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German Pages 509 [510] Year 2009
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (München) Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Markus Bockmuehl (Oxford) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)
264
Michael Zugmann
„Hellenisten“ in der Apostelgeschichte Historische und exegetische Untersuchungen zu Apg 6,1; 9,29; 11,20
Mohr Siebeck
Michael Zugmann, geboren 1972; Studium der Fachtheologie und Selbständigen Religionspädagogik; 2001–2002 Pastoralassistent in Linz-Christkönig; seit 2003 Universitätsassistent am Institut für Bibelwissenschaft des Alten und Neuen Testaments an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz (KTU), 2009 Promotion.
e-ISBN PDF 978-3-16-151607-8 ISBN 978-3-16-149896-1 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Vorwort Die vorliegende, im Herbst des Jahres 2000 begonnene und Anfang März 2008 abgeschlossene Arbeit wurde im September 2008 von der KatholischTheologischen Privatuniversität Linz (KTU) als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurden die sprachgeschichtlichen und historischen Kapitel 1–5 in formaler Hinsicht überarbeitet und zusätzliche Literaturhinweise aufgenommen. Das bibeltheologisch-exegetische Kapitel 6 wurde inhaltlich bearbeitet und leicht erweitert. Gleichwohl musste manches skizzenhaft bleiben und konnte die Diskussion zu einzelnen Themen nicht in ihrer ganzen Breite geführt werden. Gemäß 2 Kor 4,15 und akademischem Brauch folgend, möchte ich an dieser Stelle Worte des Dankes sagen: Ich danke meinem Doktorvater Prof. Dr. Christoph Niemand für die Themenstellung und Betreuung der Arbeit, besonders für die Möglichkeit, als Assistent an der KTU zu arbeiten, für den Freiraum für mein Dissertationsprojekt und für sein Gutachten mit vielfältigen Hinweisen für die Überarbeitung und fürs Weiterdenken und Weiterforschen. Ich danke Prof. Dr. Konrad Huber vom Institut für Bibelwissenschaften und Historische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck für das ausführliche Zweitgutachten. Ich danke dem Vorstand des Instituts für Bibelwissenschaft, Prof. Dr. Franz Hubmann und meinem Kollegen, Ass. Dr. Werner Urbanz, für das gute Miteinander und für fachliche Hinweise und Anregungen. Ich bin für das kollegiale Klima an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität dankbar, besonders in der Kurie der Assistentinnen und Assistenten. Ich danke Ass. Dr. Ansgar Kreutzer, der mich im Oktober 2007 von der Aufgabe des Kuriensprechers entlastete, sodass ein guter Abschluss der Dissertation möglich wurde. Mein Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universitätsbibliothek, deren Arbeit Voraussetzung für ein „gedeihliches Studieren“ ist. Für Auskünfte aus dem Bereich der Alten Geschichte, der klassischen Philologie, der Papyrologie und der Judaistik danke ich Univ. Prof. Dr. Peter W. Haider, Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik, Universität Innsbruck; Dr. Andreas Retter, Institut für Sprachen und Literaturen, Abt.
VI
Vorwort
Gräzistik, Universität Innsbruck; Univ. Prof. Dr. Bernhard Palme, Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek; Univ. Prof. Dr. Günter Stemberger, Institut für Judaistik, Universität Wien. Für die wertvolle Mithilfe beim Korrekturlesen danke ich Mag. a Ursula Hingerl, Dr. Johann Hintermaier, Mag.a Anita Schwantner, Mag. Bernhard Zopf, meiner Frau und meinen Eltern. Herrn Prof. Dr. Jörg Frey, Evangelisch-Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die angesehene Reihe „Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe“ sowie Herrn Dr. Henning Ziebritzki und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages Mohr Siebeck in Tübingen für die gute Zusammenarbeit. Mein Dank gilt Mag. Bernhard Kagerer, der mit der ihm eigenen Genauigkeit und Verlässlichkeit die aufwendige Erstellung des Textsatzes und der Register besorgte, und dem Bischöflichen Fonds zur Förderung der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz, der dafür finanzielle Unterstützung gewährt hat. Zum Schluss möchte ich noch meinen Eltern und meiner Frau besonders danken. Meinen Eltern Max und Elfriede Zugmann danke ich für die vielfache materielle und ideelle Unterstützung – dadurch war es mir auch möglich, in den Studienjahren 2000/2001 und 2002/2003 den Grundstock für diese Arbeit zu legen. Meiner Frau Maria Katharina danke ich herzlich für ihr Verständnis meiner Arbeit gegenüber, für ihre Ermunterung und Ermutigung, für ihre liebevolle Begleitung. So möchte ich diese Arbeit meiner Frau Maria Katharina ZugmannWeber, meinen Eltern Max und Elfriede Zugmann und meiner Großmutter Maria Kohlberger widmen: mei,zwn evsti.n o` qeo.j th/j kardi,aj h`mw/n kai. ginw,skei pa,ntaÅ – Gott ist größer als unser Herz, und er weiß alles! (1. Johannesbrief 3,20) Linz, am Weißen Sonntag, 19. April 2009
Michael Zugmann
Inhaltsverzeichnis Vorwort ....................................................................................
V
Kapitel 1. Einleitung: „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte ..................................................................
1
1.1 1.2
Die drei Belege für ~Ellhnistai, in der Apostelgeschichte . Zielsetzung und Aufbau der vorliegenden Arbeit ...............
1 9
Kapitel 2. ~Ellhnisth, j , e` l lhni, z ein, ~Ellhnismo, j , ~Ellhnisti, in der profanen Gräzität bis in die Zeit des Neuen Testaments ...........................................................
11
2.1
~Ellhnisth, j : Kein profangriechischer Beleg vor dem Neuen Testament ....................................................... e` l lhni, z ein: „wie ein Grieche sprechen“ oder „wie ein Grieche leben“? .................................................. Zwischenergebnis: e` l lhni, z ein kennzeichnet sprachliches Vermögen ..................................................... ~Ellhnisti, – „in griechischer Sprache“ ............................. ~Ellhnismo, j – „richtiger Gebrauch der griechischen Sprache“ ...................................................... Ergebnis: Bedeutung und „Sitz im Leben“ des Nomens ~Ellhnisth, j .................................................. Nachgeschichte des Begriffs ~Ellhnisth, j ........................
19 22
Kapitel 3. Historische Verortung der ~Ellhnistai, als griechischsprachige Nichtgriechen ...............................
25
2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Griechischsprachige Nichtgriechen – ein weitverbreitetes Kulturphänomen in der antiken Welt ................................. 3.1.1 Die griechische Sprache als Schlüssel zur griechischen Kultur ....................................................
11 12 16 17 19
3.1
25 25
VIII
Inhaltsverzeichnis
3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.1.7 3.2.
Verschiedene Ausprägungen der Hellenisierung ................ Der Beitrag der hellenistischen Städte zur Hellenisierung . Die Charakteristika des Griechentums .............................. Der einheimische Wunsch nach Selbsthellenisierung ........ Druck griechischer oder philhellenischer Machteliten ....... Zusammenfassung ............................................................ {Ellhnej – eine verbreitete Bezeichnung für hellenisierte Nichtgriechen .......................................... Die Entschränkung des {Ellhnej-Begriffes ....................... e` l lhniko, j illustriert die Entschränkung des {Ellhnej-Begriffes ..................................................... Bildung als Kriterium für die Zugehörigkeit zu den {Ellhnej ................................................................ Ethisches Verhalten als Kriterium für die Zugehörigkeit zu den {Ellhnej ................................................................ Zusammenfassung ............................................................
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5
Kapitel 4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich ............................................................... 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4
Griechischsprachige Nichtgriechen im altrömischitalischen Kulturbereich .................................................... Vertreter und Zeugnisse philhellenischer Tendenzen ......... Vertreter und Zeugnisse antihellenischer Tendenzen ......... Zusammenfassung ............................................................ Griechischsprachige Nichtgriechen im seleukidischen Syrien .................................................. Die Seleukiden: Politik der Städtegründungen als „Hellenisierung“? ........................................................ Unterschiedliche Ausprägungen der Hellenisierung autochthoner Syrer ........................................................... Weitergehende „Hellenisierung“ autochthoner Syrer ......... Antiochia als „melting pot“ ..............................................
4.2.4.1 Zusammensetzung der Bevölkerung Antiochias .................................. 4.2.4.2 Fremd- und Selbstbezeichnungen der Antiochener ..............................
4.2.5 Zusammenfassung ............................................................ 4.3 Griechischsprachige Nichtgriechen im ptolemäischen Ägypten ................................................ 4.3.1 Griechen und Ägypter: Ein distanziertes Nebeneinander ... 4.3.2 Hellenisierung Einheimischer – ein Randphänomen .......... 4.3.3 {Ellhnej im ptolemäischen Ägypten: Synonym für alle Einwanderer ..........................................
27 28 30 31 33 33 34 35 36 38 40 43
45 45 48 51 56 57 57 58 61 65 66 68 72 74 74 76 79
Inhaltsverzeichnis
4.3.4 Belege für {Ellhn, e` l lhni, z ein, ~Ellhnisti, , ~Ellhnisth, j in Papyri als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse .........
IX
4.3.5 Zusammenfassung ............................................................
81 81 83 84 85 87
Kapitel 5. „Hellenisten“ im jüdischen Bereich: Griechischsprachige Juden ...................................................
89
4.3.4.1 4.3.4.2 4.3.4.3 4.3.4.4
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2
Selbstzeugnisse eines {Ellhn .............................................................. Selbstzeugnis eines ba, r baroj .............................................................. Belege für ~Ellhnisti, ......................................................................... Beleg für einen ~Ellhnisth, j ! ..............................................................
Griechischsprachigkeit und Hellenisierung im Judentum – eine Einführung ........................................ Die Begegnung des Judentums mit dem Hellenismus – ein geschichtlicher Überblick ........................................... Die vorhellenistische Zeit ................................................. Die Alexanderzeit ............................................................. Die Diadochenzeit ............................................................ Hellenistische Reform und Makkabäerkriege .................... Die Herrschaft der Hasmonäer .......................................... Römer und Herodianer ...................................................... Neukonstituierung der jüdischen Religion ......................... Die Begegnung mit den Griechen im Spiegel biblischer Texte ................................................................ Griechischsprachige Juden in der Diaspora ....................... Die westliche griechischsprachige Diaspora – eine Einführung ................................................................ Ägypten – Alexandria .......................................................
5.4.2.1 Ägypten – Alexandria: Geschichte und Bedeutung der Diaspora ......... 5.4.2.2 Nichtliterarische Zeugnisse der Griechischsprachigkeit ägyptischer bzw. alexandrinischer Juden ............................................. 5.4.2.2.1 Papyri ................................................................................. 5.4.2.2.2 Epigraphisches Material – Inschriften ................................. 5.4.2.2.3 Personennamen ................................................................... 5.4.2.3 Literarische Zeugnisse der Griechischsprachigkeit ägyptischer bzw. alexandrinischer Juden ............................................. 5.4.2.3.1 Die Septuaginta und hellenistisch-jüdische Literatur aus Alexandria .................................................................... 5.4.2.3.2 Griechen und Hellenisierte in hellenistisch-jüdischer Literatur ............................................................................. (a) Der Aristeasbrief .......................................................................... (b) Sibyllinische Weissagungen ......................................................... (c) Das Zweite Makkabäerbuch .......................................................... 5.4.2.3.3 Philo von Alexandria – seine Einstellung zur griechischen Sprache und zum Hellenismus ........................
89 95 95 96 96 100 105 107 115 117 126 126 129 129 133 134 136 140 142 142 145 147 148 150 153
X
Inhaltsverzeichnis
(a) ~Ellaj und av f ellhni, z w ................................................................. (b) ~Ellaj und {Ellhnej ..................................................................... (c) {Ellhnej und ba, r baroi ................................................................. (d) Philo und seine Leser als Griechischsprechende ........................... (e) Zusammenfassung zu Philo .......................................................... 5.4.2.4 Zusammenfassung ..............................................................................
5.4.3 Kyrenaika ......................................................................... 5.4.4 Syrien – Antiochia ............................................................ 5.4.4.1 Syrien – Antiochia: Geschichte und Bedeutung der Diaspora .............. 5.4.4.2 Literarische Zeugnisse für die jüdische Diaspora Antiochias im 2. Makkabäerbuch, bei Josephus Flavius u.a. ................................. 5.4.4.3 Zusammenfassung ..............................................................................
5.4.5 Kleinasien ........................................................................ 5.4.5.1 Kleinasien: Geschichte und Bedeutung der Diaspora, literarische Zeugnisse der Griechischsprachigkeit kleinasiatischer Juden .............. 5.4.5.2 Nichtliterarische Zeugnisse der Griechischsprachigkeit kleinasiatischer Juden ......................................................................... 5.4.5.2.1 Epigraphisches Material – Inschriften ................................. (a) Epigraphisches Material – Inschriften bis zum 1. Jh. n.Chr ............ (b) Epigraphisches Material – Inschriften vom 2. bis 5. Jh. n.Chr. ........ 5.4.5.2.2 Numismatisches Material – die Noach-Münzen von Apameia 5.4.5.3 Zusammenfassung ..............................................................................
5.4.6 Zypern .............................................................................. 5.5 Griechischsprachige Juden in Palästina ............................. 5.5.1 Die Übernahme der griechischen Sprache durch palästinische Juden: Der multilinguale Kontext ................ 5.5.2 Griechischsprachige Juden in Palästina vom 3. Jh. v.Chr. bis ins 1. Jh. n.Chr. ........................................................... 5.5.2.1 Nichtliterarische Belege für die Griechischsprachigkeit palästinischer Juden vom 3. Jh. v.Chr. bis ins 1. Jh. n.Chr . .................. Zusammenfassung .............................................................................. 5.5.2.2 Die Griechischsprachigkeit Jesu ......................................................... 5.5.2.3 Literarische Belege für die Griechischsprachigkeit palästinischer Juden vom 3. Jh. v.Chr. bis zum 1. Jh. n.Chr. ................ Zusammenfassung .............................................................................. 5.5.2.4 Josephus Flavius ................................................................................. Zusammenfassung .............................................................................. 5.5.2.5 Rabbinische Literatur .........................................................................
5.5.3 Faktoren, die die Übernahme der griechischen Sprache begünstigten ..................................................................... 5.5.3.1 Die benachbarten hellenisierten Städte („Griechenstädte“) .................. 5.5.3.2 Der Kontakt des Mutterlandes mit der Diaspora und der Zuzug von Diasporajuden ....................................................... 5.5.3.2.1 Der Kontakt des Mutterlandes mit der Diaspora .................. (a) Einflussnahme für die Diaspora .................................................... (b) Einflussnahme auf die Diaspora ................................................... (c) Theologisch-geistiger Austausch mit der Diaspora ........................ (d) Betreuung von Wallfahrern ...........................................................
155 156 157 160 163 164 165 169 169 171 181 182 182 192 192 193 194 201 201 203 205 205 208 208 223 225 227 235 235 247 248 252 253 257 257 258 258 259 261
Inhaltsverzeichnis
XI
5.5.3.2.2 Der Kontakt der Diaspora mit dem Mutterland .................... (a) Die Tempelsteuer .......................................................................... (b) Die Wallfahrt nach Jerusalem ....................................................... (c) „Rücksiedler“ bzw. „Rückwanderer“ aus der Diaspora ..................
262 263 265 271
Kapitel 6. Zum theologischen Profil der „Hellenisten“ in Apg 6,1 und 9,29 ...............................................................
295
6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.3
Zum theologischen Prol der jüdischen Hellenisten ............ Zum theologischen Prol der judenchristlichen Hellenisten . Judenchristliche Hellenisten: Einleitung ........................... Judenchristliche Hellenisten: Apg 6,1–6 ............................ Zur Theologie der „Hellenisten der Stephanusgruppe“ ......
6.2.3.1 Der Konflikt um Tempel und Tora nach Apg 6,8–14 ............................ 6.2.3.1.1 Einführung der Handelnden: Apg 6,8–10 ............................. (a) Stephanus ..................................................................................... (b) Die Gegner des Stephanus ............................................................ 6.2.3.1.2 Vorgehen und Vorwürfe gegen Stephanus: Apg 6,11–14 ....... 6.2.3.1.3 Die Vorwürfe gegen Stephanus und gegen Paulus im Vergleich: Apg 6,13.14 und Apg 21,21.28 ...................... 6.2.3.1.4 Das Tempelwort des Stephanus und das Tempelwort Jesu im Vergleich: Apg 6,13–14 und Mk 14,56–58 ...................... 6.2.3.1.5 Die Stephanusrede (Apg 7,2–53) ......................................... 6.2.3.1.6 Zusammenfassung: Die Tempelkritik der Jerusalemer „Hellenisten“ nach Apg 6,8–14; Mk 14,58 und Apg 7,48–50 .. 6.2.3.2 Ausblick: Weitere Anhaltspunkte zur Theologie, besonders zur Tempelkritik der Hellenisten der Stephanusgruppe .............................. 6.2.3.2.1 Christus als i` l asth, r ion (Röm 3,25–26a) ............................. 6.2.3.2.2 Die Entwicklung der Präexistenzchristologie ...................... (a) Die Weisheitsspekulation des hellenistischen Judentums ............... (b) Die Vorstellung eines präexistenten Heiligtums in Ex 15,17–18 LXX ........................................................... 6.2.3.2.3 Die Heidenmission und „Torakritik“ der Hellenisten ........... 6.2.3.3 Zusammenfassung ..............................................................................
295 300 300 301 309 312 313 314 315 315 325 333 357 371 377 377 388 389 394 396 403
Literaturverzeichnis ...............................................................
407
Abkürzungen .............................................................................. Aufbau des Literaturverzeichnisses ............................................. A. Quellentexte .....................................................................
407 407 408 408 408 410 411 412 416
A.1 A.2 A.3 A.4 A.5 A.6
Biblische Texte ................................................................................... Pseudepigraphen, hellenistisch-jüdische Literatur und Qumran ........... Rabbinische Schriften ......................................................................... Altchristliche Literatur ....................................................................... Profane griechische und lateinische Literatur der Antike ..................... Textsammlungen .................................................................................
XII
Inhaltsverzeichnis
A.7
Nichtliterarische Belege (Inschriften, Papyri – Editionen) ...................
B.
Hilfsmittel (Wörterbücher, Grammatiken, Konkordanzen) .................................................................. Kommentare zur Apostelgeschichte und zu anderen biblischen Schriften ..........................................................
C.
417 418
C.1 C.2
Apostelgeschichte ............................................................................... Andere biblische Schriften ..................................................................
419 419 419
D.
Monographien, Aufsätze und Artikel (einschließlich Lexikonartikel) .........................................
421
Register ....................................................................................
438
Aufbau der Register .................................................................... A. Stellenregister ..................................................................
438 438 438 446 452 453 453 456 456 458 463 492 492 496 497
A.1 A.2 A.3 A.4 A.5 A.6 A.7
Biblische Texte ................................................................................... Pseudepigraphen, hellenistisch-jüdische Literatur und Qumran ........... Rabbinische Literatur ......................................................................... Altchristliche Literatur ....................................................................... Profane griechische und lateinische Literatur der Antike ..................... Textsammlungen ................................................................................. Nichtliterarische Belege (Inschriften, Papyri – Editionen) ...................
B. C. D.
Namenregister .................................................................. Sachregister ...................................................................... Begriffsregister ................................................................
D.1 D.2 D.3
Griechische Begriffe ........................................................................... Hebräische Begriffe ............................................................................ Lateinische Begriffe ...........................................................................
Kapitel 1
Einleitung: „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte 1.1 Die drei Belege für ~Ellhnistai, in der Apostelgeschichte In der Apostelgeschichte erwähnt Lukas an drei Stellen (Apg 6,1; 9,29; 11,20) – eine davon ist textkritisch umstritten (Apg 11,20) – „Hellenisten“. In Apg 6,1 scheint von einem innergemeindlichen Konflikt der frühesten Jesusanhänger die Rede zu sein: VEn de. tai/j h`me,raij tau,taij plhquno,ntwn tw/n maqhtw/n evge,neto goggusmo.j tw/n ~Ellhnistw/n pro.j tou.j ~Ebrai,ouj( o[ti pareqewrou/nto evn th/| diakoni,a| th/| kaqhmerinh/| ai` ch/rai auvtw/nÅ „In diesen Tagen, als die Zahl der Jünger zunahm, begehrten die Hellenisten gegen die Hebräer auf, weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung übersehen wurden.“1
Bereits der genitivus absolutus plhquno,ntwn tw/n maqhtw/n macht deutlich, dass es hier um maqhtai, – Jesusanhänger, Angehörige der Urgemeinde – geht, unter denen Streit zwischen den ~Ebrai/oi und den ~Ellhnistai, ausgebrochen ist.2 Auch der weitere Verlauf der Erzählung (Apg 6,2–6) weist deutlich in diese Richtung, da die Apostel auftreten und den Streit schlichten, indem sie die Wahl eines Siebenergremiums initiieren, das für die Armenfürsorge zuständig sein soll. Doch wer sind die mit dem sonst nicht belegten Gegensatzpaar3 „Hellenisten“ – „Hebräer“ bezeichneten Gruppen innerhalb der Urgemeinde? Heute herrscht weitgehend Konsens, dass mit den „Hellenisten“ in Apg 6,1 griechischsprechende Judenchristen (aus der Diaspora) im Unterschied zu 1
Apg 6,1 (EÜ). Vgl. REINBOLD, Hellenisten, 98. Anders geht WALTER, Apg 6,1, 195. 208ff. davon aus, dass der in Apg 6,1 geschilderte Konikt zunächst ein innerjüdischer Konikt war, in den der Kreis um Stephanus dann eingriff. 3 Vgl. LÖNING, Stephanuskreis, 81. 2
1. Einleitung: „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte
2
den „Hebräern“, aramäischsprechenden Judenchristen (aus Palästina), gemeint sind,4 dass also das Unterscheidungsmerkmal zwischen diesen Gruppen der Urgemeinde in erster Linie die Sprache war. Nach Apg 6,1 hat es zunächst den Anschein, dass der Ausdruck ~Ellhnistai, lukanischer oder traditioneller terminus technicus, vielleicht sogar „altchristlicher Parteiname“ war,5 dass also ~Ellhnistai, Selbstbezeichnung des unter der Leitung der „Sieben“, besonders des Stephanus (Apg 6,3.5f.), stehenden Teils der Urgemeinde oder Fremdbezeichnung dieser Gruppe des Urchristentums durch Zeitgenossen oder durch den Verfasser der Apostelgeschichte war. Mag diese Annahme im Hinblick auf Apg 6,1 durchaus ihre Berechtigung haben, führt sie hinsichtlich Apg 9,29 und 11,20 in erhebliche Schwierigkeiten: Nimmt man an, dass ~Ellhnistai, ursprünglich terminus technicus für den griechischsprachigen Teil der Urgemeinde war, wäre die Bedeutungsverschiebung dieses Begriffs in Apg 9,29 – und erst recht in Apg 11,20 – schwer zu erklären. Apg 9,29 erwähnt nämlich Diskurse zwischen Paulus, der nach seiner Bekehrung von Barnabas in Jerusalem eingeführt wurde, und „Hellenisten“: evla,lei te kai. sunezh,tei pro.j tou.j ~Ellhnista,j( oi` de. evpecei,roun avnelei/n auvto,nÅ „Er (Paulus) führte auch Streitgespräche mit den Hellenisten. Diese aber planten, ihn zu töten.“6
Diese „Hellenisten“ können vor allem aus zwei Gründen nicht mit jenen von Apg 6,1 identisch sein:7 Erstens besagt Apg 8,1b, dass alle Jesusanhänger außer den Aposteln aus Jerusalem vertrieben worden waren (pa,ntej de. diespa,rhsan kata. ta.j cw,raj th/j VIoudai,aj kai. Samarei,aj plh.n tw/n 4
Vgl. HENGEL, Jesus, 161ff. u.a. Vgl. REINBOLD, Hellenisten, 96f.; vgl. PESCH/GERHART/SCHILLING, Hellenisten, 87f. 6 Apg 9,29 (EÜ). 7 Anderer Meinung ist BICHLER, Hellenisten, 13–16. 26–29. Für ihn ergibt die „fast sakrosankte“ Auffassung, dass in Apg 9,29 eine andere Personengruppe als in Apg 6,1 gemeint sei, ein „Dilemma“ (Bichler sieht in Apg 11,20 die Lesart „Griechen“ als die ursprünglichere an; er geht also nur von zwei Hellenisten-Stellen aus): „Das heißt nun aber nichts anderes, als dass der im ganzen Neuen Testament, ja überhaupt im bekannten griechischen Schrifttum bis zur Kirchenväterzeit nur in der Apostelgeschichte begegnende Ausdruck ~Ellhnistai, einmal Anhänger und einmal erbitterte Gegner der christlichen Urgemeinde bezeichnet, einmal der Torafrömmigkeit gegenüber liberal eingestellte und einmal gesetzestreue Juden, einmal den Kreis um Stephanus und einmal just die Gruppe derjenigen, die zu den Verfolgern dieses Kreises zählten.“ (14) – Deshalb vermutet Bichler, dass in Apg 6,1 und 9,29 beide Male Judenchristen gemeint seien. 5
1.1 Die drei Belege für ~Ellhnistai, in der Apostelgeschichte
3
avposto,lwn), zweitens ist unwahrscheinlich, dass Lukas Mitgliedern der christlichen Urgemeinde zuschreibt, dass sie Paulus nach dem Leben trachteten. – Ist aber die Bezeichnung ~Ellhnistai, hier nicht auf dieselbe Personengruppe wie in Apg 6,1 anzuwenden, wer ist dann mit den „Hellenisten“ in Apg 9,29 gemeint? Auch diesbezüglich herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass diese „Hellenisten“ griechischsprachige Juden8 sind, „(…) jene griechischsprechende Minorität von Diasporajuden, die um des Tempels, des Gesetzes und der Heiligkeit des Landes willen nach Jerusalem zurückgekommen waren (…)“9, orthodoxe Eiferer unter den hellenistischen Diasporajuden, die schon maßgeblichen Anteil an der Verfolgung des Stephanus hatten (vgl. Apg 6,9). Dass der Begriff ~Ellhnistai, zwei so unterschiedliche, ja entgegengesetzte Gruppen wie in Apg 6,1 und 9,29 bezeichnen kann, dürfte daran liegen, dass er hauptsächlich auf die Griechischsprachigkeit der Bezeichneten abhebt. Es legt sich nahe, in Apg 9,29 von einem weiteren Sprachgebrauch und in Apg 6,1 von einem durch Begriffsverschiebung zustande gekommenen engeren Begriffsgebrauch auszugehen: Bei den in Apg 6,1 genannten ~Ellhnistai, „(…) handelt es sich zweifellos um zum Messias-Jesus-Glauben bekehrte Griechisch sprechende Jerusalemer Juden, d. h. um Griechisch sprechende Judenchristen (‚Hellenisten‘ neuer Konfession). Der Unterscheidungsbegriff, die Fremdbezeichnung, wird nun in einem anderen soziologischen Rahmen, innerhalb einer vom Jerusalemer Judentum insgesamt anfänglich sich unterscheidenden Gruppe benutzt. Das gemeinsame Merkmal der ‚Hellenisten‘ von 9,29 und 6,1 ist ihre griechische Sprache; sie unterscheiden sich durch ihre Konfession. (…) Die judenchristlichen ‚Hellenisten‘ bilden (zunächst) eine Sprachgruppe des Jerusalemer Judentums, innerhalb einer Sondergruppe des Jerusalemer Judentums, innerhalb der judenchristlichen Gemeinde. Vermutlich ist die Begriffsverschiebung von Apg 9,29 zu 6,1 nicht nur material durch die Differenz ‚Juden-Judenchristen‘, sondern auch formal durch die Differenz ‚allgemeiner Unterscheidungsbegriff – besondere Gruppenbezeichnung‘ zu markieren. ‚Die Hellenisten‘ in der Urgemeinde sind eine bestimmte, fest umrissene Gruppe (was von den ‚Hellenisten‘ allgemein in Jerusalem nicht gesagt werden kann). Und dies gilt auch dann, wenn diese Hellenisten sich (zunächst) nur durch ihre Sprache und Herkunft von den übrigen Mitgliedern der Urgemeinde unterscheiden“10.
8 Vgl. HENGEL, Jesus, 164. – Dass in Apg 9,29 mit den „Hellenisten“ keine heidnischen Gegner des Paulus gemeint sind, ist ebenfalls klar, vgl. REINBOLD, Hellenisten, 98: „Zum einen hätte Lukas in diesem Fall mit der Zwischenbemerkung 9,29 die große Szene 10,1–11,18, mit der er die Heidenmission programmatisch beginnen lässt, entwertet – in Wirklichkeit wäre Paulus derjenige, der als erster auf Heiden zugeht. Zum anderen denken Heiden nicht daran, einen jüdischen Missionar in Jerusalem gleich umzubringen, und Lukas hätte nicht daran gedacht, dergleichen zu erzählen.“ (vgl. HAENCHEN, Apg, 280 A. 3). 9 HENGEL, Jesus, 189. 10 PESCH/GERHART/SCHILLING, Hellenisten, 87f. PESCH/GERHART/SCHILLING, Hellenisten, 89 nennen „Hebräer“ als analoges Phänomen: Damit konnten einerseits aramäisch
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1. Einleitung: „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte
Zu den zwei Gruppen in Apg 6,1 und 9,29, die beide ~Ellhnistai, genannt werden, kommt unter Umständen noch in Apg 11,20 eine dritte als ~Ellhnistai, bezeichnete Personengruppe, die weder mit den griechischsprachigen Juden in Apg 9,29 noch mit den griechischsprachigen Judenchristen in Apg 6,1 gleichzusetzen ist. In Apg 11,19–20 schildert der auctor ad Theophilum die Gründung der Gemeinde in Antiochia und geht besonders auf die Verkündigung unter „Hellenisten“ ein: 19
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Oi` me.n ou=n diaspare,ntej avpo. th/j qli,yewj th/j genome,nhj evpi. Stefa,nw| dih/lqon e[wj Foini,khj kai. Ku,prou kai. VAntiocei,aj mhdeni. lalou/ntej to.n lo,gon eiv mh. mo,non VIoudai,oijÅ h=san de, tinej evx auvtw/n a;ndrej Ku,prioi kai. Kurhnai/oi oi[tinej evlqo,ntej eivj VAntio,ceian evla,loun kai. pro.j tou.j ~Ellhnista.j euvaggelizo,menoi to.n ku,rion VIhsou/nÅ „Bei der Verfolgung, die wegen Stephanus entstanden war, kamen die Versprengten bis nach Phönizien, Zypern und Antiochia; doch verkündeten sie das Wort nur den Juden. Einige aber von ihnen, die aus Zypern und Zyrene stammten, verkündeten, als sie nach Antiochia kamen, auch den Hellenisten das Evangelium von Jesus, dem Herrn.“11
Nach dem Erzählfaden der Apostelgeschichte ergibt sich folgendes Bild: Leute, die in der Verfolgung nach dem Martyrium des Stephanus aus Jerusalem ausgewiesen worden waren (vgl. Apg 8,1b.4), wahrscheinlich die in Apg 6,1 „Hellenisten“ genannte Gruppe griechischsprachiger Judenchristen rund um Stephanus, missionierten in Zypern, Phönizien und Antiochia. Einige von diesen judenchristlichen ~Ellhnistai, – ursprünglich griechischsprechende Diasporajuden aus Zypern und Kyrene – verkündeten in Antiochia das Evangelium anderen ~Ellhnistai,. Aus dem Kontext ist klar, dass es sich bei diesen „Hellenisten“ um Nichtjuden handeln muss, werden sie doch deutlich den VIoudai/oi von V. 19 als Adressaten der Missionsverkündigung gegenübergestellt (V. 19: mhdeni. ))) eiv mh. mo,non VIoudai,oij; V. 20: h=san de, tinej ))) evla,loun kai. pro.j tou.j ~Ellhnista.j).12 – Betrachtet man sprachige Juden bezeichnet werden, andererseits „aus Sicht der christlichen ‚Hellenisten‘ zweifellos die in Jerusalem Einheimischen bzw. aus Galiläa hierher übergesiedelten Aramäisch sprechenden Judenchristen“. Als analoges Beispiel für die Differenz „allgemeiner Unterscheidungsbegriff – besondere Gruppenbezeichnung“ erwähnen die Autoren (88 A. 3) noch: „Italiener“ kann einerseits zur Unterscheidung italienischer Gastarbeiter von der deutschen Bevölkerung in Frankfurt, andererseits als besondere Gruppenbezeichnung für die italienische Gruppe einer bestimmten Pfarre verwendet werden. 11 Apg 11,19–20 (EÜ) – allerdings ist „Griechen“ durch „Hellenisten“ (MZ) ersetzt. 12 Vgl. REINBOLD, Hellenisten, 98. – Vgl. HEMER, Acts, 194 zu Apg 11,20: „If here ‚Greek-speakers‘, they are apparently Gentiles, in contrast with Jews, not, as before,
1.1 Die drei Belege für ~Ellhnistai, in der Apostelgeschichte
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diesen Befund hinsichtlich Apg 11,20, ergibt sich folgende Problematik: 1. Sieht man Apg 11,20 mit Apg 6,1; 9,29 zusammen, zeigt sich, dass an diesen drei Stellen drei sehr unterschiedliche Gruppierungen als ~Ellhnistai, bezeichnet werden: griechischsprachige Judenchristen in Jerusalem (6,1), griechischsprachige Juden in Jerusalem (9,29) und Nichtjuden in Antiochia, die Adressaten der christlichen Missionsverkündigung waren und die, so kann man nach dem zu Apg 6,1; 9,29 Gesagten annehmen, wohl ebenfalls durch ihre Griechischsprachigkeit charakterisiert wurden (11,20). 2. In der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen ist die Gegenüberstellung von VIoudai,oi und {Ellhnej gebräuchlich,13 wobei „Griechen“ (beinahe) Synonym für „Nichtjuden“ ist. Diesem Sprachgebrauch entsprechend, wären auch in Apg 11,20 {Ellhnej als Adressaten der Mission der a;ndrej Ku,prioi kai. Kurhnai/oi zu erwarten. – Dass in Apg 11,19f. das Gegensatzpaar VIoudai/oi – {Ellhnej zu erwarten wäre, findet seinen Niederschlag in der Lesart {Ellhnaj statt ~Ellhnista.j in Apg 11,20, die einige „prominente“ Handschriften bieten: P74 (Papyrus Bodmer XVII, 7. Jh., Kat. I), A 02 (Codex Alexandrinus, 5. Jh., Kat. I) und D* (ursprüngliche Lesart im Codex Bezae Cantabrigiensis, 5. Jh., Kat. I); von der Hand eines Korrektors stammt die Lesart {Ellhnaj in a2 01 (Codex Sinaiticus, 4. Jh., Kat. I)14 – die dort ursprüngliche Lesart euvaggelista.j (a* 01) ist offensichtlich ein Fehler, der durch Abgleiten des Blicks des Schreibers auf das folgende Wort euvaggelizo,menoi entstand, sie ergibt keinen Sinn. – Viele Exegeten bevorzugen die Lesart {Ellhnaj mit Hinweis auf die wichtigen Textzeugen (äußere Bezeugung) und auf die genannten inneren Kriterien,15 1. dass im Sinne des überkommenen Gegensatzpaares eher „Griechen“ als Gegenüber zu „Juden“ zu erwarten wäre, 2. dass es unwahrscheinlich ist, dass ~Ellhnistai, noch für eine dritte Gruppe über die bereits in Apg 6,1; 9,29 Genannten hinaus verwendet wird,16 3. dass die „Hellenisten“ ein Phänomen in Jerusalem (vgl. Apg 6,1; 9,29) waren und die Bezeich-
‚Greek-speaking‘ Jews. As the term ‚Hellenist‘ seems to have been current only in the primitive period of the church (…), all the occurrence of {Ellhnaj seem to represent a secondary stage of interpretation.“ 13 Vgl. in der Apostelgeschichte: Apg 14,1; 18,4; 19,17; 20,21; in Paulusbriefen: Röm 2,9f.; 3,9; 10,12; 1 Kor 1,24; 12,13; Gal 3,28; weiters: Kol 3,11. 14 Vgl. NA27, 354 (textkritischer Apparat zu Apg 11,20); ALAND, Text, 110. 117ff. (Kat. = Kategorie = textkritischer Wert der Handschrift). 15 Vgl. REINBOLD, Hellenisten, 97 A. 4; JERVELL, Apg, 322 A. 244 mit Literaturhinweisen. 16 Beispielsweise kritisiert BICHLER, Hellenisten, 25: Die sich aus der Lesart ~Ellhnista.j in Apg 11,20 ergebende „(…) weiteste Fassung des Ausdrucks Hellenisten impliziert ein Verschwimmen der Trennlinien zwischen Jesusanhängern und Gegnern, torakritischen und orthodoxen Juden, selbst zwischen Juden und Nichtjuden.“ – Gegen diese Argumentation spricht allerdings, dass ein Begriff bzw. eine Bezeichnung durchaus in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann, vgl. REINBOLD, Hellenisten, 98f.
1. Einleitung: „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte
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nung „Hellenisten“ in der griechischsprachigen Diaspora keinen Sinn gehabt hätte, weil dort die Griechischsprachigkeit selbstverständlich war.17
Dennoch spricht eine textkritische Abwägung nach äußerer Bezeugung und inneren Kriterien18 dafür, dass ~Ellhnista.j ursprüngliche Lesart in Apg 11,20 ist. 1. Die äußere Bezeugung: Die Lesart ~Ellhnista.j bieten die Majuskelhandschriften B 03 (Codex Vaticanus, 4. Jh., Kat. I), E 08 (Codex Laudianus, 6. Jh., Kat. II), y 044 (Codex Athous Laurensis, 8./9. Jh., Kat. III), die Minuskelhandschrift 1739 (10. Jh., Kat. II), der byzantinische Mehrheitstext sowie D2 05, also ein Korrektor des Codex Bezae Cantabrigiensis (5. Jh., Kat. I).19 Sie ist damit mindestens ebenso gut belegt wie die Lesart {Ellhnaj. Obwohl letztere auf den ersten Blick fast durchgehend von Textzeugen der Kategorie I bezeugt ist, ist das Gewicht dreier dieser Zeugen stark vermindert: „Codex Sinaiticus ist erst von einer späteren Hand korrigiert worden, Codex Bezae wird später zu ~Ellhnista.j korrigiert, und Codex Alexandrinus disqualiziert sich durch die Korrektur von ~Ellhnista.j zu {Ellhnaj in Apg 9,29.“20 – Hingegen ist die Lesart ~Ellhnista.j sehr gut (B 03) bzw. gut (E 08, 1739) bezeugt. Für ihre Ursprünglichkeit könnte auch die erwähnte, unsinnige Lesart euvaggelista.j in der ursprünglichen Fassung des Codex Sinaiticus (a* 01) sprechen: Hinter dem EUAGGELISTASEUAGGELIZOMENOI scheint ein ursprüngliches ELLHNISTASEUAGGELIZOMENOI durch: „(…) das Auge des Schreibers verirrte sich zum nächsten Wort, erfasste aber zugleich das Ende des vorhergehenden.“21 2. Die inneren Kriterien: Die Lesart ~Ellhnista.j ist aus den genannten Gründen die zu bevorzugende lectio difficilior, die Variante {Ellhnaj erscheint jedoch als lectio facilior, als nachträgliche „Vereinfachung“ mit dem gebräuchlichen {Ellhnaj, das keine Interpretationsprobleme aufwirft.22 Nimmt man dagegen {Ellhnaj als ursprüngliche Lesart an, stellt sich die schwierige Aufgabe zu erklären, wieso ein Schreiber das unauffällige {Ellhnaj durch das seltene und „heikle“ ~Ellhnista.j ersetzen hätte sollen.23 17
Vgl. HENGEL, Jesus, 164ff. Vgl. die mustergültige textkritische Argumentation bei REINBOLD, Hellenisten, 97; weiters die ungewöhnlich ausführliche Diskussion von Apg 11,20 bei METZGER, Commentary, 340ff. sowie WALTER, Apg 6,1, 204f.; JERVELL, Apg, 322 mit A. 243f. 19 Vgl. NA27, 354; ALAND, Text, 117ff. 123. 153. 20 REINBOLD, Hellenisten, 97. 21 REINBOLD, Hellenisten, 97; vorsichtiger METZGER, Commentary, 341f. A. 18. 22 Vgl. METZGER, Commentary, 342. Vgl. WALTER, Apg 6,1, 204 – zu Apg 11,20: „(…) wenn man später unter den ~Ellhnistai, erst einmal eine Gruppe der Jerusalemer christlichen Urgemeinde verstand (…) oder den Ausdruck doch wenigstens auf hellenistische, also Diaspora-Juden festgelegt dachte (so nach 9,29), dann musste in 11,20 ~Ellhnista,j als falsch erscheinen und konnte sich die Änderung in {Ellhnaj nahelegen (welcher Ausdruck dann freilich hier auch nur in einem weiteren Sinne, in dem er etwa mit ta. e;qnh synonym wird, zutrifft). Jedenfalls scheint mir eine nachträgliche Änderung in dieser Richtung besser begreiich zu sein als in der umgekehrten.“ 23 Vgl. REINBOLD, Hellenisten, 97: Mögliche Erklärungen sind meist wenig plausibel, beispielsweise die Vermutung, das aus Apg 6,1 vorgeprägte ~Ellhnista.j solle die Aussage von Apg 11,20 entschärfen, dass es sich bei den Adressaten der Mission in Apg 11,20 um {Ellhnaj im Sinne von „Heiden, Nichtjuden“ handelte, und damit den Primat der Heidenmission des Petrus betonen. Dagegen ist vor allem zweierlei anzuführen: Erstens räumt Apg 10,1–11,18 den Primat der Heidenmission ohnehin Petrus ein, zweitens müsste man 18
1.1 Die drei Belege für ~Ellhnistai, in der Apostelgeschichte
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Ist tou.j ~Ellhnista.j die ursprüngliche Lesart in Apg 11,20, dann sind an dieser Stelle mit den „Hellenisten“, die Adressaten der christlichen Missionsverkündigung waren, anscheinend – wie aus dem Kontext (vor allem V. 19) hervorgeht – heidnische Einwohner von Antiochia gemeint, Syrer, die zwar nicht geborene Griechen waren, sich aber der griechischen Sprache als ihrer Umgangssprache bedienten.24 Es bleibt also nach dem textkritischen Befund dabei: In der Apostelgeschichte werden drei sehr unterschiedliche Gruppierungen als ~Ellhnistai, bezeichnet: Judenchristen in Jerusalem (Apg 6,1), griechischsprachige Juden in Jerusalem (Apg 9,29) und Nichtjuden in Antiochia, die Adressaten der christlichen Missionsverkündigung waren (Apg 11,20). Aus den ~Ellhnistai,-Belegen der Apostelgeschichte gewinnt man keinesfalls den Eindruck, dass diese drei Gruppen durch gemeinsame inhaltlich-theologische Standpunkte gekennzeichnet waren,25 die Bezeichnung ~Ellhnistai, also dementsprechend ein alle drei Gruppen umfassender „Parteiname“ gewesen wäre. Vielmehr scheint die einleuchtendste Erklärung, dass so unterschiedliche Gruppen mit dem gemeinsamen Namen ~Ellhnistai, bezeichnet werden konnten, darin zu liegen, dass ihnen allen das e`llhni,zein, ihre Griechischsprachigkeit, gemeinsam war.26 Diese frappant einfache, etymologisch inspirierte Erklärung der Gruppenbezeichnung „Hellenisten“, die ja bereits angeklungen ist, findet sich schon in einer Homilie des Johannes Chrysostomos (349–407 n.Chr.)27 zu Apg 6,1:
bei einer solchen Erklärung fragen, worin dann der Gegensatz zwischen den „Juden“ in V. 19 und den „Hellenisten“ in V. 20 (die ja bei dieser Erklärung als Juden interpretiert werden) bestünde. – Vgl. JERVELL, Apg, 322 mit A. 246. 24 Vgl. WALTER, Apg 6,1, 205; WALTER, Diaspora-Juden, 386. KRAUS, Zwischen, 62ff. übernimmt Walters These und meint, dass die „syrischen Hellenisten“ von Apg 11,20 heidnische Sympathisanten der jüdischen Gemeinde, sogenannte „Gottesfürchtige“, waren. Aus der Lesart ~Ellhnista,j in Apg 11,20 und der hier vorzuziehenden Bedeutung „griechischsprachige Heiden“ schloss CADBURY, Hellenists, 59–74, dass in Apg 6,1; 9,29 mit den ~Ellhnistai, Heidenchristen gemeint seien. Nicht nur wegen der großen Schwierigkeit, mit Heidenchristen in Jerusalem zu einem so frühen Zeitpunkt der Gemeindeentwicklung zu rechnen, ist diese Auffassung heute als erledigt anzusehen. – Vgl. auch das Referat dieser Position bei BICHLER, Hellenisten, 18–21. 25 Die meisten Positionen zu den „Hellenisten“ in der Forschungsgeschichte beziehen sich auf die „Hellenisten“ der Stephanusgruppe (Apg 6,1), vgl. die Zusammenfassungen bei NEUDORFER, Stephanuskreis, 9f. 80–85; HENGEL, Jesus, 157–161; METZGER, Commentary, 340f. mit A. 11–15. 26 HENGEL, Jesus, 167–171; SCHNEIDER, Apg I, 407 A. 10 betonen (vor allem in Bezug auf Apg 6,1), dass die griechische Sprache das ausschlaggebende Kennzeichen der „Hellenisten“ war. 27 Vgl. KLASVOGT, Johannes Chrysostomus: LThK 5 (1996), 889–892.
1. Einleitung: „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte
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~Ellhnista.j de. oi=mai kalei/n( tou.j ~Ellhnisti. fqeggome,nouj\ ou-toi ga.r ~Ellhnisti. diele,gonto ~Ebrai/oi o;ntej)28 „ ‚Hellenisten‘ aber – so meine ich – werden genannt die griechisch Sprechenden: Diese nämlich sprachen griechisch, waren (aber) Juden.“29
Während allerdings Chrysostomos die Erklärung, die griechische Sprache sei das entscheidende Kriterium für die Zugehörigkeit zu den „Hellenisten“, nur auf die Jerusalemer griechischsprachigen Judenchristen (Apg 6,1) und Juden (Apg 9,29) bezieht, wird hier eine weiter gefasste Definition von „Hellenisten“ vertreten, ausgehend vom textkritischen Befund, dass Apg 11,20 als weiterer Beleg für den Sprachgebrauch der Apostelgeschichte hinsichtlich der ~Ellhnistai, genommen werden kann: Hellenisten sind „(…) nach der Terminologie des Lukas Nichtgriechen (z. B. Juden oder auch Syrer), für die das Griechische die Umgangssprache war. (…) ‚Hellenisten‘ sind jedenfalls im Sinne des lukanischen Wortgebrauchs alle Nichtgriechen, die Griechisch sprechen, zum Beispiel auch antiochenische Syrer (…)“30.
Da hinter Apg 6,1; 9,29; 11,20 nicht eine einzige Bezugsgruppe stehen kann, ist anzunehmen, dass das gemeinsame Merkmal der Griechischsprachigkeit ausschlaggebend für die Benennung drei unterschiedlicher Gruppierungen als ~Ellhnistai, war. Durch den Kontext wird klar, welche Gruppe näherhin in Apg 6,1; 9,29; 11,20 jeweils als „Hellenisten“ bezeichnet wird: „Als ~Ellhnistai, gelten dem Autor der Apostelgeschichte also, der Etymologie des Wortes entsprechend, sowohl Griechisch sprechende Juden als auch Griechisch sprechende Heiden, wobei es keinerlei Unterschied macht, ob sie sich zur Ekklesia halten oder nicht. Jeder des Griechischen Kundige kann ein ~Ellhnisth,j heißen, erst der Kontext entscheidet darüber, ob er ein Jude ist oder ein Heide, ob er christgläubig ist oder nicht. In einem Wort: ~Ellhnistai, sind ganz allgemein Männer (und Frauen), die als Muttersprache Griechisch sprechen.“31
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Johannes Chrysostomos, In Acta Apostolorum Homiliae 14.1: MIGNE PG 60 (1862), 113. Zu Apg 9,29 vgl. Johannes Chrysostomos, In Acta Apostolorum Homiliae 21.1: MIGNE PG 60 (1862), 164. – Vgl. die Hinweise bei BICHLER, Hellenisten, 19 mit A. 22. 29 Eigene Übersetzung MZ; vgl. MIGNE PG 60 (1862), 113: „Hellenistas puto hic vocari eos, qui Graece loquebantur; hi enim Graeca lingua utebantur, licet Hebraei essent.“ 30 WALTER, Diaspora-Juden, 386. – Vgl. WALTER, Apg 6,1, 205: „Unter ~Ellhnistai, werden (in der Apg, MZ) Menschen verstanden, die palästinisch-syrischer Herkunft sind (in 6,1 und 9,29 handelt es sich um Juden, in 11,20 um antiochenische Nichtjuden), sich aber des Griechischen als ihrer Umgangssprache (wenn schon nicht als ‚Muttersprache‘) bedienen.“ 31 REINBOLD, Hellenisten, 98.
1.2 Zielsetzung und Aufbau der vorliegenden Arbeit
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1.2 Zielsetzung und Aufbau der vorliegenden Arbeit Die nachfolgende Darstellung geht von der eben besprochenen weit gefassten Definition der ~Ellhnistai, als These aus. Kapitel 2 möchte zunächst mit einer Untersuchung des Wortfelds e`llhni,zein ktl den Nachweis erbringen, dass beim Nomen ~Ellhnisth,j die Konnotation „Griechischsprechender“ vorherrscht und deshalb mit diesem Substantiv prägnant „griechischsprechende Nichtgriechen“ bezeichnet werden. Kapitel 3 zeigt sodann auf, dass es in der Antike, besonders in der Epoche des Hellenismus, viele „griechischsprechende Nichtgriechen“ gab, dass also das mit dem (selten gebrauchten) Begriff ~Ellhnisth,j auf den Punkt gebrachte Kulturphänomen, dass Nichtgriechen griechische Sprache, Bildung und Kultur übernahmen, im Altertum weit verbreitet war. Kapitel 4 macht dann die Verbreitung des Kulturphänomens griechischsprachiger Nichtgriechen anhand von Beispielen aus dem paganen Bereich (Rom, Syrien und Ägypten) deutlich. Dies geschieht nicht zuletzt, um die Akkulturationsphänomene, die hinter der Erwähnung der ~Ellhnistai, – der heidnischen syrischen „Hellenisten“ – in Apg 11,20 zu vermuten sind, anschaulich zu machen. Kapitel 5 legt im Hinblick auf den historisch-soziologischen Hintergrund der in Apg 6,1; 9,29 erwähnten griechischsprachigen Juden bzw. Judenchristen den Fokus auf die Begegnung zwischen Judentum und Hellenismus, besonders auf die Verbreitung der griechischen Sprache unter den Juden der Diaspora (5.4) und Palästinas (5.5). Besondere Aufmerksamkeit widmet die Darstellung dabei der Diaspora in Ägypten (Alexandria), der Kyrenaika, in Syrien (Antiochia), Kleinasien und auf Zypern, weil diese Gebiete in Zusammenhang mit dem Bericht über die jüdischen bzw. judenchristlichen „Hellenisten“ erwähnt werden: In Apg 6,5 heißt es, dass zum Gremium der „Sieben“ auch Nikolaos, Proselyt aus Antiochia gehörte. Nach Apg 6,9 stammten die jüdischen Gegner des Stephanus aus Alexandria, der Kyrenaika und aus Kleinasien. Apg 11,19f. berichtet von der Gründung der Gemeinde von Antiochia und von der Rolle, die dabei Diasporajudenchristen aus Zypern und Kyrene spielten. – Ein weiterer Schwerpunkt der Darstellung sind die Kontakte zwischen Jerusalem und der Diaspora, zumal aus Apg 2,5.9f.; 6,1.5.9; 9,29 und weiteren Stellen deutlich wird, dass griechischsprachige Diasporajuden in Jerusalem als Pilger und Rücksiedler, die sich hier aus Liebe zum Heiligen Land, zum Tempel und zur Tora niederließen, eine wichtige Rolle spielten, im Besonderen auch in der Jerusalemer judenchristlichen Urgemeinde.
Kapitel 6 fasst nach der Skizzierung zentraler theologischer Themen hellenistischer Diasporajuden das „theologische Profil“ der judenchristlichen „Hellenisten“ (Apg 6,1–6) ins Auge: Dieses lässt sich am deutlichsten durch die Analyse des in Apg 6,8–14 geschilderten Konflikts zwischen jü-
10
1. Einleitung: „Hellenisten“ in der Apostelgeschichte
dischen und judenchristlichen „Hellenisten“ in Jerusalem herausarbeiten: Vor allem aus den Vorwürfen gegen Stephanus, wie sie Apg 6,11.13f. wiedergibt, und durch deren Vergleich mit Apg 21,21.28 und dem Tempelwort Jesu Mk 14,58 kann man rekonstruieren, dass im Zentrum der Verkündigung der Jerusalemer judenchristlichen „Hellenisten“ ein implizit tempelkritisches christologisch-soteriologisches Bekenntnis stand. Dieses fand seinen Ausdruck auch in der vorpaulinischen Formel Röm 3,25–26a und in der frühen Präexistenzchristologie. In seiner Konsequenz wandten sich die „Hellenisten“ nach ihrer Vertreibung aus Jerusalem mit ihrer Mission auch Nichtjuden zu, unter anderem den heidnischen ~Ellhnistai, in Antiochia (Apg 11,20), und nahmen sie durch die Taufe – jedoch ohne Forderungen des Ritualgesetzes, vor allem ohne die Forderung der Beschneidung – in das neue Gottesvolk auf.
Kapitel 2
~Ellhnisth,j, e`llhni,zein, ~Ellhnismo,j, ~Ellhnisti, in der profanen Gräzität bis in die Zeit des Neuen Testaments 2.1 ~Ellhnisth,j: Kein profangriechischer Beleg vor dem Neuen Testament In der profanen Gräzität gibt es – so der überraschende Befund – für ~Ellhnisth,j bis in die neutestamentliche Zeit keinen Beleg!1 ~Ellhnisth,j wirkt also zunächst wie eine Neubildung2; um mögliche Bedeutungen von ~Ellhnisth,j zu erheben, ist eine Untersuchung der Wortfamilie angezeigt: Da ~Ellhnisth,j wie das Adverb ~Ellhnisti, und das Substantiv ~Ellhnismo,j vom Verb e`llhni,zein abzuleiten ist3 (als nomen auctoris bzw. agentis4), ist zunächst nach der Bedeutung des Verbs e`llhni,zein im profanen Griechisch bis zum Neuen Testament zu fragen (2.2). Diese Untersuchung des Verbs lässt bereits Rückschlüsse auf die Bedeutung von ~Ellhnisth,j als dem abgeleiteten Nomen zu, die im Zwischenergebnis als Thesen formuliert werden (2.3). Kurze Untersuchungen zum Bedeutungsspektrum des Adverbs ~Ellhnisti, (2.4) und des Substantivs ~Ellhnismo,j (2.5) sollen den Befund abrunden. Im Ergebnis werden nochmals Thesen zur Bedeutung des Nomens ~Ellhnisth,j formuliert, und es wird nach dem „Sitz im Leben“ dieses Nomens gefragt (2.6). Ein kurzer Ausblick auf die Nachgeschichte von ~Ellhnisth,j (2.7) soll schließlich noch zeigen, dass die Konnotationen dieses Begriffs in späteren 1
Dieser und die folgenden Befunde basieren auf Recherchen im Thesaurus Linguae Graecae (TLG) ähnlich wie die Untersuchung H. Alan BREHM, The Meaning of ~Ellhnisth,j in Acts in Light of a Diachronic Analysis of e`llhni,zein (BREHM, Meaning, 183; 185 A. 12). Während Brehm Belege bis zum 6. Jh. n.Chr. einbezieht, konzentriere ich mich auf die Zeit bis zum NT. 2 Vgl. WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 501–514; hier 508. Für GEMOLL, Wörterbuch, 266 ist ~Ellhnisth,j neutestamentlich und mit „griechischer Jude“ zu übersetzen. Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 420. 3 Vgl. FRISK, Wörterbuch I, 498; BREHM, Meaning, 180f. A. 1. 4 Laut BDR § 109/7 A. 8 (S. 88f.) eine Wortbildung wie baptisth,j oder euvaggelisth,j; vgl. MOULTON/HOWARD, Grammar, 365; ROBERTSON, Grammar, 153f.
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2. Sprachgeschichtliches zu ~Ellhnisth,j ktl
Jahrhunderten (vor allem ab dem 4. Jh. n.Chr.) nicht in die Bedeutung von ~Ellhnisth,j zur Zeit des Neuen Testaments eingetragen werden dürfen.
2.2 e`llhni,zein: „wie ein Grieche sprechen“ oder „wie ein Grieche leben“? e`llhni,zein ist ein von {Ellhn abgeleitetes Verb (Denominativ), und zwar – wie andere Verba mit dem Suffix -i,zein – ein Vergleichsverb (Imitativ):5 „sich wie ein Grieche ({Ellhn) gebärden“6. Grundsätzlich kann e`llhni,zein bedeuten: „Griechisch sprechen“, „wie ein Grieche leben“ oder – negativdistanziert – „die Griechen nachahmen“ statt in Sprache und Lebensstil man selbst zu sein.7 Das von e`llhni,zein abgeleitete Nomen ~Ellhnisth,j würde dann also entweder „griechisch Redender“ oder „griechisch Lebender“ bedeuten.8 Aus der Untersuchung der 27 Belege von e`llhni,zein in der profanen griechischen Literatur bis zur Epoche des Neuen Testaments ergibt sich jedoch ein eindeutiger Befund: e`llhni,zein bedeutet hier stets „Griechisch sprechen“.9 Dabei ist zunächst in 13 Belegen vom e`llhni,zein autochthoner Griechen die Rede. Platon (428–348 v.Chr.) und Aristoteles (384–322 v.Chr.) meinen mit e`llhni,zein das Griechischsprechen, das durch Lehrer erlernt wird oder mit dem Sachverhalte dargestellt werden.10
5 Vgl. MOULTON/HOWARD, Grammar II, 409: Beispiele mhdi,zein (die Meder nachäffen), lakwni,zein (spartanische Sitten annehmen), filippi,zein (Philipps Partei ergreifen). STOWASSER, Wörterbuch, 476 übersetzt „graecari“, das lateinische Äquivalent zu e`llhni,zein, treffend als „griecheln“ (vgl. Duden-Grammatik 41984, 433 § 776 zu Imitativen im Deutschen, z.B. pilgern). 6 BDR § 108/3 A. 4f. (S. 86f.). 7 Vgl. HOHEISEL, Hellenismus: LThK3 4 (1995), 1410; STEPHANUS, Thesaurus 4, 768: „Graecos sequor seu imitor (…) Graece loquor (…) Eleganter vel Recte graece loquor“. 8 Vgl. HAUBECK/SIEBENTHAL, Neuer sprachlicher Schlüssel I, 660. 9 Nicht mitgezählt sind die beiden Belege für die Komposita avfellhni,zein und evxellhni,zein in der Profangräzität vor dem NT. avfellhni,zein „durchgreifend hellenisieren“ (vgl. LIDDELL-SCOTT, Lexicon, 288) ist nur im Korinthiakos, Dion zugeschrieben, bezeugt (vgl. 4.1 Hellenisierung im altrömisch-italischen Bereich); evxellhni,zein in Plutarch, Numa 13.6: Juba habe „ancilia“ aus dem Griechischen abgeleitet (glico,menoj evxellhni,sai tou;noma): vgl. ZIEGLER I (1979), 187f.; griechisch: ZIEGLER III/2 (1973), 71. 10 Fünf Belege für e`llhni,zein bei Platon: Alkibiades 111a.111c: vgl. SCHLEIERMACHER I (1977), 550–553; Charmenides 159a: vgl. SCHLEIERMACHER I (1977), 302f.; Protagoras 328a: vgl. SCHLEIERMACHER I (1977), 130f.; Menon 82b: vgl. SCHLEIERMACHER II (1973), 540f. Vier Belege für e`llhni,zein bei Aristoteles: Rhetorik 1407a. 1413b: vgl. RAPP
2.2 e`llhni,zein
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Poseidippos aus Kassandreia (um 300 v.Chr.)11 nimmt innergriechische Sprachunterschiede, vor allem den Hochmut der Attischsprechenden, aufs Korn: „Ein Hellas nur es gibt, der Staaten aber viel. Du redest attisch (su. me.n avttiki,zeij), wenn du deine Sprache sprichst, hellenisch wir Hellenen (oi` d v {Ellhnej e`llhni,zomen). Warum reitest du auf Silben und Buchstaben und übertreibst so die Feinheit bis zum Ekel?“12 Für Dionysios von Halikarnass (geb. ca. 60 v.Chr.)13, einen Vertreter des Attizismus, den Poseidippos ähnlich karikiert hätte, ist Platons Stil (Platwnikh, dia,lektoj) erhaben und schlicht, manchmal aber schlechtes Griechisch (ka,kion e`llhni,zousa), das plump wirkt (pacute,ra fai,netai).14 Dion Chrysostomos (ca. 40–120 n.Chr.)15 erzählt, Diogenes habe Alexander nicht vor dem persisch oder medisch (persi,zwn, mhdi,zwn), sondern vor dem makedonisch und griechisch Sprechenden (makhdoni,zwn, e`llhni,zwn) gewarnt, also gemeint, dass er sich selbst die größte Gefahr sei.16
In 14 Belegen wird aber auch Nichtgriechen attestiert, dass sie des e`llhni,zein, also des Griechischsprechens, mächtig sind. Thukydides (ca. 460–400 v.Chr.)17 erwähnt im Peloponnesischen Krieg die Stadt Argos, die die griechische Sprache übernahm (h`llhni,sqhsan th.n nu/n glw/ssan);18 Xenophon (ca. 430–354 v.Chr.)19 in der Anabasis einen Mundschenk, der Griechisch verstand (e`llhni,zein hvpi,stato).20 Aischines (ca. 390–315 v.Chr.) nennt in der Rede gegen Ktesiphon seinen Gegner Demosthenes „(…) by his mother’s blood (…) a Skythian, (…) a Greek-tongued barbarian (avpo. th/j mhtro.j Sku,qhj ba,rbaroj e`llhni,zwn th|/ fwnh|/)“21. Näherbestimmungen wie th.n nu/n glw/ssan bzw. th|/ fwnh|/ zeigen: Die Autoren wissen um das
(2002), 136f.150; griechisch: ROSS (1959), 152.172; Topik 182a (zweimal): vgl. GOHLKE (1952), 312f.; griechisch: ROSS (1958), 244f. 11 Vgl. NESSELRATH, Poseidippos [1]: DNP 10 (2001), 199. 12 Laut TLG Poseidippos, Fragmente 28.3: deutsche Übersetzung zit. n. JÜTHNER, Hellenen, 40; vgl. LIDDELL-SCOTT, Lexicon, 273 und 536; BREHM, Meaning, 187 A. 21. 13 Vgl. FORNARO, Dionysios von Halikarnassos: DNP 3 (1997), 635f. 14 Laut TLG-Recherche zweimal derselbe Text: Dionysios, Demosthenes 5.18ff. (eigene Übersetzung), vgl. USHER I (1974), 254–257: „(…) impressive and decorated language (…) lacks its purity of dialect and transparency of texture.“ Brief an Gnaeus Pompeius 2.5.1ff., vgl. USHER II (1985), 362–365. Vgl. BREHM, Meaning, 189 A. 32; vgl. JÜTHNER, Hellenen, 42f.: e`llhni,zein bedeutet für Dionysios „korrekt griechisch, d.h. attisch sprechen“. 15 Vgl. ELLIGER (1967), XI–XVI; Hinweise auf Belegstellen bei Dion Chrysostomos fehlen bei BREHM, Meaning, 185–192 erstaunlicherweise völlig! 16 Vgl. Dion Chrysostomos, Reden 4.55f.: vgl. COHOON I (1949), 194f.; ELLIGER (1967), 76. 17 Vgl. HORNBLOWER, Thukydides [2]: DNP 12/1 (2002), 506ff. 18 Vgl. Thukydides, Geschichte 2.68: vgl. LANDMANN (1960), 164f. (griechisch zit. n. TLG). 19 Vgl. SCHÜTRUMPF, Xenophon [2] aus Athen: DNP 12/2 (2002), 633–642; zur Anabasis, dem Feldzug des Perserkönigs Kyros gegen seinen Bruder Artaxerxes II. vgl. 634ff. (mit Landkarte). 20 Vgl. Xenophon, Anabasis 7.3.25: vgl. ZIMMERMANN (1990), 414f. 21 Aischines, Rede gegen Ktesiphon 172: ADAMS (1958), 442f. Vgl. ENGELS/WEISSENBERGER, Aischines: DNP 1 (1996), 347ff. Vgl. BREHM, Meaning, 186 A. 17; er übersieht, dass mit dem „Skythen“ Demosthenes gemeint ist.
2. Sprachgeschichtliches zu ~Ellhnisth,j ktl
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Bedeutungsspektrum von e`llhni,zein und wollen verdeutlichen, dass die Bewohner von Argos bzw. Demosthenes „der Sprache nach“ griechisch waren, nicht ihrer Herkunft nach.
Die beredtesten Zeugnisse dafür, dass e`llhni,zein in der profanen Gräzität vor dem Neuen Testament in erster Linie „Griechisch sprechen“ bedeutet, finden sich in den Geographika Strabons aus Amaseia (62 v.Chr.–24 n.Chr.)22; die Griechischsprechenden sind überdies in allen Belegen (mit einer Ausnahme) Nichtgriechen. Aufschlussreich ist eine Stelle aus dem 14. Buch der Geographika: Strabon erläutert, warum Homer die Karier „barbarisch Redende“ nennt. Zahlreiche Vokabel verweisen auf Sprache und sprachliches Vermögen (bzw. Unvermögen!), darunter e`llhni,zein und ~Ellhnismo,j (je zweimal), die mit Negativbegriffen wie kakostomi,a, barbari,zein, barbarofwnei/n, kari,zein, soloiki,zein23 kontrastiert werden: „Dagegen zeigte sich eine andre fehlerhafte Sprechweise (kakostomi,a) und eine gleichsam barbarische Mundart (barbarostomi,a) in unserer eigenen Sprache, wenn ein hellenisch Redender (e`llhni,zwn) nicht richtig spricht (mh. katorqoi,h), sondern die Worte so ausspricht, wie die Barbaren, wenn sie, sich an die hellenische Sprache machend (oi` eivsago,menoi eivj to.n ~Ellhnismo.n), nicht richtig zu sprechen vermögen (ouvk ivscu,ontej avrtistomei/n), wie es auch uns bei ihren Sprachen geht. Dies nun begegnete besonders den Kariern. Denn während die anderen Völker noch nicht viel mit den Hellenen verkehrten, auch nicht hellenisch zu leben (e`llhnikw/j zh/n) oder unsre Sprache zu erlernen versuchten (manqa,nein th.n h`mete,ran diale,kton), (…) waren dagegen die für Gold dienenden Karier durch ganz Hellas verbreitet. So war denn schon von ihrem Kriegsdienste in Hellas an das Barbarischreden (to. barbaro,fwnon) bei ihnen häug (…). Denselben Ursprung hat aber auch der Ausdruck barbarizein [barbarisieren]; denn auch diesen brauchen wir gewöhnlich von den schlecht hellenisch Redenden (evpi. tw/n kakw/j e`llhnizo,ntwn), nicht von den Karisch Sprechenden (ouvk evpi. tw/n kari,sti lalou,ntwn). Eben so muss man also auch das Barbarischreden (to. barbarofwnei/n) und die barbarisch Redenden (tou,j barbarofw,nouj) [nur] von den schlecht hellenisch Redenden (tou.j kakw/j e`llhni,zontaj) verstehen. Von dem karizein [karisieren] aber nahm man auch das barbarizein (barbari,zein) und das soloikizein (soloiki,zein) unter die Kunstausdrücke der hellenischen Sprachlehre auf (eivj ta.j peri. ~Ellhnismou/ te,cnaj) (…).“24
Auch in den folgenden beiden Belegen aus Strabons Geographika liegt der Fokus von e`llhni,zein unmissverständlich auf dem Beherrschen der griechischen Sprache. 22
Vgl. RADT, Strabon: DNP 11 (2001), 1021f. Vgl. GEMOLL, Wörterbuch, 682: soloiki,zein „fehlerhaft sprechen“; vgl. Recherche im TLG: insgesamt 151 Belege für soloiki,z-; vgl. BREHM, Meaning, 187 A. 22; vgl. JÜTHNER, Hellenen, 43: Solözismus als Fehler gegen die Syntax; Barbarismus als Fehler in Aussprache, Schreibung oder Biegung eines einzelnen Wortes. 24 Strabon 14.2.28: FORBIGER (2005), 943f. (Hv im Original). Der leichteren Lesbarkeit dieses langen und wichtigen Zitates wegen ziehe ich hier ausnahmsweise die Übersetzung Albert Forbigers (Mitte 19. Jh.) heran; vgl. JONES VI (1950), 304–307. Vgl. BREHM, Meaning, 188 A. 28. 23
2.2 e`llhni,zein
15
Ägyptens König Euergetes II. habe einen indischen Seemann in der griechischen Sprache unterrichten lassen (to.n de. paradou/nai toi/j dida,xousin e`llhni,zein), damit er von der Irrfahrt nach Ägypten berichte;25 indische Gesandte hätten einen griechisch auf Pergament geschriebenen Brief (th.n evpistolh.n e`llhni,zein evn difqe,ra| gegramme,nhn) mit sich geführt.26
Wenden wir uns nun noch den profangriechischen Autoren zur Zeit des Neuen Testaments zu: e`llhni,zein bedeutet auch hier ausschließlich „Griechisch sprechen bzw. verstehen“ und wird fast durchgehend auf Nichtgriechen bezogen: Plutarchs (ca. 45–120 n.Chr.)27 Schrift „Über das Glück oder die Tapferkeit Alexanders des Großen“ vermerkt, Karneades habe den Karthager Klitomachus (Hasdrubal) Griechisch gelehrt (e`llhni,zein evpoi,hse).28 Ebenfalls von Plutarch stammt das antiepikureische Werk „Gegen Kolotes“29, das ironische Aussagen über die Epikureer enthält, „(…) whose Greek is more correct (toi/j avkribe,steron e`llhni,zousi) and style more pure (kaqarw,teron dialegome,noij) (…)“30. Rufus (um 100 n.Chr.), Arzt aus Ephesus31, klagt: Viele anatomische Bezeichnungen stammen von ägyptischen Ärzten, die schlecht Griechisch sprechen (fau,lwj e`llhnizo,ntwn).32 Dion Chrysostomos meint, man habe den Pferdeknecht des Kallias für dessen Sohn gehalten, weil er ießend Griechisch sprach (h`llh,nizen avkribw/j).33 Ihn überrascht, dass die Borystheniten Homer schätzten, obwohl sie kein reines Griechisch mehr sprachen (ouvke,ti safw/j e`llhni,zontej).34 Und in philosophischen Überlegungen stellt er fest, dass alle Griechischsprechenden (pa,ntej oi` e`llhni,zontej) das Wort „Mensch“ verwenden.35 Der alexandrinische Historiker Appian (90–160 n.Chr.) schildert im Samnitischen Buch (über die 25 Vgl. Strabon 2.3.4: vgl. JONES I (1949), 376–379; FORBIGER (2005), 138f. Strabon zitiert Poseidonios, dessen Geschichtswerk in Fragmenten erhalten ist, vgl. INWOOD, Poseidonios [3]: DNP 10 (2001), 211f.; BREHM, Meaning, 188 A. 29. 26 Vgl. Strabon 15.1.73: vgl. JONES VII (1954), 124–127; FORBIGER (2005), 1014. Ein Hinweis auf diese Stelle fehlt bei BREHM, Meaning. 27 Vgl. PELLING/BALTES, Plutarchos: DNP 9 (2000), 1159–1173. 28 Vgl. Plutarch, Moralia. Glück oder Tapferkeit Alexanders 328D: vgl. BABBITT IV (1972), 392f. Ein Hinweis auf die Stelle fehlt bei BREHM, Meaning. 29 Vgl. ERLER, Kolotes: DNP 6 (1999), 671f.: Kolotes, geboren um 320 v.Chr., Schüler Epikurs, verfasste die Schrift „Nach der Lehre der anderen Philosophen kann man nicht leben“. 30 Plutarch, Moralia. Gegen Kolotes 1116E: EINARSON/DE LACY XIV (1967), 244f. Plutarch höhnt, dass die Epikureer Platon korrigieren wollen. Ein Hinweis auf die Stelle fehlt bei BREHM, Meaning. 31 Vgl. NUTTON, Rufus (Rhuphos) von Ephesos: DNP 10 (2001), 1156ff. 32 Laut TLG-Recherche Rufus, De corporis humani appellationibus 132–135 (eigene Übersetzung); vgl. BREHM, Meaning, 189 A. 32. 33 Vgl. Dion Chrysostomos, Reden 15.15: vgl. COHOON II (1950), 158f.; ELLIGER (1967), 274. 34 Vgl. Dion Chrysostomos, Reden 36.9f.: vgl. COHOON/CROSBY III (1951), 428–431; ELLIGER (1967), 510. 35 Vgl. Dion Chrysostomos, Reden 36.18f.: vgl. COHOON/CROSBY III (1951), 438f.; ELLIGER (1967), 513.
2. Sprachgeschichtliches zu ~Ellhnisth,j ktl
16
römische Reichsbildung),36 wie die Einwohner von Tarent römische Gesandte verspotteten, „(…) whenever they made a slip in their Greek (ei; ti mh. kalw/j e`llhni,seian)“37.
2.3 Zwischenergebnis: e`llhni,zein kennzeichnet sprachliches Vermögen Die Dokumentation der 27 profangriechischen e`llhni,zein-Belege zeigt: e`llhni,zein bedeutet bis in die Zeit des Neuen Testaments durchwegs „Griechisch sprechen“ bzw. „Griechisch verstehen“, sein Fokus liegt unmissverständlich auf sprachlichem Vermögen. Das zeigen sowohl Näherbestimmungen wie th.n glw/ssan oder th|/ fwnh|/ („der Sprache nach“) als auch die Kontrastierung mit Negativbegriffen wie kakostomi,a („schlechte Sprache“) oder barbari,zein („barbarisch reden“). Hengel und Brehm gelangen zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Hengel konstatiert für e`llhni,zein „konzentrierten sprachlichen Sinn“38, und Brehm fasst mit wünschenswerter Deutlichkeit zusammen: „The most prevalent use of the term e`llhni,zein in the canon of Greek authors (…) is to ‚speak Greek‘.“39 Interessant ist jedenfalls, dass e`llhni,zein nicht nur von autochthonen Griechen (in 13 Belegen) ausgesagt wird, sondern auch von Nichtgriechen (in 14 Belegen):40 e`llhni,zein bezog sich also oft auf Völker oder einzelne Personen, von denen das Griechischsprechen vorerst nicht erwartet werden konnte.41 Dieser Befund ermöglicht, als Zwischenergebnis drei Thesen aufzustellen, wen das von e`llhni,zein abgeleitete Nomen ~Ellhnisth,j bezeichnen könnte: (1) Wie bei e`llhni,zein dürfte auch beim abgeleiteten Nomen ~Ellhnisth,j der Fokus auf sprachlichem Vermögen, also dem Beherrschen der
36
Vgl. MAGNINO, Appianos: DNP 1 (1996), 903ff. Appian, Samnitisches Buch 7.4.2: WHITE I (1958), 78f.; vgl. BREHM, Meaning, 185f. A. 15. 38 HENGEL, Jesus, 166; vgl. HADAS, Kultur, 58: „Die Grundbedeutung von e`llhni,zein (‚Hellenisieren‘) ist ‚griechisch sprechen‘ (…)“. 39 BREHM, Meaning, 185; vgl. ebd., 188: „Greek authors dene the matter of learning to e`llhni,zein in terms of acquiring a prociency with language.“ 40 Für das Profangriechisch bis zum NT wäre das Urteil von BREHM, Meaning, 184 überzogen, das er auf die Zeit bis zum 6. Jh. n.Chr. bezieht: „(…) the predominant usage of the term e`llhni,zein referred to the ability of a non-Greek to speak the language correctly.“ 41 Vgl. HADAS, Kultur, 58. 37
2.4 ~Ellhnisti,
17
griechischen Sprache liegen: Ein ~Ellhnisth,j wird in erster Linie durch das Griechischsprechen charakterisiert. (2) Wenn sich e`llhni,zein überdies vielfach auf Nichtgriechen und deren Vermögen, Griechisch zu sprechen, bezieht, dürfte dies erst recht auf das Nomen zutreffen: Wird jemand explizit als ~Ellhnisth,j bezeichnet, dürfte seine Griechischsprachigkeit nicht so selbstverständlich sein wie für einen autochthonen {Ellhn. (3) Unter einem ~Ellhnisth,j dürfte also ein griechischsprachiger Nichtgrieche, der Griechisch im Alltag (wie seine Muttersprache) verwendet, zu verstehen sein. Lässt sich dieses Zwischenergebnis noch durch die Untersuchung von ~Ellhnisti, und ~Ellhnismo,j stützen?
2.4 ~Ellhnisti, – „in griechischer Sprache“ Wie ~Rwmaisti, (lateinisch), ~Ebraisti, (hebräisch) etc. gehört ~Ellhnisti, (griechisch) zu den Adverbien auf -isti,, die auf die Frage antworten: „In welcher Sprache?“42 In den 38 Belegen der Profangräzität bis in die Zeit des Neuen Testaments bedeutet es – mit einer Ausnahme43 – stets „in griechischer Sprache“: Nach Xenophons Anabasis habe der Thrakerkönig Seuthes das meiste von griechischen Reden verstanden (xuni,ei. auvto.j ~Ellhnisti. ta. plei/sta).44 Die Indika des Ktesias (5./4. Jh. v.Chr.)45 erzählen von einem Vogel, der wie ein Mensch indisch redete (diale,gesqai de. auvto. w[sper a;nqrwpon VIndisti,), wenn er Griechisch lernte, auch griechisch (a;n de. ~Ellhnisti, ma,qhi( kai. ~Ellhnisti,).46 Strabon berichtet, die Stadt Massalia habe die Gallier zu solchen Griechenfreunden gemacht (file,llhnaj kateskeu,aze tou.j Gala,taj), dass sie sogar Verträge in griechischer Sprache abfassten (ta. sumbo,laia e`llhnisti. gra,fein).47 Plutarch verweist in seinen biographischen Schriften darauf,48 dass berühmte Personen ~Ellhnisti,
42 Vgl. MOULTON/HOWARD, Grammar, 163; zu ~Ellhnisti, kein Hinweis bei BREHM, Meaning. 43 Vgl. Strabon 4.1.5: vgl. JONES II (1949), 174f.; FORBIGER (2005), 245. Die Massalier führten den Artemis-Kult ein und opferten auf hellenische Art (e`llhnisti. qu,ein). 44 Vgl. Xenophon, Anabasis 7.6.9: vgl. ZIMMERMANN (1990), 436f. 45 Vgl. HÖGEMANN, Ktesias: DNP 6 (1999), 874f.: Hauptwerke des Ktesias sind Periodos (Erdbeschreibung), Persika, Indika. Fragmente der Indika laut TLG-Recherche bei Photius. 46 Laut TLG-Recherche F. 45.28f. (eigene Übersetzung). 47 Vgl. Strabon 4.1.5: vgl. JONES II (1949), 178f.; FORBIGER (2005), 246. 48 Laut TLG-Recherche 18 Belege von ~Ellhnisti, bei Plutarch, davon 13 in Biographien.
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2. Sprachgeschichtliches zu ~Ellhnisth,j ktl
sprachen,49 Reden hielten oder Geschichtswerke verfassten.50 Eine Anekdote illustriert gut, dass ~Ellhnisti, „in griechischer Sprache“ bedeutet: Ein Prophet habe Alexander den Großen auf Griechisch besonders freundlich anreden wollen (~Ellhnisti. boulo,menon proseipei/n meta, tinoj filofrosu,nhj) und ihn aus barbarischer Unkenntnis (u`po. barbarismou/) „Sohn des Zeus“ (paidi,oj) genannt.51 Theon (1./2. Jh. n.Chr.) erklärt in den Progymnasmata (Lesebuch für Gymnasien), Herodot habe seine Werke griechisch verfasst (~Hro,doton ~Ellhnisti. gra,fonta).52
Dass ~Ellhnisti, „in griechischer Sprache“ bedeutet, zeigen noch besonders Belege, in denen aus fremden Sprachen ins Griechische übersetzt wird: Platon übersetzt Namen von Ägyptisch (Aivguptisti,) bzw. einer Landessprache (evpicw,rion),53 Ktesias von Indisch (VIndisti,),54 Plutarch von Latein (~Rwmaisti,) und Rufus von Arabisch ins Griechische (~Ellhnisti,);55 Diodor überträgt einen Flussnamen auf ~Ellhnisti,.56 Dionysios von Halikarnass verwendet ~Ellhnisti, in einer Begriffsklärung: Was auf Griechisch übersetzt Synedrion heißt (tou/to to. sune,drion ~Ellhnisti, e`rmhneuo,menon), wird bei den Römern Gerusia (Senat) genannt.57
49 Laut TLG-Recherche Pompeius 78.3 (Achillas grüßt Pompeius griechisch); Caesar 66.8; Brutus 2.5; 17.5; 52.2 (Casca und Brutus sprechen griechisch). Nach Pompeius 60.2 habe Caesar seinen berühmten Ausspruch am Rubikon in griechischer Sprache getan: VAnerri,fqw ku,boj. 50 Laut TLG-Recherche Cato Marcus 12.5 (eine griechische Rede Catos); Cicero 4.6 (eine griechische Übungsrede Ciceros vor Apollonius); Cato Marcus 12.6 (Albinus’ römische Geschichte in griechischer Sprache: i`stori,an ~Ellhnisti, gra,yanta). 51 Vgl. Plutarch, Alexander 27.9: vgl. PERRIN VII (1967), 304f. 52 Laut TLG-Recherche Progymnasmata 116.8 (eigene Übersetzung); vgl. WEISSENBERGER, Theon [6]: DNP 12/1 (2002), 375f. Der Grammatiker Tryphon (1. Jh. v.Chr.; vgl. BAUMBACH, Tryphon [2]: DNP 12/1 [2002], 885f.) verwendet ~Ellhnisti, zweimal als Beispiel für Adverbien (evpirrh,mata) – ohne Klärung ihrer Bedeutung. 53 Vgl. Platon, Timaios 21e (Name der ägyptischen Göttin „Neith“ auf griechisch „Athene“) bzw. Kritias 114b („Gadeiros“ auf griechisch „Eumelos“): vgl. MÜLLER/ SCHLEIERMACHER VII (1972), 16f. bzw. 232f. 54 Laut TLG-Recherche alle Belege in den Indika: Fluss- (F. 45.321f.; F. 45.550f.) und Baumnamen (F. 45.330; F. 45.521) ausdrücklich aus dem Indischen übersetzt; nur ~Ellhnisti, (ohne Hinweis auf eine andere Sprache) werden Stammesbezeichnungen (F. 45.108; F. 45.353) und ein Vogelname (F. 45.287) genannt. 55 Laut TLG-Recherche dreimal bei Plutarch: Romulus 21.4; 26.4 (Übersetzung der Lupercalia bzw. der Liktoren und Fasces); Caesar 46.3 (Asinius Pollio schrieb ~Ellhnisti, auf, was Caesar ~Rwmaisti, rief; eigene Übersetzung); einmal bei Rufus Ephesius, Quaestiones medicinales 65.1: Übersetzung einer Krankheitsbezeichnung aus dem Arabischen (evn th/| VArabi,wn). 56 Laut TLG-Recherche nur dieser Beleg bei Diodor: Bibliotheca Historica 1.19.4. Vgl. MEISTER, Diodorus Siculus: DNP 3 (1997), 592ff. (Geburts- und Todesjahr nicht überliefert). 57 Laut TLG-Recherche nur dieser Beleg bei Dionysios, Römische Geschichte 2.12.3 (eigene Übersetzung): vgl. CARY I (1948), 346f.
2.5 ~Ellhnismo,j
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2.5 ~Ellhnismo,j – „richtiger Gebrauch der griechischen Sprache“ ~Ellhnismo,j bedeutet im profanen Griechisch „richtiger Gebrauch der griechischen Sprache“58, bezieht sich also wie e`llhni,zein auf sprachliches Vermögen: Theagenes aus Rhegion (spätes 6. Jh. v.Chr.) richtet seine Philosophie, besonders die Schrift Über Homer, auf den ~Ellhnismo,j aus und meint damit die griechische Sprache und einen guten schriftlichen Stil (eu= gra,fein).59 Drei Überschriften peri. ~Ellhnismou/ beim Grammatiker Tryphon (2. H. 1. Jh. v.Chr.) sind ebenfalls auf die griechische Sprache und ihre richtige Verwendung bezogen.60
Wichtigster Beleg für ~Ellhnismo,j ist die bereits zitierte Stelle aus den Geographika Strabons, in der variantenreich von Sprache und sprachlichem (Un-)Vermögen die Rede ist. Der ~Ellhnismo,j wird von Nichtgriechen („Barbaren“) ausgesagt: „(…) wenn ein hellenisch Redender (e`llhni,zwn) nicht richtig spricht (mh. katorqoi,h), sondern die Worte so ausspricht, wie die Barbaren, wenn sie, sich an die hellenische Sprache machend (oi` eivsago,menoi eivj to.n ~Ellhnismo.n), nicht richtig zu sprechen vermögen (ouvk ivscu,ontej avrtistomei/n) (…).“61
Während Theagenes und Tryphon mit ~Ellhnismo,j ganz allgemein die korrekte Verwendung der Sprache der Hellenen meinen, bringt also Strabon ~Ellhnismo,j in Verbindung mit Nichtgriechen, die anfangen, Griechisch zu sprechen, die erst „eingeführt werden in die griechische Sprache“ (eivsago,menoi eivj to.n ~Ellhnismo.n).
2.6 Ergebnis: Bedeutung und „Sitz im Leben“ des Nomens ~Ellhnisth,j Die Untersuchungen zum Bedeutungsspektrum des Adverbs ~Ellhnisti, (2.4) und des Substantivs ~Ellhnismo,j (2.5) in der Profangräzität bis in die Zeit des Neuen Testaments haben gezeigt: Der Fokus dieser Ausdrücke liegt wie bei e`llhni,zein eindeutig auf dem Beherrschen der griechischen
58 Vgl. RIESNER, Hellenismus: ELThG 2 (1993), 892; vgl. STEPHANUS, Thesaurus 4, 770f.; zu ~Ellhnismo,j kein Hinweis bei BREHM, Meaning. 59 Vgl. MATTHAIOS, Theagenes [2]: DNP 12/1 (2002), 248; laut TLG-Recherche ein Beleg bei Theagenes: Testimonia 1a.4. 60 Laut Recherche im TLG drei Belege: Fragmenta 17.t.1; 17.1.3; 17.2.2. 61 Strabon 14.2.28: FORBIGER (2005), 943 (vgl. oben); vgl. JONES VI (1950), 304f.
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2. Sprachgeschichtliches zu ~Ellhnisth,j ktl
Sprache bzw. der Koine in Rede und Schrift; auch ~Ellhnisti, und ~Ellhnismo,j haben also konzentrierten sprachlichen Sinn. Dieser Befund stützt die im Zwischenergebnis formulierten Thesen in Bezug auf die Bedeutung des Nomens ~Ellhnisth,j: (1) Ein ~Ellhnisth,j wird zuerst durch sein Griechischsprechen charakterisiert. (2) Wird jemand explizit als ~Ellhnisth,j bezeichnet, dürfte seine Griechischsprachigkeit nicht so selbstverständlich sein wie für einen autochthonen {Ellhn. (3) Unter einem ~Ellhnisth,j dürfte also ein griechischsprachiger Nichtgrieche, der Griechisch im Alltag (wie seine Muttersprache) verwendet, zu verstehen sein. Ausgehend von dieser Bedeutungsbestimmung lässt sich nun nach dem ursprünglichen „Sitz im Leben“ des Nomens ~Ellhnisth,j fragen: War ~Ellhnisth,j gemeinsprachliche außerchristliche Vokabel und schon im profanen Griechisch vor dem Neuen Testament gebräuchlich? Oder war ~Ellhnisth,j ursprünglich binnensprachliche christliche Vokabel der Urgemeinde und (oder) des Autors der Apostelgeschichte? Nicht wenige Indizien sprechen dafür, dass ~Ellhnisth,j – trotz des Ausfalls an literarischen Belegen – gemeinsprachliche außerchristliche Vokabel und schon vor dem Neuen Testament gebräuchlicher Ausdruck für griechischsprachige Nichtgriechen war:62 (1) Die eng verwandten Ausdrücke e`llhni,zein, ~Ellhnisti, und ~Ellhnismo,j sind gut belegt, wie die vorangegangenen Untersuchungen zeigen. (2) Das Partizip Präsens e`llhni,zwn bzw. e`llhni,zontej ist oft bezeugt und steht bedeutungsmäßig dem von e`llhni,zein gebildeten Nomen ~Ellhnisth,j nahe. Meist beziehen sich e`llhni,zwn bzw. e`llhni,zontej überdies auf griechischsprachige Nichtgriechen. In aller Kürze sei an die wichtigsten Belege erinnert: Aischines nennt Demosthenes einen e`llhni,zwn th|/ fwnh/|. Strabon verweist dreimal auf e`llhni,zontej, stets Nichtgriechen, zweimal als kakw/j e`llhni,zontej („schlecht Griechisch Sprechende“) apostrophiert. Ähnlich klagt Rufus, ägyptische Ärzte seien fau,lwj e`llhni,zontej. Dion bezeichnet die Borystheniten als ouvke,ti safw/j e`llhni,zontej („nicht mehr rein Griechisch Sprechende“) und erwähnt in einem philosophischen Traktat pa,ntej oi` e`llhni,zontej („alle Griechischsprechenden“). Das Nomen ~Ellhnisth,j scheint in allen diesen Belegen des Partizips Präsens e`llhni,zwn bzw. e`llhni,zontej zum Greifen nahe zu sein. (3) Wenn Strabon Nichtgriechen („Barbaren“) als eivsago,menoi eivj to.n ~Ellhnismo.n beschreibt, als die, „die eingeführt werden in die griechische Sprache“, die anfangen bzw. lernen, Griechisch zu sprechen, ist ~Ellhnisth,j ebenfalls zum Greifen nahe: Ein ~Ellh-
62 So auch die Vermutung von Univ.-Prof. Dr. Peter W. Haider, Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik, Universität Innsbruck, in Gesprächen am 27. 2. 2001 und 27. 3. 2001.
2.6 Bedeutung und „Sitz im Leben“ von ~Ellhnisth,j
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nisth,j wäre dann ein Nichtgrieche, der eivsago,menoj eivj to.n ~Ellhnismo.n, der also in die griechische Sprache eingeführt wurde und diese nun beherrscht und gebraucht.
Die genannten Hinweise aus der profanen Gräzität lassen also die Annahme als sehr plausibel erscheinen, dass ~Ellhnisth,j gemeinsprachliche, schon vor dem Neuen Testament gebräuchliche Vokabel zur Kennzeichnung griechischsprachiger Nichtgriechen war, und dass die christliche Urgemeinde und (oder) der Autor der Apostelgeschichte diese Vokabel aus dem allgemeinen Sprachgebrauch übernehmen konnten. – Von dieser Annahme ausgehend lässt sich erklären, warum in der Apostelgeschichte – wie eingangs in der Problemstellung dieser Untersuchung geschildert – drei sehr unterschiedliche Personenkreise als ~Ellhnistai, bezeichnet werden können: Weil die Urgemeinde und (oder) der Autor der Apostelgeschichte ~Ellhnisth,j aus dem allgemeinen Sprachgebrauch übernehmen und dementsprechend zur Kennzeichnung griechischsprachiger Nichtgriechen verwenden, können drei unterschiedliche Gruppen unter dem Gesichtspunkt, dass sie alle griechischsprachige Nichtgriechen sind, ~Ellhnistai, genannt werden. Die Griechischsprachigkeit ist zum einen Mitgliedern der Urgemeinde (6,1), jüdischen Gegnern des Paulus (9,29) und Syrern als Adressaten christlicher Missionspredigt (11,20) gemeinsam; zum anderen unterscheidendes Merkmal innerhalb der Urgemeinde (6,1: ~Ellhnistai, – ~Ebrai,oi), bei den Juden Jerusalems (9,29) und unter den heidnisch-syrischen Antiochenern (11,20).63 Von der Annahme, ~Ellhnisth,j sei ursprünglich binnensprachliche christliche Vokabel gewesen, ausgehend, lässt sich hingegen kaum erklären, wieso ~Ellhnisth,j drei so unterschiedliche Personenkreise wie in Apg 6,1; 9,29; 11,20 bezeichnen konnte. Für eine binnensprachliche christliche Vokabel ~Ellhnisth,j müsste man nämlich annehmen, dass sie von der christlichen Urgemeinde und (oder) vom Autor der Apostelgeschichte im Hinblick auf die Kennzeichnung einer einheitlichen (christlichen) Gruppe geprägt wurde. In Bezug auf den ursprünglichen „Sitz im Leben“ von ~Ellhnisth,j ist also aufgrund der Hinweise aus der Profangräzität und aufgrund des Kontexts in der Apostelgeschichte (6,1; 9,29; 11,20) der Annahme der Vorzug zu geben, dass ~Ellhnisth,j eine bereits vor dem Neuen Testament gebräuchli63 Vgl. die Zusammenfassung bei BREHM, Meaning, 199: „(…) Luke can use ~Ellhnisth,j in Acts to refer to Jewish Christians, Jewish opponents of Paul, and Syrian converts (…). Although the factor of language does not answer all the questions, it could plausibly dene these three groups. (…) ~Ellhnisth,j in Acts identies Jewish Christians, Jewish opponents of Paul, and Syrian converts on the basis of the fact that they had adopted Greek language and/or culture.“
2. Sprachgeschichtliches zu ~Ellhnisth,j ktl
22
che, gemeinsprachliche außerchristliche Vokabel zur Kennzeichnung griechischsprachiger Nichtgriechen war, die von der christlichen Urgemeinde und (oder) dem Autor der Apostelgeschichte übernommen wurde.
2.7 Nachgeschichte des Begriffs ~Ellhnisth,j Bemerkenswert ist, dass es für den Begriff ~Ellhnisth,j nicht nur in den Jahrhunderten vor Abfassung der Apostelgeschichte keine Belege gibt, auch vom 1. bis 3. Jh. n.Chr. fehlen literarische Belege.64 – Erst im 4. Jh. n.Chr. begegnet der Terminus, und zwar zunächst bei Kaiser Julian Apostata (331–363 n.Chr.)65, der in einem Brief an Oberpriester Arsakios in Galatien mahnt, dass die ~Ellhnistai, „(…) in den Werken der Milde und Armenfürsorge nicht hinter den Juden und Galiläern zurückstehen sollten (…)“66: „Denn es ist eine Schmach, wenn von den Juden (VIoudai,wn) nicht ein einziger um Unterstützung nachsuchen muss, während die gottlosen Galiläer (oi` dussebei/j Galilai/oi) neben den ihren auch noch die unsrigen ernähren, die unsrigen aber der Hilfe von unserer Seite offenbar entbehren müssen. Lehre die hellenisch Gesinnten (di,daske … tou.j ~Ellhnista.j) auch, Beiträge zu diesen Aufgaben zu leisten, und die hellenischen Dörfer (ta.j ~Ellhnika.j kw,maj), die ersten Früchte den Göttern zu spenden, und gewöhne die hellenisch Glaubenden (tou.j ~Ellhnikou.j) an derartige Werke der Wohltätigkeit, indem du sie darüber belehrst, dass dies von jeher unsere Praxis gewesen ist.“67
Aus der Gegenüberstellung der ~Ellhnistai, auf der einen und der Juden und Christen auf der anderen Seiten wird bereits die gravierende Bedeutungsverschiebung hinsichtlich der ~Ellhnistai, bei Julian deutlich; für ihn sind die ~Ellhnistai, nicht schlichtweg „Griechischsprechende“, sondern „die religiös und kulturell der heidnischen Tradition ergebenen Reichsbewohner“68. Diese Betonung der religiös-kulturellen Konnotation des Terminus ~Ellhnistai, verdankt sich dem geistesgeschichtlichen Zusammenhang, der Religionspolitik des Kaisers, der eine Restauration der alten hellenisch-heidnischen Religion und ihrer Kulte plante. Dies wird am An-
64
Vgl. eine entsprechende TLG-Recherche. Vgl. ROSEN, Iulianus [11] Fl. Claudius: DNP 6 (1999), 11.14; vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 412f. 66 KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 413. 67 Julian, Brief 39: WEIS (1973), 106–109. 68 KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 413; vgl. ebd., 436; vgl. BICHLER, Hellenisten, 19: Mit den „Hellenisten“ meint Julian „(…) die große Gruppe derjenigen, die religiös und kulturell den alten hellenisch-heidnischen Traditionen verbunden blieben und deren Elite im Geiste des Neuplatonismus gegen das Überhandnehmen des Christentums focht.“ 65
2.7 Nachgeschichte des Begriffs ~Ellhnisth,j
23
fang des bereits zitierten Briefes deutlich, wo er seine Bemühungen als ~Ellhnismo,j kennzeichnet: „Denn die hellenische Sache (~Ellhnismo,j) gedeiht noch nicht so, wie man es erwarten dürfte, – durch unser, ihrer Anhänger Verschulden.“69
Die hier ~Ellhnismo,j genannten religions- und bildungspolitischen Anliegen Kaiser Julians führten zu einem Weltanschauungskampf, in dem christliche Theologen sich natürlich gegen die mit dem umgeprägten Begriff ~Ellhnistai, Bezeichneten wandten. Während Julian den Ausdruck „Hellenisten“ affirmativ gebrauchte, im Sinne von: „Verfechter der bewährten Tradition“, tritt er in patristischen Belegen seit dieser Zeit in pejorativer Bedeutung auf, im Sinne von: „Heiden“.70 Erster Beleg für diesen Sprachgebrauch ist die Kirchengeschichte des Philostorgius (370–425 n.Chr.)71, in der {Ellhnej und ~Ellhnistai, gleichbedeutende Ausdrücke für Heiden sind.72 Da diese Gleichsetzung offensichtlich als Reaktion auf Julians Rückwendung zum griechischen Erbe zu verstehen ist, darf man keine weitreichenden Schlüsse auf die Bedeutung des Begriffs ~Ellhnisth,j in neutestamentlicher Zeit ziehen.73
69
Julian, Brief 39: WEIS (1973), 104f. Vgl. BICHLER, Hellenisten, 19 mit A. 20f. 71 Vgl. BRENNECKE, Philostorgius: LThK3 8 (1999), 260f. 72 Vgl. Philostorgius, Kirchengeschichte 7.1: vgl. MIGNE PG 65 (1864), 537B; vgl. auch die dortige lateinische Übersetzung mit „gentiles“. Zu ~Ellhnistai, als Ausdruck für Heiden vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 436; weiters LIDDELL-SCOTT, Lexicon, 536; LAMPE, Lexicon, 451; STEPHANUS, Thesaurus 4, 771. Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 434–437: Die betont religiöse Akzentuierung des {Ellhnej-Begriffs und des Verbs e`llhni,zein seit Origenes führt letztendlich zur Gleichsetzung von Heiden (e;qnh) und Griechen ({Ellhnej), später auch von Häretikern und „Hellenen“ in patristischer Literatur; zur „Vorgeschichte“ im Judentum und im Neuen Testament vgl. WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 503ff. 509–514. Vgl. beispielsweise den Sprachgebrauch in Theodorets Kirchengeschichte und bei Mala’las, vgl. unten, 4.2.4.2. 73 Gegen BICHLER, Hellenisten, 22f. Bichler schließt von der Bedeutung von ~Ellhnistai, im 4. Jh. n.Chr. („Anhänger der Julian’schen Religionspolitik“ bzw. „Heiden“), dass ~Ellhnistai, in Apg 6,1 „religiös-kultisch gemeinte Gruppenbezeichnung innerhalb der noch jüdischen Anhängerschaft Jesu“ war und dass das „(…) Moment der Distanz der Hellenisten zu einer rein auf Tora und Tempel gerichteten Frömmigkeit stärker als das freilich vorauszusetzende Griechischsprechen den Ausschlag dafür gegeben haben (könnte), dass sie diesen ihren Namen erhielten.“ – Zur Stützung dieser Argumentation verweist Bichler auf die Verwendung von ~Ellhnismo,j in 2 Makk 4,13 im Sinne von „Assimilation an fremde, nichtjüdische, eben vom griechischen Kulturbereich kommende Sitten und Bräuche“; im Sprachgebrauch des 2. Makkabäerbuches sieht er den „(…) Beginn jenes allmählich sich vollziehenden Prozesses, in dessen Verlauf – immer vom Standpunkt einer jüdisch-christlichen Sicht aus – der Hellenenbegriff samt seinem Umfeld sich schließlich zum Begriff für das Heidentum par excellence entwickeln wird.“ (22) 70
2. Sprachgeschichtliches zu ~Ellhnisth,j ktl
24
Immerhin führen verschiedene Belege aus patristischer Zeit vor Augen, dass die Grundbedeutung von ~Ellhnisth,j als „Griechischsprechender“ weiterhin – auch nach dem Julian’schen „Kulturkampf“ – im Bewusstsein war. Vor allem zeigen dies die Homilien des Johannes Chrysostomos zur Apostelgeschichte, wo er auf den ursprünglichen Sinn des Wortes ~Ellhnisth,j zu sprechen kommt.74
74
Vgl. oben, Kap. 1; vgl. auch BREHM, Meaning, 181 A. 3.
Kapitel 3
Historische Verortung der ~Ellhnistai, als griechischsprachige Nichtgriechen 3.1 Griechischsprachige Nichtgriechen – ein weitverbreitetes Kulturphänomen in der antiken Welt Mit den in der Apostelgeschichte dreimal erwähnten ~Ellhnistai, waren – so haben die sprachlichen Untersuchungen ergeben – griechischsprachige Nichtgriechen gemeint. Wenn dem so ist, dann bringt der Ausdruck ~Ellhnistai, ein weit verbreitetes Kulturphänomen der antiken Welt auf den Begriff, und die in Apg 6,1; 9,29 für Jerusalem und in Apg 11,20 für Antiochia bezeugten ~Ellhnistai, lassen sich unschwer in eine Reihe ähnlicher Akkulturationsphänomene1 von Nichtgriechen, die griechische Sprache, Bildung und Kultur übernahmen, einfügen. 3.1.1 Die griechische Sprache als Schlüssel zur griechischen Kultur Nichtgriechen, die die griechische Sprache übernahmen, gab es im Zeitalter des Hellenismus (ab dem 4. Jh. v.Chr.)2 gewiss in großer Zahl. Wenn sich auch keine genaue Karte der Verbreitung und Verbreitungsdichte der griechischen Sprache für die hellenistische Zeit zeichnen lässt, ist doch klar erkennbar, dass es in weiten Teilen Ägyptens, Syriens, Palästinas und Vorderasiens Nichtgriechen gab, die Koinegriechisch sprachen:3 Diese allgemeine, am Attischen orientierte Umgangssprache Griechenlands (koinh, dia,lektoj) wurde zur lingua franca, zur internationalen Sprache der hellenistischen Welt (in römischer Zeit zur zweiten Reichssprache neben Latein)4 und setzte sich auch im Nahen Osten gegenüber dem Aramäischen
1
Zur Terminologie vgl. GERBER, Hellenisierung: DNP 5 (1998), 301. Zur (umstrittenen) Eingrenzung des hellenistischen Zeitalters vgl. etwa EDER, Hellenismus: DNP 5 (1998), 313; SCHMITT, Hellenismus II: Kleines Wörterbuch des Hellenismus (1988), 3f. 3 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 125f. 4 Vgl. SCHMITT, Sprachverhältnisse, 558f. (zur Sprachgrenze zwischen Latein und Griechisch im Imperium Romanum ebd., 556ff.); GEHRKE, Hellenismus, 73. 2
3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
26
durch, weil sie nicht sehr kompliziert, relativ leicht erlernbar,5 wohlklingend, nuancenreich und den Bedürfnissen verschiedener Orte, Schichten und Gruppen gut anzupassen war.6 Das Koinegriechische überschritt also nationale Schranken und wurde Weltsprache, neben der freilich weiterhin verschiedene Landessprachen gesprochen wurden – viele Nichtgriechen waren zwei- oder mehrsprachig.7 Das Phänomen einer Weltsprache war an sich nicht neu: Auch das Aramäische wurde ja zur Perserzeit in weiten Gebieten Regierungs- und Verkehrssprache. Neu war allerdings, dass die Koine Trägerin einer besonderen Kultur war,8 dass ihre Ausbreitung die Verbreitung der griechischen Kultur begleitete und begünstigte. So war die Übernahme der griechischen Sprache durch Nichtgriechen meist der erste, jedenfalls ein entscheidender Schritt im Prozess der Akkulturation, der Übernahme griechischer Kultur: „Der Gebrauch einer neuen Sprache gilt nicht nur als ein sichtbares Zeichen, dass eine neue Kultur eingedrungen ist, sondern als Schlüssel zu dieser Kultur überhaupt.“9 Wenn ~Ellhnistai, dem Wortsinn nach Nichtgriechen bezeichnete, die durch ihre Griechischsprachigkeit charakterisiert waren, muss bewusst bleiben: Die Griechischsprachigkeit war Schlüssel zur griechischen Kultur, und mit e`llhni,zein als dem Griechischsprechen ging oft eine Hellenisierung im weiteren Sinn einher:10 Durch die Übernahme griechischer Gebräuche und Lebensweise, Bildung und Wertvorstellungen, griechischer Kunst, religiöser Vorstellungen und Ausdrucksformen und soziopolitischer Organisationsmuster (wie Polis, Vereinswesen, Gymnasion)11 wurden aus
5
Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 828. Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 117–125. Zu Sprachschichten und Niveauunterschieden vgl. ebd., 125: Literatur- und Volkskoine; gepegte Koine, Mischkoine (gemischt mit Dialekten), bürgerliche Koine (Amtsgriechisch, Plauder-Griechisch); vulgäres Volksgriechisch. Vgl. SCHMITT, Sprachverhältnisse, 559: Zwischen gesprochener und standardisierter literarischer Koine gab es große Unterschiede (Diglossie); vgl. REISER, Sprache, 5–28. 7 Eine ausführliche Darstellung über das Weiterbestehen verschiedener Landessprachen bietet SCHMITT, Sprachverhältnisse, 563–581. Diese Sprachen vermochten die Koine kaum zu beeinussen, vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 124: Nur wenige Ausspracheänderungen und wenige ägyptische, lateinische, semitische oder iranische Fremdwörter fanden Eingang in die Koine. Für Schneider ist das ein Zeichen für Kulturbewusstsein und Sprachstolz der Griechen. 8 Vgl. BUHL, Hellenisten: RE 7 (1899), 623. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 118 bezeichnet die Koine als das „kostbare Gefäß, in dem alle hellenistische Kultur ruhte“. 9 HADAS, Kultur, 45. 10 Vgl. HADAS, Kultur, 58. 11 Vgl. GERBER, Hellenisierung: DNP 5 (1998), 301. 6
3.1 Weitverbreitetes Kulturphänomen in der Antike
27
griechischsprachigen Nichtgriechen in vielen Fällen „Kulturgriechen“, die sich ganz griechisch gaben.12 War also die Übernahme des Koinegriechischen häufig ein deutliches Zeichen, dass die ~Ellhnistai, auch die griechische Kultur akzeptierten,13 ergibt sich doch ein differenziertes Bild, wie weit diese Akzeptanz der griechischen Kultur bei ~Ellhnistai, verschiedener Regionen, Völker und Bevölkerungsgruppen reichte. 3.1.2 Verschiedene Ausprägungen der Hellenisierung Das Spektrum unterschiedlicher Hellenisierungsgrade innerhalb der ~Ellhnistai,, also der griechischsprachigen Nichtgriechen, reicht von denen, die tatsächlich bloß die griechische Sprache übernahmen, den übrigen griechischen Kulturgütern jedoch neutral oder ablehnend gegenüberstanden – vielleicht sogar die Koine zur Propaganda gegen die griechisch-makedonische Herrschaft und für ihre nationalen Werte verwendeten14 – bis hin zu jenen, die so stark hellenisiert waren, dass ein völliger oder teilweiser Identitätsbruch erfolgt war, sie in Fremd- und Eigenwahrnehmung zu Griechen geworden waren.15 Verantwortlich für diese unterschiedlichen Ausprägungen der Hellenisierung waren Faktoren, die besonders in den Städten zum Tragen kamen: Charakteristika des Griechentums selbst, einheimischer Wunsch nach Selbsthellenisierung und Druck griechischer oder philhellenischer Machteliten.16 (Abschnitte 3.1.3, 3.1.4, 3.1.5, 3.1.6) Aufgrund dieses differenzierten Bildes, der unterschiedlichen Ausprägungen der Hellenisierung innerhalb der ~Ellhnistai, bleibt es durchaus sinnvoll, ~Ellhnisth,j als „griechischsprachiger Nichtgrieche“ zu übersetzen, weil damit einerseits deutlich wird, dass die griechische Sprache das einigende Band zwischen den ~Ellhnistai, war, und weil andererseits offen bleibt, wie viel griechische Kulturgüter ~Ellhnistai, verschiedener Regionen und Bevölkerungsgruppen jeweils über die griechische Sprache hinaus übernahmen.
12 13 14 15 16
Vgl. TARN/GRIFFITH, Kultur, 190. Vgl. HADAS, Kultur, 58. Vgl. GREEN, Alexander, 324; HADAS, Kultur, 45. Vgl. GERBER, Hellenisierung: DNP 5 (1998), 309. Vgl. ebd., 301.
3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
28
3.1.3 Der Beitrag der hellenistischen Städte zur Hellenisierung Im Zeitalter des Hellenismus erfuhren die Städte großen Aufschwung: Mehr als dreihundert neue Städte waren von Alexander und seinen Nachfolgern, den Diadochen (Ptolemäer, Seleukiden, Antigoniden als Herrscher hellenistischer Territorialstaaten) gegründet,17 alte einheimische Städte – nicht nur ihren Namen nach – hellenisiert worden.18 In den neugegründeten und in den hellenisierten Städten fanden sich für die hellenistische Zeit typische Einrichtungen, wie Gymnasien, Vereine, wissenschaftliche, kulturelle und religiöse Institutionen. Ohne weiteres lässt sich sagen: „(…) im allgemeinen war der hellenistische Mensch ein Stadtmensch und die hellenistische Kultur eine Stadtkultur.“19 Welche Rolle aber spielten die Städte für die Hellenisierung der Einheimischen, für das „Eindringen des Hellenischen und Makedonischen“20 bei Nichtgriechen? Dazu müsste man einen mehr oder weniger intensiven Kontakt zwischen griechischer und nichtgriechischer Bevölkerungsgruppen annehmen. Für Johann Gustav Droysen besteht kein Zweifel, dass ein solch intensiver Kontakt bestand. Seine Grundthese lautet: Die hellenistische Zeit war eine Epoche der „Völkermischung“,21 der „Verschmelzung der griechischen Zivilisation mit der Kultur orientalischer Völker (bei eindeutiger Dominanz des Griechischen)“22. Seiner Ansicht nach ist in den hellenistischen Städten, in denen Veteranen, Griechen und Nichtgriechen angesiedelt wurden, „(…) das Vorherrschende, dass sich eine buntgemischte hellenischmakedonische Bevölkerung mit einer einheimischen zusammenfindet.“23 Ähnlich meint Viktor Tscherikower: „Die Mischung der Bevölkerung war (…) etwas ganz Unvermeidliches, was von Anfang an bestand und mit kei-
17
Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 126f.; JONES, Cities, 30; GREEN, Alexander, 80. Zum Aussehen der Städte vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 696: Milet war ein Vorbild. Vgl. GREEN, Alexander, 160: „(…) the mass-production of new hellenistic cities in Asia (…), their axial-grid plans as monotonously repetitive as those of the American Midwest (…).“ 18 Vgl. HADAS, Kultur, 44f. 19 SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 126. 20 DROYSEN, Hellenismus III, 23. 21 Vgl. SCHMITT, Hellenismus II: Kleines Wörterbuch des Hellenismus (1988), 1f. 22 EDER, Hellenismus: DNP 5 (1998), 313; vgl. auch MERKEL, Hellenismus: EKL 2 (1989), 477f.; TIMPE, Hellenismus: RGG 3 (2002), 1609. Für GRANT, Hellenismus: RGG 3 (1959), 209 sind Hauptzüge des Hellenismus „(…) Verschmelzung und gegenseitige Durchdringung der verschiedenen Kulturen in Berührung mit griechischem Leben und Denken, wobei dieses die Führung innehatte.“ 23 DROYSEN, Hellenismus III, 24.
3.1 Weitverbreitetes Kulturphänomen in der Antike
29
nen Mitteln beseitigt werden konnte.“24 Und er vermutet, dass dieser „Verschmelzungsprozess“ aus den Städten auch auf umliegende Dörfer übergriff.25 Stimmen diese Annahmen vom engen Kontakt zwischen Griechen und Nichtgriechen, von „Völkermischung“ und „Verschmelzungsprozessen“, würde auch eine Beeinflussung der Griechen durch die Nichtgriechen anzunehmen sein, eine Art gegenseitiger Akkulturation26 und eine „Orientalisierung der Hellenen“27. In der heutigen Geschichtswissenschaft neigt man allerdings eher zur Annahme, dass es zwischen griechisch-makedonischer und einheimischer Bevölkerung wenig Kontakt gab und die Hellenisierung der einheimischen Bevölkerung nicht sehr intensiv war, so etwa Hans-Joachim Gehrke: „Hinsichtlich der Zusammensetzung der Bevölkerung herrschte früher – nicht nur wegen Droysens Verschmelzungskonzept – die Tendenz, eine gewisse Vermischung, wenigstens à la longue, anzunehmen. Dies stellt sich heute nach neuen Funden und eingehenden Interpretationen ganz anders dar.“28 Zwar räumt Gehrke ein, dass es Hellenisierung im Sinn bewusster Übernahme griechischer Lebensformen durch Indigene durchaus gegeben habe; trotzdem dürfte sich seiner Meinung nach eher ein Gesamtbild des Nebeneinander, wenn auch nicht des Gegeneinander, der griechisch-makedonischen und der einheimischen Bevölkerungen ergeben haben. „Bezeichnenderweise hat sich, bei allen unvermeidlichen Verbindungen und Mischehen im einzelnen, keine wirklich nennenswerte Mischbevölkerung gebildet.“29 Auch für Helmut Köster steht fest: „Die Bevölkerung der griechischen Städte und Militärkolonien war von der einheimischen Bevölkerung ziemlich scharf geschieden (…).“30 Am stärksten betont Peter Green diese Trenn24 TSCHERIKOWER, Städtegründungen, 203; vgl. ebd.: „Jede beliebige Stadt hätte mit vollem Rechte das (…) Epitheton mixoba,rbaroj tragen können.“ Vgl. WANDER, Gottesfürchtige, 18 („buntes Bevölkerungsgemisch“). 25 Vgl. TSCHERIKOWER, Städtegründungen, 204; vgl. zum Judentum TCHERIKOVER, Civilization. 26 Vgl. PODOSSINOV, Barbarisierte Hellenen, 416ff.: Hellenisierung der „Barbaren“ und Barbarisierung der Griechen gab es oft parallel. BREDOW, Mixhellenes, 472: mixe,llhnej bezeichnete die „(…) griechische Randbevölkerung, die in Enklaven zwischen Barbarenstämmen lebte.“ 27 JÜTHNER, Hellenen, 45. 28 GEHRKE, Hellenismus, 179. Vgl. MERKEL, Hellenismus: EKL 2 (1989), 477f.: Der Verschmelzungsgedanke hat sich als unangemessen erwiesen. 29 GEHRKE, Hellenismus, 65. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 207 und II, 812 spricht von einem modus vivendi – im Sinne des Nebeneinander – zwischen Griechen und Nichtgriechen. 30 KÖSTER, Einführung, 39.
30
3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
linie, er spricht von einer „enclave mentality“31 der hellenistischen Stadt – sie ist für ihn „(…) an alien enclave, an artificial island of Greek social and cultural amenities almost totally isolated from the indigenous population that it dominated. (…)“32 Freilich muss selbst Green konstatieren, dass es Kontakte zwischen Griechen und Einheimischen gab: „There were areas of contact, even of interpenetration, but these were few, and brought about by special circumstances.“33 Heutige Historiker mahnen also einerseits – sicherlich zu Recht – vor pauschalen Völkermischungs- und Verschmelzungstheorien, wollen aber doch andererseits nicht leugnen, dass es durch die hellenistischen Städte Kontakte zwischen der griechisch-makedonischen und der einheimischen Bevölkerung und damit eine – wenn auch unterschiedlich ausgeprägte – Hellenisierung von Nichtgriechen gab. Hellenistische Städte hatten zweifellos eine große „Kraft kultureller Ausstrahlung“34: In ihnen und durch sie kamen Faktoren, die den Akkulturationsprozess der Hellenisierung von Nichtgriechen förderten, zum Tragen, wie die Charakteristika des Griechentums selbst, der einheimische Wunsch nach Selbsthellenisierung und der Druck griechischer oder philhellenischer Machteliten.35 3.1.4 Die Charakteristika des Griechentums Ein Faktor, der die Hellenisierung förderte, sind zunächst die Charakteristika des Griechentums selbst. – Erstens ist die Virtuosität der Griechen im Kolonisieren36 zu nennen, durch die es ja zum Aufschwung der Städte kam. Die Kolonisatoren waren zwar keine kulturelle Elite – ihre wichtigste Motivation war das Streben nach Macht und Wohlstand, kaum die Verbreitung griechischer Kultur und intellektueller Ideen;37 trotzdem waren griechische Kaufleute, Söldner und Exilierte auch Kulturträger: Da der Weltverkehr großteils in ihren Händen lag,38 verbreiteten sie Elemente von Kunst und Architektur, Verwaltungssystemen und religiösen Vorstellungen bei vielen
31 GREEN, Alexander, 324; vgl. ebd., 332f.: Beispiel der Ausgrabungen der Stadt Ai Khanum in Baktrien: „(…) the enclave of Greek Ai Khanum held the outer world at bay.“ 32 GREEN, Alexander, 315; vgl. ebd., 319 und 323: Greens Meinung nach hatte die Bezeichnung „mixobarbaros“ auch dementsprechend wenig Bedeutung. 33 Ebd., 315. 34 SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 130. 35 Vgl. GERBER, Hellenisierung: DNP 5 (1998), 301. 36 Vgl. DROYSEN, Hellenismus III, 431. 37 Vgl. GREEN, Alexander, 313 und 325. 38 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 11f.
3.1 Weitverbreitetes Kulturphänomen in der Antike
31
nichtgriechischen Völkern.39 Nicht zuletzt fand so auch die angenehme, durch (Geschäfts-)Tüchtigkeit gekennzeichnete griechische Lebensweise ihre Verbreitung, wodurch sich Griechen an vielen Orten heimisch fühlen konnten.40 – Zweitens gehörte es zum Wesen der Griechen, „(…) sich durch fremde Kulturen und deren Eigenheiten faszinieren und anregen zu lassen“41. Freilich wurden Elemente nichtgriechischer nationaler Kulturen, die übernommen wurden, meist als Beiträge zur internationalen griechischhellenistischen Kultur interpretiert.42 Durch die interpretatio Graeca43 wurden Elemente nichtgriechischer Religionen und Kulturen griechisch gedeutet und damit auch vereinnahmt, eine gedankliche Auseinandersetzung mit nichtgriechischen Kulturen fand oft nicht statt.44 Letzteres ist wohl durch ein drittes wichtiges Charakteristikum der Griechen erklärbar: durch ihr Überlegenheitsbewusstsein. Dieses – von den Römern vanitas Graeca (griechische Eitelkeit) genannt – war nicht nur die Hauptkraft griechischer Selbsterhaltung,45 sondern trieb auch die Hellenisierung von Nichtgriechen voran: Zwar wollten die Griechen, die sich überlegen fühlten, einerseits nicht alle Vorteile ihrer Zivilisation mit den Nichtgriechen teilen;46 doch war andererseits der Nebeneffekt ihres – teils übersteigerten – Selbstbewusstseins, dass viele Nichtgriechen kulturelle Standards der Griechen als verbindlich empfanden und deshalb übernahmen. Das Überlegenheitsbewusstsein der Griechen weckte also bei vielen Nichtgriechen besonders den Wunsch nach Selbsthellenisierung. 3.1.5 Der einheimische Wunsch nach Selbsthellenisierung Der einheimische Wunsch nach Selbsthellenisierung war vielfach, aber nicht überall gegeben. Das Überlegenheitsbewusstsein der Griechen weckte bei einem Teil der Nichtgriechen den Wunsch nach Selbsthellenisierung,
39
Vgl. GREEN, Alexander, 316. Vgl. HADAS, Kultur, 41; JÜTHNER, Hellenen, 47. 41 KÖSTER, Einführung, 99. 42 Vgl. ebd. 43 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 7: „altehrwürdige griechische Denk- und Erlebnisform“. 44 Vgl. GREEN, Alexander, 325: „There is no hint of fusion or collaboration with the local culture: this omission is particularly striking in the case of Ptolemaic Egypt, since the (unwilling) host nation had a long and distinguished cultural history of its own.“ 45 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 45. 46 Vgl. GREEN, Alexander, 325: „To take your own superiority for granted does not necessarily, or even commonly, imply that you are altruistically eager to give others the benet of it, especially when you are busy conquering their territory, exploiting their natural resources and manpower, taxing their citizens, imposing your government on them (…).“ 40
3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
32
bei anderen rief es Kritik und Widerstand auf den Plan; Nichtgriechen waren für die hellenistische Kultur dankbare Empfänger, energische Gegner oder idealisierte Vorbilder.47 Nichtgriechische Völker seien in der hellenistischen Epoche dankbare Empfänger griechischer Kultur gewesen, wie im 20. Jh. nichteuropäische Völker dankbare Empfänger europäischer Kultur gewesen seien, ist Moses Hadas überzeugt: „Die Mehrzahl der ‚Barbaren‘ hieß in der Tat die Hellenisierung willkommen (…).“48 Green kritisiert zwar zu Recht, dass Hadas ein idealisiertes Bild der Hellenisierung zeichnet,49 doch bleibt die Tatsache, dass viele Nichtgriechen sich auf die Dauer den neuen Kultureinflüssen nicht entziehen konnten. Nur eine Minderheit wirklicher Philhellenen mag aus kultureller Überzeugung den Wunsch nach Selbsthellenisierung gehabt haben: „Genuine cultural conversions did undoubtedly take place; but they seem to have been very much in the minority.“50 Den meisten Nichtgriechen, die Interesse an ihrer Hellenisierung hatten, lag daran, „(…) sich der Vorteile der herrschenden Sprache und Kultur teilhaftig zu machen und sich auf diese Weise den Gewalthabern möglichst anzugleichen“51. Wer in Politik, Verwaltung, Heer, Wissenschaften, Wirtschaft usw. reüssieren wollte, kam nicht um eine gewisse Selbsthellenisierung herum. Oft waren hellenisierte Nichtgriechen derart assimiliert, dass sie sich für ihre einheimischen Kulturen schämten, ja sie gänzlich abstreifen wollten, dass sie ihre eigene Muttersprache vernachlässigten und griechische Personennamen übernahmen:52 „The adoption of Greek personal names is typical of the ambition of oriental upper classes. They wished not merely to imitate the Greeks, but to forget their oriental origin and become Greeks.“53
47
Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 37. Vgl. TIMPE, Hellenismus: RGG 3 (2002), 1609: „zwischen Symbiose und Widerstand schwankende indigene Reaktion“. 48 HADAS, Kultur, 43; vgl. ebd., 41ff. 49 Vgl. GREEN, Alexander, 324: Hadas „(…) in his study Hellenistic Culture painted a roseate picture of the East’s enthusiasm for Greek ideas.“ 50 GREEN, Alexander, 324. 51 JÜTHNER, Hellenen, 44; vgl. GREEN, Alexander, 324: „Those who wore Greek dress (…), who aped Greek accents, attended Greek plays (…), had good and sufcient reasons for their behaviour, into which aesthetic or moral considerations seldom entered.“ 52 Vgl. JONES, Cities, 31 und 36f.; vgl. JÜTHNER, Hellenen, 46. 53 JONES, Cities, 37.
3.1 Weitverbreitetes Kulturphänomen in der Antike
33
3.1.6 Druck griechischer oder philhellenischer Machteliten Ausmaß und Art der Hellenisierung beherrschter Völker durch griechische oder philhellenische Machteliten (Herrscherhäuser, Aristokratie, Stadtregierungen, Wirtschaftsmagnaten usw.) waren in einzelnen Ländern und Zeitabschnitten unterschiedlich: Die Beispiele aus dem altrömisch-italischen Bereich, dem seleukidischen Syrien, dem ptolemäischen Ägypten und dem Judentum Palästinas und der Diaspora werden diesen unterschiedlichen Einfluss von Machteliten und Herrscherhäusern zeigen. Allgemein lässt sich sagen, dass anfangs der griechische Einfluss gering blieb: Die Diadochen führten Alexanders Politik nicht fort, Nichtgriechen in die Oberschicht aufzunehmen; Griechen und Makedonen hatten die wichtigsten Posten in Verwaltung und Militär inne.54 Vielfach blieb das beträchtliche Hellenisierungspotenzial gerade deshalb ungenutzt, weil Machteliten kaum Interesse an der Hellenisierung einheimischer Bevölkerungen hatten und wenig Bereitschaft zeigten, „(…) Assimilierte als gleichberechtigte Neuaufsteiger in die ethnisch-kulturell abgegrenzte Machtelite aufzunehmen“55. So war lange Zeit und in weiten Teilen des hellenistischen Ostens der Unterschied zwischen Hellenen als dünner Oberschicht und Indigenen bestimmend, die beide – ohne größere Konflikte – ihr entsprechendes Selbstverständnis bewahrten.56 Planten die Machteliten also keineswegs bewusst die Hellenisierung von Nichtgriechen oder standen dieser sogar reserviert gegenüber, so trugen sie doch indirekt durch Städtegründungen, griechische Kolonisierungstätigkeit und den dadurch geweckten Wunsch der Einheimischen nach Selbsthellenisierung in hohem Maß zu diesem Prozess bei. Erst die Römer – ausgerechnet eine nichtgriechische Macht – planten bewusst die Hellenisierung und griffen das gewachsene Interesse lokaler Eliten an der Selbsthellenisierung wohlwollend auf.57 3.1.7 Zusammenfassung ~Ellhnistai, waren Nichtgriechen, die zunächst durch ihr e`llhni,zein, also durch ihre Griechischsprachigkeit charakterisiert waren. Das Koinegriechische konnte für die ~Ellhnistai, Schlüssel zur griechischen Kultur werden. Wie weit ~Ellhnistai, unterschiedlicher Regionen, Völker und Bevölkerungsgruppen hellenisiert und damit zu „Kulturgriechen“ wurden, wie 54 55 56 57
Vgl. KÖSTER, Einführung, 39. GERBER, Hellenisierung I: DNP 5 (1998), 303. Vgl. GEHRKE, Hellenismus, 64f. Vgl. GERBER, Hellenisierung I: DNP 5 (1998), 305.
3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
34
weit die Akzeptanz der griechischen Kultur reichte, hing von verschiedenen Faktoren ab: von der Verstädterung einer Region, von der Intensität des Kontakts zwischen Griechen und Nichtgriechen, vom griechischen Interesse an nichtgriechischen Kulturen, vom griechischen Überlegenheitsbewusstsein, von den Reaktionen der Nichtgriechen darauf, vom Wunsch der Nichtgriechen nach Selbsthellenisierung, und vom Druck griechischer oder philhellenischer Machteliten. Durch diese Faktoren kam es zu unterschiedlichen Ausprägungen der Hellenisierung der ~Ellhnistai,, der griechischsprachigen Nichtgriechen. Ein Spiegel für unterschiedliche Ausprägungen der Hellenisierung sind die Bezeichnungen {Ellhn (Grieche) und e`llhniko,j (griechisch), die nach einer wechselvollen Bedeutungsgeschichte auf hellenisierte Nichtgriechen ausgeweitet wurden. (3.2) – Als Beispiele für die unterschiedlichen Ausprägungen der Hellenisierung werden im Folgenden die Hellenisierung im altrömisch-italischen Bereich (4.1), im seleukidischen Syrien (4.2) und im ptolemäischen Ägypten (4.3) besprochen, ehe die Hellenisierung des Judentums in der Diaspora und in Palästina zur Sprache kommt (5.).
3.2 {Ellhnej – eine verbreitete Bezeichnung für hellenisierte Nichtgriechen Sprachliche Untersuchungen (2.) und geschichtlicher Überblick (3.1) haben gezeigt: Der Ausdruck ~Ellhnistai, dürfte das im hellenistischen Zeitalter weitverbreitete Kulturphänomen griechischsprachiger Nichtgriechen präzise auf den Begriff gebracht, gleichzeitig aber offengelassen haben, wie weit die „Hellenisierung“ im Sinn der Übernahme griechischer Kultur reichte. Da außerhalb der Apostelgeschichte bis ins 4. Jh. n.Chr. kein Beleg für die Bezeichnung ~Ellhnistai, erhalten ist, ist zu fragen, ob auch andere Ausdrücke für griechischsprachige Nichtgriechen verwendet werden konnten. Erstaunlicherweise bezeichnete gerade der Ausdruck {Ellhn („Grieche“) oft auch griechischsprachige, unterschiedlich hellenisierte Nichtgriechen – ohne freilich dieses Kulturphänomen so exakt auf den Begriff zu bringen wie der Ausdruck ~Ellhnistai,. Wie kam es nun zur Neigung, in hellenistischer Zeit „(…) auch Nichtgriechen mit griechischer Sprache und Bildung als ‚Hellenen‘ zu bezeichnen“58?
58
WANKE, {Ellhn ktl: EWNT I (1992), 1062; vgl. WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 502.
3.2 {Ellhnej – verbreitete Bezeichnung hellenisierter Nichtgriechen
35
3.2.1 Die Entschränkung des {Ellhnej-Begriffes Dass auch hellenisierte Nichtgriechen als Hellenen bezeichnet werden konnten, ist das Ergebnis einer wechselvollen Bedeutungsgeschichte des Begriffes {Ellhn: Ursprünglich Name eines nordgriechischen Stammes, wurde {Ellhn zunächst zur Sammelbezeichnung aller Griechen,59 aller „durch gleiche Sitte, Schrift, Kultur, Religion, durch sprachliche und nationale Zusammengehörigkeit verbundenen Stämme, Städte, Staaten“60. Als Kennzeichen der {Ellhnej im Gegensatz zu den ba,rbaroi galten Bildung (paidei,a bzw. pai,deusij), gesetzliche Grundordnung (no,moj) und Freiheit (evleuqeri,a).61 Gerade diese „Kennzeichen“ konnten dann aber auch zur Relativierung ethnischer Grenzen verwendet werden. Wegbereiter für einen derart entschränkten Hellenenbegriff waren unter anderem Herodot und Isokrates. Herodot (ca. 485–424 v.Chr.)62 lenkte in seiner Geschichtsschreibung den Blick auf eine differenzierte, ineinander verflochtene Menschheit und entdeckte als Barbarenfreund (filoba,rbaroj) bei Barbaren, was als Kennzeichen von Griechen galt.63 Isokrates (436–338 v.Chr.) prägte einen mehr kulturell als ethnisch begründeten Panhellenismus.64 Griechenbewusstsein war für Isokrates fast ausschließlich Kultur- und Bildungsbewusstsein.65 Im Panegyrikos (380 v.Chr.) versucht Isokrates, mit einer Neudefinition des {Ellhnej-Begriffs das athenisch-griechische Überlegenheitsgefühl als geistige Hegemonie neu zu bestimmen:66 „Unsere Polis hat nun auf dem Gebiet intellektueller und rhetorischer Fähigkeiten alle anderen Menschen so weit zurückgelassen, dass die Schüler Athens Lehrer der anderen geworden sind, und Athen hat es fertiggebracht, dass der Name ‚Hellene‘ nicht mehr eine Bezeichnung für ein Volk (tou/ ge,nouj), sondern für eine Gesinnung (th/j dianoi,aj) zu sein scheint und dass eher ‚Hellene‘ genannt wird, wer an unserer Bildung als wer an unserer 59
Vgl. WILL, Hellenen: RAC 14 (1988), 376ff.; FRISK, Wörterbuch I, 498. SÜSS, Hellen: RECA 8 (1913), 170–173 bietet Etymologie und Mythologie; weder in den folgenden Artikeln in RECA 8 (1913), 173–177 noch in Supplementbänden ist Weiterführendes zu nden. 60 WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 501. 61 Vgl. ebd., 502; WILL, RAC 14 (1988), 381. 385. 388. 62 Vgl. MEISTER, Herodot: DNP 5 (1998), 469–475; v.a. 473: „(…) dass Herodot die Überlegenheit der ‚Barbaren‘, besonders der Ägypter, gegenüber den Griechen oft anerkennt (…) und die Sitten und Bräuche der Nichtgriechen stets mit großer Sachlichkeit beschreibt. Ferner erweisen sich seine Berichte über fremde Völker (…) als zuverlässig (…).“ 63 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 6. 23; vgl. JONES, Cities, 37: „(…) barbarian had always been as much a cultural as a racial term.“ Zur Idealisierung der Barbaren durch Philosophen (wie u.a. die Kyniker) und Historiker vgl. JÜTHNER, Hellenen, 54–59. 64 Vgl. WEISSENBERGER, Isokrates: DNP 5 (1998), 1138–1143; hier 1140. 65 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 48. 66 Vgl. WILL, Hellenen: RAC 14 (1988), 386; SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 27.
3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
36
gemeinsamen Abstammung teilhat (ma/llon {Ellhnaj kalei/sqai tou.j th/j paideu,sewj th/j h`mete,raj h' tou.j th/j koinh/j fu,sewj mete,contaj).“67
Isokrates verstand diese Neudenition zwar gewiss als „elitäre“ Einschränkung des Hellenenbegriffs auf (attisch) gebildete und humanistisch eingestellte Griechen;68 doch die von ihm angegebenen Kriterien für die Zugehörigkeit zum Hellenentum – nicht Geschlecht und gemeinschaftliche Abstammung (ge,noj; koinh. fu,sij), sondern Geist und Bildung (dia,noia; pai,deusij)69 – ermöglichten in der Folge die Entschränkung des Hellenenbegriffs: Der Name {Ellhnej wurde ausgedehnt „(…) auf diejenigen Barbaren (…), die sich die griechische Sprache und Bildung angeeignet haben.“70 Als Folge dieser Entschränkung gab es nun zwei Bedeutungsinhalte von {Ellhn: „Zum einen beanspruchten nun im Sinne einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kulturgemeinschaft griechisch Gebildete diesen Namen für sich, zum anderen wurde er weiterhin als ethnische Abgrenzung zu anderen Völkern verstanden.“71 An einer Entschränkung des Hellenenbegriffs lag naturgemäß vor allem den unterschiedlich hellenisierten griechischsprachigen Nichtgriechen, die den Griechennamen für sich übernehmen wollten: „Das Zurückstellen der Abstammung und das Hervorheben des kulturell-ethischen Momentes lag naturgemäß im Interesse der hellenisierten Barbaren, während der echte Hellene auf seine Geburt pochte und in der Anerkennung Fremder zurückhaltend war.“72 Griechen mögen zwar in der Anerkennung Fremder als {Ellhnej zurückhaltend gewesen sein, zahlreiche Belege des Adjektives e`llhniko,j zeugen jedoch davon, dass sie die Hellenisierung von Nichtgriechen – oft mit Wohlwollen und Genugtuung – zur Kenntnis nahmen. 3.2.2 e`llhniko,j illustriert die Entschränkung des {Ellhnej-Begriffes Das zu {Ellhn gebildete Adjektiv e`llhniko,j illustriert in zahlreichen Belegen die „Entschränkung“ des {Ellhnej-Begriffes. Ursprünglich und in der Mehrzahl der Belege73 diente es zur ethnischen Bezeichnung bzw. Abgrenzung der Griechen: 67
Isokrates, Panegyrikos 50.6: LEY-HUTTON (1993), 53; griechisch: USHER (1990), 46. Vgl. JÜTHNER, Hellenen, 35–39. 69 Vgl. WILL, Hellenen: RAC 14 (1988), 385. 70 WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 502; vgl. Belege ebd., A. 6. 71 WILL, Hellenen: RAC 14 (1988), 388. Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 838: Der Griechenbegriff des Hellenismus drückte meist die Einheit der Kultur aus. 72 JÜTHNER, Hellenen, 53. 73 Laut TLG-Recherche 892 Belege von e`llhniko,j zwischen 8. Jh. v.Chr. und 1. Jh. n.Chr., ca. 50 Belege von e`llh,nioj; oft in der Wendung e`llh,nioi qeoi/ („hellenische Götter“). 68
3.2 {Ellhnej – verbreitete Bezeichnung hellenisierter Nichtgriechen
37
Xenophon und Platon etwa sprechen von „griechischen Stämmen“ (fu,la, ge,nh),74 Demosthenes von „griechischen Staaten“,75 Xenophon vom „griechischen Heer“ (strateu,ma, peltastiko,n),76 Euripides von „griechischen Gepogenheiten“ (no,moj).77
Die Abgrenzung der Griechen zeigt sich besonders dort, wo mit e`llhniko,j der Gegensatz Griechen – Barbaren (ba,rbaroi, barbarika,, barbarikw/j) betont wird.78 Belege von e`llhniko,j, die in Zusammenhang mit der Hellenisierung von Nichtgriechen stehen, veranschaulichen allerdings die „Entschränkung“ des {Ellhnej-Begriffes. – Zunächst weisen nicht wenige Belege von e`llhniko,j auf erste Schritte der Hellenisierung von Nichtgriechen hin, die Verbreitung und Übernahme der griechischen Sprache (e`llhnikh, dia,lektoj, fwnh,) und griechischer Gebräuche und Lebensweise (nomai,a, no,mima, h=qh etc.) durch philhellenische Herrscher und Völker:79
74 Vgl. Xenophon, Hellenika 7.1.23: STRASBURGER (1971), 554–557: Die Arkader seien „(…) von allen hellenischen Stämmen (plei/ston de. tw/n ~Ellhnikw/n fu,lwn) (…) der Zahl nach am stärksten.“ Vgl. Platon, Gesetze 693a: SCHÖPSDAU VIII/1 (1977), 192f.: „(…) so wären bereits fast alle hellenischen Stämme (ge,nh) untereinander und barbarische unter die Hellenen und hellenische unter die Barbaren gemischt (…).“ 75 Vgl. Demosthenes, Rede für Ktesiphon über den Kranz 311: ZÜRCHER (1983), 134f. Demosthenes greift Aischines an: „Was ist (…) im Verhältnis zu griechischen (tw/n ~Ellhnikw/n) und fremden Staaten (tw/n xenikw/n) unter deiner Leitung Entscheidendes erreicht worden?“ 76 Vgl. Xenophon, Anabasis 1.2.1, 1.7.14, 1.8.5, 3.4.34: vgl. ZIMMERMANN (1990), 10f. 54f. 58f. 182f. 77 Vgl. Euripides, Alkestis 682–684: KOVACS (1994), 228f.: Pheres entgegnet seinem Vater Admetos: „I did not inherit this as a family custom, fathers dying for sons, nor as a Greek custom either (ouv ga.r patrw|/on … no,mon … ouvd v ~Ellhniko,n).“ 78 Vgl. etwa Xenophon, Hellenika 5.4.1: STRASBURGER (1971), 400f.: „Gar viele Beispiele könnte man wohl erzählen, von Hellenen ebenso wie von den Barbaren (polla. ~Ellhnika. kai. barbarika,), (…) dass die Götter jedem, (…) der ein heiliges Gebot verletzt, eine Sühne auferlegen.“ Vgl. Xenophon, Anabasis 1.2.1, 1.7.14, 1.8.1, 3.4.34, 4.8.7: vgl. ZIMMERMANN (1990), 10f. 54f. 58f. 182f. 252f. Vgl. Appian, Bürgerkriege 2.8.51: vgl. WHITE III (1958), 322f.: Pompeius spricht in einer Rede von allen Völkern rund um das Schwarze Meer, „both Greek and barbarian“. Zu literarischen Klischees (to,poi) im Bezug auf Barbaren vgl. GRACIANSKAYA, Zentrum, 481; SADDINGTON, Relations, 115f. 79 Die Bezeichnung file,llhn („Griechenfreund“) wäre eine eigene Untersuchung wert (laut TLG erstmals im 5. Jh. v.Chr.; 27 Vorkommen bis ins 1. Jh. n.Chr.): file,llhn wird auf Völker, Gruppen oder Einzelne bezogen, z.B. bei Strabon 4.1.5 – vgl. JONES II (1949), 178f.; FORBIGER (2005), 246 – auf die Gallier (file,llhnaj tou.j Gala,taj); bei Appian, Bürgerkriege 4.9.67 – vgl. WHITE IV (1955), 252f. – auf Cassius; oft auf Herrscher. mise,llhn („Griechenfeind“) ist hingegen selten (laut TLG dreimal bis ins 1. Jh. n.Chr.): Xenophon bezeichnet den Agesilaos (Agesilaos 2.31.7), Diodor den Hannibal (Bibliotheca Historica 13.43.6), Plutarch den Tissaphernes (Alkibiades 24.6.2) als mise,llhn.
3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
38
Diodor beispielsweise erzählt von Alexander, dass er der Familie des Darius in Susa die Übernahme der griechischen Sprache (e`llhnikh.n dia,lekton) anordnete.80 Dion Chrysostomos stellt verwundert fest, Homer sei auch Barbaren und Leuten, die zwei Sprachen sprechen (diglw,ttouj), im übrigen aber nicht viel Ahnung von den Griechen haben (polla. tw/n a;llwn avgnou/ntaj tw/n ~Ellhnikw/n), ja sogar Indern und fremden Menschen, die die griechische Sprache nicht verstehen (avsune,touj th/j ~Ellhnikh/j fwnh/j), bekannt.81 Apollonius von Tyana (gest. 96/98 n.Chr.)82 lobt die Vorsteher der Stadt Caesarea für die Übernahme griechischer Lebensweise: „Es hat mich gefreut, bei euch die hellenische Sitte zu nden (h;qesin ~Ellhnikoi/j).“83 Strabons Beschreibung der iberischen Stadt Rhodos (heute Rosas) macht deutlich, dass Griechen und Nichtgriechen oft gegenseitig Gebräuche übernahmen, es eine gegenseitige Akkulturation gab: „(…) but in the course of the time the two peoples (Indiketen und Griechen, MZ) united under the same constitution, which was a mixture of both Barbarian and Greek laws (mikto,n ti e;k te barba,rwn kai. ~Ellhnikw/n nomi,mwn) (…).“84
So zeugen Belege von e`llhniko,j davon, dass viele Nichtgriechen, wenn bei ihnen nicht eine ausgesprochene Reserviertheit gegenüber griechischem „Kulturimport“ gegeben war, von der beispielsweise Herodot in seinen Historien berichtet,85 ohne weiteres erste Schritte der Hellenisierung setzten, vor allem durch die Übernahme griechischer Sprache, Gebräuche und Lebensweise. 3.2.3 Bildung als Kriterium für die Zugehörigkeit zu den {Ellhnej Nach der Übernahme griechischer Sprache, Gebräuche und Lebensweise war der nächste und entscheidende Schritt in der Hellenisierung von Nichtgriechen die Übernahme griechischer Bildung. Zahlreiche Belege von e`llhniko,j verdeutlichen, dass der e`llhnikh, paidei,a – geradezu terminus technicus86 für einen Kanon von Bildungsinhalten – zentrale Bedeutung für die Hellenisierung von Nichtgriechen zukam.87 Isokrates hatte, wie oben 80
Vgl. Diodor, Bibliotheca Historica 17.67.1: vgl. WELLES VIII (1970), 308f. Vgl. Dion Chrysostomos, Reden 53.6–8: vgl. CROSBY IV (1956), 362–365; ELLIGER (1967), 644 (Rede über Homer); die Stelle ist indirekter Hinweis darauf, dass auch Dion annahm, erst mit dem Beherrschen der griechischen Sprache sei ein Schlüssel zur griechischen Kultur gegeben. 82 Vgl. FREDE, Apollonius von Tyana: DNP 1(1996), 887. 83 Apollonius, Briefe 11.20: BEKKER (1855), 1102 (griechisch zit.n. TLG). 84 Strabon 3.4.8: JONES II (1949), 92f.; vgl. FORBIGER (2005), 219. 85 Vgl. Herodot, Historien 2.91.1: FEIX I (1963), 272f.: „Die Ägypter vermeiden es, griechische Bräuche anzunehmen (~Ellhnikoi/si de. nomai,oisi feu,gousi cra/sqai).“ Vgl. Herodot, Historien 4.76.2: FEIX I (1963), 556f. über die Skythen: „Gegen fremde Sitten haben auch sie einen wahren Abscheu; ganz besonders wehren sie sich gegen griechische Bräuche (nomai,oisi ~Ellhnikoi/si) (…).“ Vgl. WILL, Hellenen: RAC 14 (1988), 383f. 86 Laut TLG-Recherche kommen allein die Wendungen e`llhnikh, paidei,a und paidei,a e`llhnikh, zwischen 5. Jh. v.Chr. und 1. Jh. n.Chr. 35mal vor. 87 Vgl. GREEN, Alexander, 313: paidei,a ist „a proper training in Greek culture.“ 81
3.2 {Ellhnej – verbreitete Bezeichnung hellenisierter Nichtgriechen
39
dargelegt, Bildung (pai,deusij) als entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit zum Hellenentum genannt; im Zeitalter des Hellenismus wurde die e`llhnikh, paidei,a Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer internationalen Bildungsschicht,88 deren Angehörige sich als „Griechen“ fühlten und die griechische Kultur weiterführten.89 Eine besondere Rolle spielten philhellenische Herrscherhäuser, die die e`llhnikh, paidei,a übernahmen und Bildungszentren zu deren Verbreitung wurden:90 Diodor schildert – angelehnt an Hekataios Abderita – Ägyptens Psammetichus I. (664–610 v.Chr.) als Philhellenen (file,llhn diafero,ntwj), der den Söhnen griechische Bildung zukommen ließ (th.n ~Ellhnikh.n evdi,daxe paidei,an).91 Ebenfalls bei Diodor nden wir die erstaunliche, doch glaubwürdige Nachricht, dass Äthiopiens König Ergamenes (1. H. 3. Jh. v.Chr.) griechische Ausbildung genossen und Philosophie studiert habe (meteschkw.j ~Ellhnikh/j avgwgh/j kai. filosofh,saj).92
Aber auch von Völkern und Einzelnen wird berichtet, dass sie sich die e`llhnikh, paidei,a angelegen sein ließen: Favorinus, Schüler des Dion, meint im (später seinem Lehrer zugeschriebenen) Korinthiakos, er als Römer sei ein Beispiel dafür, dass Barbaren – stellvertretend nennt er die Kelten – nicht zu verzweifeln brauchten (i[na mhde. tw/n barba,rwn mhdei.j avpogignw,skh|), weil griechische Bildung (e`llhnikh, paidei,a) für sie erreichbar sei.93
Mag es auch kritische Stimmen, die einen übertriebenen Ehrgeiz, an der hellenischen Bildung teilzuhaben, verächtlich machten, gegeben haben:94 Die Belege von e`llhniko,j führen die zentrale Bedeutung der e`llhnikh, paidei,a für die Hellenisierung von Nichtgriechen vor Augen; griechische 88
SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 26; vgl. ebd., 27: „hellenistische Bildungsaristokratie“. Vgl. KÖSTER, Einführung, 102f. JÜTHNER, Hellenen, 51 spricht von einer „Bildungsinternationale auf hellenischer Basis“. 89 Vgl. KÖSTER, Einführung, 103. 90 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 48. 91 Vgl. Diodor, Bibliotheca Historica 1.67.8f.: vgl. OLDFATHER I (1968), 234f. 92 Vgl. Diodor, Bibliotheca Historica 3.6.3f.: vgl. OLDFATHER II (1967), 100f. 93 Vgl. Dion Chrysostomos, Reden 37.27: vgl. CROSBY IV (1956), 26f.; ELLIGER (1967), 535; zur Urheberschaft der Rede an die Korinther vgl. ebd., XVII und 817 A.1. Vgl. SCHMIDT, Favorinus: DNP 4 (1998), 450f.; zu dieser Stelle vgl. 4.1 Hellenisierung im altrömisch-italischen Bereich. 94 Vgl. den Hinweis bei SVENCICKAYA, Stadtmensch, 617f. auf den Mimiambos Dida,skaloj des Herodas: Metrotime fordert den Lehrer Lampriskos auf, ihrem Sohn Kottalos einzubläuen, wie wichtig Bildung (gramma,twn paidei,hn; nicht ausdrücklich e`llhnikh, paidei,a) sei, damit er sich im Leben durchsetzen, aber auch seine Eltern unterstützen könne, und sei es auch nur, indem er ihnen Geschichten vorliest. Zum Dida,skaloj vgl. GERHARD, Herondas: RECA 8 (1913), 1091. Vgl. FURLEY, Herodas: DNP 5 (1998), 455; GERHARD, a.a.O., 1084–1088: Herodas lebte in der 1. Hälfte des 3. Jh. v.Chr. auf Kos, an der ionischen Küste Kleinasiens oder in Alexandria. Vgl. Herodas, Mimiambi 3.1–59, v.a. 3.28ff.: vgl. HEADLAM/KNOX (1922), 110–113.
3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
40
Bildung war Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer internationalen Bildungsschicht, zu einem entschränkten Hellenentum. 3.2.4 Ethisches Verhalten als Kriterium für die Zugehörigkeit zu den {Ellhnej Zu dem schon von Isokrates genannten Kriterium der Bildung, manchmal aber auch an seine Stelle, trat ein weiteres Kriterium für die Zugehörigkeit zum Hellenentum: ethisches Verhalten, Tugend(en). Einerseits kam dieses Kriterium oft zum „Bildungskriterium“ hinzu: Mit der Herausbildung einer internationalen Bildungsschicht hellenisierter Nichtgriechen verband sich die Erwartung, die „neuen {Ellhnej“ würden auch „griechische“ Tugenden wie Humanität, soziale Gesinnung, Menschenfreundlichkeit (filanqrwpi,a), Wohlwollen (eu;noia) und Taktgefühl95 übernehmen und in der oivkoume,nh96 verbreiten. Andererseits trat das Kriterium des ethischen Verhaltens manchmal auch an die Stelle des „Bildungskriteriums“: Denn es gab selbstverständlich die Erfahrung, dass sich auch nicht hellenisierte Nichtgriechen an ethischen Normen orientierten und tugendhaft lebten. Seit Eratosthenes von Kyrene (ca. 284–202 v.Chr.)97 dominierte jedenfalls – zumindest im Bewusstsein des vir doctus – das Bild des ethischen Griechen, nicht das des ethnischen Griechen:98 Ethisches Verhalten und Tugend galten als das Kriterium für die Zugehörigkeit zum Hellenentum. Eratosthenes fordert als einer der Ersten ausdrücklich, die ethnische Definition des Griechentums aufzugeben. Er übt damit Kritik an der Abwertung der Barbaren durch Aristoteles. Alexander den Großen lobt er, weil er nicht dem Rat des Aristoteles gefolgt sei, die Menschen in Hellenen und Barbaren einzuteilen, sondern die Eigenschaften – Tugenden bzw. Laster – einzelner Menschen als entscheidendes Kriterium erkannt habe. Die Position des Eratosthenes, die den Übergang zu einem „ethischen Griechenbegriff“ markiert, referiert Strabon:99 95
Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 65. 74. Vgl. GREEN, Alexander, 322 zur Ausdehnung der oivkoume,nh. 97 Vgl. Neuer WETTSTEIN II/1, 4; vgl. TOSI, Eratosthenes: DNP 4 (1998), 44–47. 98 Vgl. GRACIANSKAYA, Zentrum, 488: Er bezieht die Unterscheidung ethisch – ethnisch analog auf den Barbarenbegriff und nennt als Zeugen Dionysios (482) und Strabon (487). Möglicherweise klingt schon bei Platon ein ethischer Griechenbegriff an: In Menexenos 245d – vgl. SCHLEIERMACHER II (1973), 254f.; WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 502 A. 6 – wird zwar Wert darauf gelegt, rein hellenisch und unvermischt mit Barbaren zu sein, doch eingeräumt, dass es Menschen gibt, die von Natur aus Barbaren und nur durch das Gesetz Hellenen sind (a;lloi polloi. ba,rbaroi o;ntej no,mw| de. {Ellhnej). – Zu diskutieren wäre, wie no,mw| zu interpretieren ist. 99 Vgl. WILL, Hellenen: RAC 14 (1988), 388; vgl. SVENCICKAYA, Stadtmensch, 614; 96
3.2 {Ellhnej – verbreitete Bezeichnung hellenisierter Nichtgriechen
41
„Now, towards the end of his treatise – after withholding praise from those who divide the whole multitude of mankind into two groups, namely, Greeks and Barbarians ({Ellhnaj kai. barba,rouj), and also from those who advised Alexander to treat the Greeks as friends but the barbarians as enemies – Eratosthenes goes on to say that it would be better to make such divisions according to good qualities and bad qualities (avreth|/ kai. kaki,a|); for not only are many of the Greeks bad (pollou.j kakou.j), but many of the Barbarians are rened (avstei,ouj) (…). And this, he says, is the reason why Alexander, disregarding his advisers, welcomed as many as he could of the men of fair repute and did them favours (…).“100
Plutarch von Chaironea (45–120 n.Chr.)101 vertritt wie Eratosthenes einen „ethischen Griechenbegriff“; auch er bringt ihn mit Alexander dem Großen in Verbindung. Alexander habe – so Plutarchs idealisierte Darstellung – ethnischen Grenzen in der Beurteilung und Behandlung von Menschen keine Bedeutung beigemessen, weil er stark von der kosmopolitischen Lehre der Stoiker beeinflusst gewesen sei.102 Als Hauptpunkt der Lehre des Zenon (333–262 v.Chr.)103 nennt Plutarch, alle Menschen seien als Mitbürger und Landsleute (dhmo,taj kai. poli,taj) zu betrachten.104 Dieses Ideal habe Alexander nach Plutarchs Ansicht in die Tat umgesetzt und als Versöhner und Friedensstifter (a`rmosth,j kai. diallakth.j) der ganzen Welt105 nicht am starren ethnischen Gegensatz Hellenen – Barbaren festgehalten; nicht Äußeres, Kleidung oder Bewaffnung, sondern die Tugend (avreth,) sei für ihn Kennzeichen für einen „Griechen“ gewesen: „For Alexander did not follow Aristotle’s advice to treat the Greeks as if he were their leader, and other peoples as if he were their master; to have regard for the Greeks as for friends and kindred, but to conduct himself toward other peoples as though they were plants or animals (…). (…) and he brought together into one body all men everywhere, uniJÜTHNER, Hellenen, 49. Zur Position des Aristoteles gegenüber den Barbaren und zu den Ratschlägen, die er Alexander gab, vgl. GREEN, Alexander, 312f. und 814 A.7 mit Hinweisen etwa auf die Nikomachische Ethik (1145a.30; 1149a.10); vgl. BENGTSON, Eingeborenenbevölkerung, 135; DROYSEN, Hellenismus I, 264ff.; WENDLAND, Kultur, 36. 100 Strabon 1.4.9: JONES I (1949), 246–249; vgl. FORBIGER (2005), 100; Neuer WETTSTEIN II/1, 4. 101 Vgl. PELLING/BALTES, Plutarchos: DNP 9 (2000), 1159–1173. 102 Vgl. JÜTHNER, Hellenen, 49f. 103 Vgl. REGEN, Zenon: KP 5 (1975), 1500–1504; GREEN, Alexander, 64. 104 Vgl. Plutarch, Moralia. Glück oder Tapferkeit Alexanders 329B: vgl. BABBITT IV (1936), 396f. Vgl. KÖSTER, Einführung, 100; ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 893: Ideal der Stoa war ursprünglich der Universalstaat. Vgl. REGEN, Zenon: KP 5 (1975), 1504: „Die Weisen werden als Bürger des einen kosmischen Staates über alle politischen Grenzen hinweg miteinander befreundet sein.“ Zur Rezeption stoischer Positionen bei Cicero, Seneca, Plinius dem Älteren und Augustus vgl. SADDINGTON, Relations, 114f. Für Plinius den Älteren etwa sollte das römische Reich una cunctarum gentium in toto orbe patria sein. 105 Vgl. Plutarch, Moralia. Glück oder Tapferkeit Alexanders 329CD: vgl. BABBITT IV (1936), 398f.
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3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
ting and mixing in one great loving-cup (w[sper evn krath/ri filothsi,w|), as it were, men’s lives, their characters, their marriages, their very habits of life (mei,xaj tou.j bi,ouj kai. ta. h;qh kai. tou.j ga,mouj kai. ta.j diai,taj). He bade them all consider as their fatherland the whole inhabited earth (patri,da me.n th.n oivkoume,nhn), as their stronghold and protection his camp, to akin to them all good men (suggenei/j de. tou.j avgaqou,j), and as foreigners only the wicked (avllofu,louj tou.j ponhrou,j); they should not distinguish between Grecian and foreigner (to. ~Ellhniko.n kai. barbariko.n) by Grecian cloak and targe, or scimitar and jacket; but the distinguishing mark of the Grecian should be seen in virtue (to. ~Ellhniko.n avreth/|), and that of the foreigner in iniquity (to. barbariko.n kaki,a|) (…).“106
Demgemäß habe Alexander – so Plutarch weiter – eine „ethische Hellenisierung“ geplant, viele Nichtgriechen im ethisch-moralischen Sinn zu „Griechen“ machen wollen: Alexanders Absicht sei gewesen, „(…) to combine foreign things with things Greek (ta. barbarika. toi/j ~Ellhnhikoi/j kera,sai), to travers and civilize (evxhmerw/sai) every continent, (…) and to disseminate and shower the blessings of Greek justice and peace over every nation (th.n ~Ella,doj spei/rai kai. katace,asqai ge,nouj panto.j euvdiki,an kai. eivrh,nhn) (…)“107.
Für Plutarch ist mit dem ethischen Griechenbegriff ein entschränkter, „ethischer“ Griechenlandbegriff verbunden: „Griechenland“ wird Metapher für ein die oivkoume,nh umspannendes Reich der Gerechtigkeit und des Friedens.108 Pointiert vertritt nicht zuletzt Dionysios von Halikarnass (ca. 60 v.Chr.– 8 n.Chr. [?])109 einen ethischen Griechenbegriff. Hatte Isokrates als Kriterien für die Zugehörigkeit zum Hellenentum Geist und Bildung genannt, so machen für Dionysios nicht Name und Mundart (o;noma und dia,lektoj), sondern Einsicht, Annahme guter Lebensgrundsätze (su,nesij, crhstw/n evpithdeuma,twn proai,resij) und das Handeln danach – „ehrenhafte und menschenfreundliche Taten“ – den „Griechen“ aus. Schränkten Isokrates’ Kriterien ursprünglich den Griechenbegriff ein, dachte Dionysios mit sei106 Plutarch, Moralia. Glück oder Tapferkeit Alexanders 329C: BABBITT IV (1936), 396–399. 107 Plutarch, Moralia. Glück oder Tapferkeit Alexanders 332A: BABBITT IV (1936), 412f. 108 Mit Plutarch setzt sich GREEN, Alexander, 324 kritisch auseinander: „(…) the whole concept of Hellenization as a benecial spreading of light among the grateful heathen was a self-serving myth, propagated by power-hungry imperialists, and rooted in the kind of contemptuous attitude (…) that saw Greeks as the embodiment of all intelligence and culture, while the rest of the world consisted of mere barbarians (…) The idea of a missionary crusade to spread superior culture among the unenlightened (…) was later popularized by Plutarch, who argued that those whom Alexander defeated were luckier than those who escaped him, since the former got the benets of Greek culture and philosophy, while the latter were left to stew in their ignorant primitivism.“ 109 Vgl. FORNARO, Dionysios von Halikarnassos: DNP 3 (1997), 635–638.
3.2 {Ellhnej – verbreitete Bezeichnung hellenisierter Nichtgriechen
43
nen ethischen Kriterien von vornherein an eine Entschränkung des {Ellhnej-Begriffs: „(…) For I would distinguish Greeks (to. ~Ellhniko.n) from barbarians, not by their name nor on the basis of their speech (ouvk ovno,mati diafe,rein tou/ barba,rou hvxi,oun ouvde. diale,ktou ca,rin), but by their intelligence and their predilection for decent behaviour (avlla. sune,sei kai. crhstw/n evpithdeuma,twn proaire,sei), and particularly by their indulging in no inhuman treatment of one another. All in whose nature these qualities predominated I believe ought to be called Greeks (dei/n le,gein {Ellhnaj), but those of whom the opposite was true, barbarians. Likewise, their plans and actions which were reasonable and humane, I consider to be Greek (ta.j me.n evpieikei/j kai. filanqrw,pouj dianoi,aj te kai. pra,xeij auvtw/n ~Ellhnika.j ei=nai logi,zomai), but those which were cruel and brutal, particularly when they affected kinsmen and friends, barbarous.“110
3.2.5 Zusammenfassung Die Belege zu {Ellhn und e`llhniko,j, besonders bei Isokrates, Eratosthenes, Plutarch und Dionysios, zeigten, wie {Ellhn und e`llhniko,j Hellenisierungsprozesse spiegeln: Im Zeitalter des Hellenismus konnte als {Ellhn oder e`llhniko,j über die ethnischen Grenzen hinaus bezeichnet werden, wer sich griechische Sprache, Gebräuche, Lebensweise angeeignet hatte. Besonders, wer sich die e`llhnikh, paidei,a, griechische Bildung, angelegen sein ließ und nicht zuletzt, wer darüber hinaus (manchmal auch statt dessen) nach moralischen Grundsätzen, Tugenden zu leben bemüht war, wer kosmopolitisch und humanistisch eingestellt war, konnte {Ellhn oder e`llhniko,j genannt werden. So lässt sich eine Entschränkung des ursprünglich ethnisch verstandenen Griechenbegriffs konstatieren.111 Freilich muss bewusst bleiben, dass die Entschränkung des Griechenbegriffs durch eine Neudefinition von {Ellhn und e`llhniko,j, bei der das intellektuell-moralische Moment im Vordergrund stand112 („Bildungsgriechen“, „Kulturgriechen“, „ethische Griechen“), selten Allgemeingut oder „selbstverständliche Einteilungskategorie hellenistischer Welt“113 wurde; vielmehr war sie oft bloß philosophisches Postulat,114 Darstellung eines Idealzustandes oder gar nachträgliche Rechtfertigung imperialistischer 110
Dionysios von Halikarnass, Römische Geschichte 14.6.5f.: CARY VII (1950), 266–
269. 111 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 884: „Parallel mit der Entwicklung des Hellenenbegriffs (…) ging eine andere, noch breitere Auffassung, die (…) einer allgemeinen Menschlichkeit.“ Vgl. ebd., 883: „Die ‚politische‘ Exklusivität der Griechen gab allmählich einer lockereren Auffassung Raum, einer Brüderlichkeit unter all denen, die sich ‚Hellenen‘ nennen durften.“ 112 Vgl. JÜTHNER, Hellenen, 52. 113 WILL, Hellenen: RAC 14 (1988), 388. 114 So etwa bei Dionysios von Halikarnass, vgl. oben.
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3. Historische Verortung der ~Ellhnistai,
Machtpolitik.115 Wo aber der entschränkte Griechenbegriff angewendet wurde, wurde der Gegensatz Hellenen – Barbaren nie aufgehoben, sondern nur verschoben, „(…) indem eine Auswahl unter den Barbaren, eben die, welche die griechische Bildung und Gesittung angenommen hatten, der Gemeinschaft des Hellenentums einverleibt wurden“116. Dass die Entschränkung des Griechenbegriffs weit verbreitet war, wird nicht abzustreiten sein; dass zugleich mit ihr „das Gefühl einer weltweiten Gemeinschaft“ entstand, und „die scharfe verächtliche Unterscheidung zwischen Griechen und Barbaren“117 verschwand, wird man aber nur bedingt sagen können.
115 Vgl. GREEN, Alexander, 312: Green kritisiert idealisierte Darstellungen des Hellenismus: „Its civilizing, even its missionary aspects have been greatly exaggerated, not least by those anxious to nd some moral justication for imperialism; so has its universality.“ 116 Vgl. JÜTHNER, Hellenen, 51. 117 GRANT, Hellenismus: RGG 3 (1959), 210.
Kapitel 4
Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich Nicht alle, die als Hellenen bezeichnet wurden oder sich selber so bezeichneten, waren in gleicher Weise „hellenisiert“ – die einen mehr sprachlich, andere mehr in Lebensweise oder Bildung. Als Beispiele für unterschiedliche Hellenisierung im paganen Bereich sollen im Folgenden der altrömisch-italische Bereich (4.1), das seleukidische Syrien (4.2) und das ptolemäische Ägypten (4.3) vor Augen gestellt werden.
4.1 Griechischsprachige Nichtgriechen im altrömisch-italischen Kulturbereich Wie unterschiedlich Hellenisierung und Stellungnahmen zu den Griechen, ihrer Sprache, Bildung und Kultur bei Nichtgriechen ausfallen konnten, zeigt instruktiv ein Blick auf die Geschichte der Hellenisierung im altrömisch-italischen Kulturbereich.1 Diese nahm ihren Anfang, als Römer mit Griechen durch Großgriechenland, hellenisierte Städte und griechische Kolonien Siziliens und Unteritaliens, in Kontakt kamen. Sie trat in eine entscheidende Phase, als zur Zeit der Eroberung Griechenlands durch Rom in der ersten Hälfte des 2. Jh. v.Chr. die griechische Bildung unmittelbar in die römische Oberschicht eindrang. Weitere griechische Einflüsse kamen
1
Die Geschichte wird hier im Großen und Ganzen bis in die neutestamentliche Zeit verfolgt. Parallel zur und anschließend an die Hellenisierung der Römer kam es zur Romanisierung der Gebiete im Westen, bei der Parallelen zur Hellenisierung auffallen (vgl. SADDINGTON, Relations, 132ff.): Die Pax Romana war kein kulturelles Programm, vgl. Vergils Aeneis 6.851ff.: NORDEN (1916), 100f.: „Du bist ein Römer, dies sei dein Beruf: Die Welt regiere, denn du bist ihr Herr, dem Frieden gib Gesittung und Gesetze, begnad’ge, die sich dir gehorsam fügen, und brich in Kriegen der Rebellen Trotz.“ Romanisierung war keine Verordnung römischer Kultur für Nichtrömer, sondern meist freiwillige Übernahme der lateinischen Sprache, der römischen (städtischen) Lebensweise und Erziehung bzw. freiwillige Anpassung an die römische Kultur, z.B. in Gallien (Plinius d.Ä.), Spanien (Strabon), Germanien (Dio Cassius), Britannien (Tacitus, Agricola).
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
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schließlich noch durch den Zuzug von Griechen und hellenisierten Nichtgriechen aus den östlichen Provinzen nach Rom.2 In allen Phasen der Geschichte standen sich bei den Römern Philhellenentum und – teils polemische – Verteidigung der angestammten Kultur gegenüber.3 Die Römer nahmen eine ambivalente, komplexe, beinahe schizophrene Haltung zur griechischen Kultur ein.4 Hier zeigt sich eine Parallele der altrömisch-italischen Kultur zu anderen Kulturen, besonders zum Judentum: Hier wie dort bestimmten „(…) die einheimischen Kulturmuster weithin (…), was an griechischen Kulturfertigkeiten als brauchbar für die eigenen Zwecke oder ungefährlich für die eigene Identität übernommen wurde (…)“5. Als Ergebnis dieser differenzierten Übernahme griechischer Kultur konnte sich im altrömisch-italischen Kulturbereich „(…) trotz umfangreicher Hellenisierungsprozesse die einheimische Identität in ungebrochener Traditionslinie behaupten (…), zwar gewandelt, aber auch gestärkt“6. Einerseits gab es eine einheimische römische Identität und intellektuelle Tradition,7 die Römer waren keine Barbaren oder Kultur-Parvenus,8 ihre Zivilisation nicht Plagiat der griechischen. Andererseits dominierten in der römischen Kultur vielfach griechische Einflüsse – treffend sagt Horaz (63– 8 v.Chr.):9 „Das unterworfene Griechenland unterwarf sich seinen wilden Besieger und führte seine Künste in das bäuerliche Latium ein (Graecia capta ferum victorem cepit et artis intulit agresti Latium).“10 Langfristig wirkte sich die Dominanz griechischer Einflüsse so aus, dass philhellenische Römer – wie auch andere hellenisierte Nichtgriechen – geradezu Promotoren griechischer (bzw. hellenistischer) Kultur wurden11 und sich selbst einer „Gräkomanie“ gegenüber skeptisch eingestellte Römer nicht
2
Vgl. KÖSTER, Einführung, 347; vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 389f. (Graeci). Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 390ff. 4 Vgl. GEHRKE, Nobilität, 527. 5 GERBER, Hellenisierung: DNP 5 (1998), 301. 6 GERBER, Hellenisierung: DNP 5 (1998), 301; vgl. KÖSTER, Einführung, 348: „kulturelle Zweipoligkeit“. 7 Vgl. GREEN, Alexander, 318: „(…) the lack of a home-grown intellectual tradition has probably been exaggerated (…).“ Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 390f. 8 Vgl. GREEN, Alexander, 318: Philipp V. war beeindruckt von der militärischen Organisation der „westlichen Barbaren“; Cato d.Ä. hörte Griechen noch so über die Römer reden. Belege vgl. ebd., 816 A. 38 (Livius, Plinius u.a.). Vgl. HADAS, Kultur, 58. 9 Vgl. KYTZLER, Horatius Flaccus: DNP 5 (1998), 720–727. 10 Horaz, Episteln 2.1.156–157 (An Augustus): SCHÖNBERGER (1991), 216f. 11 Vgl. GREEN, Alexander, 318. 3
4.1 Altrömischer Kulturbereich
47
vollkommen griechischer Sprache, Kultur, Bildung und Ethik verschließen konnten und wollten.12 Griechischer Einfluss machte sich auch bei den Römern zunächst in der Sprache bemerkbar: Im 3. Jh. v.Chr. war Griechisch in der Führungsschicht verbreitet; in der späten Republik waren fast alle gebildeten Römer zweisprachig; und in der Kaiserzeit konnten sich auch Kaufleute und Soldaten auf Griechisch verständigen.13 Cicero stellt einmal fest: „Doch wenn jemand glaubt, unbedeutender sei die Ruhmesernte, die man aus griechischen als aus lateinischen Versen schöpft, so irrt er gewaltig, und zwar deshalb, weil Griechisch fast bei allen Völkern gelesen wird, Latein aber auf seine schmalen Grenzen eingeengt ist (Graeca leguntur in omnibus fere gentibus, Latina suis nibus sane exiguis continentur).“14
Mit der Verbreitung der griechischen Sprache verband sich eine Gräzisierung von Erziehung und Bildung gerade der führenden Schicht, die zu Ende des 3. Jh. v.Chr. und Beginn des 2. Jh. v.Chr. intensiviert wurde – wiederholte Versuche, dies zu unterbinden, bestätigen das nur.15 Durch die stark hellenisierte Erziehung fanden griechische Literatur und Philosophie Eingang ins römische Geistesleben und wurden ebenso wie griechische bildende Kunst und Architektur gefördert.16 Befürwortern wie Gegnern der e`llhnikh, paidei,a waren ethische Maximen der griechischen Philosophie, besonders der Mittleren Stoa, in Fleisch und Blut übergegangen. Griechische Ethik wurde als bene vivendi disciplina, als Bestätigung, Präzisierung oder Überhöhung des römischen mos rezipiert; von ihr erhoffte man sich positive Auswirkungen auf die soziopolitische Ordnung Roms, mores und instituta der res publica, und die Über-
12
Vgl. die Beispiele unten zu philhellenischen und antihellenischen Römern. Vgl. KÖSTER, Einführung, 347f.; KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 390; HADAS, Kultur, 60f. 14 Cicero, Rede für den Dichter A. Licinius Archias (Pro Archia Poeta) 10.23: VRETSKA (1988), 54f. Vgl. SCHMITT, Sprachverhältnisse, 561ff.: Latein stieß besonders im Osten des Imperium auf Grenzen, hier mussten die Römer Griechisch können: Trotz des Ideals, dass „Latinae vocis honos per omnes gentes venerabilior diffunderetur“ (Valerius Maximus 2.2.2, zit. n. SCHMITT), kam eine Romanisierung des Ostens nie in Frage; Latein hatte im Osten nur in Militär und Justiz Bedeutung. 15 Vgl. GEHRKE, Nobilität, 526. 16 Vgl. KÖSTER, Einführung, 348. Römische Autoren brachten griechische Literatur und Philosophie in ihre Sprache, Latein, das oft schwerfällig wirkte (vgl. GREEN, Alexander, 318); doch wurde Latein durch Griechisch auch verfeinert (vgl. GEHRKE, Nobilität, 536). Vgl. Cicero, Gespräche in Tusculum (Tusculanae disputationes) 2.26: GIGON (1970), 134f.: „(…) da habe ich vieles aus dem Griechischen übersetzt, damit die lateinische Sprache auch nicht in dieser Art von Gespräch des Schmuckes entbehre.“ 13
48
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
windung negativer Erscheinungen wie superbia und luxuria.17 So prägten philhellenische Römer aus der Kenntnis des griechischen Menschenbildes, besonders der Stoiker, den Kulturbegriff der humanitas, der große Bedeutung für Rechtswissenschaft, Rhetorik und Philosophie erlangte.18 Man wird also mit Fug und Recht von einer „allgemeinen Hellenisierung des römischen Lebens“19 sprechen können. Gleichwohl lassen sich in der römischen Gesellschaft philhellenische und antihellenische Strömungen unterscheiden. 4.1.1 Vertreter und Zeugnisse philhellenischer Tendenzen Die römische Griechenfreundlichkeit verstärkte sich in der ausgehenden Republik und zeigte sich in der Heranziehung gelehrter griechischer Sklaven und Freigelassener als Pädagogen und Hausphilosophen und in Bildungsreisen der Vornehmen in den griechischen Osten.20 Typischer Vertreter römischen Philhellenentums war Marcus Tullius Cicero (106–43 v.Chr.)21: Ausbildung, Aufenthalte in Griechenland, Kontakte mit angesehenen Griechen und lebenslange Beschäftigung mit der griechischen Literatur machten Cicero zum Bewunderer literarischer und künstlerischer Fähigkeiten der Griechen, der Griechenland als Wiege der Kultur betrachtete.22 Über sich und Quintus meint Cicero, sie fühlen sich „(…) vor anderen als Philhellenen und gelten auch dafür (praeter ceteros file,llhnej et sumus et habemur) (…)“23. Quintus erinnert er, als Statthalter der Asia griechische Untertanen human zu behandeln: „Nun sind wir aber über eine Bevölkerung gesetzt, die nicht nur selbst Kultur (humanitas) besitzt, sondern die sie auch, wie allgemein anerkannt, andern vermittelt hat (a quo ad alios pervenisse putetur humanitas); da müssen wir gewiß vor allem denen gegenüber Kultur beweisen, von denen wir sie empfangen haben (certe iis eam [humanitatem, MZ] potissimum tribuere debemus, a quibus accepimus). Denn ich scheue mich nachgerade nicht (…), offen auszusprechen, daß wir unsere Erfolge der Beschäftigung mit den Wissenschaften und Künsten verdanken, die uns in den Denkmälern und Lehren Griechenlands überliefert sind (iis studiis et artibus esse adeptos, quae sint nobis Graeciae monumentis disciplinisque tradita). Mithin (…) sind wir (…) verpichtet, uns zu bemühen, bei denen, deren Unterweisung wir
17 Vgl. GEHRKE, Nobilität, 525–528. 536ff. „Dem mos wurde durch ethos aufgeholfen.“ (528); vgl. ebd., 527: Der Einuss griechischer Ethik dürfte sich besonders daraus erklären, dass griechische Intellektuelle im Umfeld römischer nobiles private Mentoren und politische Ratgeber waren. 18 Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 391. 19 GEHRKE, Nobilität, 527 (Hv MZ). 20 Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 392. 21 Vgl. BRODERSEN/LEONHARDT, Cicero: DNP 2 (1997), 1191–1202. 22 Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 393. 23 Cicero, Atticus-Briefe (Epistulae ad Atticum) 1.15.1: KASTEN (1959), 40f.
4.1 Altrömischer Kulturbereich
49
unsre Bildung verdanken (quorum praeceptis sumus eruditi), zu betätigen, was wir von ihnen gelernt haben.“24
Eineinhalb Jahrhunderte später finden wir ein ausführliches Selbstzeugnis aus dem römischen Ritterstand: Favorinus (ca. 80–150 n.Chr.), Schüler Dions, rühmt sich in einer griechisch verfassten Rede an die Korinther25 als eifrigen Griechenfreund: Er habe sich nicht nur die Sprache angeeignet „(…) but also the thought and manners and dress of the Greeks (avlla. kai. th.n gnw,mhn kai. th.n di,aitan kai. to. sch/ma tw/n ~Ellh,nwn evzhlwkw,j), and that too with such mastery and manifest success as no one among either the Romans of earlier days or the Greeks of his own time (…) for while the best of the Greeks over there may be seen inclining toward Roman ways, he inclines toward the Greek (to.n de. prosta,thn pro.j ta. tw/n `Ellh,nwn) and to that end is sacricing both his property and his political standing and absolutely everything aiming to achieve one thing at the cost of all else, namely, not only to seem Greek but to be Greek too ({Ellhni dokei/n te kai. ei=nai) (…).“26 So fordert Favorinus, die Korinther sollen sein Denkmal, das sie entfernt haben, wieder aufstellen, denn: „(…) though Roman, he has become thoroughly hellenized (o[ti ~Rwmai/oj w'n avfhllhni,sqh) (…).“27
Selbstverständlich wurde die römische Griechenfreundlichkeit von griechischen Autoren positiv aufgenommen, wie folgende Beispiele zeigen sollen. Dionysios von Halikarnass (geboren ca. 60 v.Chr.) brachte den Römern besondere Sympathie entgegen; sie sind für ihn mehr als Philhellenen: Der in seiner Wahlheimat Rom griechisch abgefassten Römischen Geschichte (~Rwmaikh. avrcaiologi,a) liegt die bemerkenswerte These zugrunde, die Römer seien durch Abstammung und Sprache echte {Ellhnej und Bewahrer der griechischen Tradition:28 Zwar hatten – so Dionysios – auch die Albaner beansprucht, als griechisches Volk (e;qnoj e`llhniko.n) über die Römer zu herrschen,29 der etruskische König Lucius Tarquinius Priscus (616–578 v.Chr.) war griechischer Abkunft und hatte griechische Erziehung (e`llhnikh,
24
Cicero, Briefe an Bruder Quintus (Epistulae ad Quintum fratrem) 1.27f.: KASTEN (1965), 26–29; vgl. Cicero, Gespräche in Tusculum (Tusculanae disputationes) 2.27: GIGON (1970), 136f. – einem Griechenkritischen in den Mund gelegt: „Aber wir, natürlich durch die Griechen belehrt (docti scilicet a Graecia), (…) nennen das eine weltmännische Unterweisung und Bildung (eruditionem liberalem et doctrinam).“ 25 Vgl. ELLIGER, Dion Chrysostomus. Sämtliche Reden, XVII und 817 A.1: Der Korinthiakos wurde später Dion zugeschrieben. Vgl. SCHMIDT, Favorinus: DNP 4 (1998), 450f. 26 Dion Chrysostomus, Reden 37.25: CROSBY IV (1956), 24f.; vgl. ELLIGER (1967), 535. 27 Dion Chrysostomus, Reden 37.26: CROSBY IV (1956), 24–27; vgl. ELLIGER (1967), 535. Zum Verb avfellhni,zein vgl. oben; LIDDELL-SCOTT, Lexicon, 288; Philo, legat 147 – vgl. unten. 28 Vgl. FORNARO, Dionysios von Halikarnassos: DNP 3 (1997), 635; KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 403. 29 Vgl. Dionysios von Halikarnass, Römische Geschichte 3.10.4f.: vgl. CARY II (1953), 38–43.
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
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paidei,a) genossen;30 doch nur die Römer konnten sich mit vollem Recht darauf berufen, „Griechen“ zu sein, da ihre Vorfahren aus Troja gekommen waren, dessen Bewohner von alters her griechisch waren (Trwiko.n ge,noj ~Ellhniko.n avrch/qen):31 „For one will nd no nation that is more ancient or more Greek (ou;te avrcaio,teron ou;te ~Ellhnikw,teron) than these.“32
Für Dionysios sind die Römer nicht nur ethnisch, sondern auch ethisch {Ellhnej: Ihre Überlegenheit und Herrschaft über den Erdkreis gründe auf griechischen Tugenden und auf ehrenhaften, menschenfreundlichen Taten.33 Anders als Dionysios geht Strabon (62 v.Chr.–24 n.Chr.)34 zwar nicht davon aus, dass die Römer Griechen sind, doch weiß er zu berichten, wie die Römer sich dem kulturellen Einfluss griechischer Kolonien, etwa von Cumae und Neapel, öffneten: In Cumae hatten sich „(…) many traces of the Greek decorum and usages (polla. i;cnh tou/ ~Ellhnikou/ ko,smou kai. tw/n nomi,mwn) (…)“35 erhalten, und auch in Neapel gab es „(…) many traces of Greek culture (th/j ~Ellhnikh/j avgwgh/j) (…) – gymnasia, ephebeia, phratriae, Greek names of things (ovno,mata ~Ellhnika,) (…)“36; dementsprechend lebten Römer, die hier den Lebensabend verbrachten, nach hellenischer Lebensweise (diagwgh.n th.n ~Ellhnikh.n).37
Plutarch von Chaironea (ca. 45–120 n.Chr.)38 porträtiert in Parallelviten berühmter Griechen und Römer viele Römer als Philhellenen, etwa Claudius Marcellus (gest. 208 v.Chr.) oder Aemilius Paullus (228–160 v.Chr.); er möchte den (griechischen) Lesern zeigen, dass man in den Römern keine kulturlosen Barbaren vor sich habe:39 30
Vgl. Dionysios von Halikarnass, Römische Geschichte 3.46.5: vgl. CARY II (1953),
182f. 31
Vgl. Dionysios von Halikarnass, Römische Geschichte 1.62.2: vgl. CARY I (1948),
204f. 32 Dionysios von Halikarnass, Römische Geschichte 1.89.2: CARY I (1948), 306f. Beispiele der „Römischen Geschichte“ illustrieren die These: Griechische Städte wurden Kolonien (avpoiki,ai) der Römer (2.35.6; vgl. CARY I [1948], 414f.); die Einrichtung des Senats entsprach griechischer Sitte (~Ellhniko.n e;qoj; 2.12.3; vgl. CARY I [1948], 346f.); Inschriften im Dianatempel waren griechisch (~Ellhnikoi/j gra,mmasin; 4.26.5; vgl. CARY II [1953], 356f.). 33 Vgl. Dionysios von Halikarnass, Römische Geschichte 14.6.5: vgl. CARY VII (1950), 266f. (vgl. oben). 34 Vgl. RADT, Strabon: DNP 11 (2001), 1021f. 35 Strabon 5.4.4: JONES II (1949), 438f.; vgl. FORBIGER (2005), 342. 36 Strabon 5.4.7: JONES II (1949), 448f.; vgl. FORBIGER (2005), 345. Ephebien sind „Übungsplätze“ für Knaben, Phratrien „Verwandtschaftsstämme“ (politische Volksabteilungen ähnlich den „tribus“ in Rom). Mit den „griechischen Namen“ könnten auch die der dortigen Römer gemeint sein; avgwgh, ließe sich auch als „Bildung“ übersetzen. 37 Vgl. Strabon 5.4.7: vgl. JONES II (1949), 450f.; FORBIGER (2005), 346. 38 Vgl. PELLING/BALTES, Plutarchos: DNP 9 (2000), 1159–1173 (Leben 1159f.). 39 Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 404f.
4.1 Altrömischer Kulturbereich
51
Claudius Marcellus, „(…) besonnen, liebenswürdig (fila,nqrwpoj) und ein Freund griechischer Bildung und Literatur (~Ellhnikh/j paidei,aj kai. lo,gwn evrasth,j)“40 habe Rom „(…) mit Schaustücken, die griechischen Reiz, Anmut und Zauber ausströmten (h`donh,n evcou,saij kai. ca,rin ~Ellhnikh.n kai. piqano,thta) (…)“41 verschönt und sich gerühmt, „(…) auch den Griechen gegenüber, daß er die Römer, die von den schönen und bewundernswerten Leistungen Griechenlands noch nichts wußten, diese zu ehren und zu bewundern gelehrt habe (w`j ta. kala. kai. qaumasta. th/j ~Ella,doj ouvk evpistame,nouj tima/n kai. qauma,zein `Rwmai,ouj dida,xaj)“42. Aemilius Paullus – so Plutarch – erzog seine Söhne „(…) not only in the native and ancestral discipline (th.n me.n evpicw,rion paidei,an kai. pa,trion) (…), but also, and with greater ardour (filotimo,teron) in that of the Greeks (paidei,an th.n ~Ellhnikh.n)“43.
Beim Historiker Appian (90–160 n.Chr.)44 – einem Griechen Alexandrias, als loyaler römischer Beamter zum Prokurator Ägyptens aufgestiegen45 – finden sich in der Geschichte der römischen Bürgerkriege zwei Notizen über griechische Bildung und philhellenische Einstellung des Gaius Cassius Longinus (gest. 42 v.Chr.): Im Jahr 43 v.Chr. rückte Cassius gegen Rhodos, „(…) in which place he was brought up, and educated in the literature of Greece (pepaideume,noj ta. ~Ellhnika,)“46, worauf die Rhodier einen Gesandten an Cassius schickten, „(…) Archelaus, who had been his teacher in Greek literature in Rhodes (ta. ~Ellhnika. dida,skaloj gege,nhto)“47 und der nun an ihn appellierte: „O friend of the Greeks (file,llhn avnh,r), do not destroy a Greek city (po,lin ~Ellhni,da)! O friend of freedom, do not destroy Rhodes. (…)“48
4.1.2 Vertreter und Zeugnisse antihellenischer Tendenzen Trotz intensivierter Griechenfreundlichkeit und Beschäftigung mit griechischer Sprache, Bildung und Kultur setzte sich auch eine Geringschätzung 40 Plutarch, Marcellus 1.3: ZIEGLER 3 (1980), 302; griechisch: ZIEGLER II/2 (1968), 105 (ein Fragment des Poseidonios). 41 Plutarch, Marcellus 21.4f.: ZIEGLER 3 (1980), 327; griechisch: ZIEGLER II/2 (1968), 133. Der Verschönerung Roms ging allerdings die Eroberung von Syrakus voraus, vgl. ELVERS, Claudius Marcellus (I 11): DNP 3 (1997), 9: „Die Stadt wurde geplündert und die Kunstschätze nach Rom geführt, wo sie das Interesse für griechische Kunst förderten.“ 42 Plutarch, Marcellus 21.7: ZIEGLER 3 (1980), 328; griechisch: ZIEGLER II/2 (1968), 134. 43 Plutarch, Aemilius 6.8: PERRIN VI (1993), 370f. Vgl. ELVERS, Aemilius Paullus (I 32): DNP 1 (1996), 182: „Aemilius besaß zwar eine Neigung zu griechischer (…) Kunst und Literatur, war aber kein politischer ‚Philhellene‘.“ 44 Vgl. MAGNINO, Appianos: DNP 1 (1996), 903ff. 45 Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 408f. 46 Appian, Bürgerkriege 4.9.65: WHITE IV (1955), 248f.; vgl. ELVERS, C. Cassius Longinus (I 10): DNP 7 (1999), 1009: Cassius vereinigte „(…) sich etwa im November 43 mit Brutus in Smyrna, um nach seinem Vorschlag anschließend Rhodos zu nehmen und die Provinz Asia von Gegnern zu säubern.“ 47 Appian, Bürgerkriege 4.9.67: WHITE IV (1955), 252f. 48 Ebd.
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
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der Griechen durch die adelsstolzen Römer fort;49 Verachtung und Misstrauen50 brachte man besonders so manchen griechischen Zeitgenossen wegen ihrer panourgi,a (Graeca adulatio) entgegen, einem „(…) Komplex von Wachheit, Klugheit, List, Betrug, Hinterlist und Schmeichelei in untrennbarem Ineinander“51. Diese Geringschätzung der Griechen spiegelt sich in den Ausdrücken Graeculus, pergraecari und graecari. Erstaunlicherweise ist es der sonst philhellenische Cicero, der den Ausdruck Graeculus – ironisches Deminutiv von Graecus52 – als Schimpfwort im politischen Kampf in Umlauf setzt: Graeculi sind für Cicero zeitgenössische Griechen, Nachfahren der „klassischen Hellenen“, die er „(…) als unzuverlässig und übermütig, zügellos, unnütz, träge, geschwätzig und leichtfertig abqualifiziert“53. So äußert Cicero in der Dankrede vor dem Senat sein Missfallen darüber, dass Caesoninus Calventius sich mit Graeculi abgebe: „Und wenn das Untier nun gar anfängt, (…) mit den Griechlein zu philosophieren (…) (cum vero etiam […] incipit et beluus immanis cum Graeculis philosophari).“54
Juvenal (67–nach 138 n.Chr.) bringt in seiner „Großstadtsatire“55 die Polemik gegen die Graeculi und „(…) alles, was sich an griechischen Einflüssen in Rom etabliert hatte“56, auf einen Höhepunkt (Satiren 3.58–125)57:
49
Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 391. Vgl. GREEN, Alexander, 318; vgl. ebd., 815 A. 35: Belege für römisches Misstrauen gegenüber Griechen bei Cato, Plinius d.Ä., Cicero, Juvenal. 51 SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 55; vgl. ebd.: Die panourgi,a wurde „(…) oft zur einzigen Waffe, die den Griechen noch blieb, wenn sie sich selbst erhalten wollten. Nur sie war der römischen Brutalität gewachsen, und daher ist der Ärger der Römer über sie wohl verständlich.“ 52 Vgl. STOWASSER, Wörterbuch, 476: „ ‚Griechlein‘, dem strengen Römer als schwärmerisch und leichtsinnig unbegreiich.“ 53 KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 393 (zahlreiche Belege!). Beispiele: Vom Gemeinwesen (de re publica) 1.5f. – vgl. BÜCHNER (1973), 88f. – nennt Cicero Wankelmut (levitas) und Grausamkeit (crudelitas); Von den Grenzen im Guten und im Bösen (de nibus bonorum et malorum) 2.80 – vgl. ATZERT (1964), 162f. – die Leichtfertigkeit (levitas Graecorum). Über den Redner (de oratore) 2.17–19 – vgl. NÜSSLEIN (2007), 136f. – heißt es: Vom Fehler der Unangemessenheit (ineptum/ineptiae) habe „(…) die so ausnehmend gebildete Nation der Griechen (eruditissima illa Graeca natio) ein gerüttelt Maß abbekommen (…)“, und zwar die zeitgenössischen Griechen, die keine Ähnlichkeit mit den früheren, großen und berühmten Griechen hätten. 54 Cicero, Dankrede vor dem Senat (oratio post reditum in senatu) 14: KASTEN II (1969), 20f. 55 Vgl. SCHMIDT, Juvenalis, D. Iunius: DNP 6 (1999), 112. 56 KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 396. 57 Vgl. Juvenal, Satiren (Saturae) 3.58–125: ADAMIETZ (1993), 40–45. 50
4.1 Altrömischer Kulturbereich
53
Die Graeculi (3.78) – zu ihnen werden im Sinn eines bemerkenswert weit gefassten Griechenbegriffes nicht nur Griechen des Mutterlandes (Achaei: 3.61), sondern auch (hellenisierte) Bewohner des Orients (3.62f.), von den Inseln und aus Kleinasien (3.69f.) gezählt58 – hätten Rom zu einer griechischen Stadt (Graeca urbs) gemacht (3.60f.), lässt Juvenal den Römer Umbricius lamentieren; er habe emigrieren müssen, weil die Graeculi – ein „im Schmeicheln überaus versiertes Volk (adulandi gens prudentissima)“59 – einheimischen Römern als Konkurrenten um die Gunst der Patroni überlegen seien (vgl. 3.58 und 3.73–125)60: „Ihr Geist ist ink (ingenium velox), die Dreistigkeit verwegen (audacia perdita), die Rede stets parat (sermo promptus) (…) auf alles versteht sich ein hungerndes Griechlein (omnia novit Graeculus esuriens), in den Himmel wird er, beehlst du es, sich erheben.“61
Auch Tacitus (ca. 55–120 n.Chr.)62 spricht süffisant von den Graeculi, Zeitgenossen in oder aus Griechenland: Die „fabulae Graeculorum“63 (das Geschwätz von Griechlein) – und damit sind wohl die Werke von Epigonen klassischer griechischer Autoren gemeint – sind für ihn ebenso ein Grund für den Niedergang der Redekunst wie die Kindererziehung, die oft „irgendeiner griechischen Magd (Graeculae alicui ancillae)“ und wertlosen, für keinen ernsthaften Dienst brauchbaren Sklaven mit ihrem Geschwätz und falschen Vorstellungen (fabulae et errores) überlassen werde.64
Während Graeculi – wenigstens bei Cicero, Juvenal und Tacitus – Zeitgenossen in oder aus Griechenland waren,65 die manchmal sogar in die Nähe von Barbaren gerückt wurden,66 bezogen sich graecari und pergraecari 58
Vgl. ADAMIETZ (1993), 337 A. 23 (Anmerkungen zur Satire 3). Juvenal, Satiren (Saturae) 3.86: ADAMIETZ (1993), 42f. 60 Vgl. ADAMIETZ (1993), 334f. (Anmerkungen zur Satire 3; Einleitung). 61 Juvenal, Satiren (Saturae) 3.73f. und 3.77f.: ADAMIETZ (1993), 42f. Vgl. GREEN, Alexander, 389: „Juvenal’s esurient Greekling had often little that was Greek about him but his name and speech.“ 62 Vgl. FLAIG, Cornelius Tacitus (1): DNP 11 (2001), 1209–1214. 63 Tacitus, Das Gespräch über die Redner (Dialogus de oratoribus) 3.4: VOLKMER (1967), 10f. 64 Vgl. Tacitus, Das Gespräch über die Redner (Dialogus de oratoribus) 29.1: vgl. VOLKMER (1967), 54f. Wie Cicero zählt Tacitus hervorstechende Charakterfehler der Griechen auf (Belege bei KLEIN, Hellenen: RAC 14 [1988], 397), etwa Historien (Historiae) 3.47 – vgl. BORST (1959), 314f. – Bequemlichkeit (desidia), Zügellosigkeit (licentia). 65 Vgl. die Hinweise auf Belege bei KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 393. 397. 399. 404: Der Ausdruck Graeculi dürfte nicht auf hellenisierte römische Landsleute, die sich griechische Sprache, Bildung, Kultur, Verhaltensweisen angeeignet hatten, bezogen worden sein. 66 Vgl. GREEN, Alexander, 319: „(…) Rome had taken over the Greek xenophobic attitude to barbaroi, and was applying it, with gusto, to the Greeks themselves.“ Vgl. ebd., 318f.: Die Klage über die Degenerierung von Griechen zu Barbaren ndet sich z.B. bei Livius (38.17.11) – Griechen seien Syrer, Parther, Ägypter geworden – und spiegelt sich in den Ausdrücken mixoba,rbaroj (Xenophon, Hellenika 2.1.15) und mixe,llhn (Polybios, 1.67.7; Diodor, Bibliotheca historica 25.2.2); vgl. BREDOW, Mixhellenes, 472. Zum Barbarenbegriff der Römer vgl. SADDINGTON, Relations, 117 und 127f.: Barbarus war jemand, 59
54
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
– Stowasser übersetzt treffend mit „griecheln“67 – meist auf Römer: Diese Verben brachten Unbehagen zum Ausdruck, dass Landsleute Griechen bzw. Graeculi zugeschriebene negative Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen übernahmen: Wendet Titus Maccius Plautus (geb. ca. 250 v.Chr.)68, Bühnenautor der „goldenen Latinität“, sich gegen das pergraecari, meint er „üppigen, unrömischen Lebensstil“69. In der Mostellaria (Gespensterkomödie) hält ein Sklave dem anderen vor: „(…) demoralize that ne young son of master’s! Get fuddled day and night, live like Greeks (pergraecamini), buy girls and set ‘em free, feed parasites, go in for fancy catering!“70 – Anderen Klang hat graecari bei Horaz (63–8 v.Chr.)71: Er „mißbilligt im Gegensatz zu den einfachen Übungen der Römer, die auf den Krieg vorbereiten, die leichte griechische Gymnastik, (…) und verspottet diese Beschäftigung als graecari und nugari (…)“72. In der Satire über die Tugend, mit wenigem auszukommen, schreibt er: „Wenn du von der Hasenjagd oder vom Ritt auf einem störrischen Pferd müde bist oder – falls dir, der nur leichte griechische Gymnastik gewöhnt ist, die echtrömische Leibesübung zu anstrengend ist (si Romana fatigat militia adsuetum graecari) – das schnelle Ballspiel (…) oder das Diskuswerfen dich außer Atem bringt (…).“73
Zeugnisse für die Geringschätzung von Römern Griechen gegenüber finden sich natürlich auch bei griechischen Autoren, besonders bei Plutarch: Für ihn sind Marcus Porcius Cato (234–149 v.Chr.) und Marius (157–86 v.Chr.) Beispiele einer geradezu demonstrativen Reserviertheit gegenüber griechischer Bildung und Kultur. den man nicht verstand (Ovid, Tristia 5.10.37f.: „barbarus hic ego sum, qui non intellegor ulli, et rident stolidi verba Latina Getae“, zit.n. SADDINGTON, Relations, 117); die Römer differenzierten z.B. semibarbari (Sueton); barbari humaniores (Seneca); exterus, externus, gens, natio, peregrini. 67 Vgl. STOWASSER, Wörterbuch, 476: „Vornehmlich bezog sich diese Mißachtung der Griechen auf ihre Beschäftigung mit den musischen Künsten und ihre Vorliebe für den Ringkampf, (…) bisweilen auch auf Gelderwerb durch schmarotzerisches Kriechen.“ 68 Vgl. LEFÈVRE, Plautus: DNP 9 (2000), 1118–1123. 69 KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 390. 70 Plautus, Gespensterkomödie (Mostellaria) 1.20–23: NIXON III (1970), 292f.; vgl. HOFMANN (1979), 16f. und 111 A. 3: Plautus verwendet pergraecari häug, auch congraecari, ähnlich verächtlich wie Graeculus. „Die Ursache dafür liegt (…) in der politischen Schwäche Athens (…), in dem (…) ausgeprägten Individualismus des hellenistischen Griechenland, wie auch in der oft wenig geachteten Rolle griechischer Gelehrter (…). Tranio sagt in V. 36 selbst, was unter pergraecari zu verstehen ist: potare, amare, scorta (Prostituierte, MZ) ducere.“ 71 Vgl. KYTZLER, Horatius Flaccus: DNP 5 (1998), 720–727. 72 Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 395. 73 Horaz, Satiren 2.2.9–13: SCHÖNBERGER (1991), 96f. nugari ndet sich unter anderem in der Epistel an Augustus (2.1.93f.), SCHÖNBERGER (1991), 212f.: „Als Griechenland nach dem Ende der Perserkriege heiterem Spiele sich zugewandt hatte (positis nugari Graecia bellis coepit) und in seinem Glücke ausartete (…).“ Horaz klagt dann, dass ähnliche Verhältnisse in Rom Einzug gehalten hätten.
4.1 Altrömischer Kulturbereich
55
Catos Haltung griechischer Bildung und Kultur gegenüber ist bei genauerem Hinsehen so ambivalent wie die vieler Römer: „Hier der selbstbewusste Herr über die Graeculi, dort der lernende Adept griechischer Bildung, der letztlich beweisen will, dass die Römer auch auf genuin griechischen Gebieten mithalten können, ja die Besseren sind.“74 Zum einen kämpft Cato als Vertreter der altrömischen Partei für den mos maiorum und gegen eine kritiklose Aneignung griechischer Kultur, Sitte und Lebensart; er versucht, den Griechen Eigenes, Wertvolles entgegenzusetzen.75 So heißt es, Cato „(…) made mock of all Greek culture and training (pa/san ~Ellhnikh.n mou/san kai. paidei,an), out of patriotic zeal (…) And seeking to prejudice his son against Greek culture, he indulges in an utterance all too rash for his years, declaring (…) that Rome would lose her empire when she had become infected with Greek letters (gramma,twn ~Ellhnikw,n avnaplhsqe,ntej)“76.
Zum anderen erkennt Cato die geistige Überlegenheit gebildeter Griechen, eignet sich griechische Sprache und Literatur an, öffnet sich Einüssen griechischer Philosophie und konzipiert ein mit griechischen Elementen (gra,mmata und i`stori,ai) durchsetztes Erziehungsprogramm für seinen Sohn.77 Durch seine Beschäftigung mit Pythagoras und Platon sei Cato – so Plutarch – „more in love with simplicity and restraint (hvga,phse to. lito.n kai. th.n evgkra,teian)“78 gewesen. „Further than this, it is said, he did not learn Greek (paidei,aj ~Ellhnikh/j ovyimaqh.j) till late in life, and was quite well on in years when he took to reading Greek books (…). However, his writings are moderately embellished with Greek sentiments and stories (do,gmasin ~Ellhnikoi/j kai. i`stori,aij), and many literal translations from the Greek have found a place among his maxims and proverbs.“79
74
GEHRKE, Nobilität, 527. Vgl. KIERDORF, Porcius Cato: DNP 2 (1997), 1034; KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 390f. 76 Plutarch, Cato Maior 23.1–2: PERRIN II (1959), 370–373. Dieser Phobie des Cato der e`llhnikh, paidei,a gegenüber widerspricht Plutarch naturgemäß, vgl. Cato Maior 23.2–3: PERRIN II (1959), 372f.: „(…) while the city was at the zenith of its empire, she made every form of Greek learning and culture her own (~Ellhnika. maqh,mata kai. paidei,an a[pasan).“ 77 Vgl. GEHRKE, Nobilität, 528f.: Gerade die disciplina, eine der wesentlichen Eigenschaften der Römer, betrachtet Cato in seinem Geschichtswerk „Origines“ als ein griechisches Erbe! 78 Plutarch, Cato Maior 2.4: PERRIN II (1954), 308f. 79 Plutarch, Cato Maior 2.5f.: PERRIN II (1954), 308f. Vgl. GEHRKE, Nobilität, 528: Dass die Aufgeschlossenheit für griechische Literatur und Rhetorik „(…) erst in hohem Alter in ein echtes Studium mündete, geht womöglich auf eine sehr wirksame Selbstdarstellung zurück, wird aber durch Catos eigene literarisch-rhetorischen Aktivitäten nicht gerade bestätigt (…).“ 75
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
56
Noch eindeutiger als bei Cato fällt beim siebenfachen Konsul Marius die Abneigung gegen Griechisches aus; er rühmt sich seiner Unkenntnis in den Graecae litterae:80 „Moreover we are told that he never studied Greek literature, and never used the Greek language (mh,te gra,mmata maqei/n ~Ellhnika. mh,te glw,tth| ~Ellhni,di crh/sqai) for any matter of real importance, thinking it ridiculous to study a literature the teachers of which were the subjects of another people.“81 Diese Ablehnung griechischer Bildung und Kultur (griechischer Musen und Chariten82 – ~Ellhnikai/j Mou,saij kai. Ca,risin) hätten Marius herrschsüchtig, habgierig und grausam gemacht.83
4.1.3 Zusammenfassung Der Blick in die Geschichte der Hellenisierung im altrömisch-italischen Bereich hat viele Beispiele von erstaunlicher Griechenfreundlichkeit, von hohem Interesse an griechischer Sprache, Kultur und Bildung vor Augen geführt. Obwohl griechischer Einfluss sich auch bei den Römern zunächst in der Verbreitung der griechischen Sprache bemerkbar machte, fehlt ein dem griechischen ~Ellhnisth,j vergleichbarer lateinischer Ausdruck, der prägnant Nichtgriechen bzw. Römer gekennzeichnet hätte, die Griechisch als ihre zweite (Umgangs-)Sprache übernahmen. Graeculi bezieht sich – beispielsweise bei Cicero und Juvenal – polemisch auf zeitgenössische Griechen und auf hellenisierte Orientalen, die damit als unzuverlässig, träge und als Schmeichler abqualifiziert werden; dieser pejorative Ausdruck ist also nicht dem griechischen ~Ellhnisth,j vergleichbar, hebt nicht auf die sprachlich-kulturelle Hellenisierung von Nichtgriechen, insbesondere von Römern ab; ebenso entsprechen graecari und pergraecari nicht dem griechischen e`llhni,zein. Vielmehr zeigt sich in den Ausdrücken Graeculi, graecari und pergraecari die ambivalente Haltung der Römer gegenüber den Griechen: Einerseits verdankten sie den Griechen einen Gutteil ihrer Bildung und Kultur, andererseits zeigten sie aber auch immer wieder Verachtung und Misstrauen gegenüber den Griechen und ihren (vermeintlichen) negativen Eigenschaften. Dabei ist bedeutsam, dass die „römische Perspektive“ in Bezug auf Griechen (und Hellenisierte) anders war als die Sichtweise anderer Völker: Blickten die Römer auf Griechen (und Hellenisierte), blickten sie auf Ebenbürtige, ab dem 2. Jh. v.Chr. sogar auf poli-
80
Vgl. ELVERS, Marius: DNP 7 (1999), 902ff.; KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 392. Plutarch, Marius 2.1f.: PERRIN IX (1959), 466f. 82 Vgl. SCHACHTER, Charites: DNP 2 (1997), 1102f.: Ca,ritej sind Göttinnen, die Schönheit, Heiterkeit und Überuss verkörpern. 83 Vgl. Plutarch, Marius 2.4: vgl. PERRIN IX (1959), 466f. Hier macht sich der ethische Griechenbegriff Plutarchs bemerkbar (vgl. oben). 81
4.2 Seleukidisches Syrien
57
tisch Beherrschte; im Gegensatz zu den Römern kannten die Völker des östlichen Mittelmeerraumes Griechen (und Hellenisierte) eher als die herrschende Schicht. – Aus dieser „römischen Perspektive“ erklärt sich wohl auch die pejorative Verwendung der Ausdrücke Graeculi, graecari und pergraecari; vielleicht auch, dass man das Kulturphänomen griechischsprachiger Römer, das ja durchaus weit verbreitet war, nicht auf einen Begriff brachte, und schon gar nicht auf einen Begriff, der mit dem Wortfeld um „Graecus“ in Verbindung stand.
4.2 Griechischsprachige Nichtgriechen im seleukidischen Syrien 4.2.1 Die Seleukiden: Politik der Städtegründungen als „Hellenisierung“? Syrien gehörte 321 bis 64 v.Chr. großteils zum Seleukidenreich, das als Vielvölkerstaat keine Einheit, sondern ein Konglomerat verschiedener Länder und Kulturen ohne geographischen Mittelpunkt war.84 Wollten die Seleukiden ihre Herrschaft behaupten, mussten sie die Vielfalt der Kulturen respektieren und auf eine durchgreifende Zentralisierung verzichten.85 Deshalb betrieben sie auch – vielleicht mit Ausnahme von Seleukos I. Nikator (312–281 v.Chr.) oder Antiochos IV. Epiphanes (175–164 v.Chr.)86 – keine bewusste Hellenisierungs- oder Makedonisierungspolitik87: „Einheimische wurden hellenisiert, und griechische und makedonische Siedler wurden orientalisiert. Das war unvermeidlich. Aber die Seleukiden erkannten niemals die Bedeutung dieses Prozesses, sie versuchten nie, ihn zu beschleunigen oder ihn aufzuhalten. Sie träumten niemals von einem griechisch-makedonischen Nationalstaat als Ergebnis der Kolonisierung ihres orientalischen Reiches.“88 Wenn sich trotz dieser Voraussetzungen im Seleukidenreich „ein gewisses einheitliches hellenistisches Kulturgepräge“89 entwickeln konnte, war dafür die Gründung von Griechen- und Makedonenstädten entscheidend. 84 Vgl. BENGTSON, Eingeborenenbevölkerung, 138: Das Seleukidenreich war „(…) ein übernationaler Völkerstaat, der, ähnlich wie Österreich-Ungarn, allein durch das Herrscherhaus und durch das Heer zusammengehalten wurde.“ Vgl. DROYSEN, Hellenismus III, 42f. 85 Vgl. GEHRKE, Hellenismus, 63. 86 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 607. 611. 622f. 87 Vgl. KÖSTER, Einführung, 41; TARN/GRIFFITH, Kultur, 188. 88 ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 393f. 89 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 605 (Hv MZ).
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
58
Diese Kolonisation bzw. Urbanisierung („Verstadtung“) des Landes90 kam im nördlichen Syrien als dem Kernland des Reiches zur vollen Entfaltung;91 und dementsprechend tiefgreifend hellenisiert war dieses Gebiet: „(…) Already in the fourth century B.C. the peoples there had begun to become familiar with Hellenism and to adapt themselves to it.“92 Darüber hinaus gab es auch in anderen Regionen des Seleukidenreiches griechische und makedonische Siedlungen – Stadtstaaten (po,leij),93 ländliche Gemeinwesen (katoiki,ai, sunoiki,smoi), Ansiedlungen von Militärangehörigen auf Landlosen (klh/roi)94 – als Kristallisationspunkte griechischer Sprache und Kultur.95 Die Römerzeit ab 64 v.Chr. brachte keine nennenswerten Veränderungen: Pompeius war nicht nur an der Erhaltung des status quo interessiert;96 er betrachtete sich auch als „missionary of Greek civilization (…) a second Alexander, a founder of cities and a promotor of Hellenism“97. 4.2.2 Unterschiedliche Ausprägungen der Hellenisierung autochthoner Syrer Die Hellenisierung autochthoner Syrer aufgrund griechisch-makedonischer Kolonisation und Urbanisierung war freilich unterschiedlich ausgeprägt. Aufgrund einer teils indifferenten, teils ablehnenden Haltung Einheimischer der herrschenden Minderheit98 griechisch-makedonischer Einwanderer gegenüber stießen griechische Sprache und Kultur oft auf wenig Resonanz; für viele Einheimische, besonders in ländlichen Gebieten, gab es
90
Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 368. 391ff. Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 372; BELOCH, Bevölkerung, 244. Vgl. MILLAR, Syria, 113. 116: Nur in Nordsyrien veränderte die organisierte griechisch-makedonische Siedlungstätigkeit nachhaltig die Landkarte. Vgl. MILLAR, Empire, 162: Nordsyrien war „the area of the most systematic Greek colonisation“. 92 EDDY, King, 131. 93 Vgl. zu den Städten GEHRKE, Hellenismus, 62f.; GREEN, Alexander, 164. 196ff.; JONES, Cities, 248. Vgl. zu den Siedlungen KÖSTER, Einführung, 70f. 94 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 371. 383–390. 406f.; II, 836f. 877. 95 Vgl. DROYSEN, Hellenismus III, 45; SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 630. 96 Vgl. GREEN, Alexander, 659ff. 97 JONES, Cities, 258. 98 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 391: Nach modernen Schätzungen hatte das Seleukidenreich 25–30 Millionen Einwohner; vgl. BELOCH, Bevölkerung, 248–254. Vgl. EDDY, King, 118: „(…) the inux of Greeks into the East created a group privileged above the natives. These persons had the control of government in their hands, and were also able to enter and dominate the economic life of the region.“ 91
4.2 Seleukidisches Syrien
59
so gut wie keine sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Veränderungen im Vergleich zur vorseleukidischen Zeit.99 Die ablehnende Haltung Autochthoner den Einwanderern gegenüber, ja den daraus resultierenden Antagonismus zwischen Su,roi einerseits, {Ellhnej und Makedo,noi andererseits100 illustriert der Bericht des Josephus Flavius über die Verhältnisse in Seleukia am Tigris101 um die Mitte des 1. Jh. n.Chr.: „At Seleucia life is marked by general strife and discord between the Greeks and the Syrians (toi/j {Ellhsi pro.j tou.j Su,rouj w`j evpi. polu. evn sta,sei kai. diconoi,a| evsti.n o` bi,oj), in which the Greeks have the upper hand (kai. kratou/sin oi` {Ellhnej).“102
Nun war Seleukia am Tigris gewiss kein Einzelfall – was Josephus von dieser Stadt berichtet, galt wahrscheinlich auch für die meisten Städte im seleukidischen Syrien: Vielen Einheimischen lag an einer bewussten Selbstdefinition als Nichtgriechen, als Syrer (Su,roi).103 Diese Selbstdefinition erfolgte zu einem guten Teil über die Sprache: Autochthone gebrauchten
99
Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 399; II, 877; EDDY, King, 119; JONES, Cities, 295. Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 879. 888–892; GREEN, Alexander, 188f. 382ff. Wahrscheinlich fand dieser Antagonismus in Syrien ähnlich wie in Ägypten (vgl. unten) darin seinen Ausdruck, dass griechisch-makedonische Aristokraten, Beamte, Militärs, Stadtbürger und Kolonisten (vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 370) {Ellhnej, die beherrschten Einheimischen laoi, genannt wurden; doch lässt sich dafür kein literarischer oder epigraphischer Nachweis erbringen. 101 Vgl. NISSEN, Seleukeia am Tigris: DNP 11 (2001), 355f.: Die Stadt wurde 300 v.Chr. gegründet, war bis 293 v.Chr. Hauptstadt des Seleukidenreichs; ab 141 v.Chr. parthisch. Obwohl Seleukia zur Zeit des Josephus zum Partherreich gehörte, lassen sich hinsichtlich der Bevölkerungsstruktur sicherlich Rückschlüsse auf die Städte des seleukidischen Syrien ziehen. 102 Josephus, Ant 18.374 (18.9.9): FELDMAN IX (1981), 208f. Vgl. MILLAR, Empire, 144. Zu den Su,roi bei Josephus (TLG-Recherche): Josephus stellt die Su,roi – griechischer Name der Aramäer, Ant 1.144 (1.6.4) – nur in der zitierten Stelle den {Ellhnej gegenüber, sonst den Israeliten biblischer Zeit oder den zeitgenössischen Juden, vor allem in Caesarea, vgl. Ant 20.173 (20.8.7); 20.184 (20.8.9); Bell 2.458 (2.18.1); 2.461 (2.18.2); Vita 52f.; 59. Während sich also – Josephus zufolge – die Syrer Seleukias in Abgrenzung gegenüber den Griechen als Su,roi bezeichneten, konnten sich die hellenisierten Syrer Caesareas in Abgrenzung gegenüber den Juden ihrer Stadt durchaus {Ellhnej nennen, vgl. Bell 2.266 (2.13.7). Schließlich war nach Interpretation des Josephus aus Sicht der Griechen eine Gleichsetzung der Juden mit den Syrern möglich; dementsprechend bezieht Josephus das in Herodots Historien (2.104) über die Syrer Palästinas Gesagte auf die Juden, vgl. Ap 1.171 (1.22). 103 MILLAR, Empire, 150 nennt den Philosophen Iamblichos als späteres Beispiel dafür, dass sich jemand bewusst als Syrer bezeichnete, Syrisch sprach und nach einheimischen Gebräuchen lebte. Vgl. BRISSON, Iamblichos: DNP 5 (1998), 848: Iamblichos (ca. 240–325 n.Chr.) war aus Chalkis in der Provinz Syria Coele gebürtig; sein Name ist eine Transkription von syrisch bzw. aramäisch ya-mliku „er ist König“. 100
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
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oft sogar in formal griechischen po,leij104 ihre einheimischen Sprachen, vor allem das Aramäische (suristi,).105 Gerade der Fortbestand des Aramäischen ist ein deutliches Zeichen dafür, dass griechische Sprache und Kultur in weiten Teilen Syriens nur geringen Einfluss auf die indigene Bevölkerung ausübten. Aramäisch konkurrierte als internationale Verwaltungssprache, als lingua franca des Nahen Ostens mit dem Griechischen106 – das zeigt wieder eine Notiz des Josephus Flavius, aus der hervorgeht, dass er die „Geschichte des Jüdischen Kriegs“ zuerst aramäisch verfasste:107 „(…) (ich habe) mir vorgenommen, denen, die unter römischer Herrschaft leben, in griechischer Übersetzung (~Ella,di glw,ssh|) das darzulegen, was ich schon früher für die innerasiatischen Nichtgriechen in der Muttersprache zusammengestellt und übersandt habe (toi/j barba,roij th/| patri,w| sunta,xaj).“108 Im weiteren Vorwort wird klar, wen Josephus mit ba,rbaroi meint: Parther, Babylonier, Araber, Adiabener und die Angehörigen der jüdischen Diaspora Babyloniens, „unsere Stammesgenossen jenseits des Euphrat (to. u`pe.r Euvfra,thn o`mo,fulon h`mi/n)“109.
Dass Aramäisch und andere semitische Sprachen weiterhin gesprochen und verstanden wurden, selbst in weitgehend hellenisierten Gebieten wie Nordsyrien,110 darauf deuten – meist epigraphisch bezeugte – Eigennamen: Zunächst sind aramäische bzw. semitische Städtenamen zu nennen, die sich neben den griechischen behaupten konnten, beispielsweise Baalbek-Heliopolis oder Amman-Philadelphia;111 sodann Ortsnamen, die nur geringfügig gräzisiert wurden, etwa Kaprozabadai,wn 104
Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 409. suristi, (Aramäisch) wird selten erwähnt (TLG-Recherche): In der Profangräzität (8. Jh. v.Chr. bis 1. Jh. n.Chr.) nur bei Xenophon (Cyropaedia 7.5.31) und Plutarch (Antonius 46.5.1); in LXX Esra 4,7; Dan 2,4 und 2 Kön 18,26; Jes 36,11. Josephus erzählt 2 Kön 18,26ff.; Jes 36,11ff. nach, vgl. Ant 10.8 (10.1.2): Die Gesandtschaft des Hiskija bat den Rabschake, statt hebräisch (e`brai?sti.) aramäisch (suristi,) zu sprechen. 106 Vgl. SCHMITT, Sprachverhältnisse, 572f. 576f.: Noch um 400 n.Chr. wurde Aramäisch – wie das Itinerarium Egeriae bezeugt – gesprochen, in Edessa entwickelte es sich zum Syrischen. Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 126; DRIJVERS, Christianity, 125f.; ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 403. 107 Vgl. MILLAR, Empire, 151. 108 Josephus, Bell 1.3 (Vorwort): MICHEL/BAUERNFEIND I (1962), 2f. 109 Josephus, Bell 1.6 (Vorwort): MICHEL/BAUERNFEIND I (1962), 2f. 110 Vgl. MILLAR, Empire, 162: Da Nordsyrien tiefgreifend hellenisiert war, fand man dort bisher keine semitischsprachigen Dokumente aus hellenistisch-römischer Zeit. 111 Vgl. JONES, Cities, 229. 246. 295: Aramäische bzw. semitische Städtenamen behaupteten sich neben den griechischen, ja setzten sich oft nach hellenistisch-römischer Zeit wieder durch, wo bestehende Städte nur durch Gräzisierung ihres Namens als hellenistische Neugründungen ausgegeben wurden. Hingegen behielten echte hellenistische Städtegründungen ihren Namen auch nach der hellenistisch-römischen Epoche, z. B. Antiochia-Antakya. Vgl. die detaillierte Dokumentation von Städte- und Ortsnamen in den Anmerkungen bei JONES, Cities, 445ff. 105
4.2 Seleukidisches Syrien
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bei Apameia – Kapro dürfte aramäisch rpk (Dorf) wiedergeben;112 schließlich gräzisierte aramäische Gottesnamen auf Weiheinschriften von Höhenheiligtümern des 2. Jh. n.Chr., wenige Kilometer östlich von Antiochia (am Gebel Sheikh Barakat und Gebel Srir) – Zeu,j Madbaco,j dürfte auf das aramäische $bd (Altar), Di,i tourbaracw auf rwc (Fels) und $rb (segnen, preisen) hinweisen.113
Neben Zeugnissen für das überregionale Aramäisch ließe sich auf zahlreiche Belege für eine im Wesentlichen ungebrochene Kontinuität vieler regionaler bzw. lokaler Sprachen und Kulturen114 – beispielsweise der Nabatäer oder der Einwohner von Palmyra, Emesa, Edessa und Uruk115 – verweisen. All das sind Indizien für den geringen Einfluss griechischer Sprache und Kultur auf weite Teile der indigenen Bevölkerung Syriens; mit Millar wird man zum Schluss kommen, „(…) that the positive impact of hellenistic rule was relatively slight“116. 4.2.3 Weitergehende „Hellenisierung“ autochthoner Syrer Mag vielen Einheimischen auch an der Selbstdefinition als Nichtgriechen und der Pflege ihrer Sprachen und Kulturen gelegen haben, war ihr Verhältnis zu den Griechen dennoch nicht nur von Spannungen oder Ablehnung gekennzeichnet, eher wird man es sich vielfach als friedliche Koexistenz vorzustellen haben: „Die Indigenen führten ihr Eigenleben in den neuen Städten weiter, verehrten ihre angestammten Götter, gebrauchten unter sich ihre Muttersprache, in allen öffentlichen Angelegenheiten aber das Griechische. Besonders bei den Semiten dieser Städte wurde es üblich, zwei Namen, einen semitischen und einen griechischen, zu führen. (…) Aramäisch sprechende Syrer gliederten sich in besonderen Vierteln an griechische Städte an oder bildeten eigene Ortschaften.“117 Aufgrund dieser Koexistenz wurden im Lauf der Jahrhunderte ungezählte Einheimische in den po,leij Syriens allmählich hellenisiert, „zu Griechen gemacht“118, zu „Kulturgriechen“119: „Die ‚Hellenen‘ Syriens umfassten jetzt auch viele Einheimische, vor allem Einwohner der Städte, (…) die griechisch sprachen, eine griechische Lebensweise angenommen 112
Vgl. MILLAR, Syria, 114. Vgl. MILLAR, Empire, 162f. 114 Vgl. MILLAR, Empire, 122–128. 115 Vgl. MILLAR, Empire, 152–161. Zu den Nabatäern und zum Nabatäischen vgl. SCHMITT, Sprachverhältnisse, 576f.; JONES, Cities, 291–295. Zum Palmyrenischen vgl. SCHMITT, Sprachverhältnisse, 574; DRIJVERS, Christianity, 125. Zu Uruk vgl. GEHRKE, Hellenismus, 67. 116 MILLAR, Syria, 129. Das ist der Tenor MILLARS, vgl. ebd., 123. 132 u.ö. 117 SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 606. 118 KÖSTER, Einführung, 54. Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 844f. 119 Vgl. TARN/GRIFFITH, Kultur, 190 (Hv MZ). 113
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4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
hatten und ihren Kindern eine griechische Erziehung gaben. (…) Griechische Kultur und griechische Lebensweise galten bei dieser Klasse der Einheimischen als die bedeutendste Kultur (…).“120 Besonders die zur hellenistischen Zeit gegründeten griechisch-makedonischen Städte machten viele Einheimische zu {Ellhnej. Ähnlich wie es Josephus für Caesarea121 andeutet, mag auch in vielen „Griechenstädten“ des seleukidischen Syrien die Selbstbezeichnung hellenisierter Einheimischer {Ellhnej gewesen sein: Josephus berichtet, dass sich in Caesarea „(…) die dort ansässigen Juden gegen die syrische Einwohnerschaft erhoben (tw/n avnamemigme,nwn VIoudai,wn pro.j tou.j evn au,th/| Su,rouj stasiasa,ntwn) (…)“, denn die Syrer behaupteten, „(…) die Stadt gehöre den Hellenen (auvth.n me,ntoi ge th.n po,lin ~Ellh,nwn e;fasan) (…)“122. – Josephus zufolge zählten sich also die Syrer Caesareas im Gegensatz zu den Juden zu den {Ellhnej der Stadt.
Doch auch einheimisch-syrische Städte, in denen die griechische Lebensart zur Gewohnheit geworden war, konnten ihre Einwohner zu {Ellhnej machen. Eines der besten Beispiele dafür ist Gadara123: Dieser, in der Dekapolis östlich des Jordan gelegenen Stadt entstammten einige hellenisierte Syrer, die Strabon in seiner Aufzählung anscheinend als in der hellenistisch-römischen oivkoume,nh berühmt voraussetzt: „Philodemus, the Epicurean, and Meleager and Menippus, the satirist (spoudoge,loioj), and Theodorus, the rhetorician (r`h,twr) of my own time, were natives of Gadaris.“124
Von diesen vier berühmten Gadarenern125 kann uns vor allem Meleagros von Gadara (ca. 130–70 v.Chr.), der „griechische Ovid“, mit autobiogra-
120 ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 670; vgl. ebenso HADAS, Kultur, 51: „Selbst im Osten konnten hellenisierte Einheimische Griechen heißen.“ 121 Vgl. LEISTEN, Caesarea Maritima: DNP 2 (1997), 924: Die von Herodes d.Gr. 22–10 v.Chr. zu Ehren des Augustus neu gegründete Stadt war zur Zeit des Josephus – und zwar schon seit 6 n.Chr. – Sitz der römischen Prokuratoren der Provinz Iudaea. 122 Josephus, Bell 2.266 (2.13.7): MICHEL/BAUERNFEIND I (1962), 234f. 123 Vgl. HADAS, Kultur, 130–135; vgl. LEISTEN, Gadara: DNP 4 (1998), 729f.: Gadara gehörte 198–63 v.Chr. zum Seleukidenreich, dann war es römisch, gehörte zur „Dekapolis“. 124 Strabon 16.2.29: JONES VII (1954), 276f.; vgl. FORBIGER (2005), 1066. Zu spoudoge,loioj als Epitheton vgl. HADAS, Kultur, 130: „der ernste Witzbold“. Vgl. HENGEL, Judentum, 153–157. 125 Vgl. DORANDI, Philodemos: DNP 9 (2000), 822f.: Der Philosoph (110–40 v.Chr.) studierte in Athen und lebte ab ca. 75 v.Chr. in Rom bzw. Herculaneum. Laut TLG-Recherche ndet sich in seinen Epigrammen (in der Anthologia Graeca) keine Selbstbezeichnung als Su,roj oder {Ellhn. Vgl. zu Meleagros die folgenden Anmerkungen. Vgl. BAUMBACH, Menippos: DNP 7 (1999), 1243f.; HADAS, Kultur, 130ff.: Der kynische Philosoph und Satiriker lebte in der 1. H. 3. Jh. v.Chr. Vgl. WEISSENBERGER, Theodoros (16): DNP 12/1 (2002), 327f.: Rhetor aus Gadara, dessen Hauptschaffenszeit ins Jahr 33/2 v.Chr. el, lehrte in
4.2 Seleukidisches Syrien
63
phischen Epigrammen Aufschluss über das Selbstverständnis hellenisierter Syrer geben:126 In einer selbstverfassten Grabinschrift macht Meleagros folgende Mitteilung: „Tyros hat mich erzogen, doch Gadara war meine Heimat, jenes neue Athen in der Assyrier Land (VAtqi.j evn VAssuri,oij naiome,na Gada,roij). (…) War ich ein Syrer, was tut’s? Die Welt ist der Sterblichen Heimat (…).“127
Aus dem Epigramm wird deutlich, dass Meleagros mit der Selbstbezeichnung Su,roj kein nationales Selbstbewusstsein den {Ellhnej gegenüber verbindet; vielmehr verweist er auf seine attische (VAtqi.j), also von griechischer Kultur geprägte Heimatstadt und seinen kosmopolitischen Standpunkt. Auf sein Weltbürgertum in philosophischer wie sprachlicher Hinsicht verweist Meleagros noch in einem weiteren fiktiven Epitaph: „‚Audonis‘ grüß ich Phoiniker; doch bist du ein Grieche ({Ellhn), dann ‚Chaire‘; wenn du ein Syrer (Su,roj), ‚Salam‘. Sag dann das gleiche auch mir.“128
Wie in Gadara dürfte auch in Damaskos129 die griechische Lebensart für nicht wenige Syrer selbstverständlich geworden sein, wie das Zeugnis des Nikolaos von Damaskos (geboren ca. 64 v.Chr.; Todesjahr unbekannt) in seiner autobiographischen Schrift peri. tou/ ivdi,ou bi,ou kai. th/j e`autou/ avgwgh/j nahe legt.130 Er bezeichnet sich zwar nicht ausdrücklich als {Ellhn, stellt sich aber als Musterbeispiel eines hellenistisch Gebildeten aus der geistig führenden Schicht der Aramäer dar:131
Rom und Rhodos. – Von Menippos und Theodoros sind keine Werke und damit auch keine Selbstzeugnisse erhalten. 126 Vgl. ALBIANI, Meleagros von Gadara: DNP 7 (1999), 1180f.; vgl. zu Meleagros weiters: HADAS, Kultur, 132ff.; JÜTHNER, Hellenen, 47f.; HADDAD, Aspects, 90; MILLAR, Syria, 130. 127 Meleagros, Anthologia Graeca 7.417.1f.5: BECKBY II (1957), 246f.; über Gadara, Tyros, Kos als Stationen seines Lebens berichtet Meleagros auch in den nachfolgenden Epigrammen 7.418; 7.419: vgl. BECKBY II (1957), 246–249. Vgl. CLACK, Meleager, 56f. 128 Meleagros, Anthologia Graeca 7.419.7f.: BECKBY II (1957), 248f.; vgl. dazu BECKBY II (1957), 588, A. zu 7.419; CLACK, Meleager, 57. 129 Vgl. KLENGEL/LEISTEN, Damaskos: DNP 3 (1997), 293–297. Die Stadt wurde 333 v.Chr. makedonische Kolonie, im Norden und Osten der aramäischen Stadt war eine griechische Siedlung. 130 Vgl. MEISTER, Nikolaos von Damaskos: DNP 8 (2000), 920ff. Vgl. JACOBY, Fragmente griechischer Historiker II C (1925), 229 und 290 (Kommentar, Literatur-, Quellenverweise). 131 Vgl. HAIDER, Syrien, 191: Das Beispiel des Nikolaos zeigt, „welch hohes Ausmaß die hellenistische Bildung, Weltanschauung und Lebensweise auch hier (in Damaskos, MZ) (...) erreicht hatte (...)“. Vgl. MILLAR, Syria, 125: „The education and culture to which
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Die Eltern des Nikolaos, Antipatros und Stratonike, waren in Damaskos für ihre Klugheit berühmt und angesehen (diafanei/j … kata, te swfrosu,nhn kai. a;llhn lampro,thta), Antipatros zeichnete sich durch Wortgewandtheit aus (lo,gou deino,thti prou;cwn) – deutlicher Hinweis auf griechische Rhetorik – und ihm wurden alle Ämter der Stadt übertragen (evpisteu,qh … avrcaj te pa,saj).132 Nikolaos genoss durch den Vater griechische Erziehung und bemühte sich selbst um griechische Bildung (evn th/| a;llh| paidei,a| teqramme,noj dia. to. kai. to.n pate,ra auvtou/ peri. tau/ta ma,lista spouda,sai); nicht ohne Stolz weist er auf die bunte Vielfalt seiner Kenntnisse (to. poiki,lon e;cei ta. paideu,mata) und einen Kanon typisch griechischer Bildungsinhalte hin (Grammatik, Poetik, Rhetorik, Musik, Mathematik, Philosophie usw.).133
Auch aus weiter östlich gelegenen Städten des Seleukidenreiches gibt es Zeugnisse von hellenisierten Einheimischen aus unterschiedlichen Jahrhunderten: So bezeugen Ziegelinschriften der Tempel schon für das frühhellenistische Uruk um 243 und 201 v.Chr. hellenisierte einheimische Stadtgouverneure: Beiden wurde zusätzlich zu ihrem einheimischen Namen Anu-uballit von den Seleukiden ein griechischer Name – Ni,karcoj bzw. Kh,fallon – wie ein Privileg verliehen; damit dürfte ein gesellschaftlich-politischer Aufstieg zu den {Ellhnej verbunden gewesen sein.134
Rund vier Jahrhunderte später entstand das Selbstzeugnis eines hellenisierten Orientalen aus Samosata am Euphrat, am östlichen Rand des römischen Syrien: Der Wanderredner Lukianos (ca. 115/125–190 n.Chr.) gibt in einigen seiner Werke Aufschluss über sein Selbstverständnis als autochthoner Syrer. Ähnlich wie Meleagros bezeichnet sich Lukianos als Syrer, weiß diese Selbstbezeichnung aber durch den Hinweis auf griechische paidei,a und kosmopolitische Haltung zu relativieren:135 In „Der doppelt Angeklagte“ beschreibt Lukianos, wie die Rhetorik ihn gefunden habe, „(…) still speaking with a foreign accent and I might almost say wearing a caftan in the
Nicolaus laid claim (...) was wholly Greek, and nothing in the extensive fragments of his works suggests any inuence from a different historical or cultural tradition.“ 132 Vgl. Fragmente griechischer Historiker 90 F 131: JACOBY II A (1925), 420f. (griechisch; vgl. im TLG: Suda, Lexikon alpha.2705; eigene Übersetzung). Dieses und das folgende Fragment aus der Autobiographie des Nikolaos stammen aus der Suda, einer griechisch-byzantinischen historischen Enzyklopädie des 10. Jh., vgl. TOSI, Suda: DNP 11 (2001), 1075f. 133 Vgl. Fragmente griechischer Historiker 90 F 132: JACOBY II A (1925), 421 (griechisch; vgl. im TLG: Suda, Lexikon nu.393; eigene Übersetzung). 134 Vgl. die Hinweise und Literatur bei ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 404. Vgl. EDDY, King, 119: Reiche Orientalen waren oft „at least partially Hellenized citizens of the new poleis“. 135 Vgl. NESSELRATH, Lukianos von Samosata: DNP 7 (1999), 493–501, bes. 500: „Griechische paideia war für ihn condicio sine qua non, um zur kultivierten Welt zu gehören.“ Weitere wertvolle Hinweise zu Lukianos: HADDAD, Aspects, 91f.; SCHMITT, Sprachverhältnisse, 560.
4.2 Seleukidisches Syrien
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Syrian style (ba,rbaron e;ti th.n fwnh.n kai. monouci. ka,ndun evndeduko,ta eivj to.n VAssu,rion tro,pon) (…)“136; die Bildung, die sie ihm beibrachte (evpai,deusa),137 habe ihn, obschon er ein Su,roj sei,138 unter die Hellenen eingebürgert (eivj tou.j {Ellhnaj evne,grayen).139 In „Der Fischer“ verweist Lukianos darauf, dass nicht seine Herkunft aus Syrien am Euphrat und sein fremdartiger Akzent (th.n fwnh.n ba,rbaroj), sondern seine Manier und Bildung (o` tro,poj de. kai. h` paidei,a) und seine richtige und gerechte Denkart (h` gnw,mh ovrqh. kai. dikai,a) entscheidend seien.140 Eine beiläuge Notiz in der Schrift „Von der Syrischen Göttin“ verrät schließlich, dass die Bezeichnung der Syrer als Hellenen aufgrund griechischer Sprache, Kultur und Bildung spätestens im 2. Jh. n.Chr. durchaus geläug war: Lukianos stellt fest, dass die Syrer im Brauch eines Haaropfers unter den Hellenen nur mit den Trözeniern übereinstimmten (mou,noisi ~Ellh,nwn Troizhni,oisi o`mologe,ontej).141
Nach den Beispielen für Städte, aus denen viele hellenisierte Einheimische hervorgingen – seien es in hellenistischer Zeit gegründete griechischmakedonische oder alte einheimisch-syrische Städte – lenken wir unseren Blick nun auf Antiochia, jene Stadt Syriens, die wie keine andere zahllose autochthone Orientalen, wohl vor allem Syrer, zu Griechen gemacht hat. 4.2.4 Antiochia als „melting pot“ In Antiochia – hellenistische Neugründung wie die übrigen Städte der nordsyrischen Tetrapolis (Seleukia in Pieria, Laodikea, Apameia)142 – lebte das Erbe der seleukidischen Städtegründungen am kräftigsten fort. Die Stadt war spätestens 240 v.Chr. zur Hauptstadt des Seleukidenreiches avanciert und blieb auch unter den Römern Hauptstadt der Syria.143 Nach Strabon war Antiochia drittgrößte Stadt des Orients nach Seleukia am Tigris und Alexandria; nach Josephus rangierte es im Römischen Reich ebenfalls an
136
Lukianos, Der doppelt Angeklagte 27.1–6: HARMON III (1947), 136f. Vgl. ebd. 138 Vgl. die ausdrückliche Selbstbezeichnung des Lukianos: Der doppelt Angeklagte 30.1; 34.1: vgl. HARMON III (1947), 140f. 146f. 139 Vgl. Lukianos, Der doppelt Angeklagte 30.8–9: vgl. HARMON III (1947), 142f.; gegen Ende der Schrift räumt Lukian freilich ein, dass er vielen Griechen als Ausländer bzw. Barbar galt: vgl. Der doppelt Angeklagte 34.36: vgl. HARMON III (1947), 150f. 140 Vgl. Lukianos, Der Fischer 19.6–13: vgl. HARMON III (1947), 30f. 141 Vgl. Lukianos, Von der Syrischen Göttin 60.1–2: vgl. HARMON IV (1953), 410f. 142 Vgl. JONES, Cities, 244 und 450 A. 23: Dass all diese Städte hellenistische Neugründungen sind, zeigt sich darin, dass sie bei arabischen Geographen ihre griechischen Namen behalten haben. Die Tetrapolis erwähnt Strabon 16.2.4: vgl. JONES VII (1954), 240–243; FORBIGER (2005), 1054. 143 Vgl. HADDAD, Aspects, 2f.10f.; HADDAD., Population, 20. In der Studie Aspects of Social Life in Antioch in the Hellenistic-Roman Period (1949) geht Haddad der Eigenart der Metropole am Orontes auf den Grund (1–121; Zusammenfassung im Artikel The Population of Antioch in the Hellenistic-Roman Period); das letzte Drittel der Studie (122–186) beschäftigt sich mit Vorurteilen antiker Autoren den Antiochenern gegenüber. 137
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dritter Stelle nach Rom und Alexandria.144 Antiochia war – mehr als andere orientalische Städte – „melting pot of eastern and western cultures“145, Treffpunkt griechischer und orientalischer Zivilisation, denn hier lebten orientalische Griechen und hellenisierte Orientalen aller Schichten.146 4.2.4.1 Zusammensetzung der Bevölkerung Antiochias Von den beiden Hauptgruppen der Bevölkerung – Griechen und Makedonen einerseits, einheimische Syrer andererseits – sprechen Antiochias Gründungslegenden,147 die Libanios (314–393 n.Chr.)148 und Johannes Mala’las (490–580 n.Chr.)149 überliefern: Libanios zufolge kamen Argiver (VArgei/oi) – Triptolemos und Gefährten – auf der Suche nach Io, Tochter des Königs Inachos, ins Gebiet von Antiochia: „(…) da stiegen sie hinauf ins Gebirge zu den Bewohnern, deren Anzahl gering war (para. tou.j evnoikou/ntaj ovli,gouj), suchten die Häuser auf, klopften an die Türen und fragten nach Io. Gastlich wurden sie aufgenommen, Liebe zu diesem Land ergriff sie, (…) und die eifrige Suche wandelte sich in beharrliches Bleiben. (…) Triptolemos also gab (…) der von ihm geführten Mannschaft Wohnsitze, indem er am Fuß des Berges eine Stadt gründete (…), der Stadt aber gab er den Namen Ione (VIw,nh) nach der Tochter des Inachos.“150 – Auch Mala’las erzählt die Suche Ios und die Stadtgründung; doch abweichend von Libanios, dass die Stadt Iopolis hieß und am Silpios gegründet wurde, weil Io dort gestorben sei: „When the Argives (VArgei/oi) (…) learnt that Io had died in the land of Syria, they went there (…). Then, reasoning that Io was buried on that mountain, they built a shrine to her there on Mount Silpios and lived there, building a city for themselves, which they called Iopolis (VIw,polij). Its inhabitants have been called Ionitai (VIwni/tai) by the Syrians (para. toi/j auvtoi/j Su,roij) to the present day. From that time when the Argives came in search of Io to the present the Syrians of Antioch (oi` Su,roi VAntiocei/j) have performed this memorial rite, knocking at the houses of the Hellenes (eivj tou.j oi;kouj tw/n ~Ellh,nwn) at this time each year.“151
144 Vgl. Strabon 16.2.5: vgl. JONES VII (1954), 242f.; FORBIGER (2005), 1054f.; vgl. Josephus, Bell 3.29 (3.2.4). Hinweise bei HADDAD, Aspects, 28; HADDAD, Population, 22; TSCHERIKOWER, Städtegründungen, 60; ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 910ff. 145 HADDAD, Aspects, 1; vgl. HADDAD, Population, 19. 146 Vgl. DOWNEY, History, 272; ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 375. 147 Vgl. die Hinweise bei HADDAD, Aspects, 38f.; HADDAD, Population, 19. 148 Vgl. WEISSENBERGER, Libanios: DNP 7 (1999), 129–132: Libanios war Antiochener und bedeutendster griechischer Rhetor der späten Kaiserzeit; seine 11. Rede (Antiochikos) – ist von besonderem Quellenwert durch ihre detaillierte Beschreibung der syrischen Metropole. 149 Vgl. KODER, Johannes Mala’las: LThK 5 (1996), 933: Mala’las war ebenfalls Antiochener und byzantinischer Chronist. In seiner in volksnahem Griechisch verfassten Chronographia, der ersten byzantinischen Weltchronik, räumt er der Geschichte Antiochias breiten Raum ein. 150 Libanios, Antiochikos = Rede 11.47–51: FATOUROS/KRISCHER (1992), 28 (griech. zit.n. TLG). Hinweise bei HADDAD, Aspects, 38f.; HADDAD, Population, 19. 151 Johannes Mala’las, Chronographia 29 (2.7): JEFFREYS/SCOTT (1986), 14 (griechisch: MIGNE PG 97 [1865], 96f.). Hinweise bei HADDAD, Aspects, 38f.; HADDAD, Population, 19;
4.2 Seleukidisches Syrien
67
Die Gründungslegenden dürften Widerhall historischer Gegebenheiten sein: Schon vor der offiziellen Stadtgründung bestanden im Gebiet Antiochias Siedlungen von Einheimischen (Libanios: evnoikou/ntej; Mala’las: Su,roi) und Griechen (Libanios und Mala’las: VArgei/oi; Mala’las: VIwni/tai), wobei die griechische Siedlung (Libanios: VIw,nh; Mala’las: VIw,polij) frühester Kern Antiochias gewesen sein könnte.152 Genauer noch berichtet Strabon von der Bevölkerungszusammensetzung der syrischen Metropole, indem er eine geraffte Chronologie der Besiedlung der Stadt gibt: „Antiochia is likewise a Tetrapolis, since it consists of four parts (h` VAntio,ceia kai. au[th tetra,polij( evk tetta,rwn sunestw/sa merw/n); and each of the four settlements is fortied both by a common wall and by a wall of its own. Now Nicator founded the rst of the settlements, transferring thither the settlers from Antigonia (to. me.n ou=n prw/ton auvtw/n o` Nika,twr sunw,|kise metagagw.n evk th/j VAntigonei,aj tou.j oivkh,toraj), which had been built near it a short time before by Antigonus; the second was founded by the multitude of settlers (to. de. deu,teron tou/ plh,qouj tw/n oivkhto,rwn evsti. kti,sma); the third by Seleucus Callinicus (to. de. tri,ton Seleu,kou tou/ Kallini,kou); and the fourth by Antiochus Epiphanes (to. de. te,tarton VAntio,cou tou/ VEpifanou/j).“153
Bei der offiziellen Gründung Antiochias wurden also zunächst durch Seleukos I. Nikator (ca. 300 v.Chr.) Griechen und Makedonen aus Antigonia übersiedelt; dann zogen indigene Bewohner umliegender Dörfer (Strabon: „Menge der Einwohner“) zu. Die dritte Besiedlungsphase in der Regierungszeit Seleukos’ II. Kallinikos (247–226 v.Chr.) war von griechischen Einwanderern geprägt; die vierte unter Antiochos IV. Epiphanes (175–164 v.Chr.) hingegen von Veteranen verschiedener Nationalitäten und von Einheimischen benachbarter Städte, Dörfer und Länder, da nach Antiochos’
FATOUROS/KRISCHER (1992), 90 (Kommentar). Die Gründungslegende deutet Strabon 16.2.5 an: vgl. JONES VII (1954), 242f.; FORBIGER (2005), 1054f. 152 Vgl. HADDAD, Aspects, 42ff.; HADDAD, Population, 23f. Während TSCHERIKOWER, Städtegründungen, 60 den Legenden kaum historischen Wert beimisst, betonen FATOUROS/ KRISCHER (1992), 92ff. A. 64, dass die Gründungssagen einen historischen Kern haben: „Der Name Ione ist wahrscheinlich aus dem aramäischen ‚Javan‘ (= Stadt der Griechen) ins Griechische adaptiert und mit der Iosage verbunden worden (...) es ist nämlich sehr wahrscheinlich, daß griechische Kaueute sich in sehr früher (...) Zeit an der Orontesmündung und auf dem Gebiet des späteren Antiochia angesiedelt und mit den Einwohnern des Landesinneren in Handelsbeziehungen gestanden haben.“ 153 Strabon 16.2.4: JONES VII (1954), 240–243; vgl. FORBIGER (2005), 1054. Vgl. die Hinweise bei HADDAD, Aspects, 49f. 52ff.; HADDAD, Population, 24ff.; TSCHERIKOWER, Städtegründungen, 61 und 194; JONES, Cities, 244. Die weitere Besiedlung Antiochias referiert auch Libanios, Antiochikos = Rede 11.77–99: vgl. FATOUROS/KRISCHER (1992), 32–35 (Kommentar: 124–128).
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
68
III. Niederlage gegen die Römer bei Magnesia (189 v.Chr.) kaum mehr griechische Siedler aus Kleinasien an den Orontes kamen.154 So lief in den Besiedlungsphasen Antiochias die Zuwanderung Autochthoner aus der Umgebung der Immigration von Griechen immer mehr den Rang ab:155 „We can consider this local emigration to Antioch as consisting essentially, if not completely, of native Syrians (…) Some came as traders and visitors, others must have been driven by poverty and economic depression, or they had to leave their fields because of the cruel treatment of landowners (…) The phenomenon was a part of the general influx to the cities noticeable in the whole Roman Empire (…). This continuous influx of native population from the neighbouring regions was accompanied by the infiltration of Oriental peoples from the neighbouring countries (…).“156 Der Kern der gemischten Bevölkerung Antiochias war zwar griechisch,157 doch machten lokale Einwanderer, vor allem einheimische Syrer einen beträchtlichen, ständig wachsenden Teil der Bevölkerung aus.158 Diese mögen in Antiochia als „resident aliens“159 behandelt, vielleicht auch, wenn sie griechische Sprache und Kultur übernahmen – gleichsam in Konsequenz aus der Griechen-Definition des Isokrates – als {Ellhnej einbürgert worden sein.160 4.2.4.2 Fremd- und Selbstbezeichnungen der Antiochener Können Fremd- und Selbstbezeichnungen der Antiochener161 Bevölkerungszusammensetzung und das Selbstverständnis der Bevölkerungsgruppen, vor allem das hellenisierter autochthoner Syrer, erhellen?
154
Vgl. HADDAD, Aspects, 46–59; HADDAD, Population, 24–27. Vgl. HADDAD, Aspects, 53; HADDAD, Population, 25f. 156 HADDAD, Aspects, 58f.; vgl. HADDAD, Population, 27. 157 Vgl. zur „Mischbevölkerung“: GREEN, Alexander, 163; DOWNEY, History, 79f. 158 Vgl. Schätzungen zur Einwohnerzahl: HADDAD, Aspects, 68–73; HADDAD, Population, 29ff.; BELOCH, Bevölkerung, 245; ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 390; II, 910f.; DOWNEY, History, 582. 159 HADDAD, Aspects, 75 (Hv MZ). DOWNEY, History, 115 vermutet, dass die nichtgriechische Bevölkerung Antiochias ähnlich wie die Syrer von Seleukia am Tigris – vgl. Josephus, Ant 18.372ff. (18.9.9) (vgl. oben) – in politeu,mata organisiert war; als Indiz dafür führt er die Formulierung „die Menge der Einwohner“ an, vgl. Strabon 16.2.4 (vgl. oben). 160 Vgl. HADDAD, Aspects, 74ff. HADDADS Vorstellung mag von US-amerikanischen Gepogenheiten bei der Einbürgerung beeinusst sein; ist aber auch für das antike Antiochia plausibel. 161 Vgl. HADDAD, Aspects, 78–89: Zeugnisse für Fremd- und Selbstbezeichnungen sind rar und frühestens aus dem 2. Jh. (Fremdbezeichnungen) bzw. 4. Jh. n.Chr. (Selbstbezeichnungen). 155
4.2 Seleukidisches Syrien
69
Aus der Perspektive griechischer und römischer Autoren sind unterschiedliche Bezeichnungen für die Antiochener möglich: Für Philostratos (ca. 170–215 n.Chr.)162 sind zumindest jene Antiochener, die im Apollon-Tempel verkehren, halbbarbarisch und ungebildet (h`mibarba,rouj kai. avmou,souj);163 für Pausanias (ca. 115 – nach 180 n.Chr.)164 und Herodianos (ca. 180 – nach 240 n.Chr.)165 sind die Antiochener in der Mehrzahl Syrer, denen ein gewisses hellenistisches Kulturgepräge (Kultbild der Tyche; Rhetorik), nicht jedoch der {Ellhnej-Name zugestanden wird: Pausanias erzählt: „(…) Eutychides made for the Syrians on the Orontes (Su,roij toi/j evpi. VOro,nth) an image of Fortune (…)“166, und Herodianos lässt den Septimius Severus über die Antiochener folgendermaßen urteilen: „Die Syrer (Su,roi) sind darauf aus, mit Esprit und Spott ihren Spaß zu haben, und vor allem die Antiochensier (oi` th.n VAntio,ceian oivkou/ntej) (…).“167
Juvenal (67–nach 138 n.Chr.)168 hingegen zählt die syrischen Antiochener wie selbstverständlich zu den Griechen, zum „griechischen Rom“: „(…) ich vermag nicht, ihr Mitbürger, das griechische Rom (Graecam urbem) zu ertragen. (…) Schon längst ist der syrische Orontes in den Tiber gemündet (…) (iam pridem Syrus in Tiberim deuxit Orontes).“169
Auch Autoren, die selbst aus Antiochia stammen, gebrauchen unterschiedliche Bezeichnungen für sich selbst und ihre Mitbürger: Libanios, der einer gräzisierten aramäischen Familie angehörte,170 war „Syrer (…) in ethnischer, Grieche in kultureller und Römer in politischer Hinsicht.“171 Einerseits rechnete er sich und seine Zeitgenossen zu den Syrern: „Wir Syrer prahlen gegenüber den Römern (megalaucou,meqa, Su,roi ~Rwmai,oij).“172 Andererseits machte er sich – als ein Hauptvertreter der 162
Vgl. BOWIE, Philostratos [5]: DNP 9 (2000), 888f. Vgl. Philostratos, Leben des Apollonius 1.16.16ff.: vgl. MUMPRECHT (1983), 50f.: Apollonius habe den Apollon-Tempel in Antiochia besucht, „(…) ein Ort halbbarbarischer und ungebildeter Menschen (avnqrw,pouj h`mibarba,rouj kai. avmou,souj) (…).“ 164 Vgl. DONOHUE, Pausanias der Perieget: DNP 9 (2000), 445–449. 165 Vgl. FRANKE, Herodianos [2]: DNP 5 (1998), 467. 166 Pausanias, Beschreibung Griechenlands 6.2.7: JONES III (1954), 10f.; mit den „Syrern am Orontes“ sind die Antiochener gemeint. 167 Herodianos, Geschichte des Kaisertums nach Marc Aurel 2.10.7: MÜLLER (1996), 108f. 168 Vgl. SCHMIDT, Juvenalis, D. Iunius: DNP 6 (1999), 112. 169 Juvenal, Satiren (Saturae) 3.60ff.: ADAMIETZ (1993), 40f.; vgl. den Hinweis bei HADDAD, Aspects, 81f.; vgl. auch oben, 4.1.2. 170 Vgl. FATOUROS/KRISCHER (1992), 125 (dort weitere Stellenangaben). 171 PALM, Römertum, 98 zit.n. FATOUROS/KRISCHER (1992), 215. 172 Vgl. Libanios, Brief 391.13: eigene Übersetzung (die Auswahl von Libanios’ Briefen von FATOUROS/KRISCHER [1980] enthält Brief 391 nicht). Hinweis bei HADDAD, Aspects, 85f.; weitere Hinweise und Stellenangaben bei FATOUROS/KRISCHER (1992), 125. 163
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
70
Renaissance des Hellenismus173 – die Griechen-Definition des Isokrates zu Eigen, um hellenistisch gebildete syrische Antiochener – und damit wohl auch sich selbst – als {Ellhnej zu bezeichnen: „(…) wie früher die Staatenwelt der Hellenen auf zwei Städte aufgeteilt war, Sparta und Athen, so ist heute auf zwei Städte die Kultur der Hellenen (ta. tw/n `Ellh,nwn kala,) verteilt, diese hier (Antiochia, MZ) und Athen – sofern man denn als Hellene zu gelten hat mehr aufgrund seiner Rede als aufgrund seiner Abstammung (eiv dh. toi/j lo,goij ma/llon h' tw|/ ge,nei to.n {Ellhna klhte,on) (…).“174
Anders als Libanios nennt sich sein Zeitgenosse Ammianus Marcellinus, Historiker aus Antiochia (ca. 330–400 n.Chr.) – ohne Hinweis auf aramäische Abkunft – im autobiographischen Schlusssatz seiner Römischen Geschichte „Grieche“:175 „Dies habe ich, der ehemalige Soldat und Grieche (…) ausgeführt (haec ut miles quondam et Graecus … explicavi) (…).“176
Bei den aus Antiochia stammenden christlichen Autoren Johannes Chrysostomos (349–407)177, Theodoretos von Kyros (393–460)178, Severos von Antiochia (468–538)179 und Johannes Mala’las – alle waren gräzisierte Syrer – findet sich nirgends die Selbstbezeichnung Su,roj oder {Ellhn: Der Hinweis, Su,roj zu sein, mag den christlichen Autoren entbehrlich erschienen sein, weil ihnen die Nationalität als unerheblich und einzig das Christsein als entscheidend galt;180 {Ellhnej hätten sie sich nach Isokrates’ Definition aufgrund ihrer griechischen Bildung wohl nennen können, doch sprach dagegen die negative Konnotation von {Ellhn im christlichen Sprachgebrauch ab dem 4. Jh. als „(…) Heide des griechischen Kulturkrei-
173
Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 410ff. Libanios, Antiochikos = Rede 11.184: FATOUROS/KRISCHER (1992), 45 (griech. zit.n. TLG); vgl. FATOUROS/KRISCHER (1992), 215 (Kommentar); Belege für die ausdrückliche Selbstbezeichnung {Ellhn fehlen allerdings. 175 Vgl. ROSEN, Ammianus Marcellinus: DNP 1 (1996), 596f. 176 Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte 31.16.9: SEYFARTH IV (1971), 302f. 177 Vgl. KLASVOGT, Johannes Chrysostomus: LThK 5 (1996), 889: „hellenistisch ausgebildet, lernt, wahrscheinlich auch bei Libanios, stoische Schul-Tradition sowie die Kunst der Diatribe.“ 178 Vgl. RIST, Theodoretos von Kyrrhos: DNP 12/1 (2002), 320: „Im monastischen Milieu Antiocheias erhielt Theodoretos eine solide klassische Ausbildung.“ 179 Vgl. BÖHM, Severos von Antiochien: LThK 9 (2000), 502: „Severos studierte in Alexandrien und Beirut.“ 180 Vgl. HADDAD, Aspects, 87f.; KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 422: Nach Johannes Chrysostomos kommt es nicht auf die Herkunft an, sondern auf Rechtschaffenheit und Gotteserkenntnis. 174
4.2 Seleukidisches Syrien
71
ses, (…) den alten Göttern anhängend und damit außerhalb der christlichen Heilsordnung stehend (…)“181. Während sich für keinen christlichen Autor aus Antiochia die Selbstbezeichnung Su,roj oder {Ellhn belegen lässt, nennt wenigstens einer von ihnen die Antiochener Su,roi und {Ellhnej – Johannes Mala’las erzählt in der Gründungslegende Antiochias: „From that time when the Argives came in search of Io to the present the Syrians of Antioch (oi` Su,roi VAntiocei/j) have performed this memorial rite, knocking at the houses of the Hellenes (eivj tou.j oi;kouj tw/n ~Ellh,nwn) at this time each year.“182
Diese Notiz deutet an, dass Mala’las die Antiochener – namentlich auch seine Zeitgenossen im 6. Jh. n.Chr. – in die Bevölkerungsgruppen der nichthellenisierten Syrer und der Griechen bzw. Hellenisierten einteilt183 und als deren (Selbst-)Bezeichnungen Su,roi und {Ellhnej angibt. Dass der {Ellhnej-Begriff anscheinend noch im 6. Jh. n.Chr. als Bezeichnung für die griechische bzw. hellenisierte Bevölkerungsgruppe Antiochias verwendet werden kann, ohne diese damit als heidnisch oder häretisch zu kennzeichnen, ist bemerkenswert: Denn Mala’las gebraucht den {EllhnejBegriff in der Beschreibung christlicher Jahrhunderte beinahe als terminus technicus für Heiden, Nichtchristen, Häretiker.184 Dennoch mag sich – wie 181 Vgl. KLEIN, Hellenen: RAC 14 (1988), 436. Zur Entwicklung der Gleichsetzung von Heiden (e;qnh) und Griechen ({Ellhnej) vgl. ebd., 434–438; 412ff. (Julian der Apostat), zur Vorgeschichte vgl. WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 503ff. 509–514. Zwei Belege aus Theodorets Kirchengeschichte zeigen exemplarisch diese Gleichsetzung: In 117.17 (2.31.5), vgl. SEIDER (1926), 168 (griechisch: MIGNE PG 82 [1864], 1081), werden „Juden und Heiden ({Ellhnej)“ Antiochias dem christlichen Klerus und Volk, in 338.5 (5.35.5), vgl. SEIDER (1926), 320 (griechisch: MIGNE PG 82 [1864], 1265), „die Juden, die Anhänger der arianischen Häresie und die ganz geringen Überreste der Heiden (to. bracu,taton tw/n ~Ellh,nwn lei,yanon e;steron)“ in Antiochia der christlichen Kirche gegenüber gestellt. Bezeichnend ist auch der Titel der Schrift e`llhnikw/n qerapeutikh. paqhma,twn (Heilung der heidnischen Krankheiten), in der Theodoretos die Überlegenheit des Christentums gegenüber heidnischen Kulten erweisen will, vgl. RIST, Theodoretos von Kyrrhos: DNP 12/1 (2002), 321. 182 Johannes Mala’las, Chronographia 29 (2.7): JEFFREYS/SCOTT (1986), 14 (griechisch: MIGNE PG 97 [1865], 96f.). Ein weiterer Hinweis auf die griechische Bevölkerungsgruppe Antiochias ndet sich in Chronographia 211 (8.30): JEFFREYS/SCOTT (1986), 111 (griechisch: MIGNE PG 97 [1865], 329): Pompeius „(...) honoured the Antiochenes since they were Athenians by descent (evti,mhse de. auvtou,j w`j evk ge,nouj vAqhnai,ouj o;ntaj).“ Von der syrischen Bevölkerungsgruppe Antiochias ist noch die Rede in Chronographia 286 (12.6): JEFFREYS/SCOTT (1986), 152 (griechisch: MIGNE PG 97 [1865], 432): „So during his (Commodus’, MZ) reign the Olympic festival was celebrated for the rst time by the Syrian Antiochenes (toi/j VAntioceu/si Su,roij) (...).“ 183 Vgl. HADDAD, Aspects, 42ff.; HADDAD, Population, 23f. 184 Johannes Mala’las erwähnt in den Abschnitten über die vorchristliche Geschichte – vgl. Chronographia 1–226 (Buch 1–9): vgl. JEFFREYS/SCOTT (1986), 2–120 – laut TLG-
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4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
die Notiz aus der Gründungslegende andeutet – für den {Ellhnej-Begriff bei Mala’las neben dem Bedeutungsinhalt „Heide“ oder „Häretiker“ auch der Bedeutungsinhalt „Grieche“ bzw. „Hellenisierter“ erhalten haben, wenigstens im Hinblick auf Antiochias {Ellhnej. 4.2.5 Zusammenfassung Der Blick in die Geschichte der Verbreitung der Griechischsprachigkeit und der Hellenisierung Einheimischer im seleukidischen Syrien konnte hervorragend vor Augen führen, auf welches Milieu der Begriff ~Ellhnistsai, im Bericht über die Gründung der christlichen Gemeinde in Antiochia in Apg 11,20 hinweist: Neben einem gewissen Antagonismus zwischen Einheimischen, die sich bewusst als Su,roi definierten, und Griechen, Makedonen und Hellenisierten, und trotz der ungebrochenen Kontinuität vieler regionaler Sprachen und Kulturen gab es auch viele griechischsprachige Syrer; insbesondere viele Einwohner des stark urbanisierten Kernlandes des seleukidischen Syrien in und um Antiochia waren tiefgreifend hellenisiert. Die in hellenistischer Zeit neu gegründeten po,leij Syriens und auch die alten hellenisierten Städte hatten im Lauf der Jahrhunderte ungezählte Einheimische „zu Griechen gemacht“. Herausragende Beispiele griechischsprachiger und hellenistisch gebildeter Syrer sind Meleager aus Gadara, Nikolaos von Damaskos und Lukianos von Samosata. Alle drei bezeichnen sich als Su,roi und legen Wert auf ihre kosmopolitische Haltung und ihre hellenistische paidei,a; Lukian kommt besonders deutlich darauf zu sprechen, dass die Bildung ihn, obschon er ein Su,roj sei, unter die Hellenen eingebürgert habe (eivj tou.j {Ellhnaj evne,grayen). – Dass die Griechischsprachigkeit und Hellenisierung nicht nur die „Oberschicht“ betraf, zeigt sich in Antiochia am Orontes, das aufgrund seiner bunt gemischten Bevölkerung – wie etwa Libanios, Mala’las und Strabon sie beschreiben – „melting pot“ war, in dem viele der zahlenmäßig den griechisch-makedoniRecherche mehr als 30-mal {Ellhnej, das heißt autochthone Griechen; in den Abschnitten über die christlichen Jahrhunderte – vgl. Chronographia 227–496 (Buch 10–18): vgl. JEFFREYS/SCOTT (1986), 121–307 – steht der Ausdruck {Ellhn(ej) mindestens 12-mal für Heiden oder Häretiker: So beschreibt Mala’las in Chronographia 326f. (13.18), wie Kaiser Julian Heide ({Ellhn) wird, und in 449 (18.42), wie Heiden ({Ellhnej) in allen Städten des Reichs verfolgt und enteignet werden: vgl. JEFFREYS/SCOTT (1986), 177f.; 262 (griechisch: MIGNE PG 97 [1865], 488; 660). Weitere Belege für die Gleichsetzung von {Ellhnej und Heiden bzw. Häretikern bei Johannes Mala’las: Vgl. Chronographia 244f. (10.20); 252 (10.31); 280 (11.19); 317 (13.2); 344 (13.37); 355 (14.4); 362 (14.16); 369 (14.38); 413f. (17.9); 491 (18.136): vgl. JEFFREYS/SCOTT (1986), 129f.; 133; 148; 172; 187; 193; 197; 203; 233f.; 300 (griechisch: MIGNE PG 97 [1865], 373; 384; 421; 476; 512f.; 529; 537/540; 549/552; 612f.; 709/712).
4.2 Seleukidisches Syrien
73
schen Einwanderern überlegenen Einheimischen die griechische Sprache, Bildung und Kultur übernahmen. Über das Selbstverständnis, die Fremd- und Selbstbezeichnungen hellenisierter Syrer im Allgemeinen und hellenisierter Antiochener im Besonderen geben literarische Zeugnisse Auskunft: Für Juvenal sind die hellenisierten Syrer „Griechen“. Bei jenen finden sich jedoch unterschiedliche Selbstbezeichnungen: Libanios nennt sich „Syrer“, Ammianus Marcellinus „Grieche“, bei späteren christlichen Autoren ist weder die eine noch die andere Selbstbezeichnung gebräuchlich; doch legt die vom christlichen Historiker Mala’las überlieferte Gründungslegende Antiochias nahe, dass auch noch im 6. Jh. n.Chr. die Bezeichnung Su,roi für nicht hellenisierte Syrer, und {Ellhnej für hellenisierte Syrer üblich waren. Über die genannten literarischen Zeugnisse hinaus könnten auch archäologische, numismatische und epigraphische Belege aus hellenistischer Zeit über das Selbstverständnis, die Fremd- und Selbstbezeichnungen hellenisierter Syrer Aufschluss geben. Allerdings sind solche Belege in Antiochia und ganz Syrien selten;185 für die ausdrückliche (Selbst-)Bezeichnung {Ellhn oder ~Ellhnisth,j findet sich kein epigraphischer Beleg; auch e`llhni,zw und e`llhnisti, sind auf keiner Inschrift bezeugt.186 Der heutige Kenntnisstand über Selbstverständnis, Fremd- und Selbstbezeichnungen hellenisierter Einheimischer in Syrien und Antiochia ist also aufgrund des Mangels an archäologischen, numismatischen und epigraphischen Zeugnissen aus hellenistischer Zeit lückenhaft. Mehr Einblick in das Selbstverständnis, teils auch Aufschluss über Fremd- und Selbstbezeichnungen hellenisierter und nichthellenisierter Einheimischer bieten die Papyrusfunde in Ägypten. Das für Ägypten gewonnene Bild kann man – mutatis mutandis! – auch auf andere hellenistische Gebiete wie Syrien übertragen.187
185 Vgl. MILLAR, Syria, passim, bes. 117f. 123. 129–132; FELDTKELLER, Göttin, 33f. Wegen der wenigen nichtliterarischen Belege ist kaum Näheres aus Wirtschaft, Verwaltung oder Bildungswesen bekannt, vgl. GEHRKE, Hellenismus, 174f.; JONES, Cities, 247f.; GREEN, Alexander, 195; ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 840. 186 Vgl. etwa den „Negativbefund“ bei JALABERT/MOUTERDE, Inscriptions I–IV + Registerband. 187 Vgl. HARRAUER, Papyri, 366f.; GEHRKE, Hellenismus, 172 hingegen mahnt zur Vorsicht bei einer solchen Übertragung, da Ägypten in vielem eher einen Sonder- als den Normalfall darstelle.
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
74
4.3 Griechischsprachige Nichtgriechen im ptolemäischen Ägypten Anders als das Seleukidenreich war Ägypten schon in vorhellenistischer Zeit – unter den Pharaonen und unter den Persern – ein einheitlicher Staat. Auch unter den Ptolemäern (Lagiden), die 323 bis 30 v.Chr. regierten, blieb Ägypten politisch, wirtschaftlich und ethnisch „übersichtlich“: „Herrschten die Seleukiden in Asien über eine Vielzahl von Völkern und Nationen, so hatten es die Ptolemäer mit nur zwei Nationen zu tun, mit den Griechen, zu denen man auch die Makedonen rechnen darf, und mit den Ägyptern.“188 Als die Ptolemäer die streng geordnete und kunstvoll gegliederte Verwaltung und die staatliche Planwirtschaft Ägyptens perfektionierten,189 banden sie anfangs einheimische Aristokraten, in weiterer Folge jedoch fast ausschließlich griechisch-makedonische und hellenisierte semitische Einwanderer ein.190 4.3.1 Griechen und Ägypter: Ein distanziertes Nebeneinander Das Griechentum, das sich im vorptolemäischen Ägypten auf wenige griechische Städte wie Naukratis191 und Memphis192 sowie auf den königlichen Hof – etwa des Philhellenen Psammetichus I. (664–610 v.Chr.)193 – beschränkte, erlebte im ptolemäischen Ägypten einen kräftigen Aufschwung: Tausende Immigranten, die dem verarmten Griechenland oder dem durch Kriege schwer beeinträchtigten Kleinasien den Rücken kehrten oder einfach schnell reich werden wollten,194 kamen nach Ägypten, das als wohlhabendstes Land der Welt galt.195
188
Vgl. BENGTSON, Eingeborenenbevölkerung, 138. Zur Verwaltung und Wirtschaft Ägyptens vgl. DROYSEN, Hellenismus III, 41; SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 445; GEHRKE, Hellenismus, 173f.; GREEN, Alexander, 190–193; ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 209–212; II, 848. 857ff. 876; BOWMAN, Egypt, 67. 78; JONES, Cities, 302. 190 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 203. 206; GREEN, Alexander, 191; JONES, Cities, 308. 191 Vgl. JONES, Cities, 302f. 306f.; vgl. BOWMAN, Egypt, 122. 124f. 192 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 501. 555f. 564 mit Hinweis auf die Hellenomemphiten. 193 Vgl. Diodor, Bibliotheca Historica 1.67.8f.: vgl. OLDFATHER I (1968), 234f.; vgl. THISSEN, Griechen in Ägypten: Lexikon der Ägyptologie 2 (1977), 898f.; RACHET, Griechen: Lexikon des alten Ägypten (1999), 136; EDDY, King, 261. 194 Vgl. EDDY, King, 270. 195 Vgl. TARN/GRIFFITH, Kultur, 239; vgl. BENGTSON, Eingeborenenbevölkerung, 140. 189
4.3 Ptolemäisches Ägypten
75
Zwar wollten die Herrscher als „großzügige Brotherren ihrer Hellenen“196 die Einwanderer als Kleruchen übers Land verteilt ansiedeln,197 vielleicht auch als Vermittler zu den Einheimischen im Hellenisierungsprozess198 – doch zogen die Immigranten städtische Siedlungen vor und lebten kaum mit Ägyptern zusammen: „(…) la métropole du nome, ersatz de cité, attire les Grecs (…).“199 In den Provinzstädten bildete sich ein Lebensstil wie in po,leij heraus;200 es gab religiöse, gesellschaftliche und berufliche Vereinigungen, landsmannschaftliche Politeumata und Gymnasialvereine.201 So wurden die griechisch-makedonischen Einwanderer zur Elite von Fremden202 mit dem ptolemäischen Königshaus an ihrer Spitze, „(…) insulated by their Greek-speaking court and bureaucracy, largely indifferent to Egyptian culture, exploiters in an alien world“203. Obwohl offiziell keine Apartheid herrschte,204 standen griechisch-makedonische Einwanderer meist in Distanz zu Einheimischen;205 es war eine „coexistence“, ein Nebeneinander von Griechen und Ägyptern: „The society of Ptolemaic Egypt was marked by a fundamental rift between the conquering minority, forming (…) the ‚society of Hellenes‘, and the mass of the vanquished Egyptian peasantry (…).“206
196
ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 208; vgl. GEHRKE, Hellenismus, 64. Vgl. JONES, Cities, 308; ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 836; DROYSEN, Hellenismus III, 31; BOWMAN, Egypt, 122; BICKERMANN, Heimatsvermerk, 238f. u.ö. 198 Vgl. GEHRKE, Hellenismus, 180. 199 MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 254 (nomo,j ist ein Verwaltungsbezirk). Auch nach JONES, Cities, 308f. tendierten die meisten Einwanderer in die Städte; für GREEN, Alexander, waren diese „enclaves of Graeco-Macedonian culture in an alien world, governmental ghettos for a ruling elite“ (319), „the conquerors’ articial islands of culture“ (323). Zur These der „enclave mentality“ bei GREEN vgl. oben. Vgl. auch KÖSTER, Einführung, 69: Die Ansiedlungen der Einwanderer wurden kaum als Hellenisierungsfaktor wirksam. 200 Vgl. GEHRKE, Hellenismus, 172. Vgl. JONES, Cities, 307: Nur Alexandria, Naukratis, Paraetonium und Ptolemais waren po,leij. 201 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 253–256; II, 832. 839–844; III, 1152; JONES, Cities, 309f.; TARN/GRIFFITH, Kultur, 239f.; MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 250f. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 497 weist auf zahlreiche nichtgriechische landsmannschaftliche Politeumata in Ägypten hin. 202 Vgl. BOWMAN, Egypt, 122; vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 205; II, 835. 203 GREEN, Alexander, 192. 204 Vgl. BOWMAN, Egypt, 61; MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 256. 205 Vgl. DROYSEN, Hellenismus III, 31; KÖSTER, Einführung, 41. 52; SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 498. 515; EDDY, King, 305. 206 HONIGMAN, Diaspora, 93; vgl. GREEN, Alexander, 382ff. 197
4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
76
4.3.2 Hellenisierung Einheimischer – ein Randphänomen Die Ptolemäer betrieben – ebenso wie die Seleukiden – keine bewusste Hellenisierungspolitik207, doch gab es in verschiedenen Phasen der Geschichte Initiativen von Herrschern oder Einzelnen aus der hellenophonen Minderheit, die Distanz von Einwanderern und Einheimischen zu verringern: Ptolemaios IV. Philopator (221–204) leitete eine Politik der „Vereinigung“ zwischen Einwanderern und Einheimischen ein, indem er Ägypter ins Heer aufnahm;208 im 2. Jh. v.Chr., als die Zuwanderung nach Ägypten abnahm, deckten die Ptolemäer den Bedarf an Arbeitskräften auch mit Ägyptern, was deren Lage gegenüber den Einwanderern teils verbesserte; und Ptolemaios VIII. Euergetes II. (145–116) war an der rechtlichen Gleichstellung von Einwanderern und Einheimischen gelegen.209 So stiegen ab dem Ende des 3. Jh. v.Chr. hellenisierte Ägypter in die Oberschicht auf,210 es entstanden bedeutende gräko-ägyptische Familien211 und damit eine „Bourgeoisie gemischter Nationalität“212. Freilich waren diese GräkoÄgypter eine Minderheit213 und nicht repräsentativ für das ptolemäische Ägypten: Sie setzten sich hauptsächlich aus der Elite hellenisierter Indi-
207
Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 495; ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 875: „Ofziell wurden jedoch nie Versuche unternommen, die Laoi (ägyptische Bevölkerung ohne die Oberschicht, MZ) zu hellenisieren – der Begriff des ‚Hellenisierens‘ blieb den Ptolemäern völlig fremd.“ 208 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 516–520; GEHRKE, Hellenismus, 66 (ma,cimoi: Wehrfähige); JONES, Cities, 310f.; ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 577. 695. 209 Vgl. vor allem GRENFELL/HUNT/SMYLY, Tebtunis Papyri, 19. 210 Vgl. GEHRKE, Hellenismus, 179. 211 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 695; vgl. DROYSEN, Hellenismus III, 31. 212 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 874f. 888f. 921f.; GREEN, Alexander, 315f.: „(...) the intelligent and ambitious collaborators who set out to make a career in the administrative system of the occupying power.“ Vgl. BENGTSON, Eingeborenenbevölkerung, 142: Die soziale Stellung des Einzelnen war wichtiger für seine Geltung als seine Volkszugehörigkeit. 213 Die Gemischtnationalen waren nur ein kleiner Teil der Oberschicht, zu der insgesamt etwa zehn Prozent der sieben Millionen Einwohner gehörten. Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 205f. 249; II, 907ff. ROSTOVTZEFFS Schätzung der Bevölkerungszahl Ägyptens basiert auf Diodor, Bibliotheca Historica 1.31.6–8 (Ägyptens Dörfer); 17.52.6 (Alexandria) und Josephus, Bell 2.385 (2.16.4): MICHEL/BAUERNFEIND I (1962), 258f.: Ägypten habe, „(…) eine Einwohnerschaft von 7 ½ Millionen Menschen ohne die Bevölkerung Alexandriens, wie man aus der Kopfsteuer berechnen kann.“ BELOCH, Bevölkerung, 254–259 nimmt an, dass Ägypten zur Pharaonenzeit am dichtesten bevölkert war, zur Perserzeit nur drei Millionen, im 1. Jh. n.Chr. fünf Millionen Einwohner hatte; vgl. BENGTSON, Eingeborenenbevölkerung, 141 (Verhältnis Fremde – Einheimische 1:11); GEHRKE, Hellenismus, 66.
4.3 Ptolemäisches Ägypten
77
gener und aus den durch das lokale Milieu absorbierten Einwanderern zusammen.214 Den geringen Anteil hellenisierter Indigener an der Elite zeigt eine Prosopographie des ptolemäischen Ägypten: Von über 200 namentlich bezeugten Personen waren die meisten Fremde, nur zwölf Naturwissenschaftler bzw. Ärzte und zwanzig Künstler waren gräzisierte Ägypter215 – ein berühmter Vertreter war Manethon (3. Jh. v.Chr.), der unter anderem eine Geschichte Ägyptens (Aivguptika,) verfasste.216
Ebenfalls gering war die Zahl der durch das lokale Milieu absorbierten bzw. assimilierten Einwanderer, da unter Griechen und Makedonen Desinteresse gegenüber den Ägyptern, ihrer Sprache und Kultur überwog:217 „(…) the indifference of all Ptolemies (…) to the Egyptian language (…) testifies eloquently to a persistent, deep-rooted, all-persuasive cultural separatism in the upper echelons of Ptolemaic society.“218 Die Hellenisierung einheimischer Ägypter war also, von einzelnen Regionen,219 Gesellschaftsschichten, Berufsständen oder Familien abgesehen – ebenso wie die Assimilierung griechisch-makedonischer Einwanderer –, eher ein Randphänomen: Im Großen und Ganzen bestand im ptolemäischen Ägypten das distanzierte Nebeneinander von Einwanderern und Einheimischen fort;220 aufgrund nationaler (kultureller, sprachlicher, religiöser), so-
214
Vgl. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 255; vgl. THISSEN, Griechen in Ägypten: Lexikon der Ägyptologie 2 (1977), 901f. 215 Vgl. GREEN, Alexander, 325. GREEN erwähnt noch den bemerkenswerten Umstand, dass anscheinend kein hellenisierter Ägypter Gymnasiarch war. 216 Vgl. KRAUS, Manetho: DNP 7 (1999), 804f.; vgl. GREEN, Alexander, 325f., der Manethons Anbiederung an das Regime der Ptolemäer („imperial footlicking“) kritisiert. 217 Vgl. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 252–255. Anders ortet SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 519. 524ff. eine „zunehmende Barbarisierung Ägyptens“ seit Ptolemaios VIII. Euergetes II. – Vgl. WILCKEN, Urkunden I, 635f. (Nr. 148): Auf den Fortbestand des Demotischen deutet ein Brief aus dem Milieu der griechischsprachigen Einwanderer (2. Jh. v.Chr.), in dem eine Mutter ihren Sohn lobt, weil er Demotisch lernt, um bei einem ägyptischen Arzt Hauslehrer zu werden. Die Familie dieses Arztes sprach also weiterhin Demotisch und dürfte nicht oder wenig hellenisiert gewesen sein. Vgl. zu diesem Beleg auch BOWMAN, Egypt, 124. 158; ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 696. 218 Vgl. GREEN, Alexander, 326; vgl. ebd., 313: „(…) in the fourth and third centuries imperial racism was rampant among the Greeks and Macedonians of Alexandria, and never entirely died out.“ 219 Vgl. die differenzierte Darstellung des Verhältnisses Einwanderer – Einheimische in verschiedenen Regionen bei SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 550–563. Gegenseitige Akkulturation und Bevölkerungsmischung gab es in größerem Umfang nur im Fayum (560f.); vgl. THISSEN, Griechen in Ägypten: Lexikon der Ägyptologie 2 (1977), 900. 220 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 695f. 719f. 816. 1054f.
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zialer und wirtschaftlicher Unterschiede entwickelten sich mitunter starke Spannungen zwischen diesen Bevölkerungsgruppen.221 Alexandria, Hauptstadt des ptolemäischen Ägypten,222 war diesbezüglich keine Ausnahme: Einwanderer und Einheimische, aus denen die Bevölkerung von Anfang an zusammengesetzt war,223 lebten auch hier in einem distanzierten Nebeneinander, sie grenzten sich durch eigene Stadtviertel und landsmannschaftliche Politeumata voneinander ab.224 Zudem sorgte das griechische Bürgerrecht in Alexandria (wie auch in den anderen griechischen po,leij Naukratis, Ptolemais und Paraetonium) dafür, dass die Griechen noch stärker von den Ägyptern getrennt blieben als im übrigen Land;225 nicht umsonst teilt Polybios (ca. 199–120 v.Chr.)226 Alexandrias Bevölkerung in drei Klassen, wie Strabon es überliefert: Alexandria „(…) is inhabitated by three classes of people, rst the native Egyptians (Aivgu,ption evpicw,rion fu/lon) (…), secondly by the mercenaries (to. misqoforiko,n) (…); thirdly there were the Alexandrians themselves (tri,ton d v h=n ge,noj to. tw/n VAlexandre,wn) (…) for though they are mongrels (kai. ga.r eiv miga,dej) they came from a Greek stock ({Ellhnej o[mwj avne,kaqen h=san) and had not forgotten Greek customs.“227
221 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 719. 859. 875f.; KÖSTER, Einführung, 53; GREEN, Alexander, 323. 390. ROSTOVTZEFF und KÖSTER betonen soziale und wirtschaftliche Spannungen: Die Ägypter hätten nicht gegen die „Griechen“ an sich, sondern gegen die herrschende Schicht (ROSTOVTZEFF); nicht gegen die Fremdherrschaft an sich, sondern gegen den Staatsmonopolismus opponiert (KÖSTER). GREEN sieht Spannungen, Unruhen und Aufstände gleichermaßen national und sozial begründet, wie das um 200 v.Chr. verfasste Töpfer-Orakel zeige, „(…) an anti-Greek, anti-Macedonian nationalist manifesto from the early Ptolemaic period, which (…) foretells the downfall of these hated and blasphemous foreign overlords (…).“ (323) 222 Vgl. JANSSEN-WINKELN, Alexandreia: DNP 1 (1996), 463ff. 223 Vgl. TSCHERIKOWER, Städtegründungen, 10f.; JONES, Cities, 303f.; ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 326f.; GEHRKE, Hellenismus, 179; SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 539f. Strabons Beschreibung Alexandrias enthält keine Besiedlungsgeschichte, vgl. Strabon 17.1.6–10: vgl. JONES VIII (1949), 22–43; FORBIGER (2005), 1109–1115; AUSTIN, Hellenistic World, 388–392 (Nr. 232). 224 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 540; KÖSTER, Einführung, 55.69. BICKERMANN, Heimatsvermerk, 229: „(…) dass in Alexandria, wie heute in New York, die Stammesbesonderheiten weit widerstandsfähiger als im Lande waren. (…) An Versuchen, mit der Nivellierung halt zu machen, fehlte es (…) nicht. Als solche sind z. B. die ‚politeumata‘ zu werten, die Landsmannschaften (…).“ 225 Vgl. THISSEN, Griechen in Ägypten: Lexikon der Ägyptologie 2 (1977), 900. Vgl. GREEN, Alexander, 319: „Alexandria was ‚by‘ Egypt, yet not of it: Alexander’s attempts at racial fusion were abandoned immediately after his death, and Egyptians in Alexandria suffered from constitutional discrimination.“ 226 Vgl. DREYER, Polybios: DNP 10 (2001), 41–48; Leben 41f.; „Historien“ 42ff. 227 Polybios, Geschichte 34.14.1–5: PATON VI (1954), 334f.; die Stelle zitiert Strabon 17.1.12 – vgl. JONES VIII (1949), 50f.; FORBIGER (2005), 1117.
4.3 Ptolemäisches Ägypten
79
Zu den „eigentlichen Alexandrinern“ kamen im Lauf der Zeit freilich zahlreiche nichtgriechische Immigranten aus dem Orient. Im Gegensatz zu den Ägyptern waren sie meist bereits hellenisiert oder wurden in Ägyptens Metropole hellenisiert; deshalb standen sie den griechisch-makedonischen Einwanderern näher als den Einheimischen. Dementsprechend wurde in Alexandria – und ganz Ägypten – zum entscheidenden Unterscheidungsmerkmal in der Bevölkerung, ob jemand Einwanderer oder Einheimischer, und nicht, ob jemand Grieche oder Nichtgrieche war. 4.3.3 {Ellhnej im ptolemäischen Ägypten: Synonym für alle Einwanderer Die klare Abgrenzung der Einheimischen und Einwanderer voneinander war Voraussetzung dafür, dass sich der {Ellhnej-Begriff in Ägypten zur Bezeichnung der ethnisch gemischten privilegierten Gesellschaft der Einwanderer entwickeln konnte: Der {Ellhnej-Begriff wurde Sammelbezeichnung für Griechen, Makedonen und unterschiedlich hellenisierte Nichtgriechen (wie Thraker, Illyrer, Syrer, Juden) und „Gegenbegriff“, standen doch die Einwanderer ({Ellhnej) den Aivgu,ptioi gegenüber.228 Die Erweiterung des {Ellhnej-Begriffs auf alle Einwanderer – auch (hellenisierte) Nichtgriechen – dürfte den Ägyptern zuzuschreiben sein, denn „(…) der alle Nichtägypter umfassende Name ‚Hellenen‘ (wird) erst vom ägyptischen Standpunkte verständlich. Für die Einheimischen waren alle diese in ihrem Lande erzeugten griechisch sprechenden Fremdstämmigen ‚Griechen geboren in Ägypten‘“229. Der Griechenname, der auf alle Mitglieder der hellenophonen Minderheit, auch auf „Barbaren“ ausgedehnt wurde, „(…) qui avec la langue et la culture grecques ont reçu une part des bénéfices de la conquête (…)“230, war also zunächst Fremdbezeichnung.231 Die als Griechen Bezeichneten haben sich dann selbst {Ellhnej genannt, um Selbstbewusstsein und Zusammengehörigkeit als Oberschicht auszudrücken.232
228
Vgl. HONIGMAN, Diaspora, 94; MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jew, 77. BICKERMANN, Heimatsvermerk, 230 (sic!). 230 MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 265f. 231 Vgl. RACHET, Griechen: Lexikon des alten Ägypten (1999), 136: Ägyptisches Äquivalent für {Ellhnej zur Kennzeichnung von Griechen – möglicherweise auch von hellenisierten Einwanderern in Ägypten – war in Texten der Ptolemäerzeit „Hau-Nebut“, vgl. ERMAN/GRAPOW, Wörterbuch der Ägyptischen Sprache 2 (1926), 227; 3 (1926), 11. 232 Vgl. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 267f.: Anders als BICKERMANN führt MÉLÈZEMODRZEJEWSKI die Entstehung des erweiterten Hellenen-Begriffs zuerst auf das Bewusstsein der Einheit und Zusammengehörigkeit der Eroberer zurück: {Ellhn sei „synonym de statut de conquerant“. 229
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4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
Schließlich erlangte dieser Hellenen-Begriff im ptolemäischen Ägypten offizielle Geltung: Im 2. Jh. v.Chr. wurde zunächst für alle Einwohner Ägyptens ein Heimatsvermerk vorgeschrieben:233 {Ellhnej mussten in Urkunden dem Namen ein Ethnikon hinzufügen, das ihre Herkunft aus einer Polis außerhalb Ägyptens anzeigte,234 Aivgu,ptioi ein Herkunftszeichen führen, das auf ihren Heimatort in Ägypten wies.235 Eindrücklichster Beleg für die amtliche Geltung des erweiterten {Ellhnej-Begriffs ist ein Erlass, mit dem im Jahr 118 v.Chr. Ptolemaios VIII. Euergetes II. (145–116) die Zuständigkeit griechischer und ägyptischer Richter (crhmati,stai und laokri,tai) in Rechtsstreitigkeiten zwischen {Ellhnej und Aivgu,ptioi regelte:236 „And they have decreed concerning suits brought by Egyptians against Greeks, viz. by Greeks against Egyptians, or by Egyptians against Greeks (peri. tw/n krinome,nwn Aivgupti,wn pro.j {Ellhnaj kai. peri. tw/n ~Ellh,nwn tw/n pro.j tou.j Aivgupti,ouj h; Aivgupti,wn pro.j {Ellhnaj genw/n pa,ntwn) (…) that the Egyptians who have made contracts in Greek with Greeks shall give and receive satisfaction before the chrematistai, while the Greeks who have concluded contracts in Egyptian (…) shall give satisfaction before the laokritai in accordance with the laws of the country (…). The suits of Egyptians against Egyptians shall not be taken by the chrematistai to their own courts, but they shall allow them to be decided before the laokritai in accordance with the laws of the country.“237
Im ptolemäischen Ägypten entwickelte sich also ein {Ellhnej-Begriff sui generis mit mehreren Aspekten: Als ethnischer Begriff bezeichnet er alle Nichtägypter Ägyptens; als entschränkter Begriff übersteigt er den ursprünglichen Griechenbegriff; als kultureller Begriff weist er auf griechi-
233 Vgl. BICKERMANN, Heimatsvermerk, 216–220; MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 244; ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 838; RUPPRECHT, Papyruskunde, 154f. 234 Vgl. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jew, 76: In Ägypten konnten nur Alexandria und Ptolemais Bürgerrechte verleihen; hingegen blieb ein Athener im Fayum de iure Bürger von Athen. 235 Vgl. BICKERMANN, Heimatsvermerk, 220ff.; ebd., 231–236: Viele {Ellhnej führten auch Amtsprädikate, Aivgu,ptioi regelmäßig Berufs- und Domizilangaben; vgl. MÉLÈZEMODRZEJEWSKI, Statut, 245–248. 253; HONIGMAN, Diaspora, 94. BICKERMANN, Heimatsvermerk, 223ff. folgert aus Ungenauigkeiten der Ethnika, dass sie rechtlich nicht relevant waren (229): „Für den Staat war also nur die Beständigkeit sowohl des Eigennamens wie des Ethnikons, als Teile der Personenbezeichnung, wichtig, für den Einzelnen, dass er den ‚Hellenen‘ angehörte.“ 236 Vgl. BICKERMANN, Heimatsvermerk, 220; MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 255. 237 GRENFELL/HUNT/SMYLY, Tebtunis Papyri, 29 (Nr. 5; Zeilen 207–220; griechisch); englisch zit.n. AUSTIN, Hellenistic World, 382–388 (Nr. 231), hier 386; Einführung bzw. Kommentar vgl. GRENFELL/HUNT/SMYLY, Tebtunis Papyri, 19 bzw. 54.
4.3 Ptolemäisches Ägypten
81
sche Sprache und Bildung der meisten Einwanderer;238 als Rechtsbegriff benennt er die „Rechtsnationalität“ der Immigranten.239 4.3.4 Belege für {Ellhn, e`llhni,zein, ~Ellhnisti,, ~Ellhnisth,j in Papyri als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse Die zahlreichen in Ägypten gefundenen Papyri enthalten nicht nur offizielle Dokumente – wie den zitierten Erlass Ptolemaios’ VIII. Euergetes II. – oder literarische Texte, sondern auch viele (private) Briefe, Urkunden und Verträge.240 Daher bieten sie die einzigartige Möglichkeit, eine Alltagsgeschichte Ägyptens zu zeichnen:241 „Aus keinem Bereich der hellenistischen Welt gibt es auch nur annähernd so zahlreiche und so wertvolle Quellen zur Kulturgeschichte wie aus dem ptolemäischen Ägypten. Die Papyri erlauben Einblicke in Kreise und Schichten, Fragen des Alltags und Realitäten aller kulturellen Bezirke, die in den anderen Gebieten nur sehr begrenzt oder oft gar nicht möglich sind.“242 Dementsprechend erlauben nicht wenige Papyri auch Einblick in das Selbstverständnis von Einwanderern und Einheimischen oder in das Verhältnis zwischen diesen Bevölkerungsgruppen: „Zur indirekten Information durch die Berichte der Schriftsteller tritt die direkte Äußerung der Betroffenen selbst.“243 Belege für {Ellhn, e`llhni,zein, e`llhnisti,, ~Ellhnisth,j in den Papyri sollen dies im Folgenden zeigen. 4.3.4.1 Selbstzeugnisse eines {Ellhn Von Ptolemaios, der um 200 v.Chr. als Sohn des makedonischen Soldaten Glaukias geboren wurde und seit 172 v.Chr. als evgka,tocoj – also in „Gotteshaft“ – im Serapeum bei Memphis lebte, sind unter zahlreichen Briefen drei erhalten, in denen er sich als {Ellhn bezeichnet. – In zwei Eingaben (u`pomnh,mata) an den Strategen Dionysios (163 und 161 v.Chr.) beschwert
238
Vgl. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jew, 77: „Although they did not follow Isocrates’ prescription in their treatment of conquered foreigners, the Ptolemies fullled his desire ‚that the name of Hellene be not that of a particular ethnic group (…)‘.“ 239 Vgl. BICKERMANN, Heimatsvermerk, 220: Nicht immer waren griechische Sprache und Bildung Unterscheidungsmerkmal zwischen {Ellhnej und Aivgu,ptioi. 240 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 446–454 (Gesetze, Erlasse). 470 (Steuerquittungen). 477f. (Briefe auf Papyri und Ostraka); vgl. BOWMAN, Egypt, 161 (private Korrespondenz). 241 Vgl. GEHRKE, Hellenismus, 180. 242 SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 438. 243 THISSEN, Griechen in Ägypten: Lexikon der Ägyptologie 2 (1977), 900.
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er sich über Tempelreiniger (kalluntai,) und am Tempel tätige Handwerker und Gewerbetreibende, die ihm schwer zusetzten:244 Die erste Eingabe berichtet: „(…) (sie) kamen nämlich zu dem Astartieion, in dem ich in Gotteshaft lebe, und versuchten mit Gewalt einzudringen, um mich herauszuziehen und fortzuführen, wie sie das auch früher in den Zeiten des Aufstandes versucht hatten, weil ich ein Hellene bin (para. to. {Ellhna, me ei=nai).“245 Ähnlich in der zweiten Eingabe: „(…) (sie) versuchten (…) gewaltsam einzudringen, um bei der Gelegenheit den Tempel zu plündern, mich aber, weil ich ein Hellene bin (para. to. {Ellhna, me ei=nai), zu töten (…).“246
Eine dritte Eingabe richtet Ptolemaios 157 v.Chr. sogar an den König; diesmal sind es die Tempelpriester, über die er Beschwerde führt: Er bittet den König, seinen Bruder Apollonios für seine Bewachung abzustellen, „(…) daß niemand von den Priestern und Pastophoren noch sonst jemand zu mir eindringen und mich pfänden oder misshandeln solle, da die im Tempel schlechte Leute sind und mich belagern, weil ich ein Hellene bin (e[neka tou/ {Ellhna, me ei=nai) (…).“247
Diese Briefe des Ptolemaios können mehrfaches Interesse für sich verbuchen: 1. Sie zeugen vom distanzierten Nebeneinander von Einheimischen und Einwanderern, das bisweilen zu sozialen und nationalen Unruhen führte.248 2. Dass Ptolemaios als Makedone in einem ägyptischen Tempel Dienst tut, ist aber zugleich Hinweis auf viele mögliche Kontakte Fremder und Einheimischer.249 3. Die drei fast stereotyp wiederkehrenden Hinweise des Ptolemaios, Grieche zu sein (para. to. {Ellhna, me ei=nai), gehören zu den ersten Zeugnissen, dass {Ellhn individuell als Selbstbezeichnung von Einwanderern verwendet wurde.250 4. Dass Ptolemaios den Hinweis, Grieche zu sein, nur dort anbringt, wo er den nationalen Gegensatz zu den Ägyptern hervorheben will, zeigt, dass der {Ellhn-Begriff als „Gegenbegriff“ gegenüber den Einheimischen
244 245 246
Vgl. WILCKEN, Urkunden I, 105ff. 111f. 137. WILCKEN, Urkunden I, 138f. (Nr. 7). WILCKEN, Urkunden I, 140f. (Nr. 8); vgl. auch AUSTIN, Hellenistic World, 434f. (Nr.
257). 247
WILCKEN, Urkunden I, 172f. (Nr. 15). Vgl. ebd., 107: Er vermutet, dass der in Nr. 7 genannte Aufstand um 165 v.Chr. stattfand. BENGTSON, Bedeutung, 140: „Fühlten sich vor hundert Jahren die Einheimischen von den Griechen verfolgt und herabgesetzt, so war es jetzt umgekehrt. Wir lesen heute noch die Worte eines Makedonen, eines Katochos des Serapeums bei Memphis, er werde von den Ägyptern verfolgt, ‚weil er ein Hellene sei‘ (163 v.Chr.).“ 249 Vgl. WILCKEN, Urkunden I, 107f. 250 Vgl. BICKERMANN, Heimatsvermerk, 230. 248
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„Sammelbezeichnung“ aller Einwanderer ist – „(…) nur in diesem Zusammenhang schloß der Hellenenname alle Nichtägypter zusammen.“251 Damit bezeugen die Briefe des Ptolemaios das distanzierte Nebeneinander, ja die Gegensätze zwischen Einwanderern und Einheimischen gleichermaßen wie die zahlreichen alltäglichen Kontakte zwischen ihnen; auch die spezifisch ägyptische Verwendung des Begriffs {Ellhn als „Gegenbegriff“ gegenüber den Einheimischen und als „Sammelbezeichnung“ aller Einwanderer findet hier ihren Widerhall.252 4.3.4.2 Selbstzeugnis eines ba,rbaroj Während Ptolemaios sich beklagte, wegen seines Grieche-Seins schlecht behandelt zu werden, führte rund hundert Jahre zuvor (255 v.Chr.) ein namentlich unbekannter Nichtgrieche – er mag Araber oder Ägypter gewesen sein – in einem Brief an den ptolemäischen Verwalter Zenon253 Beschwerde über die ihm von den Griechen widerfahrene Behandlung – mit der bezeichnenden Begründung, dieses Unrecht geschehe ihm, weil er ein ba,rbaroj sei und nicht e`llhni,zein könne:254 Die Klage, trotz seiner Arbeit (als Kamelhändler?) keinen Lohn erhalten zu haben, schließt er folgendermaßen ab: „Well, they have treated me with scorn because I am a ‚barbarian‘ (kategnwkasim mou oti eimi barbaroj). I beg you therefore, if it seems good to you, to give them orders that I am to obtain what is owing and that in future they pay me in full, in order that I may not perish from hunger because I do not know how to act the Hellene (oti ouk epistamai ellhnizein).“255
251 WILCKEN, Urkunden I, 139; vgl. ebd.: Sonst bezeichnete sich Ptolemaios als Makedw,n. Vgl. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 265f.: Die Briefe des Ptolemaios zeugen vom erweiterten Griechenbegriff in Ägypten. 252 Aufgrund der Fülle an Belegen für {Ellhn(ej) konnte ich nicht herausnden, ob sich unter Umständen auch hellenisierte autochthone Ägypter {Ellhn nannten oder so genannt wurden. 253 Vgl. AMELING/RATHBONE, Zenon [5]: DNP 12/2 (2002), 749ff. Zenon aus Kaunos war Verwalter im ptolemäischen Ägypten im 3. Jh. v.Chr. Zu ausführlicheren Hinweisen auf die Zenonpapyri vgl. unten, Abschnitte 5.2.3 und 5.5.2.1. 254 Vgl. WESTERMANN/KEYES/LIEBESNY, Zenon Papyri II, 16f. 19 (Nr. 66). Der „Beschwerdeführer“ dürfte jedenfalls zur Zeit der Beschwerde gemeinsam mit einem gewissen Krotos in Syrien (!) bzw. Palästina (Joppe?) stationiert gewesen sein. Vgl. BENGTSON, Eingeborenenbevölkerung, 139; HORSLEY, New Documents 5, 25. Laut DDBDP (Duke Data Bank of Documentary Papyri 7 [1995]) – Recherche und freundliche Mitteilung von Univ. Prof. Dr. Bernhard Palme, Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (3./19.4.2001) – ist dies der einzige Beleg für e`llhni,zein in den Papyri. 255 WESTERMANN/KEYES/LIEBESNY, Zenon Papyri II, 18f. 20f. (Nr. 66) (sic! – ohne Akzente); vgl. auch AUSTIN, Hellenistic World, 418 (Nr. 245).
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4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
Deutlich zeigt dieser Brief, wie sich das Verhältnis zwischen griechischmakedonischer Oberschicht und Autochthonen aus der Perspektive vieler Autochthoner darstellte: „This is the earliest clear instance (…) of a marked sensitiveness on the part of a native Egyptian, or other non-Greek, to the superior attitude assumed by the Greek ruling caste of Egypt.“256 Der Briefschreiber benennt zugleich – trotzig oder bedauernd? – eine entscheidende Ursache für die Distanz zwischen {Ellhnej und Aivgu,ptioi: Dass Einheimische das e`llhni,zein nicht beherrschen. Das e`llhni,zein benennt hier meines Erachtens ganz offensichtlich ein sprachliches Vermögen: Weil der Briefschreiber nicht ausreichend Griechisch kann, darum wird er benachteiligt und kann sich nicht zu seinem Recht verhelfen.257 – Den Widerspruch, dass einer, der von sich behauptet, nicht Griechisch zu können, einen griechischen Brief abfasst, braucht man nicht unbedingt durch die Annahme eines professionellen Schreibers aufzulösen;258 vielmehr wird man annehmen können, dass der Briefschreiber als bilingualer Nichtgrieche griechisch schreiben und auch sprechen konnte, freilich nicht fließend und mit einem auffallenden Akzent: „A native Greek speaker may scorn a non-native speaker of Greek as unable to speak it.“259 4.3.4.3 Belege für ~Ellhnisti, Gesetze, Erlasse, Verfügungen und Anordnungen des Königs, die bis ins kleinste Dorf veröffentlicht wurden, waren immer auf Griechisch abgefasst, doch wurden Übersetzungen angefertigt – allerdings oft mit dem Vermerk: „übersetzt so gut wie möglich.“260 Ebenso waren griechische Übersetzungen oder Inhaltsangaben ursprünglich demotisch verfasster Urkunden oder
256 WESTERMANN/KEYES/LIEBESNY, Zenon Papyri II, 17 (Nr. 66); vgl. BOWMAN, Egypt, 61: „Certainly in the Ptolemaic period there are striking signs of consciousness of the distinction (zwischen Einwanderern und Einheimischen, MZ).“ 257 Die Stelle wird in der Sekundärliteratur oft angeführt und e`llhni,zein auch meist im Sinne des sprachlichen Vermögens übersetzt bzw. interpretiert, vgl. etwa MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Statut, 258 („parce qu’il ne sait pas bien parler le grec“); BENGTSON, Eingeborenenbevölkerung, 139; GREEN, Alexander, 313 („because I can’t speak Greek“); gegen WESTERMANN/KEYES/LIEBESNY, Zenon Papyri II, 17. 20 (Nr. 66) (vgl. die zitierte Übersetzung); vgl. BOWMAN, Egypt, 61 – er übersetzt: „I do not know how to behave like a Greek.“ 258 Gegen AUSTIN, Hellenistic World, 418 (Nr. 245), A. 5: „The letter is written in Greek, but could have been the work of an interpreter.“ 259 HORSLEY, New Documents 5, 25 – mit Verweis auf ORRIEUX, Papyrus de Zenon, 132f. 260 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 448f.; zur Tätigkeit vieler Übersetzer vgl. GREEN, Alexander, 313. 315.
4.3 Ptolemäisches Ägypten
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Verträge gebräuchlich,261 wie zahlreiche Papyri belegen; auch sie weisen fast durchgehend die stereotype Wendung ~Ellhnisti. meqhrmhneume,nhj kata. to. dunato,n („übersetzt auf Griechisch so gut wie möglich“) auf.262 Daran wird deutlich, dass die griechische Sprache im ptolemäischen Ägypten immer größere Bedeutung auch im alltäglichen Zusammenleben von Einwanderern und Einheimischen bekommen hatte. 4.3.4.4 Beleg für einen ~Ellhnisth,j! Dass die griechische Sprache in Ägypten weit über die ptolemäische Epoche hinaus große Bedeutung behielt, führt ein Privatbrief aus dem 4. Jh. n.Chr. vor Augen: Ein Vater schreibt seinem Sohn Theognostos, eine weitere Person fügt die Bitte um einen Gefallen für dessen Bruder Ision an, weil dieser ein ~Ellhnisth,j geworden sei: „To my beloved son Theognostos, from …, greetings in God. If your brother Psais is with you, take heed (concerning) your sobriety and —“ (Ll. 11–21) „Greet all by name. Your brothers greet. I pray that you are all well in God, beloved (friends).“ (Second hand) „Send a well-proportioned and nicely executed ten-page notebook (pinaki,dion) for your brother Ision. For he has become a user of Greek (~Ellhnisth,j ga.r ge,gonen) and a comprehensive reader (kai. avnagnw,sthj sunagtiko,j).“263
Dieser ~Ellhnisth,j-Beleg – Hapaxlegomenon in den Papyri264 – verdient einige Aufmerksamkeit: ~Ellhnisth,j ist vor der Abfassung der Apostelgeschichte weder in der Profangräzität noch in der Septuaginta oder im jüdischen Schrifttum belegt, in den Jahrhunderten nach dem 1. Jh. n.Chr. erst wieder ab dem 4. Jh. n.Chr. 261 Vgl. BOWMAN, Egypt, 161: „And the common phenomenon of the demotic tax-receipt or contract with a Greek docket, or vice versa, shows how bureaucratic and social needs created an area of overlap within which both language groups could function.“ (docket = Inhaltsangabe) – Vgl. ebd., 124 u.ö. 262 Laut DDBDP (Duke Data Bank of Documentary Papyri 7 [1995]) – Recherche und freundliche Mitteilung von Univ. Prof. Dr. Bernhard Palme, Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (3. / 19.4.2001) – gibt es 18 Belege für ~Ellhnisti,, 12 bieten die formelhafte Wendung ~Ellhnisti. meqhrmhneume,nhj kata. to. dunato,n (Testament, Scheidungsurkunde, Anweisungen/Vollmachten, Kaufverträge usw.), zwei weitere eine ähnliche Formulierungen; ein Beleg enthält den Hinweis auf ~Ellhnisti, und Aivguptisti,, zwei Belege nur ~Ellhnisti,. 263 WORP, Kellis I, 178f. (Nr. 67); für den „Ersthinweis“ auf diese Stelle danke ich Dr. Andreas Retter, Institut für Sprachen und Literaturen, Abt. Gräzistik, Universität Innsbruck (27.3.2001). 264 Laut DDBDP (Duke Data Bank of Documentary Papyri 7 [1995]) – Recherche und freundliche Mitteilung von Univ. Prof. Dr. Bernhard Palme, Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek (3. / 19.4.2001) – ist dies der einzige Beleg für ~Ellhnisth,j in den Papyri. – Vgl. WORP, Kellis I, 179 A. 21: „~Ellhnistih,j (…) has apparently not yet occurred in the papyri.“
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4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
Die Belege von ~Ellhnisth,j ab dem 4. Jh. n.Chr. sind nun entweder Rückverweise auf die ~Ellhnistai, in der Apostelgeschichte in Predigten oder gelehrten Kommentaren, oder sie repräsentieren die gravierende Bedeutungsverschiebung von ~Ellhnisth,j zu einem Ausdruck für einen „Heiden“ bzw. Häretiker, wie der Abschnitt zur Nachgeschichte des Begriffs ~Ellhnisth,j gezeigt hat (2.7). Der vorliegende Privatbrief des 4. Jh. n.Chr. hingegen verwendet ~Ellhnisth,j weder mit Bezug auf die Apostelgeschichte, noch zur Kennzeichnung eines „Heiden“, das heißt im damaligen geistesgeschichtlichen Kontext: eines „Nichtchristen“;265 der Bedeutungsgehalt, den ~Ellhnisth,j hier annimmt, kommt der oben (2.6) rekonstruierten Grundbedeutung von ~Ellhnisth,j bemerkenswert nahe: Der Fokus des Begriffs ~Ellhnisth,j – so konnte ausgehend von der Analyse der Ausdrücke e`llhni,zein, ~Ellhnisti,, ~Ellhnismo,j in der Profangräzität bis in die Zeit des Neuen Testaments gezeigt werden – liegt auf dem Beherrschen der griechischen Sprache in Rede und Schrift. ~Ellhnisth,j hat konzentrierten sprachlichen Sinn: Es bezeichnet jemanden, der durch sein Griechischsprechen charakterisiert wird, dessen Griechischsprachigkeit aber nicht so selbstverständlich ist wie für einen autochthonen {Ellhn. ~Ellhnisth,j meint also einen griechischsprachigen Nichtgriechen, der Griechisch im Alltag (wie seine Muttersprache) verwendet.
Was nach dieser Rekonstruktion in erster Linie einen ~Ellhnisth,j ausmacht, ist auch bei dem im Brief ~Ellhnisth,j genannten Ision anzutreffen: sprachliches Vermögen – Beherrschen der griechischen Sprache in Rede und Schrift. Die Bitte an Theognostos, seinem (jüngeren) Bruder Ision ein Notizbuch zuzusenden, wird begründet: ~Ellhnisth,j ga.r ge,gonen kai. avnagnw,sthj sunagtiko,j. Legt schon die Erwähnung des pinaki,dion (Schreibtäfelchen266, hier: Notizbuch) nahe, ~Ellhnisth,j hier mit der Kenntnis der griechischen Sprache bzw. Schrift in Verbindung zu bringen, wird die sprachliche Konnotation des Begriffs ~Ellhnisth,j vollends durch die weitere Charakterisierung des Ision als avnagnw,sthj sunagtiko,j, also als „eines verständigen Lesers“267 deutlich. Ision ist also ein „Griechischkundiger“, einer, der griechisch schreiben und lesen kann.268 265 Der Name des Sohnes, Theognostos, könnte darauf deuten, dass der Verfasser des Briefes (dessen Name unlesbar ist) aus dem manichäischen Milieu stammt, vgl. WORP, Kellis I, 179 A. 2. 266 Vgl. GEMOLL, Wörterbuch, 606. 267 Vgl. WORP, Kellis I, 179 A. 21: Ebenso wie ~Ellhnisth,j „(…) the word sunaktiko,j seems to be new in the papyri (…); it is not quite clear what a ‚reader able to bring together‘ would mean precisely; we think that the wording must refer to an accomplished/comprehensive reader.“ – Vgl. GEMOLL, Wörterbuch, 706f. – sunaktiko,j ist im Brief fehlerhaft als sunagtiko,j geschrieben. 268 Zumal die Bitte um das Notizbuch von einer zweiten Hand dem Brief des Vaters hinzugefügt wurde, wäre vorstellbar, dass Ision selber diese Zeilen verfasste, um seine Griechischkenntnisse schriftlich zu demonstrieren.
4.3 Ptolemäisches Ägypten
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Der Privatbrief des 4. Jh. n.Chr. und die Belege in der Apostelgeschichte (6,1; 9,29; 11,20) stimmen in ihrem Sprachgebrauch hinsichtlich ~Ellhnisth,j also insofern überein, als ~Ellhnisth,j bzw. ~Ellhnistai, hier wie dort griechischsprachige Nichtgriechen bezeichnet, die Griechisch im Alltag wie ihre Muttersprache verwenden. Dass dieser Papyrus des 4. Jh. n.Chr. den Ausdruck ~Ellhnisth,j wie selbstverständlich zur Kennzeichnung eines griechischsprachigen Nichtgriechen verwendet, legt die Vermutung nahe, dass ~Ellhnisth,j über Jahrhunderte in dieser Bedeutung Teil der Alltagssprache gewesen sein könnte. Die oben (2.6) geäußerte Annahme, dass ~Ellhnisth,j eine bereits vor dem Neuen Testament gebräuchliche, gemeinsprachliche außerchristliche Vokabel zur Kennzeichnung griechischsprachiger Nichtgriechen war, die von der christlichen Urgemeinde und/oder dem Autor der Apostelgeschichte übernommen wurde, gewinnt durch diesen späten Beleg für den Begriff ~Ellhnisth,j noch höhere Plausibilität. 4.3.5 Zusammenfassung In Ägypten gab es zwar nur eine kleine Minderheit hellenisierter Einheimischer, doch eine relativ große Gruppe griechischer, makedonischer und hellenisierter orientalischer Einwanderer. Dass sie alle mit der Sammelbezeichnung {Ellhnej, die staatsrechtliche Bedeutung erlangte, benannt werden konnten, zeigt, dass {Ellhnej auch zur Kennzeichnung hellenisierter Orientalen dienen konnte. In den Papyri gibt es aufschlussreiche Belege für {Ellhn, e`llhni,zein, e`llhnisti,, ~Ellhnisth,j: In einem wichtigen Beleg ist {Ellhn Selbstbezeichnung eines Makedonen (Mitte des 2. Jh. v.Chr.), der, weil er Einwanderer ist, von Einheimischen schikaniert wird; {Ellhn war also nicht nur Fremdbezeichnung durch die Ägypter oder staatsrechtlicher Begriff für die Immigranten, sondern konnte auch Selbstbezeichnung für Griechen und Makedonen (und wahrscheinlich auch hellenisierte Orientalen) sein. Der bislang einzige Beleg für e`llhni,zein in den Papyri (Mitte des 3. Jh. v.Chr.) hingegen zeigt auf, wie ein Orientale, der dieses e`llhni,zein – damit dürfte allem Anschein nach das geläufige Griechischsprechen gemeint sein – nicht beherrschte, Nachteile und schlechte Behandlung in Kauf nehmen musste. e`llhnisti, kommt in Urkunden, Verträgen etc. vor und macht meist auf die Übersetzung vom Demotischen ins Griechische aufmerksam. Damit erhalten wir nicht nur Einblick in die Notwendigkeiten der Verwaltung, sondern auch in das vielfach bilinguale Milieu in Ägypten. Besondere Bedeutung kommt dem einzigen Beleg für ~Ellhnisth,j in den Papyri zu, einem auf Papyrus erhaltenen Privatbrief (4. Jh. n.Chr.): Eindeutig ist hier mit dem Begriff „Hellenist“ der Sohn einer ägyptischen
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4. Griechischsprachige Nichtgriechen im paganen Bereich
Familie (Ision), also ein Nichtgrieche gemeint, der nach entsprechendem Unterricht Griechisch in Sprache und Schrift beherrschte. Dieser Beleg verdeutlicht: Zur Zeit des Johannes Chrysostomos war die Bedeutung „Griechischsprechender“ für „Hellenist“ durchaus noch gebräuchlich. Chrysostomos nahm also nicht nur zur etymologischen Erklärung Zuflucht, die „Hellenisten“ in Apg 6,1 seien „Griechischsprechende“, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, es seien – wie es der Sprachgebrauch des 4. Jh. n.Chr. auch nahelegen hätte können – Heiden oder Häretiker gemeint. Johannes Chrysostomos kann auf eine zur Zeit der Apostelgeschichte ebenso wie zu seiner Zeit geläufige, ja sogar im Vordergrund stehende Konnotation des Begriffes ~Ellhnisth,j zurückgreifen, und damit völlig zutreffend die grundlegende Bedeutung des Begriffes in Apg 6,1; 9,29 erklären.269 Da der Begriff ~Ellhnisth,j in dem Privatbrief des 4. Jh. n.Chr. nicht im jüdischen oder judenchristlichen Kontext wie in Apg 6,1; 9,29 verwendet wird, ist außerdem deutlich, dass ~Ellhnisth,j eben nicht nur den griechischsprechenden Juden kennzeichnete, sondern eine allgemein gebräuchliche Bezeichnung für griechischsprachige Nichtgriechen war, und damit auch in Apg 11,20 als Bezeichnung für griechischsprachige, hellenisierte Syrer in Antiochia dienen konnte, die als „Heiden“ bzw. als „Gottesfürchtige“, das heißt als heidnische Sympathisanten der dortigen jüdischen Gemeinde, Adressaten der christlichen Missionspredigt waren.
269 Gegen BICHLER, Hellenisten, 19 (mit A. 22): Im 4. Jh. n.Chr. „(…) kehrt der Ausdruck Hellenisten – begreiicherweise – in gelehrten Kommentaren wieder, angefangen bei den Homilien des Johannes Chrysostomos. Und bereits dort erscheint er als erklärungsbedürftig. Denn der mittlerweile mit dem Ausdruck verbundene Bedeutungsgehalt eines spezischen, besonders von griechisch gebildeten Eliten verfochtenen Heidentums passt offensichtlich nicht, um die Stellen der Apostelgeschichte recht zu erfassen. So nahm bereits Johannes Chrysostomos zu jener etymologisch inspirierten Erklärung Zuucht, die seither die Grundlage der herrschenden Interpretation bildet: ~Ellhnista.j de. oi=mai kalei/n( tou.j ~Ellhnisti. fqeggome,nouj\ ou-toi ga.r ~Ellhnisti. diele,gonto ~Ebrai/oi o;ntej (…).“ (vgl. oben, Kap. 1)
Kapitel 5
„Hellenisten“ im jüdischen Bereich: Griechischsprachige Juden 5.1 Griechischsprachigkeit und Hellenisierung im Judentum – eine Einführung Die vorangehenden Abschnitte führten an Beispielen aus Rom, Syrien und Ägypten vor Augen, wie die Begegnung von Griechen und Indigenen und die Hellenisierung, vor allem die Übernahme griechischer Sprache, Kultur und Bildung durch Nichtgriechen, im paganen Bereich vor sich ging. Der folgende – für diese Forschungsarbeit zentrale – Abschnitt wird sich mit der Begegnung von Griechen und Juden und mit der Hellenisierung von Juden befassen, mit dem Kulturphänomen der „Hellenisten“ im jüdischen Bereich, d. h. mit griechischsprachigen Juden, die zwischen dem 4./3. Jh. v.Chr. und dem 1./2. Jh. n.Chr. in unterschiedlichem Ausmaß griechische Kultur und Bildung übernahmen. Schon für das Studium der Begegnung zwischen Griechen und Indigenen im Rahmen der Geschichtswissenschaft kommt diesen jüdischen „Hellenisten“ besondere Bedeutung zu,1 vor allem aber für die Geschichte des Urchristentums, an dessen Wiege solche griechischsprachigen Juden standen,2 wie aus der Apostelgeschichte (v.a. Apg 6,1; 9,29) hervorgeht. Für die Begegnung von Griechen und Juden – ihre Vorgeschichte reicht in mykenische Zeit (2. Jt. v.Chr.) zurück3 – war eine entscheidende Voraussetzung die geographische Nähe: „The foci of these two great civilizations of antiquity, that of the Greeks in Greece and Asia Minor and that of the Jews in the Land of Israel, are geographically close to each other (…).“4 Griechenland und Palästina gehörten letztlich zu einem einheitlichen Kulturraum, der von Ägypten über den fruchtbaren Halbmond Syriens und
1
Vgl. GEHRKE, Hellenismus, 180. Vgl. den Titel eines Aufsatzes von Nikolaus WALTER: „Hellenistische Diaspora-Juden an der Wiege des Urchristentums“. 3 Vgl. HENGEL, Begegnung, 153. 4 FELDMAN, Jew, 416. 2
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
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Mesopotamiens über Kleinasien bis in die Ägäis reichte.5 Die vielfachen Verbindungslinien innerhalb dieses Kulturraums verdeutlichen, dass die Geschichtswissenschaft die Unterscheidung von „klassischer Antike“ und „Altem Orient“, besonders den Gegensatz von Griechentum bzw. Hellenismus und Judentum oft zu grundsätzlich aufgefasst hat.6 Die weithin das Bewusstsein bestimmende Unterscheidung, ja strikte Abgrenzung zwischen Hellenismus und Judentum geht auf den Autor des 2. Makkabäerbuches zurück, der zum ersten Mal den Begriff ~Ellhnismo,j im umfassenden kulturellen Sinn gebraucht und VIoudai?smo,j als Kontrastbegriff dazu einführt. Sie „(…) may itself be a product of particular moments of identity construction when ‚the Jews saw themselves as diametrically opposed to what the Greeks stood for in the broadest sense‘ (…)“7. Dementsprechend wurde oft der Eindruck vermittelt, dass sich das jüdische Volk als solches gegen die Hellenisierung zur Wehr setzte; dem war aber keineswegs so, vielmehr rief die Begegnung mit dem Hellenismus im Judentum unterschiedlichste Reaktionen hervor – von der Abwehr hellenistischer Einflüsse bis zur Inanspruchnahme griechischer Kulturgüter quasi mittels „interpretatio Iudaica“;8 sie „(…) führte zu intensiver Anziehung und Abstoßung, Einflussnahme und Auseinandersetzung, Assimilation und erbitterter Feindschaft“9. In vielen Bereichen jedenfalls zog die Begegnung mit dem Hellenismus bzw. Griechentum eine Hellenisierung des Judentums nach sich, eine Durchdringung durch die hellenistische Weltzivilisation. Wie bei anderen Völkern förderten auch bei den Juden berufliche und private Kontakte mit Griechen und Hellenisierten die Hellenisierung. Die als überlegen geltende Kultur, ihre Sprache, Literatur und ihr Denken anzunehmen, schien – vor allem führenden Schichten – notwendig für die politisch-wirtschaftliche und geistig-religiöse Selbsterhaltung des Judentums.10 Über Grad und Reichweite der Hellenisierung des Judentums, insbesondere in Palästina, gehen die Meinungen auseinander,11 Louis H. Feldman 5
Vgl. HENGEL, Begegnung, 153f. HENGEL, Judaism, 12 spricht von einer eklektischen griechisch-ägyptisch-asiatischen Kultur, die vom Nildelta bis Kilikien reichte. 6 Vgl. MAIER, Judentum, 164; MAIER, Grundzüge, 36; COLLINS, Cult, 38 verweist auf Erich Gruen, der sich gegen eine Überbetonung des Gegensatzes Judentum – Hellenismus aussprach. 7 JONES, Identities, 48; zu 2 Makk vgl. unten 5.4.2.3.2 (c). 8 Vgl. GRUEN, Perspectives, 77. 79. 81ff.; KÖSTER, Einführung, 99. 9 HENGEL/LICHTENBERGER, Hellenisierung, 309. 10 Vgl. HENGEL, Judentum, 4; HENGEL, Problem, 51; HENGEL, Juden, 86. 11 LEVINE, Judaism, 3–15 bietet einen hervorragenden Überblick über die Forschungsgeschichte zu Judentum und Hellenismus; ebd., 16–32 präsentiert Levine Denitionen von
5.1 Hellenisierung im Judentum: Einführung
91
und Martin Hengel etwa kommen von denselben historischen Belegen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Louis H. Feldman mahnt wiederholt davor, aus historischen Dokumenten allzu weitreichende Rückschlüsse auf die Hellenisierung von Juden zu ziehen. Er setzt den Einfluss des Hellenismus auf das Judentum, insbesondere in Palästina, gering an: Lokale Traditionen hätten fortbestanden, die griechische Sprache sei wenig verbreitet, die Hellenisierung oberflächlich und griechischer Einfluss im täglichen Leben kaum merkbar gewesen.12 Für Martin Hengel hingegen liegt auf der Hand, dass die Hellenisierung das palästinische Mutterland beinahe ebenso wie die Diaspora und fast alle Schichten und Gruppen des jüdischen Volkes erfasste – selbst solche, die in Opposition zum Hellenismus standen, wie Vertreter der Weisheit, der Apokalyptik oder der jüdisch-hellenistischen Apologetik. So kommt er zum Resümee: „Aufs Ganze gesehen kann man darum das Judentum der hellenistisch-römischen Zeit im Mutterland wie in der Diaspora als ‚hellenistisches Judentum‘ bezeichnen.“13 Selbst wenn man die von Feldman zu Recht geforderte Zurückhaltung bei der Interpretation historischer Belege für die Hellenisierung von Juden im Blick behält: Die Fülle geschichtlicher Zeugnisse für die Übernahme griechischer Sprache, Kultur und Bildung durch Juden in Palästina und in der Diaspora machen die im obigen Zitat knapp zusammengefasste Grundthese Hengels, dass das Judentum weithin hellenistisch beeinflusst war, sehr plausibel. Man wird besonders im Hinblick auf die Hellenisierung eine prinzipielle Antithese zwischen einem universalistischen, liberalen Diasporajudentum und einem partikularistischen, gesetzestreuen palästinischen Judentum14 nicht aufrechterhalten können,15 denn in der Übernahme hellenistischer Kultur gab es nur graduelle Unterschiede zwischen dem Judentum Pa-
Hellenismus und Hellenisierung und bespricht Faktoren, die zur Hellenisierung beitrugen. Eine Zusammenfassung zu den Positionen von Hengel, Feldman etc. ndet sich auch bei RAJAK, Location, 7ff. 12 Vgl. FELDMAN, Jew, passim, bes. 6. 13f. 39. 42. Feldman als jüdischer Wissenschaftler stellt das jüdische Palästina als toratreu und gegen hellenistischen Einuss resistent dar. 13 HENGEL, Juden, 174f. (Hv bei Hengel); HENGEL, Begegnung, 153; HENGEL, Judentum, 459. 14 Eine solche Antithese vertrat vielfach die ältere Forschung, vgl. KRÜGER, Hellenismus, 17: „Umso stärker ließen die Juden in der griechischen Zerstreuung den Hellenismus auf sich wirken. Hier bildete sich ein freier gerichtetes, nicht mehr sklavisch ans Gesetz gebundenes Judentum.“ 15 Vgl. AMIR, Mitte, 221.
92
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
lästinas und der Diaspora:16 Beide waren der väterlichen Religion, ihren Glaubensaussagen, ihrem Gottesdienst und Gesetz treu geblieben;17 beide hatten sich erfolgreich mit der hellenistischen Zivilisation auseinandergesetzt und sich ihr gegenüber behaupten können.18 Schließlich darf nicht übersehen werden, dass es innerhalb des palästinischen wie auch innerhalb des Diasporajudentums sehr unterschiedliche Arten des Umgangs mit der hellenistischen Kultur gab: „In place of such a dichotomy between ‚normative‘ and ‚Hellenized‘ Judaism, between ‚homeland‘ and ‚Diaspora‘, a new consensus has emerged that emphasizes the diversity of Judaism and Jewish culture in both the region of Palestine and the Diaspora, and the active and productive nature of the encounter between Jewish and Hellenistic culture.“19 Jedenfalls waren die meisten Charakteristika für die Verbreitung hellenistischer Kultur – Griechen wohnen in nichtgriechischem Gebiet, Nichtgriechen übernehmen griechische Sprache und Bildung (vor allem Philosophie und Literatur), Personennamen, Bildungsinstitutionen und politische Gremien, Kunst und Architektur20 – sowohl im palästinischen wie im Diasporajudentum anzutreffen; durch die Begegnung mit dem Hellenismus war im Judentum eine hybride Kultur entstanden: „(…) the external garb – speech, nomenclature, and architecture – was generally Greek; the content – religious customs, art, opinion and Weltanschauung – remained oriental in origin.“21 Im Vergleich mit anderen orientalischen Gesellschaften wählte das Judentum allerdings besonders sorgfältig aus, „(…) was an griechischen Kulturfertigkeiten als brauchbar für die eigenen Zwecke oder ungefährlich für die eigene Identität übernommen wurde (…)“, so konnte „(…) sich trotz umfangreicher Hellenisierungsprozesse die einheimische Identität in ungebrochener Traditionslinie behaupten (…), zwar gewandelt, aber auch gestärkt.“22 Von einer Synthese von Judentum und Hellenismus wird man
16 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 344f. Vgl. DELLING, Begegnung, 37f.: „Tatsächlich ereigneten sich in beiden Bezirken, dem palästinischen und dem der Diaspora, Aufnahme und Ablehnung des Hellenistischen in verschiedenem Grade und auf verschiedene Weise.“ 17 Vgl. DELLING, Begegnung, 38; RIESNER, Hellenismus: ELThG 2 (1993), 893. 18 Vgl. DELLING, Begegnung, 37f.; HENGEL, Problem, 85. 153. 19 JONES, Identities, 29f. 20 Vgl. GOLDSTEIN, Acceptance, 6f.; Barclay, Jews, 88ff. 21 TCHERIKOVER, Civilization, 116 (Hv bei Tcherikover). HENGEL, Judentum, 4 führt als weitere Denition für „Hellenisierung“ die Verschmelzung jüdischer Vorstellungen und griechischer Form an, für die Oskar Spengler den Begriff ‚Pseudomorphose‘ prägte. 22 GERBER, Hellenisierung: DNP 5 (1998), 301. Vgl. MAIER, Grundzüge, 7: „Die Juden stellten also in der Spätantike bemerkenswerte Beispiele sowohl für vorderorientalisch
5.1 Hellenisierung im Judentum: Einführung
93
also nur bedingt sprechen können, vielmehr wird man Arten und Grade der Hellenisierung innerhalb des Judentums differenzieren müssen. John Barclay entwirft ein in dieser Hinsicht luzides Modell: Er unterscheidet Assimilation, Akkulturation und Akkomodation – unter Assimilation versteht er die soziale Integration in die hellenistisch geprägte Umwelt, unter Akkulturation die Übernahme von Sprache, Bildung und hellenistischen Kulturgütern, unter Akkomodation die Weise, wie Akkulturation verwendet, d. h. mit welcher Einstellung oder Absicht hellenistische Kultur gebraucht wurde – und macht deutlich, dass die Hellenisierung des Judentums aufgrund unterschiedlicher Ausprägung von Assimilation, Akkulturation und Akkomodation und aufgrund des Wechselspiels dieser Faktoren ein vielgestaltiges Kulturphänomen war.23 Barclays Analyse ist besonders bei der Frage im Auge zu behalten, wie weit die Hellenisierung des Judentums den religiösen Bereich betraf. Dass es im monotheistischen Judentum „(…) keine Möglichkeit eigentlicher Assimilierung im zentralen religiösen Bereich“24 und keine interpretatio Graeca zentraler Glaubensinhalte gab, dennoch eine unbefangene Aneignung hellenistischer Kultur (Akkulturation), war nur möglich, weil man im Judentum zwischen hellenistischer Kultur und hellenistischem Kult unterschied: „(…) the most striking thing about the Jewish encounter with Hellenism, both in the Diaspora and in the land of Israel, was the persistence of Jewish separatism in matters of worship and cult. There was a limit to Hellenization, which is best expressed in the distinction between cult and culture.“25 Im Judentum gab es zwar verschiedene Ansichten hinsichtlich der Trennlinie zwischen hellenistischer Kultur und hellenistischem Kult, und es lässt sich nicht jeder Einfluss hellenistischer Religiosität auf das Judentum oder einzelne Juden leugnen: Man verwendete etwa theophore heidnische Naverwurzelte Kontinuität einerseits wie eine gelungene Assimilation an die hellenistischrömische Kultur andererseits dar.“ Zu den Gesellschaften, in denen die Übernahme griechischer Kulturfertigkeiten genau geprüft wurde, gehörte auch Rom, vgl. GOLDSTEIN, Acceptance, 8–11. 31f. 23 Vgl. BARCLAY, Jews, 87f. 92–102, bes. 93 (Figure 1: Assimilation). 95 (Figure 2: Acculturation). 97 (Figure 3: Accomodation). 24 DELLING, Begegnung, 22; vgl. HENGEL, Problem, 87. 25 Vgl. COLLINS, Cult, 55. Vgl. MAIER, Grundzüge, 17: Vielleicht brachte die „(…) Hellenisierung der syrischen Kulte der unmittelbaren nichtjüdischen Umgebung (…) die hellenistische Kultur für jüdisches Empnden (…) in Misskredit“ und war warnendes Beispiel gegen eine Hellenisierung der jüdischen Religion. Nach AMIR, Einüsse, 150f. war die Übernahme hellenistischer Kultur durch Juden möglich, weil im Hellenismus im Unterschied zu altorientalischen Religionen der Kult im Hintergrund des Lebenszusammenhangs stand, es halbsäkularisierte Räume gab.
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
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men, griechische Götternamen in Gedichten, magischen oder gesetzlichen Formeln,26 und war selbst in der zentralen Frage des Monotheismus um des Zusammenlebens mit hellenisierten Heiden willen bisweilen kompromissbereit,27 wie Ex 22,27 LXX (qeou.j ouv kakologh,seij: „Du sollst die Götter nicht verächtlich machen“)28, oder die Gleichsetzung von JHWH und Zeus im Aristeasbrief29 zeigen.30 Dennoch bewies das Judentum in Palästina und in der Diaspora in der Bewahrung seines religiösen Erbes große Stärke.31 Man wird nicht übersehen dürfen, dass das antike Judentum gerade durch ein Phänomen, das Barclay als Akkomodation beschreibt und Hengel zu Recht betont, nämlich „(…) durch die Aufnahme und intensive Verarbeitung fremder Ideen (…) die innere Kraft (gewann), dem Sog der fremden und verführerischen Zivilisation zu widerstehen und selbst im fremden Sprachgewand und in Verbindung mit neuen Denk- und Ausdrucksformen das ihm anvertraute religiöse Erbe zu bewahren (…).“32 Das Judentum hat also nicht trotz, sondern eher aufgrund der Begegnung mit der hellenistischen Kultur in vielen Bereichen eine bedeutende Entwicklung erfahren, auch in seinem Selbstverständnis als Religion bzw. religiöse Gemeinschaft.33
26
Vgl. BARCLAY, Jews, 90f.; ebd., 83–86 macht die Schwierigkeit bewusst, vor der Zeit des rabbinischen Judentums normatives Judentum gegenüber „Deviation“ und „Apostasie“ zu denieren. 27 TCHERIKOVER, Civilization, 352: „The outcome of this desire to live with the Greeks, and to discover a synthesis (…), was that even on the central question which divided the two cultures, that of monotheism and polytheism, Jews were prepared to compromise. The Jewish attitude to polytheism was always negative in principle, but not consistently aggressive.“ 28 LXX übersetzt den auf den Gott Israels bezogenen Namen Elohim Ex 22,27 mit dem Plural „Götter“ und versteht deshalb das Gebot, Gott nicht zu schmähen, als Weisung, die Götter der Heiden nicht lächerlich zu machen. Auch Philo und Josephus greifen diese Übersetzung des Gebotes Ex 22,27 sinngemäß auf: Vgl. Philo, Mos 2.203ff.: vgl. COHN I (1962), 344f. mit A. 1; spec 1.53: vgl. COHN II (1962), 25 mit A. 4; vgl. Josephus, Ap 2.237 (2.33): vgl. THACKERAY I (1966), 388f. mit A. a; Josephus, Ant 4.207 (4.8.10): vgl. THACKERAY IV (1967), 560f. 29 Vgl. Aristeas 16: vgl. MEISNER (1973), 47f. 30 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 352 mit A. 42–45; dort auch weitere Beispiele. 31 FELDMAN, Jew, 420: „Judaism (…) proceeded from a position of strength and condence. It had encountered Hellenism (…) and had successfully resisted the attractions of paganism.“ 32 HENGEL, Juden, 174f.; vgl. HENGEL, Judaism, 10. 33 Vgl. BARCLAY, Jews, 403: „(…) it became possible to dene Judaism not simply as an ancestral trait, but also as a ‚mode of life‘ which could be voluntarily adopted or abandoned. This change came about partly under the inuence of Hellenism. (…) it was
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
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Die folgenden Ausführungen nehmen nach einem Überblick über die Geschichte der Begegnung des Judentums mit dem Hellenismus (5.2) und einem Exkurs zur Begegnung mit den Griechen im Spiegel biblischer Texte (5.3) die Griechischsprachigkeit und die Hellenisierung von Juden in der Diaspora in Ägypten (5.4.1), der Kyrenaika (5.4.2), in Syrien (5.4.3), Kleinasien (5.4.4) und auf Zypern (5.4.5) und im palästinischen Mutterland, insbesondere in Jerusalem (5.5), in den Blick.
5.2 Die Begegnung des Judentums mit dem Hellenismus – ein geschichtlicher Überblick 5.2.1 Die vorhellenistische Zeit Die Vorgeschichte der Begegnung von Griechen und Juden reicht wenigstens bis ins 10. Jh. v.Chr. zurück. Seit dieser Zeit kamen Griechen als Seeleute, Händler und Söldner nach Palästina, was Funde griechischer Keramik, Terrakotten und Münzen belegen,34 und sich unter anderem darin zeigt, dass David Kreter35 und später Josia Kittim als Söldner einsetzte.36 Die kulturelle Begegnung mit dem frühen Hellenismus ging in Palästina dem Alexanderzug lang voraus, weil Philister und vor allem Phönizier schon früh als Vermittler griechischer Kulturgüter auftraten.37 Das entstehende Judentum nahm in dieser Epoche keine nennenswerte Abwehrhaltung gegenüber dem Hellenismus ein. Namentlich in der persischen Periode (539–332 v.Chr.) lassen sich auch im jüdischen Palästina „(…) in manchen Bereichen bereits die Kennzeichen des sogenannten ‚Hellenismus‘ erkennen (…), also jener internationalen Tendenz, die (…) die überkommenen Kulturen, Zivilisationen und sozialen Strukturen zwar mehr oder minder tiefreichend griechisch überprägte, aber inhaltlich weitgehend weiterführte“38.
possible for Hellenized Jews to portray Judaism also as a pattern of life, a politeia, rather than simply a trait determined by genealogy.“ 34 Vgl. MOMIGLIANO, Juden, 28; FELDMAN/REINHOLD, Life, 1; HENGEL, Juden, 12. 35 Vgl. 2 Sam 8,18; 1 Chr 18,17; 2 Sam 15,18; 20,23. Die Kereter, Nachbarvolk der Philister (1 Sam 30,14; Ez 25,16; Zef 2,5), stammten möglicherweise aus Kreta bzw. dem ägäischen Raum. 36 Vgl. HENGEL, Judentum, 21f. Bei Arad gefundene Ostraka deuten auf eine Grenztruppe, der „Kittim“ (aus Zypern bzw. dem ägäischen Raum) angehörten. 37 Vgl. ausführlich HENGEL, Judentum, 61–67; HENGEL, Juden, 45f.; HENGEL, Begegnung, 153f.; zu den Philistern vgl. MAIER, Judentum, 162f. 38 MAIER, Zwischen, 35; vgl. HENGEL, Judentum, 7; HENGEL, Judaism, 12f.
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5.2.2 Die Alexanderzeit Alexander und sein Siegeszug konnten von jüdischen Zeitgenossen als Wende zur messianischen Zeit gedeutet werden.39 Auch in späteren jüdischen Quellen wie der hellenistisch-jüdischen Alexanderlegende überwog das positive Image des Makedonenkönigs, doch gab es auch Kritik am Welteroberer.40 Während die Alexanderhistoriker Arrian, Diodor, Plutarch und Curtius an Palästina nicht interessiert waren, berichtet Josephus von einem Besuch Alexanders in Jerusalem, bei dem er den Juden gestattete, nach ihren Gesetzen zu leben.41 Historisch dürfte daran zutreffen, dass Alexander dem jüdischen „Tempelstaat“ Autonomie zugestand;42 die legendarische Ausschmückung der Begegnung Alexanders mit dem Hohenpriester und dem Volk bezeugt ein „(…) jüdisches Interesse an einer positiven Darstellung des Verhältnisses zum Begründer des ‚griechischen‘ Weltreiches, den die späteren Herrscher als ihr Vorbild betrachteten. Es stand damit nämlich auch der Status der Juden zur Diskussion (…)“43. Eine Hellenisierungspolitik Alexanders, wie sie später Plutarch idealisiert darstellt, ist historisch kaum greifbar, erst recht nicht in einem „Randgebiet“ wie Palästina. Die Initiative zur „Hellenisierung“ wird im jüdischen Palästina – wie auch sonst im Orient – von Einzelnen ausgegangen sein, doch fehlen dazu aus der Alexanderzeit historische Belege;44 am unmittelbarsten waren wohl jüdische Söldner in Alexanders Heeren mit der hellenistischen Kultur konfrontiert und von ihr beeinflusst.45 5.2.3 Die Diadochenzeit Am Beginn der Diadochenzeit46 war ein für die jüdische Geschichte entscheidendes Datum die Eroberung Jerusalems durch Ptolemaios I. (312 39
Vgl. Sach 9,1–8. Vgl. Dan 8,5–21; 11,3f.; 1 Makk 1,1–9. Vgl. MAIER, Grundzüge, 16; HENGEL, Juden, 20. 23f. 41 Vgl. Josephus, Ant 11.325–339, bes. 338 (11.8.4–6). 42 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 41–50; HENGEL, Juden, 15–24. 43 MAIER, Zwischen, 144. 44 Vgl. HENGEL, Juden, 75. 104; TCHERIKOVER, Civilization, 52. 45 Vgl. die Hinweise bei Josephus, Ant 11.339 (11.8.5); Bell 2.487ff. (2.18.7). Vgl. HENGEL, Judentum, 27 mit A. 82; FELDMAN/REINHOLD, Life, 3ff. (Texte 1.2 und 1.3). – Nach HENGEL, Begegnung, 156 hatten jüdische Söldner große Bedeutung für das palästinische Judentum, da sich viele nach ihrem Militärdienst als „Rückwanderer“ wieder in Palästina niederließen. 46 Da profangriechische Historiker für die Diadochenzeit mit wenigen Ausnahmen (Theophrast, Megasthenes, Hekataios von Abdera) nicht auf die Juden Bezug nehmen (vgl. 40
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
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v.Chr.).47 Die in ihrem Gefolge nach Ägypten deportierten, teils freiwillig ausgewanderten Juden waren Grundstock für eine bedeutende jüdische Diaspora, die rasch hellenisiert wurde,48 und es begann damit die mehr als hundertjährige ptolemäische Herrschaft in Palästina.49 Die Ptolemäer ließen dem jüdischen Tempelstaat eine gewisse Autonomie, sicherten jedoch Palästina durch Städtegründungen und Besatzungstruppen militärisch und gliederten es durch Einführung eines Pacht- und Steuersystems und Förderung verschiedener Wirtschaftszweige in ihre Staatswirtschaft ein.50 „Im Zusammenhang mit jener verwaltungstechnischen und wirtschaftlichen Erschließung Palästinas wird auch der eigentliche Hellenisierungsprozeß eingesetzt haben.“51 Dass dieser Hellenisierungsprozess bereits im 3. Jh. v.Chr. nicht nur pagane52, sondern auch jüdische Bewohner Palästinas erfasste, zeigen die Zenonpapyri: Die Sammlung von Papyri des Zenon, der 260–258 v.Chr. im Auftrag des ptolemäischen Finanzministers Apollonios Palästina und Phönizien bereiste, beinhaltet Korrespondenz in griechischer Sprache,53 unter anderem Briefe des jüdischen Magnaten Tobias, Befehlshaber der ptolemäischen Militärkolonie in Transjordanien, an Apollonios und König Ptolemaios II. Philadelphos (283–246 v.Chr.),54 die von einem Sekretär in griechischem Stil mit paganen Formeln (z.B. pollh. ca,rij toi/j qeoi/j) abgefasst wurden. Die Briefe lassen Rückschlüsse auf die Hellenisierung des Tobias zu: Er war Exponent der jüdischen Oberschicht, die die Ptolemäer stützte und eine Integration in die hellenistische Zivilisation anstrebte und deshalb in Konflikt mit den Toratreuen in Palästina geriet.55 Auch Tobias’ HENGEL, Juden, 30), sind Quellen für die jüdische Geschichte dieser Epoche Josephus, Ant 12.1–236 (12.1.1–12.4.11), sowie der Aristeasbrief und die Zenonpapyri. 47 Vgl. Josephus, Ant 12.4–6 (12.1.1); Ap 1.208–211 (1.22). 48 Vgl. Josephus, Ant 12.7–9 (12.1.1); vgl. Aristeasbrief 4. 12ff. 23: vgl. MEISNER (1973), 45ff. 49. 49 Vgl. MAIER, Grundzüge, 20; HENGEL, Juden, 33. 117–120. 50 Vgl. HENGEL, Judentum, 25–31. 36–51. 68. 85ff.; ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 274– 278; MAIER, Grundzüge, 21; HENGEL, Juden, 155. 51 HENGEL, Judentum, 10. 52 Vgl. HENGEL, Judentum, 26. 84; HENGEL, Juden, 41; zu den Grabepigrammen und -malereien in Gaza, Sidon und Marisa und den Ostraka aus Hirbat-al-Kom (ca. 277 v.Chr.), die auf ein kulturell gemischtes Milieu in Palästina bereits im 3. Jh. v.Chr. deuten. 53 Vgl. HENGEL, Judentum, 76–83. 92f.; HENGEL, Juden, 38–42. 120. 155; MAIER, Grundzüge, 21; ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 277f. mit A. 149 (III, 1161f.). Aus Zenons Korrespondenz sind ca. 2000 Dokumente erhalten, 40 mit Bezug auf Syrien und Phönizien. 54 Vgl. CPJ I, 125–129 (Nr. 4 und 5); DEISSMANN, Licht, 128f.; FELDMAN/REINHOLD, Life, 23f. (Text 2.4). 55 Vgl. HENGEL, Judentum, 92–105; TCHERIKOVER, Civilization, 71; FOHRER, Geschichte, 220f.
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Sohn Joseph und sein Enkel Hyrkan praktizierten eine weitgehende Öffnung gegenüber der hellenistischen Kultur – Josephus widmet ihnen im romanhaften Tobiadenbericht56 breiten Raum57 und hebt bei Joseph, Generalsteuerpächter für Palästina (240–218 v.Chr.), hervor, „(…) (he) had been an excellent and high-minded man and had brought the Jewish people from poverty and a state of weakness to more splendid opportunities of life (…)“58. Mag die Hellenisierung der Tobiaden59 auch nur für die jüdische Oberschicht und nicht für die breiten Massen im jüdischen Palästina repräsentativ gewesen sein,60 die „(…) durch den Tobiaden Joseph eingeleitete Entwicklung ließ sich nicht aufhalten“61. Die Ptolemäerzeit wurde in der jüdischen Literatur unterschiedlich beurteilt: Ein positives Bild zeichnen der Tobiadenroman des Josephus62 und der Aristeasbrief; die negativen Folgen wie Geldgier der Oberschicht, Ausbeutung der Armen und Lockerung des Lebensstils kritisieren vor allem Kohelet und einige Proverbien;63 dennoch war diese Epoche, in der „(…) die erste Begegnung zwischen Hellenismus und Judentum stattfand (…), die Fronten zwischen Griechen- und Judentum noch nicht verhärtet waren (…)“64, entscheidend für die weitere Entwicklung des Judentums und seiner Hellenisierung. Der Machtwechsel von den Ptolemäern zu den Seleukiden, der sich nach dem Sieg Antiochos’ III. des Großen (223–187 v.Chr.) 198 v.Chr. bei Pa56 Laut TCHERIKOVER, Civilization, 126–130 hat der Bericht trotz legendarischer Züge einen historischen Kern, und es ist möglich, die tatsächliche Chronologie zu rekonstruieren. 57 Vgl. Josephus, Ant 12.160–236 (12.4.2–11). Zu Joseph vgl. Ant 12.160–195 (12.4.2– 6); 12.223f. (12.4.10); zu Hyrkan vgl. Ant 12.196–222 (12.4.7–9). 58 Josephus, Ant 12.224 (12.4.10): MARCUS VII (1966), 112f. Vgl. HENGEL, Juden, 48– 52; TCHERIKOVER, Civilization, 131–134. 142; HENGEL, Judentum, 489–501, bes. 491; MAIER, Zwischen, 147. Zu Hyrkan vgl. HENGEL, Juden, 59; TCHERIKOVER, Civilization, 135–139. 59 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 140: Die Tobiaden „(…) cannot be reckoned among the deliberate Hellenizers who sought Hellenism through a thoroughly prepared and premeditated program. Their Hellenism was the outcome of imitation; they were the rst Jews to maintain frequent contact with the Greeks (…).“ 60 Vgl. HEGERMANN, Judentum, 330; FELDMAN, Jew, 417. 61 HENGEL, Judentum, 494. 62 Vgl. Josephus, Ant 12.171ff.; 12.176ff.; 12.185; 12.207; 12.214ff. (12.4.3–5). 63 Vgl. HENGEL, Judentum, 55–61. 98–106; zu Kohelet vgl. ebd., 210–240; HENGEL, Juden, 50f. 167f. Vgl. z. B. Koh 4,1; 5,7–10; Spr 5,3ff.; 7,10ff. – KRÜGER, Hellenismus, 16ff. weist mit Friedlaender darauf hin, dass sich „(…) bereits in vielen alttestamentlichen Psalmen seit Ende des 4. Jahrhunderts der Kampf zwischen der alten Frömmigkeit und (…) dem Hellenismus“ spiegle und sich hellenistischer Einuss in den Sprüchen Salomos, in Hiob und Kohelet zeige. 64 HENGEL, Judentum, 20; vgl. HENGEL, Juden, 35.
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
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neion vollzog und im Vorfeld unter den jüdischen Autoritäten zur Spaltung in eine proptolemäische und proseleukidische Partei geführt hatte,65 zog keine verstärkte Hellenisierung Palästinas nach sich.66 Da eine kulturelle Einheit der hellenistischen Welt nicht im Gesichtsfeld der Seleukiden lag, verfolgten sie keine programmatische Hellenisierungspolitik.67 Besonders Antiochos III., erster seleukidischer Landesherr Palästinas, „(…) had no intention of changing the traditional way of life of Judaea by imposing Greek tendencies“68. Im Gegenteil: Er kam den Juden entgegen, um die Sympathie der neuen Untertanen zu gewinnen. Er gab den Auftrag zum Wiederaufbau Jerusalems und des Tempels, zur Unterstützung der Opfer im Tempel und zur Steuerbefreiung für Älteste und Priester, und gestattete den Juden, „nach den Gesetzen der Väter zu leben“; zur Wahrung der rituellen Reinheit Jerusalems verbot er Fremden den Zutritt zum Tempel und die Einfuhr unreiner Tiere; dem Feldherrn Zeuxis ordnete er die Ansiedlung jüdischer Militärsiedler aus Mesopotamien und Babylonien in Kleinasien an, womit er das Fundament für die dortige jüdische Diaspora legte.69 Das Entgegenkommen des Königs ließ nicht wenige palästinische Juden die seleukidische Herrschaft zunächst als Verbesserung der Situation empfinden. Führenden Kreisen Jerusalems jedoch wurden bald Nachteile bewusst, das Importverbot unreiner Tiere etwa minderte die Bedeutung Jerusalems als Handelsplatz.70 Politischer und wirtschaftlicher Vorteile wegen strebten sie ihre sprachliche und kulturelle Hellenisierung an.71 Dieser Entwicklung standen Schriftgelehrte und Fromme kritisch gegenüber; besonders Ben Sira warnt zu Beginn der Seleukidenherrschaft vor dem schädlichen Einfluss der hellenistischen Kultur auf die jüdische Aristokratie: Er stellt Gottesfurcht (Sir 19,20–24) und in der Tora gründende Weisheit (Sir 24,23–34) der griechischen Weisheit gegenüber, kritisiert Profitgier und 65 Daniel 11,14 deutet die Rolle der proseleukidischen Partei an; laut Josephus, Ant 12.129–139 (12.3.3) unterstützte diese den Antiochos III. bei der Eroberung Jerusalems. Vgl. MAIER, Grundzüge, 26f.; HENGEL, Juden, 62f.; HENGEL, Judentum, 12–15. 66 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 117. 67 Vgl. HENGEL, Juden, 76: Erst unter römischer Herrschaft erfasste die Hellenisierung in Syrien und Palästina die unteren Schichten, Rom trat als „Retter“ des griechischen Kulturerbes auf. 68 TCHERIKOVER, Civilization, 88. 69 Vgl. Josephus, Ant 12.138–144; 12.145f.; 12.147–153 (12.3.3–4); vgl. FELDMAN/ REINHOLD, Life, 77ff. (Text 4.1); FOHRER, Geschichte, 222f.; vgl. HENGEL, Juden, 63–67; HENGEL, Judentum, 15f. 100. 493f.; MAIER, Grundzüge, 25ff. 70 Vgl. HENGEL, Juden, 65ff.; HENGEL, Judentum, 100. 71 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 88. 118–122: Die Hellenisierungsbestrebungen standen nicht unmittelbar mit dem Herrschaftswechsel in Zusammenhang.
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Besitzstreben (Sir 5,1.8; 8,2; 31,1–11), Ausbeutung der Armen (Sir 13,2– 23; 34,24–27), fremde Kaufleute (Sir 26,29–27,3), Gottlose, Gesetzesverächter, Abtrünnige und Zweifler (Sir 10,19; 15,11–17; 16,17–23; 41,8f.); am deutlichsten ist seine Aversion gegen die seleukidische Fremdherrschaft und deren jüdische Parteigänger im Gebet um die Errettung vor den Gojim (Sir 36,1–22).72 5.2.4 Hellenistische Reform und Makkabäerkriege Die seleukidische Politik änderte sich auch für das jüdische Palästina spürbar nach der Niederlage gegen die Römer bei Magnesia (190 v.Chr.); Antiochos III., Seleukos IV. Philopator (187–176 v.Chr.) und Antiochos IV. Epiphanes (175–163 v.Chr.) suchten ihre Geldnöte infolge hoher Reparationen an Rom durch Steuererhöhungen, Plünderung von Tempeln (auch in Jerusalem)73 und dadurch zu lösen, „(…) dass sie der Aristokratie eingeborener Städte auf deren Wunsch und gegen entsprechende Zahlungen an die königliche Kasse die Gelegenheit gaben, sich in die Bürgerschaft einer hellenisierten ‚Polis‘ zu verwandeln“74. In diesem Punkt trafen sich denn auch die Interessen Antiochos’ IV. mit denen einer betont griechenfreundlichen Bewegung in der Oberschicht Jerusalems unter dem Hohenpriester Jason, die in Jerusalem eine griechische Polis errichten wollte. Für Antiochos IV. bedeutete die Polisgründung 150 Talente Einnahmen und einen Beitrag zur Festigung des Vielvölkerstaates sowie die Stabilisierung der Südgrenze; für Jerusalems „Hellenisierende“ die Öffnung zur hellenistischen Kultur und die wirtschaftliche Integration in die hellenistische Welt.75
72 Vgl. HENGEL, Juden, 71f.; HENGEL, Judentum, 241–275, bes. 243. 258–270. 273f.; TCHERIKOVER, Civilization, 122–126. 142–151; gleichwohl ist Ben Sira selber von hellenistischer Kultur beeinusst, wie HENGEL, Judentum, 248f. 262–270 und GOLDSTEIN, Acceptance, 4. 13f. aufweisen. 73 Vgl. HENGEL, Judentum, 17ff. 495. 510f.; HENGEL, Juden, 69ff.; TCHERIKOVER, Civilization, 155–159; MAIER, Grundzüge, 28ff. Laut 2 Makk 3 versuchte Heliodor, Hofbeamter Seleukos’ IV., Schätze im Jerusalemer Tempel zu konszieren; Antiochos IV. plünderte auf der Rückkehr vom ersten ägyptischen Feldzug das jüdische Heiligtum, vgl. 2 Makk 5,21ff.; Dan 11,28; vgl. Josephus, Ap 2.84 (2.7); Ant 12.244–247 (12.5.2–3). 74 HENGEL, Juden, 91; vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 26ff. 161ff. 75 Vgl. MAIER, Grundzüge, 29ff.; HENGEL, Judentum, 505f.; TCHERIKOVER, Civilization, 178–183; ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 49f.; II, 555ff.
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
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Dass Jason 174 v.Chr. nach dem Vorbild anderer orientalischer Städte76 die hellenistische Bürgerschaft77 Antiochia in Jerusalem konstituierte,78 war nur denkbar, weil die hellenistische Kultur, vor allem griechische Sprache und Bildung, im jüdischen Palästina bereits Fuß gefasst hatten.79 Auffälligste Neuerung war die Errichtung eines Gymnasiums in Jerusalem,80 mit dem man den „(…) vollkommene(n) Brückenschlag zur hellenistischen Kultur und die Eingliederung der jüdischen Oberschicht in die privilegierte Klasse der ‚Hellenen‘, d. h. der ‚griechisch Gebildeten‘“81 anstrebte. Da in den Hintergrund trat, dass die Polisverfassung die Tora als Grundlage des Gemeinwesens ersetzen sollte, und Tempelkult und Tora als Volkssitte in Kraft blieben, regte sich kaum Widerstand gegen Jason.82 Seine Reformen wurden aber im Rückblick als Höhepunkt der Hellenisierungsbestrebungen (avkmh, ~Ellhnismou/)83, als „Bund (diaqh,kh) mit den fremden Völkern“ und „Abfall vom heiligen Bund“84 kritisiert, weil es in ihrer Folge zu erbitterten Auseinandersetzungen über den Einfluss der hellenistischen Kultur kam. Wendepunkt war die Ernennung des Hohenpriesters Menelaos 172 v.Chr.,85 der einen internen, in mehreren Phasen sich ausweitenden Macht-
76 Vgl. HENGEL, Judentum, 132. Vorbild waren phönizische und pagane palästinische Städte. AMELING, Jerusalem, 105–111 zeigt Parallelen einer Inschrift, derzufolge Pergamons Eumenes II. (197–159 v.Chr.) der Stadt Tyriaion Polisrechte zuerkannte, zu 2 Makk 4,9–12 auf. 77 Ob man von Polis oder Politeuma sprechen sollte, wird unterschiedlich beurteilt: Nach GREEN, Alexander, 509f. waren die Hellenisierer „a select club“, Jason plante nur „a privileged enclave, a Greek-style politeuma within the Jewish theocracy“. Ähnlich verweist Hengel, Judentum, 507 auf einen „Verein“, der die Polis-Gründung vorbereitete. 78 Vgl. 1 Makk 1,11–15; 2 Makk 4,9–12; Josephus, Ant 12.240f. (12.5.1). Vgl. HENGEL, Judentum, 504–507; TCHERIKOVER, Civilization, 161ff.; MAIER, Grundzüge, 29ff. 79 Vgl. HENGEL, Judentum, 135–142; TCHERIKOVER, Civilization, 159. Nach Hengels Ansicht bedeutete für die jüdische Oberschicht „Festhalten an der nationalen Überlieferung des jüdischen Volkes und Bejahung der griechischen Erziehung (…) keinen unbedingten Gegensatz“ (140); er vermutet eine griechische Elementarschule in Jerusalem vor der Gründung des Gymnasiums. 80 Vgl. 1 Makk 1,14; 2 Makk 4,12.14. 81 HENGEL, Judentum, 135. Das Gymnasium galt als „the very embodiment of the spirit of Hellenism“, vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 27. 163. 82 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 164ff.; HENGEL, Judentum, 506; GOLDSTEIN, Acceptance, 25f.; GREEN, Alexander, 510; HEGERMANN, Judentum, 335. 83 2 Makk 4,13; EÜ formuliert wohl zu vorsichtig: „So kam das Griechentum in Mode.“ 84 1 Makk 1,11.15 (EÜ). Die Formulierung „Bund mit den fremden Völkern“ in 1 Makk 1,11 dürfte auf das „Programm“ der Reformer – eher politisch-ökonomisches Kalkül als das Hellenisierungsprogramm aufgeklärter Reformjuden – anspielen, vgl. HENGEL, Judentum, 491; TCHERIKOVER, Civilization, 167ff. 202; DELLING, Begegnung, 21f. 85 Vgl. 2 Makk 4,23–26; Josephus, Ant 12.237–241 (12.5.1).
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
kampf in Jerusalem nach sich zog86 und damit einen Rückschlag für die Hellenisierung breiter Bevölkerungskreise bedeutete.87 Als der aus dem Amt verdrängte Jason versuchte, wieder an die Macht zu kommen,88 griff Antiochos IV. ein, plünderte den Tempel, ließ Jerusalem erobern, in der zur Burg (a;kra) befestigten Davidsstadt Besatzungstruppen stationieren und bot dort auch hellenisierenden Juden Zuflucht.89 Als nach dem sakrilegischen Tempelraub des Antiochos die syrischen Besatzer auch noch den Kult des Zeus Olympios mit dem JHWHs verbinden wollten, entwickelte sich ein Glaubenskrieg.90 Antiochos veranlasste 167 v.Chr. – wahrscheinlich als Folge erster Revolten (nicht als Ursache, wie in den Makkabäerbüchern dargestellt91) – eine Verfolgung der jüdischen Religion, eine Aufhebung des mosaischen Gesetzes und eine einschneidende Kultreform;92 Sabbat und Beschneidung wurden verboten, Speisegebote außer Kraft gesetzt, Torarollen vernichtet, Gesetzestreue niedergemetzelt, Brand-, Schlacht- und Trankopfer, Schutzbestimmungen für Priester und Tempel und die Kultzentralisation abgeschafft, der Kult des „Himmelsgottes“ (Zeus Olympios, Baal Schanem) offiziell eingeführt und der Tempel umgestaltet.93 Obwohl die „Religionsedikte“94 Antiochos IV. als alleinigen Urheber dieser Maßnahmen und als Förderer eines synkretistischen „Reichskultes“95 darstellen, ist anzunehmen, dass jüdische Hellenisierer unter Menelaos bei diesen Maßnahmen mitwirkten: Über die für das Judentum vertretbare sprachliche, bildungsmäßige und kulturelle Hellenisierung hinaus verfolgten sie, von der griechischen Aufklärung96 und Machtkalkül bestimmt, „das Ziel der völligen Assimilation und die Aufhebung der Schranken zwischen Ju-
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Vgl. 2 Makk 4,27–50. Vgl. HENGEL, Judentum, 509; TCHERIKOVER, Civilization, 170f. 88 Vgl. 2 Makk 5,5–10. 89 Vgl. 2 Makk 5,11–26; 1 Makk 1,20–40; 3,36.45; Josephus, Ant 12.248–252 (12.5.4); Bell 1.31–33 (1.1.1). 90 Vgl. MAIER, Grundzüge, 31ff.; MAIER, Zwischen, 150ff.; HENGEL, Judentum, 508– 513; TCHERIKOVER, Civilization, 170ff. 186–196; DELLING, Begegnung, 21f. 91 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 190–193. 196. 92 Vgl. 1 Makk 1,41–64; 2 Makk 6–7; Josephus, Ant 12.253–256 (12.5.4); Bell 1.34–35 (1.1.2). 93 Vgl. 2 Makk 6,2; 1 Makk 1,54. Vgl. HENGEL, Judentum, 534–547. Vgl. ebd., 475. 481–486: Hinter der Einführung des neuen Kultes stand die in hellenistischer Zeit übliche Identizierung von Göttern („Theokrasie“), denn für die „(…) universale Religiosität der Gebildeten waren die verschiedenen Religionen im Grunde nur Manifestationen des einen Göttlichen.“ 94 Vgl. 1 Makk 1,41f. 44ff. 51; 2 Makk 6,1ff. 95 Vgl. ROSTOVTZEFF, Geschichte I, 49f.; II, 555ff.; HENGEL, Judentum, 518–525. 96 Vgl. HENGEL, Judentum, 549–554 („Erwägungen zur Ideologie des Abfalls“). 87
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
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den und Nichtjuden“97 auch auf religiösem Gebiet, und kooperierten mit dem König.98 Dementsprechend massiver militärischer Widerstand formierte sich unter Führung der Makkabäer.99 Judas Makkabäus, der die Aufstandsbewegung 166–160 v.Chr. anführte,100 gelang nach Kämpfen gegen Hellenisierer und Seleukiden 164 v.Chr. die Eroberung Jerusalems. Der Erfolg der Wiedereinweihung des Tempels101 gab den Makkabäern derart Auftrieb, dass die weiteren Ereignisse ihre Eigendynamik bekamen; obwohl Antiochos IV. kurz vor seinem Tod die Religionsedikte widerrief und Antiochos V. Eupator (164–162 v.Chr.) und dessen Vormund Lysias mit weitgehenden Zugeständnissen Frieden schließen wollten,102 kämpften die Makkabäer weiter; aus der religiös motivierten Aufstandsbewegung wurde „allmählich planvolle Machtpolitik“103. Jonatan (160–142 v.Chr.)104 führte 152 v.Chr. außen- und innenpolitisch eine Wende herbei; er arrangierte sich mit der feindlichen Weltmacht, „(…) opferte das bisherige Ziel (‚Abwerfen des syrischen Jochs‘) der persönlichen Ambition“105, unterstützte im Streit um die Nachfolge Demetrios’ I. den Alexander Balas und wurde von ihm zum Hohenpriester ernannt;106 als seleukidischer Vasall begann er mit der territorialen und religionspolitischen Expansion Judäas107 und schloss – was kulturpolitisch höchst interessant ist – militärische Bündnisse mit Rom und Sparta.108
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HENGEL, Judentum, 515. Vgl. HENGEL, Judentum, 515–529. 532–554. Hengel rekurriert auf Bickermanns These („Der Gott der Makkabäer“), dass jüdische Hellenisierer die Religionsverfolgung initiierten. Kritisch äußern sich dazu TCHERIKOVER, Civilization, 180–185. 199f.; CONZELMANN, Heiden, 16f.; GREEN, Alexander, 506. 515f.; FELDMAN, Jew, 417. 99 Vgl. zu Judas, Jonatan und Simon: Josephus, Bell 1.38–54 (1.1.4–1.2.3). Vgl. MAIER, Zwischen, 151f.; MAIER, Grundzüge, 34–42; TCHERIKOVER, Civilization, 205–253. 100 Vgl. 1 Makk 3,1–9,22; 2 Makk 8,1–15,36; Josephus, Ant 12.287–434 (12.7.1– 12.11.2). 101 Vgl. 1 Makk 4,36–61; 2 Makk 10,1–8; vgl. Josephus, Ant 12.316–326 (12.8.6–7). 102 Vgl. 2 Makk 9,14–27 (Widerruf der Religionsedikte durch Antiochos IV.); 1 Makk 6,55–63; 2 Makk 11,13–38 (Zugeständnisse durch Antiochos V. und Lysias); Josephus, Ant 12.381–382 (12.9.6–7). 103 MAIER, Grundzüge, 36; vgl. GREEN, Alexander, 521f. 104 Vgl. 1 Makk 9,23–12,52; Josephus, Ant 13.1–61 (13.1.1–13.2.4) und 13.80–193 (13.4.1–13.6.2). 105 MAIER, Grundzüge, 40. 106 Vgl. 1 Makk 10,15–66; Josephus, Ant 13.43–46 (13.2.2–3). 107 Vgl. etwa 1 Makk 10,75ff.; 11,60ff.; Josephus, Ant 13.148–162 (13.5.5–7) und 13.174–180 (13.5.10). 108 Vgl. 1 Makk 12,1–23; 15,15–24; Josephus, Ant 13.163–170 (13.5.8). Vgl. auch das Bündnis des Judas Makkabäus mit Rom: Josephus, Ant 12.414–419 (12.10.6). Vgl. FELD98
104
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Simon (142–134 v.Chr.)109, der 141 v.Chr. die Akra in seine Hand gebracht, damit die seleukidische Besatzung Jerusalems und die dauernde Einflussnahme der extremen jüdischen Hellenisierer beendet hatte,110 wurde 140 v.Chr. von einer Volksversammlung als Ethnarch, Stratege und Hoherpriester bestätigt,111 womit die politische Selbstständigkeit Judäas und die dynastische Phase der Hasmonäer begann. Erfolgreich hatten sich die Makkabäer also gegen die hellenistische Fremdherrschaft und eine Minorität im Judentum selbst zur Wehr gesetzt, deren Ziel „(…) die völlige Assimilation an die heidnische Umgebung war“112. Nicht eine Hellenisierung im Sinne der Übernahme griechischer Sprache und Bildung, vielmehr der Versuch einer interpretatio Graeca des JHWH-Kultes war zum Stein des Anstoßes geworden. Dementsprechend war das Judentum, besonders das Palästinas, seit dieser Epoche von Eifer für Tora und Tempel und Absonderung gegen fremde Einflüsse geprägt.113 Dennoch lag die geistesgeschichtliche Bedeutung dieser Phase für das Judentum auch darin, dass es durch die Auseinandersetzung mit der hellenistischen Kultur von dieser beeinflusst wurde. Gerade antisäkulare und antihellenistische Bewegungen wie Chasidim, Apokalyptiker oder Essener waren in erstaunlicher Weise vom Hellenismus geprägt:114 So erinnert das Ideal der Chasidim der Erziehung des Volkes in der Tora an die zentrale Stellung der paidei,a im Griechentum;115 die Geschichtsdeutung der Apokalyptiker, Reaktion auf die schwierige Lage des jüdischen Volkes, und ihre individuelle Heilshoffnung haben helleMAN, Jew, 11f.; FELDMAN/REINHOLD, Life, 160–165 (Texte 8.13–19); ausführlich HADAS, Kultur, 103–124. HENGEL, Judentum, 133f. (vgl. HENGEL., Juden, 161f.) vermutet, dass die Legende von der Verwandtschaft der Juden mit den Spartanern (vgl. 2 Makk 5,9; 1 Makk 12,5–23; Josephus, Ant 12.226f.; 13.166f.) – „Eintrittsbillet in die europäische Kultur“ – sich in den Kreisen der hellenisierenden Reformer entwickelt habe; MAIER, Judentum, 163 sieht in den Bündnissen mit Rom und Sparta einen Hinweis, dass der Religions- und Kulturkampf „(…) nicht zu einer grundsätzlich negativen Wertung alles ‚Japhetitischen‘ geführt habe.“ 109 Vgl. 1 Makk 12,53–16,17; Josephus, Ant 13.197–229 (13.6.3–13.7.4). 110 Vgl. 1 Makk 13,49–52. 111 Vgl. 1 Makk 14,41f.47; Josephus, Ant 13.213–217 (13.6.7). 112 HENGEL, Judentum, 532. 113 Vgl. HENGEL, Judentum, 532. 557ff. 563f. 114 Vgl. ebd., 453–463 („Das palästinische Judentum zwischen Rezeption und Abwehr des Hellenismus“), bes. 459; Hengel betont des öfteren, dass die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Beeinussung und bloßer Parallelität von Phänomenen meist schwierig ist. 115 Vgl. ebd., 307–330, bes. 314. 317. 324ff. Durch die Auseinandersetzung mit der griechischen paidei,a sei letztlich auch das jüdische Bildungssystem entstanden, ebd., 142f.
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
105
nistische Parallelen;116 bei den Essenern, deren Organisation Ähnlichkeit mit hellenistischen Vereinen, besonders den Pythagoräern, aufweist, sind Tendenzen der Zeit – Intellektualisierung der Frömmigkeit, dualistische und deterministische Weltdeutung und Anthropologie, unübersehbar.117 Die Entwicklung, „(…) dass sich in hellenistischer Zeit über die religiösen und nationalen Schranken hinweg die Formen religiösen Erlebens und Denkens angleichen“118, machte auch vor dem palästinischen Judentum nicht Halt. 5.2.5 Die Herrschaft der Hasmonäer Obwohl ihre Herrschaft aus der religiös motivierten antihellenistischen Aufstandsbewegung gegen die Seleukiden und jüdische Hellenisierer hervorgegangen war, betrieben die Hasmonäer paradoxerweise bald proseleukidisch orientierte Machtpolitik, die an den Herrschaftsstil hellenistischer Fürsten gemahnte:119 Johannes Hyrkan (134–104 v.Chr.)120 ließ Münzen prägen, die seine Hohepriesterwürde betonen,121 Aristobul (104 v.Chr.) nahm den Titel basileu,j und den Beinamen file,llhn an,122 Alexander Jannaj (104–76 v.Chr.) gerierte sich als hellenistischer Tyrann.123 Auch dass die Hasmonäer die Abfassung der Makkabäerbücher initiierten, die im Stil pathetischer Historiographie die Hasmonäerherrschaft geschichtstheologisch legitimieren sollten, fügt sich in dieses Bild.124 Insgesamt konnte sich „(…) der neue hasmonäische Staat, der sich ganz auf die Tora Moses gründen wollte, (…) der ‚Eigengesetzlichkeit‘ hellenistischer Rationalität in seiner Staatsverwaltung nicht entziehen.“125 In Militär, Technik, Wissenschaft, Ökonomie, Recht und Sprache war eine Rezeption hellenistischer Zivilisation, eine „Säkularisierung“ trotz der erfolgreichen makkabäischen Erhebung unaufhaltsam, der Kampf um die „utopische Theokratie“ vergeblich.126 Der Hasmonäerstaat wurde „(…) zu einem an 116
Vgl. HENGEL, Judentum, 354–369, bes. 354 mit A. 532 (Hinweis auf H. Ringgren). Vgl. ebd., 394–453, bes. 395. 401ff. 416–421. 445–453. 118 Ebd., 387. 119 Vgl. zur Ereignisgeschichte MAIER, Grundzüge, 43–58, bes. 43f. 49–52; GREEN, Alexander, 519–524; KÖSTER, Einführung, 225ff.; MAIER, Zwischen, 154–161; HENGEL, Juden, 102. 120 Vgl. Josephus, Ant 13.230–300 (13.8.1–13.10.7); Bell 1.54–69 (1.2.3–8). 121 Vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 159 (Text 8.12). 122 Vgl. Josephus, Ant 13.301–319, bes. 301 und 318 (13.11.1–3); Bell 1.70–84, bes. 70 (1.3.1–6). 123 Vgl. Josephus, Ant 13.320–404 (13.12.1–13.15.5); Bell 1.85–106 (1.4.1–8). 124 Vgl. MAIER, Grundzüge, 44f.; MAIER, Zwischen, 152; zu 2 Makk vgl. 5.4.2.3.2 (c). 125 HENGEL, Juden, 114. 126 Vgl. ebd., 114f.; HENGEL, Problem, 52ff.; HENGEL, Judaism, 22ff.; HENGEL, Jerusalem, 288ff.; RAJAK, Hasmoneans, 66–72. 117
106
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
das Leben und die Religion der Juden angepassten Seleukidenstaat“127, in dem sich konservative Religiosität, politischer Nationalismus und Aufgeschlossenheit gegenüber hellenistischem Kultureinuss verbanden. Repräsentativ für diese widersprüchliche Haltung waren die Sadduzäer,128 den Hasmonäern treue Priesteraristokraten, die darüber wachten, dass Tempelkult und Interpretation der Tora frei von Neuerungen im Geist des Hellenismus blieben, jedoch wirtschaftlicher und diplomatischer Kontakte wegen griechische Namen, griechische Sprache und Bildung übernahmen,129 die im jüdischen Palästina damals auch über ihren Kreis hinaus verbreitet waren.130 Mit ihrer Politik machten sich die Hasmonäer verschiedentlich Feinde. Innenpolitisch erregten sie den Unmut der Chasidim, nach deren Ansicht sie sich die Hohepriesterwürde unrechtmäßig angeeignet und mit der Funktion des politischen Herrschers vereinigt hätten;131 die Bildung der Gemeinde von Qumran und schwere Konflikte mit den Pharisäern132 waren die Folge.133 Außenpolitisch war die Expansionspolitik problematisch; besonders die brutale Eroberung und rigorose Zwangsjudaisierung der „Griechenstädte“, die kaum aus missionarischem Interesse erfolgte, sondern zum politischen Programm der Wiedervereinigung des Reiches Davids gehörte,134 löste eine tiefgehende Feindschaft der ansässigen hellenisierten Syrer gegen die Juden aus, die sich bis in die neutestamentliche Zeit auswirkte, und beeinflusste das Bild der hellenistisch-römischen Welt vom Judentum negativ.135 Freilich: „(…) the same state which had destroyed the Greek urban communities was itself prepared to follow in the footsteps of the conquered and to adopt the superficial Hellenic customs of the Orient, and
127
ROSTOVTZEFF, Geschichte II, 672f. Vgl. die „Gruppenreferate“ des Josephus zu religiösen „Parteien“ im Judentum: Bell 2.118–166 (2.8.1–14) (§ 119–161: Essener; § 162–163: Pharisäer; § 164–166: Sadduzäer); Ant 13.171–173 (13.5.9) (Pharisäer, Sadduzäer, Essener); Ant 13.297–298 (13.10.6) (Pharisäer, Sadduzäer); Ant 18.11–22 (18.1.2–5) (§ 12–15: Pharisäer; § 16–17: Sadduzäer; § 18–22: Essener); Vita 9–12. Ant 13.295–298 (13.10.6) berichtet, dass Hyrkan von den Pharisäern zu den Sadduzäern überging. 129 Vgl. HENGEL, Judentum, 412; HEGERMANN, Judentum, 337; zu den Sadduzäern vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 264; KÖSTER, Einführung, 238f. 130 Vgl. MAIER, Grundzüge, 53f.; GOLDSTEIN, Acceptance, 29. 131 Vgl. Josephus, Ant 13.288–294 (13.10.5–6). 132 Vgl. etwa zu Alexander Jannaj Josephus, Ant 13.372–374 (13.13.5). 133 Vgl. MAIER, Grundzüge, 44f. 49f. 52f.; HENGEL, Qumran, 269. 134 Vgl. 1 Makk 15,33f. Josephus zählt in Ant 13.395–397 (13.15.4) Städte der Syrer, Idumäer und Phönizier auf, die die Juden zur Zeit Alexander Jannajs besaßen und von denen sie einige zerstörten, weil deren Bewohner nicht jüdische Bräuche übernahmen. 135 Vgl. MAIER, Grundzüge, 48. 50–53; TCHERIKOVER, Civilization, 247–252. 128
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
107
the Hellenism of the Hasmoneans may have been no whit inferior to that of the Syrian population of the Greek cities.“136 5.2.6 Römer und Herodianer Nach dem Tod der Hasmonäerkönigin Salome Alexandra (76–67 v.Chr.)137 forderte der Thronfolgestreit zwischen ihren Söhnen Hyrkan II. und Aristobul II. das Eingreifen Roms heraus: Pompeius, der als „neuer Alexander“138 griechische Kultur förderte,139 beendete mit der Eroberung Jerusalems 64 v.Chr. die Hasmonäerherrschaft, verkleinerte Judäa durch Wiedererrichtung autonomer „Griechenstädte“ – was ein Erstarken des antijüdischen Heidentums bedeutete – und gliederte es in die Provinz Syria ein.140 Während Aristobul II. und dessen Söhne Antigonos und Alexander ohne dauerhaften Erfolg die Herrschaft wiederzuerlangen suchten,141 wurde Hyrkan II. Hoherpriester und „Ethnarch“ von Roms Gnaden.142 Hyrkan erreichte zwar unter anderem von Caesar Rechtseinräumungen für jüdische Gemeinden in Kleinasien;143 die tatsächliche Macht in Palästina aber lag bei den romtreuen Herodianern, bei Antipater, den Caesar zum Dank für seine Unterstützung als Statthalter von Judäa (evpi,tropoj) einsetzte, und bei dessen Söhnen Phasael und Herodes.144 Herodes schließlich gelang es, mit Hilfe der Römer die Königsherrschaft anzutreten.145 Die 33 Jahre, die er als basileu,j hellenistischen Stils146 regierte (37–4 v.Chr.),147 sind einerseits von brutaler Machtpolitik überschattet, brachten andererseits eine Friedensperiode, relativ gute Lebensverhältnisse, eine positive 136
TCHERIKOVER, Civilization, 249. Vgl. Josephus, Ant 13.405–433 (13.16.1–6); Bell 1.107–119 (1.5.1–4). 138 Vgl. WILL, Pompeius (I 3): DNP 10 (2001), 99–107, bes. 103 (Syria; Iudaea) und 105f. (Vergleich mit Alexander dem Großen bei Plinius und Plutarch). 139 Vgl. MEIER, Pompeius (2): LAW (1990), 2404f., bes. 2405. 140 Vgl. Josephus, Ant 14.1–79, bes. 14.66–78 (14.1.1–14.4.5); Bell 1.120–182, bes. 141–157 (1.6.1–1.8.9). Vgl. MAIER, Grundzüge, 54–58; JONES, Cities, 258f.; GOLDSTEIN, Acceptance, 31; FELDMAN/REINHOLD, Life, 167ff. (Text 8.22). 141 Vgl. Josephus, Ant 14.79–104 (14.4.5–14.6.4); 14.297–300 (14.12.1). 142 Vgl. Josephus, Ant 14.73 (14.4.4); 14.151 (14.8.5). 143 Vgl. Josephus, Ant 14.225–232 (14.10.12–14); 14.234–246 (14.10.16–21); 14.256– 264 (14.10.23–25); 16.27–61 (16.2.3–5); 16.162–168 (16.6.2–4); 16.171–173 (16.6.6–7); FELDMAN/REINHOLD, Life, 82f. (Texte 4.7–8). 85ff. (Texte 4.12–14); vgl. Näheres zur Diaspora Kleinasiens und zur Bewertung der bei Josephus zusammengestellten Dokumente 5.4.5. 144 Vgl. Josephus, Ant 14.127–143 (14.8.1–5); 14.158–184 (14.9.2–5). 145 Vgl. Josephus, Ant 14.297–303 (14.12.1–2); 14.378–491 (14.14.3–14.16.4). 146 Vgl. MAIER, Grundzüge, 64f.; MAIER, Zwischen, 167; HENGEL, Problem, 55; STERN, Reign, 227–248 (Landkarte des Herrschaftsgebietes des Herodes: 228f.). 147 Vgl. Josephus, Ant 15.1–17.205 (15.1.1–17.8.4). 137
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
wirtschaftliche Entwicklung Palästinas sowie Vorteile für die jüdische Diaspora mit sich.148 Kulturpolitisch war Herodes Philhellene:149 Er verfolgte „(…) das ehrgeizige Ziel, die widerstrebenden Juden in die Ökumene des Römischen Reiches zu integrieren. Zu diesem Ziel gehörte auch, dass er seinen politisch unruhigen Untertanen zumindest in der Oberschicht ‚hellenistische Zivilisation‘ zu vermitteln suchte, wie sie auch – ohne die eigene jüdische Identität aufzugeben – von den führenden Kreisen des Diasporajudentums aufgenommen worden war. Dass dieses Bildungsstreben eine gewisse Ausstrahlung in die aristokratischen Kreise Jerusalems, ja in das ganze Land hinein besaß, ist kaum zu bezweifeln. (…) Man könnte unter seiner Herrschaft von einer neuen avkmh, tij ~Ellhnismou/ (vgl. 2 Makk 4,13) sprechen, die in mancher Hinsicht mit der nach 175 v.Chr. vergleichbar ist, sich jedoch von jener darin unterschied, dass sie keine wirkliche Gefahr mehr für den jüdischen Glauben darstellte.“150 In besonderer Weise kam der kulturelle Aspekt der Regierung des Herodes natürlich in Jerusalem zum Tragen – der König machte es „(…) zur internationalen Metropole der Diaspora und hat der Stadt ihr in der frühen Kaiserzeit bis 70 n.Chr. einzigartiges kulturelles Gepräge gegeben.“151 Dazu gehörte zum einen – dem Interesse des Königs für hellenistische Bildung entsprechend –, dass er an seinen Hof Griechen und Hellenisierte als Gelehrte, Techniker, Künstler, Politiker und Militärs berief. Bekanntestes Beispiel ist der hellenisierte syrische Gelehrte und Redner Nikolaos von Damaskus (geboren ca. 64 v.Chr.; Todesjahr unbekannt),152 der ein imposantes wissenschaftliches Werk, vor allem eine Weltgeschichte in 144 Büchern – eine der Hauptquellen für Josephus Flavius – verfasste, als Dip-
148 Vgl. MAIER, Grundzüge, 58–73. FELDMAN/REINHOLD, Life, 170–176 (Texte 8.24–31) zeigen in Ausschnitten aus Bell und Ant exemplarisch unterschiedliche Aspekte der Herrschaft des Herodes. 149 Vgl. JONES, Cities, 276; MAIER, Grundzüge, 74. HENGEL, Problem, 62 verweist auf weitere orientalische Könige, die sich Philhellen nannten und eine hellenistische Kulturpolitik verfolgten. 150 HENGEL, Problem, 62f.; vgl. LEVINE, Judaism, 46ff. 151 HENGEL, Problem, 55; vgl. ausführlich LEVINE, Judaism, 51–55. 152 Josephus zitiert in Ant und Bell häug Nikolaos; in Ant 16.183–186 (16.7.1) – vgl. MARCUS/WIKGREN VIII (1969), 280–283 – kritisiert (und entschuldigt) er dessen Herodesfreundliche Geschichtsschreibung, in Ant 17.99 (17.5.4) – vgl. MARCUS/WIKGREN VIII (1969), 416f. – nennt er ihn einen Freund und Gefährten des Herodes. Vgl. oben 4.2.3: Nikolaos stellt sich in seiner Autobiographie als Musterbeispiel eines hellenistisch Gebildeten aus der führenden Schicht der Aramäer dar.
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
109
lomat tätig war und Herodes und seine Söhne in Philosophie, Rhetorik und Geschichte unterrichtete.153 Zum anderen war augenfälliges Charakteristikum der Regierungszeit des Herodes die planvolle und großzügige Bautätigkeit – unter der Ägide des Königs kam es zu einer beispiellosen Neugestaltung der Heiligen Stadt und des Heiligtums: Jerusalem wurde eine „Perle unter den Städten des römischen Reichs“154, eine äußerlich ganz und gar hellenistische Stadt mit öffentlichen Repräsentativbauten und Bauten der Wohlhabenden im hellenistisch-herodianischen Stil; die Tempelanlage wurde mit Säulenhallen und anderen Elementen hellenistischer Architektur praktisch neu errichtet und dabei vielfach vergrößert.155 Während der Neubau des Tempels weitgehende Anerkennung hervorrief und im jüdischen Bewusstsein in positiver Erinnerung blieb, zumal kultische Traditionen und rituelle Erfordernisse genau beachtet156 und auf bildliche Darstellungen großteils verzichtet wurde,157 lösten einige als unjüdisch empfundene Bauten (vor allem Theater158) und Bauelemente (eine goldene Adlerskulptur im Tempel159) in Jerusalem Widerstand aus. Erst recht waren unter den herodianischen Bauten außerhalb Jerusalems Theater und Tempel in heidnischen Städten umstritten,160 etwa die Tempel für Augustus und Roma in Caesarea und Sebaste.161 Die153 Vgl. MAIER, Grundzüge, 70. 73f.; HENGEL, Problem, 60ff.; HENGEL, Jerusalem, 292– 295; STERN, Reign, 254–257. Die zahlreichen Gelehrten lassen auf eine griechische Bibliothek mit etwa tausend Bänden in Herodes’ Jerusalem schließen. RAJAK, Josephus, 53ff. 61f. verweist auf die vielen jüdischen und nichtjüdischen griechischsprachigen Mitglieder des herodianischen Hofes; meint aber, dass dessen kulturelles Niveau nicht allzu hoch war. Nach STERN, Reign, 248 waren viele Mitglieder des Synedriums unter Herodes „Hellenes“, Verhandlungen wurden griechisch geführt. 154 HENGEL, Problem, 56. 155 Vgl. Josephus, Bell 1.401 (1.21.1); 5.190–206 (5.5.2–3); Ant 15.380–425 (15.11.1–7). 156 Vgl. Josephus, Ant 15.390 (15.11.2); 15.420f. (15.11.5–6). 157 Vgl. Josephus, Bell 5.191 (5.5.2); HENGEL, Problem, 57ff.; MAIER, Grundzüge, 67– 70; MAIER, Zwischen, 166; DELLING, Begegnung, 28ff. MAIER, Grundzüge, 71 gibt zu bedenken, dass gerade die „(…) eigentümliche Parallelität von herodianischer Tyrannenherrschaft und kultischer Hochblüte gewisse Ressentiments gegen den Tempelkult überhaupt aueben ließ, und der (…) Ausbau der Tempelanlage selbst forderte in seiner (…) Selbstdarstellung der königlichen Pracht und des sinnenfälligen religiösen Kultbetriebs jene heraus, die mehr oder minder ungeduldig den Einbruch der Gottesherrschaft erwarteten.“ 158 Vgl. Josephus, Ant 15.267–291 (15.8.1–4). 159 Vgl. Josephus, Ant 17.151–164 (17.6.2–4). 160 Vgl. Josephus, Ant 15.328–330 (15.9.5). Herodes habe die Errichtung (heidnisch-) hellenistischer Gebäude als politisch-diplomatisch notwendig gerechtfertigt. 161 Vgl. Josephus, Ant 15.296–298 (15.8.5); 15.339–341 (15.9.6); 16.136–159 (16.5.1– 4); 19.359 (19.9.1). Delling, Begegnung, 27f. bietet einen ausgezeichneten Überblick zu Herodes’ Bautätigkeit in Jerusalem und anderen Städten; vgl. HENGEL, Problem, 55ff. 58; MAIER, Grundzüge, 68f.; GOLDSTEIN, Acceptance, 29; FELDMAN, How much, 102ff.; LEVINE,
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
se Bauten illustrieren die Förderung der Griechenstädte, mit der Herodes Augustus’ Friedenspolitik nachahmte,162 und insgesamt seine janusköpfige Politik, mit der er Juden wie Nichtjuden gleichermaßen gerecht werden wollte,163 die aber oft zum Vorwurf, er habe „Griechen“ gegenüber Juden bevorzugt,164 und zur Verschärfung des Verhältnisses zwischen Juden und Griechen führte.165 Trotz der Vorbehalte lässt sich sagen, dass Herodes’ kulturpolitisches Engagement eine Hellenisierung breiter Schichten der jüdischen Bevölkerung Palästinas in Hinblick auf Sprache, Bildung und Kultur bewirkte. Der Hellenisierungsprozess dürfte durch die Bemühungen des Herodes um die griechischsprechende Diaspora, als deren Schutzherr er sich betrachtete, gefördert worden sein; er betraf selbst die gemäßigte Opposition der Frommen, etwa Hillel, den größten pharisäischen Lehrer vor 70 n.Chr.166 Nach dem Tod des Herodes bestätigte 4 v.Chr. Augustus im Wesentlichen dessen Testament und teilte das Reich auf Herodes’ Söhne Archelaos, Herodes Antipas und Philippus sowie Herodes’ Schwester Salome auf.167 Während der Ethnarch Archelaos bereits 6 n.Chr. abgesetzt und Judäa, Idumäa, Samaria und die Küste mit Caesarea direkter römischer Verwaltung unterstellt wurden,168 regierte Herodes Antipas mehrere Jahrzehnte als Tetrarch in Galiläa und Peräa (ohne Dekapolis), Philippus in fast durchgängig nichtjüdischen Gebiete im Nordosten Palästinas.169 Sie führten – geprägt durch die am Hof ihres Vaters erhaltene griechische Bildung – die Kulturpolitik des Herodes fort170 und taten sich namentlich als hellenistische Bauherren hervor: Herodes Antipas gründete Tiberias und baute Sepphoris, die
Judaism, 55–61; STERN, Reign, 257ff. 276; zur Archäologie AVI-YONAH, Archaeological, 52f. 162 Vgl. ausführlich BARCLAY, Jews, 250. Vgl. COLLINS, Cult, 53; KÖSTER, Einführung, 404f. 163 Vgl. MAIER, Grundzüge, 65; MAIER, Zwischen, 166. 164 Vgl. Josephus, Ant 17.306 (17.11.2); 19.329 (19.7.3). Vgl. HENGEL, Problem, 55f.; KITTEL, Probleme, 36f. mit A. 1. 165 Vgl. MAIER, Grundzüge, 71. 166 Vgl. HENGEL, Problem, 62ff.; wie oben (5.1) dargestellt, kommt FELDMAN, Jew, 43f. zu divergierenden Ergebnissen, was die „Reichweite“ der Hellenisierung betrifft, und meint, dass palästinische Juden der Hellenisierung weitgehend widerstanden hätten. STERN, Reign, 273 gibt zu bedenken, dass Herodes keine wirkliche Verbindung von Judentum und Hellenismus gelungen sei. 167 Vgl. Josephus, Ant 17.299–323 (17.11.1–5). 168 Vgl. Josephus, Ant 17.342–344 (17.13.2–3); 18.1–10 (18.1.1); 18.29–35 (18.2.2). 169 Vgl. MAIER, Grundzüge, 67. 74ff.; STERN, Reign, 282–288; zu Archelaos vgl. auch FELDMAN/REINHOLD, Life, 176ff. (Texte 8.32–33). 170 Vgl. HENGEL, Problem, 64–67.
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
111
„Zierde Galiläas“, wieder auf – beide hatten eine hellenisierte romtreue jüdische Oberschicht;171 Philippus ließ Caesarea Philippi und BethsaidaJulias errichten.172 Dem Herodes-Enkel Agrippa I. gelang es beinahe – nicht zuletzt aufgrund der Gunst des Kaisers Claudius (41–54 n.Chr.) – das Reich seines Großvaters wieder herzustellen und 41–44 n.Chr. als basileu,j zu regieren;173 seine Politik war ähnlich janusköpfig wie die des Herodes – er kümmerte sich um innerjüdische Belange,174 ließ aber im nichtjüdischen Teil seines Herrschaftsgebietes eine jüdischem Geist zuwiderlaufende hellenistische Herrscherverehrung ihm gegenüber zu:175 „Bei einem intellektuell und charakterlich so beweglichen Herrscher wie König Herodes Agrippa I. (…) verbanden sich eine ostentativ jüdische Frömmigkeit und eine ganz liberale Haltung (…) auf erstaunliche Weise.“176 Auch unter den römischen Prokuratoren (41–66 n.Chr.) spielte der Einfluss der hellenistisch(-römischen) Kultur auf das Judentum eine wichtige Rolle für den weiteren Verlauf der Geschichte. Der schwelende Konflikt mit Rom – er war durch reale Machtverhältnisse und ideologisch-religiöse Motive bedingt,177 viele Juden sahen ihn als „Kraftprobe zwischen dem
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Vgl. HENGEL, Problem, 64ff.; DELLING, Begegnung, 27; MAIER, Grundzüge, 80. Vgl. Josephus, Ant 18.27–28 (18.2.1; Sepphoris; Caesarea Philippi; Bethsaida-Julias); 18.36–38 (18.2.3; Tiberias); Bell 2.168 (2.9.1; Tiberias; Caesarea Philippi; BethsaidaJulias). 173 Vgl. Josephus, Ant 18.143–239, bes. 237ff. (18.6.1–11; Caligula ernennt Agrippa zum König über die Tetrarchie des Philippus); 18.240–256 (18.7.1–2; Herodes Antipas wird abgesetzt und verbannt); 19.236–273 (19.4.1–6; Agrippa setzt sich für Claudius ein); 19.274–277 (19.5.1; Claudius übergibt Agrippa Judäa, Samaria und weitere Besitzungen). 174 Vgl. Josephus, Ant 19.292–316 (19.6.1–4); 19.328–331 (19.7.3) und Apg 12,1–4. 175 Vgl. Josephus, Ant 19.335–337 (19.7.5) (Fest zur Einweihung der Bauten in Berytus); 19.343–348 (19.8.2; Verehrung Agrippas in Caesarea; sein Tod als Strafe – vgl. Apg 12,19b–23). Die göttliche Verehrung des Agrippa I. schlug nach seinem Tod in Caesarea in „Schmäh-Revolten“ um, vgl. Ant 19.354–359 (19.9.1). 176 HENGEL, Problem, 67; vgl. ebd., 61f. zur Bildung des Agrippa und der HerodesNachkommen. Vgl. MAIER, Grundzüge, 80ff.; FELDMAN, Jew, 82f.; STERN, Reign, 288–300; FELDMAN/REINHOLD, Life, 178ff. (Texte 8.34–36). Einige Herodes-Nachkommen wurden laut Josephus, Ant 18.140–142 (18.5.4) in Rom erzogen, verließen den jüdischen Glauben und erlangten Stellungen in der römischen Verwaltung oder als Vasallenkönige, vgl. BARCLAY, Jews, 322f. 177 Ideologisch-religiöse Motive waren laut MAIER, Grundzüge, 57f. 65. 77f. 92. 111 die Deutung des Jakob-Esau-Streits um den Vorrang in der Heilsgeschichte auf die Auseinandersetzung zwischen Judentum und Rom und die Deutung des Unterganges des vierten Weltreiches (vgl. Dan 7,23ff.) auf den möglichen Untergang Roms. MAIER, Judentum, 228f. verweist noch auf die Identikation der Römer mit den Kittäern im Buch Daniel und mit Edom, dem Erzfeind Judas. FELDMAN/REINHOLD, Life, 180–188 (Texte 8.37–56) nennen 172
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
verhassten Weltreich und den Verfechtern der Gottesherrschaft“178 – wurde nicht zuletzt dadurch begünstigt, dass sich die römischen Statthalter Judäas der hellenisierten paganen Bevölkerung näher fühlten als den Juden,179 und dass auch „(…) ein beträchtlicher Teil der römischen Soldaten aus der judenfeindlichen näheren Umgebung stammte“180. Dass die römische Verwaltung Vorteile brachte – wie die religiöse Selbstverwaltung durch das Synedrium181 – fiel durch das Versagen der Prokuratoren kaum ins Gewicht. Ihre Amtsführung, bei der sie wenig Fingerspitzengefühl im Umgang mit der jüdischen Religion bewiesen, ja teils bewusst Widerstand provozierten (etwa durch Aufstellung von Feldzeichen und Kaiserbildern),182 rief radikale antirömische und antihellenistische Kräfte – Zeloten, Sikarier und Messiasprätendenten – auf den Plan.183 Diesen gegenüber gerieten hellenisierte Juden, vor allem aristokratische Kreise, die um gute Beziehungen mit Römern und Hellenisierten bemüht waren, ins Hintertreffen. Tiberius Iulius Alexander, hellenisierter Diasporajude, Sohn des alexandrinischen Alabarchen Alexander, des Bruders Philos,184 brachte es bis zum Prokurator Judäas. Im Vergleich zu seinen Vorgängern und Nachfolgern ragte er als kompetenter Politiker und Militär hervor (46–48 n.Chr.);185 von der Mehrheit seiner Landsleute wurde er als assimilierter Jude allerdings
Beispiele jüdischer (v.a. rabbinischer) Texte, aus denen Feindschaft gegen Rom spricht (u.a. Sib 3,46–62.350–380; 42 v.Chr.). 178 MAIER, Grundzüge, 83; vgl. ebd., 71. 179 Vgl. STERN, Province, 319. 323f. – Gessius Florus beispielsweise war hellenisierter Orientale, er stammte aus Klazomenae in Kleinasien, vgl. Josephus, Ant 20.252 (20.11.1). 180 MAIER, Grundzüge, 76; FELDMAN/REINHOLD, Life, 342–45 (Texte 10.47–48). Antijüdische Ressentiments gingen auf die Eroberung und Zwangsjudaisierung der „Griechenstädte“ durch die Hasmonäer im 2. Jh. v.Chr. zurück. Josephus, Bell 2.268 (2.13.7) und Ant 20.176 (20.8.7) berichtet zum Beispiel, dass die römischen Truppen in Caesarea großteils aus hellenisierten Syrern bestanden und deshalb zu den „Griechen“ hielten. 181 MAIER, Grundzüge, 76f. nennt Vorteile der Juden unter römischer Herrschaft. 182 Vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 318–321 (Texte 10.20–22). 327–331 (Texte 10.27– 28): Jüdischen Widerstand hatte schon Pontius Pilatus mit Feldzeichen (Josephus, Ant 18.55–59 [18.3.1]) und mit Gedenktafeln zu Ehren des Tiberius (Philo, legat 299–305: vgl. COHN VII [1964], 249f.) in Jerusalem ausgelöst; ebenso der syrische Legat Petronius mit dem Plan, eine Kolossalstatue für Caligula im Jerusalemer Tempel aufzustellen (Josephus, Ant 18.263–309 [18.8.2–9]; Philo, legat 197–203: vgl. COHN VII [1964], 226ff.). Zur Geschichte der Prokuratoren ab 44 n.Chr. vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 334–342 (Texte 10.35–42). 183 Vgl. MAIER, Grundzüge, 82–85. 76–80; HENGEL, Problem, 67 zu den letzten Prokuratoren Judäas; zu den Sikariern vgl. etwa Josephus, Ant 20.185–187 (20.8.10). 184 Vgl. Josephus, Ant 18.259f. (18.8.1). 185 Vgl. Josephus, Ant 20.100–103 (20.5.2); Bell 2.220 (2.11.6).
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
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als Verräter und Abtrünniger gewertet,186 wie auch seine Beurteilung bei Josephus zeigt: „The successor of Fadus was Tiberius Alexander, the son of that Alexander who had been Alabarch in Alexandria (…) He was also superior to his son Alexander in his religious devotion, for the latter did not stand by the practices of his people (toi/j ga.r patri,oij ouvk evne,meinen ou-toj e;qesin).“187
Der Einsatz der hellenisierten jüdischen Oberschicht Caesareas für sozialen Frieden zwischen „Griechen“ und Juden blieb ohne dauerhaften Erfolg: In den Auseinandersetzungen um die Isopoliteia von „Griechen“ und Juden konnten „gemäßigte und einflussreiche Juden“ das Ende des Einsatzes römischer Truppen erreichen, jedoch nicht verhindern, dass Nero den Juden Caesareas die Gleichberechtigung mit den „Griechen“ aberkannte;188 Provokationen von „Griechen“ gegenüber der Synagoge führten trotz Interventionen hellenisierter Juden unter Leitung des Steuerpächters Johannes an Prokurator Gessius Florus zum Bürgerkrieg in Caesarea.189 Da ein guter Teil der hellenisierten jüdischen Führungsschicht Palästinas, der Priester und Pharisäer,190 „(…) enttäuscht von der römischen Misswirtschaft und Parteilichkeit, sich mit halbem Herzen den radikalen Aufstandsgruppen zuwandte, von denen sie durch Bildung und soziale Interessen weit geschieden waren (…)“191, entwickelte sich aus dem Bürgerkrieg in Caesarea und ähnlichen Auseinandersetzungen in hellenistischen Städten Palästinas (etwa Akko, Askalon, Skythopolis)192 und in Jerusalem der judäisch-römische Krieg.193 Zu dessen Beginn 66 n.Chr. führten Erfolge der Aufständischen dazu, dass die Opfer für den Kaiser im Jerusalemer Tempel eingestellt und damit die Oberherrschaft Roms nicht mehr anerkannt wurde;194 die jüdische Führung machte den Krieg zu ihrer Sache, in der
186 MAIER, Zwischen, 173. Alexander wurde 66 n.Chr. Präfekt von Ägypten – vgl. Josephus, Bell 2.492–498 (2.18.7–8); 4.616–618 (4.10.6) – und 69/70 n.Chr. im judäisch-römischen Krieg höchster militärischer Mitarbeiter des Titus, vgl. Josephus, Bell 5.45f. (5.1.6); 5.510 (5.12.2); 6.237 (6.4.3). 187 Josephus, Ant 20.100 (20.5.2): FELDMAN X (1981), 54f. 188 Vgl. Josephus, Ant 20.173–178 (20.8.7); 20.182–184 (20.8.9); Bell 2.266–270 (2.13.7). 189 Vgl. Josephus, Bell 2.284–292, bes. 2.287f.; 2.292 (2.14.4–5). Vgl. BARCLAY, Jews, 250–254; HENGEL, Problem, 68; FELDMAN/REINHOLD, Life, 342–345 (Texte 10.47–48). 190 Vgl. MAIER, Grundzüge, 85ff. 191 HENGEL, Problem, 68. 192 Vgl. Josephus, Bell 2.457–468 (2.18.1–3). 193 Vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 267–290 (Texte 9.1–30) mit Auszügen aus Josephus, der Qumran-Kriegsrolle, dem Babylonischen Talmud, aus Sueton, Tacitus und Sulpicius Severus etc. 194 Vgl. Josephus, Bell 2.409–416 (2.17.2–3).
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Hoffnung, der Konikt mit den Parthern würde die militärischen Kräfte Roms binden.195 Doch konnte Rom seine Reserven mobilisieren; 67 n.Chr. begannen Vespasian und sein Sohn Titus ihre Offensiven an der Küste, im Nordosten Palästinas und in Galiläa, wo Josephus, ein Befehlshaber der Aufständischen, besiegt wurde, zu den Römern überlief und daraufhin den Ausgleich mit Rom unterstützte.196 Während 68 n.Chr. Vespasian Jerusalem immer näher kam, tobte unter diversen jüdischen Gruppen Bürgerkrieg; nachdem Vespasian 69 n.Chr. römischer Kaiser geworden war, gab er Titus den Auftrag, den jüdischen Feldzug zu Ende zu führen; mit dem bereits erwähnten hellenisierten Juden Tiberius Iulius Alexander als Stellvertreter belagerte er Jerusalem und konnte nach zähem Ringen gegen die Belagerten unter Führung des Johannes von Gischala im Herbst 70 n.Chr. Tempel und Stadt erobern, wobei der Tempel in Brand geriet und zerstört wurde.197
Der judäisch-römische Krieg hatte politische, religiöse und kulturelle Folgen: Politisch zog er die Verwaltung Judäas durch einen eigenen prätorischen Statthalter nach sich; religiöse Konsequenzen waren, dass die Zerstörung des Tempels innerjüdisch eine Reform ersparte,198 und dass radikale religiöse Gruppen wie die Zeloten zerstreut wurden und gemäßigte „(…) jene Kräfte die Möglichkeit zur Entfaltung (erhielten), die das spätere Judentum grundlegend prägten“199 – vor allem die Pharisäer. Nicht zu unterschätzen sind die kulturellen Folgen, besonders im Hinblick auf die Hellenisierung des Judentums: Der judäisch-römische Krieg „(…) zerstörte in Jerusalem gewaltsam eine eigenständige blühende jüdisch-hellenistische Kultur, hinter der ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung stand (…) (Sie besaß) – entsprechend der gesellschaftlich-geistigen Pluralität der Jerusalemer Bevölkerung vor 70 – eine erstaunliche Vielfalt“200: Zu ihr zählten die Familien des Herodes und der Hohepriester, Sadduzäer, Rückwanderer aus der Diaspora und Proselyten, Großgrundbesitzer, Kaufleute, ‚Fabrikanten‘, Handwerker und Besitzer von Skriptorien, Architekten, Steinmetzen und Kunsthandwerker.201 In den innerjüdischen Auseinandersetzungen im Verlauf des judäischrömischen Krieges hatte sich der soziale, bildungssoziologische und kulturelle Riss gezeigt, der durch die jüdische Bevölkerung Palästinas ging; am Ende dieses Kriegs das Scheitern des Versuchs „(…) des Herodes und
195
Vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 266f. (Einleitung). Zu Josephus als hellenistisch-jüdischem Autor, seiner Einstellung zu griechischer Sprache, Bildung und Kultur siehe unten 5.5.2.4. 197 Vgl. MAIER, Grundzüge, 86–91; zur Eroberung Jerusalems bzw. Zerstörung des Tempels vgl. Josephus, Bell 6.236–253 (6.4.3–5). 198 Vgl. MAIER, Grundzüge, 93. 199 Ebd., 94. 200 HENGEL, Problem, 69f. HENGEL, Jerusalem, passim und LEVINE, Judaism, 90–95 betonen, dass Jerusalem eine jüdische und hellenistische Stadt war. 201 Vgl. HENGEL, Problem, 70. 196
5.2 Judentum und Hellenismus: geschichtlicher Überblick
115
seiner Nachfolger, Judäa durch die Förderung der griechischen Bildung bei den ‚oberen Zehntausend‘ in die römische Herrschaft zu integrieren (…).“202 5.2.7 Neukonstituierung der jüdischen Religion Nach der Niederlage im judäisch-römischen Krieg bestand das Judentum nicht nur in der Diaspora fort, es konnte sich auch in Palästina neu konstituieren. Rom unterschied zwischen dem Judentum „als privilegierter religiös-ethnischer Gesamtgröße und judäischen jüdischen Provinz-Institutionen“203 bzw. rebellischen Bevölkerungsteilen Judäas; es verfolgte nicht die Juden und das Judentum, sondern behielt palästinischen wie Diasporajuden gegenüber seine Politik der Toleranz und der Rechtseinräumungen bei.204 Da für Rom eine jüdische Selbstverwaltung in Palästina von Vorteil war, ließ es deren Reorganisation zu: Sie ging – den Sadduzäern war der Tempel als Machtbasis entzogen, das Synedrium bestand nicht mehr – von den in pharisäischer Tradition stehenden Rabbinen aus. Jochanan ben Zakkaj gründete als gemäßigter jüdischer Führer mit Erlaubnis Vespasians die rabbinische Schule in Jamnia (Jabneh), in der um 100 n.Chr. das Haus Hillel die Führung übernahm. Die Schule wurde de facto oberste jüdische Schul- und Rechtsautorität. Die als Nasi (Fürst) titulierten Hilleliten fanden im 2. Jh. n.Chr. einen modus vivendi mit Rom und erlangten offizielle Anerkennung als Repräsentanten der Judenschaft im römischen Reich.205 Das messianische Abenteuer des zweiten judäisch-römischen Kriegs (132–135 n.Chr.) beobachteten die Rabbinen mit Skepsis; Hadrian und sein Feldherr Julius Severus setzten der Revolte unter Bar Kochba („Sternensohn“, nach Num 24,17ff.), hinter der neben messianischen Erwartun-
202 Ebd., 68; vgl. MAIER, Grundzüge, 65: „Wieder ging es um das immer neu akute Problem der Integration sowohl in den kulturellen Rahmen der näheren Umwelt wie in die politische Ordnung der römischen Weltmacht.“ 203 MAIER, Zwischen, 165. 204 Vgl. FELDMAN, Jew, 424: „So strong was the foundation of the policy of toleration towards the Jews that even after the long and bloody revolt of 66–74 the Romans refused to remove the special privileges of the Jews in such important cities as Antioch and Alexandria (…). Indeed, the ofcial policy of the Roman government was not merely to tolerate Judaism but positively to protect it, so long as it posed no threat, through attempts as proselytism, to the state cult.“ 205 Vgl. MAIER, Grundzüge, 92. 95–98. 111ff.; KÖSTER, Einführung, 420–423. FELDMAN, Jew, 424 sieht das Verhältnis der Rabbinen zu Rom ambivalent – sie bezeichneten die römische Herrschaft als gottlos, bewunderten aber die Pax Romana und die Fairness der römischen Verwaltung.
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
gen vielleicht auch die Aussicht auf Wiederherstellung des Tempels stand, ein Ende.206 Die religionspolitischen Maßnahmen der Römer nach diesem Krieg, die dem Verbot der Pflege der jüdischen Tradition gleichkamen, trafen die gemäßigten rabbinischen Kreise und ihren Schulbetrieb hart; doch hob bereits 138 n.Chr. Antoninus Pius religionspolitische Verordnungen auf und suchte den Ausgleich mit den gemäßigten Kräften unter Führung des hillelitischen Patriarchats.207 Hillels Dynastie und viele Rabbinen, die die geistige Führung des Volkes nach 70 n.Chr. übernahmen, waren von der e`llhnikh, paidei,a beeinflusst und mit der griechischen Sprache vertraut. Trotz mancher Versuche, den hellenistischen Kultureinfluss durch das Verbot der Aneignung griechischer Bildung bzw. Literatur hintanzuhalten,208 lässt sich weiterhin eine Einbindung des palästinischen Judentums „in den hellenistischen Kulturraum“ bis ins 5. Jh. n.Chr. feststellen,209 auch wenn sich ab dem 2. Jh. „(…) ein deutlicher Trend vom Griechischen weg zum Hebräischen“210 zeigt. Eine Zäsur im Hinblick auf das hellenisierte Diasporajudentum waren die Diaspora-Aufstände 115–117 n.Chr. in Ägypten, vor allem Alexandria, in der Kyrenaika, auf Zypern und in Syrien, zu denen neben konkreten Konfliktpunkten zwischen Juden und „Griechen“ (Mitbestimmungsrechte in den Poleis, Autonomie in innerjüdischen Belangen) messianisch-apokalyptische Spekulationen von Diasporajuden und militanten Kriegsgefangenen des judäisch-römischen Krieges führten.211 Die Niederschlagung der Aufstände, an denen weite Teile der griechischsprachigen Diaspora beteiligt waren,212 durch die Römer hatte schwerwiegende Folgen: „Das bis dahin kulturell so blühende griechischsprachige Judentum wurde derart hart getroffen, dass es die weitere Entwicklung im Gesamtjudentum nur mehr unwesentlich mitbestimmen konnte und in der späteren jüdischen Überlieferung, die völlig von der pharisäisch-rabbinischen Richtung kontrolliert wurde, kaum nennenswerte Spuren hinterließ, jedenfalls weit weniger als im Christentum, das einen Teil der hellenistisch-jüdischen Literatur weitertradierte.“213 206 Bemerkenswerterweise war auch in dieser Aufstandsbewegung die griechische Sprache in Gebrauch, wie die Korrespondenz Bar Kochbas und seiner Anhänger zeigt, vgl. unten 5.5.2.1. 207 Vgl. MAIER, Grundzüge, 106–110; KÖSTER, Einführung, 424ff. 208 Vgl. unten 5.5.2.5 mit Zitaten aus rabbinischen Schriften. 209 Vgl. MAIER, Grundzüge, 116. 122. 210 Ebd., 122. 211 Vgl. ebd., 98ff. 212 Vgl. ebd., 100–106. 213 Ebd., 101; vgl. ebenso MAIER, Zwischen, 188f.
5.3 Griechen in biblischen Texten
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Freilich bestanden auch nach den Diaspora-Aufständen griechischsprachige jüdische Diasporagemeinden weiter: Im östlichen Mittelmeerraum blühte besonders die kleinasiatische Diaspora, die sich nicht an den Aufständen beteiligt hatte, in vielen Städten; im Westen des römischen Reiches die stadtrömische Diaspora, deren Gemeinden zu einem guten Teil aus griechischsprachigen Juden bestanden. Am Ende der Antike war die jüdische Diaspora „(…) bei aller Eigentümlichkeit und Vielfalt (…) von hellenistischer Kultur und Zivilisation so stark mitgeprägt (…), dass sie im christlichen wie im islamischen Herrschaftsbereich als Repräsentantin der Antike (…) und insbesondere als Träger städtischer Kolonisation den neuen Machthabern und jungen Staaten nützliche Dienste zu leisten vermochte.“214
5.3 Die Begegnung mit den Griechen im Spiegel biblischer Texte Seit vorhellenistischer Zeit, als es in griechischer Literatur noch keine Hinweise gab, dass Autoren um die Existenz der Juden und ihre religiösen Besonderheiten wussten oder ihnen Namen gaben, zeigen biblische Belege,215 dass Juden die Griechen kannten und als Jawan bzw. Jewanim – teils als Kittim – bezeichneten.216 Viele biblische Belege – wie auch spätere jüdische Literatur – lassen weder ausdrückliche Polemik gegen Griechen noch gar „Griechenhass“ erkennen.217 Jawan (!w" y " ) und Jewanim (~ynI w " Y > ) bezeichneten ursprünglich Ionien und die Ionier an der Westküste Kleinasiens, schon in vorhellenistischer Zeit auch Griechenland und die Griechen oder überhaupt (nord-)westliche Mittelmeergebiete und ihre Bewohner, in hellenistischer Zeit schließlich auch die Reiche Alexanders bzw. der Diadochen.218 214
MAIER, Grundzüge, 139. Breiter Konsens ist, dass Gen 10; Ez 27,13; Joël 4,6; Jes 66,19 aus vorhellenistischer Zeit stammen, vgl. EDDY, King, 183f.; STERN, Jews, 1102; BAKER, Javan: ABD 3 (1992), 650. 216 Vgl. MOMIGLIANO, Juden, 28f. 217 Nach GOLDSTEIN, Acceptance, 11 kamen im Hebräischen abfällige Ausdrücke für Griechen, Hellenisierte oder das Hellenisieren, wie lateinisch „pergraecari“, „Graeculus“ (vgl. oben, 4.1.2) oder das von Kirchenvätern pejorativ gebrauchte e`llhni,zein nicht vor. – Zur Wahrnehmung von Griechen, Griechentum bzw. Hellenismus bei Kohelet, Ben Sira und in den Makkabäerbüchern vgl. unten 5.5.2.3.; insbesondere zu 2Makk vgl. auch 5.4.2.3.2 (c). 218 Vgl. GESENIUS, Thesaurus II/1 (1839), 587: „Graecia, pr. Ionia, cuius quidem provinciae utpote Orienti vicinae et Orientalibus prae ceteris cognitae nomen in linguis Orien215
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Kittim (~yTi K i )219 – zunächst Name für Einwohner der phönizischen Koloniestadt Kition (Ki,tion), dann für die Zyprier insgesamt (vgl. Gen 10,4 und 1 Chr 1,7; Ez 27,6 und Jes 23,1.12220) – stand bald im weiteren Sinn als Bezeichnung für Inseln und Küsten des Mittelmeeres (Jer 2,10221) bzw. für seefahrende Völker, namentlich für Griechenland bzw. Makedonien (Num 24,24222; 1 Makk 1,1; 8,5) oder Rom (Dan 11,30223). Der erste biblische Beleg für !w" y " legt ein unproblematisches Verhältnis Israels zu Jawan nahe: In der Völkertafel Gen 10 stellt die Priesterschrift (6./5. Jh. v.Chr.)224 die Geschlechterfolge (tdo l . A T ) nach Noach dar (Gen 10,1) und nennt zuerst die Nachkommen Jafets (tp, y < )225 (Gen 10,2–5), zu denen sie auch Jawan zählt: 2 4 5
„Die Söhne Jafets sind Gomer, Magog, Madai, Jawan, Tubal, Meschech und Tiras. (…) Die Söhne Jawans sind Elischa, Tarschisch, die Kittäer und die Rodaniter. Von ihnen zweigten sich die Inselvölker in ihren verschiedenen Ländern ab, jedes nach seiner Sprache und seinen Sippenverbänden in ihren Völkerschaften.“226
talibus ad universam Graeciam translatum est. (…) Et ex hac quidem (VIa,wn) forma ortum videtur semiticum !w"y".“ – Vgl. GESENIUS, Handwörterbuch II (1995), 453f.; KOEHLER/BAUMGARTNER, Lexikon II (1974), 384; ZORELL, Lexicon (1940ff.), 305. RUPPERT, Genesis, 456 setzt die Bedeutungserweiterung zu „Griechenland“ in hellenistischer Zeit an; vgl. aber ZIMMERLI, 1. Mose 1–11, 370ff. 219 Vgl. GESENIUS, Handwörterbuch (1915), 368; MOMIGLIANO, Juden, 29. 220 Zu den Stellen aus Gen, 1 Chr, Ez und Jes vgl. die folgenden Ausführungen zu „Jawan“. 221 Jer 2,10, wahrscheinlich aus Jeremias Frühzeitverkündigung (626–622 v.Chr.), mahnt: „Was nirgends geschah, weder im Westen – dafür stehen die Kittäer (…) – noch im Osten – Kedar meint die Bewohner der syrisch-arabischen Wüste – hat Israel getan: Es hat (…) seinen Gott mit hilosen Wesen vertauscht.“ (SCHREINER, Jeremia 1–25, 20; vgl. CRAIGIE, Jeremiah 1–25, 29) 222 Die Bileam-Prophetie vom Zusammenstoß Kittim – Assur könnte Echo des Kampfes Griechen – Assyrer im 8./7. Jh. v.Chr. sein (vgl. MOMIGLIANO, Juden, 29) oder – eine Spätdatierung vorausgesetzt – auf den Alexanderzug anspielen (vgl. SCHARBERT, Numeri, 102). 223 Im Rahmen seiner Geschichtsschau schildert das Danielbuch um 165 v.Chr. (vgl. SCHMIDT, Einführung, 289ff.), wie 168 v.Chr. Antiochos IV. durch Intervention „kittäischer Schiffe“ – d. h. römischer Schiffe unter Konsul Popilius Laenas – vom Angriff gegen Alexandria abließ (vgl. LEBRAM, Daniel, 120); das Eingreifen der Römer wird als göttliche Vergeltung gegen das als „viertes Weltreich“ gedeutete Seleukidenreich interpretiert (HANHART, Vorgeschichte, 185 A.6; 187ff.). 224 Zur Zuordnung zur Priesterschrift und Datierung des Grundbestands der Völkertafel ins 7./6. Jh. vgl. ZIMMERLI, 1. Mose 1–11, 367ff.; RUPPERT, Genesis, 443. 460; SEEBASS, Genesis I, 265ff. Zur Datierung der Priesterschrift vgl. KAISER, Einleitung, 114ff. (5. Jh.); SCHMIDT, Einführung, 95ff.; SMEND, Entstehung, 58f. (exilisch-nachexilisch). 225 Vgl. RUPPERT, Genesis, 454: tp,y< wahrscheinlich von VIapeto,j der griechischen Mythologie. 226 Gen 10,2.4–5 (EÜ); Gen 10,2–4 wird vom Chronisten (laut SCHMIDT, Einführung, 161ff. im 4./3. Jh.) in 1 Chr 1,5–7 zitiert.
5.3 Griechen in biblischen Texten
119
Mit Jafets Nachkommen stellt die Völkertafel – ihrem geographischen Gliederungsprinzip und ihrer heilsgeschichtlich-universalistischen Perspektive entsprechend227 – jene Völkergruppe vor Augen, „(…) die im nördlichen Mittelmeergebiet und im nördlichen Vorderasien sich sprachlich von den semitischen Stämmen abhob und infolge der Distanz zu Palästina als unproblematisch galt. Die Bibel subsumierte diese Völker (…) daher einem gemeinsamen Ahnherrn, Japhet, der (…) als (…) Sohn des Noah erscheint und vom Jahwisten in Genesis 9,18–27 neben Sem, dem Ahnvater der eigenen und der enger verbundenen Gruppen, eingestuft wird. (…) Diese (…) genealogische Konstruktion diente den Späteren als Raster für typologischaktualisierende Wertungen und bot somit auch für das Verhältnis zwischen Griechen und Juden zunächst eine günstige Basis.“228 Mit der Nennung der Jawan-Söhne (Gen 10,4)229 und der Inselvölker (Gen 10,5) verweist die Völkertafel darüber hinaus auf traditionelles, vorhellenistisches Wissen der Juden um die Kolonisationstätigkeit der Griechen im Mittelmeerraum: Elischa weist auf Zypern,230 Tarschisch auf die südwestspanische phönizische Kolonie Tartessos,231 und mit den Kittäern und Rodanitern sind die Einwohner von Zypern und Rhodos gemeint.232 Eine „politische Leidenschaftslosigkeit“, wie sie aus der Völkertafel spricht,233 wird man von den Propheten Ezechiel und Joël nicht erwarten dürfen: Sie sehen Jawan durchaus kritisch als Handelspartner der Philister und der phönizischen Städte Tyros und Sidon, die in den Sklavenhandel involviert sind.234 227 Vgl. etwa RUPPERT, Genesis, 450f. 460. 481; SEEBASS, Genesis I, 268f.; SARNA, Genesis, 69f. 228 MAIER, Judentum, 162f.; vgl. MAIER, Grundzüge, 17: Bedeutsam für diese genealogische Konstruktion ist Noachs Segenswort über Jafet Gen 9,27, das aufgrund der Zusammenschau mit Gen 10,2 später auch auf Jafets Nachkommen, besonders Jawan, bezogen wurde: „Raum schaffe Gott für Jafet. In Sems Zelten wohne er, Kanaan aber sei sein Knecht.“ (EÜ) 229 Zu den Völkernamen vgl. ZIMMERLI, 1. Mose 1–11, 371f. 382; RUPPERT, Genesis, 454–460; SEEBASS, Genesis I, 256f.; SARNA, Genesis, 71. Die abweichenden Namen Kittäer und Rodaniter lassen annehmen, dass Gen 10,4b Nachtrag (aus älteren Quellen?) ist, vgl. ZIMMERLI, 1. Mose 1–11, 381f.; RUPPERT, Genesis, 447; SEEBASS, Genesis I, 265f. 230 BAKER, Javan: ABD 3 (1992), 650, meint Elischa mit Kreta identizieren zu können. 231 Nach RUPPERT, Genesis, 459 ist Tarsos in Kilikien gemeint; weitere mögliche Erklärungen bei SARNA, Genesis, 71: Tharros auf Sardinien; vyvir>t; „Eisenhütte“ oder tarro,j „Ruder“. 232 Im Kontext der Völkertafel sind mit den ~yTiKi (Gen 10,4; 1 Chr 1,7) in der ursprünglichen Bedeutung die Zyprier gemeint; !w"y" erscheint als Vatername, d. h. als Überbegriff. 233 Vgl. SEEBASS, Genesis I, 268. 234 Vgl. MOMIGLIANO, Juden, 29.
120
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Ezechiels zweites Klagelied auf den Untergang von Tyros235 (Ez 27,1– 36), das „(…) zum materialreichsten hinsichtlich der Kenntnisse damaliger Weltpolitik (…)“236 gehört, vergleicht die stolze Hafenstadt mit einem Schiff237 und zählt in einem Prosaabschnitt (Ez 27,9b–25a)238 ihre Handelspartner auf, zu denen auch Völker im Westen (Jawan) und Osten Kleinasiens (Tubal, Meschech) gehörten (Ez 27,13):239 13 „Jawan, Tubal und Meschech waren deine Händler. Menschen und Kupfergeräte gaben sie für deine Handelswaren.“240
Während Ezechiel Jawan, Tubal und Meschech als Verkäufer von Sklaven darstellt, erwähnt Joël (4. Jh. v.Chr.)241 die Jewanim als Abnehmer jüdischer Sklaven. Seine prophetische Polemik richtet sich gegen die Plünderungen der Phönizier und Philister und den Verkauf jüdischer Sklaven an die Griechen und stellt JHWHs Vergeltung in Aussicht (Joël 4,5–8):242 5 6
„Denn ihr habt mein Silber und Gold genommen und meine kostbaren Schätze in eure Paläste gebracht. Ihr habt Judas und Jerusalems Söhne an die Jawaniter verkauft, um sie aus ihrer Heimat zu entfernen.
235
Vgl. LIWAK, Tyros: DNP 12/1 (2002), 951–955. Vgl. KOCH, Profeten II, 121. 237 Ez 27,6 verweist auf die Materialien, aus denen das „Schiff Tyros“ gebaut ist, u.a. auf Eschenholz „von den Inseln der Kittäer“, d. h. von Inseln und Küsten des Mittelmeeres. 238 Während das Klagelied von Ezechiel (6. Jh. v.Chr.) stammen dürfte (vgl. SCHMIDT, Einführung, 247ff.; SMEND, Entstehung, 166ff.; KOCH, Profeten II, 90. 100; vgl. aber KAISER, Einleitung, 262–266), könnte der Prosaabschnitt Ez 27,9b-25a m. E. späterer Einschub (4. Jh. v.Chr.?) sein. 239 Vgl. ALLEN, Ezekiel, 86; vgl. ebd., 82 A. 19a; GESENIUS, Handwörterbuch (1915), 294f.: In Ez 27,19 dürfte die Lesart „Jain“ (eine Stadt nahe Medina) zu bevorzugen sein. 240 Ez 27,13 (EÜ). – Ähnlich ist Prophetenworten gegen Sidon, Tyrus und ganz Phönizien (Jes 23,1–14), vermutlich nach dem Alexanderzug, Ende des 4. Jh. v.Chr. (vgl. FOHRER, Jesaja I, 258ff.; anders WATTS, Isaiah 1–33, 305f.: 677 v.Chr.) zu entnehmen, dass die Kittäer, d. h. die Zyprier (Jes 23,1.12), wichtige Handelspartner der Phönizier waren. 241 Vielfach wird Joël ins 4. Jh.v.Chr. datiert, der Prosaabschnitt Joël 4,4–8 als Zusatz nach 343 oder 330, dem Fall Sidons: SCHMIDT, Einführung, 283; SMEND, Entstehung, 172; KAISER, Einleitung, 291; DEISSLER, Zwölf Propheten I, 66f. 84. Hingegen vertreten KOCH, Profeten I, 171–175; STUART, Hosea – Jonah, 225f. eine Frühdatierung Joëls, auch von Joël 4,4–8 (Koch: 630–610, Stuart: 597 oder 586 v.Chr.). MYERS, Date, 178–185. 192– 195 schließt von Joël 4,4–8, historischen und archäologischen Daten, einem Vergleich mit Haggai und Sacharja, dass Joël um 520 v.Chr. abgefasst wurde. M. E. zeigen Koch, Stuart und Myers, auch wenn man ihren frühen Datierungen nicht folgen will, dass Joël 4,4–8 nicht zwangsläug als späterer Zusatz (früh-)hellenistischer Zeit angesehen werden muss, sondern noch der persischen Zeit zuzurechnen ist, vgl. HENGEL, Juden, 34. 242 Vgl. DEISSLER, Zwölf Propheten I, 84. 236
5.3 Griechen in biblischen Texten 7 8
121
Seht her, ich lasse sie aufbrechen von dem Ort, wohin ihr sie verkauft habt, und lasse eure Taten auf euch selbst zurückfallen. Und ich verkaufe eure Söhne und Töchter an die Söhne Judas, und diese verkaufen sie weiter an die Sabäer, ein Volk in weiter Ferne. Ja, der Herr hat gesprochen.“243
Möglicherweise deutet Joël 4,6–7 auch „(…) jüdische Auswanderung in den ägäischen Raum Griechenlands und Kleinasiens“244 an, und dass sich „der jüdische Sklave ‚im fernen Land‘ (…) offenbar an die heidnische Umgebung assimiliert“245 hatte. Ezechiel und Joël zeichnen ein eher negatives Bild von Jawan, das mit Tyros und Sidon und den Philistern in Handelsbeziehungen steht, ja Sklavenhandel betreibt. Die Anklagen der Propheten richten sich freilich in erster Linie an Tyros und Sidon und die Philister; Jawan, das als weit entfernt erscheint, ist höchstens indirekter Adressat. Als Adressat nicht prophetischer Kritik, sondern der Botschaft von JHWHs Herrlichkeit (dAbK' ) erscheint Jawan hingegen in Jes 66,19.246 In Jes 66 sind besonders die Verse 18–23 als eindrucksvoller Schlussakkord des Buches Jesaja gestaltet,247 als eschatologisches Finale, in das unter anderen Völkern auch Jawan einbezogen wird (Jes 66,18–20): 18 „Ich kenne ihre Taten und ihre Gedanken und komme, um die Völker aller Sprachen (tAnvoL.h;w> ~yIAGh;-lK'-ta,) zusammenzurufen, und sie werden kommen und meine Herrlichkeit (ydIAbK.-ta,) sehen. 19 Ich stelle bei ihnen ein Zeichen auf und schicke von ihnen einige, die entronnen sind (~yjiyleP.), zu den übrigen Völkern: nach Tarschisch, Pul und Lud, Meschech und Rosch, Tubal und Jawan und zu den fernen Inseln (~yqixor>h' ~yYIaih' !w"y"w>), die noch nichts von mir gehört und meine Herrlichkeit noch nicht gesehen haben. Sie sollen meine Herrlichkeit unter den Völkern verkünden. 20 Sie werden aus allen Völkern eure Brüder als Opfergabe für den Herrn herbeiholen auf Rossen und Wagen, in Sänften, auf Maultieren und Dromedaren, her zu meinem heiligen Berg nach Jerusalem, spricht der Herr, so wie die Söhne Israels ihr Opfer in reinen Gefäßen zum Haus des Herrn bringen.“248
243
Joël 4,5–8 (EÜ). HENGEL, Juden, 144; darauf spielen neben Joël 4,6 auch Jes 11,11f.; 66,19 an. Zur Joël-Stelle und ihrer historischen Verortung ausführlich HENGEL, Judentum, 80ff. 245 HENGEL, Juden, 121. 246 Vgl. MOMIGLIANO, Juden, 29. 247 Vgl. PAURITSCH, Gemeinde, 196; Jes 66,24 ist wohl später Zusatz, vgl. FOHRER, Jesaja III, 285; LAU, Prophetie, 150; PAURITSCH, Gemeinde, 210; VERMEYLEN, Isaïe, 502. 248 Jes 66,18–20 (EÜ). 244
122
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Dieses Spruchkonglomerat bietet wenig Anhalt für eine geschichtliche Verortung; die Motive der voraussetzungslosen universalen Heilswende durch JHWHs Epiphanie (V. 18) und der Völkerwallfahrt (VV. 20. 23; vgl. Jes 2,2ff.; 60,1ff.; 62,2; Ez 39,21ff.)249 lassen unterschiedliche Datierungen und Interpretationen zu. Eine mögliche Interpretation ist, dass Jes 66,18–23 Heilsankündigung ist, mit der Tritojesaja250, ein Tradentenkreis251 oder Redaktor252 frühnachexilischer Zeit253 deuterojesajanische Motive aktualisierte und überbot. Jes 66,19 nimmt die Vorstellung von den „Entronnenen aus den Völkern“ aus Jes 45,20 auf254 – ~yI A Gh yje y li P ; . wirkt „(…) wie ein Fachausdruck für die bekehrten und daher vom Gericht verschonten Heiden“255 – und überbietet sie: Die „Entronnenen“ werden nicht bloß zum Heil eingeladen, sie treten als Boten JHWHs in den Auftrag des Gottesknechts ein, Licht für die Völker zu sein, damit JHWHs Heil bis ans Ende der Erde reiche (vgl. Jes 49,6);256 ihre doppelte Aufgabe ist es, „missionarisch“ tätig zu sein und die Diasporajuden wie eine Opfergabe nach Jerusalem zu bringen.257 Um die universale Dimension des Auftrags zu illustrieren, zählt Jes 66,19 in Anlehnung an Gen 10 und Ez 27,10–13 exemplarisch-symbolisch entfernte Weltgegenden auf – Tarschisch (Spanien), Pul (Nordafrika), Lud und Tubal
249
Vgl. LAU, Prophetie, 143f.; PAURITSCH, Gemeinde, 207. 217; WATTS, Isaiah 34–66, 365. Vgl. ZILLESSEN, Tritojesaja, 244. 274f.; MCCULLOUGH, Re-Examination, 33. 251 Vgl. LAU, Prophetie, 143. 150f. 252 Vgl. PAURITSCH, Gemeinde, 198. Nach ELLIGER, Tritojesaja, 140 spricht für die Abfassung von Jes 66,18ff. durch einen Redaktor vor allem, dass das Stück in Prosa verfasst ist. 253 Zur Datierung „Tritojesajas“ in frühnachexilische Zeit vgl. SCHMIDT, Einführung, 267. 270; SMEND, Entstehung, 155f.; KOCH, Profeten II, 157; ELLIGER, Einheit, 76. 110ff.; PAURITSCH, Gemeinde 223ff. 246–250. Zur Forschungsgeschichte bis 1970 vgl. PAURITSCH, Gemeinde, 21–24 (Tritojesaja); 195f. (Jes 66). FOHRER, Jesaja III, 13f.; KAISER, Einleitung, 281ff. rechnen für „Tritojesaja“ mit einem längeren Entstehungszeitraum, ca. 520–445 v.Chr., WATTS, Isaiah 34–66, 306ff. mit einer Entstehung von Jes 62–66 zwischen Esra und Nehemia (457–445 v.Chr.). 254 Vgl. ZILLESSEN, Tritojesaja, 244; PAURITSCH, Gemeinde, 208. 255 FOHRER, Jesaja III, 284; ebd., 95f. weist Fohrer auf frühere Gegner des JHWH-Glaubens hin, die beschämt zu JHWH kommen (vgl. Jes 45,24); vgl. VERMEYLEN, Isaïe, 501. Anders nimmt LAU, Prophetie, 145–150, v.a. 145 A. 9, an, die „Entronnenen“ Jes 66,19 seien Israeliten, die die Katastrophe 587 v.Chr. überlebten und in die Heimat zurückkehrten. 256 Vgl. PAURITSCH, Gemeinde, 207f. 217: Jes 66,19 knüpft überbietend an Jes 45,20ff.; 49,6; 56,1–8 an. 257 FOHRER, Jesaja III, 284. Nach HENGEL, Juden, 144 ist Jes 66,19 neben Joël 4,6–7 und Jes 11,11f. Hinweis auf jüdische Auswanderer bzw. Diasporajuden in diversen Weltgegenden. 250
5.3 Griechen in biblischen Texten
123
(Kleinasien);258 Jawan und die fernen Inseln259 beschließen als Synonym für geographisch, kulturell und religiös entfernte Völker, denen am Ende der Zeit JHWHs Herrlichkeit verkündet wird, die Aufzählung. Eine zweite mögliche Interpretation ist, Jes 66,18–23 als vaticinium ex eventu später zu datieren;260 insbesondere Jes 66,18f.21 ließe sich dann als literarischer Niederschlag von Missionserfolgen des Judentums spätpersischer oder frühhellenistischer Zeit deuten: „On mettra ces additions en rapport avec l’effort missionaire déployé par certains milieux juifs à partir de la fin de l’époque perse.“261 Im Vergleich zu den bisher besprochenen Texten aus vorhellenistischpersischer Zeit, in denen Jawan in heilsgeschichtlich-universaler Perspektive wohlwollend beurteilt (Jes 66; Gen 10) oder nur indirekt wegen seines Sklavenhandels kritisiert (Ez 27; Joël 4) wird, zeichnet sich in Deuterosacharja (Sach 9,13) und im Danielbuch (Dan 8,21; 10,20; 11,2) ein Wandel im Bild von Jawan ab, der die epochale Zäsur durch den Alexanderzug widerspiegelt: Jawan erhält als Synonym für die Weltherrschaft des Alexanderreiches bzw. seiner Nachfolgestaaten eine deutlich negative Konnotation. Die eher von polemischer Konfrontation als von Kulturbegegnung geprägte Situation zu Beginn der Ptolemäerherrschaft führt Deuterosacharja (ca. 300 v.Chr.)262 vor Augen: Das Drohgedicht Sach 9,1–8 lässt durchblicken, dass in Alexanders Kriegserfolgen gegen Tyros und Städte im Umkreis Israels JHWHs „mächtig waltendes ‚Geschichtswort‘ am Werke war“263, doch Sach 9,9f. zeichnet den messianischen Friedenskönig als Gegenbild zu Alexander. Hass gegen Jawans militärische Übermacht schließlich ist in Sach 9,11–17 unübersehbar; Jawan gehört zu den Feinden, gegen die 258
Vgl. WATTS, Isaiah 34–66, 365. In Deutero- und Tritojesajas Heilsbotschaften spielen Hinweise auf „die Inseln“ eine große Rolle, vgl. Jes 40,15; 41,1.5; 42,5.10; 49,1; 51,5; 60,9 (laut Recherche in BibleWorks). 260 Vgl. VERMEYLEN, Isaïe, 501ff. 514–517. Hauptargument für die Datierung des Textes ins 4./3. Jh. v.Chr. ist laut DAVIES, Destiny, 95 und FOHRER, Jesaja III, 14. 274f., dass die Formulierung „alle Völker und Zungen“ spät sei, da sie sich auch in Sach 8,23; Dan 3,4 nde. 261 VERMEYLEN, Isaïe, 514. Vgl. ebd., 514–517: Literarische Schichten in Jes 66,18–24 spiegeln Tendenzen im hellenistischen Judentum, Jes 66,18f.21 „missionarisches Bemühen“ und Öffnung zu Proselyten, Jes 66,23f. die Verurteilung der Samaritaner und Jes 66,22 die Apokalyptik. 262 Vgl. DEISSLER, Zwölf Propheten III, 267f.; SCHMIDT, Einführung, 279. SMITH, Micah – Malachi, 169f. datiert Deuterosacharja mit dem Argument, er sei Schüler Zefanjas, auf 500 v.Chr. 263 DEISSLER, Zwölf Propheten III, 296; vgl. HENGEL, Juden, 20. 259
124
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
JHWH in einem eschatologischen Krieg mit dem wiedervereinigten Israel als Waffe264 rettend eingreift (Sach 9,13):265 13 „Denn ich spanne mir Juda als Bogen und lege Efraim als Pfeil darauf. Ich rufe deine Söhne, Zion, zum Kampf gegen die Söhne Jawans, ich mache dich zum Schwert eines Helden.“266
Die Krise der jüdischen Religion rund eineinhalb Jahrhunderte später ndet ihren Niederschlag unter anderem in der Verschärfung der Haltung gegenüber Jawan im ca. 165/164 v.Chr. abgeschlossenen267 Danielbuch. Zur geschichtstheologischen Einordnung Antiochos’ IV. und seiner religiösen Zwangsmaßnahmen268 bedient sich Dan 7–12 der damals gängigen Deutung der Weltgeschichte als Folge von vier Weltreichen;269 die negative Einschätzung Jawans – vor allem der zeitgenössischen Seleukidenherrschaft – in dieser „Geschichtsschau“270 ist kaum zu überbieten: Als viertes Reich nach Babylonien, Medien und Persien ist es „schlimmste, aber auch letzte Manifestation der gottfeindlichen Weltmacht“271, mit deren Fall sich die Erwartung des Gerichts und der Vollendung der Gottesherrschaft verbindet.272 Die drei Stellen im Danielbuch, die Jawan ausdrücklich nennen, rekurrieren auf den Beginn der Herrschaft Jawans, auf den Machtwechsel vom Weltreich der Perser zum Weltreich der Griechen und Makedonen. – In 264 Vgl. HENGEL, Juden, 35. Vgl. ebd., 153: Aus den Chronikbüchern, die in etwa zur gleichen Zeit entstanden, spricht freilich auch Bewunderung für das makedonische Militärwesen, den Festungsbau und die Domänenwirtschaft der Ptolemäer. 265 Vgl. DEISSLER, Zwölf Propheten III, 296. Mit der dem eschatologischen Krieg vorausgehenden, Sach 9,11f. geschilderten Rückkehr der Gefangenen ist die von Ptolemaios II. (285–246 v.Chr.) den von Ptolemaios I. 312 v.Chr. nach Ägypten deportierten Juden – vgl. oben (5.2.3); Josephus, Ant 12.7–9 (12.1.1) – wieder freigegebene Rückkehr gemeint. 266 Sach 9,13 (EÜ). 267 Vgl. SCHMIDT, Einführung, 289ff. Nach LEBRAM, Daniel, 18–25 wurde das aramäische Danielbuch (Dan 2,4b–7,27; vor 200 v.Chr.) zunächst durch Redaktor I erweitert (Kap. 1; Teile Kap. 8), dann durch Redaktor II (Teile Kap. 8; Kap. 9–12) auf die Zeit Antiochos’ IV. angepasst. GOLDSTEIN, I Maccabees, 37–54, bes. 42–54 (vgl. GOLDSTEIN, Acceptance, 23f.) bespricht Daniel 7–12 neben dem Testament Moses und Henoch 85–90 als 170–160 v.Chr. entstandene historische Quelle, die eine kritische Prüfung der in den Makkabäerbüchern gebotenen Geschichtsdarstellung ermöglicht. Vgl. MAIER, Grundzüge, 32: „Noch deutlicher als die Makkabäerbücher, die das Geschehen bereits aus einem gewissen Abstand beschreiben, vermittelt das Buch Daniel einen Eindruck von den Empndungen und Vorstellungen, die (zur Zeit der hellenistischen Reform bzw. Antiochos’ IV., MZ) unter der Mehrzahl der Juden wirksam waren.“ 268 Vgl. oben 5.2.4; eine zeitgeschichtlich orientierte Interpretation zu Daniels Visionen bietet HANHART, Vorgeschichte, 179–193. 269 Vgl. auch Dan 2,36–45. 270 Vgl. LEBRAM, Daniel, 25f. 271 MAIER, Zwischen, 152. 272 Vgl. ebd.; MAIER, Grundzüge, 7.
5.3 Griechen in biblischen Texten
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Dan 8,21 deutet Gabriel als angelus interpres (Dan 8,15–26) den Ziegenbock (Dan 8,5–8) aus Daniels Vision (Dan 8,1–12), der die Erde überquert und den Widder niederstößt, auf den König von Jawan, d. h. auf Alexander,273 der das Perserreich erobert:274 21 „Der Ziegenbock ist der König von Jawan. Das große Horn zwischen seinen Augen ist der erste König.“275
Die Vorstellung in Dan 10,20, der in der Vision auftretende Engel276 habe zunächst gegen den Engelfürsten, d. h. eine Art „Schutzengel“, des persischen, dann gegen jenen des griechischen Weltreichs zu kämpfen,277 wirkt wie eine allegorische Darstellung der Abfolge der Weltreiche der Perser und Griechen: 20 Der Engel „(…) sagte: Weißt du, warum ich zu dir gekommen bin? Ich muss bald zurückkehren und mit dem Engelfürsten von Persien kämpfen. Wenn ich mit ihm fertig bin, dann wird der Engelfürst von Jawan kommen.“278
Am Beginn der geschichtlichen Vision in Dan 11 lenkt der „angelus interpres“ den Blick auf die Perserkönige, vor allem auf einen, der gegen das „Reich von Jawan“ (den Expansionsdrang der makedonischen Könige?) kämpft, auf den jedoch bald ein kraftvoller König279 – gemeint ist wohl Alexander der Große – folgt (Dan 11,2–3): 2
„(…) Noch drei Könige kommen in Persien; der vierte aber wird größeren Reichtum erwerben als alle anderen vor ihm. Nachdem er reich und mächtig geworden ist, bietet er all seine Macht gegen das Reich von Jawan auf.
273
Vgl. auch Dan 7,7ff.; 11,3. Vgl. LEBRAM, Daniel, 97ff.; HARTMAN/DI LELLA, Daniel, 224f. 234f. Die Tiersymbolik (Widder; Ziegen- bzw. Steinbock) entstammt der Astrologie hellenistischer Zeit, die Symbolik des Steinbocks eventuell propagandistischer Allegorie der Seleukiden, vgl. HENGEL, Judentum, 336f. 275 Dan 8,21 (EÜ). 276 In Dan 10,13 ist auch vom Erzengel Michael als dem Engelfürsten Israels die Rede. 277 Vgl. zur Vorstellung der „Schutzengel“ und ihres Kampfes ausführlich HENGEL, Judentum, 342–345; HARTMAN/DI LELLA, Daniel, 282–285. 278 Dan 10,20 (EÜ). 279 LEBRAM, Daniel, 117 identiziert den König mit Artaxerxes III. Ochos (359–338 v.Chr.), dem letzten bedeutenden Herrscher Persiens, der Philipp von Makedonien, Alexanders Vater, in seinen Bestrebungen, Griechenland zu erobern, beeinträchtigen konnte. Andere Interpretationen (vgl. beispielsweise HARTMAN/DI LELLA, Daniel, 286ff.: der genannte König sei Darius II. Ochos, 423–404 v.Chr., der auf den Peloponnesischen Krieg Einuss nahm) überzeugen nicht, da sie die zeitliche Nähe, die Dan 11,2–3 zwischen dem gegen Jawan kämpfenden Perserkönig und dem unschwer als Alexander zu deutenden „kraftvollen König“ insinuiert, zu wenig berücksichtigen. 274
126 3
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Dann wird ein kraftvoller König kommen; er herrscht mit großer Macht und tut, was er will.“280
Griechenland und die Griechen erfahren also im Alten Testament unterschiedliche Beurteilungen: (a) Unproblematisch-universalistisch wird in Gen 10,2–5 das Verhältnis zu den Griechen genealogisch begründet und damit eine günstige Basis für das Verhältnis zu Jawan geschaffen. (b) Eschatologisch-universalistisch ist die Perspektive von Jes 66,19 – Jawan ist hier Synonym für die weit entfernten Völker, denen die Herrlichkeit JHWHs verkündet werden wird; das Motiv der endzeitlichen Völkerwallfahrt klingt an. (c) Kritische Töne schlagen Ez 27,13 und Joël 4,5–8 an – sie wenden sich gegen den Sklavenhandel zwischen Jawan und den Phöniziern bzw. Philistern; Sach 9,11–17 und Dan 8,21, 10,20; 11,2f. kritisieren die Weltherrschaft der Diadochenreiche und die Bedrückung durch deren militärische Übermacht. Jawan hat keine Sonderrolle in der alttestamentlichen Theologie, es wird exemplarisch im Rahmen einer Völkertheologie genannt (vgl. Gen 10,2–5; Jes 66,19). In den Belegen aus dem Alten Testament käme es den Verfassern nicht in den Sinn, griechischsprachige bzw. hellenisierte Juden als Jawan bzw. Jewanim zu bezeichnen, es gibt also keine Parallele zur Bezeichnung hellenisierter Nichtgriechen als {Ellhnej bzw. griechischsprachiger Nichtgriechen als ~Ellhnistai,.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora 5.4.1 Die westliche griechischsprachige Diaspora – eine Einführung Schon seit dem Exil hatte der größere Teil des jüdischen Volkes außerhalb Palästinas gelebt. Während der hellenistischen Epoche vergrößerte sich der Anteil der Diasporajuden erheblich, sodass sie zunehmend Gewicht erhielten und sich kulturell und religiös selbstständig entwickelten. Mag die Hellenisierung alle Juden betroffen haben, war sie doch in der Diaspora, vor allem in den griechischen Städten, tiefgreifender, besonders was die Gräzisierung hebräischer Eigennamen und die griechische Sprache betraf, die in Alexandria, Antiochia, Kleinasien und Rom zur Sprache der Juden schlechthin wurde.281 280 281
Dan 11,2–3 (EÜ). Vgl. KÖSTER, Einführung, 227. 230f.; STERN, Diaspora, 122.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
127
Die Diaspora hatte zwei geographische Schwerpunkte: Die seit dem Exil in Mesopotamien bzw. Babylonien lebende aramäischsprachige jüdische Gruppe282 und die griechischsprachige Diaspora, die seit Alexander und den Diadochen ihren Schwerpunkt in Ägypten bildete, dann in jeder größeren Stadt des römischen Reiches.283 Auf die Ausbreitung der griechischsprachigen Diaspora kommen Josephus und Philo zu sprechen. Josephus zitiert nicht ohne Stolz einen Ausschnitt aus Strabons „Historischen Anmerkungen“ (~Istorika, u`pomnh,mata)284: Das jüdische Volk „(…) has already made its way into every city, and it is not easy to nd any place in the habitable world which has not received this nation and in which it has not made its power felt.“285 – Das Strabon-Zitat bei Josephus geht dann auf die Diaspora in Ägypten, vor allem Alexandria, und Kyrene ein.286
Besonders ausführlich schildert Philo in seiner Legatio ad Gaium die griechischsprachige Diaspora im östlichen Teil des römischen Reiches, lässt in seiner Darstellung allerdings die damals schon bestehenden westeuropäischen jüdischen Niederlassungen in Süditalien, Sizilien, Rom, Spanien etc. außer Betracht (legat 281f.):287 281 Die heilige Stadt Jerusalem ist „(…) die Metropole nicht nur des einen Landes Judäa, sondern auch der meisten anderen Länder dank der Kolonien, die sie im Laufe der Zeit in den Nachbarländern gründete, in Ägypten, Phönizien, Syrien (…), ferner in den weiter gelegenen Ländern Pamphylien, Cilicien, dem größten Teil Asiens bis Bithynien und dem Inneren von Pontus, ebenso auch in Europa, Thessalien, Böotien, Macedonien, Ätolien, Attika, Argos, Korinth und den meisten und bedeutendsten Gegenden der Peloponnes. 282 Und nicht nur die Kontinente sind voll von jüdischen Siedlungen, sondern auch die bekanntesten Inseln Euböa, Cypern und Kreta. Die Länder jenseits des Euphrat will ich nicht erwähnen, denn alle bis auf einen geringen Teil, Babylon und die anderen Satrapien, die ringsum fruchtbares Land besitzen, haben Juden als Siedler.“288
Die Frage nach den demographischen Verhältnissen, nach der Zahl der Diasporajuden, ist schwer zu beantworten. Philo bezeichnet sein Volk als po-
282 Vgl. FELDMAN, Jew, 328f. mit Verweis auf Josephus, Ant 11.133 (11.5.2); 20.17–96 (20.2–4). 283 Vgl. MAIER, Zwischen, 176f. 284 Dieses 47-bändige, an Polybios anschließende Geschichtswerk Strabons ist nicht mehr erhalten, vgl. RADT, Strabon: DNP 11 (2001), 1022. 285 Josephus, Ant 14.115 (14.7.2): MARCUS VII (1966), 508f.; vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 192 (Text 8.62). 286 Vgl. Josephus, Ant 14.114–118 (14.7.2). 287 Vgl. STERN, Diaspora, 118f. 124; FELDMAN/REINHOLD, Life, 192f. (Texte 8.63–64); DELLING, Begegnung, 6 A. 5f.: Philo nennt die bedeutendsten Teile der Diaspora. 288 Philo, legat 281f.: COHN VII (1964), 244f.; vgl. Flacc 45f.: vgl. COHN VII (1964), 138f.
128
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
lua,nqrwpoj.289 Zahlenangaben bei antiken Autoren sind selten zuverlässig;290 Schätzungen der jüdischen Bevölkerung in der Diaspora beziehen sich meist auf die Angabe des Josephus, dass zweieinhalb bis drei Millionen Pilger zu den Festen in Jerusalem waren.291 Das erscheint jedoch ebenso übertrieben wie Philos Aussage, dass in Ägypten eine Million Juden lebten.292 Wie schon bei Philo müssen auch in der folgenden Darstellung Westeuropa – Italien, Sizilien, Spanien etc. – und die orientalischen Länder Babylonien und Persien außerhalb der Betrachtung bleiben,293 wenngleich auch dort Juden kolonisatorisches Selbstverständnis entwickelten, hellenisiert waren, griechische Sprache und hellenistische Zivilisation übernahmen.294 Auch die sozialen und rechtlichen Bedingungen, unter denen die Juden in der griechischsprachigen Diaspora lebten, können im Folgenden nicht ausführlich behandelt werden. In der hellenistischen Diaspora verstanden sich die Juden „(…) zwischen griechischen Bürgern und Eingeborenen als eine ‚dritte Kraft‘“295. Sie bildeten von Anfang an eine besondere Gruppe neben dem üblichen sozialen Gefüge, der herrschenden freien Schicht (Griechen oder Makedonen; Polis-Bürger), den Metöken und Bauern. Sie hatten zwar nicht die gleichen Rechte wie die Griechen, waren aber neben diesen nach eigenem Recht organisiert, bildeten ein Gemeinwesen für sich, eine elitäre Kolonistengruppe wie die Griechen; daraus ergaben sich oft genug Streitigkeiten um die Gleichwertigkeit der Gruppenrechte (Isonomie).296 Josephus behauptet nicht selten, dass die Griechen den Juden gleiche bürgerliche Rechte einräumten, doch ist dies fraglich.297 Jedenfalls deuten die Konflikte der jüdischen Gemeinwesen um ihre Rechte auch darauf hin, dass sie vielerorts große Bedeutung besaßen: „Such issues could only arise if the Jewish communities were a significant presence in the cities concerned and if at least some of their members were of social and economic importance.“298
289
Vgl. BARCLAY, Jews, 41 A. 66: Mos 1.149; spec 1.7; 1.78; praem 66; legat 214; 226. Vgl. MAIER, Grundzüge, 140; CLAUSSEN, Versammlung, 83ff. 291 Vgl. Josephus, Bell 6.423–427 (6.9.3): vgl. MICHEL/BAUERNFEIND II/2 (1969), 72f.; vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 194 (Text 8.68). 292 Vgl. Philo, Flacc 43: vgl. COHN VII (1964), 138; FELDMAN/REINHOLD, Life, 193 (Text 8.64); TCHERIKOVER, Civilization, 286f.; BARCLAY, Jews, 41; CONZELMANN, Heiden, 11f. 18. 293 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 271; SOLIN, Juden, 610ff. 294 Zu Babylonien und Partherreich vgl. MAIER, Grundzüge, 126ff.; MAIER, Zwischen, 178f. 295 HENGEL, Juden, 84. 296 Vgl. MAIER, Grundzüge, 18; MAIER, Zwischen, 177. 297 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 309; HENGEL, Juden, 84f. 298 BARCLAY, Jews, 271. 290
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
129
Die Juden der westlichen Diaspora waren in mehrfacher Hinsicht hellenisiert, abhängig von sozialer Stellung, Wohnort und Epoche;299 allgemein zeigt sich die Tendenz, dass bei Diasporajuden mehrere Merkmale für die Übernahme hellenistischer Kultur anzutreffen waren – Kontakt mit Griechen, Übernahme griechischer Sprache und Bildung (Philosophie, Ausbildung im Gymnasium, Theaterbesuch) und Übernahme hellenistischer Architektur: „(…) we have good evidence that Jews believed all our traits of Hellenism to be permitted by God to Israelites living on Gentile soil.“300 Diese „Freizügigkeit“ mag damit zusammenhängen, dass Juden sich wegen ihrer Selbstdefinition über die Tora bzw. ihre griechische Übersetzung nicht so sehr von Griechen bzw. Hellenismus abzugrenzen brauchten wie etwa die Römer.301 Diasporajuden entwickelten aufgrund ihrer Gebräuche, Gesetze, ihrer Gemeinschaft untereinander und ihrer religiösen und national-ethnischen Besonderheit erstaunliche Widerstandsfähigkeit gegenüber einer wirklichen Assimilation,302 sodass „(…) von den uns bekannten griechischsprachigen Juden nur sehr wenige als wirkliche Hellenisierer in Frage kommen“303. – Wir können also davon ausgehen, dass „Hellenisten“ in der Diaspora nicht Apostaten, Assimilierte oder eine klar definierte religiöse Gruppe waren, sondern griechischsprachige Juden, die durch das Band der griechischen Sprache, der griechischen Bibel und des griechischen Synagogengottesdienstes verbunden waren.304 5.4.2 Ägypten – Alexandria 5.4.2.1 Ägypten – Alexandria: Geschichte und Bedeutung der Diaspora Schon seit dem 6. Jh. v.Chr. hatte es in Elephantine eine jüdische Militärkolonie gegeben.305 Unter Ptolemaios I. Soter (323–283 v.Chr.) bildete sich in Ägypten der Kern eines zweiten Diasporaschwerpunktes neben Babylonien. Ptolemaios I. deportierte nach dem Sieg gegen Seleukos I. (312 v.Chr.) Juden aus Jerusalem nach Ägypten,306 eine freiwillige Exulanten299
Vgl. BARCLAY, Jews, 82f. GOLDSTEIN, Acceptance, 28; vgl. zum Gymnasium HENGEL, Judentum, 125ff. 301 Vgl. GOLDSTEIN, Acceptance, 31; HANHART, Septuaginta, 76f. 302 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 354–357; DELLING, Begegnung, 9; BARCLAY, Jews, 404–408; COLLINS, Between, 274. Vgl. HENGEL, Juden, 150; WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 503. 303 MOMIGLIANO, Juden, 46; vgl. SAFRAI, Relations, 185. 304 Vgl. HENGEL, Jesus, 175. 305 Vgl. KÖSTER, Einführung, 228; zu Ägypten im AT vgl. COLLINS, Between, 64. 306 Vgl. Aristeas 12–14: vgl. MEISNER (1973), 46f. 300
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
welle dürfte gefolgt sein.307 Ptolemaios II. Philadelphos (285–246 v.Chr.) ließ die deportierten Juden frei und förderte sie,308 unter dem judenfreundlichen Ptolemaios VI. Philometor (170–145 v.Chr.) entstand das Heiligtum des Hohenpriesters Onias IV. in Leontopolis.309 Durch diese Entwicklungen wurde die Diaspora in Ägypten bald bedeutender als die in Babylonien.310 Die Juden Ägyptens waren mit den Ägyptern und mit anderen Einwanderern in einem spannungsreichen Wettbewerb im Prozess der Hellenisierung:311 Für sie ergab sich „(…) die Alternative, entweder im ägyptischen Fellachentum aufzugehen oder durch Erlernen des e`llhni,zein in die bevorzugte Klasse der ‚Griechen‘ aufzurücken bzw. zumindest einen ihr angeglichenen Status zu erreichen. Dass die Juden in Ägypten in ihrer Mehrzahl den letzteren Weg gegangen sind, ohne dabei ihre Eigenheit aufzugeben, zeigen die Septuaginta, die Synagogeninschriften und die alexandrinischjüdische Literatur; es war dies eine Entscheidung von (…) weltgeschichtlicher Bedeutung.“312 Das Erlernen des e`llhni,zein bedeutete dabei in erster Linie das Erlernen der griechischen Sprache. Alexandria, älteste hellenistische Städtegründung und Zentrum hellenistischer Kultur, wirtschaftlich-kulturelle Brücke zwischen Griechenland und orientalischer Welt, hat die Entwicklung des Judentums in Ägypten und Palästina tief beeinflusst.313 Von früh an beherbergte Alexandria eine starke jüdische Gemeinschaft, die einen der fünf Stadtteile voll und einen weiteren zum hohen Grad bewohnte.314 Die Juden waren in Landsmannschaften (politeu,mata315) organisiert,316 lebten aber nicht in einer Art Ghet-
307 Vgl. Josephus, Ap 1.186–189 (1.22): vgl. THACKERAY I (1966), 238f. Josephus zitiert hier Hekataios. 308 Vgl. Aristeas 12–27: vgl. MEISNER (1973), 46–49. 309 Vgl. MAIER, Grundzüge, 20. 23; TCHERIKOVER, Civilization, 273ff.; vgl. HENGEL/ LICHTENBERGER, Hellenisierung, 296ff. A. 18f.: Hinweise bei Josephus, Ant 12.387f. (12.9.7); 13.62–73 (13.3.1–3); 13.285 (13.10.4); 20.236f. (20.10.3); vgl. HENGEL, Problem, 175. Vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 49ff. (Texte 2.42–43). FELDMAN, Jew, 422 wertet Philos Schweigen über den Tempel in Leontopolis als Zeichen für dessen Bedeutungslosigkeit. Ausführlich zu Leontopolis: COLLINS, Between, 69–73; BARCLAY, Jews, 36f. 310 Vgl. KÖSTER, Einführung, 228; TCHERIKOVER, Civilization, 271; vgl. ebd., 285f. als Überblick über jüdische Siedlungen in Unter- und Oberägypten außerhalb Alexandrias. 311 Vgl. KÖSTER, Einführung, 234. 312 HENGEL, Judentum, 75; vgl. HENGEL/LICHTENBERGER, Hellenisierung, 299; HEGERMANN, Judentum, 338. – Zur Klasse der „Hellenen“ vgl. oben 4.3.3. 313 Vgl. KÖSTER, Einführung, 68f. 101f.; HENGEL, Judentum, 69. 314 Vgl. MAIER, Grundzüge, 101ff.; FELDMAN, Jew, 94f. 107. 115ff. 151. 315 Vgl. Aristeas 310: vgl. MEISNER (1973), 84 mit A. 310a. 316 Vgl. FELDMAN, Jew, 64f. 422; MAIER, Grundzüge, 18f.; BARCLAY, Jews, 43f. Vgl. HENGEL, Judentum, 446f. A. 792; LEVINSKAYA, Acts, 129 zum Politeuma.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
131
to, sondern hatten politischen Einfluss und nahmen am kulturellen Leben der Stadt teil.317 Der Rechtsstatus der alexandrinischen Juden ist in der Forschung umstritten: Einer Skepsis hinsichtlich des Status der Juden als Vollbürger Alexandrias318 steht die Meinung gegenüber, dass Juden in ptolemäischer Zeit durchaus zur Klasse der Hellenes gehörten:319 „(…) the deciding factor is that they belonged to the community of Hellenes which was ‚civic‘ as opposed to the native population. From the Greek viewpoint, the ethnic designation Ioudaios opened the portals of this community to the Jews, as other ‚foreign‘ ethnics did; all those who adhered to Greek culture by adopting its tongue and its social customs, and who could give proof of a respectable origin outside Egypt, were regarded as ‚Greek‘.“320 Möglicherweise wurden Juden explizit als Hellenes bezeichnet; etwa werden im 3. Jh. v.Chr. im Dorf Trikomia (Fayum) mit bedeutender jüdischer Bevölkerung, Personen, von denen viele, wenn nicht alle Juden waren, aufgelistet und „Hellenes, die im Haus des Maron leben“ genannt;321 impliziter Hinweis auf die Zugehörigkeit ägyptischer Juden zur Klasse der Hellenes ist auch, dass viele sich des griechischen Rechts bedienten.322 In römischer Zeit allerdings verschlechterte sich der Rechtsstatus der ägyptischen Juden, sie zählten nicht mehr zu den Hellenes323, und die Be-
317 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 285; STERN, Diaspora, 123. 127; CLAUSSEN, Versammlung, 91. 318 TCHERIKOVER, Civilization, 314–328. 409–414 untersucht Philo, 3Makk und Josephus, Bell 2.487ff. (2.18.7); Ant 12.8 (12.1); 14.187ff. (14.10.1); 19.280–285 (19.5.2); Ap 2.35–39 (2.4); 2.60; 2.63 (2.5) und schließt, dass die alexandrinischen Juden nicht allgemein Bürgerrechte besaßen und das in Ant 19.280–285 (19.5.2) zitierte Claudius-Edikt, das gleiche Bürgerrechte von Juden und Alexandrinern betont, jüdische Fälschung ist. Vgl. TSCHERIKOWER, Städtegründungen, 206; CONZELMANN, Heiden, 13; COLLINS, Between, 120. 319 Vgl. HONIGMAN, Diaspora, 94ff.; MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jews of Egypt, 80ff. 320 MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jew, 79; vgl. ebd., 83. 321 Vgl. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jew, 79f. mit Verweis auf CPR XIII, 109 (Nr. 4, Spalte VII). Andererseits gibt es Hinweise auf eine Trennung von Juden und Griechen; in einem Papyrus – CPJ I, 179f. (Nr. 33; 3. Jh. v.Chr.) – werden Juden und Griechen in einem anderen Dorf im Fayum von einem Beamten als zwei separate Gruppen behandelt: „(…) to be collected from all those who live in Psenyris, for the village granaries, from the Jews and from the Greeks, one half drachma per son. (…)“; vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 29 (Text 2.8). 322 Vgl. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jew, 81ff. BARCLAY, Jews, 116f. kommt mit zahlreichen Hinweisen auf CPJ auf rechtliche Verbindungen zwischen Juden und Nichtjuden zu sprechen. 323 Vgl. COLLINS, Between, 113–122, bes. 117; BARCLAY, Jews, 48–82; PEARCE, Belonging, 81. Zu den sich aus der rechtlichen Degradierung ergebenden Konikten vgl. STERN, Diaspora, 124–133.
132
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
zeichnungen Hellenes oder Alexandriner wurden für sie problematisch: Nur einmal im 1. Jh. n.Chr. taucht die Selbstbezeichnung „Alexandriner“ in der Petition eines alexandrinischen Juden Helenos auf, der sich aber in „Jude von Alexandria“ korrigiert.324 Laut Josephus sprach Apion den alexandrinischen Juden ausdrücklich das Recht ab, sich Alexandriner zu nennen, mit der Begründung, sie hätten einen Eid der Griechenfeindschaft geschworen.325 Einen ähnlich polemischen Ton schlagen auch andere Belege aus dem 1. Jh. n.Chr. an:326 Alexandrinische Bürger grenzen sich als Hellenes gegenüber den Juden ihrer Stadt ab: Sie versprechen in einem Brief an Rom, unkultivierte und ungebildete Menschen (a;qreptoi kai. avna,gwgoi gegono,tej a;nqrwpoi) von Bürgerrechten fernzuhalten und spielen damit auf die Juden an.327 Der alexandrinische Gymnasiarch Isidorus vermerkt, die Juden seien mit den – verachteten – Ägyptern auf eine Stufe zu stellen (Aivgupti,wn o`moi/oi).328 Für den römischen Statthalter Flaccus sind die Juden laut Philo überhaupt Fremde und Ausländer (xe,nouj kai. evph,ludaj).329 Kaiser Claudius schließlich, der in einem Brief 41 n.Chr. Griechen und Juden mahnt, Feindseligkeiten zu unterlassen, erinnert die alexandrinischen Juden daran, dass sie in einer Stadt leben, die nicht die ihre ist (evn avllotri,a| po,lei).330
Ob nun die alexandrinischen Juden rechtlich Hellenes waren oder nicht, viele von ihnen, besonders aus der Oberschicht, waren jedenfalls in kultureller Hinsicht Griechen, vom geistig-kulturellen Klima Alexandrias beeinflusst.331 Alexandria wurde Zentrum des hellenistischen Judentums und eines hellenistisch-jüdischen Schulbetriebs.332 Dies ist nur aufgrund des ungehinderten Zugangs alexandrinischer Juden zur griechischen Bildung, zum Gymnasium zu verstehen.333 Die Hellenisierung in Sprache, Bildung und weiten Teilen der Lebensgestaltung bedeutete jedoch keine bedingungslose Assimilation der jüdischen Diaspora an ihre hellenistische Umwelt: „Man mochte die obligate Ausbildung im Gymnasium durchlaufen (…), man mochte das Theater und Spiele besuchen, gesellschaftliche Kontakte mit Nichtjuden unterhalten, ja eine erfolgreiche Beamtenlaufbahn im
324
Vgl. CPJ II, 29–33, bes. 30ff. (Nr. 151). Vgl. COLLINS, Between, 116; BARCLAY, Jews, 50; TCHERIKOVER, Civilization, 312; MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jew, 78 A. 37. 325 Vgl. Josephus, Ap 2.89–111 (2.8): vgl. THACKERAY I (1966), 328–337; vgl. BARCLAY, Jews, 73. 326 Vgl. zum Folgenden COLLINS, Between, 117ff. 327 Vgl. CPJ II, 25–29, bes. 28 (Nr. 150); vgl. BARCLAY, Jews, 50. 328 Vgl. CPJ II, 66–81, bes. 78f. (Nr. 156, bes. 156c). 329 Vgl. Philo, Flacc 53f.: vgl. COHN VII (1964), 140; vgl. PEARCE, Belonging, 98. 330 Vgl. CPJ II, 36–55, bes. 41. 43 (Nr. 153) (= London Papyrus 1912); vgl. BARCLAY, Jews, 71; STERN, Diaspora, 129ff.; CONZELMANN, Heiden, 13; FELDMAN, Jew, 117. 331 Vgl. WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 503; MAIER, Zwischen, 181. 332 Vgl. HENGEL, Juden, 150; HENGEL, Judentum, 128. 333 Vgl. HENGEL, Judentum, 123; BARCLAY, Jews, 42.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
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ptolemäischen Staat eingeschlagen haben, aber man übernahm nicht die griechische polytheistische Religion.“334 Die alexandrinische Diaspora hatte große Ausstrahlungskraft auf andere Länder des Westens, auf die Gründung der Diaspora der Kyrenaika im 2. Jh. v.Chr.,335 vielleicht auch auf die Gründung oder wenigstens Vergrößerung der Diaspora Roms.336 Die Quellenlage ist für Alexandria und das übrige Ägypten sehr gut. Deshalb kann nicht nur über die jüdische Bildungselite Alexandrias Zuverlässiges ausgesagt werden,337 weisen doch gerade nichtliterarische Zeugnisse wie Papyri, Inschriften und Grabinschriften darauf hin, dass weite Bevölkerungsteile Ägyptens bzw. Alexandriens hellenisiert waren und sich der griechischen Sprache bedienten. 5.4.2.2 Nichtliterarische Zeugnisse der Griechischsprachigkeit ägyptischer bzw. alexandrinischer Juden338 Nichtliterarische Dokumente (Papyri, Inschriften, Grabinschriften) repräsentieren Zwischenstufen des sprachlich-literarischen Niveaus, „(…) schriftliche Anwendung des Griechischen für konkrete Zwecke, im Geschäftsleben, für den Eigengebrauch der griechisch-jüdischen Gemeinschaften, teilweise auch erforderlich durch den Status dieser Sprache als offizieller (…) Amtssprache“,339 sie zeugen von aus der Umgangssprache erwachsenen Sprachkonventionen und reflektieren im Gegensatz zu literarischen Zeugnissen ein breites Spektrum der Gesellschaft.340 So ist gerade aus diesen Dokumenten die erstaunliche Tatsache ersichtlich, „(…) wie rasch die Juden im ptolemäischen Ägypten die ihnen vertraute aramäische Sprache aufgaben und die griechische annahmen. (…) Dieser Sieg der griechischen Sprache betrifft alle sozialen Schichten.“341 334
HENGEL, Juden, 140f. Vgl. unten 5.4.3. 336 Vgl. KÖSTER, Einführung, 229; vgl. ebd., 659: Auf einen Einuss der alexandrinischen Diaspora auf die jüdischen Gemeinden in Ephesus und Korinth deutet Apg 18,24: Hier wird berichtet, dass Apollos, Mitarbeiter des Paulus, alexandrinischer Jude war (weitere Stellen zum Wirken des Apollos: Apg 19,1; 1 Kor 1,12; 3,4ff.22; 4,6; 16,12). 337 Vgl. MAIER, Zwischen, 83. 291, der warnt, dass die meisten (literarischen) Zeugnisse aus Alexandria von einer nur dünnen Bildungsschicht von Autoren stammen. 338 Einen Überblick über nichtliterarische Zeugnisse für oder von alexandrinischen Juden gibt STERLING, Judaism, 290. 339 Vgl. MAIER, Zwischen, 63. SOLIN, Juden, 706f. unterscheidet zwischen Eigengruppensprache (innerhalb der eigenen Gruppe) und out-group language (außerhalb der eigenen Gruppe). 340 Vgl. KÖSTER, Einführung, 109; KANT, Inscriptions, 674. 341 HENGEL, Juden, 126f.; vgl. FELDMAN, Jew, 54. 335
134
5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Das Griechische wurde in der ägyptischen Diaspora und besonders in Alexandria die neue jüdische Sprache.342 Für die jüdischen Sprachen Aramäisch und Hebräisch sind aus dem hellenistischen Ägypten außerordentlich wenige,343 für die Sprache der Ägypter, Demotisch, sind keine jüdischen Zeugnisse erhalten.344 5.4.2.2.1 Papyri Papyri sind die wichtigste nichtliterarische Quelle für den Einuss griechischer Sprache und Kultur auf ägyptische und alexandrinische Juden der Mittel- und Unterschicht.345 Die 520 Papyri und Ostraka im Corpus Papyrorum Judaicarum (CPJ), von Diasporajuden oder mit Bezug zu Diasporajuden, sind fast ausschließlich ägyptischer Provenienz; 450 Dokumente stammen aus der Zeit von etwa 250 v.Chr. bis 100 n.Chr.346 Von diesen 450 Dokumenten wurden nur 12 von Juden selbst aufgezeichnet bzw. in der 1. Person formuliert und repräsentieren die von Juden gesprochene Sprache. 438 Dokumente (wie Verträge, Protokolle, Listen) nennen Juden als Zeugen, Vertrags- bzw. Handelspartner usw. Die Dokumente „(…) signify only a certain understanding of Greek in the persons concerned“347, erlauben aber dennoch aufgrund ihrer Streuung Rückschlüsse auf die unter ägyptischen Diasporajuden verbreitete Griechischsprachigkeit, geben Auskunft über
342
Vgl. STERLING, Judaism, 274: „(…) the sole and primary language for Jews in Alexandria.“ 343 Vgl. FELDMAN, Jew, 54: 519 von 520 Papyri und 116 von 122 Inschriften aus dem jüdischen Milieu sind griechisch; vgl. HENGEL, Juden, 126f. Für STERLING, Judaism, 273 weisen die wenigen semitischen Sprachzeugnisse auf „periodic migrations of Jews from Judaea“ hin. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jews of Egypt, 77 führt die Vielzahl erhaltener griechischsprachiger jüdischer Dokumente darauf zurück, dass es sich um ofzielle Dokumente handelte. Trotz des Triumphs des Griechischen wurde Aramäisch wahrscheinlich mündlich und in Privatdokumenten verwendet, als Beispiel zitiert MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jews of Egypt, 74–77 einen aramäischen Papyrus des Händlers Abihi (ca. 300 v.Chr.); vgl. HENGEL, Juden, 127 A. 1. 344 HENGEL, Juden, 126f. meint, dass Demotisch für ägyptische Juden uninteressant war; hingegen verweist BARCLAY, Jews, 24f. 111f. auf Kontakt von Juden und Ägyptern der unteren Schichten, die kaum Griechisch konnten und bei denen Demotisch sehr wohl eine Rolle spielte, vgl. CPJ I, 190ff. (Nr. 46): In diesem Vertrag zwischen einer jüdischen und einer ägyptischen Familie tauchen ägyptische (Horos, Paous) und griechische, gräzisierte Namen (Sabbataios, Dosas) jüdischer Familienmitglieder auf; keiner kann Griechisch, auch die Schrift des Schreibers ist haarsträubend! 345 Vgl. FELDMAN, Hellenism: EJ 8 (1971), 300. 346 CPJ I und II; CPJ III, Nr. 451–520 enthält 70 Dokumente aus der Zeit nach 117 n.Chr. 347 MUSSIES, Greek, 1046; vgl. ebd. A. 2.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
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den Alltag alexandrinischer Juden348 und bezeugen Juden in ägyptischen Provinzstädten und Dörfern des 1./2. Jh. n.Chr., vor allem im Fayum.349 Eine große Zahl Papyri, vor allem Privatverträge, in griechischer Sprache zeigen das breite Spektrum beruicher und wirtschaftlicher Aktivitäten ägyptischer Juden:350 Sie sind in Landwirtschaft351, Handwerk352, Transport353, Geldverleih354 und Verwaltung355 tätig. Viele Juden Ägyptens waren Militärsiedler, Kleruchen; um ihren sozialen Status zu verbessern und nicht zur unterdrückten einheimischen Bevölkerung gerechnet zu werden, nahmen sie bereitwillig griechische Sprache und Zivilisation an. Zur raschen Hellenisierung mag auch beigetragen haben, dass es wenigstens im 3. Jh. v.Chr. keine geschlossenen jüdischen Einheiten gab, jüdische Kleruchen also in engem Kontakt mit griechisch-makedonischen Soldaten lebten. Das illustrieren Listen von Militärsiedlern aus dem 2. Jh. v.Chr., in denen Juden, Makedonen und Angehörige weiterer Nationalitäten gemischt sind.356 Übereinstimmend geht aus Josephus und Papyrusfunden hervor, dass jüdische Kleruchen und ihre Nachkommen später als „Makedonen“ bezeichnet werden konnten; selbst in Alexandria gehörten Juden einer Truppe von „Makedonen“ an;357
348 Vgl. CPJ II, 5–24 (Nr. 142–149) und 29–35 (Nr. 151–152); vgl. STERN, Diaspora, 123 A. 3; zum Alltag ägyptischer Juden allgemein vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 27–34 (Texte 2.6–17). 349 Vgl. STERN, Diaspora, 123 A. 5–9 mit Hinweis auf CPJ II, 119–136 (Nr. 160–229); 137–167 (Nr. 236–374); 178–224 (Nr. 409–434): Euhemeria, Philadelphia, Apollonias, Bacchias, Arsinoe; auch Oxyrhynchus (Mittelägypten), Hermopolis Magna, Apollinopolis Magna (Oberägypten) etc. Für Oxyhynchus ist in CPJ II, 210 (Nr. 423; ca. 85 n.Chr.) sogar ein „jüdisches Viertel“ (a;mfodon VIoudai?ko,n) bezeugt, vgl. DELLING, Begegnung, 6 A. 8. 350 Vgl. BARCLAY, Jews, 24. 115f.; DELLING, Begegnung, 6 A. 8. 351 Vgl. CPJ I, 134f. (Nr. 9: Schäfer); 140f. 246f. (Nr. 13. 133: Bauern bzw. Landarbeiter); 141–145 (Nr. 14–15: Winzer bzw. Weinbergpächter); CPJ II, 181ff. (Nr. 412: Schafbauern). 352 Vgl. CPJ I, 136f. (Nr. 10: Baupolier – Hinweis auf Sabbatruhe); 190ff. (Nr. 46: Töpfer); CPJ II, 176 (Nr. 405: Weber). 353 Vgl. CPJ II, 148. 165 (Nr. 282. 362: Eseltreiber); 176 (Nr. 404: Schiffseigner am Nil); 209f. (Nr. 422: Steuermänner). 354 Vgl. CPJ II, 33f. (Nr. 152); 183ff. (Nr. 413–414). Von Juden als „Kreditnehmern“ ist die Rede in CPJ II, 179ff. 186ff. (Nr. 411. 417). 355 Vgl. CPJ I, 138ff. (Nr. 12: Wächter); 167f. (Nr. 25: Polizist); CPJ II, 138 (Nr. 240: Steuereinnehmer). 356 Vgl. CPJ I, 148–178, bes. 148–151 und 173–177 (Nr. 18–32, bes. 18 und 29–31: Listen von Militärsiedlern); HENGEL, Juden, 123 A. 29; BARCLAY, Jews, 23. 115. 357 Vgl. CPJ I, 175f. (Nr. 30); CPJ II, 5–8 (Nr. 142; Zeit des Augustus); Josephus, Ap 2.35ff. (2.4); vgl. HENGEL, Juden, 123 A. 30; HENGEL, Judentum, 30 A. 91; TCHERIKOVER, Civilization, 322f. A. 75f.; BARCLAY, Jews, 23f.; HEGERMANN, Judentum, 338; DELLING, Begegnung, 6 A. 8.
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
„Makedone“ war militärische Bezeichnung, nicht unbedingt gleichbedeutend mit „Hellene“ bzw. Vollbürger.358 5.4.2.2.2 Epigraphisches Material – Inschriften Die deutliche Hellenisierung des ägyptischen Diasporajudentums schon in früher Zeit kommt nicht nur im Griechischen der Papyri, sondern auch der verschiedensten Inschriften zum Ausdruck. – Hier sind zunächst die Weihe- und Widmungsinschriften von Synagogen ägyptischer Diasporajuden zu nennen.359 Diese sind, beginnend mit den ältesten bekannten Synagogeninschriften überhaupt aus der Zeit Ptolemaios III. Euergetes (246–221 v.Chr.), durch die ganze ptolemäische Periode und die frühe Kaiserzeit, sämtlich in griechischer Sprache,360 zeigen in der Nennung der ptolemäischen Herrscherpaare einen hohen Grad von Integration ägyptischer Juden in die Gesellschaft des hellenistischen ptolemäischen Ägypten,361 bezeugen für die zugehörigen Juden griechische Namen und enthalten fast ausschließlich griechische Termini für Synagogengebäude und Versammlung(en).362 Die Synagogeninschrift in Schedia in Unterägypten (35 km von Alexandria, heute Kafred Daouar) aus der Zeit Ptolemaios’ III. Euergetes (246– 221 v.Chr.)363 lautet: „Zu Ehren von König Ptolemaios und Königin Berenike, seiner Schwester und Gattin, und deren Kindern widmeten die Juden die Proseuche (u`pe.r basile,wj Ptolemai,ou kai. basili,sshj Bereni,khj avdelfh/j kai. gunaiko.j kai. tw/n te,knwn th.n proseuch.n oi` VIoudai/oi).“364
358 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 322ff.; BARCLAY, Jews, 23. 115; CONZELMANN, Heiden, 13. 359 Vgl. HENGEL, Juden, 130; TCHERIKOVER, Civilization, 349 A. 23; BARCLAY, Jews, 26. Zum Überblick über ägyptische Synagogeninschriften vgl. HENGEL, Juden, 130 mit A. 14f.; HENGEL, Proseuche, 171f. mit A. 1–6; FELDMAN/REINHOLD, Life, 47f. (Texte 2.35–40); weiters KANT, Inscriptions, 700 A. 181f.; DELLING, Begegnung, 6 A. 8; HEGERMANN, Judentum, 339 A. 33; CLAUSSEN, Versammlung, 158 A. 49; zu Ägypten und Alexandria ausführlich CLAUSSEN, Versammlung, 85–94. 360 CLAUSSEN, Versammlung, 93 weist ausdrücklich hin, dass aus dieser Periode keine aramäischen oder hebräischen Synagogeninschriften aus Ägypten erhalten sind. 361 Vgl. CLAUSSEN, Versammlung, 93; KANT, Inscriptions, 700: „In inscriptions dedicated to Egyptian kings, Jews see the well-being of their synagogues as dependent upon the good disposition of their non-Jewish benefactors.“ 362 Vgl. CLAUSSEN, Versammlung, 150. 363 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 285 A. 45; GRIFFITHS, Egypt, 4ff.; CLAUSSEN, Versammlung, 89. 364 Vgl. CIJ II, 366f. (Nr. 1440) bzw. CPJ III, 141 (Nr. 1440); deutsche Übersetzung zit.n. CLAUSSEN, Versammlung, 89; vgl. KRAUSS, Altertümer, 263.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
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Fast wörtlich stimmt damit die Inschrift der jüdischen Gebetsstätte in Arsinoe-Krokodilopolis im Fayum in Mittelägypten aus derselben Zeit überein.365 Auch im 2. Jh. v.Chr. formulieren Juden ähnliche Dedikationen, so in Alexandria366, Athribis367 und Xenephyris368 und die folgende in Nitriai: „Für König Ptolemaios und seine Schwester Königin Kleopatra und seine Gemahlin Königin Kleopatra, die Wohltätigen Götter, (errichteten) die Juden in Nitriai die Synagoge und das Zubehör (u`pe.r ))) Euvergetw/n oi` evn Nitri,aij VIoudai/oi th.n proseuch.n kai. ta. sunku,ronta).“369
Aus der Zeit Kleopatras VII. und Ptolemaios’ XIV. (ca. 37 v.Chr.) schließlich ist die Weiheinschrift der durch einen privaten Stifter errichteten Proseuche in Gabbary, einem Stadtteil Alexandrias, erhalten: „Zu Ehren der Königin und des Königs, für den großen Gott, der Gebet erhört, Alypus erstellte die Proseuche (th.n proseuch.n) im 15. Jahr, Mecheir (…).“370
Mehr als die Synagogeninschriften, deren Griechisch als Repräsentationssprache, prestige language371, interpretiert werden kann, sind Votiv- und Grabinschriften Hinweise auf die alltägliche Verwendung des Griechischen durch ägyptische Diasporajuden.
365 Vgl. CPJ (sic!) III, 164 (Nr. 1532a); griechisch/deutsch bei CLAUSSEN, Versammlung, 87. Vgl. HENGEL, Judentum, 118 A. 42; 446 A. 792. Vgl. CLAUSSEN, Versammlung, 56. 88: Die Proseuche von Arsinoe-Krokodilopolis wird auch in einem Verzeichnis Ende des 2. Jh. v.Chr. mit einem „heiligen Garten“ erwähnt, vgl. CPJ I, 247ff. (Nr. 134); von einer weiteren Synagoge im Fayum ist in einer Klage (um 219 v.Chr.) die Rede: Ein Dieb sei mit seiner Beute in die proseuch, tw/n VIoudai,wn geüchtet, vgl. CPJ I, 239ff. (Nr. 129). 366 Vgl. CIJ II, 360f. (Nr. 1433) bzw. CPJ III, 139f. (Nr. 1433): Fragment einer Synagogeninschrift (2. Jh. v.Chr.) aus Hadra (Stadtteil Alexandrias); vgl. CLAUSSEN, Versammlung, 91. 138f.; KANT, Inscriptions, 699 A. 175f. 367 Vgl. CIJ II, 370f. (Nr. 1443–1444) bzw. CPJ III, 142f. (Nr. 1443–1444) (2./1.Jh. v.Chr.) mit einer Widmung an den „höchsten Gott“; vgl. KRAUSS, Altertümer, 264. 368 Vgl. CIJ II, 367f. (Nr. 1441) bzw. CPJ III, 141f. (Nr. 1441) (ca. 143–117 v.Chr.; Zeit Ptolemaios’ VII. Physkon und Kleopatras III. oder Ptolemaios’ VIII. Euergetes II.); vgl. KRAUSS, Altertümer, 264f.; CLAUSSEN, Versammlung, 89f.; TCHERIKOVER, Civilization, 285 A. 49. 369 CIJ II, 369 (Nr. 1442) bzw. CPJ III, 142 (Nr. 1442) (ca. 143–117 v.Chr.; Zeit Ptolemaios’ VII. Physkon und Kleopatras III. oder Ptolemaios’ VIII. Euergetes II.); deutsche Übersetzung zit.n. PFOHL, Inschriften, 133 (Nr. 116) (Literatur vgl. ebd., 218). Pfohls Ergänzung Qew/n zu Euvergetw/n ist nicht sachgemäß, vgl. DEISSMANN, Licht, 292; CLAUSSEN, Versammlung, 87: Trotz Ehrerbietung versagt die Inschrift dem Herrscher göttliche Titulaturen. 370 CIJ II, 360 (Nr. 1432) bzw. CPJ III, 139 (Nr. 1432); deutsche Übersetzung zit.n. CLAUSSEN, Versammlung, 91; vgl. ebd.; KANT, Inscriptions, 699 A. 175f. 371 Vgl. PORTER, Jesus, 133: „Prestige languages are those languages that dominate the political, educational and economic forces at play in a language milieu.“ – Vgl. GRIFFITHS, Egypt, 10.
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Lassen wir zunächst zwei Juden zu Wort kommen, die in spätptolemäischer Zeit Votivinschriften in griechischer Sprache im Tempel des Pan Euodos, des Schutzherrn für eine gute Reise, bei Apollonipolis Magna (Edfu) in Oberägypten hinterließen372 – seltene Beispiele für synkretistische Tendenzen bei ägyptischen Diasporajuden:373 „Gott sei Lob, Theodotos (S.d.) Dorion, ein Jude, errettet aus dem Meer (Qeou/ euvlogi,a Qeo,dotoj Dwri,wnoj VIoudai/oj swqei.j evk pel$a,g%ouj).“ „Ptolemaios, (S.d.) Dionysios, ein Jude, dankt dem Gott (VEulogei/ to.n qeo.n Ptolemai/oj Dionusi,ou VIoudai/oj).“374
Größere Relevanz für die Frage nach einer unter den ägyptischen Diasporajuden verbreiteten griechischen Umgangssprache haben die zahlreichen Grabinschriften. Diese sind ja „(…) nicht nur Kultmonumente, die eine spezielle Kultsprache fordern, sondern auch affektvolle Zeugnisse der Sehnsucht der Hinterbliebenen nach den Verstorbenen, mit denen man etwas von seinen Gefühlen ausdrücken wollte. Und das geschah am besten in der eigenen Sprache (…)“375. Zwar wurden auch aramäische Grabinschriften aus ptolemäischer Zeit gefunden,376 doch sind die meisten Epitaphien ägyptischer Juden in griechischer Sprache. In der jüdischen Nekropole von Leontopolis (Tell el-Yehudieh) etwa sind alle 80 Grabinschriften auf griechisch,377 die meisten auch in paganem griechischem Stil abgefasst: Viele enthalten die Abschiedsformel cai/re bzw. cai,rein378 oder die „standardisierte“ heidnische Klage, der Be372
Vgl. HENGEL, Juden, 142; FELDMAN, Jew, 67; KANT, Inscriptions, 685 A. 85. LEVINS94f. verweist auf diese und A. 70 auf zwei weitere Inschriften, die ebenfalls von Juden stammen könnten. Zu Apollinopolis Magna (Edfu) vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 285 A. 55. 373 BARCLAY, Jews, 99f. zeigt mögliche Erklärungen des eigenartigen Phänomens jüdischer Votivinschriften in einem heidnischen Tempel auf. Für HENGEL, Juden, 142 weisen diese Inschriften darauf hin, dass vor allem Dionysos (Pan) zur Identikation mit dem jüdischen Gott geeignet schien. TCHERIKOVER, Civilization, 352 warnt, aus diesen seltenen Beispielen zu weitreichende Schlussfolgerungen bezüglich eines Synkretismus unter ägyptischen Diasporajuden zu ziehen. 374 CIJ II, 444f. (Nr. 1537–1538) bzw. = CPJ III, 165f. (Nr. 1537–1538); deutsche Übersetzung zit.n. HENGEL, Judentum, 481 (S.d. Sohn des); vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 338f. A. 25; 352 A. 45. 375 SOLIN, Juden, 703. 376 Vgl. SCHNEIDER, Kulturgeschichte, 540. 377 Vgl. MUSSIES, Greek, 1043: 700 antike jüdische Inschriften auf griechisch wurden außerhalb Palästinas gefunden: 262 in Rom, 31 in Venosa (Apulien), 65 in der Kyrenaika, 80 in Tell el-Yehudieh. Letztere sind in CIJ II, 378–438 (Nr. 1451–1530) erfasst, aktualisierter Wiederabdruck in CPJ III, 145–163 (Nr. 1451–1530); vgl. STERN, Diaspora, 123 A. 4. 378 Vgl. CIJ II, 383–387 (Nr. 1452. 1454. 1456. 1458. 1460); 390ff. (Nr. 1467–1470); 395ff. (Nr. 1476–1478) u.ö. – Nach KANT, Inscriptions, 678 A. 36 enthalten mehr als 50 KAYA, Acts,
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
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stattete sei zu früh und ohne Kinder gestorben;379 einige sind völlig hellenisierte Epigramme.380 Nur weniges weist auf die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod,381 vieles auf griechische Vorstellungen, vor allem die Begriffe Hades, Moira oder Lethe.382 All das bedeutet freilich nicht unbedingt die Hellenisierung der religiösen Vorstellungen ägyptischer Diasporajuden: „Neither the adoption of the name Hades (…) nor poetic flourishes about Fate in the context of epitaphs requires more than a superficial familiarity with Greek thought.“383 Eindrücklich zeigt sich in der längsten und am vollständigsten erhaltenen Grabinschrift von Tell el-Yehudieh der Gebrauch der griechischen Sprache, paganer Stilmittel, Begriffe und Vorstellungen bei ägyptischen Diasporajuden: „Traveller, my name is Jesus, and my father’s name is Phameis; when descending into Hades (eivj VAei,dan) I was 60 years of age. All of you should weep together for this man, who went at once to the hiding place of ages, to abide there in the dark. Will you please also bewail me, dear Dositheos (Dwsi,qee), because you are in the need of shedding bitter tears upon my tomb. When I died I had no offspring, you will be my child instead. All of you, therefore, bewail me, Jesus the unhappy man.“384
Prozent der Grabinschriften in Leontopolis die Chaire-Formel. Auch der formelhafte pagane Wunsch „Möge die Erde auf Dir alle Zeit leicht für Dich sein“ wird von einigen jüdischen Hinterbliebenen in Leontopolis aufgenommen, vgl. CIJ II, 400 (Nr. 1484); 402 (Nr. 1488); 435–438 (Nr. 1530); vgl. KANT, Inscriptions, 678 A. 42; 704 A. 217; HENGEL, Juden, 140 A. 55. 379 Zu früh verstorben: Vgl. CIJ II, 384f. (Nr. 1453. 1456); 387f. (Nr. 1460–1461); 390ff. (Nr. 1467–1470); 394–397 (Nr. 1472–1474. 1476–1478); 404ff. (Nr. 1490); zu früh und ohne Kinder verstorben: vgl. CIJ II, 400 (Nr. 1485); 411f. (Nr. 1500); vgl. KANT, Inscriptions, 678 A. 37ff.; 703. 380 Vgl. beispielsweise CIJ II, 416–419 (Nr. 1508: junge Frau); 420ff. (Nr. 1510: Arsinoé); 435–438 (Nr. 1530: Arsinoé – Epitaph in Dialogform); vgl. CIJ II, 416–426 (Nr. 1508–1513). Vgl. HENGEL, Juden, 140 A. 54f.; KANT, Inscriptions, 678 A. 43; 685: Acht Epigramme (2. Jh. v.Chr. bis 1. Jh. n.Chr.) sind in Hexa- bzw. Pentametern. 381 Vgl. als eines der wenigen Beispiele: CIJ II, 425f. (Nr. 1513): Die Inschrift auf dem Epitaph der Rachel „Ich erwarte eine gute Hoffnung auf Barmherzigkeit (e;leouj evlpi,da avgaqh.n evgw. prosde,comai)“ (griech. zit.n. CIJ II; deutsche Übersetzung MZ) ist noch am ehesten Anklang an biblische Vorstellungen; vgl. COLLINS, Between, 72f. 382 Vgl. CIJ II, 416–419 (Nr. 1508: Hades); 422f. (Nr. 1511: Hades); 435–438 (Nr. 1530: Lethe, Hades). 383 COLLINS, Between, 73; vgl. KANT, Inscriptions, 686. 384 CIJ II, 422f. (Nr. 1511); englische Übersetzung zit.n. MUSSIES, Greek, 1043f. A. 11; auch andere Grabinschriften in Leontopolis bitten nach paganem Modell, den Toten zu beweinen. KANT, Inscriptions, 678 A. 40f.; 680 A. 57 weist auf Grabinschriften mit Meditationen über den Tod hin.
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Auch aus knapperen Grabinschriften ist die Vorliebe ägyptischer Diasporajuden für heidnisch-griechische Begriffe wie beispielsweise Hades ersichtlich: „Suddenly, Hades came and snatched me away.“ „The all-subduer (pandamator = Chronos) himself carried him off to Hades.“385
5.4.2.2.3 Personennamen In Papyri, Ostraka und Inschriften zeigt sich eine weitgehende Gräzisierung der Namen ägyptischer Diasporajuden. Geringe Zahl semitischer Namen, Übernahme griechischer und Gräzisierung jüdischer Namen sind gemeinsame Züge in der Namengebung von Diasporajuden und wichtige – meist erste – Symptome für ihre Hellenisierung.386 Obwohl bei Rückschlüssen von Namen auf Herkunft und Sprachgewohnheiten der Namensträger Vorsicht geboten ist,387 sind griechische und gräzisierte Namen gewiss ein Indiz für Griechischsprachigkeit der Namensträger. Die Juden Alexandrias hatten – wie Untersuchungen zur Anthroponymie zeigen – nachweislich mehr griechische als semitische Namen.388 Sie trugen griechische Namen (wie Alexander, Ptolemaios, Antipater, Demetrios, Jason), ins Griechische übersetzte jüdische Namen (z.B. Theodotos statt Mattathias), theophore Namen (wie Dositheos, Theodotos, Theophilos, Dorotheos), die wie ein Bekenntnis zum einen Gott Israels wirkten,389 aber auch heidnisch-theophore Namen (wie Apollonios, Heraklides, Dionysos); beliebt waren griechisch-semitische Doppelnamen (etwa Alkimos – Eljakim; Jason – Josua).390
385 HORBURY/NOY, Jewish Inscriptions, 61 (Nr. 31); 95 (Nr. 39) zit.n. COLLINS, Between, 73. 386 Vgl. SOLIN, Juden, 711. 387 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 347: „Thus this supercial symptom of Hellenization took root among various sections of the Jewish public in the Diaspora. The reasons which induced the Jews to change their names no doubt resembled those operating today among American and European Jews: habituation to the names of the natives of the country, greater facility in dealing with non-Jews, and the desire to be like all the peoples.“ Vgl. MUSSIES, Greek, 1051; KANT, Inscriptions, 673. 388 Vgl. HONIGMAN, Diaspora, 101–117; MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jews of Egypt, 78ff. HONIGMAN, Diaspora, 107ff. 125 meint im Gegensatz zu HENGEL, Judentum, 117f., dass sich die Makkabäer-Erhebungen nicht in einem Wiederanstieg semitischer Namen bei ägyptischen Diasporajuden auswirkten. 389 Vgl. HEGERMANN, Judentum, 339. 390 Vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 346f. A. 3–10. Tcherikover weist auch auf ägyptische Namen ägyptischer Diasporajuden hin.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
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Dass die Gräzisierung der Namen ägyptischer Diasporajuden schon früh einsetzte, zeigt ein aramäisch verfasster Papyrus von ca. 300 v.Chr.: Ein Händler namens Abihi listet Ölverkäufe auf; die Kunden – unter ihnen nicht wenige Juden – tragen gleichermaßen hebräische bzw. aramäische, ägyptische und griechische Namen.391 Unzählige Papyri aus dem 3. und 2. Jh.v.Chr. – durchwegs in griechischer Sprache, meist Verträge oder Protokolle – führen vor Augen, dass Übernahme griechischer und Gräzisierung jüdischer Namen unter ägyptischen Juden weit verbreitet waren:392 In diesen Papyri begegnet uns um 260 v.Chr. ein jüdischer Soldat namens Alexander, Sohn des Andronikos393, wenig später (256 v.Chr.) ein Antigones (VAntigo,nhj)394; viele Verträge enthalten griechische Namen und Vaternamen, so auch zwei vom Ende des 3. Jh. v.Chr.395 Um 238 v.Chr. wird ein Jude mit einem heidnisch-theophoren und einem semitischen Namen in einem Testament als Schuldner erwähnt: „Apollonios, der auch auf aramäisch Jonathan genannt wird (VApollw,nioj o]j kai. Suristi. VIwnaqa/j).“396 Ein Protokoll von ca. 226 v.Chr. berichtet von einem Streit zwischen Dositheos, dem Sohn eines Juden der Epigone, und der Jüdin Herakleia, Tochter des Diosdotos.397 182 v.Chr. schließen Juden der Epigone, Apollonios, Sohn des Protogenes, und Sostratos, Sohn des Neoptolemos, einen Leihvertrag ab.398
Neben den Papyri geben insbesondere wieder die Grabinschriften von Tell el-Yehudieh Aufschluss über Gewohnheiten ägyptischer Juden bei der Namensgebung: Neben jüdischen Namen der Verstorbenen nden sich hellenisierte biblische (wie Abramos), typisch jüdische griechische (Dositheos, Sabbataios, Sambathion), allgemein gebräuchliche griechische Namen (Eirene, Arsinoe, Agathokles) oder jüdisch-griechische Doppelnamen.399
391 Vgl. MÉLÈZE-MODRZEJEWSKI, Jews of Egypt, 74–77; HENGEL, Juden 127 A. 1 (vgl. oben, A. 344). 392 Vgl. zum Folgenden HENGEL, Judentum, 117f. A. 36–39; FELDMAN/REINHOLD, Life, 27–31 (Texte 2.6; 2.10–11); TCHERIKOVER, Civilization, 349f. A. 24–30; MUSSIES, Greek, 1051 A. 5. Die Papyri zeigen, dass Juden Verträge nach hellenistischem, nicht nach jüdischem Recht abschlossen. 393 Vgl. CPJ I, 148–151 (Nr. 18). 394 Vgl. CPJ I, 133f. (Nr. 8). 395 Vgl. CPJ I, 157f. (Nr. 21); 158–161 (Nr. 22); 165ff. (Nr. 24). 396 CPJ I, 227–230 (Nr. 126); eigene deutsche Übersetzung MZ. 397 Vgl. CPJ I, 151–156 (Nr. 19); vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 27f. (Text 2.6); vgl. ebd. A. 11: Unter „Epigone“ sind Nachkommen jüdischer Militärsiedler und einheimischer Frauen zu verstehen, die innerhalb der Militärkolonien aufwuchsen und nach deren Recht behandelt wurden. 398 Vgl. CPJ I, 162ff. (Nr. 23); vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 30 (Text 2.10). 399 Vgl. COLLINS, Between, 72f. A. 45.
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
5.4.2.3 Literarische Zeugnisse der Griechischsprachigkeit ägyptischer bzw. alexandrinischer Juden 5.4.2.3.1 Die Septuaginta und hellenistisch-jüdische Literatur aus Alexandria400 Neben Papyri und Inschriften und der Gräzisierung von Eigennamen weisen die Septuaginta und die nachfolgende hellenistisch-jüdische Literatur auf die Verbreitung der griechischen Sprache in der jüdischen Bevölkerung Ägyptens. Nicht nur die Verfasser der hellenistisch-jüdischen Literatur, auch die Mehrzahl ihrer Hörer bzw. Leser waren nämlich griechischsprachige Juden; erstes Ziel dieser Literatur war nicht Mission, sondern die literarischen Bedürfnisse griechischsprachiger Juden abzudecken.401 So führen uns die Septuaginta und die nachfolgende hellenistisch-jüdische Literatur trotz anzunehmender bildungssoziologischer Unterschiede402 die Griechischsprachigkeit, die griechische paidei,a ihrer Verfasser und Leser, die Verschmelzung jüdischen und griechischen Denkens und die jüdisch-philosophische Schultradition in Alexandria vor Augen. Am Beginn der hellenistisch-jüdischen Literatur steht die Septuaginta. Sie verweist auf die frühe Verbreitung des Griechischen unter den ägyptischen Juden: Kultgemeinschaften jüdischer Soldaten und Beamter feierten ihren Gottesdienst, die wöchentliche Unterweisung im Gesetz, die sie im fremden Sprach- und Kulturmilieu bei ihrem Glauben erhielt, bereits ab der ersten Hälfte des 3. Jh. v.Chr. in griechischer Sprache; daher entstand
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Einen Überblick und eine zeitliche Zuordnung versucht STERLING, Judaism, 288f. Vgl. HENGEL, Juden, 138f.; HENGEL, Judentum, 129f.; GRUEN, Perspectives, 63f.; TCHERIKOVER, Civilization, 347; 351 A. 38: „(…) Jewish Alexandrian literature appealed rst to the Jewish reader in order to furnish him with the intellectual pabulum which he needed.“ COLLINS, Between, 14. 35. 225. 271 lässt offen, ob hellenistisch-jüdische Literatur von Nichtjuden gelesen wurde oder gar Eindruck auf sie machte. BARCLAY, Jews, 134–138. 148ff. nimmt für Ezechiel den Tragiker und den Aristeasbrief eine aus Juden und Griechen gemischte Leserschaft an. Für FELDMAN, Jew, 83 (vgl. ebd., 436f.) hingegen liegt der missionarische Aspekt der Hellenisierung der Juden und ihrer Literatur, besonders der Septuaginta, auf der Hand: „Hence, the net effect of the assimilation of the Greek language and culture by the Jews was not defection from Judaism but rather, on the contrary, the creation of a common bond of communication with Gentiles, through which at least some non-Jews were won over to Judaism.“ Eine ähnliche Sicht wurde in der früheren Forschung vertreten, vgl. WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 503; KRÜGER, Hellenismus, 35: Die hellenistisch-jüdische Literatur in der Diaspora wollte „(…) unter den Heiden missionieren, sie für den jüdischen Glauben gewinnen (…).“ 402 Vgl. HENGEL/LICHTENBERGER, Hellenisierung, 304. 401
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
143
bei ihnen der Wunsch nach Übersetzung der Tora ins Griechische.403 Dem Aristeasbrief404 und Philo405 zufolge gab Ptolemaios II. Philadelphos (285– 246 v.Chr.) den Auftrag zur ersten griechischen Übersetzung der Tora, die 72 Übersetzer aus Palästina anfertigten. Trotz legendarischer Züge ist diese Darstellung im Wesentlichen glaubwürdig: Sicher hatten auch die Ptolemäer Interesse an einer griechischen Fassung der verbindlichen Traditionen und damit der Rechtsgrundlage der jüdischen Minderheit,406 und zweifellos gab es unter den Juden Palästinas und der Diaspora genügend Griechischkundige, die der Aufgabe einer Übersetzung der Tora ins Griechische gewachsen waren.407 Was die Übersetzer der Tora leisteten, war ein Novum für die hellenistische Welt, für das keine Parallele erhalten ist: Sie übertrugen eine „barbarische“ Offenbarungsschrift mit heilsgeschichtlichen, gesetzlichen und poetischen Partien ins Griechische.408 Ein solches Unternehmen setzte sehr gute Griechischkenntnisse und Übersetzungserfahrung voraus: Einerseits wurde bewusst wörtlich übersetzt,409 um Treue zum väterlichen Gesetz zu dokumentieren;410 andererseits eine „interpretierende Neufassung“ des Wortes Gottes geleistet, „(…) in einer Begrifichkeit, die nicht ursprünglich für es geschaffen war, sondern das Gefäß fremder und feindlicher Inhalte gewesen war“411. – Dass die Septuaginta regelmäßig gelesen wurde und in hoher Wertschätzung stand, zeigen wieder der Aristeasbrief und Philo, letzterer erzählt auch vom Fest zum Jahrestag der Tora-Übersetzung ins Griechische.412 403
Vgl. HENGEL, Juden, 128ff.; HENGEL/LICHTENBERGER, Hellenisierung, 300; SEVENSGreek, 84. Griechisch als Gottesdienstsprache war auch bei anderen Diasporajuden verbreitet, etwa in Rom, vgl. SOLIN, Juden, 708ff. 404 Vgl. Aristeas 9–11. 121–122. 176. 307–311: vgl. MEISNER (1973), 46. 61. 67. 83f. 405 Vgl. Philo, Mos 2.25–44: vgl. COHN I (1962), 304–308. 406 Vgl. MAIER, Zwischen, 63. 180; MAIER, Grundzüge, 23; WALTER, Diaspora-Juden, 402. 407 Für HENGEL, Judentum, 189 ist die Angabe des Aristeas über 72 Übersetzer aus Palästina Hinweis auf verbreitete Griechischkenntnisse in Palästina und die Verbundenheit der Tora-Übersetzung mit dem judäischen Mutterland; anders misst FELDMAN, Jew, 15 dieser Angabe keine große Bedeutung bei. 408 Vgl. HENGEL/LICHTENBERGER, Hellenisierung, 300f.; vgl. TCHERIKOVER, Civilization, 351 A. 36 mit Hinweis auf BICKERMANN. 409 Vgl. GOLDSTEIN, Acceptance, 15: Bewusst mieden die Übersetzer die Terminologie griechischer Philosophie; ähnlich HENGEL, Judentum, 189; BARCLAY, Jews, 126. MUSSIES, Greek, 1048f. bietet einen Überblick über Charakteristika von Übersetzungsgriechisch. 410 Vgl. HENGEL, Juden, 131. 411 HANHART, Septuaginta, 157; vgl. HANHART, Septuaginta, 70–76 ausführlich zu den Intentionen der Septuaginta: Bewahrung, Aktualisierung und Interpretation. 412 Vgl. Aristeas 307–311: vgl. MEISNER (1973), 83f.; Philo, Mos 2.25–44: vgl. COHN I (1962), 304–308 (zum festlichen Jahrestag der Septuaginta-Übersetzung Mos 2.41–43). – Vgl. STERLING, Judaism, 273 A. 71; vgl. BARCLAY, Jews, 31. TER,
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Über die Übersetzung des Pentateuch ins Griechische hinaus wurden weitere biblische Schriften nach und nach in Privatinitiative ins Griechische übersetzt, zu einem guten Teil in Alexandria.413 Die Bedeutung der Griechischsprachigkeit der ägyptischen Juden und der Übernahme des Griechischen als Sprache von Bibel, Liturgie und Synagogenpredigt kann nicht hoch genug veranschlagt werden: Hellenistische Ansichten und Vorstellungen drangen in die alttestamentliche Vorstellungswelt ein und prägten sie neu,414 und: „(…) the Scriptures themselves now gave religious sanction for the use of the Greek language.“415 Freilich bedeutete die mit der Septuaginta einsetzende Tendenz, sich dem Hellenismus zuzurechnen, die Übernahme griechischer Sprache und einzelner hellenistischer Vorstellungen nicht Assimilation oder Abfall vom Judentum. Die hellenistisch-jüdische Literatur prägte vielmehr den nichtjüdischen Hellenismus oft kritisch um,416 und eine interpretatio Iudaica417 griechischer Bildungsgüter wurde ihr zum wirksamen Mittel, die eigene Tradition darzustellen und zu verteidigen,418 ja diente ihr „(…) der Verherrlichung des eigenen Volkes, seiner heiligen Geschichte, seines Glaubens an den einen Gott und des von ihm gegebenen Gesetzes (…), wobei das Gesetz gerne in allgemeingültig-ethischer, d. h. popularphilosophischer Weise interpretiert wurde.“419 Dementsprechend weist die hellenistisch-jüdische Literatur charakteristische inhaltliche und formale Merkmale auf:420 Inhaltliche Merkmale sind vor allem Orientierung an hellenistischer Geschichtsschreibung und an hellenistischer Philosophie. Diese zeigen sich im Interesse an Personen und Verhältnissen der Frühzeit wie an der Zeitgeschichte – etwa im 1. und 2. Makkabäerbuch421 – und im Versuch einer Synthese biblischer Offenbarung und griechischer Philosophumena – erstmals im allegorischen Tora-Kommentar Aristobuls
413 Vgl. MAIER, Zwischen, 63. 180; MAIER, Grundzüge, 23; WALTER, Diaspora-Juden, 402. Laut STERLING, Judaism, 273 zeigen das Vorwort der griechischen Übersetzung Ben Siras und das Schlusswort des griechischen Esterbuches, dass die griechische Sprache die Norm unter den alexandrinischen Juden war. 414 Vgl. KÖSTER, Einführung, 231. 415 BARCLAY, Jews, 31. 416 Vgl. HEGERMANN, Judentum, 331. 349. 417 Vgl. GRUEN, Perspectives, 79. 84. 418 Vgl. HENGEL/LICHTENBERGER, Hellenisierung, 306; COLLINS, Between, 261. 271f.; WALTER, Diaspora-Juden, 391; GRUEN, Perspectives, 75. 419 HENGEL/LICHTENBERGER, Hellenisierung, 304. COLLINS, Between, 273 zeigt, wie jüdische Tradition in der Diaspora konstruiert wurde: „covenantal nomism“, „the story of a glorious past“, „a moral system which prized universal human values“ und „loyalty to the Jewish community“. 420 Vgl. HENGEL, Juden, 133f. 137; MAIER, Zwischen, 291. 421 Vgl. MAIER, Zwischen, 113.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
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(170 v.Chr.)422, dann in Weisheit, 4 Makk und bei Philo.423 Orientierung an hellenistischer Geschichtsschreibung und Philosophie diente einer „competitive historiography“424 und einer Apologie des Judentums, besonders des Monotheismus425 als der „wahren Philosophie“, zum „(…) Nachweis der Ebenbürtigkeit, ja der Überlegenheit der jüdischen Religion im Verhältnis zu dem, was die pagano-hellenistische Umwelt anzubieten hat (…)“426. Wichtigstes formales Merkmal der hellenistisch-jüdischen Literatur ist, dass sie ihre literarischen Formen virtuos dem griechischen Literaturbetrieb anpasste: „The use of Hellenistic forms (…) sprang from the self-identity of the Jews as respectable civilized members of Hellenistic society.“427 Für fast jedes literarisches Genus nden sich Vertreter unter den hellenistisch-jüdischen Autoren – Demetrios pegte die chronographische Geschichtsschreibung, Artapanos schrieb einen Roman, Ezechiel der Tragiker, Theodotos und Philo d.Ä. waren Dramatiker, die jüdische Sibylle griff die klassische Form von Vaticinia ex eventu in Hexametern auf, und Jason von Kyrene verfasste seine zeitgeschichtliche Darstellung im Stil der pathetischen Geschichtsschreibung.428
5.4.2.3.2 Griechen und Hellenisierte in hellenistisch-jüdischer Literatur Die hellenistisch-jüdische Literatur enthält bemerkenswerterweise keine abfälligen Ausdrücke für Griechen, Hellenisieren, Hellenisierte, aus denen eine Ablehnung von Griechen oder Hellenisierten, von griechischer Sprache und Kultur geschlossen werden könnte: „Although ancient Jewish literature is full of (…) polemics against non-Jews, Jewish texts, whatever their language, contain no verb comparable to the Latin pergraecari and no contemptuous noun or adjective comparable to the Latin Graeculus. Jews could have created a verb hityavven (‚become, or act Greek‘) on the model of hityahed (‚become, or act Jewish‘; Esth. 8.17) (…). Ancient Jews could so have used the Greek Hellenizein, as the church Fathers did. Jews could have used yavan (‚Greece‘) and yevani (‚Greek‘) as terms of reproach. Yet there is no trace that Jews so used such expressions.“429
422 Vgl. HENGEL, Juden, 136f.; HENGEL, Judentum, 295–307; COLLINS, Between, 186– 190; BARCLAY, Jews, 150–158; GRUEN, Perspectives, 72–75. 423 Vgl. GOLDSTEIN, Acceptance, 30; zu Weisheit und 4 Makk vgl. COLLINS, Between, 195–209, bes. 208: „The apologetic peculiarity of 4Maccabees lies in its combination of a rigid, uncompromising obedience to the law, in all its details, with a thorough command of Greek language and rhetoric and a veneer of philosophical terminology.“ 424 COLLINS, Between, 39f.; vgl. HENGEL, Juden, 134. HENGEL, Judentum, 185: „Die Juden traten als einziges Volk des Orients mit der Darstellung ihrer ‚heiligen‘ Geschichte in eine bewusste Konkurrenz zur griechischen Welt- und Geschichtsauffassung (…).“ 425 Vgl. MAIER, Zwischen, 291–296; zu theologischen Anschauungen hellenistisch-jüdischer Schriften vgl. DELLING, Begegnung, 15–21. 426 DELLING, Begegnung, 20. 427 COLLINS, Between, 274. 428 Vgl. HENGEL, Juden, 134–138; HENGEL, Judentum, 202–210; HENGEL/LICHTENBERGER, Hellenisierung, 305f.; FELDMAN/REINHOLD, Life, 37–41 (Texte 2.23–26). MUSSIES, Greek, 1049f. teilt die hellenistisch-jüdische Literatur ihrer Sprache nach in drei Gruppen: semitisierendes, attizierendes und weder semitisierendes noch attisierendes Griechisch. 429 GOLDSTEIN, Acceptance, 11 (Hv bei Goldstein).
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Doch begegnet in hellenistisch-jüdischer Literatur ein breites Spektrum jüdischer Einstellungen Griechen oder Hellenisierten gegenüber. Ein (teilweise) positives Verhältnis zu den Griechen insinuieren beispielsweise das 1., 2. und 3. Makkabäerbuch: Das 1. Makkabäerbuch stellt in einem ngierten Brief Jonathans an die Spartaner Spartaner und Juden als Brüder und beide als Nachkommen Abrahams dar (1 Makk 12,1–23, bes. 12,21).430 Das 2. Makkabäerbuch berichtet, dass in Antiochia die Griechen wie die Juden über die Ermordung des Hohenpriesters Onias entrüstet waren (2 Makk 4,36).431 Das 3. Makkabäerbuch, um 100 v.Chr. in Alexandria entstanden, bestimmt in seiner Erzählung von den Judenverfolgungen durch Ptolemaios IV. Philopator (220–205 v.Chr.) (3 Makk 2,25–30; 3,2.6f.)432 zum einen die Feinde der Juden nicht näher (3 Makk 3,2: avnqrw,poij; 3,6: avllo,puloi), zum anderen hebt es davon die Griechen Alexandrias (oi` kata. th.n po,lin {Ellhnej) als den Juden gegenüber freundlich und hilfsbereit eingestellte Nachbarn und Handelspartner ab (3 Makk 3,8ff.)433. Diese Unterscheidung zwischen Griechen und Judenhassern gehört zum Standard jüdischer Apologetik:434 „(…) it suits the author’s purpose to reserve the term ‚Greek‘ for a friendly class of people. He is conscious of accusations that Jews are ‚barbarian enemies‘ of the state (3,24) and wants to ally them as far as possible with the cultured and right-minded people called ‚Greeks‘.“435
Antihellenistische Tendenzen zeigen sich in Übersetzungen biblischer Schriften, die im 2. Jh. v.Chr. teils in Alexandria, teils in Jerusalem entstanden: In Jes 9,11 werden aus Philistern (~yTiv.lip.) Hellenen ({Ellhnaj), in Jer 26(46),16 bzw. 27(50),16 wird aus dem „rasenden Schwert“ (hn"AYh; br,x,) des Königs von Babel ein „griechisches Schwert“ (macai,raj ~Ellhnikh/j) und im griechischen Esterbuch (9,24) Haman zu einem Makedonen (Makedw.n).436
430 Vgl. MAIER, Judentum, 163. Schon in vormakkabäischer Zeit dürften hellenisierte Juden eine Urverwandtschaft zwischen Juden und Lakedämoniern über Abraham angenommen haben; deshalb war auch Jason nach Sparta geohen (2 Makk 5,9), vgl. HENGEL, Juden, 146f. A. 12; HENGEL, Judentum, 50 mit ausführlicher A. 175; HENGEL, Problem, 39; GRUEN, Perspectives, 77ff. 431 Vgl. unten den Abschnitt zu Antiochia, 5.4.4.1. 432 Vgl. FELDMAN/REINHOLD, Life, 306f. (Text 10.1); vgl. BARCLAY, Jews, 192–196. 433 Vgl. FELDMAN, Jew, 108; dort auch Verweis auf ähnliche Einschätzungen bei Philo, Flacc 8; Flacc 57; Josephus, Ant 18.159 (18.6.3); vgl. BARCLAY, Jews, 116. 196f.; COLLINS, Between, 126f. 434 Vgl. COLLINS, Between, 127. 435 BARCLAY, Jews, 197. Vgl. BARCLAY, Jews, 197ff. 405; GRUEN, Perspectives, 66f.: Gleichzeitig kontrastiert 3 Makk Juden (e;qnoj – o`moeqnei/j) und Heiden (ta. e;qnh) bzw. Nichtjuden (avlloeqnei/j) und zeichnet die Diaspora als „fremdes Land“ bzw. „Land der Feinde“ (6,3.15.36). 436 Vgl. HENGEL, Juden, 133 A. 31; WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 504. Nach HENGEL, Judentum, 187 stammt die Bezeichnung Hamans als Makedone kaum aus Alexandria, wo Juden sich stolz Makedonen nannten (vgl. oben, 5.4.2.2.1). Die gegenteilige Ansicht vertreten COLLINS, Between, 112; GRUEN, Perspectives, 67: Gerade Hamans Bezeichnung als Makedone verweise auf alexandrinisches Milieu.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
147
Weitere Belege für ~Ellaj bzw. {Ellhnej erlauben keine Rückschlüsse auf die Einstellung des jeweiligen Autors zu den Griechen.437 Die Jona-Vita (Prophetenleben 10.1) etwa weist auf Jonas Heimat Kariathmaous „in der Nähe der Stadt der Griechen (po,lewj ~Ellh,nwn), Azotos, beim Meer“438, wobei po,lij ~Ellh,nwn terminus technicus für die hellenisierten Küstenstädte Palästinas war.439
Im Folgenden ist ausführlicher vom Aristeasbrief, den jüdischen sibyllinischen Weissagungen und dem 2. Makkabäerbuch zu handeln, in denen sich deutlichere Stellungnahmen zu den „Griechen“ und zur Hellenisierung finden. (a) Der Aristeasbrief Der Aristeasbrief ist eine apologetische Schrift mit doppelter Frontstellung, die für die griechisch gebildete jüdische Oberschicht Alexandrias typisch war:440 Der Autor „(…) demonstrates both the extent of his acculturation and the limits of his assimilation“441. – Schwerpunkt ist zweifellos die Verteidigung der Akkulturation: Juden leben in der ägyptischen Diaspora, sind loyal zu den Ptolemäern, haben Umgang mit „Griechen“ (vgl. 35ff.) und eignen sich griechische Sprache und Bildung an.442 Die paidei,a hebt „Aristeas“ besonders in der Beschreibung der nach Alexandria entsandten jüdischen Übersetzer der Tora hervor (Aristeasbrief 121; vgl. auch 121f.; 127): Der Hohepriester Eleazar „(…) wählte nämlich ausgezeichnete Männer aus, die (…) auch eine hervorragende Bildung besaßen (paidei,a| diafe,rontaj) und nicht nur die jüdische Sprache beherrschten (th.n tw/n VIoudai?kw/n gramma,twn e;xin periepoi,hsan auvtoi/j), sondern auch eifrig die griechische studiert hatten (avlla. kai. th/j tw/n ~Ellhnikw/n evfro,ntisan ouv pare,rgwj).“443
Dass „Aristeas“ Hofphilosophen (vgl. 235) und selbst den König (vgl. 321) in das Lob der Redekunst und Bildung dieser Männer einstimmen lässt, zeigt, welch hohe Bedeutung er der paidei,a beimisst und dass die ToraÜbersetzer für ihn beispielhaft Judentum und griechische Bildung verbin437 Gleiches gilt von den – in der hellenistisch-jüdischen Literatur seltenen – Belegen von e`llhniko,j („griechisch“) und e`llhnisti, („in griechischer Sprache“); e`llhni,zein und ~Ellhnisth,j kommen in der hellenistisch-jüdischen Literatur nicht vor, vgl. DENIS, Concordance, 324ff. 438 Prophetenleben 10.1: SCHWEMER (1997), 618. 439 Vgl. SCHWEMER (1997), 618 A. 1c. Vgl. unten zu den Griechenstädten, 5.5.3.1. 440 Vgl. HENGEL, Juden, 137f. 441 BARCLAY, Jews, 149. 442 Vgl. GOLDSTEIN, Acceptance, 27; COLLINS, Between, 99–103; BARCLAY, Jews, 113. 443 Aristeasbrief 121: MEISNER (1973), 61 (griechisch zit.n. DENIS, Concordance, 885); vgl. COLLINS, Between, 194: „The Torah, to be properly appreciated, must be complemented by Greek culture.“ – Vgl. WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 505.
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
den. Der Autor des Aristeasbriefs gibt sich als Jude zu erkennen, „(…) who warmly embraces Greek cultural ideals“444. Für ihn verbinden besonders avreth, (Tugend) und dikaiosu,nh (Gerechtigkeit) Griechen (vgl. 43; 207) und Juden (vgl. 3; 46; 285); sie begegnen einander in größtem Respekt.445 Die Hellenismusbejahung erreicht ihren Höhepunkt in den Tischgesprächen des ptolemäischen Königs mit den jüdischen Tora-Übersetzern (187–292): „Die jüdischen Weisen werden hier mit Mahnworten und Heilszusagen zu Hoftheologen und Hofpredigern des ptolemäischen Königs stilisiert.“446 Bei aller Verteidigung der Akkulturation, d. h. der Hellenisierung, zeigt „Aristeas“ aber auch deutlich die Grenzen der Assimilation: Weil er den Anspruch des Judentums nicht aufgibt, den anderen Religionen überlegen zu sein, vor allem aufgrund des Monotheismus und der Tora,447 tritt er für Speise- und Reinheitsgebote (vgl. 128–170), gegen Idolatrie (vgl. 134– 138) und Mischehen (vgl. 139) ein. Trotz aller Hellenismusbejahung kann er nicht umhin, in seiner Götzenpolemik Kritik an den „Griechen“ zu üben (Aristeasbrief 137c): „Und die, die das ersonnen und erdichtet haben, halten sich für die weisesten Griechen (tw/n ~Ellh,nwn oi` sofw,tatoi).“448
(b) Sibyllinische Weissagungen Im Unterschied zur weitgehenden Hellenismusbejahung des Aristeasbriefs begegnet im 3. Buch der Sibyllinen – ebenfalls aus dem 2. Jh. v.Chr. – eine kritische Reaktion auf die griechische Kulturhegemonie, wenn auch in klassisch-griechische Form (Hexameter, vaticinia ex eventu, Deutung der Weltgeschichte) gekleidet.449 444 BARCLAY, Jews, 140. Barclay nennt den Aristeasbrief Musterbeispiel für „Cultural Convergence“ und vermutet, dass sein Verfasser Jude am ptolemäischen Hof war. Zur Wertschätzung griechischer Kultur, die aber nicht Assimilation bedeutete, vgl. BARCLAY, Jews, 147. 445 Vgl. BARCLAY, Jews, 141; vgl. den hervorragenden Überblick ebd., 142–150. 446 HEGERMANN, Judentum, 333. „Aristeas“ geht sogar so weit (16), Zeus mit Israels Gott zu identizieren, vgl. HENGEL, Juden, 141f.; DELLING, Begegnung, 10; FELDMAN, Jew, 77; GOLDSTEIN, Acceptance, 27; TCHERIKOVER, Civilization, 351f.; COLLINS, Between, 192f. Vgl. HENGEL, Judentum, 481–484: Mit der Übertragung des Namens Zeus auf Israels Gott steht Aristeas im Gegensatz zu Aristobul; Josephus hingegen vertritt eine ähnliche Ansicht wie Aristeas, vgl. etwa Ap 2.168f. (2.16): vgl. THACKERAY I (1966), 358–361. 447 Vgl. BARCLAY, Jews, 145ff. 448 Aristeas 137c: MEISNER (1973), 63. Auch GRUEN, Perspectives, 68. 81 weist auf griechenkritische Aspekte in Aristeas 137ff. hin. 449 Vgl. HENGEL, Juden, 135; WALTER, Diaspora-Juden, 389. 394. Zu den Sibyllinen, zur jüdischen Sibylle, zum 3. Buch vgl. BARCLAY, Jews, 216–219; MERKEL (1998), 1047f. 1059–1064.
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
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Für den Verfasser besteht ein grundlegender kultureller Gegensatz („cultural antagonism“450) zwischen ~Ellaj bzw. {Ellhnej und Juden; seine Polemik gegen ~Ellaj451 bzw. {Ellhnej452 hat Griechen, Makedonen und Hellenisierte vor Augen, an einigen Stellen hellenistische Herrscher, Seleukiden und Ptolemäer.453 Deren kultureller Gegensatz zu den Juden findet in unmoralischem Verhalten (vgl. Sib 3,595–600) und vor allem in der Idolatrie augenscheinlich Ausdruck (Sib 3,545–548):454 545 546 547 548
„O Hellas, warum vertraust du auf menschliche Führer, sterbliche, die dem tödlichen Ende nicht entgehen können? Wozu bringst du nichtige Gaben den Toten dar, opferst Götzen? Wer hat dir den Irrtum ins Herz gelegt (…)?“455
Einerseits scheint der kulturelle Gegensatz zwischen „Griechen“ und Juden in Sib 3 unüberbrückbar zu sein, ~Ellaj bzw. den {Ellhnej wird Gericht und Verwüstung angekündigt (vgl. Sib 3,520. 536f. 639. 810ff.); andererseits gibt es durchaus eine „well developed positive message“456, nämlich die Erwartung und Aufforderung, dass „Griechen“ sich bekehren,457 an Israels Gott glauben und ihm opfern458 (Sib 3,550. 557. 564–567): 550 557 564 565 566 567
„Hab Ehrfurcht vor dem Namen des Allerzeugers und vergiß ihn nicht. (…) dann werdet ihr erkennen des großen Gottes Angesicht. (…) Und wenn Hellas die, welche es opferte von Rindern und laut brüllenden Stieren, zum Tempel des großen Gottes als Ganzopfer dargebracht hat, wirst du entiehen dem Lärm des Krieges und der Furcht und der Pest und wirst noch einmal dem Knechtsjoch entgehen.“459
Trotz der über weite Strecken negativen Beschreibung der „Griechen“ lässt Sib 3 durchblicken, dass gerade diese „Griechen“ auserwählt seien „(…) for encouragement to enter the fold of the true believers“460. – Darüber hinaus lassen einige Aussagen von Sib 3 die Interpretation zu, dass der 450
Vgl. BARCLAY, Jews, 218–225. Vgl. DENIS, Concordance, 324: Sib 3,510. 537. 545. 564. 598. 639. 732. 810. 813. 452 Vgl. ebd.; MERKEL (1998), 1099 A. 520a: Griechen (Sib 3,202. 520. 536. 553) und Makedonen (Alexander; Sib 3,171). 453 Vgl. MERKEL (1998), 1063f.: In Sib 3,732 ist ~Ellaj auf Seleukiden oder Ptolemäer; in Sib 3,193. 609ff. {Ellhnej auf die Ptolemäer zu beziehen (vgl. ebd., 1088 A. 193a; 1101 A. 608a). 454 Vgl. COLLINS, Between, 161ff.; BARCLAY, Jews, 220. 455 Sib 3,545–548: MERKEL (1998), 1099f.; vgl. Sib 3,545–555. 456 COLLINS, Between, 84. 457 Vgl. DELLING, Begegnung, 20; GRUEN, Perspectives, 81. 458 Vgl. Sib 3,550–572; 3,624–634 sowie den eschatologischen Ausblick 3,710–731. Vgl. COLLINS, Between, 161ff.; BARCLAY, Jews, 220. 459 Sib 3,550. 557. 564–567: MERKEL (1998), 1100. 460 GRUEN zit.n. COLLINS, Between, 161. 451
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
Verfasser eine beinahe messianische Erwartung auf die Ptolemäer richtet (Sib 3,652–656):461 652 653 654 655 656
„Und dann wird Gott vom Osten einen König senden, der weltweit dem schlimmen Krieg ein Ende machen wird, indem er die einen tötet, den anderen Treueide auferlegt. Dies alles wird er nicht nach einem Ratschluss vollbringen, sondern im Gehorsam gegenüber den edlen Satzungen des großen Gottes.“462
Demgegenüber lehnt das 5. Buch der Sibylle – zwischen 80 und 130 n.Chr. in Ägypten unter dem Eindruck der Zerstörung Jerusalems entstanden463 – heidnische Machthaber ab und konzentriert seine nationalistische Hoffnung auf das Land Israel.464 So fällt auch die Reaktion auf die „Hellenen“ deutlicher als in Sib 3 aus; Sib 5 zeigt schroffe Polemik gegen hellenisierte Machthaber; der Stadt Jerusalem wird versichert (Sib 5,260. 263–268): 260 263 264 265 266 267 268
(c)
„Laß dir dein Herz in der Brust nicht mehr quälen, du Glückselige (…), du anmutige, schöne judäische Stadt, gottbegeistert zu Hymnen. Nicht mehr wird in deinem Land bacchantisch umherrasen der unreine Fuß der Hellenen, der (jetzt) das gleiche Gesetz im Herzen trägt, sondern die ruhmvollen Söhne werden dich ehren und sie werden unter heiligen Gesängen den Tisch aufstellen für Opfer aller Art und mit gottgefälligen Gelübden (…).“465
Das Zweite Makkabäerbuch
Wie die jüdischen Sibyllen ihre Kritik griechischer Kultur in die klassischgriechische Form sibyllinischer Weissagungen kleideten, so verfasste Jason von Kyrene zur Mitte des 2. Jh. v.Chr.466 seine antihellenistische Darstellung der Makkabäerkriege, die gekürzt im 2. Makkabäerbuch vorliegt, auf
461 Vgl. MERKEL (1998), 1063f. verweist auf Collins’ Interpretation, der „vom Aufgang der Sonne“ als „vom Sonnengott“ interpretiert und darin einen Hinweis auf die pharaonisch-ptolemäische Herrscherideologie sieht. Vgl. FRIEDLIEB, Weissagungen, XXXVIf.; COLLINS, Between, 92–96. 152. 161; anders BARCLAY, Jews, 222f., der den „cultural antagonism“ der Sibyllen betont. 462 Sib 3,652–656: MERKEL (1998), 1103. 463 Vgl. BARCLAY, Jews, 225f.: Sib 5 ist vom Schock der Zerstörung des Jerusalemer Tempels geprägt; die Verhältnisse in Ägypten und Judäa sollen sich grundlegend ändern. 464 Vgl. COLLINS, Between, 152. 465 Sib 5,260. 263–268: MERKEL (1998), 1126. 466 Vgl. HENGEL, Judentum, 176.180f.: Jason aus der jüdischen Diaspora der Kyrenaika, in Alexandria rhetorisch gebildet, dürfte sein Werk, das zusammengefasst in 2 Makk vorliegt, 160–152 v.Chr. verfasst haben, nach Hengels Annahme in Palästina (vgl. auch 5.5.2.3).
5.4 Griechischsprachige Juden in der Diaspora
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griechisch und in hellenistischem Stil.467 Im Kontrast von Form und Inhalt von 2 Makk offenbart sich „(…) einerseits die innere Affinität des Judentums zur griechischen Welt wie auch der Gegensatz“468. Deutlich zeigt dies 2 Makk 4,10b–16, wo die Umwandlung Jerusalems in eine hellenistische Polis durch Jason beschrieben wird: 10b
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„Sobald Jason das Amt (des Hohenpriesters, MZ) an sich gebracht hatte, führte er unter seinen Landsleuten die griechische Lebensart ein (pro.j to.n ~Ellhniko.n carakth/ra tou.j o`mofu,louj mete,sthse). (…) Jason hob die althergebrachte Verfassung auf und führte neue, widerrechtliche Gebräuche ein. Absichtlich ließ er unmittelbar unterhalb der Burg eine Sportschule (gumna,sion) errichten, und die Söhne der besten Familien brachte er dazu, den griechischen Hut (pe,tason) aufzusetzen. So kam das Griechentum in Mode (h=n dV ou[twj avkmh, tij ~Ellhnismou/); man el ab zu der fremden Art (pro,sbasij avllofulismou/). Schuld daran war die maßlose Schlechtigkeit des ruchlosen Jason, der den Namen des Hohenpriesters zu Unrecht trug. Schließlich kümmerten sich die Priester nicht mehr um den Dienst am Altar; der Tempel galt in ihren Augen nichts, und für die Opfer hatten sie kaum mehr Zeit. Dafür gingen sie eilig auf den Sportplatz, sobald die Aufforderung zum Diskuswerfen erging, um an dem Spiel, das vom Gesetz verboten war, teilzunehmen. Die Ehren ihres Vaterlandes (ta.j me.n patrw,|ouj tima.j) achteten sie gering, auf griechische Auszeichnungen dagegen waren sie ganz versessen (ta.j de. ~Ellhnika.j do,xaj kalli,staj h`gou,menoi). Darum sollten sie auch in große Not geraten. Gerade die, denen sie alles nachmachten und denen sie ganz gleich werden wollten, wurden ihre Feinde und Peiniger.“469
Besonders in 2 Makk 4,13 tritt die negativ-distanzierte Beurteilung griechischer Kultur zu Tage: Der Verfasser spricht empört von einer avkmh, tij ~Ellhnismou/, einem „Höhepunkt der Hellenisierungsbestrebungen“, und setzt dies polemisch einer pro,sbasij avllofulismou/, einem „Einbruch der fremden Art“, gleich.470 In diesem einzigen Beleg in Septuaginta471 und
467 Vgl. COLLINS, Between, 79: „We should not be surprised that a work which supports the Maccabean rebellion was composed in Greek, following Hellenistic conventions and style.“ 468 HENGEL, Juden, 111. 469 2 Makk 4,10b–16 (EÜ; mit angegebenen Auslassungen). 470 Vgl. 2 Makk 11,24; HENGEL, Problem, 40; WINDISCH, {Ellhn ktl: ThWNT 2 (1935), 504; DELLING, Begegnung, 10f. 471 Vgl. HATCH/REDPATH, Concordance II, 59.
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5. „Hellenisten“ – griechischsprachige Juden
hellenistisch-jüdischer Literatur472 für den Ausdruck ~Ellhnismo,j zeichnet sich erstmals eine Bedeutungserweiterung im Sinne von „griechische Kultur“ ab.473 Abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch, in dem es „rechter Gebrauch der griechischen Sprache“ bedeutet,474 erhält das seltene Substantiv ~Ellhnismo,j in 2 Makk 4,13 eine ausgeweitete, die griechische Lebensform und Kultur umfassende Bedeutung; es charakterisiert eine Überfremdung jüdischer Religion und Kultur durch hellenistische Zivilisation. Dem ~Ellhnismo,j wird der analog gebildete, hier erstmals auftauchende Neologismus VIoudai?smo,j gegenüber gestellt: Er bezeichnet jüdische Sitte und Gesetzesfrömmigkeit (2 Makk 2,21; 8,1; 14,38)475 und ist „ethnic descriptor“: „(…) the term denotes no mere cultural life-pattern cut loose from kinship associations; it represents (…) commitment to ancestral traditions (…) whose principal carrier is the Jewish nation.“476 Treue zum jüdischen Gesetz und zum jüdischen Volk und der ~Ellhnismo,j gelten in 2 Makk als schlechthinnige Gegensätze;477 ~Ellhnismo,j und {Ellhnej erhalten eine Affinität zum Heidentum.478 So nimmt es nicht wunder, dass 2 Makk die Bedeutung von ba,rbaroi als Nichtgriechen, die griechische
472 Kein Beleg in außerkanonischen Schriften neben dem AT, bei Philo und Josephus: Vgl. DENIS, Concordance, 324f.; MAYER, Index Philoneus, 99; RENGSTORF, Concordance II, 78. 473 Vgl. GOLDSTEIN, II Maccabees, 230; vgl. BICHLER, Hellenisten, 22f. 474 Vgl. oben 2.5. 475 Vgl. HENGEL, Juden, 108f. mit A. 35: Für ivoudai