis 3,8. Der Raschi-Kommentar, auf den in diesem Artikel verwiesen wird, basiert auf JTS Ms. L778 bzw. dessen Transkript in Sarah KAMIN und Avrom SALTMAN, Secundum Salomonem: A 13th Century Latin Commentary on the Song of Songs (Ramat Gan: Bar-Ilan University Press, 1989). Das Wort, das Raschi hier benutzt, משמע, ist gleichbedeutend mit dem weitaus rätselhafteren Wort פשוטו, das er auch in seinem berühmten Kommentar zu Genesis 3,8 verwendet; beide Begriffe entsprechen weitgehend dem sensus literalis, dem sogenannten „Literalsinn“, auf den sich christliche Exegeten in jener Zeit beriefen.
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Robert A. Harris Ich sage, dass bereits Salomo durch die Kraft des Heiligen Geistes sah, dass [die Israeliten] zukünftig von Exil zu Exil gehen würden und Zerstörung auf Zerstörung folgen würde; und sie im Exil über ihren einstigen Ruhm trauern würden; und sich ihrer ersten Liebe entsinnen würden, als sie unter allen Völkern noch bevorzugt waren; und dass sie sagen würden: Ich will gehen und zu meinem ersten Mann zurückkehren; denn damals ging es mir besser als jetzt (Hos 2,9); und dass sie sich Gottes liebender Taten entsinnen würden, und ihres Verrats, mit dem sie [Gott] verraten haben, und der Belohnung, die Er ihnen verheißen hatte, und ihnen am Ende der Tage geben würde. Und so verfasse er [Salomo] sein Buch, mit Hilfe des Heiligen Geistes, in der Sprache einer Frau, die dazu verdammt war im Witwenstand zu leben, sich nach ihrem Gemahl verzehrend, sich nach Ihrem Geliebten sehnend, sich der jugendlichen Liebe für ihn entsinnend. Ebenso trauert der Geliebte über ihre Trauer, und entsinnt sich der liebevollen Handlungen ihrer Jugend, und der Pracht ihrer Schönheit, und der Tauglichkeit ihrer Handlungen, durch die er sich in einer mächtigen Liebe zu ihr hingezogen fühlte (siehe Hld 8,6); und er unterrichtet sie, dass es nie seine Absicht gewesen sei, sie zu betrüben, auch seinen sie in Wirklichkeit nicht getrennt,22 da sie immer noch seine Frau und er ihr Mann sei.23
Zwar wurde Raschis Kommentar zum Hohelied bereits eingehend von Wissenschaftlerinnen wie Sarah Kamin24 und Sara Japhet25 untersucht; dennoch wollen wir nun auf einige Besonderheiten seiner Einführung eingehen: Zuallererst lässt Raschi keine Zweifel an seiner Absicht, sowohl die allegorischen ()דוגמא, als auch die „wörtlichen“ Ebenen der Auslegung dazulegen (zweitere bezeichnet er üblicherweise als פשוטו, Peschuto, gerade im oben zitierten Kommentar aber als משמעו, Sinn). Die Frage, wie Raschis technische Begriffe genau zu verstehen sind, ist für sich genommen noch nicht ausreichend geklärt; tatsächlich unterzieht er diese Begriffe selbst nie einer genauen Definition. Deshalb obliegt es letztlich uns selbst, uns eine geeignete Arbeitsdefinition für diese Begriffe zurechtzulegen, bevor wir unsere Analyse fortsetzen.
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24 25
Wortwörtlich „auch ihre Verbannungen sind keine Verbannungen“. Von Martin Stechauner aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt; die englische Übersetzung des hebräischen Originals erschien in abgewandelter Form in Robert A. HARRIS, „Rashi’s Introductions to His Biblical Commentaries“, in Shai Le-Sara Japhet: Studies in the Bible, Its Exegesis and Its Language (hg. v. Moshe Bar-Asher, Dalit Rom-Shiloni, Emanuel Tov und Nili Wayzana; Jerusalem: The Bialik Institute, 2007), 219–241. Für eine weitere Übersetzung zu Raschis programmatischer Einführung, siehe Michael A. SIGNER, „God’s Love for Israel: Apologetic and Hermeneutical Strategies in Twelfth-Century Biblical Exegesis“, in Jews and Christians in Twelfth Century Europe (hg. v. Michael A. Signer und John Van Engen; Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press, 2001), 123–149. Siehe v.a. Sarah KAMIN, „ דוגמאin Rashi’s Commentary on the Song of Songs“ und „Rashi’s Commentary on the Song of Songs and Jewish-Christian Polemic“. Sara JAPHET, „Rashi’s Commentary on the Song of Songs: The Revolution of the Peshat and Its Aftermath“.
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Kamin geht davon aus, dass Raschi mit dem Begriff דוגמאauf die allegorische Auslegung der frühen Rabbinen anspielt; darüber hinaus weist Kamin darauf hin, dass die Art und Weise, wie Raschi diesen Begriff verwendet, selbst als eine Innovation anzusehen ist, ebenso wie sein auffallend häufiger Gebrauch dieses Terminus.26 Ähnlich wie in seinen wörtlichen Auslegungen greift Raschi hier rabbinische Termini auf und stattet sie mit einer neuen exegetischen Bedeutung aus, was er wiederum vor dem Hintergrund der damals vorherrschenden christlichen Hermeneutik tut.27 Was die wörtliche Interpretationsebene betrifft, verwendet Raschi hier statt dem sonst üblichen Begriff פשוטוlieber dessen Synonym – משמעוbeides wird üblicherweise als „Sinn“ bzw. „Sinngehalt“ übersetzt. Die Bedeutung dieser Begriffe entspricht weitgehend jener des sogenannten sensus literalis der damaligen christlichen Hermeneutiker; Raschi selbst nimmt jedoch, wie oben bereits erwähnt, keine Definition dieser Termini vor. Heute wiederum findet Kamins Definition dieser wörtlichen (d.h. Peschat-)Methodologie mit Sicherheit den größten Zuspruch: „[Peschat ist] eine Auslegung (eines biblischen Verses) in Bezug auf seine Sprache; seine syntaktische Struktur; seinen (unmittelbaren) literarischen Kontext; seinen literarischen Typus, bzw. [in Bezug auf das] dynamische Zusammenspiel all dieser Komponenten. Mit anderen Worten, eine Peschat-Interpretation ist eine Interpretationsform, die alle linguistischen Grundlagen innerhalb des literarischen Schriftwerks berücksichtigt und jeder von ihnen im Zuge der vollständigen Lektüre eine Bedeutung zuschreibt.“28 Trotz der Anlehnung Raschis an rabbinische Allegorien bleibt die Frage offen, ob seine Peschuto- bzw. Maschma’o-Kommentare in Bezug auf das Hohelied laut dieser Definition tatsächlich als kontextuelle Interpretationen zu verstehen sind; nichtsdestotrotz besteht kein Zweifel daran, dass Raschis Ausführungen seines exegetischen Programms wegweisend für die kontextuellen Auslegungen waren, wie sie von rabbinischen Exegeten im Norden Frankreichs im 12. Jh. entwickelt wurden. Doch wenden wir uns erneut Raschis eingangs erwähnter Hohelied-Einführung zu. Wie er bereits in seinen methodischen Ausführungen andeutet, ist Raschi der Ansicht, dass Salomo als der eigentliche Autor des Hohelieds anzusehen ist, der es in einem Anflug prophetischer Inspiration verfasst haben muss, quasi als Vorsehung von Israels zukünftigem Leid im Exil. Dabei 26 27
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Sarah KAMIN, „ דוגמאin Rashi’s Commentary on the Song of Songs“, 70–74. Auf diese Debatte kann hier im Detail nicht eingegangen werden, sie ist jedoch Gegenstand eines kürzlich von mir fertiggestellten Artikels, der demnächst veröffentlicht werden wird. Siehe Robert A. HARRIS, „From ‘Religious Truth-Seeking’ to Reading: The Twelfth Century Renaissance and the Emergence of Peshat and Ad Litteram as Methods of Accessing the Bible“, in The Oral and the Textual in Jewish Tradition and Jewish Education (hg. v. Jonathan Cohen, Matt Goldish und Barry Holtz; Jerusalem: The Magnes Press, 2019), 54–89. Sarah KAMIN, Rashi’s Exegetical Categorization in Respect to the Distinction Between Peshat and Derash, 14.
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gelingt es Raschi nicht nur seiner Leserschaft die Bedeutung des Hohelieds in Bezug auf die Geschichte des „biblischen“ Israels vor Augen zu führen, sondern er ermöglicht seinen Zeitgenossen auch, das Hohelied als eine sinnstiftende und tröstende Quelle für ihr gegenwärtiges Leid zu lesen. Raschi beschreibt die Frau, von der im Hohelied die Rede ist, letztlich als Witwe, bzw. als eine reifere Frau, die in Erinnerungen an eine längst verflossene Liebe schwelgt. Obwohl es sich hierbei eigentlich um eine exegetische Neuerung handelt, unterscheidet sie sich, wie wir gleich sehen werden, drastisch von den späteren Auslegungen der jüdischen Exegeten des 12. Jh. Zwei Generationen nach Raschi wählt Raschbam einen dezidiert anderen Zugang zum Hohelied. Wie Sara Japhet bereits treffend festgestellt hat, legt Rascham das Hohelied ausschließlich wörtlich aus (d.h. in Bezug auf sein Peschat) – der דמיון, Dimjon, d.h. die figurative Ebene, stellt für ihn lediglich einen Teil der kontextuellen Struktur dar. Wie wir gleich sehen werden entspricht diese Symbolebene nicht exakt Raschis Verständnis von ;דמיוןtatsächlich fußt Raschbams דמיוןauf einem moderneren, d.h. polemischeren Verständnis, das maßgeblich von den damaligen Beziehungen zwischen Juden und Christen beeinflusst wurde. Trotzdem geht Raschbam in seiner Einführung in keinster Weise auf die im Hohelied vorkommenden Symboliken und Allegorien ein und beschreibt das Lied – obwohl es eigentlich einem männlichen Autor zugeschrieben wird – geradewegs als ein Werk aus dem Munde einer Frau: ללמד ולספר את פשוטו בשיטתו ומלתו.ערום יערים המבין ואת ליבו יתן להבין לשון מליצת הספר כתב ספרו ותיקן שירו, כי אגור אשר אגר ]את[ החכמה מכל בני קדם.כאשר יתכן על מכונו בלשונו כבתולה הומה ומתאוננת על אוהבה שפירש ממנה, וחכמתו משובח ומופלא בנוהג בעולם.לפני דברו אהבה עזה כזאת: והיא מזכרת אותו באהבתו אותה אהבת עולם ומשוררת ואומרת.והלך למרחקים כך וכך אמר לי דודי וכך: ומדברת ומספרת לחברותיה ונערותיה.הראה לי ידידי בעודו עמדי ...השיבותיו Lass denjenigen, der im Stande ist zu verstehen, weise sein und lass ihn sein Herz öffnen, um die liebliche Sprache dieses Buches zu vernehmen. Dieses lehrt und offenbart seinen Inhalt gemäß seiner Form und seines Ausdrucks, ebenso wie man es auf Basis seiner Sprache erwarten würde. Da Agur29 all die Weisheit der „Söhne des Ostens“30 in sich vereint, schrieb er dieses Buch und verfasste dieses Lied vor seinem Wort.31 Darüber hinaus ist seine Weisheit lobenswert und 29
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Raschbam wählt diesen Namen für Salomo; vgl. Spr 30,1. Für weitere Informationen für den Gebrauch dieses Namens, siehe JAPHET, The Commentary of Rabbi Samuel Ben Meir (Rashbam) on the Song of Songs, 131; siehe auch 233 Fn. 3. Oder auch „jener der Alten“. Siehe Mayer I. GRUBER, Rashi’s Commentary on Psalms (Leiden, Boston, MA: Brill, 2004), 401 Fn. 30 (Raschi zu Ps 55,20). Laut Japhet stimmt Raschbam mit dem Midrasch überein, der besagt, dass Salomo das Buch der Sprüche („sein Buch“) und das Hohelied („sein Lied“) noch vor Kohelet („seinem Wort“) verfasst hatte. Siehe JAPHET, The Commentary of Rabbi Samuel Ben Meir (Rashbam) on the Song of Songs, 131.
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wunderbar in dieser Welt, gleich einer jungen Frau,32 die sich nach ihrem Geliebten verzehrt und sehnt, der sich von ihr getrennt hat und nach fernen Orten ging. Sie erinnert sich an ihn, als er sie mit seiner ewigen Liebe liebte, und sie singt und sagt: Diese starke Liebe zeigte mir mein Geliebter, als er noch bei mir war! Und sie spricht und erzählt ihren Freundinnen und jungen Mädchen: So sprach mein Geliebter zu mir und so antwortete ich ihm...
Die unterschiedlichen Zugänge von Raschi und Raschbam sind bemerkenswert: Raschi, auf dessen programmatische Stellungnahme wir erst in seinem Kommentar zu Genesis 3,8 stoßen,33 geht es um die Darlegung jener Aspekte der klassisch rabbinischen Allegorie, die er mit der Ordnung und Struktur der Bibel „in Einklang“ bringen kann. Seine Kommentare enthalten also eine große Menge an Midrasch-Auslegungen, die er jedoch kunstvoll in seiner eigenen unnachahmlichen und brillanten Art und Weise erläutert. Raschbam hingegen – zumindest hier, in seiner programmatischen Einführung – verfolgt in Bezug auf das Hohelied eine ausschließlich kontextuelle Interpretationsweise und greift nicht einmal im Ansatz auf klassisch rabbinische (oder neuere bzw. eigens konzipierte) Allegorien zurück. Er tut dies einzig und allein auf Grund der Annahme, dass das Hohelied sowohl auf Basis einer unmittelbaren wörtlichen als auch auf einer figurativen Ebene zu verstehen sei; beide Ebenen interpretiert er als Teil des „authentischen“, d.h. kontextuellen Sinngehalts des Buches. Darüber hinaus setzt Raschbam ein konzeptuelles Verständnis voraus, das für ihn den erzählerischen Rahmen des Buches vorgibt: das Hohelied erzählt im Wesentlichen eine fortlaufende Geschichte, und zwar jene eines jungen verliebten Mädchens. Obwohl Raschbam selbstverständlich auf Salomo als Autor des Lieds verweist – in diesem Punkt hatte Raschbam keine andere Wahl, da die biblische Überschrift des Hohelieds Salomos Urheberschaft geradezu unterstreicht – rückt er die biblischen Figur jedoch keinesfalls in den Vordergrund; tatsächlich erwähnt er Salomo nur an einigen wenigen Stellen. Vielmehr präsentiert Raschbam das Hohelied fast ausschließlich aus weiblicher Perspektive, d.h. durch die Stimme und Erfahrung einer Frau. Genauer gesagt verwandelt Raschbam den Erzähler des Lieds, in dem er die 32
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Meine Übersetzung des Wortes – בתולהhier (durchgehend) als „junge Frau“ und nicht als „Jungfrau“ übersetzt – stützt sich nicht nur auf den philologischen Ursprung des Wortes, sondern kommt auch Raschbams Verständnis des Wortes in diesem Kontext am nächsten. „Es gibt viele kommentierende Midraschim und unsere Rabbinen haben diese bereits in eine Ordnung gebracht, wie z.B. in Bereshit Rabba, wie auch in anderen Midraschim. Darüber hinaus hat sich mir der wörtliche Sinn der Heiligen Schrift und der Aggada nur dort erschlossen, wo ein Wort der Heiligen Schrift und seine Bedeutung offenkundig waren.“ Diese Übersetzung setzt meiner Meinung nach vermutlich eine Korrektur voraus (nämlich die Zufügung eines vorangestellten Mem), der zufolge Raschis letztes Wort eigentlich als „“שמעו]מ[ו, d.h. „und seine Bedeutung“, gelesen werden müsste.
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erzählerische Rolle „König Salomos“ herunterspielt, de facto (und bemerkenswerterweise) in eine weibliche Protagonistin, was umso schlüssiger erscheint, da die Hauptperson ihre Erfahrungen offenbar in Reden ihren engsten Freundinnen mitteilt. Eines muss an dieser Stelle noch herausgestrichen werden: für Raschbam sind alle Reden im Hohelied indirekte Reden. Die Verliebte erzählt von ihren Gefühlen; sie beschreibt das Liebeswerben ihres (männlichen) Geliebten und die Liebesreden, mit welchen er sie verführte; und sie erzählt von ihrem Zerwürfnis und anderen tragischen Geschehnissen – und das alles im persönlichen Gespräch mit ihren Freundinnen. Um Unterschiede zwischen Raschis und Raschbams Herangehensweisen noch besser zu veranschaulichen, sollten wir noch einen Blick auf Raschis Kommentar zum ersten Vers des Hohelieds werfen: מלך שהשלום, כל שלמה האמור בשיר השירים קדש: שנו רבותינו:שיר השירים אשר לשלמה . ]ברוך הוא[ מאת עדתו ועמו כנסת ישראל34 שיר שהוא על כל השירים אשר נאמרו להקדוש.שלו שכל הכתובים, שניתן בו שיר השירים לישראל35 לא היה כל העולם כדיי כיום:אמר רבי עקיבא למה הדבר דומה? למלך שנטל סאה: אמר רבי אלעזר בן עזריה. ושיר השירים קדש קדשים,קדש וסלת לי מתוכה, כך וכך מורסן, כך וכך סובין, הוצא לי כך וכך סלת: אמר לו.חטין ונתנה לנחתום שכולו יראת שמים, ושיר השירים קדש קדשים, כך כל הכתובים קדש.קלוסקית אחת מנופה ומעולה .וקיבול עול מלכותו ואהבתו Das Hohelied Salomos: Wie unsere Rabbinen lehrten: Jede [Erwähnung des Namen] „Salomo“ im Hohelied ist heilig [d.h. als Hinweis auf Gott zu verstehen36]: der König, dem der Frieden gehört.37 Lied: Eines das über allen anderen Liedern steht, die dem Heiligen, gepriesen sei Er, von seiner Gemeinde, seinem Volk, der Versammlung Israels, gesungen werden. Rabbi Akiva sprach: die Welt war nie vollkommener als an jenem Tag, an dem Israel das Hohelied gegeben wurde, zwar sind all seine Schriften heilig, doch das Hohelied ist das Allerheiligste. Rabbi Eleasar ben Asarja sprach: womit kann dieses verglichen werden? Mit einem König, der ein Seah38 voll Weizen nahm und es einem Bäcker gab. Er sagte zu ihm: 34
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In MS L788 befindet sich an dieser Stelle die Abkürzung ‘ ;קin diesem Artikel werden alle Abkürzungen ausgeschrieben. An den Stellen, wo eine Abkürzung mehr als eine Interpretation zulässt, wird darauf in einer Fußnote hingewiesen. In MS L778 steht an dieser Stelle wortwörtlich ביוםgeschrieben. Siehe z.B. bShevu‘ot 35b. Manche gedruckten Ausgaben des Raschi-Kommentars zum Hohelied enthalten hier eine Randbemerkung (die in Ms. L778 jedoch nicht zu finden ist): „... [Raschi stellt diese Frage] weil er Schwierigkeiten damit hat, dass in dem Buch kein Bezug auf Salomo in Verbindung zu seinem Vater genommen wird, wie es hingegen für das Buch der Sprüche und Kohelet üblich ist.“ Man vergleiche im Gegensatz dazu die Anfangsverse anderer biblischer Bücher, die ebenfalls Salomo zugeschrieben werden: ִמ ְשׁלֵי ְשׁ מֹ ה בֶ ן־דָּ וִ ד מֶ ֶל יִ ְשׂ ָראֵ ל, „Sprichwörter Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel“ (Spr 1,1); דּבְ ֵרי קֹ הֶ לֶת בֶּ ן־דָּ וִ ד מֶ ֶל בִּ ירוּשָׁ ָל ִם,ִ „Worte Kohelets, des Davidsohnes, der König in Jerusalem war“ (Koh 1,1). Seah ist eine biblische Einheit für Trockenmaße (siehe z.B. Gen 18,6; 2 Kön 7,1). Obwohl bereits viele Versuche unternommen wurden diese Maßeinheit genauer zu
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entnimm für mich so und so viel Gries, so und so viel Kleie, so und so viel grobe Kleie, und bereite mir einen feinen und vorzüglichen Brotlaib. Ebenso sind alle Schriften heilig, doch das Hohelied ist das Allerheiligste, da es einzig von der Gottesfurcht und der Annahme Seines Königreichs und Seiner Liebe handelt.
Während der Kommentar Raschis voller midraschischer Bezüge sowie theologischer Anspielungen auf das Buch als Ganzes ist, betreffen der erste und dritte Kommentar Raschbams lediglich das kontextuelle Verständnis der Überschrift, mit der das Hohelied eröffnet wird ( אֲשֶׁ ר לִ ְשׁ מֹ ה,)שׁיר הַ ִשּׁ ִירים: ִ אלוהי’ גדול. הוא אלקי האלהים ואדוני האדונים:’ כמ. שיר משובח שבכל השירים:שיר השירים . ואדון הגדול על כל האדונים.ונורא שבכל אלוהות ’ כי ראה שעתידין ישר’ להתאונן בגלותן על הק. שלמה המלך יסדו ברוח הקודש:אשר לשלמה שנתרחק מהם כחתן אשר נפרד מאהובתו והתחיל לשורר את שירו במקום כנסת ישר’ שהיא ככלה .לפניו . תפילה למשה; תהילה לדוד: כמו:אשר לשלמה Das Hohelied [Salomos]: Ein Lied, das unter allen Liedern ausgezeichnet ist. Es ist wie [der Vers]: Er ist der Gott über den Göttern und der Herr über den Herren (Dtn 10,17), [was bedeutet], „ein Gott, der größer und ehrfurchtgebietender ist als alle Götter“, und „ein Herr, größer als alle Herren“. Salomos: König Salomo verfasste es mit Hilfe des Heiligen Geistes. Da er sah, dass Israel in der Zukunft in seinem Exil klagen würde über den Heiligen, gepriesen sei Er, der sich von ihnen abwandte, wie ein Bräutigam, der sich von seiner Geliebten abwandte, und der anfing sein Lied zu singen an der Stelle der Versammlung Israels, das vor ihm wie eine Braut ist. Salomos: ist genauso [zu verstehen] wie: Ein Bittgebet des Mose (Ps 90,1); Ein Loblied Davids (Ps 145,1).
Raschbams zweiter Kommentar weist große Ähnlichkeit mit Raschis zweitem Abschnitt seiner Einführung zum Hohelied auf. Doch auch hier gibt es große Unterschiede zwischen den beiden Kommentaren: während, wie bereits angemerkt, Raschi die Frau in erster Linie als eine alte Frau beschreibt, die auf eine Liebesbeziehung in Jugendjahren zurückblickt, geht Raschbam auch auf die figurative Ebene ein und beschreibt das Paar als eine Braut und einen Bräutigam, die erst vor kurzem voneinander getrennt wurden, womit er bestimmen, ist man in der Wissenschaft diesbezüglich noch zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt.
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natürlich ein jugendlicheres Bild des Paares erzeugt als Raschi in seiner Auslegung. Um diese Unterschiede besser zu veranschaulichen, wollen wir im Folgendem auf die Anmerkungen von Raschi und Raschbam zu einem weiteren Vers des Hohelieds eingehen (Hld 1,2): יִשָּׁ קֵ נִ י ִמנְּ ִשׁיקוֹת פִּ יהוּ כִּ י־טוֹבִ ים דֹּ דֶ י ִמיָּיִ ן, „Mit Küssen seines Mundes küsse er mich. Süßer als Wein ist deine Liebe“. Bemerkenswert ist, dass sich Kommentatoren, gleichgültig in welcher Epoche, damit abfinden mussten, dass von der dritten Person im ersten Teil des Verses („küsse er mich“), in eine direkte Anrede im zweiten Teil des Verses gewechselt wurde („Süßer [...] ist deine Liebe“); unsere beiden Kommentatoren sind hierbei keine Ausnahme. Außerdem greifen, wie wir bereits gesehen haben, sowohl Raschi als auch Raschbam zu einem gewissen Grad auf figurative Interpretationsweisen in ihren Kommentaren zurück. Raschi geht zunächst auf die, seiner Meinung nach, wörtliche Bedeutung des Verses ein; erst danach legt er ihn gemäß seiner rabbinischen Allegorie aus: מי יתן וישקני המלך שלמה מנשיקות. זה שיר בפיה בלגות ואלמנותה: ישקני מנשיקות פיהו אך אני מתאוה ושוקקה להיותו, לפי שיש מקומות שנושקין על גב היד ועל הכתף. פיהו כאשר מאז .פה אל פה, כחתן על כלה, נוהג עמי במנהג הראשון ולשון עברי הוא להיות. מכל עונג ושמחה, מכל עונג ושמחה: כי טובים לי דודיך מכל משתה יין כעיניין שנאמר אל בית משתה היין דאסתר ;בשיר לא, כל סעודת עון ושמחה נקראת על שם היין .זהו ביאור משמעו, ישתו יין ;והיה כנור ונבל ותף וחליל ויין משתיהם ואותם דודים עודם עריבים. ונאמר דוגמא על שם שנתן להם תורתו ודבר עמהם פנים אל פנים , לבאר להם סוד טעמיה ומסתרי צפונותיה, ומובטחים מאתו להופיע עוד עליהם, עליהם מכל שעשוע .וזהו ישקני מנשיקות פיהו. ומחלים פניו לקיים דברו Mit Küssen seines Mundes küsse er mich: Sie trägt das Lied aus Ihrem Munde vor, aus ihrem Exil und aus ihrem Witwenstand: „Wenn doch nur König Salomo mich mit den Küssen seines Mundes küsste so wie damals“, weil es gibt Orte, da küssen sie auf den Handrücken oder die Schulter, aber ich verlange und wünsche, dass er sich mir gegenüber so verhält wie beim ersten Mal, wie ein Bräutigam mit einer Braut, Mund zu Mund. Süßer ist (sie für mich), deine Liebe (ist süßer), mehr als jedes Gelage mit Wein, mehr als jedes Vergnügen und jede Freude. In der hebräischen Sprache wird jedes Gelage des Vergnügens und der Freude (so) auf Grund des Weines genannt, so wie der Anlass bei dem gesagt wird: [dass er] in den Raum zurückkam, in dem das Trinkgelage stattfand (Est 7,8); Beim Gesang trinkt man keinen Wein mehr (Jes 24,9); Da sind Leier und Harfe, Trommel und Flöte und Wein bei ihren Trinkgelagen (Jes 5,12). Dies ist die Erklärung seiner Bedeutung.
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Die figurative Interpretation wird auf Grund dessen geboten, (dass Gott) ihnen seine Tora gegeben hatte und zu ihnen von Angesicht zu Angesicht gesprochen hatte, und ihnen jene Liebe immer noch süßer vorkam als jedes Vergnügen, und ihnen wird von Ihm versichert, dass Er ihnen noch offenbaren wird, das Geheimnis seiner Bedeutungen und seine verborgenen Geheimnisse, und sie flehen Ihn an sein Wort zu halten. Dies ist (die Bedeutung von) Mit Küssen seines Mundes küsse er mich.
Im Gegensatz zu Raschi gibt Raschbam den Ton für seine Interpretation in seinem Kommentar zum ersten Vers des Hohelieds (1,2) vor, יִ שָּׁ קֵ נִ י ִמנְּ ִשׁיקוֹת פִּ יהוּ כִּ י־טוֹבִ ים דֹּ דֶ י ִמיָּיִ ן, „Mit Küssen seines Mundes küsste er mich. Süßer als Wein ist deine Liebe“: כי טובים. כימי עולם. מי יתן והלואי שיבוא דודי וישקני נשיקות פיהו על פי ברוב ידידותו:ישקני פעמים שמשוררת: פיהו… דודיך.ועריבים ומתוקים עלי דברי חיבתו יותר מכל משקין ומתיקה מכל: מיין. ופעמים שמספרת לריעותיה על שאינו אצלה.הכלה כאילו היא מדברת עם אוהבה .[' ודימיון זה על התורה שנאמרה לישר' פה אל פה ]מפי הק.משקה מתיקה קרויין יין Er küsse mich: Oh, wenn doch, wenn es doch nur meinem Geliebten möglich wäre zu kommen und mir die Küsse seines Mundes zu küssen [d.h. zu schenken] aus seiner großen Zuneigung heraus – so wie in jenen Tagen! Denn besser und genussvoller und süßer sind für mich die Worte seiner Liebe – mehr noch als jeder Trank oder Süßigkeit! ... seines Mundes ... deine Liebe: Manchmal singt die Braut, als spräche sie mit ihrem Geliebten, und manchmal erzählt sie ihren Freundinnen, dass er nicht mehr bei ihr ist. ... als Wein: Jeder süße Trank wird [hier] Wein genannt. Dies hat Ähnlichkeit mit der Tora, in welcher Israel gesagt wird aus dem Munde des Heiligen: Von Mund zu Mund [rede ich mit ihm] (Num 12,8).
Man beachte, wie Raschbam versucht, gleich zwei Aspekten des erzählerischen Rahmens des Hohelieds gerecht zu werden, zumindest seinem Verständnis nach: zum einen der Erzählung, die im Grunde von der Liebe eines jungen Paares handelt; zum anderen dem sprachlichen Wechsel zwischen zweiter und dritter Person usw., der als übliches Stilmittel der indirekten Rede interpretiert wird. Es ist verblüffend, dass Raschbam weder versucht seinen figurativen Kommentar zu rechtfertigen, noch ihn anderweitig einem kontinuierlichen Erzählfluss anzupassen; ironischerweise steht der am Ende zitierte Bibelvers (Num 12,8) für sich genommen in direktem Zusammenhang mit einer Rede Gottes an Miriam und Aaron und zwar zu einem Zeitpunkt, als ersterer besonders zornig und lieblos war. Trotzdem scheint dieser Zusammenhang keinen Wiederspruch für Raschbam darzustellen.
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Raschbams Hohelied-Kommentar
Wir wollen nun den vergleichenden bzw. gegensätzlichen Analyseansatz, den wir bis jetzt verfolgt haben, fürs erste hinter uns lassen und uns stattdessen einigen charakteristischen kontextbasierten Auslegungen Raschbams widmen; diese markieren nämlich einen wesentlichen Wendepunkt, weg von den früheren (d.h. allegorischen) Auslegungen (sowohl von jüdischer also auch christlicher Seite), hin zu einem kontextuellen Verständnis des Hohelieds, das auch bezüglich seiner erotischen, d.h. „profanen“, Handlung Rechnung trägt. Für Raschbam stellt v.a. Vers 1,6 ( ל־תּ ְראוּנִי שֶׁ אֲנִ י ְשׁחַ ְרחֹ ֶרת שֶׁ שֱּׁ ָז ַפ ְתנִ י הַ שָּׁ מֶ שׁ בְּ נֵי ִ ַא ִ „Schaut mich nicht so an, א ִמּי נִ חֲרוּ־בִ י שָׂ מֻנִ י נֹ טֵ ָרה אֶ ת־הַ כְּ ָר ִמים כּ ְַר ִמי שֶׁ לִּ י ל ֹא נָטָ ְר ִתּי, weil ich so schwarz bin! Die Sonne hat mich verbrannt. Meiner Mutter Söhne waren mir böse, ließen mich Weinberge hüten; meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet.“) ein Schlüsselelement der Handlung des Hohelieds dar – die Verachtung der Geliebten durch ihre Brüder: כי לא שחורה. עוד היא מדברת לחברותיה הבתולות ואומרת להן אל תראוני לזלזל בי:אל תראוני אבל לבנה והגונה יצאתי מבטן אמי והנני עתה קדורנית ושחרחורת מש)י(זיפת חום.אני ממעי אמי שהרי אחי בני אמי.השמש ועמל ויגיעה אשר הקרוני והגיעו עלי מיום שנפרד אהובי וידידי ממני .חרה אפם בי וזולזלתי בעיניהם מפני דודי אשר נתרחק וישימוני נוטרה לשמור כרמים לחום השמש ועל כן נעשיתי.ואנכי לא רציתי ולא יכולתי לשמור והכריחוני על כורחי לשומרו לחום היום דימיון זה על האומות. ומן שחרות מועט כזה אוכל להתלבן מהרה כשיחזור ידידי אלי.שחרחורת והיא משיבתם אל תבזוני מחמת אשר העבדתם בי עבודת עבד שהרי.המבזים כנסת זה בגלות זה .פתאום ישוב אוהבי אלי ולא יעזבני אלקי ישעי Schaut mich nicht so an: Schon spricht sie zu ihren jungen Freundinnen und sagt ihnen: Schaut mich nicht so an, um mich zu verhöhnen. Denn nicht schwarz bin ich aus dem Bauch meiner Mutter, sondern weiß und hell bin auch ich aus dem Schoße meiner Mutter [gekommen], und sehet, nun bin ich dunkel und schwarz gefärbt von der Hitze der Sonne und der Mühe und der Arbeit, die mir auferlegt wurde und mich ereilte von dem Tage an, als mich mein Geliebter und Freund verließ. Denn meine Brüder, die Söhne meiner Mutter, waren böse auf mich, und ich war verachtenswert in ihren Augen, wegen meines Geliebten, der sich von mir abgewandt hatte, und sie zwangen mich zu bewachen die Weinberge in der Hitze der Sonne. Obwohl ich weder [diese Arbeit machen] wollte noch konnte, zwangen sie mich gegen meinen Willen ihn zu bewachen in der Hitze des Tages. Und so wurde ich schwarz. Doch von diesem bisschen Schwarz kann ich rasch wieder weiß werden, sobald mein Geliebter zu mir zurückkehrt. Dies bezieht sich sinnbildlich auf die Völker, die die Versammlung [Israels] in diesem Exil verachten. Und sie entgegnet ihnen: verachtet mich nicht, obgleich ihr mich die Arbeit eines Sklaven machen lasst, denn plötzlich wird mein Geliebter zu mir zurückkehren, und niemals (wieder) wird mich der Gott meiner Erlösung verlassen.
Man beachte in diesem Kommentar die natürliche Beziehung zwischen der „einfachen“ (d.h. wörtlichen) und der sinnbildlichen Interpretation; beide le-
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gen „dunkel“ und „schwarz“ als etwas Negatives aus, wie es tatsächlich auch im biblischen Text der Fall ist. In seinen Ausführungen zu den Hohelied-Versen 1,15–2,3 beginnt Raschbam zunächst damit biblische Metaphern in Gleichnisse umzuwandeln, doch nicht ohne die erotische Atmosphäre der biblischen Szene in aller Deutlichkeit festzuhalten: . והוא משיב לה הן את יפה רעייתי ועינייך יונים של אהבה כעיני יונים:הנך יפה רעייתי וקורות של בתינו שאנו. אף ערשנו רעננה והגונה. והיא משיבתו הנך יפה וגם נעים:הנך יפה דודי ואני מבוסמת ונודפת. וגם רהיטנו מן הברותים.שוכבים בתוכם בנויים ועשויים מארזים משובחים ועל כן יש לך להרחיב דעתך עלי.ריח טוב כחבצלת הגדילה בבקעת מישור וכשושנת העמקים .באשה נאה ודירה נאה וכלים נאים Siehe, schön bist du, meine Freundin: Und tatsächlich antwortet er ihr, du bist schön und Deine Augen sind Tauben der Liebe, sowie die Augen der Tauben. Schön bist du, mein Geliebter: erwidert sie ihm: Schön bist du und auch verlockend. Frisches Grün ist unser Lager und schicklich; die Balken unseres Hauses, die wir in ihre Mitte legen, sind gebaut und gemacht aus hervorragenden Zedern. Und Zypressen [sind unsere] Wände.39 Und ich bin parfümiert und eingehüllt in gute Düfte wie eine Lilie, die wächst im flachen Tal und wie eine Rose der Täler. Und deshalb musst du dir eine Meinung von mir [alleine?] machen, als einer feinen Frau mit einer feinen Wohnung und feinen Besitztümern.
Wie wir hier sehen, geht der Kommentar weit über eine bloße Reinterpretation der figurativen Symbolsprache der Bibel hinaus. Vielmehr zeichnet Raschbam ganz unverfroren das Bild einer Frau, die die Vorzüge des Hauses aufzeigt, in dem sie und ihr Geliebter sich ihrem Liebesspiel hingeben. Er zeichnet dieses Bild mit einem noch weitaus kühneren Kommentar zu den Hohelied-Versen 2,5–6 weiter: כך היא מתאוננת אל חברותיה הבתולות להספיק לה דברים הצריכין לה בחולי:סמכוני באשישות אולי. ואומרת סמכוני באשישות לסמוך ולסעוד את לבי ורפדו את מרפיד מיטתי בתפוחים.אהבתה ובאיזו מידה נתנהג. שהרי חולת אהבה אני מאהבת דודי ואוהבי.אוכל לסעוד את לבי מן הפירות שהרי כשהיינו שוכבים אני והוא על מיטתינו היה דודי פושט ומניח יד)י( שמאלו.באהבה עמי . ועל אהבה כזאת נחליתי חולת אהבה. וביד ימינו מחבקיני כדי למשוך פי וגופי אליו.מתחת לראשי
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Wie aus seiner darauffolgenden Bemerkung dieser Worte abzuleiten ist, die in einer modernen Übersetzung wohl als „Zypressen, unsere Wände“ widergegeben werden müssten, legt Raschbam dieses Hapaxlegomenon so gut aus wie er nur kann, nämlich „seinem Kontext nach“ ()פתרונו לפי עניינו, d.h. als „eines der Gebäude des Hauses“. Möglichweise kam Raschbam, in Gedanken an den biblischen Salomo, ein Herrenhaus der damaligen Könige in den Sinn.
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Robert A. Harris Stärkt mich mit Traubenkuchen: So beklagt sie sich bei ihren jungen Freundinnen, ihr die Dinge zu besorgen, die sie für ihren Liebeskummer braucht. Und sie sagt: Stärkt mich mit Traubenkuchen, um mein Herz zu erhalten und zu nähren, und polstert mein Bett mit Äpfeln aus. Vielleicht soll ich essen, um mein Herz von diesen Früchten zu nähren. Denn ich bin tatsächlich liebeskrank, von der Liebe meines Geliebten, meines Liebhabers, und wegen des Maßes an Liebe, mit dem er sich liebevoll mit mir beschäftigte. Denn als wir zusammen, er und ich, auf unserem Bett lagen, streckte mein Geliebter seine Hand aus legte seine linke Hand unter meinen Kopf, und mit seiner rechten Hand hielt er mich, um meinen Mund und meinen Körper an sich zu ziehen – und wegen solch einer Liebe erkrankte ich an Liebeskummer!
Auch unter dem Gesichtspunkt, dass Raschbam mit seinen zahlreichen figurativen Interpretationen ( )דמיונותversucht, seine Leserschaft mit den polemischen Disputen jener Zeit vertraut zu machen,40 besteht kein Zweifel daran, dass er das Hohelied in Bezug auf seinen Peschat als Erzählung aus dem Munde einer Frau auslegt, die auf intime Art und Weise die Umstände ihrer Liebesaffäre wiedergibt. Darüber hinaus müssen wir, unter Berücksichtigung von Raschbams explizierter Darstellung der jungen Frau und ihres Liebesspiels, die Frage aufwerfen, wie seiner Meinung nach wohl das zwischenmenschliche Verhältnis des jungen Paares einzustufen ist, das im Hohelied beschrieben wird: zu allererst stellt sich die Frage, ob es sich bei den Liebenden um ein verheiratetes Paar handelt. Einige Kommentare, wie jene zu den Hohelied-Versen 2,9–13, machen deutlich, dass Raschbam nicht von vornherein von einem ehelichen Verhältnis zwischen den beiden ausgeht: להוציאני משם וכאשר בא שם עמד.דומה דודי לצבי ואייל בקלות רגליו אשר מיהר לירד בבית אבי מחוץ לבית אבי והשגיח והציץ והביט בי בחלונות וחרכי הבית להסתכל בי ולא יכול לראות בי כל והשמיע קולו אלי. ]ו[ענה דודי. ונתבייש ליכנס בתוך הבית לדבר בי ולראותי מפני בית אבי.כך . והנצנים ]ו[הפרחים נראו בארץ באילנות. שהרי עברו ימי החורף והגשמים.ללכת אליו ולברוח עמו . מפני ימות הקיץ אשר הגיעו. וקול התורים והציפורים נשמע בארצינו.ועת זמיר קיטוף הכרמים הגיע . ועל כן אני אומר ליך לקום ולברוח עמי.ועצי התאינה הנצו פגים והגפנים הוציאו סמדר ונתנו ריח וכאשר הגיעו ימי ניסן שהפרחים.כעיניין של אוהב המחכה עד ימות הקיץ כדי שתלך אהובתו עמו . חוזר אליה למען תלך עמו.באילנות וכל הבריות באהבה Der Gazelle gleicht mein Geliebter und einem Hirschen, was die Schnelligkeit seiner Füße angeht, mit welchen er sich beeilt, zum Haus meines Vaters herabzusteigen, um mich von dort wegzutragen. Und als er ankommt und draußen vor meines Vaters Haus steht, und er mich beobachtet, ausspäht und durch die Fenster 40
Beispielsweise setzt Raschbam seinen Kommentar mit einer figurativen Ausführung fort: ומתאוננת לאומות להקל מעליה את.דימיון לכנסת ישר' המצטערת בגלות על שנתרחק הק' מאצלה שיעבודה כי דיי לה בצרותיה שנתרחק הק' ממנה, „Die Symbolisierung bezieht sich auf die Versammlung Israels, die im Exil darüber wehklagt, dass der Heilige sich von ihr abgewandt hat. Sie beklagt sich bei den Nationen, um sich ihrer Knechtschaft zu erleichtern, denn es ist für sie [die Brüder] genug, dass sich der Heilige von ihr entfernt hat [d.h. die Nationen sollen diesem Leid nicht noch mehr hinzufügen]“.
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und Gitter des Hauses betrachtet, um mich anzusehen – nur gut sehen kann er mich nicht. Und er schämt sich in das Haus einzutreten, um mit mir zu sprechen und mich zu sehen, da es doch das Haus meines Vaters ist! Und mein Geliebter antwortet und lässt mich seine Stimme hören, damit ich zu ihm gehe und mit ihm davonlaufe: „Immerhin sind die Tage des Winters und des Regens vorbei, und die Knospen und Blüten sind zum Vorschein gekommen im Land, in den Bäumen. Und die Zeit des Rebenschnitts, der Ernte der Weinreben ist gekommen, und die Stimme der Turteltauben und der Vögel wird vernommen. Dies ist auf Grund der Sommertage, die angebrochen sind in unserm Land. Und die Feigenbäume haben grüne Feigen hervorgebracht und die Weinstöcke stehen in voller Blüte und versprühen ihren Duft. Und deshalb habe ich (der männliche Geliebte) dir gesagt: komm, steh auf und geh fort mit mir!“ Dies ist der Umstand eines Liebenden, der wartet bis zu den Sommertagen, damit seine Geliebte mit ihm weggehen kann. Und als die Tage des Nissan angebrochen sind, die Bäume blühen und die gesamte Schöpfung schwelgt in Liebe! Er kehrt zu ihr zurück, um mit ihr fortzugehen.
Man beachte, auf welche Art und Weise Raschbam Details aus der lakonisch biblischen Erzählung herausgreift; einmal mehr und mit großer Klarheit deckt Raschbam die Umstände der erotischen Begegnung des Paars auf. Raschbam deutet die Handlung als eine über voreheliche Liebe, was den männlichen Liebhaber dazu veranlasst, um das Haus seiner Geliebten, genauer gesagt, das Haus ihres Vaters herumschleichen! Schließlich wird an Hand von Schilderungen der Liebhaberin, wie „unser Haus“ (siehe Raschbams Kommentar zu den Versen 1,15–2,3) und „unser Bett“ (2,5–6), klar, dass sie nach wie vor im Hause ihres Vaters lebt; eben aus diesem Grund muss das junge Paar vorsichtig sein, wenn es sich trifft. Und tatsächlich, so wie Raschbam die Erzählung wiedergibt, scheint es genau dieser Grund zu sein, der die Protagonistin vom dringlichen Flehen ihres Geliebten reden lässt, dass sie mit ihm aufs Land fliehe. Darüber hinaus verdeutlicht Raschbam, dass es die Jahreszeit selbst ist, die die geplante „Flucht der Liebenden“ heraufbeschwört: der Regen des Frühlings hat nachgelassen, weshalb ein Paar, das vorhat, sein Liebeslager inmitten der Natur aufzuschlagen, dies wohl nicht nur aus dem Grund tut, um nicht vom feuchten Gras durchnässt zu werden; vielmehr wählt das Paar für seine Flucht einen Zeitpunkt, an dem „die Bäumen blühen und die gesamte Schöpfung schwelgt in Liebe“, eine wunderschöne und romantische Wendung, die offenbar direkt auf Raschbam zurückgeht. Was die kontextuelle Ausrichtung seiner Auslegung betrifft, so ist jene des Hohelied-Verses 3,5 wohl die eindrucksvollste ( ,הִ ְשׁבַּ ﬠְ ִתּי אֶ ְתכֶם בְּ נוֹת יְ רוּשָׁ ַל ִם ﬠַ ד שֶׁ תֶּ חְ פָּץ,הָ אַ הֲבָ ה-עוֹררוּ אֶ ת ְ ְתּ-תָּ ﬠִ ירוּ וְ ִאם- ִאם: בְּ אַ יְלוֹת הַ שָּׂ דֶ ה, אוֹ,בִּ צְ בָ אוֹת, „Bei den Gazellen und Hinden der Flur beschwöre ich euch, Jerusalems Töchter: Stört die Liebe nicht auf, weckt sie nicht, bis es ihr selbst gefällt!“): ולאחר קצת ספירת דברי. שהיא משוררת ומתאוננת בכולן באהבת דודה.וכן דרך הילוך שיר זה והן גוערות.אהבתה עם ריעותיה שאמרה באהבה זאת אהב)ת(ני דודי ו)ב(אהבה זו הראיתי לו והיא. והידבקי באהובים שלנו.ומשיבות לה הסירי אהבתו מלבך כי מאס ביך ולא ישוב עוד אליך וכן מוכיח שהיא. כי לא תשכח אהבתו עד עולם.משבעת אותם שלא תוסיפו לדבר עוד אליה בכך
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Robert A. Harris "ענה דודי ואמר לי" ולא כתב "ענתה דוד]ת[י ואמרה.מספרת הכל את דבריה ואת דברי האוהב וכן ]"השבעתי אתכם"[ השבעות שהיא משבעת." קול דודי. וכן "אני ישינה ולבי ער."אליו ועוד היום דרך המשוררים לשורר שיר שהוא מספר מעשה אהבה של שניהם.לחברותיה הבתולות .בשירי אהבה במנהג העולם Und dies ist die Art und Weise wie dieses Lied funktioniert: [eben] dass sie singt und wehklagt bei ihnen [d.h. den Freundinnen] über die Liebe ihres Geliebten. Und nach einigen Unterredungen mit ihren Freundinnen über die Worte ihres Geliebten, in welchen sie sagte: mit diese[m] [Akt der] Liebe bewies mir mein Geliebter seine Liebe, tadelten sie sie und entgegneten ihr: verbanne seine Liebe aus deinem Herzen, denn er hat dich verschmäht und wird niemals zu dir zurückkehren! Schmiege dich lieber an unsere Liebhaber. Und in diesem Augenblick beschwört sie sie, dass sie so nicht weiter mit ihr sprechen sollen.41 Denn sie wird seine Liebe niemals vergessen. Und dies geht auch aus dem Text hervor: denn sie gibt alles wieder – ihre Worte und die Worte ihres Liebhabers. „Mein Geliebter (m.) antwortete und sprach zu mir“ steht hier geschrieben, und nicht „meine Geliebte (f.) antwortete und [ich] sprach zu ihr“. Und so „schlafe ich (f. Verb) und mein Herz ist wach... die Stimme meines Geliebten (m.)“. Und somit schwöre ich Euch die Eide, dass sie ihre jungen Freundinnen dazu bringt zu schwören. Und noch heute ist es üblich unter den jongleurs42, ein Lied zu singen, das den Liebesakt zweier Liebender durch Liebeslieder erzählt, gemäß dem weltlichen Brauch.
Raschbam zieht hier einen Vergleich zwischen dem ihm vorliegenden biblischen Text und den sozialen Gegebenheiten seiner Zeit. Für Raschbam findet das Genre des Hohelieds seine vollkommene Entsprechung in den Darbietungen der jongleurs, die zur damaligen Zeit durch die Städte Frankreichs zogen und (zu Hofe oder andernorts) über die Liebe sagen.43 Wir wollen uns nun noch einem anderen Auszug aus dem RaschbamKommentar zuwenden. Folgt man nämlich Raschbams Rahmenerzählung, stellt sich unweigerlich die Frage, wie die Trennung des Liebespaares zu ver41
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Im Text steht hier ( שלא תוסיפוd.h. 2. Person Plural). Da dies hier keinen Sinn ergibt, habe ich diese Wendung so übersetzt, als hätte Raschbam ( שלא תוספנהoder sogar שלא )יוסיפוgeschrieben. Tatsächlich scheint es so, als würde Raschbam hier auf seinen Kommentar der Hohelied-Verse 7,12–8,4 anspielen (oder diesen sogar zitieren), wo diese Formulierung gemäß seines Verständnisses der Handlung im Hohelied angemessener erscheint: Zu diesem Zeitpunkt hat das Paar seine Beziehung bereits (vorrübergehend) unterbrochen, weshalb die Freundinnen der jungen Frau versuchen, sie mit der Perspektive auf einen neuen Liebhaber zu verführen. Raschbam versteht die Bitte der jungen Frau (Hld 8,4) als einen Appell an ihre Freundinnen, damit aufzuhören, sie davon abzubringen auf die Rückkehr ihres Geliebten zu warten; für Raschbam gilt dies sowohl auf Basis der kontextuellen als auch auf der figurativen Interpretationsebene. Wörtlich „Sänger“. Es scheint, als hätte Raschbam zu Lebzeiten selbst jongleurs schon einmal gesehen oder zumindest von ihnen gehört. Für weitere Details hierzu siehe nächste Fußnote. Siehe L. M. WRIGHT, „Misconceptions Concerning the Troubadours, Trouvères and Minstrels“, Music & Letters 48/1 (1967): 35–39; John W. BALDWIN, „The Image of the Jongleur in Northern France Around 1200“, Speculum 72/3 (1997), 635–663.
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stehen ist? Gleichgültig, ob man sich auf den „wörtlichen Sinn“ des Hoheliedes bezieht, oder aber versucht, es vor dem Hintergrund der damaligen Beziehungen zwischen Juden und Christen metaphorisch auszulegen, was gerade in Raschbams Verständnis zum Teil die Grundstruktur des Buches ausmacht, bleibt zunächst unklar, warum sich das Liebespaar überhaupt trennte. In seinem Kommentar zu Hld 5,2–7 gibt Raschbam schließlich eine Antwort: אני ישינה. עכשיו היא מתאוננת על מעשיה ועל אשר נתרחק ידידה מעליה:אני ישינה ולבי ער והנה קול דודי שהוא דופק על הפתח וקורא אלי לומ' פתחי אחותי.רדומה ועצבה על משכבי ולבי ער כי כל. היורד בלילה.רעייתי יונתי תמימתי שהרי ראשי נמלא טל וקווצותיי נתמלאו רסיסי טיפי טל והנני. ואנכי השיבותי פשטתי את כותונתי לשכב ערומה.]ה[לילה הזה רכבתי במרוצה לבוא אליך ורחצתי את רגליי בעת שכיבתי והיאך אלך יחיפה לטנף.עצילה והיאך אלבשנה ואקום מפני הצינה כאשר שמע דבריי שלח ידו והחזירה לעצמו מן החור שבדלת שהיה דופק בו.רגליי לפתוח לך הפתח וקמתי לפתוח לו וידיי נטפו משמן. ומעיי המו עלי לרחם עליו.בעוצם ידו מחמת הצינה שמצננתו וכבר. ופתחתי לו הדלת.המור אשר סכתי בו בלילה לאחר הרחיצה על בריח מזוזת מנעול הדלת וכאשר ידעתי שהלך לו כמעט שלא יצאה וברחה נפשי ממני על אשר דיבר.נסתר ממני ועבר והלך לו למהר ולפתוח. שהיה עלי כאשר שמעתיהו דופק.בי כדי לפתוח לו ולא עניתי לו כראוי ולא פתחתי לו . והלכתי לשוטט בעיר לבקשהו. ובקשתיהו ולא מצאתיהו וקראתי בקול גדול ולא ענני.לו הדלת כאשר. כי חשדוני למען זימה וגניבה את הולכת וסובבת בלילה.ומצאוני שומרי העיר הכוני ופצעוני . פצעוני שומרי מגדלי החומו' והמצודות והפשיטוני תכשיטיי.נוצלתי מהם Ich schlief, doch mein Herz war wach: Jetzt klagt sie über ihre Taten und darüber, dass sich ihr Geliebter von ihr abgewandt hat. Ich schlief, schlummernd und trauernd (träge?)44 auf meinem Bett, doch mein Herz war wach. Und da ist die Stimme meines Geliebten, als er an die Tür klopft und mich ruft: „Öffne mir, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Makellose, denn mein Haupt ist voll Tau, aus meinen Locken tropft die Nacht! Denn die ganze Nacht bin ich eilig durch die Nacht geritten, um zu dir zu kommen!“ Und ich antwortete: „Ich habe mein Kleid schon abgelegt, so dass ich nackt daliege. Und ich bin träge! Wie soll ich es je wieder anziehen und aufstehen, wenn es doch so kalt ist?! Und bevor ich mich niederlegte hatte ich meine Füße gewaschen – wie könnte ich jetzt gehen, barfuß, und meine Füße beschmutzen, nur um dir das Tor zu öffnen?“ Als er meine Worte hörte, streckte er seine Hand aus und zog sie wieder zu sich zurück, aus der Luke in der Tür, an die er geklopft hatte, mit der Kraft seiner Hand, auf Grund der Kälte, die ihn ergriffen hatte. Und meine Eingeweide waren voller Mitleid für ihn. Und ich stand auf, um ihm zu öffnen, und da tropften meine Hände von Myrrhe, mit der ich mich nachts eingesalbt hatte, nachdem ich gebadet hatte, an den Griffen des Riegels – und ich öffnete meinem Geliebten: [Doch mein Geliebter war weg, verschwunden. Und als ich erkannte, dass er weggegangen war, war meine Seele außer sich, war mir entwichen, als er zu mir sprach, ich solle das Tor für ihn öffnen, und ich ihm nicht rechtzeitig geantwortet, noch ihm das Tor geöffnet hatte. Ich hätte, als ich ihn klopfen hörte, mich beeilen und ihm das Tor öffnen sollen]. Und ich suchte und fand ihn nicht, und ich rief [ihn] mit lauter Stimme und er antwortete mir nicht. Ich ging durch die Stadt, um ihn zu suchen,
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Japhet übersetzt עצלהhier als „beunruhigt, trauernd“; doch sie erwähnt auch einen handschriftlichen Kommentar, der da lautet ודומה לעצלה, also „dies ist so wie träge zu sein“. Letztere Interpretation erscheint mir hier plausibler zu sein.
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Robert A. Harris und da fanden mich die Wächter bei ihrer Runde; sie schlugen, sie verletzten mich. Denn sie verdächtigten mich: „um Unzucht zu treiben und zu stehlen treibst du dich durch die Stadt in der Nacht!“ Und als ich von ihnen gerettet wurde, verletzten mich die Wächter der Mauern und entrissen mir meinen Schmuck.
Raschbam zieht diese Perikope heran, um den eigentlichen Grund für die Trennung des Paares darzulegen: nach Erzählung der jungen Frau, lag sie träge im Bett „tropften[d] ... von Myrrhe, mit der [sie sich] nachts eingesalbt hatte“; so jedenfalls legt Raschbam es aus; und trotz des Flehens ihres Geliebten draußen vor dem Tore, zögert sie von ihrem Bett aufzustehen und ihn einzulassen. Erst als es zu spät ist, gelingt es ihr seine Perspektive einzunehmen: zu dieser Nachtstunde bzw. frühmorgens muss er davon ausgegangen sein, dass sie in ihrem Bett lag; von draußen konnte er womöglich ihre Stimme hören und ihren Duft wahrnehmen. Die einzige Gewissheit, die er also hatte, war, dass sie sich trotz seines immer heftigeren Klopfens an das Tor... verspätete! Entsetzt, „auf Grund der Kälte, die ihn ergriffen hatte“ (Raschbam erwähnt hier nicht, wie kalt es tatsächlich gewesen sein muss), geht er gleich vom Schlimmsten aus: sie ist mit jemand anderen zusammen! Die Situation wird ihr schließlich bewusst „– meine Eingeweide waren voller Mitleid mit ihm –“, doch es ist zu spät! Endlich steht sie auf, um ihn einzulassen, doch er ist bereits weg! Sie ist außer sich vor Trauer und Kummer: „als ich erkannte, dass er weggegangen war, war meine Seele außer sich, war mir entwichen“. Sie läuft hinaus, um ihn einzuholen und das Missverständnis aufzuklären, doch sie findet ihn nicht. Als sie nun allein in der Nacht, ihn rufend und nur mit ihrer Bettwäsche bekleidet, umherstreift, missverstehen die Wächter der Stadt ihre Absicht und züchtigen sie. Was für eine schreckliche Wendung, besonders angesichts der innigen Liebe für ihn, von der sie zuvor gesprochen hatte. Keiner der beiden Liebenden hat sich der Untreue „schuldig“ gemacht; wenn beide nur miteinander sprechen könnten, würde ihnen klar werden, dass der bzw. die andere am Leben und wohlauf ist. Wie es bei jungen Liebespaaren oft der Fall ist, haben allein gegenseitige Missverständnisse und ihre Unreife dazu geführt, dass sie sich trennten. An diesem Punkt der Erzählung besteht kaum Hoffnung, dass die beiden je wieder zueinander finden, um ihre Liebe zu erneuern. Raschbams Verständnis des narrativen Kontexts findet sich schlussendlich auch in seiner figurativen Auslegung wieder: והק' שלח להם נביאים חוזים ומוכ]י[חים להוכיחם למען.דימיון לכנסת ישר' שנתייאשה מן המצות ועל כן נשתעבדו בעול גלותם.ישובו אליו לשמור מצותי' וחוקיו ]ו[מאסו בהם ולא שמעו אליהם ולא היטה אזן לשמוע לשוועתם כי עת פקודתם פקד עליהם על אשר מאנו.ויצעקו אל ה' בצר להם .לשמוע לנביאיו וחוזיו Sinnbildlich bezieht es auf die Versammlung Israels, die an [Gottes] Geboten verzweifelt. Der Heilige sendet Propheten und Hellseher zu ihnen, und Tadler, um sie zu tadeln, auf dass sie zu ihm zurückkehren und seine Gebote halten mögen.
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Doch stattdessen verschmähten sie sie und hörten nicht auf sie. Und deshalb wurden sie versklavt unter dem Joch ihres Exils. Und in ihrer Not schrien sie zum Herrn, aber [Gott] wandte ihnen kein Ohr zu und erhörte ihr Klagen nicht, denn Er hatte ihnen eine Zeit verordnet [um sie zu bestrafen], weil sie sich geweigert hatten auf Seine Propheten und Hellseher zu hören.
Raschbam legt diese Passage so aus, um auf die herzzerreißende Trennung zu verweisen, die im Grunde auf einem tragischen Missverständnis zwischen der jungen Frau und ihrem Geliebten beruht. Folgt man Raschbams Schema, hat sich weder die junge Frau noch ihre Personifizierung, das Volk Israel, schuldig gemacht, ebenso wenig wie ihre Trennung von ihrem Geliebten bzw. Gott eine dauerhafte Zurückweisung darstellt. Vielmehr ist die Trennung auf die Trägheit der jungen Frau zurückzuführen und auch, wenigstens teilweise, auf die Fehleinschätzung des Geliebten darüber, warum sie so lange im Bett verweilte. Zumindest auf einer rein kontextuellen Ebene legt diese Deutung nahe, dass der junge Mann vom Schlimmsten ausgegangen sein muss, als er Einlass begehrte, um sie zu liebkosen; in seiner Vorstellung hätte seine Geliebte als Grund dafür sicherlich nur faule Ausreden hervorgebracht, um sich zu rechtfertigen! Trotzdem wird die „Zurückweisung Israels“ figurativ nicht auf dieselbe Art und Weise ausgelegt wie von den christlichen Exegeten jener Zeit – eine solche Auslegung hätte mit Gewissheit das jüdische Zielpublikum verstört, an das Raschbam sich primär richtete. Obwohl die Liebesgeschichte des jungen Paares vorrübergehend unterbrochen wird (ebenso wie Gottes Bund mit dem jüdischen Volk), ist diese Trennung im Grunde nebensächlich bzw. mit Sicherheit nicht wesentlich. Beide Partner sind immer noch ineinander verliebt, weshalb davon auszugehen ist, dass sie mit der Zeit und nach einem gewissen Reifungsprozess wieder zueinander finden. In Raschbams Verständnis stellen die nachfolgenden Textabschnitte eine Fortsetzung dieses Narratives dar. Er interpretiert den Abschnitt (Hld 5,8–6,3) direkt im Anschluss als eine Bitte der jungen Frau an ihre Freundinnen, sie mögen ihrem Geliebten, sollten sie an antreffen, versichern, dass sie ihn noch immer liebe: … שתגידו לו שחולת אהבה אני, שאם תמצאו את דודי:עכשיו היא מתאוננת ומשבעת את ריעותיה באיזה דבר גדול וחשוב: והן משיבות לה.אם תראוהו שתאמרו לו כי נחליתי חולת אהבה עליו על כן: שהרי נחלית בשבילו וכך השבעתנו להגיד לו חולייך? והיא משיבתן,אוהבך משאר אוהבים , כי הוא נאה ומפואר בכל איבריו מראשו ועד רגליו מכל האדם אשר על פני האדמה,חליתי עליו גם הוא. הנני ידידתו, אשר נתרחק דודי מעלי,כאשר אגיד לכם מלמעלה למטה… ועל כל זאת . ובאחרית הימים ישוב עוד אלי, הרועה בשושנים את צונו,ידידי Jetzt seufzt sie und beschwört ihre Freundinnen: „wenn ihr meinen Geliebten findet, sagt ihm, dass ich krank bin vor Liebe für ihn... Wenn ihr ihn seht, sagt ihm, dass ich wegen ihm liebeskrank geworden bin.“ Und sie antworten ihr: Was hat dein Geliebter den andern voraus, dass du wegen ihm so liebeskrank bist, und du uns so beschwörst ihm von deiner (Liebes)Krankheit zu berichten? Und sie ant-
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Robert A. Harris wortet ihnen: „darum bin ich krank wegen ihm, da er schöner und prachtvoller ist in all seinen Gliedern, von Kopf bis Fuß, als alle Menschen auf Erden, wie ich euch jetzt erzählen werde von oben bis unten... Trotz alldem, und auch wenn sich mein Geliebter von mir entfernt hat, bin ich immer noch seine Geliebte. Und auch er, der seine Herde bei den Lilien hütet, ist immer noch mein Geliebter, und am Ende der Tage wird er dennoch zu mir zurückkehren.
Obwohl das Paar im Hohelied selbst nicht mehr zueinander findet, geht Raschbam davon aus, dass sie dennoch einen Weg finden, um wieder in Kontakt zu kommen. Tatsächlich versteht er die Hohelied-Verse 6,4–7,11 als eine Art „Liebesbrief“, den der junge Mann seiner Geliebten zukommen lässt: als er seine Liebe ihr gegenüber gesteht (עכשיו הוא מספר בשבח אהובתו, „nun erzählt er von der Würdigung seiner Geliebten“); Raschbam sieht in diesem Abschnitt eine Gelegenheit für den (männlichen) Liebhaber, um seiner Geliebten auszurichten, dass er sie immer noch vermisst (גם לא יכולתי להתאפק ממך, „ich kann nicht ohne dich leben“).45 Darüber hinaus macht Raschbam im Zuge seiner Auslegung des Hohelieds keinen Hehl daraus zu behaupten zu wissen, wie die Geschichte ausgeht; hinsichtlich der Umstände, die zu der Trennung des Paares geführt haben, kann die Erzählerin – also die junge Frau selbst – nur auf eine Wiedervereinigung hoffen. Daher interpretiert Raschbam den letzten Abschnitt des Liedes (7,12–8,14) als eine Art Appell an den jungen Mann, er möge die Liebe ihr gegenüber wieder neu entfachen: לכה דודי נצא אני ואתה מן העיר אל.עכשיו היא מפייסת את אוהבה שילך לטייל ולהתחבב עמה .… ולבוקר נשכימה לטייל בכרמים ונראה אם הגיע עת דודים. והלילה נלינה בכפרים,השדה Jetzt beschwichtigt sie ihren Geliebten, er möge kommen und spazieren gehen und sich in sie verlieben: „Komm, mein Geliebter, lass uns wandern, ich und du, aus der Stadt auf das Feld, und lass uns in der Nacht in den Dörfern schlafen.46 Und am Morgen wollen wir früh wach werden und dann zu den Weinbergen gehen und sehen, ob die Zeit der Liebenden gekommen ist ... [“]
Raschbam schließt seinen Kommentar zu den Hohelied-Versen 8,13–14 mit einer hoffnungsvollen, wenn nicht sogar zuversichtlichen Bemerkung: היושבת ומתנהגת, כך אמר לי ידידי אחותי ואהובתי, כך היא מספרת על אוהבה:היושבת בגנים . כי הוא ערב, חברים ושושבינים אשר באו עמי מקשיבים ותאיבים לקולך.ומטיילת בגנים ופרדסים , ברח דודי ודמה לך לצבי או לאייל: והיא משיבתו.השמעיני קולך בנועם זמירתך וישמעו גם ריעיי .… ונתחבב שם אני ואתה, וגם אני הלוך אלך עמך.לרוץ ולטייל על הרי בשמים וגבעת הלבונה
45 46
Wörtlich: „ich kann mich nicht von dir abhalten“. Oder: „Hennastauden“. Es ist nicht klar, was genau Raschbam hier mit dieser Wendung meint. Für eine mögliche „Doppelbedeutung“, siehe FISHBANE, The JPS Bible Commentary: Song of Songs, 195.
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Die du in den Gärten weilst: So erzählt sie von ihrem Geliebten, so sprach mein Geliebter: meine Schwester, meine Geliebte, die du sitzt und dich bewegst und spazieren gehst in den Gärten und in Weinbergen. Freunde und Gefährten, die mit mir gekommen sind, lauschen und sind entzückt von deiner Stimme, weil sie so lieblich ist.47 Lass mich hören deine Stimme und die Freundlichkeit deines Gesangs, und lass auch meine Freunde hören. Und sie antwortet: lauf weg mein Geliebter, gleich einem jungen Hirsch oder Schafbock, und laufe zu den Balsambergen und zu Hügeln des Weihrauches. Und ich werde mit dir gehen, und wir werden einander dort lieben,48 ich und du....
Raschbam bleibt seinem Schema also treu, und obwohl er das Paar nicht wieder miteinander vereinen kann, ist es ihm dennoch möglich den Text so auszulegen, dass die beiden ihre Liebe, die sie vor ihrer Trennung erfüllt hat, einander noch immer kundtun können. Darüber hinaus geht seine Auslegung auch in Bezug auf die figurative Ebene auf; hier ist es Gott, der Israel anruft, seinen Wunsch äußernd (und jenen der „freundlichen Engelsschar“), Israels liebliche Gebete und Ehrerbietung zu hören. Israel wiederum antwortet genauso wie die junge Geliebte, nämlich mit dem Wunsch, aus dem Exil herausgeführt und wieder zur reinen und innigen Anbetung Gottes zurückgebracht zu werden. Raschbam endet schließlich mit seinem eigenen Gebet, המחכה יזכה ויחזה נועם זה, „Möge derjenige, der wartet, diese Süße verdienen und sehen“.
5.
Epilog: Zwei anonyme Peschat-Kommentare
Kommen wir nun zu den beiden anonymen, rein kontextuellen Kommentaren des Hohelieds, die bereits eingangs erwähnt wurden. Auch hierzu hat bereits Sara Japhet aufschlussreiche Aufsätze geschrieben, die jeden dieser Kommentare im Detail analysieren; wir werden im Folgenden jedoch nur kurz auf sie eingehen. Eines der ersten hervorstechenden Merkmale in Bezug auf den Hohelied-Kommentar im Eger Pentateuch ist, dass die Überschrift des Liedes einem unbekannten Redakteur zugeschrieben wird: . הסופר מגיד לנו ששלמה שר השירה הזאת ולא דברי שלמה הם:שיר השירים אשר לשלמה ,’ וכן ב’משלי שלמה בן דוד. דברי סופר הם,’ וכן ‘דברי קהלת.’והתחלת הספר ‘ישיקני מנשיקות . שמספר משלות שבספר זה שלמה והתחלת הספר מפרש למטה,דברי סופר הם Das Hohelied Salomos: Der Redakteur sagt uns, dass Salomo das Lied gesungen hat, doch sind dies nicht (selbst) die Worte Salomos. Eigentlich lautet der Anfang des Buches Mit Küssen... küsse er mich (Hld 1,2). Denn mit Verweis auf die Worte Kohelets (Koh 1,1), sind dies die Worte des Redakteurs. So auch (in Bezug auf) 47 48
Siehe Hld 2,14. Oder „liebevoll behandeln“.
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Robert A. Harris die Sprüche Salomos (Spr 1,1), sind dies die Worte des Redakteurs, der sagt, dass die Sprichwörter dieses Buches jene Salomos sind, und den Anfang des Buches macht er weiter unten deutlich.
Dass ein nordfranzösischer Exeget den erzählerischen Rahmen eines biblischen Buches einem anonymen Redakteur zuschreibt, ist an sich wenig überraschend; Raschbam, Rabbi Eliezer von Beaugency und andere Exegeten kommentierten biblische Bücher häufig auf eine ähnliche Weise und verwendeten dabei eine Vielzahl von Fachbegriffen ( מסדר,הסופר, סדרןetc.).49 Dennoch scheint dies meines Wissens das einzige Beispiel einer solchen Zuschreibung in einem Hohelied-Kommentar zu sein. Trotz der besonderen Rolle des Redakteurs präsentiert der Autor dieses Kommentars das Hohelied als nur eines von vielen Liedern, die in der Bibel König Salomo zugeschrieben werden.50 Darüber hinaus präsentiert dieser Autor den biblischen König Salomo als männlichen Protagonisten des Liedes, während er die weibliche Hauptrolle einer der vielen Frauen König Salomos, genauer gesagt seiner Lieblingsfrau, zuschreibt. Doch so interessant diese auch sein mögen, für unser Verständnis noch wichtiger als diese Details ist die Entschlossenheit unseres Autors, den Inhalt des Hoheliedes rein kontextuell auszulegen, ohne dabei Midrasch-Allegorien oder sonst irgendwelche Metaphern zuzulassen. Insofern stellt das Hohelied für diesen Autor ein rein „weltliches“ Gedicht dar. Ein einziges Beispiel soll uns dabei helfen diese Behauptung zu untermauern, und zwar der Kommentar zu Hld 1,2: לפי פשוטו אשה אחת היתה לשלמה אהובה יותר מכל נשיו והיא מחבבת:ישקיני מנשיקות פיהו . כמו שמספר למטה, ועל רוב חיבתה ועל המעשה אשר נעשה,אותו ועליה אמר השירה הזאת והמקראות שלמטה מסייעות שאחת הייתה לו אהובה יותר מכולם שנ]אמר[ למטה ששים המה מלכות שאותה האשה אומרת ומבקשת.ושמנים פילגשים שכולם נשא ואחת היא יונתי החביבה לי על כולם שהיא נשיקה, ומה בקשתה? ישקיני מנשיקות המלך בעלי מנשיקות פיהו.שתעשה לה בקשתה
49
50
Siehe z.B. Raschbams Kommentar zu Koh 1,1 und 12,8, sowie Rabbi Eliezers Kommentar zu Ez 1,4. Siehe hierzu meinen eigenen Artikel, Robert A. HARRIS, „Awareness of Biblical Redaction Among Rabbinic Exegetes of Northern France“, Shnaton: An Annual for Biblical and Ancient Near Eastern Studies 13 (2000): 289– 310 (hebr.); sowie auch Gershon BRIN, „Problems of Composition and Redaction in the Bible According to R. Abraham Ibn Ezra“, in Teudah 8: Studies in the Composition of Abraham Ibn Ezra (hg. v. Israel Levin; Tel Aviv: Tel Aviv University, 1992), 121– 135; Richard C. STEINER, „A Jewish Theory of Biblical Redaction From Byzantium: Its Rabbinic Roots, Its Diffusion and Its Encounter With the Muslim Doctrine of Falsification“, JSIJ – Jewish Studies, an Internet Journal 2 (2003): 123–167; Aharon MONDSCHEIN, „Additional Comments on Hasadran and Hamesader“, Leshonenu 67/3– 4 (2005): 331–346. Siehe 1 Kön 5,12 (nach christlicher Tradition manchmal auch 1 Kön 4,32): Salomo „verfasste dreitausend Sprichwörter und die Zahl seiner Lieder betrug tausendundfünf“. Siehe JAPHET, „Anonymous Commentary“, 210.
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פת]רונו[ כי מאד טובים ונעימים דודיך: כי טובים דודיך מיין. שיש מנשקים בידו ובידה,נכונה . מתוך שתיית היין אני משתוקקה לנשיקות פיהו.ואהבים שלך Mit Küssen seines Mundes küsse er mich: Gemäß seiner kontextuellen Bedeutung war eine von Salomos Frauen beliebter als alle seine Frauen, und sie liebte ihn, und ihr widmete er dieses Lied, ebenso wie der Fülle ihrer Liebe und allem, worüber unten berichtet wird. Und es gibt unten Verse, die [uns] helfen [die Perspektive einzunehmen], dass es eine [Frau] gab, die mehr geliebt wurde als irgendeine andere, und es heißt: Sechzig Königinnen sind es, achtzig Nebenfrauen – die er alle geheiratet hatte, doch [einzig] ist meine Taube (Hld 6,8–9), die mir mehr als alle anderen lieb ist. Sie ist diejenige, die sagt und bittet, [er]51 möge ihrem Wunsch nachkommen. Und was ist ihre Bitte? [Er] küsse mich, der König, mein Ehemann, Mit Küssen seines Mundes, denn das ist ein richtiger Kuss, denn es gibt ja auch diejenigen, die auf seine Hand oder ihre Hand küssen. Denn Süßer als Wein ist deine Liebe: die Erklärung dieses Verses ist, dass deine Liebe und dein Liebesspiel viel besser sind. Vom Trinken des Weines sehne ich mich nach den Küssen seines Mundes.
Dieser außergewöhnliche Abschnitt gibt bereits den Ton für den Rest des Kommentars an, dem trotz seiner Knappheit, eine eindrucksvolle, beispiellose und dabei vollkommen klare wörtliche Deutung gelingt. Wenden wir uns abschließend noch jenem anonymen Kommentar zu, der von H. J. Mathews veröffentlicht wurde.52 Wie Sara Japhet bereits schlussfolgerte, ist dieser Kommentar wahrhaftig einer, der das Hohelied vollständig auslegt, על דרך חושקים, d.h. als ein zutiefst menschliches und erotisches Liebesgedicht. Der Autor macht dies nicht nur durch die Vermeidung von Allegorien oder offenkundig religiösen Auslegungen deutlich, sondern auch durch eine konsequente und detaillierte Darstellung der im Hohelied beschriebenen Liebe, als im Grunde „profan“, d.h. immanent und diesseitig. Betrachten wir beispielsweise hierfür noch einmal die Auslegung des allerersten HoheliedVerses (1,2): מנשיקות הפה דרך חבה ורעות היא יותר מאותם שמנשקים ידי אוהבם או כתפם:מנשיקות פיהו שלא הייתי שביעה מנשיקה אחת, הרבה נשיקות: מנשיקות.שאין נשיקה זו נשיקת ריעות כל כך לכן המשילה נשיקותיו ליין לפי שכל משקים: כי טובים דודיך מיין.או משתים רק מהרבה נשיקות אך היין כל זמן שהוא שותהו הוא,שבעולם כשאדם שבע מהן פעם אחת הוא קץ בהם עד זמן ארוך …מתאוה אליו יותר ויותר לפי שהוא מחמם הגוף ומדליקו
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52
Im Manuskript steht שתעשהgeschrieben, anstatt „sie“ tut bzw. trägt eine Bitte vor, „du“ (mask.) mögest tun; keine dieser Übersetzungen ergibt einen Sinn, weshalb ich diese Wendung als שיעשהinterpretiere, d.h. die weibliche Protagonistin bittet, dass er, also der König, ihrem Wunsch nachkommen möge. Auch dieser Kommentar wartet auf seine kritische Veröffentlichung und Übersetzung durch JAPHET und WALFISH.
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Robert A. Harris Mit Küssen seines Mundes: Aus dem Munde sind Küsse der eigentliche Weg Liebe und Zuneigung [zu zeigen], mehr noch als jene, wenn sie die Hände ihrer Geliebten oder ihre Schulter küssen, denn diese Art von Kuss ist nicht wirklich ein liebevoller Kuss. Mit Küssen: [d.h.] viele Küsse, denn ich war nicht mit einem oder zwei Küssen zufrieden, sondern nur mit vielen Küssen. Süßer als Wein ist deine Liebe: Daher verglich sie seine Küsse mit Wein, denn mit allen anderen Getränken der Welt ist der Mensch beim ersten Mal zufrieden, aber schließlich hasst er sie (wenn er sie weiterhin trinkt) für lange Zeit; aber beim Wein sehnt er sich jedes Mal noch mehr nach ihm, wenn er ihn trinkt, da er den Körper erwärmt und ihn Verzückung bringt (wörtlich „ihn entzündet“).53
Sofort wird die Gemeinsamkeit mit dem Kommentar in Ms. Prag (= Eger Pentateuch) spürbar.54 Egal ob beim Beobachten der Unterschiede zwischen romantischen und höflichen Küssen oder beim Feststellen der jahrhundertealten Verbindung zwischen dem Genuss von Alkohol und dem Liebesspiel, unser Autor scheut keine Mühen, um die zutiefst menschlichen Züge des Hohelieds hervorzuheben, indem er es in erster Linie als profanen Liebesgesang charakterisiert, und sich dabei in keinster Weise irgendwelcher religiöser Ausdeutungen bedient. Als letztes Beispiel hierfür sollten wir v.a. dem Kommentar zu Hld 2,6 Beachtung schenken: , זה משכב דודים וחושקים שמרוב חבה משים לבה על לבו:שמאלו תחת לראשי וימינו תחבקני .… כחותם על זרועך, שימני כחותם על לבך,וזהו שאומר לפנים Seine Linke liegt unter meinem Kopf, seine Rechte umfängt mich: Dies ist das „Lager der Liebenden“55 und derjenigen, die begehren, denn auf Grund seiner großen Liebe legt er ihr Herz (direkt) auf sein Herz, und eben das ist es, was unten bekundet wird, Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm (Hld 8,6).
Wie Sara Japhet bereits geschrieben hat, legt der gesamte Kommentar das Hohelied als einen Text aus, der sich an „diejenigen, die begehren“ richtet. Tatsächlich kommt die Wurzel חשקin den verschiedenen Varianten mehrmals im Kommentar vor und weist dabei explizit auf verschiedene Liebeshandlungen hin, jedenfalls ist das die Art und Weise wie sie der Autor im Hohelied beschrieben sieht. Japhet gibt treffend die Sichtweise des Autors wieder, für den
53
54 55
Siehe hierzu nochmals die Ausführungen zum Ms. Prag (Eger)-Kommentar: מתוך שתיית היין אני משתוקקה לנשיקות פיהו, „vom Trinken des Weins sehne ich mich nach den Küssen seines Mundes.“ Man stelle fest, dass manche Dinge sich nie ändern! Tatsächlich gibt es, wie Japhet betont („The Lovers’ Way“, 865–866 Fn. 13), gewisse Überschneidungen zwischen den beiden anonymen Kommentaren. Der Kommentator bedient sich hier der Worte Ezechiels (23,17), um auf Geschlechtsverkehr hinzuweisen.
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laut seines Kommentars „die Essenz der Liebe, ihr Fokus und Höhepunkt, der Vollzug des Liebesaktes ist.“56 Wenn man über diese beiden anonymen und völlig kontextbezogenen Kommentare nachsinnt, fällt auf, dass beide trotz ihrer hingebungsvollen Treue zum Peschat, das fesselnde Narrativ – d.h. die Kraft, die Leidenschaft und das Pathos – vermissen lassen, den wir wiederum in Raschbams Kommentar zum Hohelied vorfinden, der gelegentlich auch Ausflüge in die figurative Exegese unternimmt. Denn was er beschreibt, ist nicht nur das vorzügliche Vergnügen und Zusammenfinden, welche die Liebe nun einmal ausmachen, sondern auch das überwältigende Leiden und der Schmerz, den Liebende erleben, wenn die Liebe verloren geht.
6.
Zusammenfassung
Ziel dieses Artikels war es, einen möglichst breiten Überblick über die Entwicklung der Hohelied-Exegese im 12. Jh. zu geben. Wie ich aufgezeigt habe, versuchten einige Kommentatoren sich nach wie vor auf die rabbinischen Midrasch-Allegorien der Spätantike zu beziehen, während andere ganz darauf verzichteten. Diese Entwicklung, weg vom Midrasch und hin zum Peschat, also weg von der Autorität der antiken rabbinischen Exegese hin zu der kontextuellen Auslegung unabhängiger Exegeten, die ihre logisch aufgebaute und grammatikalisch fundierte Lesart mit den intuitiven Sprüngen ihrer literarischen Vorstellungskraft zu verbinden wussten, ist eine Entwicklung, die die gesamte rabbinische Schule Nordfrankreichs des 12. Jh. prägte. Egal ob es sich um Widersprüche zwischen Peschat-Exegese und halachisch-midraschischer Exegese in Bezug auf das biblische Gesetz handelte oder aber um die Diskrepanz zwischen dem literarischem Kontext und der rabbinischen Allegorie des Hoheliedes, die rabbinischen Exegeten Nordfrankreichs traten letztlich für die Suche nach kontextueller Wahrheit ein; diese Art von Auslegung sollte ein fester Bestandteil der rabbinischen Exegese werden und war von da an nicht weniger wichtig als der vorherige autoritative Ansatz אין מקרא יוצא מידי פשוטו („Die Schrift entkommt nie den Klauen ihres Kontextes“); egal welche Bedeutung die Heilige Schrift für die rabbinische Gemeinschaft sonst noch gehabt haben mag, ihr wörtlicher Sinn war nie vollkommen verloren gegangen und sollte auch in Zukunft nicht verloren gehen; tatsächlich blieb der wörtliche Sinn auch weiterhin ein legitimer Ausgangspunkt für exegetische Untersuchungen. Zu Beginn dieses Aufsatzes griff ich ein Argument auf, das ich bereits an andere Stelle vertreten hatte, nämlich dass die wörtliche Exegese, so wie sie sich unter den rabbinischen Kommentatoren des 12. Jh. entwickelte, am besten 56
JAPHET, „The Lovers’ Way“, 872.
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Robert A. Harris
vor dem Hintergrund einer allgemeinen Renaissance der Lesart der Bibel zu verstehen ist, wie sie auch unter christlichen Gelehrten im Norden Frankreichs zu jener Zeit stattfand.57 Kurz gesagt gehe ich davon aus, dass christliche Gelehrte, angefangen von der karolingischen Zeit bis ins 12. Jh., ihre Rhetorikkenntnisse (sowie ihre Kenntnisse des Trivium im Allgemeinen) immer mehr vertieften und sich somit auch ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr auf rhetorische und literarische Schwerpunkte der Bibelauslegung verlagerte. Dies erklärt auch die zunehmende Bedeutung der ad-litteram-Interpretation, insbesondere unter den Viktorinern. Bei den rabbinischen Exegeten jener Zeit sehe ich eine ganz ähnliche Entwicklung, die mit Raschi ihren Anfang nahm und bis ins 13. und 14. Jh. andauerte, als die Tradition der Peschat-Exegese mit der Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Nordwesteuropa letztendlich zum erliegen kam. Im konkreten Fall der Hohelied-Exegese scheinen die rabbinischen Exegeten Nordfrankreichs ihre christlichen Kollegen bei weitem überflügelt zu haben, besonders, weil sie bereit waren, die Normen der kontextuellen Exegese auf die Auslegung eben dieses biblischen Buches anzuwenden. Während die christlichen Exegeten das Hohelied ausschließlich allegorisch auslegten (angefangen von den frühchristlichen Allegorien bis hin zu den marianischen Deutungen des 13. Jh.),58 folgten die jüdischen Exegeten in ihrer Auslegung des Liedes, wie wir gesehen haben, offenkundig dem programmatischen Trend der Peschat-Exegese. Gerade Raschbam scheint der erste Exeget in der Geschichte der Bibelauslegung gewesen zu sein, der die Erzählstimme des Hohelieds eindeutig einer Frau zuschreibt, die sich über dem Getöse der normalerweise von Männern dominierten Meinungen Gehör verschafft.59 Selbstverständlich nimmt er diese Zuschreibung ohne jegliche feministische Agenda vor, denn eine solche wäre von den mittelalterlichen Rabbinen wohl kaum gebilligt worden. Er tut dies ohne zwanghafte Interpretation und allein unter Berücksichtigung dessen, was eine Peschat-Exegese seiner Meinung nach voraussetzt, nämlich eine möglichst vollständige Berücksichtigung der Konturen der biblischen Sprache so57
58 59
Das aussagekräftigste Argument hierzu ist in meinem in Kürze erscheinenden Artikel zu finden, Robert A. HARRIS, „From ‘Religious Truth-Seeking’ to Reading“. Für den Augenblick, siehe auch Robert A. HARRIS, „What’s In a Blessing? Rashi and the Priestly Benediction of Numbers 6:22-27“, in Birkat Kohanim: The Priestly Benediction in Jewish Tradition (hg. v. Martin S. Cohen und David Birnbaum; New York: New Paradigm Matrix, 2016), 231–258; siehe auch Robert A. HARRIS, „The Book of Leviticus Interpreted as Jewish Community“, Studies in Christian-Jewish Relations 6 (2011): 1–15. Siehe abermals MATTER, The Voice of My Beloved; und ASTELL, The Song of Songs in the Middle Ages. Man könnte natürlich behaupten, dass dies eine Innovation sei, die bereits auf Raschi zurückgeht, doch wie ich bereits geschrieben habe, geht Raschis Identifikation einer weiblichen Erzählstimme auf midraschische Allegorien zurück, was dem literarischen Kontext des Hohelieds jedoch nicht gerecht zu werden scheint.
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wie der literarischen Komposition als Ganzes. Unter vielen Neuerungen der Bibelauslegung, die auf Raschbam zurückgehen (sei es nun die Zuordnung der Autorenschaft der Tora zu Mose in Bezug auf die Menschheitsgeschichte oder die Anerkennung der Prolepsis als eine Technik in der biblischen Komposition), stellt seine Bereitschaft, die Erzählung eines biblischen Buches eindeutig einer weiblichen Figur zuzuordnen, vielleicht sogar die herausragendste Innovation dar.
Die Ironie der Eschet Chajil: Sprüche 31,10–31 in der mittelalterlichen jüdischen Exegese Sheila Tuller Keiter University of California, Los Angeles
Das Buch der Sprüche bildet zusammen mit den Büchern Kohelet und Ijob den Großteil der sogenannten Weisheitsliteratur der jüdischen Bibel. Wie das Hohelied und Kohelet wird auch die Urheberschaft der Sprüche König Salomo zugeschrieben. Ganz nach dem Vorbild der spätantiken Rabbinen nahmen die Kommentatoren des Mittelalters die salomonische Autorschaft dieser Bücher als selbstverständlich und gegeben an. Auch unternahmen die mittelalterlichen Rabbinen nur wenig Anstrengungen, den spezifischen Inhalt der Sprüche – besonders was die salomonische Urheberschaft betrifft – über den interpretatorischen Rahmen des Midrasch hinaus zu lesen. Dazu zählen auch die letzten zweiundzwanzig Verse der Sprüche – ein in sich geschlossenes Gedicht zum Lob an die „tüchtige Frau“, das sogenannte Eschet Chajil.1 Angesichts der Probleme, mit welchen Salomo im 1. Buch der Könige aufgrund seiner zahlreichen ausländischen Ehefrauen zu kämpfen hat, ist es überraschend, dass die mittelalterlichen Kommentatoren die Ironie, die einem solchen Gedicht innewohnt, vollkommen außeracht lassen, obwohl es von einem König verfasst wurde, dessen Frauen ihn schlussendlich in den Ruin trieben. In Zuge einer genaueren Untersuchung der in Sprüche 31,10–31 vorgestellten weiblichen Hauptfigur, werden wir uns v.a. der genauen Funktion dieses Gedichts im Buch der Sprüche widmen, ebenso wie den Eigenschaften und der Identität der beschriebenen Frau, sowie der midraschischen und der mittelalterlichen Bearbeitung des Gedichts; darüber hinaus werden wir darüber spekulieren, warum die mittelalterlichen Exegeten es verabsäumt haben, Eschet Chajil in Bezug auf die Salomo-Erzählung zu lesen.
1
Da es keinen Konsens darüber gibt, wie das Epitheton Eschet Chajil genau zu übersetzen ist, wird das gesamte Gedicht in diesem Beitrag als „Eschet Chajil“ (großgeschrieben) bezeichnet, wohingegen „eschet chajil“ (kleingeschrieben) für die Frau steht, die in diesem Gedicht beschrieben wird.
Eschet Chajil
1.
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Eschet Chajil im Buch der Sprüche
Heute herrscht in der Wissenschaft Konsens darüber, dass das Buch der Sprüche als eine Sammlung mehrerer Werke zu betrachten ist, was eine genaue Datierung allerdings ziemlich schwierig macht.2 Michael Fox zufolge sind die Kapitel 10–29 als vier separate Sammlungen anzusehen, die während der Zeit der Könige um das 8. oder 7. Jh. v.u.Z. herum entstanden sein müssen.3 Diesem Korpus wurden, womöglich in nachexilischer Zeit, die Kapitel 1–9 als Prolog hinzugefügt. Die Kapitel 30 und 31 stellen allem Anschein nach die letzten Ergänzungen dar. Doch auch innerhalb jedes dieser Abschnitte ist es nahezu unmöglich, das genaue Alter eines bestimmten Spruchs zu datieren oder spätere Ergänzungen zu isolieren. Abgesehen vom eigentlichen Alter der verschiedenen Schichten, wurden die Sprüche als Ganzes möglicherweise erst in der nachexilischen Zeit redaktionell bearbeitet. So können wir mit Gewissheit sagen, dass das Buch als Ganzes, hinsichtlich seiner Aufnahme in die Septuaginta, nicht später als 200 v.u.Z. entstanden ist.4 Das Gedicht Eschet Chajil selbst ist ebenso schwierig zu datieren. Die Beschreibung der Frau und ihrer Aktivitäten, die im Gedicht beschriebenen werden, entspricht dem städtischen Leben während der Zeit des Zweiten Tempels auf alle Fälle mehr als der agrarischen Lebensweise zur Zeit des Ersten Tempels.5 Auf Grund der in Kapitel 31 gewählten Sprache hat Christine Yoder seine Entstehung in die persische Periode datiert, in der frühen bis mittleren Hälfte des 5. Jh. v.u.Z. Die Darstellung von Frauen und ihrer Rolle außerhalb des Hauses steht nicht nur im Einklang mit dem Zeitgeist der Achämenidenbzw. Perserzeit, sondern auch mit den Freiheiten, die Frauen später allgemein in der hellenistischen bzw. griechisch-römischen Welt genossen.6 2
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James L. CRENSHAW, „The Sage in Proverbs“, in The Sage in Israel and the Ancient Near East (hg. v. John G. Gammie und Leo G. Perdue; Winona Lake: Eisenbrauns, 1990), 205, 214, 216; Katharine J. DELL, The Book of Proverbs in Social and Theological Context (Cambridge: Cambridge University Press, 2006), 4; Roger N. WHYBRAY, The Composition of the Book of Proverbs (Sheffield: Sheffield Academic Press, 1994), 157. Michael V. FOX, Proverbs 10-31: A New Translation with Introduction and Commentary (The Anchor Yale Bible 18B; New Haven: Yale University Press, 2009), 499. FOX, Proverbs 10-31, 499, 504, 915–916; Mark P. SNEED, The Social World of the Sages: An Introduction to Israelite and Jewish Wisdom Literature (Minneapolis: Fortress Press, 2015), 181; Al WOLTERS, The Song of the Valiant Woman: Studies in the Interpretation of Proverbs 31:10-31 (Carlisle, Cumbria UK: Paternoster Press, 2001), 40 und Fußnote 45. Avigdor HUROVITS, Mishle: ʼim Mavo U-ferush: Kerech 2, Perakim 10-31 (hebr.) (Tel Aviv: Am Oved Publishers, Ltd., 2012), 598. FOX, Proverbs 10-31, 899–901; Sneed ist mit dieser Datierung auch einverstanden, allerdings betont er auch die große Schwierigkeit, die eine genaue Datierung der Sprüche unmöglich macht. Siehe SNEED, Social World of Sages, 302.
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Sheila Tuller Keiter
Die Kapitel 30 und 31 stellen Anhänge zum Gesamtbuch dar, wobei Kapitel 31 zwei dieser Anhänge enthält, die Worte von Lemuëls Mutter (Spr 31,1–9) und Eschet Chajil (Spr 31,10–31). Die ersten neun Verse von Kapitel 31 – übrigens der einzig bekannte Weisheitstext aus dem antiken Vorderen Orient, der einer Frau zugeschrieben wird – setzten Eschet Chajil mit einer weisen Frau und Mutter in Verbindung. Gleichzeitig sind in Eschet Chajil Referenzen zu anderen Stellen innerhalb der Sprüche zu finden.7 Die Suche nach der idealen Frau spiegelt die Inhalte wider, die bereits in vorherigen Sprichwörtern zu finden sind und die stets die Wichtigkeit der Suche nach einer tüchtigen Frau unterstreichen.8 Um genau zu sein, nimmt Eschet Chajil mehrere literarische Bezüge zu Inhalten aus den Kapiteln 1–9. Die Kapitel 1–9 und Eschet Chajil stellen also den eigentlichen Rahmen des gesamten Buches das. Mit seinen Referenzen zu „Frau Weisheit“ in den Kapiteln 1–9 erinnert Eschet Chajil die Leser_innen an die Rolle der Frau als Spenderin und Vermittlerin der Weisheit.9 Einige sehen das Gedicht als Höhepunkt und Zusammenfassung des gesamten Buches der Sprüche in einer Gestalt – inklusive ihrer Tugend, Stärke, Kostbarkeit, Fleiß, Geschicklichkeit, Großzügigkeit, Selbstvertrauen und Weisheit, die alle in der Ehrfurcht vor Gott gipfeln.10
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9
10
DELL, Social and Theological Context, 85; FOX, Proverbs 10-31, 849, 883; HUROVITS, Mishle, 585; WHYBRAY, Composition, 153. Megan K. DEFRANZA, „The Proverbs 31 ‘Woman of Strength’: An Argument for a Primary-Sense Translation“, Priscilla Papers 25/1 (2011): 22. Vgl. beispielsweise Spr 18,22: „Wer eine Frau gefunden, hat Glück gefunden und das Gefallen des HERRN erlangt.“ Dieser Vers impliziert, dass die besagte Frau wohl eine gute Frau sein muss, denn Vers 21,19 warnt davor „besser in der Wüste [zu] hausen als Ärger mit einer zänkischen Frau“ zu haben. Christopher B. ANSBERRY, Be Wise, My Son, and Make My Heart Glad: An Exploration of the Courtly Nature of the Book of Proverbs (Berlin: Walter de Gruyter, 2011), 177–178; DELL, Social and Theological Context, 87; FOX, Proverbs 10-31, 916; HUROVITS, Mishle, 583–584; SNEED, Social World of Sages, 298–299; WHYBRAY, Composition, 159, 161–162, 165; WOLTERS, Song, 153; Yair ZAKOVITCH, „A Woman of Valor, ‘Eshet Ḥayil’ (Proverbs 31.10-31): A Conservative Response to the Song of Songs“, in A Critical Engagement: Essays on the Hebrew Bible in Honour of J. Cheryl Exum (hg. v. David J.A. Clines und Ellen van Wolde; Sheffield: Sheffield Phoenix Press, 2011), 401–402. ANSBERRY, Be Wise, 162; FOX, Proverbs 10-31, 916. Siehe auch WHYBRAY, Composition, 156; Weisheit wird hier als Synonym für Gottesfurcht verstanden.
Eschet Chajil
2.
Wer ist die eschet chajil?
2.1
Der Begriff in Bezug auf das Gedicht selbst
135
Ein strittiger Punkt ist, ob eine solche Frau überhaupt existiert. Gleich der erste Vers des Gedichts wirft die Frage auf: „Eine tüchtige Frau, wer findet sie?“ (Spr 31,10). Die meisten verstehen diesen Vers nicht als Erklärung ihrer NichtExistenz, sondern als ein Zeichen ihrer Seltenheit. Ihre Existenz unmöglich erscheinen zu lassen, könnte besonders junge Leute davon abhalten, sich überhaupt die Mühe zu machen, eine solche Frau zu finden. Vielmehr ist es ihre Seltenheit, die sie so überaus wertvoll macht. Sie existiert als realer Frauentyp, als Ideal und musterhaftes Vorbild. Viele sehen in ihr die ideale Ehefrau, die sich ein junger Mann aufmachen muss zu suchen.11 Trotz der Tatsache, dass es sich bei der eschet chajil um eine weibliche Figur handelt, ist der adressierte Leser eindeutig männlich, und es ist sein Anliegen, das im Vordergrund steht. Das Gedicht dient also als Anweisung für einen jungen Mann, worauf er bei der Suche nach einer potentiellen Ehefrau achten soll. Eschet Chajil kann jedoch auch als Orientierungshilfe für junge Frauen dienen, die sie dabei anleiten soll nach gewissen Tugenden zu streben.12 Ein interessantes Merkmal für die im Gedicht gewählte Beschreibung einer idealen Frau ist die Verwendung von Begriffen, die normalerweise mit körperlicher Stärke und militärischem Mut in Verbindung gebracht werden. Die weibliche Hauptfigur wird gleich anfangs als eschet chajil (Spr 31,10), also als eine „Frau [voll] von chajil“, vorgestellt. Das Wort chajil ( )חילbedeutet eigentlich Stärke oder Kraft und wird normalerweise in Bezug auf Männer, oder auch in militärischen Kontexten verwendet. Chajil kann auch für Reichtum, allgemeine Kompetenz oder Charakterstärke stehen. Die Assoziation mit einer weiblichen Figur in Vers 10 hat zu einer Reihe alternativer Übersetzungen des Wortes chajil geführt, darunter auch Mut, Fleiß, Vermögen und Tugend. Die Verwendung des Begriffs chajil erinnert an die Ermahnung Lemuëls Mutter an ihren Sohn (Spr 31,3), er möge sein chajil nicht an beliebige Frauen verschwenden. In diesem Zusammenhang ist mit chajil wohl implizit die sexuelle Kraft gemeint.13 Abgesehen von chajil ist auch die Verwendung anderer klar männlich konnotierter bzw. kriegerischer Begriffe zu erkennen. Vers 11 klärt uns darüber auf, dass es dem Ehemann einer eschet chajil wohl kaum an schalal ()שלל 11
12 13
ANSBERRY, Be Wise, 181–182; DELL, Social and Theological Context, 86; FOX, Proverbs 10-31, 891, 912; HUROVITS, Mishle, 590–591, 596; SNEED, Social World of Sages, 295; WHYBRAY, Composition, 154. DELL, Social and Theological Context, 86; FOX, Proverbs 10-31, 889–890, 905; HUROVITS, Mishle, 590; WHYBRAY, Composition, 154. DEFRANZA, „Woman of Strength“, 21–22; FOX, Proverbs 10-31, 885–886, 891; WOLTERS, Song, 9–10.
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mangeln wird. Typischerweise als „Gewinn“ übersetzt, bezieht sich schalal für gewöhnlich auf Raubgut, das im Zuge von militärischen Eroberungen erbeutet wird. In Vers 19 wird die weibliche Hauptfigur so beschrieben, als würde sie ihre Hand aussenden bzw. ausstrecken. Obwohl der Kontext hier offensichtlich das wohltätige Austrecken ihrer Hand in Richtung der Armen und Bedürftigen meint, wird die idiomatische Wendung ‚seine Hand aussenden‘ im Allgemeinen eher als aggressiver Akt verstanden. In Vers 15 wird außerdem das Wort teref verwendet, das hier Nahrung bedeutet, auch wenn seine wörtliche Bedeutung eigentlich Futter ist oder Beute, die von einem Raubtier in Stücke gerissen wird. Nicht zuletzt deshalb wird die Protagonistin mit einer Löwin verglichen, die ihre Jungen mit Nahrung versorgt. Darüber hinaus schreibt Vers 17 der Frau das Attribut oz (Stärke) zu, als sie gerade dabei ist ihre Hüften zu gürten. Dies ist übrigens die einzige Stelle im Tanakh, wo das Gürten der Hüften in Bezug auf eine Frau erwähnt wird.14 Einige Wissenschaftler haben angemerkt, dass die Verwendung einer militärischen Bildsprache Eschet Chajil zu einem heroischen Lobgedicht stilisiert, wenn auch eines, das klar abgeändert wurde, indem männliche militärische Heldentaten durch weibliche häusliche und gemeinschaftliche Fertigkeiten ersetzt wurden.15 Viele sehen in eschet chajil die Verkörperung von Frau Weisheit.16 Gewiss gibt es sprachliche und thematische Parallelen zwischen den beiden. Allerdings ist die eschet chajil ein rares Gut, während Frau Weisheit allen zugänglich ist, die sie suchen. Darüber hinaus ist das Textmaterial über Frau Weisheit eindeutig allegorisch zu verstehen, während Eschet Chajil auch wörtlich gelesen werden kann.17 Es gibt auch eine Tendenz, die eschet chajil als Metapher für die Weisheit selbst anzusehen. Dies würde jedoch die Weisheit noch rarer und fast unerreichbar machen, was sicherlich nicht die beabsichtigte Botschaft des Buches der Sprüche ist. Vielmehr personifiziert Frau Weisheit die Weisheit selbst, während die eschet chajil sie lediglich versinnbildlicht.18
14 15 16 17
18
DEFRANZA, „Woman of Strength“, 22–23; FOX, Proverbs 10-31, 891, 893–894; WOLTERS, Song, 9–10. ANSBERRY, Be Wise, 179; WOLTERS, Song, 12–13. ANSBERRY, Be Wise, 181; DEFRANZA, „Woman of Strength“, 21; WHYBRAY, Compostion,154; WOLTERS, Song, 142–143. FOX, Proverbs 10-31, 908–909. Tatsächlich ist Fox (909) der Meinung, dass nichts in Eschet Chajil auf die Notwendigkeit einer allegorischen Lesung hindeutet, da der eschet chajil, obwohl sie selbst ein Ideal darstellt, die Vernunft zu Grunde liegt. Selbstverständlich mag gerade die Tatsache, dass im Laufe der Geschichte so viele das Gedicht allegorisch gelesen haben, ausreichen, um die Position von Fox zu widerlegen. DELL, Social and Theological Context, 86; FOX, Proverbs 10-31, 891, 907–910; HUROVITS, Mishle, 590.
Eschet Chajil
2.2
137
Ist das Gedicht als feministisch oder frauenfeindlich zu verstehen?
Wie wir gleich sehen werden, ist es äußerst schwierig, Eschet Chajil als entweder feministisch oder misogyn einzustufen. Die eigentliche Absicht des Gedichts ist mit Sicherheit, seine Protagonistin zu loben. Da das Gedicht in Grunde die Tugenden der eschet chajil aufzählt, hängt das Urteil, ob man das Gedicht als feministisch oder frauenfeindlich ansieht, in erster Linie davon ab, wie man zu den Tugenden, die hier gelobt werden, im Allgemeinen steht. Darüber hinaus sollte man bei dem Versuch, antiken Gesellschaften für die damalige Zeit unzeitgemäße moderne Werte aufzuerlegen, größte Vorsicht an den Tag legen. Die jüdische Bibel spiegelt nämlich genau jene patriarchale Gesellschaft wider, in der sie entstanden ist.19 Die Bibel stellt Frauen mit Sicherheit nicht als gleichberechtigt dar, und dementsprechend sind auch die Darstellungen von Frauen nicht immer positiv konnotiert. Sie werden meist nur in Beziehung mit bzw. zu Männern dargestellt, als Mütter und Ehefrauen, und nicht als eigenständige menschliche Wesen.20 Dennoch handeln viele Geschichten in der Bibel von Frauen; und obwohl das Buch der Sprüche dezidiert für ein männliches Publikum geschrieben wurde, ist es dennoch als das wohl gendersensibelste Buch der gesamten Bibel anzusehen.21 Zu den weiblichen Figuren gehören gute Ehefrauen, streitsüchtige Ehefrauen, eine Königinmutter, Mütter in der Rolle von Lehrerinnen, der Weisheit, der Torheit, von Prostituierten und Ehebrecherinnen. Diese Frauen werden in erster Linie anhand der Wirkung wahrgenommen, die sie auf Männer haben. Doch obwohl das Buch an sich androzentrisch ist, werden Männer im Vergleich zu den weiblichen Akteurinnen oft als schwach und verletzlich dargestellt.22 Die Beschreibung der eschet chajil steht also im Widerspruch zu vielen Stereotypen einer Frau und ihrem Platz in einer antiken nahöstlichen Gesellschaft. Während das Zuhause ihr Angelpunkt ist, genießt diese Frau eine weitgehende Unabhängigkeit über die Grenzen ihres Hauses hinaus. Sie kann nicht
19
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22
Tikva FRYMER-KENSKY, Reading the Women of the Bible (New York: Schocken Books, 2002), xiii–xv. Je nachdem, wie man „patriarchal“ definiert, kann man durchaus auch so argumentieren, dass das alte Israel nie ein reines Patriarchat war. Dennoch herrscht weitgehender Konsens darüber, dass Männer in Altisrael einen höheren sozialen Status genossen als Frauen. Frederick E. GREENSPAHN, „A Typology of Biblical Women“, Judaism 32/1 (1983): 45. FOX, Proverbs 10-31, 889; FRYMER-KENSKY, Women of the Bible, xv; HUROVITS, Mishle, 590; Julia SCHWARTZMANN, „Gender Concepts of Medieval Jewish Thinkers and the Book of Proverbs“, Jewish Studies Quarterly 7/3 (2000): 183; SNEED, Social World of Sages, 293. GREENSPAHN, „Biblical Women“, 45–46, 50; WHYBRAY, Composition, 158.
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nur Liegenschaften erwerben, sondern sogar international Handel treiben.23 Sein Ansehen hat ihr Mann allein ihr zu verdanken. Darüber hinaus wird die Frau als eine aktive und beschützende Person dargestellt, während der Mann passiv ist und (von ihr) beschützt wird. Dennoch, da der Schwerpunkt des Gedichts auf der Herstellung von Lebensmitteln und Kleidung liegt, scheint sich ihre Weisheit in erster Linie auf die Handwerkskunst und die Hauswirtschaft zu beschränken, behält der Ehemann gleichzeitig seinen übergeordneten Status.24 Viele feministische Wissenschaftlerinnen begrüßen die Unabhängigkeit der eschet chajil, sowie ihre wirtschaftlichen Leistungen. Doch während sie die weibliche Hauptfigur des Gedichts bewundern, kritisieren Feministinnen die patriarchale Sichtweise des Eschet Chajil. Der Ehemann und die Ehefrau besetzen voneinander getrennte Sphären, wobei sich der Ehemann im öffentlichen Raum bewegt, während die Frau in den häuslichen Bereich verbannt wird. Während der Mann darüber hinaus die Möglichkeit hat auszugehen, hört die Arbeit der Frau nie auf. Fox weist dieses Argument jedoch mit der Begründung zurück, dass das Gedicht vor dem Hintergrund der Zeit verstanden werden muss, in dem es entstanden ist. Doch obwohl das Gedicht in einer von Männern dominierten Welt entstanden ist, preist das Eschet Chajil die weibliche Hauptfigur für ihren Ehrgeiz und ihre Unabhängigkeit, nicht dafür, eine sklavenhafte Dienerin ihres Mannes zu sein. Einige gehen sogar so weit zu argumentieren, dass die eschet chajil in Wahrheit ihren Mann als eigentlichen Herren des Hauses verdrängt.25 Tikva Frymer-Kensky argumentiert dahingehend, dass Frauen in der Bibel zwar als den Männern untergeordnet, aber nicht prinzipiell als das „andere“ darstellt werden, was auch heißt, dass sie nicht als grundsätzlich verschieden oder von Natur aus unterlegen betrachtet werden. Mit anderen Worten, Frauen weisen im Grunde die gleichen menschlichen Ziele, Wünsche, Strategien, Handlungsweisen, Persönlichkeitsmerkmale und psychologischen Eigenschaften auf wie Männer. In dieser Hinsicht betrachtet die Bibel die Menschheit also als geschlechtsneutral.26 Das Buch der Sprüche entspricht dieser Argumentation in dem Sinne, dass es über Frauen im Allgemeinen nichts Negatives zu berichten hat. Es äußert sich kritisch gegenüber törichten, schlechten oder unliebsamen Frauen, ist aber ebenso kritisch gegenüber törichten, schlechten oder unliebsamen Männern. Das gilt auch für diejenigen, welchen das Buch Lob ausspricht. Das Buch der Sprüche lobt Männer bereitwillig für 23
24 25 26
FOX, Proverbs 10-31, 890; SNEED, Social World of Sages, 317; Shulamit VALLER, „Who is the ēšet hayil in Rabbinic Literature?“, in A Feminist Companion to Wisdom Literature (hg. v. Athalya Brenner; Sheffield: Sheffield Academic Press, 1995), 85. FOX, Proverbs 10-31, 896; SNEED, Social World of Sages, 316–317; VALLER, „Rabbinic Literature“, 85. FOX, Proverbs 10-31, 912–913; GREENSPAHN, „Biblical Women“, 46; SNEED, Social World of Sages, 317–318; WOLTERS, Song, 141–142. FRYMER-KENSKY, Women of the Bible, pp. xv–xvi.
Eschet Chajil
139
dieselben Tugenden, die primär von der eschet chajil veranschaulicht werden.27 Eine wesentlich stärkere feministische Kritik richtet sich auf den ungleichen Status von Frauen und Männern in Bezug auf den Besitz von Vermögen und Eigentum. Doch auch dies kann zu Gunsten der Frau und ihrer Lobpreisung ausgelegt werden. Ein Mann, der Geld verdient, tut dies nur zu seiner eigenen persönlichen Bereicherung, doch das Bemühen der eschet chajil für ihren Haushalt zu sorgen, wird als selbstlos angesehen. Der letzte Vers fordert die Ehemänner sogar dazu auf, ihren Frauen von der Frucht ihrer Arbeit etwas abzugeben, nicht nur, um sie zu lobpreisen, sondern auch, um sie an den Einkünften zu beteiligen.28 Die moralische Mahnung (in Vers 30) davor, die körperliche Schönheit zu preisen, scheint Dreh- und Angelpunkt der Debatte zu sein, ob Eschet Chajil nun als feministischer oder frauenfeindlicher Text anzusehen ist. Man kann das fehlende Lob für die körperliche Schönheit der eschet chajil sowohl als positiv als auch negativ werten, als eine Zelebration des wahren weiblichen Selbst oder als Aberkennung weiblicher Sinnlichkeit. Die Verwendung einer militärischen, im Speziellen männlich-konnotierten Sprache, hebt das fehlende Lob für ihre körperliche Schönheit zusätzlich heraus. Diese Verwendung militärischer Termini in Eschet Chajil deutet auf eine Parallele zwischen der weiblichen Hauptfigur und den sogenannten ansche chajil hin, womit im alten Israel starke Männer bzw. Kriegshelden gemeint waren. Das Gedicht verwendet männliche Metaphern, um die finanzielle, körperliche, moralische und mentale Stärke der Frau zu loben.29 Die Verwendung einer militärischen Bildsprache kann als Polemik gegenüber einer alten orientalischen Praxis verstanden werden, welche Frauen lediglich für ihr körperliches Erscheinungsbild oder ihr Sexappeal preist, was dem Versuch gleichkommt, militärische Stärke zu moralischer Stärke umzudeuten.30 Eine solche Argumentationslinie bewertet das fehlende Lob für die Schönheit der eschet chajil als dezidiert frauenfreundlich. Im Gegensatz dazu sieht Yair Zakovitch in Eschet Chajil eine Polemik gegen die versinnlichte Frauenfigur, wie sie im Hohelied dargestellt wird. Das Hohelied besetzt die Hauptfigur mit einer Frau, feiert ihre Weiblichkeit und Sexualität, verweist auf die Gleichstellung der Geschlechter und hält die romantische Liebe hoch. Das Eschet Chajil antwortet darauf, indem es die Schilderungen über physische Schönheit durch Schilderungen über Fleiß und Kompetenz ersetzt. Anstatt die Verwendung männlicher bzw. kriegerischer Begriffe hochzuhalten, sieht Zakovitch darin einen ausgemachten Versuch, die weibliche Figur ihrer Weiblichkeit und Sinnlichkeit zu berauben.31 Die 27 28 29 30 31
FOX, Proverbs 10-31, 908, 914, 916. FOX, Proverbs 10-31, 899, 914. DEFRANZA, „Woman of Strength“, 24. WOLTERS, Song,13. ZAKOVITCH, „Conservative Response“, 401–407; Siehe auch, WOLTERS, Song, 141.
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Kehrseite dieses Arguments ist natürlich, dass das Hohelied die menschlichen Qualitäten der weiblichen Protagonistin ignoriert und sie ausschließlich als sexuelles Objekt wahrnimmt. Einmal mehr hat die Bewertung des Gedichts weniger mit seinem eigentlichen Inhalt zu tun, als vielmehr damit, wie man weibliche Tugenden überhaupt schätzt; in diesem konkreten Fall ist es die große Bedeutung der weiblichen Sexualität bei der Einschätzung des weiblichen Wertes. Letztendlich sind körperliche Schönheit und Anmut als Gaben Gottes zu betrachten und als solche vergänglich bzw. gegenstandslos.32 Darüber hinaus warnt der Dichter davor, dass Schönheit und Gnade irreführend sein können, während es allein die Ehrfurcht vor Gott zu loben gilt.33
3.
Die rabbinische Auslegung des Eschet Chajil
3.1
Die midraschische Interpretation
Während unser Schwerpunkt auf der mittelalterlichen Interpretation des Gedichts liegt, orientierten sich viele jüdische Kommentatoren im Mittelalter an der midraschischen Auslegung des Eschet Chajil. Einige der Abschnitte der Sprüche werden Salomo zugeschrieben, entweder unabhängig oder vermittelt durch die Schreiber Hiskijas. Die meisten Rabbinen der Spätantike glaubten fest an die Autorenschaft Salomos und nahmen sogar an, er hätte das gesamte Buch verfasst.34 In der heutigen Forschung wird die Zuschreibung der Autorenschaft Salomos normalerweise als pseudepigraphisch angesehen. Diese Zuschreibungen könnten weniger dazu gedient haben, die tatsächliche Autorenschaft zu begründen, als vielmehr, ein Gefühl der Verbundenheit mit Salomo herzustellen. Salomo war natürlich vor allem für seine Weisheit bekannt. Der Inhalt des Buches der Sprüche hat jedoch wenig gemein mit dem, was von Salomo überliefert ist, was höchstwahrscheinlich gegen seine Autorenschaft spricht. Vielmehr scheint die salomonische Zuschreibung dazu gedient zu haben, die Entstehung des Buches auf göttliche Inspiration zurückzuführen, da Gott ja gerade Salomo mit besonderer Weisheit gesegnet haben soll.35
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34 35
FOX, Proverbs 10-31, 898; GREENSPAHN, „Biblical Women“, 46. FOX, Proverbs 10-31, 898. Whybray weist die Behauptung zurück, dass die Erwähnung der Gottesfurcht eine spätere Ergänzung im Gedicht sei. Die Septuaginta verweist auch auf die Gottesfurcht, die als natürlicher Höhepunkt des Gedichts fungiert und die Tugenden der Frau zusammenfasst. Siehe WHYBRAY, Composition, 154–155. Siehe beispielsweise Hohelied Rabba 1,5, Kohelet Rabba 1,1, oder Seder Olam Rabba 15. CRENSHAW, „Sage in Proverbs“, 213; DELL, Social and Theological Context, 3–4; SNEED, Social World of Sages, 194, 254–255.
Eschet Chajil
141
Einhergehend mit dem Glauben daran, dass Salomo der eigentliche Autor aller Sprüche gewesen sein muss, werden im rabbinischen Midrasch sowohl Agur in Kapitel 30 als auch Lemuël in Kapitel 31 mit Salomo identifiziert.36 Die moderne Wissenschaft erkennt in Agur und Lemuël hingegen sogenannte Massaiten, also fremde Persönlichkeiten, die von den Massa, einem nordarabischen Stamm, abstammen.37 Agur tritt eindeutig für den israelitischen Glauben ein. So kann es auch sein, dass sich das Wort masa ( )משאin den Versen 30,1 und 31,1 eher auf prophetische Erlebnisse als auf einen geographischen Ort bezieht.38 Das soll nicht heißen, dass Agur und Lemuël zwangsläufig Pseudonyme für Salomo sind. Die rabbinische Tradition geht jedoch genau davon aus bzw. glaubt in den Worten, die ihnen zugeschriebenen werden, salomonische Themen vorzufinden. In Bezug auf die eschet chajil verfolgten die Rabbinen von Anfang an eine allegorische Lesart. Der Babylonische Talmud vergleicht sie mit der Tora39 ebenso wie der Midrasch Mischle sie allegorisch mit ihr gleichsetzt. Andernorts im Talmud, sowie in anderen Midrasch-Quellen, wie beispielsweise im Midrasch Eschet Chajil, wird die eschet chajil mit historischen Figuren identifiziert.40 Laut dem Jalkut Schimoni und dem Midrasch Tanchuma ist sie ident mit der Matriarchin Sara. Andere Quellen, wie der Midrasch Mischle, identifizieren sie mit männlichen Figuren wie Noach, Adam und Mose.41 Wieder andere rabbinische Quellen befassen sich verstärkt mit dem Wortsinn des Gedichts.42 Obwohl sich viele Rabbinen vorranging dem metaphorischen Sinn zuwandten, lehnten sie es nicht kategorisch ab, das Gedicht bzw. das Lob an die ideale Frau dem Literalsinn nach zu lesen. Darüber hinaus stellt eine midraschische Lesart und die Tendenz, diese Texte vor allem allegorisch zu lesen, nicht unbedingt eine grundsätzliche Tendenz dar, Frauen negativ darzustellen. Bei ihrem Studium derjenigen Midraschim, die die eschet chajil mit historischen Frauen in Verbindung bringen, konzentrierte sich Shulamit Valler vor allem darauf, wie diese Frauen im Midrasch porträtiert werden. Beispielsweise gibt es im Midrasch Mischle und anderen midraschischen Quellen Hinweise darauf, wie Sara als geistiges Gegenüber von Abraham dargestellt wird. Valler sieht in diesem wiederkehrenden Motiv in mehreren Quellen einen Beweis dafür, dass Saras spirituelle 36 37
38 39 40 41 42
FOX, Proverbs 10-31, 884; WOLTERS, Song, 62–63. Siehe auch bSanhedrin 70b, Exodus Rabba 6,1 und Numeri Rabba 10,4. ANSBERRY, Be Wise, 168; CRENSHAW, „Sage in Proverbs“, 207; DELL, Social and Theological Context, 82; FOX, Proverbs 10-31, 884; HUROVITS, Mishle, 553; WHYBRAY, Composition, 148. FOX, Proverbs 10-31, 852; SNEED, Social World of Sages, 313. Siehe auch Sach 12,1. WOLTERS, Song, 60–61. Siehe auch bBaba Metsi‘a 84b und bSukka 49b. FOX, Proverbs 10-31, 905–906; HUROVITS, Mishle, 591; VALLER, „Rabbinic Literature“, 86; WOLTERS, Song, 62. Siehe auch bSanhedrin 20a und bBerakhot 10a. FOX, Proverbs 10-31, 906–907; VALLER, „Rabbinic Literature“, 86. WOLTERS, Song, 63. Siehe auch bPesachim 50b und bTa‘anit 26b.
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Gleichstellung mit Abraham im Allgemeinen akzeptiert wurde, was auch auf die rabbinische Bereitschaft hindeutet, konventionelle Geschlechterrollen in der Antike nicht nur wahrzunehmen, sondern weiblichen Figuren auch sogenannte männliche Eigenschaften zuzuschreiben. Die im Midrasch beobachtbare Tendenz, proaktive, mutige und kluge Frauen wie Mirjam, Jaël, Rahab, Michal oder die weise Frau von Abel-Bet-Maacha mit der eschet chajil gleichzusetzten, weist auf die Bereitschaft einiger weiser Männer hin, gegenüber Frauen und der Weiblichkeit etwas liberalere Ansichten an den Tag zu legen.43
3.2
Die mittelalterliche rabbinische Interpretation
Wesentlich kontroverser ist, wie die eschet chajil und mit ihr Frauen im Allgemeinen in mittelalterlichen Kommentaren beschrieben wurden. Im Mittelalter tendierten jüdische Kommentatoren dazu, den allegorischen Ansatz des Midraschs auch auf das Eschet Chajil anzuwenden.44 Beispielsweise legt Saadia Gaon die Verse 31,1–9 als eine Bestrafung Salomos durch Batseba aus, was wiederum auf der midraschischen Identifikation von Lemuël mit Salomo basiert.45 Was das Eschet Chajil betrifft, so interpretiert Saadia das Gedicht zunächst entsprechend seines Wortsinns bzw. Peschat, und legt es in weiterer Folge metaphorisch aus. Dabei ignoriert er das Geschlecht der Hauptfigur vollkommen und identifiziert die eschet chajil mit einem weisen Mann.46 Mehrere Kommentatoren folgten diesem Beispiel und interpretierten die eschet chajil als figurative Repräsentation abstrakter Konzepte. Maimonides zum Beispiel bezieht sich auf das Gedicht in seinem Führer der Unschlüssigen und erkennt in ihm eine figurative Ausdruckweise, wobei die Frau einen gesunden Körper in den Diensten des menschlichen Gleichgewichts repräsentiert. Raschi und Ibn Nachmiasch beschäftigten sich mit dem Peschat des Eschet Chajil, um anschließend, dem Midrasch folgend, separat die metaphorische Bedeutung des Gedichts als Repräsentation der Tora zu diskutieren. Rabbi Levi ben Gershon („Ralbag“) sieht in der eschet chajil den physischen Körper oder die niedere Seele, die ihrem Mann, dem Intellekt, zu Diensten ist, um so Vollkommenheit zu erlangen.47 Ebenso identifiziert Rabbi Zerachiah ben Isaak ben Schaltiel-Chen alles Materielle bzw. Körperliche mit dem Weiblichen, was dazu führt, dass Frauen mit Sexualität gleichgesetzt werden bzw. mit allem, was der Seele entgegengesetzt ist, die wiederum den Körper hasst und den Intellekt liebt. Er liest Eschet Chajil als eine Mahnung, körperliche 43 44 45 46 47
VALLER, „Rabbinic Literature“, 87–97. WOLTERS, Song, 80. FOX, Proverbs 10-31, 885. Diese Interpretation folgt im Wesentlichen der aggadischen Darstellung in bSanhedrin 70b. FOX, Proverbs 10-31, 907; HUROVITS, Mishle, 591–592. FOX, Proverbs 10-31, 906; HUROVITS, Mishle, 591–592; SCHWARTZMANN, „Gender Concepts“, 197; WOLTERS, Song, 80.
Eschet Chajil
143
Freuden zu meiden, wobei er unter einer idealen Frau eine körperlich unattraktive Frau versteht. Rabbi Menachem Hameiri wiederum sieht in der eschet chajil Materie, die bereit ist, eine angemessene Form anzunehmen. Laut Hameiri ist die ideale Frau in erster Linie eine gehorsame Frau, wobei er ihre anderen Qualitäten ignoriert. Isaak Aramah unterscheidet, ähnlich wie Raschi, zwischen der realen Frau im Gedicht und ihrer allegorischen Darstellung als Vernunft oder Tora. Doch er überträgt diese beiden Ansätze auf die beiden Schöpfungserzählungen in Genesis 1–3. Die spirituelle Co-Kreation von Mann und Frau und die reale Schöpfung der physischen Frau festigen die Rolle der Frau, welche sich um die Befriedigung der spirituellen und physischen Bedürfnisse des Mannes, die beide für seine Entwicklung notwendig sind, kümmert.48
3.3
Mittelalterliche Ansichten über Frauen
Julia Schwartzmann geht von einer manifesten Frauenfeindlichkeit der mittelalterlichen Exegeten aus, ist aber gleichzeitig nicht davon enttäuscht. Sie argumentiert dahingehend, dass die meisten mittelalterlichen Kommentatoren die Identifikation der Weisheit mit einer Frau schlichtweg ignorieren. Vielmehr betrachteten sie Weisheit als ein göttliches Attribut oder als geschlechtslose abstrakte Entität. Darüber hinaus bewertet Schwartzmann das Bestreben, das weibliche Geschlecht der Weisheit auszuklammern, als bewusstes und einhelliges Vorgehen der mittelalterlichen Exegeten. Dies trifft auch auf Frau Weisheit zu; die Kommentatoren neigen dazu, sie zu entpersonalisieren und ihr ihr weibliches Geschlecht abzusprechen und sie stattdessen mit männlichen bzw. allgemeineren Konzepten, wie dem Torastudium, zu identifizieren. Obwohl einige Kommentatoren die Existenz einer weisen Frau nicht in Frage stellen, setzen sie weibliche Weisheit dennoch meist mit Attributen wie Bescheidenheit und Stillschweigen gleich.49 Die Tendenz der mittelalterlichen Exegeten, Eschet Chajil v.a. metaphorisch zu interpretieren, scheint dem Geist des Gedichts selbst zu widersprechen, das nicht notwendigerweise nach einer metaphorischen Auslegung verlangt.50 Laut Schwartzmann zwangen die mittelalterlichen Vorstellungen über das Geschlecht die Kommentatoren oft zu unbeholfen allegorischen Interpretationen, die im Widerspruch zur biblischen Intention standen. Beispielsweise argumentiert sie, dass Ralbags Interpretation der Frau als dem Intellekt untergeordnete Körper/Seele oft aufgezwungen wirkt, und es ihm nicht gelingt, sich an die Details des Gedichts zu halten. Im Unterschied zu dieser Interpretation ist die eschet chajil nämlich unabhängig und Herrin über ihren Haushalt. Da 48 49 50
SCHWARTZMANN, „Gender Concepts“, 198–200. SCHWARTZMANN, „Gender Concepts“, 183–186, 192–195. HUROVITS, Mishle, 593.
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jüdische Frauen im Mittelalter als intellektuell minderbegabt galten, wurden sie meist mit Einfältigkeit und Gegenständlichkeit in Verbindung gebracht, also dem genauen Gegenteil von Weisheit. Deshalb, so Schwartzmann, hatten die mittelalterlichen Exegeten keine andere Wahl, als der Weisheit ihre weibliche Identität abzusprechen und die eigentliche Bedeutung des Gedichts abzuändern, um so die soziale und intellektuelle Unterlegenheit der Frau zu bekräftigen.51 Zweifelsohne liegt Schwartzmann mit ihrer Behauptung nicht falsch. Sie ist jedoch unvollständig. Eine Reihe von mittelalterlichen Kommentatoren begriff die eschet chajil als reale Frau. Zum Beispiel – obwohl Saadia Gaon vor allem eine allegorische Interpretation anbietet – sah er in der eschet chajil auch ein reales weibliches Ideal, dessen Existenz in der wirklichen Welt möglich ist, denn wäre sie ein unerreichbares Ideal, dann würden all die Details des Gedichts sinnlos erscheinen.52 Auch Abraham ibn Esra legte einen schlichten Kommentar zu dem Gedicht vor, der jedoch nur aus der Interpretation seines Peschat besteht. Er offeriert keine allegorischen Alternativen, was darauf hindeutet, dass er das Gedicht ganz und gar wörtlich auslegte. Ebenso bietet Joseph Kimchi eine rein Peschat-basierte Interpretation des Gedichts an. Josephs Sohn Moses folgt diesem Beispiel und beschränkt seine Auslegung des Gedichts auf den Literalsinn. Sowohl Joseph als auch Moses Kimchi gehen von einer salomonischen Autorenschaft aus, aber keiner der beiden fühlt sich dazu veranlasst, das Gedicht metaphorisch auszulegen.53 Darüber hinaus spiegelt eine allegorische Interpretation nicht unbedingt das Unvermögen wider, Frauen nicht doch positive Tugenden zuzuschreiben. Michael V. Fox betrachtet den Willen der Rabbinen, die eschet chajil mit einem Mann zu identifizieren, als ein Zeichen dafür, dass sie die Tugenden der tüchtigen Frau als nicht geschlechtsspezifisch einstuften. So zögerten sie auch nicht, diese Attribute auf Männer zu übertragen. Fox bewertet die männliche Kooptierung der eschet chajil im Mittelalter vorbehaltlos als ein Zeichen von Geschlechtsneutralität, und nicht als Frauenfeindlichkeit. Darüber hinaus kann diese Metapher durchaus als ein Kompliment an Frauen verstanden werden. Beispielsweise dreht Mose Alschech Ralbags eigenwillige Interpretation um und setzt die eschet chajil mit der Seele und ihren Ehemann mit dem Körper 51 52 53
SCHWARTZMANN, „Gender Concepts“, 197, 201. FOX, Proverbs 10-31, 891. Joseph Kimchi, Einführung in die Sprüche; Moses Kimchi, Einführung in Kapitel 31. Interessanterweise schreibt David Kimchi Salomo die Autorenschaft der Sprüche nicht ausdrücklich zu. Wie seiner Einführung in die Sprüche zu entnehmen ist, sieht er in der vermeintlichen Autorenschaft Salomos vielmehr einen Hinweis des eigentlichen Autors darauf, dass das Buch viele Prinzipien und Weisheiten enthält, die der berühmten Weisheit Salomos um nichts nachstehen. David Kimchi ist im Gegensatz zu seinem Bruder und Vater viel eher dazu bereit, das Buch metaphorisch zu lesen. Leider beschränkt sich sein Kommentar zu den Sprüchen lediglich auf Kapitel 21 und enthält eigentlich keine Gedanken zu Eschet Chajil.
Eschet Chajil
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gleich, die beide miteinander verbunden sind, um gute Taten zu vollbringen. Diese Interpretation kehrt das Vorurteil um, sodass Frauen eben nicht mit dem Physischen, der Einfältigkeit und der Gegenständlichkeit in Verbindung gebracht werden. Die Kabbalisten wiederum setzten die eschet chajil mit der Schekhina, also der himmlischen Gegenwart Gottes, gleich. Da die Kabbalisten am Freitagabend Eschet Chajil rezitierten, um die Schekhina zu Beginn des Schabbats zu begrüßen, entstand später der beliebte Brauch, Eschet Chajil am Freitagabend zu Hause zu singen.54 Mit der Zeit nahm diese Praxis ihre heutige Form an, nämlich die Frau des Hauses zu loben, und gab dem Gedicht so seine ursprüngliche bzw. am Wortsinn orientierte Bedeutung zurück. Zugegebenermaßen verfassten Alschech und die Kabbalisten ihre Kommentare viel später als die meisten der von uns diskutierten mittelalterlichen Exegeten. Vielleicht gab es zu Lebzeiten der beiden im 16. Jh. eine spürbare Veränderung bezüglich der rabbinischen Einstellung gegenüber Frauen. Shaul Regev untersuchte die Verwendung des Eschet Chajil in Predigten, die uns von einigen Rabbinen im Osmanischen Reich jener Zeit erhalten geblieben sind. Diese Predigten, die typischerweise bei Hochzeiten oder Beerdigungen gehalten werden, enthielten in der Regel eine biblische Auslegung. Rabbi Moses ben Baruch Almosnino verwies auf das Eschet Chajil, um die Frage zu beantworten, wie Frauen, obwohl sie keine formale Ausbildung erhielten und die Tora nicht systematisch studierten, dennoch zu Perfektion gelangen konnten. Sie erlangten sie, indem sie ihre Männer und Söhne motivierten, die Tora zu lernen. Darüber hinaus sah Almosnino, im Gegensatz zu Maimonides, eine Lebensweise nach den Prinzipien der Tora als wertvoller an als das Torastudium selbst, wodurch Frauen sogar einen spirituellen Vorteil hatten. Shaul Regev betont die Bedeutung von Almosninos Ansatz, sowie jenen vieler seiner Zeitgenossen, die sich dem Eschet Chajil auf der Ebene seines Literalsinns näherten.55
4.
Eschet Chajil und Salomo
4.1
Die Verbindung zu Batseba
Da die Rabbinen der Spätantike und des Mittelalters, was das Buch der Sprüche betrifft, von der Autorenschaft Salomos ausgingen, lasen sie, wie bereits erwähnt, die Kapitel 30 und 31 meist zusammen und setzten Agur und Lemuël 54 55
FOX, Proverbs 10-31, 905–907; HUROVITS, Mishle, 592. Shaul REGEV, „’Woman of Valor’ אשת חיל: The Character and Status of Women in Jewish Philosophy of the Sixteenth Century“, European Journal of Jewish Studies 4/2 (2010): 243–246, 248, 254.
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mit Salomo gleich.56 In Spr 31,2–9 züchtigt Lemuëls Mutter ihren Sohn und ermahnt ihn, Frauen und Wein zu meiden. Da die Rabbinen Lemuël mit Salomo identifizieren, wird Lemuëls Mutter dadurch mit Batseba gleichgesetzt. Bei der Auslegung dieser Verse hält der Talmud fest, dass Batseba Salomo über einen Pfosten beugt, um ihn zu schlagen und ihn für seine Ausschweifungen zu schelten. Der Talmud hält weiter fest, dass Salomo sein Fehlverhalten schließlich zugibt und ihm abschwört, wobei Vers 30,2 quasi ein Eingestehen seiner Torheit darstellt.57 Auf Grund der Gleichsetzung von Lemuëls Mutter mit Batseba interpretieren einige mittelalterliche Kommentatoren Eschet Chajil als Salomos Lob für seine Mutter und ihre Weisheit.58 Dies stellt jedoch den einzigen Versuch dar, den die mittelalterlichen Ausleger unternehmen, um Eschet Chajil mit König Salomo in Verbindung zu bringen. Seltsamerweise unternehmen sie keine weiteren Anstrengungen, zusätzliche Verbindungen zwischen dem Gedicht und Salomo zu suchen. Diese Unterlassung wird umso rätselhafter, da uns der Inhalt der Maßregelung von Lemuëls Mutter im Detail vorliegt. Konkret ermahnt sie Lemuël in Vers 31,3: „Lass nicht den Frauen deine Kraft...“. Zwar hatte Salomo wahrscheinlich kein offenkundiges Alkoholproblem, seine Exzesse mit Frauen sind aber allgemein bekannt. Salomo soll siebenhundert Haupt- und dreihundert Nebenfrauen gehabt haben (1 Kön 11,3). Es waren im Übrigen die fremden Frauen, die Salomos Untergang besiegelten und sein Herz von Gott ab- und dem Götzendienst zuneigten (1 Kön 11,4). Darüber hinaus deuten die literarischen Verbindungen zwischen Eschet Chajil und den Versen 31,1–9 offensichtlich auf thematische Zusammenhänge hin. Der Text im Vers 31,3, lässt sich direkt mit dem Gedicht Eschet Chajil in Verbindung bringen, wobei letzteres unmittelbar an die Warnung von Lemuëls Mutter anschließt – das Wort chajil steht hier in erster Linie für Kraft: Überlass den Frauen nicht dein chajil. Das Wort chajil kommt in den 33 Kapiteln der Sprüche lediglich fünfmal vor. Drei dieser fünf Male finden sich im letzten Kapitel, einmal in Vers 31,3 und zweimal im Eschet Chajil. So wird literarisch bewusst versucht, die Warnung vor den Frauen von Lemuëls Mutter mit der Darstellung der idealen Frau zu verbinden. Da sich Lemuëls Mutter gewiss nicht für die Ehelosigkeit ihres Sohnes aussprach, bezieht sich ihre Warnung wohl in erster Linie auf die Verschwendung seiner sexuellen Manneskraft, noch dazu auf die falschen Frauen. Lemuëls Mutter warnt ihn davor, seine Kraft nicht an unwürdige Frauen zu verschwenden, Frauen, die in scharfem Kontrast zu der vorbildhaften Frau stehen, die im Eschet Chajil beschriebenen werden.59 Umso auffälliger ist, dass
56 57 58
59
HUROVITS, Mishle, 559, 585. bSanhedrin 70b; Fox, Proverbs 10-31, 885. Joseph Kimchi, Spr 31,1; Moses Kimchi, Einführung zu Kapitel 31. Abraham ibn Esra bringt zwar das gleiche Argument vor, aber er begreift auch, dass Eschet Chajil eine Hommage an weise Frauen im Allgemeinen ist. Abraham ibn Esra, Spr 31,1. HUROVITS, Mishle, 586.
Eschet Chajil
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keiner der mittelalterlichen Kommentatoren das Eschet Chajil als Antwort auf Salomos sexuelle Eskapaden las.
4.2
Kritik an Salomo
Während in der midraschischen Literatur Salomo recht offen kritisiert wird, und sich die mittelalterlichen Kommentatoren meist bereitwillig auf dieses Material stützen, verfolgen einige jüdische Exegeten gegensätzliche Tendenzen und legen bei der Kritik an ihm große Zurückhaltung an den Tag. Diese Inschutznahme Salomos ist angesichts der Tatsache, wie viel Kritik er in der Schrift erfährt, etwas überraschend. Meist wird Salomo als ein repressiver König dargestellt.60 Für die Erbauung des Tempels und seines Palasts zwingt er der Bevölkerung Fronarbeit auf (1 Kön 5,27–30), wobei die Errichtung seines Palastes fast doppelt so viel Zeit in Anspruch nimmt wie der Tempelbau (1 Kön 6,38–7,1). Darüber hinaus macht das Buch der Könige deutlich, dass sich Salomo systematisch über den König betreffende Verbote hinwegsetzt – beispielsweise Pferde, Ehefrauen und Reichtum anzuhäufen – die im Deuteronomium (17,16–17) unmissverständlich angeführt werden. So sammelt Salomo sowohl Pferde und Streitwagen (1 Kön 5,6; 10,26), als auch außergewöhnlichen Reichtum (1 Kön 10,23.27) und darüber hinaus auch eine Vielzahl ausländischer Frauen an – die oben genannten siebenhundert Ehefrauen, sowie dreihundert Konkubinen (1 Kön 11,1–3). Gerade die Übertretung jenes letzten auf Könige bezogenen Gebots verführt Salomo zu schwerer Sünde, denn seine fremden Ehefrauen neigen sein Herz fremden Göttern zu, worauf er sich schlussendlich dem Götzendienst hingibt (1 Kön 11,4–8). Es sind vor allem die Affären Salomos mit seinen Frauen, die uns hier am meisten interessieren. Der Großteil seines Lebens wird durch seine Beziehungen zu Frauen definiert, sei es die zu seiner Mutter Batseba, jene zur Königin von Saba, oder jene zu seinen fremden Ehefrauen. Alle diese Beziehungen stehen in Widerspruch zu seiner Weisheit.61 Es ist Batseba und nicht Salomo selbst, die ihm den Thron durch arglistige und kluge Hofpolitik sichert (1 Kön 1,11–31). Salomos berühmteste Entscheidung, als er über die wahre Mutterschaft eines umstrittenen Säuglings richten muss, ist im Grunde ein Streitfall zwischen zwei Frauen (1 Kön 3,16–28). Mit der Königin von Saba stellt eine weitere Frau Salomos Weisheit auf die Probe (1 Kön 10,1–9). Schließlich treiben ihn seine fremden Ehefrauen, trotz seiner Weisheit, in seinen Untergang (1 Kön 11,4–8). Salomos große Weisheit mag das Zögern erklären, diesen zu kritisieren. Einerseits ist König Salomo mit beispielloser Weisheit gesegnet (1 Kön 3,9.12), und oft wird er als der weiseste aller Menschen beschrieben (1 Kön 60 61
CRENSHAW, „Sage in Proverbs“, 213; HUROVITS, Mishle, 561. GREENSPAHN, „Biblical Women“, 50.
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3,12; 5,9–14; 10,23). Andererseits ist dieser weiseste aller Menschen allzu leicht zur Sünde zu verführen. Gezwungenermaßen wirft die Salomo-Erzählung eine praktischere Frage auf: Wenn der weiseste Mensch der Welt der Sünde nicht standhalten kann, welche Hoffnung gibt es dann für den Rest der Menschheit? Eine Antwort auf diese Frage könnte sein, dass auch menschliche Weisheit ihre Grenzen hat. Agurs Bekenntnis zu seiner Dummheit in Spr 30,1– 4 zeigt eben diese Grenzen auf. Vielmehr ist Gott der einzige Besitzer wahrer Weisheit. Im Gegensatz zur göttlichen kann sich die menschliche Weisheit auf kein umfassendes Wissen stützen, sondern ist letztlich von göttlicher Offenbarung abhängig, die durch die Tradition des Bundes gewährleistet wird. Dieser Schluss entspricht auch jenem in Koh 12,13, nämlich dass das Beste, was ein Mensch angesichts seines begrenzten Verstandes tun kann, ist, die Gebote Gottes zu befolgen.62 Eben aus diesem Grund identifiziert der Midrasch Agur mit Salomo und setzt Agurs Bekenntnis zu seiner Torheit mit Salomos Versuch gleich, der Sünde abzuschwören, in dem er eingesteht, dass menschliche Weisheit ihre Grenzen hat und die Gebote Gottes eingehalten werden müssen.63 Des Weiteren ist Salomo der Erbauer des Tempels des Herrn. Selbst König David blieb diese Aufgabe verwehrt (2 Sam 7,5–16).64 Stattdessen erwählt Gott ausdrücklich Davids Sohn zum Erbauer seines Tempels (2 Sam 7,12– 13).65 Angesichts der großen rabbinischen Ehrfurcht vor dem Tempel wurzelt die Tendenz der Rabbinen, Salomo zu verteidigen, vielleicht im kognitiven Widerspruch, dass der Erbauer des heiligen Tempels auch Altäre für fremde Götter aufstellte. Womöglich spiegelt die Verteidigung Salomos auch einen allgemeinen exegetischen Wunsch wider, nämlich die Ehre der Stammväter und Könige Israels zu wahren. Schließlich zeigen sich die Rabbinen der Spätantike und des Mittelalters dazu bereit, Salomo zu kritisieren, aber nur bis zu einem gewissen Grad. So scheint es einen bewussten Versuch gegeben zu haben, einen geeigneten Weg zu finden, der Kritik an biblischen Persönlichkeiten zulässt, aber gleichzeitig weder ihre Würde noch ihren historischen Status in Frage stellt.66 62 63 64
65 66
ANSBERRY, Be Wise, 167–168; DELL, Social and Theological Context, 83; HUROVITS, Mishle, 558, 564. bSanhedrin 70b; Numeri Rabba 10,4. Das Buch Samuel gibt keinen besonderen Grund dafür an, warum David den Tempel nicht erbauen durfte. Vielmehr wird impliziert, dass Gott sich damit begnügt, im mobilen Tabernakel verehrt zu werden. Im Buch der Könige erklärt Salomo Davids Unvermögen, den Tempel zu bauen, damit, dass es ihm schlicht an Möglichkeiten mangelte, da David zu sehr mit der Kriegführung beschäftigt war (1 Kön 5,17). Allein die späteren Chronikbücher legen nahe, dass David der Bau des Tempels deshalb verwehrt wurde, weil er zu viel Blut vergossen hatte (1 Chr 22,7–10). Salomo wird namentlich nicht genannt, trotzdem verweist der Text implizit auf ihn als ultimativen Erbauer. Amos FRISCH, „The Sins of the Patriarchs as Viewed by Traditional Jewish Exegesis“, Jewish Studies Quarterly 10/3 (2003): 259, 273.
Eschet Chajil
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Während Salomos große Weisheit und sein Status als Erbauer des Tempels die Tendenz erklären mag, den Schweregrad von Salomos Übertretungen herunterzuspielen, erklärt dies nicht, warum die Autoren des Midrasch und die mittelalterlichen Rabbinen es verabsäumt haben, Eschet Chajil genau im Lichte dieser Sünden zu interpretieren. Im Übrigen scheint die midraschische Literatur weniger als die mittelalterliche Exegese Probleme damit zu haben, Salomo zu kritisieren. Die mittelalterlichen Kommentatoren begnügten sich damit, die Midraschim zu rezipieren, waren aber nicht dazu bereit, ihre Kritik über das hinaus zu erweitern, was sie bereits im Midrasch vorfanden. Sie lasen Eschet Chajil nicht als Ermahnung Salomos aufgrund seines zügellosen Verhaltens gegenüber Frauen, obwohl es gerade sein Versagen in Bezug auf Frauen war, das ihn zur Sünde verführte. Stattdessen erscheint es logischer, dass sie das Gedicht als ein Loblied auf die ideale Frau lasen, die Tugenden verkörpert, die auf ihre Gottesfurcht zurückzuführen sind, und als Polemik auf Salomos schlechte Wahl seiner Ehepartnerinnen zu verstehen sind. Dennoch äußern sie ihre Bedenken. Diese Tendenz, Übertretungen Salomos herunterzuspielen oder sie zumindest zu entschärfen, tritt in der Kommentarliteratur zum Buch der Könige noch viel deutlicher zu Tage. Viele der Kommentatoren zögern dabei, die Möglichkeit einzuräumen, dass Salomo selbst fremde Götzen angebetet haben könnte. So setzt uns Raschi darüber in Kenntnis, dass der Text zwar Solomon für den Götzendienst verantwortlich macht, aber nicht, weil er persönlich daran beteiligt war, sondern, weil er seinen Frauen erlaubt hatte, Götzen anzubeten.67 David Kimchi und Ralbag folgen diesem Beispiel.68 Diese Entschärfung sollte allerdings nicht mit einer Entschuldigung verwechselt werden. Ralbag räumt ein, dass die Ermöglichung oder gar die Ermutigung zur Sünde gleichbedeutend ist mit der persönlichen Begehung jener Sünde.69 Dieser exegetische Schachzug Raschis, David Kimchis und Ralbags stellt jedoch keinen Versuch dar, Salomo von seiner Schuld zu befreien. Er spiegelt vielmehr ein erhebliches Unbehagen bei dem Gedanken wider, dass Salomo persönlich an der Götzenverehrung teilgenommen hätte. Ralbag gibt einen Grund für dieses Unbehagen an: Er stellt fest, dass Salomo „den gesegneten Namen mehr als jede andere Person verstanden hat, wie dies jene Bücher bezeugen, die er durch göttliche Inspiration verfasst hat, und außerdem erschien ihm der gesegnete Name gleich zweimal. Und somit erscheint es sinnlos, dass ein Mann wie dieser tatsächlich Götzen anbetete.“70 Man beachte, dass Ralbag per se nicht auf Salomos berühmte Weisheit Bezug nimmt, sondern vielmehr auf seine Beziehung zu Gott. Nicht nur wird Salomo
67 68 69 70
Raschi, 1 Kön 11,7. David Kimchi, 1 Kön 11,1.4–8; Ralbag, 1 Kön 11,4. Ralbag, 1 Kön 11,4. Ralbag, 1 Kön 11,4.
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seine Weisheit von Gott persönlich verliehen (1 Kön 3,5–12),71 sondern die Art von Salomos Weisheit, die sich von der anderer Menschen unterschied, beruhte auf seiner Kenntnis des Göttlichen. Somit machen Salomos direkte Beziehung zu Gott und seine prophetische Erfahrung des Göttlichen, seine Anfälligkeit für Götzendienst schlicht unvorstellbar. Angenommen Ralbag spräche auch für die anderen Exegeten des Mittelalters, würde dies möglicherweise auch ihr Zögern erklären, Salomo offen zu kritisieren. Sie stimmen darüber ein, dass es Salomos Frauen waren, die ihn zur Sünde verführten. Daher verstehen sie die Verse 31,1–9 der Sprüche als eine Art Bestätigung für Batsebas Tadel. Genauso lesen sie auch die Verse 30,1–4 als eine Art Eingeständnis seiner Schuld und Torheit. Somit sehen die mittelalterlichen Ausleger in Anlehnung an die midraschische Tradition in Salomo einen Menschen, der seine Sünden bereut und Teschuva macht, d.h. umkehrt. Von daher hat Salomo für seine Sünden gesühnt, und es besteht keine Notwendigkeit, ihn für weitere Übertretungen zu züchtigen. Anstatt das Eschet Chajil als einen willkommenen Anlass zu interpretieren, Salomos sexuelle Eskapaden zu kritisieren, verstanden die Rabbinen das Gedicht möglicherweise als einen Beweis für seine Reue. Da die Rabbinen davon ausgingen, Salomo selbst hätte das Gedicht geschrieben, dient die Huldigung einer einzigen, idealen, fleißigen und gottesfürchtigen Frau als eine Art Antithese zu seinen zahlreichen, sündigenden, trägen und Götzen verehrenden Frauen. In diesem Sinne fungiert das Eschet Chajil als Salomons Bekenntnis zur Sünde und als Anerkennung des Ursprungs dieser Sünde. Vielleicht verzichten die Rabbinen deshalb darauf, Salomo mit Hilfe des Eschet Chajil zu kritisieren, weil er ihnen bereits selbst zuvorgekommen war.
71
Offenbar muss Salomo schon ziemlich weise gewesen sein, um gerade Weisheit zu erbitten, als Gott ihn fragte, was er ihm geben sollte.
Repräsentationen biblischer Frauen in den Schriften der Chasside Aschkenas Judith R. Baskin University of Oregon
In diesem Beitrag untersuche ich Repräsentation und Personifizierung biblischer Frauen in den Schriften der mittelalterlichen Chasside Aschkenas (deutsch-jüdische Pietisten), die mit Juda he-Chassid in Verbindung stehen. Ich beginne mit der Vorstellung des Kontexts jener Schreibergruppe, ihrem wichtigsten ethischen Werk, dem Sefer Chassidim (Buch der Frommen) und ihrer Einstellung gegenüber Frauen, die sich im Text und in verwandten Schriften finden lassen. In einem zweiten Teil erläutere ich die Art und Weise, wie die Autoren des Sefer Chassidim bestimmte biblische Frauen und weibliche Personifizierungen darstellen. Im letzten Abschnitt gehe ich auf die ausführliche Auslegung der „starken Frau“ von Spr 31,10– 31 durch R. Eleazar ben Juda von Worms ein.
1.
Die Chasside Aschkenas
Der Terminus Chasside Aschkenas (deutsch-jüdische Pietisten/Fromme) bezieht sich auf verschiedene Zirkel von Pietisten und Mystikern, die hauptsächlich im Rheinland in der Zeit von der Mitte des 12. bis ins 13. Jh. hinein aktiv waren. Ungeachtet ihrer kleinen Zahl hatte die stark nach innen gerichtete und auf Buße bezogene religiöse Überzeugung der Chasside Aschkenas einen wichtigen und anhaltenden Einfluss auf das europäische Judentum. Der einflussreichste Zweig der Chasside Aschkenas, und damit die Gruppe, auf die sich dieser Beitrag hauptsächlich bezieht, stammte von der prominenten Rabbiner-Familie Kalonymus ab, die ursprünglich aus Lucca kam und sich später im Rheinland ansiedelte. Ihr Begründer, R. Samuel ben Kalonymus von Speyer (gest. 1115), wurde mit den Beinamen he-Chassid (der Fromme), ha-Qadosch (der Heilige), und ha-Navi (der Prophet) bedacht. Samuel gab die Führerschaft der Gruppe an R. Juda he-Chassid (1140–1217) ab und ihm folgte sein Schüler und Verwandter R. Eleazar ben Juda (ben Kalonymus) von Worms (ca. 1165 – ca. 1238; auch Roqeach genannt) nach. Eleazar war der bedeutendste Schreiber des Zirkels und der Autor des halakhischen
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Werkes Sefer Rokeach (Buch des Apothekers) sowie zahlreicher esoterischer Texte.1 Das Sefer Chassidim wird traditionell R. Juda zugeschrieben, aber es ist wahrscheinlich, dass auch R. Samuel bin Kalonymus he-Chassid und R. Eleazar – der das Buch vermutlich herausgab – als Mitautoren wirkten. Das Buch besteht aus mehr als 1000 Perikopen und enthält eine Fülle von Themen. Das Sefer Chassidim spiegelt die angespannte geistige Atmosphäre als Folge der Verwüstungen der rheinländischen Gemeinden im Ersten Kreuzzug 1096 wider. Man kann wohl sagen, dass das Sefer Chassidim eine post-traumatische Bundestheologie entwickelte, welche die Gewalthandlungen der Kreuzfahrer als eine Form der verdienten göttlichen Bestrafung interpretierte. Mit einem Gefühl der Schuld beladen, suchten die Chasside Aschkenas nach Vergebung der Sünden, von denen sie sicher waren, dass sie dafür einen Preis zu zahlen hatten, auch wenn diese nicht immer klar vor Augen lagen. Dieses Bewusstsein der Schuldhaftigkeit liegt dem gesamten Sefer Chassidim zugrunde, der davon handelt, Übertretungen des Geistes und des Körpers gleichermaßen zu meiden und es bietet eine Reihe von Sühnehandlungen für den Fall an, dass die Versuchung den Verstand übertölpelt. Darüber hinaus bietet das Sefer Chassidim Einblick in eine Fülle von unterschiedlichen Aspekten des täglichen Lebens von Juden im mittelalterlichen Aschkenas. Mehr noch, wir erfahren auch viel über die Einflüsse des zeitgenössischen Christentums, sowohl des offiziellen wie des Volksglaubens, nicht zuletzt über Bußübungen. Das Sefer Chassidim wurde von Männern für ein männliches Publikum geschrieben und entwickelt eine ambivalente Haltung gegenüber Frauen. 1
Zu den Zirkeln der Chasside Aschkenas vgl. Joseph DAN, Jewish Mysticism and Jewish Ethics (Seattle: University of Washington Press, 1986); Ephraim KANARFOGEL, „R. Judah he-Hasid and the Rabbinic Scholars of Regensburg: Interactions, Influences and Implications“, Jewish Quarterly Review 96 (2006): 17–37; Ivan G. MARCUS, Piety and Society: The Jewish Pietists of Medieval Germany (Leiden: Brill, 1981); Haym SOLOVEITCHIK, „Three Themes in the Sefer Hasidim“, Association for Jewish Studies Review 1 (1976): 311–57; und Kenneth R. STOW, Alienated Minority: The Jews of Medieval Latin Europe (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1992), 121–134. Zur Komposition und dem literarischen Kontext des Sefer Chassidim vgl. Ivan G. MARCUS, “Sefer Hasidim” and the Ashkenazic Book in Medieval Europe (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2018). Zitate aus dem Sefer Chassidim stammen aus Sefer Hasidim (hg. v. Judah WISTINETZKI, mit einer Einleitung von Jacob Freimann; Frankfurt am Main: M. A. Ṿahrmann, 1924), das auf der aschkenasischen Handschrift von 1300 basiert, die sich nun in Parma befindet (im Folgenden SHP); und Sefer Hasidim (hg. v. Reuven MARGOLIOT; Jerusalem: Mossad Ha-Rav Kook, 1957), eine Ausgabe der zweiten Druckversion (1580) eines Manuskripts, das sich nun in Bologna befindet (im Folgenden SHB). Die Princeton University Sefer Hasidim Database (PUSHD) ist eine elektronische Datenbank, die alle bekannten Handschriften und Druckausgaben des Werks berücksichtigt (https://etc.princeton. edu/sefer_hasidim/index.php).
Chasside Aschkenas
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Man spürt das Unbehagen gegenüber Frauen auch in der Darstellung der biblischen Charaktere. Die Autoren sehen sich einer Welt von körperlichen Versuchungen und menschlichen Heucheleien gegenüber. Man zieht das Martyrium dem leisen Tod vor (SHB §222).2 Es verwundert nicht, dass sein Werk, das so sehr mit den Versuchungen der männlichen Lust beschäftigt ist, ein Bild von Frauen allgemein konstruiert, welches diese als makelhafte Wesen zeichnet, zugänglich für eine breite Palette an Indiskretionen, obwohl die eigenen weiblichen Familienmitglieder in den höchsten Tönen als begüterte und tadellose Frauen beschrieben werden. Tatsächlich scheinen einzelne der Frauen in den pietistischen Zirkeln im Sefer Chassidim und verwandten Texten als Personen auf, die ihre Männer an Rechtschaffenheit übertreffen. Dazu gehört etwa Dolce, die Frau des R. Eleazar, die nicht nur eine herausragende religiöse Rolle als Leiterin des weiblichen Gebetes in der Synagoge spielte, sondern auch ökonomisch den Haushalt führte und damit dem Ehemann das Studium ermöglichte.3 So erweisen sich die Autoren des Sefer Chassidim als ambivalent: Auf der einen Seite finden sie, dass Frauen nur aufgrund ihres Geschlechts das Potential besitzen (möglicherweise sogar ungewollt), Männer zur Sünde oder zu sündigen Gedanken zu verführen und sie von ihrem alleinigen Fokus auf den Dienst Gottes abzubringen. Deshalb empfiehlt das Sefer Chassidim sehr beschränkten sozialen Kontakt mit Frauen, selbst mit der eigenen Frau: Jeden, der in Buße umkehren und einen Status der Frömmigkeit erlangen möchte … lass ihn … auf Konversation mit der Frau verzichten, ausgenommen während des Geschlechtsverkehrs … und lass dies nicht zu einer Bürde für ihn werden aus Liebe zu seinem Schöpfer.4
Dennoch kann auch eine zu große Distanz von der Ehefrau zur Sünde führen. Gute eheliche Beziehungen fungieren als Zaun gegen potentielle anderweitige sexuelle Versuchungen. R. Eleazar empfiehlt: „Man soll vermeiden, andere Frauen anzuschauen und sexuelle Beziehungen mit der eigenen Frau mit der höchsten Leidenschaft haben, weil sie ihn von der Sünde fernhält“ und „weil sie sein intimer Partner ist, soll er Zuneigung und Liebe ihr gegenüber ausdrücken.“5 Auf ähnliche Weise rät 2
3 4
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Mehr dazu bei Judith R. BASKIN, „From Separation to Displacement: The Problem of Women In Sefer Hasidim“, Association for Jewish Studies Review 19/1 (1994): 1–18; und DIES., „Women and Sexual Ambivalence in Sefer Hasidim“, Jewish Quarterly Review 96 (2006): 1–8. Zu Frauen, die ihre Männer an Wohltätigkeit übertrafen vgl. SHP §§669, 670 und 1715; SHB §§872, 873. SHB §29; auch SHP §§984, 989. Die Empfehlung, dass ein Mann nur während des Geschlechtsverkehrs mit seiner Frau reden sollte, basiert auf dem babylonischen Talmud bChagiga 5b. Eleazar BEN JUDAH VON WORMS, Sefer ha-Rokeach ha-Gadol (Jerusalem, 1968), Hilkhot Teschuva, Nr. 20, S. 30, und Nr. 14, S. 27; beide ins Englische übersetzt
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das Sefer Chassidim, dass Zeit und Anstrengung dem Aufbau einer positiven und schöpferischen sexuellen Beziehung innerhalb der Ehe gewidmet werden sollen, damit der Ehemann sich nicht anderen Frauen zuwendet.6 Aber auch in der Ehe als erlaubtem Ort der Sexualität gibt es Grenzen. Obwohl das Sefer Chassidim großen Wert auf gelingende eheliche Beziehungen als Barriere gegen potentielle außereheliche Partnerinnen legt, sollte nach den Chasside Aschkenas die Liebe zu einer Frau immer zweitrangig hinter dem mystischen Verlangen gegenüber Gott rangieren. Da es für einen jüdischen Mann nicht möglich war, unehelich zu leben, versuchen die Pietisten die sexuelle Energie spirituell auf das Göttliche hin zu kanalisieren.7 Dies wurde durch pietistische Traditionen in der jüdischen Geschichte befördert, wo man sich bemühte, menschliche Sexualität in erotische Theologie zu transformieren. In der folgenden Passage wird diese Dichotomie als eigentlicher Zweck der ehelichen Sexualität zum Ausdruck gebracht: Die Wurzel der Gottesliebe ist Gott mit seinem ganzen Herzen zu lieben (Dtn 6,5). Unser Schöpfer befahl uns Ihm mit Hingabe zu dienen, damit die Liebe unserer Seele mit Seiner Seele in Freude und mit Seiner Liebe und einem guten Herzen verbunden sei. Und die Freude seiner Liebe ist von solcher Intensität und überwältigt das Herz derer, die Gott lieben, dass sogar noch nach vielen Tagen, an denen einer nicht mit seiner Frau zusammen war und großes Verlangen nach ihr verspürt, er in dem Moment, wo er ejakuliert, es nicht so befriedigend empfindet wie die Intensität und Kraft der Gottesfurcht und die Freude an seinem Schöpfer…8
Gewiss, aus der Perspektive des rabbinischen Judentums betrachtet, in dem sehr genau wahrgenommen wurde, welches Potential in der menschlichen Sexualität liegt, Unordnung in die Gesellschaft zu bringen, wenn sie nicht kontrolliert wird, ist es nicht abwegig, den Kontakt zu Frauen zu vermeiden. Im patriarchalen rabbinischen System repräsentieren die Frauen das grundlegend Andere gegenüber den Männern und konstituieren eine eigene Kategorie eines menschlichen Geschöpfs. Ihre Aktivitäten sollen sich idealerweise auf die private Sphäre um Mann, Kinder und Familie be-
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in David BIALE, Eros and the Jews: From Biblical Israel to Contemporary America (New York: BasicBooks, 1992), 78. SHB §509, setzt sich für eine Position beim Geschlechtsverkehr ein, in welcher der Mann oben ist, wenn Nachkommen gewünscht werden, da dies der Frau angenehm sei (wenn sie vor ihm einen Orgasmus bekommt, wird sie einen Sohn gebären), aber andernorts wird ihm erlaubt, auch andere Stellungen auszuprobieren, um Fantasien über fremde Frauen abzuwehren. Wie Yitzhak BAER in „The Religious and Social Tendency of Sefer Hasidim“ (hebr.), Zion 3 (1937–1938): 12, schrieb, soll der „jüdische mystische Asket niemals über einen bestimmten Punkt der Selbstverleugnung aufgrund rechtlicher Verbote hinausgehen.“ SHB §14.
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schränken, wo die Wahrscheinlichkeit, in unerlaubte sexuelle Beziehungen zu geraten, sehr gering ist.9 Die Chasside Aschkenas setzen diese Tradition fort und stellen weitere Hindernisse in Bezug auf die Begegnung von Mann und Frau auf, eine Begegnung übrigens, die in ihrem städtischen Milieu, in dem Frauen eine weitaus größere und unabhängigere ökonomische Rolle außerhalb des Hauses spielten als in dem von den rabbinischen Schriften reflektierten spätantiken Umfeld.10 Dennoch, auch wenn der Sefer Chassidim wenig Neues bietet, was die Einstellung zu Frauen und ihrer potentiellen Abkehr vom rechten Weg betrifft, so beschreiten die Chasside Aschkenas in ihrer Hingabe an das Göttliche neue Wege. Wie Joseph Dan schreibt: „God expects the hasid to break the laws of nature, of the human body and soul, and of human history and society“ im fast unmöglichen Bestreben, das Wunder der vollkommenen Annäherung an Gottes Wünsche zu erreichen. Durch diese intensive menschliche mystische Liebe zu Gott, die sich in erotischen Begriffen äußert, kann der Gerechte hoffen, eine engere Beziehung zu der sich offenbarenden göttlichen Herrlichkeit zu erlangen.11 Der Pietist möchte sich von den Bindungen an die materielle Welt lösen, möchte die Freuden der menschlichen Sexualität durch seine Hinwendung zu Gott ersetzen, was zum Teil mithilfe des Ersatzes und der Verdinglichung von Frauen geschieht. Mehr noch, im großen christlichen Umfeld des mittelalterlichen Aschkenas wurde diese pietistische Bemühung um Loslösung von den Frauen mit all ihren Problemen im Kontakt und Umgang intensiviert. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die mittelalterliche christliche Überzeugung von der körperlichen Natur des menschlichen Wesens, der negativen Rolle der Frau im Sündenfall, der bevorzugten Lebensweise des Zölibats für jene, die dazu spirituell in der Lage sind, eine signifikante Rolle in dem steigenden Unbehagen der Chasside Aschkenas in Bezug auf die potentiellen Gefahren, die durch das andere Geschlecht drohen, spielten.12
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Zu Frauen im rabbinischen Judentum vgl. Judith R. BASKIN, Midrashic Women: Formations of the Feminine in Rabbinic Literature (Hanover, NH: Brandeis University Press, 2002). Zu jüdischen Frauen im mittelalterlichen Aschkenas vgl. Avraham GROSSMAN, Pious and Rebellious: Jewish Women in Medieval Europe (Waltham, MA: Brandeis University Press, 2004); und Elisheva BAUMGARTEN, Mothers and Children: Jewish Family Life in Medieval Europe (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2004), und DIES., Practicing Piety in Medieval Ashkenaz: Men, Women, and Everyday Religious Observance (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2014). Joseph DAN, Jewish Mysticism and Jewish Ethics, beide Zitate 75. Zum Einfluss des Christentums auf die Juden in Aschkenas vgl. Robert CHAZAN, European Jewry and the First Crusade (Berkeley: University of California Press, 1987), 195–196; Ivan G. MARCUS, Rituals of Childhood: Jewish Acculturation in
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2.
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Biblische Frauen in den Texten der Chasside Aschkenas
Das Sefer Chassidim ist ein ethisches Handbuch, das Männer unterrichtet, wie sie in einer Welt voller Versuchungen fromm leben können. Seine moralischen Anweisungen werden durch biblische Belege und Verweise auf die rabbinische Literatur gestützt. Überraschenderweise bezieht man sich nur gelegentlich auf biblische Figuren, männliche wie weibliche, als Vor- bzw. Negativbilder. Während die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob natürlich immer idealtypische Beispiele für Frömmigkeit darstellen, fallen andere negativ auf, besonders dort, wo man nach biblischen Belegen für Menschen sucht, die entgegen ihren anderen vorbildlichen Qualitäten der sexuellen Versuchung nachgegeben haben. So erinnert eine didaktische Perikope im Sefer Chassidim daran, dass Samson der stärkste aller Männer, David der frömmste und Salomo der weiseste war und alle trotzdem durch ihre Beziehungen zu Frauen strauchelten. Die Schrift dient als Beleg dafür, um davor zu warnen, welche Folgen die Liebe zu einer Frau haben kann. … die Geschichte von David und Batseba lehrt uns, dass der frömmste der Männer, obwohl seine Handlungen ganz im Dienste des Himmels waren, er dennoch strauchelte, als er eine Frau sah. [Dies geschah], als er bereits alt war; um wieviel mehr muss ein junger Mann achtsam sein und keine Frauen ansehen und sich von Frauen fernhalten.13
Die Geschichte Samsons dient als zusätzliche Lektion, dass ein Mensch seine Geheimnisse keiner Frau ofenbaren soll, wie Samson, der tapferste aller Männer seine Geheimnisse nicht an Delila verraten hätte sollen, um nicht zu straucheln. Die Perikope enthält auch eine Polemik gegen die Mischehe, was in der Literatur der Chasside Aschkenas nicht selten ist. Hier wird sie am Beispiel von Samson und Salomo abgearbeitet. Der Belegtext ist Dtn 7,3: „Du sollst dich nicht mit ihnen verheiraten“ (Dtn 7,3). Danach heißt es: „Wenn der König [Salomo], der Weiseste der Weisen, deshalb strauchelte und fremde Frauen sein Herz in Besitz nahmen“, um wieviel mehr ist der einfache Mensch in Gefahr. Die Episode um Samson verweist auch auf Salomos Warnung, sich von fremden Frauen fernzuhalten (vgl. Spr 2,16; 5,20; 6,24 etc). Eine andere Passage im Sefer Chassidim behandelt ebenso die Schwäche Davids für Frauen, wie es heißt: „Auch wenn du eine große Prüfung bestanden hast, so kannst du bis zu deinem Todestag nicht von dir
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Medieval Europe (New Haven: Yale University Press, 1998); und STOW, Alienated Minority, 129–131. SHB §619.
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überzeugt sein … David hat mit Abigajil nicht gesündigt, aber er hat mit Batseba gesündigt.“14 Tatsächlich bestätigen die biblischen Quellen und die rabbinischen Auslegungen – u.a. bMegilla 14b –, dass David bereits sexuelles Interesse an Abigajil vor dem Tod ihres Mannes hegte. Von diesem Umstand her müsste nach den Vorstellungen der Chasside Aschkenas David schuldig sein, da er eine Konversation mit einer verheirateten Frau führte. Nach bMegilla 14b war es tatsächlich Abigajil, die David aufforderte, seine Begierde für einen späteren Zeitpunkt aufzusparen, wie es heißt: „dann soll dir das nicht zum Stolperstein werden (lo tihje zot lekha lefuqa) und dein Gewissen soll meinem Herrn nicht vorwerfen können, dass du ohne Grund Blut vergossen hast und dass sich mein Herr selbst geholfen hat. Wenn der HERR aber meinem Herrn Gutes erweist, dann denk an deine Magd!“ (1 Sam 25,31). Die Rabbinen erläutern: „Das Wort das/zot impliziert, dass etwas anderes ein Stolperstein war, und was war es? Die Sache mit Batseba, und so war es auch.“ Aufgrund dieses Vorwissens zählen die Rabbinen Abigajil unter die sieben Prophetinnen (bMegilla 14a). SHB §161 entschuldigt David von einem Fehlverhalten mit Abigajil, da er sich einer verbotenen sexuellen Annäherung vor der Ehe enthalten hat, aber er wird in der Folge für schuldig befunden, Ehebruch mit Batseba begangen und den Tod ihres Mannes verursacht zu haben (2 Sam 11). Obwohl die biblischen Passagen keinen Zweifel daran lassen, dass Abigajil ihr Haus schützen wollte, als sie mit David sprach und dass Batseba den König nicht verführen wollte, werden beide Frauen als Objekte der Begierde konstruiert und als potentielle Versucherinnen zur Sünde, obwohl diese Sünde im Fall der Abigajil nicht vollzogen wird.15 Darüber hinaus liegt der Fokus auf David, der sündigt und Buße tut. Diese willentliche Blindheit gegenüber der Möglichkeit, dass Frauen moralische und spirituelle Wesen sein könnten, die in der Lage wären aktiv zu handeln und auch Buße zu tun, findet sich das gesamte Sefer Chassidim hindurch. Der Abschnitt SHB §619, der sich mit der Schwäche von Samson, David und Saul beschäftigt, endet mit der positiven Darstellung einer weiblichen biblischen Figur: Die Erzählung von Rut wird erinnert, weil sie sehr bescheiden/zurückhaltend/keusch (hebr. tzanua) war und sie einen Akt der Liebe gegenüber Noomi setzte, indem sie Noomi zu Hause bleiben ließ, damit sie nicht beschämt würde, und sie sammelte die Ähren, um Noomis Wünsche zu erfüllen … und Könige und Propheten gingen aus ihr hervor.16
14 15
16
SHB §161. Weitere Hinweise auf Frauen, die Männer zur Sünde verleiten, finden sich in SHP §15 und bei Eleazar VON WORMS, Sefer ha-Rokeach, Hilkhot Teschuva, Nr. 1. Vgl. auch MARCUS, Piety and Society, 26, 42. SHB §619.
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Diese Darstellung der Rut entspricht einem rabbinischen Trend der Exegese, Ruts positive Eigenschaften zu betonen und andere problematischere Aspekte der Geschichte – wie ihre moabitische Herkunft und ihren Zugang zu Boas auf der Tenne – zu beschönigen. Da Rut eine Vorfahrin Davids und letztlich des Messias war, macht diese Konzentration auf Qualitäten, die Männer nicht bedrohen, Sinn. Wie Tamar Meir ausführt, spricht die rabbinische Tradition von der Bescheidenheit/Keuschheit der Rut und ihr Besuch bei Boas war in Übereinstimmung mit „Noomis Instruktionen und ihre[r] Sorge für ihre Schwiegermutter“ geschehen. Meir schreibt, dass „Ruth’s modesty, coupled with her great beauty, are qualities frequently mentioned by the Rabbis in their portrayals of exemplary biblical women (Sarah, Rebecca, Tamar [Genesis 38]“, wie auch ihre Aufrichtigkeit (Rut Rabba 4,9) und ihre Liebeserweise gegenüber Noomi (Rut Rabba 2,14). Meir meint weiters, dass viele midraschische Traditionen über Rut ihren davidischen Abkömmlingen geschuldet sind. „In the words of Rut Zuta 1:1, Ruth is ‘the mother of royalty’.“17 Es ist evident, dass die Chasside Aschkenas hier einer langen Tradition folgen, wenn sie Rut vollkommen positiv darstellen. Aber warum tauchen die Erwähnungen alle im Kontext von Frauen auf, die Männer zu sexuellem Fehlverhalten verführen? Es mag sein, dass dies eine Antwort auf die Kritik an Ruts sexueller Zielstrebigkeit war, die manche vielleicht mit dem Verhalten von Figuren wie Samson, David und Salomo verglichen haben. Es kann aber auch sein, dass es sich um eine polemische Antwort auf christliche Lehren handelte, welche eine nichtjüdische Rahel als typologische Repräsentation der Kirche und ihrer Offenheit gegenüber Konvertiten jeder Art und als Vorfahrin Jesu Christi vorstellten. Die Genealogie Jesu in Mt 1,1–17 erwähnt vier Frauen mit problematischer Geschichte, darunter Tamar (Gen 38), Rahab (Jos 2; 6,25), Rut und Batseba ebenso wie ihre Nachkommen David und Salomo. Vielleicht stellt die Erwähnung Ruts, deren Handlungen immer von Keuschheit, Liebe und frommen Absichten geprägt waren, eine Antwort auf diese Traditionen dar, wie auch einen Ausdruck der bevorzugten Vorstellung einer frommen Frau als bescheiden und zurückhaltend. Das Sefer Chassidim verweist auch auf Batseba in einem Paragraphen, in dem David seine Schuld am Ehebruch und den Tod des Urija eingesteht: „Schimi schrie und fluchte … Und weiter sagte David…Lasst ihn fluchen! Sicherlich hat es ihm der HERR geboten.“ (2 Sam 16,7–11). [David sagte damit]: Wenn ich nicht gesündigt hätte, hätte Amnon nicht seine Schwester Tamar
17
Tamar MEIR, „Ruth: Midrash and Aggadah“, Jewish Women’s Archive Encyclopedia, http://jwa.org/encyclopedia/article/ruth-midrash-and-aggadah.
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vergewaltigt (2 Sam 13) und Abschalom hätte nicht gegen seinen Vater rebelliert und „wäre nicht zu den Nebenfrauen seines Vaters“ gegangen (2 Sam 16,22).18
Hier werden die Vergewaltigung der Tamar und die sexuelle Ausbeutung von Davids Nebenfrauen als göttliche Strafe gegen David interpretiert. Von göttlicher Gerechtigkeit überzeugt, glaubten die Chasside Aschkenas, dass die Pietisten Buße für ihre Sünden, durch die sie göttliche Strafe auf sich und die Gemeinde gezogen haben, tun müssten. Diese moralische Verantwortung für die Tragödien anderer ist ein gemeinsames Thema im Sefer Chassidim und in anderen Schriften der Chasside Aschkenas. In der Zusammenfassung von Eleazar ben Judas zweiter poetischen Elegie für seine ermordete Frau und Tochter klagt er: „Immer wieder haben mich meine Sünden heimgesucht … Der Richter, der mich richtet, ist treu; Er hat mich zerschlagen wegen meiner Übertretungen und Verbrechen.“19 Man muss darauf hinweisen, dass die Frauen in diesen Erzählungen nicht als moralisch verantwortliche Subjekte geschildert werden, sondern als Objekte, durch welche die Männer ihrer Strafe zugeführt werden können. Das Sefer Chassidim stellt manchmal bestimmte biblische Frauen als bemakelt dar, um ethische und didaktische Anmerkungen über die Konsequenzen auch kleinerer Übertretungen zu machen, wie im Fall der Sara: …Hieraus entnehmen wir, dass der Heilige, gepriesen sei Er, streng mit den Gerechten umgeht, haarscharf. Ein Beispiel ist Sara, die wegen Isaak log. [Sara lachte, als sie erfuhr, dass sie im Alter von 90 Jahren noch ein Kind gebären sollte, aber als sie darauf angesprochen wurde] „leugnete Sara, ‚Ich habe doch nicht gelacht‘, denn sie hatte Angst bekommen“ (Gen 18,15). Entsprechend war ihr Tod auch wegen Isaak: als sie den Bericht über die Aqeda (die Opferung Isaaks) hörte, floh ihre Seele und sie starb wegen Isaak.20
Die Tradition, wonach Sara aus Kummer starb, als sie hörte, dass Abraham ihren Sohn Isaak auf den Berg Moria gebracht hatte, um ihn dort Gott zu opfern, tritt in der rabbinischen Literatur u.a. in Genesis Rabba 58,5 auf, ebenso in Raschis Kommentar zu Gen 23,2. Die textliche Basis für diesen Midrasch liegt im Umstand, dass Saras Tod direkt im Anschluss an die Aqeda in Gen 23 erwähnt wird. Diese Verbindung von Aqeda und Tod der Sara regte eine Reihe von Auslegungen an, u.a. die in Pirqe deRabbi Eli‘ezer 32, wonach Samael21 den Tod der Sara bewirkte, indem er ihr erzählte, 18 19
20 21
SHB §183. Siehe BASKIN, „“Dolce of Worms”: The Lives and Deaths of an Exemplary Medieval Jewish Woman and her Daughters“, in Judaism in Practice: From the Middle Ages through the Early Modern Period (hg. v. Lawrence Fine; Princeton, NJ: Princeton University Press, 2001), 429–437; 437. SHB §102. In den rabbinischen Schriften ist Samael ein Mitglied der himmlischen Entourage,
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dass Isaak geopfert worden war. Mir ist aber keine rabbinische Passage bekannt, die eine Verbindung zwischen Saras verlegener Leugnung ihres Lachens in Gen 18 und ihrem Tod nach der Kunde von Isaaks Opfergang herstellt. Diese Auslegung im Sefer Chassidim stimmt vielmehr mit der Einstellung der Chasside Aschkenas überein, dass jedes Missgeschick als Folge einer göttlichen Strafe zu betrachten ist, selbst wenn es sich um eine so unzweifelhaft gerechte Person wie Sara handelt. Eine andere Passage, in der biblische Frauen vorkommen, beginnt mit der Prämisse, dass Frauen für die Sünde der Männer verantwortlich zu machen sind. Mehr noch, in diesem Fall tritt der Autor gegen die in der rabbinischen Literatur vorkommende Annahme auf, dass Frauen auch für die Gerechtigkeit der Männer verantwortlich sein können. Der folgende Abschnitt dagegen orientiert sich an einer biblischen Frau, um die weiblichen Laster und Tugenden zu illustrieren: … Es ist allgemein akzeptiert, dass ein Mann von seiner Frau beeinflusst wird, wie wir es über Ahab hören: „Es gab in der Tat niemand, der sich wie Ahab hergab zu tun, was böse war in den Augen des HERRN, da seine Frau Isebel ihn verführte“ (1 Kön 21,25). Es ereignete sich, dass ein gewisser frommer Mann eine fromme Frau heiratete, aber sich später von ihr schied. Er ging und heiratete eine böse Frau, eine Tochter des Frevels [Belial], und seine frühere Frau heiratete einen vollkommen bösen Mann. Der fromme Mann kehrte um von seinen früheren Wegen und wurde durch den Ratschluss der bösen Frau verwandelt. Der böse Mann hingegen kehrte von seiner Bosheit um und wurde ein vollkommen frommer Mann aufgrund seiner Frau.22
Diese Anekdote hat ihren Ursprung in Genesis Rabba 17,7, wo sie sich auf ein unfruchtbares Paar bezieht, das sich nach zehn Jahren der Halakha entsprechend trennt.23 Die Geschichte ist Teil einer Tradition, die sich mit der Vorschrift unwohl fühlt, dass Männer sich obligatorisch von ihren Frauen scheiden müssen, wenn sie nach zehn Jahren keine Kinder haben. Hier wird der Mann durch die nächste Ehe mit einer bösen Frau selber böse, während die fromme Frau ihren bösen Mann in einen guten Menschen verwandelt. Die Anekdote endet mit einer impliziten Warnung vor einer Trennung gut gehender Beziehungen aufgrund von Unfruchtbarkeit und lobt die weiblichen Tugenden: „Daraus [lernen wir]: alles hängt an den Frauen.“ Der weitere Kontext, auf den sich das Sefer Chassidim bezieht, stammt aus bBaba Metsi‘a 59a, einer Sugija, die sich mit der Bedeutung der Vor-
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der als Versucher oder Widersacher auftritt. Im Mittelalter wird er wie in Pirqe deRabbi Eli‘ezer zu einer dämonischen Macht des Bösen. SHB §135. Zu rabbinischen Einstellungen zur Unfruchtbarkeit vgl. BASKIN, Midrashic Women, 119–140.
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schrift beschäftigt, einen anderen Menschen nicht zu beschämen. Die relevante Passage beginnt mit: „Rav sagte auch: Wer dem Rat seiner Frau folgt, kommt in die Hölle, wie geschrieben steht: ‚Es gab in der Tat niemand, der sich wie Ahab hergab zu tun, was böse war in den Augen des HERRN, da seine Frau Isebel ihn verführte‘ (1 Kön 21,25).“ Die Passage in bBaba Metsi‘a zitiert nicht die Anekdote aus Genesis Rabba. Vielmehr geht man direkt zur Frage über, ob Ravs Stellungnahme korrekt sein kann, oder ob ein weiblicher Einfluss auf den Mann auch von Vorteil sein kann: „R. Papa wandte ein …, aber das Volk sagt: Wenn deine Frau klein ist, neige dich herab und höre ihr Flüstern!“ Die Rabbinen stimmen darüber überein, dass es sich bei den beiden Standpunkten nicht um Widersprüche handelt: Rav beziehe sich auf öffentliche Angelegenheiten, R. Papa hingegen auf häusliche Belange. Oder, nach einer anderen Meinung: „Das erste bezieht sich auf mitzvot (religiöse Gebote), das andere auf weltliche Dinge (divre ha-olam).“ Damit endet die rabbinische Diskussion zu dieser Angelegenheit. SHB §135 wiederholt diese Tradition und setzt mit einem Midrasch über Sara fort: Wenn es um die Ausübung einer mitzva geht, sollte sich ein gottesfürchtiger Mann nicht von seiner Frau beraten lassen, da sie in Bezug auf die Gastfreundschaft geizen, auch wenn sie gottesfürchtig sind. Gibt es jemanden, der gottesfürchtiger als unsere Mutter Sara war? Trotzdem, als Abraham zu ihr sagte: „[Da lief Abraham eiligst ins Zelt zu Sara und rief:] Schnell drei Sea Mehl! Feinmehl! [Knete es und backe Brotfladen!]“ (Gen 18,6), nahm sie zuerst einfaches Mehl, ehe er sie aufforderte, Feinmehl zu nehmen.24 Daraus leiteten unsere Gelehrten ab, dass eine Frau auf Gäste mit einem neiderfüllteren Auge als ein Mann blickt. Aber in weltlichen Dingen (gilt), wenn deine Frau klein ist, beuge dich zu ihr herunter, wenn sie in dein Ohr flüstert.25
Diese Tradition über Sara findet sich in bBaba Metsi‘a 87a: „Die Schrift sagt [vorher] „Mehl“ und [später] „Feinmehl“. Abraham hatte ihr also klare und spezifische Anweisungen zu geben, Feinmehl zu benützen. R. Isaak sagte: Das zeigt, dass eine Frau auf Gäste mit einem neiderfüllteren Auge als ein Mann blickt.“ Das Sefer Chassidim nimmt diese Meinung auf und endet mit dem Grundsatz aus bBaba Metsi‘a 59a, dass ein Mann seine Frau in weltlichen Dingen konsultieren soll, aber nicht, wenn es um religiöse Gebote geht. Der Midrasch, in dem Sara negativ gezeichnet wird, taucht in bBaba Metsi‘a 59a nicht auf. Das Zusammenfügen beider Traditionen im Sefer Chassidim unterstreicht die Überzeugung, dass die 24 25
Abraham muss hier Sara ermahnen, feines Mehl zu nehmen. Nach der Ansicht der Rabbinen war dies notwendig, weil Sara keine großzügige Gastgeberin war. SHB §135.
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gerechtesten Frauen letztlich nicht vertrauenswürdig sind, besonders wenn es sich um ihre Überzeugungen bei religiösen Geboten handelt. Auf die Erzmutter Rebekka wird – ohne ihren Namen zu nennen – in einem didaktischen Abschnitt angespielt, in dem es um die Rechte von Frauen bei der Eheschließung geht: Es steht geschrieben [Eliezer, Abrahams Knecht sagt]: „[Jetzt aber sagt mir, ob ihr geneigt seid, meinem Herrn Huld und Treue zu erweisen.] Wenn nicht, so gebt mir ebenfalls Bescheid, damit ich mich dann anderswohin wende.“ (Gen 24,49). Dies lehrt, dass, wenn jemand eine Frau umwirbt, die ihn nicht heiraten möchte und sie [die Familie] ihm das mitteilt: Wir wollen nicht!, er seine Aufmerksamkeit sofort einer anderen Frau zuwenden soll.“26
Rahel tritt im Sefer Chassidim in einer interessanten Passage auf, in der der Mond sowohl mit der weinenden Rahel (nach Jer 31,15) als auch mit einer Frau an sich identifiziert wird: Wenn Juden gezwungen werden, zu denen zu konvertieren, die Israel hassen, verfinstert sich der Mond wie Rahel, die um ihre Kinder weint (Jer 31,14). Warum wird eine Frau mit dem Mond verglichen? Wie der Mond die Hälfte des Monats anwächst und die andere Hälfte kleiner wird, so haben auch Frauen die eine Hälfte des Monats eine starke Beziehung zu ihren Männern und sind die andere Hälfte von ihren isoliert während ihrer Menstruation. Und was kann mit der Schönheit des Mondes oder der Nacht verglichen werden? Diese ist wie eine Frau, die gerade kommt [aus der Mikwe].27
Eine Diskussion zur Bedeutung von Sonnen- und Mondfinsternissen findet sich in bSukka 29a, wo es heißt: „Wenn die Sonne sich verfinstert, ist es ein böses Omen für die ganze Welt … aber wenn sich der Mond verfinstert, ist es ein böses Omen für Israel, denn Israel gleicht dem Mond und die Götzendiener der Sonne.“ Die Verbindung von Sonne und Mond, der Finsternis und dem Weinen der Rahel in Jer 31 hat ihren Ursprung vielleicht in der folgenden Passage im selben Kapitel: „So spricht der HERR, der die Sonne bestimmt zum Licht am Tag, die Ordnungen des Mondes und der Sterne zum Licht in der Nacht, der das Meer aufwühlt, dass seine Wogen brausen – HERR der Heerscharen ist sein Name. Nur wenn dieses Gesetz vor mir ins Wanken geriete – Spruch des HERRN – , nur dann könnten Israels Nachkommen aufhören, für alle Zeit vor meinem Angesicht ein Volk zu sein“ (Jer 31,35–36). Diese biblischen Verse werden so interpretiert, dass eine Finsternis ein Indikator 26
27
SHB §514; Rebekka gibt erst später ihre Zustimmung zur Hochzeit (Gen 24,58). Rebekka wird auch in SHB §336 in einer Diskussion über die Aufrechterhaltung der Harmonie zwischen Eltern zitiert, was auf ihren Worten in Gen 27,13 basiert. „Seine Mutter entgegnete: Dein Fluch komme auf mich, mein Sohn.“ SHB §1148.
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kommender kosmischer Unordnung und der Auflösung des göttlichen Bundes mit Israel ist. Die erzwungene Loslösung von der jüdischen Gemeinde löst somit den Bund mit Gott: es ist, als würde sich der Mond verfinstern und Rahel um ihre ungeborenen Kinder weinen. Der Vergleich von Frauen mit dem Mond in SHB §1148 ist ein allgemeines kulturelles Phänomen, da sich der weibliche Zyklus und die Mondphasen an einem 28-Tage-Rhythmus orientieren. In einigen mittelalterlichen jüdischen Gemeinden arbeiteten Frauen im Neumondtag, der auch den Monatsbeginn anzeigt, nicht. Nach Pirqe deRabbi Eli‘ezer 45 hat Gott die Frauen mit speziellen Privilegien ausgestattet, weil sie sich geweigert hatten, ihren Schmuck für das Goldene Kalb zur Verfügung zu stellen, und in der kommenden Welt „werden Frauen sich einst erneuern wie die Monatsanfänge.“ Das Sefer Chassidim §1148 bezieht sich auf Rahel und die Mondfinsternis, wenn er über jene Zeit des Monates diskutiert, in der sich Männer und Frauen aufgrund der Menstruation voneinander fernhalten müssen. Das rabbinische Judentum verstand die Befolgung der Menstruationsgebote (hilkhot nidda) durch Frauen als grundlegend, um Männern ihre Verpflichtung, sich von ihren Frauen im Status der rituellen Unreinheit fernzuhalten, überhaupt zu ermöglichen.28 Die korrekte Observanz der hilkhot nidda war ein wichtiges Anliegen der Chasside Aschkenas, und deshalb betonten sie die Bedeutung der Unterweisung von Frauen in dieser Angelegenheit. Gleichzeitig war auch die Aufrechterhaltung der ehelichen Harmonie durch Sexualität fundamental. Dokumente, die mit den Chasside Aschkenas verbunden sind, betonen daher, dass jede Verzögerung durch Frauen, sich zwecks ritueller Reinigung nach der Menstruation in die Mikwe zu begeben, als frustrierend für Männer erachtet wurde und zu sündhaften Gedanken oder sogar unerlaubten sexuellen Aktivitäten bei diesen führen konnten. Die Sorge um eine schnelle Vereinigung, die der rituellen Reinigung folgt, wird am Ende des Abschnittes thematisiert. Hier werden die Frauen erneut als Objekte gesehen, die Sünde bei Männern provozieren. Befriedigende Sexualität in der Ehe wird als einziges wirksames Gegenmittel betrachtet. Dieser gesamte Abschnitt schließt mit der Projektion männlicher Sehnsüchte und Erwartungen an den weiblichen Körper.
28
Vgl. Judith R. BASKIN, „Women and Ritual Immersion in Medieval Ashkenaz: The Sexual Politics of Piety“, in Judaism in Practice: From the Middle Ages through the Early Modern Period (hg. v. Lawrence Fine; Princeton, NJ: Princeton University Press, 2001), 131–142; und DIES., „Male Piety, Female Bodies: Men, Women, and Ritual Immersion in Medieval Ashkenaz“, Studies in Medieval Halakhah. Journal of Jewish Law 17 (2007): 11–30.
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2.1
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Die „tüchtige Frau“
Ein langer Abschnitt im Sefer Chassidim diskutiert verschiedene Formen der Gottesfurcht. Diese werden mit den 18 Makeln in Verbindung gebracht, die ein Vieh unrein (trefa) machen, wie sie in bChullin 42a aufgezählt sind, den „18 Formen des Körpers, von denen Leben abhängt“, sowie den 18 Benediktionen des stillen Gebetes. Die Passage beginnt mit den 15 biblischen Versen, in denen der Begriff der Gottesfurcht auftritt. Der letzte zitierte Vers ist Spr 31,30, wo es heißt: „Trügerisch ist Anmut, vergänglich die Schönheit, eine Frau, die den HERRN fürchtet, sie allein soll man rühmen.“29 Spr 31,10–31 beschreibt die eschet chajil, oft als „tüchtige Frau“ bzw. „wertvolle Frau“ übersetzt. Diese poetische Passage porträtiert eine Frau, die all ihre familiären Belange meistert, ihre Mutterpflicht, die ökonomischen und philanthropischen Belange. Durch ihr exzellentes Management ist ihr Ehemann „in den Torhallen geachtet, wenn er zu Rat sitzt mit den Ältesten des Landes“ (Spr 31,23). Ihr Mann vertraut ihr vollkommen und es heißt: „Gebt ihr vom Ertrag ihrer Hände, denn im Stadttor rühmen sie ihre Werke!“ (Spr 30,31). In der mittelalterlichen jüdischen Literatur gilt sie oft als Beispiel der idealen Ehefrau und diese biblische Passage bildet die Grundlage eines Dokuments, das Eleazar ben Juda von Worms irgendwann nach der Ermordung seiner Frau Dolce und ihrer beiden Töchter, Bellette und Hanna, im Jahr 1197 geschrieben hat. Diese Schriften bestehen aus einer Prosa-Beschreibung der Attacke auf die Familie und zwei poetischen Elegien. Eleazars Beschreibung der Fülle der Leistungen der „heiligen Frau Dolce“, die ihre Familie durch ihre vielen Aktivitäten stützte, und ihrer Töchter, sind bedeutende Quellen unserer Kenntnis der Aktivitäten mittelalterlicher jüdischer Frauen.30 Die Beinamen, die Eleazar in diesen Dokumenten verwendet, um seine Frau zu beschreiben, enthalten „Fromme“ bzw. „Heilige“ (chassida), Gottesfürchtige (jirat schammajim) und „Gerechte“ (tzadeqet). Sie erzählen uns viel über die Qualitäten, für die Frauen in den pietistischen Zirkeln geehrt werden. Eleazar benützt auch den hebräischen Begriff „ne‘ima” (angenehm/reizend) viermal in der ersten Elegie, womit er auf den Namen der Dolce anspielt.31 29 30
31
SHB §158. Zu Dolces Leben und Eleazars Poesie vgl. BASKIN, „Dolce of Worms“; und DIES., „Women Saints in Judaism: Dolce of Worms“, in Women Saints in World Religions (hg. v. Arvind Sharma; Albany: State University of New York Press, 2000), 39– 69; Elisheva BAUMGARTEN, „Gender and Daily Life in Jewish Communities“, in Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe (hg. v. Judith Bennett und Ruth Mazo Karras; Oxford: Oxford University Press, 2013), 213–228 (im vorliegenden Band in deutscher Übersetzung); Ivan G. MARCUS, „Mothers, Martyrs, and Moneymakers: Some Jewish Women in Medieval Europe“, Conservative Judaism 38/3 (1986): 34–45. „Dolce“, auch Dulcia, Dulzia, und Dulcie, stammt aus dem Lateinischen und
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Im ersten der poetischen Klagen bringt er eine Exegese der biblischen eschet chajil, die beschworen wird, um Dolces verschiedene Tugenden und Leistungen zu preisen. Dieser Text ist in Reimpaardichtung geschrieben und kann hier nicht in der Übersetzung wiedergegeben werden. Spr 31,10– 31 ist ein alphabetisches Akrostichon; das erste Wort jedes Verses beginnt mit einem Buchstaben des hebräischen Alphabets in entsprechender Reihenfolge. In Eleazars Elegie beginnen viele der Reimpaare mit den ersten Wörtern des entsprechenden Verses im Sprüchebuch, und auch dort, wo dies nicht der Fall ist, beginnt der erste Buchstabe des jeweiligen Reimes mit dem passenden Buchstaben des Alphabets. Auf diese Weise behält das Gedicht die alphabetischen Muster des Originals. Gleichwohl fügt Eleazar noch ein zusätzliches akrostichisches Element hinzu: der erste Buchstabe des ersten Wortes der zweiten Zeile jedes Reimpaars spricht von Eleazar, ha-katan, he-aluv, weha-evjon („Eleazar, der Kleine, der Niedrige, der Arme“), womit sich der Autor selbst bezeichnet. Eleazars erste Elegie arbeitet sich durch Spr 31,10–31, obwohl er nicht jeden Vers auslegt. Er beginnt folgendermaßen (biblischer Text kursiv): Eine tüchtige Frau, wer findet sie (31,10): So eine wie meine fromme/heilige Frau, Frau Dolce? Eine tüchtige Frau (31,10): die Krone ihres Mannes, die Tochter der Gemeindewohltäter. Eine gottesfürchtige Frau (31,30), gerühmt für ihre guten Taten. Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie (31,11): Sie gab ihm zu essen und kleidete ihn, damit er im Rat der Ältesten des Landes sitzen (31,23), Tora studieren und sich mit guten Werken beschäftigen konnte.32
Seine Darstellung der Dolce als eschet chajil endet mit den Worten: Sie öffnet ihren Mund in Weisheit (31,26): sie wusste, was verboten und was erlaubt war. Am Schabbat saß sie und hörte den Predigten ihres Ehemannes zu. Unvergleichlich in ihrer Tugendhaftigkeit war sie weise und wortgewandt. Wer immer ihr nahe kam wurde gesegnet. Sie war ehrgeizig, fromm, und liebte es, die Gebote zu erfüllen. Sie brachte Milch für die Studierenden und stellte Lehrer ein auf ihre Kosten. Gelehrt und weise diente sie dem Schöpfer mit Freude. Ihre Füße beeilten sich, die Kranken zu besuchen und die Weisungen ihres Schöpfers zu erfüllen. Sie gab ihren Söhnen Speise und ermutigte sie zu studieren, und sie diente dem Heiligen in Ehrfurcht.
32
basiert auf dem Adjektiv dulcis, was soviel heißt wie „süß, angenehm, reizend, bezaubernd, nett, lieb, freundlich“ bedeutet. BASKIN, „Dolce of Worms“, 435.
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Judith R. Baskin Sie war glücklich, dem Willen ihres Ehemannes zu entsprechen und verärgerte ihn niemals. Ihre Handlungen waren „angenehm“. Möge der Ewige Fels sich ihrer erinnern. Möge ihre Seele eingehüllt sein im Beutel des ewigen Lebens. Möge sie essen von der Frucht ihres Weges (Spr 31,31) im Paradies.33
Nur in diesem finalen Abschnitt des exegetischen Gedichts geht Eleazar über das Beispiel der biblischen eschet chajil hinaus, um die religiösen Konventionen und die weiblichen Qualitäten einzuschärfen, die in den Zirkeln der Chasside Aschkenas besonders wichtig waren. Diese sind in der Betonung von Dolces Gottesfurcht deutlich herausgearbeitet, genauso wie ihre Tugendhaftigkeit, Liebenswürdigkeit, und ihre Bereitschaft, den Willen ihres Ehemannes zu erfüllen. Die Aussage, dass sie ihn niemals verärgerte, spricht für sich. Eleazars Hinweis auf die Auferstehung geht über Spr 31 hinaus und verweist auf den Glauben der Chasside Aschkenas an die angemessene Belohnung und Strafe in der kommenden Welt.
3.
Zusammenfassung
Die Ausleger reflektieren ihren Glauben und ihre Haltungen in dem Text, den sie interpretieren. Das geschieht zweifelsohne in der Beschreibung der Frauen im Sefer Chassidim und in R. Eleazar ben Judas Auslegung von Spr 31. Die Chasside Aschkenas sind überzeugt von ihrer Sündhaftigkeit und der Fleischeslust derer, die sie umgeben. Klar ist ihnen, dass die männliche Lust auf Frauen, ob nur in sündhaften Gedanken oder auf reale Weise ausgelebt, ein besonders großes Problem darstellt. Unabhängig von der Natur ihrer Sünde glauben die Chasside Aschkenas, dass sie von Frauen – ihrem Körper, ihren Stimmen und ihrer Präsenz in der Welt – bewirkt wird. Daher müssen die frommen Männer den Kontakt zu Frauen, sogar denen in ihrer eigenen Familie, so stark wie möglich einschränken. Einige biblische Frauen wie Isebel, Delila und Batseba dienen als herausragende Beispiele für Frauen, die Männer zur Sünde verleiten, aber sogar die Erzmutter Sara dient als Beleg dafür, wie Frauen für folgenschwere Übertretungen verantwortlich sein können, die Strafe und Tod nach sich ziehen. Obwohl weibliche Figuren aus der Bibel in den Erzählungen des Sefer Chassidim nur selten vorkommen, ist es erstaunlich, dass wichtige Frauen wie die Richterin Debora, die Prophetin Hulda oder die tapfere Ester gar nicht auftauchen.34 Die einzigen lobenswerten weiblichen Eigenschaften sind 33 34
BASKIN, „Dolce of Worms“, 436. Die Rabbinen des babylonischen Talmuds stellen Debora und Hulda in negativem Licht dar, da diese Rollen einnehmen, die eigentlich männlich sind. Der Zugang zu
Chasside Aschkenas
167
Tugendhaftigkeit, Bescheidenheit, Freundlichkeit, Zurückhaltung und Gehorsam gegenüber männlicher und göttlicher Autorität. All diese Tugenden werden nach Meinung der Autoren des Sefer Chassidim durch Rut verkörpert. Eine schwierige Herausforderung stellt für die Chasside Aschkenas der Umstand dar, dass einige Frauen aus ihren Zirkeln vollkommen und ausschließlich lobenswert sind. Hier kommt die eschet chajil aus dem Sprüchebuch als ideale gottesfürchtige Frau ins Spiel. R. Eleazars Laudatio auf die verstorbene Dolce passt sich nahtlos in diese Interpretation von Spr 31,10–31 ein. Die biblische Personifizierung weiblicher Tugenden stattet ihn mit der nötigen Sprache aus und ist ihm eine ideale Vorlage, mithilfe derer er seine geliebte Partnerin jenseits der Grenzen seiner kulturellen Parameter preisen kann.
Ester ist ambivalent. Vgl. Judith R. BASKIN, „Prophetinnen in bMegilla 14a–15a“, in Rabbinische Literatur. Die Bibel und die Frauen 4,1 (hg. v. Tal Ilan, Lorena Miralles Maciá und Ronit Nikolsky; Stuttgart: W. Kohlhammer GmbH, 2020), 1–15.
Die Frauenfigur Zion in der Gebetsliteratur von al-Andalus Meret Gutmann-Grün GGG Basel, Ofek und Migwan Basel, JCA
1.
Wer spricht hier? Ist dies Zion? Eine literarkritische Einführung1
Samuel ha-Nagid No 1802 ()אהה שומרים Ach! Wächter fanden mich – sie schlugen mich und verwundeten mich! Ach! Fürsten hatten mich geliebt und ließen mich in der Hand von Bedrängern im Stich. Sie hatten mich gehätschelt und großgezogen, und achteten nicht auf meine (jetzige) Kränkung. Sie hatten mich getränkt und zugedeckt – und schließlich mich verschmäht.
Ist die Sprecherin Zion? Aufgrund der hebräischen Formen lässt sich nicht ausmachen, ob das sprechende Ich männlich oder weiblich ist. Aber die Stimme klingt wie ein Echo aus dem Hohelied (Hld 5,7), wo die liebende Frau klagt, dass Wächter sie schlugen. Hier fügt die Stimme allerdings zur Szene des Geschlagenwerdens noch das Geliebt- und Verschmähtwerden hinzu, Szenen die nicht im Hohelied stehen, aber eventuell auf die „nachbiblischen“ bitteren Erfahrungen von Zion als Spiegelfigur des jüdischen Volkes anspielen. 1
2
Für eine umfassendere Darstellung der Frauenfigur Zion, bei der auch die religiöse Dichtung der klassischen Periode (6.–8. Jh. im Land Israel) berücksichtigt ist, siehe Meret GUTMANN-GRÜN, Zion als Frau. Das Frauenbild Zions in der Poesie von alAndalus auf dem Hintergrund des klassischen Piyyuts (Judaica et Christiana 23; Bern: Peter Lang, 2008). Im Folgenden abgekürzt zitiert als Zion als Frau. Yonatan VARDI, „Song Cycles in the Dīwān of Samuel Ha-Nagid“, Tarbiz 86/1 (2019): 39–62 (hebr.). Ausgabe von Dov JARDEN, Divan Shemuel Ha-Nagid: Ben Tehillim (Jerusalem: Eigenverlag, 1966). Die Übersetzungen dieses und aller folgenden (hebräischen) Gedichte stammen von mir und finden sich, z.T. mit hebräischem Originaltext, auf der CD von Zion als Frau. Samuel Ben Josef Halevi ibn Nagrila ha-Nagid, 993 (Cordoba) – 1056 (Granada) war im Stadtstaat Granada Wesir von König Habbus, dann von König Badis, führte im Auftrag des Königs auch Krieg gegen andere Stadtstaaten von al-Andalus. Er war anerkannter Vorsteher (Nagid) der jüdischen Gemeinde. Neben dem Divan Ben Tehillim hat er noch Ben Mischle und Ben Kohelet geschrieben.
Zion als Frau in al-Andalus
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Wenn dieses Gedicht hier tatsächlich die bittere Klage Zions und nicht einer anderen Figur darstellt, so kann sich der Leser3 auf alle Fälle gut mit den Gefühlen dieser Figur identifizieren, und das wird wahrscheinlich auch die Intention des Gedichtes von Samuel ha-Nagid sein. Dass der Dichter die Identität der sprechenden Person nicht preisgibt, passt zum Stil der hebräischen Gedichte in al-Andalus4, der weltlichen und der religiösen, die absichtlich mehrdeutig mit dem Leser spielen und „die Schranken zwischen dem Heiligen und dem Profanen niederreißen“5. Die Entscheidung, ob wir ein weltliches Gedicht über eine Frau von Fleisch und Blut vorliegen haben oder ein religiöses Gedicht über Zion, fällt manchmal nicht leicht, aber es gibt ein klares Kriterium: In den weltlichen Liebesliedern redet die Frau nicht,6 sondern wird immer nur als Geliebte angeredet. Wenn also eine weibliche Person in einem Gedicht spricht, muss es sich entweder um ein Hochzeitsgedicht handeln7 oder um ein religiöses Gedicht. Zur religiösen Textsorte gehören die synagogalen Gedichte in poetischer Form (Pijjutim), die als solche durch die Angabe ihrer liturgischen Bestimmung und Gattung klar definiert sind.8 In den Pijjutim hat der Dichter die volle Freiheit, erotische Worte zu gebrauchen. Als in al-Andalus zum ersten Mal eine hebräische „weltliche“ Poesie aufkommt,9 ist im Unterschied zu den Pijjutim der Gebrauch erotischer Worte im Munde einer weiblichen Sprechfigur anstößig: Josef, der Sohn Samuel ha-Nagids, der, wie er es selbst bezeugt, als Achtjähriger im Jahre 1040 von seinem Vater mit der Abschrift des Divans
3 4
5
6
7 8
9
Ich benütze den Begriff Leser hier und im Folgenden genderneutral. Dies ist die arabische Bezeichnung für das islamische Spanien 710–1492, in Georg BOSSONG, Das Maurische Spanien. Geschichte und Kultur (München: C.H. Beck, 2007). Ross BRANN, The Compunctious Poet. Cultural Ambiguity and Hebrew Poetry in Muslim Spain (Baltimore and London: John Hopkins University Press, 1991), 42: „another sort of literary pleasure involved precisely the breaking down of distinctions between the sacred and the profane ...“. Über die Unterscheidungskategorien der weiblichen Stimme und demgemäß über die Unterscheidung von Pijjut und weltlichem Lied siehe Matti HUSS, „Pshat o Alegoria – Shirat haChesheq shel Shmu‘el Hanagid“, Mechqare Jerushalayim beSifrut Ivrit 15 (1995): 34–72. Dass die Braut redet, ist die einzige Ausnahme von der Regel der sonst stummen Frau! Vgl. die Pijjutim-Beispiele im Text. Fast ohne Ausnahme ist ein Pijjut im Unterschied zum weltlichen Lied vom Dichter „unterschrieben“ (Chatima), indem das Akrostichon der ersten Verse seinen Namen ergibt (z.B. SchLMH). Auch das ist ein Unterscheidungskriterium. Den Anstoß zum Novum einer weltlichen Poesie gab Dunasch Ben Labrat, der nach Art der Araber die quantitative Metrik in die hebräische Poesie einführte. Dunasch Ben Labrat stammte aus Fes, wurde in Bagdad von Saadia Gaon ausgebildet, gelangte nach Cordoba zu Chasdai ibn Schaprut (905–975), dem Wesir von Abd ar-Rachman III. 12 Lieder erhalten, u.a. das heute immer noch gesungene Schabbatlied Dror Jiqra (‚Freiheit rufe Er aus‘).
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Meret Gutmann-Grün
seiner Lieder10 beauftragt wird, entschuldigt seinen Vater in der Einleitung folgendermaßen: „Die erotischen Worte nach Art des arabischen Nasīb11 sind hier Bezeichnungen (kinaja) für die Knesset Jisrael und Ähnliches, wie es sich in einigen Prophetenbüchern findet. Gott wird ihm diese Absicht belohnen. Jeder, der sie in einer anderen Weise interpretiert, als er es beabsichtigt hat, wird seine eigene Schuld tragen“.12 Keine hundert Jahre nach Samuel ha-Nagid schrieb Moses ibn Esra13, der selbst sowohl Freundschafts-, Lust- und Weinlieder als auch Pijjutim gedichtet hat, gegen Schluss seines Lebens auf Judeo-Arabisch eine Poetik14 für angehende Dichter, weil er sich als Lehrer und Übermittler der andalusischen jüdischen Kultur verstand. Er verteidigte die metaphorische Ausdrucksweise in der andalusischen weltlichen Poesie gegen den Vorwurf, Lüge zu sein: Er versuchte durch Beispiele aus dem Koran und der Bibel zu beweisen, dass Redeschmuck und speziell die Metapher schon in der Bibel vorkomme, sowie es in der Bibel auch Liebeslieder gäbe. In der damals in al-Andalus geführten Diskussion15, ob der neue „geschmückte“16 Stil zum Pijjut passe, verteidigte er die Metapher, weil „die Idee der Metapher die ist, dass du eine unbekannte Sache mit einer bekannten beschreibst“17, zudem mache erst sie die Schönheit der Poesie aus. Moses ibn Esra konnte seiner Leserschaft nicht mehr wie Josef ha-Nagid das weltliche Lied als ein Lied erklären, das allegorisch zu lesen sei und die 10
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Dieser Divan, Ben Tehillim (hg. v. Dov JARDEN), enthält Kriegs-, Lob- und Freundschaftslieder, Wein- und Lustlieder, Lieder für spezielle Anlässe, auch Pijjutim. Ob Samuel ha-Nagid diesen Divan Ben Tehillim genannt hat, ist in der Forschung umstritten. Zur bezeugten Datierung der Abschrift ins Jahr 1040 (4800 jüdischer Zeitrechnung) siehe Jefim SCHIRMANN, The History of Hebrew Poetry in Muslim Spain (hebr.) (hg. v. Esra Fleischer; Jerusalem: Magnes Press, 1995), 222–223. Josef, einer der drei Söhne Samuel ha-Nagids, kam 1066 beim Pogrom von Granada um. Einleitung einer Qasīda. Eine nicht-strophische Liedform mit durchgehendem Reim. Zitiert in arabischer phonetischer Umschrift mit engl. Übersetzung bei Arie SCHIPPERS, Spanish Hebrew Poetry and the Arabic Literary Tradition. Themes in Hebrew Andalusian Poetry (Leiden [u.a.]: Brill, 1994), 151. Moses ibn Esra, 1055 in Granada geboren. Aus einer der bedeutendsten Familien Granadas, hat Granada irgendwann nach dessen Eroberung durch die Almoraviden (1090) verlassen; es ist aber unbekannt, an welchen Ort in Kastilien (christliches Spanien) er geflüchtet ist. Bis zu seinem Tod nach 1139 blieb er Jehuda Halevis Freund und Patron, der 1085 nach Granada gekommen war. Pijjutim schrieb er erst in Kastilien, vorher weltliche Lieder. Ausgabe mit hebr. Übersetzung und Kommentar von Abraham S. HALKIN, Kitāb almuhādara wa’l-mudhākara / Sefer haIyyunim wehaDiyyunim (Jerusalem: Mequitze Nirdamim, 1975). Zur Diskussion der Akkulturation siehe Ross BRANN, The Compunctious Poet. Cultural Ambiguity and Hebrew Poetry in Muslim Spain (Baltimore/London: John Hopkins University Press, 1991). Der badī‘-Stil bedeutet „ornate, original or new style“ in Arie SCHIPPERS, 77. HALKIN, Kitāb al-muhādara, 228–229.
Zion als Frau in al-Andalus
171
darin angesprochene Frau dadurch mit der Knesset Jisrael identifizieren. Das Publikum hatte sich inzwischen an die weltlichen Liebeslieder gewöhnt, in denen eine Geliebte angesprochen wird, und die Dichter verwischten bewusst in der Metaphorik der Sprache die Grenze zwischen weltlichen Gedichten und Pijjutim. Bevor wir zur Frage kommen, welche Rolle die Frauenstimme in den Pijjutim spielt, muss noch Folgendes klargestellt werden: Nie wird die weibliche Stimme definiert: Die Frau wird nicht benannt, sondern nur umschrieben, und dies meistens mit der Metaphorik des Hohelieds, sodass der Leser sie gemäß der allegorischen Auslegung des Hohelieds als „Knesset Jisrael“18, als die zeitlose, ideale Gemeinde Israels, versteht. Man kann sie auch kurz „Zion“ nennen, so wie sie in der Bibel als Personalunion von Stadt und Volk „Zion“ genannt wird. Ihre metaphorischen Namen aus dem Hohelied19 sind (besonders in der Anrede): Meine Taube ( יונתיjonati Hld 2,14), junge Gazelle ( עופרהofra, die weibliche Form der männlichen Gazelle Hld 2,9.17 u.ö.), Gazelle ( צביהtzvija), Taube der Ferne (Ps 56,1), edle Tochter ( בת נדיבbat nadiv Hld 7,2). Der folgende Dialog zwischen „ihm“ und „ihr“ zeigt gut, wie Beschreibungen, die im klassischen Pijjut bereits abgegriffen und zu lexikalisierten Metaphern20 erstarrt sind, hier wieder lebendig sind und auf die Schönheit des Geliebten hinweisen: Salomon ibn Gabirol No 9621 Reschut für Simchat Tora ()שלום לך דודי 1 2 3 4
18 19 20 21
22
„Sei gegrüßt, mein Geliebter, Du blendend weißer und roter, sei gegrüßt von derjenigen, deren Schläfe wie ein Granatapfel schimmert. Eile zu deiner Schwester, komm doch, sie zu retten! Streite erfolgreich wie Isais Sohn gegen die Leute von Rabbat Ammon.“ „Was hast du, du Schöne, dass du die Liebe erregst und deine Stimme wie der Mantel im Klang der Glocken klingt? Schnell bring Ich22 die Zeit, die der Liebe gefällt, und Ich will auf dich herunterkommen wie der Tau des Hermon (Hos 14,6).“
Knesset Jisrael ist ein nachbiblischer Begriff. Der Midrasch zu den Klageliedern ersetzt den Namen „Zion“ durch Knesset Jisrael: Zion als Frau, 27. Zion als Frau, 257. Im klassischen Pijjut ist „Rötlicher“ ein Synonym für den Messias, „meine Schwester und Braut“ (Hld 4,12) ein Synonym für Israel, in Zion als Frau, 82–86. Ausgabe von Dov JARDEN, Shirey haQodesch le-Rabbi Shlomo Ibn Gabirol (Jerusalem: Eigenverlag, 1971/1972). Ich zitiere im Folgenden immer nach dieser Ausgabe. Der Pijjut gehört heute noch zum Repertoire der (u.a.) marokkanischen Juden für die Baqqaschot-Gebete, gesungen z.B. von Joe Amar, 1930–2009, geboren in Marokko und ausgewandert nach Israel. Ich entscheide mich hier und im Folgenden, wenn Gott gemeint ist, für das Großschreiben der Personalpronomen, was dem Text allerdings die Ambivalenz der
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Meret Gutmann-Grün
Sie und Er sprechen sich mit Beschreibungen ihrer Schönheit an: Er ist hell und rot (Hld 5,10), sie wirbt mit ihrer granatapfelgleichen Schläfe (Hld 4,3). Schon allein ihre Stimme erweckt Seine Liebe (Hld 2,7); der Vergleich ihrer Stimme mit den Glöckchen am Kleid23 verbindet das Erotische mit dem Kultischen. Sie will von Ihm, dass Er sie rette als Held wie David bei seiner Heldentat im Kampf gegen Rabbat Ammon (2 Sam 12,29). Natürlich weckt sie Seine Liebe, und Er wird deshalb (metaphorisch interpretiert) die Erlösung schnell herbeibringen. Im Literalsinn (Peschat) gelesen gipfelt der Pijjut in der 4. Zeile mit höchst sinnlicher Sprache in der Liebesvereinigung, „אליך ארד בטל הרמון.“ Wie es bei den Pijjutim üblich ist, „unterschreibt“ Salomon ibn Gabirol seinen Pijjut als Verfasser durch das Akrostichon SchLMH. Bei welcher Gelegenheit wurde dieser Pijjut gebetet? Überliefert ist seine Bestimmung für Simchat Tora (das Torafreude-Fest im Herbst); und als Gattung, als liturgische Station im Gebet, ist angegeben, dass er eine Reschut ist, d.h. die Eröffnung des Gebetes durch den Vorbeter, der zuerst von der Gemeinde die Erlaubnis (reschut) einholen muss, in ihrem Namen das Gebet sprechen zu dürfen.
1.1
Welche Rolle spielt Zion als Frau in den Gebeten?
Der Pijjut-Dichter kann mit der weiblichen Figur, wenn sie Sprecherin ist, Gott gegenüber alles ausdrücken, was auch die Frau des Hoheliedes ihrem Geliebten sagt. Im weitgespannten Bogen von Gefühlen, von der Liebe zu Ihm bis zur Enttäuschung über Sein Weggehen und der Sehnsucht, dass Er wiederkomme, stellt sie das Exil als Fortsetzung ihrer Liebesgeschichte nach ihrer „Hochzeit“ mit Ihm am Sinai dar. Dies konnte sie im klassischen Pijjut des Landes Israel (6.–8. Jh.) nicht, weil dort ihre Sprecherrolle auf die Klagegesänge (Kinnot) über die Zerstörung Jerusalems am 9. Av und auf die Pijjutim zu den sogenannten Trostschabbatot24 nach dem 9. Av beschränkt war. Diese Rolle als Klagende hatte sie schon in der Bibel, wo sie im Klagelied (Ekha) als ungetröstete Frau (z.B. Klgl 1,12–22), „wie eine Witwe“ und als ehemalige Königin, die nun dienen muss (Klgl 1,1) über ihr Unglück und auch über den Tod ihrer Kinder (Klgl 1,20) klagt. Auch in al-Andalus behält sie die Rolle der klagenden Mutter bei. Was aber den Pijjut in al-Andalus auszeichnet, sind
23 24
Metaphorik nimmt, die er im Hebräischen hat, aber die Immanenz von „Heiligem“ im „Profanen“ hervorhebt. Gemeint ist am Kleid des Hohepriesters (Ex 28,35). Zion als Frau, 74: El‘azar Kallir, 1. Teil der Qeduschta zum Trostschabbat Ronni Aqara „Ich sitze kinderlos, verstoßen, bedrängt, ein welkes Blatt, ich war schwanger, habe geboren, habe aufgezogen, und sie sind nicht mehr.“ Edition von Shulamit ELIZUR, Qedushta waShir, Qedushta‘ot leShabbatoth haNechamah leRabbi El‘azar berabbi Kallir (hebr.) (Jerusalem, 1988), 74.
Zion als Frau in al-Andalus
173
erstens die neuen Sprechrollen Zions als liebende, sehnsüchtige, schöne Frau, und zweitens die neuen Liebesmotive, die überraschenderweise nicht nur aus dem Hohelied stammen, sondern auch aus den weltlichen Lob- und Freundschaftsliedern25.
1.2
Das Hohelied und die Lob- und Freundschaftslieder als Motivspender im Pijjut
Im „Goldenen Zeitalter“26 von al-Andalus kommunizieren die höher gestellten Juden und Araber untereinander in Lob- und Freundschaftsliedern, die als Briefe gesendet und, wenn es ein Enkomion ist, während eines Gelages27 am Hof vorgetragen werden. Man schreibt dem Patron, der im Idealfall auch ein Freund ist, ein Lied mit erotischer Rhetorik, lobt den Freund, bittet ihn um Schutz, klagt, weil er sich entzogen habe, über „Liebesverrat“, ergeht sich in nostalgischer Erinnerung und drückt seine Sehnsucht nach ihm aus. Dieselben Männer28, die einander diese Freundschaftslieder schreiben, aber auch Liebeslieder an Frauen dichten, verfassen z.T. auch die Gebetspoesie, die in den Synagogen gesungen wird; sie haben als Intellektuelle und gesellschaftliche Elite29 dank ihres diplomatischen Geschicks und ihrer Sprachgewandtheit oft 25
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27
28
29
Dan PAGIS, Secular Poetry and Poetic Theory. Moses Ibn Esra and his Contemporaries (hebr.) (Jerusalem: Mossad Bialik, 1970); Jefim SCHIRMANN, The History of Hebrew Poetry in Muslim Spain (hebr.) (hg. v. Esra Fleischer; Jerusalem: Magnes Press, 1995). Ab Mitte 10. Jh. bis 12. Jh. wird vom „Goldenen Zeitalter“ gesprochen, das deutsche Herausgeber der andalusischen Dichter im 19. Jh. prägten, mehr dazu Zion als Frau, 28, Anm. 23. Moschav, Mesibba oder Jeschiva genannt. Siehe dazu Dan PAGIS, Innovation and Tradition in Secular Poetry: Spain and Italy (hebr.) (Jerusalem: keter publishing, 1976), 38. Samuel ha-Nagid (993 Cordoba – 1056 Granada), Salomon ibn Gabirol (ca. 1021 Malaga – 1058? Granada), Moses ibn Esra (ca. 1055 Granada – nach 1139 Kastilien), Jehuda Halevi (ca. 1075 Tudela – 1141 Land Israel), Abraham ibn Esra (1089 Tudela – nach 1164 Exil). Für die wichtigsten Daten über die vier erstgenannten siehe Arie SCHIPPERS, Spanish Hebrew Poetry and the Arabic Literary Tradition. Themes in Hebrew Andalusian Poetry (Leiden [u.a.]: Brill, 1994), 52–64; Jefim SCHIRMANN, The History of Hebrew Poetry in Muslim Spain (hebr.) (hg. v. Esra Fleischer; Jerusalem: Magnes Press, 1995). Speziell zu Jehuda Halevi siehe Joseph YAHALOM, Yehuda Halevi. Poetry and Pilgrimage (Jerusalem: Magnes Press, 2009). Moses ibn Esra schrieb nach eigenem Zeugnis „mehr als 6000 Zeilen in quantifizierendem Metrum … viele davon sind Loblieder, die ich für meine Brüder und Freunde verfasste“, in HALKIN, Kitāb al-muhādara, 102. Samuel ha-Nagid war bis zu seinem Tode und Moses ibn Esra bis 1090 am moslemischen Hof von Granada in hoher Position, bis es 1066 in Granada ein Pogrom gegen die Juden gab. 1109 gab es ein Pogrom im christlichen Toledo, das Alfonso VI. 1086 von den Muslimen zurückerobert hatte und wo Jehuda Halevi als Arzt tätig war.
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Meret Gutmann-Grün
wichtige Stellungen am Hof, obwohl sie als Juden den rechtlich eingeschränkten Status eines Dhimmi30 haben. Wir brauchen hier nicht zu untersuchen, wie ernst oder wie spielerisch diese poetischen Briefe aufzufassen sind: Auf alle Fälle spielen sie gekonnt mit einem doppelten Repertoire an literarischen Motiven, den arabischen und den hebräischen. Die arabischen Motive sind Reminiszenzen aus der vorislamischen Udhri-Poesie und die hebräischen stammen aus der Bibel, besonders aus dem Hohelied. Was haben diese beiden Literaturen miteinander zu tun? Weil die Juden in al-Andalus im Kalifat, das Abd arRahman III. 929 auf der iberischen Halbinsel neu gegründet hatte, kulturell in ständigem Kontakt mit den Arabern lebten31, bewirkte die Akkulturation einerseits eine Übernahme arabischer literarischer Modelle32, anderseits betonten die Juden umso mehr die „Reinheit“ ihrer Sprache und erweckten das Bibelhebräische33 nicht nur als liturgische Sprache, sondern auch für eine neue weltliche Poesie wieder zum Leben. Sie entdeckten vor allem wieder den „einfachen“ Sinn des Hoheliedes, d.h. sie lasen es als Liebeslied und nicht mehr nur als Allegorie auf die Liebe von Israel und Gott. Als Beispiel für ein Freundschaftsgedicht soll hier auszugsweise aus dem Anfang des 60-Zeilen langen Gedichts zitiert werden, das Jehuda Halevi an Moses ibn Esra34 schrieb:35 1 3 7 11
30 31
32 33 34
35
36
Bleib stehen, mein Bruder, bleib noch ein wenig stehen, dass ich dich und meinen Geist36 noch (zum Abschied) segne. Denkst du, es sei zu wenig, dass du am Tag, wo du das Feuer des Weggehens (nedod) geschickt hast, mich auch noch als Gefangenen mitnimmst? Wie hast du das Weggehen (nedod) über dich gebracht, das meinen Glanz dahingehen ließ? In der Nacht vor der Trennung habe ich das Morgenlicht nicht herbeigewünscht, und es kam wahrhaftig gegen meinen Willen.
Sie sind rechtlich eingeschränkt, aber geduldet, und zahlen dafür mit einer Kopfsteuer. Als erster jüdischer Gelehrter, der als Diplomat eine entscheidende Stellung am kosmopolitischen Hof von Cordoba hatte, wird Chasdai ibn Schaprut genannt (915– 970). Rina DRORY, Models and Contacts. Arabic Literature and its Impact on Medieval Jewish Culture (Leiden: Brill, 2000). Statt des Mischna-Hebräischen und statt des Aramäischen des Talmuds. In der arabischen Überschrift dieses Gedichts steht, es sei an Moses ibn Esra gerichtet, „die erste Person, an die er sich wandte, als er aus seiner Stadt ankam“, gemeint ist die Ankunft in Granada, von seiner Geburtsstadt Tudela herkommend. Dazu siehe die kurze Bemerkung von Joseph YAHALOM, Yehuda Halevi. Poetry and Pilgrimage (Jerusalem: Magnes Press, 2009), 25. Hayyim BRODY, Dȋwân des Abû-l-Hasân Jehuda ha-Levi, 3 Bde. (Berlin: Schriften des Vereins Mequitze Nirdamim, 1894–1930), Bd. 2, No 53, Seite 273; Kommentar Bd. 3, Seite 249. (Ndr. v. A.M. HABERMANN (Farnsborough: Gregg International, 1971). Der Geist des Sprechenden wird vom Scheidenden mitgenommen!
Zion als Frau in al-Andalus 13
175
Es wäre in mir keine Seele mehr übriggeblieben, wenn ich nicht hoffte auf den Tag, da die „Verstreuten wieder eingesammelt werden“ (Jes 11,12).
Das Trennungsmotiv, nedod genannt,37 ist ein konventionelles Motiv in der Einleitung der arabischen Qasīda38: Der spezifische Begriff dafür, „firāq“, steht manchmal auch in den jeweils judeo-arabischen Überschriften der hebräischen Lob- und Freundschaftslieder, die oft mit diesem Motiv beginnen. Schuld an der Trennung ist das grausame Schicksal, die „Zeit“, arabisch „dahr“. Die Sehnsucht des Verlassenen wird metaphorisch so ausgedrückt, dass die eigene Seele oder der eigene Geist vom Scheidenden gefangen mitgeführt wird. Im hebräischen Liebeslied wird das Motiv zum manierierten Klischee, welches die unnahbare, sich entziehende Geliebte charakterisiert. Das Trennungsmotiv wird manchmal in der Qasīda mit dem Weinen über den „Trümmern der verlassenen Lager- und Liebesstätte“, dem sogenannten Atlāl, verbunden. Hier ein Beispiel, wie Moses ibn Esra das Atlāl-Motiv in einem religiösen Lied auf das zerstörte Zion überträgt: Moses ibn Esra No 37 Ahava39 ()מהרו נא 1 2 3 4
37 38
39
40 41 42
Eilt doch zu den Wohnstätten der Geliebten, / welche40 die Zeit zerstreut hat! Sie sind zerstört übrig geblieben, einst waren sie Wohnstätte für die jungen Hirsche, jetzt / sind sie Wohnung für Junglöwen und Wölfe. Ich höre das Stöhnen der Gazelle41: sie klagt / aus dem Gefängnis Edoms und aus der Zwingburg der Araber. Sie weint über ihren Geliebten, den Höchsten ihrer Jugendzeit42 /
Mehr zu ( נדודarabisch firāq), in Zion als Frau, 190–193, 415–431. Die Qasīda ist eine altarabische, nicht-strophische Liedform in durchgehendem Reim und quantifizierendem Metrum. Die Literatur darüber ist sehr groß. Für einen kurzen guten Überblick siehe Renate JAKOBI, „The Origins of the Qasida Form“, in Qasida Poetry in Islamic Asia and Africa (hg. v. Stefan Sperl und Christopher Shackle; Leiden: Brill, 1996), 21–31. Shimon BERNSTEIN, Moses Ibn Ezra. Shire ha-Qodesh (hebr.) (Tel Aviv: Verlag Massada, 1956/1957), No. 37. Es ist umstritten, ob es je eine liturgische Bestimmung gehabt hat, d.h. ein Pijjut ist. BERNSTEIN nimmt es in seine Ausgabe der religiösen Lieder auf und bezeichnet es als Ahava: Pijjut für die 2. Berakha des Morgengebets. Mehr dazu in Zion als Frau, 235. Gemeint sind die Geliebten. Die männliche Gazelle, der Geliebte im Hohelied, ist צבי, die weibliche Gazelle צביה. Gemeint ist Gott.
176
Meret Gutmann-Grün
5
auch betet sie zu Ihm mit lieblichen43 Worten: „Stärke44 mich mit Traubenkuchen der Liebe45 / und labe mich mit Köstlichkeiten der Liebeswonnen46.”
Wie im arabischen Atlāl-Motiv ruft der anonym bleibende Sprecher andere Leute herbei, um den zerstörten Ort anzusehen und seine Klage anzuhören. Der Ort war einmal von den „Geliebten“ bewohnt, eine im klassischen Pijjut übliche Bezeichnung Israels. Schuld an der Zerstörung ist nicht etwa Gott, sondern die „Zeit“. Die Trümmer sind aber nicht stumm, wie sonst im AtlālMotiv, oder ebenso bei der kurzen Totenklage über das zerstörte Land Israel in Jeremia (Jer 9,9–10), sondern der Sprecher, das lyrische Ich, hört eine stöhnende Gazelle: Der Leser ist an die Klage Rahels in Jer 31,15 erinnert. Die weibliche Gazelle ist im Liebeslied eine übliche Metapher für die Geliebte, hier aber gleichsam ins Gegenteil verkehrt, indem die Geliebte stöhnt. Sobald sie ihre Feinde, Edom (Christen) und Araber, nennt, wird dem Leser signalisiert, die gefangene Gazelle sei die Zionsgestalt. Sie kommt am Schluss selbst zu Wort, eine literarische Pointe, die der sogenannten Kharja in den Lust- und Liebesliedern entspricht.47
1.3
Zusammenfassung und Ausblick auf die verschiedenen Rollen Zions im Pijjut
Bevor ich weitere Beispiele bringe, lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Pijjutim von al-Andalus vor allem die Thematik der Lob- und Freundschaftslieder widerspiegeln, wobei Zion die Rolle des verlassenen, bittenden Freundes und Schützlings übernimmt, der sich an seinen Patron und Freund wendet (s.u. 2.1). Wenn aber, wie wir noch sehen werden (s.u. 2.2), Zion im Kontext der Hoffnung auf Erlösung zur Liebeserfüllung einlädt, wird ihre Schönheit mit den Attributen des Schönheitsideals gelobt, das die weltliche Geliebte in den hebräischen Lustliedern48 hat und aus dem Hohelied stammt. Anders als die 43 44 45
46 47 48
Anspielung auf Hld 2,14 „mit lieblicher Stimme“. Wörtlich Pluralform. Da es aber in al-Andalus Konvention ist, vom Angeredeten im Plural zu sprechen, überträgt hier Moses ibn Esra den Plural auf die Anrede an Gott. Variation der Doppelaussage von Hld 2,5 „Stärkt mich mit Rosinenkuchen und steht mir bei mit Äpfeln“, in Bibel in gerechter Sprache (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 22006). Andere Übersetzungen statt „Rosinenkuchen“ sind Glasflaschen mit Wein (Abraham ibn Esra, Perush leShir HaShirim). Mehr dazu im Textanhang von Zion als Frau. Eigentlich Liebe im Plural. Die Köstlichkeiten sind in Hld 7,14; 4,13.16 Dinge, die sie ihm gibt oder die sie für ihn aufgespart hat. Hier soll ihr Gott dieses geben! Dort gibt die Geliebte am Schluss (Kharja) in Volkssprache, manchmal in Liedzitaten, ihre plötzliche Einwilligung zur Liebe. Lustlieder gelten in der arabischen Poetik als Loblieder an die Frau. Speziell Tova
Zion als Frau in al-Andalus
177
weltliche Geliebte, die zwar schön, aber stumm und abweisend ist, hat Zion wie die Braut im Hochzeitslied eine wohlklingende Stimme, genau wie die Frau im Hohelied, ja sie singt sogar. Als liebende Frau leidet Zion, entsprechend der Geliebten in den hebräischen weltlichen Liedern, auch unter ihren Kritikern und Rivalinnen (s.u. 2.3). Alle diese Rollen beruhen einerseits ganz auf den neuen literarischen Motiven, anderseits hat Zion immer noch die „klassische“ Rolle der klagenden Mutter (s.u. 3; Zion als Mutter).
2.
Das Hohelied als Motivspender und die arabischen Motive
Die neuen Motive, die man im Hohelied und den arabisch-jüdischen Lob- und Freundschaftsliedern verorten kann, sind hauptsächlich folgende drei:49 2.1 „Ich will in den Straßen umhergehen und suchen, den meine Seele liebt.“ (Hld 3,2) Dieses Motiv dient zur literarischen Bewältigung des Exils; es wird verbunden mit dem arabischen Trennungsmotiv firāq. 2.2.1 „Mein Freund komme in seinen Garten.“ (Hld 4,16) 2.2.2 „Lass mich hören deine Stimme, denn deine Stimme ist angenehm.“ (Hld 2,14) Beide Motive (2.2.1 und 2.2.2) drücken die erhoffte Liebeserfüllung, also die Befreiung aus dem Exil aus. Der Garten hat wie andere Liebesorte eine Affinität zum Atlāl-Motiv. 2.3 „Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergingen, sie schlugen mich und verletzten mich.“ (Hld 5,7) „Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, was sollt ihr ihm sagen? Dass ich krank vor Liebe bin.“ „Was ist denn dein Geliebter anders … dass du uns so beschwörst?“ (Hld 5,8–9) Die Feinde Zions werden neu gedeutet als die im hebräischen Liebeslied bekannten Rivalen der Liebenden, die ihrerseits aus den arabischen Liebesgeschichten stammen.
49
ROSEN, Unveiling Eve. Reading Gender in Medieval Hebrew Literature (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2003). Bei den folgenden Bibelversen wurde, wie es in diesem Band sonst üblich ist, auf Wunsch der Autorin nicht die Einheitsübersetzung von 2016 zitiert, diese kann daher nur als Vergleichstext dienen.
178
Meret Gutmann-Grün
2.1
Umherirren und Suche nach dem Geliebten
„Ich will in den Straßen umhergehen und suchen, den meine Seele liebt.“ (Hld 3,2) Jehuda Halevi No 32650 Ahava oder Selicha ()יונתי לילה
1
2
3
Meine Taube – / in der Nacht streift sie durch die Straßen, sie geht / suchen, den sie liebte (Hld 3,1). Lass sie, / lass sie sich ausweinen, denn ihr Leiden / ist stark wie die Stärke ihres Treuebruchs. Sie berechnete für sich / eintausend Jahre, und ihr Joch ist noch nicht gewichen. Meine Volkreiche (Klgl 1,1), / wie eine der Kinder Beraubte sitzt sie im Fußblock, / Endzeit um Endzeit berechnet sie. Ich gleiche / der umherirrenden ( )נודדRohrdommel in der Wüste, ich bin / der einsame Vogel auf dem Dach (Ps 102,7–8). Ich weine, / denn im Weinen schaukle ich mich trostsuchend. Meine Träne, / die von meiner Wange noch nicht getrocknet ist (Klgl 1,2), ergießt sich / über Deine Stadt, denn sie ist zerstört. Trost hat geschöpft / das Herz, das von Sorgen zerbrochen ist, wenn es glüht / bei der Erinnerung an vergangene Zeiten.51 Wer wird streiten / gegen die Urteile Gottes, da diese die Überhand haben? Meine Hoffnung, / die sich in Dir nicht getäuscht hat, dauert fort, / und Dein Bund hat nicht gelogen.
Dieser Pijjut52 ist der Form nach strophisch gebaut. Seine liturgische Einordnung ist unklar: Entweder ist es eine Ahava oder eine Selicha.53 Es gibt verschiedene Sprecher: die Stimme Gottes, ein versteckter Sprecher und Zion als Sprecherin. Die ersten zwei das Thema anschlagenden Eingangszeilen spricht Gott und redet liebevoll und in der Metaphorik des Hoheliedes über „Seine Taube“. In der 1. Strophe korrigiert ein versteckter Sprecher diese Aussage Gottes und sagt, die Taube sei bei ihrem Umherirren höchst unglücklich. Er klärt Gott gleichsam darüber auf, dass sie wegen ihrer Schuld im Exil leide, und zum Elend des Exils komme die Enttäuschung der falschen 50
51 52 53
Ausgabe von Dov JARDEN, Shirey haQodesch le-Rabbi Yehuda Ha-Levi (Jerusalem: Eigenverlag, 1978–1985), 4 Bde. Ich zitiere immer nach dieser Ausgabe. Eine Neuausgabe durch Joseph YAHALOM (Jerusalem) ist in Vorbereitung. Anspielung auf Jer 20,9 „Ich dachte, ich will mich an Ihn nicht mehr erinnern … da wurde Er in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer.“ Mehr zu diesem Pijjut in Zion als Frau, 448. Ahava ist ein Pijjut zur 2. Berakha des Morgengebets (so die Angabe des Herausgebers Dov JARDEN in der Anmerkung in seiner Edition Bd. 3, 266). Selicha ist ein Buß- und Reuegebet (so Leon WEINBERGER, Jewish Hymnography. A Literary History (London: The Littman Library of Jewish Civilization, 1998), 93.
Zion als Frau in al-Andalus
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Berechnung der Endzeit.54 Die Sicht des Exils als Strafe ist die klassische Deutung, welche auch Zion selbst in ihrer Antwort in der 2. Strophe gibt: Sie klagt und zitiert Verse aus Psalm 102, einem Klagepsalm, der aus einer persönlichen in eine nationale Klage übergeht und Gott um den Wiederaufbau Zions bittet. Die Sprecherin weint wie Zion in den Klageliedern zum 9. Av, dem Tag der Zerstörung Jerusalems (Klgl 1,2). In der 3. Strophe kommt aber der Umschwung nach Art der Liebeslieder: Mit dem Topos des brennenden Trennungsschmerzes, der eigentlich ein Feuer der Liebe ist und bei dem immer auch die Tränen strömen55, erinnert sie sich an früher; dabei wird ihr Herz wieder „heiß“ vor Liebe und sie beteuert ihren andauernden Glauben an Seine Treue. Somit endet der Pijjut mit der neuen, positiven Deutung des Exils als Umherirren auf der Suche nach dem Geliebten, doch anders als im Hohelied hat das Verhältnis zwischen den Liebenden eine Vorgeschichte, auf die die Verlassene zurückblickt – genau wie der verlassene Freund in den Freundschaftsliedern. Bei der Deutung des Exils als umherirrendes Suchen56 bietet sich für die Figur Zions das Bild der Taube geradezu an: Weil „Taube“ im Hohelied als seine Liebesanrede ihr gegenüber positiv konnotiert ist, bekommt schon allein dadurch ihr Umherirren eine positive Note. Dies zeigt der Pijjut No 357 von Jehuda Halevi, von dem ich nur die ersten fünf Zeilen von insgesamt acht zitiere: Jehuda Halevi No 357 Ahava ()יונת רחוקים 1 2
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Taube der Ferne57, sie ist in die Wälder geflüchtet58, / gestrauchelt und konnte sich nicht wieder losmachen. Sie flatterte umher, schüttelte sich, schwebte / um ihren Geliebten ()דוד herum, immer unterwegs und sturmbewegt ( סוערהnach Jes 54,11).
Endzeitberechnungen. Das Jahr 1068 (1000 Jahre nach der Tempelzerstörung) kündigte sich mit Zeichen messianischer Bedrängnis an, weil die christliche Reconquista bereits Saragossa wieder erobert hatte und 1085 Toledo von Alfonso VI. zurückerobert wurde. Ebenso wurde schon 1040 (= jüdisch 4800) als Endzeit erwartet, in Zion als Frau, 353, 355. Das „Feuer der Trennung“ ( )אש הנדודz.B. in dem Freundschaftslied von Jehuda Halevi an Moses ibn Esra (oben im 1. Teil meines Beitrags zitiert), vgl. auch die „feurige Glut“ der Liebe in Hld 8,6. Mehr zu Liebesfeuer ( )אש אהביםund Tränen in Zion als Frau, 186–193. Ausführlicher zur Deutung des Exils als „nedod“ (Umherirren) in Zion als Frau, 409– 470, und in Meret GUTMANN-GRÜN, „Schlafend auf den Flügeln des Umherirrens. Exilsmetaphorik bei Jehuda Halevi“, Judaica 2/3 (2008): 97–117. Ps 56,1 über die stumme Taube der Ferne. Der Targum dazu erklärt „Zum Lob der Knesset Jisrael, die verglichen wird mit einer stummen Taube in der Zeit, da sie von ihren Städten entfernt ist“ (Hinweis des Herausgebers Dov JARDEN zur Stelle). Hebräisches Wort נדדהweggehen, sich trennen, umherirren, in Zion als Frau, 457– 459.
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Meret Gutmann-Grün 3 4 5
Und sie zählte eintausend Jahre bis zum Ende ihrer Frist, / aber sie wurde getäuscht in allem, was sie berechnete. Ihr Geliebter, der sie gequält hat59 während des jahrelangen Herumirrens / Fernseins60, / hat ihre Seele in die Unterwelt geschüttet. So sagte sie: „Ich will mich an Seinen Namen nicht mehr erinnern.” / Und Er war in ihrem Herzen wie ein loderndes Feuer (Jer 20,9).
Die negativen Bilder wie „geflüchtet“, „gestrauchelt“, „sturmbewegt“ stehen dem positiven Bild gegenüber, dass sie „um ihren Geliebten herumschwebt“: Damit stellt der Pijjut die Dialektik oder die Paradoxie des Exils dar. Als „sturmbewegte“ ( )סוערהwird sie neben „arme“ und „ungetröstete“ auch im Jesajabuch angeredet: Es ist der Beginn der Haftara, der Prophetenlesung, für den dritten der sieben Trostschabbatot nach dem 9. Av (Jes 54–55,5), und „sturmbewegte“ gehört deshalb zum Vokabular der Trauer um Jerusalem. Die 4. Zeile aber bringt wieder die Liebe in das Elend des Exils, indem der Begriff „dod“ ( )דודfür Gott und Sein Weggehen „nedod“ ( )נדודauf das Hohelied verweist, wo der Geliebte ebenfalls unbegründet weggeht (Hld 5,6 – )חמק עבר. Der in al-Andalus bevorzugte Begriff „nedod“ zeigt, wie „Er“ und „sie“ in ihrem Liebesverhalten auf einander bezogen sind genau wie die getrennten Freunde in den Freundschaftsliedern: Sein Weggehen ist ihr Umherirren, beides wird „nedod“ genannt. Die klangliche Assonanz von „Umherirren“ (nedod) und „Geliebter“ (dod) ist bei Jehuda Halevi beliebt.61 Das wie ein Feuer lodernde Herz (Zeile 5) gehört natürlich auch zur Liebessprache, wie wir es im oben (2.1) zitierten Pijjut No 326 von Jehuda Halevi in der 3. Strophe schon angetroffen haben. Manchmal begründen die Pijjutim das Weggehen Gottes und bringen die klassische Deutung des Exils wie in Pijjut No 326 von Jehuda Halevi, manchmal wird es als unverständliche Frage so formuliert: „Taube in der Falle Ägyptens hat ihr Nest verlassen. Warum hast Du sie im Zorn im Stich gelassen, nachdem Du sie zu Dir gezogen hast mit Banden der Liebe?“62
2.2.1 Liebesort „Mein Freund komme in seinen Garten“ (Hld 4,16) Unter den Liebesorten wie Zimmer (Hld 1,4), Sänfte (Hld 3,9), Weinhaus (Hld 2,4), Balsambeet (Hld 6,2), Weihrauchhügel und Myrrhenberg (Hld 4,6), 59 60
61 62
Quälen ( )עינהgehört zur Liebessprache in den säkularen Liedern. Umherirren, Weggehen, Fernsein. Das hebräische ( נדודauch )נודkann all dies bedeuten und ist deshalb umfassender als der arabische Begriff des firāq, in Zion als Frau, 457– 459. Dieselbe Paronomasie auch im Pijjut No 206 יונה נכאבה. Jehuda Halevi No 379 יונה בפח מצרים. Unten unter 2.3 zitiert.
Zion als Frau in al-Andalus
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Weinberg (Hld 1,6; 7,13 vgl. Jes 5,7), Zelt63 und Nest der Taube64, hat der Garten wegen seiner weiblichen Konnotation die größte Affinität zur Zionsgestalt und stellt wegen seiner doppelten Valenz als „Ort“ und als „Person“ diese beiden Aspekte von Zion dar: Der Garten ist bald der Wohnort Gottes, nach dem Er sich sehnt, um sich dort wieder mit der Knesset Jisrael zu vereinigen, bald ist er selbst diese Frauengestalt. Der Garten kann zerstört sein wie Jerusalem, aber er kann auch wieder blühen65, wie es folgender Pijjut zeigt: Salomon ibn Gabirol No 95 Reschut für Simchat Tora ()שוכנת בשדה 1 2 3 4
„Die du auf dem Felde wohnst66 unter den Zelten von Kuschan,67 stell dich auf den Gipfel des Karmel, schau nach dem Berg Baschan hinüber,68 zum Garten, der verwüstet ist, Braut, heb deine Augen auf,69 und siehe dein Gartenbeet, wie es gefüllt ist mit Lilien.“ „Was hast Du, Du mit den schönen Augen, dass Du verließest meinen Garten, um im Garten von Jokschan zu weiden unter den Bäumen von Dischan? Komm, geh in den Garten hinunter70, iss köstliche Früchte dort und im Schoß derjenigen mit den schönen Augen (Hld 4,9) liege und schlafe!“
Der Pijjut stellt die Befreiung aus dem Exil als eine Rückkehr in den Garten dar und dramatisiert diese nach Art des Hoheliedes (Hld 4,8–9). Der Liebhaber respektive Bräutigam ergreift die Initiative und fordert sie, die Braut, auf, den wieder blühenden, mit Lilien gefüllten Garten anzusehen. Das Stichwort „Lilien“ erinnert an den Geliebten, der im Hohelied „in den Lilien weidet“ (Hld 6,3). Die angesprochene Braut ist selbstsicher, indem sie Ihn zwar mit dem Lob Seiner schönen Augen71 liebevoll anredet, aber ihm zugleich die Untreue vorwirft, sie verlassen zu haben und anderswo zu „weiden“, weil Er die Araber 63 64 65 66 67 68 69 70
71
Das Zelt ist ein Requisit, das zum Atlāl-Motiv gehört, gemeint sind die verlassenen Zelte der Liebenden. Nest der Taube, z.B. in Jehuda Halevi No 324 יונת רחקים נגני. Blühender Garten ist ein Bild, das auch zum Repertoire der Loblieder gehört. Ein Mann resp. seine Werke werden als ein blühender Garten gelobt, in Zion als Frau, 337. Mi 4,10. Kuschan gilt als Appellativ für die Araber statt des sonst üblichen Qedar (Hld 1,5; Gen 25,13). Karmel und Baschan (Jer 50,19). Gott wird Israel dorthin zum Weiden zurückführen. Anklang an Hld 4,8 „Mit mir vom Libanon, Braut, … schaue vom Berggipfel Amana.“ Hld 4,16 „Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen köstlichen Früchten ()מגדים.“ Hld 7,12–13 „Geh, mein Geliebter, wir wollen aufs Feld hinaus, unter den Koferblüten übernachten … dort werde ich dir meine Liebe geben.“ Das Attribut „mit den schönen Augen“ gehört zu David, 1 Sam 16,12, und ist ein Hinweis auf den Messias. Im Hld 4,9 sagt er und nicht sie, dass er von ihren Augen bezaubert ist.
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Meret Gutmann-Grün
(Jokschan)72 und die Christen (Dischan)73 bevorzuge. Dass die Feinde Israels zu Liebesrivalen werden, ist ein Gedanke, der aus der Liebespoesie stammt (s.u. 2.3). Ihre Einladung an Gott, in ihren Garten zu kommen, formuliert sie nach Art einer Kharja74 mit dem fast wörtlichen Zitat aus dem Hohelied 4,16. Eine ähnlich werbende und zugleich anklagende Aufforderung zum Liebesgenuss bringt Salomon ibn Gabirol in seinem Pijjut No 131: Salomon ibn Gabirol No 131 Reschut ()שוכב עלי מטות 1 2 3 4
Der Du liegst auf Betten / von Gold in meinem Palast – wann wirst Du das Lager, Ewiger, / dem Rötlichen bereiten? Warum, Du entzückender Liebling (Tzvi) / schläfst Du, und der Morgen steigt herauf wie ein Panier auf dem Gipfel / meines Senir und meines Hermon?75 Weg von den Wildeseln76 wende Dich / und neig Dich zur Gämse der Anmut. Siehe, bereit bin ich für einen wie Dich /, auch Du für eine wie mich! Wer kommt in meinen Palast, / der wird finden von meinem Schatz: jungen Wein und meinen Granatapfel (Hld 8,2), / meinen Weihrauch und meinen Zimt (Hld 4,13–14).
Die Szenerie ist ein Palast mit goldenen Betten77, der metaphorisch auf den Tempel verweist, in dem Gott wohnt, respektive „liegt“. Dieses Bild wirkt schön, aber die Sprecherin ist nicht zufrieden, sondern stellt sofort ihre ungeduldige Frage, wann Gott auch dem „Roten“78, d.h. dem Messias, in diesem Palast das Lager bereiten werde. Sie fragt nicht direkt: „Wann bringst Du die Erlösung?“, sondern spricht in der Liebesmetaphorik vom „Lagerbereiten“. Ihre Ungeduld ist groß, denn der Morgen, eine Metapher für Erlösung, bricht schon an, und Gott schläft immer noch. In andern Pijjutim gilt sie als die Schlafende gemäß dem Midrasch79 zum Hld 5,2, d.h. sie ist im Exil und wartet, dass Er sie zur Erlösung weckt. Hier aber bei Salomon ibn Gabirol „weckt“ sie Ihn, indem sie Ihn anredet und tadelt, dass Er schlafe und zudem zu den Wildeseln, den Arabern, halte. Dem Bild der Wildesel stellt sie sich selbst als die „Gämse 72 73 74 75 76 77 78 79
Jokschan ist Sohn Abrahams und Keturas, Anspielung auf die Araber. Dischan ist einer der Söhne Se‘irs im Lande Edom (Gen 36,20–21). Edom steht für Rom, d.h. für die Christen. Schluss eines Liebesliedes. Senir und Hermon, wie in Hld 4,8. Wildesel steht für die Araber nach Gen 16,12 „(Ismael) wird ein Mensch sein wie ein Wildesel.“ Anspielung auf die goldenen Cherubim, über denen Gott thront (Ex 25,18; 1 Sam 4,4). „Rötlich“ verweist auf David (1 Sam 16,12) respektive auf den Messias. Hohelied Rabba „Ich schlafe vom (Warten auf das) Ende – mein Herz ist wach zur Erlösung. Ich schlafe vom (Warten auf die) Erlösung – und das Herz des Heiligen, gesegnet sei Er, ist wach, mich zu erlösen.“
Zion als Frau in al-Andalus
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der Anmut“ gegenüber. Die Gämse der Anmut hat nicht nur alle weiblichen Vorzüge gemäß Spr 5,19, sondern sie wohnt im Palast wie die „ehrbare Frau“ in der Liebespoesie, die „Gazelle des Palastes“ genannt wird im Unterschied zu den „Gazellen des Feldes“.80 Sie ist deshalb die für Ihn Passende, was sie im Unterschied zur Geliebten im Hohelied81 geradezu herausfordernd ausdrückt. Ihre Einladung an Ihn, in ihren Palast zu kommen, tönt fast so, als ob sie Ihn eifersüchtig machen wolle, Er solle den „Schatz“ finden, bevor ein anderer kommt. Die doppelte Semantik, wonach der Palast zugleich Tempel und Liebesort ist, hat auch der folgende Pijjut: Salomon ibn Gabirol No 133 Reschut ()שחר עלה אלי דודי 1 2 3
4
In der Morgenröte komm zu mir hinauf, / mein Geliebter, und geh mit mir, / (immi) denn durstig ist meine Seele, zu sehen / das Antlitz meiner Mutter (immi).82 Dir will ich ausbreiten Betten / von Gold in meinem Saal, / (ulami) ich will den Tisch Dir decken / Dir brechen mein Brot (lachmi). Einen Weinbecher fülle ich Dir / aus den Trauben meines Weinberges: (karmi) Trink aus vollem Herzen, / wohlschmecken soll Dir mein Geschmack. (ta‘ami) Sieh, an Dir freu ich mich / in der Freude des Fürsten meines Volkes, (ammi) des Sohnes Deines Knechtes Isai, / dem Vorsteher meines Bet-lechem (meines Brothauses) (lachmi).
Auf der wörtlichen Ebene gelesen, bewirtet eine Frau ihren Geliebten in ihrem Saal und freut sich an ihm wie die Liebende im Hohelied (Hld 1,4), wobei das Essen und Trinken „von den Trauben meines Weinberges“ wie im Hohelied Metaphern für den Liebesgenuss sind. Das Decken des Tisches, das Brechen des Brotes und Anbieten des Weines lässt sich aber auch auf der kultischen Ebene als Hinweise auf den Opfergottesdienst im Tempel verstehen. Die „Morgenröte“83 signalisiert von Anfang an, dass der Pijjut die Sehnsucht nach Erlösung aus dem Exil meint, und der Schluss nennt auch klar den Befreier, den Messias: David, den Sohn Isais.84 Mit dem „Antlitz meiner Mutter“ zeigt die Sprecherin, die Knesset Jisrael, dass ihre Beziehung zu Zion wie die einer Tochter zu ihrer Mutter ist (s.u. unter 3.). 80 81 82 83 84
Zur „Gazelle des Palastes“ und den „Gazellen des Feldes“ siehe Zion als Frau, 248, Anm. 9. Hld 2,16 „Mein Geliebter ist mir und ich bin ihm, der in den Lilien weidet.“ So die Lesart, die JARDEN vorzieht gegenüber ( עמיAntlitz meines Volkes). Die Morgenröte ist kein Zeitpunkt für Liebe; der Abendwind lädt zur Liebe in Hld 4,16. Zion als Frau, 324–326.
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2.2.2 Schöne Stimme der singenden Taube „Lass mich hören deine Stimme, denn deine Stimme ist angenehm“ (Hld 2,14) „Die Turteltaubenstimme lässt sich hören in unserem Lande“ (Hld 2,12b) Gemäß den Midraschim zum Hohelied85 hat die Knesset Jisrael das Hohelied beim Auszug aus Ägypten gerade vor oder auch beim Durchzug durch das Schilfmeer gesungen. Deshalb ist das Hohelied die für Pessach vorgeschriebene Schriftrolle. Entsprechend dieser Befreiung aus Ägypten verkündet die singende Zionsgestalt in den andalusischen Pijjutim die Erlösung aus dem Exil. Als kurzes Beispiel soll hier die erste Strophe eines Pijjuts für das Morgengebet an Pessach zitiert werden: Jehuda Halevi No 159 Nischmat für Pessach ()נשמת יפת עלמות Die Schönste unter den jungen Frauen (Hld 1,8) soll am Höchsten ihrer Jugend (gemeint: Gott) und an dessen angenehmer Rede / ihre Lust haben. Tag für Tag soll sie das Lied meines Freundes für seinen Weinberg (Jes 5,1.7; Hld 8,11) singen, das „Lied der Lieder Salomos” (Hld 1,1).
Ihre Rolle als singende Frau wird zusätzlich verstärkt durch die arabo-hebräischen Liebeslieder, in denen die singende „Taube“ manchmal ein Spiegelbild des liebeskranken Sprechers ist, weil die Stimme der Taube auch als klagend empfunden wurde. Anderseits ist ein Freundschaftsgedicht manchmal ein Lied aus dem Mund einer fiktiven schönen Sängerin, die zum Freund geschickt wird, um ihn zu preisen.86 Während in der Literatur jeweils das Idealbild einer schönen Sängerin gepriesen wird, sind die Sängerinnen in der realen Welt gesellschaftlich allerdings von sozial niederem Stand. Das beeinträchtigt aber ihr Idealbild nicht, sodass die Dichter sie als Modell für Zion nehmen können. Gerade ihre Aufgabe, zu singen und Gott zu loben, macht sie für den Dichter und auch für die betende Gemeinde zur idealen Spiegelfigur, mit der man sich identifizieren kann und will.
85 86
Die Verwendung des Hoheliedes bei JANNAI und KALLIR, in Zion als Frau, 88–102. Salomon ibn Gabirol schickt in dieser Form ein Loblied an seinen Patron Jekutiel, in Zion als Frau, 207.
Zion als Frau in al-Andalus
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Jehuda Halevi No 324 Ahava ()יונת רחוקים 1 2 3 4 5 6
Taube der Ferne, singe lieblich / und gib dem, der dich ruft, ein liebendes Wort.87 Siehe, es rief Dich dein Gott, eile, / wirf dich zu Boden und bring ein Geschenk dar. Wende dich zu deinem Nest, zum Weg nach deinem Zelt, / nach Zion, und stell dir ein Wegzeichen auf. Dein Geliebter, der dich nach dem Maß deiner bösen Tat verbannt hat, / Er erlöst dich heute, und was sträubst du dich dagegen? Mach dich bereit, ins Land der Pracht (ins Land der Gazelle88) zurückzukehren / und verwüste die Felder Edoms und Arabiens. Das Haus derer, die dich zerstören, zerstöre im Zorn und deinem Liebhaber mach weit das Haus der Liebe (nach Jes 54,2).
Der Sprecher verkündet wie ein Prophet, der Gottes Stimme gehört hat (Zeile 2), der als „Taube der Ferne“89 angeredeten Knesset Jisrael – respektive der Zionsgestalt – die unmittelbar bevorstehende Befreiung und befiehlt ihr, schnell nach Zion zurückzukehren. Die „stumme Taube“90 soll nicht mehr stumm sein, sondern ihrem Gott singen und ihm liebend antworten. Sie sei nicht mehr verbannt, sondern von ihrer Strafe91 befreit und solle in ihr Nest, nach Zion, zurückfliegen und dort ihrem Geliebten das „Haus der Liebe“ weit öffnen: ein Bild für den Wiederaufbau des Tempels. Die Erlösung ist aber mit der Beseitigung von Unterdrückung verbunden; diese Aktion wird hier nicht etwa an Gott delegiert, sondern die Zionsgestalt selbst soll im Zorn die Felder ihrer Feinde zerstören: Edom (Christen) und Araber. Der Rachegedanke gehört thematisch zur Hoffnung auf Befreiung92, ist aber in den Pijjutim nicht
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88
89
90 91 92
Zur Taube als Liebesbotin siehe Silvia SCHROER, „Altorientalische Bilder als Schlüssel zu biblischen Metaphern“, in Hebräische Bibel – Altes Testament. Schriften und spätere Weisheitsbücher (hg. v. Christl Maier und Nuria Calduch-Benages; Stuttgart: Kohlhammer, 2013), 123–152; 141. Das hebräische Wort צביbedeutet beides, da zwei etymologisch zwar verschiedene Wurzeln zusammenfallen. Gemeint ist das Land Israel. Gazelle ist auch eine Metapher für den Liebhaber. Ps 56,1 „Über die stumme Taube der Ferne“. Der Targum dazu sagt „Zum Lob der Knesset Jisrael, die verglichen wird mit einer stummen Taube in der Zeit, da sie von ihren Städten entfernt ist.“ Ps 56,1. Das Exil ist die Strafe ihrer vergangenen Missetaten, s.o. 2.1 Jehuda Halevi No 326. Die um 1086 beginnenden Kämpfe zwischen Moslems und Christen in al-Andalus und die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Jerusalem 1099 durch die Kreuzfahrer verstärkten die Endzeiterwartungen, siehe Esperanza ALFONSO, Islamic Culture through Jewish Eyes. Al Andalus from the tenth to the twelth century (London: Routledge, 2008), 93.
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ausgeprägt93. Auffallend und neu im andalusischen Pijjut ist hingegen das gestärkte Selbstbewusstsein der Zionsgestalt, gleichsam mit eigener Kraft ihren Tempel und das Land wieder aufbauen zu können. Solch eine starke Idealfigur Zions kompensiert literarisch die politische Schwäche der jüdischen Gemeinde. Auch Moses ibn Esra, der sich nach seinem Wegzug aus Granada (nach 1090) oft als poeta exul darstellt, fordert Zion in einem Pijjut94 so auf: „Taube, deine Lieder vermehre und dein Singen, um deine Zerstreuten in deinen festen Mauern zu sammeln!“ Zion als selbständige, aktive „Mitarbeiterin“ Gottes bei der Befreiung aus dem Exil gehört meiner Meinung nach zu ihrer Eigenschaft als Mutter, die für ihre Kinder einsteht (s.u. unter 3.). Auch die Feinde Israels werden in den Pijjutim von al-Andalus im Kontext des Liebesdramas zwischen Zion und Gott gesehen. Sie bekommen die Rolle der bösen Liebesrivalen, eine Rolle, die ihnen schon die Mekhilta (Schira 3) mit Zitat von Hld 5,7–9 zuschreibt.
2.3
Liebesrivalen
„Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergingen, sie schlugen mich und verletzten mich … nahmen mir meinen Schleier.“ (Hld 5,7) „Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, was sollt ihr ihm sagen? Dass ich krank vor Liebe bin.“ „Was ist denn dein Geliebter anders … dass du uns so beschwörst?“ (Hld 5,8–9) Die an sich harmlose Frage an die Liebende, worin denn ihr Freund die andern übertreffe, wird in der Mekhilta-Auslegung95 als Kritik der Völker an Israel verstanden: Die „Töchter Jerusalems“ werden als die „Völker“ identifiziert, welche Israel wegen ihrer Liebe zu Gott kritisieren und sie zum Abfall von Gott verführen wollen. Sie werden im Pijjut No 379 von Jehuda Halevi als „Verräter und Auflauernde“ bezeichnet, weil sie die Liebesgaben Gottes an Zion, den „Schleier und das Halsgeschmeide“, Seine Brautgaben, für sich beanspruchen und sich in das Liebesverhältnis hineindrängen wollen. Sie sind noch schlimmer als die Wächter in Hld 5,7, weil sie Zion den Schleier nicht nur wegnehmen, sondern sich selbst damit schmücken (Teilzitat):
93
94 95
Der Herausgeber Shmuel David LUZZATO, Betulat Bat Yehuda. Lequte shirim midiwan R. Yehuda ha-Lewi (Prag: M.I. Landau, 1840) hat in seiner Ausgabe diese Verse der Rache als „eines jüdischen Dichters unwürdig“ erklärt. Moses ibn Esra (Edition BERNSTEIN s.o. Anm. 39), No 2, יונה זמיריך. Pijjut für die Aschmorot (Nachtwachen) im Monat vor dem Neujahrsfest. Mekhilta de Rabbi Jishmael (hg. v. Chajim Shaul HOROVITZ; Jerusalem: Bamberger & Wahrman, 1960), Beschallach de-Schirata, cp. 3, 127.
Zion als Frau in al-Andalus
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Jehuda Halevi No 379 Ahava ()יונה בפח מצרים
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Taube in Ägyptens Falle, / zwischen Feinden und Bedrängern, / hat ihr Nest verlassen. Warum hast Du sie im Zorn verlassen, / nachdem Du sie zu Dir gezogen hast / mit der Liebe Bande? Mein Inneres bebt (Hld 5,4) und schmerzt, weil mein Freund wegging ()נוד. / Wie können meinen Schleier anziehen (Hld 5,7) / Bedränger und Feinde? Wie nahmen mein Geschmeide weg / Verräter und Auflauernde96? Wie liegt die weise Gattin / ihrer teuren Bekleidung entblößt, / schweigend da, nachdem mich Seine Linke (Hld 8,3) / schützte und Seine Fahne / über mir Liebe war (Hld 2,4). Erinnere Dich des Bunds der Jugend (Jer 2,2), / mein Freund und mein Liebhaber! Wie kannst Du den Fremden überlassen / Dein Erbe in Gefangenschaft? Oder sollst Du etwa über die Hügel von Betar / wie eine Gazelle entfliehen (Hld 2,17; 8,14)?
Dass die Feinde Israels zu Liebesrivalen werden, stammt nicht nur aus der Auslegung des Hoheliedes, sondern der Gedanke wird durch die arabische Liebesliteratur verstärkt. Dort ist es ein Topos, dass die Kritiker des Liebespaares97 eifersüchtig die Geliebte beim Liebhaber (oder umgekehrt) verleumden, weil sie ihn selbst begehren. Im Pijjut sind die Hauptrivalen Zions die „Tochter Edom“, also die Christen, oder „Hagar“ respektive ihr Sohn „Ismael“, die Araber. Folgende Beispiele sollen genügen: Jehuda Halevi schreibt in einer Me‘ora98 für den Schabbat vor dem 9. Av: „Die schöne Königstochter ist zur Magd der Tochter des Molech99 geworden, die der Ewige eingesetzt hat für das jetzige Geschlecht.“ Diese harte Aussage, dass Gott selbst die Christen bevorzugen könnte, ist neu in al-Andalus im Vergleich mit dem klassischen Pijjut. Araber und Christen sind dort zwar auch typologisiert als die Feinde Israels, aber nur in Bezug auf die weltliche Macht: sie werden nicht als Rivalen der Liebe Gottes zu Israel dargestellt.100
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98 99 100
Verräter und Auflauernde, בוגדים ואורבים. Den verschiedenen Figuren widmet das mittelalterliche Handbuch „Das Halsband der Taube“, geschrieben 1027, je ein Kapitel von Léon BERCHER, Ibn Hazm al-Andalusi, Le Collier du Pigeon, Texte arabe et Traduction française (Alger: Carbonel, 1949); Haviva ISHAI, Patterns in the Secular Literature of Love (Ghazal) in the Cultural Sphere of Medieval Spain. How Arabic Narrative Tales Can Help us Understand Hebrew Love Poetry in spite of the Difference between the two Forms of Discourse, PhD. Thesis (Tel Aviv, 2001), 137ff. Jehuda Halevi No 390, ישבה שוממה, Me‘orah: 1. Berakha des Morgengebets. Molech, der „Gräuel der Ammoniter“ (1 Kön 11,7), steht für die Christen. Zion als Frau, 368, zu den Pijjutim von JANNAI und KALLIR (6.–8. Jh. Land Israel).
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In einer anderen Me‘ora mit der gleichen liturgischen Bestimmung lässt Jehuda Halevi101 Zion klagen: „Mein Geliebter hat die liebliche Gämse verlassen und sich an den Sohn Mahalats102 erinnert; jeden Tag weine ich vor Herzeleid, während er ein Lied singt und spielt.“ Auf die Araber anspielend bezeichnet Salomon ibn Gabirol103 Zion als „Gefangene, Elende, im fremden Land zur Magd genommen für die ägyptische Magd“. Hier ist Hagar, die Mutter Ismaels, gemeint, also die Mutter der Araber. Die Paradoxie besteht darin, dass die Knesset Jisrael, manchmal als Sara verkörpert (was auch „Herrscherin bedeutet), nun zur Magd ihrer eigenen Magd Hagar wurde.104 Neben den anklagenden Tönen gibt es auch die triumphierenden, wie wir oben 2.2.1 im Pijjut von Salomon ibn Gabirol No 131 ( )שוכב עלי מטותgesehen haben, in dem Zion sich als „Gämse der Anmut“ über die „Wildesel“ (Araber) stellt.
3.
Zion als Mutter
In der Bibel ist die typische um ihre Kinder trauernde Mutterfigur Rahel105; das Bild Zions als klagende Mutter findet sich seit jeher auch im Pijjut (s.o. Anm. 24). Jehuda Halevi schreibt z.B.: „Die reizende Hindin, traurig, wartet auf den Ruf der Hilfe … auf den Flügeln des Windes wird die Stimme Rahels gehört, die beweint.“106 Neu in al-Andalus ist nun aber ihre Rolle als Fürbitterin für ihre Kinder, mit der sie sich an Gott wendet: „Mögest Du nochmals meine Wohnung wählen und errichten für die Söhne Deiner Knechte das Heiligtum des Ewigen, das Deine Hände errichtet haben“, schreibt Jehuda Halevi in einem Pijjut für den Schabbatausgang.107 Die Sicht von Zion als Mutter ist im folgenden Pijjut von Jehuda Halevi erweitert durch Gott als Vater der „Kinder Israels“:
101 102 103 104 105 106 107
Jehuda Halevi No 208, מתי להר חמור, Me‘ora. Mahalat: Die Tochter Ismaels, wird Esaus Frau (Gen 28,9). Ein Sohn wird nicht erwähnt. Salomon ibn Gabirol No 163, שביה עניה, Ge‘ulah: Pijjut für die 3. Berakha des Morgengebets. Zion als Frau, Kapitel „Zion als Magd und Königin“, 353–372. Jer 31,15 „Eine Stimme von Klagen wird auf der Anhöhe gehört, von bitterem Weinen: Rahel beweint ihre Kinder und lässt sich nicht trösten.“ Jehuda Halevi No 152 Pijjut zu Pessach, קראו מלאבי, Zeilen 3–5. Jehuda Halevi No 272 ידידות נפשי, Zeilen 33–36.
Zion als Frau in al-Andalus
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Jehuda Halevi No 181 Ahava für Schavuot ()יעלת חן קולך
1 2 3 4 5 6
Gämse der Anmut, deine Stimme ist angenehm, (Hld 2,14) während du die Gesetze des Horeb108 studierst. Erinnere dich doch, Tochter Meiner Getreuen, in deinem Herzen daran, wie du am Sinai standest, und rede zur Versammlung derer, die Mich hassen: „Was quält ihr Bedränger Meine Söhne?“ Wenn mein Sohn unter den Rasenden liegt, so ist es doch der Ewige, der auf einer Wolke daherreitet (Jes 19,1)!“
Zion – respektive die Knesset Jisrael –, die Tochter der „Getreuen“ (Juden), wird von Gott an die Sinaioffenbarung erinnert, die an Schavuot gefeiert wird. Sie bekommt den Auftrag, im Namen Gottes die Feinde zu schelten, welche die „Söhne“ Israels bedrängen, und sie auf Seine Macht zu verweisen, dass Er Sich jederzeit wieder wie am Sinai offenbaren kann, wo Er „im Feuer auf den Berg Sinai herunterkam“ (Ex 19,18). Es bleibt in der Schwebe, ob es in Zeile 4 Gott ist, der von Seinen Söhnen redet, oder ob es Zion ist, die hier nun zu reden beginnt. Weil Gott aber in Zeile 3 von denjenigen „die Mich hassen“ redet, liegt es näher, dass Er es ist, der in Zeile 4 „Meine Söhne“ sagt, und erst in Zeile 5 Zion von „meinem Sohn“ spricht. Meiner Meinung nach ist die Unklarheit gewollt: Die „Söhne“ Israels haben gleichsam Vater und Mutter, Gott und Zion. Zions Suche nach ihrem Geliebten (Gott) – das Motiv der Sehnsucht, hat auch ihre Darstellung als Mutter bereichert: Sie ist nicht nur die Mutter, die ihre Kinder verloren hat, sondern auch die Mutter, nach der oder nach deren „Zimmer“ die Kinder sich sehnen.109 Ein Beispiel ist der folgende Pijjut für die Bußnächte (Aschmorot) vor dem Neujahrsfest von Jehuda Halevi No 251: Jehuda Halevi No 251 Selicha für die Bußnächte ()ירושלים האנחי 1
2
108 109 110
Jerusalem, seufze, und Zion, vergieß deine Träne, denn deine Kinder – bei der Erinnerung an dich hält ihr Auge das Weinen nicht zurück. Meine Rechte soll verdorren, wenn ich dich, Stadt des Ruhmes in Ewigkeit, vergesse! Meine Zunge soll am Gaumen kleben, wenn ich mich nicht deiner erinnere110! Siehe, meine Sünden haben mich aus dem Zimmer meiner Mutter vertrieben,
Horeb = Sinai, mit den Gesetzen des Horeb ist die Tora gemeint. Siehe oben 2.2.1 im Pijjut 133 von Salomon ibn Gabirol. Die beiden Zeilen zitieren Ps 137,5–6 in leicht variierter Form.
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3
und beschlossen ist über mich bei meinem Vater das Verderben wegen meiner Sünde. Mein Bruder zusammen mit dem Sohn meiner Magd111 hat für sich mein Erstgeburtsrecht genommen. Deswegen ergieße dich, meine Seele, vor dem Felsen (= Gott) in Flehen, und überlasse deine Wangen denen, die sie zerkratzen, und wende dein Angesicht nicht ab von der Spucke (Jes 50,6).
Wie in Pijjut No 181 sieht sich der Sprecher als Kind von Vater/Gott und Mutter/Zion.
4.
Fazit und Schlussbemerkung
In der Gebetspoesie hat Zion als Sprecherin oder als Angesprochene einerseits die Rolle der Geliebten oder der Braut Gottes, anderseits die Rolle der Mutter der „Kinder“ Israels. Der Betende kann sich mit der sprechenden oder angesprochenen Zionsgestalt als „Ich“ und nicht nur als „Wir“ der Gemeinde identifizieren. Auch wenn er sie als Mutter anredet, spricht der Betende in persönlichem Ton als Einzelner, gleichsam als Kind. Dieser persönliche Ton ist dadurch entstanden, dass gegen Ende des 10. Jh. die Dichter der liturgischen Poesie in al-Andalus auch weltliche Lieder dichteten, ein Novum in der hebräischen Literatur. Den liturgischen und weltlichen Liedern waren Liebesmotive wie Sehnsucht, Enttäuschung, Klage, Liebesgenuss gemeinsam. Auch in den weltlichen Gedichten, die nicht Thema meines Beitrags sind, konnte dementsprechend die Zionsgestalt auftreten: Samuel ha-Nagid und Jehuda Halevi sind dafür hervorragende Beispiele, wie ich nur noch kurz bemerken will. Wir sehen, wie ihr lyrisches Ich sich mit seiner Sehnsucht nach Befreiung aus dem Exil an Zion wendet, wie wir es in den Pijjutim mit dem Thema der Erlösung unter 2.1 und 2.2 angetroffen haben. Samuel ha-Nagid begann z.B. ein Siegeslied/Loblied an Gott112 über eine Schlacht, die er 1041 im Auftrag von König Badis (1038–1073) gegen den Berberfürsten Jaddair schlagen musste, mit Worten des sehnsüchtigen Verlangens nach der „Tochter im Nussgarten“ (Hld 6,11) und beschrieb visionär die Heimkehr der „Jünglinge Zions nach Zion, der edlen Tochter, deren Garten jetzt von brüllenden Löwen113 besetzt ist“. Er sah sich in dieser und anderen Schlachten gegen Feinde des Stadtstaates Granada als Jude, der als Held wie
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„Mein Bruder“ = Esau (Gen 27,11), „Sohn meiner Magd“ = Jischmael (Gen 21,9). Samuel ha-Nagid No 9, לבבי בקרבי. Zeile 8 des Gedichtes.
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David, Moses oder Mordechai einen messianischen Kampf gegen die Feinde Israels kämpft.114 In ganz anderem Stil, eher an Psalmen wie Ps 137 anknüpfend, dichtete Jehuda Halevi eine neue Gattung von „Oden an Zion“, die keine liturgische Funktion hatten. Eine davon, die 34 Zeilen lange Ode No 401, wurde aber im Laufe der Zeit im aschkenasischen Ritus in die Kinot zum 9. Av aufgenommen115 und hat bis zur heutigen Zeit Dichter inspiriert116. Deshalb sollen daraus noch die ersten Zeilen zitiert werden: Jehuda Halevi No 401 ()ציון הלא תשאלי 1 2 3 4
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Zion, fragst du nicht nach dem Wohlergehen deiner Gefangenen, die dein Wohl suchen (Ps 122,6) und der Überrest deiner Herde sind? Von West und Ost, von Nord und Süd nimm entgegen den Friedensgruß von weit und fern, von rings um dich her. Und auch den Friedensgruß von einem, der ein Gefangener des Verlangens117 ist, der Tränen vergießt wie der Tau des Hermon (Ps 133,3), und sich danach sehnt, sie auf deine Berge herabfallen zu lassen. Dein Leid zu beweinen bin ich Schakal, und wenn ich von der Rückkehr deiner Exilierten träume, bin ich die Harfe zu deinen Liedern.118
Mehr zum Gedicht, in Zion als Frau, 238–240. P. Halevi BAMBERGER, Die Trauergesänge für Tishah beab ( קינות לתשעה באבBasel: Viktor Goldschmidt, 1983), 256–260. Zu Jehuda Halevi No 401 siehe Zion als Frau, 240–245. Zur Rezeptionsgeschichte siehe Jehuda YAHALOM, Yehuda Halevi. Poetry and Pilgrimage (Jerusalem: Magnes Press, 2009), 1–7. Noemi Schemer hat 1967 (vor dem Sechstagekrieg) den Ausdruck „Ich bin deine Harfe“ in ihr berühmtes Lied „Jeruschalajim schel zahav (Jerusalem aus Gold)“ übernommen. Nach Sach 9,12 sind die Rückkehrer aus dem Exil „Gefangene der Hoffnung“. Das Träumen und Singen der Heimkehrer nach Zion in Ps 126,1–2 (am Schabbat und Festtagen in der Berakha nach den Mahlzeiten gesprochen, an Werktagen stattdessen Ps 137).
Biblische Frauen in der hebräischen Poesie von al-Andalus Aurora Salvatierra Ossorio Universität von Granada
1.
Einführung: Die neue hebräische Poesie von al-Andalus
Während des 10. – 15. Jh. wurde, zuerst in al-Andalus und später im christlichen Spanien, das mittelalterliche Iberien zum Schauplatz eines der faszinierendsten Ausdrucksformen der jüdischen Kultur im Laufe ihrer Geschichte. Besonders vom Kalifat von Cordoba ausgehend zieht das intellektuelle und künstlerische Umfeld dieser Epoche ein Volk an, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, ausschließlich nach religiösen Werten zu leben, sie zu ihrer Identität zu machen und eifersüchtig vor äußeren Einflüssen zu schützen. Ihre eigene Tradition wird durch die arabische Kultur als ein Teil der Erziehung, die den Kindern vermittelt wird, ergänzt. Die hebräischen Höflinge übernehmen die Werte der Umwelt und werden zu Experten für arabische Sprache und Literatur, sowie Förderer von Dichtern und Gelehrten. Dieser neuartige Prozess bedeutet jedoch in keiner Weise einen Verlust der eigenen Identität: Die jüdischen Gemeinden in al-Andalus sind die ersten, die ein traditionelles religiöses Studienprogramm mit dem Studium der wissenschaftlichen Erkenntnisse und des literarischen Schaffens sowohl in der weltlichen Dichtung als auch in der für das synagogale Gebet bestimmten Poesie kombinieren. Diese Intellektuellen, die ein neues soziologisches Modell im Judentum bilden, sammeln Kodizes des Religionsrechts, während sie Grammatik und Lexikographie untersuchen, Verse andalusischen Stils verfassen und sich auch der Philosophie und Theologie widmen.1
1
Für das neue Modell der jüdischen Intellektuellen siehe Raymon SCHEINDLIN, „La situación social y el mundo de valores de los poetas hebreos“, in La sociedad medieval a través de la literatura hispanojudía. VI Curso de cultura hispano-judía y sefardí de la Universidad de Castilla-La Mancha (hg. v. Ricardo Izquierdo Benito und Ángel Sáenz-Badillos; Cuenca: Universidad Castilla-La Mancha, 1998), 53–70; Ross BRANN, „La poesía en la cultura literaria hebrea de al-Andalus“, in Poesía hebrea en al-Andalus (hg. v. Judit Targarona Borrás und Ángel Sáenz-Badillos; Granada: Universidad de Granada, 2003), 9–25.
Biblische Frauen in al-Andalus
193
In diesem Akkulturationsprozess, in dem die jüdische Elite im Rahmen der arabisch-islamischen Kultur die Hauptrolle spielt, wird die Poesie zum Ausdrucksmittel der hebräischen Aristokratie par excellence. In ihren Versen verbinden die Dichter das Beste ihrer eigenen Tradition (die Bibel, ihre Sprache) mit dem Besten der arabischen literarischen Tradition. So wird die arabische Poetik in extenso übernommen und imitiert: Metrik, Genres oder Bilder werden Teil dieser neuen Poesie.2 Zusammen mit diesem System, das ohne viel Diskussion akzeptiert wird, fungieren die hebräische Sprache und die Bibel als Identität schaffende Elemente für die jüdische Minderheit und ihre literarischen Schöpfungen. In ihren Gedichten wird der biblische Text zum linguistischen und stilistischen Referenzparadigma und das Hebräische zu einem Mittel, um die neuen Ideale der höfischen Gesellschaft aufzuzeigen. In ihrem Bestreben, eine eigene Kultur zu schaffen, sieht sie in ihrer Sprache ein Element, das die Gemeinschaft symbolisiert und vereint, eine Gemeinschaft, die sich bewusst ist, im andalusischen Kontext eine eigene Gruppe zu bilden.
2.
Die Bibel: Ein linguistisches und literarisches Universum
Es ist das Kalifat von Cordoba, in dem der Prozess der Wiederbelebung der klassischen Sprache als Vehikel des poetischen Ausdrucks beginnt und die grammatikalischen Studien rund um die Bibel aufblühen. In al-Andalus wird das Hebräische als Geschenk angesehen, das Gott dem Menschen gab, damit er sich damit ausdrücken kann, und diese Gewissheit veranlasst die Autoren, sich über die ‚Reinheit‘ oder Richtigkeit ihres Gebrauchs zu sorgen.3 Die Dichter machen die biblische Sprache zu einem Modell, dem sie treu zu folgen und an dem sie festzuhalten versuchen, indem sie jede Veränderung oder Innovation vermeiden, (eine andere Frage ist, ob dies in der Praxis durchgeführt werden konnte). Die Bibel liefert aber nicht nur eine Sprache für die Poesie: Sie ist auch eine Quelle der Kreativität und ästhetischer Ressourcen. Die Figuren, Bilder oder Ausdrücke aller Art, die ihre Seiten füllen, werden Teil der literarischen Strategie der Dichter. Es muss berücksichtigt werden, dass die Zuhörer_innen durch die Erziehung und Lesungen in der Synagoge mit dem heiligen Text gut vertraut sind. Sie sind daher in der Lage, jede Änderung der Nuancen in einem 2
3
Für poetische Themen und Motive, die mit der arabischen Poesie geteilt werden, siehe Arie SCHIPPERS, Spanish Hebrew Poetry and the Arabic Literary Tradition (Leiden/New York/Köln: Brill, 1994). Ángel SÁENZ-BADILLOS, „Philologians and Poets in Search of the Hebrew Language“, in Languages of Power in Islamic Spain (hg. v. Ross Brann; Bethesda: CDL Press, 1997), 49–75.
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Aurora Salvatierra Ossorio
Vers mit dem Original in der Tora in Beziehung zu setzen und dadurch jede von der Tora abweichende Nuancierung zu erfassen. Dieser Umstand macht es möglich mit biblischen Referenzen zu spielen, indem sie in einen völlig anderen und nichtreligiösen Kontext gestellt werden: die weltlichen Gedichte. Mit der Hilfe ihres Publikums bauen Dichter ein literarisches Universum auf, in dem Zitate, Zeichen oder Situationen der Bibel in einen fremden Textrahmen gebettet werden, in dem sie andere Bedeutungen und Werte erlangen, die vom Publikum entschlüsselt werden müssen.4 So wird die heilige Sprache in al-Andalus zu einem Mittel, um weltliche Poesie zu schreiben, die Themen enthält, die zuvor im jüdischen Erbe fehlten.5 Die Bibel, ihre Motive und ihre Themen werden ohne Bedenken verwendet, um Liebesbeziehungen (sowohl mit weiblichen als auch mit männlichen Charakteren) zu besingen oder um Weingedichte zu verfassen, die nichts Religiöses haben und die in Parteien vor Gericht gehört werden, die weit entfernt von der Welt der Synagogen sind. Man fragt sich, ob diese Einführung des biblischen Textes in ein profanes soziokulturelles Umfeld außerhalb der jüdischen Tradition als ein Weg zur Entsakralisierung der Heiligen Schrift angesehen werden soll. Man kann wohl ohne Risiko annehmen, dass diese Praxis von den orthodoxeren Teilen der Gesellschaft negativ beurteilt wurde. Tatsächlich haben wir einige frühe Zeugnisse, die das Unbehagen in Bezug auf diese literarische Konvention widerspiegeln, und wir wissen, dass Maimonides später selbst seine Ablehnung dieser Verwendung der Bibel zum Ausdruck gebracht hat.6 Mit einigen Ausnahmen haben wir jedoch keine Beweise dafür, dass die hebräische Gesellschaft Andalusiens ihren Gebrauch als etwas Irreligiöses verstand, das einen Skandal hervorrufen hätte können. Obwohl die Dichter selbst manchmal gewisse Vorbehalte äußern, gibt es eine unbestreitbare Tatsache: mittelalterliche hebräi-
4
5
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Dieses (Stil-)Mittel, genannt schibbutz (Fassung eines wertvollen Steins), ist eines der am häufigsten verwendeten in der hebräischen Poesie von al-Andalus. Ein Gedicht kann aus einem Mosaik von Bibelzitaten bestehen, die nacheinander verknüpft werden, um profane Themen (Liebe, Wein usw.) zu behandeln. Zu dieser Vorgehensweise siehe Shari LOWIN, Arabic and Hebrew Love Poems in al-Andalus (London/New York: Routledge, 2014), 11–13. Im Gegensatz dazu wird das Arabische, die Kommunikationssprache der Juden in alAndalus, für den Rest der Texte verwendet, die diese Gelehrten verfassen (Philosophie, Medizin, Wissenschaft). In diesem Sinne kann eine interessante Analyse der Rolle, welche die hebräische Sprache beim Aufbau der Identität der jüdischen mittelalterlichen Gesellschaft im ausgehenden 10. Jh. spielt, nachgelesen werden in Esperanza ALFONSO, Islamic Culture Through Jewish Eyes. Al-Andalus from the tenth to twelfth century (London/New York: Routledge, 2008), 9–33. Yosef TOBI, „Maimonides’ Attitude towards Secular Poetry, Secular Arab and Hebrew Literature, Liturgical Poetry and Towards their Cultural Environment“, in Between Hebrew and Arabic Poetry. Studies in Spanish Medieval Poetry (hg. v. Yosef Tobi; Leiden/Boston: Brill, 2010), 422–466.
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sche Poesie kann ohne die Bibel nicht verstanden werden, und dadurch kann sich eine eigene jüdische Kultur behaupten.
3.
Biblische Frauen in der Hof-Poesie
Dieses Phänomen der Verschmelzung arabischer Stilkonventionen mit der Welt der Bibel führt dazu, dass zahlreiche Verweise auf Figuren in diesem Text auftauchen. In der weltlichen Poesie, der großen Innovation der mittelalterlichen jüdischen Literatur, ist die Präsenz von Frauenfiguren aus biblischen Büchern jedoch sehr begrenzt und besonders kodifiziert. Dieser Umstand steht im Gegensatz zu der viel größeren Anzahl männlicher Charaktere, sowohl mit negativen Merkmalen (Agag, Haman, Amalek usw.) als auch mit positiven (Noach, Josef, David usw.), wie uns die Verse zeigen. Obwohl sie oftmals auch stereotypen Mustern gehorchen, ermöglicht ihre Verwendung in einer größeren Anzahl von poetischen Formen reichhaltige und neuartige Lesarten. Wenn jedoch sowohl auf Frauen als auch Männer der Bibel zurückgegriffen wird, ist zu beachten, dass die in al-Andalus verfassten Gedichte ein vorbestimmtes literarisches System aufnehmen, an das sich die Autoren halten müssen. Die authentische Herausforderung des Dichters besteht darin, etwas Originelles zu schaffen, aber mit Formen, Charakteren, Stimmen und zuvor festgelegten Räumen jene Materialien, welche die Konvention vorgibt, auf neuartige Weise zu kombinieren. Poesie ist in diesem Zusammenhang kein Vehikel, um persönliche Erfahrungen auszudrücken oder biografische Episoden zu erzählen. Der Dichter gibt nicht vor, reale Episoden zu reflektieren, sondern er verschönert diese Realität, bis sie durch Anpassung an einen etablierten Kanon beinahe unkenntlich wird. In diesem Sinne konstituiert der dauernde Rekurs auf die gleichen Modelle ein Klischee. Bei weiblichen Charakteren wird dieser Umstand noch verstärkt, weil es nur sehr wenige Gattungen gibt, die ihre Präsenz begünstigen (und diese gehören noch dazu zu den konventionellsten). Die Lieder der Liebe und des Weins und die Hochzeitsgedichte sind die textuellen Räume, die den Frauenfiguren mehr Präsenz gewähren.7 Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir uns einer Literatur gegenübersehen, die von Männern geschaffen wurde und in erster Linie für ein männliches Publikum bestimmt ist. Die Verse spiegeln 7
Zu diesen Gattungen können u.a. konsultiert werden Raymond P. SCHEINDLIN, Wine, Women and Death. Medieval Hebrew Poetry on the Good Life (Philadephia/New York/Jerusalem: Jewish Publications Society, 1986); Aurora SALVATIERRA OSSORIO, Cantos de boda hispanohebreos. Antología (Córdoba: El Almendro, 1998). Von besonderem Interesse ist die Monographie von Shari LOWIN, Arabic and Hebrew Love Poems in al-Andalus (London/New York: Routledge, 2014).
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ihre Vorstellungen und Vorlieben wider, die weiblichen Darstellungen entsprechen einem kulturellen Muster, das von ihnen literarisch adaptiert wurde. Das grundlegende Ziel ist es, die Beherrschung der Sprache zu beweisen, die Fähigkeit, komplexe Metaphern zu verwenden oder biblische Verse so zu verknüpfen, dass das Publikum sie bewundern konnte. Diese Voraussetzungen bedingen die Auswahl und die Verwendung der Frauen der Bibel in einer Poesie, welche gerade jene Züge verwischt, die sie als individuelles Subjekt darstellen.8 Tatsächlich ist die poetische Fiktion in der Art eines dramatischen Monologs konstruiert, der sich um die Abwesenheit dieses ‚geliebten Ideals‘ dreht, das nicht vorhanden ist und dessen Liebhaber unter einer Entfernung leidet, die über den Tod hinausreicht. Es ist daher mehr die ‚Idee‘ der Geliebten als die ‚Geliebte‘ selbst, die dieses poetische Spiel strukturiert. Dies erklärt, warum wir keine echten oder individualisierten Frauen finden, die durch den Rückgriff auf ihre biblischen Vorgängerinnen hervorgerufen werden. Diejenigen Frauen, die diese Gedichte füllen, sind die „Gazelle“, die „Damhirschkuh“ oder die „Taube“, gewohnheitsmäßige Bezeichnungen für die geliebten Mädchen, Mädchen ohne richtige Namen. Obwohl die Tora der Ursprung vieler der sie beschreibenden Bilder ist, weisen sie darüber hinaus und werden Teil des in al-Andalus erstellten Modells. Jene biblischen Frauen, welche die Dichter heranziehen, sind mit einigen Ausnahmen auch diejenigen, welche die jüdische Gemeinde mit den Stereotypen einer geliebten oder treuen Frau besetzt. Im Allgemeinen schließt der Katalog der weiblichen Figuren in der Bibel diejenigen aus, die oft als ‚böse Frauen‘ zählen (Eva, Lots Frau, Potifars Frau usw.), aber viele der Betroffenen gelten auch nicht als ‚gut‘, selbst wenn sie stark, Heldinnen und Prophetinnen (Debora,9 Miriam, Rahab) sind. Die interessanten weiblichen Charaktere sind diejenigen, welche die Öffentlichkeit leicht mit Liebe, der guten Frau und vor allem der Schönheit in Verbindung bringen kann. Obwohl die meisten Frauen, die in der Bibel vorkommen, das eine oder andere Mal als schön beschrieben werden (Sara in Gen 12,11; Rebekka in Gen 24,16; Batseba in 2 Sam 11,2; Abischag in 1 Kön 1,3–4 etc.), werden nur einige von ihnen erwähnt, und sie treten lediglich in wenigen Fällen auf, um die Liebesleidenschaft oder die Ehe 8
9
Sicherlich versuchen die Dichter uns davon zu überzeugen, dass ihre Geliebte einzigartig ist und dass nichts und niemand mit ihr vergleichbar ist. Doch sehen sie alle gleich aus, weil sie auf dasselbe Stereotyp reagieren. Zu den herkömmlichen Merkmalen, mit denen die Geliebte beschrieben wird siehe SCHIPPERS, Spanish Hebrew Poetry, 168–212. Eine Ausnahme bilden die Kriegsgedichte von Samuel ha-Nagid, in denen gelegentlich dieses Zeichen verwendet wird. Wie im folgenden Vers gezeigt wird: „Verfahre mit ihnen wie mit Sisera, aber benimm dich bei mir // wie Barak und Debora.“ Hebräischer Text in Samuel ha-Nagid. Poemas I. Desde el campo de batalla. Granada 1038-1056 (hg. v. Ángel Sáenz Badillos und Judit Targarona Borrás; Córdoba: El Almendro 1988), 10.
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zu besingen. Es ist dasselbe Mittel, das männliche Charaktere wie Josef oder David gebrauchen, wenn sie die Schönheit der Geliebten beschreiben möchten.10 In beiden Fällen geht es darum, die Konnotationen auszunutzen, welche die einfache Erwähnung eines Namens bei den Lesenden/Hörenden hervorruft, die mit dem biblischen Text vertraut sind, und dem Namen die Rolle zuzuweisen, die er in dieser Literatur spielen wird. Zu den wenigen Frauen mit Eigennamen, die in den Liebesgedichten vorkommen, gehört Abigajil, die Frau von Nabal und später von David (1 Sam 25,14–42). Salomon ibn Gabirol, ein Dichter Malagas aus dem 11. Jh., erwähnt sie, um die Attraktivität der jungen Frau hervorzuheben, die den Liebhaber fängt und ihn dann verlässt. Was ist mit Abigajil, die gepackt hat / meine Seele mit ihren Augen und sie dort zurückgelassen hat? Alle, die sie begehren, haben ihr gesagt, dass ich sie / hasse und dass mein Hass gewaltig ist; Wenn es so ist und sie meine Erwählten vergessen hat, / muss ich den Liebespakt (brit ahava) doch einhalten, und kann sie nicht vergessen. Und der Sohn von Isai sandte Boten in das Haus von Abigajil (vgl. 1 Sam 25,39) / ich werde persönlich in ihr Haus gehen und niemanden schicken. Wenn es am Tag des Exils keine Opfer mehr für Gott geben wird / werde ich die Ganzopfer (olot) und Brandopfer (qorbanot) darbringen.11
Von der Frau, die im Buch 1 Sam 25,3 als „klug und schön“ bezeichnet wird, wird nur dieses letzte Merkmal (die Schönheit) aufgegriffen, um die Geliebte zu beschreiben. Was sie in diesem Zusammenhang auszeichnet ist ihre Macht, den Geliebten mit einem einzigen Blick zu bezwingen. Die Rolle der weiblichen Figur besteht nun darin, denen, die sie wollen, Schmerzen zuzufügen und sogar deren Leben durch die Kraft der Leidenschaft zu nehmen. Und wenn, wie wir im folgenden Gedicht sehen, auf andere Tugenden angespielt wird, ist es, um deren Verlust zu bedauern, weil die ‚gerechte‘ Abigajil zu Isebel wird (1 Kön 16,31):
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Siehe zum Beispiel ein bekanntes Gedicht von Isaak ibn Mar Saul, in dem der Geliebte wie folgt beschrieben wird „Seiner Figur nach ist er wie Josef, seinen Haaren nach ist er wie Absalom // die Schönheit ist wie die Davids / wie Urija tötete er mich.“ Hebräischer Text und spanische Übersetzung in Poesía secular hispano-hebrea (hg. v. Federico Pérez Castro; Madrid: CSIC, 1989), 23. Für eine detaillierte Analyse der Verwendung dieser biblischen Figuren siehe LOWIN, Arabic and Hebrew Love Poems, 49–70. Hebräischer Text in Solomon ibn Gabirol. Secular Poems (hebr.) (hg. v. Hayyim Brody und Jefim Schirmann; Jerusalem: The Schocken Institute, 1974), 27. Die deutsche (ungereimte) Übersetzung stammt wie alle Übersetzungen von Gerhard Langer.
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Aurora Salvatierra Ossorio Wie eine Palme / Tamar bist du in deiner Gestalt / und wie die Sonne in deiner Schönheit. Ich dachte, du wärst eine gerechte Herrin / Abigajil gleich in deiner Gerechtigkeit. Ich fand heraus, dass du mich töten wolltest / wie Isebel in deinem Frevel. Diese Fülle der Pracht und Schönheit / ich bin krank durch deine Liebe. Hole heraus meine Seele aus der Scheol / damit ich nicht sterbe dir gegenüber.12
Wir finden selten aber doch einige Lieder, in denen eine weibliche biblische Figur auftritt, deren Rolle im Vergleich zum biblischen Originaltext völlig verändert wird. Auf diese Weise zeigt der Autor seine Fähigkeit, unerwartete Assoziationen mit bekannten Themen herzustellen. Ein sehr interessantes Beispiel bietet erneut Salomon ibn Gabirol: Amnon bin ich, krank. Ruft mir Tamar! / denn wer sie begehrt geht in das Netz und in die Falle. Meine Freunde, meine Gefährten, bringt sie her zu mir, / das Einzige, was ich von euch erbitte ist dies: Setzt eine Krone auf ihren Kopf, bereitet ihr / Schmuck, und sendet ihr einen Becher Wein, damit sie kommt und mich küsst, vielleicht löscht sie das Feuer / in meinem Herzen, das mein pochendes Fleisch verzehrt.13
Der Dichter aus Malaga bedient sich der dramatischen gewaltbehafteten Erzählung in 2 Sam 13. Ihre Protagonisten sind Amnon, der Sohn Davids, und seine Schwester Tamar, jungfräulich und laut Text sehr schön. Der andalusische Autor setzt diese Episode in den Rahmen eines Liebesgedichts und liest sie im Lichte der Konventionen dieser Gattung (mit Schönheit, Liebeskrankheit, Wein usw.) neu. Jüdische Lesende wissen, was mit der Tamar der Bibel passiert ist, und ibn Gabirol weiß, welchen Effekt er erzielen kann, wenn er den Inzest in eine ‚idyllische‘ Szene zwischen zwei Liebenden verwandelt. Eine Episode aus dem Heiligen Buch mit tragischen Folgen wird hier zu einem höfischen Divertimento. Aber in beiden Fällen ist Tamar immer noch schön und weckt die krankhafte Leidenschaft Amnons.14 Häufiger sind Hinweise auf bestimmte biblische Frauen in Hochzeitsgedichten, weltlichen Kompositionen, in denen die jüdische Ehe gefeiert wird, zu finden. Sie versuchen eine Verbindung zwischen einer anonymen Freundin und jenen herzustellen, die in der Bibel Beispiele für eine tugendhafte Frau 12
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Hebräischer Text in Solomon ibn Gabirol. Secular Poems (hebr.) (hg. von Hayyim Brody und Jefim Schirmann; Jerusalem: The Schocken Institute, 1974), 159. Deutsche Übersetzung von Gerhard Langer. Ebd. 61. Deutsche Übersetzung von Gerhard Langer. Der Reim – hier immer auf – tekh (dein…) endend, kann leider nicht wiedergegeben werden. Für die Interpretation dieses Gedichts siehe Raymond P. SCHEINDLIN, Wine, Women and Death. Medieval Hebrew Poems, 111–113; LOWIN, Arabic and Hebrew Love Poems, 179–203.
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sind. Die Frau wird oft mit Rahel, Lea oder Hanna verglichen, und ihr Stellenwert als zukünftige Mutter oder ihr Eintritt in die Ehe werden betont. Dies ist zum Beispiel in den folgenden Versen der Fall, die aus zwei Hochzeitsgedichten von Isaak ibn Gajat/Gijat (11. Jh.) stammen: „Deine Frau ist wie ein fruchtbarer Weinstock im Innern deines Hauses“ (Ps 128,3) / Möge Gott die Frau, die in dein Haus kommt, wie Rahel und Lea machen“; „schöne Gazelle, Begehrte der Jungen / sei gelobt unter den schönsten Frauen / sei mit einem Sohn beschenkt wie Hanna, und lass ihren Sohn 52 Jahre leben!“.15 In diesem und anderen ähnlichen Versen ist die Fähigkeit, Mutter zu sein, das herausragende Merkmal dieser weiblichen Figuren. Die Erwähnung dieser biblischen Frauen bedeutet nicht, dass wir dadurch den wirklichen Namen der im Gedicht besungenen Frau erfahren, deren Identität nicht offenbart wird. Recht häufig haben die Protagonistinnen dieser Lieder den gleichen Namen, nämlich den der biblischen Braut par excellence, Ester. Meistens greift der Dichter auf den hebräischen Namen zurück, den die Königin im Buch der Bibel erhält: Hadassa (Est 2,7; 2,15). Dieser Begriff ist dem hebräischen Wort „hadas“ („Myrte“) sehr ähnlich, einem Strauch, der in der jüdischen Tradition mit Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wird und der aufgrund seines guten Geruchs und des damit verbundenen Schattens zur Dekoration des Brautbaldachins verwendet wird. Die Klangähnlichkeit von Hadassa und hadas (Ester – Myrte) begünstigt das Spiel zwischen beiden Begriffen, wie in diesem Fragment eines Gedichts von Jehuda Halevi (11. – 12. Jh.): Von der Myrte auf Hadassa weht ein Wind der Liebe, der die Liebeskranken heilt. Zwischen den Balsambeeten ging er vorüber (vgl. Hld 5,13) und das Antlitz der Gazellen schwärzte er am Abend, und langsam sprach er den beiden zu Herzen. Die Hand der Liebe hat über sie geschrieben: Der Moment der Vereinigung ist nah.16
Das homophone Stilmittel, das beibehalten wird, wenn die Frau in einigen dieser Lieder als „die Tochter Abihajils“ (Est 9,29) auftritt, ist wiederum das Vorbild eines gerechten Mannes: Warum steigst du auf, Sonne, warum erscheinst du? Die Zeit der Tochter Abihajils ist schon angebrochen! Sie überstrahlt das Mondlicht mit dem Glanz / Sohar ihrer Erscheinung,
15 16
Hebräischer Text in The Poems of Rabbi Isaac ibn Ghiyyat (hebr.) (hg. v. Yonah David; Jerusalem: Achshav Publishing House, 1987), 374, 389–390. Hebräischer Text in Dȋwân des Abû-l-Hasân Jehuda ha-Levi, Bd. 2 (hebr.) (hg. v. Hayyim Brody; Berlin: Schriften des Vereins Mequitze Nirdamim, 1894–1930), 55– 56. Deutsche Übersetzung von Gerhard Langer. Hier endet der Reim jeweils auf -ah.
200
Aurora Salvatierra Ossorio des Himmelsheers Arbeit ist vergeblich vor ihr. Sie hat sich entschieden, nicht in den oberen Himmeln zu wohnen und formte einen Himmel aus Myrte.17
In diesen Versen macht die Schönheit der Braut die Funktion des Mondes und der Sterne nutzlos, weil sie heller scheint als sie; und doch hat sie das Leben im Himmel aufgegeben und es vorgezogen, sich unter den mit Myrten geschmückten Traubaldachin zu begeben. Wie man sieht, wird versucht, mithilfe der Schönheit der Sprache die Schönheit Rahels, Esters oder anderer Frauen der Bibel zu vermitteln. Die Dichter gehen sehr selektiv bei der Auswahl weiblicher Figuren aus dem biblischen Korpus vor, sowohl in Bezug auf ihre Zahl als auch in Bezug auf die Merkmale, die sie auszeichnen.
4.
Die Geliebte des Hoheliedes: Der Hof und die Synagoge
Abgesehen von diesen und ähnlichen Beispielen kommen Frauen in der hebräischen weltlichen Poesie aufgrund ihrer Charakteristika nicht signifikant oft vor. In dieser Literatur wird jedoch derjenigen Frau Raum gegeben, die zweifellos als die große biblische Protagonistin in diesem Genre gelten kann: die Geliebte im Hohelied. Das Hohelied wird zu einem Schlüsseltext, wenn es darum geht, ein jüdisches Publikum für die zahlreichen literarischen Texte, welche die Dichter im Stil der arabischen Liebesdichtung verfassen, zu gewinnen. In den arabischen Liebesliedern wie im Hohelied haben die Gärten, Aromen und Klänge, welche die Liebesszene bestimmen, die Vergleiche und Metaphern, die die Liebenden oder ihre Gefühle beschreiben, vieles gemeinsam. Sich dieser Analogien bewusst, verschmelzen die hebräischen Dichter arabische Motive und biblische Anspielungen und schaffen so eine einzigartige lyrische Landschaft, in der sich die Grenze zwischen Profanem und Religiösem auflöst. Die fixen Bestandteile, welche die idealisierte Frau in der Poesie der Liebe beschreiben (weißes Gesicht, dunkles Haar, feine Taille, rote Lippen) und die aktuellen Kontexte, in welche sie gesetzt sind (die Bitte des Liebenden, der Schmerz der Trennung), werden überarbeitet und die hebräischen Quellen in Hinblick darauf neu gelesen. Auf diese Weise verschmilzt die Geliebte der weltlichen Lieder mit Sulamit. Bilder wie der „Weihrauchhügel“ (Hld 4,7), 17
Hebräischer Text und spanische Übersetzung in Yehudah ha-Levi. Poemas (hg. v. Ángel Sáenz-Badillos und Judit Targarona Borrás; Madrid: Editorial Alfaguara, 1994), 114–115; vgl. 149. Deutsche Übersetzung von Gerhard Langer. Hier endet der Reim jeweils auf -ija.
Biblische Frauen in al-Andalus
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die „tropfende Myrrhe“ (Hld 5,5), der „Wein der Lippen“ (Hld 1,1), die „Wangen wie Granatäpfel“ (Hld 4,3), die Geliebte als Schwester usw., werden in die Gedichte aufgenommen und ermöglichen es der hebräischen Aristokratie, die erotische Poesie von al-Andalus verbunden mit ihren eigenen kulturellen Bezügen auszukosten. Die Geliebte des Hoheliedes ist somit an jenes literarische Modell angepasst, das in diesen mittelalterlichen Texten nachgebildet wurde. Sie wird vor allem zu einer schönen Frau, deren große Tugend die Fähigkeit ist, sich zu verlieben. Hebräische Dichter lassen uns selten ihre Stimme hören oder ihre Gefühle erahnen. Ihrem Aussehen nach sind Frauen in der Poesie von al-Andalus mächtig. Sie werden oft in Bildern beschrieben, die ihre Aggressivität betonen (Locken wie Schlangen, die Brust wie ein scharfer Speer, das Herz wie ein Stein). Ihrer Stärke wird die Schwäche ihrer Lieben, den Opfern ihrer Schönheit, entgegengesetzt. Wenn man jedoch die Gedichte näher betrachtet, stellt man fest, dass es der Geliebte ist, die männliche Person, die ihren Blick kontrolliert, ihre Sprache beeinflusst. Er ist es, der schaut und sie zum Objekt der Begierde macht.18 Die männlichen Liebenden schweigen im Allgemeinen, obwohl das Leben ihrer Geliebten von ihnen abhängig gemacht wird. Sulamit ist in diesem Sinne keine Ausnahme. Im Gegensatz dazu ist in den Hochzeitsliedern ihre Stimme zu hören. In diesem Genre unterhält sich die Frau häufig mit dem Bräutigam, weil das hier zelebrierte Liebesideal ein anderes ist: harmonisch, auf Gegenseitigkeit ausgerichtet und als dauerhaft geschildert; die Gemeinde stimmt zu und Gott segnet sie. Die Braut behält jedoch charakteristische Merkmale der Liebeslieder. Sie ist vor der Ehe als eine erotische Figur beschrieben und wird immer noch mit Bildern gezeichnet, welche die Schönheit ihres Gesichts, ihrer Haare, ihrer Augen oder ihrer Brüste betonen. Und wieder werden die jüdischen Autoren vom Hohelied inspiriert, passen jedoch jede Assoziation, die ‚unbequem‘ in Bezug auf den Eros ist, dem neuen Kontext an. Als Beispiel dient ein Fragment eines Moaxaja, ein östliches Gedicht arabischen Ursprungs, von Jehuda Halevi: Mein Geliebter, komm zu mir / zur Halle meines Palastes, „um in den Gärten zu weiden“ (Hld 6,2). Erscheine in meinen Zelten, in den Beeten bei meinen Zelten, „um Lilien zu pflücken“ (Hld 6,2). Für dich sind die Granatapfelbrüste / als Geschenk gegeben, damit die Gläubigen / sich freuen mit den fruchtbaren und glücklichen Brautleuten. „Mein Geliebter ist mein und ich bin sein“ (Hld 6,3) / wenn ich anklopfe am Ort seines Palastes, „um in den Gärten zu weiden“ (Hld 6,2).
18
Zu diesem Analysevorschlag siehe die ausgezeichnete Monographie von Tova ROSEN, Unveiling Eve. Reading Gender in Medieval Hebrew Literature (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2003).
202
Aurora Salvatierra Ossorio „Sein Zeichen über mir heißt Liebe“ (Hld 2,4); „seine Linke liegt unter meinem Kopf“ (Hld 8,3), „um Lilien zu pflücken“ (Hld 6,2). Eine Quelle versorgt die Obstgärten zuverlässig (neemanim) mit ihrem Wasser, damit die Gläubigen (bne schomre emunim) sich freuen mit den fruchtbaren und glücklichen Brautleuten.19
Der Einfluss der arabischen Poesie ist nicht auf diese Art von weltlicher Komposition beschränkt. Überraschenderweise beginnt man auch in der Synagoge Verse zu rezitieren, deren Muster aus der Kultur Andalusiens stammen. Obwohl bereits in Palästina aus byzantinischer Zeit Gedichte (Pijjutim) verwendet wurden, um die verschiedenen Abschnitte der Liturgie zu begleiten, werden sie in al-Andalus auf Hebräisch mit Texten gebetet, welche die Lieder der Liebe imitieren. Ihr Publikum ist nicht mehr die kleine Gruppe von Aristokraten, die im Garten ein höfisches Fest feiert. Es ist die Versammlung, die jüdische Gemeinde als Ganzes, die einer ihrer Tradition fremden Poesie in einem religiösen Umfeld zuhört. Elemente der Liebesgedichte der Araber verschmelzen mit denen des Hoheliedes. Vor Jahrhunderten hatte die synagogale Dichtung aus dem Hohelied das Modell entnommen, Gott und Israel als Liebende darzustellen, die, obwohl getrennt, endlich vereint sein werden. Jetzt werden die Verse in ein anderes Licht gestellt, wobei die Ähnlichkeiten zwischen den Situationen und Bildern des biblischen Buches und der arabischen erotischen Poesie genützt werden und dabei die Grenzen zwischen dem Säkularen und dem Religiösen verschwimmen.20 Wie wir gesehen haben, sind sich die hebräischen Autoren der vielen Parallelen bewusst, die zwischen der Liebeslyrik von al-Andalus und dem Hohelied bestehen. Diese Ähnlichkeiten ermöglichen es ihnen, auch im jüdischen Raum eine religiöse Botschaft zu übermitteln. Zum Beispiel wird das Motiv der ‚Freunde der Verliebten‘, deren Funktion in der weltlichen Poesie darin besteht, ihre Hingabe an die Leidenschaft zu beobachten und zu tadeln, in synagogaler Poesie mit den ‚Töchtern Jerusalems‘ identifiziert (Hld 1,5; 1,7 usw.). In diesem neuen Rahmen verwandelt sich das Kollektiv (‚Töchter Jerusalems‘), das im Hohelied mit Misstrauen auf Sulamit schaut, in diesen religiösen Gedichten in ein Symbol der Kritiker Israels im Exil. Ebenso wird die traurige und frustrierte Liebe, die typisch für andalusische Gedichte ist, zum Vehikel, um Schlüsselthemen der liturgischen Poesie zu entwickeln. Insbesondere das Problem des Exils findet in dieser Konvention eine wirksame Quelle, um den Schmerz auszudrücken, der durch das Verlassen Gottes und das Vertrauen in die Wiederherstellung seiner Liebe verursacht wird.
19
20
Hebräischer Text und spanische Übersetzung in Yehudah ha-Levi. Poemas (hg. v. Ángel Sáenz-Badillos und Judit Targarona Borrás), 120–121, vv. 5–13. Deutsche Übersetzung von Gerhard Langer. Raymond P. SCHEINDLIN, The Gazelle. Medieval Hebrew Poems on God, Israel and the Soul (Oxford: Oxford University Press, 1991), 18–25, 36–41.
Biblische Frauen in al-Andalus
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Hermeneutisch wenden jüdische Dichter ein Allegorisierungsverfahren an, das dem der traditionellen Interpretation des Hohelieds ähnelt. Unter Verwendung der Ähnlichkeiten mit den arabischen Vorbildern führen sie eine Übertragung auf die liturgische Poesie durch. Dies ist z.B. der Fall bei der „Gazelle“, dem Bild der Geliebten in den Versen von al-Andalus: Dieses Motiv entspricht der „Gazelle“ der Bibel (zum Beispiel in Spr 5,19), das wiederum als Allegorie auf Gott und sein Volk gedeutet wird. In dem folgenden Lied, das von ibn Gabirol geschrieben wurde, sehen wir einen dieser Dialoge, in denen sich Israel wie eine verlassene Braut nach der Rückkehr ihres Geliebten, des Messias, sehnt: Die Tür, die verschlossen – steh auf, und öffne sie, und die Gazelle, die geflüchtet – sende sie zu mir. Für den Tag, an dem du zu mir kommst, um zwischen meinen Brüsten zu liegen, dort wirst du deinen Duft auf mir hinterlassen. Wem gleicht dein Geliebter, du Braut mit dem schönen Mund / den schönen Worten, wenn du zu mir sagst: „Schick jemand hin und lass ihn holen“ (1 Sam 16,11 = David)? „Er hat schöne Augen, ist rötlich und schön anzusehen“ (1 Sam 16,12, vgl. Hld 5,10): das ist mein Geliebter und mein Freund, steh auf und salbe ihn!21
Die Geliebte des Hoheliedes hat in diesen Gedichten eine neue Bühne gefunden, auf der sie ihre Schönheit und die Stärke ihrer Gefühle zeigen kann. Mit Bildern, die sich die weltliche Poesie zu eigen gemacht hat, drücken sie die Traurigkeit der Trennung oder den Wunsch nach Wiedervereinigung aus. Aber in der Synagoge ist die Liebhaberin nicht länger die junge Frau, welche die Leidenschaft eines Liebhabers weckt und ihn ihrem Willen unterwirft. Jetzt verkörpert sie Israel und ihr Gesprächspartner ist kein anderer als der Erlöser, der Messias David, auf den die jüdische Gemeinde wartet.
5.
Finale Überlegungen
Obwohl die spanisch-hebräische Poesie sich mit Frauen der Bibel nur in einem sehr begrenzten und eng umrissenen Rahmen auseinandersetzt, ist ihre Präsenz in diesen Versen mit interessanten Wendungen im Vergleich zu ihrer üblichen Darstellung in der ihr vorangehenden jüdischen Literatur verbunden. Besonders die Neuinterpretation der Geliebten des Hohelieds zeigt uns, wie ihre Fi21
Hebräischer Text in Hebrew Poetry in Spain and Provence, Bd. 1 (hebr.) (hg. v. Jefim Schirmann; Jerusalem: Bialik Institute, 1954–1959), 240. Deutsche Übersetzung von Gerhard Langer.
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Aurora Salvatierra Ossorio
gur überarbeitet wird, um auf den literarischen Geschmack und die Umstände der mittelalterlichen hispanischen Gemeinschaften zu reagieren. In diesem neuen Rahmen gewinnt Sulamit Eigenschaften zurück, die verloren gegangen waren. Um sich des Wandels bewusst zu werden, muss man sich der Literatur des klassischen Judentums zuwenden (ca. 3. – 8. Jh.). Das Interesse am Hohelied und seinen Protagonisten konzentrierte sich dabei auf religiöse Fragen, auf die Auslegung der heiligen Texte, sowohl der schriftlichen (Bibel) als auch der mündlichen Tora (Mischna). In den in dieser Zeit komponierten Werken interessiert man sich für das Hohelied, wie für die übrigen biblischen Bücher, nicht als literarische Werke, sondern im Hinblick auf ihre theologisch-religiöse Funktion. Man denke an den Midrasch zum Hohelied (Hohelied-Rabba). In diesem Werk werden fast alle Verse mit großer Sorgfalt kommentiert, wobei sie als Metaphern für die wichtigsten Befreiungsakte in der Geschichte Israels verstanden werden. Um den Anfang zu nennen: „Besser als Wein ist deine Liebe” (Hld 1,2), bedeutet, dass die Tora mit Wasser, Wein, Balsam, Honig und Milch verglichen werden kann […]. Eine andere Auslegung zu „besser ist deine Liebe“ bezieht sich auf die Patriarchen; „als Wein“ bezieht sich auf die Fürsten [...]. Eine andere Auslegung zu „besser ist deine Liebe“ bezieht sich auf die Opfergaben; „als Wein“ bezieht sich auf die Trankopfer [...]. Eine andere Auslegung zu „besser ist deine Liebe“ bezieht sich auf die Israeliten; „als Wein“ bezieht sich auf fremde Völker.
Die Geliebte in diesen Schriften hat aufgehört, die leidenschaftliche Frau zu sein, die nach ihrem Geliebten sucht. Die freie und glückliche Frau ist zu einer Allegorie geworden, in der ihre Gefühle und ihr Körper nur diffus sind. Ähnliches geschieht in einer Passage aus dem babylonischen Talmud in Bezug auf Hld 7,3: „Dein Nabel ist eine runde Schale, Würzwein mangle ihm nicht“ (Hld 7,3): „Dein Nabel“, das ist der Sanhedrin. Und warum heißt es „dein Nabel“? Weil es der Nabel der Welt ist [wo sich der Tempel befindet]. „Schale“ (aggan), weil er [der Sanhedrin] die Welt schützt (meginna). „Rund“ (hassahar), weil er wie der Mond (sahar) geformt war. „Würzwein mangle ihm nicht“, heißt, wenn einer von ihnen [von den Mitgliedern des Sanhedrins] gehen musste, konnte er dies nur tun, wenn es dreiundzwanzig Mitglieder gab, die dem kleinen Sanhedrin entsprachen; wenn dies nicht war, konnte er es nicht tun [gehen]. (bSanhedrin 37a)
Auch der Targum (die aramäische Übersetzung) zum Hohelied interpretiert die Beziehung zwischen den Liebenden als Sinnbild für die Beziehung Gottes
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zu Israel, vom Auszug aus Ägypten bis hin zum Ende des Exils, wenn der Messias kommt.22 Als sich jedoch das Zentrum des jüdischen Lebens vom Osten in die Länder von al-Andalus verlagert, gewinnen einige Merkmale der Frau des Hoheliedes wie auch ihre Schönheit in der hebräischen Literatur wieder an Bedeutung. Diese reiche Kultur ermöglichte es der liturgischen Poesie und den weltlichen Liebesgedichten, die Leidenschaft des Textes der Bibel wiederzugewinnen. Ab dem 10. Jh. sind wieder Verse zu hören, die von Küssen, Liebkosungen und Umarmungen sprechen. Indem sie an Sulamit und andere weibliche Figuren erinnern, bereichern die Dichter einerseits ihre Verse, während sie andererseits eine besondere Lesart der Tora bieten. In ihren Versen werden traditionelle Bilder und Themen aktualisiert, um der Geliebten des Hohelieds zu ermöglichen, ihre Sehnsucht nach den messianischen Zeiten in der Synagoge auszudrücken, aber sie ermöglichen es ihr auch, an höfischen Abenden weltliche Liebe zu besingen, während sie Wein und Musik im Garten genießt. An beiden Plätzen wird die Frau des Hohelieds lebendig und lässt uns ihre Stimme erneut hören.
22
Für die englische Übersetzung siehe The Targum of Canticles. Translated with a Critical Introduction, Apparatus and Notes (hg. v. Philip Alexander; London/New York: Clark, 2003).
Die Entwicklung der weiblichen Dimension Gottes in der mystischen Tradition1 Rachel Elior Hebrew University, Jerusalem
1.
Hinführung: Die rabbinische Zeit
Die Schekhina verkörpert die göttliche Präsenz in der jüdischen Gemeinde in den neuen Formen des Gottesdienstes, die sich in der Welt der Weisen herauskristallisierten, nachdem es keinen Tempel mehr gab, der Kult im Heiligtum nicht mehr existierte, Jerusalem nicht mehr war, ein beträchtlicher Teil des Volkes getötet worden und ein großer Teil ins Exil gezogen war. Tausende von Jahren hatte sie, in Anspielungen und in ausdrücklicher Form, in ihrem Wesen und in ihren Symbolen all die konkreten heiligen Dinge in sich getragen, die nun verlorengegangen waren: das Allerheiligste und die Cherubim; den Tempel auf dem Berg Zion; den heiligen Kult der Priester und Leviten, der mit der Sprache des Tempels, der Heiligen Sprache, und mit der Darbringung der Opfer im Tempel in siebenjährigen rituellen Zyklen, unter Beifügung der Zyklen des heiligen Gesangs, verbunden war; die Offenbarungslehre der Priesterschaft und der Prophetie; Zion und Jerusalem; und die Gemeinde Israels in ihrem Land. Jetzt kristallisierte sie sich heraus als eine neue und vielschichtige Form der Gottespräsenz in der Welt der Weisen, die Tora lernen, beten, Segenssprüche sprechen und in die Verbannung ziehen und dabei fortfahren, an jedem Ort, in der Heiligen Sprache und im Aramäischen, das sich ihr zugesellt, die mündliche Tora zu schaffen, die mit der Schekhina und der menschlichen Rede, die nicht auf einen heiligen Ort und eine Beziehung zum „Samen Ahrons, dem Allerheiligsten“ beschränkt ist, verbunden ist. Ein ganzer konkreter heiliger Komplex, der verlorengegangen war, der mit der Heiligkeit in der reellen Welt, im Tempel auf dem Berg Zion, in historisch-geographischen Grenzen verbunden war, wurde also durch die überzeitliche Welt der Rede ersetzt, die zusammengesetzt ist aus den in der schriftlichen Tora festgelegten Buchstaben der Heiligen Sprache und einem sprechenden, sich wandelnden Geist, der sich gleichzeitig in einer göttlichen und in einer menschlichen Dimension befindet – „Stimme, Geist und Rede, das ist der 1
Der folgende Artikel ist die gekürzte Version eines von Tamar Avraham aus dem Hebräischen übersetzten Beitrages für ein Ausstellungsprojekt. Danke auch an Felicitas Heimann-Jelinek für die Überlassung der Rechte.
Schekhina in der Kabbala
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Heilige Geist“, in den Worten des Sefer Jetzira („Buch der Schöpfung“). Der Heilige Geist, ein Ausdruck, den das Sefer Jetzira geprägt hat, ist der Geist Gottes, der die Welt durch die Rede erschafft, der die Schöpfung jeden Tag durch die Buchstaben der Heiligen Sprache, mit deren Kraft die Welt erschaffen wurde, schafft und erneuert, der sich im Geist des Menschen, der diese Buchstaben studiert und in ihnen weiter schafft, offenbart. Die Welt der Rede in der Heiligen Sprache ist eine Welt, die Studium, Segenssprüche und Gebet, Predigt und Auslegung, Rechtsprechung, Halakha und Aggada, Dichtung und Übersetzung enthält, die alle in der Gestalt der Schekhina zusammenkommen, die als „Welt der Rede“ bezeichnet wird und die mündliche Tora und ihre Beziehung zur schriftlichen Tora, die mit der Beziehung von Quer- zu Längsfäden zu vergleichen ist, verkörpert. In derselben Zeit wurde in Sifre, dem halakhischen Midrasch zu Dtn 11,19, die absolute Verpflichtung, alle Söhne diese Sprache zu lehren, festgelegt: „Wenn das Kleinkind anfängt zu sprechen, soll sein Vater mit ihm in der Heiligen Sprache sprechen und es Tora lehren; und wenn er nicht mit ihm in der Heiligen Sprache spricht und es nicht Tora lehrt – wird ihm das so angerechnet, als habe er es begraben“. Die Schekhina als immanente göttliche Präsenz, die als eine weibliche Realität in der Welt der Lernenden und Betenden anwesend ist, wurde nach der Zerstörung des Zweiten Tempels mit drei neuen Elementen verbunden, die mit der Welt der Rede in der Heiligen Sprache, die in der heiligen jüdischen Gemeinde streng bewahrt wurde, zu tun haben: mit dem Studium der mündlichen Tora, das den Tempel und den heiligen Kult ersetzt hat: „Zehn, die miteinander sitzen und sich mit der Tora befassen – die Schekhina befindet sich zwischen ihnen“ (mAvot 3,6); mit dem Gebet, das den Opferkult im Tempel ersetzt hat: „Zehn, die beten – die Schekhina ist mit ihnen“ (bBerakhot 6a); und mit einer zerstreuten göttlichen Präsenz, die die Kinder Israels zu jeder Zeit in den heiligen Gemeinden im Exil, in denen man alle Söhne als einzige Sprache die Heilige Sprache lehrt, begleitet: „R. Schim’on bar Jochai sagt: Komm und sieh, wie sehr der Heilige, gepriesen sei er, Israel liebt – an jedem Ort, an den sie verbannt wurden, ist die Schekhina bei ihnen“ (bMegilla 29a). Neben dem biblischen Gott, dem Schöpfer und Gesetzgeber, dem Gott der Geschichte und des Bundes, dessen Tempel zerstört, dessen heiliger Kult aufgehoben, dessen erwählte Stadt in Trümmer gelegt, dessen Volk exiliert und dessen Bund gebrochen worden war und dessen sprechende und gesetzgebende männliche Erinnerung in der schriftlichen Tora, in der Sprache der Offenbarung, erhalten blieb, ist also im Laufe des Exils im ersten christlichen Jahrtausend ein neues weibliches göttliches Wesen entstanden, das mit der irdischen und himmlischen „Versammlung Israels“ verbunden ist, in der Heiligen Sprache erinnert und schafft und zu neuem Leben erwacht in der neuen Wort-Schöpfung in der Welt der Weisen, die aus der Welt der Bibel herausbricht und ihren Ausdruck findet in der Mischna und im Gebet, in der Predigt und der Auslegung, in der Halakha und der Rechtsprechung, in den
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Rachel Elior
Segenssprüchen und den Legenden, in den Midraschim und den Pijjutim (Dichtungen), in den Erlösungs-Midraschim und in der Hekhalot-Literatur (Mystik der himmlischen Thronwelt). Die biblische Welt vereinigte den heiligen Ort, den Gott erwählt hat, um dort seinen Namen wohnen zu lassen, mit der heiligen Zeit der heiligen Feste, die mit der Wallfahrt zur heiligen Stadt verbunden waren, und mit dem heiligen Kult des Opfergottesdienstes und heiliger Wache um den Tempel in Jerusalem und die heiligen biblischen Bücher. In letzteren wurden die Einzelheiten der festgesetzten, ewigen, kontinuierlichen Zyklen des heiligen Kultes, die mit der schriftlichen Tora, heiligen Lesung, Priestertum und einer männlichen, an einem einzigen heiligen Ort sprechenden Gestalt Gottes verbunden sind, beschrieben. Dagegen konnten in der Welt, die sich nach der Zerstörung in der Sprache der Weisen kristallisierte, jeder Ort, jede Zeit, jeder Gottesdienst im Herzen, jedes mündliche Lernen, jede Predigt und jede Auslegung, jede Diskussion und jede Rechtsprechung in der Heiligen Sprache, die eine Verbindung zwischen dem heiligen biblischen Text und seinem Studium in Halakha und Aggada, in Midrasch und Pijjut schufen, zum Ort der weiblichen Schekhina werden. Diese repräsentierte die mündliche Tora in ihren verschiedenen Bereichen, die mündliche Tora, die dauernd geschaffen wird in der menschlichen Rede in der Heiligen Sprache, die sich im Laufe der Generationen ändert, wie ein Gewebe von Längs- und Querfäden, das dem biblischen Fundament ein schöpferisches Gemisch neuer Gedanken hinzufügt; die mündliche Tora, die dauernd geschaffen wird im Mund der Lernenden, die sich mit der Welt der Rede verbinden, also mit der Schekhina, die sich überall dort befindet, wo in der Heiligen Sprache gelernt und gebetet wird. Während des ersten Jahrtausends wurde die Gestalt der exilierten Schekhina, die mit ihren Kindern ins Exil geht, sich im Exil befindet und die Erlösung erwartet, mit der ewigen, irdischen und himmlischen „Versammlung Israels“ identifiziert, die als die Geliebte, mit der am Schavuot-Fest, dem Fest der Gabe der Tora, der Bund am Sinai geschlossen wurde, angesehen wurde. Ebenso wurde die Schekhina mit der mündlichen Tora identifiziert, die dauernd in den Kreisen der Lernenden und Betenden aus dem Lernen in der Heiligen Sprache heraus neu geschaffen wird und den Bund erneuert kraft des Lernens während der Rede und kraft der Schöpfung in der sich in der Sprache der Weisen, des Midrasch und des Pijjut, des Gebetes und der Merkava(Thronwagen-) Tradition dauernd erweiternden Sprache. Die Schekhina wurde aufgefasst als die mit ihrer heiligen Präsenz Anwesende in der Gruppe der Lernenden und Betenden, die jeden Tag in der Heiligen Sprache um das Kommen des Messias und die Rückkehr nach Zion betet, und unter denen, die die mündliche Tora studieren, die jeden Tag neu in den Buchstaben der Heiligen Sprache geschaffen wird, überall dort, wo „drei Tora lernen, befindet sich die Schekhina zwischen ihnen“ oder: „zehn, die beten – die Schekhina ist zwischen ihnen“.
Schekhina in der Kabbala
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Der Messias, der, wie die Schekhina, am 9. Av, dem Tag der Zerstörung des Tempels, geboren wurde, wird in den aggadischen und in den ErlösungsMidraschim, die in der zweiten Hälfte des ersten christlichen Jahrtausends verfasst wurden, als Gefesselter in einem Gefängnis im „verbrecherischen Rom“, der Stadt, die Jerusalem zerstört hat, als Aussätziger, der seine Wunden verbindet oder als bitterlich weinender Gefangener im Gefängnis beschrieben. Aber sowohl der Messias als auch die Schekhina hatten weitere, wandelbare Dimensionen, welche die Hoffnung der verfolgten Exilierten zum Ausdruck brachten: Der Messias wurde dahingehend beschrieben, dass er nach langer Zeit aus dem Gefängnis befreit werden und die Rache der Verfolgten, die sich in einer Welt, in der ihnen von Menschen keine Gerechtigkeit widerfuhr, nach einem gerechten himmlischen Gericht sehnen, üben wird. Die Schekhina wurde – an den sechs Wochentagen – als Witwe, Geschiedene und Gefangene als auch – am Schabbat – als geliebte, die Erlösung repräsentierende Braut beschrieben und schließlich als der Ruheort der Toten Israels, die darauf hoffen, „wahre Ruhe unter den Flügeln der Schekhina zu finden“ (Sifre Dtn § 355; bSota 13b). Die weibliche Gestalt dieser göttlichen Präsenz war eine sich wandelnde und vielfältige, denn die Schekhina war sowohl die verwitwete, weinende, exilierte, sich nach Erlösung sehnende Tochter Zion als auch die Mutter Zion (angefangen mit der Septuaginta-Übersetzung von Ps 87; 4 Esr 8; Pesiqta Rabbati 26); die geliebte Braut, die sich an Schabbaten und Festtagen als „Versammlung Israels“ mit ihrem Geliebten, dem „Heiligen, gepriesen sei er“, vereinigt; die Erinnerung an das vergangene Zion, sein Allerheiligstes und seinen Tempel; die mündliche Tora, die in der Gegenwart durch die Lernenden in Studium, Midrasch, Pijjut und Geheimlehre geschaffen wird; die historische irdische Gemeinde Israels, deren Anfang der Bundesschluss am Sinai bildet, in dem sie in einem ewigen Bund zwischen Gott und seinem Volk wie eine Braut dem Bräutigam angetraut wurde; die ewige himmlische Gemeinde Israels, die als Ewiges Israel, Zion, Königreich und Diadem bezeichnet wird; die göttliche Präsenz unter den Lebenden, wenn die Schekhina überall, wo sie lernen und beten, unter ihnen ist; und auch die letzte Ruhestätte der Toten, die im Garten Eden „wahre Ruhe unter den Flügeln der Schekhina finden“.
2.
Die frühen Kabbalisten
Die Kabbalisten, die vom Ende des Zeitalters der Kreuzzüge am Ende des 13. Jh. bis zum Ende des 15. Jh. in Südfrankreich und Nordspanien wirkten und die kabbalistische Literatur, angefangen vom Sefer ha-Bahir und dem Sohar, verfassten, brachten einen Umbruch hinsichtlich der Auffassungen von Gott,
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Rachel Elior
der Schekhina, der Tora und der Gebote, der Halakha und des Menschen.2 Sie stellten zum ersten Mal die Schekhina in Beziehung zu Gott und nicht nur zur heiligen Stadt und zum Volk Israel dar und legten ihren Platz in der Welt der Sefirot fest. Die Kabbala nahm ihren Anfang im 12. Jh. in der Provence mit der Entdeckung des anonymen, auf Hebräisch und im Stil der Midraschim verfassten Sefer ha-Bahir („Buch des Glanzes“), das noch nie dagewesene Gedanken mit scheinbar bekannten Rahmen der Auslegung verband. Der Kabbala-Forscher Prof. Joseph Dan charakterisierte die Einzigartigkeit dieser Schrift so: „Im Sefer ha-Bahir wurde dem Volk Israel eine Machtposition verschafft, die die Gestalt und den Status der göttlichen Welt beeinflusst und sie gestaltet“.3 Sefer ha-Bahir handelt von einer doppelgesichtigen Gottheit, die sich in einen oberen und einen unteren Bereich teilt: Der männliche Gott wird als die oberste Emanationsquelle (ma‘atzil), als Ursprung des Lichtes und der Schöpfung und als Ursprung des geschriebenen Gesetzes aufgefasst. Unter ihm befindet sich der emanierte (ne‘etzal) Bereich der Schekhina, der Tochter des Lichtes, die als empfangende Herrlichkeit beschrieben wird. Der Verfasser legt zum ersten Mal eine wesensmäßige Identität zwischen der Schekhina und der Halakha fest und sagt, dass die die Gebote ausübenden Handlungen die Glieder der Schekhina sind und die Schekhina der mystische Ort der 248 positiven Gebote, die den 248 Gliedern des Menschen entsprechen, ist. Dr. Alon Dahan, der das Sefer ha-Bahir erforscht hat, erklärte die Neuerung so: Nun wurde die Schekhina mit der religiösen Handlung, die mit den Geboten und den halakhischen Vorschriften verbunden ist und die den Menschen überlassen ist, identifiziert. Der Körper der Schekhina wird mit dem göttlichen Wesen, das die Emanation aus der oberen Schicht der Gottheit empfängt, gleichgesetzt, aber gleichzeitig ist sie mit den Handlungen des Volkes Israel und mit der Halakha, die ihren Körper zusammensetzt, identisch. Das Sefer ha-Bahir stellt in folgenden Worten eine klare Identität zwischen der Halakha, einschließlich ihrer praktischen Einhaltung, und der Schekhina fest: „Wenn sie [Israel] gut und gerecht sind, so wohnt die Schechina unter ihnen, und durch ihre Werke weilen sie in Gottes Schoß, und er lässt sie fruchtbar sein und sich vermehren“.4 Dieselbe Schekhina, 2
3
4
Gershom SCHOLEM, Zur Kabbala und ihrer Symbolik (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973); DERS., Von der mystischen Gestalt der Gottheit (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977); DERS., Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980); Rachel ELIOR, Jewish Mysticism: The Infinite Expression of Freedom (Oxford: Littman, 2007); Moshe IDEL, Kabbalah: New Perspectives (New Haven/London: Yale, 1988). Joseph DAN, „A Re-evaluation of the ‚Ashkenazi Kabbalah‘“, Jerusalem Studies in Jewish Thought 6/3–4 (1987): 138–139 (hebr.). Vgl. DERS., History of Jewish Mysticism and Esotericism. The Middle Ages, Bd. 7: Early Kabbalistic Circles (hebr.) (Jerusalem: Zalman Shazar, 2012). Sefer Ha-Bahir 119 [nach der hebr. Ausgabe von Ruben MARGULIES, (Jerusalem: Mossad Harav Kook, 21978), 53]. Deutsche Übersetzung von Gershom SCHOLEM, Das Buch Bahir. Ein Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala auf Grund der
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die sich in den Taten Israels befindet, ist im Schoß des Heiligen, gepriesen sei er, verborgen und ist der emanierte Bereich des Heiligen, gepriesen sei er.5
Angefangen vom Sefer ha-Bahir wurde in der mystischen Tradition die Unterscheidung von männlicher Emanationsquelle und weiblichem emaniertem Wesen festgelegt wie auch die Gleichsetzung des Schöpfers mit der schriftlichen Tora und der Schekhina mit der Halakha und der mündlichen Tora, wobei beide eine neue mystische Position bekamen. Der emanierte Raum wurde um neue Vergleiche und Symbole bereichert, die sowohl mit der Halakha als auch mit der Mystik in Beziehung stehen und der Welt der religiösen Praxis, die mit der Schekhina verbunden wurde, einen neuen Inhalt verliehen. Die Schekhina erweist sich im Sefer ha-Bahir als ein vielgesichtiges Wesen, das austauschbare Formen an- und ablegen kann. Manchmal ist sie die empfangende Herrlichkeit und manchmal die Tochter des Lichtes, manchmal die 32 wunderbaren Bahnen der Weisheit des Sefer Jetzira, die sich aus „22 Grundbuchstaben und zehn wesenlosen Sefirot (Zahlen)“ zusammensetzen. Manchmal wird sie Segen, Weisheit, Tora und Anfang genannt; manchmal ist sie der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse oder ein Baum, der von zwei Seiten aus wächst; manchmal ist sie der „Ewiglebende“, manchmal die Halakha und die Gebote, manchmal die Königstochter, das Königreich und die Herrlichkeit; und es wird über sie gesagt, dass ihr Bräutigam der „Heilige, gepriesen sei er“, ist. Der Verfasser des Sefer ha-Bahir sagt über dieses emanierte weibliche Wesen: „Und in seiner großen Liebe zu ihr nennt er sie manchmal ‚meine Schwester‘, denn von einem Orte stammen sie, manchmal nennt er sie ‚meine Tochter‘, denn sie ist [ja] seine Tochter, und manchmal nennt er sie ‚meine Mutter‘“.6 Es gibt keine Hierarchie zwischen der Tochter, der Schwester, der Braut und der Mutter, und es handelt sich ausdrücklich um ein einziges, emaniertes Wesen, die Schekhina, die mit wechselnden Namen, je nach dem Thema des behandelten Gleichnisses, bezeichnet wird. Die Neuerung des Sefer ha-Bahir ist, dass die intimen und verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Gott und der Schekhina oder zwischen dem König und der Braut ausschließlich vom Volk Israel abhängig sind, von seiner mystisch motivierten Einhaltung der Gebote, die mit dem Körper der Schekhina verbunden sind, und von der Einhaltung der Halakha, die identisch ist mit der Vereinigung der Schekhina mit ihrem Geliebten oder ihrer Entfernung von ihm, wegen Israel und durch Israel.7 Im Lehrhaus des Ramban (Nachmanides) wurde über die Schekhina geschrieben: „Die zehnte Sefira heißt Schekhina. Sie ist die Krone ... Sie ist [das
5 6 7
kritischen Neuausgabe von Gerhard Scholem (Leipzig: Drugulin, 1923; Nachdruck Darmstadt: WBG, 41989), § 85, 92. Alon DAHAN, „Ashkenazic Motifs in the Halachah of the ‘Bahir’“, Jerusalem Studies in Jewish Thought 22 (2011): 159–180 (hebr.). Das Zitat befindet sich auf 162–163. Bahir 63 [29] (SCHOLEM, § 43, 45). Bahir 76 [33] (SCHOLEM, § 51, 52–53). Siehe Gershom SCHOLEM, Ursprung und Anfänge der Kabbala (Berlin: de Gruyter, 2001).
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Symbol] diese[r] Welt, denn die Leitung dieser Welt liegt in ihrer Hand, und zwar durch den Strom der Emanation, der ihr von den oberen Sefirot zukommt. ... Und sie heißt ‚Engel Gottes‘ ... und ist die Braut im Hohen Lied, die Tochter und Schwester heißt, und ist die ‚Versammlung Israels‘, in der alles gesammelt ist. Sie ist das obere Jerusalem und heißt in den Gebeten Zion“.8 Die Kabbala, die Gott in einen Prozess verwandelte und eine dynamische Auffassung der Gottheit als Einheit von Gegensätzen vorlegte, goss im zweiten Jahrtausend in das Wesen Gottes die menschliche Zweigeschlechtlichkeit und die in ihr enthaltenen Verwandlungen, die mit Vereinigung, Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und Fruchtbarkeit zusammenhängen. Die Kabbalisten wagten es, dies gegen die Konventionen der monotheistischen Tradition, die das Göttliche vom Menschlichen und das Abstrakte vom Materiellen trennt, zu tun, da die furchtbare physische Vernichtung der jüdischen Gemeinden entlang des Rheins und das erschreckende Abreißen der Kontinuität des Lebens, welche die Kreuzfahrer über die ohne jede Schuld ermordeten Juden gebracht hatten,9 bei den jüdischen Denkern in Südfrankreich und Nordspanien, zu denen die Kunde von der entsetzlichen Zerstörung kam, ein tiefes Bedürfnis nach Protest gegen die Willkür der Geschichte und die Vernichtung des jüdischen Lebens in Aschkenas empfanden. Sie artikulierten diesen Protest mittels der Schaffung einer neuen Sprache, die auf einer himmlischen Vorstellungswelt von einer männlichen und einer weiblichen göttlichen Gestalt basiert. Die männliche göttliche Gestalt, der „Heilige, gepriesen sei er“, der die Tora gegeben hat, wird in den Begriffen Gatte, König oder Bräutigam, Licht oder Quelle geschildert. Die weibliche göttliche Gestalt, die Schekhina, die mündliche Tora, wird in den Begriffen Braut, Königstochter, Tochter des Lichts, 32, Garten und Baum geschildert. Zwischen beiden spielt sich eine Beziehung von Union, Paarung, Vereinigung, Fruchtbarkeit, Geburt und Kontinuität ab. Infolge dieser Beziehung werden neue Seelen von Kindern Israels geboren, die in der Schatzkammer der Seelen im Garten Eden warten, bis der Moment da ist, an dem sie zur Welt kommen.10 Der Sohar, welcher der Tradition nach dem Tannaiten R. Schim’on bar Jochai aus dem Kreis der Weisen der mündlichen Tora, die nach der Zerstörung des Zweiten Tempels eine völlig neue Welt schufen, zugeschrieben wird, wurde gegen Ende des 13. Jh. in Spanien von R. Moses de Leon verfasst. Dieser wollte die Grenzen zwischen der geschriebenen Vergangenheit und der im Traum offenbarten Gegenwart, zwischen dem Verborgenen und dem Offenbarten sprengen, und zwar durch die Geheimnisse der Heiligen Sprache, die den Weg des Übergangs vom Exil zur Erlösung offenbart, den Weg der mystischen Vereinigung von schriftlicher und mündlicher Tora als Bräutigam und 8 9 10
SCHOLEM, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 166. Vgl. Robert CHAZAN, European Jewry and the First Crusade (Berkeley: University of California Press, 1987). Vgl. Isaiah TISHBY und Fischel LACHOWER (Hg.), The Wisdom of the Zohar: An Anthology of Texts (Oxford: University Press, 1989), Bd. 2, 677ff.
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Braut. In seinem auf Aramäisch und Hebräisch geschriebenen Buch behandelte er ausführlicher als jeder andere Autor vor ihm die Schekhina als weibliche Dimension der Gottheit, als er die Hochzeitsnacht beschrieb, die sich an Schavuot, dem Fest der Erneuerung des ewigen Sinaibundes und der Jahr für Jahr erneuerten Gabe der Tora, vollzieht. Im ersten Teil, Blatt 8, Seite 1, heißt es: R. Schim’on saß da und befasste sich mit der Tora in der Nacht, in der die Braut sich mit ihrem Gatten verbindet, wie wir es gelernt haben: Alle Gefährten der Söhne des Tempels der Braut müssen in jener Nacht, in der die Braut sich bereit macht, am folgenden Tag mit ihrem Gemahl unter der Chuppa (Brauthimmel) zu stehen, die ganze Nacht lang bei ihr sein und sich mit ihr über ihre Vervollkommnungen (tiqqunim), die sie durchmacht, freuen: Sich mit der Tora befassen – von der Tora zu den Propheten, von den Propheten zu den Schriften – mit der aggadischen Auslegung von Versen und mit den Geheimnissen der Weisheit, denn dies sind ihre Vervollkommnungen und ihre Schmuckstücke. Sie tritt mit ihren Mädchen ein, steht an ihren Häuptern und wird durch sie die ganze Nacht lang vervollkommnet und freut sich an ihnen. Und wenn sie unter die Chuppa tritt, fragt der Heilige, gepriesen sei er, nach ihnen, segnet sie und krönt sie mit den Diademen der Braut. Glücklich ist ihr Teil!11
In einer weiteren Fassung des Tiqqun für die Nacht des Schavuot-Festes, das am Ende der sieben Wochen der Omer-Zählung begangen und im Umkreis des Sohar als Hochzeitsnacht und Nacht der Bundeserneuerung verstanden wird, wird die Vereinigung zwischen dem Bräutigam, der die schriftliche Tora in der Sprache der Offenbarung gibt, und der Braut, der Schekhina, der „Versammlung Israels“, die in jeder Generation die mündliche Tora schafft, beschrieben: Das Geheimnis des Schavuot-Festes ... Die Alten, seligen Angedenkens, die Säulen der Welt, jene, die wussten, verborgene Weisheit aus den Höhen zu ziehen, pflegten, in diesen beiden Nächten von Schavuot nicht zu schlafen. Die ganze Nacht lesen sie in der Tora, den Propheten und den Schriften, von dort gehen sie über zum Talmud und zu den Aggadot und lesen bis zum Morgenlicht in den Weisheitsschriften in den Geheimnissen der Tora, und dies ist eine Überlieferung ihrer Väter. ... Und an ihnen [den Tagen der Omer-Zählung; R. E.] schmückt sich die Braut und tritt bei der Hoheit ein, und jene fünfzigste Nacht, dies ist die Nacht für den Herrn, um die schriftliche Tora mit der mündlichen zu verbinden. Ihre ihr einzigen Söhne auf der Erde führen sie unter die Chuppa, und sie sind im Buch der Erinnerungen verzeichnet und aufgeschrieben, denn sie stimmen Jubelgesang und Jauchzen über die Tora in der Nacht der Brautfreude an ... Daher müssen sie vor lauter Jubel über die Tora kein Lösegeld für ihre Seelen zahlen, denn sie sind
11
Sohar, Teil 1, Blatt 8, Seite 1. Englische Übersetzung von TISHBY/LACHOWER, The Wisdom of the Zohar, Bd. 3, 1318.
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Rachel Elior vor dem Herrn eingeschrieben ... Dann wird der Herr zuhören, er wird hören und das Gedächtnis vor sich mit Jauchzen aufschreiben.12
Die Neuerung, welche die Kabbala mit sich brachte, lag darin, dass sie ein völlig neues Verständnis des überlieferten religiösen Tuns in dem Moment vorlegte, in dem sie die Schekhina mit den Geboten und den Halakhot identifizierte und behauptete, dass jede Handlung, die der Mensch in Gedanken, Rede und Tun vollzieht und die mit der Tora und den Geboten, der Halakha und dem Gebet, den Verpflichtungen und den Verboten sowie der Ethik von Gerechtigkeit und Unrecht zu tun hat – eine Handlung, die in der Sprache der Kabbala Absicht (Kawwana), Vereinigung (Jichud), Betrachtung (Hitbonenut), Ekstase (Hitpa’alut) oder Anhangen (Devequt) genannt wird – entscheidenden Einfluss auf den kosmischen Kampf zwischen den Mächten des Exils und der Erlösung, zwischen der Schekhina und der „Schale“ (Qelippa) ausübt. Sie beeinflusst den immerwährenden, im Himmel und auf der Erde ausgetragenen kosmischen Kampf zwischen der „heiligen Seite“ (sitra qeduscha) und der „anderen Seite“ (sitra achra), zwischen dem Messias und Samael oder zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Jede solche religiöse Handlung in jeder Dimension, die von der Absicht der Vereinigung und des Anhangens begleitet wird, trägt direkt zur Erlösung der Schekhina aus der Grube der Gefangenschaft, zur Befreiung des Messias von seinen Fesseln, zur Beschleunigung des Endes und zum Kommen der Erlösung bei. Die Kabbalisten begannen damit, das historische Exil des Volkes Israel in der offenbarten Wirklichkeit in das Exil der Schekhina, in die verborgene Wirklichkeit umzuwandeln, indem sie die Schekhina sowohl mit dem Bereich der Emanation/Sefira der Gottheit, dem sie einen weiblichen Charakter zuschrieben, identifizierten als auch mit der exilierten „Versammlung Israels“, mit der mündlichen Tora und mit der Gesamtheit des halakhischen Tuns, mit dem Kanal, durch den die göttliche Fülle oder die Lebenskraft von der göttlichen Welt in die unteren Welten fließt und mit der alltäglichen Leitung der Welt mittels der Vorsehung. Sie verwandelten die tiefe Sehnsucht nach der Erlösung der Exilierten in der historischen Wirklichkeit in die Erlösung der Schekhina in der himmlischen Wirklichkeit. Sie versetzten also das historische Erlebnis in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in die verborgene kosmische Sphäre, die in der Vorstellungskraft der Lernenden durch ihr Lernen, ihre Auslegung und ihren Glauben geschaffen wird und seit den Tagen des Sefer ha-Bahir in Verbindung mit dem absichtsvollen Tun der Gebote und der Halakhot durch die irdische „Versammlung Israels“, das auf die „Schekhina-
12
Schocken-Handschrift 14, Blatt 87, 1–2. Zitiert bei Jakob David WILHELM, „Sidre Tiqqunim“, in Alei Ayin. The Salman Schocken Jubilee Volume. Contributions on biblical and post-biblical Hebrew literature, poetry and belles-lettres. Issued on the occasion of his seventieth birthday by a circle of his friends (hebr.) (Jerusalem: Schocken, 1952), 126. Vgl. TISHBY/LACHOWER, The Wisdom of the Zohar, Bd. 3, 1258.
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Braut/himmlische Versammlung Israels“ und ihre Vereinigung mit dem „Heiligen, gepriesen sei er“, Einfluss ausübt. Je mehr sich die Leiden des Exils bei den Kreuzzügen in Europa und bei der Eroberung des Landes Israel durch die Kreuzfahrer (1099–1291) verstärkten und die Fähigkeit der Exilierten, in der historischen Sphäre zu handeln, abnahm, desto mehr nahm die Tätigkeit derer, die die Erlösung in der kosmischen Sphäre erwarteten, zu. Zu diesem Zweck verliehen sie dem Menschen göttlichen Charakter und Gott menschlichen Charakter. Dem Menschen verliehen sie eine göttliche Seele, verbanden seine Körperteile mit der Schekhina und mit der verborgenen Welt der Sefirot und versprachen ihm ein aus den Einschränkungen dieser Welt herausbrechendes Leben durch seinen starken Einfluss auf die Schekhina und die himmlische „Welt der Sefirot“, die „Urmensch“ (adam kadmon) genannt wurde und mit seinen Körperteilen verbunden war. Gott zeichneten sie neu in der Gestalt der Emanationsquelle und des emanierten Bereiches oder des Männlichen und des Weiblichen, die mit der „Welt der Sefirot“ in einer Beziehung von Vereinigung und Trennung verbunden sind, deren Verbesserung (Tiqqun) dem Menschen im Tun der Gebote, dem Einhalten der Halakha und der Ausrichtung der Absichten bei ihrer Bewahrung und Einhaltung übertragen ist. Die Schekhina zeichnet sich im Sohar durch einen ausgesprochen wandelbaren Charakter aus. Sie ist dort Königin, Diadem, Matrone, der erlösende Engel, der sich von einer männlichen zu einer weiblichen Gestalt gewandelt hat, die Mischna, die „Lilie-Versammlung Israels“, „die Lilie, die sich von Farbe zu Farbe verändert“ oder der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, auch die exilierte Schekhina, „die Versammlung Israels, die im Exil oder im Staub darniederliegt“. Sie verändert sich, wie es ihre vielen Namen bezeugen, in unterschiedlichen Zusammenhängen, da sie im Bewusstsein der Verfasser, die die schriftliche Tora bewahren und die mündliche Tora erschaffen, die Hoffnung auf den Übergang vom Leiden des Exils zur ersehnten Wirklichkeit der Erlösung zum Ausdruck bringt.13 Die Kabbalisten schufen eine neue Gestalt der Gottheit, die eine männliche und eine weibliche Dimension hat. Die männliche Dimension wird bezeichnet als „der Heilige, gepriesen sei er“, Geliebter, Bräutigam oder Gatte, der mit den Sefirot „Krone“ (Keter), „Weisheit“ (Chokhma), „Pracht“ (Tiferet), „Ewigkeit“ (Netzach) und „Grund“ (Jessod) und mit der aus einem ewigen göttlichen Ursprung kommenden schriftlichen Tora verbunden ist. Die weibliche Dimension wird bezeichnet als die Schekhina, Braut, „Versammlung Israels“, Diadem, die mit der mündlichen Tora und der Welt der Rede, den Sefirot „Intelligenz“ (Bina), „Erkenntnis“ (Da’at), „Majestät“ (Hod) und „Königreich“ (Malkhut) und der gemeinschaftlichen halakhischen und aggadischen Schöpfung Israels, die dauernd weitergeht, verbunden ist. In der 13
Vgl. SCHOLEM, Von der mystischen Gestalt der Gottheit; Isaiah TISHBY und Fischel LACHOWER, „Shekhinah“, in The Wisdom of the Zohar (hg. v. dens.), Bd. 1, 371–422.
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kabbalistischen Literatur wurde die Beschreibung dieser beiden Seiten, die teilweise in der obigen Diskussion erwähnt wurden, vertieft. Daher schafft der Sohar für seine Neuschöpfung den Titel „neu-alte Dinge“. Die Kabbalisten bahnten in ihrem Bewusstsein einen neuen senkrechten Kanal zwischen Erde und Himmel, der mit dem Einfluss der unteren menschlichen Welt auf die obere göttliche verbunden ist und den sie „Impuls von unten nach oben“ (It’aruta diletata) nannten. Ebenso öffneten sie einen neuen senkrechten Kanal zwischen Himmel und Erde, den sie „Impuls von oben nach unten“ (It’aruta dile’ela) nannten und der mit der Welt der Sefirot, die sich zwischen den beiden Kanälen befindet, verbunden ist. Die Schekhina ist die unterste Sefira in der Welt der Sefirot. Wenn sie durch die Kräfte, die von unten nach oben erwachen, erweckt und gestärkt wird, vereinigt sie sich mit der Sefira „Pracht“, die den Namen des „Heiligen, gepriesen sei er“, trägt, und wird von neuer Fülle erfüllt, die sie von oben nach unten, oder von der oberen in die untere Welt, ausschüttet. Die Welt der Sefirot, die ein Bild für zehn Stufen in der verborgenen Welt ist, ist dem alten Sefer Jetzira entnommen, das seinen Lesern erzählt, dass „die Welt durch 32 wunderbare Bahnen der Weisheit“, die sich aus „22 Grundbuchstaben und zehn wesenlosen Sefirot“ zusammensetzen, erschaffen wurde und sowohl in zehn Teile, die mit dem Körper des Menschen verbunden sind, als auch in eine männliche und eine weibliche Dimension geteilt ist, denn, so die Worte des Sohar: „Das Geheimnis der Sache ist: Die Segnungen befinden sich nur dort, wo sich das Männliche und das Weibliche befinden“.14 Der Verfasser des Sefer ha-Bahir erklärte, dass die Schekhina in sich die 32 wunderbaren Bahnen der Weisheit, durch die der „Heilige, gepriesen sei er“, nach den Worten des Sefer Jetzira die Welt erschaffen hat, speichert und fügte hinzu, dass der „Heilige, gepriesen sei er“, im Körper der „der Ewiglebende“ genannten Schekhina alle Gebote verborgen hat. Der mystische Ort aller Gebote ist also „der Ewiglebende“, d.h. die Schekhina, die im Gebet erwähnt wird. Wenn Menschen sich auf der Erde mit dem Studium der Tora, dem Gebet, den Segenssprüchen und den Geboten befassen und die mündliche Tora schaffen, erwecken sie die Schekhina von unten nach oben, damit sie sie von oben nach unten, aus dem Ursprung der schriftlichen Tora, mit der Fülle überschütte. In den schweren Tagen des Exils in den ersten Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends stellte man sich die Schekhina zwar einerseits als im Schoß Gottes sitzend vor, aber andererseits wurde sie mehrfach als in einer unter der Herrschaft der „anderen Seite“ befindlichen Gefängnisgrube gefangen beschrieben. Der Verfasser des Sohar schrieb: „Als der Tempel zerstört wurde, und die Sünden dazu führten, dass Israel aus dem Land verbannt wurde, verschwand der ‚Heilige, gepriesen sei er‘, weit nach oben und sah nicht auf die Zerstörung des Tempels und sein exiliertes Volk, und da ging die Schekhina mit ihnen ins Exil. ... Und all die Oberen und Unteren weinten über sie und 14
Sohar, Teil 1, Blatt 182, 1.
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trauerten. Was bedeutet das? Dass die ,andere Seite‘, die über das Heilige Land herrschte, auch über sie herrschte.“15 Die göttliche Schekhina wurde als in der „Umwälzung“, ein Wort, das im Buch Genesis die Zerstörung von Sodom bezeichnet, befindlich beschrieben, ein tragischer Vergleich für die Situation der jüdischen Gemeinde, die in der christlichen Welt von den Kreuzfahrern und der Kirche und in der muslimischen Welt von den Almoraviden und Almohaden verfolgt wurde. Der Verfasser des Sohar greift häufig auf das Erinnerungsfundament der Exilierten zurück: „Als der Tempel zerstört wurde ... wurde das Heiligtum niedergebrannt, das Volk exiliert, die Matrone vertrieben und das Haus zerstört“.16 Aufgrund dieser von Verzweiflung geprägten Wahrnehmung des in der kosmischen und der irdischen Wirklichkeit Geschehenden wurden die Erlösung der Schekhina, der Matrone, aus ihrer Gefangenschaft und ihre Befreiung aus den Fesseln im Bereich der „anderen Seite“ der jüdischen Gemeinde auferlegt, die die Schekhina mit dem Torastudium und der Halakha gleichsetzte und die Einhaltung der Gebote mit der Erlösung der Schekhina aus der Grube ihres Gefängnisses. Die Kabbalisten, die in der Tiefe des Exils und in den Tiefen der Verzweiflung wirkten, protestierten gegen die harte Wirklichkeit, indem sie die ganze Welt, im Himmel und auf der Erde, in zwei gegensätzliche Seiten teilten: die „heilige Seite“ und die „andere Seite“, die Seite der Unreinheit. Die erste Seite, die „heilige Seite“, die ihre Hoffnungen repräsentierte, verbanden sie mit den emanierenden und emanierten Mächten des Guten im Himmel, die sie den „Heiligen, gepriesen sei er“, „Schekhina“, „Messias“ und die „zehn Sefirot der Heiligkeit, der Vereinigung und der Erlösung“ nannten. Die zweite Seite, die ihre harten Prüfungen in der historischen Wirklichkeit repräsentierte, die „andere Seite“, „sitra achra“, verbanden sie mit den Mächten des Bösen, die sie „Satan“, „Samael“ (sitra mesa‘abuta = Seite der Unreinheit), „Lilit“, „Welt der Schale (Qelippa)“ und die „zehn Sefirot der Unreinheit, der Trennung und des Exils“ nannten. In der Wirklichkeit, in der sie lebten und in der seelischen Wirklichkeit, über die ihr schaffendes Bewusstsein Zeugnis ablegt, in Pesiqta Rabbati, im Sefer Serubbabel und im Sohar, war der Messias, dessen Erlösung sie erhofften, im Gefängnis eingesperrt: „‚Ein Gebeugter, reitend auf dem Esel‘ (Sach 9,9). Das ist der Messias. Und warum wird sein Name ‚Gebeugter‘ gerufen? Weil er sich (demütig) niederbeugte all die Jahre im Gefängnis“;17 „da er im Gefängnis gebunden war. Denn an jedem Tage und Tage knirschten die Völker der Welt mit den Zähnen ... wie es heißt (Ps 22,8): ‚Alle, die mich
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Sohar, Teil 1, Blatt 210, 1–2. Sohar, Teil 1, Blatt 75, 1. Pesiqta Rabbati 34 § 8. Deutsche Übersetzung von Arnold Maria GOLDBERG, Erlösung durch Leiden. Drei rabbinische Homilien über die Trauernden Zions und den leidenden Messias Efraim (Pesiqta Rabbati 34, 36, 37) (Frankfurter Judaistische Studien 4; Frankfurt am Main: Selbstverlag der Gesellschaft zur Förderung judaistischer Studien, 1978), 75.
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sehen, spotten mein‘“.18 Die Schekhina, deren Trost sie ersehnten, war gefangen, da „die ,andere Seite‘, die über das Heilige Land herrschte, auch über sie herrschte“, wie oben gesagt. Nach den Worten der Kabbalisten befinden sich diese Dimensionen der Gottheit, die männliche und die weibliche, seit der Zerstörung des Zweiten Tempels nicht an dem ihnen gebührenden Ort, sondern im Zustand der Trennung und der Zerrüttung, im Exil, in einer zerbrochenen und zerrütteten Welt, da in dem ewigen kosmischen Kampf zwischen den Mächten der Unreinheit und den Mächten der Heiligkeit, welcher der große Kampf zwischen den Mächten des Exils und den Mächten der Erlösung ist, die Mächte der Zerstörung, des Zerbrechens und der Verwüstung die Oberhand gewonnen haben. Die Schekhina, die „Versammlung Israels“, wurde als Gefangene in der Haft beschrieben oder als Frau, die ihrem Mann entrissen wurde und in die Hände der „anderen Seite“ fiel, die sie vergewaltigt und zum Beischlaf zwingt. Manche setzten diesen traumatischen Zustand in Beziehung mit dem Zusammenbruch der Welten und dem „Zerbrechen der Gefäße“, die mit der Zerstörung des Tempels und dem Exil der Schekhina verbunden wurden, andere setzten ihn mit dem Kampf der „anderen Seite“ gegen die „heilige Seite“, mit dem Kampf der „Schale“ gegen die Schekhina oder mit dem Kampf Samaels gegen den Messias in Relation. Alle jedoch stimmten darin überein, dass die irdische „Versammlung Israels“ sich in der historischen Wirklichkeit, die im Zeichen von Vertreibungen, Zwangskonversionen, Verfolgung und Unrecht steht,19 in bitterem Exil befindet und nach der ersehnten Erlösung Ausschau hält – aufgrund der Krise in der kosmischen Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit, in der die Mächte der Zerstörung, des Unrechts, des Bösen und der Unreinheit die Oberhand über die Mächte des Aufbaus, der Gerechtigkeit, des Guten und der Heiligkeit gewonnen haben, ist die Schekhina, die „Versammlung Israels“ im Himmel und auf der Erde in die Hände der „Schale“ gefallen, und zwar seit einem Moment kosmischen Bruchs, der „Zerbrechen der Gefäße“ (Schevirat ha-kelim) und „Zusammenbruch der Welten“ genannt wurde und von dem an sich nichts mehr an seinem Platz befindet und das ganze Sein im Exil ist.20 Dieser Moment wurde mit der Zerstörung des Tempels, dem Verschwinden der Schekhina und dem Sieg der Mächte der „Schale“ und der „anderen Seite“ verbunden. Die lange historische Prüfung im leidbringenden Exil wurde zum Teil eines kosmischen Vorgangs des Kampfes des Bösen gegen das Gute oder des Kampfes der Mächte des Bruchs und der Zerstörung gegen die Mächte des Aufbaus und der Ausbesserung. Die Kabbala erklärte, dass der Mensch verpflichtet ist, der Schekhina in diesem Kampf zu helfen. 18 19
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Pesiqta Rabbati 37 § 3 (GOLDBERG, 269–270). Zu einer knappen Darstellung der mit dem realen Leiden verbundenen Tatsachen vgl. Rachel ELIOR, Israel Ba’al Shem Tov and his Contemporaries: Kabbalists, Sabbatians, Hasidim and Mitnaggedim (hebr.) (Jerusalem: Carmel, 2014), Bd. 1, 36–39. Vgl. Isaiah TISHBY, The Doctrine of Evil and the Kelippah in Lurianic Kabbalism (hebr.) (Jerusalem: Schocken, 1984).
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Das Exil der Schekhina verband sich mit dem Exil Israels, und die Erlösung der Schekhina wurde in Bezug zur Erlösung Israels gesetzt. Beide wurden mit dem entscheidenden menschlichen Einfluss auf die göttliche Welt und den Wechselbeziehungen zwischen letzteren in Zusammenhang gesetzt. Um die gebrochene Wirklichkeit zurück in die Harmonie zu führen, sagten die Kabbalisten, dass die Schekhina, d.h. die Mischna, die Halakha, welche durch die sie Studierenden geschaffen wird, wesenhaft mit den 613 Geboten und den Regeln der Halakha verbunden ist, und daher jedes Gebot, dass der Mensch in dieser Welt erfüllt, und jede Halakha, die er streng einhält, zu einer Veränderung in den Machtverhältnissen zwischen dem Guten und dem Bösen führt und zum Heraufführen der Schekhina aus ihrer Gefängnisgrube und ihrer Errettung aus den Händen der „anderen Seite“ beiträgt. Die Wiedervereinigung des „Heiligen, gepriesen sei er“, und der Schekhina, die als Geschiedener und Geschiedene, aber auch als Bräutigam und Braut, König und Königstochter, Gott und Witwe, die sich in der Welt des Exils, der Trennung, der „Schale“, der Unreinheit und des Bruchs befinden, beschrieben werden, wurde in der kabbalistischen Tradition jedem jüdischen Menschen auferlegt, der gemäß dieser Tradition nicht nur zur Einhaltung der Gebote und zur Genauigkeit in der Erfüllung der Halakha verpflichtet war, sondern auch zur „Wiederherstellung der Harmonie der Welt“ (tiqqun olam), zum „Heraufführen der Funken (nitzotzot)“ und zum Heraufführen der Schekhina aus ihrer Gefangenschaft in der „Welt der Schale“. Jeder Jude war verpflichtet, vor jedem Gebot, das er im Verlauf des Tages erfüllt, zu sagen, dass er die Absicht hat, dies nur „um der Vereinigung des ‚Heiligen, gepriesen sei er‘, mit seiner Schekhina willen“ zu tun. Diese Formel, deren Inhalt, wie gesagt, die Vereinigung der männlichen Seite der Gottheit, des „Heiligen, gepriesen sei er“, mit ihrer weiblichen Seite, der Schekhina, oder die Vereinigung der Sefirot „Pracht (Tiferet)“ und „Königreich (Malkhut)“ ist, war der Jude verpflichtet, jedes Mal zu sagen, bevor er das Achtzehn-Bitten-Gebet betet, das jeden Tag im Zustand der Heiligkeit gesprochen wird, oder jedes Mal, wenn er sich mit dem Torastudium befasst, das sich im Zustand der Heiligkeit vollzieht. Dabei hatte er sein gesamtes praktisches religiöses Tun auf dieses Ziel der Erlösung der Schekhina und ihrer Rückführung zu ihrem Partner zu richten. Im Sohar, in der Idra Zutta („Kleine Versammlung“), ist Zion die Gebärmutter der Schekhina, in der der „Heilige, gepriesen sei er“, den Segen und die Fülle für die Welt zeugt.21 Die Kabbala öffnete einen senkrechten Kanal zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen, dem Offenbarten und dem Verborgenen, dem Geschichtlichen und dem Übergeschichtlichen, dem Kabbalisten und der als „Versammlung Israels“ bezeichneten Schekhina, der auf Tausenden von Seiten der kabbalistischen Bibliothek dokumentiert ist. Die Kabbala lehrte ihre Leser, dass die Erlösung der Schekhina der Erlösung Israels vorangeht und Bedingung für 21
Sohar, Teil 3, Blatt 296, 1–2.
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sie ist, ihnen und nur ihnen auferlegt ist, in der Welt der Gedanken und in der Welt der Taten, wenn sie sich mit der „Wiederherstellung der Harmonie der Welt“, der „Vereinigung des ‚Heiligen, gepriesen sei er‘, mit seiner Schekhina“ und dem „Heraufführen der Funken“ befassen. Demgegenüber war das Beschleunigen des Kommens des Messias nur Gott überlassen und mit dem bitteren Schicksal der Märtyrer verbunden. Denn je mehr die Zahl der unschuldig von ihren Verfolgern Getöteten und Ermordeten wächst, desto mehr, so die mystische messianische Tradition, wird das Kommen des Messias beschleunigt, des rächenden Messias, der mit einem purpurnen Gewand, Porfira, bekleidet ist, auf das zur ewigen Erinnerung die Namen aller unschuldig ermordeten Märtyrer gestickt sind. Nach den Worten des Sohar sitzt und wartet der weinende Messias im „Tempel des Vogelnestes“ im Garten Eden, in dem die Namen aller Vernichter und Zerstörer, Verfolger und Mörder verzeichnet sind, bis das Maß des Leidens voll sein und er ausziehen wird, um Rache an den Mördern zu nehmen und die nach dem Morden Übriggebliebenen zu erlösen.
3.
Die Safeder Kabbalisten
Nach der erzwungenen Massenkonversion in Spanien im Jahr 1391, nach der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492, bei der ein Drittel des Volkes Israel umkam, nach der erzwungenen Massenkonversion Zehntausender in Portugal im Jahr 1497 und nach dem Massenmord an Tausenden von Juden in Lissabon im Jahr 1507 führte das Gefühl des Exilsleidens und der Tiefe der Erlösungserwartung zur Öffnung neuer Horizonte in der mystischen Literatur. Die Schekhina blieb nicht mehr eine bloße literarisch-mystisch-halakhische Gestalt in der mystisch-kabbalistischen Vorstellung, die mit einem rituellen Zyklus, in dem jedes Mal von neuem vor dem Gebet und vor dem Studium „um der Vereinigung des ‚Heiligen, gepriesen sei er‘, mit seiner Schekhina willen“ gesagt wurde, verbunden war, sondern wurde überraschend von einer in der Literatur des Midrasch und der Kabbala niedergeschriebenen Stimme zu einer in den Kreisen der Kabbalisten, die darüber in der von ihnen verfassten autobiographischen mystischen Literatur Zeugnis ablegten, sprechenden Stimme. Die Kabbala übte Einfluss auf die Erneuerung der Prophetie aus und erkannte die Präsenz sprechender göttlicher Stimmen in der menschlichen Wirklichkeit der Gegenwart an. Die Schekhina wurde in der Welt von einer der größten rabbinisch-halakhischen Autoritäten des 16. Jh., R. Joseph Karo (1488–1575), von einer niedergeschriebenen zu einer lebendigen und sprechenden weiblichen göttlichen Präsenz gemacht. R. Joseph Karo wurde in Spanien geboren, floh nach Portugal und von dort noch in seiner Kindheit mit seiner Familie in das Osmanische Reich. Ihm war die Erscheinung der Schekhina oder das Hören der Stimme der Schekhina,
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die in femininer Form durch seinen Mund sprach, vergönnt, und zwar am Schavuot-Fest, dem Fest der Bundeserneuerung des Jahres 1533, an dem Tag, an dem ihn die bittere Nachricht von dem furchtbaren Tod seines Freundes, des Kabbalisten Schlomo Molcho (1500–1532) erreichte. Molcho war ein portugiesischer Marrane (Zwangskonvertit), der mit 23 Jahren, nachdem er am Hof des portugiesischen Königs ein hohes Amt innegehabt hatte, zum Judentum zurückkehrte, Portugal verließ, von der katholischen Inquisition gefasst und im November 1532 in der italienischen Stadt Mantua lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.22 Die bittere Nachricht vom Tod seines kabbalistischen Freundes erreichte Karo am Vortag des Schavuot-Festes, ein Datum, das voller Freude ist und an dem es nach der jüdischen Tradition verboten ist zu trauern, denn es gilt, wie oben beschrieben, in der Tradition des Sohar als Vortag des Hochzeitsfestes zwischen der Schekhina und dem „Heiligen, gepriesen sei er“, und das die Offenbarung am Sinai und den Bund, der zwischen dem „Heiligen, gepriesen sei er“, und der „Versammlung Israels“ geschlossen wurde, aktualisierend neu geschehen lässt, entsprechend der Tradition des Midrasch und der Kabbala, die den Bundesschluss am Sinai mit dem Hohelied verbindet.23 Dies schuf eine kognitive Dissonanz zwischen der tiefen Trauer um seinen verbrannten Freund und der Freude des Schavuot-Festes, an dem die Braut, die Schekhina, für ihre Hochzeit geschmückt wird. Diese Dissonanz weckte im Geist Karos die „Erscheinung der Schekhina“ oder die Erneuerung der göttlichen Rede in der Schavuot-Nacht, der Nacht der Bundeserneuerung, der Nacht der Vereinigung der Schekhina und des „Heiligen, gepriesen sei er“, die den Ehebund zwischen Gott, dem Geber der Tora, und seinem Volk, der die Tora empfangenden „Versammlung Israels“, schließen. An Schavuot wird nach der kabbalistischen Tradition der ewige Bund zwischen der schriftlichen Tora, die der „Versammlung Israels“ bei der Offenbarung am Sinai am Schavuot-Fest als ewige Tora gegeben wurde, und der mündlichen Tora, die in den Händen der „Versammlung Israels – der Schekhina“ im Verlauf der Generationen als „Neu-Altes“ erneuert, überliefert und geschaffen wird, neu geschlossen. Die Stimme der Schekhina, der Braut, des Diadems, die in der Stadt Nikopol im Osmanischen Reich in der Schavuot-Nacht als ein prophetischer Moment lebendiger göttlicher Rede aus der Kehle von R. Joseph Karo erklang – so das Zeugnis seiner Gefährten, die mit ihm in seinem Haus entsprechend der Tradition des Sohar in der Schavuot-Nacht lernten – sprach Hebräisch in der Feminin-Form, mit der Stimme der trauernden Tochter Zion aus dem Buch der Klagelieder, die sich in Gestalt einer Braut, deren Diadem weggeworfen 22
23
Vgl. Rachel ELIOR, „Joseph Karo and Israel Baal Shem Tov: Mystical Metamorphosis, Kabbalistic Inspiration, Spiritual Internalization“, Studies in Spirituality 17 (2007): 267–319; R. J. Zwi WERBLOWSKY, Joseph Karo, Lawyer and Mystic (Philadelphia: JPS, 1977). Vgl. Rachel ELIOR, „The Unknown Mystical History of the Festival of Shavu'ot“, Studies in Spirituality 26 (2016): 157–196.
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wurde, beschreibt. Dies bezeugt Karos kabbalistischer Freund Schlomo Alqabetz, der Verfasser des bekannten Pijjuts „Lekha dodi liqrat kala“ („Geh, mein Freund, der Braut entgegen“), der sich mit dem Heraufführen der Schekhina am Beginn des Schabbat aus der „Umwälzung“ oder der Grube, in der sie an den übrigen sechs Wochentagen gefangen ist, befasst. R. Schlomo Alqabetz beschrieb das Ereignis der Offenbarung der Schekhina, das er gemeinsam mit R. Joseph Karo in der Schavuot-Nacht des Jahres 1533 erlebte, in einem Brief, den er an seine kabbalistischen Freunde in verschiedenen jüdischen Gemeinden des Osmanischen Reiches schickte und den R. Jesaja Halevi Horovitz in seinem Werk Schne luchot habrit („Die beiden Bundestafeln“, 1649) im Traktat Shevu‘ot zitiert. Die Stimme der Schekhina, die Alqabetz als anwesender Zeuge beschreibt, stellte sich, in einer Verbindung, die den Moment der Zerstörung wie auch den Moment der Offenbarung am Sinai aktualisierend neu geschehen ließ, zu Beginn ihrer Offenbarung im Mund Karos in der FemininForm als die exilierte Tochter Zion aus dem Buch der Klagelieder vor, die in den Staub geworfen ist, sich in Abfällen wälzt, unermessliche Qualen durchmacht und das Leiden des Exils und der Zerstörung, wie es im Buch der Klagelieder beschrieben wird, verkörpert. Sie fuhr fort mit einer Selbstdefinition als die sprechende Stimme, die Moses am Tag der Einweihung des Altars im Bundeszelt über der Kapporet (Deckplatte über der Bundeslade) zwischen den Cherubim hörte (Num 7,89) und die die Stimme der mündlichen Tora, der Mischna ist, die, wie gesagt, im Lehrhaus geschaffen wird, „überall dort, wo drei Tora lernen, befindet sich die Schekhina zwischen ihnen“. Die Stimme erwähnte noch die Offenbarung am Sinai, die am Schavuot-Fest geschah, und schloss mit der Verpflichtung zur Einwanderung in das Land Israel um der Erlösung der Schekhina willen: Wisset, dass wir, der Fromme – der Erbarmer möge ihn bewahren und loskaufen [R. Joseph Karo] – und ich, sein Diener und euer Diener von den Gefährten, übereinkamen, unser Leben in der Schavuot-Nacht zu verteidigen und unsere Augen keinen Schlaf finden zu lassen. [...] Als wir begannen, Mischna zu lernen und zwei Traktate gelernt hatten, wurde uns von unserem Schöpfer vergönnt, die zu sich redende Stimme (ha-qol middabber [Num 7,89]) aus dem Mund des Frommen – der Erbarmer möge ihn bewahren und loskaufen – zu hören, eine kräftige Stimme mit deutlicher Aussprache, und alle Nachbarn hörten, aber verstanden nicht. Die Annehmlichkeit war groß, und die Stimme verstärkte sich immer mehr. Wir fielen auf unser Angesicht, und in keinem war genug Geist, um seine Augen und sein Gesicht zu erheben und zu schauen, vor lauter Furcht und Angst. Und diese Rede sprach mit uns. Sie hob an und sagte: „Hört, meine Freunde, die Strengsten unter den Strengen, meine Freunde, meine Geliebten, Friede sei mit euch. Glücklich seid ihr und glücklich eure Gebärerinnen, glücklich seid ihr in dieser Welt, und glücklich seid ihr in der künftigen Welt, da ihr euch entschlossen habt, mich in dieser Nacht zu schmücken, nachdem schon vor einigen Jahren das Diadem meines Hauptes gefallen ist und ich keinen Tröster
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habe24, ich in den Staub geworfen bin und mich in den Abfällen wälze.25 Jetzt habt ihr mir den alten Glanz zurückgegeben. Stärkt euch, meine Freunde, müht euch, meine Geliebten, freut euch und jubelt, und wisset, dass ihr zu den Herausgehobenen gehört. Es ist euch vergönnt, zu den Söhnen des königlichen Tempels zu gehören, und die Stimme eurer Lehre und der Hauch eures Mundes sind vor den ‚Heiligen, gepriesen sei er‘, aufgestiegen und haben, bevor sie aufstiegen, mehrere Himmelsgewölbe und mehrere Atmosphären durchbrochen. Die Engel schwiegen, die Seraphim verstummten, die Lebewesen standen still,26 und das ganze himmlische Heer und der ‚Heilige, gepriesen sei er‘, hören eure Stimme. Und siehe, ich, die Mischna, die Mutter, die den Menschen züchtigt, bin gekommen, um zu euch zu sprechen. Und wenn ihr zehn wäret, hättet ihr euch weiter und weiter erhoben. Aber trotz allem habt ihr euch erhoben, glücklich seid ihr und glücklich eure Gebärerinnen, meine Freunde, die ihr eure Augen keinen Schlaf habt finden lassen. Durch euch habe ich mich in dieser Nacht erhoben, durch die Gefährten in der großen Stadt, eine Stadt und Mutter in Israel. Ihr seid nicht wie jene, die auf Elfenbeinbetten zu einem Schlaf darniederliegen, der ein Sechzigstel des Todes ist, und auf ihrer Wiege sündigen. Ihr hängt J-H-W-H an, und er freut sich über euch. Daher, meine Söhne, stärkt euch, seid mutig, jubelt an meiner Liebe, an meiner Tora, an der Furcht vor mir. Wenn ihr euch nur ein Tausendstel von den Zehntausenden und Abertausenden der Leiden, in denen ich mich befinde, vorstellen könntet, würde keine Freude in euer Herz treten und kein Lachen in euren Mund, während ihr euch daran erinnert, dass ich euretwegen in den Staub geworfen bin. Seid daher stark, seid mutig, jubelt, meine Söhne, meine gestrengen Freunde und unterbrecht das Studium nicht. Denn Anmut ist über euch gezogen, und euer Studium ist angenehm vor dem ‚Heiligen, gepriesen sei er‘. Daher stellt euch auf eure Füße, meine Söhne, meine Freunde, und führt mich herauf, und sprecht mit lauter Stimme wie am Versöhnungstag: Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines Königreiches für immer und ewig.“ Wir stellten uns auf unsere Füße, unsere Lenden wurden schwach, und wir sagten mit lauter Stimme: Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines Königreiches für immer und ewig. Sie hob wieder an und sagte: „Glücklich seid ihr, meine Söhne, kehrt zu eurem Studium zurück und unterbrecht es nicht einen Augenblick lang und zieht in das Land Israel hinauf. Denn nicht alle Zeiten sind gleich, und die Rettung wird nicht durch viele oder wenige gehemmt. Lasst es euch nicht um euren Besitz leid tun, denn ihr werdet das Gute des höchsten Landes essen. Wenn ihr es wollt und auf mich hört, werdet ihr das Gute dieses Landes essen. Eilt euch also und zieht hinauf. Denn ich bin eure 24 25 26
Vgl. Klgl 5,16: „Das Diadem unseres Hauptes ist gefallen“; 1,16: „Weit weg ist jeder Tröster von mir“; 1,2: „Ich habe keinen Tröster“. Vgl. Klgl 4,5. Das Wort für „Abfälle“ (aschpatot) ist ein Hapax legomenon, das nur im Buch der Klagelieder vorkommt. Die Formulierung bezieht sich auf die Offenbarung am Sinai. Vgl.: „Als Gott nämlich das Gesetz gab, sagte R. Abahu im Namen des R. Jochanan, zwitscherte nicht der Vogel, das Gevögel flog nicht, der Ochs brüllte nicht, die Ophanim flogen nicht und die Seraphim riefen nicht: Heiliger! Das Meer wogte nicht, die Menschen redeten nicht, sondern es herrschte ein allgemeines Stillschweigen. Nur die göttliche Stimme ließ die Worte vernehmen: ‚Ich bin der Ewige, dein Gott‘.“ (Exodus Rabba 29,9; deutsche Übersetzung von August WÜNSCHE (Hg.), Der Midrasch Schemot Rabba. Das ist die haggadische Auslegung des Zweiten Buches Moses (Leipzig: Schulze, 1882), 212).
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Rachel Elior Ernährerin und werde euch ernähren. Euch, euren Häusern und allem, was euch gehört, wird Friede sein. Der Herr wird seinem Volk Kraft geben, der Herr wird sein Volk mit Frieden segnen [...] Wisset, dass ihr zu den Herausgehobenen gehört [...] Ihr hangt mir an, und Anmut ist über euch gezogen. Und wenn es dem Auge gestattet wäre, würdet ihr das Feuer, das dieses Haus umgibt, sehen.“ All dies sprach sie zu uns, und unsere Ohren hörten es. ... Wir brachen alle in Weinen aus vor lauter Freude und auch, weil wir die Bedrängnis der Schekhina um unserer Sünden willen und ihre Stimme wie die einer Kranken, die uns anfleht, vernahmen.27
Alqabetz fährt fort und beschreibt die Offenbarung der Schekhina im Mund R. Joseph Karos, die sich in der zweiten Nacht des Schavuot-Festes, das als Erneuerung der Offenbarung am Sinai, bei welcher der Berg in Flammen stand, dargestellt wird, wiederholte und zitiert die Worte der Schekhina, welche die Aufgabe der Kabbalisten bei der Erlösung der Schekhina von neuem bestätigen: Glücklich seid ihr, Freunde, glücklich die, die mich heraufführen ... Fürchtet euch nicht vor von Menschen bereiteter Schande und habt keine Angst vor Beschimpfungen, denn ihr seid die, welche die ‚Versammlung Israels‘ heraufführen. Wisset, dass ihr zu den Herausgehobenen gehört [...] Ihr hangt mir an, und die Herrlichkeit bedeckt eure Häupter, Anmut ist über euch gezogen. Und wenn es dem Auge gestattet wäre [zu sehen], würdet ihr das Feuer, das dieses Haus umgibt, sehen. Seid daher stark und mutig, unterbrecht nicht die Verbindung zu meiner Heraufführung und sprecht mit lauter Stimme: „Höre Israel“ und „Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines Königreiches für immer und ewig“ wie am Versöhnungstag.28
R. Joseph Karo, Schlomo Alqabetz und die anderen Kabbalisten, die nach der Vertreibung aus Spanien im Exil im Osmanischen Reich lebten, hörten diese eindringlichen Worte aus dem Mund der Mischna-Schekhina, die aus der Kehle Karos sprach, machten sich auf und wanderten im Jahr 1535 in das Land Israel ein (denn dieses war seit 1517 Teil des Osmanischen Reiches). Diese Kabbalisten gründeten die Kabbalistenstadt in Safed, um die Schekhina, die in ihren Worten ihre eigene Heraufführung aus den Abfällen mit dem Hinaufziehen der Kabbalisten in das Heilige Land verbunden hatte, emporzuheben. Die Schekhina schloss ihre dramatischen Worte ab und sprach den Schlüsselsatz, in dem die die Erlösung erwartenden Exilierten zu Erlösern wurden, während diejenige, an der die Hoffnung auf Erlösung hing, zur durch die Exilierten Erlösten wurde: „Ihr alle erhebt euch vor dem Herrn, und er heiligt sich in euch, und durch euch wird die ‚Versammlung Israels‘ aufstehen und sich erheben. Und dass es heißt: ‚Sie ist gefallen und wird nicht wieder aufstehen‘, bedeutet,
27 28
Joseph KARO, Maggid Mescharim („Prediger der Rechtschaffenheit“) (hebr.) (Jerusalem, 1960), 18–19. Ebd. 19.
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dass sie nicht wieder von selber aufstehen wird, sondern durch die, die sie hinaufführen und mit ihrem Geliebten vereinigen.“29 Die neue Betonung der zentralen Bedeutung des menschlichen Handelns aus dem Mund der Schekhina/Mischna war ein starker Faktor bei der Eingliederung des kontemplativen Ideals (Betrachtung, Anhangen) in das aktivistische Ideal (Vereinigung, Hinaufführung der Schekhina, Hinaufführung der Funken) im Rahmen des Bemühens, einen Wandel im Himmel und auf Erden herbeizuführen, und das infolge des Wandels der Definition des menschlichen Ideals und der Bestimmung des Menschen, der vom Erlösten zum Erlöser wird. Die „Söhne des königlichen Tempels“, an die sich die Schekhina, die sich im Munde R. Joseph Karos als Mischna und die in den Staub geworfene und sich in den Abfällen wälzende Tochter Zion aus dem Buch der Klagelieder vorstellt, wendet, sind die Gruppe der Tora - Studierenden, der Vornehmen, die diese Welt durch ihr Anhangen an der oberen Welt und ihre Hingabe an die Erlösung der Schekhina „aufbauen“, ähnlich wie die Gruppe um R. Schim’on bar Jochai im Sohar. In der Folge stellte sich die sprechende Stimme, die diese mystische Gruppe in der Nacht des Schavuot-Festes begründet hatte, dem Haupt der Gruppe, R. Joseph Karo, der sie sein ganzes Leben lang weiterhin hörte und ihre Worte aufschrieb, unter einer Fülle von Namen vor, darunter: „die Mischna“ („Ich, ich bin die Mischna, die aus deinem Mund spricht“); „Seele“ („Ich, ich bin die Mischna, die aus deinem Mund spricht, ich bin die Seele der Mischna, und ich, die Mischna und du vereinigen sich zu Einem“); der erlösende Engel; „die Stimme meines Freundes“; „die Mutter, die den Menschen züchtigt“; die Tora; die exilierte „Versammlung Israels“ und „die Schekhina“. Die Stimme wiederholte ihre Forderung nach absolutem Anhangen: „Wo du auch bist, trenne deine Gedanken nicht von mir [...] denn du wirst das Lager der Schekhina sein, und die Schekhina wird durch deinen Mund sprechen“.
4.
Der Chassidismus – ein kurzer Ausblick
Diese Forderung der Schekhina, die, wie es in seinem mystischen Tagebuch, dem Maggid Mescharim, dutzende Male bezeugt ist, allein an R. Joseph Karo erging, wurde vom Begründer des Chassidimus, R. Israel Baal Schem Tov (der „Bescht“, 1668–1760), als kollektive Anweisung für alle seine Chassidim übernommen. Er integrierte sie in sein Bewusstsein, so als habe die Schekhina zu ihm, R. Israel ben Elieser Baal Schem Tov, gesprochen und als seien ihre Worte durch ihn gesprochen worden, und zwar, nachdem er die gedruckte Ausgabe des Tagebuches gelesen hatte, das zum ersten Mal 1646 in Lublin veröffentlicht und danach in vielen Ausgaben gedruckt wurde, obwohl der 29
KARO, Maggid Mescharim, 157–158.
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1575 gestorbene Verfasser niemals die Absicht gehabt hatte, seine mystischen Erfahrungen der Öffentlichkeit vorzulegen.30 R. Israel Baal Schem Tov erklärte im Iggeret ha-Qodesch („Heiliger Brief“), dass er aus dem Mund des Messias, mit dem er bei einem „Aufstieg der Seele“ an Rosch ha-Schana (jüdisches Neujahr) 1746 gesprochen hatte, gelernt habe, „dass sich in jedem Buchstaben Welten, Seelen und die Gottheit befinden“.31 Er fügte hinzu, dass die Schekhina, „die Welt der Rede“, sich in jedem Buchstaben der Rede in der Heiligen Sprache, die von jedem Juden gesprochen wird, befindet. Weiter fügte er hinzu, in Anlehnung an den kabbalistischen Begriff „Israel sind die Glieder der Schekhina“, dass „jeder Einzelne aus Israel ein Glied von den Gliedern der Schekhina ist“. Die mystische Begriffswelt in Bezug auf den Messias und die Schekhina, die sich im Himmel befinden, wurde also im Bewusstsein von R. Israel Baal Shem Tov und R. Joseph Karo dahingehend neu belebt, dass sie diese auf den Menschen bezogen und auf die mystische Sprachenlehre, welche die schöpferische Macht Gottes, die in seinem Wort – „Mit dem Wort des Herrn wurden die Himmel erschaffen und mit dem Hauch seines Mundes all ihre Heerscharen“ (Ps 33,6) – ihren Ausdruck findet, sowie mit der schöpferischen Macht des Menschen, der in der Heiligen Sprache spricht und die Schekhina wiederbelebt, verbindet: Sie hörten, wie der Messias und die Schekhina im Himmel und auf Erden direkt mit ihnen sprachen. Die Schüler des Bescht und deren Schüler schrieben seine Worte in Dutzenden von Büchern nieder und führten seine Worte über die Schekhina in hunderten von Zitaten an. So wird z.B. in seinem Namen gesagt: „Denn nicht im Himmel ist sie, die Schekhina seiner Macht, denn der ‚Heilige, gepriesen sei er‘, ließ seine Schekhina unter uns verweilen, in den Mündern seines Volkes Israel, wie es der heilige Sohar sagt: „Das Königreich (Malkhut) ist Mund, denn die Schekhina befindet sich im Mund des Menschen.“32 „Und er soll daran denken, dass die Welt der Rede in ihm spricht, eine so große Welt, durch die alle Welten geschaffen wurden ... Und dadurch denke er an Seine – Er sei gepriesen – Pracht. Alle Lebenskraft der Welten kommt von der Rede, und die Rede ist die Welt der Ehrfurcht. Die Schekhina beschränkt sich sozusagen und weilt während seines Sprechens in seinem Mund, wie es im Sefer Jetzira geschrieben steht: ‚Er hat sie im Mund festgelegt‘. Und wenn so die Rede ist, was ist die Welt des Gedankens ... Er denke daran, dass die Welt der Rede in ihm spricht, und außerhalb seiner kann sie nicht sprechen.“33 30 31 32 33
Vgl. ELIOR, „Joseph Karo and Israel Baal Shem Tov“. Vgl. ELIOR, Israel Ba’al Shem Tov and his Contemporaries, Bd. 2, 79–126. Avraham ben DOV BAER VON MESRITSCH, Chesed le-Avraham („Gunst dem Abraham“) (hebr.) (Jerusalem, 1973), Blatt 52, 2. DOV BAER VON MESRITSCH, Maggid devaraw le-Ja’aqov („Er sagt Jakob seine Worte“) (hebr.) (hg. v. Rivka Schatz-Uffenheimer; Jerusalem: Magnes, 1976), 183– 184.
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„Wenn der Mensch zu beten beginnt, sofort wenn er ‚Herr öffne meine Lippen‘ sagt, nimmt die Schekhina von ihm Besitz und spricht in ihm die Worte.“34 „Die Hauptsache ist jedoch: Wenn ein Mensch denkt, dass die Rede überhaupt nicht spricht, aber die Schekhina aus seiner Kehle, die Welt der Rede genannt wird, spricht, so ist das bekannt ... vom Exil der Schekhina, damit ist gemeint, die Rede ist im Exil.“35 Mit Hilfe der kabbalistischen Begriffswelt, die sich im Geist des Begründers des Chassidismus erneuerte, befreite der Bescht seine Hörer von den Fesseln des Materiellen und öffnete ihnen neue Horizonte. Er entschlüsselte in aller Vielfalt ihrer Bedeutungen die Tiefe der Ausdrücke des Textes, der das Fundament des kabbalistischen Schaffens bildet, und lernte von ihm ausdrücklich und in Andeutungen über die Existenz vieler dem Auge verborgener Welten, die sich dem Studierenden, der nach dem geistigen Wesen des Seins und seinen ewigen, mit der göttlichen Rede und den Buchstaben der Heiligen Sprache verbundenen Grundlagen forscht, offenbaren. Die Hörer und Leser des Bescht räumten der „Betrachtung“ der „Schekhina – der Welt der Rede“, dem „Anhangen“ an die Schekhina; der „Vereinigung der Schekhina“, der Hinaufführung der Schekhina, der Erlösung der Schekhina, „der Hinaufführung der Funken“ und der „Betrachtung“ der Heiligen Sprache und der Buchstaben der Welt der Rede, in denen allen, wie gesagt, sich „Welten, Seelen und die Gottheit“ befinden, einen zentralen Platz ein. So wurden sie von gequälten, hilflosen Exilierten zu Erlösern der Schekhina oder „Söhnen der oberen Welt“. Diejenigen, in deren Augen diese Welt, wenn sie von ihrem göttlichen Ursprung abgekoppelt ist, nichts als ein bedeutungsloses „Senfkorn“ ist. Von dem Moment an, in dem die Taten und Gedanken des Menschen in der Lehre des Bescht von den Begrenzungen dieser Welt losgelöst und zu einem Teil des Gewebes der verborgenen Welten – der „Schekhina – der Welt der Rede“, der „Welten, Seelen, Gottheit“, der Funken, der Sefirot, der geistigen Buchstaben, der „32 wunderbaren Bahnen der Weisheit“ – wurden, verpflichteten sich seine Schüler, hinter ihren materiellen Erscheinungen die Wahrheit der göttlichen Wirklichkeit zu betrachten und einen schöpferischen Dialog mit den unendlichen Möglichkeiten zu halten, die im heiligen Text verborgen sind und der in der kabbalistischen Lektüre jenseits der Eindeutigkeit des Wortsinns neu gedeutet wird. In der Lehre des Bescht ist der Mensch derjenige, der die Schekhina erlöst, wenn er ihr als Welt der Rede anhangt. Er wird aufgerufen, all sein Streben auf die dem Auge verborgene Welt zu konzentrieren, die in der mystischen Sprache bekannt ist, mit der göttlichen Präsenz verbunden ist in einer Seinsweise, die Schekhina, Diadem, Versammlung Israels, Welt der Rede und mündliche Tora genannt wird, und auch verbunden ist mit der Welt der Sefirot und dem „Heiligen, gepriesen sei er“, mit dem Baum der Seelen im 34 35
Ebd. 13. Ebd. 271.
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Garten Eden, mit den Funken und den oberen Palästen, mit dem Messias und den Buchstaben der Heiligen Sprache. Der Mensch soll eine Position völliger Gleichgültigkeit der materiellen Existenz im Exil gegenüber einnehmen, die verbunden ist mit „Samael, dem Verbrecher, dem Fürst Roms“, mit Lilit, mit nuqba de-tehom rabba (der mythischen weiblichen Dimension des großen Abgrunds), mit den „Schalen“, mit dem Satan, mit der Hölle, mit dem finsteren Land, mit dem „verbrecherischen Rom“, mit Amalek und mit Edom. Diese Ausgangsposition findet ihren Ausdruck in dem dauernden Streben nach dem Anhangen an der Schekhina, das „Gleichmut“ (hischtawut), „Verneinung des Bestehenden“ und „Ablegen des Materiellen“ verlangt, denn, wie gesagt, „entsprechend der Gedanken des Menschen gibt es Welten über ihm“. Die Lehrer des Chassidismus machten die verborgene göttliche Welt, die sich in den Büchern der Kabbalisten in den „Heiligen, gepriesen sei er“ und die Schekhina teilte, im Mund, im Gedanken, in der Erinnerung und in der Rede jedes Menschen gegenwärtig. Die Schekhina, die „Welt der Rede“, wurde als Ausdruck der göttlichen Präsenz und als einigender Faktor zwischen allen lernenden, Segnungen sprechenden, betenden und in der Heiligen Sprache lesenden und schreibenden Gemeinden Israels gesehen. Die Schekhina wurde mit der Welt der göttlichen Rede verbunden, die im Mund des Menschen spricht, welche die Sprache zu einem Raum der Freiheit und des unendlichen Schaffens macht. Sie wurde mit der mündlichen Tora verbunden, die in einem Lernprozess die schriftliche Tora neu belebt und sie in der Gemeinschaft der Lernenden jeden Tag neu schafft und gegenwärtig macht. Sie wurde mit einem doppelten Fundament verbunden: mit dem, das die geschriebene Tora in der Sprache bewahrt und mit dem, das in der Sprache, während des Studiums der schriftlichen Tora, die mündliche Tora neu schafft. Diese Tatsache war von großer Wichtigkeit in der Exilgemeinde, der außer der Freiheit des Lernens und des Schaffens in keiner anderen Dimension ihres Lebens Freiheit geblieben war. Dieser Freiraum wurde mit der Schekhina identifiziert, weil die Buchstaben der Heiligen Sprache jedem, der Hebräisch liest und spricht, die schriftliche Tora liest und aus ihr immer weiter die mündliche Tora schafft, in gleicher Weise übergeben waren, während er in seinem Studium und in seiner Ausübung der Gebote ihren Ursprung und ihre Erneuerung wiederbelebt.
Die biblische Frau, die in der Bibel nicht erwähnt wird: Bilder des Weiblichen in der Kabbala Felicia Waldman Universität Bukarest
1.
Einführung
Eines der wichtigsten Momente in der 1000-jährigen Geschichte des mittelalterlichen Judentums, – das von der arabisch-muslimischen Eroberung im frühen 7. Jh. bis zum Auftauchen der modernen Ideen in Bezug auf Ökonomie, religiöse Identität und soziale Interaktion in der Mitte des 17. Jh. reichte und von der geographischen Zerstreuung der Juden charakterisiert war, die unter „Kreuz und Halbmond“1 lebten – war die Entstehung der Kabbala in der Mitte des 12. Jh. Kabbalistisches Denken revolutionierte die jüdische Welt und ihren Blick auf alles – angefangen vom täglichen Leben bis zur sozialen Interaktion und sogar den internationalen Beziehungen – mit Ideen, die eine Herausforderung für das Establishment darstellten, wobei man manchmal an der Häresie anstreifte, wodurch die Ideen in jedem Fall immer gewagt und dabei stets in der Lage waren, eine Reihe von Menschen aus den Eliten zu überzeugen. In der Tat war die Kabbala so etwas wie eine Renaissance avant la lettre, eine Rückkehr zur antiken Weisheit, mit all ihren Aspekten, die nicht nur Religion betrafen, sondern auch Mythos, Legenden, Folklore, und vor allem die Mystik, oder, wie es Elliot Wolfson passenderweise ausdrückte, die Esoterik2. Nachdem sie einen Prozess der Arkanisierung durchlief, um einen Begriff von Moshe Idel3 aufzugreifen, blühte das jüdische Leben plötzlich auf, mit einer Reihe von Schriften, die aus dem Nichts zu kommen schienen, indem sie sich auf Gedanken und Begriffe stützten, die in der uns bis zum heutigen Tag bekannten vorausgehenden Literatur unbekannt waren – was nicht überraschen sollte, da im Judentum vieles mündlich zirkulierte, ehe es auf Papier bzw. Pergament festgehalten wurde. Dies war z.B. beim Sefer ha-Bahir („Buch des Glanzes“) der Fall, einer kleinen und enigmatischen anonymen Schrift, die 1
2 3
Vgl. Mark COHEN, Under Crescent and Cross: The Jews in the Middle Ages (Princeton: University Press, 2008); auf Deutsch: DERS., Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter (München: Beck, 2005). Elliot R. WOLFSON, „The Mystical Significance of Torah Study in German Pietism“, The Jewish Quarterly Review 84/1 (1993): 43–77; 43. Moshe IDEL, Magical and Magical-Mystical Arcanizations of Canonical Books (Yale: Yale University Press, 2002).
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sich mit bestimmten esoterischen Bedeutungen gewisser biblischer Verse, den hebräischen Buchstaben und den zehn Ma’amarot (Äußerungen), durch die der verborgene Gott sein göttliches Sein offenbart, beschäftigte und wahrscheinlich um 1180 in der Provence entstand. Diese Sammlung theosophischer Erläuterungen zitierte eine Reihe von zum Teil echten, meist aber erfundenen Quellen der talmudischen Rabbinen, und wurde von Gershom Scholem als Auslegung beschrieben, die mit ihrer Begrifflichkeit und ihren Vorstellungen den heiligen Text nicht entziffern, sondern vielmehr seine „religiöse Autorität durch seine Reinterpretation zu bestätigen“4 beabsichtigte. Die Ausformung der kabbalistischen Bewegung hauchte auch dem älteren (vielleicht schon um das 2. Jh.) aber gleichwohl enigmatischen Sefer Jetzira („Buch der Formung“) neues Leben ein, einem kurzen aber auf lange Sicht sehr einflussreichen anonymen Werk, das von den schöpferischen (und implizit auch zerstörerischen) Mächten der Buchstaben und Zahlen als Instrumente der himmlischen Schöpfung handelt. Dann erschien das Sefer ha-Sohar („Buch des scheinenden Glanzes“). Das Buch einer mystischen Reise durch die Tora, das jüdisches Recht und Brauch im 13. Jh. durch Moses de Leon u.a. aus früheren Quellen kompiliert (teilweise echten, teilweise imaginierten), ist ein Werk, das bis heute als Grundlage der Kabbala gilt. Von Gershom Scholem wurde es als Verkörperung der jüdischen Theosophie und der mystischen Lehre verstanden. Sein zentrales Anliegen war die Beschreibung des mystischen Werks des Sohar, die Erläuterung, wie es entstanden war, wie es zu einem Korpus von Büchern herangewachsen war, der Kommentare über die mystischen Aspekte der Tora, Schriftinterpretation sowie Werke über Mystik, mythische Kosmologie und Psychologie enthält. Der Sohar beinhaltet Diskussionen über die Natur Gottes, den Ursprung und den Aufbau des Universums, die Natur der Seelen, die Erlösung, die Beziehung des Ichs zur Dunkelheit und des „wahren Selbst“ zum „Licht Gottes“, die Beziehung zwischen Kosmos und Mensch sowie den Ursprung und die Natur des Bösen und wie man es bekämpfen kann. Während der nächsten vier Jahrhunderte entwickelte sich in Europa und dem Heiligen Land die Kabbala maßgeblich. Man kann wohl sagen, dass es der Kabbala gelang, verschiedene, versprengte und sogar vergessene Elemente des früheren Judentums in ein kohärentes System zusammenzufügen und ihm neue Bedeutung und Wert beizumessen.
4
Gershom SCHOLEM, Zur Kabbala und ihrer Symbolik (Frankfurt: Suhrkamp, 1973), 36.
Bilder des Weiblichen in der Kabbala
2.
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Der weibliche Aspekt der Gottheit
Wenn die Kabbalisten die Natur Gottes studieren, indem sie Texte der Tora interpretieren, legen sie einen Schwerpunkt auf die Verse von Gen 1 und 2, die von der Schöpfung des Menschen handeln. Wenn sie Gen 1,27 („Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie“) auslegen, geben sie einer alten Tradition5 eine neue mystische Deutung, indem sie innerhalb Gottes einen männlichen und weiblichen Teil annehmen. Die Kabbalisten entwickeln darauf aufbauend ein komplexes Konzept, in dem die weiblichen Elemente der Gottheit eine zentrale Rolle spielen.6 Nach Ansicht der Kabbalisten ist das Göttliche der Ein-Sof, das Unendliche, von dem der Mensch nur die (nicht zufällig) zehn Manifestationen oder Aspekte, Sefirot genannt, erfassen kann, die wie ein System funktionieren. Der weibliche Teil Gottes ist in diesen durch zwei Aspekte vertreten: der zweiten Manifestation mit dem Namen Bina, und der zehnten und letzten, Malkhut. Nach Keter (Krone) und Chokhma (Weisheit, oder Verstand), ist Bina (Verstehen, oder Emotion) jener Aspekt, in dem der göttliche Schöpfungsimpuls eine besondere Form annimmt. Wenn Chokhma den „Samen“ darstellt, der den genetischen Code enthält, so ist Bina das „Ei“ oder die Gebärmutter, ohne die das potentiell Vorhandene nicht reifen und Wirklichkeit werden könnte. Sie wird auch die „obere Mutter“ genannt, in Unterscheidung zu Malkhut, der „unteren Mutter“. Malkhut (Königtum) kommt nach Chesed (Liebe, oder Gnade), Gevura (Strenge, oder Gericht) Tiferet (Schönheit, oder Harmonie, aber auch Mitleid), Netzach (Sieg, oder Ausdauer), Hod (Glanz, oder Ruhm), sowie Jessod (Grund), und vereint alle vorherigen Sefirot. Es dient als Bindeglied zwischen ihnen und dem Rest der Wirklichkeit, der physischen Welt. Als letzte Stufe der Rezeption synthetisiert Malkhut alles, was von den oberen Ebenen herstammt. Es wird auch Schekhina genannt und mit Gottes Gegenwart in der Welt verbunden. Die Kabbalisten glauben, dass es sowohl für die irdische Welt als auch den Rest der Schöpfung ideal ist, wenn Jessod und Malkhut, vereinfacht als männliche und weibliche Aspekte der Gottheit, als Transzendentes und Immanentes interpretiert, durch gerechte Handlungen und mystische Meditationen vereint werden. Nach dem Sohar war diese Verbindung von Anfang an auf Dauer angelegt. Die Sünde des Adam jedoch bewirkte das Exil, und seither ist es die Pflicht des Menschen, die ursprüngliche und nun 5
6
Zu Belegen, wonach das frühe Israel YHWH mit El identifizierte, der gemeinsam mit einer Gottheit namens Aschera über einen himmlischen Stab von Beratern oder eine himmlische Versammlung von Göttern herrschte vgl. Rosemary RADFORD RUETHER, Goddesses and the Divine Feminine. A Western Religious History (Berkeley: University of California Press, 2005), 74. Biti ROI, „Divine Qualities and Real Women: the Feminine Image in Kabbalah“, Havruta 5 (2010): 62–69; 63.
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zerbrochene Harmonie wiederherzustellen. Tiqqune Sohar (Tiqqun 21, f. 52b) geht noch weiter und stellt die Tora mit Israel gleich, das seinerseits als mystischer Körper betrachtet wird. Dieser mystische Körper Israels bezieht sich nicht auf die Menschen allein, er repräsentiert auch das esoterische Symbol der göttlichen Gegenwart, die Schekhina. Die Parallele zwischen diesen beiden Symbolen geht so weit, dass das Exil des jüdischen Volkes als Verkörperung des Exils der Schekhina nach der Sünde Adams gesehen wird, was die beständige Verbindung der beiden Motive erklärt. Die kabbalistische Entwicklung der Vorstellung von der Schekhina kann wohl als das herausragendste Beispiel dafür gelten, wie Mystik und Theologie mit Mythologie vermengt werden. In der talmudischen Literatur und im rabbinischen Judentum bezieht sich die Schekhina auf Gottes Gegenwart in der Welt. Es waren die Kabbalisten, die sie in eine weibliche königliche Personifizierung der Gottheit verwandelten. Auf diese Weise steuert sie aus zwei verschiedenen aber komplementären Perspektiven einen Aspekt zum Göttlichen bei. Auf der einen Seite repräsentiert Bina als obere Mutter den Aspekt der demiurgischen Potentialität. Auf der anderen Seite emaniert die siebte und letzte Sefira, Malkhut/Schekhina aus Bina und repräsentiert das Weibliche ganz allgemein, als Mutter, Frau und Tochter.7 Wenn die sechs oberen Sefirot als männliche Basis gelten, was erklärt, warum Jessod manchmal mit dem Weisen (Tzaddiq) identifiziert wird, dann erscheint Malkhut/Schekhina als Vervollkommnung der männlichen Menschheit und als vorhersehende Lenkung der Schöpfung. Mehr noch, in der Kabbala wird die Schekhina auf der einen Seite mit der mystischen Gemeinde Israel gleichgesetzt, auf der anderen Seite mit der Neschama-Seele. Ausgehend von der talmudischen Interpretation des Hoheliedes, nach der Mutter und Tochter Sinnbilder für die Gemeinde Israels sind, transferierten die Kabbalisten diese Sichtweise auf die Schekhina und propagieren damit eine bislang nicht vorhandene Identität. Von diesem Standpunkt aus interpretieren Kabbalisten wie Ezra von Gerona die Beschreibungen des Hoheliedes als Symbole des theosophischen Prozesses, der sich zwischen den beiden unteren Sefirot Jessod (als Mann betrachtet) und Malkhut (als Frau betrachtet) abspielt, wobei Vorgänge im innergöttlichen Bereich reflektiert werden. Dazu kommt, dass die Schekhina als eine der fünf Stufen der Seele und als Wohnort der Psyche gesehen wird. Paradoxerweise ist dieser Symbolismus ein doppelter. Auf der einen Seite wird der männliche Aspekt vom menschlichen Gerechten, dem Tzaddiq repräsentiert, der weibliche Aspekt hingegen von der göttlichen Gegenwart in der Welt bzw. der Schekhina. Auf der anderen Seite wird der männliche Aspekt mit dem Göttlichen, der 7
Es ist nicht zufällig, dass im mystischen Werk Scha’are Ora („Tore des Lichtes“) – ungefähr zur selben Zeit wie der Sohar entstanden – Rabbi Joseph Gikatilla sagt: „Die Schekhina wird in der Zeit Abrahams Sara genannt, in der Zeit unseres Vaters Isaak wird sie Rebekka genannt, und in der Zeit unseres Vaters Jakob wird sie Rachel genannt“ (siehe Biti ROI, „Divine Qualities and Real Women: the Feminine Image in Kabbalah“, 64).
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weibliche Aspekt mit der menschlichen Seele verbunden. Der Ursprung der Seele in der weiblichen Sphäre des Göttlichen hat eine große Bedeutung in der kabbalistischen Psychologie. Da es alle Komponenten der vorausgehenden Sefirot enthält, ist die rein rezeptive Schekhina der Ort, an dem sich sowohl die Kräfte der Gnade als auch des strengen Gerichts manifestieren.8 Nach Scholem sahen einige der frühen Kabbalisten den Ursprung des Bösen im überdimensionalen Ansteigen der göttlichen Kraft des Gerichts, die durch die Verselbständigung und Herauslösung der Qualität des Gerichts aus seiner Einheit mit der Qualität der liebenden Gnade möglich wurde.9 Es gibt einen Zustand der Welt, in der die Schekhina mit einer Gewalt angegriffen wird, die in Gevura, in der Sefira des Gerichts, ihren Ursprung hat, und sie mit Macht durchdringt. „Zu Zeiten kostet die Schekhina von der anderen, bittereren Seite, und ihr Antlitz ist dann dunkel“10, schrieb Gershom Scholem. Das ist der Ursprung der Symbolik des „Baums des Todes“, der eine dämonische Abtrennung vom „Baum des Lebens“ darstellt. Wenn auch die Schekhina Israels barmherzige Mutter darstellt, so kann sie doch zur gleichen Zeit zum Werkzeug des göttlichen Gerichts und der Strafe werden. Die beiden Aspekte sind trotzdem getrennt: die dritte Sefira ist ausschließlich demiurgisch, im vollen und positiven Sinn, und nur die zehnte besitzt auch quasi-dämonische Züge. Diese Ambivalenz der Schekhina, die sich in abwechselnden Phasen Bahn bricht, ist eng mit dem Exil verwoben. Die Vorstellung eines Exils der Schekhina wird von den Kabbalisten auch aus dem Talmud hergeleitet (bMegilla 29a), bekommt jedoch in der Theosophie der Kabbala eine neue Bedeutung: es wird als Exil Gottes in sich selbst interpretiert. Das Exil der Schekhina repräsentiert sowohl die exilierte Gemeinde Israels als auch das Exil der Seele von ihrem Ursprung. Die Idee, dass dieses doppelte Exil bis an den Anfang der Schöpfung zurückreicht, begegnet so nur in der Lurianischen Kabbala. In den ersten kabbalistischen Schriften wird die Trennung der weiblichen und männlichen Seite Gottes auf die menschliche Ursünde zurückgeführt. Demnach war Adam nicht in der Lage, an der Erhaltung der göttlichen Einheit mitzuwirken. Statt die einzelnen Sefirot durch seine Kontemplation zu vereinen trennte er sie, das Obere vom Unteren und das Männliche vom Weiblichen. Diese Trennung wird biblisch durch mehrere Symbole verdeutlicht, so etwa durch die Trennung des Baums des Lebens vom Baum der Erkenntnis oder des Lebens vom 8
9 10
In Moshe Cordoveros Sicht hat zum Beispiel „die Schekhina kein Licht aus sich selbst: sie ist wie der Mond, der nur die Helligkeit der Sonne reflektiert; sie empfängt von den oberen Sefirot in einer Geste der Offenheit und Unterwürfigkeit; sie erwartet das Überfließen der göttlichen Segnungen in sie wie das Meer die sich kreuzenden Ströme des Flusswassers“ (siehe Eitan P. FISHBANE, „A Chariot for the Shekhina, Identity and the Ideal Life in Sixteenth Century Kabbalah“, Journal of Religious Ethics 37/3 (2009): 385–418; 402). Gershom SCHOLEM, Kabbalah (New American Library, 1974), 123. Gershom SCHOLEM, Kabbala und Symbolik, 143.
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Tod. Gottes Wiedervereinigung mit der Schekhina wurde zum eigentlichen Ziel der Erlösung. Die ununterbrochene Verbindung von männlichen und weiblichen Teilen des Göttlichen wird erneut den Überfluss der zeugenden Kräfte durch alle Welten hindurch ermöglichen. Davon ausgehend war es ein kleiner Schritt für die Autoren des Sohar, diese Einheit als Ehe zu beschreiben. Ausgehend vom innergöttlichen Prozess zwischen den beiden Sefirot Jessod und Malkhut als Aspekte des Göttlichen, angereichert durch die Symbolik der Schekhina, brachten die Kabbalisten die Idee einer Hochzeit zwischen Gott als Bräutigam und der Gemeinde Israels als Braut auf. Von diesem Standpunkt aus gesehen, sind die quasi-dämonischen Spuren der Schekhina in ihrer Kapazität als Ursprung der Seele von ganz besonderem Interesse. Der Sohar spricht von einer dynamischen Beziehung zwischen der Gottheit und der Schekhina, die als seine Königin (Matronit) und Geliebte betrachtet wird. Aber man sollte nicht vergessen, dass sie in der soharischen Tradition auch den Verbindungspunkt zwischen der himmlischen und physischen Welt darstellt. Als solcher ist Gott selbst in der Schekhina auf radikale Weise verwundbar und empfänglich für die Antworten, Aktionen und sogar Gedanken des menschlichen Gegenübers.11 Die Kabbalisten gingen noch einen Schritt weiter und suchten nach Wegen, um die Schekhina nicht nur virtuell, sondern ganz wörtlich verstanden, näher zu bringen. So kam die Idee, dass das Tora-Studium die Schau der göttlichen Herrlichkeit oder Gegenwart ermöglicht, bereits im späten 12. bzw. frühen 13. Jh. in verschiedenen Teilen pietistischer Schriften auf.12 Es ist kein Zufall, dass ein Kabbalist wie Elijahu de Vidas sagte: „Die Schekhina wohnt (in einer Person) als Ergebnis von Freude“. Gottes Gegenwart kann nur von denen gespürt werden, die Gottes Gebote mit Freude erfüllen.13 Weiters verweist der Terminus Schekhina in den halakhischen Midraschim auf Gottes Manifestationen, Herabkünfte und die Anwesenheit von Gottes Gegenwart in der Mitte Israels, wodurch aber nicht nur die göttliche Gegenwart, sondern auch die göttliche Nähe und sogar Intimität ausgedrückt wird.14 Kabbalisten betrachteten die Gegenwart als etwas sehr Sichtbares und sogar Greifbares, etwas, das in der Form des alles verbrennenden Feuers erscheint, dann wieder als Licht, und von dem man deshalb annahm, dass man es wirklich sehen konnte, besonders dann, wenn man gemeinsam studierte. Sie versuchten, besondere Techniken zu entwickeln, die helfen sollten, in den Zustand vor dem Fall des ersten Menschen zurückzukehren, und erneut in den Strahlenkranz der Schekhina zu gelangen, eine geradezu erotische 11 12 13 14
Michael E. LODAHL, Shekhinah/Spirit, Divine Presence in Jewish and Christian Religion (New York: Pualist Press, 1992), 89. Elliot R. WOLFSON, „The Mystical Significance of Torah Study in German Pietism“, 61. Zitiert nach Eitan P. FISHBANE, „A Chariot for the Shekhina, Identity and the Ideal Life in Sixteenth Century Kabbalah“, 409. Ephraim URBACH, The Sages – Their Concepts and Beliefs (Jerusalem: The Magnes Press, 1979), 43.
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Beziehung zur göttlichen Gegenwart zu erreichen.15 Durch Hin- und Herwenden der Buchstaben des hebräischen Alphabets riefen sie den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse an und die zehn Sefirot und meditierten gemeinsam, so dass sie einander betrachten und sehen konnten, wieweit die Begegnung mit den göttlichen Strahlen sie selbst strahlen ließ.16
3.
Die biblische Frau, die nicht in der Bibel erwähnt wird
Befremdlicherweise (oder vielleicht auch nicht) beschäftigten sich die Kabbalisten trotz ihrer intensiven Auseinandersetzung mit den weiblichen Anteilen Gottes wenig mit den in der Bibel erwähnten Frauen. Trotz einiger Nennungen von anderen Figuren wie Delila (deren Abenteuer mit Samson in einem Weingarten im Stile der talmudischen Geschichte der vier Gelehrten, die das Paradies betreten – tChagiga 2,3–4, erzählt wird), Debora (nach deren Palme Moses Cordovero eines seiner Bücher benannte) oder die Erzmütter Sara, Rebekka und Rahel (die z.B. in Joseph Gikatillas Buch Scha’are Ora erwähnt sind), gilt für viele als wichtigste biblische Frau eine, die nicht einmal in der Bibel erwähnt ist, aber von der sie annahmen, dass auf sie angespielt und deren Existenz zu verbergen versucht wurde: Lilit. Es begann alles mit der Tatsache, dass in Gen 1,27 steht: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn; männlich und weiblich erschuf er sie“, während es in Gen 2,18 und 22 heißt: „Dann sprach Gott, der HERR: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm ebenbürtig ist… Gott, der HERR, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu.“ Unzufrieden mit der rabbinischen Auslegung dieses Widerspruches, welche darin bestand, den menschlichen Archetypus, den Adam Qadmon (den Ersten Menschen) als Hermaphroditen darzustellen, der erst in zwei Hälften – eine männliche und eine weibliche – geteilt werden musste, ähnlich wie der eine Himmel in zwei Hälften geteilt wurde durch die Trennung der Wasser, um das Universum zu schaffen, kamen die Kabbalisten mit einer attraktiveren Vorstellung, in der Religion auf Mystik und Mythologie traf: die Existenz einer geheimen Geschichte, auf die man in der Genesis nur vage Hinweise finden konnte, nämlich die Geschichte von Adams erster Frau Lilit. Tatsächlich ist die Idee nicht neu. Wie auch in anderen Zusammenhängen haben die Kabbalisten auf älteren Traditionen aufgebaut, welche sie stilvoll 15 16
Vgl. dazu Moshe IDEL, Kabbalah and Eros (New Haven: Yale University Press, 2005). Mehr dazu bei Felicia WALDMAN, „Edenic Paradise and Paradisal Eden: Moshe Idel’s Reading of the Talmudic Legend of the Four Sages who Entered the Pardes“, Journal for the Study of Religion and Ideology 18/6 (2007): 79–87.
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integrierten. Der erste Text, der explizit über Lilit als erste Frau Adams spricht ist das Alphabet des Ben Sira, ein Werk, das von Gelehrten zwischen dem 8. und 10. Jh. datiert wird, lange bevor die Kabbala entstand. Die anonymen Autoren dieses Werks verbanden zwei verschiedene ältere Motive zu einem: eine Volkserzählung (ergänzt durch Aberglaube und magische Praktiken) über einen Dämon und die talmudische Auslegung der Sünde Adams. In der Bibel erscheint das Wort Lilit nur in Jes 34,14, wo es heißt: „Wüstentiere treffen auf Hyänen, Bocksgeister begegnen einander. Ja, Lilit macht dort Rast und findet für sich einen Ruheplatz.“ Da weitere Zeugnisse fehlen, bleibt unklar, ob hier Lilit als Eigenname zu verstehen ist oder allgemeiner als „Kreatur der Nacht“, wie es manchmal aufgrund der Ähnlichkeit mit dem hebräischen Wort für Nacht, lajla, übersetzt wird, aber auch im Zusammenhang mit dem Umstand, dass das hebräische Wort lilin sich allgemein auf Dämonen bezieht.17 Später wurde der Name definitiv zu der Bezeichnung einer spezifischen Dämonin, welche das Leben der neugeborenen Kinder bedrohte, die schwangeren Müttern die Kinder raubte und Männern, die alleine schliefen, auflauerte. Damit ähnelt Lilit der griechischen Lamia oder der arabischen Qarina.18 Lilit konnte durch Amulette abgehalten werden, welche die – recht wenig Hebräisch klingenden – Namen von drei Engeln trugen, Senoi, Sansenoi und Semangelof. Nach Raphael Patai wurden solche Amulette bereits vor der talmudischen Zeit in der jüdischen Welt verwendet.19 Es überrascht nicht, dass der babylonische Talmud einige direkte Verweise auf Lilit enthält: „R. Chanina sagte: Es ist verboten, allein in einem Haus zu schlafen, denn Lilit ergreift denjenigen, der allein in einem Haus schläft“ (bShabbat 151b). „R. Jermeja ben Eleazar sagte: während jener Zeit (nach der Vertreibung aus dem Paradies), in der der erste Mensch von Eva getrennt war, wurde er Vater von Geistern und Dämonen und Lilin… R. Meir sagte: Der erste Mensch war sehr fromm. Als er erkannte, dass er den Tod in die Welt gebracht hatte, fastete er 130 Jahre und trennte sich von seiner Frau 130 Jahre lang und trug 130 Jahre lang Feigenblätter. Die dies sagen, (dass er der Vater 17
18 19
Etymologen haben eine mögliche Quelle im assyro-babylonischen Wort lilitu, einem weiblichen Dämon und Wind-Geist, gefunden, als Teil einer Trias, die in magischen Anrufungen verwendet wurde. Unter dieser Annahme ist der Begriff vielleicht in die hebräische Sprache auch aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem Wort für Nacht eingedrungen. In ihrem Buch Hebrew Myths, The Book of Genesis, haben Robert GRAVES und Raphael PATAI die Quelle der Lilit-Erzählung in einer „unbekümmerten Zusammenfügung von frühen judäischen und späten priesterlichen Traditionen“ gefunden. Ihrer Ansicht nach versinnbildlicht Lilit die Anat verehrende kanaanitische Frau, der voreheliche Promiskuität erlaubt war und der einst die Israeliten folgten, was die Propheten verärgerte, die diese Praktiken oft erfolglos anprangerten. Siehe Raphael PATAI, The Seed of Abraham (New York: Charles Scribner’s Sons, 1986), 227; Gershom SCHOLEM, Kabbalah, 357. Mehr dazu bei Robert GRAVES und Raphael PATAI, Hebrew Myths, The Book of Genesis (New York: Greenwich House/Crown Publishers, 1983).
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von bösen Geistern wurde), meinen, dass er nächtlichen Samenerguss hatte“ (b‘Eruvin 18b). „Lilit ist eine Dämonin mit menschlichem Aussehen, außer dass sie Flügel besitzt“ (bNidda 24b) (Diese Beschreibung zeigt, dass Lilit sehr den Cheruben ähnelte, ein Umstand, der vor allem in späterer kabbalistischer Literatur eine Rolle spielte, besonders dann, wenn man annahm, dass die Schekhina ihren Wohnsitz in der Bundeslade hat).20 Diese Texte warnen davor, dass Männer allein schlafen, da sie dies anfällig für feuchte Träume mache, wodurch Lilit ihren Samen stehlen und Dämonen gebären könne. Sie verweisen auch auf die Erfüllung des ersten Gebotes in der Tora, nämlich sich zu mehren und fruchtbar zu sein, d.h., eine Familie zu gründen und Kinder zu haben (, da man sonst leicht zur Beute der Dämonin wird). Es überrascht nicht, dass gegen Ende der talmudischen Epoche die Legende von Lilit als Succubus schon weit entwickelt war. Die Autoren des Alphabets des Ben Sira21 waren es, die ein umfassenderes Bild zeichneten, das die beiden Traditionen in einer Geschichte vereinte. Demnach lag das Problem in der ersten Ehe Adams vor allem in der Verteilung der Geschlechterrollen, und zwar in jeder – auch sexueller – Hinsicht. Das hatte vor allem mit der Tatsache zu tun, dass Adam offensichtlich dachte, dass allein er in Gottes Abbild erschaffen wurde und daher Lilit überlegen war. Konsequenterweise versuchte er sie zu dominieren. Lilit wendete sich an Gott und überredete ihn, ihr seinen unaussprechlichen Namen zu offenbaren. Nachdem sie ihn ausgesprochen hatte, befreite sie sich und flog in den Garten Eden, wo sie sich in einer Höhle am Roten Meer versteckte, wo sie Legionen von Dämonen gebar. In der Zwischenzeit hatte Adam seine Einsamkeit bereut. Auf sein Geheiß hin schickte Gott drei Engel, um Lilit zur Rückkehr zu überreden. Senoi, Sansenoi und Semangelof drohten ihr, dass, würde sie sich weigern, ihre Kinder innerhalb von 100 Tagen sterben würden. Lilit nahm dies in Kauf und drohte ihrerseits damit, die Kinder Adams zu töten. Die Gefahr betraf vor allem Mädchen in den ersten zwanzig Lebenstagen, Knaben in den ersten acht Tagen, Schwangere und Männer im Schlaf, denen sie ihren Samen stehlen konnte, um neue Dämonen zu gebären. Lilit willigte aber ein, jene zu verschonen, die ein Amulett mit den Namen der drei Engel trügen. Adam hatte aber auch Probleme mit Eva. Wenn Lilit eine Verführerin war (und in der Mythologie blieb), so ließ sich Eva ihrerseits viel zu leicht verführen. Lilit, die den Willen verkörperte, akzeptierte keine Gängelung, Eva, die den Mangel an Willen repräsentierte, war leicht zu gängeln. Um die Leichtigkeit, mit der Eva zu verführen war, zu beweisen, nahm eine Auslegung die Rückkehr Lilits an, um Rache zu nehmen. Unter dem Namen von Lilit der 20 21
Mehr dazu bei Elliot R. WOLFSON, „The Mystical Significance of Torah Study in German Pietism“, 72. Eine deutsche Übersetzung bietet Dagmar BÖRNER-KLEIN, Das Alphabet des Ben Sira: Hebräisch-deutsche Textausgabe mit einer Interpretation (Wiesbaden: Marix, 2007).
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Älteren oder der Nördlichen, wurde sie als die Frau Samaels, des gefallenen Engels, beschrieben. Mit ihm gemeinsam bestrafte sie Adam. Nach dieser Version war Lilit der Körper der Schlange, Samael ihre Stimme. Das Resultat kennen wir, die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Adam machte Eva dafür verantwortlich und ließ sie eine Zeit lang allein, damit sie bereuen konnte. Aber, nachdem er nicht allein leben konnte, gesellte er sich erneut zu Lilit und zeugte neue Monster. Dies könnte die Quelle der rabbinischen Auslegung sein, nach der Lilit alles das repräsentiert, was den Menschen vom wahren Pfad zu Gott abbringt und ihn schließlich immer wieder die Sünde Adams wiederholen lässt. Israel Gutwirth zum Beispiel erinnert an ein Werk mit dem Namen Qav ha-Jaschar, das verschiedene Erzählungen über Lilit enthält, von der es heißt, dass sie in der Gestalt einer schönen Frau Männern den Kopf verdreht.22 Lilit wird gelegentlich als Frau mit schönem Oberkörper, aber von der Hüfte abwärts als hässlich und stark behaart beschrieben, oder sogar als Wesen mit weiblichen und männlichen Körperhälften. In der Auslegung von Bibeltexten wird sie mit der Figur der Königin von Saba verglichen, die König Salomo zu verführen versuchte. Salomo, der ahnte, mit wem er es zu tun hatte, ließ sie Glauben machen, dass der Boden unter Wasser stand und brachte sie dazu, dass sie den Rock hob, sodass er ihre behaarten Beine betrachten konnte. Dies war natürlich nur metaphorisch gemeint. Lilit repräsentierte das nach außen hin Schöne. Sie verkörperte Sex, Genuss und all das, was jemand zu tun begehrt und dabei die Gesetze Gottes bricht. Sie stand für alle jene Dinge im Leben, die den Mann vom wahren Pfad abbrachten und zeigte ihre wahre Gestalt erst, nachdem sie ihn gefügig gemacht hatte. Die Kabbala übernahm die Symbolik, die sich auf Lilit bezog und reicherte sie mit neuer Bedeutung an. Der erste Kabbalist, der ein besonderes Interesse an ihr zeigte, war Isaak Cohen, der im 13. Jh. die berühmten Abhandlungen über die linken Emanationen23 schrieb, in denen er die vielen mit ihr verbundenen Bedeutungen darlegt. Obwohl der Traktat nicht direkt vom Alphabet des Ben Sira beeinflusst scheint, ist es sehr wahrscheinlich, dass Rabbi Isaak das Werk kannte. Cohen war der erste jüdische Mystiker des Mittelalters, der eine mystische Mythologie in Form einer Eschatologie vorlegte. Mehr noch, wie der Titel zeigt, war er derjenige, der die ältere Dämonologie24 mit den kabbalistischen
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Israel GUTWIRTH, The Kabbalah and Jewish Mysticism (New York: Philosophical Library, 1987), 111–112. R. Isaac b. Jacob HA-KOHEN, Treatise on the Left Emanation, in The Early Kabbalah (hg. v. Joseph Dan; New York [u.a.]: Paulist Press, 1986). Von der Harold BLOOM sagt: „Gott, regiert nach dem babylonischen Exil über einen Kosmos von Engelsreihen und ist nicht mehr der einsame Kriegergott, der eine Handvoll Elohim als seine Boten und Agenten anstellte. Aus Babylonien kamen nicht nur die Engelsnamen, sondern auch die Engel-Bürokraten, -Prinzen und -Funktionäre.“
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Theorien der Emanationen Gottes verband. Diese Abhandlungen waren eines der wichtigsten Werke in der Entstehung der Kabbala, indem sie – wie es u.a. von Gershom Scholem so genannt wurde – den gnostischen Dualismus in den kabbalistischen Symbolismus einführten. Joseph Dan führt aus: „Während frühere Kabbalisten das Problem des Bösen in einer ähnlichen Weise wie die Philosophen betrachteten, schuf Rabbi Issak eine dämonologische Parallelstruktur der bösen emanierenden Kräfte, die von Asmodeus, Satan, Lilit und ihren Knechten angeführt wurden, und die aus der linken Seite des SefirotBaumes stammten. Und auf eine feine mythische Weise kochen diese verschiedenen Dämonen vor Lust und Begierde, Eifersucht und Hass, wie verrückt flügelschlagend in ihrer dämonischen Welt, und warten nur darauf, auf das unglückliche menschliche Wesen da unten einzuschlagen,“25 ein wenig so wie die einstigen Götter der griechischen Mythologie. Dieser Traktat eröffnete neue Horizonte. Lilit war nun die Partnerin des Samael, die Königen der sitra achra (der „anderen Seite“, dem Reich des Bösen), und erfüllte die Strukturparallele zur Schekhina (als göttliche Gegenwart): wenn die Schekhina die Mutter des Hauses Israel war, so Lilit die Mutter des unheiligen Volks, die Herrscherin über alles Unreine.26 Gleichzeitig begegnet in diesem Traktat zum ersten Mal die Kombination mit den Symbolen der Merkava-Mystik (des ekstatischen Aufstiegs zu den Heiligen Hallen und zum himmlischen Thronwagen). So lebte Lilit gemeinsam mit Samael (parallel zu Adam und Eva) in den unteren Palästen, welche die Mystiker auf ihrem Weg zur himmlischen Glorie passierten. Es wird auch eine Unterscheidung zwischen der älteren oder nördlichen und jüngeren Lilit gemacht. Samuel und die Lilit des Nordens emanierten aus dem Thron der Herrlichkeit. Jene schon erwähnte Figur mit zwei Hälften, oben Frau, unten Mann, wurde als brennendes Feuer interpretiert und von Isaak Cohen mit der jüngeren Lilit, der Frau des Asmodeus, des Dämonenkönigs, der in den unteren Reichen residierte, identifiziert. Die ältere Lilit wird im Endkampf zwischen Gut und Böse das Schicksal ihres Partners Samael teilen und von Gabriel, dem Prinzen der Macht (Sefira Gevura) und Michael, dem Prinzen der Liebe/Gnade (Sefira Chesed), besiegt werden. Der Sohar führte diese Überlieferung fort und übernahm die meisten der Motive, fügte aber auch neue hinzu. Talmudischen Legenden folgend betonte der Sohar nachdrücklich den Ursprung bestimmter Klassen von Dämonen durch den Geschlechtsverkehr zwischen Menschen und Dämonen.27 Auf der anderen Seite konnten schon seit Langem die bösen Geister nicht nur durch die Namen der drei Engel, sondern auch durch den Gottesnamen Schaddai, der
25 26 27
(Harold BLOOM, Omens of Millennium: The Gnosis of Angels, Dreams, and Resurrection (New York: Riverhead Books, 1996), 45). Joseph DAN (Hg.), The Early Kabbalah, Introduction, 37. Gershom SCHOLEM, Kabbalah, 358. Gershom SCHOLEM, Kabbalah, 321.
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mit der höchsten Krone bedeckt war, vertrieben werden.28 Die Verführung Evas durch die – Samael repräsentierende – Schlange wurde nicht nur als verbal, sondern durchaus als physisch vorgestellt. Aus ihr entsteht Kain mit seinem mörderischen Potential. In Sitre Tora (1,147b–148a) in einem Kapitel, das sich „Jakobs Reise“ nennt, wird ein alternatives Szenario entwickelt, in dem Adam von der Schlange verführt wird, die Lilit verkörpert. Dieser Widerspruch wird später allerdings aufgelöst, indem die Schlange als Repräsentantin des Dämonischen in sich selbst sowohl männliche wie weibliche Anteile hat. Moses Cordovero entwickelte dieses Motiv in seinem Pardes Rimmonim (186d)29 weiter und meinte, dass Samael und Lilit nur durch die Emanation des Bösen vom jeweils anderen existieren konnten. Die Kabbala entwickelte nicht nur die vorhandene mit Lilit verbundene Symbolik weiter, die von früheren Traditionen und Mythologien übernommen waren. In ihrem allgemeinen Weltbild zeichneten die Kabbalisten ein Bild von Lilit, in dem sie alles verkörperte, was Gott mit Sorge betrachtete, nicht nur, was Israel betraf, sondern auch die Welt an sich. In gewisser Weise repräsentierte sie auch die paganen Sitten und Kulturen, die rund um Israel existierten, genauso wie jegliche Abkehr von der Tora und die Gefährdung des Volkes. Als solches wurde Lilit zur Repräsentation Babylons. Möglicherweise basierte dieser Vergleich auf der Legende vom Turm zu Babel, der als irregeleitetes Projekt des Aufstiegs der Massen zu einer Einheit mit dem Göttlichen (physisch und/oder spirituell) verstanden wurde. Nicht zufällig verband der Sohar das Ende von Lilit mit dem Fall Roms: „Wenn der Heilige, gepriesen sei er, Zerstörung über das frevlerische Rom hereinbrechen lassen wird und es für alle Zeit in Ruinen verwandelt, wird er Lilit senden und sie in den Ruinen leben lassen, denn sie ist der Ruin der Welt. Und darauf bezieht sich der Vers: ‚Ja, Lilit macht dort Rast und findet für sich einen Ruheplatz‘ (Jes 34,14).“30 Die wahrscheinlich schockierendste Vorstellung in Verbindung mit Lilit war die von ihr als Partnerin Gottes. In ihrer doppelten Bedeutung als Gottes Gegenwart und als mystisches Israel, wurde die Schekhina als Frau des Weisen (Tzaddiq) und durch Extrapolation als Frau Gottes bzw. als einer der Aspekte von Gott selbst betrachtet. Es ist augenscheinlich, dass der einzige Ort, wo diese göttliche Vereinigung stattfindet konnte, der salomonische Tempel war. Nachdem der Tempel 70 n. zerstört worden war, wurde die Schekhina (= das Volk Israel) von den Heiden „gefangen genommen“ und kontinuierlich „missbraucht“. Gott weigerte sich daher, sie zu treffen, da sie unrein war. Auf der anderen Seite war Gott ohne weiblichen Aspekt unvollkommen. Wieder erinnert man sich an die mythologische Vereinigung von Baal und Anat in der kanaanäischen Mythologie. Aus diesem Grund, um die Balance zu halten, 28 29 30
Raphael PATAI, The Hebrew Goddess (Detroit: Wayne State University Press, 1990), 227. Moses Cordovero, Pardes Rimmonim (Granatapfelgarten), zitiert nach Raphael PATAI in The Hebrew Goddess, 246. Sohar Teil 3, Seite 19a, zitiert nach Raphael PATAI in The Hebrew Goddess, 237.
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nahm Adonai Lilit (= die Völker, die Israel gefangen genommen hatten) zur Partnerin.31 Gott hatte keinen Grund, sie angesichts ihrer Unreinheit zurückzuweisen, denn sie war nicht seine Frau, sondern seine Hure. Lilit wurde auf diese Weise zur dunklen Schekhina, zum Gegenpol des weiblichen göttlichen demiurgischen Aspekts, die dennoch ihre Qualität als Bild (Gegenwart), das die Menschheit für Gott bereithielt, bewahrte. Hier knüpfte wieder einmal die kabbalistische Lehre Isaak Lurias im 16. Jh. mit ihrer Vorstellung des Tiqqun Olam, der Verbesserung/Reparatur der Welt, an. Durch seine Tätigkeiten – Meditation, Kontemplation, Fasten, Gebet, Almosen etc. – half der Mystiker, dass Gott sich in den Schabbattagen wieder mit seiner Schekhina vereinte, an den heiligen Tagen, an denen Lilit nicht in der Nähe der Gottheit verbleiben konnte. Mehr noch sollten wir daran erinnern, dass im kabbalistischen Denken eine enge Verbindung zwischen der göttlichen Vereinigung von Gott und der Schekhina auf der einen Seite und der Beziehung zwischen Mann und Frau auf der anderen Seite existierte. Wie Gott nur vollkommen war, wenn er weibliche und männliche Aspekte in sich vereinte, so war auch der Mensch nur vollkommen, wenn Mann und Frau zusammenkamen. Von der Vereinigung von Mann und Frau – wenn sie in angemessener Weise nach den Regeln der Tora, aber auch mit Freude geschah – erwartete man sich eine mystische Beeinflussung der göttlichen Welt, die helfen sollte, die männlichen und weiblichen Aspekte in Gott zusammenzubringen, die Sefirot in Balance zu halten und die ursprüngliche Harmonie, die durch Adam und Eva zerbrochen wurde, wieder herzustellen. Das erklärt, warum Sex für die Kabbalisten nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch kosmische Auswirkungen hatte und einen Weg darstellte, Lilit sowohl von Gott als auch vom Menschen weg zu treiben.
4.
Zusammenfassung: Lilits Bedeutung heute
Man muss zugeben, dass für eine Figur, die in der Bibel nicht erwähnt wird, Lilits Entwicklung sehr beeindruckend ist. Es ist nicht verwunderlich, dass sie als Symbol für die feministische Bewegung aufgegriffen wurde. Natürlich hat die Version einer „ersten Eva“ Frauen ein Identifikationsangebot geliefert, und das keineswegs nur im Judentum. Lilit kann als Modell der unabhängigen Frau betrachtet werden, die das System herausfordert. Der Kindermord kann als Wahnsinnstat als Ergebnis von Einsamkeit und Ausschluss interpretiert werden. Mehr noch, ihre Karriere kann Frauen sehr wohl eifersüchtig machen. Patai sagt: Sie „begann auf der untersten Stufe, war eine fehlgeleitete Form der für Adam vorgesehenen Frau, wurde zur Buhlerin lasziver Geister, wuchs zur Braut Samaels, des Dämonenkönigs heran, herrschte als Königin von 31
Sohar Teil 3, Seite 69a, zitiert nach Raphael PATAI in The Hebrew Goddess, 249.
242
Felicia Waldman
Zemargad und Saba, und endete als Gefährtin Gottes selbst.“32 Auf der anderen Seite kann man anführen, dass ihr Aufstieg auf der Macht der Verführung basierte, was gegen eine feministische Aneignung spricht. Die mit offenem Ende versehene Natur der mit Lilit verbundenen Symbolik hat die Verwendung auf unterschiedliche und sogar widersprüchliche Art ermöglicht, als Symbol weiblicher Macht, aber auch als Sinnbild für das zerstörerisch Weibliche. Wenn Feminist_innen Lilit als erste unabhängige Frau darstellen und es ein sehr bekanntes jüdisches feministisches Magazin mit dem Titel Lilith gibt, das sich selbst als „unabhängiges jüdisches Frauen-Magazin“ beschreibt, gibt es dennoch Menschen, die sie noch immer als Dämonin, gefährliche und böse Frau für Männer, Kinder und sogar Frauen, betrachten und dabei Feministinnen als Männerhasser beschreiben. Das erklärt, warum Lilit auch zum Objekt mittelalterlicher und moderner Kunst geworden ist. Man findet sie in Filippino Lippis Fresko von Adam in Filippo Strozzis Grabkapelle in der dominikanischen Kirche Santa Maria Novella in Florenz,33 oder in Hieronymus Boschs Triptychon „Garten der Lüste“,34 oder später in Dante Gabriel Rossettis Bild „Lady Lilith“ von 1868 und John Colliers Gemälde „Lilith“ von 1887. Sie findet sich auch in fantastischen Romanen wie in George MacDonalds „Lilith“ von 1895. Bis heute bleibt Lilit ein Symbol für Macht, allein durch ihr Überleben. Raphael Patai sagt: „Ein Bürger Sumers ca. 2500 v. und ein osteuropäischer Jude um 1880 n. hatten wenig gemein, was den höheren Level von Religion betrifft. Aber sie hätten sofort ihren jeweiligen Glauben über die bösartigen Machenschaften Lilits und ihre gegenseitigen apotropäischen Mittel erkannt, mit denen man sie austreiben oder sich ihren Verlockungen entziehen wollte.“35
32 33
34 35
Raphael PATAI, The Hebrew Goddess, 221. Robin O’BRYAN, „Carnal Desire and Conflicted Sexual Identity in a ‘Dominican’ Chapel“, in Images of Sex and Desire in Renaissance Art and Modern Historiography (hg. v. Angeliki Pollali und Berthold Hub; New York: Routledge, 2018), 41–60; 44. Vgl. Virginia TUTTLE, „Lilith in Bosch’s ‘Garden of Earthly Delights’“, Simiolus: Netherlands Quarterly for the History of Art 15/2 (1985): 119–130. Raphael PATAI, The Hebrew Goddess, 251.
Rut als Konvertitin im Sohar Yuval Katz-Wilfing
1.
Hinführung
Rut ist die Protagonistin des gleichnamigen biblischen Buches. Im Judentum firmiert es unter den fünf Festrollen als Megillat Rut, als Rolle der Rut, und wird seit dem Mittelalter in vier Kapitel unterteilt. Es zählt zu den Schriften – Ketuvim – innerhalb der hebräischen Bibel. Rut ist die Frau eines Israeliten, der im Lande Moab lebt. Als dieser ebenso wie sein Bruder und Vater stirbt, begleitet sie seine Mutter auf ihrem Weg zurück nach Israel. Hier trifft sie auf einen Verwandten ihres Ehemannes, den sie schließlich heiratet und mit diesem Kinder bekommt, deren Nachkommen nichts weniger als die davidischen Könige Israels sind. Im folgenden Beitrag soll die Figur der Rut in der Rezeption der jüdischen Mystik, der Kabbala, genauer im Buch Sohar, analysiert werden. Dieses kann auch als eine späte Ausprägung in der Kette der midraschischen Texte gesehen werden, die es beeinflusst haben. Der Sohar nimmt die früheren Überlieferungen, wie sie sich im Midrasch finden, auf und fügt eine eigenständige Interpretationsschicht hinzu, die besonders reich an Anklängen an die esoterisch-mystische Tradition ist. Die Außenseiterin Rut wird darin nicht nur zu einem integralen Bestandteil des Volkes, sondern ihr Zentrum, politisch gesehen wird sie zur aristokratischen Matriarchin, in theologischer Hinsicht zur ‚Mutter‘ des Messias. Rut wird im Sohar mit der unteren Sefira1 Malkhut verbunden, welche dem Volk Israel am nächsten ist. Auf diese Weise wird Rut zur geistigen Repräsentantin der Gemeinde Israels gegenüber dem Göttlichen und die göttliche Gesandte für das Volk Israel.2 1
Im kabbalistischen Modell existieren zehn Sefirot als Äußerungsformen, Emanationen des Ein-Sof, des unendlichen Göttlichen, hin zur menschlichen Wirklichkeit. Die niedrigste und uns nächste ist die Sefira Malkhut. Vgl. dazu Moshe HALLAMISH, Introduction to the Kabbalah (New York: SUNY, 31999). , ﬠַל שֵׁ ם תּוֹר, רוּת.תוּשׁבְּ חָ ן ְ ְקוּדשָׁ א בְּ ִרי הוּא תָּ ִדיר בְּ ִשׁ ִירין וּב ְ ְ ְדּקָ א מַ ְרוֶוה ל, רוּת בִּ ְדיוֹקְ נָא ְדּﬠַלְ מָ א תַּ תָּ אָ ה2 ְ ְ ְמשַׁ נְ יָא בְּ קָ לָא בּ, אַ ף כְּ נֶסֶ ת יִ ְשׂ ָראֵ ל,ִדּ ְמשַׁ נְ יָיא בְּ קָ לָא ִמכָּל ְשׁאָ ר קָ לִ ין תּוֹר דָּ א ַיהֲבָ א.תוּשׁבַּ חְ תָּ א ִמכָּל ְשׁאָ ר קָ לִ ין , ִא ְתﬠ ַָרת לְ ﬠֵילָא וְ ִא ְתﬠ ַָרת לְ תַ תָּ א, אוּף כְּ נֶסֶ ת יִ ְשׂ ָראֵ ל. וְ כוֹלָּא ַכּחֲדָ א, חַ ד ﬠִ ילָּאָ ה וְ חַ ד תַּ תָּ אָ ה,ְתּ ֵרין קָ לִ ין ַכּחֲדָ א ( )זהר חדש רות ה תעח. וּבְ קוֹל חָ דָ א,וְ כֹ לָּא בְּ ז ְִמנָא חָ דָ א Übersetzung: Rut ist das Abbild der unteren Welt, die den Seligen mit Liedern und Lobeshymnen erfüllt. Rut mit dem Namen tor (Turteltaube). Wie die Turteltaube unter
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Yuval Katz-Wilfing
Rut ist eine faszinierende Figur. Sie schafft es von der Peripherie Israels in das Zentrum seiner Identität. Rut gleicht dabei durchaus einer anderen biblischen Figur, nämlich Ester. In diesem Vergleich ist Rut gewissermaßen die Ester, Noomi entspricht Mordechai. Rut nützt Noomi in ihrem Kampf zur Wiedererlangung des verlorenen Status der Familie im Umfeld des Boas, genauso wie die Juden im Persien des Königs Achaschwerosch mit Hilfe Esters ihr Überleben angesichts der Bedrohung sichern wollen. Der wichtigste Moment in der Geschichte der Rut ist der, als sie darauf besteht, Noomi zu folgen und es ablehnt in ihr Heimatland zurückzukehren. Durch diesen Akt der Zuwendung wird sie zum bleibenden Vorbild für alle Konvertiten, die das Alte aufgeben und sich unter die Herrschaft Gottes begeben. In der Folge ist auf Ruts Rolle als gijjoret (Konvertitin) im Rahmen der Kabbala näher einzugehen.
2.
Kabbala und Konversion
2.1
Kabbala und Sohar
Kabbala kann als Weltsicht beschrieben werden, die alle Bereiche der Welt und des Lebens umfasst und nach Erklärungen für die Geheimnisse des Universums mithilfe eines mystischen Zuganges sucht. Kabbala beschäftigt sich mit den verborgenen Bereichen des göttlichen und menschlichen Lebens und ihren Beziehungen zueinander.3 Die Traditionen der Kabbala können als Antwort auf die philosophischen Fragen verstanden werden, die das jüdische Denken am Ende des 1. und zu Beginn des 2. Jahrtausends n. d. Z. beschäftigt haben.4 Kabbala ist die letzte der berühmten vier Auslegungsarten des Pardes ()פרדס, ein Akronym für Peschat, Remez, Derasch and Sod.5 Sod (Geheimnis) bedeutet so viel wie die esoterisch-mystische Durchdringung des biblischen Textes mithilfe der Kabbala. Die kabbalistische Tradition ist überaus einflussreich gewesen. Viele der
3 4 5
allen anderen ein einzigartiges Lied singt, so singt die Versammlung Israels ein unter allen anderen Rufen einzigartiges Loblied – Lob des tor, des Erwachens. Die Turteltaube sendet zwei Rufe als einen aus: einen hohen und einen niedrigen – zusammenklingend. Auch die Versammlung Israels erweckt sich nach oben und nach unten – auf einmal und mit einer einzigen Stimme.“ (Midrasch Ha-Ne‘elam ZH 86b); Zitiert nach Joel HECKER, The Zohar Pritzker Edition, Translation and Commentary (hg. v. Daniel C. Matt; Stanford: Stanford University Press), XI, 196. Vgl. HALLAMISh, Introduction, 13. HALLAMISh, Introduction, 11. Peschat meint den Literalsinn bzw. den allgemein akzeptierten Sinn, Remez die Allegorie, Derasch die midraschische Auslegung und Sod die mystische Deutung. Siehe auch Gerhard LANGER, Midrasch, 260–266.
Rut in der Kabbala
245
bedeutendsten jüdischen Persönlichkeiten sind von Kabbala fasziniert bzw. in ihr versiert.6 Der Sohar ist eine Textsammlung, die traditionell Rabbi Schimon bar Jochai zugeschrieben wird, einem Rabbiner des 2. Jh. Die neuzeitliche Forschung ist dahingehend einig, dass er jedoch im mittelalterlichen Europa entstanden ist. Der Inhalt der ersten drei Bücher ist nach den Wochenlesungen des Pentateuch geordnet. Die ersten beiden Bücher beziehen sich auf Genesis und Exodus und das dritte handelt von den anderen drei Büchern des Pentateuchs. Der Sohar enthält auch einen Teil, der sich ,Neuer Sohar‘ nennt, Sohar Chadasch ()זוהר חדש. Dieser Teil enthält Teile zum Pentateuch, zu Rut, den Klageliedern und dem Hohelied.7 Der Sohar taucht erstmals Ende des 13. Jh. in Kastilien auf. Forscher wie Heinrich Graetz und Gershom Scholem haben Rabbi Moses de Leon8 als seinen Autor vermutet. Jüngere Arbeiten gehen eher von einer Sammlung im Umfeld von Moses de Leon aus, die sich über drei Generationen hinzog. Der Sohar repräsentiert zweifellos weitere und umfassendere Kreise. Dies gilt auch in Bezug auf die Interpretationen zu weiblichen Figuren allgemein und Rut im Speziellen. Die jüdische Mystik ist sehr am Weiblichen als Teil des Göttlichen interessiert. Weibliche und männliche Anteile innerhalb Gottes werden ausführlich beschrieben.9 Der Sohar mag durchaus ältere Traditionen aufgenommen haben, vielleicht aber auch nur mündlich überliefertes Material. „Es kann sein, dass der Sohar nicht aus hier und dort gefundenen Fragmenten zusammengewoben ist, sondern die alten Schussfäden einer Tradition enthält, die weiter in die Antike reicht als Sifre und Midrasch Tannaim.”10 Auch wenn wir annehmen, dass der Sohar ältere Quellen enthält, so können wir dennoch Trends identifizieren, die einzigartig für ihn und seine Zeit sind.
2.2
Konversion in der Kabbala
Im 13. Jh. unterschied die mystische Tradition genau zwischen der Seele eines Juden und der eines Nichtjuden.11 Grundlegend dafür ist der Unterschied zwischen den Kräften der Heiligkeit, qeduscha ( )קדושהund Unreinheit, tuma’a 6 7 8 9 10 11
HALLAMISH, Introduction, 13. Arthur GREEN, A Guide to the Zohar (Stanford: University Press, 2004), 63. GREEN, Guide to the Zohar, 164–165. Elliot R. WOLFSON, Circle in the Square: Studies in the Use of Gender in Kabbalistic Symbolism (Albany: State University of New York Press, 1995), 1. Herbert W. BASSER, „Midrash Tannaim“, in Encyclopedia of Midrash I (Leiden: Brill, 2005), 510–520; 516. HALLAMISH, Introduction, 213.
246
Yuval Katz-Wilfing
()טומאה. Israel verkörpert die Heiligkeit, die Nichtjuden die Unreinheit. Diese Haltung manifestiert sich nicht zuletzt in einem massiven Widerstand gegen Mischehen und die Ablehnung der Konversion, wie man dies etwa bei Isaak Luria (AR”I, 1534–1572) beobachten kann.12 Das erschwert einen positiven Blick auf die Rut-Erzählung, da sie als Beispiel für eine Mischehe gesehen werden kann, sogar im doppelten Sinn, einmal in Bezug auf Elimelechs Sohn Machlon, ein zweites Mal in Bezug auf Boas. Aber selbst die bevorzugte Lesart der Rut-Erzählung als Konversionsgeschichte ist nicht ohne Schwierigkeiten. Eine einsame positive Stimme zur Konversion findet sich bei Isaak ben Samuel von Akko (13. –14. Jh.). ועל כן קרבם השם, נפשם הייתה מנפשות בני ישראל,כל אותן אנשים מבני אומות העולם שמתגירים 13"תחת כנפיו לבלתי ידח ממנו נדח Übersetzung: All die Menschen aus den Völkern der Welt, die einen Giur (Konversion) machen, ihre Seelen stammen von den Seelen der Israeliten, und das ist der Grund, warum der Ewige sie unter seine Fittiche genommen hat, sodass niemand ihm verlorengeht.
Dies kann bedeuteten, dass die zum Judentum Konvertierten tatsächlich Nachkommen von einst aus dem Judentum Ausgetretenen sind. Es existierte aber auch eine andere Meinung, wonach die Verbindung zu Gott und damit die jüdische Identität an die Erfüllung seiner Gebote gebunden war, was Konvertiten die Möglichkeit gab, als vollständige Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft betrachtet zu werden.14 Im Falle der Rut gibt es keine Zweifel, dass sie positiv betrachtet wurde. Die kabbalistischen Texte, allen voran der Sohar, bemühen sich, Ruts besondere Rolle im Erbe des jüdischen Volkes zu erklären. Rut wird von einer literarischen Figur einer besonderen Erzählung und mit einem spezifischen Hintergrund zu einer universalen Figur entwickelt, deren Rolle weit über die in der Originalerzählung hinausgeht. Rut erhält einen Platz im kabbalistischen/soharischen Weltbild, sie wird mit einer bestimmten Sefira verbunden und auf diese Weise in die Beziehung von Gott zu seiner Welt eingebunden. Ihre Rolle bleibt weiblich und sie erhält – genau wie die Tora – weibliche Attribute. Rut wird zum Symbol für das Volk Israel und gibt auf diese Weise ihre weiblichen Attribute an das Volk Israels weiter.
12 13 14
HALLAMISH, Introduction, 214. Recanati 35b; in Menachem RECANATI, Perush ‘al ha-Torah (Lemberg, 1880). HALLAMISH, Introduction, 215.
Rut in der Kabbala
2.3
247
Die Bedeutung des Konvertiten und der Frau im Sohar
Im Sohar wird die Konvertitin Rut in einem metaphorischen Sinne dazu verwendet, die Beziehung zwischen Gott, seiner Tora und seinem Volk, neu zu bestimmen. Dies gilt auch für die Figur des Konvertiten an sich. Das Weibliche spielt eine enorme Rolle in der Kabbala, wie wir am Beispiel der Rut sehen. Im bekannten Gleichnis von der jungen Frau, die wir im Sohar zu Mishpatim – Saba deMishpatim – finden, können wir die Bedeutung der „Theologie“ des Konvertiten aufzeigen. In diesem Text werden die Tora und ihre Geheimnisse mit einer schönen Jungfrau verglichen. Er verwendet dieselbe Sprache, die später zur Beschreibung der tieferen geheimen Bedeutung der Tora verwendet wird. In der Erzählung des Gleichnisses von der Jungfrau lüftet der alte Mann, der Saba, der die Geschichte erzählt, das verborgene Geheimnis in Bezug auf das Prinzip der konvertierten Seelen. Die biblische Vorstellung von Ger als gebietsansässigem Fremden war wohl in der Zeit des Verfassers nicht mehr relevant. Zudem dürfte es auch kaum Konversionen gegeben haben. Vermutlich sah er sich deshalb veranlasst, nach einer anderen, tieferen Bedeutung zu suchen. In diesem Konzept ist der Ger eine Metapher für die fremde Seele in unserer (niederen) Welt. Diese Position behält damit allerdings die ursprünglich biblische Bedeutung von ger als fremd (und nicht als Konvertit, wie dies normalerweise der Fall ist,) bei. Schauen wir uns die relevanten Verse an: וּלְ בָ תַ ר נָפִ יק, יִ זְדָּ הֲרוּן בֵּ יהּ, )בגין( ְדּז ְַרﬠָא קַ ִדּישָׁ א,יּוֹרא ָ ִקוּדשָׁ א בְּ ִרי הוּא ﬠַל גּ ְ בְּ כַמָּ ה דּוּכְ ִתּין אַ זְהַ ר " )סבא דמשפטים דף צ''ט. וְ ִא ְתלָבַ שׁ תַּ מָּ ן, וְ כֵיוָן ְדּ ִא ְתגְ לֵי אַ הְ דָּ ר לְ נ ְַר ִתּקָ הּ ִמיָּד.ִמלָּה ְס ִתימָ א ִמנּ ְַר ִתּקָ הּ 15 (ע''א Übersetzung16: Der Heilige, gepriesen sei Er, hat uns an zahlreichen Stellen vor dem Konvertiten gewarnt, damit der heilige Same achtsam ist. Danach taucht das verborgene Wort aus seiner Verhüllung auf, und nachdem es sich offenbart hat, kehrt es sofort wieder in seine Verhüllung zurück und bekleidet sich dort.17
Das Geheimnis, das mit Verweis auf die Seelen der Gerim erklärt wurde, ist hier mit dem (geheimen und zu enthüllenden) Schrifttext verbunden, ebenso wie das immer wiederkehrende Thema des Schutzes der Ger mit dem Verhalten der höheren Seelen in Verbindung steht. Die folgenden Verse setzen die Erklärung fort: 15 16 17
Saba deMishpatim 98b. Pritzker Volume V, 31. Pritzker Volume V, 31.
248
Yuval Katz-Wilfing . וְ אָ מַ ר וְ אַ תֶּ ם יְ דַ ﬠְ תֶּ ם אֶ ת ֶנפֶשׁ הַ גֵר, ָנפַק ִמלָּה ִמנּ ְַר ִתּקָ הּ וְ ִא ְתגְּ לֵי,יּוֹרא בְּ כָל ִאינּוּן דּוּכְ ִתּין ָ ִכֵּיוָן ְדּאַ זְהַ ר ﬠַל גּ , ְדּחָ ִשׁיב קְ ָרא, ִדּכְ ִתּיב כִּ י גּ ִֵרים היִ יתֶ ם בְּ אֶ ֶרץ ִמצְ ָריִ ם, וְ אָ הַ ְד ַרת בִּ לְ בוּשָׁ ה וְ ִא ְתטַ ְמּ ַרת,ִמיָּד ﬠָאלַת לְ נ ְַר ִתּקָ הּ י ְַדﬠַת נִ ְשׁ ְמתָ א קַ ִדּישָׁ א בְּ ִמלִּ ין ְדּהַ אי, בְּ הַ אי ֶנפֶשׁ הַ גֵר. לָא ֲהוָה מַ אן ְדּאַ ְשׁגַּח בָּ הּ,ִדּבְ גִ ין ְדּ ִא ְתלְ בַּ שׁ ִמיָּד ( )סבא דמשפטים דף צ''ט ע''א. וְ ִא ְתהֲנִ יאַ ת )ואשתאבת( ִמנַּיְ יהוּ,ﬠָלְ מָ א Übersetzung18: Nachdem er in Bezug auf den Fremden an all diesen Stellen gewarnt hatte, kam das Wort aus seiner Verhüllung, offenbarte sich und sagte: „Ihr kennt doch die Seele eines Fremden“ (Ex 23,9). Sofort kehrt es in seine Verhüllung zurück, bekleidet sich mit seinem Gewand und verbirgt sich, wie geschrieben steht: „Denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde (Gerim) gewesen“ (ebd.) – denn die Schrift nimmt an, dass, weil das Wort sich sofort wieder bekleidet hat, es niemand zur Kenntnis genommen hat. Durch diese fremde Seele nimmt die heilige Seele Dinge dieser Welt wahr und genießt sie.19
Im Text verbinden sich die zwei Seelenteile, die heilige Neschama eines Juden und die Nefesch, die am Ger20 anhaftet, also eine Art fremder Anteil ist. Die Rolle der Ger-Nefesch scheint entscheidend für die Fähigkeit der Neschama zu sein, der Welt zu begegnen. Ohne sie könnte die Neschama nicht an der Welt teilhaben. Später erklärt der Alte, wie die Seele eines Konvertiten in Bezug auf seinen Körper und die Auferweckung der Toten in der kommenden Welt behandelt wird.21 Die hier zitierten Verse zeigen die zentrale Bedeutung des Ger, wenn es darum geht, die Konzepte der Seelen, ihren Ursprung und ihre Dynamik zu veranschaulichen. Die Verse demonstrieren auch die einzigartige Bedeutung von Merkmalen, die als weiblich angesehen werden, um zu erklären, wie die Tora und das jüdische Volk in Beziehung stehen. In der Figur der Rut als weibliche Bekehrte tauchen diese Elemente, die oben in Bezug auf das Gleichnis von der Jungfrau aufgezeigt wurden, besonders einprägsam auf. Neben dem positiven Vergleich des heiligen Wortes Gottes mit einer weiblichen Figur finden wir auch eine sehr negative Einstellung gegenüber Frauen. Sie werden – wahrscheinlich wegen der sexuellen Gefühle, die sie bei Männern hervorrufen – als die Quelle allen Übels betrachtet: ְדּלָא שָׁ בְ קִ ין, ֲָסוּרים יָדֶ יה ִ וְ ִאלְ מָ לֵא שֶׁ א,הוּרים ָרﬠִ ים ִ וְ כָל הִ ְר,ִמן הַ נְּ קֵ יבוֹת בָּ אוֹת כָּל ִמינֵי נַחַ שׁ וְ כִ ישּׁוּף ( )זוהר חדש דף צט ב.יתין כָּל הָ עוֹלָם בְּ כָל ﬠֵת וּזְמַ ן ִ הוֹרגִ ים וּמֵ ִמ ְ הָ יוּ,אוֹתָ הּ ִמן ְשׁמַ יָא
18 19 20
21
Pritzker Volume V, 31–32. Ebd. Gemäß dieser Weltsicht hat die Seele mehrere Teile, die aneinander festhalten und so eine ganze Seele ergeben. Diese Anteile können von verschiedenen Quellen herkommen. Für mehr Details siehe HALLAMISH. Saba deMishpatim 100a.
Rut in der Kabbala
249
Übersetzung22: Von Frauen kommen alle Formen von Magie und Hexerei und alle bösen Gedanken. Ohne „ihre Hände sind gefesselt“ (Koh 7,26), und ohne Schranken würde die Frau die ganze Welt ermorden und den Tod bringen – immer und überall. (Midrasch Ha-Ne‘elam ZH 99b)
Gegenüber Konvertiten zeigen sich deutliche Vorbehalte: כָּל שֶׁ כֵּן בְּ עוֹד, קָ שֶׁ ה לִ פְ רוֹשׁ ִמינֵיהּ זוּהֲמָ א ﬠַד ְתּלָתָ א דָ ִרין, אַ ף ﬠַל גַּב ְדּ ִא ַגּיֵּיר,כוּתי ִ זוּהֲמָ א ְד,תָּ א ֲחזֵי שֶׁ הִ יא, ﬠ ְָרפָּה. וְ דָ א הוּא ֶנפֶשׁ הַ ִשּׂכְ לִ ית. וְ לָא אַ ְשׁכְּ חָ ן בָּ הּ שׁוּם דּוֹפִ י כְּ לָל, רוּת, כְּ שֵׁ ָרה ִדבְ הוֹן.כּוּתי ִ שֶׁ הוּא ( )זוהר חדש דף ק ב. ִמיָּד חָ ז ְָרה לְ ִס ְרחוֹנָהּ וּלְ קִ לְ קוּלָהּ,ֶנפֶשׁ הַ בַּ ה ֲִמית Übersetzung23: Komm und sieh: der Schmutz eines Nichtjuden24, auch wenn er konvertiert ist, ist er schwer loszuwerden. Ein solcher Schmutz haftet drei Generationen an – umso mehr bei einem, der ein Nichtjude geblieben ist. Die Beste unter ihnen: Rut – und bei ihr wurde überhaupt kein Makel gefunden. Das ist die intellektuelle Seele. Orpa, die tierische Seele, kehrte sofort zu ihrem Gestank und ihrer Erniedrigung zurück. (Midrasch Ha-Ne‘elam ZH 82)
Es besteht eine große Spannung zwischen der Bedeutung der weiblichen Figur und der potenziellen Gefahr, die von ihr ausgeht, ebenso wie eine Spannung zwischen ihrer Rolle und der möglichen Unheiligkeit oder Unreinheit, die sie in sich trägt, besteht. Diese beiden Spannungen finden in der Figur von Rut ihren Ausdruck und machen sie zu einer einzigartig wichtigen Person, zu einer, die am Rand einer Klippe entlanggeht, jenseits derer der Abgrund liegt. Der Text des Sohar baut ein Sicherheitsgeländer und schützt Rut davor, in Verruf zu geraten.
22 23 24
Pritzker Volume XI, 136. Pritzker Volume XI, 150. Die Idee des menschlichen Schmutzes, der abgewaschen werden kann, ist in Talmud bShabbat 145b–146a verdeutlicht. Dort können wir lesen, dass der Schmutz von den Israeliten am Sinai entfernt wurde, aber an den Nichtjuden haften blieb und für drei Generationen auch an den Konvertiten haftet. Der Schmutz hier wird „verinnerlicht“ und in der Seele zu geistigem Schmutz gemacht.
250
3.
Yuval Katz-Wilfing
Rut als Konvertitin
Rut wird durch die mittelalterliche midraschische Literatur als Parade-Konvertitin dargestellt.25 Sie ist die typische Außenseiterin, die einen Platz im Herzen des jüdischen Volkes bekam, die Ahnfrau der ewigen davidischen Dynastie, der Könige Judas in der mythischen goldenen Ära und des kommenden Messias und Erlösers der Juden. Obwohl das Buch, in dem sie die titelgebende Person ist, nicht explizit von Konversion handelt und niemals das Wort giur in irgendeiner Form vorkommt, handelt die Geschichte von der Integration in die jüdische Gesellschaft und Familienstruktur. Es ist eine Geschichte über Zugehörigkeit aufgrund der Zuneigung, die Rut für Noomi, der Mutter ihres verstorbenen Mannes, empfindet. Wenn man die biblische Rut-Erzählung liest, wird nicht automatisch klar, warum Rut die Parade-Konvertitin werden wird. Wie gesagt, wird der Begriff giur nie erwähnt, ebenso wenig wie ein Konversionsprozess, noch scheint Rut eine geeignete Kandidatin zu sein. Ihre Vergangenheit als moabitische Witwe eines jüdischen Mannes verweist einmal auf das explizite Tora-Verbot, Bewohner aus Moab in die jüdische Gesellschaft zu integrieren und weiters auf die Verführung jüdischer Männer durch fremde Frauen mit der Folge, sie vom Judentum abzubringen. Als sie Boas heiratet ist sie hingegen ein hilfloser Flüchtling in Juda, jemand, der die gesamte Selbstbestimmung aufgegeben hat, nachdem sie sich ihrer Schwiegermutter unterstellte. Nach ihrer Heirat wird sie geradezu auf ein biologisches Gefäß reduziert, eine Mutter für Kinder, die mehr als die des Boas und der Noomi als ihre eigenen betrachtet werden. Auf dreifache Weise zeigt sich das problematische Schicksal Ruts. Da ist einmal Ruts Vergangenheit aus einer „ungeliebten“ Nation, ihre Gegenwart als immer noch von alten Familienbanden – über ihre Schwiegermutter – dominierte Verbindung mit Boas, und die Zukunft ihrer Blutlinie, nachdem ihre Mutterschaft von der Familie ihres verstorbenen Mannes in Besitz genommen wird. Im Sohar selbst finden wir verschiedene Ideen, was den Hauptsinn der Geschichte von Rut ausmacht. Eine ist, uns eine vorbildliche Konvertitin vorzustellen und die davidische Linie nicht zu delegitimieren: שֶׁ בָּ א מֵ רוּת, ִאם ְמגִ ילָה זוֹ ל ֹא בָ אָ ה אֶ לָּא כְּ דֵ י לְ יַחֵ ס ז ֶַרע דָּ וִ ד, תָּ מֵ יהַּ אֲנִ י,אָ מַ ר ִרבִּ י יוֹסֵ י בֶּ ן קִ ְסמָ א וְ י ֹאמַ ר אֵ לֶּה, כְּ שֶׁ נָּשָׂ א אֶ ת רוּת, לִ יכְ תּוֹב יוֹחֲסָ א ִמבּוֹﬠַז, וְ לָמָּ ה לִ י כּוּלֵי הַ אי, ל ֹא יְ סַ פֵּר יוֹתֵ ר,הַ מּוֹאֲבִ יָּה וְ ַלחֲסוֹת, שֶׁ בָּ אָ ה לְ הִ ְת ַגּיֵּיר, בְּ גִ ין צַ דֶּ קֶ ת זוֹ, אֶ לָּא כּוֹלָּא ִאיצְ ְט ִרי. ﬠַד וְ יִ שַׁ י הוֹלִ יד אֶ ת דָּ וִ ד,תּוֹלְ דוֹת פּ ֶֶרץ .הוֹדי ַﬠ ﬠִ נְ וְ תָ נוּתָ הּ וּצְ נִ יעוּת שֶׁ בָּ הּ וְ צִ ְדקוּתָ הּ ִ ְ וּל,תַּ חַ ת כַּנְ פֵי הַ ְשּׁכִ ינָה ()זוהר חדש דף צה ב
25
Paulina BEBE, Isha: Frau und Judentum. Enzyklopädie (Egling an der Paar: Verlag Roman Kovar, 2004), 292.
Rut in der Kabbala
251
Übersetzung26: Rabbi Jose ben Qisma: Ich wäre erstaunt, wenn diese Schriftrolle nur dazu dienen würde, die Abstammung Davids bis zu Rut, der Moabiterin, zurückzuverfolgen, und nicht mehr! Aber eigentlich ist all dies notwendig, weil die rechtschaffene Frau gekommen ist, um sich zu bekehren und von den Flügeln der Schekhina bedeckt zu werden – und um über ihre Demut/Sittsamkeit/Bescheidenheit (tzeniut) und Gerechtigkeit zu lehren. (Midrasch Ha-Ne‘elam ZH 78b)
Andererseits wird bewiesen, dass Davids Linie die richtige ist: ְדּהָ א פּ ֶֶרץ. יב( כֶּסֶ ף צָ רוּף בַּ ﬠֲלִ יל לָאָ ֶרץ, שֶׁ הוּא )תהלים,הוֹדי ַﬠ ז ֶַרע דָּ וִ ד ִ ְ ל,ַרבִּ י אֶ לְ ָﬠזָר בְּ ר' יוֹסֵ י אָ מַ ר . ִמפְּ נֵי מָ ה בָּ אוּ ִמן הָ ִאמָּ הוֹת בְּ ﬠִ נְ יַן זֶה, וְ ִאם תּ ֹאמַ ר.וּשׁתַּ יִ ם ְ כְּ כֶסֶ ף זֶה שֶׁ נִּ צְ ַרף ַפּﬠַם,וְ עוֹבֵ ד כֶּסֶ ף צָ רוּף הוּא . בְּ יֵצֶ ר הַ טוֹב וּבְ יֵצֶ ר הָ ָרע, בִּ ְשׁנֵי יְ צָ ֶרי,' ו( וְ אָ הַ בְ תָּ אֵ ת ה' ֱא הֶ י בְּ כָל לְ בָ בְ וְ גו, )דברים, ִדּכְ ִתיב... ( ) זוהר חדש דף צה ב. וְ ז ֶַרע דָּ וִ ד ִאיצְ ְט ִרי הָ כֵי.הַ כֹּ ל צָ ִרי כְּ אֶ חָ ד Übersetzung27: Rabbi Eleazar ben Rabbi Jose sagte: „Es soll uns lehren, dass die Abstammung Davids „wie Silber, geschmolzen im Ofen, von Schlacken gereinigt siebenfach“ (Ps 12,7) ist. Wenn sie einwenden: Wenn ja, warum stammen sie dann von solchen Müttern mit diesem Hintergrund ab? … so steht geschrieben: „Du sollst den HERRN, deinen Gott, mit ganzem Herzen lieben“ (Dtn 6,5), mit deinen beiden Antrieben, mit dem guten Antrieb und mit dem bösen Antrieb – alles ist gemeinsam nötig – und bei der Abstammung von David verhielt es sich notwendigerweise so. (Midrasch Ha-Ne‘elam ZH 78b–78c)
Rut als vorbildliche Konvertitin legitimiert die davidische Linie, und die Legitimierung der davidischen Linie betont, wie perfekt Rut als Konvertitin war. Der Sohar behandelt drei Dinge: in Bezug auf ihre Vergangenheit wird Rut als Tochter eines Königs legitimiert, in der Gegenwart wird sie als große Frau aufgebaut, die deutliche Spuren hinterlässt, und in Bezug auf die Zukunft wird sie als Mutter der größten jüdischen Dynastie glorifiziert. Lassen Sie uns nun dem Text des Sohar selbst zuwenden, um die drei Dimensionen im Detail darzustellen.
3.1
Vergangenheit – Tochter
In Dtn 23,4 heißt es: „In die Versammlung des HERRN darf kein Ammoniter oder Moabiter kommen, auch nicht in der zehnten Generation. Niemals dürfen ihre Nachkommen in die Versammlung des HERRN kommen“.
26 27
Pritzker Volume XI, 92. Ebd.
252
Yuval Katz-Wilfing
Dieses eindeutige Gesetz macht eine Ehe oder eine Konversion der Rut unmöglich. Als moabitische Frau kann sie Israel auf keine Weise beitreten. Der Sohar hingegen legitimiert Rut gleich mehrfach und macht sie zur geeigneten Kandidatin, um sich dem Volk Gottes anzuschließen. . מוֹאָ בִ י וְ ל ֹא מוֹאָ בִ ית, ﬠַמּוֹנִ י וְ ל ֹא ﬠַמּוֹנִ ית, שֶׁ ָﬠלֶיהָ נִ ְתקַ יְ ימָ ה ֲה ָלכָה, כְּ שֵׁ ָירה ָלב ֹא בַּ קָּ הָ ל,ָכּ רוּת ( רות ה קמ"ב,)זוהר חדש Übersetzung: So ist es mit Rut. Sie ist geeignet, um in die Gemeinschaft zu kommen, denn das Gesetz wurde in Bezug auf sie klargestellt: [Es heißt im Bibeltext:] Ammoniter und nicht Ammoniterin, Moabiter und nicht Moabiterin.
Dieses Zitat, das bereits aus dem Midrasch Rut Rabba 4 stammt, verwendet das Geschlecht der Rut, um sie trotz ihrer Herkunft zu legitimieren. Da Rut kein Moabiter, sondern eine Moabiterin ist, kann sie Gottes Volk angehören. Das Verbot gilt demnach geschlechtsspezifisch nur für Männer. Ruts Vergangenheit wird nicht nur legitimiert, sondern auch glorifiziert. Rut erhält einen königlichen Vorfahren. . ְדּקָ טִ יל ֵליהּ אֵ הוּד, ִמית ﬠֶגְ לוֹן. וּבְ ָרתֵ יהּ ְדּﬠֶגְ לוֹן מַ לְ כָּא ְדּמוֹאָ ב ֲהוַת.ְדּהָ א בְּ יוֹמֵ יהוֹן ְדּשׁוֹפְ ִטים נָפְ קָ א רוּת , כֵּיוָן ְדּאָ תָ א תַּ מָּ ן אֱלִ ימֶ ֶל. וּבִ ְשׂדֵ י מוֹאָ ב, ַו ֲהוַת בְּ בֵ י אוּמָ נָא, וְ דָ א בְּ ָרתֵ יהּ ִא ְשׁ ְתּאָ ַרת,וּמָ נוּ מֶ ֶל אַ ח ֲָרא ( )זוהר חדש מדרש רות.נ ְַסבָּ הּ לִ בְ ֵריהּ Übersetzung: Es war in den Tagen der Richter, als Rut auf die Welt kam. Eglon, der König von Moab, war ihr Vater. Eglon wurde von Ehud getötet, und ein anderer König wurde eingesetzt.
Im dritten Kapitel des Buches der Richter erfahren wir von einem moabitischen König namens Eglon, der Gebiete östlich und westlich des Jordans in Besitz nahm, auch Teile des Landes, das zu Benjamin gehörte. Dieser König wurde von einem Israeliten namens Ehud ben Gera getötet. Der mächtige Herrscher wird nun mit einer anderen wichtigen Moabiterin, Rut, in Verbindung gebracht. Dieser Bezug wird bereits im Talmud hergestellt: בן בנו של בלק מלך מואב, רות בת בנו של עגלון:אמר רבי יוסי ברבי חנינא . הוריות י ב,בבלי
Rut in der Kabbala
253
Übersetzung: Rabbi Jose sagte im Namen des Rabbi Chanina: Rut war die Tochter des Sohnes von Eglon, des Sohnes des Sohnes von Balak, König von Moab. (bHorayot 10b)
Die königliche Genealogie von Rut ist auch an einigen weiteren Stellen in der talmudischen Literatur zu finden: bSota 47a, bSanhedrin 105b, bNazir 23b und im Midrasch Rut Rabba 2,9. Eglon war ein König, aber er wird nicht als Gerechter beschrieben, den Gott belohnen sollte. Der nächste Text nützt die Geschichte seiner Ermordung, um zu erläutern, warum Eglon als würdig erachtet wurde, der Ahnvater der davidischen Dynastie zu werden. ְדּבַ ר,28 כְּ שֶׁ בָּ א אֵ הוּד וְ אָ מַ ר, אָ מַ ר ִרבִּ י ְרחוּמָ אי. וּמפְּ נֵי מָ ה ָזכָה ﬠֶגְ לוֹן לְ ָכ ִ .בְּ נוֹת ﬠֶגְ לוֹן מֶ ֶל מוֹאָ ב הָ יוּ , חַ יֶּי, אַ תָּ ה קַ ְמתָּ ִמכִּ ְס ֲא בִּ ְשׁבִ יל כְּ ב ִוֹדי, אָ מַ ר לוֹ הַ קָּ דוֹשׁ בָּ רוּ הוּא.ֱא הִ ים לִ י אֵ לֶי ַויָּקָ ם מֵ ﬠַל הַ כִּ סֵּ א ( )זוהר חדש מדרש רות.' ַויֵּשֶׁ ב ְשׁ מֹ ה ﬠַל כִּ סֵּ א ה29 שֶׁ ֶנּאֱמַ ר.ִמ ְמּ יֵצֵ א ִמי שֶׁ יֵּשֵׁ ב ﬠַל כִּ ְס ִאי Übersetzung: Sie waren die Töchter Eglons, des Königs von Moab. Und warum wurde Eglon dafür als würdig erachtet? Rabbi Rechumai sagte: Als Ehud kam und sagte: „Ich habe ein Wort von Gott für dich“, und er von seinem Thron aufstand, sagte der Heilige, gepriesen sei Er: Du bist von deinem Thron aufgestanden, um mir Ehre zu erweisen, so wird aus dir der erstehen, der auf meinem Thron sitzen wird, wie es heißt: „Und Salomo saß auf dem Thron des HERRN.“
Das dritte Kapitel der Richter beschreibt, wie Ehud mit einem verborgenen Messer zum König ging und ihm erzählte, dass er eine Botschaft habe, die er ihm erzählen würde, wenn die Wachen nicht dabei wären. Als sie hinausgingen, sagte Ehud zu Eglon, dass er ein Gotteswort für ihn habe. Als Eglon sich vom Thron erhob, stach ihm Ehud in den Bauch. Die Art, wie Eglon von seinem Thron aufstand, um ein Wort Gottes zu hören, kennzeichnet ihn in den Augen des Sohar als Gerechten und macht ihn würdig, der Vorfahr Salomos zu sein. Durch Eglon und seine Geschichte beweist der Text, dass Ruts Herkunft ihr zum Vorteil gerät und sie zur Konvertitin befähigt. Der Sohar beschreibt schließlich einen sauberen Konversionsprozess in Bezug auf Rut. Es heißt: . אֵ ימָ תַ י ִא ְתגַיְּ ַירת.וּמ ְשׁ ְתּיָּא אוֹלִ יפַת ִ וּמֵ יכְ לָא,אוֹרחֵ י בֵּ יתָ א ְ אֶ לָּא כָּל. לָא.וְ ִאי תֵּ ימָ א ְדּגַיְ ָירהּ אֱלִ ימֶ ֶל תַּ מָּ ן ( ) זוהר בלק דף ק''צ ע''א.ﬠַמֵּ ﬠ ִַמּי וִ אלהַ יִ ֱא הַ י30 , כְּ דֵ ין אַ ְמ ַרת,לְ בָ תַ ר כַּד אַ ְזלַת בְּ ָנﬠ ֳִמי
28 29 30
Ri 3,20. 1 Chr 29,23. Rut 1,16.
254
Yuval Katz-Wilfing Übersetzung: Und wenn du sagst, dass Elimelech sie dort konvertierte, ist die Antwort: nein. Aber sie wurde in allen Belangen des Hauses unterrichtet. Sie wurde unterrichtet im Essen und Trinken. Und wann wurde sie konvertiert? Danach, als sie mit Noomi ging und ihr sagte: „Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott.“
Hier sehen wir, dass Rut nicht konvertiert ist, um Machlon, den Sohn Elimelechs zu heiraten, und dass sie nur einige Elemente der häuslichen Bräuche aufgenommen hat. Das zeigt uns, dass Kenntnisse des Lebensstils und sogar ihre Befolgung noch keinen giur konstituieren, der erst dann geschieht, wenn man sich zum Volk Israel und zu seinem Gott bekennt. Dennoch war die Zeit mit ihrem Ehemann und dessen Familie nicht umsonst. Er ist Teil des Prozesses, bei dem sie das ‚Knowhow‘ über judäische Praktiken und Glauben erhielt, sich vielleicht auch Zuneigung zu ihrer Schwiegermutter entwickelte, zu ihrem Volk, ihrem Gott. Ihre Vergangenheit als potenzielle moabitische Gefahr für die judäische Rechtspraxis und die Gottesverehrung werden negiert.
3.2
Gegenwart – Ehefrau
Die Legitimität der Konversion Ruts wird nicht nur durch das Verhalten in der Vergangenheit legitimiert, sondern auch dadurch, dass man illustriert, wie sie zur Zeit ihrer Ehe einige spezifische Schritte tat, die sie als Vorzeige-Konvertitin erscheinen lassen. Ihre lobenswerten Handlungen scheinen ihren Anfang in einer noblen Geste gegenüber ihrem verstorbenen Ehemann genommen zu haben. כי, ובאותו הלילה היה לה קימה ודאי,ובקומה על מה שאמר ברות ותקם בטרם יכיר איש את רעהו וכל איש נעלה, והוקם ממנה כל אלו המלכים,נתחבר עמה בועז להקים שם המת על נחלתו ( ) זוהר ויקרא שיא.שבישראל Übersetzung31: Und über das Aufstehen Ruts heißt es, sie stand auf, bevor eine Person eine andere erkennen konnte (Rut 3,14). An diesem Tag erhob sie sich wirklich – denn Boas vereinigte sich mit ihr, „um den Namen des Verstorbenen auf seinem Erbe erstehen zu lassen“ (Rut 4,10), und so wurden all diese Könige und die Größe Israels von ihr auferweckt. (Sohar Wa-yera 1,111a)
31
Pritzker Volume II, 161.
Rut in der Kabbala
255
Ruts Bemühungen, sich Boas zu nähern und dessen Einverständnis zu erhalten, vollbrachte sie im Namen des Toten, der damit belohnt wurde, Vorfahr aller erhabenen Männer in Israel zu sein. Ihr Aufstehen ( )קימהnach ihrer Beziehung mit Boas wurde mit dem Erstehen ( )הוקםder großen Männer Israels belohnt. In diesem Licht können wir die große Güte verstehen, die sie ausübte: ְדּהָ א כַּד הֲווּ חַ יִּ ין בְּ קַ ְד ִמיתָ א לָא ֲהוָה בְּ הוּ,32וְ דָ א הוּא כְּ מָ ה ְד ִא ְתּמָ ר וְ שַׁ בֵּ חַ אֲנִ י אֶ ת הַ מֵּ ִתים שֶׁ כְּ בָ ר מֵ תוּ קוּדשָׁ א בְּ ִרי הוּא ִסיֵּי ַﬠ בְּ הַ הוּא ְ ְ ו, וְ תַ ְרוַויְ יהוּ ִא ְשׁתַּ ְדּלוּ לְ מֶ ﬠְ בַּ ד ִטיבוּ וּקְ שׁוֹט ﬠִ ם ִאנּוּן מֵ יתַ יָיא,ְשׁבָ חָ א ,33 כְּ מָ ה ְדאַ ְתּ אָ מֵ ר.אוֹריְ יתָ א יְ מָ מָ א וְ לֵילְ יָא ַ ְ ַז ָכּאָ ה ִאיהוּ מַ אן ְדּ ִא ְשׁתַּ דַּ ל בּ.עוֹבָ דָ א וְ כֹ לָּא ֲהוָה כְּ ְדקָ א יָאוֹת )וישב קפח:'וְ הָ גִ יתָ בוֹ יוֹמָ ם ָולַיְ לָה לְ מַ ﬠַן ִתּ ְשׁמֹ ר ַלﬠֲשׂוֹת כְּ כָל הַ כָּתוּב בּוֹ כִּ י אָ ז תַּ צְ לִ יחַ אֶ ת ְדּ ָרכֶי וְ גו 34(עב Übersetzung: Und das meint, was geschrieben steht: „Da preise ich die Toten, die schon gestorben sind“ (Koh 4,2), denn als sie (die Männer von Rut und Tamar) am Leben waren, waren sie keines Preises würdig (und nachdem sie gestorben waren, halfen ihre Frauen, die davidische Dynastie zu begründen), und beide (Rut und Tamar) bemühten sich um gute Taten und die Wahrheit in Bezug auf die Toten und der Heilige, gepriesen sei Er, half ihnen bei den Taten, und all das war richtig. Glücklich der, welcher sich mit der Tora Tag und Nacht abmüht, denn es heißt: „Du sollst Tag und Nacht darüber nachsinnen“ (Jos 1,8).
Hier ist deutlich zu erkennen, dass sich der Text bemüht, die (sexuellen) Handlungen der Rut und der Tamar zu entschuldigen und ihnen Legitimität zu verleihen. Der Text verweist auf die Abkunft der davidischen Dynastie aus diesen Frauen und würdigt dabei die bereits toten Ehemänner, wodurch die sexuelle Verbindung mit einem Mann zur Ehre eines anderen Mannes gereicht und zum Symbol für Loyalität und zu einem guten Werk wird. Die Handlungen Tamars und Ruts werden mit dem Torastudium verglichen, das Tag und Nacht erfolgen soll. Weiters wird Ruts Loyalität zu ihrem Ehemann als so groß beschrieben, dass sie sich, obwohl er bereits tot war und sie sich nicht vor seinen Handlungen fürchten musste, immer noch an die Familientraditionen hielt. שֶׁ אַ ף ﬠַל, בּ ֹא ְוּראֵ ה ִשׁבְ חָ הּ שֶׁ ל רוּת. דָּ בְ קָ ה בֶּ אֱמוּנָתָ הּ, כְּ מָ ה שֶׁ קִּ בְּ לָה ָﬠלֶיהָ בְּ חַ יֵּי בַּ ֲﬠלָהּ,וְ רוּת דָּ בְ קָ ה בָּ הּ ( )זוהר וישב שכב. דָּ בְ קָ ה בֶּ אֱמוּנָתָ הּ, ָפִּ י שֶׁ אֵ ימַ ת בַּ ֲﬠלָהּ ל ֹא הָ יְ תָ ה ָﬠלֶיה
32 33 34
Koh 4,2. Jos 1,8. Sohar Wa-yeshev 1,188b.
256
Yuval Katz-Wilfing Übersetzung35: „Und Rut klammerte sich an sie“ (Rut 1,14) “. So wie sie zu Lebzeiten ihres Mannes [sein Joch] angenommen hatte, klammerte sie sich danach an ihren Glauben. Komm und sieh: Wie beispielhaft ist Rut! Auch ohne Angst vor ihrem Ehemann hielt sie an ihrem Glauben fest. (Midrasch Ha-Ne‘elam ZH 82a)
Der Text geht davon aus, dass Rut schon vorher zu einem gewissen Grad konvertiert war und am Glauben festhielt. Rut hat neben ihrer unendlichen Loyalität zu ihrem Ehemann, seiner Familie und ihrem Gesetz noch andere gute Eigenschaften. Besondere, fast göttliche Eigenschaften, nämlich durch ihre besondere Verbindung zu Gott. אֵ לְ כָה נָא הַ שָּׂ דֶ ה ַו ֲאלַקְ טָ ה. מַ אי כְּ ִתיב לְ ﬠֵיל.ַויּ ֹאמֶ ר לָהּ בּוֹﬠַז ֲהל ֹא שָׁ מַ ﬠ ְַתּ בִּ ִתּי אַ ל תֵּ לְ כִ י לִ לְ קֹ ט בְּ שָׂ דֶ ה אַ חֵ ר וּמַ אן. ִדּקְ ְדּקָ ה בִּ ְמהֵ ימָ נוּתָ א סַ גְ יָא. מַ אן שָׂ דֶ ה, אֵ לְ כָה נָא הַ שָּׂ דֶ ה. ְמלַמֵּ ד שֶׁ נִּ צְ נְ צָ ה בָּ הּ רוּחַ הַ קּוֹדֶ שׁ.בַּ ִשּׁבֳּלִ ים ( ) זוהר חדש רות תצ"ח.ישׁין ִ פּוּחים קַ ִדּ ִ ַ וְ הוּא שָׂ דֶ ה שֶׁ ל תּ.' הוּא שָׂ דֶ ה אֲשֶׁ ר בֵּ ַרכוֹ ה.נִ יהוּ Übersetzung36: Es steht geschrieben: Hör zu, meine Tochter, geh nicht, um auf einem anderen Gebiet nachzulesen. Was wurde vorher geschrieben? Rut sagte: Ich werde auf das Feld gehen und zwischen den Ähren des Getreides suchen. Dies lehrt, dass der heilige Geist in ihr funkelte. (Rut sagte:) Lass mich aufs Feld gehen. Auf welchem Gebiet hat sie mit großem Glauben nachgeforscht? Welches Feld war es? Das vom Herrn gesegnete Feld, und das ist das Feld der Äpfel. (Midrasch Ha-Ne‘elam ZH 85c)
Rut hat eine besondere Beziehung zum Göttlichen, was sie geeignet erschienen lässt für die Konversion und auch, um einen wichtigen Part im göttlichen Plan zu übernehmen. Rut scheint mit ihrem göttlichen Funken das Feld des großen Glaubens betreten zu dürfen. In diesem Feld wachsen besondere Früchte, wörtlich Äpfel, aber normalerweise redet die Kabbala von Zitronen (Etrogim), Früchte, die für die göttliche Gegenwart (Schekhina) oder für das Volk Israel stehen. An unserer Stelle meinen sie eher das Volk Israel. Das Bild, das entsteht, ist eines, in dem Rut dem Volk als Konvertitin beitreten kann, einem Volk, das sich an einem heiligen Ort befindet, in der göttlichen Gegenwart. Rut wird zu einer großen hingebungsvollen Mystikerin gemacht, ihre himmlischen Funken erreichen die höchsten spirituellen Wirklichkeiten, wo sie sich der göttlichen Präsenz und dem Volk Israel nähern kann. Die Geschichte Ruts demonstriert den Rabbinen auch, woran sie denken sollten, wenn sie einen Kandidaten für eine Konversion vor sich haben, wie sie ihn behandeln sollen, und welche Spuren von Rut sie in ihm finden sollen. 35 36
Pritzker Volume III, 144. Pritzker Volume XI, 203.
Rut in der Kabbala
257
ַותּ ֹאמֶ ר ָנ ֳﬠ ִמי שֹׁ בְ נָה. ֵ ַותּ ֹאמַ ְרנָה לָהּ כִּ י ִאתָּ נָשׁוּב לְ ﬠַמּ.'ַותּ ֹאמֶ ר ָנﬠ ֳִמי לִ ְשׁתֵּ י ַכ תֶ יהָ לֵכְ נָה שֹׁ בְ נָה כו ַותּ ֹאמֶ ר רוּת אַ ל ִתּפְ גְּ ﬠִ י. ָ ﬠ ְָרפָּה תָ בַ ת אֶ ל ﬠַמָּ הּ וְ אֶ ל ֱא הֶ יה.'בְ נֹ תַ י כו' ַותּ ֹאמֶ ר הִ נֵּה שָׁ בָ ה יְ בִ ְמתֵּ אֶ ל ﬠַמָּ הּ כו . בְּ לֵבָ ב שָׁ לֵם, בִּ ְשׁבִ יל שֶׁ יִּ ְתקַ יֵּים תַּ חַ ת כַּנְ פֵי הַ ְשּׁכִ ינָה כְּ רוּת,בּוֹדקִ ין לְ גֵר ְ ָכּ. ִבִ י לְ ָﬠזְבֵ לָשׁוּב מֵ אַ ח ֲָרי ()זוהר חדש רות שמ Übersetzung: Noomi erzählte ihren Schwiegertöchtern: „Kehrt doch heim usw.“ (Rut 1,8), und sie sagten ihr: „Wir wollen mit dir zu deinem Volk ziehen“ (Rut 1,10). Noomi sagte: „Kehrt doch um, meine Töchter” (Rut 1,11), und sie sagte: „Du siehst, deine Schwägerin kehrt heim zu ihrem Volk usw.“ (Rut 1,15). Orpa kehrte zu ihrem Volk und zu ihren Göttern zurück. Rut aber sagte: „Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren“ (Rut 1,16). Auf diese Weise prüft man den Konvertiten, damit er sich definitiv unter die Flügel der Schekhina stelle, wie Rut, mit ganzen Herzen.
Die Rabbinen sollen also handeln wie Noomi. Sie sollen die Konvertiten prüfen, wie Rut geprüft wurde, sie wegschicken, um ihre Loyalität und ihren Glauben zu prüfen. Nicht einmal, sondern dreimal soll man sie wegschicken. Wenn sie wie Orpa reagieren, sind sie nicht reif für den giur, nur wenn sie wie Rut handeln, dann konvertieren sie aus genuiner und tiefer Intuition und dürfen im Volk aufgenommen werden. Während Noomi den Rabbinen eine Praxis vorgab, der sie folgen können, bietet auch Boas ein Modell an, wie man sich Konvertiten gegenüber verhalten soll. . כְּ שֵׁ ָירה ִמכָּל אוּמּוֹת, בּוֹא ְוּראֵ ה. ﬠַד ְדּדָ בְ קָ ה בְּ אוֹתוֹ צַ ִדּיק, ל ֹא נִ יכָּר כּ ְַשׁרוּתָ הּ,אַ ף ﬠַל גַּב ִדּכְ שֵׁ ָירה הָ יְ תָ ה () זוהר חדש רות תצ"ח Übersetzung: Obwohl sie geeignet war, wurde ihre Eignung nicht zur Kenntnis genommen, bis sie sich mit diesem Gerechten (Boas) verbunden hat. Komm und sieh! Rut war die geeignetste aller Völker. ְדּלָא, ﬠַנְ וָותָ נוּתָ א ְדּהַ הִ יא צַ דֶּ קֶ ת, בְּ גִ ין ְדּחָ מָ א בֹּ ﬠַז דַּ יָּינָא ְדּיִ ְשׂ ָראֵ ל,קוּדשָׁ א ִא ְתּמַ ר ְ ַ וּבְ רוּח,אֶ לָּא ָרזָא הָ כָא וְ תּוּקְ פָּא ְדּ ִמצְ חָ א, בְּ ﬠֵינָא טָ בָ א, וְ חָ מָ את כָּל מַ ה ְדּחָ מָ את. אֶ לָּא לְ קַ מָּ הּ,ְמסַ לְּ קָ א ﬠֵינָא לְ מֵ חמֵ י בַּ אֲתָ ר אַ ח ֲָרא ( )ויקהל דף רי''ז ע'א. ָ ִשׁבַּ ח ﬠֵינָה,לָא הֲוה בָּ ה Übersetzung37: Tatsächlich gibt es hier ein Geheimnis, das im Heiligen Geist ausgesprochen wurde. Denn Boas, der Richter Israels, sah die Demut dieser rechtschaffenen Frau – die ihre Augen nicht bewegte, um irgendwo anders als vor sich hinzuschauen,
37
Pritzker Volume VI, 241.
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Yuval Katz-Wilfing und sah, was auch immer das mit einem wohlwollenden Auge sah, und hatte keine Frechheit in ihr. Also lobte er ihre Augen. (Sohar Wa-yakhel 2, 217b)
Boas besitzt eine Gabe, die Dinge im richtigen Licht zu sehen, wobei ihm der Heilige Geist zu Hilfe kommt. כָּל, ְדּ ֲהוָה אַ צְ לַח בִּ ידָ הָ א, ְדּחָ מָ א, וְ תוּ. ְדּכָל מַ ה ְדּ ִא ְסתַּ כְּ לַת ֲהוָה בְּ ﬠֵינָא טָ בָ א,וְ ִאיהוּ ﬠֵינָא טָ בָ א חָ מָ א בָּ ה . וּבֹ ﬠַז ִא ְסתָּ כַּל ְדּרוּחָ א קַ ִדּישָׁ א שַׁ ְריָיא ָﬠלָהּ … אֶ לָּא בְּ גִ ין ﬠֵי ָנהָ א קָ אָ מַ ר. ִאתּוֹסַ ף בְּ חַ קְ לָא,מַ ה דַּ ֲהוַות לַקְ טָ א ( )ויקהל דף רי''ח ע''א. ִ בָּ תַ ר ﬠֵי ַני,יאין וְ ﬠַל דָּ א וְ הָ לַכְ ְתּ אַ ח ֲֵריהֶ ן ִ ִ בִּ ְרכָתָ א לַקְ ִטין סַ גּ,ﬠֵינָהָ א דַּ הֲווֹ גּ ְַר ִמין Übersetzung38: Aber in ihr sah er (Boas) ein gütiges Auge, denn sie sah alles gütig an. Außerdem sah er, dass alles in ihren Händen gedieh: je mehr sie lernte, desto mehr wurde auf dem Feld hinzugefügt; und Boas bemerkte, dass der Heilige Geist sich auf sie niederließ, ... vielmehr bezog er sich auf ihre Augen, die Segen und viele Nachlese nach sich zogen. Daher [bedeutet] „und folge ihnen“ (Rut 2,9) – deinen Augen nach. (Sohar Wa-yakhel 2, 218a)
Die Passage beschreibt Rut als eine Frau mit besonderen Augen. Man könnte sagen, dass dies eine „magische“ Fähigkeit ist, eine Art Gegenteil von „bösem Blick“. Ruts „wohlwollendes Auge“ ist ihre Fruchtbarkeit, ihre Fähigkeit, Getreide und Kinder großzuziehen. Rut ist diejenige, die das Haus Davids auf dem Gebiet Judäas erweckt. Wir sehen, dass Boas eine enorme Rolle dabei spielt, Rut zu „entdecken“ und ihr Potenzial als angemessener Konvertit zur Geltung zu bringen. Sie mag angemessen sein, aber das „Gütesiegel“ wurde von Boas verliehen. Wie er es getan hatte, um über ihre Fortschritte nachzudenken. Obwohl er in der biblischen Erzählung zu Beginn der Beziehung eine passive Rolle spielt und eher auf ihre Handlungen reagiert, die von Noomi in Gang gesetzt wurden, wird Boas Rolle nun entscheidend, wo er deutlich macht, welche Eignung von Rut ausgeht. וְ י ְָדﬠַת בֵּ יהּ מֵ ִאינוּן,אוֹרחֵ יהּ ְ וְ אוֹלִ יפַת, וְ אָ ֳﬠלַת בְּ חוּלָקָ א חָ דָ א, וְ תַ מָּ ן אָ ְזלַת,חוּלָקָ א ְדהַ אי שָׂ דֶ ה ְדּצַ ִדּיקַ יָּיא אֲתָ א, הַ צַּ ִדּיק בָּ א. אַ ְדּהָ כֵי וְ הִ נֵּה בֹ ﬠַז בָּ א. ְמחַ צְ דֵ י חַ קְ לָא ִאיקְ רוּן, תַּ לְ ִמידֵ י ֲחכ ִָמים. וּמַ אן נִ ינְ הוּ.קוֹצְ ִרים . סַ נְ הֶ ְדּ ֵרי גְ דוֹלָה ְדתַ מָּ ן, לְ ﬠֵילָא ִאינוּן בֵּ י ִדינָא. מַ אי קוֹצְ ִרים. ַויּ ֹאמֶ ר לַקּוֹצְ ִרים.דּוּשׁין ִ ִ וְ כַמָּ ה ק,טָ ﬠִ ין בִּ ְרכָאן ַיהֲבִ ין לֵיהּ תּוֹקְ פָא לְ שָׁ אֲבָ א,' וְ ִאינוּן אָ ְמ ִרין יְ בָ ֶרכְ ה.דּוּשׁים ִ ִ הַ ְשׁתָּ א יָהֵ יב לְ הוּ בִּ ְרכָאן וְ ק,ה' ﬠִ מָּ כֶם ( )זוהר חדש רות תצ"ח. ִמגּוֹ ﬠַלְ מָ א ְדאָ תֵ י,קוֹרא ְדּחַ יֵּי ָ ִמ ְמּ
38
Pritzker Volume VI, 242.
Rut in der Kabbala
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Übersetzung39: „Grundstück“ (Gen 33,19) – ein Grundstück der Gerechten. Sie (Rut) war dorthin gegangen, war in eine bestimmte Abteilung eingetreten, hatte ihren Weg gelernt und darin durch diese Schnitter Erkenntnis gewonnen. Wer sind diese? Gelehrte, genannt „Schnitter des Feldes“. „Und nun kam Boas dazu“ (Rut 2,4). Schau, der Gerechte ist angekommen, beladen mit Segen und großzügigen Heiligungen. Und er erschuf die Schnitter – wer waren die Schnitter? Der Himmlische Hof, der obere große Sanhedrin. Der Herr sei mit dir! Jetzt segnet er die Heiligen. Und sie antworteten: der Herr segne dich und gaben ihm die Kraft, aus der Quelle des Lebens zu schöpfen, aus der Mitte der kommenden Welt. (Midrasch Ha-Ne‘elam ZH 85c)
Dieser Text beschreibt den Bekehrungsprozess mit seinen irdischen und himmlischen Teilen. Ein Bekehrter sollte dahin kommen, wo die Weisen sind und von ihnen lernen. Dann kann der Gerechte, wahrscheinlich eine große rabbinische Gestalt, vor den Hof treten und die Erfüllung der Bekehrung verlangen. Die Bekehrung vollzieht sich mit der Auszeichnung der Lebenskraft, vielleicht einer neuen Seele aus der jenseitigen Dimension. Was dies sein mag, können wir aus einem anderen Text im Sohar lernen: וכד מתגיירא גיורא חדא פרחא מההוא.ואינון נשמתין לגיורין דמתגיירין וכל הני עיילין להיכלא חדא היכלא נשמתא ועאלת תחות גדפהא דשכינתא ונשקת לה בגין דאיהו איבא דצדיקייא ומשדרת לה לגו והיינו רזא דכתיב פרי צדיק עץ חיים מה אילנא. ומההוא זמנא אקרי גר צדק.ההוא גיורא ושראת ביה . אוף הכי צדיק איבא דיליה עביד נשמתין.דחיי אפיק נשמתין Übersetzung40: „Wenn ein Proselyt konvertiert, fliegt eine Seele aus diesem Palast und tritt unter die Flügel der Schekhina. Sie küsst sie, denn sie ist die Frucht der Gerechten; und sie schickt sie in den Konvertiten, in dem sie wohnt. Von dieser Zeit an wird er ger tzedeq genannt, ein rechtschaffener Konvertit41. Dies steht im Einklang mit dem Geheimnis, das geschrieben steht: „Die Frucht der Gerechten ist ein Baum des Lebens“ (Spr 11,30); so wie der Baum des Lebens Seelen hervorbringt, so bringt auch die Frucht des Gerechten Seelen hervor42“
Aus dieser Passage verstehen wir, dass die Gerechten tatsächlich Seelen für Konvertiten im Himmel erschaffen, auf die die Konvertiten Zugriff haben 39 40 41
42
Pritzker Volume XI, 204. Pritzker Volume IX, 105. Die rabbinische Tradition unterscheidet zwischen einem ger tzedeq, einem rechtschaffenen Konvertiten, der das gesamte jüdische Gesetz akzeptiert und sich dem jüdischen Volk in vollem Umfang anschließt, und einem ger toschav, einem ansässigen Konvertiten, der einen kleinen Teil des jüdischen Gesetzes akzeptiert und nur unter Juden im Land Israel lebt, ohne ein vollwertiges Mitglied des jüdischen Volkes zu werden. Pritzker Volume IX, 105.
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Yuval Katz-Wilfing
müssen, um den Konversionsprozess abzuschließen und vollständig jüdisch zu werden. Der Text über Rut und Boas kann zeigen, wie diese Seelen, diese göttliche Lebenskraft, durch die Kraft des Tzaddiq, des großen Gerechten, geschaffen werden. Dieser Prozess gibt der Tora-studierenden männlichen Elite und damit den Rabbinen die wahre Autorität im Rahmen der Konversion. Während der biblische Text vor allem Rut und Noomi in den Mittelpunkt stellte, legt nun der Sohar alle Macht in männliche Hände. Der gerechte Boas wird mit den Rabbinern gleichgesetzt, die nur passiv Konvertiten akzeptieren wollen und nicht aktiv bei ihrer Akquise sind. Es liegt an ihnen, sie genau zu prüfen und für würdig zu erachten. Der Text analysiert die Konversion Ruts mithilfe von Boas und ihre starke Hinwendung zu Gott, indem man in ihr himmlische Funken findet, verweist dies auf ihre potentielle jüdische Seele und ihre besondere Beziehung zum Göttlichen. Die Bedeutung des Boas wird immer wieder betont, sei es als Richter, als Lehrer oder als Gerechter, wobei man die Bedeutung der Noomi, aber auch Ruts Aktivitäten mindert und bekräftigt, dass Rut alle Qualitäten besitzt, die es braucht, um zum Volk Gottes zu gehören und seine königliche Dynastie zu begründen.
3.3
Zukunft – Mutter
Ruts Kinder werden als die der Noomi betrachtet. Auf diese Weise leitet sich die davidische Linie mehr von Noomi als von Rut her. Rut kommt eigentlich nur die Rolle der biologischen Mutter zu, während die spirituelle Mutterschaft mit Noomi verbunden wird. Ruts Rolle wird dadurch als ziemlich passiv gezeichnet. Ihre einzige wirkliche Entscheidung besteht darin, sich Noomi anzuschließen, danach wird sie zu einem Werkzeug der Noomi, einer Marionette in ihren Händen und in denen des Boas. Der einzig wirklich bedeutungsvolle unabhängige Akt ist ihre Weigerung, Noomi zu verlassen, was wiederum an eine Sklavin erinnert, die sich weigert, freigelassen zu werden.43 Aber während ein Sklave in der Antike oder auch in rabbinischen Texten nicht immer mit Hochachtung behandelt wird, schafft es Rut, als „Sklavin Gottes” höchste Anerkennung zu erlangen. Ruts Qualität besteht in der Hinwendung und absoluten Loyalität. Auf diese Weise gewinnt sie ihren Platz in der jüdischen Geschichte. Ruts Hinwendung macht sie zu einem wichtigen Teil in der Heilsgeschichte Judas und des jüdischen Volkes.
43
Der rabbinische Terminus eved nirtza ( )עבד נרצעbezeichnet einen Sklaven, der aus Zuwendung zu seinem Herrn auf seine Freilassung verzichtet, vgl. Ex 21,6.
Rut in der Kabbala
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ַל ֲאפָקָ א ִמינָהּ חַ יָּילִ ין, וְ קָ ַרב לָהּ לְ גַבֵּ יהּ, וּנְ טַ ל לָהּ ִמ ְשּׁאָ ר ﬠ ִַמּין,מָ שֵׁ י הַ קָּ דוֹשׁ בָּ רוּ הוּא רוּת אֲבַ ְת ֵריהּ (' )זוהר חדש רות ק"ד א.ישׁין ִ וּמַ ִשּׁ ְריָין קַ ִדּ Übersetzung44: Der gesegnete Heilige zieht Rut hinter sich her, zieht sie aus den Völkern heraus, zieht sie zu sich heran und lässt Truppen und heilige Lager aus ihr hervorkommen. (Midrasch Ha-Ne‘elam ZH 85c)
Hier erkennen wir, dass Rut eine legitime Konvertitin ist, da Gott selbst sie aus den Völkern heraus erwählt hat, um Ahnfrau seiner künftigen Diener zu sein. Sie wird als Mutter erwählt und damit in ihrer spezifisch weiblichen Rolle gesehen. וְ ִא ְשׁתַּ ְדּלַת.45 ו ְַתּגַל מַ ְרגְּ לוֹתָ יו ו ִַתּ ְשׁכָּב,רוּת ִמית בַּ ֲﬠלָהּ וּלְ בָ תַ ר ִא ְשׁתַּ ְדּלַת בְּ עוֹבָ דָ א דָ א לְ גַבֵּ יהּ ְדּבֹ ﬠַז ִדּכְ ִתיב אֶ לָּא וַדַּ אי הִ יא, וְ ִאי תֵ ימָ א אַ מַּ אי לָא נָפִ יק עוֹבֵ ד מֵ ִא ְתּתָ א אָ ח ֳָרא.בַּ הֲדֵ יהּ וּלְ בָ תַ ר אוֹלִ ידַ ת לֵיהּ לְ עוֹבֵ ד וְ תַ ְרוַוְ יְ יהוּ בְּ ַכ ְשׁרוּת ﬠָבְ דוּ,וּמ ְתּ ֵרין ִאלֵּין ִא ְתבְּ נִ י וְ ִא ְשׁתַּ כְ לִ יל ז ְַרﬠָא ִדיהוּדָ ה ִ .ִאצְ ְט ִריכַת וְ לָא ִא ְתּתָ א אָ ח ֳָרא 46.לְ מֶ ﬠְ בַּ ד טִ יבוּ ﬠִ ם ִאינוּן מֵ יתַ יָיא לְ ִא ְתתַּ קְּ נָא ﬠַלְ מָ א לְ בָ תַ ר Übersetzung: Ruts Ehemann starb, und danach bemühte sie sich um Boas, wie es heißt: „Sie deckte den Platz zu seinen Füßen auf und legte sich nieder“ (Rut 3,7), und bemühte sich um Boas und gebar danach einen Säugling, und wenn du fragst, warum der Embryo nicht aus einer anderen Mutter geboren wurde, so ist die Antwort, dass sie es sein musste, die ihn gebären sollte und nicht eine andere Frau, und von diesen beiden sollte der Same Judas aufgehen und zur vollen Blüte gelangen, und beide handelten richtig, um eine gute Tat zu vollziehen an dem Toten, und sich einen Platz in der kommenden Welt zu verschaffen.
Ruts Handlungen werden als Teil eines göttlichen Plans betrachtet. Boas erkannte ihre Kraft. 47יטין ִ ִשַׁ לּ
44 45 46 47
Pritzker Volume XI, 199. Rut 3,7. Sohar Wa-yeshev 1,188b. Sohar Wa-yakhel 2,218a.
ִדּז ְִמינִ ין לְ נָפְ קָ א ִמינָּהּ מַ לְ כִ ין ﬠִ לּ ִָאין,קוּדשָׁ א ְ ַבֹּ ﬠַז חָ מָ א בְּ רוּח
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Yuval Katz-Wilfing Übersetzung: Boas sah mithilfe des Heiligen Geistes, dass in der Zukunft alle großen Könige von ihr abstammen werden.
Ruts Vermächtnis als Mutter wird sowohl durch ihre Konversion als auch durch ihre Hinwendung als Frau legitimiert. Gott hat einen Plan, in dem Ruts Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Teil einer Geschichte im Dienste des jüdischen Volkes sind.
4.
Zusammenfassung
Wir haben gesehen, dass der Sohar einen ganz einzigartigen esoterischen Zugang zur Konversion findet. Der Prozess der Konversion findet überhaupt nicht in der materiellen oder soziokulturellen Welt statt, sondern besitzt außerweltliche verborgene Elemente. Der Kandidat oder die Kandidatin mag besondere Attribute, Fähigkeiten, wundertätige Augen oder göttliche Funken besitzen, in einer besonderen Verbindung zu Gott oder seinem Volk stehen. In jedem Fall ist der Konvertit oder die Konvertitin keine normale Person. Sie besitzt spezielle Fähigkeiten, Hilfe vom Heiligen Geist und einen Zugang zu den verborgenen Dimensionen der Wirklichkeit. Folgende drei Elemente finden wir im Sohar vereint: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft; Tochter – Frau – Mutter ﬠַמּוֹנִ י, שֶׁ ָﬠלֶיהָ נִ ְתקַ יְ ימָ ה ֲה ָל ָכה, כְּ שֵׁ ָירה ָלב ֹא בַּ קָּ הָ ל, ָכּ רוּת. ַ שֶׁ הוּא כָּשֵׁ ר ﬠַל הַ ִמּזְבֵּ ח, ﬠַל שֵׁ ם תּוֹר:רוּת שֶׁ ִריוָּוה לְ הַ קָּ דוֹשׁ בָּ רוּ הוּא בְּ ִשׁירוֹת וְ ִת ְשׁבָּ חוֹת, שֶׁ יָּצָ א ִממֶּ נָּהּ בֵּ ן: רוּת. מוֹאָ בִ י וְ ל ֹא מוֹאָ בִ ית,וְ ל ֹא ﬠַמּוֹנִ ית . 48 בָּ אתָ ה בַּ קָּ הָ ל,רוּת אֵ שֶׁ ת מַ ְחלוֹן Übersetzung49: Rut, wegen des Namens Turteltaube (tor )תור. So wie letztere geeignet für den Altar ist, so war Rut geeignet, sich der Gemeinde anzuschließen. Denn das Gesetz ist bereits festgelegt worden: „Ein Ammoniter (Dtn 23,4), aber keine Ammoniterin; ein Moabiter, aber keine Moabiterin.“ Rut, Vorfahrin eines Sohnes, der den Seligen mit Lobliedern sättigte. Rut, die Frau von Machlon, kam in die Gemeinde.
Im Zentrum dieses Abschnitts steht ein Ausschnitt aus dem Midrasch Rut Rabba 4, in dem Ruts Geschlecht dazu benützt wird, ihre legitime Zugehörigkeit zum Volk trotz ihrer Herkunft zu betonen. Rut ist kein Moabiter, sondern 48 49
Sohar Chadasch, Rut 5,142. Pritzker Volume XI, 88-89.
Rut in der Kabbala
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eine Moabiterin, weshalb sie sich dem Volk Gottes anschließen kann. Das Verbot gilt nur für Männer. Der Text des Sohar beginnt und endet in der Gegenwart. Er benützt den Namen Ruts und seine Buchstaben, die umgedreht Taube (Rut – tor) bedeuten, um sie mit dieser zu vergleichen, dem Tier, das für den Altar und damit die Gottesnähe geeignet ist. Mit der Frau des Machlon wird an ihre über seinen Tod hinausgehenden Handlungen für ihn erinnert. Auch ihre Mutterschaft spielt hier eine Rolle. Ihre Nachkommen dienen Gott, loben und preisen ihn. „Es gibt einige spezifisch-weibliche Bilder der Tora im Herzen der klassischen rabbinischen Literatur. Ich möchte hier drei der hervorstechenden Bilder erwähnen: Tochter Gottes, manchmal auch als Tochter des Königs erwähnt, Braut und Mutter.“50 Die drei Dimensionen, die Ruts Konversion legitimieren, sind jene drei Weisen, in denen Frauen in ihren Beziehungen zu Männern gesehen werden, Tochter, Frau, Mutter. Es ist kein Zufall, dass in der Kabbala auch die Tora selbst, wenn sie mit einer Frau verglichen wird, diese drei Elemente enthält. Sie ist Tochter (des Königs – Gott), Frau – von der die Schüler lernen – und Mutter, der sie ihre Loyalität und Zuwendung zeigen, eine Mutter, die das Volk Israel beschützt und dem dieses dient.
50
WOLFSON, Circle in the Square, 3.
Weibliche Protagonistinnen in der jüdischen Buchkunst des Mittelalters Katrin Kogman-Appel Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
1.
Einführung
Seit der Zeit, als sich die jüdische Kultur der bildenden Kunst gegenüber öffnete, sind verschiedene Formen zyklischer und programmatischer Verbildlichungen der biblischen Geschichte im Umlauf. Eingebettet in einen narrativen Rahmen erlauben uns die zyklischen Bearbeitungen der biblischen Geschichten die Art und Weise zu erforschen, in der sich die mittelalterliche jüdische Bildsprache mit den biblischen Protagonist_innen auseinandersetzt, gleichgültig welcher Gruppe diese auch angehören mögen. Bildzyklen können entweder die Auswahl des ausführenden künstlerischen Teams wiederspiegeln, das diese produziert, oder die des Auftraggebers, oder auch beider. Die Auswahl bestimmter Themen legt die speziellen Anliegen der Kundschaft offen, macht ihre Absichten deutlich und gibt Aufschluss darüber, wie der Inhalt von denjenigen rezipiert wurde, die diese Zyklen entworfen und in Auftrag gegeben haben. Auswahl ist somit gleichbedeutend mit Akzentuierung und stellt eine Art Anleitung für den Betrachter des Zyklus dar. Die bildhaft dargestellten Narrative in mittelalterlichen hebräischen Büchern sind hierbei keine Ausnahme. Der folgende Beitrag richtet seine Aufmerksamkeit auf zwei Frauen, Rebekka und Zippora, wobei keine der beiden ein besonders herausragendes Leben führte – zumindest für biblische Maßstäbe. Beide heirateten und zogen ihre Kinder groß und nahmen so im Laufe der biblischen Erzählgeschichte verschiedene Rollen ein. Sie traten auch mit Gott in Beziehung. Obwohl die Bibel lediglich ihre Geschichten erzählt, hat die rabbinische Exegese eine eigene Sichtweise entwickelt, die den eigentlichen Beitrag und den Status dieser Frauen größtenteils herunterspielt. Beispielsweise, während die Bibel davon erzählt, dass Rebekka zu Gott betet, um schwanger zu werden, ist dies nach rabbinischer Tradition nur mit Hilfe eines männlichen Vermittlers möglich. Ebenso, während die Bibel davon erzählt, dass Zippora ihren Sohn eigenhändig beschneidet, insistieren einige rabbinische Schulen, dass sie einen männlichen Akteur darum bat dieses Ritual zu vollziehen. Die Beispiele, die hier gebracht werden, sollen veranschaulichen, dass die mittelalterlichen bildlichen Darstellungen Rebekkas und Zipporas bisweilen das traditionell rabbinische
Biblische Frauen in der jüdischen Buchkunst
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Bild dieser Frauen konterkarierten und alternative Narrative schufen, was auf eine abweichende Rezeption biblischer Inhalte hinweist.1 Die Darstellungen tun dies auf zwei unterschiedliche Weisen: zwar geben sie beiden Frauen zentrale Rollen in der Heilsgeschichte und präsentieren sie als gender-relevante Vorbilder, die gleichzeitig für bestimmte religiöse Werte stehen, doch haben sich diese Werte im Laufe der Zeit und aufgrund wechselnder sozialer Rahmenbedingungen mitunter verändert.
2.
Zyklische Darstellungen in der mittelalterlichen jüdischen Buchkunst
Der folgende Abschnitt gibt zunächst einen Überblick über die anfänglichen Entwicklungen bildlicher Zyklen in der jüdischen Kunst und geht hierzu anschließend kurz auf die wichtigsten Diskussionen in der Wissenschaft ein. Die frühesten noch erhaltenen bildlichen Darstellungen biblischer Geschichten können auf das 3. Jh. u. Z. datiert werden und stammen aus Syrien. Mit der aufsehenerregenden Entdeckung der Synagoge von Dura Europos im Jahre 1932 wurde eine Vielzahl von narrativen Wandmalereinen freigelegt, die zwar keiner chronologischen Anordnung folgen, aber dennoch programmatisch angeordnet sind.2 Auch einige Bodenmosaike, die zwischen dem 4. und 6. Jh. u. Z. entstanden sind, weisen biblische Szenen auf; doch hiermit endet vorerst auch schon die Entwicklung der narrativen Kunst innerhalb des Judentums, die erst wieder rund um das Jahr 1230 neu zum Vorschein kommt. Viele Wissenschaftler_innen gehen davon aus, dass der Grund für diese Unterbrechung damit zu tun hat, dass die meisten Juden und Jüdinnen jener Zeit in einem kulturell 1
2
In einem kürzlich erschienen Artikel über biblische Vorbilder und jüdisches Alltagsleben von Elisheva BAUMGARTEN weist die Autorin auf die zentrale Bedeutung der biblischen Lehren unter mittelalterlichen nicht-wissenschaftlichen Gruppen hin und legt nahe, dass das Verständnis der Rezeption der Bibel und ihrer Interpretation viel über die Rolle biblischer Vorbilder im Leben mittelalterlicher Juden aussagen kann. Der Artikel heißt „‘Like Adam and Eve’: Biblical Models and Jewish Daily Life in Medieval Christian Europe“, Irish Theological Quarterly 83/1 (2018): 44–61. Für einen archäologischen Bericht dieser Ausgrabung, siehe Carl KRAELING, The Synagogue: The Excavations at Dura Europos. Final Report VIII, Part 1 (New Haven: Yale University Press, 1956); zu den wichtigsten Beiträgen, die die bildlichen Darstellungen im Detail kontextualisieren, zählen jene von Annabel J. WHARTON, „Good and Bad Images from the Synagogue of Dura Europos: Contexts, Subtexts, Intertexts“, Art History 17/1 (1994): 1–25; Jas ELSNER, „Cultural Resistance and the Visual Image: The Case of Dura Europos“, Classical Philology 96/3 (2001): 269–304; und Steven FINE, „Jewish Identity at the Limus – The Earliest Reception of the Dura Europos Synagogue Paintings“, in Cultural Identity in the Ancient Mediterranean (hg. v. Erich S. Gruen; Los Angeles: Getty Publications, 2011), 289–306.
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Katrin Kogman-Appel
islamisch geprägten Umfeld lebten und sich deshalb strickt an das Verbot bildlicher Darstellungen hielten.3 Allerdings habe ich bereits an anderer Stelle aufgezeigt, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass die damalige Vorliebe für figurative und abstrakte Kunst damit zusammenhängt, dass jüdische Kulturen stets bemüht waren den Geschmäckern und Gewohnheiten des unmittelbaren kulturellen Umfelds zu entsprechen bzw. versuchten sich den lokalen kulturellen Normen anzupassen. Daher erscheint es als durchaus nachvollziehbar, das Wiederaufkommen der figurativen Kunst als eine Reaktion auf die sich verändernde jüdische Wahrnehmung des Christentums zu verstehen.4 Ab dem 3. Jh. u. Z. wurde die jüdische Buchmalerei in ganz Europa immer populärer und entwickelte sich quasi simultan in den kulturellen Zentren von Iberien, Frankreich, dem Römischen Reich und Italien. Bibeln, Pessach-Haggadot, sowie andere religiöse Gebetsbücher weisen ab jener Zeit ein reich verziertes und vielfältiges ikonographisches Programm auf. Einige dieser Bücher, die bis heute überlebt haben, enthalten ausführlich illustrierte Zyklen, die die biblische Geschichte der Israeliten nacherzählen und eben diese Zyklen sind es, auf die in dem vorliegenden Aufsatz Bezug genommen wird. Besonderes Augenmerk verdienen zehn Manuskripte der Pessach-Haggada, die auf der Iberischen Halbinsel – v.a. in Katalonien – entstanden sind; unter diesen Werken befindet sich auch die sogenannte Sarajevo-Haggada (Aragon, ca. 1330), die im 19. Jh. als erstes derartiges Meisterwerk jüdischer Kunst ein breites wissenschaftliches Interesse auf sich zog.5 Die Haggada beinhaltet jenen Text – normalerweise in Buchform – der traditionellerweise während des Pessach-Mahls am ersten Feiertagabend verlesen wird. Jahrhundertelang war die Haggada Teil des allgemeinen Gebetsbuchs, doch zu einem noch nicht näher bestimmten Zeitpunkt im 13. Jh. wurde daraus ein eigenständiges kleines Büchlein. Dieses Format ließ jedoch ausreichend Platz für mehr oder weniger aufwendige künstlerische Bearbeitungen; v.a. bildliche Zyklen waren das Mittel der Wahl, um das Pessach-Ritual für die unterschiedlichen Leser_innen auszuschmücken, egal ob es sich dabei um ein gelehrtes oder eher einfaches Publikum handelte. Andere Beispiele, die hier diskutiert werden, sind die Goldene Haggada in London (ca. 1320);6 ein 3
4 5
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Unter den jüngeren Wissenschaftlern, die diese Ansicht vertreten, ist v.a. Shalom Sabar zu nennen, siehe Shalom SABAR, „‘The Right Path for an Artist’: The Approach of Leone da Modena to Visual Art“, Hebraica Hereditas. Studi in onore di Cesare Colafemmina (2005): 255–256. Katrin KOGMAN-APPEL, „Christianity, Idolatry, and the Question of Jewish Figural Painting in the Middle Ages“, Speculum 84 (2009): 73–107. Julius VON SCHLOSSER und David Heinrich MÜLLER, Die Haggadah von Sarajevo: Eine spanisch-jüdische Bilderhandschrift des Mittelalters (Wien: Hölder, 1898); Eugen WERBER, The Sarajevo Haggadah (Belgrad: Svjetlost, 1989). British Library, Additional Ms. 27210, http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx? ref=add_ms_27210_f001r (September 2019); auch als editiertes Faksimile herausgegeben von Bezalel NARKISS, The Golden Haggadah: A Fourteenth-Century Illuminated Hebrew Manuscript in the British Museum (London: Eugrammia Press,
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Manuskript das große Ähnlichkeit mit der Sarajevo-Haggada aufweist und ebenfalls in der British Library in London aufbewahrt wird („BL Or. 2884“, ca. 1325);7 die Rylands-Haggada in Manchester (ca. 1330–1340)8 und ein weiteres ähnliches Buch, das sich ebenfalls in London befindet („BL Or. 1404“, ca. 1330–1340).9 All diese Manuskripte stammen ursprünglich aus Katalonien. Im mittelalterlichen Aschkenas entwickelte sich innerhalb der jüdischen Buchkunst eine nicht minder reichhaltige Bildsprache, obgleich zyklische Darstellungen biblischer Erzählungen hier viel seltener vorkamen. Die Schocken-Bibel (ca. 1300) aus der Oberrheingegend ist am Beginn mit einer einzelnen, langen Tafel dekoriert, die das Wort bereschit – „am Anfang“ – beinhaltet (in Privatbesitz, im Jerusalemer Schocken Institute for Jewish Research, Ms. 14840). Diese Initialen sind von 46 Grisaille-Medaillons umgeben, die eine Vielzahl von narrativen Sequenzen zeigen, die vom Sündenfall bis zur Bileam-Perikope reichen.10 Zu guter Letzt wären noch zwei reichverzierte aschkenasische Pessach-Haggadot zu nennen, die allgemein als die Zweite Nürnberger-Haggada (in Privatbesitz) und die Jehuda-Haggada (im Israel Museum) bekannt sind. Aufgrund ihres ähnlichen Stils und der Technik, ist davon auszugehen, dass diese beiden Aggadot wahrscheinlich in den 1460er Jahren in Franken erzeugt wurden.11 In beiden sind Geschichten aus Genesis und Exodus gemeinsam mit einigen wenigen Szenen anderer biblischer Bücher abgebildet. Eine vergleichende Bilddeutung offenbart sogleich, dass die bildliche Kunst innerhalb des Judentums offenbar viele Gemeinsamkeiten mit der christlichen Sakralkunst aufweist. Studien zu den Auswirkungen der spätantiken rabbinischen Exegese auf die Bildsprache haben gezeigt, dass die Interpo-
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9 10 11
1970); Bezalel NARKISS, Aliza COHEN-MUSHLIN und Anat TCHERIKOVER, Hebrew Illuminated Manuscripts in the British Isles. Vol. 1: Spanish and Portuguese Manuscripts (Jerusalem: Israeli Academy of Sciences und Oxford: Oxford University Press, 1982), 58–67. Ms. Oriental 2884, http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=or_2884_fs001r (August 2017); NARKISS et al., British Isles, 67–78. Manchester, John Rylands University Library, Ms. heb. 6; für eine Faksimile-Edition, siehe Raphael LOEWE, The Rylands Haggadah (London: Thames und Hudson, 1988), sowie NARKISS et al., British Isles, 86–93. Ms. Oriental 1404, http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=or_1404_fs001r (15.8.2017); NARKISS et al., British Isles, 93–101. Eine qualitativ hochwertige Abbildung des beschriebenen Deckblatts ist in Bezalel NARKISS, Hebrew Illuminated Manuscripts (Jerusalem: Keter, 1969), Pl. 00, zu finden. London, im Privatbesitz von David Sofer, für eine detaillierte Beschreibung, sowie Scans früherer Fotografien, siehe http://cja.huji.ac.il/browser.php?mode=set&id=30 (September 2019); Jerusalem, Israel Museum, Ms. 180/50, für eine detaillierte Beschreibung, sowie Scans früherer Fotografien, siehe http://cja.huji.ac.il/browser.php?mode=set&id=11 (September 2019); Katrin KOGMAN-APPEL, Die Zweite Nürnberger und die Jehuda Haggada: Jüdische Künstler zwischen Tradition und Fortschritt (Frankfurt/Main et al.: Peter Lang, 1999).
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lation außerbiblischer narrativer Elemente aus der Kommentarliteratur den jüdischen Mäzenen und Künstlern half christliche Motive in eine Bildsprache zu übersetzen, die visuell eine spezifisch jüdische Ausdrucksweise wiedergab.12 Trotzdem war jeder bildliche Erzählzyklus, der zwischen dem 13. und dem 15. Jh. entstand, gleichgültig ob durch christliche oder jüdische Künstler und egal ob neu entworfen oder basierend auf früheren Motiven, im Grunde ein individueller Prozess, der Versuch die Heilige Schrift zu verbildlichen, der als solcher immer unter singulären Umständen ausgeführt wurde, wobei unterschiedliche Ziele verfolgt und unterschiedliche Lesekreise angesprochen werden sollten. In der kunsthistorischen Forschung wurden diese Zyklen in den vergangenen Jahren mit dem Ziel untersucht, sie innerhalb eines breiteren kunstgeschichtlichen Rahmens zu kontextualisieren. Dabei baute man vor allem auf Theorien, die größtenteils außerhalb der Kunstgeschichte entwickelt worden waren, wie beispielsweise die Erzählforschung, Rezeptionstheorie oder Mentalitätsgeschichte als eine Disziplin der Annales-Schule;13 all diese Theorien haben unser Verständnis der Funktionsweise von visueller Sprache in jüdischen Kulturen entscheidend verändert. Wiederum andere kontextualisierende Ansätze mündeten in dem Versuch Fragen hinsichtlich der Text-BildBeziehungen,14 der Rolle des Mäzenatentums und der Funktionalität zu lösen.15 Die Frage nach dem Verhältnis zwischen jüdischen und christlichen Zyklen, mit der sich vor allem die frühere Forschung in Bezug auf ikonographische Prototypen und Modellkopien beschäftigte, bot schließlich Raum für einen Diskurs über kulturelle Wechselspiele und Austausch,16 kulturellen Widerstand17 und polemische Bildsprache.18 Gendertheoretische Ansätze wurden bereits in einer Vielzahl von Projekten angewandt, die sich mit christlicher Sakralkunst im Mittelalters beschäftigen, was jedoch viel seltener in Bezug auf jüdische Kunstwerke geschah.19
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Dies konnte z.B. im Falle der Dura-Fresken festgestellt werden, u.a. von Eliezer L. SUKENIK, The Synagogue of Dura Europos and Its Wall Paintings (hebr.) (Jerusalem: Bialik Institute, 1947); für Beispiele aus der katalanischen Goldenen Haggada, siehe NARKISS, Golden Haggadah; für die Zweite Nürnberger- und die Jehuda-Haggada, siehe KOGMAN-APPEL, Zweite Nürnberger, Kapitel 3. Ein Beispiel hierfür ist Marc M. EPSTEIN, The Medieval Haggadah: Art, Narrative, and Religious Imagination (New Haven: Yale University Press, 2010). WHARTON, „Good and Bad Images“. Katrin KOGMAN-APPEL, Illuminated Haggadot from Medieval Spain: Biblical Imagery and the Passover Holiday (University Park: Pennsylvania State University Press, 2006). Ebd., Kapitel 2–4. ELSNER, „Cultural Resistance“. KOGMAN-APPEL, Haggadot, Kapitel 6; Julie A. HARRIS, „Polemical Images in the Golden Haggadah, BL, Add. MS 27210“, Medieval Encounters 8 (2002): 105–122. Für ein Beispiel hierfür siehe Julie A. HARRIS, „Love in the Land of Goshen: Haggadah, History, and the Making of British Library, MS Oriental 2737“, Gesta 52/2 (2013): 161–180.
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3.
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Die Visualisierung weiblicher Protagonistinnen: Zwei Fallbeispiele
Auf der Suche nach herausragenden weiblichen Protagonistinnen in Bildzyklen hebräischer Manuskripte ragen besonders zwei Figuren heraus: Rebekka und Zippora. Ich präsentiere die visuellen Darstellungen dieser beiden Frauen zunächst in Bezug auf die relevanten Erzählungen in der Bibel, sowie deren midraschische Ausführungen, wobei ich davon ausgehe, dass sie eine Parallelhandlung im Sinne einer Alternativerzählung darstellen. Die Abbildungen sind unter verschiedenen historischen Umständen und in unterschiedlichen jüdischen Gesellschaften mit diversen halakhischen Agenden entstanden. Daher werden die Beobachtungen bezüglich der angewandten visuellen Sprache zuerst vor dem Hintergrund eben dieser Umstände diskutiert; in weiterer Folge werden die Abbildungen anhand der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kontexualisiert, unter welchen sie produziert und benutzt wurden. In den Haggada-Zyklen erscheint Rebekka als die treibende Kraft hinter den Ereignissen, die dazu führen, dass nicht der erstgeborene Esau, sondern Jakob als Erbe Israels eingesetzt wird. In einigen Zyklen wird Rebekkas Rolle ab dem Zeitpunkt bildlich dargestellt, als sie bei Isaaks Zelt eintrifft. Die Sarajevo-Haggada gibt den frühesten Zyklus dieser Art wieder (Abb. 1). Isaak wird auf der linken Seite als ein junger Mann dargestellt, der hinausging „um sich [...] auf dem Feld zu beschäftigen“, wie eine benachbarte Bildunterschrift anhand eines Zitats aus dem Buch Genesis erklärt. Eliëser, Abrahams Haussklave, der ausgesandt wurde, um eine Frau für Isaak zu suchen, und Rebekka, die er aus Aram-Naharaim hergebracht hatte, nähern sich auf Kamelen.20 Was in der deutschen Version als „beschäftigen“ übersetzt wird, wird im hebräischen Original als ( לשוחeig. schreiten, (umher)wandern) widergegeben. Der Midrasch Genesis Rabba bezieht sich hier auf eine von Rabbi Eliezers hermeneutischen Regeln (Paronomasie), die auf der Herleitung der grammatikalischen Wurzel des Wortes basiert: „Isaak ging hinaus, um beim Anbruch des Abends auf dem Feld zu wandern ()לשוח: es gibt kein anderes Wandern ()שיחה, als das Gebet“, wobei er eine Verwandtschaft des Wortes לשוח mit dem Wort ( שיחהUnterhaltung, Gespräch) feststellt. Der biblische Vers wird also verstanden als „Isaak ging hinaus, um zu beten“.21 Diese Lesart 20
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Gen 24,63; Für den deutschen Text der Bibel wurde jeweils die Einheitsübersetzung (2016) herangezogen; für den englischen Text siehe The Jewish Bible: Tanakh – The Holy Scriptures. The New JPS Translation According to the Traditional Hebrew Text (Philadelphia und Jerusalem: The Jewish Publication Society, 1985). Genesis Rabba, Chaye Sara, 60,15–16 zu Gen 24,61–63, in Yehuda THEODOR und Hanoch ALBECK, Midrash Bereshit Rabba: Critical Edition with Notes and Commentary (Jerusalem: Wahrmann, 1965); für eine englische Übersetzung, siehe Jacob NEUSNER, Genesis Rabbah: The Judaic Commentary of the Book of Genesis: A New American Translation (Atlanta: Scholars Press, 1985).
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verändert auch die Bedeutung des ersten Zusammentreffens des Paares: Isaak wandert nicht einfach nur auf dem Feld umher, sondern was Rebekka dort erblickt, ist ein frommer Mann, der sich gerade dem Gebet hingibt, was einen bestimmten Aspekt dieser Geschichte aufzeigt, nämlich dass sie sich als würdig erweisen muss, um diesem frommen Mann zur Frau gegeben zu werden. Die Zweite Nürnberger- und die Jehuda-Haggada betonen genau diesen Aspekt der Geschichte. Wie es für diese zwei Manuskripte üblich ist, finden wir eine marginale Beschreibung an den oberen und unteren Rändern (Abb. 2). Am Ende der Seite ist zu sehen, wie sich Rebekka und Eliëser näherkommen; Isaak wiederum erscheint kopfüber im oberen rechten Rand, als ob er aus dem Himmel fallen würde. Eine beigefügte Bildunterschrift in Reimform lautet wie folgt: „Isaak kehrt aus dem Garten zurück, den Gott zu unserem Schutz hatte anlegen lassen“.22 Rebekka trifft also nicht auf irgendeinen frommen Mann, sondern auf einen, der zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung aus dem Paradies zurückkehrt. Midraschische Auslegungen der biblischen Geschichte von der Opferung Isaaks in Genesis 22 fügen dem Szenario weitere wichtige Details hinzu: tatsächlich verletzt Abraham Isaak, sodass dieser stirbt und ins Paradies hinauffährt und erst wieder zum Leben erweckt und auf die Erde zurückgeschickt wird, als Eliëser in Begleitung von Rebekka eintrifft. Die Vorstellung, dass Abraham Isaaks Kehle tatsächlich anrührte und Isaaks Seele diesen daraufhin eine Zeit lang verließ, scheint in den spätantiken und frühmittelalterlichen Midraschim auf und wird als Erklärung dafür angeführt, dass Isaak von der Zeit seiner Opferung am Berg Morija bis zur Ankunft Rebekkas in Genesis keine Erwähnung findet.23 Später verfasste Midraschim machen noch deutlicher, dass Isaak bei seiner Opferung verletzt wurde.24 Die spätmittelalterliche
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Für eine englische Übersetzung dieser Bildunterschrift, siehe Index of Jewish Art, http://web.nli.org.il/sites/NLI/Hebrew/digitallibrary/moreshet_bareshet/nuremberghagada/Documents/SecondNurmbergHaggadah.pdf (September 2019). Siehe beispielsweise Pirqe deRabbi Eli’ezer 31; für eine englische Übersetzung, siehe Gerald FRIEDLANDER, Pirkê de Rabbi Eliezer (London: Kegan Paul, Trench, Trubner und New York: Bloch Publishing Company, 1916). Eine deutsche Übersetzung des Midrasch bietet Dagmar BÖRNER-KLEIN, Pirke de-Rabbi Elieser. Nach der Edition Venedig 1544 unter Berücksichtigung der Edition Warschau 1852 (Studia Judaica 26; Berlin: de Gruyter, 2004). Siehe z.B. Yalqut Shim’oni (hg. v. Dov Heiman et al.; Jerusalem: Kook Institute, 1973), Vol. 1, Par. 101; für Beispiele aus der midraschischen Tradition, siehe Lukas KUNDERT, Die Opferung/Bindung Isaaks. 2 Bde. (WMANT 78-79; NeukirchenVluyn: Neukirchener Verlag 1998); Shalom SPIEGEL, „Aggadot on the Binding of Isaac: A Piyyut about the Slaughter of Isaac and His Resurrection by R. Ephraim of Bonn“ (hebr.), in Alexander Marx Jubilee Volume on the Occasion of His Seventieth Birthday (New York: The Jewish Theological Seminary of America, 1950), 484–491. Für Visualisierungen der Bindung Isaaks im mittelalterlichen Aschkenas, die in ihrem kulturellen und religiösen Umfeld, insbesonders in Bezug auf das Martyrium, kontextualisiert wurden, siehe Shalom SABAR, „‘The Fathers Slaughter their Sons’:
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Leserschaft der Jehuda-Haggada verstand diese Geschichte nicht nur als einen Hinweis auf Isaaks Rechtschaffenheit, sondern sie nahm dabei auch Rebekkas Standpunkt ein, die Zeugin seiner Rückkehr wurde, und sich somit als würdige Braut des Mannes erwies, der dazu bereit gewesen war sein Leben als Märtyrer für die Liebe zu Gott zu opfern. Die Zyklen in iberischen Aggadot nehmen bis zum Zeitpunkt der Geburt des Zwillingspaares Jakob und Esau keinen Bezug auf diese biblische Erzählung; dahingegen folgen in den fränkischen Aggadot auf Rebekkas erste Begegnung mit ihrem zukünftigen Ehemann sogleich Darstellungen, die ihre Rolle als gewissenhafte und umsichtige Hausfrau hervorheben. Nach ihrem ersten Zusammentreffen wird das Paar einander von Eliëser vorgestellt und anschließend von Abraham vermählt.25 Die Szene spielt sich vor einem großen Zelt ab, das einen Großteil der äußeren Ränder der Buchseite ziert. Über und unter dem Zelt gehen zwei Bildunterschriften näher auf Rebekkas Rolle ein: „Eliëser brachte Rebekka zu dem Zelt, und Isaak wurde von ihr getröstet wegen [des Todes] seiner Mutter. Als Sara starb, hörten drei Dinge auf [zu existieren], und als Rebekka ankam, erschienen diese wieder; eine Wolke machte sich über dem Zelt breit und der Teig war gesegnet und die Kerze brannte von einem bis zum nächsten Schabbatabend.“ Das Motiv, das Isaak nach dem Tod seiner Mutter Trost in der Frömmigkeit seiner Frau findet, stammt aus Genesis Rabba.26 Als die Verbindung zwischen den beiden schon eine Zeit lang kinderlos bleibt, betet Isaak zu Gott „für seine Frau [לנכח אשתו, wörtl. ‚in Anwesenheit seiner Frau‘], denn sie war kinderlos geblieben“.27 Es ist nicht ganz klar, wie „in Anwesenheit seiner“ bzw. „für seine Frau“ in diesem Kontext zu verstehen ist: Betete Isaak gemeinsam mit seiner Frau? Im Namen seiner Frau? Das Bild zeigt sowohl Isaak als auch Rebekka in tiefem Gebet, während die Bildunterschrift darauf hinweist, dass Gott nicht ihres, jedoch sein Gebet erhörte (Abb. 3.). Nach rabbinischer Tradition geht man davon aus, dass nicht vollkommen klar war, wer der beiden unfruchtbar gewesen war, doch ist man sich darüber einig, dass es Isaaks und nicht Rebekkas Gebet war, das von Gott erhört wurde.28
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Depictions of the Binding of Isaac in the Art of Medieval Ashkenaz“, Images 3 (2009): 9–28. Zweite Nürnberger Haggada, Fol. 32r; Jehuda-Haggada, Fol. 31r. Genesis Rabba 60,16. Die Anspielung auf den Teig und die Schabbatkerzen beruht auf dem gemeinsamen Motiv, nämlich den Geboten des Teigs, der rituellen Reinigung und des Kerzenlichts am Schabbatabend ()מצות חנ״ה, den drei Hauptaufgaben der Frau. Die abgebildeten Wunder unterstreichen somit Rebekkas Rolle als fromme Frau eines Märtyrers. Gen 25,21. Midrasch Aggada zu Gen 25,21, in Midrasch Aggada (hg. v. Solomon BUBER, Wien: n.p., 1894).
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Als sie endlich mit den beiden Jungen schwanger ist, die in ihrem Leib miteinander streiten, sucht Rebekka Rat beim Herrn ob ihrer Schmerzen.29 Die Abbildungen in der Zweiten Nürnberger- und der Jehuda-Haggada beziehen sich abermals auf den Midrasch, laut dem sie in der rabbinischen Schule Sems um Rat fragt, schlicht aus dem Grund, da Gott niemals direkt mit Frauen spricht. Dort erfährt sie von den zwei Nationen, die in ihrem Schoß miteinander ringen (Abb. 3).30 Die Geburt der Zwillinge wird sowohl in der SarajevoHaggada, als auch in den beiden aschkenasischen Zyklen abgebildet, doch nur in beiden letzteren ist es Rebekka selbst, die ihren Söhnen Unterricht erteilt – ebenso ein midraschisches Motiv (Abb. 4). Die Geschichte über die Unterweisung der Zwillinge ist ebenfalls ein wichtiger Teil des rabbinischen Handlungsschemas, da an dieser Stelle die unterschiedlichen Charaktereigenschaften der beiden Brüder hervorgehoben werden, auf der einen Seite Jakobs Gelehrsamkeit und auf der anderen Esaus Grobheit. In der Bibel steht geschrieben: „Die Knaben wuchsen heran. Esau wurde ein Mann, der sich auf die Jagd verstand, ein Mann des freien Feldes. Jakob war ein Mann ohne Fehl und blieb bei den Zelten“.31 Unzählige Midraschim kommentieren diesen Vers und legen ihn dahingehend aus, dass Jakobs milde Art mit seinem Lerneifer zu tun hat. Nach rabbinischer Tradition wird gelehrt, dass sich bereits im Leib ihrer Mutter Jakob den Studierhäusern und Esau den Orten der Götzenverehrung zuwandten.32 Später wurden beide Jungen unterrichtet, doch nach dreizehn Jahren des Lernens war es allein Jakob, der zum Studium in den Studierhäusern verblieb, während sich Esau endgültig dem Götzendienst zuwandte.33 In keiner der midraschischen Quellen wird Rebekka erwähnt. Trotzdem ist sie es, die die Jungen in den aschkenasischen Haggada-Zyklen zur Schule bringt. Diese Art der Bildsprache bearbeitet das biblische Narrativ also nicht nur mit Hilfe des Midrasch, sondern geht sogar noch über die rabbinische Darstellung Rebekkas hinaus, indem sie sie zu einer zentralen Akteurin der Geschichte macht. Der Höhepunkt dieser Bildserie ist die Darstellung der Segnung Jakobs durch Isaak als seinen Erstgeborenen, die nicht nur in den besonders ausführlichen Zyklen enthalten ist, sondern auch in der Goldenen Haggada (Abb. 5), sowie in BL Or. 2884.34 Der biblischen Geschichte zufolge unterhält sich Isaak, der inzwischen alt und blind geworden, mit Esau, dem Erstgeborenen. Er schickt ihn aus, um Wildbret zu jagen, es nach Hause zu bringen und ein Mahl zuzubereiten, um schließlich seines Vaters Segen zu empfangen. Rebekka, die diese Unterhaltung belauscht hat, rät Jakob ein Tier aus der Herde 29 30 31 32 33 34
Gen 25,22. Genesis Rabba 63,6. Gen 25,27. bMegilla 17a; für eine englische Ausgabe des babylonischen Talmuds, siehe The Babylonian Talmud (hg. v. Isidore Epstein, London: Soncino Press, 1984). Genesis Rabba 63,10. BL Or. 2884, Fol. 4v.
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zu schlachten und ein Mahl zuzubereiten, um anschließend verkleidet als Esau zu seinem Vater zu gehen und an seines Bruders Stelle den Segen zu erhalten. Rebekka ist auch diejenige, die ein Stück Kitzfell vorbereitet und es an Jakobs Arm befestigt, um ihn so haarig wie seinen Bruder erscheinen zu lassen. Dennoch wird Rebekka mit keinem Wort erwähnt, als Jakob zu seinem Vater geht.35 Auch wenn sie in dieser Szene im biblischen Text keine Erwähnung findet, erscheint Rebekka in allen bildlichen Darstellungen der Segnung, als ob damit betont werden sollte, dass sie die eigentlich treibende Kraft hinter Jakobs Aktion war. Die Darstellung in der Sarajavo-Haggada fügt der symbolischen Bildsprache noch ein weiteres wesentliches Detail hinzu (Abb. 6). Während die Goldene Haggada Rebekka im Innern des Zimmers zeigt, in dem auch die Segnung stattfindet, wird sie in der Sarajevo-Haggada in einigem Abstand in einem separaten Wohntrakt abgebildet, das Gewand Esaus haltend, das Jakob schließlich tragen wird – ein Detail, das in keiner anderen Darstellung zu finden ist. In diesen Abbildungen wird ihre Figur der Szene hinzugefügt, um somit ihre Rolle in der Geschichte hervorzuheben, also auch anzuerkennen, dass es eigentlich ihr Verdienst war, das Jakob zum Stammvater der Völker machte. Dieser letzte Punkt wird besonders in der Sarajevo-Haggada betont. Das Gewand, das Rebekka in ihren Händen hält, wird auch im biblischen Text erwähnt (Gen 27,15): „Dann holte Rebekka die kostbaren Gewänder ihres älteren Sohnes Esau, die bei ihr im Haus waren, und zog sie ihrem jüngeren Sohn Jakob an“. Doch dies allein erklärt noch nicht die prominente Stellung des Gewands, dessen Darstellung die linke Seite der Tafel einnimmt. Ein Midrasch geht näher auf das Gewand ein, das ursprünglich in Nimrods Besitz gewesen sein soll, aber von Esau erworben wurde. Der Midrasch versucht auch zu erklären, warum es in Rebekkas Wohnung aufbewahrt wurde, was durch die architektonische Struktur hinter ihr angedeutet wird. Dieser Kommentar ist in einer spätantiken Quelle enthalten und wird in der mittelalterlichen Sammlung Yalkut Shim’oni zitiert.36 Die Bildgeschichte unterscheidet sich nicht nur geringfügig von der eigentlichen biblischen Erzählung, sondern richtet ihren Fokus besonders auf einzelne Aspekte. Die Bibel unterstreicht die familiären Verbindungen zwischen Abraham und Laban und Abrahams Bemühungen eine nicht-kanaanäische Frau für seinen Sohn zu finden. Zum Zeitpunkt ihrer Schwangerschaft wird Rebekka zu einer zentralen Protagonistin, nicht zuletzt da sie von den zwei Völkern in ihrem Leib erfährt, wobei „der ältere dem jüngeren dienen muss“.37 Als sie die Unterhaltung von Isaak und Esau über die Segnung des Erstgeborenen belauscht, erinnert sie sich daran, was Gott ihr damals sagte; 35 36 37
Gen 27,1–29. Yalqut Shim’oni, Nr. 115; KOGMAN-APPEL, Haggadot, 162. Gen 25,23.
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sie greift also ein und sorgt dafür, dass ihr jüngerer Sohn den Segen erhält. Die Verleihung von Isaaks Segen stellt mit Sicherheit den entscheidendsten Wendepunkt dieser Geschichte dar. Während Rebekka in der biblischen Erzählung immer gemeinsam mit männlichen Protagonisten in Erscheinung tritt, wobei auf letztere mit Sicherheit der Hauptteil der Handlung entfällt, umreißen die visuellen Darstellungen ihre Rolle wesentlich genauer. Gerade ihre Ehrenhaftigkeit wird in all den Zyklen hervorgehoben. In letzteren wird sie sogar Zeugin von Isaaks wundersamer Auferweckung. Sie ist fromm, genauso wie ihre verstorbene Schwiegermutter, und die erste, welche die unterschiedlichen Persönlichkeiten ihrer Söhne wahrnimmt. In der rabbinischen Tradition werden Jakob und Esau zu Schlüsselfiguren im Diskurs über die Kluft zwischen Juden und Christen;38 ihre unterschiedlichen Charakterzüge, die später ihre Persönlichkeiten ausmachen, treten bereits im Leib ihrer Mutter zu Tage. Die Milde des einen und die Grobheit des anderen werden als Unterschiede zwischen Juden und Christen begriffen. Indem Rebekka eine komplette Bildserie gewidmet wird, in der ihr die auseinanderstrebenden Charaktereigenschaften ihrer Söhne bewusstwerden, wird ihre Rolle in den Mittelpunkt gestellt. Nicht nur wird gezeigt, wie die beiden Jungen unterschiedlichen Beschäftigungen nachgehen (wie z.B. in der Sarajevo-Haggada), sondern auch Rebekkas Rolle als Mutter, die sich mit der Situation abfindet und in Folge damit arrangiert. Zweifelsohne unterstreicht das Bild, das die beiden Jungen auf deren Weg zur Schule abgeben, diese Botschaft zusätzlich. Rebekka ist diejenige, die sich um die Erziehung der Jungen kümmert, weshalb sie auch in der Lage war zu erkennen, wer der beiden sich als würdig erweisen sollte von Gott auserwählt zu werden. Der Midrasch macht deutlich, dass Esau es trotz seiner jüdischen Erziehung vorzog sich dem Götzendienst hinzugeben. Obwohl nicht vollkommen klar ist, wen die Verfasser des Midrasch eigentlich als Götzendiener betrachteten, besteht wohl kein Zweifel daran, dass es sich für die Betrachter der aschkenasischen Aggadot dabei nur um Christen handeln konnte. Rebekka wird dabei als wesentliche Akteurin dargestellt, die dafür Sorge trägt, dass Gottes Versprechen in Erfüllung geht. Christliche Exegeten machten sich hingegen die Rolle Jakobs als ‚verus Israel‘ zu eigen und schrieben gleichzeitig die Rolle Esaus den Juden zu. Rebekkas Taten in den jüdischen Bildzyklen geben also eine klare Antwort auf die christlichen Ansprüche, wer denn das wahre Israel sei. Sie wurde so zum visuellen Medium der jüdischen Apologeten gegenüber ihren christlichen
38
Jerusalemer Talmud Ta‘anit 4,8,68d; für eine englische Übersetzung des Jerusalemer Talmud siehe Jacob NEUSNER, The Talmud of the Land of Israel 18: Besah and Taanit (Chicago: University of Chicago Press, 1987); zu Esau vgl. auch die Debatte in Israel J. YUVAL, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007), Kapitel 1.
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Kollegen und deren Anschuldigungen. Dies trifft sowohl auf die iberischen, also auch auf die aschkenasischen Darstellungen zu. Diese unterscheiden sich zwar, aber beide heben Rebekkas Rolle hervor und zeigen sie wiederholt in Szenen, die so nicht in der Bibel zu finden sind. Sowohl in der Sarajevo-Haggada, als auch in den aschkenasischen Zyklen, wird ihre Rolle durch kontrastierende Darstellungen von Esau noch weiter hervorgehoben, die ihn bei der Jagd zeigen; seine Rolle als Jäger wiederum unterstreicht seine Verbindung zum Christentum. Tatsächlich wurden Jagdszenen in hebräischen Manuskripten häufig als Allegorien für die Verfolgungen von Juden durch christliche Machthaber verstanden.39 Diese Darstellung Esaus ist nicht einfach nur als eine Verbildlichung des Verses „Esau wurde ein Mann, der sich auf die Jagd verstand“ zu verstehen, sondern als ein Versuch ihn zum stellvertretenden Repräsentanten für die christliche Feindseligkeit gegenüber Israel und die Verfolgung der Juden zu stilisieren. Eine weitere Frau, die die Geschichte Israels in ihre eigene Hand nimmt, ist Moses Frau Zippora. Die detailgetreusten Darstellungen finden wir einmal mehr in den beiden aschkenasischen Manuskripten der Zweiten Nürnbergerund der Jehuda-Haggada. Mose, der seiner Verfolgung in Ägypten nach der Erschlagung eines ägyptischen Sklavenaufsehers entkam, zieht nach Midian. An einem Brunnen in der Wüste trifft er auf die sieben Töchter des midianitischen Priesters Reguël (Jitro), als sie gerade von aufdringlichen Hirten belästigt werden. Mose erhebt sich gegen die Hirten, verjagt sie und hilft den jungen Frauen Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen.40 Die Darstellungen zeigen Mose als einen Reisenden auf seinem Weg, die Begegnung am Brunnen, sowie Jitro als er den Schilderungen lauscht.41 Die bildliche Darstellung der letzten dieser Szenen im oberen linken Eck der Seite weicht vom biblischen Text ab; anstatt alle Töchter zu zeigen wird nur eine herausgegriffen und dargestellt, allen Anschein nach Zippora, die spätere Frau Mose. Die Bildunterschrift belegt, dass sie ihren Retter als „Helden, tapfer, schön, und liebenswürdig“ lobpreist. Jitro gibt Mose Zippora zur Frau.42 Doch in der Abbildung verläuft die Vermählung nicht so reibungslos wie im biblischen Text. Das erste Bild auf der nächsten Seite zeigt Mose als Gefangenen Jitros, der zuvor als Berater des Pharaos tätig war und in diesem das Hebräerkind erkennt, vor dem der König damals gewarnt worden war. Moses wird gefangen in einem Turm gezeigt; es sieht so aus als würde er verhungern, doch wird er heimlich von einem tapferen 39
40 41 42
Marc M. EPSTEIN, Dreams of Subversion in Medieval Jewish Art and Literature (University Park: Pennsylvania State University Press, 1997), 16–38; Sara OFFENBERG, Expressions of Meeting the Challenges of the Christian Milieu in Medieval Jewish Art and Literature (hebr.) (Beer Sheva: The Ben-Gurion University of the Negev, 2008), 97–143. Ex 2,15–20. Zweite Nürnberger-Haggada, Fol. 12r–12v; Jehuda-Haggada, Fol. 11r–11v. Ex 2,21.
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Mädchen – Zippora – mit Essen versorgt. Ihr Vater ist überzeugt, dass es sich bei Moses Überleben nur um ein Wunder handeln kann und lässt diesen frei; Jitro arrangiert die Hochzeit von Mose und seiner Tochter, die am Ende der Seite abgebildet wird. Diese Darstellungen gehen auf ein midraschisches Motiv zurück, das sich besonders in der spätmittelalterlichen biblischen Erzählkunst einer großen Beliebtheit erfreute.43 Schließlich heiratet das Paar, dem auch zwei Söhne geboren werden. Nachdem sich Gott Mose im brennenden Dornbusch offenbart und ihm befohlen hatte nach Ägypten zurückzukehren, um seine israelischen Landsleute aus der Knechtschaft zu führen, „holte Mose seine Frau und seine Söhne, setzte sie auf einen Esel und trat den Rückweg nach Ägypten an“.44 Einige Verse später jedoch beabsichtigt Gott Mose oder seinen jüngeren Sohn zu töten (der Text ist diesbezüglich nicht eindeutig), während die Familie an einem Lagerplatz in der Wüste rastet. Ein Grund dafür wird nicht angegeben. Schließlich ist es Zippora, die erkennt, dass Mose das heilige Gebot seinen Sohn zu beschneiden missachtet hat: „Zippora ergriff einen Feuerstein und schnitt ihrem Sohn die Vorhaut ab. Damit berührte sie seine Füße und sagte: Ein Blutbräutigam bist du mir“.45 Weder ist klar, wessen Füße Zippora berührte, noch wen sie mit „Blutbräutigam“ anspricht. Eine kastilische Haggada aus dem späten 13. Jh., die sich heute in London befindet, zeigt ein Bild des Paares auf seiner Reise: Zippora und die Jungen reiten auf einem Esel, begleitet von Mose, der hinter ihnen marschiert.46 In anderen Zyklen werden die beiden Szenen nebeneinander dargestellt, wie beispielsweise in den katalanischen Manuskripten Or. 1404 in der British Library (Abb. 7) und der Rylands-Haggada in Manchester (Abb. 8). In der Zweiten Nürnberger- und der Jehuda-Haggada erscheint beiden Szenen jeweils am Rande einer Seite, eine über der anderen. In beiden Werken fehlt Mose in der Reiseszene; stattdessen erscheint er im rechten oberen Eck der Seite, wo er von einem Monster verschlungen wird (Gottes Versuch ihn zu töten), und ein weiteres Mal auf der linken Seite, wo er Aaron begegnet (Abb. 10). In all diesen Darstellungen des reisenden Paares, aber v.a. in jenen aus Iberien, stellt die verwendete Bildsprache eine unweigerliche Verbindung zu den christlichen Darstellungen der Heiligen Familie bei ihrer Flucht aus Ägypten her. Dies wurde bereits vor einigen Jahren von Marc Epstein hervorgehoben und näher erörtert, und zwar in Bezug auf die Abbildung des Paares in der Goldenen Haggada. Diese Abbildung, so Epstein, stellt nicht bloß eine Kopie einer christlichen Vorlage dar; vielmehr ist sie als eine bildliche Polemik zu 43 44 45 46
Für weitere Details hierzu (inkl. Darstellungen und Quellentexte), siehe KOGMANAPPEL, Zweite Nürnberger, 42–44. Ex 4,20. Ex 4,25. London, British Library, Ms. Oriental 2737, Fol. 67v, http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=or_2737_fs001r (November 2017); NARKISS et al., British Isles, 45–51.
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verstehen, welche die alte, unfruchtbare Gestalt des christlichen Josef dem jugendlichen Abbild des jüdischen Mose gegenüberstellt, der sich mit zwei Kindern auf die Reise macht. Der Baum hinter Mose sollte deshalb auch als ein Symbol für Zipporas Fruchtbarkeit verstanden werden und der Esel als ein Symbol für die göttliche Erlösung.47 Die Geschichte einer Frau, die ihren eigenen Sohn beschneidet, wirft selbstverständlich Fragen von halakhischer Relevanz auf. Die rabbinischen Meinungen, ob Frauen überhaupt Beschneidungen durchführen dürfen, gehen zum Teil weit auseinander. Einige Rabbinen vertreten die Ansicht, dass es Frauen erlaubt sein sollte das Ritual durchzuführen und dass gerade die Geschichte Zipporas diese Ansicht stützt. Wiederum andere, insbesondere iberische Rabbinen, vertreten die Meinung, dass Frauen nur dann beschneiden dürfen, wenn kein Mann zur Verfügung steht, um dieses Gebot zu erfüllen.48 Laut einer weiteren Ansicht, die v.a. im spätmittelalterlichen Aschkenas vertreten wurde, ist es Frauen unter allen Umständen verboten Beschneidungen durchzuführen. Diejenigen, die diese Meinung vertraten, behaupteten Zippora hätte jemanden dazu gebracht ihren Sohn zu beschneiden.49 Dieses Lösungskonzept finden wir beispielsweise in Moses von Coucys Sefer Mitzwot Gadol (SeMaG), das im 13. Jh. in Frankreich verfasst wurde. Doch, wie Yaakov Spiegel feststellt, wird nicht im gesamten SeMaG-Manuskript auf diese Weise argumentiert. Er listet mehrere Beispiele auf, die offenkundig die frühere Behauptung vertreten, Zippora hätte die Beschneidung selbst durchgeführt, und suggeriert damit, dass spätere Abschreiber gewisse Formulierungen womöglich auf Basis von Glossen abgeändert haben, die sie in ihren Vorlagen vorfanden.50 Jedenfalls setzte sich in der frühen Neuzeit schlussendlich die Ansicht durch, dass Zippora die Beschneidung nicht selbst durchgeführt hätte.51 47
48
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50 51
Marc M. EPSTEIN, „Another Flight into Egypt: Confluence, Coincidence, the CrossCultural Dialectics of Messianism and Iconographic Appropriation in Medieval Jewish and Christian Culture“, in Imagining the Self, Imagining the Other: Visual Representation and Jewish-Christian Dynamics in the Middle Ages and Early Modern Period (hg. v. Eva Frojmovic; Leiden et al.: Brill, 2002), 33–52. Dies wurde im Detail u.a. von Yaakov S. Spiegel erörtert, der auch eine Vielzahl von Quellen anführt. Siehe Yaakov S. SPIEGEL, „Woman as Ritual Circumciser: The Halakhah and Its Development“, Sidra 5 (1989): 149–157 (hebr.). MOSES VON COUCY, „Sefer mitzvot gadol: Positive Precepts 28“, in Bar-Ilan Responsa Project (Ramat Gan: Bar-Ilan University); Eva FROJMOVIC, „Reframing Gender in Medieval Jewish Images of Circumcision“, in Framing the Family: Narrative and Representation in the Medieval and Early Modern Periods (hg. v. Rosalynn Voaden und Diane Wolfthal; Tempe: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies, 2005), 221–243; 238; Frojmovic missinterpretiert eine Passage aus dem babylonischen Talmud (‘Avoda Zara 27a) dahingehend, dass sie den Ursprung dieser Ansicht in der frühen talmudischen Periode verortet. SPIEGEL, „Women“, 155–157. Avraham GROSSMAN, Pious and Rebellious: Jewish Women in Medieval Europe (Waltham, MA: Brandeis University Press, 2004), 190; siehe auch die Abhandlung von Meir ben Baruch von Rothenburg (MaHaRaM, gest. 1293), der nicht einmal
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Mittelalterliche Exegeten, wie beispielsweise Raschi (gest. 1105) oder Bachja ben Ascher (geb. ca. 1300), beschreiben Mose entweder als zu krank, um die Beschneidung selbst vorzunehmen, oder als gerade im Zeltlager abwesend; aus diesem Grund musste Zippora einspringen, angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Versuch Mose (oder Eliëser52) zu töten um einen Notfall handelte.53 Nachmanides (Moses ben Nachman, Ramban, gest. 1270) wiederum erwähnt diese Szene so gut wie nie in seinen Werken und konzentriert sich stattdessen ganz auf die Rolle von Mose.54 Die Bildsprache, die in der Abbildung der Beschneidung von Zipporas Sohn durch seine Mutter in Or. 1404 und der Rylands-Haggada zur Anwendung kommt, will offenbar noch einen ganz anderen Aspekt hervorheben. Beide Manuskripte entstanden in einem iberischen Umfeld, wo Rabbinen der Ansicht waren, dass es Frauen in Notfällen erlaubt sein sollte Beschneidungen durchzuführen. Zippora wird gezeigt, wie sie den Säugling in ihrem Schoße hält, was, wie Eva Frojmovic festgestellt hat,55 stark an die Madonnenbildnisse mit Jesuskind erinnert. Bereits vor einigen Jahren bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Abbildungen in Or. 1404 und der Rylands-Haggada anhand christlicher Vorlagen aus Italien entstanden sein könnten. Besonders die Art und Weise, wie Zippora mit einem Kind vor und einem Kind hinter ihr auf dem Esel abgebildet wurde, weist große Ähnlichkeit mit den Darstellungen aus einer illustrierten christlichen Bibel aus Padua auf (Abb. 9).56 Damals wollte ich besonders auf die kulturellen Wechselwirkungen zwischen christlichen und jüdischen Werkstätten und Künstlern aufmerksam machen, die sich nachweislich einer gemeinsamen Bildsprache bedienten. Ebenso habe ich aufgezeigt, dass sich jüdische Mäzene und Künstler kritisch mit ihren Vorlagen auseinandersetzten und diese in eine Ausdrucksweise übersetzten, die sich primär an ein jüdisches Zielpublikum
52
53 54
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Frauen in der Rolle von Patinnen erlaubt, BEN TSADOQ, Simon, Sefer Ha-Tashbetz (Warschau: Levin-Epstein, 1901), Nr. 397; für eine Erörterung darüber, siehe Elisheva BAUMGARTEN, Mothers and Children: Jewish Family Life in Medieval Europe (Princeton: Princeton University Press, 2004), 77–78. Dass es sich bei dem Sohn von Mose und Zippora um Eliëser handelt, ist die vorherrschende Meinung, allerdings gibt es auch Quellen (z.B. die Mekhilta), die den beschnittenen Sohn mit Gerschom identifizieren. Vgl. Raschi zu Ex 4,24; Bachja ben Ascher zu Ex 4,24, in Bahye BEN ASHER, Rabenu Bahye: Bi’ur al hatorah (hg. v. Haim D. Chavel; Jerusalem: Rav Kook Institute, 1966). FROJMOVIC, „Reframing“, 238–242, basierend auf Haim D. CHAVEL, Perushe hatorah lerabbenu Moshe ben Nahman (Ramban) (Jerusalem: Rav Kook Institute, 1972) zu Ex 4; für eine Version in englischer Sprache, siehe RAMBAN (Nachmanides), Commentary on the Torah (übersetzt v. Rabbi Charles B. Chavel; New York: Shilo Publishing, 1971). FROJMOVIC, „Reframing“, 240. KOGMAN-APPEL, Haggadot, 92–93; die Padua-Bibel ist nicht so alt wie die erwähnten Aggadot, sodass keine direkte Verbindung zwischen ihnen bestanden haben kann. Allerdings könnten sowohl die Bibel also auch die Aggadot auf dieselben Vorlagen zurückgehen.
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richtete. Interessanterweise trifft die große Ähnlichkeit zwischen christlichen und jüdischen Abbildungen allein auf die Darstellung der reisenden Familie zu. Was die Beschneidungsszene betrifft, zeigt die Padua-Bibel lediglich wie sich Zippora über ihren Sohn beugt, der auf dem Boden liegt (Abb. 9). Es scheint also so, als hätte der katalanische Buchmaler die Komposition absichtlich adaptiert, als wollte er Parallelen zu den Madonnen-Abbildungen ziehen, auch wenn ein gegenteiliger Prozess vielleicht naheliegender gewesen wäre: eine große Ähnlichkeit mit dem Madonnenbildnis in der christlichen Abbildung und eine abgeänderte Form in der jüdischen Version. Diese Beobachtungen bekräftigen die These, dass Zippora zu einer jüdischen Antwort auf Maria stilisiert wurde. Während Maria die Mutter des Messias ist, ist Zippora die Gemahlin des Erlösers Israel. Sie trägt Moses Kinder auf einem Esel und entspricht in ihrer Funktion jener Mariens auf der Flucht aus Ägypten. Sie nimmt die Beschneidung vor, während sie den Säugling in ihren Armen hält, genauso wie Maria Jesus hält. Ihre Erkenntnis, dass Mose kurz davorsteht getötet zu werden, als Strafe, da er das Gebot der Beschneidung missachtet hat, und seine anschließende Rettung vor dem Tod, macht Zippora zu einer Akteurin, die die Befreiung Israels aus Ägypten zuwege bringt. Laut Frojmovic unterstreicht die Art und Weise, wie Zippora dargestellt wird, ihre Rolle als Mediatorin hin zu Erlösung, ähnlich wie die Rolle Marias in der christlichen Kultur.57 Es erfordert hier einen speziellen Blick auf die aschkenasischen Gegenstücke, um eine weitere Bedeutungsebene dieser Szene erschließen zu können. Die Darstellung von Eliësers Beschneidung in zwei aschkenasischen Aggadot unterscheidet sich nämlich von jenen ihrer katalanischen Pendants. Anders als in einem iberischen Umfeld, in dem Frauen zugestanden wurde Beschneidungen in Notfällen durchzuführen, war es Frauen im kulturellen Umfeld, in dem die Abbildungen der Zweiten Nürnberger- und der Jehuda-Haggada entstanden waren, also aschkenasischen Gemeinschaften in der zweiten Hälfte 57
FROJMOVIC, „Reframing“, 238–242. Einige Wissenschaftler_innen haben festgestellt, dass der rabbinische Blick auf weibliche Figuren ein sehr dynamischer war; während des 12. und 13. Jh. wurde dieser teilweise vom Blick christlicher Gelehrter auf Maria beeinflusst, gerade als sich zu jener Zeit ein ausgeprägter Marienkult zu entwickeln begann; siehe hierzu GROSSMAN, Pious and Rebellious, 175–177; Peter SCHÄFER, Mirror of His Beauty: Feminine Images of God from the Bible to the Early Kabbalah (Princeton: Princeton University Press, 2002); Arthur GREEN, „Shekhinah, the Virgin Mary, and the Song of Songs: Reflections on a Kabbalistic Symbol in Its Historical Context“, Association of Jewish Studies Reviews 26/1 (2002): 1–52; die letzten beiden Publikationen beschäftigen sich v.a. mit der weiblichen Schekhina; eine weitere jüngere Auseinandersetzung mit dem Thema legt Ephraim Shoham-Steiner vor, der aufzeigt, dass Mirjam in den jüdischen Texten „mit Vollmacht versehen“ wurde, um dem christlichen Marienkult etwas entgegensetzen zu können; siehe hierzu Ephraim SHOHAM-STEINER, „The Virgin Mary, Miriam, and Jewish Reactions to Marian Devotion in the High Middle Ages“, Association of Jewish Studies Review 37 (2013): 75–91.
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des 15. Jh., mit größter Wahrscheinlichkeit verboten selbst Beschneidungen vorzunehmen. Darüber hinaus sind bei den aschkenasischen Abbildungen Zipporas keine Anlehnungen an Mariendarstellungen feststellbar. Vielmehr wird Zippora kniend am Boden mit einem riesigen Feuerstein in ihrer rechten Hand dargestellt, während sie mit ihrer linken Hand nach dem Glied ihres Sohnes greift. Eliëser wird nackt58 auf einem großen Kissen vor seiner Mutter abgebildet (Abb. 10). In katalanischen Abbildungen wurde diese intime Szene, die zeigt, wie eine Mutter ihr Kind hält, durch Darstellungen von Zippora ersetzt, die sie in einer Pose zeigen, die jener einer Priesters gleicht, der sich gerade über ein Opfertier beugt, um es zu schlachten. Zippora wird also als visuelle Vorläuferin des jüdischen Priestertums dargestellt. Wie Lawrence Hoffman erörtert, fand erst nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und der Beendigung des Opferkults eine Ritualisierung der Beschneidung statt. Etwa zur selben Zeit wurde diese auch mit einer dazugehörigen Liturgie versehen.59 Im Zeitraum danach, laut Shaye Cohen jedoch nicht vor dem 9. Jh., begannen Rabbinen sich bei der Beschneidung auf Blut zu konzentrieren, das sie im Allgemeinen in Verbindung mit Opferblut und im Speziellen mit jenem des Pessach-Lamms brachten, welche alle, in Hoffmans Worten, „als Vehikel zum Heil vorgesehen sind“.60 Das bringt uns auch zurück zu Zippora, die im biblischen Text von einem „Blutbräutigam“ spricht, und es ist im Übrigen genau jener Vers, der in der Bildunterschrift unter den Abbildungen der Zweiten Nürnberger- und der Jehuda-Haggada zitiert wird. Einer der Texte, der von Hoffman angeführt wird – ein Abschnitt aus der frühmittelalterlichen midraschischen Sammlung Pirqe deRabbi Eli‘ezer – macht die offensichtliche Verbindung zwischen Beschneidung und Opferung noch deutlicher. Der Text handelt von der Beschneidung Isaaks und erklärt diesbezüglich: „Rabbi Jischmael sagte, dass Abraham vor nichts zurück schrak, was Gott ihm befahl, als Isaak also acht Tage alt war, beeilte er sich ihn zu beschneiden, so steht es geschrieben ‚Als sein Sohn Isaak acht Tage alt war, beschnitt ihn Abraham, wie Gott ihm geboten hatte‘. Und er brachte ihn als Opfer auf dem Altar dar.“61 58
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FROJMOVIC, „Reframing“, 229, merkt an, dass – in Bezug auf Isaak – die Nacktheit des Säuglings auf seine Bereitschaft beschnitten zu werden hinweist; wenn die Nacktheit hier, wenn überhaupt, auf ein Martyrium hinweist, ist die Bereitschaft zur Hingabe sicherlich ein zentrales Motiv. Vgl. in diesem Zusammenhang die Zweite NürnbergerHaggada, Fol. 13v, wo Isaak als ‚Fatschenkind‘ abgebildet wird. Lawrence HOFFMAN, Covenant of Blood: Circumcision and Gender in Rabbinic Judaism (Chicago: University of Chicago Press, 1996), Kapitel 3 und 102 (in Bezug auf das Zitat). HOFFMAN, Covenant, Kapitel 6, bes. 102; Shaye J. D. COHEN, „A Brief History of Jewish Circumcision Blood“, in Covenant of Circumcision: New Perspectives on an Ancient Jewish Rite (hg. v. Elizabeth Wyner Mark; Lebanon, NH: University Press of New England und Brandeis University Press, 2003), 30–42; 33–34. Pirqe deRabbi Eli‘ezer 29; für weitere Informationen zu Beschneidung und Opfer siehe auch Bona Devorah HABERMAN, „Foreskin Sacrifice: Zipporah’s Ritual and the
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Wie eng die Beschneidung mit der Opferung in Verbindung stand, wird anhand eines frühen Bildes des Regensburger Pentateuchs (ca. 1300; Abb. 11) noch augenscheinlicher. In diesem werden zwei Schlüsselszenen aus der Patriarchengeschichte abgebildet, zum einen die Beschneidung Isaaks und zum anderen seine Opferung auf dem Berg Morija. Frojmovic weist darauf hin, dass diese beiden Szenen nicht einfach nur als Abfolge biblischer Ereignisse gelesen werden sollten, sondern als eine Gegenüberstellung mit einer tieferen Bedeutung. Die Abbildung zeigt den Patenonkel, wie er auf einem Schemel sitzt und dabei den Säugling in seinem Schoß hält; das Kind gleicht hier einem Opfertier auf einem Altar, was einmal mehr eine Verbindung zwischen der Beschneidung und der Opferung Isaaks herstellt und folglich den Zusammenhang zwischen Beschneidung und Schlachtopfer bekräftigt.62 Bislang haben wir uns in dieser Abhandlung v.a. auf bildliche Darstellungen und ihren Bezug auf die biblische Geschichte und ihre midraschischen Ausarbeitungen konzentriert. In den hier beschriebenen visuellen Darstellungen übernehmen sowohl Rebekka als auch Zippora bestimmte Rollen und agieren so als Vorbilder für biblische topoi wie Auserwähltheit und Opferung. Während Rebekka als treibende Kraft hinter Jakobs Entwicklung vom Stellvertreter der Juden zum ‚verus Israel‘ dargestellt wird, übernimmt die iberische Zippora, in bildlicher Anlehnung an Maria, eine herausragende Rolle als weibliche Protagonistin in der Heilsgeschichte Israels. Die sichtbare Resonanz von Zippora mit Maria kommt in aschkenasischen Quellen so zwar nicht vor, allerdings kommt Zippora hier eine zentrale Rolle beim Aufzeigen der Verbindung zwischen Bescheidung und Opfer zu. In den beschriebenen mittelalterlichen Darstellungen entpuppen sich Rebekka und Zippora als biblische Protagonistinnen, die das Schicksal Israels in ihre eigenen Hände nehmen. Auch wenn schriftliche rabbinische Quellen dazu tendieren die Rollen dieser Frauen herunterzuspielen, sind es, im Gegensatz dazu, gerade die bildlichen Darstellungen, die die besondere Stellung der beiden bekräftigten. Während die Abbildungen Rebekkas in der Zweiten Nürnberger- und der Jehuda-Haggada im Grunde ihre Rolle im Midrasch widerspiegeln (Abb. 2–4), weisen ihr gerade die Darstellungen in diesen Zyklen jene prominente Rolle zu, die ihr seitens der Rabbinen verwehrt wird. Im Midrasch stehen Jakob und Esau im Zentrum der Handlung, aber in den bildlichen Darstellungen erfährt auch Rebekka größere Aufmerksamkeit. Ihre prominente bildliche Darstellung steht Isaaks väterlicher Nebenrolle bei der Segnung Jakobs gegenüber, was Rebekkas entscheidende Rolle beim Aufstieg Jakobs zum Stammvater Israels betont. Die bildlichen Darstellungen bekräftigen ihre Vermittlerrolle in besonders eindrucksvoller Art und Weise. Dasselbe gilt auch für Zippora (Abb. 7, 8 und 10). In den katalanischen
62
Bloody Bridegroom“, in Covenant of Circumcision (hg. v. Elizabeth Wyner Mark; Lebanon, NH: University Press of New England und Brandeis University Press), 18– 29. FROJMOVIC, „Reframing“, 229–233.
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Darstellungen aus dem 14. Jh. entwickelt sich Zippora zu einer zentralen jüdischen Mittler- bzw. Heilsfigur. Ihre Rolle als Beschneiderin in einem dringlichen Notfall entspricht der geläufigen iberischen Auslegung der Halakha. In den aschkenasischen Darstellungen des 15. Jh. führt sie dieses Ritual in direkter Anlehnung an den Opferritus aus. Genau zu jener Zeit begann sich auch die Ansicht durchzusetzen, dass Frauen keine Beschneidungen durchführen dürfen und deshalb ein Mann an Zipporas Stelle dieses Ritual verrichtet haben musste. Unter diesem Gesichtspunkt stellen die bildlichen Darstellungen folglich ein alternatives Narrativ zur biblischen Geschichte und ihrer rabbinischen Interpretation dar. Ohne Zweifel verfälschte die gewählte Bildsprache die rabbinische Auslegung der biblischen Geschichten; dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die Darstellungen tatsächlich zum Zweck der Anfechtung rabbinischer Ansichten konzipiert worden waren. Im Folgenden vertrete ich die Ansicht, dass unsere bildhaft dargestellten Protagonistinnen vielmehr Vorbildcharakter hatten und Werte propagieren sollten, die im völligen Einklang mit der Gesinnung der mittelalterlichen Rabbinen standen.
4.
Rollenmodelle (rabbinischer) Werte
Mittelalterliche biblische Darstellungen bergen nur ein geringes Potential die sozialen Realitäten jener Zeit detailgetreu abzubilden.63 Tatsächlich sind Darstellungen biblischer Geschichten, die es vermögen jüdisches Leben alltagsgetreu wiederzugeben, äußerst rar und die betreffenden Darstellungen haben als Projektionsflächen für alltägliche Sitten und Bräuche nur sehr wenig zu bieten. Eine Ausnahme ist mit Sicherheit die Darstellung von Moses und Zipporas Hochzeit, die – wie ich bereits an anderer Stelle gezeigt habe – die jüdische Lebenswelt im Franken des 15. Jh. sehr detailgetreu wiedergibt.64 Ebenso stellt die berühmte und oben erwähnte Abbildung von Isaaks Beschneidung im Regensburger Pentateuch (ca. 1300) eine Ausnahme dar; sie unterscheidet sich von anderen biblischen Darstellungen, was bereits von Elisheva Baumgarten hervorgehoben wurde, die diese Abbildung vor dem Hintergrund mit63
64
Bereits in den 1980er Jahren unternehmen Mendel und Thérèse Metzger den Versuch mittelalterliche jüdische Kunst als Richtwert heranzuziehen, um „jüdisches Leben im Mittelalter“ zu rekonstruieren, siehe Mendel und Thérèse METZGER, Jewish Life in the Middle Ages: Illuminated Hebrew Manuscripts of the Thirteenth to the Sixteenth Century (New York: Alpine Fine Arts Collection, 1982); das Buch wurde auf Grund seiner Methodologie von mehreren Wissenschaftler_innen kritisiert, vgl. u.a. Elliott E. HOROWITZ, „The Way We Were: Jewish Life in the Middle Ages“, Jewish History 1 (1986): 75–90; KOGMAN-APPEL, Zweite Nürnberger und Jehuda Haggada, 91–95; FROJMOVIC, „Reframing“, 221. KOGMAN-APPEL, Die Zweite Nürnberger und die Jehuda Haggada, 91–95.
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telalterlicher Ritualpraxis und sich verändernden halakhischen Vorschriften analysierte. Die Beschneidung findet hier an einem öffentlichen Ort statt, einer Synagoge, während es im Frühmittelalter eher üblich war Beschneidungen im privaten Umfeld des familiären Haushaltes durchzuführen, wo Frauen seit dem 13. Jh. ein abgesonderter Bereich zugeteilt wurde (Abb. 11).65 In Gegensatz dazu werden die Abbildungen des eben beschnittenen Eliësers dem eigentlichen Beschneidungsritual, so wie es im Mittelalter vollzogen wurde, mit Sicherheit nicht gerecht. Wie wir bereits gesehen haben, geben die Darstellungen keinerlei Hinweis darauf, dass Frauen Beschneidungen tatsächlich durchführten. Während Frojmovic die Ansicht vertritt, dass Zipporas Darstellung als Beschneiderin als eine Infragestellung rabbinischer Standpunkte zu verstehen ist und somit einen Brauch wiederspiegelt, der die rabbinische Norm verletzt,66 trete ich hingegen für eine alternative Lesart ein. Eine der multi-kulturellen Funktionen von mittelalterlichen Bildzyklen war es offenbar biblische Figuren zu Idealtypen religiöser Werte und zu Rollenbildern für moralisches Verhalten zu stilisieren. Unter diesem Gesichtspunkt behandeln die Bilder, die hier bislang diskutiert wurden, drei Themenbereiche, wobei die weiblichen Protagonistinnen eine zentrale Rolle bei der Propagierung dieser Themen einnehmen: Israel als erwählte Nation; Frömmigkeit; und der Opfertod. Ich habe bereits Rebekkas und Zipporas zentrale Rollen herausgestrichen, die die Auserwähltheit Israels betonten, doch werde ich nun einen weiteren Blick auf diese Bilder werfen, um herauszufinden, wie die Bildsprache hier genau in Bezug auf Frömmigkeit und Opfertod und ihren Stellenwert in der mittelalterlichen jüdischen Gesellschaft, zu verstehen ist. Während die iberischen Darstellungen Rebekkas allein auf ihre Rolle innerhalb der Geschichte von Israels Auserwähltheit abzielen, geben die aschkenasischen Zyklen sie auch als ein Idealbild weiblicher Frömmigkeit wieder. Wie Avraham Grossman und Elisheva Baumgarten gezeigt haben, kann man sich weiblicher Frömmigkeit auf unterschiedliche Art und Weise nähern. Laut 65
66
BAUMGARTEN, Mothers and Children, 70–76; Eva Frojmovic setze sich mit der Abbildung v.a. von einer Gender-Perspektive ausgehend auseinander, wobei sie ihren Fokus auf Sara richtete, die von Satan getäuscht wird, in dem er ihr weismacht, dass ihr Sohn Isaak getötet geworden wäre; Sara wird so zum archetypischen Prototyp der klagenden Mutter stilisiert, siehe FROJMOVIC, „Reframing“, 223–238; Deborah Elhadad-Aroshas weist darauf hin, dass Frauen in der Darstellung einer Beschneidung in der Rothschild Miscellanea, die in den 1470ern für einen aschkenasischen Mäzen angefertigt wurde, vollkommen fehlen, siehe Deborah ELHADAD-AROSHAS, „Gazing through the Window: Depictions of Women in the Rothschild Miscellany manuscript“ (hebr.) (Beer Sheva: Ben-Gurion University of the Negev, 2014), 38–39; dies steht im starken Widerspruch zu einem jiddischen Minhagim-Buch aus dem 16. Jh., das die wichtige Rolle von Frauen v.a. vor und nach dem Beschneidungsritual hervorhebt; das Minhagim-Buch richtete sich v.a. an eine weibliche Leserschaft. Für nähere Informationen hierzu siehe Diane WOLFTHAL, Picturing Yiddish: Gender, Identity, and Memory in the Illustrated Yiddish Books of Renaissance Italy (Leiden: Brill, 2004), 72. FROJMOVIC, „Reframing“, 238–242.
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der rabbinischen Halakha sind Frauen nicht dazu verpflichtet rund um die Uhr zeitlich festgelegten Vorschriften zu folgen, doch spätestens seit dem Hochmittelalter, einer Zeit allgemeiner religiöser Erneuerung in Europa, bestanden viele jüdische Frauen dennoch darauf diese einzuhalten. Aschkenasische Rabbinen kamen diesem Wunsch nach, weshalb Frauen ab dieser Zeit auch als rituelle Schächterinnen und, wie bereits erwähnt, als Beschneiderinnen tätig sein durften. Dennoch wurde gegen Ende des Spätmittelalters rabbinische Kritik an diesen Normen laut.67 Somit stellt sich die Frage, ob die Art der Frömmigkeit, wie sie in den Darstellungen Rebekkas propagiert wird, eher ihre Rolle als weibliche Pietätsaktivistin bekräftigt oder aber nahelegt, dass eine Frau, die mit religiösen Pflichten betraut wurde, sich allein auf ihren Haushalt beschränken sollte.68 Rebekka, die fromm genug war, um die Gemahlin eines Märtyrers zu werden, wird außerdem als eine Frau dargestellt, die den ehrwürdigen Platz ihrer Schwiegermutter einnehmen darf und deren Anwesenheit im Zeltlager dafür sorgte, dass „eine Wolke sich über dem Zelt breit [machte] und der Teig gesegnet [war] und die Kerze von einem bis zum nächsten Schabbatabend [brannte].“ Zwei dieser Phänomene beziehen sich auf traditionelle Vorschriften für Frauen und ihren unmittelbaren Geltungsbereich; Rebekka wird also nicht nur als starke Frau beschrieben, die darauf besteht Pflichten zu erfüllen, die eigentlich Männern vorbehalten waren, sondern auch als jemand, der seine Grenzen kennt und konsequent einhält, genauso wie es von den Rabbinen des 15. Jh. gefordert wurde. Trotzdem scheinen zwei Aspekte der Rebekka-Darstellungen die rabbinischen Standpunkte jener Zeit herauszufordern. Ähnlich wie in biblischen Geschichten waren Themen wie Unfruchtbarkeit auch in mittelalterlichen jüdischen Gesellschaften Angelegenheiten von größerer Bedeutung. Während beide, sowohl die rabbinischen Kommentatoren als auch die Abbildungen in den beiden aschkenasischen Aggadot, andeuten, dass Rebekka wohl nicht diejenige war, die primär für das Ausbleiben von Nachwuchs verantwortlich gemacht werden kann (Abb. 3), war es im realen Leben meinst nur die Frau, die im Falle von Unfruchtbarkeit auf abnormale körperliche Leiden hin untersucht wurde. Fruchtbarkeitsprobleme, Komplikationen bei der Schwangerschaft und Schwierigkeiten bei der Geburt wurden normalerweise damit in Verbindung gebracht, dass Frauen mindestens eines der drei speziell ihnen auferlegten Gebote vernachlässigten: das Beiseitelegen einer kleinen Menge Teig bevor Brot gebacken wird; das Anzünden der Kerzen ab Schabbateingang; und das rituelle Bad während der Menstruation.69 In aschkenasischen Abbildungen und den dazugehörigen Bildunterschriften wird Rebekka ausdrücklich als so got67 68 69
GROSSMAN, Pious and Rebellious, Kapitel 8; Elisheva BAUMGARTEN, Practicing Piety in Medieval Ashkenaz (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2014). Damit stelle ich auch das Phänomen von weiblicher Frömmigkeit in Frage, denn ich gehe davon aus, dass die Darstellungen diese Frömmigkeit auf die Probe stellen. BAUMGARTEN, Mothers and Children, 30–32, 41; BAUMGARTEN, „Biblical Models“, 51–52.
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tesfürchtig beschrieben, dass ihre Anwesenheit sogar die Wunder, die nach Saras Tod verschwunden waren, zurückbrachte. Der gesegnete Brotteig und die Kerzen, die auf wundersame Weise von einem bis zum nächsten Schabbat leuchteten, können direkt mit diesen Geboten in Verbindung gebracht werden. Die Darstellungen und die Bildunterschriften deuten an, dass Rebekka besonders strikt bei der Einhaltung dieser Gebote gewesen sein muss. Dennoch war es ihr nicht möglich gleich nach ihrer Hochzeit ein Kind zu empfangen, und als sie schlussendlich doch schwanger wurde, klagte sie während ihrer Schwangerschaft über exzessive Schmerzen. Darüber hinaus suchte Rebekka auf Grund ihrer Schmerzen Rat bei alten weisen Männern, was auch impliziert, dass sie alleine das Haus verließ, und das obwohl schwangere Frauen, die in der Regel von Hebammen betreut wurden, für gewöhnlich nie alleine ihr Haus verließen.70 Ebenso ungewöhnlich ist, obwohl dies weder in der biblischen Geschichte noch laut rabbinischer Lesart impliziert wird, dass Rebekka pro-aktiv die Erziehung ihrer beiden Söhne in die Hand nimmt (Abb. 4). Auch diese Praxis widerspricht mittelalterlichen Sozialnormen. Die Rollen, die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder einnehmen sollten, waren damals klar verteilt. Frauen waren für die Erziehung ihrer Töchter vom Kleinkindalter bis in die Pubertät zuständig, sowie für das körperliche Wohlergehen ihrer Söhne während der frühesten Kindheitstage.71 Die spätere Schulbildung lag hingegen in der Verantwortung ihrer Väter und, wenn die Zeit gekommen war, wurden die Knaben von ihnen in die Welt der Männer eingeführt, d.h. in die Synagoge mitgenommen oder in die Obhut eines Lehrers übergeben.72 Schließlich wurde auch der Opfertod, als ultimativer Ausdruck von Frömmigkeit, in den bislang diskutierten Bildern thematisiert. Besonders in der aschkenasischen Kultur hatte der Opfer- bzw. Märtyrertod spätestens seit den Rheinlandmassakern im Vorfeld des Ersten Kreuzzuges im Jahre 1096 große Wichtigkeit erlangt.73 Drei hebräische Chroniken beschreiben diese Ereignisse, die sich in den frühen Sommertagen jenes Jahres in den blühenden jüdischen Gemeinden von Speyer, Worms und Mainz, aber auch andernorts zutru-
70 71
72
73
Für eine detaillierte Diskussion über die Fürsorge von schwangeren Frauen, siehe BAUMGARTEN, Mothers and Children, 48–49. Elisheva BAUMGARTEN, „Religious Education of Children in Medieval Jewish Society“, in Essays on Medieval Childhood. Responses to Recent Debates (hg. v. Joel T. Rosenthal; Donington: Shaun Tyas, 2007), 54–72. In den Gemeinden des mittelalterlichen Rheinlandes fand für junge Knaben, die während des Wochenfests eingeschult wurden, ein Initiationsritual statt, siehe Ivan MARCUS, Rituals of Childhood: Jewish Acculturation in Medieval Europe (New Haven, CT: Yale University Press, 1996). Für eine detaillierte Darstellung dieser Ereignisse und ihrer historischen Bedeutun, siehe Robert CHAZAN, European Jewry and the First Crusade (Berkeley: University of California Press, 1987).
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gen, sehr ausführlich.74 Der aktive Märtyrertod taucht hier mehrmals als zentrales Motiv auf. Wissenschaftler sind sich heute uneins, ob diese Quellen als wirklichkeitsgetreue und sachlich-historische Berichte aufgefasst werden dürfen, oder vielmehr als literarische Ausführungen, die erst einige Jahrzehnte danach entstanden sind, jedoch auf die allgemeine Gefühlslage bezogen, diese Ereignisse wiedergeben, die zweifelsohne eine ganze Reihe von emotionalen Reaktionen hervorgerufen haben müssen.75 Angesichts von Zwangstaufen spielten diese Texte während der folgenden 400 Jahre eine entscheidende Rolle dabei, den aktiven Märtyrertod – wobei sowohl das Töten naher Angehöriger, als auch der Freitod gemeint sind – zu einem religiösen, ideologischen und erzieherischen Ideal zu stilisieren.76 Innerhalb des Judentums hatte sich bereits in der Spätantike eine Tradition des Märtyrer- und Opfertodes herausgebildet – auch bekannt als „Heiligung des Namen Gottes“ (Qiddusch ha-schem) – doch bis ins Jahr 1096 wurde darunter üblicherweise nur das passive Märtyrertum verstanden, womit die Bereitschaft gemeint ist, auf Grund seines jüdischen Glaubens ermordet zu werden. Abgesehen von ein paar bemerkenswerten Ausnahmen, war der aktive Opfertod, wie er 1096 in den Rheinlandgemeinden praktiziert wurde, bis dato ein nahezu unbekanntes Phänomen. Das Ideal des aktiven Märtyrertodes 74
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76
Für eine aktuelle kritische Edition, inkl. deutscher Übersetzung und Diskussion, siehe Eva HAVERKAMP, Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs (Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 2005). Für eine englische Übersetzung siehe Shlomo EIDELBERG, The Jews and the Crusaders: The Hebrew Chronicles of the First and Second Crusades (Madison: University of Wisconsin Press, 1977). Siehe außerdem CHAZAN, European Jewry, Anhang. Shlomo EIDELBERG, „The Solomon bar Simson Chronicle as a Source of the History of the First Crusade“, Jewish Quarterly Review 49 (1959): 282–287, bzw. in Medieval Ashkenazic History: Studies in German Jewry in the Middle Ages (hg. v. Shlomo Eidelberg; New York: Sepher-Hermon Press, 1999), 21–27; Ivan G. MARCUS, „From Politics to Martyrdom: Shifting Paradigms in the Hebrew Narratives of the 1096 Crusade Riots“, Prooftexts 2 (1982): 42–43; CHAZAN, European Jewry; siehe auch MARCUS‘ kritische Rezension in Speculum 64 (1989): 685–688; Jeremy COHEN, „The Persecutions of 1096 – from Martyrdom to Martyrology: The Sociocultural Context of the Hebrew Crusade Chronicles“, Zion 59 (1994): 169–208 (hebr.); DERS., Sanctifying the Name of God: Jewish Martyrs and Jewish Memories of the First Crusade (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2004); Robert CHAZAN, God, Humanity, and History: The Hebrew First Crusade Narratives (Berkeley et al.: University of California Press, 2000). Für eine Analyse dieser Chroniken und ihren Bezug zu einander, siehe Anna SAPIR ABULAFIA, „The Interrelationship between the Hebrew Chronicles of the First Crusade“, Journal of Semitic Studies 27 (1982): 221– 239, sowie in Hebräische Berichte über die Judenverfolgung während der Kreuzzüge (hg. v. A. Neubauer und M. Stern; Berlin, 1892), Einleitung. COHEN, Sanctifying, 55–60; Avraham GROSSMAN, „The Roots of Qiddush Hashem in Early Ashkenaz“ (hebr.), in The Sanctity of Life and Martyrdom: Collection of Studies in the Memory of Amir Yekutiel (hg. v. Yeshayahu Gafni und Aviezer Ravitzky; Jerusalem: Zalman Shazar Institute, 1993), 121–127; Simha GOLDIN, The Ways of Jewish Martyrdom (Turnhout: Brepols, 2008).
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wurde mit zwei paradigmatischen Motiven aus der Bibel verknüpft: zum einen die Opferung Isaaks;77 und zum anderen mit dem Opferkult im Jerusalemer Tempel. Wie Ivan Marcus aufgezeigt hat, können beide Opferungen metaphorisch als ritualisierte Handlungen interpretiert werden, die den aktiven Märtyrertod bereits andeuten.78 Alle drei hebräischen Chroniken beschreiben derartige Fälle des aktiven Märtyrertods als „Bindung“ (aqeda); immer wieder greifen die Chronisten diesen Terminus in Bezug auf Selbsttötungen auf, wobei sie diese explizit mit der „Bindung Isaaks durch Abraham“ am „Berg Morija“ vergleichen.79 Die Vorstellung, dass Isaak während seiner Opferung tatsächlich Leid zugefügt wurde, er vorrübergehend verstarb und aus dem Paradies zurückkehrte, war zentral für den Gedanken, dass ein Märtyrertod letztendlich in Erlösung mündet, was uns auch zurück zur ersten Begegnung zwischen Rebekka und Isaak bringt, just nachdem letzterer von seinem Tod erlöst wurde. Vor diesem Hintergrund ist auch die Szene in der Zweiten Nürnberger- und der Jehuda-Haggada zu sehen, welche diese Geschichte in ein größeres Narrativ einbettet, das vor allem in der aschkenasischen Kultur sehr bedeutsam war. Auf der iberischen Halbinsel, wo das Märtyrertum nie einen so großen Stellenwert hatte wie in Aschkenas, wurde Rebekka für würdig erachtet, die Frau eines gottesfürchtigen Mannes zu werden, während sie in Aschkenas die ehrenwerte Frau eines (erlösten) Märtyrers wurde. Diese Beobachtung bezüglich Rebekka erfordert eine kurze Abhandlung über das Frauenbild im aschkenasischen Umgang mit dem Märtyrertod, wie sie zum Bespiel Avraham Grossman, Susan Einbinder und Elisheva Baumgar77
78
79
Die wurde zuallererst bei SPIEGEL, „Binding of Isaac“, diskutiert; siehe auch Yitzhak BAER, „The 1096 Persecution“ (hebr.), in Sefer Assaf: Collection of Studies for the Celebration of Prof. Simha Assaf’s 60th Birthday (hg. v. Umberto Cassuto; Jerusalem: Rav Kook Institute, 1953), 126–140; Shalom SPIEGEL, The Last Trial: On the Legends and Lore of the Command to Abraham to Offer Isaac as a Sacrifice – The Akedah (Philadelphia: The Jewish Publication Society, 1967); GROSSMAN, „Roots“, 115; Elisabeth HOLLENDER und Ulrich BERZBACH, „Einige Anmerkungen zu biblischer Sprache und Motiven in Piyyutim aus der Kreuzzugszeit“, Frankfurter Judaistische Beiträge 25 (1998): 67–68; Friedrich LOTTER, „‘Tod oder Taufe’: Das Problem der Zwangstaufen während der Ersten Kreuzzugs“, in Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge (hg. v. Alfred Haverkamp; Sigmaringen: Thorbecke, 1999), 134–143; GOLDIN, Martyrdom, Kapitel 13; Shulamit ELIZUR, „The Binding of Isaac: In Mourning or in Joy? The Influence of the Crusades on the Biblical Story and Related Piyyutim“, Et Hada’at 1 (1997): 15–36 (hebr.); Shmuel SHEPKARU, Jewish Martyrs in the Pagan and the Christian Worlds (New York: Cambridge University Press, 2005), 174–177. MARCUS, „Politics“, 43 und 43 n. 9, mit Bezug auf Alan MINTZ, Hurban: Responses to Catastrophe in Hebrew Literature (New York: Columbia University Press, 1984), 96; siehe auch Robert CHAZAN, „The Early Development of Hasidut Ashkenaz“, Jewish Quarterly Review 75/3 (1985): 199–211; 205; MARCUS, Rituals, 7; SHEPKARU, Martyrs, 173–174; GROSSMAN, „Roots“, 111, berichtet außerdem von einem Märtyrer aus Otranto im 10. Jh., dessen Tod mit dem Tempelopfer verglichen wurde. Für eine zusammengefasste Gegenüberstellung siehe Hebräische Berichte, 335, 337.
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ten vorgelegt haben. Frauen spielen in den oben erwähnten Chroniken über die Kreuzfahrerattacken eine herausragende Rolle; trotzdem kann die historische Zuverlässigkeit dieser Berichte, was andere Blickpunkte betrifft, durchaus in Zweifel gezogen werden.80 Frauen werden in diesen Quellen zu führenden Vorbildern für heldenhaftes Verhalten stilisiert. Im Zuge einer sorgfältigen Analyse dieser Erzählungen und mehrerer liturgischer Gedichte aus dem 12. und 13. Jh. stellte Einbinder fest, dass sich das Bild weiblicher Märtyrerinnen im Laufe der Zeit verändert hatte. Während Quellen aus dem 12. Jh. Frauen als Protagonistinnen beschreiben, die aktiv in der Öffentlichkeit agierten, bereit waren zu sterben, aber auch dazu bereit waren ihre eigenen Kinder zu töten, scheinen Quellen aus dem späten 12. und dem 13. Jh. diese Taten eher herunterzuspielen; stattdessen wird ihre Rolle als eher passiv, jedenfalls nicht als pro-aktiv beschrieben. Die Taten der Frauen in den früheren Quellen werden mit Opferhandlungen gleichgesetzt, jedoch „verschwindet die kultische Gleichheit der weiblichen Märtyrerin [in den späteren Quellen], zugunsten von Attributen, die sie als passiv und anfällig für Schändung darstellen.“81 Die Abbildungen aus dem 15. Jh., die Rebekka als eine passive Beobachterin von Isaaks dramatischer Rückkehr aus dem Paradies darstellen, entsprechen in gewisser Weise den Schlussfolgerungen Einbinders über die sich verändernde Rolle der Frauen bezüglich des Märtyrertods. Die Frage des Martyriums und welche Rolle Frauen dabei spielten, wurde offenbar auch in den aschkenasischen Darstellungen von Eliësers Beschneidung zum Thema gemacht. Wie wir gesehen haben, ruft die Komposition dieser Bilder Assoziationen mit dem rituellen Schlachtopfer hervor. In der Tat wurde das rituelle Opfer in mittelalterlichen Texten oft als Musterbeispiel für den Märtyrertod beschrieben.82 Die Darstellungen aus dem 15. Jh. vermitteln also nicht zwangsläufig das Bild einer Frau, der sich mutig gegen die Dominanz von Männern auflehnt, sondern sie betonen vielmehr das biblische Ideal des (aktiven) Märtyrertodes. Zippora im Wüstenlager fungiert in ihrer dramatischen Rolle somit als metaphorisches Vorbild für jüdische Frauen, die den Märtyrertod vorziehen und dabei nicht davor zurückschrecken auch ihre Kinder in den Tod zuschicken, um den Namen Gottes zu heiligen.
80 81
82
GROSSMAN, Pious and Rebellious, 198–211. Susan L. EINBINDER, „Jewish Women Martyrs: Changing Models of Representation“, Exemplaria 12 (2000): 105–127; 120; siehe außerdem GROSSMAN, Pious and Rebellious, 211, der ihre Schlussfolgerungen als zu wage kritisiert, da sie seiner Meinung nach auf einer zu engen Auswahl von Quellen basiert. GOLDIN, Martyrdom, 167–174; SHEPKARU, Martyrs, 167–168.
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5.
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Schlussfolgerungen
Die Bibel widmet israelitischen Müttern und Ehefrauen lediglich kleinere Nebenrollen, die auch keinen sehr dominanten Charakter haben. Beispielsweise besitzt Jakobs Frau keine eigene Erzählstimme. Nur selten brechen biblische Geschichten mit dieser Regel. Die rabbinische Tradition hat weibliche Rollen in biblischen Erzählungen in vielerlei Hinsicht noch zusätzlich geschwächt. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass das gesamte Mittelalter hindurch die Rolle von Frauen bei der Verrichtung von Ritualen immer weiter beschnitten wurde. Die hier beschriebenen Bilder entsprechen Großteils diesem Rollenbild, stellen es aber gleichzeitig auch in Frage. Sie stellen Rebekka in den Mittelpunkt der Handlung und zeigen Zippora bei der Durchführung eines Rituals, das größtenteils eine männliche Domäne war. Bildzyklen sind niemals „wörtliche“ Übersetzungen eines Textes in eine Bildsprache. Als „Parallelerzählungen“ können sie entweder den rabbinischen Standpunkt einnehmen (wie es in der Tat oft der Fall war) und eine Geschichte erzählen, die einer rabbinischen Haltung entspricht und diese unterstreicht, oder aber sie fungieren – an bestimmten Stellen – als Alternativerzählungen, die über die biblische Handlung hinausgehen und von der rabbinischen Interpretation abweichen. Die hier vorgestellten Beispiele zeigen einige besondere Rollen und wie diese von weiblichen Protagonistinnen übernommen wurden. Die aschkenasischen und iberischen Darstellungen von Rebekka und Zippora unterscheiden sich dabei deutlich voneinander. In den iberischen Zyklen treten beide Frauen pro-aktiv auf, um das Schicksal ihres Volkes zu bestimmen; sie nehmen das Gesetz in die eigenen Hände und werden so zu aktiven Akteurinnen innerhalb der Heilsgeschichte. Die Porträts von Rebekka und Zippora spiegeln dabei weder die rabbinische Exegese wider, noch stellen sie den Standpunkt der Rabbinen in irgendeiner Weise in Frage. Dies lässt sich am besten anhand der mittelalterlichen bildenden Kunst feststellen, die außerdem offenbart, wie vertraut jüdische Mäzene und Künstler mit der in ihrem Umfeld üblichen Bildsprache gewesen sein müssen. Sie waren offenbar mit den Bildern der Jungfrau Maria und ihrer herausragenden Rolle in der christlichen Welt im 13., 14 und 15. Jh. vertraut und forderten eben diese Rolle mit ihren eigenen visuellen Darstellungen heraus. Ebenso wie Maria als Erfüllungsgehilfin der Erlösung aller Christen visualisiert wurde, wurden Rebekka und Zippora zu Mediatorinnen der israelitischen Heilsgeschichte stilisiert. Dies entspricht jedenfalls dem Gesamtbild, das die iberischen HaggadaZyklen vermitteln, die als eine Art visuelle Orientierungshilfe für den geschichtsphilosophischen Ansatz bestimmter Zyklen in Iberien dienten. Diese Bilder sind ein wesentlicher Bestandteil dieser Zyklen und ihrer Funktion, dem Pessach-Ritual einen festen Platz in der Heilsgeschichte Israels zu geben.
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Die aschkenasischen Beispiele übernehmen hierbei eine andere Funktion. Sie sind nicht so stark in die umgebende Kultur eingebunden wie ihre iberischen Gegenstücke. Auch geben sie weit weniger Einblick in das jüdische Alltagsleben im Mittelalter. Vielmehr repräsentieren sie bestimmte Werte wie Prokreation, Mutterschaft, Erziehung, Frömmigkeit und den Märtyrertod und machen Rebekka und Zippora, die handelnden Hauptpersonen dieser Geschichten, so zu Sinnbildern dieser Werte, sowie zu Vorbildern religiösen Handelns. Diese Bilder, die auf den ersten Blick wie naive Darstellungen biblischer Geschichten erscheinen, mit abstrakten Vorstellungen eines religiösen Lebens zu verknüpfen, kann für den modernen Betrachter und die moderne Betrachterin eine große Herausforderung darstellen. Jedoch haben wir anhand der Darstellungen von Rebekkas gottesfürchtigem Verhalten gesehen, dass die dazugehörigen Bildunterschriften Informationen jenseits der visuellen Wahrnehmung bereitstellen und somit eine bestimmte Lesart unterstützen. Darüber hinaus waren Gottesfurcht, Märtyrertod, Verfolgung und Auserwähltheit, angesichts der realen Bedrohung zwangsgetauft zu werden, alles Begriffe, die den mittelalterlich-jüdischen Diskurs abseits aller „akademischen“ Betrachtungen der Halakha und religiöser Rituale dominierten. Abgesehen von den schriftlichen Quellen, die uns heute zugänglich sind, muss es aber auch mündliche Überlieferungen, Predigten, und andere Diskurse gegeben haben, die sich mit diesen Themen befassten. Die tieferen Bedeutungen, die ich in diesem Aufsatz erörtert habe, müssen für den damaligen Betrachter also viel einleuchtender erschienen sein. Die bildlichen Darstellungen waren nicht zuletzt dazu bestimmt auf metaphorische Art und Weise bestimmte Vorstellungen zu evozieren. Darüber hinaus vermitteln sie uns einen zuverlässigen Eindruck darüber, wie biblische Figuren im Mittelalter auf jüdischer Seite rezipiert wurden.
Abbildungen
Abb. 1: Sarajevo, Nationalmuseum von Bosnien und Herzegovina, Aragon, c. 1330 („Sarajevo-Haggada“), fol. 8r: Isaak trifft Rebekka.
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Abb. 2: Jerusalem, Israel Museum, MS 180/50, Franken, c. 1465 („JehudaHaggada“), fol. 30v: Rebekka kommt an.
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Abb. 3: Jerusalem, Israel Museum, MS 180/50, Franken, c. 1465 („JehudaHaggada“), fol. 31v: Isaak und Rebekka beten um Nachwuchs; Rebekka fragt Sem um Rat.
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Abb. 4: Jerusalem, Israel Museum, MS 180/50, Franken, c. 1465 („JehudaHaggada“), fol. 312r: Geburt von Jakob und Esau; Jakob und Esau auf dem Weg zur Schule.
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Abb. 5: London, British Library, Add. MS 27210, Katalonien, c. 1320 („Goldene Haggada“), fol. 4v: Isaak segnet Jakob.
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Abb. 6: Sarajevo, Nationalmuseum von Bosnien und Herzegovina, Aragon, c. 1330 („Sarajevo-Haggada“), fol. 9v: Isaak segnet Jakob.
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Abb. 7: London, British Library, MS Or. 1404, Katalonien, 1330–1340, fol. 2r: Mose und Zippora auf dem Weg nach Ägypten; Zippora beschneidet ihren Sohn.
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Abb. 8: Manchester, John Rylands University Library, MS heb. 6 („RylandsHaggada“), fol. 14r: Mose und Zippora auf dem Weg nach Ägypten; Zippora beschneidet ihren Sohn.
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Abb. 9: London, British Library, MS Add. 15277, Norditalien (Padua?), c. 1400, fol. 4v: Zippora beschneidet ihren Sohn.
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Abb. 10: Jerusalem, Israel Museum, MS 180/50, Franken, c. 1465 („JehudaHaggada“), fol. 12v: Mose und Zippora auf dem Weg nach Ägypten; Zippora beschneidet ihren Sohn.
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Abb. 11: Jerusalem, Israel Museum, MS 180/52, Regensburg, 1300 („Regensburger Pentateuch“), fol. 18v: Aqeda (Bindung Isaaks); Beschneidung Isaaks.
Bibliographie
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Stellenregister
Hebräische Bibel Genesis (Gen) 1 231 1,27 74, 231, 235 2 231 2,7 83 2,8 74 2,18 74, 235 2,20 81 2,22 76, 235 3,17 85 3,21 77 4,23 84 5,2 74 9,6 74 9,7 74 12,11 196 16,1–3 89 16,4 91 16,5 94 16,6 96 16,11 91, 93–94 16,11–12 95 16,12 182 16,14 90 17,19–21 90 18 160 18,6 112, 161 18,15 159 21,9 190 21,9–10 91 21,9–13 92 21,14 91 22 270 23 159 24,16 196 24,49 162 24,58 162 24,63 269 25,1–2 90 25,13 181 25,21 271 25,22 272 25,23 273 25,27 272
27,1–29 273 27,11 190 27,13 162 27,15 273 28,9 188 33,19 259 36,20–21 182 37,27 84 38 158 Exodus (Ex) 2,15–20 275 2,21 275 4,20 276 4,25 276 4,28 105 19,18 189 21,6 260 23,9 248 25,18 182 26,20 75 28,35 172 Levitikus (Lev) 18,6 84 19,14 86 26,42 62 26,44 43 Numeri (Num) 7,89 222 12,8 115 15,39 106 Deuteronomium (Dtn) 2,19 62 6,4 65 6,5 154, 251 7,3 156 10,17 113 17,16–17 147 21,22–23 62 23,4 251, 262 28,30 66 Josua (Jos) 1,8 255 2 158
Stellenregister Richter (Ri) 3,20 253 8,21 76 16,19 67 Rut 1,8 257 1,10 257 1,11 257 1,14 256 1,15 257 1,16 253, 257 2,4 259 3,7 261 3,14 254 4,10 254 1 Samuel (1 Sam) 4,4 182 12,11 62, 84 16,11 203 16,12 181–182, 203 25,3 197 25,14–42 197 25,31 157 25,39 197 2 Samuel (2 Sam) 7,5–16 148 7,12–13 148 11 157 11,2 196 12,29 172 13 159, 198 16,7–11 158 16,22 159 18,28 62 1 Könige (1 Kön) 1,3–4 196 1,11–31 147 1,40 63 3,5–12 149 3,9 147 3,12 147 3,16–28 147 4,32 126 5,6 147 5,9–14 147 5,17 148 5,27–30 147 6,38–7,1 147 10,1–9 147 10,23 147 10,27 147 11,1–3 147
323 11,3 146 11,4 146 11,4–8 147 11,7 187 16,31 197 21,25 160, 161 2 Könige (2 Kön) 7,1 112 1 Chronik (1 Chr) 22,7–10 148 29,23 253 Judit (Jdt) 8,1 59 8,7–8 60 10,3 59, 60 Ester (Est) 1–2,4 44 1,8 42 2,5–9,2 44 2,6 46 2,7 45–46, 50, 199 2,9 42 2,10 47 2,15 42, 47, 63 2,20 46 4,3–4 47 4,14 37, 41, 54 5,1 49 5,1–5 49 5,2 63 5,3 49 7,8 114 9,1–2 38 9,16–19 37 9,20–22 37 9,21–22 38 9,26 37 9,26–28 37 9,29 199 9,31 37 Psalmen (Ps) 12,7 251 22,1–2 51 22,8 217 22,10 50 22,11 51 22,20 51 37,15 68 56,1 171, 179, 185 62,12 107 87 209 90,1 113
324 102 179 102,7–8 178 122,6 191 126,1–2 191 128,3 199 133,3 191 137 191 137,5–6 189 139,5 76 145,1 113 Sprüche (Spr) 1,1 112, 126 2,16 156 3,4 47 4,2 52 5,19 183, 203 5,20 156 11,30 259 18,22 134 21,19 134 30,1 141 30,1–4 148, 150 30,2 146 30,31 164 31 166 31,1 141 31,1–9 134, 142, 146, 150 31,1–10 14, 166, 167 31,2–9 145 31,3 135, 146 31,10 19, 135, 165 31,10–31 19, 132, 134, 164, 165 31,11 19, 135, 165 31,13 30 31,14 21 31,15 21, 136 31,17 136 31,18 30 31,19 28, 136 31,20 21 31,23 19, 164–165 31,26 165 31,28 21 31,30 19, 139, 164 31,31 166 Kohelet (Koh) 1,1 112, 125 2,22 81 4,2 255 7,26 249 12,13 148 Hohelied (Hld) 1,1 184, 200
Stellenregister 1,2 114, 125 1,4 180, 183 1,5 181, 202 1,6 181 1,8 184 2,4 181, 187, 201 2,5 176 2,7 172 2,9 171 2,12b 184 2,14 125, 171, 176–177, 184, 189 2,16 183 2,17 171, 187 3,1 178 3,2 177–178 3,9 180 4,3 172, 200 4,5 105 4,6 181 4,7 200 4,8 181–182 4,8–9 181 4,9 181 4,12 171 4,13–14 182 4,16 177, 180–183 5,2 182 5,4 187 5,5 200 5,6 180 5,7 168, 177, 186–187 5,7–9 186 5,8–9 177, 186 5,10 172, 203–204 5,13 199 6,2 181, 201 6,3 181, 201 6,8–9 127 6,11 190 7,2 171 7,3 204 7,12–13 181 7,14 176 8,2 182 8,3 187, 201 8,6 108, 128, 179 8,11 184 Jesaja (Jes) 5,1 184 5,7 181, 184 5,12 114 10,17 51 11,12 175 19,1 189
Stellenregister 21,3 48 24,9 114 29,8 79 34,14 236, 240 50,1 106 50,6 190 54–55,5 180 54,2 185 54,11 180 60,14 96 Jeremia (Jer) 2,2 187 3,1–13 106 9,9–10 176 20,9 178, 180 21,9 63 25,10 66 31 162 31,14 162 31,15 162, 176, 188 31,35–36 162 50,19 181 Klagelieder (Klgl) 1,1 172, 178 1,2 178–179, 223 1,12–22 172 1,16 223 1,20 172 5,16 223 Ezechiel (Ez) 16 106 23,17 128 Hosea (Hos) 1–3 106 2,9 108 14,6 171 Micha (Mi) Mi 4,10 181 Sacharja (Sach) 1,8 45, 50 9,9 217 9,12 191 12,1 141
Außerkanonische & vorrabbinische Schriften 4. Esrabuch (4 Es) 8 209
325 Megillat Ta'anit zum 17. Elul 66–67
Neues Testament Matthäus (Mt) 1,1–17 158 27,46 50 Markus (Mk) 15,34 50
Rabbinische Schriften Avot deRabbi Natan A 1 80 B 9 80 B 42 80 Ester Rabba zu Est 1,1 45 zu Est 3–9 45 zu Est 4,14–15.17 48 zu Est 6–10 45 6,5 45 6,6 47 6,9 47 6,12 47 8,3 48 8,7 48 9,1 49 Exodus Rabba 6,1 141 29,9 223 Genesis Rabba 8 76 8,1 75 17,2 74 17,4 75 17,7 160 17,8 79 18 77 18,1 79 19,3 78 19,5 78 20,5 78 21,5 81 45,6 94 58,5 159 60,15–16 (zu Gen 24,61–63) 269 60,16 271
326 63,6 272 63,10 272 Hohelied Rabba zu Hld 4,5 105 1,5 140 Kohelet Rabba 1,1 140 Levitikus Rabba 14,1 75 Mekhilta deRabbi Jishmael Schira 3 186 Midrash Rut Rabba 2,9 253 2,14 158 4 252, 262 4,9 158 Midrash Rut Zuta 1,1 158 Midrash Tehilim 1–118 50 22 51–52 22,3 50 22,6 51 22,7 51, 52 22,10 51 22,14 51 22,16 51 22,19 51 22,23 50 22,24 52 22,24–25 51 22,27 52 Numeri Rabba 10,4 141, 148 Pesiqta Rabbati 26 209 34 § 8 217 37 § 3 218 Pirqe deRabbi Eli'ezer 12 74, 83 14 80 29 280 31 270 32 159 45 163 49 41–42 Seder Eliyyahu Rabba 1,3–4 41
Stellenregister zu Ex 34,6 40 zu Est 4,17 41 Seder Olam Rabba 15 140 Sifre Deuteronomium zu Dtn 11,19 207 § 355 209
Rabbinische Schriften/Mischna mAvot 3,6 207 mShabbat 2,6 80 mYadayim 3,5 100
Rabbinische Schriften/Talmud b'Avoda Zara 5b 85 b'Avoda Zara 27a 277 bBaba Metsi'a 59a 161 bBaba Metsi‘a 84b 141 bBaba Metsi'a 87a 161 bBekhorot 8a 78 bBerakhot 6a 207 bBerakhot 10a 141 bBerakhot 61a 76 bBerakhot 61b 75 bChagiga 5b 153 bChullin 42a 164 b'Eruvin 100b 79–80, 86 b'Eruvin 18a 75 b'Eruvin 18b 237 bHorayot 10b 253 bMegilla 10b–17b 39 bMegilla 12b 42 bMegilla 13a 45–46 bMegilla 14a 157 bMegilla 14b 157 bMegilla 17a 272 bMegilla 29a 207, 233 bNazir 23b 253 bNidda 24b 237 bNidda 31a 77 bPesachim 22b 86 bPesachim 50b 141 bSanhedrin 20a 141 bSanhedrin 37a 204 bSanhedrin 39a 75–76 bSanhedrin 57b 77 bSanhedrin 70b 141–142, 146, 148 bSanhedrin 105b 253 bShabbat 23a 70
Stellenregister bShabbat 145b–146a 249 bShabbat 151b 236 bShevu'ot 35b 112 bSota 13b 209 bSota 21b 73 bSota 47a 253 bSukka 29a 162 bSukka 49b 141 bTa'anit 26b 141 bYevamot 61a 82 bYevamot 63a 74, 77 yShabbat 2,6,5b 80 yTa'anit 4,8,68d 274
Chasside Aschkenas Sefer Chassidim SHB §14 154 §29 153 §102 159 §135 160–161 §158 164 §161 157 §183 159 §222 153 §336 162 §509 154 §514 162 §619 156–157 §§872, 873 153 §1148 162–163 SHP §15 157 §§669, 670, 1715 153 §§984, 989 153 Sefer ha-Rokeach ha-Gadol zu Hilkhot Teschuva, Nr. 1 157 zu Hilkh. Teschuva, Nr 14, Nr. 20 153
Mittelalterliche Schriften Jehuda Halevi 199, 201 No 152 188 No 159 184 No 181 189 No 251 189 No 272 188 No 324 185 No 326 178, 185 No 357 179
327 No 379 187 No 390 187 No 401 191 Leqach Tov zu Est 1,14 55 zu Est 1,20 53 zu Est 2,1 42 zu Est 2,7 53 zu Est 2,9–11 53 zu Est 2,15 54 zu Est 2,21 54 zu Est 2,19 54 zu Est 2,20 54 zu Est 3,1 55 zu Est 3,8 53 zu Est 4,1 53 zu Est 4,4 48 zu Est 4,8 53 zu Est 4,14 54 zu Est 4,17 53 zu Est 5,1 49, 54 zu Est 5,4 54 zu Est 5,6 54 zu Est 5,9 54 zu Est 6,1 54 zu Est 7,1 54 zu Est 9,28 55 Moses ibn Esra No 37 175 Salomon ibn Gabirol 197–198, 203 No 95 181 No 96 171 No 131 182, 188 No 133 183, 189 No 163 188 Samuel ha-Nagid No 9 190 No 180 168
Mittelalterliche Midraschim & Sammlungen Josippon 42–44 Kol bo zu bShabbat 23a 69 Ma'ase Jehudit 63 Megillat Jehudit 1,10 65 Megillat Jehudit 8,1 65 Megillat Jehudit 8,7 65 Midrasch Aggada zu Gen 25,21 271
328
Stellenregister
Nissim ben Jakob zu Judit 61, 62, 63 Yalqut Shim’oni, Nr. 115 273
Mittelalterliche Schriften/Haggadot British Library Oriental BL Ms. Oriental 2737, Fol. 67 276 BL Or. 2884, Fol. 4v 272 Or. 1404 276, 278 Goldene Haggada 266, 268, 272–273, 276 Jehuda-Haggada 267–268, 270–272, 275–276, 279–282, 287 Fol. 11r–11v 275 Fol. 31r 271 Regensburger-Pentateuch 281–282 Rylands-Haggada 267, 276, 278 Sarajevo-Haggada 266–267, 269, 272–275 Zweite Nürnberger-Haggada 267–268, 270–272, 275–276, 279–282, 287 Fol. 12r–12v 275 Fol. 13v 280 Fol. 32r 271
Mittelalterliche Kommentare Abraham ibn Esra zu Spr 31,1 146 Anonyme Kommentare zu Hld 1,1–2 126–127 zu Hld 2,6 128 Ath-Thaʿlabī
Arais al-Majalis Fi Qisas Al-Anbiya 98 Bachja ben Ascher zu Ex 4,24 278
Ibn Kathīr Al-Bidāyah wa al-Nihāyah 98
Isaak ibn Gajat/Gijat Hochzeitsgedichte 198–199 Jehuda Halevi Moaxaja 201 Kimchi D. Kimchi zu Gen 16,6 93 zu Gen 17,16 93 zu Gen 21,11 94 zu Gen 21,14 94 zu 1 Kön 11,1.4–8 149 zu Spr 21 144 J. Kimchi zu Spr 144 zu Spr 31,1 146 M. Kimchi zu Spr 31 144, 146 Nachmanides/Ramban zu Gen 2,18 82 zu Gen 2,19 83–84 zu Gen 3,12–16 85–86 zu Gen 16,2 95 zu Gen 16,6–11 95 Ralbag zu Gen 16 96 zu 1 Kön 11,4 149 Raschbam zu Koh 1,1 126 zu Hld 1,2 115 zu Hld 1,6 116 zu Hld 1,15–2,3 117 zu Hld 1,15–2,3 119 zu Hld 2,5–6 117, 119 zu Hld 2,9–13 118 zu Hld 3,5 119 zu Hld 5,2–7 121 zu Hld 5,8–6,3 123 zu Hld 6,4–7,11 124 zu Hld 7,12–8,4 120 zu Hld 7,12–8,14 124 zu Hld 8,4 120 zu Hld 8,13–14 124 zu bMegilla 4a 69 Raschi zu Gen 2,8 73 zu Gen 2,18 74 zu Gen 2,20–23 75–76 zu Gen 2,25 77 zu Gen 3,1 77 zu Gen 3,6 78 zu Gen 3,8 107, 111 zu Gen 3,11 78 zu Gen 3,14–16 78–79
Stellenregister zu Gen 3,20–22 81 zu Gen 23,2 159 zu Ex 4,24 278 zu 1 Kön 11,7 149 zu Ps 55,20 110 zu mSota 3,4 73 zu b'Avoda Zara 18b 73 zu bShabbat 23a 68
329 82 249 82a 256 85c 256, 259, 261 86b 244 99b 249 Pardes Rimmonim 186d 240
R. Eliezer von Beaugency zu Ez 1,4 126
Recanati 35b 246
Sforno zu Gen 21,9 96
Saba deMishpatim 98b 247 100a 248
Tosafot zu bMegilla 4a 69
Mystische Schriften und Chassidismus
Sefer Jetzira 207, 211, 216, 226, 230 Sitre Tora 1,147b–148a 240
Joseph Karo Maggid Mescharim 18–19 222–224
Sohar Bereshit 34b-35a 75 Wa-yera 1,111a 254 Wa-yeshev 1,188b 255, 261 Shemot 55a 75 Wa-yakhel 2, 217b 258 Wa-yakhel 2, 218a 258, 261 Teil 1, Blatt 8, Seite 1 213 Teil 1, Blatt 75, Seite 1 217 Teil 1, Blatt 182, Seite 1 216 Teil 1, Blatt 210, Seite 1–2 217 Teil 3, Seite 19a 240 Teil 3, Seite 69a 241 Teil 3, Blatt 296, Seite 1–2 219
Dov Baer von Mesritsch Maggid devaraw le-Ja'aqov 226–227
Sohar Chadasch Rut 5,142 262
Midrasch Ha-Ne 'elam ZH 78b 251 78b–78c 251
Tikkune Sohar zu Tikkun 21, f. 52b 232
Schlomo Alqabetz Lekha Dodi 222, 224 Baal Schem Tov Iggeret ha-Qodesch 226 Bahir 63 [29] 211 76 [33] 211 119 210
Die auf 21 Bände angelegte internationale, in den vier Sprachen Deutsch, Englisch, Italienisch und Spanisch erscheinende Enzyklopädie „Die Bibel und die Frauen“ setzt sich zum Ziel, eine Rezeptionsgeschichte der Bibel, konzentriert auf genderrelevante biblische Themen, auf biblische Frauenfiguren und auf Frauen, die durch die Geschichte hindurch bis auf den heutigen Tag die Bibel auslegten, zu präsentieren. Christliche und jüdische Forscherinnen und Forscher aus den Wissenschaftstraditionen der vier Sprachräume erarbeiten dieses interdisziplinäre Werk, das theologische, archäologische, ikonographische, kunsthistorische, philosophische, literaturwissenschaftliche und sozialgeschichtliche Genderforschung miteinander ins Gespräch bringen und neue Untersuchungen anregen will. Im Zentrum des Interesses stehen • literarische Frauenfiguren der Bibel und • deren Rezeption in der Exegesegeschichte durch Exegeten und Exegetinnen, • geschlechtsspezifische Lebenszusammenhänge in biblischen Zeiten, • Frauen, die in bestimmten Epochen und Auslegungstraditionen die Bibel interpretierten, • Frauen, denen biblische Texte oder deren Auslegung zugeschrieben werden, • genderrelevante Texte (z.B. Rechtstexte) und Themen (z.B. kultische Reinheit), • die Rezeption biblischer Frauenfiguren und genderrelevanter Themen in der Kunst. 1. Hebräische Bibel – Altes Testament 1.1 Tora: Irmtraud Fischer/ Mercedes Navarro Puerto/Andrea Taschl-Erber (Hrsg.) 1.2 Prophetie: Irmtraud Fischer/Juliana Claassens (Hrsg.) 1.3 Schriften: Christl Maier/ Nuria Calduch-Benages (Hrsg.) 2. Neues Testament 2.1 Evangelien. Erzählungen und Geschichte: Mercedes Navarro Puerto/Marinella Perroni (Hrsg.) 2.2 Neutestamentliche Briefliteratur: Korinna Zamfir/Uta Poplutz (Hrsg.) 3. Pseudepigraphische und apokryphe Schriften 3.1 Frühjüdische Schriften: Eileen Schuller/ Marie-Theres Wacker (Hrsg.) 3.2 Frauentexte und apokryph gewordene Schriften des frühen Christentums: Silke Petersen/Outi Lehtipuu (Hrsg.)
4. Jüdische Auslegung 4.1 Talmud: Tal Ilan/Lorena Miralles Maciá/ Ronit Nikolsky (Hrsg.) 4.2 Das jüdisches Mittelalter: Carol Bakhos/Gerhard Langer (Hrsg.) 5. Patristische Zeit 5.1 Christliche Autoren der Antike: Kari Elisabeth Børresen/Emanuela Prinzivalli (Hrsg.) 5.2 Biblische Frauenfiguren in der Exegese der Patristik: Agnethe Siquans/Markus Vinzent (Hrsg.) 6. Mittelalter und frühe Neuzeit 6.1 Frühmittelalter: Franca Ela Consolino/ Judith Herrin (Hrsg.) 6.2 Frauen und Bibel im Mittelalter: Adriana Valerio/Kari Elisabeth Børresen (Hrsg.) 6.3 Renaissance und „Querelle des femmes“: Ángela Muñoz Fernandez/Xenia von Tippelskirch (Hrsg.) 7. Zeit der Reformen und Revolutionen 7.1 Reformation und Gegenreformation in Nordund Mitteleuropa: Charlotte Methuen/Lothar Vogel (Hrsg.) 7.2 Das katholische Europa im 16.-18. Jahrhundert: Maria Laura Giordano/Adriana Valerio (Hrsg.) 7.3 Aufklärung und Restauration: Ute Gause/ Marina Caffiero (Hrsg.) 8. 19. Jahrhundert 8.1 Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts: Irmtraud Fischer/Angela Berlis/Christiana de Groot (Hrsg.) 8.2 Fromme Lektüre und kritische Exegese im langen 19. Jahrhundert: Michaela Sohn-Kronthaler/Ruth Albrecht (Hrsg.) 9. 20. Jahrhundert und Gegenwart 9.1 Feministische Bibelwissenschaft im 20. Jahrhundert: Elisabeth Schüssler Fiorenza/Renate Jost (Hrsg.) 9.2 Aktuelle Tendenzen: Maria Cristina Bartolomei/Ilse Müllner/ Lidia Rodríguez Fernández /Mary Ann Beavis (Hrsg.)