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German Pages 157 [158] Year 2011
In memoriam Jacob Allerhand
„Mir träumt jetzt von Auschwitz unentwegt …“ Gedichte russischer Juden aus finsterer Zeit ausgewählt und ins Deutsche übertragen von Gennadi E. Kagan
Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
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Ein Wort zum Geleit Ein beklemmendes Memento mori sind die hier ausgewählten und zum ersten Mal in freien deutschen Nachdichtungen vorgestellten Verse russischer Juden aus dem vergangenen Jahrhundert, dem „schrecklichen zwanzigsten Säkulum“, wie es in einem der Gedichte heißt. Unter oft schwierigen Bedingungen für ihre Verfasser entstanden, waren sie verfemt und verfolgt und konnten unter dem kommunistischen Regime nur illegal und in Abschriften von Hand zu Hand gehen. Bewegende Dokumente von oft hohem literarischen Rang, die einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Judenverfolgung im von Stalin und seinen Nachfolgern beherrschten Machtbereich darstellen, sind sie nicht nur poetische Zeugnisse von dem unsäglichen Leid, dem zahllose sowjetische Juden ausgeliefert waren, sie entlarven auch die bedrückende Nähe des sowjetischen Antisemitismus zu dem des deutschen Faschismus. Und es mussten lange Jahrzehnte vergehen, ehe sie sich auf dem Bild einer Poesie, die angeblich die sowjetische Wirklichkeit widerspiegelte, als „störende Flecke“ zu zeigen begannen. Namhafte Autoren jüdischer Abkunft wie der berühmte Romancier Ilja Ehrenburg und noch kaum bekannte jüdische Poeten der ihnen nachfolgenden Generation wie der spätere Nobelpreisträger Joseph Brodskij, die sich als Nachfahren des unverges-
senen Ossip Mandelstam begriffen, schufen bei Gefahr für Leib und Leben eine neue, bis dahin noch nicht da gewesene russische Lyrik von erschütternder Wucht und bitterer Anklage. Pogrom war einst im ausgehenden neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert ein Schreckenswort gewesen, das nahezu jeden Juden in den russischen Provinzen mit Entsetzen erfüllt hatte. Doch die wenigsten von ihnen hatten geahnt, dass das erst der Beginn eines ungeheuerlichen, jede menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Leidensweges war, den in der Folge Millionen russischer und europäischer Juden gehen mussten. Hatten anfangs die bolschewistische Oktoberrevolution und der danach errichtete Sowjetstaat die russischen Juden auf ein künftiges besseres und menschenwürdigeres Dasein hoffen lassen, so erwies sich das bald schon als tragischer Irrtum. Nach einer nur wenige Jahre währenden Phase, die diese Hoffnung zu nähren schien, hatte für sie ein fast siebzig Jahre dauerndes Martyrium begonnen, das sich durch den Überfall der Hitler’schen Heere ins Unermessliche steigerte. Was die Stalin’schen Schergen mit der systematischen Judenverfolgung und der Vernichtung der jüdischen Kultur in der Sowjetunion begonnen hatten, erwies sich als grauenvolles Vorspiel zu den Deportationen und Massenerschießungen, mit denen die deutschen Faschisten ihren menschenverachtenden Rassenwahn in die russischen Städte und Dörfer trugen, wie 6
es der jüdische Dichter Naum Korschawin in seinem 1970 entstandenen und ebenfalls in diese Auswahl aufgenommenen grausigen poetischen Albtraum „Poem vom Sein“ nachempfunden hat. „Gäbe es für euch doch einen Winkel, / Um dort in Geborgenheit abzuwarten, / Ein Loch, sich darin zu verkriechen mit Zuversicht! / Als schreckliches Märchen / Für kommende Kindheiten nach euch / Werdet ihr vielleicht noch gebraucht“, heißt es in einem Gedicht des 1986 verstorbenen Boris Sluzkij. Es ist, wie alle diese Verse, von tiefer Menschlichkeit erfüllte Erinnerungsarbeit und Mahnung zugleich, Aufruf, nie zu vergessen, was einmal hier und anderswo geschah und wo auch immer nie wieder geschehen darf. Gennadi E. Kagan Sankt Petersburg – Wien 2010
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Boris Sluzkij * * * Strich um Strich. Dahin das Sesshaftsein: Wohlfeiles Hab und Gut, der Armut Fröhlichsein. Nomaden gleich dorthin entflohn, Wo Glück Chimäre, Elends Hohn. Das Heringlein – des Tisches Stolz und Herrlichkeit – Schwamm längst davon im Lethestrom der Zeit. Die Welt des weißen Tischtuchs am Sabbat, Aus den Öfen von Auschwitz aufgestiegen, Ward schwarzer, ward fetter, ward süßlicher Rauch. Ich erinnere noch ihre Riten, den Brauch, Sehe noch jung, sie in Feiertagsgewändern, umschmeichelt Von Seidengerausch, wie wenn Sturm sie streichelt, Oder wenn sie am Werktag, zum Narren gehalten, Den Riemen geschnürt saß, die Stirn in Falten. Das Heringlein – des Tisches Stolz und Herrlichkeit – Schwamm längst davon im Lethestrom der Zeit. Der Planet! War er gut oder schlecht? Ich weiß es nicht und spreche nicht Recht. Nur eines hat sich mir eingebrannt: Einst ist der Planet zu Asche verbrannt. Verbrannt Melamede 1, ihre Mäntel zerschlissen, Ihr Ehedem ins Nichts gerissen. Parteibuchträger und Streckenläufer, Die Rechte, die Linke, und Schurken und Säufer
Verbrannt, versunken im Letheschlamm Wie Mstislawskijs und Schuiskijs Familienstamm2. Das Heringlein – des Tisches Stolz und Herrlichkeit – Schwamm längst davon im Lethestrom der Zeit.
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* * * Mir träumt jetzt von Auschwitz unentwegt, Der Weg zwischen Bahnhof und Lagerenge. Ich gehe wie Lazarus arm in der Menge, Spür den Koffer, der sich auf der Schulter regt. Ich hatte den leichten, bequemen genommen, Vielleicht hatte mich eine Ahnung betört. Einem Ausflügler gleich ging ich unbeschwert Inmitten der Schar, blickte um mich beklommen. Menschen schleppten Bündel um mich her Und Taschen und Körbe voll Habseligkeiten, Die Kiepen hoch bepackt, wie Aule3 sich auf Bergen breiten, Und an der Bürde trugen sie schwer. Lang und länger zieht der Weg sich durch das Träumen, Beschwerlicher ist als im Wachen der Schritt, Du meinst nicht zu gehen, treibst nur noch mit, Hast keine Kraft mehr, dich aufzubäumen. Ich trotte wie alle: haste und eile doch nicht. Das erstarrte Herz will nicht mehr schlagen. Die Seele, erfroren seit langen Tagen, sucht auf der Chaussee ein wärmendes Licht. Aus kaum getarnten Fabrikschloten weht Uns schmutzig süßlicher Ruch entgegen, Und durch den Flug der Schwäne geht Der Rauch der erloschenen Seelen. 13
* * * Familiensinn hatte mich getrieben, Die Tante, den Onkel zu beglücken, Die Cousinen an die Brust zu drücken, Die sich einst, lang war’s her, So ganz der Musik, den Künsten verschrieben! Ich traf weder Tante noch Onkel an, Fand auch die Cousinen nicht mehr. Doch unvergesslich sind mir geblieben Die Blicke der Nachbarn, die sie einst gekannt. Und noch heute hör ich sie murmeln: „Verbrannt …“ Alles verbrannt: die Tugend, die Schwachheit, Die Kinder, die Eltern, grau vor der Zeit. Und ich steh vor den Zeugen, steh wie gebannt, Wiederhole nur tonlos: „Alles verbrannt …“
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* * * Wie meine Großmutter zu Tode kam? So hat man Großmutter umgebracht: Am Morgen war’s. Vorm Staatsbankgebäude Rollte ein gepanzerter Wagen heran. Und hundertfünfzig Juden aus der Stadt, Ausgezehrt Vom durchhungerten Jahr, Bleich Vor Gram und Todesfurcht, Schleppten ihre ärmliche Habe. Polizisten und Deutsche, jung noch und forsch, Am Koppel, scheppernd, das Essgeschirr, Trieben die Alten, die Greisinnen, Greise, Sie fortzuführen, Hinter die Stadt. Und Großmutter, klein, ein Atömchen gleichsam, Meine Babuschka, schon über Siebzig, Bedachte die Deutschen Mit groben Flüchen, Drohte: – Mein Enkel! Er steht an der Front! Wagt nur, wagt es, uns anzurühren! Das Schießen der Unseren ist schon zu hören! – Großmutter weinte und schrie und lief. Und aus den Fenstern über der Straße Tönten die Stimmen der Nachbarschaft, 15
Der Iwanownis und Petrownis, Der Sidorownis, Andrejewnis: – Sei tapfer, Polina Matwejewna! Geh aufrecht! –, riefen sie ihr zu Und jammerten, klagten: – Oj, was kann man schon tun Gegen unseren Feind, diesen Deutschen! – Darauf ward beschlossen, noch in der Stadt Ein Ende zu machen mit Babuschka. Die Kugel traf sie in den Kopf. Aufstob das Haar, der graue Zopf, Und Großmutter stürzte, sank in den Sand – So schied sie dahin und entschwand.
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In Deutschland Am Eck neben der Kirche hocken Händler, blind, mit Ansichtskarten, Verkaufen redlich ohne Schmu: Ein Deutscher hält inne, wirft einen Blick, Nimmt eine Blume, ein „Kätzchen“. Er zahlt mit zerknittertem Schein, wechselt sich selbst die Banknote ein, Ist ehrlich und nickt, geht von dannen. Oh, Ehrlichkeit, Ehrlichkeit – grenzenlos! Vielleicht hat sie das noch hinausgeschrien Bevor man sie zum Ofen geschleppt – Meine blinde Großmutter Zilja, Die vierzehn Kinder geboren.
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Abkunft Russisch hat mein Großvater noch gelehrt! Die richtigen Antworten heischend, Mit seinem Zeigestock bewehrt, Lehrte er Künftige seinesgleichen. Wohlgeruch verströmte sein reinlicher Bart, Würde, Natürlichkeit war seine Art. Und standhaft verfocht er die Thesen, Dass Leo Tolstoi (Denn weniger galt ihm Tolstoi Alexej) Stets größer als Gott gewesen! Er säte, was gut war, vernünftig und tief, Sein langes erfülltes Leben lang, Bis er nach der letzten seiner Lektionen, In seinem Sessel auf ewig entschlief. Unermüdlich, aufrecht und unbefangen, War er den geraden Weg gegangen. Genealogie lässt sich nicht verwehren, Meine Herkunft sei offen bekannt: Ich bin mit Tolstoi, mit Leo verwandt, Im Geist und dank Großvaters Lehren.
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* * * Zu alten Juden wurden Alle jungen Dichter, Hatten ihre Gefühle ausgestreut, Ließen ihre Gedanken erkalten. Wer über die Milchstraßen gewandert, War der Muse treu ergeben, Und keinem ward die Beständigkeit Als Ewiger Jude zu leben. Und der Akzent erwachte, o Gott, Und es bahnten sich, Herr, die Peies4 den Weg Zu dem, der im rußigen Himmel Vollendet die nächtlichen Reisen.
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Christi Verwandte Was haben sie nur gemacht Mit Christi Verwandten? Was haben sie ihnen angetan? In schriftlichen Quellen keine Spur, Keine Zeile, kein Strich, Leere nur. Was hat man mit ihnen gemacht? Bis ins siebte Glied, wie es damals hieß, Die Tanten, die Onkel, die Blutsverwandten, Die Onkel im zweiten, im dritten Grad, Die Neffen, die Nichten Und wen man noch zu der Sippe gezählt, Was geschah ihnen, als das Unheil kam? Wohin entschwand die Familie? Wohin ist sie geraten? Fast immer bleibt doch Ein einziger noch. Ihr Recht klagten Mahomets Neffen ein, Und es ward ihnen zuerkannt. Die Geschichte, die Unrecht an ihnen begangen, Beugte reuig das Haupt und gestand, Dass sie sich am Recht vergangen. Doch niemand weiß von Jesu Verwandten, Des Nazareners, hingerichtet in Jerusalem. Die Annalen – schweigen. 20
Kein einziger Name blieb Erhalten von Christi Verwandten. Was haben sie nur gemacht mit den einfachen Leuten, Den Handwerkern, Arbeitern auf dem Feld? Wurden sie vielleicht in der nahen Wüste Vor Maschinengewehre gestellt, alle umgebracht? So oder anders. Und ein oder zwei Jahrhunderte drauf Forderte niemand mehr Sühne, rief zu Rache auf. Christus ist längst rehabilitiert. Seine Sippe blieb davon unberührt. Längst sprießen Blumen aus Christi Verwandten. Unter ihnen nur Tiefe, leere Höhe darüber. Und nirgends mehr Raum in der Weltgeschichte Für Christi Geschlecht.
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Über die Juden Juden säen nicht das Brot, Juden schachern ohne Not, Juden werden früh schon kahl, Juden stehlen allemal. Juden sind ein übles Gezücht Und taugen selbst als Soldaten nicht: Wo Iwan kämpfte im Unterstand, Trieb Abraham Handel im Hinterland. Das hörte ich alles im Kinderzimmer. Nun bin ich bald alt, doch noch immer Kann ich nirgendwo dem Geschrei entgehn, Höre das „Juden, Juden!“-Getön. Nie habe ich jemals gefeilscht und betrogen, Nie jemanden über den Tisch gezogen, Und trage doch einer Seuche gleich die fluchbeladene Rasse in mir. Keine Kugel konnte mich niedermähen, Nun kann man heuchlerisch schmähen: „Den Juden blieb stets der Tod verwehrt, Sind alle lebendig zurückgekehrt!“
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* * * Jüdischen Kindern, kränklich und schwach, Brillenträgern, gescheit und blass, Die schon kleine Meister im Schach, Doch in den Gymnasien nur Mittelmaß – Rate ich zu Tätigkeiten Wie Schlittschuhlaufen, Boxen und Reiten, Sich messen an frostigen Gletscherhöhen Und barfuß über Grasland gehen. Sucht öfter Streit, lasst euch nicht hindern, Und schränkt das Bücherlesen ein, Wie Krebse müsst ihr überwintern, Im gleichen Schritt mit dem Jahrhundert sein. Schleicht euch nicht aus dem Marschverband Als hättet ihr nicht den Markstein erkannt. Denn noch ist nicht um Das schreckliche zwanzigste Säkulum.
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Eure Nation Und so ergibt sich, was daraus folgt: Zu oft geistert ihr durch den Nachrichtenwald, Zu oft ergehen sich eure Leiden In allzu langem Schluchzen. Genug hat die tägliche Medienflut Von eurer Nation Emotionen, Von eurem unsteten Wankelmut Und von euren Sensationen. Mütter erklären ihren kleinen Kindern, Aspiranten erläutern jetzt Was auch immer, nur eure Nöte nicht Und nicht eure Talente. Gäbe es für euch doch einen Winkel, Um dort in Geborgenheit auszuharren, Ein Loch, sich darin zu verkriechen mit Zuversicht! Als schreckliches Märchen Für kommende Kindheiten nach euch Werdet ihr vielleicht noch gebraucht.
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* * * Aber uns, den Juden, ward Glück zuteil. Nicht unter falscher Flagge, nicht maskiert Sucht das Böse offen mit uns Streit. Es heuchelt auch nicht Wohltätigkeit. Noch hatte offne Feindschaft nicht begonnen In dem festlich-tauben Land. Wir aber haben – gegen die Wand gedrängt – In ihr einen Rückhalt gewonnen.
* * * Gratis liebe ich die Antisemiten, Die mir unentgeltlich Lektionen erteilen, Mir meine Schwächen und Laster zeigen Und mir nur zu gerne die Fristen nennen Bis sie mir den Verstand genommen. Doch glaube ich ihren Prognosen nicht. – Noch haben sie’s nicht bis zum Ende getrieben –. Deshalb muss ich die Antisemiten lieben! Mit dem Herzen, nicht mit dem Verstand.
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* * * Reif werde ich oder alt –, Ich begreife den Juden in mir. Eben meinte ich noch, mich durchzuringen, Eben meinte ich noch, es zu zwingen. Ich rang mich nicht durch, ich zerbrach an mir selbst. Ich schlug mich nicht durch, riss mich los. Ich, der quasi mit einem Bein In die Staatsbürgerschaft, In die Staatsangehörigkeit getreten, Kehre zurück aus dem Punkt im Raum In vertrautes Heimatlos-Sein. * * * Ich habe die Ukraine freigekämpft, Bin durch jüdische Dörfer gegangen. Ihre Sprache, das Jiddisch – kaum mehr Rudiment, Starb den alten gleich aus in drei Jahren. Doch nein, sie erstarb nicht, ward ausgerottet, Ist offenbar allzu beredt gewesen. Kamen alle um, blieb keiner am Leben. Nur der Aufgang der Sonne, ihr Niedergehen. Blieben in ihren Versen, in bitteren bald, bald in süßen, In heißen zuweilen, von Schmerz durchglüht, Einstmals zu bissigen vielleicht, Doch wahr im Sein der Gegenwärtigkeit. 26
Hofstein5 hat sie beschrieben, und Markisch.6 Und Bergelson7 hat sie mit Sorgfalt erforscht Diese Welt, die ein Einstein selbst Nicht ans Leben zu binden vermocht. Aber nicht wie die Saat, wie Spelze nicht, Wie schwarze Asche verstreut Keimte hundertfach auf jedes Wort Wo wie aufgerissene Münder Ruinen starrten. Drei Jahre schon, seither steinalt und fast antik, Ward jene Sprache wie die Menschen ausgelöscht. Drei Jahre schon durchforsten Finger in den Büchern Das Hieroglyphen gleich vergessene Alphabet.
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Pferde im Ozean Für Ilja Ehrenburg Pferde können schwimmen, Doch nicht gut, nicht weit. Glorie heißt auf Russisch Slawa – Das werdet ihr leicht behalten. Stolz auf seinen Namen fuhr das Schiff und mühte sich, den Ozean zu zwingen. Und unter Deck, die sanften Mäuler regend, scharrten tausend Pferde Tag und Nacht. Tausend Pferde! Viertausend Eisen an den Hufen! Doch brachten sie kein Glück. Fern, weitab von jedem Land Zerriss eine Miene des Schiffes Kiel. Die Menschen sprangen sich zu retten in die Boote. Den Pferden aber blieb allein das Schwimmen. Was sollten sie machen, die Armen? Auf Booten, Flößen war kein Platz für sie. 28
Da trieb, rotbraun, eine Insel auf dem Meer, Schwamm braun in der blauen See. Dorthin zu schwimmen schien anfangs nicht schwer, Ein Fluss schien ihnen der Ozean. Doch nirgends war ein Ufer zu entdecken, Erreichbar für die Pferdekraft. Und plötzlich wieherten die Pferde, klagten jenen an, Der sie im Ozean ertränkte. Die Pferde sanken auf den Grund und wieherten Bis alle entseelt am Boden lagen. Das war alles. Mir aber tun sie in der Seele leid, Die Rotbraunen, die nie die Erde mehr erblickten.
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Mama! So wie dem Franzosen – die deutschen Geschicke! So wie dem Schotten – die irischen Schmerzen! Kann sein, man kröche, dränge in das Wesen ein, Nur fehlt dafür die Zeit, ist weder Kraft noch Wille. Die Staaten trennenden Zäune Sind höher, als man meint, massiver, als man glaubt. Und was man sieht dahinter? Paläste, Kathedralen. Den Blick auf die Seelen verwehren die Zäune. Und walzen Tankisten die Zäune nieder, Richten sie höher noch als je zuvor sich auf. Und sprengen Sappeure jene Zäune weg – Lassen Verträge sie von neuem rasch und solide erstehen. Nicht knacken lässt sich jenes nationale Nüsslein, Banal und infernalisch obendrein! Nicht eigene noch fiskalische Zähne brächten das zustand! Gleichviel wie oft man diesen akademischen Versuch gemacht. Der Säugling nur – mit Vorsicht und mit Wagemut, Maßvoll und beharrlich in einem, Tut feierlich kund in seiner mütterlichen Sprache, Die ihm eigen: „Mama!“
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Jurij Lewitansky * * * Ganz richtig bemerkte irgendwer, Dass es unmöglich wäre Nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben. Nun aber wir – Nach Potjma8, nach der Qual von Kolyma8, Nach allen Zwischenaufenthalten und Stationen In den Lubjankas8 und Butyrkas8, (Mit Schuss ins Genick! Mit Schuss ins Genick! Mit Schuss ins Genick!) – Wie können wir da noch schreiben Als hätten wir nicht gehört, Als bände irgendein Gelübde uns All das nicht zu erinnern. Ich sehe unter meinem Fenster Von Neuem die ersten Blätter sprießen. Beschreiben will ich, wie sich wieder Das ewige Wunder der Schöpfung vollzieht. Ein Laut wird geboren, und wie von selbst Entsteht eines Gedichts Melodie. Doch unversehens drängt Kälte, Beklemmung Sich in das gewohnte, mir vertraute Maß der Verse. Und überdeutlich tönt es plötzlich: – Verurteilt zur höchsten Strafe! – 31
So dass mir das Versmaß zum Teufel geht, Der fast schon gelungene Reim mir schwindet, Mir Frost die Zähne aufeinanderschlagen lässt, Dass ich verstumme und in Schweigen sinke. Ich will nicht! – flüstert es in mir – Ich will nicht, kann nicht, bin außerstande – Über Erschießungen zu schreiben! Über die sich öffnenden Blätter im April will ich schreiben. Was ist da zu tun – nun ja, nun natürlich, Solange wir leben – wir leben … Doch wieder – … Es wurde gefoltert! Gequält! Lebendig verscharrt! – So wird meine Zeile zerbrechen, Zerbrechen, verbiegen mich selbst Bis zum letzten Tag Diese meine Todesqual Und meine Falle, in die ich geraten – Bis zum letzten Tag, Bis zum letzten Tag! … Doch was stört das die Blätter ringsum, sie sehen Mit Augen weit geöffnet – Wie fröhlich und frei des Maigewitters Atem geht Und junger Regen erfrischend fällt Über unserem Vaterland, Über unsere Trauer, Über unsere Armseligkeit. 32
Alexander Galitsch Warnung Oj, ihr Juden, keine Livreen sollt ihr nähen, Nie werdet ihr als Kammerherren gehen! Doch grämt euch nicht, ächzt nicht ohne Not, Denn für euch ist kein Platz im Senat, im Synod. Im Kerker der Solowki-Insel müsst ihr vegetieren, Und Schuhe ohne Schnürband tragen, Samstags nicht mehr „Lechajim“9 sagen, Und zum Verhör wird euch ein Posten führen. Solltest du aber mit Salböl handeln, Dich zu einem nützlichen Juden wandeln, Darfst du dich nennen: Rosinant, Und trägst auf dem Gehrock ein Achselband. Und sollte dir dieses Gewerbe gelingen, Wirst du es doch niemals zum Kammerherrn bringen, Salböl ließ noch nie einen Orpheus erstehn, Drum rate ich, Juden, näht euch keine Livreen!
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Der Zug (Dem Andenken des jüdischen Schauspielers und Regisseurs S. M. Michoëls 10 gewidmet.) Lang schon nicht mehr Erfüllt uns Zorn, tun wir Missfallen kund: Wir grüßen jeden Lumpenhund Und buckeln vor Polizisten! Nicht auf Kampf, nicht auf Suche sind wir aus – Ist doch alles korrekt und gerecht. Doch bedenke: Der Zug ist zur Abfahrt bereit! Hörst du? Der Zug, er fährt, Heute und alle Zeit … Und wir reißen Witze, sind Späßemacher. Die Scharwenzelei der Widersacher Kommt uns wie Wasser aus Brunnen vor! Aber irgendwo über Gleise, Gleise Rollen Räder, die Räder, die Räder … So unbekümmerten Gemüts sind wir, Dass ohne sonderliche Mühen Der ungewohnte Weg Uns die kürzeste Entfernung scheint. Bezahlt ist der Versicherungsschein, Die Zarewna hat das Mahl bereitet … Doch bedenke: Der Zug ist zur Abfahrt bereit, 34
Heute und alle Zeit … Abdichten werden wir den Boden, die Wagenfenster verhängen, Auf dass unser Paradies nicht endet, verwaist. Und irgendwo über Gleise, Gleise Rollen Räder, die Räder, die Räder … Vom Jahrhundert-Elan in die Schlafgleiche geworfen Leben wir, schon nicht mehr als lebend gezählt. Und ist kein Rest von Gewissen mehr – Genehmste Absonderlichkeit! Und manchmal nur regt sich im Herzen Beklemmung, Erbitterung: Nach Auschwitz fährt unser Zug! Nach Auschwitz fährt er uns! Heute und alle Zeit … Und unseren Schicksalen gleich, Mitsammen nach oben, mitsammen hinab, Doch ewig über die Schienstränge, das Herz und die Haut – Rollen Räder, die Räder, die Räder! 1964–1966
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Requiem für die Überlebenden
(Vorrede zu einem Gedicht für all jene, die am Leben blieben: Als der Sechstagekrieg begann, wohnte ich außerhalb der Stadt und mein Transistorradio ging nicht mehr, sodass ich zwei Tage und Nächte lang nur die offiziellen Rundfunkberichte hören konnte. Aus diesen Berichten schuf ich mir – wie auch anders – ein völlig falsches Bild von dem, was da geschah. Und am zweiten Abend schrieb ich Gedichte, die nicht der Wahrheit entsprachen …) Sechseinhalb Millionen! Sechseinhalb Millionen! Sechseinhalb Millionen! Nötig wären zehn zu rechnen! Liebhabern von exakten Zahlen Muss die Kunde Genugtuung sein, Dass es nicht allzu schwierig ist, Den kläglichen Rest Zu verbrennen, erschießen, erhängen, Mangelt es doch an Erfahrung nicht! Solch eine Finsternis über der Welt! Solch eine Finsternis über der Welt! Solch eine Finsternis über der Welt! 36
Wie absichtslos sticht man ein Auge aus! Und jeder Schuss, blind abgefeuert, Droht grenzenlos mit Unheil. Warum nur drängt es dich so zügellos, Du Schönling, des Faschismus Mündel, Geziert mit unserem Orden, Dem Goldenen Stern?11 Mag sein, du hast es dir erdient, Mag sein, du hast es dir erdient, Mag sein, du hast es dir erdient, Gewissenhaft und um der Ehre willen! Auf wen aber senkt wie ein Schatten sich Die ach so gerechte Ehrung?! Bist du mit Pawlik Kogan vorgestürmt, fiel Aaron Kopschtejn neben dir bei Wyborg? Ein dünnes Fädchen Rauch, Ein dünnes Fädchen Rauch, Ein dünnes Fädchen Rauch Steigt Eva zum Himmel auf. Nieder stürzt auf den Appellplatz Adam, zu Tode geprügelt! Du schreist vielleicht auf in der Nacht Vor Zorn und vor Bedrängung, Trägst deine Orden für alle, Die dort geblieben sind!
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Der Güte und der Ehre Stimme, Der Güte und der Ehre Stimme, Der Güte und der Ehre Stimme Verhallt in unserem Jahrhundert der Vernunft! Doch unser Gebet wird empor Bis in die siebten Himmel getragen! Tötet nur Frauen und Kinder! Und rührt nicht an Gottes Grab! Blut ist teurer als Erdöl nicht, Und Öl ist unerlässlich! Im Namen des Vaters und des Sohnes … Im Namen des Vaters und des Sohnes … Im Namen des Vaters und des Sohnes … Werden wir zur Nachtzeit des Satan gedenken, Rollen Panzer durch Sinai, Und schwarzes Blut mengt sich mit Wüstensand! Um dreieinhalb Millionen Ist offen noch die Rechnung! Das sind doch wahrlich nicht zu viele – Wahrhaft Geringfügigkeiten! 1967
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Joseph Brodskij * * * Der jüdische Friedhof bei Leningrad. Der schiefe modernde Sperrholzzaun. Seit an Seit liegen hinter dem schiefen Zaun Juristen, Händler, Musiker, Revolutionäre. Sie sangen für sich, Sie sparten für sich, Für andere sind sie gestorben. Zuerst aber zahlten sie ihre Steuern, Respektierten den Hauptmann der Polizei, Und blieben in dieser hoffnungslos materiellen Welt, Den Talmud auslegend, Idealisten. Mag sein, sie hatten mehr gesehen, Mag sein, sie hatten blind geglaubt. Doch den Kindern brachten sie Nachsicht bei, Und lehrten sie Beharrlichkeit. Sie säten kein Brot. Nie hatten sie Brot gesät. Sie legten einfach sich selbst Wie Samen in den kalten Boden. Danach warf man Erde über sie, Entzündete Kerzen. Und am Tag des Gedenkens Tönten krächzend vor Kälte hungernde Greise mit hohen Stimmen 39
Von ewiger Ruh. Sie fanden sie. Wie Materie zerfällt. Erinnernd nichts. Und nichts vergessend. Hinter dem modernden Sperrholzzaun, Vier Kilometer vom Trambahnring.
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Wladimir Rezepter Requiem „Der Jude. Am Abend in der Jünglingsblüte, heute tot, trugen vier Greise ihn auf krummen Schultern zur Grabesstätte hin.“ Puschkin „Der geizige Ritter“ Vier Juden schritten an uns vorüber … Plötzlich sprühte das Licht, die Fackel erstarb. Mir schien, als schwankte auf den alten Schultern, Dem allzu früh verblichnen Jüngling gleich, Der in den sinnbildhaften Zeilen zum Friedhof gleitet, Ein Knabe, ausgezehrt und bleich. Ringsum breitete sich grenzenlos der Totenacker, Den die Pest des Holocaust bestellt, Wo Brüder, Schwestern meines Blutes Mich verdammten, weil ich – kein Jude wär, Ein Paria, ein Renegat, ein Überläufer, – und war doch Von Geburt in ihre ewigen Leiber eingegangen. Einmischte sich die Trauerweise einer Geige, Der Geiger sprang von Dach zu Dach, Und hin bis an den Erdenrand erhoben sich die Juden Als könnten sie mich nicht fahren lassen … Und in der Nacht erschien mir, lange nicht gesehen, 41
Mit Moskaus Gruß ein Dichter und gemahnte mich, Auf die Ikone blickend, an jenes Sprichwort Von dem Pferd, das man vergebens zu kurieren sucht, Das sich auf den getauften Juden reimt, Und dem ewig zwiefache Verdammnis droht. Die Nacht verging … Und in mir und ringsum Klang auf, schwoll an ein trostloses Orchester Und intonierte einen Trauermarsch … Und aufgerufen und getrieben Wankte ich, als Ewiger Jude, hinterdrein … Dann erklang ein Choral über dem Weg, Spielte mein Großvater – Schauspieler, Tollkopf, Renegat wie ich, – Ächzend das Lossagen des Uriel Acosta12… Familie – Rettung, Tod, Versucher, Und Gegner, Liebe und Verdammnis! … Im Dunstkreis der Gemeinschaftswohnung Wuchs auf der blasse Jüngling, morgens Pionier, Ein Blinder, Musterschüler, treu der Stalinjugend, Und mittags ohne Glauben schon – im Komsomol – wie alle, Dumpf, nicht koscher mehr und gefahrvoll die Kost … 42
Salieri spielend goss Gift ich in den schwarzen Pokal, Und Mozart spielte sein Requiem, Nur war ich selbst Mozart in jener Szene! … Und Kain und Abel und mein Untergang … Das Cremoso erklingt … Und eine Rotte von Vampiren Grölt trunken, dass auch Mozart – Jude sei Und nur für Auschwitz tauge! Und an dem verwünschten Tag Liegt bei den Birken hingemeuchelt Menj.13 Er vergibt dem Mörder. Und lärmend höhnt Die kreuzbewehrte Meute den dreckigen Juden in ihm. Die Chöre, das Orchester tönen fort, Und Greise tragen den toten Jüngling. Von den blutgetränkten Feldern eilen Die Musikanten aus schwarzen Baracken … Und ich, der Jude, schiebe die Schulter Unter diese Schicksalslast Und trage den Sarg mit mir selbst zum Grab. … Schweigend sitz ich, die Faust unterm Kinn, Denke an diese und jene – ein Paria, ein Fremder, Trinke neuen Wodka, blicke auf den Tisch, Wo belebend das Taufwasser eingedrungen, Und höre das alte Lied von dem Preis, Den es kostet – Christus zu folgen … 2005 43
* * * Mit meinen alten verdorbenen Augen Lese ich die Briefe von der Front, Höre lebendige Stimmen, Und der Sippe Schatten treten vor mich hin. In Koppelzeug und Soldatenmänteln. Aber immer gebeugter, gewaltiger wachsen sie auf. Ihre Augen – Trauer, Entsetzen. Ihre Münder – „Leb wohl und gedenk! …“ Hinter ihnen – der schwarze Krieg, Des Tyrannen, des Götzen Schatten. Und sie führen Namen im Munde, Die selbst ein Shakespeare nicht geahnt. Hannan, Naum und Moische – Meine biblischen Ahnen – Drei meiner Mutter Brüder Bereiten mich vor auf den Tag des Gerichts. „Moskau“… „Anapa“… „Stalingrad“ … Sie strecken die Arme mir entgegen … Ihre ehrlichen Knochen schmerzen. Ihre Briefe sind von der Zeit verwischt … Abschreiben will ich ihre Zeilen, Nicht glaubend, dass der Sieg schon nah … Dank dem Bleistift Wird der Briefe Austausch wieder aufgenommen … 44
Ilja Ehrenburg * * * Weil wir Esfiras Mittagsglut, Der Pomeranze Herbheit wie den Traum Selbst in der kalten Welt bewahrten, Wo Vögel schon im Flug erstarrten, Und weil durch uns die Sorge spricht, Weil nur der Mond uns nicht erlischt, Der Weg verschlungen ist und blind Und unsagbar salzig die Tränen sind. Anders geworden – unsrer Mädchen Haar, Und Augen, Akzent nicht mehr vertraut – Sind wir nicht mehr. Blieb Kälte nur. Uns sticht das Gras und brennt der Stein.
* * * Wie mit Aussatz behaftet, Halbtote schon, Ziehn die Rachilis, die Chaims und die Lis. Von Steinen verätzt. Und blind und taub Ziehn Greisinnen, schuhlos, dem Tod entgegen. Ziehn kleine Kinder, nachts dem Schlaf entrissen, Vom Tod getrieben, von der Erde verschmäht. O Gram! Aufriss die alte Wunde – Hannah war auch meiner Mutter Name.
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* * * In dieses Getto wird kein Mensch gelangen. Menschen atmen da und dort. Und hier die Gruben. Die Tage eilen irgendwo auch jetzt. Keine Antwort erwarte – wir sind allein – Weil voller Gram du bist, Weil du den Stern tragen musst, Weil dein Vater nicht wie die andern ist, Die besorgt sind – um ihre Ruhe. * * * Vor Zeiten ward einzeln umgebracht, Doch Fortschritte hat die Kenntnis gemacht. Vielleicht sind wir die zu Späten schon, Oder, mag sein, die allzu Frühen noch. * * * Ein Listenführer saß in Auschwitz Und zählte nicht ärger als eine Maschine – Von wie vielen Säuglingen, Müttern Das Haar gewonnen ward.
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* * * Schon verbrannt sind die Verwandten alle, Die Haltetaue überprüft. Doch plötzlich löste Vom Ufer sich ein leerer Kahn, Nahm ohne Visa und entgegen der Physik, Sich in die Luft erhebend, Kurs auf das, was ihm die Sterne waren. * * * Als sie noch die Gesuchte war Und der Gesuchte nah bei ihr, Und sie ihm noch gewogen, Gab sie ihm ihre Locken hin. Ein Stern fand mein Gefallen. Lang schon sah man nicht dergleichen: Obschon sie keine Schönheit ist, Ist sie doch ohne Falsch.
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* * * Dort irrt die Geschichte nicht umher, Dort ist der Gedanke noch nicht vergeben Und nur die Infusorien sehen, Was wir die Sterne nennen. Flieg, Liebste mein! Denn das ist die Unsterblichkeit –, Nicht zu benennen, zu errechnen nicht Umkreist sie nur sich selbst.
* * * Hiob durchwühlt die Aschenreste, Rauch frisst sich in die kranken Augen, Und was hier war – ist nicht mehr. Und niemand ist und nichts. Still erkalten Schutt und Asche. Da liegt nun seine wüste Öde, Er gab nicht nur die Heimstatt hin – In meinem Herzen hinterließ er Leere. Ich dringe nicht durch diese Nacht. Wozu sprach ich von Bruderschaft? Wozu erklang in den Bergen das Horn? Wozu hab ich deine Stimme bewahrt? Halt inne. Denke nach. Wir wussten nicht, in welchem Glück wir uns versuchten. Nichts ist mehr. Asche nur, noch menschenwarm. 48
* * * Präge dir diese Grube ein. Alles hast du erfahren: Den Rachen der verbrannten Stadt, Des gemordeten Säuglings schwarzen Mund, Das Handtuch, vom Blut rostig rot. Verstumme – kein Wort kann mildern das Leid. Willst du trinken, suche nach Wasser nicht. Nicht Wachs noch Marmor sind dir gegeben. Und merke – obdachloser als du Ist kein Vagabund auf dieser Welt. Lass dich von Blumen nicht verleiten: Auch sie sind blutbefleckt. Alles hast du gesehen. Präg es dir ein – und lebe.
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David Samojlow * * * Unausrottbar ist der Juden Same. Wie man ihn noch so grausam ausgerissen, sind wir seit siebenhundert Jahren Name und nicht Stamm, ein Leid, das sich im Fleisch verkörpert hat. Haftbar für alle Sünden des Orients, Spaniens, Deutschlands und der alten Rus, Verlange jetzt also nicht Aug um Aug, Nicht Rufer in der Wüste sei, erhebe nicht die Stimme. Schonung wird Greisen nicht noch Säuglingen gewährt. Jeder Mächtige ist schwach, und aufbegehrt der Schwache. Es raucht, raucht Auschwitz, nie gewesen, und im Babij Jar14 tun sich die Gruben auf. Doch wenn der Menschheit Friede wird Und niemand den Nächsten mehr verhöhnt, Mag sein, dann sind wir bis zum Letzten nicht mehr da. Ich stieß die Tür auf, knöpfte zu den Mantel.
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Semjon Lipkin Hof in Wilna Nicht Schilder, nicht Familiennamen sind vonnöten. Ohne Schriftzug begreife ich alles auch so. Die Steine reden, sagen mir: „Hier haben sie gelebt, Und niemand wird mehr um sie weinen.“ Und sie lebten, wie sich zeigt, gleich neben Dem gotisch bischöflichen Hof Mit dem Schlüsselbewahrer – Sankt Peter, Und standen der niederen Schlachta nah. Und Pan Jesus, dürftig sein Gewand, Weinte zuweilen auch um ihre Seelen. Sie sind nicht mehr. Im Getto, mittelalterlich, Kein Kraushaar mehr und keine langen Nasen. Und nur im Hof der Universität, Unter dem Bogen, wo das karge Licht einfällt, Und die Möbel des Kontors im Speicher stehen, Sehe ich unvermutet meinesgleichen, Reglos, dennoch wie am Leben geblieben, Maria, Johannes, Joseph, gemeißelt aus Stein … Und es hört der uralte Hof, Wie wir reden im Alltagsgeschwätz. 1963
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Kurzberichte Davon, wie Schwert und Flamme grausamer Horden Den östlichen Stadtstaat vom Antlitz der Erde wischten, Gelangte auf uns Dieser kurze bedeutungsschwere Bericht: „Sie kamen, sie raubten, sie brannten nieder, Brachten Tod und Vernichtung und zogen ab.“ Von jenen, die heute die Welt ins Dunkel kehrten, Tun mit gleichem kurzen Bericht wir kund: „Sie kamen wie Seuche, wie schwarze Pest, Sie zogen nicht ab, lösten sich auf in uns!“ 1979
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Moses Durch des Konzentrationslagers Pfade, Wo schlaflos die Nacht, wie im Kerker, Durch die Kanalisation Inmitten von Spülicht und Dreck, Auf allen deutschen, sowjetischen Polnischen und anderen Pfaden, Über alle Schultern, alle Leichenkammern, Durch alle Leidenschaften und jedweden Tod Ging ich. Und furchtgebietend, seelennah, Erschien zum ersten Mal mir Gott, In der Gasöfen lodernden Flamme Des biblischen Dornbuschs, der nicht erlosch.
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Kriegslied Was stimmst du an das Lied vom Krieg … Dershawin Grauer Himmel. Feuchte Gräser. In der Grube der Jungfrau Maria Ikone. Der Feind zieht ab. Wir haben gesiegt. Nicht denken darf man, nicht weinen. Ein totes Lamm. Und tote Hütten. Inmitten der Ruinen – unsere Soldaten. Leer ist’s im Lager. Ausgeglüht die Öfen. Nicht denken darf man und nicht weinen. Entsetzlich, bei Gott, ist es hinter dem Grundstück dort. Mit starkem Wodka füllt die Becher, Burschen, Bald führt der Weg uns weiter, harrt unserer der Lohn. Und bis zur Parade kein Weinen mehr. Schwarze Öfen und Seifensiedereien. Hier mühten sich preußische Lümmel. Wo sind diese Kerle geblieben? Nicht denken darf man. Wir haben gesiegt. Nicht weinen darf man mehr. In einem Waggon, in halb geöffnetem Leib – Ein Kinderkörperchen. Ein Koffergrammophon rotiert. Vermutlich dreht der Wind die Platte. Es versagt die Kraft zu hören. Man darf nicht weinen. Im Todeslager sind die Öfen ausgekühlt. 54
Es dreht sich das Lied. Wir haben gesiegt. Schlag, Mutter, deine Tochter in ein Laken ein. Sing, Balalaika, weinen kann man nicht. 1981
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Asche Erkaltete Asche war ich, Ohne Gedanken, Sprache und Gestalt, Doch trat ich hinaus auf den irdischen Weg Aus dem mütterlichen Leib – aus dem Ofen. Das Leben noch nicht verstanden Und den frühen Tod nicht beweint, Ging ich zwischen bayerischen Gräsern, Und menschenleer die Baracken. Langsam glitten durch die Dämmerung „Volkswagen“ und „Mercedes“-Karossen, Und ich hauchte: „Verbrannt hat man mich. Wie gelange ich nach Odessa?“ 1967
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Wladimir Lifschiz Dänische Legende Die Deutschen besetzten die Stadt Leichthin, im Laufschritt, ohne Kampf. Und nur eine Handvoll Gardisten In schwarzen Bärenfellmützen Verließ nicht den Posten vor dem Palast. Sie eröffneten das Feuer auf den Feind aus ihren plumpen, ihren uralten Karabinern. Und still wurde es in Kopenhagen. Die Preise für Nahrung und Gas stiegen an. Im menschenleer gewordenen Hafen Liefen U-Boote im Dunkeln ein. Und nachts ward ein gedruckter Befehl An die Mauern geklebt: Alle Juden Haben gelbe Zeichen anzulegen! Das war für sie, sagte man, der Anfang vom Ende. Und an dem gewissen Tag, Der heute Legende geworden, Trat zum Spaziergang durch die Stadt Aus dem Palast der König ohne Hast, Am Arm eine gelbe Binde. 57
Dies stumme Signal ward aufgenommen Von den Leuten in Kopenhagen. Und der Gebieter der Gestapo Jagte Im „Volkswagen“, unscheinbar, Durch die Straßen mit den Geschäften, Zum Bahnhof, Zum Rathaus, Zum Hafen, Und am Kanal entlang –. Und mit der gelben Binde am Arm Ging schon ganz Kopenhagen! … Mag sein, so war es oder auch nicht, Doch nicht umsonst erzähle ich euch die Mär, Denn golden leuchtet Andersens Licht in ihr, wie die Hoffnung so schön. Im zwanzigsten Jahrhundert.
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* * * Wenn ich immer öfter höre: – Er ist Jude, zu wenige Juden haben die Deutschen verbrannt, werden rascher mit ihnen fertig, denn Spitzbuben sind es und hielten sich abseits vom Kampf, – sage ich mir mit Spott hinterm Lächeln: Dank euch, o Bürger, für eure Direktheit, Ihr löst mir alle meine Zweifel. Ich brauche nichts mehr zu wissen, Ihr springt mir selber bei, und ruhig segne ich meinen Sohn auf dem ferneren Weg. Erwogen ist alles, in Betracht gezogen. Zu alt bin ich. Mich werdet ihr nicht kränken. Doch möge mein Sohn in der Lage sein, euch nie zu hören noch zu sehen.
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Jan Satunowskij * * * Zu Ende geht unsere Nation von Diskriminierungen verzehrt. Aus den Chaims wurden Efims und aus den Srulikis Serafime. Man hört auch nicht mehr aus der Synagoge das illegitime Gemurmel. Auch den Markisch gibt es nicht mehr Und den Michoëls nicht. Und auch ich fühle mich nicht gesund.
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* * * Niemand ist auf der Welt Begehrenswerter Als dieses unschöne Mädchen, Unser Aschenputtel Elke. Ich könnte pflücken Und verzehren Die Sommersprossen, Rosinen gleich, Von Elkes Hals. Und wo ist ihr Haus? Hinter der Furt. Und wonach duftet sie? Nach Honig, Elke, ein Hänfling nur. Spielt, Ihr Judenkinder! Lasst die Geige, Die Flöte erschallen! Noch sind nicht angezündet Die Kerzen von Auschwitz für euch.
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Naum Grebnew (Nach Texten aus der russisch-jüdischen Volkspoesie.)
Sie nannte mich Sjamotschka „Mein lieber, mein teurer Sjamotschka“ – So sprach die Mutter zu mir. Meine Mama, Mütterchen, Matuschka, Wo nur suche ich nach dir? Liebevoll nannte mich „Kindlein“ Mein leiblicher Vater, der mich umsorgt, Doch bin ich jetzt nur noch ein – Zweiglein, Im Frühjahr schon verdorrt. Und meine ältere Schwester, Wie war sie so lieb und so sacht. Wo bist du jetzt, zärtliche Esther? Gestern hat man dich fortgebracht. Auch Bruder Schlemele ist nicht mehr, Er spielte vor Tagen noch unverdrossen Wo man den Kindern das Spielen verwehrt – Ein Wachmann hat ihn erschossen.
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* * * Rauchwolken steigen aus den Lageröfen, Ruß senkt sich allenthalben nieder, Und auf dem Platz – … Spielt ein Orchester Schlagerlieder. Was ist das, ach, was ist das nur, Woher nur diese düstere Last? Sieh, o mein Gott, Was du erschaffen hast!
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Die letzte Station Der Güterzüge Rattern schluckt das Stöhnen in den Wagen, Sie fahren nach West und nach Ost ohne Ruh’, Und jeden Tag, den Gott gegeben, rollen Züge Auf unser unglückliches Städtchen zu. Belz, unser kleines Belz. An der Station verschwinden die Gefährten, Und nirgends bleibt von ihnen eine Spur. Für jeden, den die Züge hergebracht, Gibt es nirgendwohin eine Wiederkehr – Nimmer und nimmermehr. Die Lok, sie schnauft, es poltert der Zug, Und drinnen wird röchelnd die Welt verflucht, Ein Kind ruft die Mutter, die antwortet nicht, Ist nicht mehr von dieser Welt. Belz, unser kleines Belz. An der Station verschwinden die Gefährten, Und nirgends bleibt von ihnen eine Spur. Für jeden, den die Züge hergebracht, Gibt es nirgendwohin eine Wiederkehr – Nimmer und nimmermehr. Es keucht der Zug und schleppt sich müde, Nie fuhr er jemals so viel Leid. Das gab es seit die Welt erschaffen 64
In vielen hundert und tausend Jahren nicht. Belz, unser kleines Belz. An dieser Station verschwinden die Gefährten Und hinterlassen nirgends eine Spur. Für jeden, den die Züge hergebracht, Gibt es nirgendwohin eine Wiederkehr – Nimmer und nimmermehr. Man möge Kiesel auf die Gräber legen, Auf dass die Lebenden sie zählen können. Und nicht geringer ist der Kiesel Zahl Als wir, die hier und nicht hier umgekommen. Belz, unser kleines Belz. An dieser Station verschwinden die Gefährten Und hinterlassen nirgends eine Spur. Für jeden, den die Züge hergebracht Gibt es nirgendwohin eine Wiederkehr – Nimmer und nimmermehr. Möge von uns Todgeweihten jener, Dem dennoch es gelang, von hier zu fliehn, Kommen, die Kieselhäufchen zu besehen Und sie den anderen zu weisen. Belz, unser kleines Belz. An dieser Station verschwinden die Gefährten Und hinterlassen nirgends eine Spur. Für jeden, den die Züge hergebracht Gibt es nirgendwohin eine Wiederkehr – Nimmer und nimmermehr. 65
Wenn alle Schlachten schon geschlagen sind, In denen du und ich nicht überlebt, Dann wird in zweimal hundert Jahren noch Der Wind das Kaddisch15 für uns singen. Belz, unser kleines Belz. An dieser Station verschwinden die Gefährten Und hinterlassen nirgends eine Spur. Für jeden, den die Züge hergebracht Gibt es nirgendwohin eine Wiederkehr – Nimmer und nimmermehr.
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Zeit zu schlafen – Söhnchen, mein Bübchen, Es ist jetzt Zeit zu schlafen. Ich lege dir unter dein Jüpchen, Schieb es dir unter die Seit. – Ach, Mama, mir ist kalt Hier in dem Keller zu liegen. Kaum werde ich hier schlafen, Will auf den Vater warten! – Mein Söhnchen, du mein Trost. Alle Kinder schlafen schon. Und auf den Papa musst du nicht warten: Er kehrt nicht mehr zurück. Alles, was du am Tag gesehen, Vergiss es, du musst jetzt schlafen. Sonst kommt der Natschalnik Friedel,16 Kommt, um uns zu holen. Der Posten stürzt zu uns herein Und ruft: „Da ist ein Befehl! Morgen früh wird’s für euch Auf die Reise nach Auschwitz gehn!“
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* * * Lieb Mütterlein, um Gottes willen, Sei mir nicht gram, erkläre mir, Warum wir so viele waren Und ich bin jetzt mit dir allein? Warum ist unter diesem Dach Die enge Pritsche – unser Bett? Wir hören hier kein gutes Wort, Hier können sie nur schreien. Was meint man, Mama, wenn man Razzia sagt ? Warum, kaum geht die Sonne auf, Müssen die einen links, die andern rechts Ans Tor, teilt man sie auf wie Vieh? Mama, wann gehen wir von hier fort? Und warum weinst du wieder? Wenn du willst, frage dich nicht mehr, Dann musst du keine Antwort geben!
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* * * Da war alles, da war Freiheit. Lang schon her? Drei Jahre nur. Und es war die Familie, war das Haus, Und Mutter lebte und der Vater, Und alles gab es in der lichten Welt: Meinen guten Mann, die Kinder, wohlgemut. Ich war ich selbst Und konnte ohne Bewacher gehen, Tünchte Wände, knetete Teig. Wo ist meine Kraft geblieben? Wo sind, die ich einst geliebt? Alles, was war, gibt es nicht mehr! Hätte ich nur ein Winziges noch. Aber kein Krümchen ist mehr da. Alles verging in der düsteren Wolke Hinter dem Stacheldrahtzaun. Ich weiß nicht, was ich noch ersehne, Begreife nicht, dass ich noch atme. Allein der Mond glänzt noch, Und nichts versteht er, Nichts.
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* * * Ich weiß noch, Donnerstag war unsere Hochzeit, Und Freitag früh ereilte uns das Unglück. Am Sonntag färbte sich rot von Blut Der trostlose Fluss bei uns. Weder Alte noch Kinder verschonten die Feinde, Sie erschossen die einen, ertränkten die anderen, Erwürgten den Vater und lachten dabei, Mordeten die Gattenmutter, Und schändeten die Schwester. Und mein Mann, der sanfte Korporal, Musste auf einer Geige Lieder dazu spielen. Irgendwo schoss man, ertönte Gestöhn, Wurden Menschen getötet bei Geigenklang. Nur ich allein kam davon, kam hierher, Hatte mich tot gestellt unter Toten, Bin Waise und Witwe in einem nun, Und singe, kaum lebend mehr, dieses Lied.
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Naum Korschawin Vorrede zum Poem „Jahrhundert-Ende“ Unteilbar ist und müde und voll Wunden Die Erde, auf der wir leben. Ach, hätten wir, die aneinander leiden, von Wärme doch nur einen Hauch. Ich schreibe nicht, um Deutschland meine Rechnung aufzumachen, In ihm den Grund zu finden für das ewige Übel in der Welt. Vergeben? Alles? Nein. Noch längst ist das nicht Geschichte. Frisch ist die Wunde noch, die bis heute in den Seelen lebt, Noch stehen in den Lagern Die Überreste der Verbrennungsöfen, Sprießt dichtes fettes Gras Im Babij Jar. Es sei dir Trost! Nicht wir – Deutsche sind das gewesen. Nur einen Augenblick Gehör! So sei es, Und keiner komme hier davon Der Fritz mit Spitznamen hieß! 71
Es waren die Gleichen wie wir, neben uns, in Deutschland, Hier, auf dem runden Planeten wo die Natur keine Grenzen kennt. Das alles ist – unser Leben, wo Habgier Sich hinter Größe versteckt, Wo alle Nationen sich streiten: Nicht dein ist die Erde – mein. Menschen, besinnt euch doch! Was sind euch alle Unterschiede Vor dem, was allen gemein und Leben oder Nichtsein heißt!
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Die Welt der jüdischen Stetl Die Welt der jüdischen Stetl – nichts ist von ihr geblieben. Als hätte Vespasian sich hier ergangen mit Brand und mit Getöse. Kein frivoler Metzger wird mehr seine zotigen Witze reißen, der Kutscher auf der Chaussee nicht mehr singend die Pferde peitschen. Dergleichen gewohnt, kann mich nichts mehr wundern. Mein alter Vater jedoch … Ihn braucht man trotz allem nur zu fragen, wie man am hellen Tag die Menschen dem Verderben entgegengeführt und die Kinder weinten vor Schreck inmitten der Hölle. Mein erblindeter Vater – er hat diese Welt gekannt und geliebt. Und mit zitternder Hand, weil seine Augen nicht mehr sehen, wird die Häuser er, die Grabmale und Synagogen ertasten – Die Welt der vertrauten Bilder, aus der er einst gekommen, der vertrauten Bilder Welt, die niemand ihm zurückholen kann. Und sollte den Deutschen jede Kugel mit einem Jahrzehnt vergolten werden – Trotz allem wird der Schlachter keine zotigen Witze mehr reißen, der Kutscher nicht mehr singend die Pferde peitschen auf der Chaussee.
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Kinder in Auschwitz Männer peinigten die Kinder, Rücksichtslos und wohlbedacht, Hatten das Quälen zum Alltag gemacht, Drangsalierten mit Absicht die Kinder. Sie ließen kaum einen Tag vergehen, an dem sie nicht fluchten und scholten … Die Kinder jedoch konnten nicht verstehen, was die Männer von ihnen wollten. Wofür das grundlose Höhnen und Schmähen, Die Hunde, der Hunger, die Schläge, das Bangen? Erst glaubten die Kinder an Vergehen, Die sie in ihrer Unschuld begangen. Sie begriffen nicht, dass man ihnen verwehrt, Was allen doch selbstverständlich gewesen: Dass Kindern nach uralter Logik der Erde Der Erwachsenen Obhut gehört. Gleich dem grausamen Tod verging die Zeit, Und die Kinder zeigten Gefügigkeit. Doch wurden sie wieder und wieder geschlagen. Und niemand erlöste sie von der Schuld. Sie klammerten sich bei den Menschen an. Und sie liebten. Sie baten mit Flehen. Doch die Männer hatten „Ideen“ Und quälten sie stets von Neuem. Ich lebe. Ich atme. Ich liebe die Menschen. Doch stimmt das Leben mich nicht gelinder Sobald ich erinnere, was da war: Die Männer quälten die Kinder! 74
Poem vom Sein Babij Jar. Das war … Ich entsinne mich… September … einundvierzig. Ich war dort und bin dort geblieben. Nur hatte ich es vergessen. Das heißt, etwas gemahnte mich, doch ich dachte: Das sind die Nerven. Nun aber ergab sich: alles ist wahr. Man brachte mich unter die Erde. Plötzlich war ich dem Ersticken nah und erinnerte jäh mit Grauen: Die Schwere der Leiber … Bin voller Blut … Ich liege … Kann kaum mich erheben … Es ist ein privates Thema, Doch steckt auch viel Allgemeines darin – Und das bezieht sich auf alle, obgleich man an diesem Tag nicht alle gemeuchelt hat. Alles bezieht sich auf alle! Denn nicht losgelöst lebt die Seele Von dieser sich aufbäumenden Welt, wo die Menschen im Zwist sind mit Gott. 75
Ja, ich habe gelebt unter euch. Das zu vergessen ist tödlich für euch, Wie auch mir nicht das Recht ward, so viel zu vergessen. Ja, vieles, was war und was brannte: Das blendende Ziel, Das Vergessen menschlichen Grams, der Gründe dafür und der Folgen … Doch was kann man fordern von mir? – Erst Fünfzehn bin ich und wurde erschossen. Hier – Ohne zu kennen dieses Ortes Namen. Und obgleich ich in dieser Stadt gelebt, wo ich an Vernunft wie an Gott geglaubt, und alles wissen wollte, was war, und alles erraten, was wird. – Ich bin nie zuvor an diesem Stadtrand gewesen. Niemals. Kein einziges Mal. Und war ohne Ahnung davon, wie die Menschen hier in den Hütten gelebt. Heute habe ich es erfahren, habe sie in der Menge erblickt,
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Und in ihren Augen schwieg Apathie, erschreckend wie der Tod … Wie konnte ich wissen, dass irgendwann hier irgendwer sie ebenso beleidigt hatte – Sie mit Unwahrheit besänftigt und mit der Floskel, dass Leben – nun mal so sei. Ich flüstere: „Philister!“ – mit Hass und voller Schmerz. Alle tun wir oft dergleichen, sorglos und stolz. Ach, viel früher bin ich gestorben, noch ehe mir Zeit blieb, ich selbst zu werden, Ehe ich etwas sah und etwas verstand vom Leben. Erst Fünfzehn bin ich und habe noch fremde Gedanken. Alles, was mich bereichern könnte, ist mir noch verborgen – Und ich – bin am Ende schon. Meines Lebens Licht, des Lebens Sinn wurdest Russland, du. Doch bin ich mir vorerst auch des Wortes „Russland“ nicht mehr sicher. 77
Und so werde auch ich umkommen, Viel ärmer noch und geringer Als ich danach sein werde … Voll Scham erinnern sich diese Gedanken … Zum ersten Male sah ich hier erwachsener Frauen Hilflosigkeit, Verstand, wie schutzlos in der Welt sie und die Kinder sind. … Bis jetzt bin ich nur meinen Weg gegangen, habe nur an feste Regeln geglaubt. Was aber sind gewöhnliche Gefühle? – Der Weg ist – mein Element. Und jetzt bin ich bis zum Ende gegangen, – Auf einem anderen Weg, Jenem nicht mehr fernen – den andere mir bestimmt. Einst las ich in Zeitungen über sie, wie alle es gelesen. Ich glaubte: sie leben in Sklaverei. Sich quälend, nicht sehend das Licht. Ihnen zu helfen war mein Traum, Und sie, sie träumten von mir, – Dass ich irgendwann so diesen Weg gehen werde. Heute habe ich sie gesehen. Sie blickten achtbar und heiter. 78
Möglich, dass der Traum für sie der Glaube war, dass ich bald untergehe. Und ich ging durch die Stadt, wo eben erst die Kindheit geendet. Sie wendete die Blicke von mir ab, gab sich, als wäre ich – ihr fremd. Ich ging in der aufgetriebenen Menge. Und es gab verschiedene Menschen in ihr. Nicht alle hier konnte ich lieben, obschon mich das Eine mit allen verband. Ich könnte so nicht leben. Und froh bin ich, dass man mich umgebracht, Dass ich in mir selbst verging: Untragbar war mir diese Bürde. Nein, nicht der Untergang ist schrecklich! Wir wussten alle, dass wir sterben können, – In kommenden Schlachten, deren viele unserer noch harrten. Jedoch auf diese Weise nicht, sondern mit Sinn, mit Freunden und mit der Hymne sogar! … Nein, nicht der Untergang ist schrecklich, schrecklich allein ist solch ein Weg. 79
Nein, nicht der Untergang ist schrecklich, sondern der Weg durch das Spalier der Blicke, Durch unterdrückte Angst, durch Neugier und durch Schadenfreude: – Ganz recht geschieht euch, ihr Gesindel! So muss euch Hunden es ergehen! … – Ein Weib schrie erbittert in der Menge und konnte sich nicht genug damit tun. Dabei verging sie vor Gram, schrie ihn maßlos aus sich heraus. Tausend Jahre gleichsam hatte dieser Schmerz die Seele zerrissen, Sich ganz in der Seele verkrochen … Doch jetzt ward ihm das Recht Auf seine Feierstunde, ward er frei – und brach hervor. Er zögerte nicht, sich zu ergießen. Über alle. Wohl auch über mich. Um sich zu erheben, aufzufliegen, zu ergattern für alles von irgendwem … Und es jauchzte, frohlockte das Weib, – Und war doch elend, abscheulich – bis zum Erbrechen. 80
Und hinter ihr standen, aufgesträubt, hundert Jahrhunderte Finsternis, Zudem noch Betrug und dieses Jahrhunderts Herzlosigkeit – das mir Flügel verlieh und die Gabe, in Fernen vorauszuschauen, mich als Menschen begreifen ließ. Vielleicht auf Kosten ihres Glücks? Was kann ich darauf entgegnen. Doch das sind nicht meine Gedanken, zu klein bin ich, noch so zu denken. Auch ist es hier nicht angebracht … Aber warum bin ich, sind diese hier? Und was ist mir dieses Weib? Ihre Wahrheit ist grob gewebt. Indes, nicht alle, die litten, waren hier heute auf Blut erpicht. Nicht alle die litten, hatten Maß und Gesicht verloren. Und von wem ward ihnen das? Hier in der Menge bin schuldbeladen nur ich. Ich allein. Auf des Glaubens Flügel schwebte ich über dem Leid. Und war glücklich allein. Die Übrigen aber – 81
nahmen nur wenig Anteil daran. Sie lebten einfach und lebten, wie alle, in Elend und Not. Nur das Weib machte keine Rechnung auf, es schrie nur einfach so. Nicht um der Wahrheit – um der Bosheit willen, weil das Herz abhanden gekommen. Wenig war von ihm geblieben, und die Stadt wurde rasch mit ihm fertig. Nichts ließ sie übrig. Missgunst nur, unreinen Blick. Ja. Wer aber hat sie durch Hunger in diese Stadt getrieben, sie losgerissen von der Erde, von sich selbst, und von den einfachen Wahrheiten? Fremd ist mir diese Frage … Ich ahne nur schwach. Rückblickend sehe ich wieder das Weib durch des Geschehens Nebel Und plötzlich wieder aufs Neue alles – Da steht und blickt auf das Weib Ein SS-Mann, schmalgesichtig – „Krieger-Befreier“ in einem. Jetzt ist er der Sieger. Das ganze Leben auf seinen Schultern. 82
In seinem entsetzlichen Glauben Schicksalsschwert für die Menge der Verdammten. Alles hat er hier vorbereitet, und heute lernt er es kennen, das Land, Von der Höhe seiner Rasse herab … Sein Interesse ist akademisch. Ich habe solche schon gesehen – Enthusiasmus blitzte in den Augen. Prätendenten nicht nur auf die Macht – Auch auf des Geistes Größe, „Herren des Weltalls wart ihr und seid zu Läusen geworden“, – So sagte mir wer, Indes der Hausbesorger eine Greisin niederschlug. Von welcher Herrschaft sprach er? Nicht von Belang. Alles versinkt im Getöse. Und der SS-Mann blickt durch den Kneifer auf die Menge, das Chaos. Plötzlich traf sich sein Blick mit dem meinen. „Jude!“, knurrte er nur. … Ich bin irritiert, begegne ich Hass, gerate in Verwirrung. Es ist wirklich Schuld, die ich dann empfinde,
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Wissend gleichsam, aber verbergend vor mir selbst im Tumult des Alltags und der Dinge, Dass ich allein durch mein Wesen der Weltharmonie im Wege bin, Selbst nicht ahnend wie: Und jetzt ist das alles – enthüllt. Übrigens sind wir alle im Weg. Und es ist ganz natürlich, sich erst einmal Selbst für schuldig zu halten, so wenig das auch nützt. Ich bin einfach noch nicht verdorben – Bin doch Fünfzehn erst! Kann sein, ich habe wirklich geherrscht Und es war mir nur nicht bewusst. Vielleicht ist das alles wahr, sind wir in der Tat – alle anders? Alle in diesem Menschenhaufen, in dieser ganzen Menge: Schlosser, Studenten … Prokuristen … Verkaufsstellenleiter … Rabbiner … Ärzte … Schneider … Talmudisten … Parteimitglieder … Russische Intelligenz … 84
Ist das vielleicht wahrhaftig so? Nein, nichts ist wahr! Uns trennen – Träume und Schmerzen. Doch was erwidern darauf ? Menschen sind in jeder Menge – einander ähnlich. Mich aber sieht man hier nicht – Mich birgt das jüdische Schicksal. … Doch erst viel später fing ich an, über dieses Schicksal nachzudenken ........................................... Es gibt solch ein Schicksal! – Jetzt weiß ich es ganz genau. In ihm ist alles – Dummheit, Verstand, und Frechheit und Zagen – alles zusammen. Finsternis spiegelt sich in ihm wider – Die eigene und die fremde. Und Ehrlosigkeit – Die Ehrlosigkeit der anderen, die eigene Ehrlosigkeit. Es gibt solch ein Schicksal – den Kern irdischen Nichtgeborgenseins. Und die Verantwortung für alles liegt in der Schwermut noch vor der Geburt. 85
Man vergisst es, doch nur der geringste Anlass – und man erinnert es von Neuem. Und im Stillstand wie im Vorwärtsdrängen ist es der Bosheit Keim. Es gibt solch ein Schicksal! Auch jetzt und zu anderen Zeiten. Ich lebe auf Erden wie alle, und wie der Letzte der Letzten. Und bis heute ist es verlockend, mich zu opfern, – Alles auf mich abzuwälzen, was bei anderen nicht gelang. Und dieser Ursprung der Lüge verlockt von Neuem, wie nicht mal in uralten Zeiten. Und täuscht nochmals – Und nicht nur einmal ist das so gewesen. Weil wir Menschen sind – Und mich zu opfern ist billiger nicht als jedwedem Tort anzutun, – man muss nur erst die eigene Seele ins Verderben stürzen. Ich weiß es jetzt – Die Erde, wie einst, – ist von Gott. Uns alle bindet das Blut. – Auch mich. Und das ist allen bekannt. 86
Und man kann nicht auskommen ohne mich, – Selbst wenn das möglich wäre, und sogar wenn es störend ist, dass ich einen Platz einnehme. Gemeine Sünde, zu denken – wer noch von Nutzen und wer nicht. Die eine Unruhe sind wir, die eine Flamme, die uns verbrennt. Doch darf man von mir nicht sagen, dass das ganze Verderben in mir ist. Und selbst wenn es so wäre, bin ich einer von euch und mit euch geworden. Ein Knäuel – unsere Seelen. Und ohne Seelen – ist Liebe nicht und nicht Qual. Nur Leere und Träume von lärmendem Ruhm. Nur Eintönigkeit Und die Grausamkeit dieser Monotonie, – Ich bin nicht begierig zu leben Auf dieser Erde, wo mir das Recht versagt ist zu sein. Es gibt solch ein Schicksal! – Und in jedem Geschick gibt es das. Es findet sich unter allen, mit allen in übler Nachbarschaft.
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Denn bei Nachbarn – das ist bekannt – tritt das weltliche Übel offener zu Tage. Seit ewigen Zeiten gibt es Gründe genug, den Nachbarn im Auge zu haben. Es gibt solch ein Schicksal! – Gewöhnlicher Teil der gemeinsamen Hölle. Ich halte nicht viel davon, obschon man es oft beleidigt hat. Um wie ein Mensch zu leben, muss man sich von ihm lösen, sich wie aus jeglichem Schicksal – losreißen zu einem Gott. ........................................... Vorerst aber liege ich da Und habe noch keine Ahnung Von diesem blutigen Schicksal Und von dem göttlichen Thron. Immer wieder versuche ich zu glauben, dass ich im Kampf für eine Idee untergehe, und fühle Scham, weil ich nicht glauben kann … Und neben mir stöhnt ein Mädchen. Ich erinnere mich doch an sie: Kein Maschinengewehr, kein Ledermantel hinter ihr. 88
Tänze, Bücher, Burschen. Und klangvolles Siegeslachen. Die Frömmigkeit hütend verachtete ich sie als Kleinbürgerin. Doch so eine war sie nicht. Ein Mädchen nur – Kennend des Lebens Zeitweiligkeit und von Geburt an aller Freuden Wert – So einfach, wie es auch mir jetzt versagt. Aber sie liegt hier wie ich, und nirgendwohin werde ich Diesem Schicksal entrinnen können. Möge ein anderes mir näher sein. Mag ich mich auch nach diesem anderen sehnen, taumelnd wie vom Sturm durchweht … Doch des SS-Manns Blick – füllt sich mit Hohn, und unnachgiebig wird der meine. Er verachtet mich – denn ich liege im Blut – wie sein Führer es lehrt. Nun gut, ich habe schon verstanden, dass ich ihn auch verachte. Glaube? Ich glaubte auch. Und ich weiß, wie man sauber glaubt. Ich war sogar bereit, meine Wahrheit mit ihm zu teilen.
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Doch er hat für mich nur den Tod – nicht Schicksal und Wahrheiten nicht. Den Tod allein. Seltsam nur, dass darin die Idee besteht. Offenbar ist mir gegeben zu wissen, dass es keine Ideen ohne Allgemeinheit gibt, Und dass die Wahrheit immer – Sogar wenn es um einen wie mich geht, denn du bist ungerecht – Eine Wahrheit für alle ist. Oder es gibt überhaupt keine Wahrheit, Einfach nur berauschten Betrug, enthusiastische Verneinung der Wahrheit. Einfach nur frenetische Lüge, wo Sieg – nur Überwältigen ist ohne Regel, Und der Glaube daran, dass ein Davonkommen ist, (wie gut, dass es doch einen Glauben gibt). Die Gott nicht erreichten, sammelt auf dem Weg der Teufel auf. Das Höllenfeuer wärmt die Seelen, beinahe wie das göttliche. 90
Das zu wissen ist mir gegeben, obschon mit den bloßen Gedanken ich nichts davon weiß. Denn es ist kein Gott! Und ich bin meinen Vorstellungen, meinen Ansichten treu. In meinem Herzen jedoch schmerzt Bitternis wie eine tiefe Wunde. Und wie zuvor stöhnt hilflos das Mädchen neben mir, Nur dieses Mädchen – entkleidet – wie alle. Es ist von großer Zartheit, und sein Hemd ist voll Blut. Und der SS-Mann schaut – noch immer getreu seinem Zweck. Ich werde nicht so bald verstehen, dass auch er der Angst unterliegt. Auf seiner Brust – ein Kreuz. Und in den Augen schimmert Kraft. Stahl. Normierter Stahl – nach Härte und nach Färbung. Doch immer häufiger scheint es mir, Es war noch etwas anderes darin, Etwas, woran ich mich nicht mehr erinnern kann, obgleich ich es sah. 91
Allein den Hass erinnere ich noch – Und bin doch erst ganze Fünfzehn. Ich wusste nicht bis heute, und werde nun erst recht nicht wissen, Dass in und hinter ihm gemeine Angst nur übrig blieb, Dass nicht nur sie, sondern auch er in diesem „Jude!“-Knurren war, Dass der Hass, kaum zurückgeflutet, Wie ein Klotz auf das Herz sich legt, Und alles, was die Mutter dem Knaben im kurzen Jäckchen eingebläut, und alles, was allen im Gedächtnis blieb und was er jetzt erinnert – der Untergang ist. Wie einem Traumwandler am Dachrand das Erwachen kurz vor dem Sturz. … Und eher nicht wird er begreifen – Dass er selbst zerquetscht wird, wie eine Fliege. Dass der Hass hier – Treue ist. Man bemerkt den Gleichmut, mit dem man ausgestoßen wird. Der Köchinnen Leidenschaft regiert, schmückt sich mit des Geistes Schaffen und ist auf sich selber stolz …
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Und ist nur eine Rettung – die Begeisterung. Ach! die begeisterte Angst, die gemeine Angst! Heilige Einfalt! Das ehrliche Herz ist hohlen Phrasen erlegen. Und mit Begeisterung quittiert jeglichen Wahnwitz die Seele. Das ist ein Gefühl nur, doch das Gefühl ist – wie bekannt – prägnanter oft als die Vernunft. Und erhabener auch … Ach, das Gefühl! Nichts an ihm ist schändlich. Ist an ihm schändlich denn begeisterte Vaterlandsliebe? Begeisterung ist Mode heute. Verfestigt hat sich das Begeistertsein. Um alles gebracht sein, weiß das Gefühl, ist besser als um das Leben. Auch weiß es, dass quälen angenehmer ist als gequält zu werden. Und deshalb ist es einfacher, wenn in deinen Gedanken – Leere herrscht. Leicht ist es, mit dem Gefühl an Gefahren der Liebe und Brüderlichkeit zu denken, 93
Durch das Gefühl zu vergessen, dass es auch andere Emotionen gibt. Und seine Begeisterung zu bewahren und stolz zu sein, ihr treu zu dienen Und seine soldatische Pflicht erfüllend über Leichen zu gehen. Ach, deutsche Armee! Grenzenlos ist deine Unerschrockenheit! Aber feige Seelen bildeten deinen Bestand. Als Sklaven gingen sie über die Erde, mitgerissen von der Macht, Und lernten stolz zu sein auf das Fähigsein auf den Stolz zu spucken. Mit jedem neuen Sieg Wuchs die Sklaverei in ihnen. Mit jedem neuen Sieg Verkümmerte der Wunsch zu denken. Schneesturm deckte sie zu, blies ihnen in die Gesichter. Aber voll Stolz brachten sie den Einheimischen die Sklaverei. Nichts erfüllte sie mit Furcht, nicht Bomben, Bajonette, Kugeln. Sie fürchteten nur den Blick zurück – wo hinter ihnen Auschwitz rauchte. Sie sangen Lieder, trugen hoch den Kopf, 94
als die „Bismarck“ 17 sie hinabzog auf den Meeresgrund, Und verteidigten Berlin wie die Teufel die Hölle. Angst hatten sie – vor dem Blick zurück, vor unvermittelten Gedanken. Sie fürchteten die Desertion, die ihnen ärger als der Tod erschien. Denn das hieß, sich mit mir auf ewig in die Grube hier zu legen. Oder ins Lager zu geraten – Aus lärmendem Ruhm direkt in den Ofen. Und sie ertrugen das Übel, hartnäckig der Begeisterung verschworen, Und verloren das Recht Auf den Schutz des eigenen Hauses. Aber sie verteidigten es, obschon es kein Entrinnen mehr gab, Und tönten, wie einst, vom Glauben an den Sieg. Und dann verloren sie den Krieg, atmeten auf wie befreit– Mag sein, dass da etwas in ihnen war, worüber selbst ihre Gedanken schwiegen.
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Es stieß vielleicht sogar aufeinander die gellende Niedertracht des Jahrhunderts Mit der qualvollen Begeisterung des Sklaven, der sich selbst erniedrigt hat. Gleichviel, inmitten des Betrugs ist des Menschen Seele schutzlos ausgeliefert, selbst wenn er glaubt … das weiß ich nur zu gut. Nein, nichts weiß ich – doch werde ich es erfahren. Nicht heute. Und nicht einmal so bald. Ich bin erst Fünfzehn – Was kann ich dafür? Ich liege zwischen Leichen, nachdem ich durch die aufgewühlte Stadt gegangen, Und ich empfand den ganzen Tag, dass irgendwer mich hasst. Doch Hassen als Erwiderung? Das muss wohl sein. Aber so vieles Von beißender Niedertracht war in der Vergangenheit – Ich wurde taub von all dem Lärm. Übertrieben? Mag sein. Doch etwas war auch Wirklichkeit, Als das Weib schrie, als die Menschen düster schwiegen. 96
An etwas erinnern sie sich … (Hunger! …Wie Delirium so mächtig. Und ein Lastwagen vor dem Fenster, Leichen darauf – wie hölzerne Kloben). An etwas erinnern sie sich, und auch ich erinnere mich daran. Ich habe das nur „abgeschrieben“, glaubte, dass Erinnern – unklug ist. Wozu war mir beschieden, so etwas durch die Kindheit mitzuschleppen – Diese Grauen und Vereinsamten Mit ihrer apathisch stumpfen Bekümmernis. In Aufregung versetzte die Bewegung! Das Begehren – wie alle – ein Held zu werden … Ich sah ihnen ihr Schicksal nach, und heute vergibt man mir das meine. Ich sah ihnen ihr Schicksal nach, verwarf es – nutzloses Detail, Weil alles Leben – alle Worte! – ihm nicht gleichen. Gleichsam in der Tat könnten aus solchen niemals Helden werden, Gleichsam wurden alle doch geboren, um unter Bastmatten zu zittern. 97
Wenn aber nun ein Kabinett, eine Diwandecke ihr eigen, Wo das Vergessen nottut unter der Idee und der Flagge Schutz? Ist es denn wirklich ein Gesetz, ein irrsinniger Wettstreit: Wer wen eher opfert dem allgemeinen Wohl zuliebe? … … Wie kann ich das nur denken mit meinen fünfzehn Jahren? Die Tänzerinnen verfluche ich nur – In ihnen ist Philistertum und der Geruch der Fäulnis. Vom Feuer der Revolutionen träume ich – Vom Brennen und vom Kämpfen, Und leid tut es mir, dass man einst ohne mich die Kulaken niedergeschlagen. Und natürlich träumen mir oft die Tschekisten in Ledermänteln. In ihren Grausamkeiten sehe ich Heldentaten, in ihren Gesichtern – Antlitze. Und wie auch anders! – In der Schlacht um das Glück ist ihr Los – das Unglück zu tragen, Zu sündigen – um der Wahrheit willen.
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Und jene Sünde scheint mir wie der Heiligen eiserne Ketten. Selbst wie der Uneigennutz, dessen Heldentat ruhmvoller als das Wagnis ist, Und wie die Kommunion zum Strahlenschein, zu dem, was vor den anderen verborgen. Woher kann ich wissen, dass es lachhaft ist, ehrlich an seinen Uneigennutz zu glauben, sitzt man selbst auf dem Ross, und irgendwem tritt ins Gesicht – ein Pferdehuf. Blaue Romantik! Niedertracht! Oh, wie viel Blut, Wie viel von Schmutz verstehst du deinen Augen zu verbergen … Und der SS-Mann schaut. Er weiß, dass ich mit Schuld beladen bin, Und weiß, wie man jetzt verfahren muss mit mir. Rot leuchten über seinem Kopf die Blätter der Kastanienbäume. Und hinter seinem Rücken fangen, wie einst, Fenster die Sonne ein. 99
Stolz ist er, dass gerade er die Welt von mir zu säubern hat. Die ganze Erde wird erblühen, weil er hier nicht zurückgeschreckt. Richter ist er jetzt … Nein, Lüge! Mörder auf Befehl. Selbst werde ich mich richten, obgleich ich noch nichts weiß davon. Und neben ihm ein Mädchen streckte die Hand nach seiner Mütze aus: „Onkelchen“! Er fuhr nun doch zusammen, und eine Welle, stählern, lief über sein Gesicht. Mein Feind, des Mitleids Feind, er fuhr nun doch zusammen, zuckte einen Augenblick, doch dann … Bezwang er sich. Und wieder steht er, als zähle er die Reihen. Und ich beginne plötzlich zu begreifen, dass wir uns doch ein wenig ähnlich sind, – Weil auch ich Vom schweren Teil der Arbeit träume. Weil auch er, natürlich, lebt für eine Idee.
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Doch hat sie eine eigene Gerechtigkeit. Vor ihr ist schmeichelhaft – die Kommunion, Obschon sie einem weitaus schwerer fällt als eine gewöhnliche Idee. Und sie wäre heute für mich viel eher angebracht. Ich könnte aufbegehren, doch wage ich nicht mal mucksen, Denn Rechte, verletzt von den Feinden, schätzte ich selbst nur wenig. Was bleibt zu sagen! Es gibt die meine und die Gerechtigkeit der Feinde. Und bitter ist, dass die ihre die meine heut mit Füßen trat. Und das ist alles. Und ich liege inmitten aller, die hier hingemäht. Ich bin nicht mehr – Und es ist nicht einmal ein Traum, mich aufzurichten. Ja, eigene Gerechtigkeit ist nichts, wo keine Kraft ist ihr zu helfen … Nur habe ich das nie erfahren. Ich bin auf ewig Fünfzehn. Wie allen, wie auch euch, 101
trübte mir lange dieser Rausch die Seele. Und wie auch mir ist euch verständlich der Weihrauch falschen Stolzes auf den Zwist mit Gott. Ich weiß: Für mich wie auch für euch ist ihn vergessen tödlich. Doch euch ist nötig wie auch mir, vieles im Gedächtnis zu bewahren. Von der gemeinsamen Sünde bis zur persönlichen schmählichen Sühne. Gleichermaßen haben wir gesündigt – In jedem gärt eine lebendige Seele. Nur ihr seid auf der Erde. Ich aber liege dafür im Babij Jar … Im Übrigen, das bin ich selbst – und es geschieht – dass ich das leicht vergesse. Und ich lebe auf der Erde. Ärgere mich, schaffe und strebe zu den Höhen. Und ein Lebendiger, handle ich manchmal nicht so. Wie alle. Und immer wieder bin ich betroffen über den Wunsch, mich zu erniedrigen – 102
Von neuem mich mit der Stirn auf mein sattsam bekanntes Schicksal zu stoßen. Mich erstaunt immer wieder diese böse Logik der Schamlosigkeit. Und die Unverfrorenheit: Du hast kein Recht zu leben wie ich. So lärmt das Jahrhundert, das unfähig war, die Scham zu erlernen, Wie eine Beute, dreist, nimmt es Berufung, Anerkennung. Von Neuem ist etwas gescheitert, ist abermals mein Los – ein fremdes. Anklagepunkt? Der gleiche stets: „Alles Heilige ist ihm – nicht heilig.“ Und wieder bin ich Störenfried – stehe im Weg der allgemeinen Brüderlichkeit, – Wie aus dem gleichen Grund der deutschen einst. Nun, vielleicht ist das genug. Ein Irrweg – sich daran zu klammern: Alle – stehen im Weg. Alle Menschen. Die Lüge ist für die Seelen – Gift. 103
Und wofür? Gleichviel, denn ohne mich erlangt ihr keine Brüderlichkeit. Was aber tun? – Auch ich habe ein Recht auf Brüderlichkeit. – Wenn ich mich zu ihr hingezogen fühle, wenn ich dürste, daran teilzuhaben, Wenn sowohl das Licht als auch die Liebe Bis heut in meinem Herzen leben … Nein, mich „edelmütig“ überlisten, wird auf keinen Fall gelingen. Nur durch direkten Raub! Durch Niedertracht nur und Verlogenheit. Nur bis zum bitteren Ende die Seelen der Bosheit und Lüge hingebend, Nur irgendwelchen Messern die eigene Brust darbietend: Wer wird an das Gesetz noch glauben, wird es mit solcher Unverfrorenheit verletzt? An das Gesetz nicht mehr glaubend geraten die Menschen außer sich vor Angst. Doch einfach ist es, mich zu töten, zu sagen: „Russland ist nicht dein …“ 104
Aber es ist – mein Leben, der Weg zum Universum, zu Gott und zum Lied … Doch es geschieht, dass man es sagt … dass ich alles verliere, kraftlos werde Und wieder den Abgrund spüre unter den Füßen. Ich stürze in diesen Schrecken, in dieses Geheul, diesen Brandgeruch. Und ich begreife von Neuem, dass das nur Verwirrung des Geistes ist, Dass ich zu niemandem wurde. Und niemals werde sein – ich liege im Babij Jar. Und werde mit Fünfzehn sterben. Und alles ist wahr: Man brachte mich unter die Erde. 1970
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Junna Moriz Erinnerung Aus dem brennenden Zug, ins Gras, warf man die Kinder. Ich schwamm durch den blutigen, glitschigen Graben menschlicher Därme, Knochen. Der Pilot – die braune Pest –, dahingleitend über mir grinste und lachte wie vom Irrsinn gepackt. Wie im fliegenden Koffer schwebte er, blieb an der Frontscheibe kleben. Ich sah das Hakenkreuz an seinem Arm und was ihm von der Stirne troff. Und einen roten Kreis sah ich Von einem Rad des Zuges. Entsetzen lähmte mir die Hände die Augen zu bedecken – denn reglos stand der Zug, und von den Rädern, die sich auf der Stelle drehten, stieg Qualm und blutiger Nebel auf, 106
und die gusseiserne Stange ächzte – gleich einem Arm, der wie vom Leib gerissen und weggeknickt im Ellenbogen leblos um der Dampflok Räder kreiste! So schickte mir im fünften Jahr Rettung der Herr und einen langen Weg … Doch in mein Blut und meinen Leib War das Entsetzen eingedrungen – ergoss sich dort Quecksilber gleich! Und schlafe ich nun ein, das Gesicht zum Mond, weine ich im Schlaf so bitterlich, dass meine Tränen fließen über die Wand, in der ich die Erinnerung verberge. 1985
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In der ukrainischen Erde Nicht wenig Wurzeln sind in der Ukraine Erde und viele, ach so viele Samenkörner! In Jahrhunderten, längst fernen, ist meine Wurzel in ihr aufgekeimt, hat festen Fuß gefasst seither. Abraham und Ruth bestellten einen Flecken Erde dort – herzallerliebst und arm. Nur einen Karren hatten sie, ein Bullchen, einen Hakenpflug, und eine Geige – Nahrung für den Geist! Die Geige hatten sie mitgebracht aus fernem, mir unbekanntem Land, obschon, ich könnte auch lügen (wie das viele Brüder tun) und Beschreibungen geben von Rom, von Madrid, woran sie angeblich vorübergegangen. Kann sein, sie gingen dort vorüber! Doch durchquerten die beiden so viele Länder, dass wenn ich sie jetzt zählen wollte – wo fände ich so viele Finger? … Und Ruth und Abraham erstanden Axt und Beilchen, Sichel, einen Hobel, und Isaak, ihr Sohn, fertigte Truhen an mit schönem Schnitzwerk für die Bäuerinnen, 108
solange der Schwez aus Winniza nicht kam, (Der war Verkäufer von Pariser Möbeln!) die schöne Arbeit sehend einen beifälligen Pfiff ausstieß, in seine Reisetasche griff und ein Journal herauszog: – Versuche mal, so was zu machen, mein Junge! – Und mit dem Fingernagel umriss er, ohne überflüssige Rhetorik, einen Gegenstand für das Gesellschaftszimmer eines Direktorats. So manche Worte gingen meinem Urgroßvater fehl, doch diese Kunst beherrschte er! Denn viele Möbel hatte er gemacht – Und so, dass zu studieren er nach Rom fuhr, und des Dekors Geheimnisse schmeckte er bei den Franzosen, im März dann kehrte er zurück auf die ukrainische Erde. Und das Geigelein, die Geige? Wo blieb denn sie? Auf ihr spielten Pinja und Berko. In der elenden Hütte, im Übelsein – zu allen Zeiten war dieses Heiligtum bei uns! Und ruhig war die ukrainische Nacht, und die Geige sang über den Fluss, und der Knabe, dem dereinst ich Tochter werde sein, schmiegte sich an sie mit gebräunter Wange … 109
Ach, da ist das Geigelein! Fand sich im Nu! Solche feinsten Dinge finden sich dort, wo zarteste Verbindung ging durch des Vergessens Zangen ging ohne Schaden – und so dünn, sowohl das Geigelein als auch die Wange und des Knaben schmales Schulterchen … (Eines Tages werde ich ihm nicht mehr helfen können! Und still wird die ukrainische Nacht … Und davonfliegen wird er mit dem Geigelein, es mit der Wange an das Schulterchen gedrückt, wie sich’s für Grashüpfer gehört.) Ach, da ist das Geigelein! Ach, da ist es doch! Berko und Pinja spielten auf ihm. Die feinste Saite ihres ewigen Schlafs Bindet mich an die Ukraine.
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Monolog eines Schräubchens … jetzt kommt ans Licht, wir haben mehr ermordet als nötig war für Eine Solche Sache, doch wer hätte das besser vollbracht, so rasch, so gründlich, so gediegen wie wir? … Wie wir, sage ich und meine nicht uns, die Menschen nicht, sondern die Zeiten, als solche donnernden Gewichte, als solch gigantisches Geschehen die Erde und Völker erbeben ließen auf den Schalen der historischen Waagen. … und wenn wir damals weniger ermordet hätten als nötig war für Eine Solche Sache?! Und hätten wir es nicht ganz zu Ende gebracht, das Große geprellt, betrogen beim Wägen um einige Dutzend Millionen? Man kann das Große nicht verbilligt haben! Das Große kann nicht das Große sein, Ohne eine große Zahl zu verschlingen. … und hätten wir genauso viele gemordet, nicht weniger, sage ich, und nicht mehr als nötig war für Eine Solche Sache? … Und wie viele zu töten für Eine Solche Sache war nötig für uns? … Und wen? …
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… jetzt kommt ans Licht, wir mordeten die Besten, genauer, von den Besten mordeten wir mehr, und von den Schlechteren brachten wir damals weniger um als nötig war für Eine Solche Sache. Obgleich nicht alle, die getötet wurden, meinten, dass sie zu Recht ermordet wurden, und jeder dachte, der andere wird zu Recht ermordet und viel gerechter noch als er, – war für sie einzig und allein und unbestreitbar eine gewaltige Ungerechtigkeit: dass bei Weitem noch nicht alle, die umzubringen waren ohne Verzug, ermordet wurden, wie Eine Solche Sache verlangt! … Wir haben zweifellos nicht die Schlechtesten ermordet, und ihre Zahl war unermesslich, beispiellos, unfassbar – und kam ans Licht, so viel weniger töteten wir damals als nötig war für Eine Solche Sache. Um vieles weniger der Schlechten brachten wir um, dass die Besten, die wir mordeten – eine mikroskopische Zahl waren, gleich null. … aber schlimmer ist, es schwanden die Titanen, die Giganten und die Hünen, die Herkulesse des Gedankens, des Geistes Prometheusgestalten, – ich sage – Herkulesse unserer Gedanken 112
und unserer Geisteskräfte Prometheusgestalten, Kolosse, Riesen, Riesinnen … Einmal waren ihrer sogar mehr Als nötig war für Eine Solche Sache, Wir haben damals etliche von ihnen umgebracht, doch gab es hinlänglich Reserven noch, sie hätten ausgereicht für sechs Generationen! …jetzt, wo alles widerlich verflacht, entartet, ich sage –, geschändet und verdorben ist, kommt mit einem Gedanken mir die Angst zu sterben: dass von denen, die wir damals umgebracht, bei Weitem nicht alle ermordet wurden! … Abermals muss man sie umbringen ohne Verzug – Und genauso viele, wie von ihnen ermordet wurden, – Ich sage – nicht weniger und nicht mehr Als nötig war für Eine Solche Sache! Dem Großen – die große Gebühr. Eine große Macht kann nicht groß sein, und auch nicht groß ihr Volk, ohne eine große Zahl zu verschlingen. …es kommt ans Licht, war ich ein Schräubchen im Fleischwolf ? In einer inoffiziellen Maschine? In vorsintflutlich einfachstem Getriebe, es kommt ans Licht, ich drehte mich und mahlte? Doch hätten wir gleich viele umgebracht, 113
die Schlimmsten nicht und nicht die Besten, – sage ich – sondern alle, die zu töten unerlässlich war, um Tag für Tag zu morden die Ermordeten, denn wichtig war vor allem, die Erschlagenen zu töten … dann wäre ich, heilig an die Ideale glaubend, wieder des Großen teilhaftig geworden, und sogar ich, der Kleinste unter den Geringsten, könnte sagen: da bin ich, bescheiden, unbedeutend, Ich – ein Schräubchen, ich – nicht mehr und weniger nicht als nötig war für Eine Solche Sache. 1987
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SINE ANNO, SINE LOCO Einen Knüppel zwischen die Füße geklemmt, rammt man Nägel in sie ein, wie das Bajonett, wie in den Griff – die Klinge. Und man löscht das Licht, eilt zu Besuch davon durch die leeren schlaftrunkenen Straßen, sich ballend, wie Rauch, trunken vom Grimm und in den Pupillen, eng – der tierstirnige Instinkt … An den markierten Toren plätschert Benzin aus Kanistern. Das Stadtviertel brennt, die Erde schreit. Die Funken herunter würgend, erschlagen, zerstückeln sie Greisinnen, reißen unschuldigen Wickelkindern die Eingeweide heraus. Das Blut erhitzt sie und der Fliehenden Geruch, die Haut, in Fetzen von den Rücken hängend, das Fleisch, zermalmt unter den Füßen. Die Beute rennt im Kreis, will nicht die Blicke auf die Nägel heften … Es tagt, und in der hellen Bläue eine Kugel blutig rot taucht auf, schwillt an, gerät ins Wanken. Ein Ende findet das Entsetzen, und das Leben dauert fort, und ein früher Vogel ist zu hören … 115
Einen Fetzen am Boden ausgebreitet, betet zu Allah der Mörder, und seine Frauen backen Brot für ihn, und der Ordnung Wächter wird bewirtet mit blutiger Herlitzenbeere und spürt durch das schreckliche Wissen das Drängen der geheimsten Kräfte. 1989
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Inna Lisnjanskaja * * * Es brach auseinander, was lange gewährt, kroch zusammen zur Finsternis. Ich betete, ich bekreuzigte mich, doch will ich nehmen von der Brust das Kreuz, weil mit des Winters Stürmen ein schwarzer Haufe rollt heran. Man wird, fürchte ich, auch des Leibes Kreuz zerhauen mit dem blutroten Beil. Einst unterschieden sich die Menschen nach dem Glauben. Jetzt aber, jetzt werde ich das Kreuz verstecken und weit die Türe öffnen, Tochter zweier Gebote. Die Wehklage Jaroslawnas18 und das Wehgeklagen Rachils18 werden zu einer in mir, verstecken werde ich das Kreuz und durch das Schneegestöber zu meines Hauses Mauer gehen. Verstecken das Kreuz und aufs Dach werde ich steigen, und unter dem Hagel von Steinen werde ich laut in Tränen ausbrechen mit all meinem Blut, mit dem Salz zwiefachen Blutes. 1988
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* * * Ja, so eine Zeit, ja solche Vögelchen! Es ist also höchste Zeit, du Jüdin, die Sachen einzupacken. Lass es drauf ankommen, in welche Richtung du dich wendest – Zu wissen braucht der Rabe nicht, keine Asche wird er picken. 1973
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Ein Zwischenfall In die nächste Kirche zu gehen gehört sich nicht für mich, ist schändlich und ich will es nicht. Eine Kerze hab ich der Mutter Gottes gestiftet, man hat meine Kerze ausgeblasen. Man blies sie aus, weil meine Augen schwarz und dunkelhäutig mein Gesicht. Man blies meine Kerze aus, während im Tempel das Fest des Heiligen begangen ward. Bald gehe ich vorbei, bald zögere ich vor der Schwelle – Denn wird plötzlich wieder ein Irgendwer, die Mutter, die den Gott gebar, grausam betrübend, sich bücken, meine Kerze auszublasen? 1981
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* * * Mein Vater – Militärarzt war er, die Brust bedeckt mit Wunden. Aber spiele ihm, Geiger, die Wehklage Israels. Für die Musik, die fadenähnlich wie der Puls, gab hin er seine Pension des Invaliden. Er ist, wie du siehst, kein geriebener Schelm – Orden reiht sich an Orden, aber spiel ihm, Geiger, nichts vom Heimatland. Er spricht im Fieber die zweite Nacht Vom Gasofen. – Schreib, Tochter, nicht als Jüdin dich, – So schärfte er mir ein. Ach, spiele, Geiger, spiele! Möge nach dem Sieg Der Ort ihm träumen, der Schutz gewährt. Ob er für ihn das Leben opferte, das böse, liebe Leben? Bete und spiele bis zum Ende über seinem Grab. 1975 120
Grigorij Korin * * * Für Lena Mein Buch hat man zerstückelt, mir macht das nichts, hab mich gewöhnt, aber wie ist mir, mit einem Bein im Grabe, den Schrei meiner Tochter zu hören. Die Seele hat man mir zerbrochen, mir macht das nichts, hab mich gewöhnt, aber wie ist ihr, sich von vornherein bis aufs Blut in die Zunge zu beißen. Ich sehe der Tochter Tränen, und ich sehe ihr Buch in den eisernen Klauen des Mobs, feist wie ein Rabenschwarm, über ihren Großvater eine Novelle, ihre Tränen über ihn, in der Kitajskij Proezd19 zerfetzte man es mit dem Beil. Wäre ein Russe, ein Swane er Oder wäre er ein Lette, aber als Kauz war er zur Welt gekommen, als verachtetes Judensubjekt. 121
Ein Sohn von einem Faschisten erhängt, und die anderen beiden auch, am Himmel der eine, der andere zu Fuß hatten sie an der Front sich eingereiht. Aber das ist zu wenig, um ihn dort zu beweinen in der allwissenden Zensurverwaltung unter selbstgerechtem Feuer.
* * * Für das Schicksal deines Leibes Ist ein Sarg für einen nur gebaut. Dem zweiten Schicksal harrt – Der Himmel mit der Weltenferne. Aber es flogen viele schon – lebendig oder tot – Ganz ohne Särge in die Grube. Und nach ihnen, in loser Folge, Und ohne Särge auch das ganze Volk Im Häftlingskleid, mit Nummern auf der Brust, unterwegs zu Dir, o Gott.
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* * * Spielst du auch noch so sehr den Tapferen, als Judenschwein wird man dich dennoch schmähen, als Judenschnauze und jüdische Fresse, grundlos, an leerer Straßenecke und in der Menge, wo der Herrschenden Handel blüht. Doch werde ich nicht vor Scham erglühen, ich werde tun, als hörte ich nichts. Wie schwer ist es doch, ein jüdischer Greis zu sein, das eigene Haus zu betreten, als wäre es ein fremdes Dach. Du sagst: Wer wird sich schon von Säufern schmähen lassen. Bei Tagesanbruch werde ich den Postkasten öffnen, und die Dezemberfrühe wird mich verbrennen – die Zeitung mit der israelitischen Fratze.
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Jurij Kaplan * * * Enger zieht die tatarische Horde Die Schlinge um die Mauern zu. Den Tod wählt die tausendjährige Stadt – Nicht die Gefangenschaft. Feuerbrand bahnt wütend sich den Weg, Und in die Augen frisst sich Höllenqualm. Das Judenviertel hat die Horde dort Zusammen mit der Stadt verbrannt. Den Geldwechsler, den Arzt, den Juwelier – Den lahmen Krüppel Unter Pferdehufen Frisst auf der Gott des Feuers. Und vor des Todes Angesicht verblassen Der Menschen dumme Streitereien. In der engen Desjatinen-Kirche Verbirgt das Kind der Jude. Einzig ist Leben, einzig der Tod, Auf wirbelt der Sturm Der Desjatinen-Kirche Überreste Und meiner Vorväter Asche. Grausam sind die Nomaden – brennen und rauben, Und fern ist die Vergeltung! … Durch das Stöhnen der Weiber – durch Babij Jar Hallt der Jahrhunderte Antwort. Niedergebrannt ist das hölzerne Dach, 124
Und es winseln die Hunde und heulen die Winde. Salzig ist nun das Wasser des Dnepr Vom Zustrom aus Tränen und Blut. Anderes Wasser trank ich nicht, Über mir ist derselbe Himmel, – Und so mischten sich Blut und Asche Der uralten Kiewer Erde. 1981
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Babij Jar Mein Großvater Grauhaarig und der Rücken krumm, Seine Augen verblichen Und trocken. Durch die Tiefe seiner weisen Trauer Wäge ich meine Gedichte. Und die unnachgiebigen Worte Zähmend, Um sie in Zeilen zu zwingen, ermesse ich mein Gewissen am Weiß Seiner grauen Haare. In der allerfrühesten Kindheit (Die Mütter bitten: „Sitz still“). Ist nichts im Voraus bekannt – Am Beginn ist seltsam alles und dir neu. Wenn du zum Himmelsblau, dem sonnigen dich reckst, Wenn dich die Abendschatten streifen. Wenn von Fragen überwuchert wird die Welt Und die Worte an Bedeutungen gewinnen, Wenn den Legenden du, den Unwahrheiten glaubst, Wenn du vertrauensvoll den Märchen lauschst, Wenn zähen Lehm du durchgeknetet, Dir bis zum Abend eine Sonnenstadt gebaut … 126
Solang die Mutter dich nicht holt, Beschmiert bis an die Nase, Und zu Hause du getrampelt hast wie eine Reiterschar, Kreischst über irgendwas Und weißt dich nicht zu fassen, Spielst Im väterlichen Zimmer Mit dem blauwangigen Globus. Kindheit. Die allerklarste, Klangvollste, siebenfarbig! Sogar schwärzeste Habichte Erschienen dir als Blattgoldhähnchen. Und nun Erhob sich Über dieses Blau Und Rosa Mit der Brände Lichtreflexe Und des Unheils Schwere Verheerend Und drohend Der Krieg … Der Krieg! Militärzüge rollten An die Front, 127
An die Front fuhren Die Väter, Und wir, Noch nicht begreifend, Geleiteten sie Mit den Müttern. Das Leben Schien uns Das reinste Geschenk, Und frohgemut war es uns gleich Worüber wir schwatzten. Sie nahmen uns zum Abschied Auf die Arme und warfen uns h-o-o-o-ch Bis zur Decke. Hoppla! Und unter uns wieder die Erde, und der Herbst streut gelbe Blätter aus, und zur Abfahrt spielen Hörner … Da wurde geschrien von irgendwas, Doch der heisere Wind Trägt die Stimme fort Zur Seite. Und dort Ersticken die Attacken, Haben mit tierischer Wucht 128
Grüne tiefstirnige Panzer Die Front durchbrochen, Überrollen Haus um Haus. Nach allen Enden Wird gejagt der Russe. Und bis zur Schwärze ausgebrannt Sind die Dörfer und die Städte. Verprügelt Mütter und Väter, Die Söhne erhängt und die Töchter. Aus staubigen Kammern krochen Die Überbleibsel des Bösen, der Unsauberkeit Als Typhusausschlag, In die Ritzen Schnüffelten die Nasen: Nach Menschlichem riecht es, Nach Menschlichem! … Hä – hä – hä – hä -hä Nein! Das ist nicht einfach nur ein Datum, Der Chronologie entnommen. Noch erstarrte Dämmerung Über der Stadt, Da klebte man Die Befehle Des Kriegskommandanten An die verbrannte Mauer.
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Und in der ganzen Stadt War zu hören, Wie uns Das Unheil nahte, Wie die Pud schweren Stiefel der Soldaten Schwerfällig In die Pflastersteine stampften … „Sieh doch, da führt man die Juden …“ „O Gott, mit Kindern, mit Greisen …“ „Dummköpfe, gehen wie die Ochsen …“ „Genossen, was stehen wir hier? …“ „Wahrscheinlich überführt man sie ins Getto …“ „Treffender, ins Jenseits …“ „Glaubt es nicht, das ist Gerede: „So viele umbringen – das ist keine Methode …“ „Das ist ihr letzter …“ „Genosse …“ „Ach Sie …“ „Haltet den Mund …“ „Pst …“ „Das Ende scheint den Juden gekommen …“ „Scher dich zum Teufel, Schurke! …“ „Schweig selber, Partisanenausgeburt …“ …Tausende Sich dahinschleppender Rücken, Todeskandidaten, Schier endlos die Liste: 130
Schlaf, Schlaf, Schlaf – Ausgetrocknet Ist unser Bächlein. Womit kann die Greisin dir helfen – schlaf ein, Nur vorsingen kann dir die Greisin – schlaf ein. Wer einschläft, wird nicht mehr erwachen – schlaf ein. Möge der Tod nicht an deine Pupillen rühren – schlaf ein. Du darfst ihn nicht erblicken – schlaf ein. Ich singe für dich ein letztes Lied – schlaf ein. Leicht möge der Tod dir sein – schlaf ein, Möge der Tod für dich leicht sein – schlaf ein. … Heilige Mutter Gottes, Himmelskönigin, Das sind doch Menschen, lebendige Menschen … – Man kann, gleich wie, Die Menschheit nicht In den Abgrund hinunterstürzen … – Meine Mamotschka, was wird nun werden?! – Mütterchen, Lass uns fortgehn von hier, Das Ist keine schöne Grube. Mama … – Und nichts weiter mehr: In mausgrauen Soldatenmänteln Bewegte Eine Reihe 131
Sich auf die Menge zu, – Nur die Tränensäcke in den Gesichtern Warfen blaue Schatten Über die ausgeblichenen Augen, Und einer, Mit Händen Groß wie Schaufeln, Ging müde schnaufend Auf ihn zu, Und langsam kroch Aus dem behaarten Nasenloch Der Rotz. (Hat er doch auch Zu Hause Kinder zurückgelassen, Bevor er zum Gewehr gegriffen, Erinnere dich, Hat lange die roten Borsten An rosiger Kinderwange gerieben. … Zu Hause … Und hier – nun In abgetragenem Jäckchen … Hält sich am Rock … Fürchtet sich … Zittert … (Mit roten Händen An den Füßchen packen 132
und mit dem Schädel Dem weichen Gegen die Raupenkette.) – Mama, Worüber weinst du? Höre, – Und streichelt die weiße Hand Mit dem Händchen, – Ich werde immer, im-mer Artig sein, Gib mich nicht Diesem Onkel hin. Doch der rückt näher. Immer näher. Ist ganz nah. Haucht üblen Geruch Ihm ins Gesicht. Unter den Stiefeln bröckelt Lehm. – Gib mich nicht weg … Mama! … … Ma-a-ma-a … – Gebt mich wieder hin! – Und blieb hängen an der Hand. In den Bauch mit dem Stiefel. Flüche. Ein Schuss. ........................................... 133
100 000 Hoffnungen, Lebendig eingegraben, 100 000 Verwünschungen, Im Halse stecken geblieben, 100 000, Zermalmt von schrecklicher Wucht, Entstellt in verkrampfter Agonie. Schneider und Bäcker, Ärzte und Philosophen, Schöpfer von Maschinen und Gemälden, Grau, Rot, Schwarz das Haar, Gemacht aus Fleisch und Blut – 100 000. Jar – gigantische Risswunde, mit schrägen Rändern, Menschenleer bist du und wild, nur Winde blasen über dir. Gähnst schwarz, wie ein Abgrund, wenn Düsternis in dich dringt, Die Lichter der Stadt umringen wie Raubwild dich. 100 000 schlafen in dir. Ihre Namen sind nicht in Granit gemeißelt, Namenlose schlafen in deiner Tiefe, die braun ist wie Jod. Für ewig vergessen sind ihre Namen. Doch Abertausende Werden nie deinen blutigen Namen vergessen … 134
Ich wuchs im fernen Hinterland auf – erinnere kaum den Himmel des Krieges. Ich begegnete keinen Feinden, sah auch das Gesicht des Todes nicht. Hämmere, Jar, mir Erbitterung ein, lehre mich Zorn. Ich komme zu dir, wie man zum Grab des Vaters kommt. Ich komme zu dir, wie man vielleicht zu Gott geht, Das tief im Inneren Verborgene anvertrauend einfachen Gebeten. Gib Kraft mir, Jar, pflanze bittere Trauer in mein Herz, Damit ich nicht vergesse, damit ich nie verzeihe. Möge niemand je verzeihen, mögen die Namenlosen zahllos sich erheben. Mach, dass sie aufstehen, Hilf, für den Kampf sie zu erwecken. Keine Zäune, keine Kränze – sei wie eine offene Wunde, Damit es qualvoller noch war, damit der Schmerz zu siegen half. 1959
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Anmerkungen und Erläuterungen Zu 1 Melamede – Jüdische Gesetzeslehrer. Zu 2 Mstislawkis und Schuiskis – Bojarenfamilien unter Iwan dem Schrecklichen. Zu 3 Aule – Bergsiedlungen der Turkvölker. Zu 4 Peies – Die Schläfenlocken orthodoxer Juden. Zu 5 Hofstein – David Naumowitsch. Jüdischer Lyriker, Linguist und Mathematiker. Setzte sich 1924 öffentlich für den Erhalt einer autonomen jüdischen Literatur ein. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Berlin und Tel Aviv ab 1926 aktives Mitglied der Proletarischen Schriftstellervereinigung der Ukraine. 1948 als Präsidiumsmitglied des Jüdischen Antifaschistischen Komitees ( JAFK) verhaftet. Im Verfahren gegen das Komitee abgeurteilt und 1952 erschossen. Zu 6 Markisch – Perez Davidowitsch. Jüdischer Lyriker und Romancier. Gehörte nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt dem Präsidium des JAFK an, wurde vor Gericht gestellt und 1952 erschossen. 136
Zu 7 Bergelson – David Rafailowitsch. Jüdischer Erzähler und Dramatiker. Lebte von 1921 bis 1930 im Ausland. Nach seiner Rückkehr in die UdSSR als Mitglied des JAFK-Präsidiums verurteilt und 1952 erschossen. Zu 8 – Potjma, Kolyma, Lubjankas, Butyrkas – Sowjetische Gefängnisse und Straflager. Zu 9 – „Lechajim“ – Hebräischer Toast „Auf das Leben“. Zu 10 Michoëls – Solomon Michailowitsch. Schauspieler, Regisseur und Pädagoge. Ab 1929 künstlerischer Leiter des Staatlichen Jüdischen Theaters in Moskau. Staatspreisträger und Volkskünstler der UdSSR. Leiter des JAFK. Zu Beginn der antisemitischen Kampagne gegen den „Kosmopolitismus“ auf Stalins Geheiß 1948 durch einen vom Geheimdienst fingierten angeblichen Autounfall umgebracht. Zu 11 Goldener Stern – Den Orden hatte der damalige sowjetische Staats- und Parteichef Chruschtschow dem ägyptischen Präsidenten Nasser verliehen. Zu 12 Uriel Acosta – Portugiesischer Religionsphilosoph aus jüdischer Familie, dann zum katholischen Glauben konvertiert, später wieder jüdisch. Wurde wegen seiner Lehren verfolgt und beging 1640 Selbstmord.
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Zu 13 Menj – Orthodoxer Priester jüdischer Abkunft. Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt. Zu 14 – Schlucht bei Kiew, in der Massenhinrichtungen, insbesondere von Juden – Greisen, Frauen, Kindern – stattfanden. Zu 15 Kaddisch – Jüdisches Totengebet, das insbesondere dem Seelenheil Verstorbener während des Trauerjahres gewidmet ist. Zu 16 Natschalnik Friedel – Der Berliner Beauftragte für jüdische Angelegenheiten im Getto von Byalistok. Zu 17 Bismarck – deutsches Schlachtschiff. Zu 18 Jaroslawna – Gestalt aus Borodins Oper „Fürst Igor“. Rachil (Rahel, hebr. Rachel) – Gestalt aus dem Alten Testament (Totenklage Rachels; Jeremias 31,15f und Matthäus 2,18). Zu 19 Kitajskij Proezd – Sitz der Zentralen Zensurbehörde.
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Kurzbiografien der Verfasser (alphabetisch) Brodsky, Joseph Alexandrowitsch. Geb. 1940 in Leningrad, gest. 1996 in New York. Verfasste Dramen und Essays und wurde vor allem als Lyriker berühmt. Die Einflüsse anderer literarischer Texte (u. a. Goethe und Benn) in seinem Werk sind von großer Bedeutung. Er wurde 1964 wegen sogenannten parasitären Lebenswandels zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 1972 erfolgte seine Ausweisung aus der UdSSR. 1977 wurde er amerikanischer Staatsbürger und war als Dozent für slawische Literatur tätig. 1987 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Werke: „Gedichte“ (1966), „Erinnerungen an Leningrad“ (1987), „Flucht aus Byzanz“ (Essays, 1988) u. a. Ehrenburg, Ilja Grigorjewitsch. Geb. 1891 in Kiew, gest. 1967 in Moskau. Er wurde 1908 als Revolutionär verhaftet und emigrierte danach nach Paris. Ab 1910 veröffentlichte er dort eine Reihe von Gedichtbänden, u. a. „Ich lebe“ (1911), „Alltag“ (1913), „Antikriegsgedichte“ (1916). 1917 kehrte er nach Russland zurück, ging aber ab 1921 erneut ins Ausland, um bis 1941 als Kriegsberichterstatter 139
am Spanischen Bürgerkrieg und am Zweiten Weltkrieg teilzunehmen. Neben seinen Gedichten veröffentlichte er einige Theaterstücke und eine Reihe von Romanen, u. a. „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Juanito“ (1922), „Der zweite Tag“ (1933), „Der Fall von Paris“ (1941), „Der Sturm“ (1946–1947), „Die neunte Woge“ (1953), „Tauwetter“ (1954). Seine Autobiografie „Menschen, Jahre, Leben“ erschien in deutscher Sprache 1962. Galitsch, Alexander Arkadjewitsch. Geb. 1918 in Jekaterinoslaw, gest. 1977 in Paris. Er schrieb zwischen 1946 und 1954 mehrere Theaterstücke und Drehbücher und wurde in den 60-Jahren vor allem als politischer Chansonnier bekannt. In seinem dichterischen Schaffen dominierten vornehmlich die politische Lyrik und das jüdische Thema. Zu den Dissidenten zählend, musste er kurz nach der Ausbürgerung Alexander Solschenizyns ebenfalls die Sowjetunion verlassen. Die Umstände seines Todes in Paris blieben ungeklärt. Grebnew, Naum. Geb. 1921 in Charbin, gest. 1988 in Moskau. Er nahm am Krieg teil und absolvierte 1949 das Literaturinstitut. Er übersetzte mehr als hundert Bücher, darunter „Das Buch der Psalmen“ und „Lieder des Vergangenen“, die er der jüdischen Volkspoesie entnahm. Besondere Popularität erlangte er mit der Übersetzung 140
des Gedichts „Die Kraniche“ von Rasul Gamsatow. Eigene Gedichte hat er kaum veröffentlicht. Kaplan, Jurij. Geb. 1937 in Korostin (Ukraine). Er absolvierte das Kiewer Polytechnische Institut und arbeitete als Bauingenieur. Ab 1959 begann er zu publizieren und zog sich von seinen ersten Gedichten an die besondere Aufmerksamkeit des KGB zu. Sein Poem „Babij Jar“, das er erst nach langen Jahren veröffentlichen konnte, brachte ihm ein bis zur Perestroika andauerndes Publikationsverbot ein. 1990 wurde er in die Leitung des Verlages „Rif “ berufen und veröffentlichte mehrere Gedichtbände, darunter „Der brennende Wind“, „Die ungleiche Jahrtausendwende“ und „Gravitationsfelder“. Er erhielt mehrere literarische Preise und stand bis zuletzt dem „Kongress der Literatur in der Ukraine“ vor. Am 13. Juli 2009 wurde er in seiner Kiewer Wohnung unter ungeklärten Umständen umgebracht. Korin (eigentlich Korenberg) Grigorij. Geb. 1926 in Radomysch (Ukraine), lebt in Moskau. In den 30er-Jahren übersiedelte er nach Baku und ging nach Ausbruch des Krieges mit 16 Jahren an die Front. Er wurde sehr bald Flugzeugschütze und nahm an der Einnahme des ehemaligen Königsberg teil. In seiner ärmlichen jüdischen Familie beging man keine Geburtstage, und so zählte er den 9. Mai, den Tag des Sieges, als seinen Geburtstag. Nach dem Krieg fand 141
der junge Korin, der inzwischen seine ersten Gedichte in Frontzeitungen veröffentlicht hatte und mehrfach dekoriert worden war, lange keine Arbeit. Erste Buchpublikationen veröffentlichte er nach Stalins Tod: u. a. „Rhythmuswechsel“, „Novelle über meine Muse“, „Wenn alle in der Lüge leben“, „Selbstporträt“. Korschawin (eigentlich Mandel), Naum Moisejewitsch. Geb. 1925 in Kiew, lebt jetzt in Boston (USA). 1945 trat er in das Literaturinstitut in Moskau ein, wurde aber bereits 1947 verhaftet und verbrachte acht Monate in der berüchtigten Lubjanka. Danach verbannte man ihn nach Sibirien. In Karaganda beendete er das Bergtechnikum und wurde Bergsteiger. 1954 kehrte er nach Moskau zurück, wurde 1956 rehabilitiert, lebte von Übersetzungen und setzte sein Studium am Literaturinstitut fort, das er 1959 abschloss. 1961 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband und schrieb Theaterstücke. Nachdem er offen für Daniel und Sinjawskij eingetreten war, durfte er nicht mehr publizieren. 1973 verließ er die Sowjetunion „aus Mangel an Luft“ und veröffentlichte seitdem im Westen mehrere poetische Bücher. Lewitanskij, Jurij Dawydowitsch. Geb. 1922 in Kozelez (Tschernigower Gebiet), gest. 2005 in Moskau. Studierte am Moskauer Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte, ging zu Beginn des Krieges 142
an die Front, wo er es bis zum Offizier brachte und ab 1943 als Korrespondent in Frontzeitungen publizierte. Seine erste Gedichtsammlung „Soldatenwege“ erschien 1948. 1955–1957 besuchte er die höheren Literaturkurse am Literaturinstitut „Maxim Gorki“ in Moskau, veröffentlichte eine Reihe von Gedichten und hatte 1963 mit dem Gedichtband „Der irdische Himmel“ einen ersten größeren Erfolg. Von 1970 bis 1991 erschienen jeweils in Abständen von einigen Jahren weitere Gedichtbände, u. a. „Kinematograf “ (1970), „Erinnerungen an den Roten Schnee“ (1980), „Weiße Gedichte“ (1991). Lifschiz, Wladimir Alexandrowitsch. Geb. 1913 in Charkow, gest. 1978 in Moskau. Er absolvierte die Leningrader Finanzökonomische Hochschule und debütierte 1934 als Poet. 1937 schrieb er sein Poem über den Spanienkrieg „Ballade vom gelben Notizbuch“. Zu seinen Bekannten und Unterstützern zählten u. a. Ossip Mandelstam und Boris Pasternak. In der 1942 geschriebenen Ballade „Das trockene Stück Brot“ verarbeitete er seine Erlebnisse als Soldat während der Blockade Leningrads. Nach dem Krieg und der Kampagne gegen den sogenannten Kosmopolitismus übersiedelte er nach Moskau, durfte aber nur noch Parodien und Kindergedichte veröffentlichen und lebte wie viele seiner Dichter-Kollegen, denen es ähnlich wie ihm erging, vom „Joch“ des Übersetzers von Werken aus verschiedenen Sprachen der Völker des UdSSR. 143
Lipkin, Semjon Israilewitsch. Geb. 1911 in Odessa, gest. 2003 in Moskau. Der Sohn eines jüdischen Schneiders absolvierte in Moskau die Ökonomische Ingenieur-Hochschule und begann 1929 in der Zeitschrift „Neue Welt“ zu publizieren, was allerdings nicht lange andauerte, und ab 1931 hörte man auf, ihn zu veröffentlichen. Er wandte sich dem Übersetzen aus dem Kalmykischen, Kirgisischen zu, bis ihm wegen der Teilnahme an einem illegalen Almanach auch diese Tätigkeit untersagt wurde. Erst 1956, nachdem er am Krieg teilgenommen hatte, durfte er wieder veröffentlichen. In den 60er-Jahren schrieb er ein Poem „Techniker – Intendant“, das von Anna Achmatowa als das beste Gedicht zum Thema Krieg bezeichnet wurde. Sein poetisches Buch „Wille“ wurde später von Josef Brodskij in den USA herausgegeben. Inna Lisnjanskaja. Geb. 1928 in Baku. Sie veröffentlicht seit 1948, u. a. Gedichtbände wie „Das war mit mir“ 1957, „Treue“ 1958, „Nicht einfach Liebe“ 1963, und „Weinstocklicht“ 1978. Außerdem übersetzte sie aus der aserbaidschanischen Poesie. 1979 beteiligte sie sich an der illegalen Zeitschrift „Metropol“ und trat gemeinsam mit ihrem zweiten Mann Semjon Lipkin aus Protest gegen den Ausschluss zweier Dichter-Kollegen, Erofejew und Popow, freiwillig aus dem Schriftstellerverband aus. Sie publizierte viel im Ausland und in russischen Zeitschriften, wofür sie u. a. 1998 mit dem 144
Staatspreis Russlands und 1999 mit dem SolschenizynPreis ausgezeichnet wurde. Moriz, Junna. Geb. 1937 in Kiew. Ihre Vorfahren waren aus Spanien nach Russland gekommen und hatten einige Zeit in Deutschland gelebt. In ihrem Geburtsjahr wurde ihr Vater, Ingenieur und Jurist, aufgrund einer Verleumdung verhaftet und kehrte erst 1940, fast erblindet, aus dem Lager zurück. Den Krieg verbrachte sie in Tscheljabinsk. 1961 absolvierte sie in Moskau das Literaturinstitut. Im gleichen Jahr erschien ihr erster Gedichtband „Kap der Wünsche“, dem erst neun Jahre später der zweite, „Der Rebstock“, folgte. Von 1970 bis 1990 veröffentlichte sie weitere Gedichtbände, u. a. „Beim Licht des Lebens“, „Das dritte Auge“, „Blaues Feuer“, in denen sie sich auch dem jüdischen Thema widmete. In Zeitschriften publizierte sie eine Vielzahl von Kindergedichten, für die sie in Russland, aber auch in Italien mit literarischen Preisen ausgezeichnet wurde. In Russland erhielt sie u. a. den Andrej-Sacharow-Preis. Rezepter, Wladimir. Geb. 1935 in Odessa. Lebt in Sankt Petersburg. Er absolvierte als Schauspieler das Theaterinstitut in Taschkent und studierte an der philologischen Fakultät der Taschkenter Universität. Danach arbeitete er am Großen dramatischen Theater „M. Gorki“ in 145
Leningrad. Seit 1992 steht er an der Spitze des Petersburger Puschkin-Theaterzentrums. Er ist Verdienter Schauspieler der Russischen Föderation und Mitglied des russischen PEN-Klubs. Er veröffentlichte vor allem Gedichtbände, u. a. „Briefe über Hamlet“ (1977), „Vorstellung“ (1982), „Bis zum dritten Klingelzeichen“ (1991), „Die Rückkehr der Puschkinschen Nymphe“ (1998). Samojlow (eigentlich: Kaufmann) David. Geb. 1920 in Moskau, gest. 1990 in Moskau. Als Sohn eines Militärarztes begann er schon früh Gedichte zu schreiben. 1938 nahm er ein Studium am Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte auf. Sofort nach Beginn des Krieges meldete er sich freiwillig an die Font, wo er mehrfach verwundet wurde. Seinen ersten Gedichtband „Die nahen Länder“, dem weitere folgen sollten (z.B. „Der zweite Übergang“ 1963, „Tage“ 1970 „Welle und Stern“ 1980), veröffentlichte er erst 1958 und schrieb einige Theaterstücke. Ab 1976 lebte er in Pjarnu (Estland) und machte neben Eigenem Übersetzungen aus dem Polnischen, Tschechischen und Ungarischen sowie aus den Sprachen der Völker der UdSSR. Satunowskij, Jan (Jakow) Abramowitsch. Geb.1913 in Ekaterinoslaw (Dnepropetrowsk), gest. 1982 in Moskau. 146
Sein Vater, ein Zahnarzt, war assimilierter Jude und verfasste russische und ukrainische Gedichte. Nach Beendigung der Schule übersiedelte Satunowskij nach Moskau und wurde Bauingenieur. 1938 begann er in Zeitungen und Zeitschriften zu publizieren. Im Krieg wurde er Frontoffizier, erhielt mehrere Auszeichnungen und arbeitete nach einer Verwundung an einer Frontzeitung. Nach dem Krieg machte er die Bekanntschaft verschiedener Dichter wie Ehrenburg und Marschak. Er schrieb viel, publizierte aber kaum, denn das Thema seiner Gedichte war vor allem der Antisemitismus. Bis zur Perestroika konnte er nur Kindergedichte veröffentlichen. Seit den 70er-Jahren publizierte er viel im Westen. Sluzkij, Boris Abramowitsch. Geb. 1919 in Slawjansk (Donbass), gest. 1986 in Tula. Absolvierte 1941 das Maxim-Gorki-Literaturinstitut und war Teilnehmer am Großen Vaterländischen Krieg, wo er seine ersten Gedichte veröffentlichte. 1953 begann er wieder zu publizieren, und 1957 erschien sein erster Gedichtband „Das Gedächtnis“, dem in den folgenden Jahrzehnten weitere folgten, u. a. „Heute und gestern“ 1961, und „ Die Arbeit“ 1964. Einen besonderen Platz nahm in seinem Schaffen das jüdische Thema ein.
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Quellennachweise Boris Sluzkij Strich um Strich … – Sammelband „Menora“ ( Jüdische Motive in der russischen Poesie). Jüdische Universität Moskau 1993. S. 117. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Reif werde ich oder alt … – ebenda, S. 31. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Christi Verwandte – ebenda, S. 64. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Ich habe die Ukraine freigekämpft … – ebenda, S. 123. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Wie meine Großmutter zu Tode kam? … – ebenda, S. 166. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Aber uns, den Juden, ward Glück zuteil … – ebenda, 249. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. 148
Gratis liebe ich die Antisemiten … – ebenda, S. 268. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Über die Juden – ebenda, S. 269. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Mir träumt jetzt von Auschwitz unentwegt … – Sammelband „Boris Sluzkij“. Journal „Newa“, Sankt Petersburg 1999, S. 9. Mit freundlicher Genehmigung der Erben und des Herausgebers Pjotr Gorelik. Familiensinn hatte mich getrieben … – ebenda, S. 11. Mit freundlicher Genehmigung der Erben und des Herausgebers Pjotr Gorelik. In Deutschland – ebenda, S. 14. mit freundlicher Genehmigung der Erben und des Herausgebers Pjotr Gorelik. Abkunft – ebenda, S. 16. Mit freundlicher Genehmigung der Erben und des Herausgebers Pjotr Gorelik. Zu alten Juden wurden … – ebenda, S. 22. Mit freundlicher Genehmigung der Erben und des Herausgebers Pjotr Gorelik. Eure Nation … – ebenda, S. 35. Mit freundlicher Genehmigung der Erben und des Herausgebers Pjotr Gorelik. 149
Pferde im Ozean – ebenda, S. 55. Mit freundlicher Genehmigung der Erben und des Herausgebers Pjotr Gorelik. Mama – ebenda, S. 74. Mit freundlicher Genehmigung der Erben und des Herausgebers Pjotr Gorelik.
Jurij Lewitanskij Ganz richtig bemerkte irgendwer … – Sammelband „Weiße Gedichte“, Verlag „Wremja“, Moskau 1991. S. 339–340. Mit freundlicher Genehmigung der Erben.
Alexander Galitsch Warnung – Sammelband „Menora“ ( Jüdische Motive in der russischen Poesie). Jüdische Universität Moskau 1993. S. 222. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Der Zug – ebenda, S. 145. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Requiem für die Überlebenden – in „Petersburger Romanze“. – Verlag „Chudoschestwennaja Literatura“, Leningrad. S. 174. Mit freundlicher Genehmigung der Tochter des Dichters A. A. Archangelskaja-Galitsch.
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Joseph Brodskij Der jüdische Friedhof bei Leningrad. – Verlag „Menora“, Jüdische Universität Moskau 1993. S. 200. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa.
Wladimir Rezepter Requiem – in: „Der Rabe im Taurischen Garten“ („Baltische Saisons“), Sankt Petersburg 2009. S. 32. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Mit meinen alten verdorbenen Augen… – ebenda, S. 15. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Ilja Ehrenburg Weil wir Esfiras Mittagsglut … – Verlag „Menora“, Jüdische Universität Moskau 1993. S. 127–128; 129–130. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Wie mit Aussatz behaftet, Halbtote schon … – ebenda. In dieses Getto wird kein Menschen gelangen … – ebenda. Vor Zeiten ward einzeln umgebracht … – ebenda. Ein Listenführer saß in Auschwitz … – ebenda. Schon verbrannt sind die Verwandten alle … – ebenda.
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Als sie noch die Gesuchte war … – ebenda. Dort irrt die Geschichte nicht umher … – ebenda. Hiob durchwühlt die Aschenreste … – ebenda. Präge dir diese Grube ein … – ebenda.
David Samojlow Unausrottbar ist der Juden Same … – in: „Hinter dem dritten Gebirgspass“, Verlag des Fonds der russischen Poesie, Moskau 1999. S. 387. Mit freundlicher Genehmigung der Erben.
Semjon Lipkin Hof in Wilna – Verlag „Menora“, Jüdische Universität Moskau 1993. S. 165. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Kurzberichte – Sammelband „Augenzeuge“, ausgewählte Gedichte zusammengestellt von Inna Lisnjanskaja. Verlag „Wremja“, Moskau 2008. S. 174. Mit freundlicher Genehmigung der Erben. Moses – Verlag „Menora“, Jüdische Universität Moskau 1993. S. 170. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa.
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Kriegslied – in „Augenzeuge“, ausgewählte Gedichte zusammengestellt von Inna Lisnjanskaja. Verlag „Wremja“, Moskau 2008, S. 182. Mit freundlicher Genehmigung der Erben. Asche – ebenda, S. 118. Mit freundlicher Genehmigung der Erben.
Wladimir Lifschiz Dänische Legende – Verlag „Menora“, Jüdische Universität Moskau 1993, S. 38. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Wenn ich immer öfter höre – Er ist Jude … – ebenda, S. 86. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa.
Jan Satunowskij Zu Ende geht unsere Nation … – Verlag „Menora“, Jüdische Universität Moskau 1993, S. 204. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Niemand ist auf der Welt … – ebenda, S. 169. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa.
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Naum Grebnew Sie nannte mich Samjotschka … – aus dem Band „Lieder des Vergangenen“ (nach Texten aus der russisch-jüdischen Volkspoesie). Verlag „Sowetskij Pisatel“, Moskau 1986. S. 217. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Erben N. Grebnews. Rauchwolken steigen aus den Lageröfen … – ebenda, S. 248. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Erben N. Grebnews. Die letzte Station – ebenda, S. 218. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Erben N. Grebnews. Zeit zu schlafen … – ebenda, S. 225. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Erben N. Grebnews. Lieb Mütterchen, um Gottes willen … – ebenda, S. 244. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Erben N. Grebnews. Was meint man, Mama, wenn man Razzia sagt? … – ebenda, S. 222. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Erben N. Grebnews.
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Da war alles, da war Freiheit … – ebenda, S. 226. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Erben N. Grebnews. Ich weiß noch, Donnerstag war unsere Hochzeit … – ebenda, S. 237. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Erben N. Grebnews.
Naum Korschawin Vorrede zum Poem Jahrhundert-Ende – in: „An der Abschrägung des Jahrhunderts“. Verlag „Wremja“, Moskau 2008. S. 487–488. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Die Welt der jüdischen Stetl – Verlag „Menora“, Jüdische Universität Moskau 1993. S. 239. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Kinder in Auschwitz – ebenda, S. 144. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages und der Herausgeberin Ada Kolganowa. Poem vom Sein – in: „An der Abschrägung des Jahrhunderts“. Verlag „Wremja“. Moskau 2008. S. 512–539. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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Junna Moriz Erinnerung – in „Gedichte“, Verlag Wremja, Moskau 2006. S. 10–11. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. In der ukrainischen Erde – ebenda, S. 108–109. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Monolog eines Schräubchens – ebenda, S. 283–285. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. SINE ANNO, SINE LOGO. – ebenda, S. 68–69. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Inna Lisnjanskaja Es brach auseinander, was lange gewährt … – Gedichtband „Echo“. Verlag Wremja, Moskau 2005. S. 17. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Ja, so eine Zeit … – ebenda, S. 34. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Ein Zwischenfall … – ebenda, S. 96. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
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Mein Vater – Militärarzt war er … – ebenda, S. 117. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
Grigorij Korin Mein Buch hat man zerstückelt … – in: „Zeitweilig“. Verlag „Wremja“, Moskau 2006. S. 39. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Für das Schicksal deines Leibes … – ebenda, S. 44. Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Spielst du auch noch so sehr den Tapferen … – ebenda, S. 58. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Jurij Kaplan Enger zieht die tatarische Horde … – in: Gesamtausgabe, Verlag „Raduga“, Kiew 1990. S. 9–10. Mit freundlicher Genehmigung der Erben. Babij Jar – ebenda, S. 11–21. Mit freundlicher Genehmigung der Erben.
Für einige Autoren waren die Rechtsnachfolger nicht zu ermitteln. In einigen Fällen blieben Anfragen ohne Reaktion, dafür bitten wir um Verständnis. 157
GENNADI E. KAGAN
»SIE TANZTE IHRE SCHÖNHEIT« DIE LEGENDE VOM LEBEN DER RUSSISCHEN BALLERINA VERA KARALLI 1889–1972
Vera Karalli, die ehedem gefeierte Primaballerina des Moskauer BolschoiTheaters, erzählt ihr wahrhaft bewegtes Leben. Sie hatte getanzt und sie hatte geliebt, in Moskau den großen russischen Tenor Sobinow, in Sankt Petersburg den Großfürsten Dmitri Pawlowitsch, der die Ahnungslose in die düstere Affäre um die Ermordung Rasputins verstrickte. 2008. 271 S. 16 S/W-ABB. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-77784-7
»Ein außergewöhnliches Leben schildert Gennadi Kagan in seiner Biografie der russischen Tänzerin Vera Karalli.« Kurier / Kultur & Medien – Tages Buch
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com
GENNADI E. KAGAN
OH, DU MEIN RUSSISCHES ÖSTERREICH ANSICHTEN UND EINBLICKE EINES RUSSISCHEN WIENERS
Die geschäftig-gemütlichen Alt-Wiener, mit ihrem dem Fremden zuweilen wunderlich anmutenden Treiben, zeichnet der Autor mit ebenso spitzer Feder wie die russischen Neu-Wiener, die sich in bewährter Moskowitermanier in der Metropole an der Donau zu etablieren suchen oder längst etabliert haben. 2005. 167 S. BR. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-205-77428-0
»In seinem neuen Text hat Kagan seine Wiener Erfahrungen mit Polgar’scher Prägnanz und Musil’schem Witz dargelegt.« Der Standard / Album
»Mit spitzer Feder schildert Kagan in seinen kurzen Texten den Wiener Alltag. Er mokiert sich über das Gestrüpp der Bürokratie und macht sich über die Kaste der Rechnungs- Wirtschafts- und Steuerprüfer lustig, die er schon aus Russland kennt.« Das Parlament, 56. Jg., Nr. 20, 2006
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com