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German Pages 348 Year 2001
Qualitative Sozialforschung Einführung, Methodologie und Forschungspraxis
Von Universitätsprofessor
Dr. Thomas Heinze
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Qualitative Sozialforschung : Einfuhrung, Methodologie und Forschungspraxis / von T h o m a s Heinze. - M ü n c h e n ; Wien : Oldenbourg, 2001 ISBN 3-486-25723-4
© 2001 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" G m b H , Bad Langensalza ISBN 3-486-25723-4
Inhaltsverzeichnis
5
Inhalt I
EINLEITUNG
11
II
THEORIETEIL
12
1
Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
12
1.1
Was heißt qualitative Sozialforschung? Definition und einige wichtige Begriffe Zu den Begriffen
12 12 13
1.2
Qualitative Sozialforschung als antipositivistisch
16
1.3
Gründe für die Aktualität qualitativer Forschung
17
1.4
Zusammenfassung
18
1.5
Alltags-, qualitative und quantitative Daten an einem Beispiel
20
1.6
System der Methoden nach dem Abstraktionsgrad der Daten
26
1.7
Wann qualitative Sozialforschung?
27
1.8
Das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Sozialforschung Übungsaufgabe 1
28 36
2
Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
37
2.1
Einleitung
37
2.2
Die Konstitution von Gegenstandsbereichen durch Theorie und die Bestätigung von Theorien durch Einzelfälle 39 Übungsaufgabe 2 43
2.3
Das Selbstverständnis der qualitativen Sozialforschung und das
44
Problem der Generalisierbarkeit 2.4
Unterschiedliche Dimensionen der Verallgemeinerbarkeit
46
2.4.1 2.4.2
Gesellschaftliche Bedingungen wissenschaftlicher Verallgemeinerung Verallgemeinerungsbegriff, Forschungs-Bürokratie und bürokratisches Handlungsinteresse Verallgemeinerung unter der Vorherrschaft der repräsentativen Umfrageforschung (Survey- Ansatz)
52
62
Resümee Übungsaufgabe 3
65 67
2.4.3 2.5
54
6
Inhaltsverzeichnis
3
Das Lebenswelt- Konzept
68
3.1
Theoretischer Bezugsrahmen Übungsaufgabe 4
68 73
3.2
Methodologische Überlegungen
74
4
Die Aktionsforschung
79
4.1 4.1.1
Programmatik von Aktionsforschung Erkenntnisprozess in einem Herstellungsprozess
79 79
4.2
Methodologischer Kontext von Aktionsforschung
82
4.3
Historischer Rückblick und Resümee der Auseinandersetzung
85
4.4
Intervention und Rekonstruktion: Probleme intervenierender Praxistätigkeit Übungsaufgabe 5
88 94
5
Habermas und Luhmann
95
5.1
Die Auswahl der hier verwendeten Theorien: Die Orientierung am main stream
95
Habermas und Luhmann oder: Kommunikatives Handeln versus Systemautonomie
95
5.2 5.3
Die Theorie des kommunikativen Handelns Übungsaufgabe 6
96 103
5.4
Die Theorie sozialer Systeme
104
5.4.1
Vorbemerkung
104
5.4.2
Systembegriff und Autopoiese
105
5.4.3
Luhmanns Systemdefinition und Systemtypisierung
106
5.4.4
Gesellschaft und funktionale Differenzierung Übungsaufgabe 7
108 115
6
Theorie und Empirie
116
6.1
Die Angeklagten und der Strafprozess in theoretischer Sicht
123
6.2
Besondere Aspekte des Verhältnisses von Theorie und Empirie am Beispiel der Theorie sozialer Systeme Otto-F. Bode
130
6.2.1
Theoretische Ausgangslage
130
6.2.2
Innen, außen und Nicht-Trivialität
132
Inhaltsverzeichnis
6.2.3
Die Theorie sozialer Systeme und der Begriff des Verstehens
6.2.4
Möglichkeiten und Grenzen der Verbindung von Empirie und Theorie sozialer Systeme Übungsaufgabe 8
7
133
137 151
III
METHODEN / PRAXISTEIL
152
1
Das qualitative Interview
152
1.1
Vorbemerkung
152
1.2
Methodologischer Kontext Übungsaufgabe 9
153 165
2
Das narrative Interview
166
2.1
Darstellung der Methode und beispielhafte Anwendung
166
2.1.1
Das "narrative Interview" und sein methodologischer Kontext
166
2.1.2
Narrativität - erzähltheoretische Grundlagen
168
2.1.3
Die Phasen des narrativen Interviews
171
2.1.4
Auswertungsschritte
172
2.2
Praxisteil: Der Einfluß eines politischen Ehrenamtes auf die Biographie - narratives Interview mit einer ehrenamtlichen Bürgermeisterin
177
2.2.1
Praktische Anwendung am Beispiel des narrativen Interviews Übungsaufgabe 10
191 203
3
Die sozialwissenschaftliche Paraphrase
204
3.1
Vorbemerkung
204
3.2
Darstellung der Methode
205
3.3
Praxisbeispiel: Sozialwissenschaftliche Paraphrase: Interview mit einer Femstudentin Übungsaufgabell
208 212
4
Das Konzept der objektiven (strukturalen) Hermeneutik Roswitha Heinze-Prause
213
4.1
Vorbemerkung
213
4.1.1
Die Theorie der individuellen Bildungsprozesse
213
8
Inhaltsverzeichnis
4.1.2
Der Begriff der "sozialisatorischen Interaktion"
214
4.1.3
Gegenstandsbestimmung und Textbegriff der objektiven Hermeneutik
215
4.2
Grundannahmen der objektiven Hermeneutik
216
4.2.1
Der Begriff des Subjekts
216
4.2.2
Die generative Linguistik Noam Chomskys
217
4.2.3
Die Theorie der objektiven Bedeutung sozialen Handelns von George Herbert Mead
220
4.3
Bezugspunkte der objektiven Hermeneutik zu den Entwicklungstheorien des Subjekts
222
4.3.1
Die soziale Konstituiertheit des Subjekts und die "latente" Sinnstruktur"
222
4.3.2
Der Regelbegriff der objektiven Hermeneutik
223
4.3.3
Die TextfÖrmigkeit sozialer Wirklichkeit
227
4.4
Das Verfahren der objektiven Hermeneutik als Kunstlehre
228
4.4.1
Das Regelwissen als Basis der Rekonstruktion
229
4.4.2
Die Sequenzanalyse
230
4.4.3
Das Verfahren der Feinanalyse
231
4.4.4
Zur Geltungsbegründung von Interpretationen Übungsaufgabe 12
234 236
4.5
Praxisbeispiel: Alltagskommunikation Übungsaufgabe 13
237 256
4.6
Praxisbeispiel: "Werbefeldzug" Authentizität als Massenbetrug. Strukturale Analyse des Benetton"Friedensplakats" von Oliviero Toscani Roswitha Heinze-Prause
257
4.6.1
Kontextwissen über ein Werbeplakat
257
4.6.2
Paraphrasierung des Plakats
260
4.6.3
Strukturhypothese
264
4.6.4
Warenästhetik und der Prototyp von Werbung
265
Inhaltsverzeichnis
9
4.6.5
Merkmale der neuen Konzeption von Werbung
266
4.6.6
Die Ökonomie als Basis des neuen Werbetrends Aggressive Strategien als Merkmal des Bekleidungssektors Übungsaufgabe 14
268 269
5
Die psychoanalytische Textinterpretation
270
5.1
Darstellung der Methode Übungsaufgabe 15
270 272
5.2
Praxisbeispiel: Literaturinterpretation Tillmann Moser: Das zerstrittene Selbst. Zu Kafkas Erzählung "Eine kleine Frau" Übungsaufgabe 16
273 282
Übungsaufgabe 17 (Kurskritik)
283
IV
ANHANG / MUSTERLÖSUNGEN Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe Übungsaufgabe
V
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
LITERATUR
284 288 290 292 294 296 300 301 304 306 309 314 317 321 323 325 332
334
I Einleitung
I
11
EINLEITUNG
Der vorliegende Band (Kurs) ist konzipiert als eine grundlegende Einfuhrung in die qualitative Sozialforschung. Im Theorieteil dieses Studienbuches werden zunächst (II, 1) die methodologischen Grundlagen erörtert, d.h. das Spannungsfeld zwischen Praxisfeld, theoriegeleitetem Erkenntnisinteresse und methodischem Repertoire wird dargestellt. Besondere Beachtung findet hierbei die Gegenüberstellung von Alltagsdaten, qualitativen Daten und quantitativen Daten, sowie die Frage nach deren jeweiligen spezifischen Abstraktionsleistungen. Das Kapitel 11,2 ist der grundsätzlichen Fragestellung nach wissenschaftlicher Verallgemeinerung gewidmet und leistet hier eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Dimensionen der Generalisierbarkeit von Sozialforschungsergebnissen allgemein. Kapitel 3, 4 und 5 des Theorieteils des Kurses erörtern Theoriekonzepte, die sich als relevante Theoriefolien erwiesen haben oder noch erweisen könnten im Zusammenhang mit qualitativer Sozialforschung. Kapitel 6 thematisiert am Beispiel einer Gerichtskommunikation die Verhältnisbestimmung von empirischem Einzelfall und theoretischer Verallgemeinerung. Anschließend werden besondere Aspekte des Verhältnisses von Theorie und Empirie am Beispiel der Theorie sozialer Systeme dargestellt. Im Methoden/Praxisteil des Kurses (III) werden die derzeit wichtigsten Methoden qualitativer Sozialforschung methodisch erläutert und jeweils in Praxisbeispielen dargestellt. Kapitel 111,1 ist hier - in methodologischer Grundlegung - zunächst dem "qualitativen Interview" gewidmet. Anschließend erfolgt (Kap. 2) die Darstellung einer besonders elaborierten Variante des qualitativen Interviews, des "narrativen Interviews". Kapitel 3 stellt die "sozialwissenschaftliche Paraphrase" als Interpretationsverfahren vor, Kapitel 4 die "objektive Hermeneutik", und das abschließende Kapitel 5 erlaubt einen Einblick in Methode und Praxis der psychoanalytischen Textinterpretation. Insgesamt 17 textbegleitende Übungsaufgaben sollen das Textverständnis absichern und darüber hinaus Anregungen bieten zur weitergehenden, selbständigen Auseinandersetzung mit Theorie, Methodologie und Praxis qualitativer Sozialforschung. Der vorliegende Band ist von Studierenden des Instituts für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck in meinen Lehrveranstaltungen „evaluiert" worden. Die aussagekräftigsten und interessantesten Rückmeldungen der Studierenden sind - im Anhang dieses Kurses - als „Musterlösungen" abgedruckt worden. Frau Dr. Ursula Krambrock hat dieses Studienbuch redigiert und mit ihren konstruktiven Anregungen zur „didaktischen" Qualität beigetragen. Herrn Dr. Otto-F. Bode danke ich für die Überarbeitung und Ausdifferenzierung des Kapitels II/5.4.
12
// Theorieteil
II
THEORIETEIL
1
Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
1.1
Was heißt qualitative Sozialforschung?
Dieser Abschnitt - konzipiert als Glossar - führt in das Thema ein, er gibt eine Definition und erklärt wichtige Begriffe. Dadurch soll zunächst eine allgemeine Orientierung über die Besonderheiten des "qualitativ" genannten Verfahrens erreicht werden, so wie es derzeit in den Sozialwissenschaften, besonders der Soziologie, der Psychologie, der Pädagogik und der Ethnologie verwandt wird, wie es aber auch für verschiedene Textwissenschaften in Betracht kommt, sofern sie sich mit Bedeutungsgehalten befassen, wie die Semiotik oder Semantik, die Literaturwissenschaften und die Linguistik.'
Definition und einige wichtige Begriffe Qualitative Sozialforschung kann zunächst als Sozialforschung bezeichnet werden, die sich qualitativer Daten bedient, vor allem verbalisierter oder verschriftlichter Daten oder Texte. Qualitative Daten sind solche, die soziale Gegenstände der Forschung auf eine wissenschaftliche Weise so beschreiben, dass sie die dem Gegenstand eigenen Verhältnisse, besonders deren Bedeutung, Struktur und Veränderung erfassen. Diese Daten werden mit Hilfe qualitativer Methoden erstellt. Sie werden verwendet zur qualitativen Analyse, die interpretativ/hermeneutisch ist. Die Begründung der gesamten Vorgehensweise, also die Bestimmung der Methoden, der Art ihres Einsatzes zur Erzeugung von Daten und deren Analyse ist Aufgabe einer qualitativen Methodologie. Sie bindet gleichzeitig das qualitative Forschungsverfahren in eine allgemeine Wissenschaftstheorie ein. Kurz gesagt ist qualitative Sozialforschung die Anwendung qualitativer Methodologie auf soziale Gegenstände.
Die folgenden Überlegungen (1.1-1.7) sind zusammengefasst und zum Teil redigiert entnommen aus Kleining, Gerhard: Qualitative Sozialforschung. FemUniversität. Hagen 1995
/ Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
1 3
Zu den Begriffen Qualitative Daten: Das sind wissenschaftliche Beschreibungen eines sozialen Gegenstandes. Sie sind weder "vorwissenschaftlich", wie Alltagsbeschreibungen, noch wissenschaftlich-quantitativ, also nicht in der Form von Häufigkeiten, Mengenangaben, Zahlenreihen oder Indices, die von der Forschungsperson erläutert und interpretiert werden müssen. Sondern sie sind in sich schon sinnhaft. Sinnhaft scheinen sie dem "normalen" Menschen und unter "normalen" Umständen. Wenn jemand sagt: "Guten Morgen" oder "Ich gehe jetzt zum Einkaufen" oder nur "Morgen!" bzw. "Einkaufen!", dann "verstehen" wir in aller Regel die Bedeutung der Aussagen ohne weitere Erklärung (sofern wir die Sprache kennen und noch einiges über die sozialen Umstände "wissen"). Wenn jemand aber sagt oder aufschreibt "80/60", so mag dies auch bedeutsam sein, wir wissen aber nicht "automatisch", ohne viel nachzudenken, was damit gemeint ist, sofern nicht spezifische Erklärungen folgen oder wir uns schon informiert haben, was Zahlen dieser Art "bedeuten" - hier also etwa Blutdruck in "mmHg". Aber selbst bei Angaben über eine Maßeinheit, die wir zu kennen glauben, etwa bei "22%" oder "DM 150,—" wissen wir nicht, ob das jeweils "viel" oder "wenig" ist, "überraschend" oder "normal", "billig" oder "teuer": Das kommt immer darauf an, wie wir, etwa bei einem Wahlergebnis, die Prozentzahlen interpretieren oder bei einem Kaufangebot das Preisniveau einschätzen. Deswegen wird ja in solchen Fällen möglichst dazugesagt, wie die Zahlenangaben "zu verstehen" sind oder man muss sich selbst ein Urteil bilden: Die Zahl bewertet sich nicht selbst, was ihre soziale Funktion betrifft. Abgekürzt: Wir arbeiten in der qualitativen Sozialforschung mit Daten, die "sich selbst erklären", d.h. dem Alltagsverständnis unmittelbar zugänglich sind, deren Bedeutung uns aus ihrem Schriftbild oder ihrem Klang unmittelbar erschließbar ist, nicht wie bei den Zahlenangaben zusätzlicher Informationen oder Bewertungen bedürfen. Der Grund für die Notwendigkeit einer Zufugung von Bedeutungsgehalt und Informationssystemen, um sie "sinnvoll" zu machen, ist, wie wir später sehen werden, der höhere Abstraktionsgrad "quantitativer" Angaben: Bei einer Zahl sind mehr Aspekte aus der erlebten Ganzheit "weggenommen" (abstrahere = wegnehmen) als etwa bei einer Beschreibung, die komplexer und auch mit mehr Bedeutungsgehalt versehen ist. Dass wir geschriebene Texte oder gesprochene Wörter und Sätze unmittelbar "verstehen" heißt natürlich noch nicht, dass wir sie "richtig" verstehen, denn es gibt auch verschlüsselte Mitteilungen, Doppeldeutigkeiten, witzige Bemerkungen. Oder wir mögen sie auch "falsch" verstehen, weil wir die Umstände nicht kennen oder in Betracht ziehen, unter denen sie mitgeteilt werden oder ihr Bedeutungsfeld im einzelnen uns unbekannt ist. Dies ist ein Problem der Analyse qualitativer Daten, mit dem wir uns später beschäftigen werden.
14
II Theorieteil
Die "qualitativen Daten", derer wir uns bedienen, liegen entweder schon vor, in Form von geschriebenen oder gedruckten Texten oder wir beschaffen sie uns durch Beobachtung oder Befragung, "erzeugen" selbst also Texte über einen Gegenstand: Diese Texte verschriftlichen wir dann, um sie zu analysieren. Soziale Gegenstände: Alles "Soziale" kann Thema der qualitativen Sozialforschung sein, wie Individuen in sozialen Bezügen; kleine Gruppen, Cliquen, Freundeskreise; soziale Institutionen wie Familien, staatliche, religiöse, wirtschaftliche, wissenschaftliche Einrichtungen, freiwillige Vereinigungen wie Vereine, Verbände, Parteien, alle Arten von Gruppen, Klassen, Schichten im gesellschaftlichen Ganzen; Völker, Nationen; soziales Handeln als Arbeit, Geselligkeit, Freizeitverhalten, Konsumarten; alle Arten von Kommunikation; alle Arten von Werten, Normen, Ideologien, Theorien, auch wissenschaftliche; alle Arten von Vorstellungen, Vorurteilen, Leitbildern; auch gesellschaftliche Abläufe im Kleinen und Großen, vom Alltagsgespräch oder Familienfeiern bis zu Streiks und Revolutionen. Dabei können wir diese "Gegenstände" untersuchen, wenn wir dabei sind, während sie sich bilden oder ereignen, wenn wir sie also selbst erleben können oder auch Berichte über sie in jeglicher Form. Auch das Vergangene und Entfernte kann durch qualitative Sozialforschung untersucht werden. Vereinfacht gesagt: Was immer Gegenstand von Soziologie sein kann, kann auch Thema qualitativer Sozialforschung sein. Der Ausdruck "Gegenstand" der Forschung oder auch "Objekt" der Forschung wird zur Unterscheidung vom "Subjekt" oder dem Forschenden selbst verwandt, wie in der Philosophie, besonders in der Erkenntnistheorie gebräuchlich. "Gegenstand" heißt also nicht nur "Ding", sondern bezeichnet zumeist Menschen, Handlungen und die Formen der Vergesellschaftung, die Menschen eingehen oder denen sie unterworfen sind. In der Psychologie sind die Forschungs-"Gegenstände" immer "Subjekte". Bedeutung, Struktur und Veränderung: Diese sind Kennzeichen sozialer Gegenstände, die sie in ihrem Verhältnis zu anderen "Gegenständen" charakterisieren, wie auch in ihrem Verhältnis zu sich selbst, ihrem Aufbau und ihrer Gliederung ("Struktur"). Da Strukturen nicht ein für alle Mal gegeben sind und stabil, sondern geworden und bewegt, wie alles Lebende und Natürliche in langsamer oder rascher Veränderung begriffen, werden Strukturen genetisch, biographisch oder historisch, also in ihrem Zeitablauf betrachtet ("Bewegung"). Die Begriffe Bedeutung, Struktur und Veränderung sind soziologische Grundbegriffe, weil sie die Vermittlung soziologischer Gehalte beschreiben ("Bedeutung"), den Aufbau oder die Gliederung sozialer Gegenstände ("Struktur") und deren Entwicklung ("Veränderung" oder "Bewegung"). Mit diesen beschäftigen sich empirisch und theoretisch verschiedene Wissenschaftsrichtungen wie die Semiotik, der Strukturalismus, die Theorien über sozialen Wandel und Entwicklung: Für uns sind sie vornehmlich als Forschungsthemen bedeutsam: Qualitative Sozialforschung kann und soll zur Erkundung von kon-
/ Methodologische
Grundlagen qualitativer Sozialforschung
1 5
kreten Bedeutungen, Strukturen und sozialen Veränderungen bzw. Entwicklungen dienen. Methoden: Dies sind Verfahrensweisen der Sozialforschung: Beobachtung, Experiment, Befragung, Textanalyse in ihren verschiedenen Ausprägungen, jeweils in ihren qualitativen Formen. Methoden werden auf Einzelfälle angewandt ("Fallstudie", "casestudy") oder auf mehrere Fälle; deren Auswahl nennt man "Sample" ("Muster"). Qualitative Analyse: Darunter versteht man Verfahren zur Aufbereitung der qualitativen Daten, wobei interpretative, deutende oder hermeneutische Verfahren unterschieden werden können von Such- und Findeverfahren oder heuristischen. "Hermeneutik" ist die Auslegung oder Deutung von Texten ("Deutungskunst"); der Name bezieht sich auf Hermes, den Gott des Handelns (und der Diebe), der zwischen den altgriechischen Göttern und den Menschen vermittelte und die göttlichen Mitteilungen (sofern sie unverständlich waren) interpretierte. Hermeneutische Analyseverfahren werden (fast) ausschließlich auf Texte angewandt, sie sind, in verschiedenen Formen, seit langer Zeit in Gebrauch und werden gelegentlich mit "qualitativer Analyse" gleichgesetzt. Qualitative Methodologie: Methodologie ist die wissenschaftliche Vorgehensweise und deren Begründung, sie beschäftigt sich besonders mit dem Verhältnis von Empirie und Theorie. Beispielsweise kann man von Annahmen oder Hypothesen über einen Gegenstand ausgehen und diese Hypothesen prüfen, um ihre Eignung zur Beschreibung oder Erklärung des Gegenstandes festzustellen (deduktiv-nomologische Methodologie, sie wird häufig mit quantitativen Daten kombiniert). "Deduktiv" heißt "ableiten", vom Allgemeinen auf das Besondere schließen, "nomologisch" heißt "auf Gesetzmäßigkeiten prüfen". Oder das Ausgehen von durch Forschung erfassbaren "Tatsachen" und daraus das Aufbauen einer Theorie (induktive Methodologie, sie wird in bestimmten Schulen von qualitativer Forschung verwandt, wurde besonders von Anselm Strauss (1967) propagiert). "Induktiv" ist "vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen", von den Tatsachen auf die Theorie. Oder der Wechsel zwischen Induktion und Deduktion im "Dialogprinzip" (dialogische oder dialektische Methodologie). Wissenschaftstheorie: Sie ist der Hintergrund für eine bestimmte Methodologie der Sozialforschung, indem sie den Platz der Erkenntnisverfahren in einer Theorie der Erkenntnisgewinnung bestimmt, ausgedrückt im Verhältnis von Subjekt und Objekt im Erkenntnisprozess und in Folgerungen, die daraus für das Verhältnis von Forscherin und Gegenstand der Forschung zu ziehen sind. Erkenntnistheorie befasst sich z.B. mit Fragen wie der Erkennbarkeit von "Gegenständen" im allgemeinen, den Begrenzungen, die in den erkennenden Subjekten oder den zur Verfugung stehenden Erkenntnismitteln liegen oder mit der Rolle von "Anschauung" und "Begriff', also dem Aufnehmen und dem definitorischen Erfassen von Erkenntnis- und Bewusstseinsinhalten: Dies alles ist von Wichtigkeit auch für die qualitative Forschung wie für Sozialforschung überhaupt.
16
1.2
// Theorieteil
Qualitative Sozialforschung als antipositivistisch
Das zunehmende Interesse an qualitativer Sozialforschung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das herrschende Paradigma nach wie vor das auf Quantifizierbarkeit und Daten ausgerichtete, statistische Verarbeitung erstrebende und mit dem Mittel der Hypothesenprüfung arbeitende Verfahren ist, eine Vorgehensweise, die vielfach mit "sozialwissenschaftlicher Forschung" schlechthin gleichgesetzt wird. Die überwiegende Anzahl von Methodenkursen an den meisten Universitäten, an denen empirische Sozialforschung gelehrt wird sowohl in Deutschland als auch in England und den USA, sind nach wie vor "quantitativ" bzw. was die Methodologie betrifft, "deduktiv-nomologisch", "kritisch-rationalistisch" oder "positivistisch" bzw. "neo-positivistisch", wie die Richtung von ihren Gegnern genannt wird. "Deduktiv-nomologisch" besagt, dass von Theorien bzw. Hypothesen ausgegangen wird, die dann ("deduktiv") auf ihre Übereinstimmung mit der vorgefundenen Wirklichkeit geprüft werden, um auf diese Weise allgemeine Gesetzmäßigkeiten ("Nomologien") festzustellen. "Kritisch-rationalistisch" heißt die Vorgehensweise, die von Popper (zuerst 1934) vorgeschlagen wurde, und die die Ausrichtung von Forschung zur Ermöglichung einer Kritik von Hypothesen vorsieht ("Falsifizierungs-Postulat") statt nach deren Bestätigung zu suchen. "Positivismus" ist eine im 19. Jahrhundert entstandene Wissenschaftsrichtung, die, unter dem Eindruck der Erfolge der Naturwissenschaften, die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit als das einzige Feld der wissenschaftlichen Betätigung ansah und deren Erfassbarkeit und Ordnung von "Fakten" höchste oder auch einzige Wirklichkeit zuschrieb. Gegen diese - abkürzend - "positivistisch" genannten Forschungsrichtungen haben sich "qualitative Richtungen" zur Wehr gesetzt und dadurch den Eindruck erzeugt, es handele sich bei ihnen um eine Alternative. Dies ist insofern richtig, als qualitative Daten, z.B. Texte anders sind und anders analysiert werden als deren quantitative Formen, z.B. Tabellen. Hier geht es nicht um die Methodologie des Prüfens von vorhandenen oder für den Einzelfall aufgestellten Hypothesen, sondern umgekehrt um die Entwicklung von Theorie durch die Forschung. Die polarisierende Gegenüberstellung übersieht, dass auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Forschungsrichtungen bestehen, die, wie wir sehen werden, durch "Wissenschaftlichkeit", d.h. Reflexivität über die Vorgehensweise und Zielrichtung auf Objektivität und selbst durch Ähnlichkeit der Datenform verbunden sind, weil nämlich sowohl qualitative als auch quantitative Daten Abstraktionen von Informationen aus der Alltags-Wirklichkeit sind, nur eben in verschiedenem Grade.
/ Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
17
Die Entwicklung der qualitativen Sozialforschung ist aber, wenigstens in den letzten vier Jahrzehnten, gekennzeichnet durch Konfrontation, man kann sagen, eine Art "Auflehnung" qualitativer Forscher gegen die herrschende Doktrin.
1.3
Gründe für die Aktualität qualitativer Forschung
Woher die "Aufstände" gegen den Positivismus? Wissenschaftstheoretisch allein können sie nicht erklärt werden, es ist nicht einzusehen, warum sich das WahrheitsVerständnis in Philosophie und Sozialwissenschaften seit den 50er Jahren so grundlegend geändert haben sollte. Da Sozialwissenschaften aber nicht nur den sich beständig verändernden Gegenstand "Gesellschaft" vorfinden, sondern selbst auch Teil des Veränderungsprozesses sind, wird man die Ursachen anderswo zu suchen haben. Wahrscheinlich liegen sie in der zunehmenden Unzufriedenheit mit dem Dogmatismus einer rigoros quantifizierenden, vom Alltagsleben zunehmend abgekoppelten, esoterischen und deswegen wenig nachvollziehbaren Methodologie. Um die heutige Situation zu begreifen, ist es nützlich, sich die Gegebenheiten zu vergegenwärtigen, die zur Aufnahme des neueren Positivismus vor allem in Psychologie und Soziologie geführt haben, also die politische und ökonomische Situation zum Ende des 2. Weltkrieges. Die Nazizeit hat zu einer Vernichtung nicht nur von Menschen und ihren Lebensgrundlagen, sondern auch zu einer Zerrüttung der geistigen, künstlerischen und wissenschaftlichen Kultur gefuhrt, die in der Weimarer Republik in Deutschland noch blühte. Äußeres Zeichen waren die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von Wissenschaftlern, die Verbrennung ihrer Schriften, die Vernichtung von großen Teilen des geistigen Lebens. In dieses Vakuum strömten die Wissenschaftsrichtungen der Siegermacht USA ein, die am ehesten bei einem "Wiederaufbau" verwendbar schienen und die sich dort, vornehmlich in den 40er und 50er Jahren, an wichtigen Universitäten (mit Ausnahme der University of Chicago) etabliert hatten und die, obwohl wichtige ihrer Teile aus Europa stammten, die militärische, ökonomische und politische Dominanz der USA begleiteten: Die rationalistischen Verfahren, die nur das Faktische, Quantifizierbare im Blick haben, zur Messung und Kontrolle von Lebensbedingungen und Verhalten. Kritische Reflexion, ja auch nur Beschreibung des Faktischen, war bei Vertretern dieser Richtungen in den USA unter den Bedingungen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit nicht angezeigt, im Westdeutschland der Adenauer-Ära nicht gefragt. Dies änderte sich erst eine Generation später in den USA im Zusammenhang mit dem Vietnam-Krieg, der Friedensbewegung, den Studentenunruhen, vielen AltemativBewegungen, später der Entwicklung einer feministischen Wissenschaft, in Deutschland nach dem Abflauen des "Wirtschaftswunders" durch die Rezession Ende der 60er Jahre, die übergreifenden Studenten-Proteste, die antiautoritären Bewegungen, APO etc. Es scheint so, dass Freuds "Unbehagen in der Kultur" (1930), wenigstens bei einigen
18
II Theorieleil
Teilen der jüngeren Generation, das positivistische Lebensgefiihl einer allgemeinen Machbarkeit und Fortschrittseuphorie wieder abgelöst hat, nachdem die Schäden der Moderne allenthalben sichtbar sind. Eine neue Reflexivität entstand, die soziale Situation und die Situation des einzelnen betreffend; die Fragen nach den Bedingungen des Sozialen und die Sinnhaftigkeit sozialer Handlungen scheinen sich mehr als früher zu stellen. Auch deswegen sind die positivistischen Methoden der Sozialwissenschaften in eine kritische Betrachtungsperspektive geraten. Es kommt hinzu, dass sich deren Angebote zu einem Verständnis der drängenden Fragen der Zeit wenig eignen - des Fortbestehens der sozialen Ungleichheit im Lande trotz Volkswohlstand, der gleichwohl existierenden Armut, der sozialen und ökonomischen Diskriminierung von Frauen, Kindern, Alten, Randgruppen, Ausländern, im Weltmaßstab die Armut, die Umweltzerstörung, das Fortbestehen von Kriegen, Folter und Vertreibung - dass zur Lösung dieser Fragen die herrschende Sozialforschung allenfalls nur mäßig beigetragen hat und dass von kritischen Betrachtern von ihr mehr verlangt wird als eine Reflexion über Methodologien und eine Sammlung von zersplitterten "Fakten" zur Prüfung von Hypothesen. Die Gefahr dabei allerdings ist, das Kind mit dem Bade auszuschütten und von einer vermeintlichen Einseitigkeit der positivistischen Weltsicht in eine ebenso einseitige "Alternative" zu verfallen, ohne das Verhältnis aller Methoden zueinander, das Ganze also in Betracht zu ziehen. Eine differenzierende und umfassende Betrachtungsweise der Methoden ist angezeigt.
1.4
Zusammenfassung
Das (neue) Interesse an qualitativer Forschung scheint sozialkritisch begründet zu sein: Die Reflexion über Krisen und das Anwachsen bzw. Fortbestehen der sozialen Probleme und die geringe Kapazität der herrschenden positivistischen sozialwissenschaftlichen Richtungen zur Beschreibung bzw. zur Erklärung gesamtgesellschaftlicher Erscheinungen. Wissenschaftstheoretisch sind alle "qualitativen" Ansätze anti-positivistisch, also gegen die These vom deduktiv-nomologischen Verfahren der Forschung und gegen die - separat zu betrachtende - Forderung nach möglicher Quantifizierung und statistischer Verarbeitung von Forschungsdaten. Seit Ende der 60er Jahre drückt sich dieser Widerstand gegen die positivistische Wissenschaftsauffassung in zahlreichen Angriffen auf sie aus. Dies kann im Zusammenhang gesehen werden mit anti-positivistischen Bewegungen schon im 19. Jahrhundert, von denen einige auch für die heutige "qualitative" Diskussion wichtig sind: die Dialektik, Diltheys "Geisteswissenschaften" und die Hermeneutik als Kunst der Deutung oder
I Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
19
Auslegung; in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Psychoanalyse, die Gestaltpsychologie und die Phänomenologie; nach der Mitte des Jahrhunderts der Symbolische Interaktionismus und die Ethnomethodologie. Die verschiedenen Gegenbewegungen haben keine einheitliche Position hervorgebracht, so dass sich die qualitativen Richtungen heute als differenziert und z.T. widersprüchlich darstellen. Qualitative Sozialforschung steht vor der Aufgabe der Verbindung verschiedener Positionen durch eine gemeinsame Methodologie. Es stellt sich nun die Frage, was eigentlich "qualitative Forschung" heißen soll. Wie ist qualitative Sozialforschung möglich? Dabei sollte uns bewusst sein, dass auch diese Frage durch die Entwicklung der quantitativen Forschung provoziert wurde, die in Gestalt der deduktiv-nomologischen Methodik und der statistischen Verfahrensweise sehr wohl ihre Grundlagen gebildet hat. Damit stellt sich das Problem einer Systematik der Methoden, also des Zusammenhangs der verschiedenen Vorgehensweisen, Datenformen und Einzelmethoden, nun aber nicht als Entwurf ins Blaue hinein, sondern unter Berücksichtigung der gewachsenen Vorgehensweisen in den verschiedenen Wissenschaftsrichtungen. Eine systematische Betrachtung der Methoden muss sich an ihrer Fähigkeit messen lassen, die Struktur aufzuzeigen, in der die Einzelmethoden agieren und das System zu erläutern, dessen Bestandteile sie bilden. Wir werden die Frage zu stellen haben, ob es ein solches System von Methoden gibt, wie es aussieht und wo qualitative Forschungsverfahren ihren Platz haben. Für welche Variante sollen wir uns entscheiden? Ist die qualitative oder die quantitative Datenform bzw. Vorgehensweise die "richtige"? Für jede der Möglichkeiten gibt es gute Gründe dafür - aber auch dagegen. Alle diese Gründe sind aber praktisch-empirisch. Sie sind nicht theoretisch begründbar. Eine solche Begründung müsste die Frage beantworten, ob die eine oder andere Datenform im Prinzip besser geeignet ist, soziale Gegenstände zu beschreiben und zu analysieren, um die ihnen eigene Substanz, ihre immanenten Kennzeichen oder ihr "Wesen" zu erkennen. Der Zweckmäßigkeitsgesichtspunkt bei der Produktion von Daten bzw. der Verwendung von Methoden muss also ersetzt werden durch den Wahrheitsgesichtspunkt. Kommen wir eher zur Wahrheit durch die Verwendung der einen oder anderen Datenform? Hier stellt sich die Frage, ob die Gegenüberstellung der beiden Verfahrensweisen nicht schon falsch ist, weil sie die Alternativen einengt auf einige Möglichkeiten, die einander widersprechen, aber von denen keine theoretisch besser begründbar ist als die andere. In einer solchen Situation gibt es mehrere Möglichkeiten, das Dilemma zu lösen. Eine davon ist, nicht nach den Differenzen der beiden Datenformen zu fragen und wie man zweckmäßigerweise mit diesen Differenzen umgeht, sondern nach den Gemeinsamkeiten. Dazu brauchen wir "gute" Daten, nach Möglichkeit "wirkliche" Beschreibungen qualitativer und quantitativer Art. Die andere, mit ihr verbundene Möglichkeit ist die, die Datenbasis dadurch zu erweitern, dass wir andere Datenformen auch noch in die Betrachtungen einbeziehen. Welche? Die Alltagsdatenform bietet sich an: qualitative
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II Theorieteil
und quantitative Formen sind mit ihr zu vergleichen. Dieser Vergleich sollte dann Gemeinsamkeiten erforschen, nicht die Differenzen der eigenen Richtungen herausarbeiten, denn wir wissen ja schon, dass die Alltagsformen und mit ihnen die Alltagsverfahren als "unwissenschaftlich" gelten. Es wäre aber falsch, sie deswegen aus der Betrachtung auszuschließen, was sich aus dem Folgenden ergeben wird.
1.5
Alltags-, qualitative und quantitative Daten an einem Beispiel
"Gegenstand" ist das Erleben einer kleinen Szene in einem Restaurant: Am Nebentisch des Beobachters, der dort zum Mittagessen gegangen ist und zufallig Zeuge wird, wird gefeiert und photographiert. Diese Szene wird auf dreierlei Weise beschrieben: "alltäglich", "qualitativ" und "quantitativ". Die qualitative Beschreibung ist "echt", d.h. wirklich erlebt; der "Brief' und die Quantifizierung sind zur Demonstration der Alternativen später zugefugt. Alltägliche Beschreibung: Ein alltägliches Ereignis kann, wie wir wissen, auf viele verschiedene Weisen beschrieben und dargestellt werden. Etwa, indem man es erzählt, vielleicht verschiedenen Personen gegenüber - dann wird die Geschichte schon jeweils verschieden aussehen - oder in verschiedenen Umständen, zu verschiedenen Zeiten, mit verschiedenem Zweck: Die Geschichte erhält jeweils andere Akzente. Oder, wenn man sie in einem Tagebuch notiert oder als Bericht für eine Zeitung schreibt oder als Polizeiprotokoll oder in literarisch/künstlerischer Gestaltung oder als Erzählung, als Gedicht etc. Die Geschichte/das Ereignis wird sich immer verschieden präsentieren. Für unser Beispiel wählen wir die Form eines Briefes. Er könnte lauten: "Liebe B. "Auf der Rückreise habe ich in N. Station gemacht, um G. zu besuchen. Mittags war ich im Restaurant essen, in dem wir auch schon einmal zusammen waren. Es war sehr voll und sehr laut, dagegen habe ich ja nichts, aber am Nebentisch war der Teufel los, so eine Art Geburtstagsgesellschaft mit einem lärmenden Kind, das herumschrie und ein kolossales Durcheinander erzeugt hat: Die Leute haben alles geblitzt fürs Album. Am liebsten hätte ich ja etwas gesagt, mich beschwert, aber du weißt ja, wie das ist, man bekommt noch mehr Ungelegenheiten. Das Essen war aber gut. Dabei fallt mir ein..." etc. Kennzeichen der Alltagsbeschreibung: Wir fragen nun, welche Kennzeichen diese Beschreibung hat. Gesucht werden diejenigen Merkmale, die entweder mehrfach vorkommen oder auch nur einfach, aber mit anderen Merkmalen dieser Beschreibung in Verbindung stehen. Wir werden später genauer erläutern, wie bei einer solchen Analyse vorzugehen ist. Für die Alltagsbeschreibung finden wir folgende Besonderheiten:
1 Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
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-
Sie ist persönlich, spiegelt die Bedürfiiisse des Schreibers, seine Befindlichkeit, seine Erlebnisweise und sein Verhältnis zur Empfängerin des Briefes. Anders ausgedrückt, sie ist eine subjektive Deutung, eine Interpretation des Ereignisses.
-
Sie ist wertend, der Schreiber sagt, was ihm gut oder weniger gut gefällt.
-
Sie ist spekulativ ("fürs Album", "ich hätte am liebsten...").
-
Sie ist unsystematisch: in einer Form, die bestimmt ist durch das Schreiben eines Briefes, nicht durch den Ablauf des Ereignisses, über das berichtet wird, geprägt durch Spontaneität der Einfälle.
-
Sie ist "naiv" in dem Sinne, dass die Beobachtung als Wirklichkeit genommen wird, ohne dass die eigenen Vorurteile und die augenblicklichen Bedürfnisse reflektiert werden.
-
Schließlich ist sie einseitig, weil nur ein Aspekt des gesamten Erlebens, nämlich der Gegenstand aus der subjektiven Perspektive, gesehen und beschrieben wird.
Zusammengefasst können wir diese Alltagsbeschreibung als "unwissenschaftlich" oder auch, etwas genauer, als "vor-wissenschaftlich" charakterisieren. Wie kommen wir aber zu einer "wissenschaftlichen" Beschreibung? Das Hauptproblem liegt offenbar in der Subjektivität der Beobachtung und Darstellung. Wir können wir sie überwinden? Ziel einer wissenschaftlichen Beschreibung, das soll jetzt die These sein, ist "Objektivität". Da es aber absolute Objektivität (aus Gründen, denen später ausgiebig nachgegangen werden wird) im Sozialen nicht gibt, fassen wir eine wissenschaftliche Beschreibung zunächst und richtiger als eine solche, die "weniger subjektiv" ist, die die Subjektivität zugunsten der Beschreibung zurückdrängt. Wir müssen dann auch alle anderen Merkmale der Analyse "umdrehen" bzw. "negieren" und kommen zu einer "wissenschaftlichen Beschreibung" als Gegensatz und Negation einer "Alltagsbeschreibung" mit den Kennzeichen: weniger subjektiv weniger wertend nicht spekulativ mehr systematisch nicht naiv, sondern die Methode reflektierend weniger einseitig.
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II Theorieteil
Qualitative Beschreibung: Die gleiche Szene wurde folgendermaßen dokumentiert: Kennwort: Photoaufnahme. Zeit: 20.2.1990, mittags. Ort: N., ein großes, traditionelles Restaurant in der Innenstadt, Holztische, gut besucht. Situation: 8 - 1 0 Personen sitzen um einen Tisch, wahrscheinlich zwei Familien; zwei Ehepaare, mittleren Alters, eine Tochter, ca. 16 Jahre, ein Sohn, ca. 6 Jahre, mehrere Einzelpersonen. Es wird gegessen, Sektgläser stehen auf dem Tisch, heitere Stimmung. Beobachter: G.K. Beobachtung: (1)
Einer der Männer tritt mit einem Photoapparat vor den Tisch, behindert
die Kellner, alle erheben die Gläser, wenden sich zum Photographen, lächeln, erstarren, bis der Blitz sie erlöst. Die anderen Gäste sehen hin, was vor sich geht. (2)
Das Kind holt sich den Apparat, will auch photographieren, wird von der
Tochter mit Geschrei zurückgerufen, eingefangen, es ergibt sich eine Balgerei, alle reagieren. (3)
Der Photograph nimmt wieder den Apparat, postiert sich an anderer Stel-
le. Alle erstarren wieder, ein Ehepaar umarmt sich, tut so, als ob es sich küsst für die Kamera. Blitz - alle wieder bewegt, lachen.
Kennzeichen der qualitativen Beschreibung: Die qualitative Beschreibung enthält deutlich mehr "Objektivität", weniger Wertung, keine Spekulation und ist systematischer gegliedert. Insgesamt ist sie mehr auf den Gegenstand bezogen und nicht eine persönliche Meinung oder Ausdeutung des Gegenstandes. Sie ist auch weniger einseitigHier muss darauf hingewiesen werden, dass die Negation (der Alltagsbeschreibung) nicht ganz, sondern partiell ist, dass Subjektivität, Wertung und Einseitigkeit gleichwohl in der Beschreibung noch enthalten sind und dass sie auch durch noch so große Sorgfalt und Präzision nicht aus ihr verschwänden, dass selbst eine Maschine, etwa bei einer Filmaufnahme der Szene, die Subjektivität nicht aus ihr herauslösen würde, weil j a auch Aufstellung, Blickwinkel, Schnitt etc. "subjektiv" sind.
/ Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
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Vergleichen wir nun die Alltagsbeschreibung mit der qualitativen Beschreibung, so sind die Unterschiede offensichtlich. Es ergeben sich jedoch schon daraus Gemeinsamkeiten, da beide den gleichen Gegenstand beschreiben. Beide, so nehmen wir an, stellen einen Gegenstand aus verschiedener Sicht dar oder jeweils "verkürzt". Wir können auch sagen, dass sie aus dem Geschehen, das sich in beiden Berichten spiegelt, Verschiedenes herausnehmen oder "abstrahieren". Die Art der Abstraktion produziert nun den entscheidenden Unterschied. Die Alltagsbeschreibung abstrahiert von vielen Seiten des Faktischen zugunsten der Einseitigkeit des subjektiven Erlebens und Bewertens. Die qualitative Beschreibung dagegen abstrahiert von der Einseitigkeit des subjektiven Erlebens und Bewertens und bewegt sich zu auf die Lebendigkeit des Gegenstandes. Von ihm erfasst sie Elemente seiner Struktur: Sie schildert Verhältnisse, etwa die Beziehung zwischen Mutter und Kind, zwischen Zuschauern und Akteuren, zwischen den beiden Ehegatten, zwischen Photograph und Photographierten, zwischen Photograph und Kellner. Diese strukturellen Elemente sind auch im Geschehen angelegt: Die Beschreibung nimmt sie auf. Ebenso die Bewegung: Es werden Abfolgen geschildert, wie sie in der Wirklichkeit, der Vorlage der Beschreibung, so abgelaufen sein müssen: wie die Vorbereitungen zum Photographieren getroffen wurden, wie sich die Lebendigkeit verändert, wie Kind und Mutter im Verlauf agieren usw. Damit wird der "Sinn" des Geschehens wiedergegeben bzw. die vom Betrachter erlebte Sinnhaftigkeit des Ablaufs strukturiert das Protokoll. Das Ergebnis: Die protokollierte Geschichte ist "verständlich", der Leser - und auch andere Leser, soweit sie mit diesem Kulturkreis vertraut sind - können sie nachvollziehen und "verstehen". Dies alles sind Kennzeichen von "qualitativen" Daten.
Quantitative Beschreibung: Hier könnte die Szene so dargestellt werden: Ablaufdiagramm Lebendigkeit und Zeit Lebendigkeit
sehr
etwas Zeit
keine 45
46
47
48
49
50
51
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II Theorieteil
Lebendigkeit
5
2
0
5
2
0
5
Zeit
45
45,13
45,18
45,19
50,20
50,24
50,25
Lebendigkeit Zeit
5= sehr
2= etwas
0= keine
Minuten / Sekunden nach 12.00 Uhr
Kennzeichen der quantitativen Daten: Im Ablaufdiagramm und der Tabelle sind zwei Variablen ausgewählt worden, Lebendigkeit und Zeit. "Lebendigkeit" soll heißen das erlebte Maß von allgemeiner Bewegung und Lautstärke; sie kann man in die Form einer Ordinalskala bringen (von "sehr" über "etwas" zu "keine") oder auch mit Gewichtungen versehen, wobei hier die Gewichte 5, 2, und 0 gewählt wurden. Die Variable "Zeit" kann man auch ordinal skalieren; in der Tabelle ist die Zeit in (nachträglich ausgedachter Genauigkeit) in Minuten und Sekunden angegeben, so dass hier eine "metrische" Skala entsteht. Natürlich hätte man auch andere Aspekte quantifizieren können, etwa die Anzahl der jeweils agierenden Personen, die Lautstärke (in Phon), die Anzahl der gesprochenen Worte usw. (wenn die Daten auf Tonträger oder Video vorgelegen hätten). Im Vergleich zu den beiden früheren Beschreibungen sehen wir folgende Besonderheiten der "quantitativen" Form: Die Darstellung ist weniger subjektiv als die Alltagsbeschreibung, insofern "wissenschaftlicher". Sie ist aber auch nicht "objektiv", weil die Auswahl der Variablen nicht dem Gegenstand eigen ist, sondern vom Forschenden vorgenommen wurde. Welche Variablen gewählt werden und welches Skalen- oder Messniveau die einzelnen Skalen haben, ist der Beitrag des Forschenden und insofern "subjektiv". Hier besteht kein prinzipieller Unterschied zur qualitativen Beschreibung, in der der Forschende seine eigenen Worte und Formulierungen verwendet. Es fragt sich aber, ob ein gradueller Unterschied in der Objektivität bzw. der Reduktion von Subjektivität bei den Daten besteht? Hier gibt es Unterschiede in der Meinung von "qualitativen" und "quantitativen" Forschern. Letztere halten ihre Daten, weil in Zahlen, Graphiken und Tabellen ausdrückbar, für "objektiver", für weniger der subjektiven Deutung unterworfen. Darin sehen qualitative Forscher gerade einen Fehlschluss, sie halten diese Datenaufbereitung nicht für objektiver, sondern für verdinglichter und die Interpretationsmöglichkeiten für offener, weniger festgelegt, damit auch die Meinung, diese Aufbereitung sei
/ Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
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"wissenschaftlicher", für falsch. Zu Gunsten der Argumentation qualitativer Forscher muss angeführt werden, dass Wissenschaft nicht durch die Form der Daten bestimmt ist, sondern, nach allgemeinem Verständnis, durch den Wahrheitsgehalt. Übereinstimmung jedoch lässt sich in beiden "Lagern" über weitere Besonderheiten der quantitativen Daten erzielen: Sie sind hoch abstrakt, stärker abstrahiert als die qualitativen Daten. Die hier dargestellte Form enthält nur jeweils zwei Variablen, statt der vielen in der qualitativen Beschreibung. Auch wenn die Anzahl der Variablen erhöht würde selten sind mehr als 20 im Spiel -würde man nie die Vielgestaltigkeit und Differenziertheit erreichen können, die in einer genauen verbalen Beschreibung liegt und die ja auch schon eine Abstraktion aus der noch viel differenzierteren sozialen Wirklichkeit ist. Wir können also mit guten Gründen annehmen, dass quantitative Forschung stärker aus dem lebendigen Gegenstand abstrahiert als qualitative Beschreibung. Was sie dadurch verliert ist Reichhaltigkeit und Differenziertheit, was sie aber gewinnt, ist Festigkeit und Stabilität. Wenn quantitative Beschreibungen an Differenziertheit einbüßen, so verlieren sie an Wirklichkeitsnähe und Lebendigkeit. Aus dem Schaubild und der Tabelle kann man nicht das wirkliche Geschehen rekonstruieren, viel weniger als aus einer qualitativen Beschreibung. Auch eine Vervielfältigung quantitativer Daten würde dies nicht bewerkstelligen können. Dies sieht man besonders dann, wenn wir nach den Merkmalen der qualitativen Beschreibung fragen, die sich in "Verhältnissen" oder "Beziehungen" niederschlagen: nach Struktur und Bewegung. Strukturelle Elemente sind in der Tabelle auf das Verhältnis von Lebendigkeit und Zeit verkürzt, "Bewegung" ist eine Abfolge aneinander gereihter Abschnitte oder Zahlen, nicht Bewegung aus sich heraus, "immanente" Bewegung, wie sie dem Erleben und dem sozialen Handeln eigen ist. Wir behaupten nicht, dass die eine oder andere Art der Darstellung, die qualitative oder die quantitative "besser" oder "schlechter" sei, sondern nur, dass sie aus einem komplexen sozialen Geschehen unterschiedlich stark abstrahieren. Die qualitative Form stellt Zusammenhänge in struktureller und zeitlicher Hinsicht dar, in der quantitativen Form werden gleichwertige Elemente in unterschiedlichen "Mengen", also Differenzen der Häufigkeiten aufgelistet. Beide Datenformen kommen reflektiert zustande: die qualitative durch Sensibilisierung des Forschers, in der Beschreibung zu reduzieren und auf Zusammenhänge und Abläufe zu achten; die quantitative Form durch Reflexion über als geeignet zur Beschreibung der Wirklichkeit angesehene Variablen und ihre Gliederung. Beide sind in diesem Sinne auch "systematisch". Deswegen können wir sagen, sie seien beide auch "wissenschaftlich".
26
1.6
II
Theorieteil
System der Methoden nach dem Abstraktionsgrad der Daten
Unter der Voraussetzung, dass spezifische Methoden die jeweiligen Datenformen generieren, können wir die Methoden nach ihrem Abstraktionsgrad zueinander in Verbindung setzen: Sieht man das Verhältnis der Methoden nach dem Abstraktionsgrad ihrer Daten, so lässt sich daraus eine bestimmte Abfolge der Methoden in der Forschungspraxis folgern. Qualitative Methoden können dann nämlich durch Abstraktion aus den Alltagsmethoden entwickelt werden, wobei Struktur und Bewegung, damit Lebendigkeit des Geschehens gewahrt bleiben sollen. Wenn gefragt wird, ob die bekannten qualitativen Methoden "vollständig" sind oder ob sie "ergänzt" werden könnten, dann wird man auf die Alltagsmethoden blicken und fragen, welche von ihnen "verwissenschaftlicht" werden könnten. Qualitative Methoden können also entstehen aus Alltagsmethoden. Dagegen sind die höher abstrahierten quantitativen Methoden augenscheinlich nur dann sinnvoll einsetzbar, wenn sie auf den Abstraktionen der qualitativen Methoden beruhen, also diejenigen Aspekte herausgreifen, von denen man durch qualitative Forschung schon weiß, aufweiche Weise sie für das Beschreiben des Gegenstandes bzw. des Geschehens wichtig sind. Natürlich kann man quantitative Abstraktionen auch direkt aus den Alltagsbedingungen vornehmen, und häufig wird dies gemacht, etwa wenn sich ein quantitativer Forscher "ausdenkt", welche Variablen eines Gegenstandes, den er aus Alltagserfahrung kennt, prüfbar wären bzw. wie eine Theorie über diesen Gegenstand in Skalierung umsetzbar sei. Dabei läuft er aber Gefahr, danebenzugreifen und Daten zu produzieren, die sich als sinnlos herausstellen, weil sie den Gegenstand nicht adäquat beschreiben. Diese adäquate Beschreibung ist aber das erste Ziel der qualitativen Methoden. Noch ein Merkmal haben wir im Vergleich der Methoden erkannt: Indem die Methoden jeweils stärker abstrahieren beim Übergang von den Alltagsmethoden zu den qualitativen und von dort zu den quantitativen Methoden, dabei die Anzahl der Aspekte reduzierend, die die jeweils produzierten Daten enthalten, gewinnen sie Stabilität und Festigkeit und dadurch Manipulierbarkeit durch z.B. datenverarbeitende Maschinen. Es ist verständlich, warum bei fortschreitender Technologisierung quantitative Daten nicht nur "verarbeitet", sondern zum Zwecke der Erfassbarkeit, Erreichbarkeit und Kontrolle "erzeugt" werden. Die Loslösung der Daten, ihre Verselbständigung, der Verlust der durch die qualitativen Methoden geschaffenen Datenbasis ist eine konkrete Gefahr. Auch aus dieser Sichtweise hat die erste Stufe der wissenschaftlichen Abstraktion, die "qualitative", eine wichtige Funktion.
/ Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
1.7
2 7
Wann qualitative Sozialforschung?
Nochmals zurück zum Verhältnis qualitativer und quantitativer Sozialforschung: Wir können nun die früher gestellt Frage, ob die qualitative oder quantitative Datenform vorzuziehen sei oder eine Kombination von beiden und wenn, in welcher Form, folgendermaßen beantworten: (1) Wenn wir "induktiv" vorgehen, also die erfahrbare Wirklichkeit als Ausgangspunkt nehmen, um sie zu beschreiben und zu analysieren, dann ist der erste Schritt immer ein "qualitativer", weil qualitative Methoden einen niedrigen Abstraktionsgrad, also Gegenstandsnähe haben und weil sie "objektiver" sind als eine der vielen möglichen Alltagsbeschreibungen. (2) Qualitative Sozialforschung ist immer dann zu empfehlen, wenn der Gegenstand komplex, unübersichtlich, teilweise oder ganz unbekannt ist oder auch, wenn er zwar einfach erscheint, aber vermutlich komplexer ist: aus dem gleichen Grund der Gegenstandsnähe und der vergleichsweisen Objektivität der Daten. (3) Wenn auf der "qualitativen" Ebene eine Analyse ausgeführt ist und in sich als abgeschlossen angesehen werden kann, dann kann die Gesamtanalyse als abgeschlossen angesehen werden. Keinesfalls ist es notwendig oder auch nur möglich, höher abstrahierte (quantitative) Daten zur Prüfung von komplexeren (qualitativen) Daten zu verwenden, eben weil quantitative Daten reduzierter sind als qualitative. (4) Wenn durch qualitative Analyse Struktur und Bewegung eines sozialen Gegenstandes bekannt geworden ist, dann kann höher abstrahiert, also quantifiziert werden. In diesem Fall kann der Sinn der Daten in der Quantifizierung erhalten bleiben, so dass sie abkürzend für die komplexeren qualitativen verwendet werden können. In vielen Fällen ist dies so bei Abstraktion von Daten für naturwissenschaftliche Forschung. Wenn man weiß, was "Masse", "Bewegung", "Lichtgeschwindigkeit" etc. sind oder was eine bestimmte Wellenlänge oder ein Längen- bzw. Zeitmaß bedeuten, sollten diese Begriffe dann auch verwandt werden, da die Abstraktion die Daten vereinfacht und ihre Bearbeitung erleichtert. Rückblickend: Wir sind ausgegangen von dem Gegensatz "qualitativ" und "quantitativ" bei Datenformen, wie sie in der Literatur behandelt wurden, haben die Polarisierung als nicht begründbar abgelehnt und eine eigene "Untersuchung" angestellt - diese im Sinne der qualitativen Sozialforschung, der noch erklärt werden wird. Dabei haben wir -
die Datenbasis erweitert durch Einbeziehung von Alltagsverfahren bzw. Alltagsdaten;
-
wirkliche Daten erstellt bzw. untersucht (pragmatischer Bezug) und
-
auf Gemeinsamkeiten, nicht auf Differenzen geachtet.
28
II
Theorieteil
Als Ergebnis haben wir gefunden, dass die drei verschiedenen Arten von Daten, das, was wir als "Wirklichkeit" annehmen müssen, in jeweils einer bestimmten, verkürzten Form wiedergeben. Die Alltagsform erwies sich als eine zum Subjektiven, die qualitative Datenform als eine zum Objektiven verschobene Abstrahierung, wobei wir die objektivierende als "wissenschaftlicher" ansehen als die subjektiv wenig reflektierte. Die quantitative Datenform versucht auch "objektiv" zu sein, obgleich hier subjektive Elemente ebenfalls wirken. Man kann also von einem aufeinander Zugehen von beiden Seiten sprechen, und dies ist ja die Absicht, wenn Streitende zum Dialog aufgefordert werden. Das, was wir hier als eine mögliche Strategie empirischer Sozialforschung vorgeschlagen haben, ist - wie im folgenden Abschnitt dargestellt werden soll - nicht unumstritten.
1.8
Das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Sozialforschung
Die Kontroverse „quantitative" versus „qualitative" Sozialforschung ist - wie wir gesehen haben - ein Ergebnis der besonderen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung, vor allem im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert. Den Sozialwissenschaftlern ging es dabei um normativ politische Auseinandersetzungen (z.B. Werturteilstreit) und um erkenntnistheoretische Grundlagenpositionen (z.B. Einheitswissenschaft versus Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften). Frühe Untersuchungen der sich seit dem 18. Jahrhundert herausbildenden und im 19. und frühen 20. Jahrhundert formierenden Sozialwissenschaften kennen diese Trennung zwischen quantitativer („harter) und qualitativer („weicher") Forschung noch nicht (z.B. Emile Dürkheims Arbeit über den Selbstmord, Friedrich Engels Untersuchungen über die Lage der arbeitenden Klasse in England oder die Untersuchung von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel über die Arbeitslosen von Mariental). Die Forschungsmethoden wurden aus der jeweiligen problembezogenen Fragestellung heraus entwickelt. Bis in die 60er Jahre hinein wurden allerdings nicht-standardisierte Erhebungsverfahren und nicht-quantifizierbare Auswertungsverfahren in der Sozialforschung eher beiläufig eingesetzt: „Bestenfalls wurde ihnen eine explorative, vorklärende Bedeutung für umfassende quantitative Untersuchungen eingeräumt" (Hurrelmann 1991, S. 358). Nachdem das im Verlauf der 60er Jahre (wieder)erwachte Interesse an einer differenzierten Analyse der Innenseite individuellen Erlebens zur Renaissance qualitativer Sozialforschung bis Mitte der 70er Jahre geführt hat, relativierte sich diese geradezu euphorische Bewertung der Leistungsfähigkeit von Ansätzen qualitativer Sozialforschung seit Mitte der 80er Jahre hin zu einer weitaus realistischeren und teilweise auch zu einer ernüchternden Einschätzung seiner Möglichkeitsspielräume (vgl. ebd., S. 361).
I Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
29
Bis heute bleibt in der qualitativen Sozialforschung „ ein unsicheres, ein unnötig ehrfurchtsvolles Verhältnis zur ungeliebten quantitativen Methodenlehre" (Fuchs-Heinritz 1993, S. 254). In den meisten Studien wird ein nur vorsichtiger und lediglich punktueller Versuch unternommen, eine Distanz zu quantitativ orientierten Untersuchungen in gleichen Forschungsfeldern aufzubauen. Oft werden implizit Orientierungen an forschungslogischen Bewertungsmaßstäben aus der Tradition quantitativer Methodenlehre vorgenommen. Grundlegend zu kritisieren ist, dass sich bis heute keine eigenständige qualitative Forschungslogik entwickelt hat oder diese sich bestenfalls erst in wenigen Ansätzen durchsetzen konnte. Die Stärke der qualitativen Ansätze, die „Lebensentwürfe, Deutungsmuster, Interaktionskonstellationen und Alltagstheorien zu erfassen und in ihrer Einbindung in das soziokulturelle Spektrum des Lebensalltages herauszuarbeiten, wird durch ein in der Forschergemeinschaft noch nicht zweifelsfrei anerkanntes und elaboriertes Methodenrepertoire noch nicht voll ausgespielt" (Hurrelmann 1991, S. 361) So kritisiert auch Fuchs-Heinritz, dass sich eine alle Forschungsschritte umgreifende qualitative Forschungslogik erst langsam durchsetzt und weist auf die heimliche - bisweilen auch explizite - Befolgung quantitativer Logik der Auswertung im Rahmen qualitativer Forschung hin: Auswertungsformen wie die der Verallgemeinerung (vgl. Abschnitt 2) aufgrund von Häufigkeiten im Fallmaterial verschenken zugunsten quantitativer Aussagen auf niedrigstem Niveau einen erheblichen Teil des Erkenntnisgewinns, den die qualitative Befragung für die Auswertung ermöglicht. Da qualitative Forschung eine zumeist nicht am Repräsentativitätsmodell orientierte Auswahl vornimmt, gelten derartige Häufigkeitsaussagen zudem als höchst unsicher (vgl. Fuchs-Heinritz 1993, S. 255). Die Zufallsauswahl nimmt einer Studie mit kleiner Fallzahl gerade ihre wichtigste Erkenntnismöglichkeit, diejenige einer Typologie durch gezielte kontrastive Auswahl. So können repräsentative Ergebnisse im Sinne von Verteilungsaussagen über eine Grundgesamtheit "nicht Ergebnisse einer Studie sein, die nicht auf das Gesetz der großen Zahl setzt; wozu auch, wo sie doch in der Lage ist (viel besser als repräsentative Studien), das Feld von Lebensentwürfen, Deutungsmustern, Interaktionskonstellationen usw. als sozialkulturelles Repertoire herauszuarbeiten wenn auch ohne sicheren Anhalt dafür, wie oft die einzelnen Varianten dieses Repertoires vorkommen" (ebd.). Hurrelmann (1991, S. 361 f.) stellt weitere Argumente für die Stärke qualitativer Ansätze heraus, die wie folgt zusammengefasst werden können: - Mit Hilfe dieses Instrumentariums wird das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis von Individuen in seiner Authentizität und Komplexität methodisch optimal erfassbar.
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// Theorieteil
-
Qualitative Sozialforschung als ein sensibles Forschungsinstrumentarium ist am ehesten in der Lage, die Entwicklungsprozesse, Entwicklungsschritte und Entwicklungsinterdependenzen in ihrer ganzen Vielfältigkeit herauszuarbeiten und zu erfassen: Im Unterschied zu quantitativ orientierten Methoden liegt ihr Interesse nicht in der Feststellung stabiler Strukturen und entwicklungstheoretisch-anthropologisch eingefügten Mustern, sondern im Erfassen von Verlaufsstrukturen.
-
Ansätze qualitativer Forschung können dem Beobachter, der Forschergemeinschaft unzugängliche und typischerweise fremde soziale Welten erschließen.
-
Durch die Veröffentlichung von Selbstzeugnissen - so ein in der Biographieforschung vertretenes Argument - erhalten Benachteiligte oder von Benachteiligung bedrohte soziale Gruppen Artikulationshilfe zur Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Situation.
Im Zuge der Entparadigmatisierung der Methodendiskussion wächst in den letzten Jahren in der Sozialforschung die Bereitschaft, qualitative und quantitative Verfahren der Datensammlung und -analyse miteinander zu kombinieren (vgl. ebd., S. 362) und - wie erwähnt - qualitative Verfahren nicht nur im Rahmen der Exploration und Vorbereitung großer Survey-Studien Anwendung finden zu lassen. Wissenschaftstheoretisch lassen sich die Überlegungen zu einer Kombination der beiden Ansätze qualitativer und quantitativer Sozialforschung auf idealtypischem Niveau in zwei Extremgruppen differenzieren (vgl. Garz/Rraimer 1991, S. 14 ff.): Der puristischen Position, die eine Verbindung beider Ansätze kategorisch ablehnt, steht die pragmatische Position gegenüber, die forschungspraktische Arbeit hin zu einer Kombination leistet. Zusätzlich sind diese Positionen analytisch dahingehend zu unterscheiden, ob sie von Forschern vertreten werden, die sich am quantitativen oder am qualitativen Paradigma orientieren. Die puristische Position allerdings wird von dieser analytischen Differenzierung nicht betroffen, da sowohl von qualitativ als auch von quantitativ orientierten Puristen unterstellt wird, dass beide Paradigmen nicht kompatibel sind. Als Unterstützungsargumente für diese Position fungieren in aller Regel im Anschluss an Kuhn die folgenden: - "Sprachspiele" sind nicht aufeinander rückfiihrbar. - Es existieren keine Regeln der Überfuhrung des einen Paradigmas in ein anderes. - Das fehlende gemeinsam geteilte Weltbild macht nicht einmal die bloße "Abgleichung" (ebd.) durchfuhrbar.
/ Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
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Die von der pragmatischen Position dagegen analytisch und empirisch als Möglichkeit angesehene Verbindung ist in drei Positionen darstellbar (vgl. Garz/Kraimer 1991, S. 14 ff.): Primat quantitativer Forschung unter dem Einbezug qualitativer Anteile Vertreter quantitativer Sozialforschung fordern die Unterteilung des Forschungsablaufes in die beiden aufeinanderfolgenden rigide abgetrennten Kontexte des Entdeckungs- und des Begründungszusammenhangs und belassen dem vorgelagerten Entdeckungszusammenhang die Möglichkeitsspielräume unterschiedlicher - mithin auch verstehender Ansätze. Wissenschaftlicher Status allerdings wird allein den statistischen Operationen im Kontext des Begründungszusammenhanges eingeräumt. Zu kritisieren ist, dass diese Aufgabenverteilung eine Kombination beider Paradigmen nur vortäuscht: "Tatsächlich zählt allein der quantitative Ansatz zur Wissenschaft, während 'Verstehen' sich in deren Vorfeld bewegt. So lässt sich als Fazit festhalten, dass wir es hier nicht mit einer pragmatischen, auf eine Verbindung abzielende Position zu tun haben, sondern mit einer verdeckten Version des quantitativen Purismus" (ebd.).
Primat qualitativer Forschung unter Einbezug quantitativer Anteile Für diese Position sollen exemplarisch die Konzepte von Oevermann und Kleining angedeutet werden: Für beide "sind quantitative Verfahren nicht aus dem Kontext der Wissenschaft ausgeschlossen, sondern diese behalten, wenn auch häufig als 'zweitbeste Lösung', ihre Bedeutung" (ebd., S. 18). Dies impliziert sehr wohl die Existenz von Bereichen, in denen die Überfuhrung qualitativer in quantitative Daten (und vice versa) sinnvoll ist. Oevermann befürwortet im Rahmen seiner „objektiven Hermeneutik" unter forschungsökonomischen Erfordernissen pragmatisch alternative, ergänzende Methoden und geht mit einer „Position der Überordnung" davon aus, dass "die diesem Modell folgenden Verfahren der Sinnauslegung in den Sozialwissenschaften in jedem Falle die grundlegende Operation des Messens bzw. der Erzeugung theorierelevanter Daten darstellen. Mit Bezug auf diese grundlegenden Operationen stellen die üblichen nichthermeneutischen Prozeduren der quantifizierenden Sozialforschung standardisierte Formen der Datenerhebung dar, die ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der forschungsökonomischen Abkürzung des Datenerzeugungsprozesses unter zu spezifizierenden Bedingungen gerechtfertigt werden können" (Oevermann u. a. 1979, S. 352). Die "Position der Überordnung" von Kleining (1982) hebt die Abfolge und Reichweite der Verfahren heraus: "Qualitative Sozialforschung lässt sich auf alle Themenbereiche der empirischen Sozialforschung anwenden, sie greift sogar weiter als die quantitative Methodik und schließt etwa auch die Form künstlerischer und literarischer Produktionen ein, auch über ihren 'Inhalt', der z.T. quantitativ erfassbar ist, hinausgehend" (ebd., S. 224).
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II
Theorieteil
Im Zusammenhang damit ist die Komplexität der zu erforschenden Objekte betont: "In den historischen, den Text- und nahezu allen Geisteswissenschaften ist Komplexität der jeweiligen Gegenstände unbezweifelt. Wenn dem so ist, dann ist die Verwendung qualitativer Verfahren in allen Wissenschaften angezeigt, in denen die Gegenstände komplex sind oder durch den jeweiligen Kenntnisstand als komplex angesehen werden müssen" (Kleining 1991, S. 14). Für Kleining sind - wie bereits dargestellt (vgl. 1.6) - Alltagsmethoden die Basis für alle wissenschaftlichen Methoden - qualitative und quantitative werden als unterschiedlich stark abstrahierende Alltagsmethoden angesehen, wie auch Alltagstechniken das Reservoir für alle wissenschaftlichen Methoden darstellen: "Die qualitativen Methoden sind Systematisierungen von Alltagstechniken, diese bilden das Reservoir, aus dem neue Methoden entwickelt oder bekannte verfeinert und modifiziert werden" (ebd., S. 16). Daraus folgt nicht zuletzt, dass quantitative Methoden vereinfachte qualitative sind, dass der Abstraktionsgrad einer Methode mit der angenommenen Vereinfachbarkeit der Gegenstände korrespondiert. Quantitative Verfahren sind "nur dann sinnvoll einsetzbar, wenn qualitative Forschung gezeigt hat, dass eine Vereinfachung gefundener Abhängigkeiten möglich ist" (ebd., S. 14). Sind Alltagstechniken die Basis, aus denen sich die qualitativen Methoden als die erste, die quantitativen aber als die zweite Stufe der Abstraktion entwickeln, so folgt daraus dreifaches: - Die Einheit der Methoden "Wenn alle Verfahren aus den Alltagstechniken entspringen, so gehören sie zusammen und können als Einheit gesehen werden. (...) Dies betrifft sowohl die Verhältnisse der Techniken auf den verschiedenen Abstraktionsebenen, als auch die verschiedenen Techniken selbst, die Befragung, die Beobachtung, das Experiment" (Kleining 1982, S. 225). - Die Reihenfolge qualitativer und quantitativer Verfahren Sind aus den Verfahren durch Abstraktion die wissenschaftlichen Verfahren entstanden, so ist qualitative Analyse im Verlaufe des Forschungsprozesses früher anzusetzen als Quantifizierung. "Sie muss in jedem Fall der quantitativen Forschung vorausgehen, braucht aber nicht von ihr gefolgt zu werden. Wenn sie einen Gegenstand erklärt, so hilft eine Quantifizierung nicht; erklärt sie ihn nicht, so kann quantitative Forschung den Fehler auch nicht ausgleichen. Qualitative Analysen können also ohne Quantifizierung auskommen. Das Umgekehrte ist nicht der Fall" (ebd., S. 226).
/ Methodologische Grundlagen qualitativer Sozialforschung
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- Der Gegensatz qualitativer und quantitativer Verfahren Dieser liegt grundlegend in den unterschiedlichen Orientierungen beider Verfahren. "Die qualitative Sozialforschung analysiert die Gemeinsamkeiten von zwei oder mehr Gegebenheiten, indem sie die Unterschiede zwischen ihnen überwindet. Die quantitative erfasst Unterschiede dadurch, dass Gemeinsamkeiten als Basis für den Vergleich festgesetzt werden. Deswegen sind die Zielsetzungen der beiden Forschungsarten verschieden: Aufdeckung von Bezügen dort und Messen unterschiedlicher Ausprägungen schon bekannter Züge hier" (ebd., S. 227) - Gleichberechtigung der Forschungsansätze Im Unterschied zu den Positionen, die - auch unter dem Aspekt der Nutzung von Kombinationsmöglichkeiten - am Primat qualitativer oder quantitativer Forschung festhalten, wird in den letzten Jahren von vielen Sozialforschern vermehrt die Methodenkombination bzw. eine Triangulierung als eine "Koordination mehrerer Erhebungsverfahren und dadurch erlangter Datenarten zur Untersuchung ein und desselben Gegenstandes" (Fuchs-Heinritz 1994, S. 687) vorgeschlagen. So formuliert Hoffmann-Riem (1980) in Abgrenzung vom Zwei-Welten-Modell der Frontstellung beider Richtungen der Sozialforschung die Forderung gegenseitiger Öffnung: "Wissenschaftlicher Fortschritt wäre für die interpretative Sozialforschung nicht erreichbar ohne die kritische Nutzung tradierter Sozialforschungsgehalte; die neopositivistische Sozialforschung sollte andererseits ihren Empiriebegriff überprüfen und - wie Grathoff es formuliert hat - den Mut aufbringen, "den Alltag erst einmal und stets wieder so zu nehmen, wie er sich jeweils präsentiert" ( S. 362). Pointiert vertritt Wilson (1980) diese 'Sowohl-als-auch-Position' der gleichberechtigten Koexistenz der Forschungsansätze, die sich zu drei Postulaten zusammenfassen lassen: - Es existiert keine privilegierte Methode, an der andere zu messen wären. - Sowohl die quantitativen als auch die qualitativen Methoden verfügen über ihre adäquaten Anwendungsbereiche. - Sozialforscher müssen sich im Verlauf der Forschungspraxis des kooperativen Zusammenspiels qualitativer und quantitativer Methoden bedienen.
Resümee Die Ausführungen zum Verhältnis von qualitativer und quantitativer Sozialforschung demonstrieren das noch ungeklärte Verhältnis qualitativer und quantitativer Methoden (vgl. Kleining 1991, S. 12). Alle Methoden "stehen miteinander in bestimmter, noch zu untersuchender Beziehung. Dies betrifft sowohl die Verhältnisse der Techniken auf den
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U Theorieteil
verschiedenen Abstraktionsebenen, als auch die verschiedenen Techniken selbst, die Befragung, Beobachtung, das Experiment" (Kleining 1982, S. 225). Habermas (1992, S. 30 f.) vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass die Ansätze, die auf den Grundlagen der Phänomenologie, der philosophischen Hermeneutik, der Kritischen Theorie etc. aufbauten; "nicht so sehr aufgrund ihrer anerkannten Überlegenheit" eine „interpretative Wende" inspirierten und initiierten: "Diese Ansätze empfahlen sich einfach dadurch, dass sie Alternativen zum vorherrschenden Objektivismus anboten" (ebd.) Resümierend kann allerdings zur qualitativen Sozialforschung (auch) festgestellt werden, dass diese einen festen Stellenwert im Methodenkanon kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschung errungen hat und dass mit einer weiter zunehmenden Aufmerksamkeit des interpretativen Paradigmas zu rechnen ist. Dennoch ist ersichtlich, dass mit dem Durchbruch des Interpretationsparadigmas und der Gewichtsverlagerung innerhalb der Wissenschaftsgeschichte der Sozialwissenschaften "von normativen Konstruktionen zu hermeneutisch sensibleren Ansätzen" (ebd.) weder ein Konsens darüber erzielt werden konnte, wie die "äußeren Grenzziehungen" dieses Forschungsparadigmas erfolgen sollen, noch ein Konsens im Hinblick darauf erreicht wurde, wie die internen Kriterien der qualitativen Forschung auszusehen haben (vgl. Garz/Kraimer 1991, S. 13). Fuchs-Heinritz (1993) macht die zukünftige Entwicklung qualitativer Sozialforschung zu großen Teilen davon abhängig, "ob sie sich mit größerem Selbstbewusstsein als bisher ihren eigenen Möglichkeiten zuwendet - statt weiterhin qualitativ erhobenes Material (auch) nach quantitativer Logik zu interpretieren" (S. 267) und weist auf die Ausbaufähigkeit der Vorschläge von Oevermann (objektive Hermeneutik) und Schütze (narratives Interview) hin: Beide Vorschläge "können als Überwindung der allein erkenntnistheoretischen und methodologischen Debatte der sechziger Jahre gelten, insofern sie nicht (nur) Normen für richtige Sozialforschung enthalten, sondern aus produktiven Forschungserfahrungen entstanden sind und sich immer wieder an ertragreiche Forschungsvorhaben zurückbinden" (ebd.). Nicht unerwähnt bleiben soll eine in den letzten Jahren sich äußernde kritische Distanz zur Absolutsetzung qualitativ orientierter Sozialforschung, die über das Methodische hinausgeht und die das Forcieren hermeneutischer Methodik in Richtung" zu einem immer raffinierteren Zugriff auf die (vermutlich) letzten Nischen, auf den (vermeintlich) eigentlichen Kern, auf die ungeschützte 'Subjektivität sozialer Lebenswelten'" (Ferchoff 1986, S. 239) meint. Ein wesentlicher Aspekt zu diesem Themenbereich ist der Zusammenhang zwischen (gesamt-)gesellschaftlichen (politischen, ökonomischen) Entwicklungen und der Entwicklung und dem Aufkommen von wissenschaftlichen Methoden (sowie den mit ihnen korrespondierenden Theorien): In diesem Kontext stellt etwa Kleining (1991) fest, dass "die Geisteswissenschaften ihre Methoden und Methodologien in Übereinstimmung
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oder als Antwort auf bestimmte gesellschaftliche Situationen hervorgebracht haben" (S. 14). So ist die Rezeption interpretativer soziologischer Ansätze durch die Erziehungswissenschaft und die damit einhergehende Alltagsorientierung, die "Versozialwissenschaftlichung" (Lautmann/ Meuser 1986, S. 690) erziehungswissenschaftlicher Forschung in Verbindung zu sehen mit gesellschaftlichen, (bildungs-) politischen Problemthematisierungen. Zu dieser Thematik schreibt Mollenhauer (1973) auf dem Hintergrund der Rezeption speziell der Theorie des Symbolischen Interaktionismus: "Seit etwa 15 Jahren ist in der Erziehungswissenschaft ein Prozess im Gange, der als Versuch einer sozialwissenschaftlichen Ortsbestimmung bezeichnet werden kann. Dieser Versuch verlief bisher in drei Stufen: Zunächst wurden, in Auseinandersetzung mit erziehungssoziologischen Thesen zur Schule, Freizeit und Jugend gesellschaftliche Sachverhalte und soziologische Gesichtspunkte ausdrücklich zum Thema in erziehungswissenschaftlichen Arbeiten gemacht. In dem Maße, in dem aktuelle bildungspolitische Fragestellungen in die Erziehungswissenschaft Eingang fanden und an sie die Erwartung gerichtet wurde, bei der Lösung praktischer Probleme der Neuorganisation des Bildungswesens effektiv mitzuwirken, wurden vor allem die Fragen der Bildungsungleichheit interessant, die gar nicht anders als mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Theoreme sinnvoll erfasst werden konnten: Das Studium der Bildungsbarrieren und ihrer Ursachen begann. In der erziehungswissenschaftlichen Literatur findet sich von nun an allenthalben der Verweis auf die Bildungsrelevanz von Schicht- und Geschlechtsrollenunterschieden, spezieller auf die Bedeutung der Sprachfaktoren, der Erziehungsstile, der materiellen Bedingungen des Heranwachsenden. Damit wurde - auf der dritten Stufe der Entwicklung - 'Sozialisation' zu einem der beherrschenden Themen der pädagogischen Diskussion. (... ) In dieser Situation ist die ernsthafte Suche nach einer theoretischen Begründung des Konstruktes 'Sozialisationsprozess' unabweislich, und zwar nach zwei Seiten hin: Zum einen musste - da Sozialisation anders als Interaktion zwischen Individuen gar nicht zu denken ist - ein sowohl beschreibender wie erklärender Ansatz für die Genese sozialer zwischenmenschlicher Strukturen im Individuum gesucht werden; zum anderen mussten Fragen beantwortet werden, die sich auf die historische Bedingung der Ermöglichung solcher Strukturen richten. Der Blick fiel auf Autoren, die - bis dahin eher am Rande der Geschichte der Sozialwissenschaft gestanden - gerade dies, wenigstens in der ersten Komponente, sich zum Gegenstand gemacht hatten: Vor allem G.H. Mead und die an ihn sich anschließende Tradition des 'Symbolischen Interaktionismus'" (S. 7 f.) Hurrelmann (1991) sieht das ansteigende Interesse an interpretativer soziologischer Analyse im Verlauf der 60er Jahre mit den Vorboten erster ökonomischer Krisenerscheinungen und kultureller Umbrüche ( S. 358) einhergehen.
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II Theorieteil
Dieser Hinweis auf den Zusammenhang zwischen sozialem Wandel und Entwicklung wissenschaftlicher Methoden und Theorien gerade in Umbruchsphasen kann hier nur angedeutet werden und bedarf einer systematischen Analyse.
Übungsaufgabe 1 Erläutern Sie die Eigenschaften, Übereinstimmungen und Unterschiede der drei Datenformen "Alltagsdaten" "Qualitative Daten" "Quantitative Daten" unter den Aspekten: Abstraktionsgrad und Objektivität versus Subjektivität unter Zuhilfenahme eines einfachen, kurzen (eventuell fiktiven) Alltagsbeispiels, wie etwa: Beobachtung einer frequentierten Telefonzelle, Beobachtung vor einem Zeitungskiosk, an einer Bushaltestelle ...
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Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
2.1
Einleitung
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Das Verhältnis zwischen qualitativer oder auch interpretativer und quantitativer Sozialforschung wird im allgemeinen durch eine methodologische Kontroverse bestimmt 2 : Die quantitative Sozialforschung beansprucht aufgrund ihres methodischen Vorgehens, dass ihre Ergebnisse eine prinzipielle Allgemeingültigkeit besitzen, und sie wirft der qualitativen Sozialforschung vor, dass deren methodischer Zugang zu Einzelfallen die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse in der Singularität des Besonderen belässt, im strengen Sinne also höchstens eine Vorform wissenschaftlicher Erkenntnis ist. Die qualitative Sozialforschung im Gegenzug beansprucht für ihren methodischen Zugang zur sozialen Realität, dass diese nur interpretativ in ihrer gesamten Komplexität und Tiefe erfasst werden könne; folgerichtig wird an der quantitativen Sozialforschung kritisiert, dass diese in ihrem methodischen Verfahren auf einer - reduzierten - Oberfläche der sozialen Wirklichkeit stehen bleibt (vgl. hierzu zusammenfassend Heinze 19953). In der Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Forschungsrichtungen wird so fast durchweg der Eindruck vermittelt, dass es ausschließlich ein Problem der angemessenen sozialwissenschaftlichen Methoden wäre, um die es bei dem Problem der Allgemeinheit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis gehen muss; die Gültigkeit und Relevanz von Ergebnissen der einen oder anderen Richtung wird jeweils gerechtfertigt bzw. kritisiert mit Verweis auf die einschlägigen methodischen Verfahren. Viel zu selten wird dagegen berücksichtigt, dass einerseits die Verfahren der beiden Forschungsrichtungen gar nicht so diametral entgegengesetzt sind, wie es die Kontrahenten darstellen; andererseits gerät bei einer so ausschließlich methodologisch orientierten Diskussion die Tatsache völlig aus dem Blickfeld, dass es bei sozialwissenschaftlichen Forschungen - wie bei jeder Forschung - wesentlich auch um den theoretischen Hintergrund geht, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse überhaupt erst als solche bewertet werden können. In der allgemeinen Wissenschaftstheorie ist es eine wohlbekannte Tatsache, dass es keine wissenschaftlichen Ergebnisse - "Daten" - an sich gibt, sondern dass ein wissenschaftliches Ergebnis nur dadurch zu einem anerkannten Datum wird, dass es theoretisch interpretiert wird. Dies hat vor allem und am wirksamsten Popper in seinem Klassiker "Logik der Forschung" mit aller wünschenswerten Deutlichkeit herausgearbeitet. Selbstverständlich ist es nicht gleichgültig, mit welchen spezifischen methodischen Vorgehensweisen einzelne Ergebnisse ermittelt werden; genauso selbstverständlich ist es jedoch auch - oder müsste es eigentlich sein -, stets den theoretischen Kontext explizit anzugeben, durch den die jeweiligen Daten erst ihre eigentliche wissenschaftliche
Die folgenden Überlegungen (2.1-2.3) sind in komprimierter und redigierter Form von Klüver (1989) übernommen worden.
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II Theorieteil
Validität und Relevanz gewinnen. Dies gilt für jede wissenschaftliche Erkenntnis, also insbesondere für Natur- wie für Sozialwissenschaften und entsprechend für qualitative wie für quantitative Sozialforschung. Theorien geben nicht nur den Interpretationsrahmen für wissenschaftliche Daten ab, sondern sie konstituieren auch den Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Forschung. Da es Gegenstandsbereiche "an sich" genauso wenig wie Daten "an sich" gibt, ist bereits die Entscheidung darüber, ob und wie man einen bestimmten Gegenstandsbereich zum Gegenstand von Forschungen machen will, eine Entscheidung letztlich theoretischer Art - genauer gesagt, eine Entscheidung, die nur theoretisch begründet werden kann. Insbesondere kann also eine Entscheidung darüber, ob man einen sozialen Bereich mit qualitativen oder quantitativen Verfahren erschließen will, nicht aus einer wie auch immer gearteten "Natur des Gegenstandes" heraus begründet werden, sondern sie ist - explizit oder implizit - eine Konsequenz vorgängiger theoretischer Konstitution dieses Bereichs. Entsprechend stellt sich auch das Problem der Verallgemeinerbarkeit einzelner Forschungsergebnisse. Die Beobachtung und Erhebung einzelner wissenschaftlicher Daten besagt per se noch nichts darüber aus, ob und in welcher Weise ihnen eine Gültigkeit zukommt, die über ihr jeweilig Besonderes hinausgeht. Die methodisch abgesicherte Allgemeinheit der Ergebnisse quantitativer Umfrageforschung z.B. gewinnt ihre Gültigkeit nur auf der Basis zweier theoretischer Grundannahmen, die zwar von unterschiedlicher Abstraktheit sind, beide jedoch unverzichtbar: Zum einen muss unterstellt werden, dass Gesellschaft überhaupt ein derartiges Maß an Gleichförmigkeit besitzt, um zum Gegenstand messender und homogenisierender Erkenntnisverfahren gemacht zu werden. Dies ist eine Unterstellung, die wohl von niemand ernsthaft bezweifelt wird; dennoch ist es eine Annahme, die letztlich auf eine spezifische Gesellschaftstheorie verweist. Zum anderen muss - sehr viel konkreter - angenommen werden, dass die soziostrukturellen Merkmale, nach denen die Untersuchungspopulation ausgewählt wird, für die Gesellschaft "repräsentativ" sind. Das jedoch ist auf keinen Fall eine Frage, die etwa durch die Untersuchungsmethode bearbeitet werden kann, sondern sie impliziert eine sehr spezielle Theorie über die Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft; nur auf der Basis einer Annahme der Gültigkeit dieser Theorie gewinnt die Behauptung einen wissenschaftlichen Sinn, dass die Ergebnisse einer entsprechenden Umfrage Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Völlig analog stellt sich das Problem der Verallgemeinerbarkeit für die qualitative Sozialforschung, auch wenn hier das Verhältnis zwischen einzelnen Forschungsergebnissen und ihren theoretischen Kontexten sowohl komplizierter als auch konkreter ist. Bisher hat die qualitative Sozialforschung nicht immer die Chance genutzt, sich durch explizite (gesellschafts-)theoretische Interpretation ihrer Ergebnisse den Grad von Allge-
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meinheit zu sichern, der für sie möglich ist. Hierdurch stellte sich die qualitative Sozialforschung häufig in eine defensive Position, die von der Sache her nicht gerechtfertigt ist. Es ist nicht sinnvoll, qualitative und quantitative Sozialforschung gegeneinander auszuspielen, vielmehr geht es darum, den Anspruch der qualitativen Sozialforschung ernst zu nehmen, Erkenntnisgewinn anzustreben, der auf das gesellschaftlich Allgemeine im besonderen Fall verweist. Dies macht die Besonderheit des qualitativen Ansatzes aus. Die mittlerweile durchaus etablierte Tradition der qualitativen oder auch interpretativen Sozialforschung hat gezeigt, wie fruchtbar und unverzichtbar diese Art von Forschung für jede umfassende wissenschaftliche Gesellschaftsanalyse ist. Der Weg freilich, den Anspruch der Wissenschaftlichkeit auch einzulösen, führt nur über den Kontext der Theorie - in diesem Fall vor allem der Gesellschaftstheorie. Anhand ausgewählter Theorien soll dies später (Kap. 5) dargestellt werden. Ziel dieser Ausfuhrungen ist es nicht, Theorie gegen Empirie auszuspielen, insbesondere geht es nicht darum, die "Wahrheit" der einen oder anderen Theorie zu beweisen, die herangezogen wird. Wenn bestimmte Theorien dazu verwendet werden zu zeigen, wie mit ihrer Hilfe einzelne "Fälle" verallgemeinert werden können, dann hat dieses Vorgehen immer einen zweifachen Zweck: Zum einen soll durch die Einbettung des Einzelfalles in den jeweils benutzten theoretischen Rahmen das Allgemeine am besonderen Fall gezeigt werden und es soll gleichzeitig die Systematik des Vorgehens dabei verdeutlicht werden. Zum anderen soll durch eben dieses Vorgehen gleichzeitig deutlich werden, wie sich im Gegenzug die einzelnen Theorien sozusagen dadurch empirisch plausibel machen lassen, dass sie sich auf Einzelfalle beziehen lassen. Die Theorien haben "instrumentalistischen" Charakter: Sie fungieren als Werkzeug zur Strukturierung sozialer Realität auf ein für uns handhabbares Niveau, um einen Begriff der Systemtheorie zu gebrauchen, und sie legen damit auch fest, wie wir Realität als Wirklichkeit für uns erfassen können. Welche der verwendeten Theorien "wahrer" ist als die anderen, ist hier unerheblich; es ist sogar ein wesentliches Ziel, darauf explizit zu verweisen, dass Theorien Instrumente sind - nicht nur, aber eben auch.
2.2
Die Konstitution von Gegenstandsbereichen durch Theorie und die Bestätigung von Theorien durch Einzelfalle
In die Analysen, die verschiedene Wissenschaftsdisziplinen hinsichtlich ein und desselben Gegenstandes durchführen, gehen theoretisch-kategoriale Vorentscheidungen ein. Physiker betrachten einen einzelnen Menschen als einen spezifischen Massepunkt im Raum-Zeit-Kontinuum; Chemiker analysieren den menschlichen Körper daraufhin, welche chemischen Substanzen auf welche Weise im Körper miteinander in Wechselwirkung treten; Biologen analysieren - unter anderem - die Evolution der Menschheitsgattung, die zu einer spezifischen Ausprägung des sog. homo sapiens und damit dieses
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II Theorieteil
speziellen Körpers geführt hat; sie betrachten außerdem den Körper als ein besonderes biologisches System, das hinsichtlich seiner Funktionsfahigkeit mit anderen biologischen Systemen - Organismen - verglichen werden kann; bei Medizinern kommt zum biologischen Aspekt noch die praktische Komponente der Krankheitsproblematik dazu die Störung eines organischen Systems; Psychologen interessieren sich - unter anderem - für psychisch-physische Wechselwirkungen und für bestimmte Regelmäßigkeiten menschlichen Bewusstseins; Soziologen erfassen den einzelnen Menschen - vielleicht als Bündel soziostruktureller Merkmale wie Schichtzugehörigkeit, beruflicher Status, politische Orientierungen, Geschlecht, Rasse, Religion etc.; Pädagogen und Juristen behandeln das verhältnismäßig praktische Problem, wie der einzelne Mensch aktuell (Juristen) und potentiell (Pädagogen) in die normativen Strukturen der jeweiligen Gesellschaftssituation einzupassen ist usf. Man kann unter diesem Gesichtspunkt auch sagen, dass die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen nichts anderes sind als die organisatorischen Verfestigungen theoretischkategorialer Vorentscheidungen hinsichtlich der Frage, wie einzelne Gegenstandsbereiche für wissenschaftliche Erkenntnisproduktion konstituiert werden sollen. Es handelt sich für das Alltagsverständnis immer um denselben Menschen; der Massepunkt der Physiker und der Klient der Juristen resp. Pädagogen haben freilich keinerlei Ähnlichkeit oder auch nur Vergleichbarkeit mehr miteinander. Schließlich markieren derartige Vorentscheidungen auch Differenzierungen innerhalb der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen. Das gilt nicht nur für die Sozialwissenschaften, sondern auch für die nur scheinbar homogenen Naturwissenschaften: Es ist eine Möglichkeit, den menschlichen Organismus aufgrund seines genetischen Programms und damit letztlich aus biochemischen bzw. molekularbiologischen Komponenten zu erklären und so in der Biologie den Menschen "reduktionistisch" aufzufassen; es ist eine ganz andere Konstitution "des" Menschen, ihn als eine spezielle Ausprägung "selbstorganisierender" Systeme zu verstehen und die biologische Konstitution des Menschen gewissermaßen ganzheitlich anzusetzen. In natürlich ungleich stärkerem Maße galt und gilt eine derartige Differenzierung für die Sozialwissenschaften. Wahrscheinlich sind die immer wieder auftretenden Bemühungen, so etwas wie eine "reine" quantitativ oder qualitativ verfahrende Sozialforschung zu etablieren, nichts anderes als der Versuch, ein bestimmtes Erkenntnisinteresse als paradigmatisch für die gesamte Sozialforschung zu etablieren: Es geht darum, wie von einer speziellen scientific Community bestimmte Gegenstandsbereiche konstituiert werden. Man kann also das, was z.B. in einer bestimmten Schule zu einer speziellen Zeit vor sich geht, dahingehend deuten, dass bestimmten gesellschaftlichen Leistungsanforderungen Genüge getan wird oder auch nicht; den entsprechenden Beleg dafür verschafft man sich durch statistische Auswertungen der Prüfungen und Prüfungsbenotungen.
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Schulische Realität konstituiert sich hier als die Korrelation statistisch aufbereiteter Daten zu politisch gesetzten Normen. Man kann auch die konkreten Interaktionen zwischen einzelnen Schülern und Lehrern protokollarisch erfassen und diese in der wissenschaftlichen Interpretation zur "eigentlichen" Realität der sozialen Subeinheit Schule erklären. Beide Sichtweisen erfassen schulische Realität nur unvollständig, nämlich untheoretisch; zweifellos konstituieren sie beide den Gegenstandsbereich Schule auf eine auch praktisch durchaus nicht gleichgültige Weise. Welche der beiden Sichtweisen sich z.B. die Kultusbürokratie oder auch politisch organisierte Elternverbände zu eigen machen, kann das Schicksal einzelner Schulen maßgeblich mitbestimmen. "Konstitution eines Gegenstandbereichs" durch theoretisch-kategoriale Vorentscheidungen ist also nicht nur ein Problem wissenschaftlicher Erkenntnisweise. Die praktischen Konsequenzen einer derartigen Konstitution können die gesellschaftliche Entwicklung wesentlich beeinflussen; die theoretische Konstitution des Lebens durch die reduktionistische Molekularbiologie findet ihre Konsequenzen in der praktischen Perspektive der Gentechnologie; die analog reduktionistische Konstitution der Realität Schule in statistischen Analysen von Leistungsbewertungen fuhrt zu einer primär an Selektion orientierten Ausbildungsinstitution etc. Ein Aspekt der Beziehung zwischen Theorie und Empirie ist in diesem Zusammenhang unerwähnt geblieben, der in wissenschaftstheoretischen Betrachtungen normalerweise zuerst zum Gegenstand der Analyse gemacht wird: Es handelt sich um den eigentlichen Umstand, dass Theorien sich an der Realität bewähren müssen oder auch scheitern können, dass die empirische Realität also die Bewährungsinstanz für die Theorien ist. Theorien werden bestätigt oder falsifiziert - das ist sozusagen die Aufgabe der Realität. Grundmodell für diese logische Beziehung, die häufig als die einzige Relation zwischen Theorie und empirischer Realität angesehen wird, ist das bekannte Falsifikationsmodell von Popper. Sehr vereinfacht ausgedrückt besteht es aus folgender logischer Grundstruktur: Theorien bestehen aus sog. Allsätzen, d.h. aus Sätzen, die etwas über alle Gegenstände eines bestimmten Gegenstandsbereichs aussagen - beispielsweise der (von Popper selbst als Beispiel verwandte) Satz "Alle Schwäne sind weiß". Ein solcher Satz kann in einem strengen Sinne nie als wahr - endgültig wahr - erkannt werden, da man nie sicher sein kann, ob sich nicht irgendwann ein Gegenbeispiel findet. So hatte man bis zur Entdeckung Neuseelands, woher die schwarzen Schwäne stammen, über Jahrtausende hinweg keinen praktischen Grund, an der Wahrheit des Satzes "Alle Schwäne sind weiß" zu zweifeln; dennoch konnte man auch vor der Entdeckung der neuseeländischen schwarzen Schwäne eben nicht sicher sein, ob sich nicht doch irgendwann und irgendwo schwarze Schwäne finden lassen würden. Genau dies ist dann geschehen und somit erwies sich der obige Satz als falsch.
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II Theorieteil
Aus diesem Beispiel kann man laut Popper folgendes lernen: Ein Allsatz - und alle wissenschaftlich relevanten Theorien bestehen zum großen Teil aus Allsätzen - kann nie endgültig wahr sein - er kann nicht "verifiziert" werden. Wohl aber kann er falsifiziert werden, nämlich durch Angabe eines Gegenbeispiels. Theorien, die Allsätze enthalten, können demnach nie als "wahr" gelten; sie können vielmehr nur durch möglichst häufige und gründliche Überprüfung an der Realität für mehr oder weniger gut "bestätigt" befunden werden. Man weiß, dass bestätigte Theorien nicht endgültig wahr sind; dennoch kann man, wenn die Theorien sehr gründlich bestätigt sind, mit ihnen so arbeiten, als ob die Theorien wahr wären. "Bestätigung" und "Falsifizierung" einer Theorie sind logisch gesehen ein und derselbe Vorgang: Die Allsätze der Theorie - einschließlich theoretischer Aussagen von anderen logischen Typen - bilden so etwas wie die Prämissen eines deduktiven Schlusses; aus ihnen werden rein deduktionslogisch Konsequenzen abgeleitet, die irgendwann in konkrete Aussagen über empirisch-reale Sachverhalte übergehen, insbesondere über Einzelfälle - z.B. "wenn man einen als Schwan zu bezeichnenden Vogel sieht, dann ist er weiß". Entsprechen diese Aussagen den Beobachtungen, ist die Theorie - in dieser Hinsicht - bestätigt, sonst falsifiziert. Im Gegensatz zu den Sozialwissenschaftlern können die Naturwissenschaftler davon ausgehen, dass sie es mit einer Realität zu tun haben, die vom Menschen nicht gemacht worden ist, also unabhängig vom Menschen existiert, und dass demnach naturwissenschaftliche Erkenntnis die Natur konstituiert, aber nicht produziert: Sozialwissenschaftler können genau diese Annahme nicht machen. Dass soziale Realität im Gegensatz zur Natur von Menschen produziert worden ist, ist zunächst einmal nur ein Gemeinplatz, aus diesem Gemeinplatz folgt jedoch, dass eine gleichförmige Kontinuität wie etwa in der Natur, in der sozialen Realität nicht vorausgesetzt werden kann. Alle theoretischen Versuche ergeben, dass die naturwissenschaftliche, strukturelle Gleichheit von Allgemeinem und Besonderem im Bereich sozialer Realität kein unmittelbares Pendant hat. Die praktischen Lebensentwürfe der einzelnen Menschen lassen sich nicht restlos in die allgemeinen Strukturen sozialer Realität einbinden; die Produktion der sozialen Realität durch die Handlungen der einzelnen Menschen erzeugt zwar die sozialen Strukturen, die dann wieder die einzelnen Handlungen bestimmen, aber das Verhältnis zwischen dem besonderen Einzelnen und dem Allgemeinen der sozialen Struktur ist kein deduktionslogisches und damit strukturgleiches, sondern ein noch zu beschreibendes anderes Verhältnis.
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Übungsaufgabe 2 Beschreiben Sie den Unterschied zwischen den "Gegenständen" der Naturwissenschaften und denen der Sozialwissenschaften und formulieren Sie aus diesen Unterschieden Konsequenzen für das wissenschaftliche Vorgehen.
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2.3
11 Theorieteil
Das Selbstverständnis der qualitativen Sozialforschung und das Problem der Generalisierbarkeit
Für qualitative - "sinnverstehende" - Sozialforschung ergibt sich folgender Anspruch hinsichtlich Erkenntnisziel und Erkenntnisverfahren: Es geht darum, soziale Realität "soziales Leben" - so zu erfassen, dass die Komplexität der Realität erhalten bleibt; der methodische Zugang auf dieses Ziel hin besteht in der Favorisierung von Einzelfallstudien - Einzelfall muss natürlich nicht nur individuelle Geschichte sein, sondern kann auch Interaktionen in einer spezifischen Situation meinen. Das zweite folgt aus dem ersten: Nur in Einzelfallstudien kann soziales Leben in der Komplexität belassen werden, in der es real abläuft; jeder Versuch, durch quantifizierende Verfahren über den Einzelfall hinauszugehen, wird notwendigerweise zu reduktionistischen Konsequenzen fuhren. Die Ganzheitlichkeit, die das reale Leben für die jeweiligen Akteure hat, wird zerstört; soziale Forschung ist damit der praktischen Realität nicht mehr angemessen, vielleicht sogar unmenschlich. Nimmt man diesen Erkenntnisanspruch wörtlich, dann ist es naheliegend, dieser Position sowohl unreflektierten Idealismus als auch theoretische Naivität vorzuwerfen. "Unreflektierter Idealismus" bedeutet, dass eine totale Konzentration auf das Sinnverstehen des Einzelfalls schlicht ausblendet, inwiefern jeder Einzelfall durch allgemeine gesellschaftliche Strukturen vorgeprägt ist, die sich nur aus der Erschließung des Einzelfalles nicht ergeben; man wird der Komplexität des Einzelfalles gerade nicht dadurch gerecht, dass man sich ausschließlich auf ihn und damit auf die Sinnperspektiven der individuellen Akteure bezieht und die ihn prägenden allgemeinen Strukturen aus der Analyse herauslässt. In diesem Zusammenhang spricht Habermas (1981, Bd. 2, S. 182 ff.) wohl zu Recht von einem hermeneutischen Idealismus. "Theoretische Naivität" besteht darin, die unhintergehbare Konstitution jedes wissenschaftlichen Erkenntnisbereichs durch theoretisch-kategoriale Vorentscheidungen zu vernachlässigen, indem die Fiktion aufgestellt wird, hier könne man das "soziale Leben" als solches erfassen. Da dies nicht möglich ist, bedeutet ein solcher Anspruch, eine reflektierte Vorentscheidung zu ersetzen durch unreflektiert und häufig unbewusst vorgenommene Vorentscheidungen. Selbstverständlich vertreten längst nicht alle Verfechter einer qualitativ-sinnverstehenden Sozialforschung derart uneinlösbare Positionen. Die zuweilen überzogenen Formulierungen machten es allerdings den Kritikern qualitativer Sozialforschung verhältnismäßig einfach, die Einzelfallstudien insgesamt zu diskreditieren und das Insistieren auf der besonderen Qualität des Einzelfalles als unwissenschaftlich zu erklären. Wissenschaft hat nun einmal die Aufgabe, systematisch an der Verallgemeinerbarkeit von Erkenntnis zu arbeiten; eine Forschungsrichtung, die demgegenüber definitiv auf der Konzentration auf das Besondere beharrt, hat es in der Tat schwer, den wissen-
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Verallgemeinerung
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schaftlichen Charakter ihrer Erkenntnis zu demonstrieren - so sympathisch und nachvollziehbar auch ihre Erkenntnisziele sein mögen. Wenn qualitativ-sinnverstehende Sozialforschung dem Verdikt der theoretischen Naivität und des hermeneutischen Idealismus entgehen will, dann muss sie Wege entwickeln, die zumindest prinzipielle Verallgemeinerbarkeit ihrer an Einzelfallstudien erworbenen besonderen Erkenntnisse zu zeigen. Man kann erwarten, dass es für die Lösung dieses Problems keine einfachen schematischen Verfahren gibt; insbesondere kann es demnach nicht möglich sein, die Lösung des Problems auf die Anwendung bestimmter Methoden zu reduzieren - dies wird häufig von Vertretern quantitativer Verfahren suggeriert. Damit soll gar nichts gegen die Verwendung quantitativer Verfahren gesagt werden; auch diese können aber kein Ersatz für die in mehrfacher Hinsicht unhintergehbare Rolle von Theorie bei der Konstitution sozialer Gegenstandsbereiche sein; alles andere ist schlechte Ideologie. Theorien üben in gewisser Weise so etwas wie einen Erkenntniszwang aus: Dadurch, dass sie als Vorentscheidungen über die kategoriale Konstitution des Gegenstandsbereichs fungieren, schränken sie natürlich die Möglichkeiten unterschiedlicher Erkenntnisweisen ein - sie reduzieren Komplexität, um mit Luhmann zu sprechen und reduzieren damit die Vielfalt der Zugangsweisen, die vor jeder Theorie logisch möglich sind. In dieser Reduktion, die eben das sich Einlassen auf den Einzelfall als solchen letztlich ausschließt, liegt aber auch eine Chance, nämlich die einer kontrolliert systematischen Einbettung des Besonderen in das gesellschaftlich Allgemeine. Die Generalisierbarkeit von Einzelfallstudien, um nur diesen wichtigsten Bereich qualitativ-sinnverstehender Sozialwissenschaften zu behandeln, kann demnach nur so als Problem bearbeitet werden, dass deren Einbettung in die Allgemeinheit von Gesellschaftstheorien explizit unternommen wird (vgl. Kap. 6). Damit sind natürlich nicht sämtliche Generalisierungsprobleme sinnverstehender, hermeneutischer oder interpretativer Sozialforschung gelöst; das Unternehmen einer solchen theoretischen Einbettung ist selbst ein aufwendiges und sehr komplexes, das sowohl an der jeweiligen Theorie also auch an den Einzelfällen als auch an dem Versuch der Einbettung scheitern kann. Die theoretische Einordnung der Einzelfalle ist per se ein hermeneutisches Vorgehen mit allen Chancen und Risiken derartiger Vorgehensweisen. Einfacher allerdings ist eine Lösung des Problems der Verallgemeinerbarkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht zu haben; noch nicht einmal in den Naturwissenschaften ist es möglich, sämtliche Phänomene - vom Elementarteilchen der Physik bis zu den komplexen Ensembles der biologischen Ökologie - quasi algorithmisch, also mechanisch, auf allgemeine Strukturen zu beziehen. Mit dieser Option für die stärkere Berücksichtigung von Theoriedimensionen in der qualitativ-interpretativen Sozialforschung soll freilich nichts gegen die Notwendigkeit methodologischer Diskussionen und Reflexionen gesagt werden. Sie sind auch für die
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// Theorieteil
weitere Bearbeitung des hier behandelten Problems der Generalisierbarkeit unbedingt erforderlich (vgl. 2.4). Das offenkundig theoretische Defizit der interpretativen Sozialforschung - vielleicht sogar ein freiwilliger Reflexionsverzicht - ist dadurch jedoch nicht behebbar; die interpretative Sozialforschung vergibt damit ohne Not wesentliche Entwicklungschancen.
2.4
Unterschiedliche Dimensionen der Verallgemeinerbarkeit
Bevor die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Hintergründe der wissenschaftlichen Verallgemeinerung reflektiert werden, soll eine kurze Klärung des Begriffs Verallgemeinerung eingeschoben werden. 1. 2. 3.
Was wird verallgemeinert? Woraufhin wird verallgemeinert? Mit welchen Mitteln wird verallgemeinert?
Die erste Frage soll Aufschluss darüber geben, welche Teile, Phasen, Probleme einer empirischen Untersuchung sich auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin überprüfen lassen. Mit dieser Frage wird der begrenzte Charakter einer jeden empirischen Untersuchung zur Diskussion gestellt, der durch eine systematische Zuordnung von Einzeluntersuchungen zu einem Forschungssystem zwar gemildert, keineswegs aber grundsätzlich aufgehoben wird. Eine empirische Untersuchung ist als eine Kette von Entscheidungsprozessen des Empirikers aufzufassen. Von der Phase der Konzeptbildung bis hin zu den einzelnen technischen Untersuchungsdetails trifft der Untersuchende Wahlen aus der Gesamtheit der hypothetisch zur Verfugung stehenden Konzepte, Methoden, Verfahrensweisen. Durch jede solche Auswahl wird mit Notwendigkeit der Geltungsbereich einer Untersuchung eingegrenzt. Dies bedeutet, dass das Problem der Verallgemeinerbarkeit einer Untersuchung keine eindimensionale Angelegenheit ist, die sich vielleicht an einer vereinzelten Auswahlfrage beurteilen ließe. Es handelt sich vielmehr um ein vielschichtiges Mit- und Gegeneinander von Einzel- und Globalentscheidungen des Forschers. Um zu einem begründbaren Gesamturteil über die Verallgemeinerbarkeit einer Untersuchung zu gelangen, ist es notwendig, die Gewichte der verschiedenen Auswahlebenen, die zur Festlegung einer konkreten Einzeluntersuchung führen, gegeneinander abzuwägen. In der Praxis wird die Urteilsfindung dadurch erleichtert, dass sich historische Untersuchungsmuster herausgebildet haben, denen die Sozialforscher im großen und ganzen folgen. Je nachdem, ob sich ein Forscher für ein Laborexperiment, ein Feldexperiment, eine repräsentative Umfrage, eine historische Untersuchung, eine Einzelfallstudie oder für die Aktionsforschung entscheidet, er übernimmt damit auch typische Auswahlmuster.
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Es gehört zu den Hauptaufgaben der Methodenlehre, die (ideal)typischen Entscheidungsmuster, die den einzelnen Untersuchungsansätzen zugrunde liegen, auf ihre spezifischen Stärken und Schwächen hin zu analysieren und verallgemeinernde Empfehlungen für die Praktiker und die Rezipienten von Untersuchungen auszusprechen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Verallgemeinerungsproblems ist jede einfache Dichotomisierung von Untersuchungen oder von Untersuchungsansätzen in verallgemeinerbare Forschung versus nicht verallgemeinerbare Forschung unzulässig. Die Frage, ob spezifische Ansätze qualitativer Sozialforschung verallgemeinerbar sind, ist als sinnlos zurückzuweisen. Statt dessen sollte man in einen Verständigungsprozess darüber eintreten, wo die spezifischen Schwächen und wo die spezifischen Stärken qualitativer Sozialforschung in bezug auf die Verallgemeinerungsfrage liegen. Das schließt einen abwägenden Vergleich von Stärken und Schwächen bei diesen und bei anderen Forschungsansätzen durchaus mit ein. Entscheidendes Kriterium wird aber sein, ob Grad und Perspektive der Verallgemeinerung unter dem Gesichtspunkt der mit der Untersuchung verfolgten Ziele als ausreichend anzusehen sind. Zur Erläuterung der bisherigen Überlegungen sollen einige Beispiele für charakteristische Verallgemeinerungsebenen, die sich bei (Typen von) empirischen Untersuchungen unterscheiden lassen, angeführt werden. Die weitaus bekannteste Dimension ist die der Repräsentativität der Untersuchungspopulation. In eine Untersuchung können jeweils nur verschwindende Teile der Personengruppen einbezogen werden, auf die sich die Untersuchungsaussagen beziehen sollen. Es stellt sich daher die Frage, für wen die wenigen Untersuchten stellvertretend einstehen können. Je nach Untersuchungsziel und zugrunde liegender Gesellschaftstheorie wird man statt auf Personen und Personengruppen auch auf soziale Umwelten, soziale Situationen oder bürokratische Organisationen abheben (sozialökologische Repräsentativität). Eine andere Ebene betrifft die Verallgemeinerbarkeit der in einer Untersuchung verwendeten Begriffe und Hypothesen. Für die Zwecke einer Untersuchung müssen die vielschichtigen theoretischen Konzepte und Annahmen, die überprüft werden sollen, handhabbar gemacht werden ("Operationalisierung"). Diese pragmatische Reduktion schränkt den ursprünglichen Bedeutungs- und Verwendungszusammenhang der Theorie erheblich ein. Wiederum stellt sich die Frage, welchen Aspekt des ursprünglichen Bedeutungsuniversums die Untersuchungsvariablen und -hypothesen noch zu repräsentieren vermögen. Die Methodenlehre bezeichnet das als das Problem der inhaltlichen Gültigkeit. Eine weitere Problemebene spiegelt sich in der Frage, inwieweit die Untersuchungssituation sich verallgemeinern lässt. Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Aspekten, die zum Kanon der Methodenliteratur gehören, wird dieser Problemebene weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Andererseits setzt gerade an diesem Punkt eine vielfache Kritik an Theorie und Praxis der traditionellen Empirie ein.
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// Theorieleil
Der Begriff Untersuchungssituation soll so definiert werden, dass darunter sowohl der besondere Charakter des sozialen Ortes, an dem die Untersuchung stattfindet, als auch die methodischen Strategien, die von den Forschern dabei verwendet werden, gefasst werden. Schließlich spielen die persönlichen und sozialen Faktoren eine Rolle, die die Sozialforscher in die Untersuchungssituation einbringen. Die Beschränkungen, denen die Untersuchungssituation unterliegt, sind vielfaltiger Natur. Es kann sich um künstliche oder um ausgesprochen atypische soziale Arrangements handeln; die Forscher können ungewollt erheblichen Einfluss auf die Untersuchten nehmen; die standardisierten und restriktiven Forschungsstrategien können die Lebensäußerungen und sozialen Handlungen der Untersuchungsteilnehmer methodisch verzerren usw. (vgl. Berger 1974). In jedem Fall trifft die Untersuchungssituation eine mehr oder weniger eingeschränkte Auswahl aus den vorfindlichen komplexen Sozialsituationen, ganz abgesehen von den historisch realisierten bzw. denkbaren Situationen. Die Frage lautet also, in welchem Maße die von einer Untersuchung erfassten Verhaltensweisen, Bewusstseinsstrukturen, Lernmuster usw. für das gesamte Spektrum der in einer Gesellschaft vorfindlichen Verhaltensweisen, Bewusstseinsstrukturen, Lernmuster usw. repräsentativ zu nennen sind. Mit einer vierten Dimension kann die Reihe der Beispiele zur Generalisierungsfrage abgeschlossen werden. Es geht um die Selektion der menschlichen Erkenntnismittel, die durch die Untersuchungsanordnungen und Untersuchungsmethoden der empirischen Sozialforschung vorgenommen wird. Beispiel ist die Bevorzugung messender Verfahren. Welche Konsequenzen hat es für die Verallgemeinerbarkeit von Untersuchungen, wenn vielfach die Untersuchungsgegenstände eine ausschließlich abstrahierende Bearbeitung erfahren und wenn gleichzeitig die sinnlichen Grundlagen dieser Transformation aus den Untersuchungsverfahren ausgeschieden und letztlich als nichtwissenschaftlich deklariert werden? (vgl. Cicourel 1970). Der zweite Komplex bezieht sich auf die Frage: Woraufhin) wird eine Untersuchung verallgemeinert? Die Frage ist mit der vorangegangenen identisch. Die Worauf-Frage bezieht sich direkt auf die Grundgesamtheiten, auf die hin die Verallgemeinerbarkeit einer Untersuchung befragt wird. Der Unterschied liegt darin, dass oben die verschiedenen Momente einer Untersuchung herangezogen wurden. Hier geht es um eine Systematisierung der Bereiche von Verallgemeinerung. Drei Bereiche lassen sich unterscheiden: 1. Auf welche gesellschaftlichen Strukturen, auf welche Lebens- und Handlungszusammenhänge hin lassen sich Untersuchungen verallgemeinern? 2.
Aufweiche Theorie- oder Begriffszusammenhänge hin lassen sich Untersuchungen verallgemeinern?
3.
Auf welche humanen Erkenntnismöglichkeiten und Untersuchungsverfahren hin lassen sich Untersuchungen verallgemeinern?
2 Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
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Diese Dreiteilung dient als Kriterium, um mögliche Einseitigkeiten in der gegenwärtigen Methodendiskussion festzumachen. Jeder der drei Bereiche ist gleichgewichtig zu berücksichtigen, insbesondere wenn es darum geht, die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit von Einzeluntersuchungen und Untersuchungsstrategien auszuloten. Wenn eine dieser Dimensionen einseitig zu ungunsten der anderen favorisiert wird, so bedarf dies einer inhaltlich-theoretischen Legitimierung. Weiter unten soll die repräsentative Umfrageforschung als Beispiel für eine Favorisierung des gesellschaftsbezogenen Typus von Repräsentativität (erster Typus) reflektiert werden. Beim Fall der experimentellen Methodologie handelt es sich gewöhnlich um eine extreme Ausrichtung am zweiten, dem theoriebezogenen Typ von Repräsentativität. Die analytische Wissenschaftstheorie versucht die Frage der unterschiedlichen Erkenntnismittel bereits im Vorfeld der Methodendebatte zugunsten abstrakt-rationalistischer Erkenntnismöglichkeiten zu entscheiden. Das bedeutet, dass der dritte Typus von Repräsentanz als legitime Frage an Untersuchungen und Untersuchungstypen ausgeklammert wird. Noch extremere Reduktionen nimmt an dieser Stelle die behavioristische Methodenlehre vor. Als dritte Frage zum Verallgemeinerungsproblem wurde angeführt: Mit welchen Mitteln wird verallgemeinert? Mit dieser Fragestellung entfernt man sich am weitesten von der traditionellen Repräsentanz-Methodologie. Diese betrachtet die Verallgemeinerung von Untersuchungen von einer ideellen, objektivistischen Warte aus. Wenn die logischstatistischen sowie inhaltlich-theoretischen Kriterien, die über die Repräsentanz einer Untersuchung entscheiden, hinreichend überprüft worden sind, so kann man nach dieser Auffassung zu einer hinreichenden Bestimmung des Sachverhaltes gelangen. Diese Auffassung ist sicherlich zu eng. Die Verallgemeinerungsfrage hat auch eine aktive Seite: Sie ist Teil gesellschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Prozesse. Es genügt nicht, wenn man diesen aktiven Gesichtspunkt als rein innerwissenschaftliches Problem auffasst, dem z.B. durch wiederholte empirisch-wissenschaftliche Bestätigung beizukommen ist. Die empirische Bestätigung sollte auch das Ziel außerwissenschaftlichen sozialen und politischen Handelns sein. Die hier skizzierte Sichtweise auf die Verallgemeinerungsfrage wird in der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Literatur unter dem Stichwort der sich selbst bewahrheitenden Prognose diskutiert (vgl. Ossowski 1973). Durch die soziale Rückkoppelung von Untersuchungsergebnissen und Gesellschaftsanalysen kann deren Wahrheitsgehalt nachträglich zerstört oder überhaupt erst hergestellt werden. Ungeachtet solcher Einsichten neigen die von der analytischen Wissenschaftstheorie geleiteten Sozialforscher in der Regel dazu, diesen Gesichtspunkt in seiner vollen Tragweite aus der Verallgemeinerungsdiskussion auszuklammern. Zwar suchen sie das Phänomen der sich selbst bestätigenden oder falsifizierenden Prognose durch eine Verfeinerung der Untersuchungsanordnungen auszuschließen. Das kann ihnen allerdings nur für die Laufzeit der Untersuchungen selbst gelingen. Die sich danach möglicherweise einstellenden sozialen Rückkoppelungsprozesse werden im Rahmen der Me-
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II Theorieteil
thodenlehre nicht mehr, beziehungsweise nur noch unter der moralischen Rubrik "ethische Probleme der Forschung" erfasst. Als beispielhafte Perspektive, der sich eine erweiterte Methodenlehre annehmen müsste, kann die Form der Verbreitung von Untersuchungsstrategien und Untersuchungsergebnissen angeführt werden. Die Verallgemeinerung von Forschung kann sich je nach dem Weg, der dabei eingeschlagen wird, äußerst unterschiedlich gestalten. Man verdeutliche sich etwa die folgenden formalen Möglichkeiten: die marktvermittelte wissenschaftliche Öffentlichkeit; die direkte persönliche Vermittlung (Gespräch, Training); die eigene Initiative des Forschers in einem weiteren Praxisbereich; das bürokratische Handeln (Gesetz, Befehl); die politische Massenbewegung. Abschließend ist festzuhalten, dass es sich bei der Generalisierungsfrage um ein Problem gesellschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Theorie handelt. Mit dieser Auffassung wird einer verbreiteten Tendenz entgegengetreten, die Frage der Reichweite von Untersuchungen als ein rein technisches, mit Hilfe mathematisch-statistischer Modelle eindeutig entscheidbares Problem anzusehen. Wenn man die komplexen Prozesse beim Entwurf, der Durchführung und der Rezeption von empirischer Sozialforschung bedenkt, wenn man weiterhin die Einbettung der Forschung in gesellschaftliches, politisches Handeln berücksichtigt, so erscheint die Schlussfolgerung zwingend, die Bestimmung des Geltungsbereiches von Untersuchungen gleichfalls als einen solchen historisch-gesellschaftlichen Vorgang zu definieren. Um diese Auffassung zu verdeutlichen, sollen beispielhaft die gesellschaftlichen Faktoren genannt werden, die entscheidend dazu beitragen, den Begriff von "Repräsentativität" von Untersuchungen für eine Epoche festzuschreiben: 1. Das Problem der Verallgemeinerung als Frage gesellschaftlicher Definitionsmacht: Wer besitzt die Macht, bestimmte Untersuchungsergebnisse als gültig bzw. als ungültig für einen bestimmten gesellschaftlichen Bereich und einen bestimmten Zeitraum durchzusetzen? 2. Wer kann festlegen, welche Untersuchungsverfahren für Aussagen eines bestimmten Allgemeinheitsgrades zulässig, welche unzulässig sind? Wer bestimmt die Strenge der Maßstäbe, die zur Bestimmung der Verallgemeinerbarkeit von Untersuchungen anzulegen sind? 3. Wer setzt die inhaltlichen Schwerpunkte fest, die bei der Beurteilung der Repräsentanz vorrangig zu berücksichtigen sind? Und wer erlaubt den Sozialforschern, sich über andere Schwerpunkte der Repräsentanz hinwegzusetzen? Die gängigen Methodenlehren gehen gemeinhin von der Annahme aus, dass es "die Gemeinschaft aller Wissenschaftler" sei, die über die entsprechende Definitionsmacht verfüge, dass es die von ihnen erstellten Entscheidungsmodelle, Prioritätensetzungen usw. seien, die
2 Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
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zugrunde gelegt werden müssten. Gegen ein solches Modell lassen sich gewichtige Vorbehalte anmelden. a) Wenn Methodologen eine entsprechende Definitionsmacht für sich in Anspruch nehmen wollen, so erhebt sich sofort die Frage nach der Legitimation. Warum sollen formale Argumente stärker ins Gewicht fallen als die Argumente von Sozialwissenschaftlern, die eine inhaltliche, gesellschaftstheoretische Grundlegung auch für die Methodenlehre fordern? Oder: Warum sollen die Erfahrungen der Praktiker von Sozialforschung geringer zählen als idealisierte Untersuchungsmodelle, die Methodologen anbieten? Anzumerken ist, dass diese und ähnliche Fragen des Primats angesichts der Arbeitsteilung im Wissenschaftsbetrieb immer auch Fragen der hierarchischen Position sind. Welche Arbeitsrichtung und Wissenschaftsposition darf den anderen Arbeitsrichtungen und Wissenschaftspositionen die Bedingungen und Regeln empirisch-wissenschaftlichen Arbeitens vorschreiben? Mit Absolutheitsansprüchen operieren Methodenlehren gewöhnlich bei Urteilen über den wissenschaftlichen Charakter bestimmter Untersuchungsmodelle und deren Verallgemeinerbarkeit. Bestimmte Untersuchungsansätze werden als wissenschaftlich nicht (mehr) vertretbar hingestellt; anderen wird der Charakter bloßer Voruntersuchungen verliehen; wieder andere Ansätze ignoriert man gänzlich. b) Auch wenn man alle Mitglieder der postulierten Gemeinschaft der Wissenschaftler als verantwortlich Definierende von Repräsentanz unterstellt, bleibt die Perspektive ideologisch verzerrt. Die Beteiligung außerwissenschaftlicher Definitionsinstanzen ist auf allen Ebenen der Repräsentanzfrage offenkundig. Bürokratische Auftraggeber oder die Medienöffentlichkeit haben eigene Kriterien und Messpunkte, die sie bei der Beurteilung der Verallgemeinerbarkeit von Untersuchungen anlegen. Diese sind zwar nicht unbeeinflusst vom gerade geltenden Methodenkanon der Wissenschaftsgemeinde. Aber ebenso ernsthaft ist zu fragen, welche Einflüsse von den Ansprüchen, Notwendigkeiten und Forderungen dieser Instanzen auf den Methodenkanon einwirken. Solche Einflüsse werden letztlich als der wissenschaftlichen und methodischen Sache der Repräsentanz nicht sachangemessen betrachtet. Man müsse sie als unwillkommene Einwirkungen auf das Wissenschaftsideal betrachten und möglichst reinlich von der "eigentlichen" Frage der Repräsentanz scheiden. Dagegenzuhalten ist, dass außerwissenschaftliche, gesellschaftliche Bestimmungsgründe von Verallgemeinerung nicht als der Sache äußerlich betrachtet werden dürften. Eine Theorie der Repräsentanz empirischer Forschung muss nämlich in der Lage sein, das Gewicht und den Stellenwert von Einflussfaktoren wie: gesellschaftliche Opportunität bestimmter Ergebnisse, Plausibilität der Untersuchung für die Rezipienten, Verbreitung oder Unterdrückung von Untersuchungen durch ideologisch beherrschende Institutionen usw. zu bestimmen. Zu fordern ist also eine gesellschaftstheoretisch begründete Repräsentanztheorie und -methodologie. Im folgenden sollen einige Leitfragen für eine solche Theorie und Forschung formuliert werden.
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2.4.1
II Theorieteil
Gesellschaftliche Bedingungen wissenschaftlicher Verallgemeinerung
Für eine Theorie der Verallgemeinerung sind drei historisch-gesellschaftliche Voraussetzungen zu beachten und in ihrer Verschränkung zu analysieren: Erste Voraussetzung: Jede wissenschaftliche Verallgemeinerung setzt ein Mindestmaß an Regelmäßigkeit und Konstanz gesellschaftlicher Lebensbedingungen voraus. Generalisierende Aussagen über psychische oder soziale Zusammenhänge, mehr noch Gesetzesaussagen im Humanbereich basieren auf einem empirischen Korrelat, das als die Tendenz zur quasi naturhaften Verfestigung menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft bezeichnet werden kann. Verallgemeinerung ist zuallererst keine Frage geschickten Denkvermögens oder raffinierten methodischen Arrangements, sondern eine Frage der Natur und des historischen Zustands gesellschaftlicher Existenz. Das Allgemeine, das dort real vorfindlich ist, bildet Vorbedingung und Material für jede Form gedanklicher Verallgemeinerung, auch die der empirischen Wissenschaften. Zugespitzt auf die Repräsentanzfrage in der entwickelten Sozialforschung ist vor allem der gesellschaftliche Entwicklungsprozess in den letzten ein, zwei Jahrhunderten von Interesse, der eine zuvor unvorstellbare Verallgemeinerung der humanen Lebensbedingungen hervorrief Bei diesem Entwicklungsprozess sollte eine Theorie der Verallgemeinerung einsetzen. Es ist zu klären, wie die Dialektik von gesellschaftlich Einzelnem und Allgemeinem auf den verschiedenen Entwicklungsstufen und in den unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen sich entwickelt, und wie dadurch wechselnde Voraussetzungen und Chancen für eine verallgemeinernde Sozialforschung mitgeschaffen werden. Was bedeutet die Entstehung von Nationalstaaten, die Formierung von sozialen Schichten, die Durchsetzung komplexer Organisationen, die Konstituierung eines Weltmarktes, schließlich die Formierung der Massen als Medien- und Warenkonsumenten für den jeweiligen Geltungsbereich, auf den sich empirische Untersuchungen beziehen können und wollen? Auf der anderen Seite ist die Frage zu stellen, wie die Sozialforschung auf die Widersprüchlichkeit des naturwüchsigen (später auch bürokratiewüchsigen) Weltsystems antwortet. Wie wird die Sozialforschung mit den partikularen Restbeständen der "vorkapitalistischen" Gesellschaftsformation und mit den sich in deren Mitte originär entfaltenden Einzellebenswelten fertig, die den sich steigernden Universalitätsanspruch von Sozialforschung immer wieder in Frage zu stellen drohen? Es wäre zu untersuchen, wie sich der besondere Widerspruch der gesellschaftlichen Entwicklung, der zugleich soziale Uniformierung und Vereinzelung hervorbringt, als Problem von Theorie und Praxis der empirischen Sozialforschung niederschlägt. Einerseits fordert die gesellschaftliche Uniformierung, die sich in gleichsinnigen Sprachgewohnheiten, Bewusstseinsmustern, sozialen Habitualisierungen äußert, die verstärkte Standardisierung und Universalisierung der empirischen Sozialforschung heraus. Die Forscher können anscheinend zunehmend von der Unterstellung ausgehen, dass es sachlich gerechtfertigt ist, allgemeingültige Untersuchungssituationen und Untersuchungssprachen für alle (erwachsenen) Gesellschaftsangehörigen zu entwickeln, ebenso wie es
2 Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
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gerechtfertigt erscheint, in den Human- und Sozialwissenschaften zeit- und raumunabhängige Gesetzmäßigkeiten über psychische und soziale Vorgänge zu formulieren. Andererseits verfehlt die Sozialforschung, indem sie solche für die Verallgemeinerung von Forschung idealen Bedingungen als tatsächlich gegeben unterstellt, die gesellschaftliche Realität. Diese ist in gleichem Maß durch die Weiterexistenz oder Neuschaffung partikularer Lebenswelten und Lebensstile sowie auseinanderfallende soziale Schichtkulturen gekennzeichnet. Das macht spezifizierte theoretische Aussagen begrenzter Reichweite erforderlich und offenbart die Unangemessenheit der standardisierten Untersuchungsinstrumente und Forschungsanordnungen. Darüber hinaus entsteht das Problem, wo und in welcher Weise sich in der vereinzelten und doch wiederum vielfach unselbständigen sozialen Lebenswelt die allgemeinen Momente ausmachen lassen, die eine wissenschaftliche Verallgemeinerung gestatten. In ein ähnliches Dilemma gerät die Sozialforschung mit dem für die gegenwärtige Gesellschaft konstitutiven Individualitätsproblem. Die sozial charakteristischen Persönlichkeitsstrukturen, die sich im Gefolge der Gesellschaftsentwicklung ausformen, stellen eine widersprüchliche Einheit von subjektspontanen und "verdinglichten", autonomen und vergesellschafteten Momenten dar. Diese widersprüchliche Einheit lässt sich nicht durch Forschungsansätze und -theorien treffen, die von einem "verdinglichten" Personenbegriff und einem totalen Vergesellschaftungsmodell ausgehen, ebenso wenig aber ist sie individualistischen Untersuchungsstrategien zugänglich, die irgendeine Form liberalen Freiheits- und Handlungsbegriffs zugrunde legen. Zweite Voraussetzung: Eine andere gesellschaftliche Entwicklung, auf der die Repräsentativität von Untersuchungen und Untersuchungsansätzen basiert, ist die Verallgemeinerung der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst. Viele Fragen und Lösungsansätze der Repräsentanz-Methodologie erhalten ihren Sinn erst, wenn man Sozialforschung als ein entwickeltes und dauerhaft etabliertes System von Untersuchungsaktivitäten unterstellt. Dabei interessiert nicht zuletzt die arbeitsteilige Separierung dieser Art gesellschaftlichen Handelns sowie die wachsende interne Konsistenz und Verfestigung des Forschungssektors. Hier liegen die gesellschaftlichen Bedingungen für die Tatsache, dass die Bemühungen der Methodenlehre sich in Fragen der Verallgemeinerung - wie in anderen Fragen auch - zunehmend auf die interne Vereinheitlichung der Untersuchungsstrategien und auf die Rationalisierung und bürokratische Durchstrukturierung des Untersuchungsbetriebes richten. Es wäre eine dringliche analytische Aufgabe, den Zusammenhang zwischen der relativen Handlungsautonomie des Forschungssektors und beobachtbaren Tendenzen herzustellen, die Kriterien für die Wahrheit (Gültigkeit) von Forschung oder die Maßstäbe für die Angemessenheit von Untersuchungsstrategien aus den immanenten Bedingungen und Voraussetzungen eines vom übrigen gesellschaftlichen Handeln abgetrennten Handlungsbereichs zu gewinnen. Zu vermuten ist z.B., dass bestimmte idealistische, moralistische Grundüberzeugungen unter anderem auch eng an die Voraussetzung der relativen Autonomie von Forschung gebunden sind. Ferner kann unterstellt werden, dass die - verglichen mit "spontanen" Alltagsuntersuchungen - spezifische Verarmung der Erkenntnismittel und Untersuchungsstrategien in der organisier-
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// Theorieteil
ten Forschung etwas mit den bürokratischen Arbeitsbedingungen und Standardisierungsbemühungen in diesem Sektor zu tun hat. Einen der gesellschaftlichen Verankerungspunkte von Sozialforschung - um eine besonders markante Stelle hervorzuheben bildet die historische Expansion der politischen und ökonomischen Bürokratien. Diese konstituieren zugleich die dritte der gesellschaftlichen Vorbedingungen des Verallgemeinerungsproblems. Dritte Voraussetzung: Die Verallgemeinerbarkeit empirischer Untersuchungen ist zutiefst mit der Existenz, der Entwicklung und den Handlungsinteressen von Bürokratien im Staatssektor, in der Wirtschaft und in einigen weiteren Gesellschaftsbereichen verknüpft. Diese Bürokratien sind nicht losgelöst von den gesamtgesellschaftlichen Integrations- und Desintegrationstendenzen zu betrachten. Sie sind eine organisatorische und politische Ausdrucksform der welthistorischen Zentralisierungsbewegung und deren Widersprüche. Die Verwaltungs- und Steuerungsinteressen der großen Bürokratien generieren - so lautet die These - in gewisser Weise erst den Anspruch auf Verallgemeinerung. Wegen der Bedeutung, die dieser Zusammenhang für das Repräsentanzproblem hat, soll ihm ein eigener Abschnitt gewidmet werden.
2.4.2
Verallgemeinerungsbegriff, Handlungsinteresse
Forschungs-Bürokratie
und
bürokratisches
Um die Darstellung zu erleichtern, werden zwei Aspekte der Bürokratiefrage, die genaugenommen zusammengehören, getrennt: Es wird unterschieden zwischen (1.) den bürokratischen Strukturen innerhalb von Forschung und (2.) der Einflussnahme von Bürokratien auf Forschung. Im ersten Fall handelt es sich darum, dass die Sozialforschung selbst bürokratische Strukturen und Funktionsweisen annimmt, schließlich selbst ein komplexes System von Bürokraten wird. Es zeichnet sich ab, dass die Sozialforschung in gebührendem zeitlichen Abstand und in bescheidenerem Ausmaß den gleichen Aufschwung zur Großorganisation nimmt, der vor ihr einigen Naturwissenschaften und Technologien gelang. Eine Reorganisation der Forschungstätigkeit nach dem sozialen Regelsystem bürokratischen Handelns zieht eine Vielzahl gewichtiger Konsequenzen nach sich. Dies wird deutlich bei dem Bemühen, das Unternehmen "Forschung" plan- und verwaltbar zu machen. Vorbereitung, Durchfuhrung und Auswertung von Untersuchungen müssen auf Zeit- und Kostenfaktoren hin rationalisiert, die verschiedenen Untersuchungsphasen und -Prozeduren müssen mechanisiert, formalem, statistischem Kalkül zugänglich gemacht werden: Sozialforschung entwickelt sich zur spezialisierten Technik, die von einer professionellen Gruppe von Forschern ausgeübt und weitervermittelt wird.
2 Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
55
Für die eingangs konstatierte Reduktion und Verzerrung des Repräsentanzproblems in der gängigen Methodenliteratur lässt sich ein plausibles Erklärungsmuster angeben: Die Beschneidung der Frage nach technisch-mechanischer, statistisch kalkulierbarer Art ist Begleiterscheinung und Konsequenz der voranschreitenden Bürokratisierung der Sozialforschung. Damit verbunden ist die Überführung weiter Teile der Sozialforschung von einem "Kunsthandwerk", das auf der persönlichen Kultur einzelner Forscher beruht, in eine organisierbare technische Profession. Dies impliziert, dass der vielgerühmte "methodische Fortschritt" keine breite und allgemeine Weiterentwicklung der Sozialforschung ist, die man pauschal und unbesehen begrüßen könnte, sondern Fortschritt in eine höchst selektive Ausrichtung auf die Anforderungen einer spezialisierten Forschungsprofession. Darin eingeschlossen ist ein Status-Aspekt. Professionelles Wissen ist in der Regel nicht nur technisch notwendiges Wissen zur Ausübung einer bestimmten Funktion, sondern immer auch - untrennbar mit ersterem verbunden - "Geheimwissen" einer Spezialistengruppe zur Legitimierung und Aufrechterhaltung der eigenen sozialen Privilegien und der gesellschaftlichen Monopolstellung. Der Repräsentanzbegriff, dem die Sozialforschung als bürokratisierte Forschung tendenziell zustrebt, kann auf folgende zugespitzte Formel gebracht werden: Repräsentativ sind die Untersuchungsergebnisse (und -Strategien), (1.) die sich durch eine routinisierbare Untersuchungsanordnung seitens der Untersuchungsorganisation jederzeit reproduzieren lassen, und (2.) deren Geltungskreis sich anhand einer formalen Prozedur beziehungsweise eines mathematischen Kalküls bestimmen lässt. Mit dieser pointierten Verkürzung soll auf spezifische normative Setzungen hingewiesen werden, die im bürokratisierten Repräsentativitätsbegriff enthalten sind. Dies betrifft zum einen die Abhängigkeit der Sozialforschung von der individuellen Kompetenz einzelner Sozialforscher: Je mehr es gelingt, den subjektiven Faktor, der vor allem als Quelle möglicher Fehler angesehen wird, auszuschalten, um so eher lässt sich Untersuchung als Teil der Forschungsbürokratie praktisch realisieren. Zum anderen sollen die Entscheidungsprozesse über die einzelnen Repräsentanzfragen von langwierigen theoretischen Debatten befreit werden, denn wissenschaftliche Diskurse widersprechen den auf Rationalisierung und Routinisierung abgestellten Handlungszwecken und -mittein. Ein zentraler Aspekt der inneren Bürokratisierung von Sozialforschung ist die Umgestaltung der Untersuchungssituation nach Maßgabe bürokratischer Beziehungsmuster. Drei Merkmale verdienen hervorgehoben zu werden: 1. Die Untersuchungssituation wird hierarchisiert; 2. die Untersuchungssituation wird nach strategischen Gesichtspunkten vorprogrammiert; 3. die Untersuchungssituation wird reduziert und abgewertet.
56
II Theorieteil
Zu 1: Die Untersuchungssituation wird hierarchisiert. Die Umgangsformen, die der Forscher mit den Untersuchten pflegt, sind den sozialen Regeln nachgebildet, die sich in den Beziehungen Vorgesetzter-Untergebener beziehungsweise Bürokrat-Klientel herausgebildet haben. Der Unterschied zum gewöhnlichen bürokratischen Handeln besteht darin, dass der Ernstcharakter dieser Beziehungen zwischen Oben und Unten in der Untersuchungssituation herabgesetzt ist. Sofern die Untersuchten freiwillig an der Untersuchung teilnehmen, lassen sie sich nach Absprache mit dem Forscher auf eine solche untergeordnete Position ein. (Allerdings ist zu beachten, dass bei Untersuchungen im bürokratischen Milieu, wo die Teilnahme an Forschung angeordnet wird, die Sachlage eine andere ist.) Weiterhin ist die Untersuchungssituation gewöhnlich nicht mehr als eine kurze Episode im Leben der Untersuchten. Charakteristische Beispiele für hierarchisch durchstrukturierte Untersuchungssituationen sind standardisierte Testsituationen, standardisierte Interviewsituationen oder - der Extremfall - experimentelle Situationen im Forschungslabor. Kritiker von Sozialforschung sprechen unverblümt davon, dass die Untersuchten auf die Position von abhängigen Arbeitern und Angestellten oder gar auf die von niederen Quasi-Organismen herabgedrückt würden (vgl. Holzkamp 1972). So geht z.B. C. Argyris (1972) von der These aus, dass "die Eigenschaften dieses temporären Systems (die Untersuchungssituation) bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Eigenschaften formeller Organisationen aufweisen. Außerdem sind viele der Dysfunktionen zwischen dem Experimentator und dem Probanden von ähnlicher Art wie die Dysfunktionen zwischen dem Management und den Angestellten" (S. 5). Im Anschluss an die Postulate von Edwards über die Kontrollbedingungen einer idealen experimentellen Anordnung führt er die Analogie wie folgt weiter aus: "Diese Bedingungen weisen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit denjenigen auf, die ein Spitzenmanagement bei der Gestaltung einer Organisation definiert. Das Spitzenmanagement (der Forscher) definiert die Rolle des Mitarbeiters (des Probanden) so rational und klar wie möglich (um Irrtümer so gering wie möglich zu halten) und so einfach wie möglich (um so wenig als möglich auf eine eng ausgewählte Population angewiesen zu sein, was die Generalisierbarkeit der Forschungsergebnisse verringern würde). Das Spitzenmanagement (der Forscher) gibt so wenig als möglich Informationen, die nicht unmittelbar mit der jeweiligen Aufgabe zusammenhängen (wodurch die Zeitperspektive des Probanden minimiert wird) und bestimmt die Anreize zur Teilnahme (z.B. das Absolvieren eines Kursus, ein Appell zur Gewinnung neuen Wissens, oder anderes). Wenn Edwards' Beschreibung zuträfe, so würden die Kriterien strenger Forschung für den Probanden eine Umwelt schaffen, in der sein Verhalten in einem vergleichbaren Ausmaß wie bei Fließbandarbeitern unter im höchstem Grade mechanisierten Bedingungen definiert, kontrolliert, evaluiert, manipuliert und ausspioniert wird" (S. 6 f.).
2 Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
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Wenn diese Überlegungen auf ihre Bedeutung für die Verallgemeinerungsfrage hin durchdacht werden, ist zu folgern, dass es sich beim Modell der hochstandardisierten Untersuchungssituation, auf das sich Argyris bezieht, um die Simulation einer zwar charakteristischen, aber doch nicht allgemeingültigen Lebenssituation der gegenwärtigen Gesellschaft handelt. Die hierarchisch durchstrukturierte Untersuchungssituation befasst sich nicht mit dem Spektrum von Lebensäußerungen, die den Untersuchten in verschiedenen gesellschaftlichen Situationen zur Verfugung stehen, sondern nur mit denen, die von den Untersuchten in der Position als Abhängige in einem bürokratischen System eingeübt worden sind. Charakteristische Strategien der Untersuchten in solcher Lage sind etwa Apathie und innerer Rückzug aus der Situation, Aufbau versteckter Widerstände, Beweise oberflächlicher Konformität (vgl. Berger 1974). Es ist ersichtlich, dass die Verallgemeinerbarkeit von Ergebnissen, die unter diesen spezifischen Untersuchungsbedingungen gewonnen werden, ganz davon abhängt, ob und wie viel die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Menschen sich den hierarchisch kontrollierten Untersuchungsbedingungen annähern. Ein definitiver Realitätsgehalt dürfte demnach selbst dem Laborexperiment nicht abzusprechen sein. Die Angemessenheit der bürokratischen Forschungssituation wächst in dem Maße, in dem sich die Untersuchung auf die am weitesten vorangeschrittenen Bereiche gesellschaftlicher "Verdinglichung" (vgl. Lukas 1967) bezieht. Darauf wurde vor allem von den Vertretern der Kritischen Theorie immer wieder hingewiesen (vgl. Adomo 1972, Pollock 1955). Die Gültigkeit von Untersuchungen, die die politischen und privaten Konsumgewohnheiten zum Gegenstand machen, darf angesichts der entwickelten Warenproduktion und der Produktion des Warenscheins sowie der Formierung der Konsumentenmassen als gegeben unterstellt werden. Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn die Forschung sich z.B. auf Bereiche des Unterlebens von Lebenswelten und Subkulturen bezieht. Eine Anwendung der bürokratisierten Untersuchungssituation auf alle Forschungsfragen, auch auf die zuletzt genannten, zwingt dazu, die Verallgemeinerbarkeit dieser Art von Forschung prinzipiell in Zweifel zu ziehen.
Zu 2: Die Untersuchungssituation wird nach strategischen Gesichtspunkten vorprogrammiert. Ein zweites Kennzeichen der bürokratischen Umgestaltung der Untersuchungssituation ist die Vorstrukturierung aller darin vorgesehenen sozialen Aktivitäten. Hier sind vor allem die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten auf Seiten der Forscher hervorzuheben. Die Strenge der Forschung bemisst sich nicht nur daran, ob es gelingt, die Reaktionen der Untersuchten unter Kontrolle zu bringen, sondern auch daran, ob der Forscher sich selbst in seinen Aktivitäten kontrolliert und zurücknimmt. Das ermöglicht dem Forscher, individuell auf die je spezifischen Persönlichkeiten und Eigenheiten seiner Untersuchungen einzugehen: Er hat "ohne Ansehen der Person" zu handeln. Die
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II Theorieteil
restringierten sozialen Interaktionsbedingungen fuhren zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Beobachtungsmöglichkeiten des Forschers. Der zweite, damit zusammenhängende Aspekt ist die kognitive Verarmung der Untersuchungssituation. Lernprozesse sind in einer ordnungsgemäß standardisierten Forschung nicht mehr vorgesehen. Gelernt wird vor und nach der Untersuchungssituation, nicht während ihres Ablaufs. Diesen Punkt der methodologisch induzierten Lemhemmungen hat der Empiriker F. Friedlander anhand der Kritik eines Projektes, an dem er selbst beteiligt war, sehr plastisch herausgestellt: "... dieses Forschungsprojekt hat... aufgezeigt, dass ... Forschung auch ein Prozess ist, in dessen Verlauf man lernt, wie und was man lernen soll. Dieser Prozess zeigt uns, welche Dinge zu lernen und zu verstehen relevant ist, wie man dieses Wissen und Verstehen erwirbt und wie man aufgrund dieses Wissens und Verstehens zu handeln hat, um weiter zu lernen, was man als nächstes lernen soll. Dies steht in krassem Gegensatz zu der gebräuchlicheren Auffassung von Wissenschaft, die in ihr ein vorstrukturiertes, wohl ausgearbeitetes Design mit entsprechender Methodik sieht, durch das man aufgrund einer vorher festgelegten Reihe von Fragen oder Hypothesen einen gewissen Kenntnisstand erwirbt und weiterentwickelt. Der größte Teil der traditionellen Forschung geht von der Voraussetzung aus, dass der Forscher schon im voraus weiß, was er in Erfahrung bringen will; dieser Lernprozess ist also für ihn keine Funktion des Forschungsprozesses. Im Gegenteil, eine solche Lernerfahrung wirft seine ursprünglichen Pläne durcheinander, und dagegen leistet er Widerstand" (Friedlander 1972, S. 40 f.). Diese Beobachtung leitet unmittelbar zum dritten Merkmal der bürokratisch strukturierten Untersuchungssituation über.
Zu 3: Die Untersuchungssituation wird reduziert und abgewertet. Mit diesem Punkt soll auf die Tendenz aufmerksam gemacht werden, dass die bürokratisierte Forschung sich (zunehmend) der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung entzieht, die ein intensiver Kontakt zu den Untersuchten und zu deren Lebenssituationen mit sich bringt. Statt dessen geht der Forscher auf soziale Distanz. Dies geschieht nicht nur durch die Art, wie er als Untersuchungsleiter in der Untersuchungssituation selbst mit den Untersuchten umgeht. Die Forschungsbürokratie sorgt vielmehr durch die strukturelle Zurichtung und durch den Stellenwert, den sie der unmittelbaren Untersuchungssituation zuweist, für eine soziale Distanz. Ein relevantes Kennzeichen vieler typischer Untersuchungssituationen ist deren zeitliche Kürze. Man begnügt sich mit "Stundenbekanntschaften". Eine andere Distanzierungstechnik besteht darin, die sozialen Orte, die Institutionen, in denen die Untersuchten täglich handeln und in denen sie sozialisiert werden, als irrelevante Kontextbedingungen der Untersuchungssituation auszuklammern.
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Verallgemeinerung
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Verstärkt wird diese Tendenz durch die Suggestion bevölkerungsweiter repräsentativer Surveytechniken, die es den Forschem gestatten, sich sozialökonomisch zusammenhanglose Einzelpersonen oder (oft willkürlich zusammengestellte) Einzelgruppen herauszugreifen ohne sich dem sozialen Druck realer Gruppen und Handlungssituationen in deren eigenem Milieu stellen zu müssen. Je mehr die Forschung über finanzielle Mittel verfügt und je mehr sie sich selbst hierarchisch organisiert, um so leichter wird es den Forschern, sich den persönlichen Kontakt mit der Klientel ganz zu ersparen. Die Teilnahme an der Untersuchungssituation wird zur Tätigkeit von Hilfskräften (Studenten, angelernten Interviewern). Was sind die Folgen? Offensichtlich ist die Forschungs-Bürokratie mit einer systematischen Abwertung der empirischen Praxis verbunden. Die unmittelbare soziale Untersuchungstätigkeit tritt zugunsten der sich ausbreitenden technischen Vorbereitung und technischen Auswertung der sozialen Situation Untersuchung zurück. Das muss auf Dauer den verallgemeinerbaren Realitätsbezug von Forschung schwächen. Das zeigt sich bereits daran, dass die Kontrollen, die über die Realitätshaltigkeit und Verallgemeinerbarkeit ausgeübt werden, sich gleichfalls zunehmend von der Untersuchungssituation wegbewegen. Die Verfahren der Auswahl, die statistische Überprüfung der "Signifikanz" der Ergebnisse werden verfeinert; ebenso nimmt die Absicherung der Methoden und Ergebnisse durch innerwissenschaftliche Vergleiche mit anderen Untersuchungen zu. Die empirische Realität, die sinnliche Grundlage, die Spezifika der sozialen Situation, in der die Daten gewonnen wurden, treten demgegenüber zunehmend in den Hintergrund. Die kreative Untersuchungstätigkeit wird entweder an den Schreibtisch und in die Aufarbeitung der Literatur verlagert, oder sie wird einer von anspruchsvollen Standards befreiten "Voruntersuchung" zugeordnet. Der privatistische und mediokre Charakter der explorativen Untersuchungsphase zeigt sich unter anderem darin, dass sie in vielen Untersuchungsbereichen allenfalls beiläufig erwähnt, aber nicht ausführlich reflektiert wird. Was den zweiten Aspekt, die Einflussnahme externer Bürokratien auf Sozialforschung betrifft, so ist an der Oberfläche diese Beziehung leicht einsehbar. Externe Bürokratien üben als Organisatoren, Auftraggeber und Zielgruppen einen zentralen Einfluss auf die organisierte Forschung aus. Interessieren soll hier die darunterliegende Strukturbeziehung zwischen beiden Bereichen. Sobald der Gebrauchswert von Untersuchungen für Bürokratien zum obersten Kriterium für Sozialforschung gemacht wird, gleicht sich diese mit Notwendigkeit dem reduktionistischen Gesellschaftsbild und der beschränkten Handlungsperspektive von Bürokratien an. Methoden und Inhalte der Forschung setzen eine vereinfachte, bürokratischem Handeln verfügbare Umwelt voraus. Oberste Prämisse ist, dass das Dasein der einzelnen Gruppen und Individuen nach quasi naturhaften Regeln abläuft und von diesen Ge-
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setzmäßigkeiten mehr oder weniger deutlich determiniert wird. Die typischen Gesetzesaussagen und Verallgemeinerungen traditioneller Sozialforschung setzen entsprechend voraus, dass mit gutem Grund und Erfolg von den konkreten Besonderheiten eines sozialen Regelsystems abstrahiert werden, also versucht werden kann, quasi Naturkonstanten gesellschaftlichen, menschlichen Handelns zu extrapolieren. Andernfalls erscheint es nicht begründet, von der Wirkungsweise des Regelsystems in einer gesellschaftlichen Situation rückzuschließen. Die historische und kontextgebundene Relativität von Beziehungsaussagen wird dabei vernachlässigt. Eine weitere notwendige Unterstellung bezieht sich auf die Homogenität und Gleichförmigkeit der untersuchten Bevölkerungsgruppen und Situationen. Der Ansatz muss voraussetzen, dass jedes Mitglied der interessierenden Gruppe über das zu untersuchende Merkmal (z.B. eine bestimmte Meinung) auch verfugt. Anderenfalls lässt sich weder die Standardisierung der Methoden und Inhalte noch eine standardisierte Untersuchungssituation legitimieren. Die Kehrseite einer solchen Voraussetzung der Methode ist, dass die Sozialforschung alle nichtstandardisierbaren Elemente des individuellen und gesellschaftlichen Lebens als Untersuchungsgegenstände ausscheidet bzw. qua Methode eine künstliche Gleichschaltung der Gesellschaftsmitglieder - über die im Alltag empirisch vorfindliche hinaus - konstruiert. Dem Paradigma der bürokratisierten Sozialforschung liegt eine Abwertung jeglicher individueller Existenz zugrunde, wie an dem folgenden Beispiel von Noelle-Neumann deutlich wird. "Die individuelle Betrachtungsweise muss jedoch zwangsläufig aufgegeben werden, sobald man daran geht, Menschen zu zählen oder unter bestimmten Gesichtspunkten zu klassifizieren - wie beispielsweise die Statistik, aber auch die Bürokratie es tut. Die Abstraktion von der Person ist eine Vorbedingung für das Zählen, Verwalten, 'Einsetzen' von Menschen (z.B. bei militärischen Aktionen). Der im amerikanischen Sprachgebrauch eingeführte Ausdruck 'Human' Engineering ... vermittelt etwas von diesem sonderbaren Verhältnis zum Menschen, das man gern als 'unmenschlich' bezeichnen würde ... Innerhalb der nach Merkmalen gebildeten Gruppen werden die Individuen grundsätzlich als gleichwertig, gleichartig, als auswechselbar und anonym betrachtet. Dieses Moment der angenommenen, unterstellten Identität ist charakteristisch; operational korrespondieren damit identische Behandlungsmethoden und Verfahrensweisen" (Noelle 1963). Herkömmliche Sozialforschung ist also auf eine stabile, homogene, kontrollierte Gesellschaftsformation angewiesen, in der Prozesse der Veränderung auf kalkulierbare Oberflächen und Detailphänomene beschränkt bleiben. Wenn dem so ist, kann aus diesem Sachverhalt ein gesellschaftspolitisches Interesse bürokratisch gebundener Sozialforschung abgeleitet werden: Sie muss sich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen dem historischen Gesellschaftszustand und dem idealtypischen Modell von Gesellschaft wünschen. Auf solcher Übereinstimmung beruhen schließlich Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitserfolge ihres Berufsstandes. Sollten in bestimmten Lebensbereichen, gesell-
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Verallgemeinerung
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schaftlichen Gruppen usw. relevante Voraussetzungen nicht gegeben sein, müssen Anstrengungen gemacht werden, diese "kulturelle Rückständigkeit" zu beheben. Eine entsprechende Konsequenz deutet - in skeptischer Absicht - der polnische Soziologe S. Ossowski an. Um in bestimmten Fällen "die Anwendung von standardisierten Methoden zu ermöglichen, müsste man durch entsprechende Erziehungsmaßnahmen eine Standardisierung des Milieus herbeiführen" (Ossowski 1973, S. 167). Die Gruppe professioneller Forscher verfugt allerdings nicht über die Machtressourcen, um derart anspruchsvolle Ziele in Angriff zu nehmen. Sie ist auf die Hilfe der Bürokratien im staatlichen, ökonomischen Sektor angewiesen, die die Sozialforschung finanzieren und in Auftrag geben. Nur dort, wo sich zentralisierte Bürokratien als Kontroll- und Lenkungsinstanzen der gesellschaftlichen Entwicklung etabliert haben, hat die standardisierte Sozialforschung ihre Chance. Die Abhängigkeit zeigt sich bereits an simplen Details der Methode, z.B. am wahrscheinlichkeitstheoretischen Stichprobenmodell: "Wie sich erkennen lässt, beruht die Möglichkeit, Stichproben zu ziehen, auf vorhandenen Vollerhebungen, die entweder periodisch (z.B. Volkszählung, Gebäude- und Wohnungszählung) oder kontinuierlich (z.B. amtliche Meldestatistiken, Karteien von Organisationen) durchgeführt werden" (Friedrichs 1973, S. 129). Der Zusammenhang von Forschung und Bürokratie bezieht sich nicht nur auf den Zustand des gesellschaftlichen Feldes. Er erstreckt sich vor allem auch auf die Vorstellungen vom intervenierenden Handeln und von kontrollierten Veränderungen in diesem Bereich. Das logische Pendant zur naturwissenschaftlich-objektivierenden Interpretation von sozialen Prozessen bilden technokratische Vorstellungen über die Auslösung von gesellschaftlichen Veränderungen. Sozialtechnologen bietet sich folgende Sichtweise auf das Problem dar: Um einen Veränderungsvorgang erfolgreich in Gang zu setzen, bedarf es eines Überblicks über den Systemzusammenhang der ermittelten oder vermuteten konstanten Beziehung zwischen den Einzelvariablen (Variablenbündeln). Ist die Übersicht in ausreichender Weise erlangt, so bedarf es vor allem spezifischer (Außen-) Eingriffe an strategischen Stellen des Systems, um die gewünschten Effekte zu erzielen. Von einigen Sozialforschern werden die technokratischen Handlungsintentionen, die eine Orientierung an der abstrahierenden "Objektivierung" von gesellschaftlichen Prozessen zugrunde legen, unverblümt benannt. Beispielsweise erklärt die bereits oben zitierte E. Noelle-Neumann in beschwichtigender Absicht das Interesse an der statistischen Merkmalsbildung (Klassifizieren zwecks Quantifizieren) zur gemeinsamen "Perspektive der Herrscher, Heerführer, der Bürokratie - und der Sozialwissenschaftler... Wer eine größere Zahl von Menschen beherrschen und lenken will, ist zum Mehrzahldenken gezwungen, und umgekehrt: Denken im Mehrzahlbereich ermöglicht die Machtausübung" (Noelle 1963, S. 30).
62
2.4.3
II Theorieteil
Verallgemeinerung unter der Vorherrschaft der repräsentativen Umfrageforschung (Survey-Ansatz)
Die empirische Sozialforschung und deren Methodologie stehen seit jeher unter der Herrschaft eines bestimmten Untersuchungsmodells: der repräsentativen Umfrageforschung (survey-design). Wer zum gegenwärtigen Zeitpunkt qualitative Forschungsansätze propagiert, der muss sich vor allem mit den Vorgaben, die von diesem Paradigma ausgehen, auseinandersetzen. Angesichts der Fülle möglicher Untersuchungsverfahren wäre anzunehmen, dass es Sozialforschem schwergefallen ist, allumfassende und für jeden Einzelfall geltende Maßstäbe aufzustellen und durchzusetzen. Man vergegenwärtige sich so unterschiedliche Untersuchungsarten wie historische Untersuchung, Einzelfallstudie, psychologisches Experiment, anthropologische Feldforschung usw. Jeder dieser Untersuchungsansätze setzt genaugenommen einen modifizierten Begriff von Verallgemeinerbarkeit und ein entsprechend modifiziertes methodisches Regelsystem zu dessen Bestimmung voraus. Wenn dennoch nicht auf ein allgemeingültiges Modell verzichtet wird, so geschieht das oft unter der Annahme, dass der Geltungsbereich aller Untersuchungsformen letztlich am Modell der repräsentativen Umfrageforschung und der wahrscheinlichkeitstheoretisch fundierten Stichprobenauswahl auszurichten sei. Einen Modellfall für eine solche Hierarchisierung von Methoden liefert beispielsweise E. K. Scheuch (1967). Er erklärt alle Auswahlverfahren in der Sozialforschung - außer der Wünsche-Machbarkeitsauswahl selbst - zu "Vorformen der Auswahl". Wahrscheinlichkeitsauswahlen sind "auch die einzigen Verfahren, die von der theoretischen Statistik als methodisch zu rechtfertigen anerkannt werden" (Scheuch 1967, S. 312). Das Selbstvertrauen erscheint nicht unverständlich, wenn man bedenkt, dass die statistischen Techniken und Theorien der Auswahl zu den entwickeltsten und erfolgreichsten (statusträchtigsten) Methodenbereichen empirischer Sozialforschung zählen. Ein wesentliches Kriterium für den Status bestimmter empirischer Verfahrensweisen innerhalb der Methodenhierarchie der Sozialforschung bildet die Möglichkeit, diese mit Modellen der analytischen Statistik zu verbinden und mathematisch kalkulierbar zu machen. Abschließend soll versucht werden, die repräsentative Umfrageforschung und ihren dogmatischen Anspruch, sie verfuge über ein allgemeingültiges Instrumentarium zur mathematischen (exakten) Bestimmung der Verallgemeinerbarkeit von Untersuchungen und Untersuchungsergebnissen, an dem sich jeder Typus von wissenschaftlicher Untersuchung messen müsse, zu decouvrieren. Zu beobachten ist, dass die wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz qualitativer Sozialforschung gewöhnlich vor dem Hintergrund der survey-gerechten Methodenlehre und ihrem Begriff von Generalisierbarkeit angezweifelt wird. Bei dem gegenwärtig dominierenden Untersuchungsmodell der repräsentativen Umfrageforschung handelt es sich um eine kontrollierte und rationalisierte (Einzel-)Befragung größerer Bevölkerungsgruppen. Als methodisches Hauptproblem dieser Art von Untersuchung wird angesehen, wie man mathematisch abgesichert
2 Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
63
von der Teilpopulation, die man gewöhnlich interviewt, auf die zugehörige Bevölkerungsgrundgesamtheit rückschließen kann. Die Frage der Generalisierbarkeit entscheidet sich bei diesem Paradigma vorrangig daran, ob es gelingt, eine soziale Grundgesamtheit zu definieren und daraus eine Zufallsstichprobe zu ziehen - wozu wiederum eine wohldefinierte Erhebungseinheit vonnöten ist. Die repräsentative Umfrageforschung unterstellt den voll vergesellschafteten Menschen und achtet infolgedessen auf den historisch-gesellschaftlichen Kontext, dem ein Befragter entstammt und den er repräsentiert. Die Konstante, die die Survey-Untersuchung im besonderen und die herkömmliche, naturwissenschaftlich orientierte Sozialforschung im allgemeinen ihren Gesetzesaussagen und ihrer Methodenlehre zugrunde legen, ist die Gesellschaft als die zweite Natur des Menschen. Die Umfrageforschung interessiert sich dementsprechend sowohl für psychologische als auch für sozialstrukturelle Variablenkomplexe - allerdings unterschiedlich stark. Ihre eigentliche Absicht ist es, die Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung zum Zwecke bürokratischen Handelns zu erforschen. Da die individuellen Äußerungen als vergesellschaftete unterstellt werden, müssen sie in ihrem Zusammenhang mit und in ihrer Abhängigkeit von den sozialstrukturellen Gegebenheiten untersucht werden. Die zweite Variablengruppe der Umfrageforschung bilden deshalb die "sozialen Fakten". Sie kommen als Eigenschaften der Individuen in den Blick, die aus deren Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen und Sektoren resultieren: Geschlecht, Alter, Schulbildung, Beruf, Gehalt, Religion, Parteizugehörigkeit usw. Die "sozialen Fakten" treten als routinemäßig zu erhebende Konstanten in der Untersuchungsplanung gegenüber den aktuellen Meinungs- und Einstellungs-Variablen zurück. Die Umfrageforschung geht im Prinzip von einer geschichtlichen Existenz des Menschen aus. Immerhin erkennen ihre Vertreter an: Der einzelne Mensch bleibt nicht der gleiche, je nachdem, zu welchem Zeitpunkt er geboren wird und welches Gesellschaftssystem, welche zeitgeschichtlichen Ereignisse ihn "sozialisieren". Andererseits werden tiefere Dimensionen gesellschaftlichen Wandels beziehungsweise individueller Entwicklung ignoriert. Die Survey-Forschung ist - vereinfacht gesprochen - auf zwei Typen von Aussagen aus: Zum einen möchte sie gesicherte Erkenntnisse über die vorfindliche Verteilung bestimmter Merkmale (Meinungen, Handlungsdispositionen) unter den Gesellschaftsmitgliedern gewinnen. Zum anderen möchte sie die sozialstrukturellen Gesetzmäßigkeiten ergründen, die Handeln und Bewusstsein dieser Gesellschaftsangehörigen bedingen (Prognosewissen). Beide Untersuchungsinteressen setzen voraus, dass die strukturellen Randbedingungen gesellschaftlichen Handelns innerhalb eines für bürokratische Zwecke relevanten Zeitraumes konstant und stabil bleiben. Ein methodisches Kernstück der repräsentativen Umfrageforschung ist die Zufallsstichprobe. Darunter wird ein Verfahren verstanden, eine Stichprobe aus einer Gesamtpopulation (Personen, Gruppen, Ereignisse, Objekte) so zu ziehen, dass jedes Mitglied der Population eine gleichgroße Chance erhält, gezogen zu werden. Hier ist zunächst wich-
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// Theorieteil
tig festzuhalten, dass Methodologen dazu tendieren, die Methode Zufallsstichprobe zu dogmatisieren. Als ein Beispiel für viele kann ein Zitat aus einem verbreiteten Standardwerk zur Einführung in die Methoden der pädagogisch-psychologischen Forschung angeführt werden. Der Autor, F. N. Kerlinger, schreibt darin folgendes: "Wir können feststellen: Eine Stichprobe ist nur dann repräsentativ, wenn sie nach dem Zufallsprinzip gezogen worden ist. Stichproben, die nicht nach dem Zufallsprinzip gezogen wurden, mögen repräsentativ sein, sie mögen es aber auch nicht sein - jedenfalls können wir nicht aussagen, sie seien repräsentativ.... Das Problem ist nicht so sehr, dass Stichproben, die nicht nach dem Zufallsprinzip gezogen wurden, nicht repräsentativ sind. Sie mögen es in vielen Fällen sein. Das Problem ist, dass wir von ihnen nicht sagen oder annehmen können, dass sie repräsentativ sind, was wir von Zufallsstichproben durchaus sagen oder annehmen können" (Kerlinger 1967, S. 53). Neben dem Absolutheitsanspruch dieses Verfahrens ist die Begründung, die für dessen Überlegenheit ins Feld geführt wird, beachtenswert. Die Argumentation läuft darauf hinaus, die Frage der Verallgemeinerbarkeit zu einer statistisch durchgefeilten Technik zu machen, die subjekt-unabhängig und nach mechanischen Regeln abzulaufen vermag. Die theoretische Kompetenz des Wissenschaftlers taucht nur noch als Negativfolie auf, als Vorurteilsfaktor und Fehlerquelle. "Eine Zufallsstichprobe ist eine vorurteilsfreie Stichprobe. ... Wenn wir keine Zufallsstichprobe ziehen, so mögen ein oder mehrere Faktoren, die uns nicht bewusst sind, uns für eine vorurteilshafte Stichprobenwahl prädisponieren. Wir möchten ausdrücklich hervorheben, dass dabei nicht so sehr das Problem im Vordergrund steht, ob wir es auch wirklich tun. Das Problem ist, dass unsere Methode uns diesen Fehler gestattet" (Kerlinger 1967, S. 52 f.). Hier findet sich in einem technisch weitentwickelten Methodengebiet ein Beleg für die oben analysierte Tendenz zur inneren Bürokratisierung der professionellen Sozialforschung. Die Verfahrensweisen, die Methodologen für die Umwandlung der Sozialforschung empfehlen, "haben alle das eine gemeinsam, dass sie die Gebiete reduzieren wollen, auf die menschliches Urteilsvermögen angewandt wird, und dass sie an dessen Stelle die starre Anwendung bestimmter Verfahrensregeln setzen wollen" (Becker 1970, S. 5). Die Gefahr ist, dass die Methodenlehre darauf verzichtet, die Methoden-Bereiche genau zu explizieren, die sich diesem mechanisch-statistischen Prinzip nicht fügen. Ein solcher Bereich ist beispielsweise die Frage der Inhaltsvalidität. Die inhaltliche Gültigkeit lässt sich als die Repräsentativität einer Stichprobe auffassen, die ein Messinstrument aus dem theoretischen Universum einer psychologischen oder gesellschaftlichen Eigenschaft zieht. Nur: Unglücklicherweise ist es nicht möglich, eine Stichprobe von Einzelheiten (items) aus einem Universum von Bedeutungen zu ziehen. Solche Bedeutungs-
2 Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
65
Universa existieren nur theoretisch. Folglich lässt sich dieses Problem der Verallgemeinerbarkeit einer Untersuchung auch nicht mit dem Gesetz der großen Zahl statistischmechanisch, sondern nur durch begründete Urteile, also über einen Diskurs, lösen. Wenn diese Schwierigkeit bedacht wird, so ist es kein Zufall, dass die herrschende Methodenlehre der Inhaltsvalidität bedeutend weniger Aufmerksamkeit als dem Problem der repräsentativen Bevölkerungsstichprobe zu schenken pflegt" (vgl. Heinze/Müller/ Stikkelmann/Zinnecker 1975, S. 77-114).
2.5
Resümee
Die bürokratische Focussierung des Untersuchungsfeldes durch die traditionelle, quantitative Sozialforschung äußert sich, so kann resümiert werden, in ihrem Interesse für die - in Analogie zu natürlichen Gesetzmäßigkeiten gedachten - sozialen Regelmäßigkeiten in den untersuchten Lebenswelten. Hierbei wird unterstellt, dass den ermittelten Routinen und Zwängen des Alltags gesellschaftsunabhängige Geltung und zudem (im Vergleich zu nichtdeterminierbaren Momenten der sozialen Existenz) logische und faktische Priorität zukomme. Die gesellschaftstheoretische Prämisse, die den Kern dieser Forschungstheorie und praxis bildet, besteht darin, dass die reale Durchsetzung raumzeitlicher Abstraktion gesellschaftlichen Handelns als gegeben hinzunehmen sei. Demgegenüber geht es den hier versammelten Ansätzen qualitativer Sozialforschung um die Aufhellung der spezifisch historisch-situativen Momente in der gesellschaftlichen Praxis. Ihnen gemeinsam ist, dass sie davon ausgehen, dass Individuen ihren Alltag, ihre Gewohnheiten, ihre inhaltlichen Erwartungen und Erfahrungen rekonstruieren, dass sie ihre Bedürfnisse und Motive artikulieren, dass sie in ihren Lebensvollzügen und Interaktionsformen Bedeutungen schaffen und sie uns mitteilen können. In Anlehnung an Kleinings "Umriss einer Methodologie qualitativer Sozialforschung" (1982) zieht der Medienforscher Kübler folgende Konsequenzen für das hier diskutierte Verallgemeinerungsproblem: "... Qualitative Forschung beabsichtigt, allgemein betrachtet, die Aufdeckung von Bezügen, sie bevorzugt die Technik des Vergleichs zur Erfassung von Gemeinsamkeiten, quantitative Forschung sucht unterschiedliche Ausprägungen schon bekannter Bezüge mittels Diskriminationsmethoden zu messen. ... Qualitative Sozialforschung ist im Kern ein Entdeckungsverfahren, die in unbekannten sozialen Realitäten Verbindungen und Bezüge eröffnet. Sie tut dies weit unvoreingenommener und gründlicher als quantitative Forschung, da diese nur Daten innerhalb eines vorgegebenen Kategorienschemas liefern kann, aber nicht das Kategorienschema selbst. Insofern lässt sich qualitative Forschung nicht, wie es gelegentlich geschieht, als Exploration und Hypothesenspenderin für quan-
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// Theorieteil
titative Forschung abtun, denn entdeckte Zusammenhänge sind nur durch andere Entdeckungsverfahren, nicht durch Messungen zu prüfen. Gefundenes lässt sich freilich durch Messverfahren mit vorgegebenen Variablen, wenn auch mit höherem Abstraktionsgrad, abbilden ... Diese durch qualitative Methoden systematisierten Entdeckungsprozesse verlangen vom Forschenden Offenheit, ein sich ständig an die Struktur des Gegenstandes anpassendes Forschungsverständnis und Methodenflexibilität, insgesamt: Eine sich in der hermeneutischen Tradition herausgebildete Verstehensbereitschaft und -fähigkeit, die nicht durch bestimmte Vorannahmen und methodische Restriktionen blockiert oder gar eliminiert werden. Anders ausgedrückt: Die Definition und Erfassung des Gegenstandes steht am Ende des qualitativen Forschungsprozesses, während die quantitative Forschung sie voraussetzt. Daher muss der Forscher die Selbstkonstitution durch die Erforschten einbeziehen, das heißt, die Diskursivität des Erhebungsprozesses anerkennen. Geht man in der qualitativen Sozialforschung davon aus, dass sich Erkenntnisinteressen und Gegenstandsverständnis erst im Untersuchungsprozess und zwar in der Diskussion mit allen Beteiligten, herauskristallisieren, verliert das Repräsentativitätspostulat der quantitativen Forschung an Bedeutung: Denn die vorab definierte und ohnehin nur an wenige sozialstatistische Indikatoren gebundene Stichprobenauswahl referiert auf eine Grundgesamtheit, deren Struktur im voraus zu erfassen und zu typisieren dem qualitativen Forscher unmöglich ist. Insofern hält er es auch für unbeweisbar und für ein Vorurteil im eigentlichen Wortsinn, dass eine noch so raffiniert im voraus ausgeklügelte Zufalls-Stichprobe die Struktur eines sozialen Gebildes zu repräsentieren vermag. Vielmehr reduziert sie unterschiedliche Lebensweisen und Alltagsformen auf wenige manifeste, formelle, in der Regel systemkonforme Rollenkonstrukte, die sie dann voneinander quantitativ unterscheidet und misst. Die Zirkularität des Erkenntnisprozesses ist daher bei der quantitativen Forschung ein stets drohendes, leider methodologisch viel zu wenig beachtetes Risiko. Dagegen hält der qualitative Forscher es mit den Anthropologen und Ethnologen, die glauben, eine Kultur sei einerseits in ihren extremen Ausprägungen (Feste, Katastrophen, Krisen, sozialen Randgruppen), andererseits in der Normalität des Alltags, der auch einen 'Extremfall' verkörpert, besser zu studieren als in ihrem statistisch vorab fixierten und standardisierten repräsentativen Durchschnitt" (Kübler 1984, S. 63/64). Alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Erscheinungen der sozialen Welt sind - so konstatiert H. G. Soeffner in seinem Beitrag zu "gemeinsamen Standards standardisierter und nicht-standardisierter Verfahren in der Sozialforschung" (1985) - soweit sie dokumentiert bzw. dokumentierbar sind - potentiell sozialwissenschaftliche Daten. Das Dokumentieren bleibe jedoch prinzipiell hinter der Vielzahl der Erscheinungen zurück, ebenso wie das Interpretieren hinter der Vielzahl der Dokumente und der möglichen Interpretationsgegenstände.
2 Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung
67
"Schon daraus folgt, dass sozialwissenschaftliche Auslegung notwendig exemplarisch arbeitet. Sie ist per se Fallanalyse und zielt auf das Typische, Verallgemeinerungsfähige von historischen 'Einzel'-Erscheinungen, d.h. sie kann Intersubjektivität und Verallgemeinerbarkeit ihrer Ergebnisse niemals dadurch erreichen, dass sie alles in 'Daten' umwandelt und bearbeitet. Daraus wiederum folgt, dass die Qualität ihrer Aussagen und Interpretationen prinzipiell nicht von der Quantität ihrer Daten, wohl aber von der Interpretation, der Fragerichtung und den Prinzipien und Verfahren der Sinnzumessung durch den Wissenschaftler abhängt: Denn diese wiederum präformieren - mit prinzipiell offenem Fragehorizont - was und 'wie viel1 an Daten für die Interpretation einer 'Einzelerscheinung' für erforderlich gehalten wird" (Soeffner 1985, S. 147). Die Einzelfallanalysen dienen der schrittweisen Entdeckung allgemeiner Strukturen sozialen Handelns, während der Einzelfall selbst - so Soeffner - als historisch-konkrete Antwort auf eine konkret-historische Situation und Strukturerfordernis interpretiert werde (S. 148).
Übungsaufgabe 3 Fassen Sie kurz die Kritik des Autors zur Dominanz des Survey-Ansatzes unter folgenden Stichpunkten zusammen: 1. Hierarchisierung; 2. Vorprogrammierung nach strategischen Gesichtspunkten; 3. Reduzierung und Abwertung der Untersuchungssituation.
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II Theorieteil
3
Das Lebenswelt- Konzept
3.1
Theoretischer Bezugsrahmen
In diesem Kapitel soll das Konzept der Lebenswelt als umfassender Rahmen für eine auf regelhafte Zusammenhänge ausgerichtete Analyse sozialen Handelns entwickelt, sowie die Frage nach der "Stimulanz" der Rekonstruktion von Lebenswelten fìir Gestaltung, Phantasie, Utopie, konkrete Handlungsalternativen etc. aufgeworfen werden. Der Begriff Lebenswelt geht ursprünglich auf den Phänomenologischen Ansatz von Husserl zurück. In der Lebenswelt liegt - so Husserl - die nicht weiter hinterfragbare Evidenz für den Menschen in der Welt vor. Die Lebenswelt als Welt, in der wir schon immer leben, bildet die Basis für reale Erkenntnis, Leistung und wissenschaftliche Reflexion. Die philosophische Ausgangsfrage Husserls wurde von dessen Schüler A. Schütz (1932, I960 2 ,197la, b) in die Grundlagendebatte der Sozialwissenschaften eingebracht. In seiner Arbeit über "Das Problem der Relevanz" (1947-1951, 1971a) umschreibt Schütz Lebenswelt - ein Begriff, den er von Husserl übernommen hat - wie folgt: "Zu jedem Augenblick meiner Existenz finde ich mich im Besitze eines gewissen Ausschnittes des Universums, den ich in der natürlichen Einstellung kurz 'meine Welt' nenne. Diese Welt besteht aus meinen aktuellen und meinen früheren Erfahrungen von bekannten Dingen und ihren Beziehungen untereinander. Natürlich sind sie mir in verschiedenem Ausmaß und in mannigfachen Graden der Klarheit, Deutlichkeit, Konsistenz und Kohärenz bekannt. Diese Welt besteht auch aus einigen mehr oder minder leeren Erwartungen von noch nicht erfahrenen Dingen, die deswegen noch nicht bekannt sind, aber meiner möglichen Erfahrung trotzdem zugänglich sind und somit von mir potentiell gewusst werden können. Meine Welt, in der ich bisher gelebt habe und in der ich durch die Idealisierung des 'und so weiter' - die für meine natürliche Einstellung so wichtig ist - erwarte, weiterhin zu leben, diese Welt ist von jeher typisch der Erweiterung fähig. Sie ist notwendig eine offene Welt. Mit anderen Worten: Meine Welt trägt den Sinn, schon seit jeher ein Sektor einer höheren Einheit zu sein, die ich das Universum nenne: der offene äußere Horizont meiner Lebenswelt" (Schütz 1971a, s. 179). In seinen Analysen geht Schütz davon aus, dass die "Welt des Wirkens im alltäglichen Leben der Archetyp unserer Erfahrung der Wirklichkeit ist" (1971b, Bd. 1, S. 267). Diese Welt ist immer schon eine gesellschaftlich interpretierte Welt. "Es ist eine Kulturwelt, da die Welt des täglichen Lebens von allem Anfang an für uns ein Universum von Bedeutungen ist, also ein Sinnzusammenhang, den wir interpretieren müssen, um uns in ihm zurechtzufinden und mit ihm ins Reine zu kommen. Dieser Sinnzusammenhang entspringt jedoch ... menschlichem Handeln: Unserem Handeln und dem Handeln unserer Mitmenschen, unserer Zeitgenossen und Vorgänger" (ebd., S. 11/12).
3 Das Lebenswelt-Konzept
69
In diese soziale Welt werden die Gesellschaftsmitglieder dadurch eingeführt, dass man ihnen bestimmte Regeln sozialen Verhaltens und zum Umgang mit Dingen vermittelt. Die Aneignung typischer sozialer Konstruktionen ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Lernprozesses. Das Medium, in dem das Alltagswissen weitergeleitet wird, ist die Umgangssprache. "Die vorwissenschaftliche Umgangssprache kann als eine Schatzkammer vorgefertigter verfügbarer Typen und Eigenschaften verstanden werden, die sozial abgeleitet sind und einen offenen Horizont unaufgeklärter Inhalte mit sich tragen" (ebd., S. 16).
Die Lebenswelt ist die Welt des Alltags, eine "Wirklichkeit par excellence", die in "ihrer imperativen Gegenwärtigkeit... unmöglich zu ignorieren ist" (Berger/Luckmann 1972, S. 24). Sie ist da, wird hingenommen und in das Handeln in irgendeiner Weise einbezogen - mag dies bewusst oder unbewusst geschehen, mag dies in der Form der Umdeutung oder Ignorierung von Bedingungen geschehen. Diese Lebenswelt wird als Welt erfahren, mit der man vertraut genug ist oder vertraut genug werden kann, um zu leben. So banal diese Aussage klingen mag, so problematisch ist die Basis der Annahme, mit der Lebenswelt vertraut zu sein, da die Lebenswelt prinzipiell eine offene Wirklichkeit ist. Dies in mehrfacher Hinsicht, wie Schütz betont (1971a, S. 180 f.): Die Lebenswelt ist räumlich offen: Alle Gegenstände und Begebenheiten des Universums können für meine Lebenswelt relevant werden. Nachrichten und Dinge aus fernen Kulturkreisen können plötzlich in mein Leben eindringen und dort Bedeutung erlangen. Die weltweite Verflochtenheit von Gesellschaften und technischen Entwicklungen kann zu einer Situation fuhren, wo meine Lebenswelt vergleichbar mit der Lebenswelt eines Menschen in einem räumlich weit entfernten Kulturkreis wird. Unter bestimmten Aspekten wird meine Lebenswelt in gleichem Maße unvergleichbarer mit der Lebenswelt meiner Mitmenschen, mit denen ich täglich umgehe. Die Lebenswelt ist in der Zeitdimension offen: Die Biographie des einzelnen ist eingebunden in die Vergangenheit einer Gesellschaft, die bereits bestand, bevor der einzelne auf die Welt kam. Seine Biographie wird wesentlich bestimmt durch Antizipation einer Zukunft, wie sie sein könnte, sein soll oder auf keinen Fall sein darf. Die Lebenswelt ist offen auf einer Realitätsebene: Unterschiedliche Bewusstheitsgrade des Erlebens und Denkens lassen die Grenzen von Sinnbereichen fließend werden. Der Wechsel zwischen konkretem Handeln und Traum, Emotionalität und Einbildung ist kennzeichnend für den Wechsel von Sinnebenen. Die Lebenswelt ist offen in der Dimension der Gesellschaft: Die Lebenswelt meiner Vorfahren, Nachfahren und Mitmenschen wird jeweils eingeschlossen durch eine bestimmte Gesellschaftsordnung, die als übergreifende Welt entscheidenden Einfluss auf meine Lebenswelt hat.
70
// Theorieteil
Diese Beschreibung der Lebenswelt darf natürlich nicht so missverstanden werden, als ob seine biographische Entwicklung und die Bedingungen seines aktuellen Sinn- und Handlungsfeldes dem Subjekt stets voll bewusst sind. Selbst dort, wo das Subjekt auf Befragen oder unter dem Eindruck der Unsicherheit die Bedingungen seines Sinn- und Handlungsfeldes reflektiert, ist keineswegs selbstverständlich, dass diese Bedingungen in ihrer ganzen Tragweite erkannt bzw. die relevanten Bedingungen überhaupt wahrgenommen werden. Der Verweis auf die Wirksamkeit frühkindlicher Sozialisation, deren Bedingungszusammenhang nur selten transparent wird, mag hier als Erläuterung ausreichen. So wie der Sozialisationsraum Familie zu einer bestimmten "Weltsicht" des Kindes - und des späteren Erwachsenen - beiträgt, so kann man grundsätzlich sagen, dass die Lebenswelt, der soziale Kontext, das Denken und Handeln eines Menschen bestimmt: Längeres Verbleiben in einem sozialen Kontext etabliert ein Kommunikationsund Bezugsfeld, "in welchem die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsorientierungen sich auf einem bestimmten Niveau einspielen und so den relativ stabilen Horizont einer Lebenswelt darstellen. Wer in dieses Kommunikationsfeld dauerhaft eingebunden ist, nimmt Situationen nach den in dieser Lebenswelt geltenden Kriterien wahr, definiert die Situationen und die in ihnen möglichen Handlungsalternativen nach den in der Lebenswelt geltenden Standards und Regeln, hat eine bestimmte Meinung über wichtige und unwichtige Probleme und antizipiert einen bestimmten Spielraum für Problemlösungen; desgleichen werden für ihn bestimmte Inhalte thematisch, andere bleiben irrelevant; manche Inhalte werden explizit, andere bleiben tabuisiert" (Mollenhauer 1972b, S. 38). Untersuchungen über die Auswirkungen von Lebenssituationen und Subkulturen auf Denken und Handeln 3 bestätigen, dass der Orientierung der Person eine Interpretation ihrer Handlungsmöglichkeiten in dieser konkreten Situation zugrunde liegt, und dass in diese Überlegungen die gängigen Lösungen der Bezugsgruppe eingehen. In der Regel setzt sich diese Bezugsgruppe aus Personen gleicher oder zumindest in einer als ähnlich empfundenen Lage zusammen. Ein Beispiel für den wirksamen Einfluss der "peergroup" liefert die Hochschulforschung. Der "peer-group" werden bedeutende Funktionen und Wirkungen für den einzelnen Studenten zuerkannt: "Hilfe dazu, von zu Hause unabhängig zu werden, Erfahrungen unterschiedlichster Art mit anderen Menschen und entsprechende soziale Fähigkeiten zu entwickeln, emotionale Stütze in Krisen, Angebot eines anderen Referenzrahmens und anderer Belohnungen, wenn der akademische Bereich für ihn nicht interessant oder misserfolgsbelastet ist, und insoweit Kompensation, Komplement oder Korrektiv für das Leben in jenem. Die peergroup kann durch die ihr eigenen Verstärkungen insbesondere die proklamierten Bildungsziele der jeweiligen Hochschuleinheit unterstützen oder aber - offenbar häufiger konterkarieren und ebenso die individuelle Entwicklung oder Veränderung entweder
Vgl. dazu Haag 1971; Goffman 1972; Huber 1979; Krüger u.a. 1982
3 Das Lebenswelt-Konzept
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fördern und herausfordern oder hemmen. Die peer-groups setzen sich zwar je spezifisch mit der Umwelt der Hochschule auseinander, sind aber zugleich das Medium, in dem sich außerschulische Einflüsse allein schon durch die immer neuen Studentenjahrgänge, aber auch durch deren weitere Beziehungen zur weiteren Umwelt, am stärksten und am raschesten (auch als Veränderungsdruck auf die Hochschule selbst) durchsetzen. Es ist zu vermuten, dass unter den Rahmenbedingungen der Massenhochschulen in Deutschland die peer-group - weniger vielleicht die 'student-culture' im ganzen als vielmehr die Kleingruppen - solche Funktionen wahrnehmen" (Huber 1979, S. 43/44). Vor dem Hintergrund dieser Orientierung an Bezugsgruppen und der Interpretation des sozialen Kontextes unter dem Aspekt des Handelns können nun Grundannahmen formuliert werden, auf die eine Lebensweltanalyse zurückgreifen muss: Jeder Mensch lebt in einer Welt, die er prinzipiell für sinnvoll hält. Die Gültigkeit dieses Satzes wird auch durch ältere empirische Belege der Jugendforschung (vgl. Projektgruppe Jugendbüro 1977, Shell-Studie Jugend '81) bzw. Hochschulforschung (Heipcke u.a. 1981; Krüger u.a. 1982), wonach von vielen Jugendlichen und Studenten die Welt als sinnlos erlebt wird, nicht erschüttert. Als Ausweg aus der "Sinnkrise" konstituieren bzw. schließen sich Jugendliche und Studenten Subkulturen an, die sinnstiftende Funktionen übernehmen. Diese Subkulturen gliedern sich - was den Hochschulsektor betrifft - einerseits nach Lebensbereichen: "Akademische Arbeit, private soziale Beziehungen, politische oder kulturelle (inklusive sportliche Aktivitäten, andererseits nach Gruppierungen und Beziehungsnetzen, die sich teils nur innerhalb eines Bereichs ausbilden (z.B. kontinuierliche studentische Arbeitsgruppen in einem Fach oder primär fachliche Kontakte zwischen Student und Lehrkörper oder studentischen Korporationen und politischen Organisationen), teils mehrere Bereiche übergreifen (z.B. bestimmte Freundeskreise oder Wohngemeinschaften). Wie immer im einzelnen aufgefasst oder gegliedert werden mit solchen Konzepten Zusammenhänge von Tätigkeiten und Interaktionen, normativen Orientierungen und Umgangsformen erfasst, die wie Kulturen beschrieben werden können" (Huber 1979, S. 42). Welche Form der Organisation des eigenen Lebens auch immer gewählt wird, "sie muss als 'sinnvoll erlebbar sein, d.h. sie muss in übergreifende Sinnzusammenhänge eingebettet werden können, damit ein dauerhaftes motivationales Engagement aufgebaut werden kann" (Döbert/Nunner-Winkler 1975, S. 84). - Jeder Mensch geht davon aus, dass eine innere Verbindung zwischen seiner Biographie und seiner aktuellen Lebenssituation besteht. Die aktuelle Lebenssituation wird als kommunikabel gegenüber der Lebenssituation anderer Menschen verstanden.
72
II Theorieteil
Selbstverständlich sind diese Grundannahmen nicht ständig reflektierte Verständigungen, die der Mensch täglich für sich oder andere treffen würde. Sie können auch nicht als eindeutige Interpretationen und stringente Gewissheit gelten. Schließlich kann nicht übersehen werden, dass eine Verbindung dieser drei Grundannahmen nicht notwendig als eine konsistente erfahren wird. So ist es sehr wohl möglich, dass jemand seine Welt für außerordentlich sinnvoll hält, diesen Sinn aber nicht für vermittelbar hält. Diese Differenz wird sofort deutlich, wenn jemand etwas tut, was andere für völlig sinnlos, überraschend, unverständlich oder falsch halten. Das Beispiel von Verständigungsschwierigkeiten verweist auf eine weitere Grundannahme einer Lebensweltanalyse, wonach der soziale Kontext, in dem eine Person lebt, stets ein interpretativer Kontext ist. Der Mensch nimmt im Gegensatz zum Tier seine Umwelt nicht hin, sondern interpretiert sie, konstruiert sie, bearbeitet sie, verändert sie und wird selbst durch sie geprägt. Lebenswelt ist historisch-gesellschaftlicher Kontext und individueller Erfahrungsraum. In diesem Rahmen gewinnt die Interpretation des Individuums über seine Situation und sein Leben eine besondere Bedeutung, da mit dieser Interpretation Handlungszusammenhänge konstruiert werden, die als angemessene (subjektiv angemessene) Lösungen für den jeweiligen Kontext verstanden werden können. Lebenswelt ist der Kontext des Alltags, der sich als ein Vermittlungszusammenhang von persönlicher Biographie und sozial-strukturellen Bedingungen in ihrem historischgesellschaftlichen Kontext darstellt. Lebenswelt ist der soziale Kontext, in dem eine Person handelt, in der objektive Bedingungen subjektiv bedeutsam sind. Die Bedeutung der objektiven Welt, soweit sie das Individuum tatsächlich erfährt, ist allerdings nicht Ergebnis einer ungebrochenen Wahrnehmung gegenüber Objekten, sondern Ergebnis eines Sozialisationsprozesses. In diesem Prozess legt die "kommunikative Lebenspraxis" fest, was wann wie als wirklich angesehen werden kann. Die Entstehung sozialer Wirklichkeit ist als ein "interaktiv gesteuertes Reflexivwerden von Objektbeziehungen zu begreifen, das nach Mead in dem Maße voranschreitet, wie der Übergang von der sinnhaft gestenvermittelten zur symbolisch vermittelten Interaktion gelingt, also die Symbolisation das strukturtragende Merkmal für die Objektbeziehung bildet ... Objekte werden genau dann als symbolische konstituiert und wahrgenommen, wenn sie für etwas anderes stehen und mit Bedeutungsinhalten gefüllt sind, die über ihre unmittelbare Gegebenheit hinausweisen. Erst diese Form der Konstitution und Aneignung markiert einen Umgang mit Wirklichkeit, der als 'bewusster' (und weitergehend auch 'wertbezogener') bezeichnet werden kann ... Die Herausbildung eines derart reflexiven Verhältnisses, das seinerseits in verschiedenen Stufen bzw. Graden gedacht werden muss, bedeutet dabei zugleich eine reale Veränderung, denn mit der Durchbrechung der unmittelbaren Bedürfnisspannung werden die Objekte anders gesehen bzw. gehandhabt: Die durch die Symbolisation bewirkte Verknüpfung von 'Objekten' und 'Werten' schafft 'bislang noch nicht geschaffene Objekte, die außerhalb des Kontextes der gesellschaftlichen Beziehungen, in denen die Symbolisation erfolgt, nicht existieren würden', und es ist
3 Das Lebenswelt-Konzept
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somit nichts anderes als die Form der Symbolisation, die den empirischen Charakter der sozialen Welt bestimmt" (Bonß 1982, S. 43/44). Man kann davon ausgehen, dass die objektiven Bedingungen, unter denen Handeln zustande kommt, mehr sind als die subjektiven Einstellungen, die Interaktionspartner in eine konkrete Situation einbringen; objektive Bedingungen sind die gesellschaftlichen Formen, in denen sich menschliches Verhalten in Form von Arbeit, Interaktion und Sprache darstellt und in denen allein es zugelassen ist. Erfahrungen mit diesen begrenzenden Vorschriften hat jeder Mensch im Prozess der Sozialisation ebenso gemacht, wie sie ständig im Alltag gemacht werden. Sie als Begrenzung empfunden zu haben, ist Beweis für eine Reflexion über eben diese Begrenzungen. Das, was als Lebenswelt für einen Menschen erscheint und relevant wird in bezug auf sein Handeln und Denken, ist "über seine Biographie sowohl mit Traditionen wie mit anderen Biographien verknüpft, und zwar dadurch, dass sich 'meine Welt' überhaupt nur in Verschränkung mit anderen 'Welten', nur auf dem Wege über Interaktionen, nur als soziale Wirklichkeit konstituiert" (Mollenhauer 1972b, S. 35). Diese "meine Welt" lässt sich natürlich nicht nur in einer geschichtlichen Dimension "bis heute" sehen, sondern Lebenswelt ist der Kontext, in dem sinnvolles Handeln aus der Verknüpfung der historischen Entwicklung, der Interpretation des aktuellen Kontextes und der Antizipation künftiger Handlungen entsteht. Die Antizipation möglicher Handlungen impliziert eine Abgrenzung gegenüber Handlungen, die subjektiv weniger sinnvoll als andere erscheinen. Aus dieser Abgrenzung entsteht erst Gewissheit, "richtig" zu handeln. Lebenswelt ist also die Vermittlung der Dimension "bis heute", "jetzt" und "was sein könnte bzw. sein soll" und wird sichtbar in konkretem Handeln.
Übungsaufgabe 4 In welchen Dimensionen ist Lebenswelt "offen"? Erläutern Sie dies bitte anhand von Beispielen.
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3.2
II
Theorieteil
Methodologische Überlegungen
Zur Erläuterung der methodologischen Konsequenzen für eine Lebensweltanalyse greife ich - als Erweiterung zum bisher skizzierten Ansatz - auf Überlegungen der marxistischen Ideologiekritik zurück (Lukäcs 1967, Kosik 1967, Lefebvre 1972) und beziehe sie in das hier zugrunde gelegte Konzept der Lebensweltanalyse ein. In Absetzung bzw. Erweiterung von entfalteten Theorien für Alltagsbewusstsein als Grundlage von Lebensweltuntersuchungen, wie sie von phänomenologischen und existentialistischen Schulen entwickelt wurden, ist davon auszugehen, dass Bewusstsein kein Erfahrungs- oder Informationsdatum (oder deren Summe) ist, sondern eine gesellschaftliche Subjekt-Objekt-Beziehung ausdrückt. Bewusstsein kann also nicht von der gesellschaftlichen Lage der Individuen abstrahiert werden, die durch die historischen, materiellen, gesellschaftlichen Verhältnisse, durch die Strukturen des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses vorgegeben wird. Der Begriff der Lebenswelt fasst in diesem Sinne die Gesamtheit der für das Handeln eines Individuums tatsächlich bestimmenden objektiven Bedingungen in Zusammenhang mit der im Verlauf der biographischen Entwicklung herausgebildeten Art und Weise des Individuums, seine Tätigkeit mit diesem Zusammenhang zu vermitteln. Lebenswelt ist somit definiert als ein Ausschnitt des gesellschaftlichen Zusammenhangs, dem das Individuum angehört, der ihm als die seine Lebensäußerung bestimmende Gesamtheit zugänglich ist. Dabei darf jedoch Lebenswelt nicht auf die tatsächlich erfahrenen gesellschaftlichen Bedingungen reduziert werden. Auch außerhalb des individuellen Erfahrungsbereichs liegende Zusammenhänge können individuelle Bedeutung erlangen, sobald sie vermittelt dem Bewußtsein zugänglich werden. Im Begriff der Lebenswelt ist jedoch der gesellschaftliche Zusammenhang nur in dem Ausschnitt erfasst, wie er dem Individuum gegenüber erscheint. Über eine Analyse der Lebenswelt kann daher der Entstehungs- und Entwicklungszusammenhang, der den verschiedenen objektiven gesellschaftlichen Formen und Entscheidungen zugrunde liegt, nicht erfasst werden. Dies ermöglicht erst eine Analyse, die die Vermitteltheit der in der individuellen Lebenswelt erscheinenden gesellschaftlichen Bedingungen durch den Gesamtzusammenhang offen legt und von daher die empirische Lebensweltanalyse quasi gegenläufig theoretisch begründet. Über die Qualität von Lebenswelt-Untersuchungen und ihrer Ergebnisse entscheidet nicht die Perfektion des empirischen Instrumentariums, sondern die theoretische Klärung der gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen, in denen die Zuordnung und Auswertung der allgemeinen und besonderen Merkmale der sozialen Lage und des gesellschaftlichen Bewusstseins der Lebensweltangehörigen erfolgt. Gegenstand von lebensweltspezifischen Bewusstseinsuntersuchungen ist über die Analyse und Konstruktion gesellschaftlicher Beziehungen auf der Grundlage subjektiver Daten hinausgehend die Frage, in welcher Weise die Meinungen, Einstellungen, Interessen und das Verhal-
3 Das Lebenswelt-Konzept
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ten von Individuen einer bestimmten Lebenswelt sich gegenüber den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen und deren konkreten Erscheinungsformen artikulieren. Daraus folgt, dass es bei einer Lebensweltanalyse nicht nur um die Beschreibung und Nachzeichnung subjektiver Weltsichten der Erforschten, d.h. nicht nur um die authentische Rekonstruktion der subjektiven Repräsentation interaktiver und institutioneller Gegebenheiten geht. Lebensweltanalyse muss gleichermaßen die "außerhalb der unmittelbaren interaktiven Prozesse von Verständigung, Identitätserhalt und Wirklichkeitskonstruktion" (Arnold 1983, S. 902) bestimmbaren Strukturen objektiver gesellschaftlicher Realität, d.h. der "historisch-gesellschaftlich produzierten interaktions- und bewusstseinsformenden Bedingungen" (ebd.) erfassen. Theoretisch und methodologisch bedeutsam ist als Vermittlungsinstanz von objektiver gesellschaftlicher Realität und individuellem Handeln die Ebene der kollektiv geteilten, objektiven Bedeutungsstrukturen, also die jeweiligen sozialen Deutungsmuster und die von ihnen geleitete Praxis der gesellschaftlichen Subjekte. 4 "Von dieser Ebene lassen sich sowohl die Verbindungen bzw. der Zusammenhang zwischen dem jeweiligen 'materiellen Substrat' (den ökonomischen Strukturen) adäquat erfassen bzw. rekonstruieren, wie auch der Zusammenhang von sozialen Deutungsmustern, sekundären Symbolsystemen samt ihren normativ legitimatorischen Institutionalisierungen und Praxisformen und der je spezifischen lebensgeschichtlich unterschiedlich individuellen Konkretion, also den subjektiven Selbstdeutungen und Interpretationen, die für einen bestimmten Lebensbereich gültig sind" (Dewe u.a. 1979, S. 6). Die als Deutungsmuster 5 bezeichneten Sinninterpretationen lassen sich als Antworten auf objektive gesellschaftliche Problemlagen begreifen, die auf die Gesellschaftsmitglieder einen Deutungszwang ausüben (oder als "gelungene" Akte der Erziehung durch Elternhaus, Schule, Medien, als Antworten auf kollektive Repressionen etc.). "Sie integrieren theoretisch rekonstruierbare objektive Inkonsistenzen in den Organisationsprinzi-
Aus diesen Überlegungen folgt, dass soziale Deutungsmuster sich weder beliebig funktionalisieren lassen noch schlichtes Abbild ökonomischer Verhältnisse sind. Auf jeder gesellschaftlichen Entwicklungsstufe gibt es einen inneren strukturellen Kern von kollektiven Sinninterpretationen, der nicht ohne weiteres manipulierbar ist, sondern von dem es vielmehr (mit) abhängt, in welcher Richtung sozialstrukturelle Faktoren wirksam werden können (Dewe u.a. 1979, S. 7). Eine differenzierte Analyse des Deutungsmusteransatzes legt Arnold (1983) vor. Er setzt sich in seinem Aufsatz mit folgenden Fragen auseinander. "Was sind Deutungsmuster? Durch welche Bedeutungselemente ist dieser Begriff bestimmt?... Welchen metatheoretischen Konzeptionen ist der Deutungsmusteransatz verbunden?... Welche methodologischen Konsequenzen ergeben sich aus dem Deutungsmusteransatz und welchen spezifischen Erkenntnisgewinn ermöglichen Deutungsmusteranalysen gegenüber anderen Formen der Bewusstseinsanalyse? ..." (S. 894).
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II Theorieteil
pien einer Gesellschaft in einen subjektiv konsistenten Sinnzusammenhang, der eine Thematisierung gerade dieser Widersprüche verhindert" (Allert 1976, S. 23). Für eine Lebensweltanalyse lassen sich aus diesen Überlegungen folgende zentrale Forschungsfragen ableiten: 1.
Wie vermitteln sich objektive gesellschaftliche Bedingungen (Zustände) in den subjektiven Äußerungen von Individuen?
2.
Lassen sich Brüche und Inkonsistenzen in diesen Äußerungen entdecken?
3. Verbindet sich in Deutungsmustern tatsächlich subjektive Verarbeitung mit objektiver Struktur? Wenn ja, nach welchen Transformationsregeln können diese Zusammenhänge aufgedeckt werden? Was den ersten Punkt betrifft, so ist davon auszugehen, dass sowohl die subjektiven Interpretationen eines Individuums die objektiven Gegebenheiten, als auch umgekehrt die objektiven Gegebenheiten die Deutungen bedingen. Der Konstitutionsprozess sozialer Realität lässt sich somit als ein interdependenter Wechselwirkungsprozess zwischen Alltagshandelndem und objektiver Realität begreifen (vgl. dazu Koeck 1976, S. 272). Die Reflexion auf die objektiven Bedingungen und Strukturen ist nötig, denn nur so ist eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, Schein, Täuschung, Illusion etc. möglich. Damit wende ich mich gegen den Wahrheitsrelativismus bzw. gegen die "ethnomethodologische Indifferenz" ethnomethodologischer Forschungsprogramme, wonach einerseits der "eigensinnige Charakter" der sozialen Realität als durch gleichsinnige Handlungen der Individuen hergestellt begriffen wird, und andererseits subjektive Wirklichkeitsentwürfe sowie gesellschaftliche Normen und Regeln als gleichberechtigt und gleichermaßen gültig behandelt werden. Jeder subjektive Konstitutionsprozess hat eine in der Regel "indexikale", d.h. mehrdeutige Grundlage. Die Auflösung der objektiven Basis des subjektiven Konstitutionsprozesses im Begriff der "Vollzugswirklichkeit" (Garfinkel/Sacks 1976) beraubt die ethnomethodologische Forschungsrichtung eines Korrektivs, an dem die Adäquatheit subjektiver Wirklichkeitsentwürfe, die Wahrheit und Richtigkeit gesellschaftlich gültiger Normen und Regeln überprüft werden kann. Die Überprüfung der Wahrheit von Wirklichkeitskonstruktionen bedeutet aber, dass es eine objektive Realität gibt, an der sich die Angemessenheit subjektiver Wirklichkeitsentwürfe feststellen lässt6. Daraus ziehe ich in Anlehnung an Koeck (1976) die Konsequenz, dass jede Wirklichkeitskonstruktion dialektisch aufgefasst werden muss:
6
Dieses Problem (der Angabe von Kriterien ffir 'objektive Realität') wird weiter unten im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem Konzept der "objektiven Hermeneutik" ausfuhrlich thematisiert.
3 Das Lebenswelt-Konzept
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"Das Individuum konstituiert nicht nur im Sinne Garfinkeis die objektiven Gegebenheiten, sondern die objektiven Gegebenheiten - mögen sie auch indexikal sein - bedingen zugleich die Interpretationen. Es wäre eine idealistische Verkürzung der Wirklichkeitskonstruktion, wenn nur der konstitutive Einfluss des Subjekts bzw. eine realistischmaterialistische Verzerrung, wenn nur der konstitutive Einfluss des Objekts betont würde" (Koeck 1976, S. 270). Bezogen auf die in Punkt 2 angesprochenen Inkonsistenzen und Brüche in den subjektiven Interpretationen von Individuen könnten die folgenden Hypothesen geprüft werden: Ein relativ stark ausgeprägter Organisationsgrad auf nahezu allen Lebensbereichen scheint - in unserer Gesellschaft - im Widerspruch zu einem Lebensziel zu stehen, das sich diesem Organisationsgrad potentiell widersetzen kann. Dieses Lebensziel - als Erziehungsziel oder als soziologisches Denkkonstrukt formuliert - heißt individuelle Autonomie. Unter der Voraussetzung, dass hohe Organisation und Funktionalität mögliche Formen individueller Abweichung durch wirksame Kontrollmechanismen verhindern, müsste sich individuelle Autonomie als Kritik, partielles oder totales Ausweichen gegenüber diesen Kontrollen erweisen, solange nicht eine Übereinstimmung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Normen und Werten unterstellt wird Die Lebenswelt eines Menschen scheint gerade durch diese Spannung von Kontrolle und Individualität gekennzeichnet zu sein. Das heute vertretene Modell der Individualität scheint diese Spannung dadurch aufheben zu wollen, dass die Lebenswelt in zwei relativ abgeschlossene Bereiche aufgeteilt wird: In den Bereich des öffentlichen Handelns und den Bereich der privaten Selbstverwirklichung. Die Vorstellung von der Eigenständigkeit einer "Privatsphäre" übersieht allerdings, dass Selbstverwirklichung in der Privatheit nur deshalb gesucht wird, weil Entfremdungsprozesse dies in der Arbeitsund Berufswelt verhindern. Diese Entfremdungsprozesse der Arbeits- und Berufswelt wirken jedoch gleichzeitig inhaltlich in den Bereich der Privatheit hinein. Die Rückwirkung der Abspaltung des privaten vom öffentlichen Bereich hat einen doppelten Aspekt: Kritische Prozesse gesellschaftlicher Öffentlichkeit können in den privaten Bereich abgedrängt werden. Dadurch wird diese Kritik neutralisiert, und mögliche Veränderungen werden verhindert. Ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Anpassung wäre die Folge. Gleichzeitig könnte der private Bereich aber auch Lebensformen antizipieren und realisieren, die als Alternativen Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Bereich haben. Im privaten Bereich könnte somit sogar ein Konfliktpotential für gesellschaftliche Öffentlichkeit entstehen. Zu dem in Punkt 3 angesprochenen Problem, nach welchen Transformationsregeln die subjektive Verarbeitung objektiver Struktur aufgedeckt werden kann, ist hier folgendes anzumerken: Die Lebenswelt eines Individuums erscheint ihm selbst als fertig in Form des ihm gegenüberstehenden materiellen, dinghaften Seins. Sofern sein Bewusstsein "lediglich" auf unmittelbar erlebte Interaktions- und Bezugsformen fußt, muss unterstellt werden, dass die Erfahrung und das Bewusstsein eines mit sich selbst identischen
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II Theorieleil
Individuums immer auch "falsches" Bewusstsein sein kann. Damit wird das Problem der "biographischen Sperrigkeit" aufgeworfen: "Biographie als subjektive Aneignung der objektiven Realität sperrt sich zunächst als individuell vollzogene Rezeption und Konstruktion von historischer Erfahrung gegen deren Verallgemeinerung in einem Begriff von objektiven gesellschaftlichen Prozessen und gibt doch gleichermaßen die Folie ab, über die geschichtliche Entwicklungen zu organisieren wären, sollten Blockierungen im Bewusstsein aufgehoben werden" (Mahnkopf 1978, S. 98). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie solche "Sperren" aufgearbeitet werden können, in welcher Beziehung sie zu Handlungsstrategien, Strategien der Krisenbewältigung (aufgrund von Identitätserschütterungen) und Deutungsmustern stehen, ob es durch die Aufdeckung von "Sperren" zu einer Verbesserung des Bezugs zur konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit kommt, ob dadurch die emotionale Handlungsbereitschaft des Individuums so verändert werden kann, "dass es nicht im Zustand der Abhängigkeit gegenüber den vorgegebenen Lebensbedingungen verbleibt, sondern durch die bewusste Teilhabe am gesellschaftlichen Entwicklungsprozess ... Einfluss auf die eigenen Lebensbedingungen zu gewinnen sucht" (Holzkamp/Osterkamp 1976, S. 449). Es geht bei Lebensweltanalysen - so kann resümiert werden - um das möglichst weitgehende Hereinholen zu untersuchender Wirklichkeit in den Forschungsprozess bei gleichzeitiger Bewahrung des in ihr sinnhaft gegebenen Konstitutionszusammenhangs. Dabei wird unterstellt, dass die Alltagshandelnden über die Kompetenz verfugen, die Motive, Absichten und Ziele ihrer Handlungen im differenzierten Vokabular der Alltagssprache zu benennen sowie die Fähigkeit besitzen, Ziele zur Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse zu formulieren. Ein Ziel kommunikativer Forschung bestände darin, an diesen Erfahrungen und Fähigkeiten anzuknüpfen und den Betroffenen im Vollzug des Forschungsprozesses auf der Ebene eines kooperativen Dialogs zunehmend die Kompetenz gesellschaftstheoretischer Erklärung zu vermitteln. Kenntnisse über objektive Bedingungen und Strukturen, unter denen die Betroffenen handeln, wären also induktiv zu ermitteln, d.h. erst am Ende eines langandauernden dialogischen und gegebenenfalls therapeutischen Prozesses zu erreichen. Damit aber wird der Übergang zur Handlungs- oder Aktionsforschung fließend, wie im folgenden Kapitel dargestellt werden soll.
4 Die Aktionsforschung
4
Die Aktionsforschung
4.1
Programmatik von Aktionsforschung
4.1.1
Erkenntnisprozess in einem Herstellungsprozess
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Aktionsforschung ("action research") versteht sich als ein von klassisch-empirischer Sozialforschung sich distanzierender sozialwissenschaftlicher Forschungsansatz, in dem die Fragen nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, Theorie und Empirie sowie der Interaktion von Forscher und Erforschten neu aufgeworfen werden. Die theoretischen und methodologischen Wurzeln, auf die der "Aufbruch in den Sozialwissenschaften" und damit der Ursprung des Aktionsforschungsansatzes zurückzufuhren sind, sind zunächst zu suchen "im Umfeld der interaktionistisch orientierten amerikanischenglischen Human-Relations-Bewegung der 40er und 50er Jahre. Ausnahmslos alle Aktionsforscher berufen sich auf Lewin, von dem auch der Name für den neuen Forschungsansatz stammt" (Radtke 1979a, S. 75 f.). Eine zweite kritische Linie findet sich in der - im Kontext der Studentenbewegung aktualisierten - Auseinandersetzung zwischen Kritischem Rationalismus (Popper, Albert) und Kritischer Theorie (Adorno, Habermas) - bekannt geworden als Positivismusstreit. Als Reaktion auf das Praxis-Defizit der Kritischen Theorie konstituierte sich die Aktionsforschung mit dem Anspruch, Praxisrelevanz und kritische Intentionen zu verbinden sowie empirische Forschung als eingreifende Praxis zu entwerfen. W. Klafki (1976) charakterisiert diesen Forschungsansatz wie folgt: Aktionsforschung "ist in ihrem Erkenntnisinteresse und damit ihren Fragestellungen von Anfang an auf gesellschaftliche bzw. auf pädagogische Praxis bezogen, sie will der Lösung gesellschaftlicher bzw. praktisch-pädagogischer Probleme dienen." Aktionsforschung "vollzieht sich in direktem Zusammenhang mit den jeweiligen praktischen Lösungsversuchen, denen sie dienen will; sie greift als Forschung unmittelbar und nicht erst nach vollzogenem Forschungsprozess, als sog. 'Anwendung' der Forschungsergebnisse - in die Praxis ein, und sie muss sich daher auf Rückwirkungen aus dieser von ihr selbst mitbeeinflussten Praxis auf die Fragestellungen und Forschungsmethoden im Forschungsprozess selbst - und nicht erst in der abschließenden Auswertungsphase im Hinblick auf zukünftige Forschung - offen halten." Aktionsforschung "hebt in irgendeinem Grade bewusst und gezielt die Scheidung zwischen Forschern auf der einen und Praktikern in dem betreffenden Aktionsfeld ... auf der anderen Seite auf zugunsten eines möglichst direkten Zusammenwirkens von Forschern und Praktikern im Handlungs- und Forschungsprozess" (Klafki 1976, S. 60).7
Klafki spricht von Handlungsforschung; ich verwende im folgenden den synonymen, aber geläufigeren Begriff der Aktionsforschung.
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II Theorieteil
Aktionsforschung zielt - im Gegensatz zu anderen qualitativen Forschungsansätzen nicht nur auf die Rekonstruktion lebensweltspezifischer Sinnorientierungen ab, sondern sie will "- gemäß der Unterstellung, dass solche Orientierungen gesellschaftlich erzeugt sind - durch den Forschungsprozess bewirken, dass gegebene (vorgefundene) Orientierungen revidiert werden. Sie will Praxis ändern, und zwar so, dass diese Änderung von den Praktikern gewollt wird" (Mollenhauer 1972a, S. 15). Diese Praxisveränderung durch Forschung kann nur dadurch geschehen, dass die Forschungsobjekte zur Selbstreflexion ihrer Sinnorientierungen angeleitet werden. Dieser Vorgang kann als Aufklärung beschrieben werden, "wobei der Forscher über die Sinngrenzen seiner theoretischen Vorentwürfe, der Praktiker über Möglichkeiten, Sinnorientierung zu erklären, Alternativen theoretisch zu denken, aufgeklärt wird" (ebd., S. 16). Handlungsrelevant wird ein solches Verfahren dadurch, "dass auf diese Weise Alternativen möglich, im glücklichen Fall als konkret sichtbar erscheinen. Die daran sich möglicherweise anschließende Praxis von Neuorientierung und Handlungsentwurf, Handlungsdurchfuhrung, stellt einen neuen Fall etablierten Sinnhorizontes dar" (ebd.). Der Anspruch von Aktionsforschung besteht - so kann mit einem kursorischen Blick über die Diskussion dieses Forschungsansatzes seit Anfang der 70er Jahre resümiert werden (vgl. Heinze 19953) - darin, Forschung als praktischen Veränderungsprozess zu organisieren und sie als gesellschaftliches Handeln zu verstehen, dessen Verlauf und Ziele über die ständige Rückkoppelung von Forschungsfragestellungen mit praktischer Erfahrung konkretisert werden. Forscher und Erforschte verständigen sich gemeinsam über die Angemessenheit theoretischer (untersuchungsleitender) Fragestellungen, reflektieren gemeinsam Möglichkeiten und Formen intervenierender Praxistätigkeit. Das heißt, dass sich einerseits die Forscher bemühen, die Common-Sense-Konstrukte der Erforschten zu erfahren und kritisch aufzuarbeiten sowie andererseits die Erforschten lernen, die theoretischen Konstrukte der Forscher auf ihre Praxis zu beziehen und aus ihnen handlungspraktische Konsequenzen abzuleiten. Aktionsforscher bringen ihrerseits ein System von Bedeutungs- und Relevanzstrukturen mit, das ihre Beobachtungen und Aufmerksamkeit, ihre Interpretationen von der in ihrem Gesichtsfeld befindlichen Objektwelt bestimmt. Diese ihre theoretischen Voreinstellungen sehen Aktionsforscher nicht als etwas Absolutes an, sondern "als ob" Common-Sense-Konstrukte, die im Handlungsfeld mit den Untersuchten kommunikativ validiert werden. Nur so aber bleiben die theoretischen Konstrukte im Zusammenhang von Alltagswissen und Alltagshandeln wirklich interpretierbar. Die im Kontext von Aktionsforschung gewonnenen Erkenntnisse, die sogenannten "aktionsgenerierten Daten" (Ritsert 1975), entstehen als Erfahrungen in den Köpfen von Forschern und Erforschten, sie bezeichnen den Prozess der Kooperation und den "Produktionsprozess" des aus ihm hervorgegangenen "Ereignisses". Aus der gemeinsamen Reflexion dieser Daten, z.B. durch kommunikative Rekonstruktion von Abläufen, werden "Neueinschätzungen der Situation möglich, die sowohl theoretische wie praktische Bedeutung haben" (Radtke 1979a, S. 97). Daraus folgt die Entwicklung eines für diesen
4 Die Aktionsforschung
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Zweck besonders geeigneten Verfahrens der "kommunikativen Datenermittlung", das auf eine Erkenntnisform abzielt, "die das Produkt der Interaktion zwischen Beobachtern und Beobachteten ist" (ebd.). Wesentlich dabei ist, dass es gelingt, ein Vermittlungsverfahren zu entwickeln, bei dem alltagstheoretische Deutungen 8 (von Erforschten und Forschern) und wissenschaftliche Deutungen folgenreich - im Sinne handlungspraktischer Konsequenzen - aufeinander bezogen werden können. Für den Forschungsprozess bedeutet dies, dass einerseits die auf strukturelles Wissen abhebenden wissenschaftlichen Theorien (der Forscher) das Alltagswissen (der Erforschten) zu erweitern und zu relativieren, während andererseits die Komplexität und Konkretion des Alltagswissens das wissenschaftliche Wissen zu korrigieren und zu komplettieren haben. Dieser Austauschprozess als Reflexionsprozess auf die wechselseitigen Denk- und Erkenntnisvoraussetzungen muss während des Gesprächs zwischen Forschern und Erforschten stattfinden. "Das Gespräch ist der Prozess der kommunikativen Datengewinnung und der intersubjektiven Validierung" (Radtke 1979c, S. 4). Der Einwand, der Forscher könne dabei zu vorschneller Deutung und letztlich zur Überwältigung der Erforschten neigen, ist ein nicht zu unterschätzendes Problem der Praxis von Aktionsforschung. "Eine wirksame Sperre gegen vorschnelle, weil verunsichernde, gegen falsche, weil abgehobene Deutungen, ist die Notwendigkeit der Praktiker zu handeln. Wenn es gilt, deren Handlungsräume zu erweitern, dann ist das Kriterium einer gelungen Einigung auf eine gemeinsame Realitätsdeutung die Möglichkeit der Veränderung von Situationen. Erst in der Aktion erweist sich letztlich die Tragfähigkeit einer Deutung. Da es aber die Praktiker sind, die handeln, Handlungen durchstehen und verantworten müssen, wird hier ihr Interesse und ihre Kompetenz gegen allzu idealistisch abgehobene Entwürfe wirksam" (ebd.). Die eigentlichen Schwierigkeiten der Aktionsforschung - und zwar auf methodologischer und praktischer Ebene - stellen sich bei dem Wie der Neuzuordnung von Handlung und Forschung (Analyse). Relativ präzise lautet die Programmatik von Aktionsforschung: "Damit verändert sich die Forschung von Grund auf. Forschung ist hier als Strukturierungsleistung in den Kommunikationsprozess über Arbeits- und Lernprozesse praktisch eingebunden. Aktionsforschung wird zu einem Erkenntnisprozess in einem Herstellungsprozess" (Haag u.a. 1972, S. 43). Die Strukturierungsleistung und Funktionalität von Aktionsforschung bestehen darin, sich zu vergewissern, dass es nicht Aufga-
Unter alltagstheoretischen Deutungen verstehe ich die "Theorien", in denen die Angehörigen einer spezifischen Lebenswelt ihre Wirklichkeit (Lebens- und Arbeitswelt) interpretieren. Sie enthalten ein konsistentes Gefuge von Interpretationsregeln, die ihrer eigenen Logik gemäß die Erfahrungen der Subjekte zu einer für die Subjekte sinnvollen, ihre Relevanzbereiche bestimmenden Wirklichkeit ordnen. Ebenso wie wissenschaftliche Aussagesysteme bestehen alltagstheoretische Deutungen aus Argumentationszusammenhängen mit eigenen Kriterien der Gültigkeit und der Angemessenheit der Aussagen über die Wirklichkeit. Erkenntnislogisch gibt es m.E. keine prinzipielle Differenz zwischen alltagstheoretischen Deutungen und wissenschaftlichen Theorien über die Wirklichkeit.
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II Theorieteil
be der Forscher ist, ihr theoretisches Wissen den Praktikern als "richtig" aufzustülpen, sondern in der Erkenntnis, dass sich "richtiges" Wissen am erfolgreichen Handeln erweisen muss. Will Aktionsforschung als Forschungsmethode ernstgenommen werden, muss sie den Beweis antreten, dass sie eine "Synthese aus dialogischer Erkenntnisproduktion und praktischer Umsetzung der gemeinsam erworbenen Erkenntnisse" (Eberling/Wiese 1981, S. 564) herzustellen vermag. Mit anderen Worten: Die Legitimation von Aktionsforschung bemisst sich an der Frage, ob es ihr gelingt, den Lern-/Erkenntnisprozess des Forschers als veränderndes Moment in das Handeln der Erforschten zurückzuvermitteln oder nicht.
4.2
Methodologischer Kontext von Aktionsforschung
Methodologischer Bezugsrahmen für Aktionsforschung als spezifische Variante von Feldforschung ist der sog. "symbolische Interaktionismus" (Blumer 1973). Die methodologischen Implikationen der symbolisch-interaktionistischen Betrachtungsweise menschlichen Zusammenlebens und sozialen Handelns können unter die folgenden theoretischen Annahmen subsumiert werden: Menschen sind, individuell und kollektiv, darauf ausgerichtet, auf der Grundlage der Bedeutungen der Objekte zu handeln, die ihre Welt ausmachen. Der Zusammenschluss der Menschen erfolgt notwendigerweise in der Form eines Prozesses, in dessen Verlauf sie sich gegenseitig etwas anzeigen und das Anzeigen der jeweils anderen interpretieren. Soziale Handlungen sind, gleichgültig, ob sie individueller oder kollektiver Art sind, in einen Prozess integriert, in dem Handelnde die ihnen begegnenden Situationen wahrnehmen, interpretieren und einschätzen. Die komplexen Verkettungen von Handlungen, die Organisationen, Institutionen, Arbeitsteile und Netzwerke gegenseitiger Abhängigkeit charakterisieren, sind dynamische, d.h. nicht statische Phänomene. Die zuletzt genannte theoretische Annahme verdient hier besondere Beachtung, denn gesellschaftliche Organisationen werden als Anordnungen von Personen betrachtet, die in ihren jeweiligen Handlungen miteinander verkettet sind. Interdependenzen bestehen zwischen Handlungen von Personen, die in unterschiedlichen hierarchischen Positionen der Organisation tätig sind. Erklärungen für die Aktivitäten einer Organisation bzw. der Organisationsakteure werden gesucht in der Art und Weise, wie die Akteure die Situationen in ihren jeweiligen Positionen definieren, interpretieren und mit ihnen umgehen.
4 Die Aktionsforschung
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Die Situationsdefinitionen der am Forschungsprozess beteiligten Akteure, d.h. die in ihrer natürlichen Sprache gegebenen Eigeninterpretationen, sind Ausgangspunkt und wesentlicher Bestandteil der Analyse. Dies hat zur Konsequenz, dass die Aktionsforscher als Feldforscher am Berufsalltag der Akteure teilnehmen, um den Zusammenhang zwischen Bewusstsein und Handeln im Berufsalltag erfahren zu können. Die Selbstinterpretationen der beteiligten Akteure werden in diesem Zusammenhang erweitert um das Erfassen und Aufdecken der Selbstverständlichkeiten im beruflichen Alltagsgeschehen, d.h. um die unreflektierten, unhinterfragt angewandten Regeln und Rezepte, die das alltägliche Berufsleben mit konstituieren. Aktionsforschung als empirische Feldforschung wird als eine alltägliche Situation eigener Art und als ein komplexer Sozialprozess verstanden. Dies impliziert eine Reihe von Konsequenzen, z.B. dass die Hypothesen im Feld nicht vor der Untersuchung endgültig formuliert werden, sondern in der Kommunikation mit den beteiligten Akteuren entstehen und der Veränderung aufgrund neuer Erfahrungen und Einsichten in den beruflichen Alltag unterliegen. Dadurch ist die Untersuchung unerwarteten Erkenntnisprozessen gegenüber offen; die Wahl der Untersuchungsschritte und Untersuchungsmethoden wird von der spezifischen Situation mitbestimmt. Die Handlungsmomente, die aus der untersuchungsbezogenen Kommunikation mit den beteiligten Akteuren im Berufsalltag entstehen, werden bewusst aufgegriffen als Grundlage für soziale Interventionsstrategien. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass Elemente von Aktionsforschung den Erkenntnisprozess über den sozialen und kommunikativen Kontext der beruflichen Lebenswelt der Akteure zu fördern vermögen. Die Untersuchungstätigkeit wird - wie bereits skizziert - als ein allmählicher Zielfindungs- und Zielkonkretisierungsprozess, als eine Entwicklung von der Unwissenheit oder einer wenig informierten Position zu einer größeren und genaueren Bewusstheit über die Bestimmung dessen, was für die Akteure einer Organisation relevant ist, verstanden. In Analogie zu Blumer (1973) sind in der "Exploration" und "Inspektion" wesentliche Etappen des Aktionsforschungsprozesses zu sehen. Typisch für die explorative Phase des Aktionsforschungsprozesses ist eine flexible Vorgehensweise des Forschers im Hinblick auf die Verwendung von Untersuchungsmethoden zur Gewinnung möglichst reichhaltiger Erkenntnisse über die Handlungsabläufe oder die Berichte über Handlungen in ihrem situativen und sinnhaften Kontext. Weiterhin typisch für diese Phase ist eine relative Breite und Unstrukturiertheit des theoretischen Vorverständnisses des Forschers, das im Verlaufe des Forschungsprozesses zunehmend eingeengt und gleichzeitig differenziert wird. Ziel der Exploration ist eine Konkretisierung von Forschungsfragen und Forschungsmethoden aufgrund von Erfahrungen, die in einem ersten Zugang im Feld ermittelt worden sind. Mit "Inspektion" ist die Phase der Systematisierung und Strukturierung der im Feld gewonnenen Erfahrungen und Ergebnisse gemeint. Inspektion impliziert für den Forscher ein periodisches Verlassen des Forschungsfeldes mit dem Ziel der Rekonstruktion und
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// Theorieteil
Reflexion seiner Rolle sowie der Richtung, in die seine Forschung sich bewegt. Inspektion steht in unmittelbarem, wechselseitigem und prozessualem Zusammenhang zur Exploration. Inspektion meint nicht die abschließende Phase der Auswertung eines Forschungsvorhabens, sie ist vielmehr Vorläufer der abschließenden Berichterstattung. Diese abschließende Analyse und Auswertung gründet sich demnach auf die einzelnen Inspektionen des Forschungsprojekts. Die jeweils vorgenommene Inspektion strukturiert, bestimmt und entwickelt sukzessiv die einzelnen Etappen des Forschungsprozesses. Obwohl Feld- und Aktionsforschung durchaus vergleichbar sind in dem Sinne, dass es sich bei beiden Forschungstypen um einen zunehmenden Zielfindungs- und Zielkonkretisierungsprozess handelt, gehen Feld- und Aktionsforschung von einem jeweils anderen Verständnis von Exploration aus. Während Exploration im Kontext von Feldforschung primär und programmatisch als ein Informationsprozess zu verstehen ist, dessen Daten in einer späteren Phase der Inspektion differenziert und von den Forschern allein aufgearbeitet werden, handelt es sich bei der Exploration in einem Aktionsforschungsprojekt um einen Informations- und Interventionsprozess, bei dem gemeinsam mit den beteiligten Akteuren auf der Ebene diskursiver Verständigung über Untersuchungsziele, Untersuchungsmethoden und Untersuchungsergebnisse alternative Handlungsstrategien zunächst entwickelt und dann (gegebenenfalls) verwirklicht werden. Der Prozess des "kooperierenden Dialogs" zwischen Forschern und beteiligten Akteuren hat damit sowohl explorative als auch reflektorische Momente. Exploration im Kontext von Aktionsforschung bedeutet, dass man voraussetzungsarm keineswegs aber voraussetzungslos, d.h. theorielos, Forschung betreibt. Die Theorien werden im Forschungsvollzug expliziter, differenzierter und phänomenadäquater. Gemäß dieser methodologischen Prämissen erfährt das traditionelle Instrumentarium empirischer Sozialforschung im Kontext von Aktionsforschung eine neue Gewichtung und teilweise Modifikation. Oberster Leitsatz ist die weitestmögliche Integration unterschiedlicher Methoden. Es soll das soziale Erkenntnisvermögen von der sinnlichen Anschauung bis zur gesellschaftstheoretischen Reflexion einbezogen werden. Eine Veränderung gegenüber herkömmlicher empirischer Sozialforschung erfolgt im Hinblick auf eine Relativierung quantifizierender Methoden. Messdaten, die notwendig und sinnvoll erhoben werden, werden systematisch in die qualitativen Interpretationen der mittels sog. offener und kommunikativer Methoden erhobenen Daten integriert. Ziel von Aktionsforschung muss der Versuch sein, qualitative und quantitative Datengruppen und Untersuchungsinstrumente in eine systematische Beziehung zu setzen. Damit kann der Gefahr entgegengewirkt werden, wie sie mit der Beschränkung von einem Typus von Aussagen, Messen oder Interpretieren, verbunden ist, nämlich der Tendenz zu unkontrollierbaren Konstruktionen und Spekulationen.
4 Die A ktionsforschung
4.3
8 5
Historischer Rückblick und Resümee der Auseinandersetzung
Charakteristisch für die Situation von Aktionsforschung bis Mitte der 70er Jahre war eine Aufspaltung von Theorie und Praxis, die zugleich zu einer Idealisierung dieser Forschungsmethode führte. Die auf wissenschaftstheoretischer und methodologischer Ebene geführte Diskussion war aus zwei Gründen abstrakt und prinzipiell: Einerseits beinhalteten die Postulate von Aktionsforschung eine Kampfansage an die etablierten empirischen Wissenschaften, zum anderen gab es zu dieser Zeit nur wenige methodische Erfahrungen aus der Praxis. Eine Idealisierung von Aktionsforschung ist ferner mit der Postulierung des "kooperativen Dialogs" hervorgerufen worden. Unter Absehung von gesellschaftlichen Bedingungen wird - gemäß dem Anspruch dieses Dialogs - ein weiter Bereich herrschaftsfreier Kommunikation unterstellt, während sich die gesellschaftliche Wirklichkeit durch Bürokratisierung und hierarchische Kommunikation sowie die Aufrechterhaltung von Macht auszeichnet. Kritiker der Aktionsforschung setzen an dieser Stelle zu Recht mit ihren Fragen an. Es wäre eine Idealisierung der Diskursmöglichkeit anzunehmen, Machtstrukturen in Institutionen und Organisationen könnten mit einigem guten Willen wegdiskutiert werden. Aktionsforscher, die glauben, dass Methodenpostulate sich jederzeit realisieren lassen, ohne dass die jeweiligen Bedingungen des sozialen Feldes, in das der Forschungsprozess eingebettet ist, berücksichtigt werden, müssen sich die gleiche Kritik gefallen lassen wie positivistische Methodologen, die - ebenfalls den sozialen Kontext von Forschung aussparend - eine reine Objektwelt als Untersuchungsgegenstand postulieren. Die Frage, welche Möglichkeiten es gäbe, um das Forschungsobjekt ebenfalls als Forschungssubjekt zu sehen, insbesondere aber die Frage nach einer Veränderung gesellschaftlicher Praxis, lässt sich nicht so einfach beantworten, wie es in manchen Programmen von Aktionsforschung der "ersten Stunde" dargestellt wird. Zunächst einmal sind zwei Ebenen zu unterscheiden: die Veränderung der Forschungspraxis einerseits (mit dem Ziel, die Objektrolle der erforscht werdenden in eine Subjektrolle zu überführen) und die Veränderung gesellschaftlicher Praxis im Hinblick auf eine zunehmende Subjektwerdung der Betroffenen andererseits. Aktionsforschung bemüht sich, beide Ebenen "auszuschöpfen". Sie bricht mit dem Handlungs- und Kommunikationsverbot objektivistischer Forschung, indem sie den "kooperativen Dialog" zwischen forschenden und erforscht werdenden Subjekten zu etablieren versucht. Darüber hinaus stellt Aktionsforschung Ressourcen für eine Veränderung von Praxis bereit. Es lassen sich drei Phasen unterscheiden, die zugleich den Prozess der "Subjektwerdung" im Kontext der Forschungspraxis und der gesellschaftlichen Praxis beschreiben: (1) Die Phase der Aufklärung und der kognitiven Bewusstmachung der gesellschaftlichen Situation von forschenden und erforscht werdenden Subjekten - Festlegung gemeinsamer Ziele - affektiver Abbau verinnerlichter Rollenvorstellungen in Form von Rollenwechsel: Praktiker als Forscher.
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II Theorieteil
(2) Solidarisierung: Erfahrung von Praktikern, dass durch Teambildung, d.h. durch Erhöhung des Organisierungsgrades, die Chancen steigen, Einfluss auf Entscheidungen der Bürokratie zu nehmen bzw. eigene Interessen durchzusetzen. (3) Die Forschung selbst verfügt über Ressourcen: Publikationsmedien, Öffentlichkeit, Lobby etc. Sie sichert teilweise über diese Ressourcen die Veränderungsbemühungen der Praktiker ab. Was die Ebene der Forschungspraxis betrifft, so wird von den Kritikern der Aktionsforschung gefragt, ob nicht der Wissenschaftler, der das Forschungsobjekt zum Forschungssubjekt erhebt, letztlich der Überlegene ist, der immer mehr Information über das "Subjekt" seiner Forschung besitzt als dieses über sich selbst. Könne dies nicht dazu fuhren, dass der Handlungsteil der Aktionsforschung eindeutig dominiert, dass es "not reflection, but action" oder "more action than research" wird? Diese Gefahr muss zwar gesehen werden, kann aber nicht als Argument gegen Aktionsforschung verwendet werden. Um eine solche Situation zu verhindern, ist es notwendig, dass zu Beginn der Kooperation eine ehrliche und offene Auseinandersetzung um die Ziele und Inhalte jeweiliger Projektvorhaben zwischen Wissenschaftlern und Praktikern stattfindet. Es ist deutlich zu machen, welche Kompetenzen und Interessen Wissenschaftler und Praktiker in den "praxisorientierten Diskurs" 9 einbringen. Nur so ist es möglich, dass die qua Sozialisation und Rollenverteilung gegebenen Unterschiede (Wissen, Erfahrung, Reflexion) allmählich abgebaut werden können: dass Praktiker lernen, theoretische Kategorien auf ihre Praxis zu beziehen, und Wissenschaftler lernen, die Komplexität und Reichhaltigkeit von Praxisphänomenen zu würdigen sowie Praktiker bei der Bewältigung ihrer Probleme unterstützen. Dieses Modell einer "diskursiven Untersuchungsstrategie" hat für die Aktionsforschung zur Konsequenz, den Prozess der allmählichen Zielfindung und Zielkonkretisierung methodisch anzuleiten, um im Verlauf des Projekts empirisch begründbare Strategien für die Veränderung der untersuchten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu finden und auszuarbeiten. Weitere Vorwürfe gegenüber Aktionsforschung reichen von "naivem Empirismus" über "unkontrollierbare politische Verwendbarkeit ihrer Ergebnisse" bis hin zur - ernstzunehmenden - Forderung,
Kennzeichnend für den "kooperativen Dialog" bzw. "praxisorientierten Diskurs" ist, dass der Diskurs zwischen Forschern und Erforschten an der Praxis und ihren Problemen (Zwängen) orientiert ist und damit die Unverbindlichkeit und Abstraktheit der auf akademischer Ebene geführten Diskurse verliert.
4 Die Aktionsforschung
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"Aktionsforschung nicht als Alternative zur kritisch-rationalistischen und phänomenologisch-interpretierenden Methodologie zu verstehen, sondern als eine Verfahrensweise, die das Forschungsinstrumentarium dieser Tradition der Bildungsforschung aufnimmt, ergänzt, kritisch korrigiert und in einen veränderten 'Verwertungszusammenhang' stellt" (Hurrelmann 1977, S. 62). Was die Erweiterung des traditionellen Instrumentariums der Sozialforschung betrifft, so geht es der Aktionsforschung nicht um eine Bereicherung durch Neuerungen technisch-statistischer Art. Worum es ihr geht, ist die Wiederaufwertung hermeneutischer Verfahren (vgl. Heinze-Prause/Heinze 1996) und "sinnlicher Erkenntnismittel" (z.B. teilnehmende/beteiligte Beobachtung). Aktionsforschung schließt sich hier der Frontstellung der Empiriker und Methodologen an, die dem Verfall der Sozialforschung zu einem bloßen - sich verselbständigenden - mathematischen Zahlenspiel entgegenwirken wollen, in dem die sinnliche Vernunft an Künstler und Literaten abgetreten und zur bloßen Fiktion von Realität degradiert wird. Der Verwendungszusammenhang der Instrumente erweitert sich um das Moment der unmittelbaren, offenen Kommunikation. Aktionsforschung strebt ja nicht lediglich die Rückkoppelung der Untersuchungsergebnisse an die Untersuchten nach Abschluss der empirischen Erhebung an - in welchem Fall das empirische Instrument durchaus konventionell zur Auskundschaftung der als Objekt definierten Untersuchten verwendet wird. Aktionsforschung geht noch einen Schritt weiter und koppelt auch die Untersuchungsinstrumente zurück. In diesem Fall werden Situation und Methode der Sozialforschung zum Untersuchungsobjekt, das Wissenschaftler und Praktiker sich gemeinsam aneignen.10 Was die Praxis von Aktionsforschung betrifft, so ist zu konstatieren, dass die Aufhebung der Arbeitsteilung von Forschern und Praktikern de facto nicht möglich ist (vgl. Heinze 19953). In der Regel sind die Forscher in den Forschungsarbeiten, die Praktiker in den Handlungsteilen, dominant. "Der Grund dafür liegt vor allen in den ganz unterschiedlichen Arbeitsbedingungen im Hinblick auf die Innovationen: Können Forscher ihre Arbeitskapazität in der praktischen Phase der Projekte weitestgehend auf die Innovationsarbeiten konzentrieren, so können die Praktiker immer nur recht begrenzte Ausschnitte ihrer Arbeit den Projekten widmen - sie bleiben gezwungen, ihre berufsspezifischen Aufgaben auch außerhalb der Innovation zu erfüllen" (Liebau 1979, S. 281 f.).
Damit wird nicht eine Symmetrie von Kompetenzen bei Wissenschaftlern und Praktikern unterstellt, sondern vielmehr die Herstellung einer Reflexionsebene, die gemeinsame Sinninterpretation zulässt.
88 4.4
II Theorieteil Intervention und Rekonstruktion: Probleme intervenierender Praxistätigkeit
Der Interventionsanspruch bzw. die intervenierende Praxistätigkeit von Aktionsforschung ist in der Sozialforschung nicht unumstritten. Aus der Perspektive der Aktionsforschung sollten die Sozialwissenschaften nicht auf die Anwendung der qua hermeneutischer Rekonstruktion ermittelten theoretischen Erkenntnisse verzichten und damit auf ihre Aufgabe, Hinweise darauf zu geben, durch welche Interventionen die Verfügbarkeit des Individuums über sein Handeln maximiert werden kann. Innerhalb der qualitativen Sozialforschung wird allerdings das Problem der Vermittlung von Rekonstruktion und Intervention von einigen ihrer Exponenten als wissenschaftlich nicht vertretbar bzw. in Form der Delegation an die Instanz einer professionalisierten Therapie ausgeblendet. Soeffner begründet seine Sichtweise wie folgt: "Wissenschaft erweist sich als ein spezifischer Handlungs-, Erfahrungs- und Wissenstyp, der von dem des Alltags sehr deutlich unterschieden ist. Und dies weder durch eine besondere Sprache noch durch eine besondere Fähigkeit, vielmehr durch die systematische und organisierte Herauslösung wissenschaftlicher Interpretation aus aktuellen, zu interpretierenden Interaktionsprozessen und deren Kontexten" (Soeffner 1983, S. 23). Der qualitative Unterschied zwischen Wissenschaft und Alltag (Leben) bestehe in den "Erkenntnisinhalten und Erkenntniszielen selbst sowie in den ihnen jeweils zugeordneten 'organisatorischen settings' (Involviertheit v.s. Distanz, Handlungsdruck v.s. Freisetzung von Handlungsdruck etc." (ebd., S. 25). Die Forderung nach Praxisbezug, nach unmittelbarer Verwendbarkeit der Wissenschaft, nach "wissenschaftlich gesteuerter Intervention" im Alltag ziele auf die "Vermengung der Leistungen und Erkenntnisziele beider Bereiche. Würde sie erfüllt, ... brächte dies für beide Bereiche und die ihnen zugehörigen Erkenntnisziele und Haltungen einen Leistungsverlust mit sich" (ebd., S. 34). Aus der Tatsache, dass sich wissenschaftliche Analyse auf Handlungsprotokolle bezieht (also einsetzt, wenn die Handlungen und Ereignisse, die sie analysiert, vorbei sind), folgert Soeffner: "Daraus ergibt sich für die wissenschaftliche Analyse zwangsläufig, dass sie keinen Einfluss auf das 'Leben', auf das Handeln und Sollen der Alltagspraxis hat oder haben kann" (ebd., S. 36). Oevermann geht ebenfalls von einer strikten Trennung von Wissenschaft und Lebenspraxis aus und begründet diese Trennung mit dem Hinweis auf die handlungslogische Differenz zwischen lebenspraktischem und sozialwissenschaftlichem Wissen.
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Diese Trennung sei strukturell gegeben und auch notwendig, da Wissenschaft unter einem völlig unpraktischen, distanzierten Begründungs- und Explikationszwang stehe, Lebenspraxis dagegen den gänzlich untheoretischen und distanzlosen "Imperativen schnellen Handelns", d.h. also Entscheidungszwängen, unterliege. Beide Bereiche könnten ihre Aufgaben - so resümiert Terhart (1983) Oevermanns (1983) Ausführungen "nur dann erfüllen, wenn sie strikt getrennt blieben. Auf gar keinen Fall dürfe Wissenschaft unmittelbar Relevanz für die Lebenspraxis beanspruchen, denn dies würde deren Autonomie wie auch deren immanentes Selbstheilungspotential beeinträchtigen. Als Wissenschaftler habe niemand das Recht in autonome Lebenspraxis einzugreifen - statt dessen sei diesbezüglich eine 'asketische Haltung' einzunehmen. Werde diese Haltung abgelegt, so verkehre sich gerade kritische Sozialwissenschaft in ihr Gegenteil, der vorgeblich herrschaftsfreie Diskurs werde zu einem Instrument der Bevormundung." Oevermann zufolge unterscheidet sich die objektive Hermeneutik in „technischer und erkenntnislogischer Hinsicht grundsätzlich nicht vom Verfahren des Sinn- und Motivverstehens in der Alltagspraxis." Gleichzeitig steht sie dieser "gerade als Kunstlehre in radikalem Gegensatz gegenüber, weil sie sich in einer wesentlichen Hinsicht bemüht, möglichst unpraktisch zu sein: Extensive Sinnauslegung nimmt sie in ganz unpraktischer Handlungsentlastetheit vor, und dazu kann sich die nicht an Kompromissbildungen orientierte, äußerlich streitsüchtige Diskussion von Interpretationen in der Gruppe besonders gut eignen" (Oevermann 1983, S. 137). Was den Modus der Geltungsbegründung von Aussagen sowie das Problem der Vermittlung von Rekonstruktion und Intervention betrifft, so geht Oevermann von folgenden Prämissen aus: "Eine wissenschaftliche Bearbeitung von lebenspraktischen Problemen ohne die handlungslogische Implikation der Bevormundung von Lebenspraxis in ihrer Dignität als letzter Quelle von materialer Rationalität kann immer nur entweder in der an den wissenschaftlichen rationalen Diskurs gebundenen gelungenen Begründung der Geltung von Aussagen, seien es empirische Generalisierungen der quantifizierenden Forschung oder auf Sinnrekonstruktionen basierende Strukturgeneralisierungen der hermeneutischen Sozialforschung statthaben, wobei die Praxis selbst darüber zu befinden hat, welchen Gebrauch sie von diesen begründeten Aussagen machen will, oder aber in der professionalisierten lebenspraktischen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis und Erkenntnismittel, wobei die Professionalisierung für die Achtung der Dignität und Autonomie der Lebenspraxis Sorge trägt. Alles andere läuft auf Bevormundung durch Wissenschaft hinaus oder darauf, dass der Wissenschaftler ohne Inanspruchnahme seiner wissenschaftlichen Kompetenz unmittelbar lebenspraktisch handelt" (Oevermann 1983, S. 146/147). Oevermann sieht das Spezifische des professionellen pädagogischen Handelns in der "stellvertretenden Deutung", die - in abgekürzter Form - nach den Prinzipien der "objektiven Hermeneutik" ablaufen sollte.
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II
Theorieteil
"Es liegt nahe, als Adäquatheitsbedingungen pädagogischen Handelns einzuführen, dass der praktizierende Pädagoge, bei welchem konkreten Unterrichtsstoff auch immer, zunächst versuchen muss, das im Unterricht realisierte Interaktionshandeln der Kinder sowie das darin eingebettete sachbezogene Handeln des einzelnen Kindes in seiner latenten Sinnstruktur stellvertretend zu deuten, um die objektive, sinnstrukturelle Reichhaltigkeit bemessen zu können, die darin zum Ausdruck kommt. Das kann nicht explizit durch extensive Sinnrekonstruktion in der unpraktischen Einstellung der objektiven Hermeneutik, sondern nur durch professionsspezifische Abkürzungsverfahren vonstatten gehen. Wichtig ist nur, dass der Pädagoge diese Einstellung der stellvertretenden Deutung grundsätzlich übernimmt und sich den Reichtum der objektiven Sinnstrukturiertheit des kindlichen Handelns intuitiv vergegenwärtigt. Er verschafft sich damit einen Bezugspunkt für den pädagogisch angeleiteten Lehrprozess, in dem es primär darauf ankommt, dem Kind das, was es objektiv ohnehin schon kann, auf einer höheren Stufe der Explikation und mentalen Strukturierung durch Anleitung zum rekonstruktiven Lernen zugänglich zu machen" (Oevermann 1983, S. 151). Sozialwissenschaftliche Erkenntnis kann - so lassen sich Oevermanns Argumente zusammenfassen - nur nach den Prinzipien der "objektiven Hermeneutik" gefunden werden, die Interaktion im Rahmen der Lebenspraxis folgt diesen Prinzipien ohnehin - wenn auch in abgekürzter Form. "Obwohl also in beiden Bereichen nach den gleichen Prinzipien prozediert wird, scheinen sie doch nichts oder nur wenig voneinander lernen zu können - und dies auch gar nicht nötig zu haben" (Terhart 1983, S. 170). Dewe greift Oevermanns Überlegungen auf und fordert ebenfalls eine strenge Trennung von Wissenschaft und Lebenspraxis. Im Zuge der Verwissenschaftlichung weiter Bereiche des lebensweltlichen Wissensvorrates werden die Sozialwissenschaften mit ihrem Aufklärungsanspruch zu einem Problem, da durch Aufklärung handlungsorientierende und weltdeutende Sinnstrukturen destruiert werden könnten. Handlungssicherheit sei nämlich gerade durch die "weitgehende Latenz der handlungsleitenden Deutungs- und Handlungsmuster" garantiert. Durch das In-Frage-Stellen und Manifest-Werden dieser Muster infolge der Konfrontation mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Erklärungen der Wirklichkeit werde die erfasste Komplexität erhöht und die Orientierungssicherheit gefährdet. "Die Wissenschaft wird den Handelnden über die für ihn latenten Probleme und Strukturen, über unbewusste Gründe seines Handelns daher nur aufklären dürfen, wenn sie deren Funktionszusammenhang kennt, wenn sie darüber hinaus auch weiß, welche Funktion die Latenz selbst für den Handelnden erfüllt und wenn sie funktionaläquivalente Alternativen dafür anbieten kann" (Luhmann 1972, S. 70). Dewe vermutet nun, dass die Deutungsmuster des Alltagslebens, die die individuelle Autonomie der Handlungs- und Lebenspraxis sichern, in "wissenschaftsorientierten Beratungs- und (Re-)Sozialisationsprozessen oder vergleichbaren wissenschaftlich gesteuerten Interventionen" destruiert werden. Dies entspräche aber einer "Erfahrungszerstörung im Namen von Aufklärung" (Dewe 1984, S. 323). Wissenschaftlich gesteuerte Interventionen fuhren - darin sind sich die hier zitierten Autoren einig - zu einer technokratischen Bevormundung der Lebenspraxis; sie nehmen, mit dem Anspruch auf ein höheres Maß an
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Rationalität, der Alltagspraxis ihre Entscheidungen ab. Sozialwissenschaftliche Forschung sollte demgegenüber auf eine "Verbesserung der Begründung lebenspraktischer Entscheidungen abzielen, nicht aber auf die Übernahme dieser Entscheidungen selber" (ebd., S. 310); sie sollte den Sinnauslegungsprozess systematisch initiieren und dadurch einen Beitrag zur Konstitution handlungsautonomer Subjekte leisten. Wissenschaft dürfe sich nie gegenüber der Alltagspraxis in eine Position der "Normenkontrolle" lebenspraktischen Handelns begeben (ebd., S. 325). Den hier skizzierten Ansätzen steht das Konzept der kommunikativen Validierung diametral entgegen. Kommunikative Validierung beruht auf der Vorstellung, dass für interpretative Forschung der Dialog mit den Interpretierten mit in den Problemhorizont der Geltungsbegründung fällt und insofern wissenschaftliche Erkenntnis und praktische Konsequenzen aufeinander bezogen sind. Für Oevermann erschöpft sich - wen nimmt es Wunder - das Verfahren der kommunikativen Validierung in der "Trivialität der alltagspraktischen Verständigung, der Grundtatsache des Gesprächs also. Als solches bezeichnet es eine elementare Tatsache sozialen Lebens, die natürlich auch, aber eben nicht nur, bei der Erhebung sozialwissenschaftlich relevanter Daten beteiligt ist. Kommunikative Validierung aber ist damit... als Kandidat für eine den Namen wissenschaftlich verdienende Lösung des Problems der Geltungsbegründung von vornherein ausgeschieden" (Oevermann 1983, S. 129). Nun mag man tatsächlich daran zweifeln, ob das Konzept der kommunikativen Validierung, das auf dem Prinzip der Verständigung und Einigung zwischen Informant und Interpret über den Bedeutungsgehalt von Definitionsleistungen beruht, ein geeignetes Verfahren ist, um zum Modus der Geltungsbegründung von Aussagen methodisiert zu werden. Über Geltungsbegründung und damit Objektivität von Interpretationen sollte primär im Kreis der objektiven Hermeneuten (scientific Community) befunden werden. Gerade wenn es nicht "nur" um wissenschaftliche Erkenntnisse, "sondern auch - in einem zweiten Schritt - um soziale Interventionen geht, ist es notwendig, soziale Realität in den gedanklichen Konzepten der Betroffenen zu erfassen" (Küchler 1983, S. 18). Kommunikative Validierungsverfahren haben dort ihren Sinn und ihre unaufhebbare Notwendigkeit, wo die theoretischen Interpretationen von Aussagen, insbesondere Selbstdarstellungen, die Funktion haben, eine mit den Befragten gemeinsame Praxis vorzubereiten und zu strukturieren, für die die Richtigkeit der Interpretationen insofern bedeutsam ist, als sich die Beteiligten über die objektiven Bedingungen des Untersuchungsfeldes und die darin enthaltenen Veränderungsmöglichkeiten zu verständigen haben. Diese Unterstellung bedeutet, dass die Validität einer Interpretation erst dann gesichert ist, wenn eine Einigung bzw. Übereinstimmung zwischen Forschern und Erforschten hergestellt ist; sie bedeutet nicht eine Bindung des Forschers an die Zustimmung des Erforschten - in diesem Falle würde er sich an deren Mythen, Stereotype, Ideologien binden. Kommunikative Validierung bedeutet vielmehr, dass der Prozess der Interpretation und der Überprüfung der interpretierenden Sätze zugleich ein zuverlässi-
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II Theorieteil
ger, wechselseitiger Aufklärungsprozess ist. Dabei stellt sich das Problem, wie ein Begriff von "zuverlässiger Aufklärung" gewonnen werden kann. Die Unterstellung eines solchen Begriffs als wesentliches Merkmal des Interpretationsprozesses ist eine idealisierende Behauptung, ein regulatives Prinzip für die methodische Organisation des Forschungsprozesses. Wenn Forschung als ein zu organisierender wechselseitiger Verständigungsprozess verstanden werden soll, dann sind die Erforschten als Repräsentanten besonderer biographischer Erfahrungen, Alltagstheorien und bildungspolitischer Zielvorstellungen ernst zu nehmen und interpretatorische Regeln zu entwickeln, die mit dem Konzept der kommunikativen Validierung verträglich sind. Dabei ist davon auszugehen, dass der überlegenen Interpretationskompetenz der Interpreten in der Regel ein ebenso überlegenes Erfahrungswissen der Erforschten gegenübersteht. Gäbe es diese Rollendifferenz nicht, "wäre eine dialogische Validierung nicht sinnvoll: Der Erforschte, der seine Praxis besser interpretieren kann als der professionelle Sozial- bzw.
Erziehungswissenschaftler, bedarf dessen Hilfe nicht, wie umgekehrt
der Interpret, der über das gleiche oder mehr Erfahrungswissen verfügt als der Erforschte, seine Interpretationen besser alleine entwickeln könnte" (Gruschka/Geissler 1982, S. 629). Die unterschiedliche Ausprägung, Komplexität und Elaboration der Interpretationskompetenz und des Erfahrungswissens, von der Gruschka/Geissler ausgehen, hat für sie einen didaktischen Implikationszusammenhang: Aufklärung bzw. Selbstaufklärung von Interpreten und Erforschten bedingen sich wechselseitig. Von diesem Implikationszusammenhang ausgehend, wird der Validierungsprozess von ihnen als zweiseitiger Lehr-/Lernprozess nicht nur wissenschaftsmethodologisch,
sondern auch praktisch-
pädagogisch begründet und Validierung wie folgt skizziert: "Der methodologisch geregelte Argumentationsstreit zwischen den Interpreten, die ein hohes Maß an Rationalität und Kreativität anstreben, führt zu einem Interpretationsangebot, das im Hinblick auf die dialogische Phase den Erforschten didaktisch-methodisch aufzubereiten ist. Dies geschieht nicht mit der Intention, die Interpretation dem Adressaten geschickt aufzudrängen, sondern für ihn die gemeinsame Validierung zu transformieren, in der die Interpretationsangebote nicht marginal, sondern grundsätzlich in Frage gestellt werden können. Die dialogische Validierungsphase sollte also eine Struktur annehmen, die für die Forschung überhaupt konstitutiv ist: Die gemeinsame Arbeit zielt darauf, die Erkenntnisse über den thematisierten Untersuchungsgegenstand weiterzuentwickeln" (ebd.). Forschungspraktisch wird man unterschiedliche Verfahren der Validierung zu suchen haben, j e nachdem, welches Untersuchungsziel verfolgt wird. Dabei wird entscheidend für die Beteiligung der Interpretierten am Validierungsprozess sein, wie nah man am subjektiven Selbstverständnis der Interpretierten anknüpfen kann, welches Maß an Diskursfähigkeit bei den Interpretierten zu erwarten ist sowie in welchen interaktionellen und institutionellen Handlungskontexten die Interpretierten sich befinden. Hier einige Beispiele:
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Combe kommt in seinem 1983 erschienenen Buch "Alles Schöne kommt danach. Die jungen Pädagogen - Lebensentwürfe und Lebensgeschichten" zum Schluss, die von ihm interviewten Lehrer im Stadium der Falldarstellungen in einen selbstreflexiven Prozess, eine - wie er es nennt - "Spracharbeit" mit einzubeziehen. Konkret heißt das, dass er dem jeweiligen Gesprächspartner die Fallrekonstruktionen in einem vorläufigen Entwurf vorlegt und ihm jede Möglichkeit zur Stellungnahme, zu Verbesserungs- und Veränderungsvorschlägen gibt. In einem behutsamen Annäherungsprozess machte er die Erfahrung, dass selbst als belastend empfundene Stellen akzeptiert werden konnten, wenn sie in bildhafter Verdichtung formuliert wurden. Meist waren es solche Formulierungsvorschläge, die die Lehrer von ihm annehmen konnten und die sie auch selbst suchten und vorschlugen. In ihnen fanden sie sich selbst wieder, erkannten sie sich, sie wurden offensichtlich zum Sprachrohr ihrer Gefühle, Gedanken und Phantasien. Das Verfahren fiihrte - so Combe - dazu, dass das von ihm vorstrukturierte Ausgangsmaterial in einem gemeinsamen Austauschprozess terminologisch angereichert wurde, wobei die von ihm angebotenen Begriffe und Formulierungen, die zum Teil aus anderen Zusammenhängen stammten, eine Strukturierung der Erfahrung ermöglichen sollten. Letztlich sollte es aber vom Verständnis des einzelnen Lehrers abhängen, ob ein Element seiner Lebensgeschichte durch einen angebotenen theoretischen Ausdruck zureichend interpretiert wurde oder nicht. In der Zusammenarbeit mit Lehrern verschiedener Schultypen habe ich die Erfahrung gemacht, dass dort, wo der Lehrer selbstbewusst agiert und wo er an die Rekonstruktion ein Interesse zur Verbesserung der Praxis knüpft, es möglich wird, die aus Protokollen unterrichtlicher Interaktion gewonnene Struktur seiner handlungssteuernden Kompetenz durch ihn selbst validieren zu lassen. Er kann dabei kritisch prüfen, ob die angebotene Sinnstruktur, d.h. die Interpretation zu seinem Unterricht, für oder gegen die Kontinuität seiner Praxis spricht (vgl. Heinze 1982). Andererseits habe ich ebenfalls die Erfahrung gemacht, dass Lehrern, denen es im Unterricht nicht befriedigend gelingt, die Kompetenzentwicklung der Schüler zu fördern, es schwer fallt, sich den Defiziten ihres didaktischen Handelns zu stellen. Problematisch ist diese Situation für eine kommunikative bzw. dialogische Validierung in zweifacher Hinsicht: Einerseits besteht die Gefahr, die Frustrationstoleranz des Lehrers zu überschreiten, wenn die Interpreten allzu offenherzig ihre Deutungen preisgeben und damit die Kooperationsbereitschaft gefährden. Stellen sich die Interpreten aber zu sehr auf die Sichtweise des Lehrers ein, kann zwar eine relativ konfliktlose Beziehung gesichert, nicht jedoch die Interpretation seines Unterrichtsverhaltens validiert werden. Aber auch in einer solchen verfahrenen Situation muss nicht auf Validierung verzichtet werden. Voraussetzung hierfür ist, "dass man davon absieht, das Gespräch mit dem Lehrer als eine Diskussion über Interpretationen zu seinem Unterrichtsverhalten anzulegen. Vielmehr muss das Gespräch konzipiert werden als ein pädagogisch vom Interpreten mitverantwortetes, das Ratschläge und Lösungsmuster für eine bessere Bewältigung der didaktischen Aufgaben des Lehrers bereithält. Die Ratschläge sollen die Interpretation
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// Theorieleil
des Handlungsmusters zum Ausdruck bringen, die hypothetisch entwickelt worden sind. Die subjektive Belastung des Lehrers, seinen Unterricht nicht so gestalten zu können, wie er es wünscht, wird zum Ausgangspunkt für Lern- und Beratungsprozesse. Das verlangt allerdings vom Interpreten nicht nur eine elaborierte Interpretationskompetenz, sondern auch den Aufbau eines umfangreichen Erfahrungswissens. Nimmt der Lehrer einen solchen Vorschlag an und erprobt er ihn mit Erfolg, hat er die Deutung, auf der ja der Vorschlag beruht, zumindest partiell validiert. Dieses Ergebnis gibt dem Interpreten die Gelegenheit, das der modifizierten Praxis zugrundeliegende Muster zu rekonstruieren und die ursprüngliche Interpretation zu überprüfen. Im Interesse der weiteren Verbesserung seiner Praxis stellt sich der Lehrer offener auch kritischen Interpretationen" (Gruschka/Geissler 1982, S. 632).
Übungsaufgabe 5 Welche grundlegenden Unterschiede charakterisieren die Aktionsforschung im Gegensatz zur etablierten empirischen Sozialforschung? Unter welchen Voraussetzungen erscheint eine kommunikative Validierung sinnvoll, wann aussichtsreich?
5 Habermas und Luhmann
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5
Habermas und Luhmann
5.1
Die Auswahl der hier verwendeten Theorien: Die Orientierung am main stream
Die beiden hier ausgewählten Theorien, nämlich die Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas und die Theorie sozialer Systeme von Luhmann sind nicht nur die mit Abstand wichtigsten Theoriemodelle in der gegenwärtigen Diskussion:1 Bei beiden handelt es sich um Mischtypen, mit verschiedenen Traditionslinien, aber dem gleichen Anliegen: Der Komplettierung strukturtheoretischer Positionen durch handlungstheoretische Ansätze - beide sprechen hier freilich von Kommunikations- und nicht Handlungstheorien. Die Rekonstruktion der beiden Theoriemodelle und ihre Anwendung auf Einzelfalle ermöglicht von daher einen besonders klaren Einblick in die Logik soziologischer Theoriebildung; dies rechtfertigt ihre Verwendung in diesem Text neben ihrer völlig unstrittigen Dominanz in der gegenwärtigen Diskussion. Eine nachträgliche Bemerkung zum Verhältnis von Theorie und Einzelfallanalyse ist hier noch erforderlich. Im Kapitel 2 wurde vom Theoriedefizit der interpretativen Sozialforschung gesprochen und die Notwendigkeit einer expliziten Theorieorientierung betont. Mutatis mutandis gilt ein solcher Hinweis allerdings auch für die aktuelle Theoriebildung: Diese weist leider nur zu häufig einen Überabstraktheitsgrad auf, der die einzelnen Theorien relativ unempirisch und spekulativ macht. Dies muss auch für die hier ausgewählten Theorien konstatiert werden. Die Überprüfung von Theorien durch einzelne Fälle ist auch ein Gradmesser dafür, inwiefern sich kontrollierte Theorien von reiner Spekulation unterscheiden. Von daher ist der hier unternommene Weg, die interpretative Sozialforschung theoretisch zu ergänzen, auch eine Perspektive dafür, wie hochabstrakte Theorien zumindest punktuell empirisch gehaltvoll und damit kontrollierbar gemacht werden können. Sicher können Theorien auch durch andere Verfahren überprüft werden als durch ihre Anwendung auf Einzelfälle und müssen es auch; der hier eingeschlagene Weg ist auf jeden Fall eine Möglichkeit, die immer wieder drohende Selbstgenügsamkeit hochabstrakter Theorien - und Theoretiker - punktuell zu durchbrechen.
5.2
Habermas und Luhmann oder: Kommunikatives Handeln versus Systemautonomie
Die hier vorgenommene Darstellung der beiden wohl wichtigsten Theorien, die die deutsche und internationale Theoriediskussion aufzuweisen hat, kann natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder angemessene Würdigung erheben. Beide Theorien sind sowohl in ihren systematischen als auch in ihren theoriegeschichtlichen Dimensio-
Die folgenden Überlegungen (S. 95-103; 116-129) sind in redigierter und komprimierter Form von Klüver (1989) übernommen worden.
96
II Theorieteil
nen derart komplex, dass eine angemessene - und kritische - Würdigung den Umfang eines stattlichen Buchs haben müsste. Entsprechendes gilt für die Rezeption der Diskussion, die sich mittlerweile an diesen Theorien entfaltet hat: Auch wenn die jeweils abgeschlossene Darstellung in Form größerer Monographien für beide Theorien relativ jungen Datums ist - die Theorie von Habermas ist in der hier behandelten Form erstmals 1981 erschienen (Habermas 1981, Bde. 1 u. 2), die Theorie von Luhmann 1984 (Luhmann 1984) - so hat es bereits einige Zeit vorher eine Kontroverse zwischen ihnen gegeben (Habermas/Luhmann 1971), die selbst wieder zahlreiche Kommentare nach sich gezogen hat. All dies kann hier noch nicht einmal wiedergegeben, geschweige denn aufgearbeitet werden. An dieser Stelle sollen lediglich holzschnittartig einige Grundlinien beider Theorien nachgezeichnet werden, soweit sie für unsere Thematik wesentlich sind. Im Zentrum beider Theorien steht das Problem, wie soziale Ordnung sich dadurch ergibt, dass zwischen raum-zeitlich getrennten sozialen Ereignissen und Situationen Beziehungen so hergestellt werden, dass diese zur "eigentlichen" sozialen Realität, nämlich der objektiven Gesellschaftsstruktur werden. Diese objektive Gesellschaftsstruktur ist der konstitutive Kernbereich der Theorie, aus dem andere Bereiche und damit zusammenhängende Probleme abgeleitet werden. Bei Habermas sind diese oder war es lange Zeit - der Tradition von Marx folgend - der Staat; bei Luhmann ist dies das soziale (Teil)System, gemäß der Tradition von Parsons. Beide Theorien setzen jedoch diese Grundstrukturen nicht absolut, sondern stellen sie in einen genetischen und funktionalen Zusammenhang - den der Überbrückung raum-zeitlicher Trennung von Einzelsituationen. So ist auch der Weg angegeben, wie das Integrationsproblem dieser beiden Theoriemodelle zu bearbeiten ist. Beide Theorien haben neben ihrem "gesellschaftstheoretischen Kern" eine Fülle von philosophisch-erkenntnistheoretischen und interdisziplinären Bezügen, auf die hier nicht eingegangen werden kann.
5.3
Die Theorie des kommunikativen Handelns
Das soziologische Kemthema ist bei Habermas folgendes: Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene gesellschaftliche Ordnungstypen identifizieren, die den Zusammenhang zwischen den einzelnen situativen Handlungen herstellen und als allgemein wirkende gesellschaftliche Strukturen die Gesamtheit der sozialen Realität konstituieren. Dies sind "System" und "Lebenswelt"; die gegenwärtige Gesellschaft lässt sich dadurch charakterisieren, dass diese beiden Ordnungstypen in einer unauflösbaren Spannung zueinander stehen - hier deuten sich Reminiszenzen an den Marxschen Begriff des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen an -, und die Evolution der modernen Gesellschaften ist entsprechend dadurch gekennzeichnet, dass diese
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beiden Grundstrukturen sich sozusagen auseinander entwickelt haben; Habermas spricht in diesem Kontext von einer "Entkoppelung von System und Lebenswelt" (1981, Bd. 2, S. 229 ff.). Um sich die inhaltliche Bedeutung dieser Kemthese deutlich zu machen, ist es erforderlich, zu klären, inwiefern diese sozialen Grundstrukturen als "Ordnungstypen" bezeichnet werden können und müssen. "Lebenswelt" (vgl. Kap. 3) ist ein Begriff, der aus der phänomenologischen Philosophie stammt (Husserl, Schütz) und in seiner ursprünglichen Bedeutung besagen soll, dass jeder soziale Akteur innerhalb eines bestimmten "Sinnhorizontes" handelt, der für ihn nicht hintergehbar ist. Die Lebenswelt als Sinnhorizont setzt sich für jeden Einzelnen zusammen aus der Summe seiner biographisch erworbenen Erfahrungen und daraus resultierenden "Weltanschauungen", d.h. praktischen Handlungsorientierungen. Dabei sind die jeweiligen Sinnhorizonte zum großen Teil für Angehörige einer bestimmten Kultur im wesentlichen gleich, da die subjektiv erworbenen Erfahrungen und Handlungsorientierungen als gesellschaftlich vermittelte stets auch die anderer Subjekte sind. Die Sinnhorizonte sind jedoch nie vollständig gleich, da kein Individuum identisch mit einem anderen ist, und von daher immer angenommen werden muss, dass die einzelnen lebensweltlichen Sinnhorizonte auch unvergleichbare Erfahrungen enthalten. "Lebenswelt" bezeichnet von daher erst einmal eine Perspektive, aus der heraus die einzelnen Akteure ihre Lebenspraxis organisieren. In dem Sinne, in dem Lebenswelt als sozial vermittelte einen für soziale Akteure gemeinsamen Sinnhorizont darstellt, liegt es nun nahe, mit dem Lebensweltbegriff über die ursprüngliche Bedeutung hinaus eine bestimmte Weise zu charakterisieren, mit der soziale Akteure ihre einzelnen Handlungen aufeinander abstimmen, sich diese gegenseitig als sinnhafte Handlungen vermitteln und die daran anschließenden Handlungsmöglichkeiten koordinieren. Habermas unternimmt dies und gelangt so zum Lebensweltbegriff als einem sozialen Ordnungstypus, der für die soziologische Analyse stets zweierlei leistet: Zum einen gibt der Lebensweltbegriff eine Dimension der soziologischen Theorie an, er verweist darauf, dass mit ihm eine Rekonstruktion der sozialen Realität aus der Sicht der handelnden und betroffenen Individuen durchgeführt wird, was für sozialwissenschaftliche Analyse auch unhintergehbar ist: "Da wir zum Objektbereich sozialen Handelns nur einen hermeneutischen Zugang finden können, müssen alle sozialen Phänomene zunächst einmal ... in einer Sprache beschrieben werden, die an die im Objektbereich vorgefundene Sprache der Akteure anschließt" (Habermas 1986, S. 382). Zum anderen markiert der Lebensweltbegriff entsprechend eine Form sozialer Ordnung, die durch lebensweltlich orientierte Handlungen der Akteure hergestellt wird: Es geht hier darum, dass Menschen soziale Ordnung als etwas für sie selbst Sinnvolles zu realisieren suchen, wobei dies im Grundmodus eines "verständigungsorientierten Handelns" geschieht, eines Handelns nämlich, dessen wesentliche Charakteristik darin besteht, in Kommunikation mit den jeweils Anderen die gemeinsamen Sinnperspektiven zu ermitteln und zu realisieren. Ist
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II Theorieteil
über derartige Handlungsformen eine bestimmte Sozialordnung hergestellt worden, so kann man von einer sozialintegrativen Ordnung sprechen also einer solchen, mit der die Akteure - zumindest partiell - subjektiven Sinn verbinden können. Der Begriff der Lebenswelt als Ordnungstypus verweist damit auf einen bestimmten Handlungstypus, nämlich den des verständigungsorientierten oder kommunikativen Handelns - und umgekehrt. Komplementär analog ist der zweite Grundbegriff zu verstehen, also der des "Systems"; Habermas übernimmt diesen Begriff in expliziter Anlehnung an Parsons und z.T. an Luhmann. "System" beschreibt sowohl eine Perspektive der soziologischen Rekonstruktion als auch einen sozialen Ordnungstypus und zwar jeweils komplementär zum Lebensweltbegriff ("komplementär" bedeutet eine wechselseitige Ausschließung und Ergänzung). Entsprechend markiert "System" den Aspekt sozialer Realität, der für die Akteure sozusagen äußerlich ist, nämlich die objektive Unbeeinflussbarkeit von Gesellschaft, der die einzelnen Akteure subjektiv so gegenüber stehen wie der Natur, die durch subjektive Willensakte und Handlungen strukturell auch nicht zu verändern ist. Handeln "in" Systemen kann von daher keinen primär kommunikativen Charakter haben, sondern ist vor allem - wenn auch nicht ausschließlich - an den "objektiv" vorgegebenen Systemimperativen ausgerichtet, die dem Einzelnen äußerliche Steuerungsvorgaben sind. Als Ordnungstypus beschreibt "System" deshalb eine Form der Integration, die vom Einzelnen nur noch akzeptiert, nicht mehr mit subjektiver Sinnperspektive erfüllt werden kann; die Integration geschieht nicht mehr über die primär verständigungsorientierten Kommunikationen der Akteure, sondern durch objektiv vorgegebene Steuerungsmedien. Habermas benennt als die wesentlichen Gesellschaftsbereiche, die in diesem Sinne Systemcharakter haben, die der Wirtschaft und der Politik; die objektiven Steuerungsmedien sind dort "Geld" respektive "Macht". In diesen systemischen Bereichen kann man nicht mehr von Sozialintegration sprechen, sondern es liegt eine systemische Integration vor. Die Kernthese von der "Entkoppelung von System und Lebenswelt" und damit die Konstatierung einer fundamentalen Spannung zwischen diesen beiden Ordnungstypen besagt nun folgendes: In "einfachen", gewissermaßen von jedem Mitglied überschaubaren Gesellschaften fallen System- und Lebensweltperspektive zusammen; die soziale Ordnung, die durch Handlungen entsteht und die die Handlungen auch ständig zusammenhält - integriert - ist sowohl für den Einzelnen sozialintegrativ, d.h. er kann mit ihr einen subjektiven Sinn verbinden, als auch objektiv vorgegeben, also systemintegrativ. "Einfache" Gesellschaften können demnach als eine Einheit von subjektiver Sinnperspektive und objektiver Strukturierung sozialer Realität aufgefasst werden - Lebenswelt und System sind dort zwar nicht identisch, da sie auch in diesem Fall zwei verschiedene Aspekte sozialer Realität beschreiben, aber sie sind gewissermaßen deckungsgleich. So stellt beispielsweise die soziale Ordnung einer Stammesgesellschaft, in der Verwandtschaftsbeziehungen die soziale Grundstruktur ausmachen, für den einzelnen Stammesangehörigen durchaus ein "System" dar, nämlich eine für ihn objektive Realität in Ana-
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logie zur natürlichen Realität; diese Stammesordnung ist aber auch für ihn "Lebenswelt", da sie eine für ihn sinnhafte Ordnung ist, die er verstehen, für sich legitimatorisch akzeptieren und durch kommunikative Handlungen mit anderen Stammesangehörigen eben lebensweltlich reproduzieren kann. Dies wird grundsätzlich anders in "modernen" Gesellschaften, die auf dieser Analyseebene durch die "Ausdifferenzierung" einzelner "Funktionalsysteme" gekennzeichnet sind. Inhaltlich geht es darum, "dass sich mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und mit einem Staatsapparat, in dem amts- und personengebundene Macht an die Struktur eines Steuerungsmediums angegliedert worden ist, primär systemisch integrierte Handlungsbereiche ausdifferenziert haben" (Habermas 1986, S. 386), die den lebensweltlichen Perspektiven der einzelnen Menschen als äußerlich gegenüberstehen. Diese ausdifferenzierten Systeme, von denen das kapitalistische Wirtschaftssystem das historisch früheste und systematisch wichtigste ist, folgen nur noch einer systemischen Eigenlogik und sind lebensweltlich nicht mehr in den Sinnhorizont der konkreten Akteure zurückzuholen. Sie bilden aber auch nicht das gesellschaftliche Ganze, sondern nur einen Teil, da die lebensweltlich integrierten Handlungsbereiche nach wie vor vorhanden sein müssen, um die Reproduktion der Gesellschaft durch Menschen, die als solche nur lebensweltlich handeln können, zu gewährleisten. Von daher ergibt sich in modernen Gesellschaften eine Spannung zwischen System und Lebenswelt, die beide nicht mehr das gesellschaftliche Ganze repräsentieren, sondern sich als Teile voneinander "entkoppelt" haben. Diese Entkoppelung von System und Lebenswelt und die daraus resultierende Spannung macht nach Habermas das Moderne an zeitgenössischen Gesellschaften aus; in dieser Spannung markiert sich einerseits die Leistungsfähigkeit moderner Gesellschaften, die in wesentlichen Teilbereichen gemäß einer objektiven Systemlogik ohne Rücksicht auf Traditionen, Weltbilder, Religionen und andere inhaltliche Legitimationsnotwendigkeiten operieren können; andererseits liegt hier auch der Grund für die Krisenanfälligkeit moderner Gesellschaften, da im Gegensatz zu "einheitlichen" Gesellschaften die dualistische Struktur Instabilitäten geradezu herausfordert. Insbesondere ist hier die Tendenz zu nennen, dass die Systeme mit ihrer speziellen Eigenlogik Orientierung an Sachzwängen etc. - ständig lebensweltliche Bereiche zu okkupieren drohen, d.h., Handlungszusammenhänge unter systemlogische Imperative zu stellen, die adäquat nur lebensweltlich geregelt werden können. Habermas spricht in diesem Kontext sehr plastisch von einer "Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systeme" (1981, Bd.2, S. 579) und nennt als Beispiel die Verrechtlichung von Lebensbereichen wie etwa Erziehung. Zu beachten ist, dass die Entkoppelungsthese und die beiden Grundbegriffe eine Aussage über soziale Realität darstellen und zugleich ein Merkmal der Theorie beschreiben: "Die Ausdifferenzierung von Teilsystemen ... ist zunächst eine historische Beobachtung" (Habermas 1986, S. 386). Als solche ist sie Bestandteil einer Theorie zur Evolution modemer Gesellschaften und empirisch überprüfbar. Gleichzeitig steckt darin eine theoretisch-methodologische Prämisse: Moderne Gesellschaften lassen sich in wesentli-
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II Theorieteil
chen Teilen nicht mehr aus der Perspektive der Handelnden beschreiben, sondern nur noch in verobjektivierter Form, als Rekonstruktion der objektiven Strukturen, die das systemische Handeln der Akteure präformieren. Es ist wichtig, sich an dieser Stelle klar zu machen, dass System- und Lebensweltperspektive beide als sozialwissenschaftliche Zugangsweisen legitim sind, auch wenn Habermas am methodischen Primat der Lebensweltperspektive festhält. Beide Zugangsweisen ergänzen sich gegenseitig, sofern Gesellschaften im oben skizzierten Sinne "einfach" sind, Lebenswelt und System also deckungsgleich sind. Das gilt jedoch nicht mehr für den Fall der mediengesteuerten Funktionalsysteme: "Während sich auch moderne Gesellschaften im allgemeinen unter beiden Aspekten untersuchen lassen (nämlich System- und Lebensweltaspekt, J.K.), erschließen sich ökonomische und politische Zusammenhänge auf diesem Niveau der Systemdifferenzierung nur noch unter der Beschreibung mediengesteuerter Subsysteme" (Habermas 1986, S. 387). An dieser ständigen Ambivalenz der Grundbegriffe und Grundthesen - Aussagen über Realität und über Theorie gleichzeitig zu sein -, entzündeten sich zahlreiche Irritationen; an ihr wird jedoch besonders deutlich, wie Theoriestruktur und Konstitution des Gegenstandsbereichs durch Theorie zusammenhängen und ineinander verwoben sind. Der Sprachgebrauch einer "Entkoppelung" von System und Lebenswelt kann nun suggerieren, dass es sich bei diesen beiden Handlungsbereichen um vollständig getrennte, sich wechselseitig negierende Bereiche handelt. Habermas verweist an verschiedenen Stellen darauf, dass System und Lebenswelt in ständigem Zusammenhang stehen. Dies gilt z.B. für die bereits erwähnten Tendenzen der einzelnen Sozialsysteme, die Gesellschaft insgesamt und damit auch lebensweltliche Bereiche zu überformen, also zu "kolonialisieren", und damit allen sozialen Prozessen ihre spezifische Sachlogik zu oktroyieren. Dies ist, wenn auch in anderer Begrifflichkeit, bereits das große Thema von Marx und der Kritischen Theorie. Von daher ist zu erwarten, dass sich Aspekte systemischer Integration in allen Gesellschaftsbereichen entdecken lassen müssen - ein für die theoretische Analyse von Einzelfällen wesentlicher Gesichtspunkt. Umgekehrt gilt auch, dass selbst in systemisch ausdifferenzierten Gesellschaften ein methodischer Primat der Lebenswelt vorausgesetzt werden muss: Damit systemische Integration überhaupt zu einem sozialen Ordnungstypus werden kann, müssen die entsprechenden Systemprozesse einerseits gesellschaftlich legitimierbar sein und andererseits auf lebensweltliche Handlungsbezüge beziehbar sein, um Teil des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsgefuges sein zu können. Der erste Aspekt verweist insbesondere auf die spezifische Rolle des Rechts, der zweite auf den Begriff der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt insbesondere durch Kultur. Die rechtliche Ausformung vor allem der autonomen Subsysteme ist durchaus auch ein Indikator dafür, wie weit sich diese verselbständigt haben: Der Systemcharakter erweist sich u.a. daran, "dass diese Handlungsbereiche rechtlich konstituiert und nicht nur in ihrer kommunikativen Binnenstruktur rechtlich überformt sind; der Normalfall steht hier immer unter dem Vorbehalt des Rekurses auf eine vorgängige formale Regelung"
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(Habermas 1986, S. 386 f.) Das ist jedoch nur der Aspekt der "Binnenstruktur". Gleichzeitig bindet das Recht diese systemischen Handlungsbereiche an andere gesellschaftliche Handlungsbereiche - die Warenproduktion beispielsweise an den privaten Konsum und den Konsumentenschutz, die politisch-administrativen Entscheidungen über Verfassungs- und Verwaltungsrecht an lebensweltliche Bedürfnisse etc. In dieser Hinsicht lässt sich Recht als ein Medium zur Anbindung der Systeme an lebensweltliche Handlungsbereiche interpretieren, das an die Stelle traditioneller Legitimationsformen getreten ist. Während in traditionellen Gesellschaften politische Herrschaft durch Religion legitimiert wurde, übernimmt in modernen Gesellschaftsformen das Recht als formalisiertes Medium Legitimationsfunktion. Die Entwicklung hin zur Formalisierung und Universalisierung des Rechts lässt sich also als Entwicklung von Koppelungsmechanismen zwischen lebensweltlichen und systemischen Gesellschaftsaspekten und bereichen verstehen. Damit Gesellschaft als Ensemble von zumindest potentiellen Sinnbezügen für die einzelnen Akteure erhalten bleibt, muss die symbolische Reproduktion der Lebenswelt ontogenetisch durch Sozialisation, phylogenetisch gewissermaßen durch kulturelle Entwicklung, stattfinden. Ohne symbolische Reproduktion der Lebenswelt zerfiele lebensweltliches Handeln überhaupt und damit die Möglichkeit für konkrete Menschen, ihr konkretes Handeln als Basis jeder noch so abstrakten Sozialordnung durchfuhren zu können. Grundsätzlich sind alle Handlungsbereiche und alle Systeme auf eine derartige Basis angewiesen; es ist ein empirisches Problem, wie stark jedes einzelne System von lebensweltlichen und vor allem kulturellen Handlungsbezügen abhängig ist. Habermas vertritt hier die Position, dass nur das (kapitalistische) Wirtschaftssystem sich als Einzelsystem von lebensweltlich-kulturellen Bezügen abgekoppelt hat; alle anderen Handlungsbereiche - seien dies autonome Systeme wie die Politik oder systemfÖrmig organisierte Handlungsbereiche wie etwa die Wissenschaft sind in unterschiedlich starkem Maße an lebensweltlich-kulturelle Bezüge gebunden - einschließlich ihrer jeweiligen Medien. "Macht" im politischen System oder "Wahrheit" in der Wissenschaft sind hinsichtlich ihrer Akzeptanz darauf angewiesen, dass sie in kulturellen Kontexten verankert sind und von daher ihre Sinnhaftigkeit für die einzelnen Akteure und ihre Legitimation gesellschaftlich insgesamt gewinnen. Auch dieser Aspekt des Zusammenhangs zwischen Lebenswelt und System muss bei Einzelanalysen beachtet werden. Noch ein anderer Punkt ist wichtig: Handlungstheorie und Theorie sozialer Strukturen hängen bei Habermas auf eine sehr spezifische Weise zusammen. Für die theoretische Interpretation von Einzelfällen bedeutet dies: -
Bestimmung des Handlungstyps der analysierten Interaktionen, Zuordnung zum entsprechenden Ordnungstyp, Anwendung der inhaltlichen Aussagen der Theorie auf den Einzelfall im Rahmen des jeweiligen Ordnungstyps und des Bereichs, von dem die Rede ist.
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II Theorieteil
So einfach geht es bei der Analyse konkreter Fälle freilich nicht, auch wenn die grundsätzliche Interpretationslogik sich an diesem Schema zu orientieren hat. Zum einen ist die Differenzierung "einzelne Handlung" bzw. "Interaktion" - "sozialer Ordnungstypus" nicht vollständig; auch Habermas ist bewusst, dass Institutionen als sozusagen mittlere Ebene - und entsprechende soziale Einheiten - für die theoretische Interpretation im allgemeinen eine Analyseebene sui generis darstellen. Sie müssen selbst daraufhin betrachtet werden, welche Handlungstypen in ihnen dominant sind und welche Zuordnung zu Ordnungstypen möglich ist. System und Lebenswelt bilden hier ein komplementäres Paar sozialer Ordnungstypen. A u f der Handlungsebene sind ebenfalls zwei komplementäre Handlungstypen zu nennen, aus denen sich konkretes soziales Handeln gewissermaßen zusammensetzt: Das strategisch-instrumentelle Handeln und das verständigungsorientierte, kommunikative Handeln. Natürlich ergibt sich unmittelbar eine Zuordnung der Ordnungstypen zu Handlungstypen: Systeme können aufgefasst werden als das Ergebnis von Verknüpfungen (Aggregationen) strategisch-instrumenteller Handlungen und ihrer nicht intendierten Wirkungen. Entsprechend ist Lebenswelt zu deuten als die Aggregation kommunikativer, verständigungsorientierter Handlungen. Eine weitere Differenzierung ist nötig, da konkrete Interaktionen nie einseitig nur strategisches Handeln oder kommunikatives Handeln beinhalten. Der Normalfall ist, dass konkrete Interaktionen als Mischformen beider Handlungstypen zu charakterisieren sind, bei denen ein Handlungstypus allerdings dominiert. Dabei können lebensweltlich zu verortende Handlungen durchaus auch strategischen Charakter haben und einzelne Handlungen im Wirtschaftssystem können auf Verständigungsorientierung hin angelegt sein. Dieser empirisch nicht zu leugnende Umstand, der alltagspraktisch hinlänglich vertraut ist, erschwert selbstverständlich die Einzelfallanalyse; er macht deutlich, dass theoretische Interpretationen einzelner Fälle selbst keine schematischen Operationen sein können, die quasi algorithmisch ablaufen, sondern die ständige Konkretisierung und Weiterentwicklung der Theorie beinhalten. Wesentliche logische Komponenten der Habermas'schen Theorie sind der Zusammenhang des kommunikativen Handelns mit bestimmten Gesellschaftsformationen, insbesondere den Systemaspekten moderner Gesellschaften. Des weiteren die Abhängigkeit angemessener Realisierung bestimmter Lebensbereiche von der Frage, ob sie auf dem Handlungstypus des kommunikativen Handelns basieren. Dieser Handlungstypus ist deijenige, der für Habermas im eigentlichen Sinne Gesellschaft realisiert und sie zu etwas anderem für uns macht als eine zweite Natur im wörtlichen Sinne. Der Begriff des kommunikativen Handelns ist bei Habermas nicht nur analytische Kategorie, sondern auch eine begriffliche Fassung der Art und Weise, wie Menschen "richtig" miteinander umgehen oder umgehen sollten. Die bekannte Figur des "herrschaftsfreien Dis-
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kurses" expliziert den normativen Gehalt des Begriffs des kommunikativen Handelns. Daher muss sich jede Einzelfallanalyse, die gemäß der Theorie des kommunikativen Handelns vorgeht, mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern die einzelnen Fälle präformiertes und sogar deformiertes Handeln darstellen. Ob es sich im Einzelfall um lebensweltlich orientierte, systemische oder systemisch verzerrte lebensweltliche Handlungen handelt, lässt sich häufig nur unter Berücksichtigung des normativen Gehalts des Begriffs des kommunikativen Handelns entscheiden.
Übungsaufgabe 6 Erläutern Sie folgende Begriffe der Habermas'schen Theorie: "Lebenswelt" "System" "Entkoppelung" "Ambivalenz" "Primat der Lebenswelt" "Herrschaftsfreier Diskurs"
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5.4
II Theorieteil
Die Theorie sozialer Systeme
5.4.1 Vorbemerkung Im Vergleich zur Theorie des kommunikativen Handelns ist die Theorie sozialer Systeme von Luhmann sowohl einfacher als auch schwieriger: Sie ist in ihrer logischen Grundstruktur einfacher, weil sie im Gegensatz zur dualistischen Theorie Habermas mit einem einzigen Grundbegriff - dem des Systems - auskommt; sie ist schwieriger, weil dieser Grundbegriff wesentlich komplexer ist als der gleiche Begriff bei Habermas ihm wird bei Luhmann auch wesentlich mehr aufgebürdet - und vor allem, weil die Theorie Luhmanns sich wesentlich weiter von der soziologischen Theorietradition entfernt, als es für Habermas gilt. Die paradigmatischen Vorbilder von Luhmanns Theorie sind eher in der allgemeinen Systemtheorie und dort vor allem in ihrer Anwendung auf die Biologie zu finden als in der Soziologie - mit der Ausnahme von Parsons. Wenn man bei Luhmann in Parallele zu Habermas eine gesellschafitstheoretische Grundthese charakterisieren will, dann ist dies die These von der funktionalen Ausdifferenzierung der (modernen) Gesellschaft. Gemeint ist damit folgendes: Die soziale Evolution lässt sich in Analogie zur biologischen Evolution durch ein grundlegendes Prinzip charakterisieren, das der wachsenden Differenzierung der Gesellschaften - von der Einheitlichkeit zu immer stärkerer "Binnenstrukturierung". Im Bereich sozialer Evolution sind nun drei Ausdifferenzierungsmöglichkeiten zu unterscheiden, die sich nacheinander in der historischen Entwicklung als jeweils dominante durchgesetzt haben: Die segmentäre, die stratifikatorische und die funktionale Differenzierung, wobei die letzte ein Charakteristikum modemer Gesellschaften ist - sie ist nur in den westlichen Industriegesellschaften entwickelt worden und hat deren Entwicklung bestimmt. Bei der segmentären Differenzierung besteht die Gesellschaft aus einzelnen, sich gegenseitig ausschließenden Segmenten wie etwa Familien, Sippen und Stämmen. Jedes Gesellschaftsmitglied gehört einem und nur einem Segment an und leitet seine soziale Identität aus dieser Zugehörigkeit ab. Die stratifikatorische Differenzierung ergänzt die horizontale Gliederung der Segmente in vertikaler Richtung: Quer zu den Segmenten entstehen soziale Schichtungen, die für die gesamte Gesellschaft - also nicht nur für die einzelnen Segmente - eine soziale Hierarchie festlegen. Damit entstehen gesamtgesellschaftliche Herrschaftsstrukturen. Bei der funktionalen Differenzierung schließlich entstehen weitgehend autonome Funktionalsysteme, die auf die Bearbeitung jeweils einer gesellschaftlichen Funktion spezialisiert sind. Im Gegensatz zu den Segmenten der frühen Stufen legen die Funktionalsysteme nicht den sozialen Ort der Individuen fest, sondern sie sind als abstrakte Handlungszusammenhänge aufzufassen, an denen jeder Gesellschaftsangehörige partizipiert - aktiv oder passiv. Am Wirtschaftssystem z.B. hat jedes Gesellschaftsmitglied Anteil entweder als Produzent oder als Konsument, am Gesundheitssystem entweder als Arzt oder als Patient, am Rechtssystem entweder als "Rechtskundiger" oder als Klient
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usf. Luhmann spricht hier von "Inklusion" aller Gesellschaftsmitglieder, über Rollen oder Komplementärrollen, und meint damit, dass jeder entweder als Rolleninhaber Arzt, Produzent - oder als Komplementärrolleninhaber - Patient, Konsument am entsprechenden Funktionalsystem teilhaben kann. Das grundlagentheoretisch Wichtige an der Differenzierungsthese ist die Charakterisierung der sozialen Funktionalsysteme als Kommunikationssysteme, die ausschließlich aus Kommunikationen zusammengesetzt sind. Innerhalb dieser Funktionalsysteme ist für Individuen kein Platz. Diese gehören zur Umwelt der sozialen Systeme und können deshalb die Eigendynamik der Funktionalsysteme wie der „Gesamtgesellschaft" höchstens sehr vermittelt beeinflussen. Luhmann geht in seinem Ansatz sogar soweit, dass er den Begriff des Menschen nicht mehr für eine systemische Einheit verwendet. Er spricht vielmehr von Bewusstseinen, wenn er die Gedankenssysteme meint, und von physischen Systemen, wenn er die biologische Einheit anspricht. Damit ist die Aufmerksamkeit auf die Definition des Begriffs System im Konzept Luhmanns gelenkt. Dieser soll zunächst geklärt werden, damit anschließend das Phänomen der funktionalen Differenzierung entsprechend erfasst werden kann.
5.4.2 Systembegriff und Autopoiese Den zentralen Ansatzpunkt für die Definition des Begriffs System innerhalb der Theorie sozialer Systeme bildet die aus der Biologie stammende Beschreibung autopoietischer Systeme. Diese ist ihrerseits mit den Vorstellungen des (radikalen) Konstruktivismus untrennbar verbunden. Überblicksartig dargestellt besagt der radikale Konstruktivismus, dass Realität immer durch einen Beobachter (bzw. durch Beobachtung) wahrgenommen werden muss, der dann zwangsläufig in zweierlei Weise auf die Ergebnisse der Beobachtung einwirkt. Zum einen wählt der Beobachter ein Raster aus, das er seinen Beobachtungen zu Grunde legt, zum anderen muss er die Beobachtung auswerten (beispielsweise Lichtreize auf der Netzhaut zu Vorstellungen von Bildern werden zu lassen). Durch die beiden Einwirkungen wird Beobachtung unausweichlich zu einem vom Beobachter abhängigen Ereignis. Deshalb vertritt der radikale Konstruktivismus die Ansicht, eine Entdeckung von Wirklichkeit könne es nicht geben, vielmehr werde Realität durch den Beobachter je neu erfunden (konstruiert). Die konsequente Folgerung, die der radikale Konstruktivismus hieraus zieht, lautet entsprechend, dass es keiner Theorie über Realität bedarf, notwendig sei vielmehr eine Theorie des Beobachters (bzw. eine Theorie der Beobachtung). Diese Forderung nimmt das Autopoiesekonzept, das auf Arbeiten der Biologen Maturana und Varela zurückgeht, auf. Das Ziel dieser ursprünglich biologischen Theorie ist es, die Eigenheiten lebender Systeme zu beschreiben. Das Neue am Vorgehen Maturanas und Varelas zeigt sich dabei darin, dass sie nicht fragen, was Leben ist, sondern der
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Fragestellung nachgehen, wie Leben operiert. Ihre Antwort auf diese grundlegende Frage lautet, lebende Systeme reproduzieren sich aus den eigenen Bestandteilen dadurch, dass sie (solange sie leben) neue Bestandteile aus den alten „erschaffen", wobei von außen Energie in den fortlaufenden Reproduktionsprozess zugeführt wird. Der Stoffwechsel biologischer Systeme, in dem Nahrung in Zellen umgewandelt wird, beschreibt dann diesen Reproduktionsprozess und somit auch das grundlegende Prinzip autopoietischer Reproduktion. Nach dieser Sichtweise operieren autopoietische Systeme immer selbstreferenziell, d. h., auf sich selbst bezogen, da sie die Inputs (wie beispielsweise Nahrung) intern in die bestehende (Zell-) Struktur integrieren und damit notwendigerweise in Systemelemente umwandeln müssen. Im Vollzug der Autopoiese, so kann entsprechend der Vorstellungen des radikalen Konstruktivismus beobachtet werden, erschaffen sich autopoietische Systeme ihre eigenen Realitäten. Dass derartige Realitäten sehr unterschiedlich ausfallen können, lässt sich unter anderem daran veranschaulichen, dass Inputs (beispielsweise Nahrungsmittel), die Mitglieder einer Gattung töten, von Angehörigen einer anderer Gattung als Delikatesse angesehen werden. Und auch innerhalb derselben Art reagieren verschiedene individuelle Lebewesen sehr unterschiedlich auf gleichartige Inputs, was sich in Allergien gegenüber bestimmten Außeneinflüssen ebenso ausdrücken kann wie in Immunität gegenüber anderen Einflussfaktoren wie Krankheitserregern. Betrachtet man den Prozess der autopoietischen Reproduktion genauer, so werden vier Eigenschaften autopoietischer Systeme deutlich: 1. Sie besitzen eine systemische Einheit, Reproduktionsprozesses beobachten lässt.
die
sich
auf
der
Basis
ihres
2. Sie entwickeln Autonomie, weil sie die Umwandlung von Inputs in systemische Reproduktion immer durch systeminteme Abläufe regeln und damit den Systemgesetzmäßigkeiten unterwerfen. 3. Sie verfügen über Identität und Individualität, die sich als Folge fortlaufender Reproduktion und Selbstreferenz ergeben. 4. Sie können niemals durch reine Inputs bzw. reine Outputs bestimmt werden, denn sie unterwerfen alles den eigenen Reproduktionsprozessen.
5.4.3 Luhmanns Systemdeflnitionen und Systemtypisierung Luhmann setzt bei der Entwicklung seiner Theorie sozialer Systeme an den Arbeiten Maturanas und Varelas in der Weise an, als er den konstruktivistischen Kern des Autopoiesekonzepts herausstellt und von dort ausgehend den Terminus der Autopoiese auch
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für andere Typen von Systemen verwendet. Zu diesem Zweck modifiziert er zunächst den Begriff der Beobachtung. Beobachten heißt für Luhmann, eine Unterscheidung anzuwenden und dabei eine Seite der Unterscheidung zu bezeichnen. Beobachten, wie Luhmann es definiert, hat immer eine binäre Struktur. Die Anwendung von Beobachtung als „Unterscheiden-und-Bezeichnen" stellt die Grundlage aller Autopoiese dar, die dann letztlich aus der prozessualen Aneinanderreihung von Beobachtung eines je bestimmten Typs besteht. Der so definierte Beobachtungsbegriff ermöglicht die Erweiterung des Autopoiesekonzepts hin zu einer allgemeinen Systemtheorie, nach der autopoietische Systeme dadurch gekennzeichnet sind, dass sie Beobachtungen einer bestimmten Art aus eben Beobachtungen dieser bestimmten Art reproduzieren. In der Theorie sozialer Systeme werden drei Typen autopoietischer Systeme unterschieden: 1. Physische Systeme (biologische Systeme), die sich durch Zellreproduktion charakterisieren lassen. Sie sind der Gegenstand der biologischen Theorie autopoietischer Systeme. 2. Psychische Systeme, die durch die Reproduktion von Gedanken aus Gedanken konstituiert sind. Sie werden auch als Bewusstseine bezeichnet. 3. Soziale Systeme, die ihre Einheit dadurch gewinnen, dass sie Kommunikation an Kommunikation hängen. Diese systemische Einheit nennt Luhmann Gesellschaft. Im Kontext der Theorie nehmen die Bewusstseine und Gesellschaft eine Sonderrolle dahingehend ein, als sie sinnverarbeitende Systeme bilden, d. h., sie sind in der Lage, eine Seite einer Unterscheidung zu wählen, ohne die nicht gewählte Seite für alle Zeit auszuschließen: Wer heute für eine politische Partei votiert, kann morgen einer anderen die Stimme geben, wer heute eine bestimmte Musik hört, kann morgen eine andere präferieren etc. Diese Bezeichnungen „haben Sinn", da sie Selektionen voraussetzen, und sie „verarbeiten Sinn", weil sie immer vor dem Hintergrund der anderen Alternativen selektiert bleiben, wobei die Möglichkeit, die Seiten zu wechseln, allzeit erhalten bleibt. Was für einzelne Bewusstseine gilt, wird auch für soziale Systeme behauptet: Ansichten, die heute nicht als wissenschaftlich tauglich angesehen werden, können morgen als „Stand der Diskussion" betrachtet werden, und Verhalten, das heute verpönt erscheint, mag morgen modern sein. Auch Kommunikation wählt zu einem Zeitpunkt eine Unterscheidung, bezeichnet die eine Seite, schließt dadurch die andere Seite zunächst aus und erhältlich gleichzeitig die Möglichkeit zu dieser Seite hinüber zu wechseln. Genau dies heißt nach Luhmann „Sinnverarbeitung".
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5.4.4 Gesellschaft und funktionale Differenzierung Die Theorie sozialer Systeme reserviert den Begriff Gesellschaft, so wurde oben ausgeführt, für den Typ autopoietischer Systeme, der Kommunikation an Kommunikation anschließt. Dazu bedarf es der „Mithilfe" von Bewusstseinen, gleichzeitig gilt aber, dass Bewusstseine unmöglich zu Elementen von Gesellschaft werden können. Die Entstehung von Kommunikation durch die Verbindung von Kommunikationsofferten im Zuge des Zusammentreffens von Bewusstseinen bedarf einer kurzen Klärung, denn hier wird eine zentrale Aussage des Konzepts angesprochen. Mit anderen Worten und in der Form einer Frage: Was geschieht, wenn Bewusstseine sich in kommunikativen Situationen begegnen, damit Kommunikation entsteht und sich als eigener Systemtyp in der Umwelt von Bewusstseinen konstituiert? Die Antwort auf diese Frage lautet wie folgt: Die Prozesse der Autopoiese von Bewusstseinen und Gesellschaft fallen für einen kurzen Augenblick zusammen, indem sie sich derselben Leitdifferenz bedienen. So kann ein Bewusstsein, nennen wir es A, beispielsweise die Unterscheidung „schön/nicht schön" wählen, um eine Kommunikationsofferte zu generieren, die den Beginn einer Unterhaltung bilden soll. Das Ergebnis dieser Überlegungen könnte beispielsweise in dem Satz bestehen: A: „Schönes Wetter heute." Damit Kommunikation entstehen kann, muss an diese Offerte kommunikativ angeschlossen werden, d. h., ein anderes Bewusstsein, nennen wir es B, muss die Offerte beobachten und seinerseits mit einer eigenen Kommunikationsofferte antworten. Hierzu ist es unumgänglich, dass das Bewusstsein B die gewählte Unterscheidung „schön/nicht schön" übernimmt, in einem internen Prozess als Kommunikationsofferte erkennt, mit eigenen Gedanken und einer weiteren Unterscheidung anschließt, diese neue Unterscheidung in eine für das Bewusstsein A als Kommunikationsofferte erkennbare Form (traditionell wird hier von Handlung als Form gesprochen) gebracht wird. Ist dieser Prozess vollzogen, so könnte die Reaktion des Bewusstseins B darin bestehen, dass es antwortet: „Hast du sonst keine Probleme?" Dass die Kommunikation selbst im Augenblick der ersten Kommunikationsofferte ihre eigenen Wege geht, dürfte bereits deutlich werden, wenn man den möglicherweise überraschenden (aber durchaus möglichen) Antwortsatz des Bewusstseins B betrachtet. Der Kommunikationsprozess entwickelt von seinem Beginn an eigene Verarbeitungsprozeduren. Diese autonomen Prozesse der Kommunikation machen eine Beschreibung der Kommunikationsabläufe über die ausschließliche Beobachtung und Beschreibung von Bewusstseinen unmöglich. Blickt man lediglich auf die beiden Bewusstseine A und B, so entsteht ein Bereich des „Unerklärlichen", der aus den Eigengesetzlichkeiten von Kommunikation entsteht.
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Ausgehend von der „Wetterfrage" kann die Unterhaltung nahezu jede Wendung nehmen. Viele davon dürften dem Bewusstsein, das über Wetter sprechen wollte, zunächst nicht in den Sinn gekommen sein. Trotzdem gehört nur wenig Phantasie dazu, Gesprächsverläufe zu bedenken, die allesamt mit den oben erwähnten Sätzen beginnen und doch völlig verschieden enden. Die nachstehenden drei Beispiele mögen wiederum zunächst überraschen, sind aber ohne große Mühe zu rekonstruieren: Gesprächsbeginn wie oben beschrieben: A: „Schönes Wetter heute." B: „Hast du sonst keine Probleme?" Gesprächsende 1 A: „Wenn Du so von mir denkst, rede ich nie mehr mit dir!" Gesprächsende 2 A: „Prima, dann sehen wir uns gleich im Schwimmbad." Gesprächsende 3 B: „Ja, ich möchte gerne Deine Frau werden." Diese wenigen Beispiele können auch dazu dienen, die Verbindungen zwischen Gesellschaft und Bewusstseinen zu verdeutlichen. Beide Systemtypen „brauchen und nutzen einander", um die eigenen Prozesse anzustoßen. Sie nehmen die Beiträge des je anderen Systems als Energiezufuhr, als „Nahrungsmittel" oder - allgemeiner formuliert - als Anstoß (Perturbation) auf, um dann mit System eigene Operation und Modifikationen anzuschließen. Und weil dies so ist, bleiben die Systemtypen füreinander Bestandteile der Umwelt und sind in letzter Konsequenz nicht in der Lage, den Verlauf des autopoietischen Prozesses des je anderen Systems direkt zu steuern - wie gesagt: Es gibt keine reinen Inputs für autopoietische Systeme. Aus der Position einer traditionellen Soziologie erweist sich die Beschreibung von Gesellschaft als Kommunikation (und nichts als Kommunikation) sicherlich als radikale Abkehr von nahezu allen Denktraditionen. Gesellschaft ohne Menschen ist jenseits der Luhmann'schen Theorie sozialer Systeme nur schwer vorstellbar. Im Gefolge dieser ,.radikalen Neuausrichtung von Soziologie" ergeben sich weitere begriffliche Neufassungen und Definitionen. Funktionale Differenzierung ist einer der Termini, die im Zuge dieser begrifflichen Neufassungen eine völlig andere als die traditionelle Bedeutung erhält.
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Bevor die sozialen Funktionalsysteme genauer betrachtet werden, muss noch kurz darauf eingegangen werden, warum Differenzierung eigentlich ein so wesentliches Evolutionscharakteristikum vor allem für soziale Systeme sein muss. Dazu muss erläutert werden, wie Systeme mit ihrer Umwelt interagieren: Luhmann hat hier den Begriff der Reduktion von Komplexität entwickelt, der im wesentlichen besagt, dass jede Umwelt für ein spezifisches System - gleichgültig welcher Art - überkomplex ist, d.h. in ihrer Totalität vom System nicht erfasst werden kann. Damit das System sich gegenüber der Umwelt erhalten kann, muss es eine Form der Reduktion der Umweltkomplexität vornehmen, die die Umwelt in dieser reduzierten Form für das System "bearbeitbar", d.h. erfassbar macht. Es ist hierbei evident, dass ein System vor allem dann erfolgreich seine Umwelt erfassen kann, wenn die Komplexitätsreduktion die für das System wesentlichen Aspekte der Umweltkomplexität bewahrt. Ein System kann nun seine eigene Komplexität erhöhen und zwar durch "Binnendifferenzierung", d.h. durch Herausbildung systemimmanenter Strukturen; insbesondere kann es seine Komplexität durch Bildung systemintemer Teil- bzw. Subsysteme erhöhen. Generell gilt hierbei, dass die Erhöhung der systemeigenen Komplexität der wesentliche Mechanismus dafür ist, dass das System seine Umwelterfassung verbessern kann, d.h., je komplexer das System desto mehr Umweltkomplexität kann erfasst werden. In der allgemeinen Systemtheorie bedeutet dies, dass ein System nicht ohne ein Mindestmaß an Eigenkomplexität auskommt; die Umweltkomplexität, die bei der Erfassung durch ein System erhalten bleibt, ist eine direkte Funktion der systemischen Eigenkomplexität, die sowohl die Art als auch das Ausmaß der vom System vorgenommenen Reduktion der Umweltkomplexität bestimmt. So gesehen ist es naheliegend, den internen Ausdifferenzierungsgrad einer Gesellschaft als Indikator für ihren Evolutionsstand zu nehmen. In dem Maße, in dem funktional ausdifferenzierte Gesellschaften ein höheres Maß an Eigenkomplexität aufweisen als andere Gesellschaften - und das ist sicher der Fall sind sie in einem evolutionären Sinne des Wortes "leistungsfähiger" als andere; das ist allerdings keine moralische Wertung. Was haben nun diese systemtheoretischen Grundprobleme mit den Problemen sozialer Ordnung und der Produktion sozialer Realität durch Einzelhandlungen zu tun? Beides ergibt sich aus der genaueren Bestimmung der sozialen Funktionalsysteme - im folgenden als soziale Systeme bezeichnet. Soziale Systeme entstehen als Steigerung der Eigenkomplexität einer Gesellschaft und damit als Mechanismus zur Steigerung der erfassbaren Umweltkomplexität. Dies geschieht durch Spezialisierung, d.h., jedes Sozialsystem ist durch eine bestimmte Funktion charakterisiert, zu deren Bearbeitung es aus der Gesellschaft insgesamt ausdifferenziert ist - Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Erziehung, Politik, Recht etc. Das Sozialsystem bearbeitet nur diese Funktion und erhält per Ausdifferenzierung eine weitgehende funktionale Autonomie, d.h., es operiert aufgrund einer systemspezifischen Eigenlogik, die von der Gesellschaft, also der Umwelt
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des Systems, nicht extern beeinflusst werden darf und kann - es sei denn, das System selbst wird in seinem Bestand bedroht und damit auch in seiner Funktionalität für die Gesellschaft. Beachtet man die Terminologie der Theorie sozialer Systeme sehr genau, so darf von Handlungen als Bestandteile von Gesellschaft ebenfalls nicht gesprochen werden. Es geht vielmehr um Kommunikationsofferten, deren Beobachtung, um anschließende weitere Kommunikationsofferten und deren Verschmelzung zu Kommunikation. Es fällt jedoch häufig schwer, trennscharf zwischen dem, was traditionell als Handlungen bezeichnet wird, und Kommunikationsofferten zu unterscheiden, weil jede Kommunikationsofferte in eine Form gebracht werden muss, die für ein anderes Bewusstsein beobachtbar und als Kommunikationsofferte erkennbar ist. Der gängige soziologische Begriff für die meisten beobachtbaren Formen von Kommunikationsofferten lautet Handlung. Der Unterschied zwischen Handlung und Kommunikation mag durch drei Beispiele deutlich werden: 1. Es ist durchaus möglich, dass auch eine schriftliche Antwort auf eine Kommunikationsofferte eine Anschlusskommunikation darstellt. Die eigentliche Handlung, das Schreiben eines Briefes, wird von dem Kommunikationspartner in diesem Fall gar nicht beobachtet werden (können) - gesehen - und ggf. als Kommunikationsofferte interpretiert - wird in diesem Fall lediglich das Resultat. 2. Die Form einer (kommunikativen) Handlung alleine sagt über die Brauchbarkeit im Prozess der Reproduktion von Kommunikation nichts aus. Eine Handlung muss als kommunikativ erkannt werden. Ein Gruß, der nicht gehört oder als Selbstgespräch missverstanden wird, kann als Kommunikationsofferte nicht gedeutet werden. Zwar liegt in diesem Fall eine Handlung vor, es entwickelt sich aber keine Kommunikation. 3. Schließlich kann eine Kommunikation auch entstehen, wenn gar keine kommunikative Handlung vorlag. Das Zurechtrücken des Hutes kann als Gruß fehlinterpretiert werden und, weil das missverstehende Bewusstsein kommunikativ - vielleicht mit einem „Hallo" antwortet - zu Kommunikation führen. Damit „bemächtigt" sich Kommunikation sozusagen einer nicht kommunikativen Handlung und bringt sie mit einer Anschlusskommunikation zusammen. In direkten Interaktionen fallen Kommunikationsofferten jedoch in aller Regel mit der Handlung zusammen. In den nachstehenden Ausführungen, die sich auf Interaktionen beziehen, wird deshalb auch von Handlungen gesprochen. Für die nachfolgende Erläuterung der Aspekte Mediencode und Zurechnung zu bestimmten Systemzusammenhängen spielen die terminologischen Gesichtspunkte keine entscheidende Rolle.
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"Mediencodes" sind sprachunabhängige Kommunikationsmedien, die soziale Handlungen eines bestimmten Typs steuern, d.h., sie beziehen die Handlungen auf die Systemfunktion, vermitteln die einzelnen Handlungen miteinander - sie ermöglichen "Anschlusshandeln" - und legen fest, welche Handlungen Elemente des entsprechenden Sozialsystems sind. Es sind genau die Handlungen, die sich über den Mediencode aufeinander beziehen lassen, über den Mediencode also aneinander anschließen können; andere Handlungen sind nicht und können nicht Elemente dieses speziellen Systems sein. Die Mediencodes sind damit ein fundamentaler Reduktionsmechanismus des Systems; sie sind gewissermaßen der Garant dafür, dass das System nur mit solchen Handlungen operiert, die als selbst reduzierte Handlungstypen die systemspezifische Reduktionsleistung des Systems immer wieder praktisch realisieren. Gleichzeitig sind sie als sprachunabhängige Medien konstitutiv dafür, dass die Systeme "objektiv" operieren, nämlich unabhängig von den Intentionen und Bedürfnissen der Individuen, die sich in sprachlich vermittelten Interaktionen nie gänzlich eliminieren lassen. Diesen Aspekt der Mediencodes betont, wie bemerkt, auch Habermas sehr explizit. Schließlich sind die Mediencodes auch wesentlich für die Selbstreproduktion des Systems, d.h., dafür, dass die systemischen Handlungen nicht plötzlich dadurch an ein Ende geraten, dass aus ihnen keine andere Handlung desselben Typus mehr erfolgt. Die Mediencodes selbst generieren zwar keine Handlungen per se - so wie auch Sprache als Struktur keine konkreten Sprechhandlungen generiert -, wohl aber ermöglichen sie es immer, aus einer endlichen Menge vorhandener Handlungen weitere Handlungen "abzuleiten". "Aus sich" heraus kommt ein Sozialsystem nicht zum Stillstand, sondern nur durch externe zerstörerische Eingriffe. A m Beispiel des Wirtschaftssystems lässt sich dies etwas konkreter machen (vgl. dazu Luhmann 1984). Wenn überhaupt bei einem Gesellschaftsbereich, dann ist der systemische Charakter dieses Handlungsbereichs unstrittig. Der für dieses Sozialsystem spezifische Mediencode ist der des Geldes - ein Gedanke, den Luhmann wie die Konzeption der Mediencodes von Parsons übernommen hat, wenn auch in veränderter Form. Hier treffen offenbar alle bisher genannten Bestimmungen paradigmatisch zu: Geld kann sicher nur aufgefasst werden als eine bestimmte Art, wirtschaftliche Handlungen zu steuern und aufeinander zu beziehen. Wenn man mit der Systemtheorie annimmt, dass wirtschaftliches Handeln durch Geld gesteuert wird, dann machen sich diese Handlungen weitgehend von Sprache unabhängig, sind also den Intentionen und vor allem Bedürfnissen der Gesellschaftsmitglieder äußerlich, sie sind aneinander anschließbar, da jede auf Geld bezogene Handlung durch andere entsprechende Handlungen fortgesetzt werden kann und wird - Kauf, Vertrag, Produktion und Verkauf, Konsumtion etc. - und schließlich sind f ü r ein "effektives" Wirtschaftshandeln auch nur solche Handlungen zulässig, die auf Geld beziehbar sind - also beispielsweise auf Profit, Mehrwert usf. Als Basishandlung des Wirtschaftssystems bestimmt Luhmann dann auch die Handlung des Zahlens.
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Am Beispiel des Mediencodes Geld wird auch die Reduktionsleistung des Systems Wirtschaft sehr deutlich. Wirtschaftliches Handeln ist hier definitiv nicht am "Gemeinwohl" oder gesamtgesellschaftlichen Vernünftigkeitsprinzipien ausgerichtet, sondern ist in seiner Effizienz ausschließlich auf den Mediencode Geld hin orientiert - gemeint ist hier stets das kapitalistische Wirtschaftssystem. Wenn man als Funktion des Wirtschaftssystems die materielle Reproduktion der Gesellschaft bestimmt (Luhmann drückt das allerdings etwas anders aus), dann konkretisiert und realisiert der Mediencode Geld, wie das in systemisch reduzierter und gleichzeitig maximal effektiver Weise geschehen kann. Wenn, wie bei staatlich gelenkten Wirtschaften, andere Steuerungsgesichtspunkte und Steuerungsmedien hinzugenommen werden und/oder den Mediencode Geld überlagern, dann entsteht zumindest kein funktional autonomes Subsystem und damit - wie empirisch demonstrierbar - ein weniger reduziertes und noch ein weniger effektives Wirtschaftshandeln. In diesem Sinne sind Systeme "amoralisch" und zwar nicht nur das Wirtschaftssystem, das in dieser Hinsicht seit Entstehen kapitalistischer Gesellschaften immer wieder kritisch analysiert wurde, sondern jedes Sozialsystem, insbesondere dann, wenn es sich durch Herausbildung eines spezifischen Mediencodes von der primär sprachlichen Vermittlung einzelner Handlungen abkoppeln kann. Entsprechend zum Wirtschaftssystem konstituiert sich das Politiksystem durch den Mediencode "Macht", das Wissenschaftssystem durch "Wahrheit", das Familiensystem durch "Liebe" und das Rechtssystem durch "Recht", um nur einige der wichtigsten Beispiele zu nennen. Das Entstehen sozialer Ordnung ergibt sich in der Theorie sozialer Systeme sehr konsequent aus den bisher entwickelten Grundbegriffen und Prämissen: Die einzelnen Handlungen gewinnen ihre soziale Spezifität dadurch, dass sie als Element eines Systems fungieren. Systeme "sind" funktional-strukturelle Zusammenhänge zwischen einzelnen Handlungen, die konkret durch die Mediencodes verknüpft werden; als Konstitution von Handlungen, nämlich Festlegung ihrer Zugehörigkeit zu einzelnen Systemen und damit Handlungstypen, fungieren die Systeme als ein ganz bestimmter Ordnungstypus, der selbst wieder aus seiner jeweiligen Funktionalität fiir die Gesellschaft heraus zu erklären und zu bestimmen ist. Die "Produktion" sozialer Realität geschieht selbstverständlich auch hier durch die Realisation von Handlungen; diese aber reproduzieren nicht Gesellschaft insgesamt, sondern ein bestimmtes soziales Subsystem, das als Ordnungstypus die Handlung als Systemelement gewissermaßen sozial verortet. An dieser Stelle treten die beiden zentralen Begriffe der Luhmann'schen Theorie, Autopoiese und Selbstreferenz, erneut in den Vordergrund - wobei gleichzeitig die Unterschiede zwischen beiden deutlich werden (vgl. dazu systematisch Luhmann 1984, S. 30 ff.). Wenn man unter Selbstreferentialität einen bestimmten Modus versteht, mit dem
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II Theorieteil
ein System sich auf sich selbst bezieht und beziehen kann - z.B. die Reflexion auf sich selbst bei einem individuellen Bewusstsein -, dann bedeutet Autopoiesis so etwas wie eine "praktische" Verschärfung der Selbstbezüglichkeit: Die Fähigkeit eines Systems, seine eigenen Systemprozesse selbst zu organisieren, zu steuern und durch Herstellung seiner Elemente sich selbst zu reproduzieren. Betrachtet man den Reproduktionsprozess autopoietischer Systeme, in dem Elemente des Systems aus dem Netzwerk der Elemente des Systems hervorgehen, so wird die „Zwitterrolle" deutlich, die autopoietische Systeme hinsichtlich der Eigenschaften Offenheit und Geschlossenheit spielen. Autopoietische Systeme sind offen, weil sie immer durch äußere Anstöße zu systeminternen Prozessen bewegt werden (müssen), was mit dem Begriff der energetischen Offenheit beschrieben wird. Auf der operativen Ebene hingegen bleiben autopoietische Systeme geschlossen, denn die internen Abläufe unterliegen immer ausschließlich systemeigenen Gesetzmäßigkeiten. Fasst man soziale Systeme als autopoietische Systeme auf, dann sind einzelne soziale Handlungen vor allem dadurch zu analysieren, dass sie und inwiefern sie ein Teil eines autopoietischen Produktionsprozesses - bezogen auf das entsprechende System - sind. Der Zusammenhang zwischen Mikroereignissen und Makrostrukturen stellt sich demnach hier so dar, dass einzelne Handlungen als systemspezifische Handlungen das System herstellen und zwar dadurch, dass die Handlungen "rekursiv" aufeinander aufbauen, auseinander hervorgehen und rekursiv vernetzte Prozesse bilden. Diese Prozesse realisieren dann das System - genauer gesagt: Die dynamische Stabilität des Systems und seine Identität gegenüber der Umwelt bestehen darin, dass die rekursiv geordneten Prozesse als spezifische Vernetzung von Handlungen und Handlungsfolgen eine soziale, nämlich systemische Realität produzieren. "Rekursiv" ist ein Begriff aus der mathematischen Logik, der im wesentlichen besagt, dass bei vor allem zeitlichen Folgen sich das nächste Glied auf eine bestimmte Weise aus den vorhergegangenen ergibt; es gibt also Konstruktionsgesetze, die ein Element aus den bereits vorhandenen "erzeugen". Zur Präzisierung des Autopoieseprozesses und der Binnendifferenzierung von Gesellschaft durch funktionale Differenzierung kann die Vorstellung der rekursiven Verbindung beitragen, da hier deutlich wird, dass ein autopoietisches System nicht aus den „Beiträgen" von außen (den Kommunikationsofferten respektive Handlungen) alleine beschrieben werden kann. Die jeweiligen Rekursivitätsprinzipien müssen bei einer adäquaten Beschreibung des Systems immer mitbedacht werden. Für die Ausgestaltung der Rekursivitätsprinzipien eines bestimmten Systems muss auf die Eigenschaft der Individualität und Identität jedes autopoietischen Systems verwiesen werden, d. h., jedes System verfugt über seine eigenen Strukturierungen der Rekursivitätsprinzipien, eine Tatsache, die gelegentlich als individuelle Programmierung autopoietischer Systeme bezeichnet wird.
5 Habermas und Luhmann
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Da man in einem formalen Sinne diese Rekursivitätsprinzipien auch als Handlungsgeneratoren ansehen kann, ergibt sich für autopoietische Systeme eine enge Beziehung zwischen Prozess und Struktur: Strukturen generieren Prozesse, aus denen sich wieder bestimmte Strukturen bilden, die als Prozessgenerator fungieren (können) usf. Luhmann drückt diese Beziehung sehr pointiert dadurch aus, dass er den Unterschied zwischen Prozessen und Strukturen nur noch in einer sehr bestimmten Zeitlichkeit sieht: "Strukturen halten Zeit reversibel fest, denn sie halten ein begrenztes Repertoire von Wahlmöglichkeiten offen. ... Prozesse dagegen markieren die Irreversibilität der Zeit. Sie bestehen aus irreversiblen Ereignissen. Sie können nicht rückwärts laufen" (1984, S. 73 f.). Soziale Ordnung jedenfalls besteht hier nicht nur aus statischen Strukturen, sondern auch aus Prozessgeneratoren, so dass wir hier eine sehr präzise zu formulierende Fassung dafür haben, dass soziale Ordnung in statischen und dynamischen Aspekten aufgefaßt werden muss - es sind in gewisser Hinsicht die gleichen Festlegungen, mit denen eine bestimmte soziale Situation strukturell beschrieben wird und mit denen der Übergang zu anderen Situationen dargestellt wird. Die Integration von Mikro- und Makroebene erfolgt in dieser Theorie demnach einmal über die Zuordnung bestimmter Handlungstypen zu einem bestimmten System - die "Konstitution von oben", die gleichzeitig als Reduktionsleistung des Systems verstanden werden muss - und die autopoietische Selbstproduktion des Systems, dessen Rekursivitätsprinzipien sowohl Strukturen wie Prozesse beschreiben. Reduktion von Komplexität, soviel sei hier noch angemerkt, geschieht stets als eine bestimmte Form von Selektion, aus dem "an sich" vorhandenen Wahlrepertoire an Möglichkeiten nämlich. Die Umwelt stellt immer mehr Möglichkeiten zur Verfügung, als das System für sich in seine autopoietischen Produktionsprozesse integrieren kann. Bei sozialen Systemen - wie auch bei Persönlichkeitssystemen - geschieht diese Selektion über "Sinn": Die Umwelt wird nach einer systemspezifischen Sinnperspektive geordnet und nur unter dieser Perspektive wahrgenommen. Der "Sinn" beispielsweise, nach dem das Wissenschaftssystem Umwelt erfasst und reduziert, besteht gemäß seiner Funktion darin, Umwelt als potentiellen Lieferant von Erkenntnis wahrzunehmen, wobei diese Erkenntnis nach dem Schematismus Wahrheit/Unwahrheit - dem Mediencode - geordnet werden muss. Andere Aspekte der Umwelt fallen der Reduktion von Komplexität zum Opfer.
Übungsaufgabe 7 Erläutern Sie die drei Differenzierungsstrategien. Was bedeutet „Reduktion von Komplexität" im Verhältnis System - Umwelt?
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6
// Theorieteil
Theorie und Empirie
Die Erfassung der sozialen Realität im Einzelfall "Interaktionen vor Gericht" Das folgende Beispiel kann nur den generellen Weg aufzeigen, wie die theoretische Einbettung und Generalisierung von Einzelfallstudien zu erfolgen hat - nicht mehr und nicht weniger. Es wird vor allem darauf ankommen, den "gesellschaftstheoretischen Kern" der beiden Theorien auf das Beispiel zu beziehen. In gewisser Hinsicht ist die Möglichkeit das Beispiel in die Theorien einzuordnen ein Indikator für deren empirischen Gehalt. Die mehrfach angesprochene Konstitutionsleistung der jeweiligen Theorie wird bei der Behandlung des Beispiels eine wesentliche Rolle spielen. Eine Grundfrage ist demnach stets, ob und in welcher Hinsicht einzelne Handlungen resp. Interaktionen im Sinne der Theorie als "Systemelement" oder auch als Teil von Lebenswelt fungieren können. Die Einordnung der Basiselemente als Teile der jeweiligen Grundstrukturen ist häufig schon der wesentliche Einbettungsschritt: Kann man zeigen, dass eine bestimmte Interaktion als Systemelement aufgefasst werden kann oder muss, dann ist damit die Anwendbarkeit der Theorie zum großen Teil gesichert. Handlungen "sind" dann Systemelemente oder Teile lebensweltlicher Handlungsbereiche. An dieser Stelle kann bereits konstatiert werden, dass das aufgeführte Beispiel sich theoretisch so lesen lässt, dass es nicht auf ein einziges System oder einen einzigen sozialen Ordnungstyp verweist, sondern "Übergänge" markiert: Systemtheoretisch gesprochen wird an dem Beispiel der Übergang von einem System zu einem anderen jeweils sichtbar: der theorietechnische Ausdruck dafür heißt Interpénétration von Systemen; in der Theorie des kommunikativen Handelns spricht man von einer wechselseitigen Interaktion von System und Lebenswelt. Die Verallgemeinerbarkeit von Einzelfallstudien, das sei hier noch einmal ausdrücklich betont, erweist sich darin, inwieweit das von der Theorie thematisierte Allgemeine der Gesellschaft sich im Besonderen des Falles wiederfinden lässt; hierbei lässt die Schichtung der sozialen Realität das Allgemeine im Besonderen nicht strukturgleich, sondern nur "gebrochen" erscheinen. Die Anwendung von Theorien ist aus mindestens diesem Grund immer auch Interpretation, deren Ergebnis weder eindeutig noch endgültig sein muss. Das jedoch gilt fur jede Wissenschaft mit unterschiedlicher Radikalität. Im folgenden soll ein Schritt in Richtung Konkretisierung sozialer Realität getan werden durch die Präsentation einer Einzelfallanalyse; an ihr soll ein wesentliches Anliegen der interpretativen Sozialforschung deutlich werden: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit sozialer Realität erschöpft sich nicht in der Abstraktheit reiner Strukturanalysen oder mathematisch-statistischer Verfahren. Die Faszination des Konkreten ist ein zentrales Motiv dafür, dass diese Form sozialwissenschaftlicher Forschung immer wieder Konjunktur hat - ungeachtet der immer wieder erhobenen Vorwürfe der Unwissen-
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schaftlichkeit. Vor der Darstellung des Beispiels sind freilich noch einige erläuternde Bemerkungen notwendig. Inhaltlich geht es bei diesem Interaktionsbeispiel um einen Strafprozess, der sehr berühmt wurde, nämlich ein Strafverfahren gegen Fritz Teufel und Rainer Langhans, zwei Mitglieder der Berliner Kommune "K 1"; der Prozess fand 1968 in Berlin statt und wurde von den Betroffenen selbst dokumentiert. Interaktionen vor Gericht, vor allem bei einem Strafprozess, gehören zu den mit Abstand explizitesten und rigidest vorstrukturierten Handlungszusammenhängen, die in der gegenwärtigen Gesellschaft zu finden sind. Es gibt eigene Verfahrensordnungen, die wie im Fall der Strafprozessordnung selbst praktisch Gesetzescharakter haben; Verstöße gegen die Verfahrensordnungen werden selbst streng regelhaft geahndet, und zwar für alle Beteiligten. Die Angeklagten werden im Strafverfahren bei Verstößen mit entsprechenden Strafen belegt, die beteiligten Berufsjuristen riskieren die Aufhebung ihrer Entscheidungen durch Revisionsinstanzen und damit ihre berufliche Reputation; die Konstruktion der Berufungs- bzw. Revisionsinstanzen basiert selbst auf der Notwendigkeit, die Verletzung der Interaktionsregeln im Prozess durch die richterlichen Berufsjuristen korrigieren zu können. Obwohl formal die prozessualen Interaktionsregeln für alle Beteiligten am Prozess gleichermaßen wirksam sind, sind sie im Normalfall faktisch ein Steuerungsinstrument, das asymmetrisch von den professionell handelnden Berufsjuristen, also vor allem den Richtern und Staatsanwälten, zur Kontrolle des Verfahrens der Angeklagten eingesetzt wird. Dies hat fundamental seinen Grund darin, dass es sich bei Prozesssituationen vor einem Strafgericht immer auch um asymmetrisch strukturierte Machtsituationen handelt, die in einer ungleichen Verteilung der Steuerungskompetenzen zum Ausdruck kommen. Diese ungleiche Verteilung von Steuerungskompetenzen ist jedoch nicht zufällig hochgradig regelstrukturiert; die zuweilen vertretene Auffassung, dass die ritualisierte Interaktionsregelung der Verschleierung der faktischen Macht dient, wird diesem komplexen Problem kaum gerecht. Im ersten Beispiel ist SPENGLER ein vom Gericht bestellter psychiatrischer Gutachter; in den nächsten Beispielen ist SCHWERDTNER der Vorsitzende Richter; MAHLER ist der Verteidiger der beiden Angeklagten, der mehrere Jahre später wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde und sich im Sommer 1987 um seine erneute Zulassung als Rechtsanwalt bemühte.
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II Theorieteil
SPENGLER:
...Auch ist mir immer ein spezifisches Lächeln aufgefallen, das Sie immer aufsetzen, sowohl Langhans als auch Sie, auch das ist vom psychiatrischen Standpunkt, dass Sie danach streben, Souveränität zu zeigen, über den Dingen zu stehen, wohingegen L. ein ausgesprochen müdes Lächeln zeigt. Sie unterscheiden sich, der eine neigt mehr zur Steigerung, der andere mehr zur Lässigkeit. Das sind feste Begriffe, die in der Psychiatrie gelten. Das ist alles an Krankenmaterial erprobt und ich jongliere damit. - Aus den einzelnen Symptomen habe ich das Bild entwickelt und meine Schlüsse gezogen. Auch das Grimassieren lässt auf eine geringe Einsatztiefe der Gefühle schließen.
TEUFEL:
Darf ich Sie so verstehen, dass Sie ein Lächeln in einer Gerichtsverhandlung, die Sie zum Weinen finden, schon als Zeichen einer abnormen Persönlichkeit vielleicht mit Recht nehmen?
SPENGLER:
L. grimassiert tatsächlich, das ist doch kein Werturteil, ich habe ihn damit doch nicht beleidigt, das sind charakterologische Persönlichkeitsmerkmale, sie fußen auf der Spielart des abnormen Charakters. - Das sind Symptome, die ein Arzt beobachten muss. Man muss öfter nur aus Symptomen beobachten.
TEUFEL:
Welche Therapie gegen das Lächeln schlagen Sie vor, wenn es, wie in unserem Fall, Zeichen der Abnormität ist?
SPENGLER:
Vielleicht psychotherapeutische Behandlung."
Hier geht es um die Ahndung einer bestimmten Gestaltung des Verfahrens durch die Angeklagten, nämlich einer mimisch ausgedrückten Distanzierung von der Rolle des verfugbaren Angeklagten. Für die Angeklagten ist die Distanzierung ein Versuch, persönliche Identität zu bewahren gegenüber einer Reduktion auf eine verfahrensmäßig festgelegte Handlungsrolle; das Gericht kann eben diesen Versuch nicht zulassen, da damit die Verfügbarkeit des Angeklagten und seine für das Gericht "vollständige Sichtbarkeit" z.T. aufgehoben wird. Falls unmittelbare Sanktionen im Verfahren das Distanzierungsverhalten der Angeklagten nicht durchbrechen können - wie in diesem Beispiel -, bedeutet die Hinzuziehung des Gutachters, die Angeklagten dadurch per Objektivierung wieder verfugbar zu machen oder doch zumindest für das Verfahren festzuhalten, dass das Distanzierungsverhalten selbst zum Gegenstand wird und somit Bestandteil der Wahrheitsfindungsrituale sein kann. Der Gutachter fungiert in so einem Fall - wenn
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auch in diesem Beispiel eher als Karikatur - als Mittel, die distanzierenden Verweigerungen der Angeklagten in die reduzierte Realität des Strafprozesses wieder einzufügen. „SCHWERDTNER:
Was wollten Sie denn beruflich machen?
LANGHANS:
Augenblicklich mache ich Kommune.
SCHWERDTNER:
Aber ist denn das eine Lebensaufgabe?
LANGHANS:
Es kann schon eine werden - ich weiß es noch nicht und es interessiert mich auch nicht.
SCHWERDTNER:
Sie haben zu Beginn von den weiterreichenden Aktionen gesprochen, die zunächst den privaten Bereich betrafen.
LANGHANS:
Es handelt sich da nicht um besondere Aktionen - es stimmt, wir wollten auch die persönlichen Dinge einbeziehen.
SCHWERDTNER:
Ihr Privatleben interessiert mich nicht.
LANGHANS:
Müsste Sie aber interessieren - Sie sind hier Richter und abends nett zu Ihrer Frau. Wir wollen keine Trennung zwischen unserem politischen Engagement und dem persönlichen. Ich kann nicht zu Hause mein Kind prügeln und sonst Kindergärten fahren.
RA MAHLER:
Ist es das, was Sie als Revolutionierung des Alltags bezeichnen?
LANGHANS:
Ja!
MAHLER:
Also die Konsequenz, die sich von den politischen Dingen auch auf die privaten erstreckt."
Zum Verständnis dieser Interaktion muss auf die obige Sequenz verwiesen werden: Wenn der Richter erklärt, dass ihn das Privatleben des Angeklagten nicht interessiere, ist zugleich darauf zu verweisen, dass der Psychiater SPENGLER ein ausfuhrliches Gutachten vorgelegt hat, das sich insbesondere sehr eingehend mit dem Privatleben von TEUFEL und LANGHANS beschäftigte. Dies ist jedoch nur ein scheinbarer Widerspruch: Es handelt sich um eine typische Transformation, in der der Richter festlegt, was verfahrensrelevant an der Privatsphäre zu sein hat. Das Verfahren weist hier eine spezifische Selektivität auf, die zwischen zwei Arten von Privatsphäre unterscheidet und insbesondere die Privatsphäre des Angeklagten in verfahrensrelevante Ereignisse
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II Theorie/eil
transformiert. Diese Transformation jedoch kann der Angeklagte genauso wenig selbst vornehmen wie ihm die Rollendistanzierung gestattet werden kann. "SCHWERDTNER:
Herr Teufel, Sie haben nun Gelegenheit, in eigenen Worten Ihren Lebenslauf zu schildern und Ihren Werdegang darzustellen.
TEUFEL:
Ich habe keine Lust, ich hatte drei Auseinandersetzungen mit der Berliner Justiz ...
SCHWERDTNER:
Wollen Sie zur Person aussagen oder nicht?
TEUFEL:
... die jedes mal mit einem Fiasko für die politische Justiz endeten.
SCHWERDTNER:
Antworten Sie mit Ja oder Nein. Wollen Sie hier zur Person aussagen oder nicht. Sie haben das Recht, die Aussage zur Person zu verweigern.
TEUFEL:
Ich möchte zur Person nichts aussagen, aber ich möchte eine Erklärung abgeben, weshalb ich zur Person nichts aussage.
SCHWERDTNER:
Aber fassen Sie sich kurz!
TEUFEL:
Ich stehe heute zum viertenmal in einem politischen Prozess vor Gericht. Mein Lebenslauf ist inzwischen sattsam bekannt, auch das der ersten Inszenierung dieses Prozesses vom Juli letzten Jahres, der damals an der Unfähigkeit des Gerichts scheiterte.
StA TANKE:
Bitte, nehmen Sie zu Protokoll, der Angeklagte Teufel sagte, dass der erste Prozess an der Unfähigkeit des Gerichts scheiterte. Ich beantrage eine Ordnungsstrafe.
TEUFEL:
... und weil dieser Prozess an der Unfähigkeit des Gerichts scheiterte, halte ich es zur Aufklärung dieses komplizierten Sachverhalts für viel interessanter, wenn die Mitglieder der Staatsanwaltschaft und des Gerichts hier etwas sagen zu ihrem Lebenslauf und zu ihrem Werdegang. Ich glaube, die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf. Zur Sache will ich mich von Fall zu Fall äußern.
SCHWERDTNER:
Sie brauchen gar nichts zu sagen.
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TEUFEL:
So einfach will ich es Ihnen nicht machen.
SCHWERDTNER:
Dass wir Ihre Äußerung vorhin als Ungebühr vor Gericht ansehen können, das ist Ihnen klar.
SCHWERDTNER:
Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.
Nach der Pause: SCHWERDTNER:
Beschlossen und verkündet. Der Angeklagte Teufel wird für die Äußerung, dass der Prozess im Juli an der Unfähigkeit des Gerichts scheiterte mit einer Ordnungsstrafe von einem Tag Haft belegt. Die Strafe ist sofort zu vollstrecken. Angeklagter und Verteidigung haben das Recht des Einspruchs gegen die Ordnungsstrafe. Der Einspruch hat keine aufschiebende Wirkung."
Das "Tabu legitimer Unpersönlichkeit" wird in dieser Interaktion durch die Angeklagten verletzt und zwar in einer bewusst provokativen Weise. Noch deutlicher wird diese "Verletzungsstrategie" im folgenden Beispiel, das zur Illustration für eine Strategie der kalkulierten Regelverletzung wiedergegeben werden soll. Historisch ist hier anzumerken, dass die Heftigkeit der Reaktion des Vorsitzenden Richters sich insbesondere daraus erklärt, dass dieser Prozess in der Geschichte des bundesrepublikanischen Gerichtswesens praktisch der erste war, in dem die Angeklagten nicht passiv oder zustimmend ihre Rolle akzeptierten, sondern gegen die Verfahrensrituale die bewusste Strategie der provokatorischen Regelverletzung setzten. TEUFEL:
Zuhörer klatschen
Ich stimme der Untersuchung zu, wenn die Mitglieder des Gerichts und der Herr Staatsanwalt sich ebenfalls psychiatrisch untersuchen lassen. frenetisch.
SCHWERDTNER: (springt auf): Räumen! Räumen! Alles raus!! Pause!! Pause! Rennt ins Beratungszimmer. Zwischenspiel: Die Zuschauer. Gericht kommt wieder rein und verkündet Beschluss: SCHWERDTNER:
Da zahlreiche Zuhörer, die hinter den Barrieren die Anordnung §177 GVG... wird der Saal geräumt.
Kontroverse Mahler - Gericht, erneute Beratung:
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U Theoheteil
SCHWERDTNER:
Soeben ist dem Gericht eine Petition zugegangen in der es heißt: 'Hohes Gericht, wir versichern, dass wir den Fortgang der Verhandlung nicht durch Beifalls- oder Missfallenskundgebungen zu stören gedenken und möchten Sie bitten, die Öffentlichkeit wiederherzustellen!' Daher wird den Zuhörern mit Einlasskarten der Zutritt wieder gestattet.
Zuhörer kommen langsam rein. SCHWERDTNER:
TEUFEL: LANGHANS: (ironisch):
Meine Damen und Herren Zuhörer, wir haben Ihre Zusicherung zur Kenntnis genommen, ich bitte aber dringend, uns hier unsere Aufgabe nicht zu erschweren. Wir vertrauen darauf, dass Sie Ihre Zusicherung nicht brechen. Herr Teufel, Sie wollten eine Erklärung abgeben. Ich bitte Sie aber, sich von derartigen Dingen wie vorhin zu enthalten. Herr Langhans wollte noch etwas sagen. Ich kenne mich nicht aus, wieweit das erlaubt ist, aber ich möchte zunächst dem 1. Antrag meines Freundes Fritz beistimmen und ihn folgendermaßen erweitern. Neben der psychiatrischen Untersuchung der Mitglieder des Gerichts, des StA und der Angeklagten soll auch ein Intelligenztest von denselben angefertigt werden, dessen vollständige Ergebnisse ausführlich veröffentlicht werden müssen!
Gericht rennt raus. TEUFEL und LANGHANS (rufen hinterher): Husch, husch ins Hinterstübchen! Gericht kommt rein. SCHWERDTNER:
Beschlossen und verkündet: 1. Aufgrund des in der Hauptverhandlung am 6. und 7. Juli 1967 von den Angeklagten gewonnenen von der Norm nicht unwesentlich abweichenden Personenbildes, insbesondere ihres Auftretens, ihrer Auffassungen und Lebensführung sollen beide Angeklagten psychiatrisch und neurologisch von Obermedizinalrat Dr. Spengler, Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin, untersucht werden. Der Sachverständige soll ein ausführliches, schriftliches und wissenschaftlich begründetes Gutachten zu den Akten einreichen. 2. Die Hauptverhandlung wird ausgesetzt. Neuer Termin von Amts wegen."
6 Theorie und Empirie
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Soziale Regeln werden besonders verdeutlicht, wenn gegen sie verstoßen wird. Aus diesem Grund sind auch zur Verdeutlichung der Regeln gerichtlicher Interaktion die Beispiele aus dem Prozess gegen TEUFEL und LANGHANS ausgewählt worden - abgesehen davon, dass dieser Prozess ein Dokument der Zeitgeschichte ist. Die bewusste Strategie der beiden Angeklagten, die in der damaligen Gesellschaftssituation eine für viele kaum fassbare Verhöhnung sozialer Selbstverständlichkeiten darstellte - siehe die überheftige Reaktion des Vorsitzenden -, war von daher auch ein im Nachherein kaum zu überschätzender öffentlicher Lemprozess.
6.1
Die Angeklagten und der Strafprozess in theoretischer Sicht
Die Anwendung allgemeiner Gesellschaftstheorien auf einzelne Fälle ist um so unmittelbarer möglich, je vergesellschafteter die entsprechenden Bereiche sind, d.h., je expliziter die Handlungsbereiche durch offiziell und verbindlich gemachte institutionalisierte Handlungsregeln vorstrukturiert sind, wie dies für gerichtliche Interaktionen gilt. Eine systemtheoretische Interpretation braucht nicht die Ausdifferenzierungsthese der Luhmannschen Systemtheorie, um die Besonderheit des gerichtlichen Handlungskontextes gegenüber anderen sozialen Handlungsbereichen einzusehen; Gerichte oder ihre funktionalen Pendants gehören zu den ältesten gesellschaftlichen Institutionen, die als spezialisierte Handlungsbereiche aus undifferenzierten Kontexten ausgesondert wurden. Die spezifische Leistung muss bei einer systemtheoretischen Interpretation darin bestehen, die Mechanismen zu rekonstruieren, wie die Besonderheit des gerichtlichen Handelns dadurch stabil gehalten werden kann - wie das System seine Grenzen gegenüber der Umwelt aufrechterhalten kann -, dass das Handeln systemimmanent seine spezifischen Handlungselemente aneinander anschließen kann und systemextern die systemische Besonderheit der Handlungen gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt legitimieren kann. Juristische Handlungen müssen also sowohl die systemische Besonderheit bewahren und durch den speziellen Mediencode gesteuert als auch von der Umwelt des Systems akzeptiert werden können. Abstrakt gesprochen muss dies jeweils durch den Mediencode geleistet werden, sofern das Sozialsystem einen solchen ausgebildet hat; der Mediencode steuert also die Handlungen im System und schließt sie systemimmanent an, stellt aber auch die Beziehungen - insbesondere die Akzeptanz - zur gesellschaftlichen Umwelt her. Mediencodes greifen demnach über die Systeme hinaus - sie sind ein Interpenetrationsmechanismus zwischen einzelnen Systemen. Im Falle des Rechtssystems ist der entsprechende Mediencode der des Rechts: "Im Recht ist nach einer langen evolutionären Anlaufzeit heute eine eindeutige binäre Struktur institutionalisiert in dem Sinne, dass man in spezifischen Hinsichten nur entweder im Recht oder im Unrecht sein kann, aber nicht beides zugleich" (Luhmann 1981, S.57). Mit "binärer Struktur" ist der Mediencode gemeint, der sich für alle Systeme durch ei-
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II Theorieteil
nen binären, d.h. zweiwertigen Mechanismus auszeichnet: Wahrheit/Unwahrheit beim Wissenschaftssystem, Macht/Ohnmacht in der Politik, Geld besitzen oder nicht im Wirtschaftssystem. Die binäre Struktur des Mediencodes erlaubt es einerseits, die Handlungen eindeutig auf den Code zu beziehen; sie ermöglicht andererseits die (in beiden Fällen) sprachunabhängige Beziehung zur gesellschaftlichen Umwelt: Eine der wichtigsten Leistungen eines speziellen Sozialsystems besteht immer darin, bestimmte Probleme der Gesamtgesellschaft auf den systemspezifischen Mediencode so zu beziehen, dass daraus eine eindeutige Bewertung folgen kann - bestimmte Handlungen sind "im Recht" oder nicht, bestimmte Erkenntnisse sind "wahr" oder nicht. Die systemspezifischen Reduktionen werden insbesondere deshalb von der gesellschaftlichen Umwelt akzeptiert, weil diese binäre Reduktion komplexer Ereignisse ohne eine systemspezifisch spezialisierte Bearbeitung sonst kaum oder nicht so effektiv geleistet werden kann. Die Ausbildung eines Mediencodes ist notwendig, aber nicht immer hinreichend dafür, dass sich ein Sozialsystem gegenüber seiner Umwelt in seiner Besonderheit erhalten kann. Rituale ergänzen den Mediencode auf der Ebene, wo Systeme so etwas wie eine sinnliche Erfassbarkeit für die betroffenen Individuen - Berufsjuristen wie Angeklagte gewinnen müssen, um ihre Akzeptanz im konkreten Handlungsvollzug sichern zu können. Der Mediencode garantiert die grundsätzliche Stabilität des Systems - immanent wie systemextern; dazu muss dann noch die Konkretisierung der abstrakten Systemmechanismen durch Rituale treten, die den Mediencode gewissermaßen auf die Ebene der sinnlichen und subjektiv sinnhaften Erlebnismöglichkeit verlängern. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Rituale die Transformation des Abstrakten in das Konkrete der subjektiven Erfahrungswelt. An diesem Aspekt des Sozialsystems Recht setzt nun das Beispiel an. Die Wahrheitsfindungsrituale, die im Beispiel selbst nicht thematisiert wurden, vermitteln die Akzeptanz der Systemprozesse - der spezifischen Reduktionsformen - in die gesellschaftliche Umwelt; sie transformieren also den abstrakten Mediencode in seiner Interpenetrationsdimension in die Erfahrungswelt der vom Rechtssystem betroffenen Menschen. Die im Beispiel thematisierten Rituale leisten dasselbe für die systemimmanenten Prozesse; das Insistieren des Vorsitzenden auf der Einhaltung bestimmter Rituale ist von daher - abgesehen von der offenkundigen Überforderung des Vorsitzenden Richters in den Einzelsituationen - eine konsequente Beziehung auf die zu erhaltende Stabilität des Systems. Für den Richter ist fraglos, dass die Angeklagten entweder im Recht oder im Unrecht sind; alle seine Bemühungen laufen stets darauf hinaus, diesem binären Schematismus dadurch nachzukommen, dass er die Rituale als Transformationen des Mediencodes versteht und eine Abweichung von den Ritualen im Grunde sehr logisch als Versuch interpretieren muss, die Anwendbarkeit des Mediencodes zu negieren. Die Verhaltensweisen von TEUFEL und LANGHANS können für ihn deswegen nicht einfach persönliche Provokationen oder praktische Kritiken überholter Traditionen sein, sondern sie sind Bedrohungen der Funktionsfähigkeit des Rechtssystems insgesamt.
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Die überheftigen Reaktionen des Richters lassen sich dann so deuten, dass er die - reduzierte - Handlungsrolle des Gerichtsjuristen "internalisiert" hat, d.h. sich mit ihr identifiziert. Zwar muss aus systemtheoretischer Sicht immer wieder betont werden, dass die konkreten Persönlichkeiten zur Umwelt des jeweiligen Sozialsystems gehören, die Übernahme spezieller Handlungsrollen im System demnach immer eine Reduktion der Gesamtpersönlichkeit darstellt. Dennoch ist es anscheinend möglich, dass sich die Träger von Berufsrollen mit diesem Partialaspekt identifizieren - sie "sind" dann Juristen, Ärzte, Lehrer etc. Eine derartige Identifizierung der Gesamtpersönlichkeit mit dem Teil der beruflichen Handlungsrolle ist ein gar nicht so seltenes Ergebnis beruflicher Sozialisation; man kann in einem solchen Fall von der Prägung der Gesamtpersönlichkeit durch einen speziellen Habitus sprechen. Der Richter in diesem Beispiel ist vor allem so habitualisiert, dass er die systemspezifischen Handlungsformen nicht nur für Systemnormalität sondern für Normalität schlechthin hält. Darauf verweist seine Einbeziehung des psychiatrischen Gutachters: Der durch die Angeklagten intendierte Verstoß gegen die Systemnormalität ist für den Richter offenbar ein Verstoß gegen Normalität überhaupt, der entsprechend zum Gegenstand eines Gutachtens gemacht werden muss. Die Begutachtung der Angeklagten holt damit nicht nur die Distanzierungsstrategien in den Bereich systemischer Operationen zurück, sondern statuiert die Systemnormalität zum Exempel von Normalität: Die Ablehnung von Systemrollen kann im System nur negativ sanktioniert und vor allem als Indiz für ein gestörtes Verhältnis zur Normalität des Sozialen überhaupt gewertet werden. Man kann dem Richter getrost unterstellen, dass es ihm im juristischen - nicht im wissenschaftlichen - Sinne um "Wahrheitsfindung" geht. Dieses Ziel kann jedoch ausschließlich über die systemischen Rituale als Konkretisierung des Mediencodes erreicht werden, ein Abweichen von diesen Ritualen ist deswegen für den Richter mit einer gewissen Notwendigkeit die Zerstörung der Möglichkeit, die Wahrheitsfindung zu betreiben. Die ungemeine Relevanz, die die Rituale im Beispiel für den Richter haben und die seine Reaktionen erklärt, ist aus systemtheoretischer Sicht also ein in mehrfacher Hinsicht zwangsläufiger Aspekt für das juristische Handeln. Dem Richter wäre von daher nicht vorzuwerfen, dass er rigide an den Ritualen festhält, sondern dass er offenbar nicht einsieht, dass jeweils ein bestimmtes Ritual nicht unbedingt notwendig ist. Jedes Ritual ist prinzipiell ersetzbar durch ein anderes, das für das System "funktional äquivalent" ist, um systemtheoretisch zu argumentieren. Persönliche Souveränität eines Richters würde also nicht darin bestehen, auf Rituale zu verzichten, sondern in Krisensituationen einzelne Rituale gegen andere, situationsadäquatere auszutauschen.
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II Theorieteil
Indem der Richter, wenn auch in überzogener Form, die Rituale sozusagen verteidigt, bewahrt er die Gültigkeit des Mediencodes für die systemischen Operationen und damit die autopoietische Reproduktion des Rechtssystems. Er berücksichtigt dabei allerdings nicht, dass "Recht" nicht nur als Steuerungscode im System wirkt, sondern auch die Akzeptanz der Systemabgeschlossenheit gegenüber der Umwelt herstellen muss. Diese Akzeptanz klagen TEUFEL und LANGHANS sozusagen stellvertretend für die gesellschaftliche Umwelt ein, indem sie die ausschließliche Systembezogenheit der Rituale zum Angriffsobjekt ihrer Strategien machen. Die "Gestörtheit" der hier wiedergegebenen Interaktionen beruht daher darauf, dass der Richter sowohl zu eng an bestimmten Ritualen festhält als auch nur deren systemimmanente Notwendigkeit sieht und verteidigt, die Angeklagten dagegen aus systemexterner Perspektive - der des Persönlichkeitssystems - die Legitimierung der Rituale in ihrer systemübergreifenden Wirksamkeit einklagen. Das Allgemeine an diesem Beispiel dürfte nach dem bisher Gesagten leicht ersichtlich sein: Selbstverständlich ist weder das konkrete Verhalten des Richters noch das der Angeklagten in dem Sinne allgemein, wie man etwa in der Umfrageforschung von einem "allgemeinen" politischen Bewusstsein, nämlich einem statistisch normalen Bewusstsein sprechen kann. Das Allgemeine dieses Falles liegt in seinem Verweis auf allgemeine Strukturen der Gesellschaft, die in ihm sichtbar werden. Gerade die Tatsache, dass weder das Verhalten der Angeklagten in ihrer bewussten Distanzierungs- und "Entlarvungsstrategie" noch das überheftige Reaktionsverhalten des Richters in einem "normalen" Strafprozess anzutreffen sein dürften, zeigt die strukturelle Allgemeinheit der Interaktionssituation überdeutlich. Will man die Interaktionen nicht individualpsychologisch als neurotische Handlungen wechselseitig gestörter Persönlichkeiten begreifen, wozu in diesem gut bekannten Fall nicht der geringste Anlass besteht, dann ist eine konsequente Deutung nur unter Verweis auf die allgemeinen Strukturen möglich, die die Interaktionen als solche eines speziellen Sozialsystems markieren. Die Verallgemeinerung dieses Einzelbeispiels besteht also darin, dass gezeigt wird, inwiefern gerade die nicht typischen konkreten Verhaltensweisen der Akteure die dahinter stehenden allgemeinen Strukturen der Gesellschaft erkennen lassen; das Allgemeine der Systemstrukturen erscheint im besonderen Fall in der Zwangsläufigkeit, mit der die systemischen Vorgaben des Rechtssystems die Interaktionen geradezu notwendig scheitern lassen. Subjektiv guter Wille oder soziale Handlungskompetenz sind hier als Bedingungsfaktoren bestenfalls sekundär. Verallgemeinerbar sind hier, das sei noch einmal betont, nicht die konkreten Verhaltensweisen, die streng genommen auch nicht Gegenstand der Theorie im üblichen Sinne sind. Verallgemeinerbar ist die systemische Bedingtheit der Interaktionen, die in diesem Fall als "gestörte" Interaktionen zu interpretieren sind. Aber auch die Gestörtheit ist nicht das Allgemeine, sondern deren objektive, weil systemische Bedingtheit. Darin liegt das Moment, das über den Einzelfall hinausweist. Eine solche Bedeutung von Ver-
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allgemeinerbarkeit von Einzelfallen ist allerdings nichts anderes als gute wissenschaftliche Tradition und nichts Besonderes. Interpretiert man jetzt dieses Beispiel mit Hilfe der Habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns, so muss man gewissermaßen die Optik wechseln, nämlich von der Handlungsrolle des Richters zu den Strategien der Angeklagten. Der weitgehenden Systemhaftigkeit gerichtlicher Interaktionen würde Habermas sicher zum großen Teil zustimmen, wenn auch nicht in allen Details. Da er ebenfalls und noch dezidierter als Luhmann die Notwendigkeit betont, dass Recht durch Anbindung an außerjuristische Handlungssituationen gesellschaftlich stabilisiert, also legitimiert werden muss, bestreitet er einerseits, dass Recht ein reiner sprachunabhängiger Mediencode ist, würde sich andererseits aber gerade unter diesem Aspekt der obigen Bewertung des richterlichen Verhaltens anschließen, dass dieses eben die Legitimationsbedürftigkeit des Rechts nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt, wenn der Richter an der intrasystemischen Funktion der Rituale festhält. Das gesellschaftlich und damit für die Theorie Relevante des Beispiels liegt jedoch für die Theorie des kommunikativen Handelns nicht so sehr im Verhalten des Richters, sondern in dem der beiden Angeklagten. Dies lässt sich nahtlos mit einem Begriff fassen, der bereits erwähnt wurde, nämlich dem des "Widerstands gegen Tendenzen einer Kolonialisierung der Lebenswelt". Habermas meint mit diesem Begriff eine neue Form und Qualität sozialer Konflikte, die die historischen Konfliktlinien wie ökonomische Verteilungskämpfe und Klassenkonflikte abgelöst haben: "Die neuen Konflikte entzünden sich nicht an Verteilungsproblemen, sondern an Fragen der Grammatik von Lebensformen". Die Konflikte entstehen an "den Nahtstellen zwischen System und Lebenswelt", sie sind ein Ausdruck dafür, dass es um Möglichkeiten der Lebensgestaltung geht, die in einer systemisch ausgeformten Gesellschaft durch diese Gesellschaftsstrukturen bedroht sind. Hierbei ist gerade im Hinblick auf das hier behandelte Beispiel zu betonen, dass Lebenswelt und Systeme als konkurrierende Ordnungstypen sich vor allem dadurch unterscheiden, dass lebensweltliches Handeln von den einzelnen Individuen als Handeln begriffen wird, das für sie einen ganzheitlichen Aspekt hat; systemisches Handeln wird unter lebensweltlicher Perspektive als Reduktion des Individuums auf Partialrollen empfunden - was es ja auch objektiv ist. Das Individuum wird durch die verschiedenen Systeme gewissermaßen in Partialrollen "dekomponiert". In dieser Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation deckt sich die Theorie von Habermas mit systemtheoretischen Analysen. Für Habermas jedoch sind Systeme nicht das gesellschaftliche Ganze; die Lebenswelt wird durch die Systeme zwar in Form einer tendenziellen Kolonialisierung bedroht, aber lebensweltliches Handeln geht (noch) nicht in systemischen Imperativen auf, sondern beharrt auf seinem spezifischen Eigensinn. Dieses Beharren drückt sich gegenwärtig immer stärker in Form politischer Konflikte aus: Die Konflikte um "Fragen der Grammatik von Lebensform" sind letztlich die Konflikte, in denen sich - politisch gesprochen - Individuen zusammenschließen, um in
1 28
II Theorieteil
Form der sog. Neuen Sozialen Bewegungen gegen die Reduzierungen auf partiale Systemrollen zu protestieren (Ökologische Bewegungen, Friedensinitiativen, Frauenbewegung u. a). Der "Widerstand gegen Tendenzen einer Kolonialisierung der Lebenswelt" ist demnach insbesondere der Widerstand gegen die Dekomposition der Individuen in die systemischen Partialrollen und damit ein politisch organisierter Versuch, die Ganzheitlichkeit von Individuen gegenüber den Systemen zu bewahren. So ist auch genau das Verhalten von TEUFEL und LANGHANS zu deuten, was sich übrigens auch historisch aus deren Zugehörigkeit zu der studentischen APO als erster der Neuen Sozialen Bewegungen belegen lässt. Die Distanzierungsstrategien sind bereits als der Versuch angesprochen worden, die Reduktion der Persönlichkeit auf die Angeklagtenrolle zu verweigern; der Vorschlag von TEUFEL, auch die am Verfahren beteiligten Berufsjuristen einer psychiatrischen Begutachtung zu unterziehen, lässt sich mit einem Begriff von Habermas auch als Versuch werten, eine symmetrische "Diskurssituation" herzustellen - eine Situation nämlich, die nicht asymmetrisch durch die einseitige rollengestützte Machtverteilung definiert ist, sondern sich durch prinzipielle Gleichberechtigung der Interaktionspartner auszeichnet. Dies charakterisiert als Prinzip die Situationen des kommunikativen lebensweltlichen Handelns, auch wenn Habermas natürlich selbst weiß, dass lebensweltliche Interaktionssituationen faktisch durchaus nicht immer herrschaftsfrei sind und häufig alles andere als symmetrisch. Die Weigerung von LANGHANS schließlich in der zweiten Sequenz, zwischen seinem Privatleben und dem sog. öffentlichen Bereich zu trennen, entspricht ebenfalls dem Insistieren auf der Ganzheitlichkeit lebensweltlicher Zusammenhänge; da lebensweltliche Handlungszusammenhänge von gesellschaftlichen Strukturen und damit vom "öffentlichen" Bereich beeinflußt und "kolonialisiert" werden, ist es aus lebensweltlicher Sicht nur konsequent, die soziale Norm der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit unter Verweis auf deren faktische Interdependenz zu verweigern. Zum politischen Protest werden die auf einen ersten Blick eher individualistisch anmutenden Strategien der Angeklagten vor allem deshalb, weil es sich um objektiv, nämlich gesellschaftlich-strukturell bedingte Konflikte handelt. Es ist die Spannung zwischen Systemen und Lebenswelt, die eine Form des politischen Protests neuer Qualität hervorbringt. Folgerichtig geht es LANGHANS und TEUFEL auch gar nicht um eine Verbesserung ihrer speziellen Situation in materieller Hinsicht - z.B. Haftverschonung oder größeren Freiraum für die Dauer ihrer Untersuchungshaft u.ä. Es geht ihnen um die „Grammatik ihrer Lebensform", um Habermas hier noch einmal beim Wort zu nehmen; es geht um das Recht, die lebensweltlich orientierten Handlungsformen und die dahinterstehenden Bedürfnisse nach sinnhafter Lebensgestaltung auch gegen die Reduktionsanforderungen eines hochgradig durchstrukturierten und ritualisierten Funktionalsystems zur Geltung zu bringen. Auf einer individuellen Ebene artikuliert das Verhalten der Angeklagten damit das, was sich in den Neuen Sozialen Bewegungen als kollektiver
6 Theorie und Empirie
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Widerstand gegen die Kolonialisierungstendenzen der Systeme politisch bemerkbar macht. Verallgemeinerbar ist dieses Beispiel gemäß der Theorie von Habermas ebenfalls nicht im Verhalten der beiden Angeklagten selbst, die in dieser Radikalität von Distanzierungs- und Entlarvungsstrategien auch in den Neuen Sozialen Bewegungen wenig Entsprechung fanden. Das macht eher das Einmalige, Besondere dieses Einzelfalls aus. Das Allgemeine an diesem Beispiel liegt wieder, wie bei der ersten Interpretation, an der sozial-strukturellen Bedingtheit ihres Handelns, an den dahinter stehenden Gesellschaftsstrukturen, die das individuelle Handeln hervorbringen. Wenn es richtig ist, dass die Spannung zwischen Systemen und Lebenswelt einerseits objektiv in der Struktur modemer Gesellschaften angelegt ist, andererseits diese duale Gesellschaftsstruktur das zentrale Konfliktpotential eben dieser Gesellschaft beinhaltet, dann geht es den Angeklagten bei ihrem Insistieren auf ihrer ganzheitlichen Individualität - mitsamt ihren individualistischen Strategien - um die Benennung dieses allgemeinen Problems, weil ihr Handeln durch diese strukturell bedingte Spannung präformiert wird, verweisen auch ihre Forderungen auf diesen gesellschaftlichen Grundkonflikt und machen ihn so sichtbar. Ihre Handlungen verweisen also auf diese Konfliktstruktur und sind von ihr vorgeformt; in dieser doppelten Beziehung auf eine gesellschaftlich-allgemeine Struktur liegt die Allgemeinheit des Beispiels und damit die Verallgemeinerbarkeit der Einzelfallstudie. Es geht also nicht darum, die einzelnen Handlungen bzw. Interaktionen selbst als allgemeine - „typische", „repräsentative" etc. - zu charakterisieren. Das kann nie das Ziel solcher Verallgemeinerungsanalysen sein, auch wenn es sich bei anderen Beispielen ergeben mag, dass dort die Handlungen und Interaktionen wesentlich "typischer" sind als die Strategien der beiden hier betrachteten Angeklagten. Es kann immer "nur" darum gehen, die objektiv-allgemeine Bedingtheit des Einzelhandelns herauszuarbeiten, also auf die allgemeinen Strukturen zu verweisen, die als Bedingungsfaktoren wirksam sind. Nichts anderes aber ist das Ziel jeder wissenschaftlichen Verallgemeinerung - auch in den Naturwissenschaften: Die einzelne chemische Reaktion oder die Bahn eines einzelnen Elementarteilchen selbst ist nie das Allgemeine an der Natur; allgemein sind die in Gesetzen ausgedrückten Strukturen als Bedingungsfaktoren, die die einzelne Reaktion oder die Teilchenbahn festlegen. Insofern wird hier für die Sozialwissenschaften nur das in Erinnerung gebracht, was für jede Wissenschaft eigentlich selbstverständlich ist.
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6.2
II Theorieteil
Besondere Aspekte des Verhältnisses von Theorie und Empirie am Beispiel der Theorie sozialer Systeme Otto-F. Bode
6.2.1
Theoretische Ausgangslage
Die Ausführungen zum Strafgerichtsprozess haben gezeigt, wie theoretische Vorstellungen die Interpretation einzelner Interaktionen beeinflussen. Dies fuhrt zu der fundamentalen Fragestellung nach dem Verhältnis von Theorie und Empirie, die schlagwortartig - wenn auch sehr unterschiedlich - sowohl durch das Bild vom Elfenbeinturm, in dem die Theoretiker weitab von der Wirklichkeit hausen, wie auch durch die Behauptung, „eine gute Theorie sei die beste Praxis", beschrieben werden kann. Dieser fast schizophrenen Situation, in der Theorie gleichzeitig als realitätsfern und als notwendig für die Beherrschung von Realitäten angesehen wird, sieht sich Wissenschaft wohl von jeher gegenübergestellt. Die Forderung nach praktischer Brauchbarkeit und empirischer Prüfung kann nicht zuletzt als eine Reaktion auf diese Position zwischen Theorie und Praxis angesehen werden. Die Theorie sozialer Systeme scheint in ihrer ganzen Anlage diesen Konflikt besonders zu provozieren. Sie beansprucht für sich einen universellen Geltungsbereich - zumindest für die von ihr definierten und untersuchten autopoietischen Systeme. Zur selben Zeit muss sie aber, dies verlangt ihr konstruktivistischer Kern, die Subjektivität jeder Beobachtung auch für ihre eigene Beobachtung gelten lassen, also in der Konsequenz die eigenen Aussagen als subjektive Beobachtung identifizieren. Da aus ihrer Perspektive jede Beobachtung als subjektiv in Bezug auf das beobachtende System beschrieben werden muss, gilt eben auch für die theorieeigene Beobachtung, dass sie keinen exklusiven objektiven Beobachtungsstandpunkt einnehmen kann. Auch die Theorie sozialer Systeme konstruiert ihre eigene Wirklichkeit oder - in Anlehnung an Formulierungen Luhmanns ausgedrückt, der häufig ähnliche Sätze verwendet - die Theorie sieht, was sie sieht, so wie sie es sieht, weil sie beobachtet, wie sie beobachtet. Diese Ausgangssituation ist zirkulär, was in einer „Welt" selbstreferenzieller Systeme kaum verwundert. Die Aufdeckung der Zirkularität weist gleichzeitig den Weg zu einer anschließenden Fragestellung, die lauten muss: Was kann eine als subjektiv beschriebene Beobachtung anderer Beobachtung beobachten? Mit anderen Worten: Was sieht die Theorie sozialer Systeme, wenn sie andere Beobachtungen - wissenschaftliche, wirtschaftliche, politische, individuelle etc. - beobachtet? Hier dürfte deutlich sein, dass eine konstruktivistische Frage formuliert wurde, die sich sowohl auf sich selbst als Beobachtung bezieht (Was sieht die Theorie sozialer Systeme...) wie gleichzeitig auf andere Beobachtung und Beobachter (..., wenn sie andere
6 Theorie und Empirie
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Beobachtung beobachtet). Wenn aber sowohl der Rückbezug als auch der Beobachtungsgegenstand letztlich auf konstruierte „Sachverhalte" fokussiert, wo bleibt dann der Platz für Wirklichkeit und Empirie? Eine erste Antwort auf diese Frage muss lauten: nirgendwo! Gerade diese Haltung gegenüber Realität hat dem Konstruktivismus in dieser Ausprägung, der - wie gesehen der Theorie sozialer Systeme zu Grunde liegt, das Adjektiv „radikal" beschert - und die Theorie damit zunächst in den Elfenbeinturm verbannt. Um eine Verbindung zur Empirie herstellen zu können, muss also die deutliche Einschränkung gegenüber der Erkenntnis von Wirklichkeit im Konstruktivismus immer mitbedacht werden. Wird diese Einschränkung akzeptiert, so lassen sich dann (innerhalb der von der Theorie sozialer Systeme konstruierten Realität) Beobachtungen über die Realitätskonstrukte anderer Beobachter anschließen. Damit ist die Leitfrage aller Untersuchungen im Kontext der Theorie sozialer Systeme weitgehend entwickelt. Diese Leitfrage kann nur lauten: Wie beobachten andere Beobachter? Sie unterscheidet sich fundamental von der vorherrschenden Fragestellung nach dem Was oder dem Warum. Beachtet man weiterhin, dass die Luhmann'sche Theorie unter dem Begriff Beobachtung ein „Unterscheiden-und-Bezeichnen" versteht, so muss eine weitere Abkopplung von den alltäglichen Vorstellungen konstatiert werden, die darin besteht, dass Beobachtung nicht mehr als menschliche Leistung gesehen werden muss, sondern vielmehr von allen autopoietischen Systemen durchgeführt werden kann. Da auch Gesellschaft als Ganzes und die Funktionalsysteme Leitdifferenzen verwenden, in denen Unterscheidungen und Bezeichnungen vorkommen, sind auch Kommunikationssysteme zu Beobachtung in der Lage. Mit dieser zweiten Abkopplung von herkömmlichen Vorstellungen, die zunächst eine weitere Entfernung von der Realität und der Empirie zur Folge zu haben scheint, ergibt sich jedoch gleichzeitig ein Anknüpfungspunkt für empirische Forschung, denn es wird auf diese Weise möglich, autopoietische Systeme, die hochgradig prozessuale Systeme darstellen, als „Gegebenheiten" zu beobachten. Weil autopoietische Systeme als prozessuale Einheiten nur existieren können, wenn sie fortlaufend Elemente aus Elementen kreieren und dazu Unterscheidungen operieren müssen, führt die Wie-Frage hier gleichzeitig dazu, sich damit zu beschäftigen, was Gegenstand der Beobachtung von Beobachtung sein kann. Mit anderen Worten: Beobachtet werden kann in diesem Zusammenhang immer nur der Prozess der Systemreproduktion, das Operieren von Beobachtung und damit das Handhaben von Differenzen. Und genau dieser Prozess ist das System. Und weil es so ist, dass Systeme beobachtet werden, erhält die Theorie sozialer Systeme ihre empirische Relevanz bereits hier (zu einem großen Teil) zurück, denn sie kann Beiträge zur Beschreibung der Konstitution und der internen Differenzierung von Gesellschaft liefern. Darüber hinaus vermag sie die Beziehungen zwischen den Funktionalsystemen und anderen Typen autopoietischer Systeme zu analysieren.
132
6.2.2
// Theorieteil
Innen, außen und Nicht-Trivialität
Es gehört zu den grundlegenden Erkenntnissen der Systemtheorie im Allgemeinen und der Theorie sozialer Systeme nach Luhmann im Besonderen, dass Systeme immer eine Innenseite und eine Außenseite besitzen müssen. Während man die Außenseite beobachten kann - man kann sehen wie das System operiert -, bleibt das Innere von Systemen zwangsläufig im Dunkeln. Diese (zentrale) Annahme wird häufig mit dem Begriff der Black-Box sprachlich repräsentiert. Der Begriff Black-Box bedeutet dann, dass sich ein System einem Beobachter wie ein „schwarzer Kasten" darbietet, dessen Inhalt verborgen bleibt (bleiben muss). Mit anderen Worten: Systeme sind für Beobachter intransparent. Die „Tatsache", dass Systeme Intransparenz aufweisen, schränkt die Möglichkeiten von Beobachtung deutlich ein, bedeutet aber nicht, dass eine Einsicht in generelle systemische Gegebenheiten im Inneren des beobachteten Systems unmöglich sein muss. Dies zeigte sich bereits bei der Beschreibung von Eigenschaften autopoietischer Systeme durch Maturana und Varela, denn Eigenschaften wie Identität und Individualität einerseits sowie die Einsicht darin, dass keine reinen Inputs oder Outputs in autopoietischen Systemen bestehen können andererseits, referieren eindeutig auf das Innenleben der autopoietischen Systeme. In schematischen Beschreibungen und Darstellungen wurde von Seiten der Theorie sozialer Systeme mehrfach auf typische interne Gegebenheiten autopoietischer Systeme hingewiesen. Nach diesen Beschreibungen sind allen autopoietischen Systemen folgende Gesichtspunkte im Inneren gemeinsam: 1. Sie operieren selbstreferenziell, d. h., es müssen Rückkopplungsschleifen vorliegen. 2. Aus der Tatsache, dass autopoietische Systeme selbstreferenziell operieren, ergibt sich, dass sie eine eigene Geschichte, einen „Lebenslauf', entwickeln, dessen sie sich auch „bewusst" sind. 3. Im Vollzug ihrer Autopoiese und Selbstreferenz entwickeln autopoietische Systeme eine Identität, die sie die Differenz von selbst/fremd (besser: selbst/nicht selbst) zu handhaben ermöglicht. 4. Durch die drei zuvor genannten Gesichtspunkte sind autopoietische Systeme in der Lage, ihre Strukturen zu verändern und so Kognitionsprozesse zu unterhalten. Letztlich ergibt sich hier die Möglichkeit der Variation der eigenen Programme, die zur Transformation von Außenreizen dienen und die dazu notwendig sind, die Inputs über den Prozess der Reproduktion von Systemelementen zu beobachtbarem Verhalten - also in Outputs - werden zu lassen. So gesehen verfügt das System über die Fähigkeit, seine Verarbeitungsmodi auf Grund von Erfahrungen zu ändern und künftige Systemreaktionen aus diesen veränderten Strukturen herzuleiten, was nichts anderes heißt als, ein autopoietische Systeme kann lernen.
6 Theorie und Empirie
133
Die vier vorgestellten Gesichtspunkte erweisen sich als hochgradig interdependent und bedenkt man die Rückkopplungen - nicht deterministisch festgelegt. Statische Gleichgewichte, so könnte auch formuliert werden, sind damit prinzipiell undenkbar. So beschrieben, stellen sich autopoietische Systeme dem Beobachter als unvorhersagbare Einheiten dar - eine Prognose zukünftiger Einzelereignisse in autopoietischen Systemen wie etwa einzelne Gedanken oder konkrete Gesprächsabläufe muss damit Illusion bleiben. In der Terminologie der konstruktivistischen Systemtheorie werden autopoietische Systeme deshalb als nicht-triviale Maschinen beschrieben, wobei eine triviale Maschine eine in ihrem Verhalten vorhersagbare, berechenbare Maschine meint, nicht-triviale Maschine eben die Unberechenbarkeit hervorhebt. An dieser Stelle kann erneut die Verbindung zur empirischen Leistungsfähigkeit von Theorie angesprochen werden, weil die Beschreibung der autopoietischen Systeme als nicht-triviale Maschinen nur Beobachtung bestimmter Systemleistungen zulässt: Beobachtung kann immer nur die Funktionsweise anderer Beobachtung erfassen (WieFrage). Die Regeln der Transformation von Inputs, die Rekursivitätsbedingungen und Programme hingegen bleiben direkter Beobachtung ebenso unzugänglich wie das Geflecht aus Identität, Kognition, Geschichte und Transformationsprozess, das in einem einzelnen autopoietischen System vorliegt. Für die Theorie sozialer Systeme muss die Folgerung aus dieser Sachlage sein, dass sie sich außer Stande sieht, Prognosen über Einzelereignisse im Rahmen des Reproduktionsprozesses autopoietischer Systeme abzugeben. Dies bedeutet gleichzeitig, dass ein häufig erhobener Anspruch von wissenschaftlicher Theorie und an wissenschaftliche Theorie, einzelne Geschehnisse vorhersagen zu können, abgelehnt werden muss. Die Aufgabe dieses Anspruchs lässt sich aber von einer Position, die sich auf Ablaufbeschreibung autopoietischer Reproduktionsprozesse konzentriert, leicht „verkraften".
6.2.3
Die Theorie sozialer Systeme und der Begriff des Verstehens
Soziologische Theorie - wie andere Wissenschaften auch - arbeitet häufig mit dem Begriff des Verstehens. Dieser wird je nach wissenschaftlicher Disziplin, theoretischem Konzept oder auch auf Grund mangelnder Definitionen in vielfaltiger Weise verwendet. Empirische Forschung legt in aller Regel das Gewicht auf kausale Erklärung, wenn sie verstehen (und/oder das Verstandene empirisch prüfen) will. Die Wenn-dannKonstruktion theoretischer Sätze - nicht zuletzt durch den Falsifikationismus Poppers hervorgehoben - zeugt von dieser grundlegenden Haltung in empirischen Studien. Die Theorie sozialer Systeme arbeitet ebenfalls mit Verstehensbegriffen. Innerhalb des Konzepts Luhmanns lassen sich drei Definitionen von Verstehen finden: das interpretative, das operative und schließlich das beobachtende Verstehen. Diese drei Varianten sollen nachstehend kurz erläutert werden.
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II Theorieteil
1. Jedes Beobachten führt systemintern zu Interpretation, denn eine Beobachtung muss stets hinsichtlich ihrer Bedeutung von dem beobachtenden System gedeutet werden. Interprétatives Verstehen bedeutet dann, dass sich das beobachtende System eine Meinung darüber bildet, was eine Beobachtung bestimmter Art in einer bestimmten Situation bedeuten mag. Interprétatives Verstehen bildet die allgemeine, jede andere Art des Verstehens einschließende Verstehensform. 2. Das operative Verstehen bezieht sich auf einen Teilprozess im Zustandekommen von Kommunikation und beschreibt die Leistung eines Bewusstseins beispielsweise eine Handlung, ein Schriftstück oder ein Verhalten etc. als Ausdruck einer kommunikativen Absicht eines anderen Bewusstseins interpretieren zu können. Wer nicht merkt, dass er gegrüßt wird, kann an Kommunikation, die auf den Gruß folgen soll, nicht teilnehmen. „Merken" meint hier das optische, das akustische und jedes andere Wahrnehmen eines Verhaltens sowie die anschließende Deutung der Beobachtung als Kommunikationsofferte und schließt darüber hinaus das „Missverstehen" eines bloßen Verhaltens als Kommunikationsofferte mit ein. Es dürfte klar sein, dass auch operatives Verstehen zwangsläufig interpretativ sein muss. Für die Beschreibung dessen, was die Theorie sozialer Systeme im Zusammenhang mit Empirie zu „leisten" vermag, ist dieser Verstehensbegriff weniger relevant. 3. Beobachtendes Verstehen schließlich meint ebenfalls eine interpretative Leistung eines beobachtenden Systems. Bei der Interpretation der Beobachtung geht es dann allerdings darum, herauszufinden, aufweiche Weise, d. h. mit welcher Leitdifferenz, das beobachtete System beobachtet. Es wird also im Anschluss an die Beobachtung gefragt, welche Leitdifferenz das beobachtete System zur Realisation (und als Ausgangspunkt seiner anschließenden Interpretationsleistung) seiner Beobachtung zu Grunde gelegt hat. Diese Variante von Verstehen besitzt eine besondere Bedeutung, weil sie zur Identifikation von Funktionalsystemen unabdingbare Voraussetzung darstellt, da Funktionalsysteme immer über ihre Leitdifferenz definiert sind: Politik mit der Leitdifferenz kollektiv bindende Entscheidung/nicht kollektiv bindende Entscheidung, Wirtschaft mit Zahlung/nicht Zahlung, Wissenschaft mit wahr/nicht wahr usw. Ohne ein beobachtendes Verstehen wäre die Identifikation von Funktionalsystemen gar nicht möglich. Es sei an dieser Stelle allerdings auch darauf hingewiesen, dass beobachtendes Verstehen nicht auf die Identifikation von Funktionalsystemen beschränkt bleibt, denn es ist immer möglich, ein autopoietisches System hinsichtlich seiner Leitdifferenz zu beobachten. So liegt im Falle der oben durchgeführten Interpretation der Gerichtskommunikation auch beobachtendes Verstehen vor, wenn gefragt wird, mit welcher Unterscheidung beispielsweise der Richter im Strafgerichtsprozess vorwiegend operiert. Gleichgültig, welcher Verstehensbegriff aktuell angewendet wird und wie konstruktivistisch eingeschränkt das, was „außen" sein mag, verwendet wird, Verstehen fuhrt auch die Systemtheorie hinein in die Außenwelt. In der Terminologie der Theorie sozialer
6 Theorie und Empirie
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Systeme wird dies dadurch ausgedrückt, dass sich ein System der Differenz von selbst/nicht selbst bedient und auf die Seite des „Nicht-Selbst" wechselt. Damit erzeugt das System Fremdreferenz, verweist also auf etwas, was in seiner Umwelt „besteht". Ob intern erzeugt oder tatsächlich vorliegend, (das Konstrukt) Umwelt setzt die Fremdreferenz voraus. Wenn dies so ist, besteht die Möglichkeit, dass sich beobachtende Systeme, die je ein drittes System in ihren Umwelten beobachten, in diesen Beobachtungen abstimmen. Dies geschieht beispielsweise, wenn zwei Bewusstseine ein drittes beim Spielen zusehen - Eltern kommen regelmäßig in derartige Situationen - und sich dabei über das, was sie je (system-) individuell beobachten, unterhalten. Die Bewusstseine bedienen sich dabei also der Kommunikation. Eine solche Kommunikation kann, so sie sich in ähnlicher Weise mehrmals wiederholt, zu einer Abstimmung zwischen den Bewusstseinen fuhren. Im Verlauf der Zeit kann auf diese Weise ein „ritualisierter" Umgang der Bewusstseine mit einer bestimmten Art von Beobachtungssituation entstehen, der dadurch entstanden ist, dass sich die beobachtenden Bewusstseine gegenseitig beobachten und verstanden haben (oder dies zumindest glauben). Dieser Vorgang beschreibt einen für die Frage nach dem Verhältnis der Theorie sozialer Systeme mit Empirie wichtigen Gesichtspunkt. Über Partizipation an sich wiederholender Kommunikation stimmen sich die beteiligten Bewusstseine aufeinander ein und in gewissen Grenzen aufeinander ab. Diese Abstimmung erfolgt in verschiedener Hinsicht: 1. Die Kommunikation wird auf bestimmte Inhalte gelenkt, die für beide Bewusstseine eine Art „Arttraktor" bilden, der die Partizipation der Bewusstseine an zukünftiger Kommunikation zu gleichartigen Beobachtungen wahrscheinlicher werden lässt. Damit steigt sowohl die Möglichkeit, dass die Bewusstseine überhaupt kommunizieren, als auch diejenige, dass sie ritualisierte Kommunikation zu diesem Inhalt aufbauen können. 2. Die Kommunikation „erzwingt" durch ihre Strukturierung eine Verwendung gleichartiger Differenzschemata - Eltern beobachten ihre spielenden Kinder mit den Differenzen niedlich/nicht niedlich, vorsichtig/nicht vorsichtig, aufgeweckt/nicht aufgeweckt, frech/nicht frech etc. Neben ritualisierter Kommunikation ereignet sich in einem solchen Prozess somit auch eine „Übereinkunft" über die Verwendung bestimmter Differenzschemata. 3. Die Deutungsmuster und Deutungsverläufe können synchronisiert werden, d. h. die Bewusstseine nehmen wiederkehrende Reaktionen des je anderen beteiligten Bewusstseins wahr und überprüfen diese auch intern auf die Deutungen, die hinter dem Verhalten des anderen stehen können. Mit der Zeit reagieren sie dann möglicherweise auf bestimmte Beobachtungen sehr ähnlich - die Eltern beschreiben wiederkehrendes Verhalten des Kindes beide als niedlich, obgleich sie die Verhaltensweise vor der Abstimmung als frech (das eine Bewusstsein) und niedlich (das andere Bewusstsein) beobachteten.
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II Theorieteil
Vor allem der letztgenannte Gesichtspunkt zeigt deutlich, wie sich autopoietische Systeme durch beobachtendes Verstehen in Kommunikationssituationen in ihren Beobachtungen und Deutungen aneinander koppeln können. Wenn dies so ist, liegt hier ein wesentlicher Zugang zur „Außenwelt" und damit letztlich auch eine Verbindung der Theorie sozialer Systeme zu empirischer Forschung. Die Bewusstseine sind in der Lage, ihre Vorstellungen von Realität aufeinander abzustimmen. Sie schaffen auf diese Weise eine Möglichkeit der Erzeugung gemeinsamer (geteilter) Realität. Um dies zu erreichen, müssen sie sich eines anderen Typs autopoietischer Systeme „bedienen". Dieser Vorgang hat auch für die Kommunikation selbst beachtliche Folgen. So wie durch Kommunikation Abstimmung zwischen den Bewusstseinen entsteht, erfährt Kommunikation fortlaufend Veränderungen der eigenen Strukturierung. Ohne die Strukturierung der Kommunikation würde die Abstimmung zwischen den Bewusstseinen nicht gelingen, was letztlich mit der Komplexität der Situationen wechselseitiger Beobachtung leicht zu erklären ist. In der „traditionellen" Soziologie steht an dieser Stelle zur Beschreibung des geschilderten Phänomens häufig der Begriff der Sozialisation - dieser Begriff bezieht sich dann aber zumeist auf ausgebildete Gesellschaften, die über soziale Normen und Regeln für das gemeinschaftliche Zusammenleben verfugen, was allerdings keinen prinzipiellen Unterschied zu der geschilderten Situation mit zwei Bewusstseinen darstellt. Mit Blick auf die Frage nach dem empirischen Gehalt der Theorie sozialer Systeme besteht der interessante Aspekt der Sozialisation darin, dass es den Bewusstseinen gelingt, ihre Realitätsvorstellungen miteinander zu synchronisieren. Sie schaffen auf diese Weise gleichsam ähnliche Vorstellungen von Realität. Zwar wird niemand von einem anderen sicher wissen können, wie dieser die Realität genau wahrnimmt - das BlackBox Phänomen bleibt erhalten und die Bewusstseine immer Umwelt für einander -, trotzdem entwickeln sich Möglichkeiten der Verständigung und analoger Realitätskonstruktionen. Letztlich zeigen sich hier auch Ansatzpunkte einer empirischen Forschung. Sie kann in (mindestens) zwei Richtungen erfolgen: 1. Es ist denkbar, Sozialisationsvoraussetzungen, Lernen und ähnliche Phänomene zu untersuchen. Dabei können Konstellationen überprüft werden, die Abstimmungsprozesse ermöglichen. 2. Die Kommunikation selbst, d.h., das System, das im Prozess der Abstimmung seine Strukturen anbietet (und ändert), kann zum Gegenstand der Untersuchungen werden. Wenn Synchronisation von Wirklichkeit über Kommunikation möglich ist, so darf angenommen werden, dass sich „Spuren" der Strukturen von Kommunikation, deren Programme etc., auch in den einzelnen Ausschnitten tatsächlicher Kommunikation finden lassen (diese Vermutung liegt implizit bereits der oben dargestellten Deutung der Gerichtskommunikation zu Grunde).
6 Theorie und Empirie
6.2.4
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Möglichkeiten und Grenzen der Verbindung von Empirie und Theorie sozialer Systeme
Die „reine Lehre" und die Empirie Eine reine radikal-konstruktivistische Auffassung wird die Möglichkeit empirischer Forschung verneinen müssen. Da jedes System immer nur aus seiner eigenen und individuellen Perspektive beobachtet, bleibt ein Zugang zur Empirie verschlossen. Diese Auffassung wird ebenfalls von der Theorie sozialer Systeme vertreten, weil sie eine konstruktivistische Grundhaltung in ihr Theoriegebäude „eingewoben" hat. Die Folge dieser Auffassung kann an der Theorie sozialer Systeme selbst sehr leicht veranschaulicht werden. Auf sich selbst gewendet bedeutet die beschriebene Position, dass die Aussagen der Theorie sozialer Systeme Beobachtungen sind, die sie aus einer bestimmten Perspektive heraus durchführt und interpretiert. Die Theorie hängt wissenschaftlichen Aufsatz an wissenschaftlichen Aufsatz, Buch an Buch, Vortrag an Vortrag und beschreibt so fortlaufend ihre eigenen Vorstellungen durch ständiges Hervorbringen ihrer eigenen Vorstellungen. Damit konstruiert sie selbst Wirklichkeit, die sie an einer „übergeordneten Realität" nicht zu überprüfen in der Lage ist. In der so beschriebenen Situation wird letztlich nichts anderes sichtbar als Autopoiese von Wissenschaft. Gleichzeitig ergibt sich für die Theorie eine schwierige Situation, denn funktionale Differenzierung bedeutet, ungeachtet der Tatsache, dass das Funktionalsystem Wissenschaft nur auf seinen eigenen Erhalt fixiert bleibt, dass mit seinem Operieren eine Funktion verbunden sein muss, die es von außen sinnvoll erscheinen lässt, am Funktionalsystem Wissenschaft zu partizipieren. Darüber hinaus sichert die Funktion des Wissenschaftssystems den Fortbestand der Ausdifferenzierung von Wissenschaft innerhalb von Gesellschaft. Weil dies so ist, wird Wissenschaft - ganz entsprechend der Argumentation der Theorie sozialer Systeme -, niemals verhindern können, dass sie zur Basis empirischer Forschung wird, weil die Funktion von Wissenschaft, das Aufdecken von Wahrheit" in der Systemumwelt und teilweise in Wissenschaft selbst ein gewisses „Bedürfnis" nach Prüfung an der Wirklichkeit weckt. Dies gilt selbst dann, wenn eine Theorie Empirie strikt ablehnt, denn die anderen Systeme sind autonom in ihrem Anschluss an die Ergebnisse und Entwicklungen in Wissenschaft. Mit anderen Worten: Die Funktionalsysteme Erziehung, Wirtschaft, Politik etc. einschließlich der Wissenschaft selbst ebenso wie Organisationen und Bewusstseine sind in ihren Entscheidungen darüber, wie sie mit Wissenschaft umgehen, autonom und damit sehr wohl in der Lage, die Praxistauglichkeit einer Theorie - je aus der (system-) individuellen Perspektive - zu überprüfen. Sowohl die Tatsache, dass von außen mit Wissenschaft eine Funktion verbunden wird, die an der Kodierung von wahr/nicht wahr festgemacht werden kann, als auch die Autonomie der Systeme in der Umwelt von Wissenschaft fuhren also dazu, dass sich empiri-
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II
Theorieteil
sehe Forschung, die an den Aussagen der Theorie sozialer Systeme anschließt, weder verhindern lässt noch unwahrscheinlich (im statistischen Sinne) ist. Hier zeigt sich eine Paradoxie, die für die Bedeutung empirischer Forschung im Kontext der Theorie sozialer Systeme wesentlich ist und deshalb nachfolgend kurz beschrieben wird.
Die „Paradoxie der Empirie" In der Forschungspraxis werden sich Positionen entwickeln (können), die eine Verbindung zur Empirie suchen. Ein solcher Vorgang stellt eine Abkehr von der „reinen Lehre" der Theorie sozialer Systeme dar. Den Ansatzpunkt für die Anbindung der empirischen Arbeit bildet der Begriff des Lernens, den schon Maturana und Varela geprägt haben. Lernen ist dabei untrennbar verbunden mit so genannter struktureller Kopplung. Strukturelle Kopplung ereignet sich zunächst dadurch, dass autopoietische Systeme, die ihre Umwelt beobachten, „geneigt sind", die Umwelt auf Regelmäßigkeit zu untersuchen. Ziel dieser Art von Beobachtung ist es, sich im eigenen Verhalten auf die Umwelt (besser) einzustellen, um in ihr und in Koexistenz mit ihr bestehen zu können. Die Beobachtungsleistung, bei der Regelmäßigkeiten in der Umwelt „entdeckt" werden, reicht alleine noch nicht aus, damit man behaupten kann, ein System lerne. Vielmehr muss an diese Beobachtung und Auswertung eine Veränderung der eigenen Programme (und damit Strukturen) angeschlossen werden. Während die Leistung der Strukturveränderung bei biologischen Einheiten ihren Niederschlag hauptsächlich in der Evolution einer ganzen Gattung findet, können sinnverarbeitende Systeme in weit größerem Maße auch systemindividuell strukturelle Kopplungen vornehmen. Diese Art der strukturellen Kopplung wird als individuelles Lernen bezeichnet. Der Lernbegriff, der aus der strukturellen Kopplung hergeleitet wird, setzt an der Programmierung autopoietischer Systeme an, die als Reflex auf Deutungen eigener Beobachtungen einer Modifikation unterzogen wird und so Umstrukturierung erzeugt. Dieses Lernen muss Fremdbezug und Selbstbezug vereinen, sozusagen die intern erzeugten Vorstellungen von Umwelt in „Wissen" über Umwelt verwandeln. „Wissen" muss in diesem Zusammenhang bedeuten, dass ein System glaubt, es habe Einsicht in die „Welt dort draußen". Um das Wissen zu testen, muss das System dann wieder mit der Umwelt in Kontakt treten - oder doch zumindest die Vorstellung besitzen, es trete in Umweltkontakt. Dabei kann bestätigt oder enttäuscht werden, was dann zu weiteren Lernprozessen fuhrt. Man erkennt hier, weshalb strukturelle Kopplung eine Paradoxie beschreibt: Sie verlangt nach Außenkontakt und setzt damit einen empirischen Prozess in Gang. Gleichzeitig wird der Außenkontakt derart durch Interna des Systems gefiltert, dass das System zwischen Illusion und Realität niemals unterscheiden kann. Ob es sich tatsächlich auf Umwelt einstellt oder nicht, kann das System nicht unterscheiden - und diese Unter-
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Scheidung macht auch für die Generierung von Systemverhalten gar nichts aus, denn für die Generierung von Verhalten gilt: Es ist nicht wichtig, was ein System ist, es zählt vielmehr, was es glaubt zu sein. Wer glaubt, er fahre auf der richtigen Straßenseite, ist aus seiner Sicht umgeben von Geisterfahrem, die diese Tatsache einfach nicht einsehen wollen. Mit anderen Worten: Empirie ist letztlich ebenso unvermeidbar wie unmöglich. Koppelt man das paradoxe Ergebnis zu den Ansatzpunkten empirischer Sozialforschung zurück, so können diese - ebenfalls in paradoxer Form - reformuliert werden: 1. Die empirische Forschung von Voraussetzungen für Sozialisation, Lernen und Ähnlichem beschäftigt sich mit der Frage nach den Bedingungen dafür, dass Systeme fortlaufend tun, was gar nicht geht, nämlich Wahrheiten an der Wirklichkeit erproben. 2. Die Untersuchung der „Spuren" systemischer Gegebenheiten in den partizipierenden Systemen fragt letztlich danach, wie sich das, was es nicht geben kann, in den partizipierenden Systemen niederschlägt und von außen beobachtet werden kann.
Empirische Sozialisationsforschung als Beispiel empirischer Sozialforschung im Kontext der Theorie sozialer Systeme Die empirische Untersuchung von Sozialisation (und damit, wie gezeigt werden wird, auch von Lernprozessen) soll hier stellvertretend und exemplarisch besprochen werden, weil sie sich direkt an das Lernkonzept der Theorie autopoietischer Systeme und der Theorie sozialer Systeme anlehnt. Sie muss sich dabei jedoch von den traditionellen Vorstellungen des Sendens und Empfangens grundlegend verabschieden. Dies gilt schon deshalb, weil einzelne Ereignisse niemals ein System bilden können, so dass ein Sendeakt, an den nicht angeschlossen wird, nicht beobachtet werden kann. Am Beispiel der Kommunikation wird dies deutlich: Kommunikation bedarf einer Kommunikationsofferte, also einer Sendeleistung, die in einem individuellen Verhalten vorgebracht wird. Kommunikation als System ist aber mit dem Sendeakt weder abgeschlossen noch beobachtbar. Als abgeschlossen kann Kommunikation gelten, wenn der Empfänger die Kommunikationsofferte beobachtet, als eine Kommunikationsofferte interpretiert und somit die kommunikative Absicht des Senders erkannt hat. Beobachtbar wird Kommunikation erst dann, wenn der Empfänger mit einer (Anschluss-) Kommunikationsofferte reagiert, sich also selbst kommunikativ verhält und seinerseits zum Sender wird. In diesem Prozess muss empirische Sozialisationsforschung (und Lernforschung) immer (mindestens) drei Systemdifferenzen unterscheiden:
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// Theorieteil
1. Sie kann sich auf das zunächst als Sender auftretende Bewusstsein beziehen. 2. Sie kann sich auf das zunächst als Empfänger auftretende Bewusstsein beziehen. 3. Sie kann sich auf die Kommunikation selbst, also auf Gesellschaft beziehen. Sozialisation und Lernen stehen hierbei in einem sehr engen Verhältnis zueinander, unterscheiden sich jedoch in einem wesentlichen Punkt. Lernen als strukturelle Kopplung ist eine interne Anpassung an die Umwelt. Sozialisation hingegen stellt eine Lehrsituation dar, die als Rückkopplung Lernen auf der Ebene von Gesellschaft unvermeidlich mit einschließt. Diese abstrakte Definition von Sozialisation soll kurz erläutert werden. Gesellschaft als System aus Kommunikation stabilisiert sich durch Wahrscheinlichkeiten. Bestimmte Kommunikationsofferten sind mit höherer Wahrscheinlichkeit anschlussfähig als andere - der Gruß beispielsweise: „Guten Abend, meine Damen und Herren", wird bei einem Wissenschaftskongress eher beantwortet werden als ein: „Hallo Sportkameraden", was bei einer Fußballlehrerversammlung genau umgekehrt sein dürfte. Die Gesamtheit dieser Wahrscheinlichkeiten zeigt sich beispielsweise in Normen, Regeln etc., die wiederum die Struktur des Kommunikationssystems ausmachen. Struktur im Sinne der Theorie sozialer Systeme bedeutet daher letztlich nichts anderes als das Bestehen von Wahrscheinlichkeiten. Beachtet man, dass das Geflecht aus Normen und Regeln häufig auch mit dem Begriff der Kultur gleichgesetzt wird, so entwickelt das Kommunikationssystem in seiner Strukturierung seine eigene Kultur. Corporate Culture meint eben nichts anderes als das Geflecht aus Normen, Regeln usw., das die Struktur einer Organisation ergibt. Der Begriff der Kultur wird im hier beschriebenen theoretischen Umfeld dann ausdrücklich nicht als Bezeichnung für ein Teilsystem von Gesellschaft herangezogen, dafür böte sich vielmehr der Terminus Kunst an, weil eine Kultur in jedem Teilsystem, sei es ein Funktionalsystem oder eine Organisation, ebenso vorliegen muss wie in Gesellschaft insgesamt. An Gesellschaft zu partizipieren, bedeutet für Bewusstseine somit immer, sich auf die je anwesende Kultur einzulassen. Wenn sich Bewusstseine auf Kultur (also Struktur im Sinne von Normen und Ähnlichem) einstellen müssen, um an dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext partizipieren zu können, so folgt daraus, dass Partizipation an Gesellschaft die Fähigkeit der Bewusstseine zur strukturellen Kopplung voraussetzt und tatsächliche strukturelle Kopplung erzwingt. Der Fußballlehrer, der seinen Sportkameradengruß im Kreise der Wissenschaftler vorbringt, erntet Missfallen oder bestenfalls Humor, „outet" sich jedoch in jedem Fall als „Outsider". In der Terminologie der Theorie sozialer Systeme wird in diesem Fall davon gesprochen, dass der Fußballlehrer nicht in den Kommunikationskontext inkludiert wird. Für ihn gilt es hier zunächst, sich an die „Wissenschaftskultur" anzupassen (denn so lange, bis seine strukturelle Kopplung nicht in hinreichendem Maße abgeschlossen ist, wird der Zustand der Exklusion anhalten).
6 Theorie und Empirie
141
Lehren als Teil des Sozialisationsprozesses meint also die Leistung eines Sozialsystems. Gesellschaft strukturiert sich durch ihre Kultur, und Gesellschaft ist es auch, die damit den Bewusstseinen eine Lernleistung abverlangt, weil Gesellschaft diese beispielsweise so lange nicht inkludiert, wie sich die Bewusstseine nicht hinreichend an die gesellschaftliche Kultur strukturell gekoppelt haben. Erst dann, wenn die Programme der Gedankensysteme hinreichend kompatibel zum gesellschaftlichen Umfeld sind, wird Inklusion der Bewusstseine möglich. Moderne Gesellschaft hat den Prozess der Sozialisation in vielfacher Hinsicht institutionalisiert. Familien, Schulen, Kirchen und viele andere mehr spielen dabei eine wesentliche Rolle, weil sie beispielsweise Normen „verkörpern", vermitteln und/oder Situationen der Normenanwendung simulieren. In dieser Tatsache deutet sich die zweite Seite der Sozialisation an. Der „Lehrmeister" im Prozess der Sozialisation, Gesellschaft, wird gleichzeitig zum „Lehrling". Gesellschaft ist gezwungen, fortlaufend zu lernen, dies auch im Vollzug der Sozialisation von Bewusstseinssystemen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Ausbildung von Institutionen der Sozialisation, die sich ständig ändern - nicht zu aller Zeit waren beispielsweise Schulen als Institution der Sozialisation vorhanden - ebenso wie für die tatsächliche Ausgestaltung der Normen selbst. So kann man sich durchaus vorstellen, dass auch Wissenschaftler sich als „Sportkameraden" anreden, wenn nur genügend Bewusstseine anwesend sind, die sich auch als Fußballlehrer verstehen, was beispielsweise bei einem Kongress der Sportwissenschaftler durchaus möglich sein kann. Es gilt also zweifelsohne, dass sich die Kultur als Reflex auf Partizipation von Bewusstseinen ändern kann. Diese Art der strukturellen Kopplung bedeutet ebenfalls eine Lernleistung - in diesem Fall jedoch auf Seiten von Gesellschaft. Bedenkt man, dass Gesellschaft immer ihre Strukturen als Orientierungsrahmen mit anbieten muss - wie sonst könnte Gesellschaft durch Strukturen stabilisiert werden -, wird letztlich jede Partizipation von Bewusstseinen zu einem Sozialisationsprozess, in dem Gesellschaft lehrt und gleichzeitig durch Rückkopplungen lernt. Die Lehr- und Lernprozesse von den beteiligten Systemen werden durchaus mit voneinander abweichendem Zeitbedarf vollzogen. Bei Kindern wie bei Jugendlichen beispielsweise lässt sich die Anpassung an soziale Normen leichter beobachten als bei Erwachsenen - lediglich in Ausnahmesituationen, beispielsweise bei einem Umzug in einen anderen Kulturkreis, werden die Anpassungsleistungen auch bei Erwachsenen ebenfalls sehr deutlich. Die Veränderung in der Struktur von Gesellschaft schließlich vollzieht sich in aller Regel fast unsichtbar und ist deshalb häufig nur dann zu beobachten, wenn große Zeitintervalle komparativ betrachtet werden - die Veränderung in der Kultur beispielsweise der Großstadt Wien lässt sich für den Zeitraum von 1999 bis 2000 wohl kaum beschreiben, für den Zeitraum von 1700 bis 2000 jedoch sehr wohl (möglicherweise sogar in Epochen untergliedert).
1 42
II Theorieteil
Die Konsequenz für die Theorie sozialer Systeme, die sich aus dem eben Beschriebenen ableiten lässt, dürfte leicht gezogen werden. Empirische Sozialisationsforschung und Lernforschung referieren beide auf prozessuale Phänomene der strukturellen Kopplung an Umwelt je verschiedener Systeme. Da diese Prozesse die jeweiligen Umwelten zwangsläufig ändern, erweist sich der Gegenstand der Untersuchungen als instabil. Was heute wahr ist, kann morgen falsch sein. Was an einem Ort gilt, kann anderswo ungültig sein. Gleichzeitig lässt sich allerdings auch festhalten, dass sich der Gegenstand der Sozialisationsforschung und der Lemforschung in den Beobachtungen der beobachteten Systeme und in deren internen Reaktionen auf je eigene Beobachtungen wiederfinden lassen muss. Diese Behauptung beansprucht sowohl für soziale Systeme wie für Bewusstseine Gültigkeit. Was Gesellschaft von Bewusstseinen erwartet, muss in ihren eigenen Prozessen gleichsam „eingebaut" sein, damit die Bewusstseine die Möglichkeit besitzen, sich an Gesellschaft strukturell zu koppeln. Die Vorstellungen davon, was die Bewusstseine als Struktur von Gesellschaft wahrgenommen haben, finden ihren Niederschlag schließlich in den Programmen zur Deutung von Beobachtung und der Generierung von Verhalten. Wenn Sozialisationsforschung diese Ausgangssituation akzeptiert, so kann empirische Sozialisationsforschung nur eines bedeuten: die Aufdeckung synchronisierter Vorstellungen von Realität. Eine solche Aufdeckung setzt notwendig an der Lernfähigkeit der beteiligten Systeme, an den Lernprozessen und an sich überlagernden strukturellen Kopplungen an. Es bietet sich der empirischen Untersuchung eine Vielzahl von denkbaren Forschungsprojekten an, die hier nicht annähernd alle explizit angesprochen werden können. Das nachstehend umrissene Beispiel, das der Unternehmensberatung entnommen wurde, soll lediglich dazu dienen, den Prozess der Aufdeckung synchronisierter Realitätsvorstellungen im Rahmen empirischer Arbeiten zu veranschaulichen. Das Beispiel basiert auf einem tatsächlich realisierten Praxisfall, welcher zu einer Reihe von Anwendungsversuchen der Theorie sozialer Systeme auf die Unternehmenspraxis im Rahmen eines Forschungsprojektes zählt.
6 Theorie und Empirie
143
Exkurs: Aufbau eines „gerechten" Entlohnungssystems Die Aufgabenstellung des Projekts bestand darin, für ein Unternehmen mit ca. 120 übertariflich bezahlten Angestellen ein Gehaltssystem zur gerechten Entlohnung dieser Mitarbeiter zu entwickeln. Zunächst wurde die Aufgabenstellung hinsichtlich ihrer wesentlichen Systemreferenzen untersucht. Dabei wurden drei Hauptgebiete identifiziert: 1. Der Begriff der Entlohnung verweist auf das Wirtschaftssystem, weil dieses auf der Differenz von Zahlung/nicht Zahlung aufbaut. 2. Vor allem das Postulat der Gerechtigkeit in der Aufgabenstellung verweist auf die Organisation selbst, denn Gerechtigkeit - verstanden als Angemessenheit, Leistungsentsprechung oder Ähnliches - braucht einen Kontext, in dem sie sich ereignen kann. Dieser Kontext ist das Organisationssystem, und die Gerechtigkeitsvorstellung ein Bestandteil der Unternehmenskultur. Das zu entwickelnde gerechte Entlohnungssystems stellt sozusagen einen formalisierten Teil der Unternehmenskultur dar. 3. Die Bewusstseine, die an der Organisation partizipieren und die in ihren Beobachtungen auf Gerechtigkeit rekurrieren (können). 4. Neben diesen drei Systemreferenzen wurde noch die rechtliche Dimension betrachtet, die aber vor allem für die Realisation des Projektes selbst relevant war, weil beispielsweise Befragungen, Zeitnahmen etc. ohne Beachtung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats nicht möglich waren. Nachdem die Systemreferenzen definiert waren, wurde der Möglichkeitenraum für die Lösung identifiziert. Dazu mussten zunächst die prozessualen Untersuchungen, die letztlich zu dem Vorschlag eines gerechten Lohnsystems führen sollten, von den Betrachtungen vorhandener Restriktionen unterschieden werden. Die Explikation der Restriktionen wurde den eigentlichen Untersuchungen vorangestellt. Als Bereiche, in denen wichtige Restriktionen vorzufinden waren, wurden - in Anlehnung an die Systemreferenzen - die nachfolgenden betrachtet: 1. Wirtschaftliche Rahmendaten, die sich beispielsweise in Tarifbestimmungen - die Entlohnung musste die höchsten Tarifgruppen überschreiten - und in Opportunitätskosten - es musste beachtet werden, ob vergleichbare Arbeitsleistungen am Markt in gewissem Maße honoriert werden - widerspiegeln. 2. Organisatorische Rahmenbedingungen, die beispielsweise darin bestanden, dass die übertariflich bezahlten Angestellten bestimmte Positionen (wie Abteilungsleiter, Gruppenleiter, Projektleiter etc.) besetzten, dass sich inhaltliche Überschneidungen (Leitung, Planung, Kontrolle und Ähnliches) und Unterschiede (technische, kaufmännische Positionen, Leitungsspannen usw.) beobachten ließen und dass bestimm-
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II Theorieteil
te Aufgaben präzise definiert und andere kaum abgesteckt waren (Qualität von Stellenbeschreibung). 3. Rechtliche Rahmenbedingungen, die u. a. durch Tarifbestimmungen des Manteltarifvertrages, Rechte des Betriebsrates oder die Rechtsform des Unternehmens bedingt waren. Wie bereits erwähnt, bezogen sich die rechtlichen Rahmendaten hauptsächlich auf die Durchfuhrung des Projektes selbst. Die grundlegende Bedeutung der Rahmendaten bestand darin, dass sie allgemeine Orientierungshilfen boten und dadurch den Spielraum absteckten, in dem das zukünftige Entlohnungssystems platziert werden musste. So waren die Gehaltsstufen des Tarifvertrages monetäre Eckdaten, die die untere Grenze für die Gehaltsstaffelung formten. Ähnliches galt für organisatorische Rahmenbedingungen, denn eine vollständige Überarbeitung der Aufbauorganisation, in der bestehende Funktionen hätten abgebaut, neue ggf. entwickelt werden können, war nicht Gegenstand des Projekts. Die eigentliche Durchfuhrung des Projekts begann, nachdem die Beschreibung des Rahmens abgeschlossen war. Ihr Schwerpunkt lag auf der Explikation synchronisierter Vorstellungen über Gerechtigkeit, die innerhalb der Organisation vorlagen. Es wurde, ganz im Sinne der Theorie sozialer Systeme, davon ausgegangen, dass Gerechtigkeit eine Eigenschaft des Organisationssystems darstellt, also nur im systemischen Zusammenhang des Unternehmens als Sozialsystem und nur für dieses Sozialsystem vorliegen konnte. Aus dieser Annahme wurde gefolgert, dass traditionelle Vorgehensweisen, die zumeist aus der Perspektive der Geschäftsleitung entwickelt werden und eine bestimmte Leistung an Entgelte koppeln, nicht greifen können. Vielmehr galt es, verschiedene Perspektiven einzunehmen und so einen Bereich geteilter Auffassung von Gerechtigkeit zu explizieren bzw. die Differenzen zwischen den Auffassungen herauszustellen. Daran anschließend konnte dann eine monetäre Bewertung vorgenommen werden. Die Beobachtungsperspektiven, die untersucht wurden, waren dabei: 1. Die Position der Geschäftsleitung, die die Kostenverantwortung besitzt und für die Aufgaben- und Stellendefinition verantwortlich zeichnet. 2. Die Perspektive der übertariflich entlohnten Angestellten, die die Stellen besetzen und denen die Aufgabenerfüllung zukommt. 3. Die Sichtweise der hierarchisch untergeordneten Mitarbeiter, die von den übertariflich entlohnten Angestellten „geführt" werden. 4. Die Perspektive der Personalabteilung, die vor allem die Rahmenbedingungen überwacht und in deren Verantwortungsbereich das Projekt angesiedelt wurde.
6 Theorie und Empirie
145
5. Die Perspektive der Organisation als sozialem System, an dem die Bewusstseine in den vier zuvor genannten „Rollen" partizipieren. Diese Beobachtungsperspektive konnte nicht direkt angesprochen werden, weil es sich um ein Sozialsystem handelt, das Befragungen etc. nicht zugänglich ist. Letztlich musste auf die Strukturen, die die Bearbeitung von organisationalen Beobachtungen leiten, als Ergebnisse „geschlossen" werden. Für die Frage nach der empirischen Forschung im Kontext der Theorie sozialer Systeme soll nachstehend lediglich auf die Entwicklung von Kriterien zur Beurteilung Gerechtigkeit eingegangen werden. Ihr waren mehrere Schritte vorangegangen, in denen Zielsetzungen und Erwartungen der identifizierten Positionen herausgearbeitet, ein am Tarifsystem orientiertes „Entlohnungsgerüst" mit verschiedenen Gehaltsbändern (Referenz auf das Wirtschaftssystem) aufgebaut sowie Funktionenbeschreibungen für einzelne Stellen angefertigt wurden. Erst daran anschließend konnte sich dem Begriff der Gerechtigkeit zugewendet werden. Gerechtigkeit, so wurde herausgearbeitet, wirkt sich einerseits auf die Bewertung bestimmter Stellen im Verhältnis zu anderen Stellen aus, und auf die Honorierung der individuellen Leistungen der Mitarbeiter bei der Ausführung der Aufgaben, die mit den Stellen verbunden sind. Aus diesem Grunde mussten zwei Maßstäbe entwickelt werden, in denen sich Gerechtigkeit ausdrücken ließ, einer zur Ermittlung der Eingruppierung der Stelle, ein zweiter, der eine Leistungsbeurteilung bezogen auf die Aufgabenerfüllung ermöglichte. Die Entwicklung der Stellenbeurteilung und der Beurteilung der individuellen Leistungen wurden dabei nacheinander realisiert, weil ersteres als ein Strukturelement der Aufbauorganisation und letzteres als ein Element der Ablauforganisation und Personalfuhrung betrachtet wurde. Daraus folgt: Beurteilung der individuellen Leistungen setzt eine Eingruppierung der Stellen voraus. Gleichzeitig galt, dass das Verfahren zur Ermittlung des Maßstabes prinzipiell identisch sein konnte. Dazu wurden jeweils vier Schritte durchlaufen, in denen verschiedene Beobachtungsperspektiven expliziert, abgestimmt bzw. verglichen und schließlich in den Maßstab überfuhrt wurden. Diese Schritte werden nachfolgend kurz vorgestellt. Es sei vorab ausdrücklich angemerkt, dass es zunächst um die Entwicklung des Maßstabes und damit noch nicht um dessen Anwendung ging. Die Implementierung und Evaluation musste zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
1.
Individuelle Erarbeitung von Kriterien zur Beurteilung der Stellen bzw. Leistungen
Hierzu wurden die betroffenen Mitarbeiter gebeten, Kriterien für die Eingruppierung der Stellen bzw. Beurteilung der individuellen Leistung zu nennen, zu begründen, warum das Kriterium als relevant angesehen wurde, und darzulegen, wie das Kriterium
146
// Theorieteil
beobachtet werden könne. Interessant war dabei, dass es bei der Frage nach den Kriterien für die Einstufung der Stellen über die vier Gruppen hinweg große Übereinstimmungen gab. Die Kriterien ftir die Beurteilung der individuellen Leistung von Stelleninhaber differierten in höherem Maße.
2.
Abgleich der Kriterien innerhalb der Gruppen Geschäftsleitung, übertariflich entlohnte Angestellte, Personalabteilung und hierarchisch unterstellte Mitarbeiter
Die individuell entwickelten Kriterien, die schriftlich festgehalten waren, wurden den Mitgliedern der Gruppe vorgelegt - und dies im Originalwortlaut. Danach wurden Übereinstimmungen herausgearbeitet. Bei jedem Kriterium galt, dass sich Mitglieder der Gruppe möglichst hinsichtlich der Benennung, Begründung und in Bezug auf Beobachtungsmerkmale einigen sollten, was sich innerhalb der einzelnen Gruppen als wenig problematisch herausstellte. Vor allem hinsichtlich der Einstufung der Stellen war eine gemeinsame Position innerhalb der Gruppen relativ schnell formuliert. In allen Gruppen - wenn auch mit unterschiedlichen Bezeichnungen - wurde bei der Eingruppierung von Stellen darauf hingewiesen, dass zwischen „allgemeinen Führungsaufgaben" und „spezifischen Stellenanforderungen" unterschieden werden müsste.
3.
Vergleich der Positionen über die Gruppe hinaus
Die erarbeiteten gemeinsamen Positionen einer Gruppe stellten letztlich eine Art Protokoll über die von dieser Gruppe vertretene Perspektive dar. Für die vier genannten Gruppen lag somit nach Abschluss des zweiten Schrittes eine protokollierte Sammlung von Kriterien vor, die hinsichtlich der Benennung, Begründung und der Möglichkeit der Beobachtung des Kriteriums die gleiche Form aufwiesen. Dadurch war es möglich, einen Vergleich der Positionen relativ unproblematisch durchzuführen. Der wesentliche Unterschied zwischen Schritt zwei und drei bestand darin, dass es beim Vergleich der Positionen über die Gruppe hinaus nicht darauf ankam, die Ergebnisse in einem einzigen Protokoll zu vereinigen - dies wäre schon organisatorisch kaum möglich gewesen, weil mehrere gruppeninterne Rückkopplungen und Absprachen hätten stattfinden müssen. Zudem sollten sowohl die Überschneidungen wie die Unterschiede herausgestellt werden, die zwischen den einzelnen Perspektiven der Gruppen vorlagen, um beiden, den Gemeinsamkeiten wie den Differenzen, ihren „Platz" im zukünftigen Entlohnungssystems zu geben. Wie bereits erwähnt, ergaben sich bei der Bewertung der Stellen über die Gruppen hinweg relativ wenige und auch weniger gravierende Abweichungen der Positionen, als dies bei der Beurteilung der individuellen Leistung der Fall war, was jedoch nicht heißen soll, dass hinsichtlich der individuellen Leistungsbeurteilung der Stelleninhaber unüberbrückbare Differenzen zu Tage traten.
6 Theorie und Empirie
4.
147
Feststellen von Überschneidungen und Differenzen in den Positionen
Im Ergebnisse konnten für die Beurteilung der Stellen (der Leistung) 25 (34) Kriterien entwickelt werden, die sich in je fünf Kategorien zusammenfassen ließen. 23 (20) Kriterien wurden dabei von allen Gruppen übereinstimmend als wichtig angesehen, die übrigen als Ergänzung aus einer anderen Perspektive akzeptiert. In der Form Benennung, Begründung, Beobachtungsmöglichkeit lag damit ein Protokoll vor, indem ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Implementierung des Entlohnungssystems gegeben war. Beispiele für Abweichungen waren beispielsweise Kriterien zur sozialen Kompetenz, die von hierarchisch unterstellten Mitarbeitern wesentlich differenzierter unterschieden und als besonders relevant bezeichnet wurden. Es wurden dabei auch detaillierte Vorstellungen über die Beobachtung (und später auch zur Messung) dieser Kriterien angegeben, was von der Geschäftsleitung als nahezu unmöglich angesehen wurde. Mit dem Vorliegen des Protokolls war das Projekt noch nicht abgeschlossen. Es wurden anschließend mit prinzipiell gleicher Methodik die konkreten Stellen noch monetär bewertet, was mit Hilfe eines Scoring-Modells erfolgte. Ebenso wurde mit den Kriterien der Leistungsbewertung verfahren. Auf eine detaillierte Beschreibung dieser Projektschritte kann hier verzichtet werden, weil das Verfahren des Projekts mit den voranstehenden Ausführungen hinreichend veranschaulicht sein dürfte. Deshalb kann hier eine kurze systemtheoretische Würdigung des Projekts und seiner Methodik vorgenommen werden. Die grundlegende systemtheoretische Ausrichtung des Projekts wird in dem „multiperspektivischen" Herangehen deutlich. Es wurde angenommen, dass jedes partizipierende System seine Umwelt individuell beobachtet und beurteilt. Folglich kann es keine herausgehobene Position der Beobachtung - auch nicht die der Geschäftsleitung - geben, wenn es um eine Frage wie die der Gerechtigkeit von Entlohnung geht. Zur gleichen Zeit muss aber eine synchronisierte Vorstellung von Gerechtigkeit existieren, die sich innerhalb bestimmter Entscheidungsräume bewegt, welche wiederum nicht zuletzt durch die allen Umwelten gemeinsamen Bestandteile, die Funktionalsysteme, beeinflusst werden. Innerhalb dieser Bandbreite bestehen dann Spielräume für die Entwicklung einer organisationseigenen Vorstellung vom Gerechtigkeit, die einen Teil der Unternehmenskultur ausmacht. In dem Projekt wurde darüber hinaus auch der Tatsache Rechnung getragen, dass bestimmte Aufgaben in der Organisation zu Gruppenbildung und damit zu „Subkulturen" und „Subperspektiven" mit sozusagen vorab synchronisierten Beobachtungen führen (können). Die Explikation der Positionen von Geschäftsleitung, übertariflich entlohnten Angestellten, hierarchisch untergeordneten Mitarbeitern und des Personalwesens stellten sich hier in den Dienst der Ermittlung dieser Subkulturen, die im Organisationsalltag nicht zuletzt eine Orientierungsfunktion für die einzelnen partizipierenden Bewusstseine bieten.
148
II Theorieteil
Mit der Erarbeitung des Protokolls über die Kriterien wurde letztendlich auch ein Hinweis auf die Kultur der Organisation gegeben, d. h., es wurden Hinweise auf die fünfte Beobachtungsperspektive ermittelt. Unter Anwendung der in der Kultur manifestierten Regeln beobachtet das Sozialsystem Organisation auf seine eigene Weise. Wie die Tatsache, dass im Vergleich der Protokolle der einzelnen Gruppen Überschneidungen ebenso wie auch Unterschiede aufgedeckt wurden, zeigt, konnte keine der beteiligten Gruppen für sich beanspruchen, die organisationale Beobachtungsebene vollständig repräsentieren zu können - dies gilt, wie gesagt, auch für die Geschäftsleitung. Diese Tatsache musste auch bei der Implementierung des Entlohnungssystems und bei dessen Nutzung nachfolgend mehrfach berücksichtigt werden. Für die Praxis der Leistungsbewertung von Stelleninhabern beispielsweise bedeutete dies, dass die Leistungen nicht aus einer einzigen Warte heraus beurteilt werden konnten. In dem Unternehmen werden deshalb heute regelmäßig Leistungsbewertungen aus verschiedenen Perspektiven durchgeführt - Geschäftsleitung, hierarchisch gleichgestellte Mitarbeiter, hierarchisch unterstellte Mitarbeiter, Personalabteilung, Selbstevaluation -, die dann analog zu den oben beschriebenen Schritten abgestimmt und verglichen werden. Es dürfte nachvollziehbar sein, dass die Auswirkungen des Projekts über den Bereich des Entlohnungssystems hinausgegangen sind. Der multiperspektivische Ansatz zeitigte seine Folgen auch im allgemeinen Umgang der Mitglieder des Unternehmens miteinander. Gegenwärtig (Ende 2000) wird darüber nachgedacht, ob das Entscheidungsfindungsverfahren, das zum Entlohnungssystem geführt hat und in ihm weitergeführt wird, auch auf andere Bereiche ausgedehnt werden kann. In diesem Sinne stellte das Projekt den Beginn eines „multiperspektivischen" Managements dar, in dem grundlegende Annahmen der Theorie sozialer Systeme in praktische Anwendung übersetzt sind.
Möglichkeiten, Grenzen, Erweiterungen der Theorie sozialer Systeme als Basis empirischer Forschung Die abschließenden Ausführungen sollen nochmals auf die oben herausgearbeiteten Ansatzpunkte empirischer Forschung im Rahmen der Theorie sozialer Systeme Bezug nehmen, bevor auf die Grenzen des Ansatzes und die Möglichkeit der Erweiterung der Theorie sozialer Systeme durch andere Forschungsangebote eingegangen wird. Dies erfolgt vor dem Hintergrund des eben dargestellten Beispiels systemtheoretischempirischer Untersuchung. Als Anknüpfungspunkte für empirische Forschung waren zwei Bereiche besonders herausgestellt worden: Zum einen die Frage nach den Bedingungen fortlaufender Praxisund Realitätsorientierung systemischer Beobachtungen, zum anderen die Frage nach den „Spuren" der systemischen Gegebenheiten sozialer Systeme in den Programmierungen partizipierender Bewusstseine. Die erstgenannte Fragestellung war bereits mit
6 Theorie und Empirie
149
Blick auf die Sozialisationsforschung grundsätzlich diskutiert worden, in dem Projektfall zur Entwicklung eines gerechten Entlohnungssystems lassen sich die wesentlichen Aspekte nochmals zusammenfassen: 1. Die Organisation bildet ein Sozialsystem. Dieses System besitzt eine eigene Kultur, an die sich Bewusstseine koppeln, so wie sie sich ihrerseits an Bewusstseine koppelt. Organisation verlangt somit nach Sozialisation - wenn dieser Begriff hier auch weniger allgemein verstanden werden muss als in der allgemeinen Sozialisationsforschung. Wer an der Organisation partizipieren will, muss mit den strukturellen Gegebenheiten der Organisations- Stellen, Weisungsbefugnisse, informelle Abläufe etc. - umgehen lernen. Diese Tatsache ist nicht zuletzt der Grund dafür, dass sich hinsichtlich des Gerechtigkeitsbegriffs deutliche Übereinstimmungen bei den einzelnen Mitarbeitern finden ließen. Die organisationseigene Sozialisation scheint in den Überschneidungen ihre „Früchte zu tragen". 2. Soziale Systeme müssen sich ständig selbst strukturell ändern, weil Rückkopplungen auf die Kultur niemals verhindert werden können. Schon das Vorliegen des Projekts im Unternehmen lässt dies deutlich werden, denn das Entlohnungssystem hat eine strukturverändernde Wirkung. 3. Durch die ausdrückliche Beschäftigung mit der eigenen Struktur erhält der Prozess der organisationalen strukturellen Kopplung eine neue Qualität. Das Unternehmen thematisiert seine eigenen Strukturierungsprozesse. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, die eigene Strukturierung zu strukturieren. Das Unternehmen lernt hier nicht nur „nebenbei", es lernt, bewusst zu lernen. Gerade die Übernahme der Entscheidungsmethodik auf andere Entscheidungsbereiche - Stichwort „multiperspektivisches Management" - zeigt dies sehr deutlich. Die Bedingungen des wechselseitigen Lernens zwischen sozialen Systemen und Bewusstseinssystemen werden hier fundamental überarbeitet (werden können). Neben diesen Gesichtspunkten bietet das Beispiel des Entlohnungssystems auch Einsicht in die Untersuchung der „Spuren" von Kopplung in den Programmierungen von Bewusstseinssystemen. Die Übereinstimmungen hinsichtlich der Formulierung von Kriterien, die bei einzelnen Mitarbeitern vorlagen, scheinen dies ebenso zu zeigen, wie die in den Gruppenprotokollen formulierten gemeinsamen Positionen. Die empirischen Untersuchungen geben darüber hinaus Anlass zu der Vermutung, dass sich innerhalb der Untemehmenskultur „Subkulturen" herausbilden, in denen die strukturelle Kopplung von Bewusstseinen an soziale Systeme noch weiter fortgeschritten zu sein scheint. Offensichtlich erleichtert das Übernehmen bestimmter Funktionen in Organisationen die Synchronisation der eigenen Programmierung mit Ausschnitten der Unternehmenskultur, die sich auf eben die übernommenen Funktionen beziehen (diese Aussage muss als These verstanden werden, weil eine Überprüfung dieser Behauptung im Projekt nicht erfolgte).
150
// Theorieteil
Was hinsichtlich der Aufdeckung synchronisierter Programmierungen weiterhin Beachtung verdient, betrifft die Form der Speicherung der Kopplung. Es kann nicht unterstellt werden, dass alle partizipierenden Bewusstseine die Rückkopplungen in identischer Weise speichern. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass sich diesbezüglich systemindividuelle Unterschiede ergeben. Die Vorgabe für die Ausarbeitung der Kriterien in der Form Benennung, Begründung, Beobachtungsmöglichkeit bedeutet deshalb einen entscheidenden Zwischenschritt bei der Erarbeitung von gemeinsamen Protokollen. Eine Vorgabe der Form der Protokolle stellt dann aber auch einen externen Eingriff in die (und damit eine Manipulation der Ergebnisse der) Explikation synchronisierter Programme dar. Es kann hieran anschließend gefragt werden, inwieweit die Vorgaben der Form die Ergebnisse des Projektes beeinflussten. Mit dieser kritischen Anmerkung soll zu den Grenzen der empirischen Forschung im Kontext der Theorie sozialer Systeme übergegangen werden. Diese bestehen zum einen in dem Problem der Untersuchung der Beobachtungsperspektive sozialer Systeme. Sowohl Organisation als auch die als Rahmenbedingungen behandelten Beobachtungen und Prozesse in Funktionalsystemen sind der Theorie sozialer Systeme substanziell nicht zugänglich. Keine Befragung kann soziale Systeme direkt erreichen, und auch Beobachtung muss stets an Ergebnissen des Organisationsverhaltens bzw. am Verhalten partizipierender Systeme festgemacht werden. Damit bleibt die Unsicherheit darüber, was ein soziales System auf der Ebene seiner Programmierung und/oder Struktur ausmacht. Dieses Problem zeigte sich in dem Projekt dort, wo auf die Position der Organisation „geschlossen" werden sollte. Ein solcher Schluss ist unweigerlich zirkulär, weil er Struktur voraussetzen muss, die sich in Übereinstimmung mit den gekoppelten Bewusstseinen befindet, und gleichzeitig von den Übereinstimmungen auf das Vorliegen von Struktur schließt. Doch weder das Fehlen von Übereinstimmungen wäre „Beweis" für mangelnde Strukturierung des sozialen Systems - die Übereinstimmungen beziehen sich auf die Bewusstseine und nicht auf das Sozialsystem -, noch kann ausgeschlossen werden, dass die Übereinstimmungen das Ergebnis reiner Zufalle darstellen. An dieser Stelle tritt besonders hervor, dass die Theorie sozialer Systeme über kein ausgearbeitetes Instrumentarium für empirische Forschung verfügt, was sich aus der Sicht der „reinen Lehre" leicht mit der Unmöglichkeit empirischer Forschung erklären lässt. Ebenso wurde die Frage nach Ergänzung der systemischen Perspektive durch andere Theorieangebote im Kontext der Theorie sozialer Systeme bisher noch nicht gestellt. Diese Situation kann hingegen sehr wohl verwundern, da die Theorie das Black-BoxPhänomen selbst anspricht, die Leistung des Verstehens anerkennt und schließlich Perspektivenvielfalt als Selbstverständlichkeit ansieht. Betrachtet man die Konzepte empirischer Forschung, die sich auf Verstehen konzentrieren, so scheint sich die Ergänzung systemischer Untersuchung durch hermeneutische
6 Theorie und Empirie
151
Verfahren geradezu anzubieten. Vor allem die objektive Hermeneutik kann sehr wohl in ihrer theoretischen Fundierung um den Aspekt der strukturellen Kopplung ergänzt werden. Die Annahmen bezüglich der Kompetenzen sozialisierter Individuen erscheinen in hohem Maße kompatibel mit der Idee der strukturellen Kopplung von Bewusstseinen an soziale Systeme (vgl. die Ausführungen zur objektiven Hermeneutik, Kap. III/4). Da die objektive Hermeneutik ausdrücklich eine Transformation sozialer Wirklichkeit in Textform und somit auch ein systeminternes Konstrukt von Wirklichkeit behauptet, ergeben sich auch hier Berührungspunkte mit der Theorie sozialer Systeme. Die Verbindung zwischen einer Technik zur Aufdeckung latenter Strukturen (im oben beschriebenen Sinne Kultur) textlich verfasster sozialer Realität und der im Projekt zur Entlohnung entwickelten Form von Programmierungen als Protokoll scheinen sich als Ansatzpunkte der Erweiterung systemischer Untersuchungen gleichsam aufzudrängen. Durch diese Verbindung könnte der Schluss auf die Beobachtungsperspektive der Organisation methodisch abgesichert werden. Darüber hinaus könnte eine externe Beobachtungsperspektive hinzugefugt werden, die sich auf protokollierte Interaktion zwischen den Mitarbeitern bezieht. Damit entfiele letztlich sogar die Notwendigkeit, die Form der Protokolle vorzugeben. Inwieweit sich die Theorie sozialer Systeme auf diese Erweiterung einlässt, sei hier nicht weiter diskutiert. Dass sie nicht verhindern kann, dass derartige Versuche unternommen werden, konnte bereits hinreichend dargelegt werden. Als alternative Beobachtung muss die Theorie sozialer Systeme empirische Forschung, die systeminterne Strukturen analysiert, allemal akzeptieren, wenn sie ihre eigenen Aussagen ernst nimmt, weil immer das anschließende System entscheidet, wie es an Theorie anschließt. Welche Methoden derartiger Forschung hierzu zur Verfügung stehen, wird im folgenden Praxisteil ausführlich besprochen.
Übungsaufgabe 8 a)
b)
c) d)
Nehmen Sie aus konstruktivistischer Sicht Stellung zu der Aussage: „Wenn es darum geht, ob die Welt erfunden wird oder entdeckt, wird man sich für erfinden entscheiden müssen." Weshalb stehen radikal-konstruktivistische Theorien und damit auch die Systemtheorie Luhmanns einer empirischen Prüfung kritisch und ihrem Entstehen gleichzeitig machtlos gegenüber? Weshalb beschränkt die Black-Box-Problematik die Möglichkeiten der Erforschung von Systemen? In dem Exkurs zur gerechten Entlohnung wurde behauptet, dass die Unternehmensperspektive von der Managementperspektive zu unterscheiden sei. Wie lässt sich diese Aussage argumentativ untermauern?
152
III Methoden / Praxisteil
III
METHODEN / PRAXISTEIL
1
Das qualitative Interview1
1.1
Vorbemerkung
In den 80er Jahren führte der Erziehungswissenschaftler Dieter Baacke ein Stadtteilprojekt in Bielefeld-Stieghorst durch, dessen Ziel es war, die "Partizipation des Bürgers an der Öffentlichkeit seiner Region" zu verbessern. Diese komplexe, weil auf ein vielschichtiges soziales Aggregat bezogene Untersuchung diente nicht in erster Linie der Datenermittlung, wie dies im Rahmen traditionell empirischer Sozialforschung geschieht, sondern stellte ein Modell von "research by progress" dar: Elemente von Aktionsforschung (vgl. Kap. 11,4) (interpretiert im Rahmen des interpretativen Paradigmas) wurden mit konkreten Maßnahmen (Durchführung von Lehrgängen, Freizeiten; Vorbereitung von Rundfunksendungen, Herausgabe einer Stadtteilzeitung etc.) verbunden (vgl. dazu Peters, u.a. 1978). Da ein Stadtteil ein lebensweltliches Aggregat darstellt, bemühten sich die Forscher um die "Lebensweltanalyse von Stadtteilbewohnern". Eines der zentralen methodischen Instrumente war dabei das sogenannte qualitative Interview. Die Forscher gingen von folgenden theoretischen und methodologischen Überlegungen aus: Forschung wird verstanden als kommunikatives Verfahren mit dem Ziel, durch Hervorlockung von Erzählungen die Lebenswirklichkeit sogenannter Adressaten zu ermitteln; dies geschieht grundsätzlich auf mehreren Ebenen: Zunächst sollen Basisregeln aufgespürt werden, nach denen Kommunikation, Verhalten und Handeln strukturiert wird. Als Nächstes soll die vom Bewusstsein gesteuerte oder habitualisierte Umsetzung dieser Basisregeln in Kommunikations- und Handlungstypen verfolgt werden. Die Praxis kommunikativer Forschung und der Alltag derjenigen Personen, auf die sich Forschung "bezieht", sind prinzipiell vergleichbar; denn beide benutzen das Medium der Sprache, also ihre grammatischen, semantischen und pragmatischen Potentiale; Forschung wie Alltag regulieren sich in kommunikativer Praxis; möglicherweise teilen Forscher und Adressaten bestimmte Handlungsregeln und Praktiken, vergegenständlichte Problemareale zu deuten usf. Forschung unterscheidet sich von alltäglicher kommunkativer Praxis freilich durch: methodi-
Der folgende Beitrag wurde - in redigierter und verkürzter Form - entnommen aus : Baacke, D.: Zum Problem "Lebensweltverstehen". In: Heinze, Th. (Hg.): Kulturforschung I. FemUniversität Hagen 1991
1 Das qualitative Interview
153
sehe Disziplin; selbst- und fremdreflektierende Kontrolle; kritische Überwachung des Prozesses und der gewählten Deutungsverfahren; Strategien der Verallgemeinerung (vgl. 11,2), deren Resultate überprüfbar und nach Möglichkeit empirisch und/oder theoretisch belegbar bleiben. Die in den Interviews preisgegebenen Erzählungen sollen nicht als Illustration wissenschaftlicher Theorien missbraucht werden, sondern zunächst mit ihren alltagstheoretischen Implikationen aufgeschlüsselt werden; die Verbindung dieser Alltagstheorien mit wissenschaftlicher Theorie (als umfassenderem Erklärungsraum) ist anzustreben, wird aber als methodologisch-methodisches Problem gesehen. Bevorzugt werden hermeneutische Prozeduren, die davon ausgehen, dass die Perspektive der jeweiligen Interviewpartner zumindest virtuell übernommen wird (Eindringen in das lebensweltliche Konzept der Partner) und der Deutungshorizont sich zunächst auf das sprachliche Material (die Interviewäußerungen) beschränkt: "Wahrheit" (wie jemand "wirklich" ist) gilt nicht als absolut, sondern sie ist allenfalls kommunikativ-situativ zu ermitteln. Es gilt vielmehr, über Hypothesen Aufmerksamkeitsrichtungen zu markieren, Indizien zu sammeln, deren Gewicht allerdings nicht auf Anhieb durch das Aufspüren 'zutreffender' Aussagen belegbar ist (vgl. III, Kap. 3). Das Interview in seiner offenen Form wird als besonders geeignete Methode angesehen, die vorangehend explizierten Grundpostulate und Erkenntnisrichtungen einigermaßen in sich zu reproduzieren.
1.2
Methodologischer Kontext
Die Namen der zu verhandelnden Sache sind unterschiedlich: Man spricht von "Tiefeninterview", "unstrukturierten", "qualitativen", "detaillierten", "zentrierten", "intensiven" Interviews o.ä. (Kohli 1978). Kohli schlägt als neutraleren Terminus "offenes Interview" vor. Der Vorteil dieser Bezeichnung ist wohl, dass damit die Unterscheidung zum "geschlossenen" bzw. "standardisierten" Interview deutlich wird. Kohli beschreibt diesen Unterschied folgendermaßen: Das offene Interview ist gerichtet "auf eine höhere Aktivität des Befragten" und läßt diesem "stärker die Steuerung des Gesprächs zufallen (...). Es enthält einen höheren Anteil an offenen Fragen, nötigt also den Befragten zu eigenen Antwortformulierungen und fordert ihn zu längeren Antworten auf, und überbindet ihm vermehrt die Verantwortung für die Wahl der Reihenfolge der Gesprächsthemen" (ebd., S. 7). Ähnlich formuliert Hopf (1978): Sie versteht unter dem "Durchschnittstypus" des qualitativen Interviews "das von der entsprechenden Forschergruppe selbst durchgeführte, wenig strukturierte Interview, das, von lockeren Hypothesen angeleitet, der Exploration eines bestimmten, wissenschaftlich wenig erschlossenen For-
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III Methoden / Praxisteil
schungsfeldes dienen soll und das - zumindest der Intention nach - den Befragten einen breiten Spielraum der Strukturierung und Äußerung subjektiver Deutungen einräumt. Es handelt sich also weder um Interviews, die im Rahmen therapeutischer Behandlung erfolgen, noch um Interviews, in denen es um die qualitative Überprüfung eines stark eingegrenzten Sets von Hypothesen geht" (S. 99). Dadurch, dass der Befragte einen hohen Dispositionsspielraum erhält, wird er eher zum Gesprächspartner, der dazu ermuntert wird, eigene Deutungen und Relevanzen einzubringen. Gerade dies ist auch eine strategische Absicht des offenen Interviews, das ja darauf aus ist, möglichst genau und plastisch die kontextuellen Lebensbedingungen zu erfahren sowie die zum Teil daraus resultierende Organisation von Meinungen, Einstellungen oder - in Hinsicht auf die aktuelle Interview-Situation - prästabil aufgebauten Bewußtseinsstrukturen. Allerdings findet beim offenen Interview kein "echtes" Gespräch statt. Der Partner wird - wenn auch aus neutralem, wissenschaftlich gerechtfertigtem, ihm letztlich nützlichen Interesse "ausgehorcht". In der Alltagskommunikation würde man sich vor derlei neugierigen Gesprächspartnern hüten, da man nicht weiß, wozu sie die gewonnenen Auskünfte verwenden. Am besten dann, man hält sich an die Regel "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold". Auch dieses ist eine alltagsweltliche vernünftige Maxime, gegen die zu verstoßen der Befrager in qualitativen Interviews ermuntern muss. Dass ihm dies oft gelingt, wird durch Fremdheit/Unbekanntheit, Glaubwürdigkeit (Herkunft aus dem respektablen System Wissenschaft!) sowie durch den alltagspraktisch zumindest bekannten Typus "wissenschaftliches Interview" erleichtert. Eine tatsächliche Gleichstellung beider Partner freilich wird dadurch nicht erreicht. Dann müßte nämlich der Interviewer in etwa ebensoviel von sich erzählen wie der Befragte - mit den bekannten Gefahren: Der Befragte paßt sich der Autorität des Interviewers an, stimmt ihm aus Empathie, Respekt oder anderen Gründen zu, verhehlt also höflich, ängstlich seine eigene Meinung; die Äußerungen sind "gelenkt". Dies ist in der Alltagskommunikation die Regel. - Im offenen Interview muss es ausgeschlossen werden. Dennoch gelingt dies nie vollständig. So wesentlich beim offenen Interview die Äußerungen des Sprechers sind, so wichtig ist es doch auch gerade hier, "die Perspektiven der am Interview Beteiligten und die Kontextbedingungen möglichst deutlich sichtbar werden zu lassen, damit sie bei der Dateninterpretation gebührend in Rechnung gestellt werden können, d.h. abgeschätzt werden kann, was das Interview jeweils "repräsentiert" (Kohli 1978, S. 6). Dies ist schon deshalb wichtig, weil ja das, was gesagt wird, nicht immunisiert worden ist wie in vorgetesteten, geschlossenen Fragesets. Was gesagt wird, ist keineswegs nur bedingt durch die "Logik der Frage" oder vorentschieden durch zwingende Anweisungen, was zu berücksichtigen, was auszuscheiden sei. Alle Zweideutigkeiten, Ambivalenzen, Unentschiedenheiten, Situationellen und vorgeprägten Determinationen wechselnder Art gehen in die verbalen Äußerungen ein, geben ihnen Farbe. Man muss dann aber wissen, welche Farben es sind und warum sie gewählt wurden.
1 Das qualitative Interview
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Merton, Fiske und Kendali (1956) haben in Form von Ansprüchen bestimmte Eigenschaften qualitativer Interviews darzustellen versucht. Es handelt sich um folgende vier Punkte: a)
Das Interview muss eine maximale Reichweite haben. Dies bedeutuet: Die Befragten müssen die Möglichkeit haben, so viel wie möglich mitzuteilen. Sie sollten in ihren Äußerungen nicht beschränkt werden, weil sonst die Möglichkeit zu subjektiven Reaktionen verhindert würde. Der Forscher muss sich dabei der Unsicherheit aussetzen, Dinge zu hören, die er nicht sofort (vielleicht auch nicht später) kategorisieren kann. - Dieses Kriterium ist dann unabdingbar, wenn es um die Erschließung von sogenannten Lebenswelten geht. Denn diese sind in sich reich dimensioniert und können nur durch Ausführlichkeit erfaßt werden. So haben Heinze/Klusemann (1980) nicht nur nach den Erfahrungen mit den Studienbedingungen an der FernUniversität gefragt, sondern auch nach dem bisherigen Lebenslauf der ausgewählten Personen. Von ihm aus erst wird möglicherweise die Motivation zur Aufnahme eines Studiums verständlich, werden Hemmungen und Schwierigkeiten analysierbar, möglicherweise grundsätzliche Strukturen auffindbar. Ähnliches gilt für die Arbeit im Stadtteil Stieghorst: Hier genügt es nicht, Dispositionen zu erfragen wie: Beteiligungsbereitschaft, Engagement etc., wenn man nicht weiß, wie Menschen ihr Wohn-Environment erleben, wie lange sie in ihm zu Hause sind, welche Sozialisationsgeschichte und Erwartungen sie mitbringen etc.
b)
Erfordert wird (nach Hopfs Übersetzung) Spezifität: Es genügt nicht, wenn Äußerungen allgemeiner Art gemacht werden, die mehr Überblickscharakter haben, schnell zu zusammenfassenden Urteilen kommen etc. Auch Einzelfragen muss genau nachgegangen werden. Ein Kriterium für Spezifität ist es, wenn beispielsweise viel erzählt wird, bevor eine Entscheidung bekanntgegeben wird; wenn durch Nachfragen Begründungen gefordert werden etc. Vor allem aber geht es darum, bestimmte Fragestellungen in ihren möglichen Dimensionen auszuschreiten, also Genauigkeit durch Verweilen zu erzeugen.
c)
Tiefe wird gefordert, dies meint: Der Befragte soll nicht bei einer planen erzählerischen "Und-dann-Struktur" bleiben, freilich auch nicht nur Urteile von sich geben. Es geht zum einen um die Berücksichtigung affektiver, kognitiver und auch wertbezogener Äußerungen, weil diese Ebenen erst zusammen bestimmte Verhaltensstrategien verständlich machen; es geht zum anderen aber auch darum, besonders bedeutungsvolle Situationen und Betroffenheiten entsprechend herauszumodellieren. Denn nicht jede Äußerung ist gleich gewichtig; wir durchschreiten während des Interviews gleichsam ein Gelände unterschiedlicher Anund Abstiege, wobei gerade vor plötzlichen Steilwänden nicht verzagt werden darf.
156
d)
III Methoden / Praxisteil
Schließlich muss der individuelle, soziale (wir fügen hinzu: gesellschaftliche) Kontext berücksichtigt werden, weil erst dieser den Deutungen und Reaktionen ihren Ort zuweist. Hopf (1978): "Seine Kenntnis ist u.a. Voraussetzung für die Interpretation nicht antizipierter Reaktionen auf die im Interview thematisierten Kommunikationsinhalte" (S. 100).
Die Hinweise Mertons u.a. sind wichtig und brauchbar. Die Liste könnte allerdings um zwei Punkte verlängert werden. e)
Wesentlich ist die Erfassung immanenter Interpretations- und Deutungsregeln; dies meint: Nicht nur die ausgesagten Inhalte sind wesentlich, sondern dies ist auch die Form, die der Konstruktion der Aussagen zugrunde liegt. Es handelt sich um die Meta-Ebene der Kommunikation - diejenigen Bestandteile, die Aussagen zu Sinn-Figuren zusammenschließen. So ist denkbar, dass ein Befragter immer wieder allgemeine Lehr-Sätze von sich gibt. Dann ist es nicht nur wesentlich, deren Inhalte zu analysieren, sondern auch, wie sie zustande gekommen sind, worauf die Verallgemeinerungen also beruhen. Sind es Erfahrungen, die gleichsam abstrahiert werden, sind es kollektive Sinndeutungen, die übernommen wurden etc.? Ähnliches ließe sich für die Struktur affektiver, sozialbezogener und anderer Äußerungen ermitteln.
f)
Neben Äußerungen subjektiver Relevanz sollten nach Möglichkeit solche provoziert werden, die objektive Gegebenheiten ansprechen, die nicht unmittelbar sinnlich erfahrbar sein müssen, weil sie nicht Derivate subjektiv-lebensgeschichtlicher Verarbeitungsprozesse sind. Hier ist ein Problem angesprochen: Wenn es einerseits schon schwierig ist, das Beziehungs-Gefüge und die Grundfiguren subjektiv bezogener Äußerungen zu erfassen, so ist es noch anstrengender, über subjektive Akzentuierungen hinaus nach Möglichkeit deren objektive Fassung ins Gespräch zu bringen. Wichtig wäre dies, weil subjektive Relevanzen zum einen nicht ausschließlich aus subjektiven Erfahrungen erklärt werden können, da sie aus gesellschaftlichen Strukturmustern (z.B. einer Situierung in einer Alterskohorte) entspringen, und da sie zum anderen häufig nicht ausreichen, einen generalisierbaren Erklärungszusammenhang zu liefern, auf den Forschung aus ist. Kein Zweifel, dass an dieser Stelle der Befrager am ehesten darauf angewiesen ist, sein wissenschaftlich rekonstruiertes und verantwortbares Gesellschaftsbild ins Spiel zu bringen. Er muss zu erfahren suchen, ob der Befragte objektive Relevanzen ins Auge faßt, sie gar nicht sieht, ihnen ausweicht usf. Mit diesem Problem, das noch nicht gelöst ist, ist nicht der Unterschied zwischen allenfalls alltagstheoretisch angeleitetem Erzählen und sozialwissenschaftlicher oder anderer Theoriebildung gemeint. Es geht nicht um die Formel "Prozess contra Struktur". Die Frage ist grundlegender und spezifizierter zugleich: Zu ermitteln ist, inwieweit historische, ökonomische und sonstige, von gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen bedingte Konstellationen, Reichweite, Tiefe,
I Das qualitative Interview
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Geschlossenheit subjektiver Relevanzen bedingen, beeinflussen - in der praktischen Absicht, möglicherweise auf dieser Ebene anzusetzen, wenn aufs Subjekt bezogene Lösungen nicht ausreichen können. Im Folgenden soll auf eine Reihe von Problemen und Schwierigkeiten des qualitativen Interviews hingewiesen werden. Die folgenden Punkte sind bei der Darstellung einer Untersuchung der Reihe nach zu behandeln, damit man einschätzen kann, wie die möglichen praktischen Lösungen aussehen. (Die folgende Liste ist in sich nicht gewichtet und es gibt auch keinen Ableitungszusammenhang (z.B. vom Allgemeinen zum Besonderen). Dies wäre nur möglich, wenn es eine wissenschaftlich begründete Theorie oder Kunstlehre vom qualitativen Interview gäbe. Eine solche Theorie liegt bis heute nicht vor. Im Folgenden soll ansatzweise skizziert werden, wie eine solche Theorie zu entwickeln wäre. a)
Werden Interviewprotokollen interpretiert, kann das angewandte Interpretationsverfahren mit dem in der Alltagspraxis verwendeten kommunikativen Verstehen verglichen werden. Die virtuelle Übernahme der Perspektive jeweiliger Interaktionspartner ist eine Grundoperation kommunikativen Handelns in der Alltagskommunikation und wissenschaftlichen Tätigkeit. Der Interviewer überschaut den transkribierten Text, dessen Gesamtheit dem Befragten in der Regel nicht zur Verfügung steht. Er berät sich meist mit Kollegen, die das Forschungsdesign ausgearbeitet haben und nun außerhalb des sozialen Feldes, auf das sich ihr Interesse richtet, agieren. Es handelt sich um Denk-Akte in der "virtuellen Rollenübernahme", also um eine hermeneutisch-methodische Operation. Der Interviewer kann Beziehungen herstellen und den Text als Objektivation der Situation behandeln. Ganz anders läuft das kommunikative Verstehen in der InterviewSituation selbst ab. Zunächst: Auch das qualitative Interview ist nur in Grenzen symmetrisch organisiert, das heißt: Beide Partner haben die gleichen Möglichkeiten sich einzubringen - und die Verpflichtung dazu. In der Regel kommt der Wissenschaftler aus seinem Handlungssystem heraus, begibt sich in das soziale Feld - in der Absicht, in sein eigenes Handlungssystem zurückzukehren. Auch, wenn er auf den Befragten eingeht, hat er doch Strategien, etwa einen InterviewLeitfaden, im Hinterkopf, den der Interviewte meist nicht besitzt. Der Interviewer ist darauf angewiesen, eine Gesprächskontrolle aufrecht zu erhalten. Damit unterscheidet sich das Interview wesentlich von Alltagskommunikation. Denn diese ist "chaotischer, diffuser und zugleich restriktiver als die von Spontaneität gereinigte Interviewkommunikation. Sie kann dies sein, weil die im Alltag miteinander kommunizierenden Menschen bei der Interpretation diffuser oder direktiver Kommunikationsinhalte auf gemeinsame Vorerfahrungen oder auf Kontext-Informationen zurückgreifen können" (Hopf 1978, S. 108). Auch die Prozeduren "kommunikativen Verstehens" laufen damit anders ab. Während nach dem Interview ein Text vorliegt, der als solcher hermeneutisch erfasst werden kann, arbeitet der Interviewer in der Situation selbst in gewisser Weise an der Entste-
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III Methoden / Praxisteil
hung des Textes mit. Da er in der Regel mit besonderen Absichten das Gespräch führt und nicht die lebensweltlichen Komponenten seines Partners kennt oder gar teilt (dann könnte er sich das Interview sparen), hat er in diesem Punkt immer einen Rückstand, den er methodisch aufzuholen trachten muss. Die Interview-Situation ist also in zweifacher Hinsicht komplementär strukturiert: zum einen vom Interviewer aus, der die Situation kontrolliert; zum anderen vom Befragten aus, der über das Aussage-Material verfugt, auf das der Interviewer angewiesen ist. Diese Divergenz der Gesprächs-Positionen fuhrt ohne Zweifel zu besonderen Ausprägungen von sowie Bedingungen für kommunikatives Verstehen. b)
Die Praxis zeigt, dass Forscher häufig nicht in der Lage sind, ihre Berufsrolle während des Interviews zu substituieren. Dies vor allem dann, wenn Kollegen anwesend sind oder die Befragten hohes Prestige besitzen, etwa selbst Wissenschaftler sind (ebd. S. 111 f.). Dann besteht die Gefahr, "dass die Interviewer Segmente ihrer Wissenschaftler-Rolle in die Interview-Situation einbringen, die unter dem Gesichtspunkt beruflicher Konkurrenz funktional sein mögen, deren Effekt in der Interview-Situation jedoch dysfunktional, da restriktiv ist (...). Leistungsangst und Kompetenzanspruch und die Tendenz zu einem abstrahierenden und kategorisierenden Sprachgebrauch" können dann in die Interview-Situation eindringen. Diese praktische Erfahrung widerspricht dem theoretischen Postulat "kommunikatives Verstehen" durchaus. Aber auch, wenn der Prestigefaktor keine Rolle spielt, können Schwierigkeiten auftreten. So geschieht es oft, dass Forschungs- und Interviewerfragen kontaminiert werden. Forschungsfragen sind diejenigen, die im Rahmen des wissenschaftlichen Programms das Gespräch leiten sollen; Interviewerfragen hingegen sollen dieses Programm in kommunikative Akte umsetzen. Immer wieder wird aus "Abstraktions- und Allgemeinheitszwang" (ebd., S. 106) der Sprachgebrauch kommunikativ restringiert.
c)
"Lebenswelt verstehen" mit Hilfe von Interviews ist deshalb besonders anspruchsvoll, weil die Dimensionen dieser Lebenswelt nicht von vornherein bekannt sind. Die Lebenswelt von Fernstudenten oder Stadtteilbewohnern: Das ist wahrlich ein weites Feld. Anders ist es bei Untersuchungen, die ihre Probleme von vornherein fokussieren. Die Einstellung zur Schule nach Misserfolg, die Reaktion auf einen thematisch bestimmten Film, die Interpretation der Beziehung zu den Eltern: Das sind Fragen, deren thematische Strukturen von vornherein einigermaßen übersichtlich sind. Anders bei der Erkundung von "Lebenswelt": Diese umfaßt ökonomische, historische, soziale, biographische, subjektivpsychologische, situativ-affektive und andere Faktoren, die erst als geordnetes Bündel wirklich aufeinander beziehbar sind. Darum ist es unabdingbar, wenigstens das Frageziel einzuschränken: Auf die Situation von Fernstudenten oder das Partizipationsbedürfnis von Stadtteilbewohnern. Aber damit ist natürlich die Vieldimensionalität des Interviews selbst kaum eingeschränkt. Reichweite, Spe-
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zifität, Tiefe, Kontext, immanente Regeln, objektive Bedingungslage: Für alle diese Punkte muss eine Lebenswelt-Analyse methodisch gewappnet sein. Sie befindet sich damit ständig an den Grenzen der Überforderung. Es wäre zu untersuchen, wie weit Reichweite, Tiefe etc. qualitativer Interviews ausgelegt werden können. d)
Auch das qualitative Interview ist auf Verallgemeinerungen aus. Diese liegen vor der Untersuchung, die diese dann bestätigen oder auch widerlegen kann. Heinze/Klusemann (1980) gehen von der Hypothese aus, dass Menschen auf Erschütterungen in ihrer Lebenswelt mit konstruktivem Handeln reagieren. Dies ist der Hintergrund, vor dem die Hypothese entwickelt wurde, dass die Aufnahme eines Fernstudiums gebunden ist an wichtige Ereignisse in der Lebenswelt des Fernstudenten. Es geht um Situationen, an denen bisher Gültiges fragwürdig wurde. Kurz: Es geht um Wendepunkte des Handelns. Diese Sätze implizieren, dass bei aller - wegen der biographischen Situierung - Verschiedenheit dieser Wendepunkte in der konkreten Erfahrung der je Befragten dennoch Gemeinsamkeiten auffindbar sind; denn gefragt werden soll ja nach dem Muster von Wendepunkten, auf die dann strategisch überhaupt reagiert werden kann - will man nicht für jeden einzelnen Fernstudenten einen je individuellen Berater einsetzen. Dies wäre möglicherweise die konsequente Lösung. Gerade die marxistische Debatte über das Alltagsleben und seine Entfremdungsstrukturen hat darauf hingewiesen, dass es partikulare Motivationen gibt, die nicht bestimmt werden durch die Gleichheit in einer sozialen Lage (etwa als Hausfrau, als gescheiterter Abiturient etc.), sondern durch Idiosynkrasien, die kollektiv in keiner Weise vermittelbar sind (Heller 1978, S. 46 f.). Die Trennung von Partikularität und gattungsmäßig Allgemeinem ist auch im Interview zu beachten. Leithäuser findet die Formbestimmtheit des Alltagsbewußtseins u.a. darin, dass Wahrheit und Falschheit im Alltagsbewußtsein unter dem Druck der Selbstbehauptung "verschwimmen". Er nennt dies konkretistisches Denken. Für dieses "kommt grundsätzlich jedes Merkmal eines Sachverhalts, das augenfällig und einprägsam ist, in Frage, als Kategorie zu dienen, nach der die Welt geordnet und eingeteilt wird (...). Denn da das Alltagsbewußtsein dem Individuum eben gerade nicht im Sinne reflektierender, auf dessen Lebensgeschichte bezogene Erfahrungen sichert, keinen gesicherten individuierten Erfahrungsbestand aufbauen kann, ist es in sich selbst labil, einer Vielzahl konkretisierender Merkmalsfixierungen, die in raschem Wechsel aufeinander folgen können, unterworfen. Das Alltgsbewußtsein kann heute die und morgen die Meinung vertreten, es kann aber keine Überzeugung festhalten" (Leithäuser 1977, S. 24 f.). Was Leithäuser hier allzu apodiktisch behauptet, muss immerhin bedacht werden: Nicht nur, inwieweit Äußerungen relativ zur Situation sind, inwieweit ihre Tiefe also von vornherein restringiert ist; sondern auch, inwieweit der Befragte bereit oder fähig ist, seinen Konkretismus wenigstens anderen verständlich zu machen, damit sie die zusammenhängende Regelstruktur erkennen, nach der sich sein Denken und Han-
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III Methoden / Praxisteil
dein richtet. Die Selbstverständlichkeit konkretistischen Denkens hindert es daran, sich zu explizieren. e)
Mit der Bezeichnung "Leitfadenbürokratie" überschreibt Hopf (1978, S. 101 ff.) einen Abschnitt, der sich mit der Tatsache auseinandersetzt, dass qualitative Interviews durch den vorbereiteten Leitfaden gerade gehemmt werden, durch den sie gefordert werden sollen. Dies liegt daran, dass Interviewer - aus Gewissenhaftigkeit, Unsicherheit, um spätere Vergleichbarkeit zu ermöglichen, um sich loyal gegenüber Abmachungen in der Forschungsgruppe zu verhalten usw. häufig sich zu eng an den entworfenen Leitfaden binden. Verunsicherungen offener oder unklarer Gesprächssituationen werden dann vermieden, vor allem unter Berücksichtigung der knappen Zeit. Dann rekurriert man doch lieber - um dem Informationsinteresse zu genügen - auf Bestandteile des Interviews bzw. Fragen, die "eindeutige" und klassifizierbare Antworten erbringen. Will man diesem Übel abhelfen, führt dies wiederum "zu der Konstruktion von Leitfaden, die unter Zeitgesichtspunkten unrealistisch sind und die in der Situation des qualitativen Interviews einen erheblichen Druck erzeugen, der selbst wiederum Tendenzen zu einem 'zügigen', bürokratischen Abhaken von Themen verstärken kann" (ebd.). Damit wird der Leitfaden "von einem Mittel der Informationsgewinnung zu einem Mittel der Blockierung von Informationen". - Wendet man ihn freilich nicht an, muss sich das Gespräch ganz auf den common sense verlassen, entstehen kaum noch regulierbare Gefahrenzonen, in denen man "versacken" kann.
Diese aus der Alltagserfahrung qualitativer Interviews skizzierte Problemstellung hat systematisch ihren Grund in der Spannung zwischen Standardisierung und Offenheit, der das qualitative Interview nie entgehen kann. Dies bedeutet auch, dass diese - und viele andere Schwierigkeiten nicht aufhebbar sind. Was hilft? Nur Training und Erfahrung. An die Fähigkeiten des Interviewers werden also hohe Anforderungen gestellt. Während die eigentliche Leistung in standardisierten Verfahren vor der Interview-Situation selbst liegt - als Interviewer können dann auch Nicht-Wissenschaftler ausgeschickt werden, die den Hintergrund der Forschungsfragen gar nicht zu kennen brauchen - , müssen in qualitativen Interviews die Interviewer vor und in der Interview-Situation selbst gleich kompetent sein. Denn offene Situationen kann man strategisch nur bewältigen, wenn man über genügend Mittel verfügt, aus ihnen diejenigen Informationen zu erheben, um derentwillen die Situation gerade offen gehalten wird. Was muss der Interviewer vorrangig bedenken:
I Das qualitative Interview
a)
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Das qualitative Interview setzt ein besonderes Maß an fachlicher und persönlicher Kompetenz voraus. Der Interviewer muss •
die Forschungsziele kennen,
•
flexibel sein und in der Lage, die Probleme des Befragten nicht innerhalb seines eigenen Bezugrahmens zu sehen,
•
Vertrauen erwecken, um Eloquenz und Artikulationsfreude zu befördern,
•
die Spannung zwischen Taktgefühl und Zurückhalten und notwendigem Nachfragen und Vertiefen gerade an "Krisenpunkten" für das Interview produktiv machen können.
b)
Auf die Komplexität der Rollenbeziehung zwischen Interviewer und Befragtem wurde schon hingewiesen. Beide müssen grundsätzlich wissen, welche Zwecke und Strategien sie verfolgen, um eine minimale Übereinstimmung zu erreichen: Der Interviewer muss also in der Lage sein, die gegenseitigen Rollen zu klären. Insbesondere der Befragte muss wissen, was der Interviewer will: nur Informationen erhalten, ihn überzeugen, persönlich beraten usf. Tut er dem Interviewer einen Gefallen? Sollte er sich dem Interviewer und seinen Befragungsstrategien unterwerfen, oder kann er Widerstand leisten? In der Regel sind Interviewer für den Befragten Autoritäten - eine Rolle, die der Interviewer gern akzeptiert, weil sie seinem Ich schmeichelt und ihm erlaubt, das Interview nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Er beherrscht die Situation. Eine psychoanalytische Schulung ist notwendig, damit die Probleme der Gegenübertragung, der Projektion etc. gesehen und vom Interviewer angemessen gelöst werden.
c)
Der Interviewer muss verhindern, "dass der Befragte durch die einleitenden Fragen bereits aus seinen alltäglichen Kommunikationskontexten herausgedrängt wird. Der Forscher soll zunächst durch teilnehmende Beobachtung (in entsprechenden Kontexten, z.B. in Interaktionen, die der Sozialisation dienen) lernen, wie und worüber im Alltag der betreffenden Kultur Fragen gestellt werden, und seine eigenen Fragen diesen möglichst anpassen" (vgl. dazu Frank 1977, Kohli 1978, S. 11).
Der Interviewer muss also zu kontext-sensitivem Verhalten fähig sein und in der Lage, die eigenen Orientierungskategorien für den Gesprächsverlauf großenteils zu suspendieren. d)
Der Interviewer muss in der Lage sein, sich zu vergegenwärtigen, dass er die Relevanz einzelner Themen nicht aus der Ausführlichkeit der Antworten ableiten kann. Wichtigkeit eines Beitrags und Länge eines Beitrags sind nicht notwendig isomorph. Kohli (1978, S. 11) meint dazu: "Wenn ein Thema am Rande
162
III Methoden / Praxisteil
bleibt, kann es für den Befragten bedeutungslos sein, er kann ihm aber auch ausweichen. Dieses Problem wird in der methodologischen Literatur unter dem Begriff 'Meinungslosigkeit' diskutiert." Neben "echter" Meinungslosigkeit (der Befragte hält ein Thema selbst für irrelevant) gibt es Verweigerungen (ein Thema ist für den Befragten unangenehm), Unentschiedenheit (der Befragte unterliegt widerstreitenden Meinungstendenzen) oder schließlich mangelnde Informiertheit (dem Befragten fällt zu einem Thema nichts ein, und er kann darum nichts dazu sagen). All dies kann, wenn überhaupt, nur in qualitativen Interviews wahrgenommen werden - freilich muss man in der Lage sein, dies auch zu können. e)
Der Interviewer muss bereit sein, durch Nachfragen und Vertiefen, indem er sich auf die gleiche Sprachebene begibt und beispielsweise die gewählten Bilder des Sprechers übernimmt, das Gespräch als Lernprozess aufzufassen; er muss in der Lage sein, zunehmend Unklarheiten aufzuhellen. Er muss vor allem wissen, wann und wo er "nachfassen" muss. Hack gibt ein Beispiel (1977, S. 22 ff.) das aus einem Gespräch mit einem 23-jährigen Kfz-Schlosser stammt: Interviewer:
Wenn Sie den betrieblichen Alltag auf der Baustelle jemand Außenstehenden näher erklären sollten ... ?
Befragter:
Mit einem immerwährenden Wettrennen-
Interviewer:
Und: Wer läuft da gegen wen? Also jeder für sich genommen oder gibt es so was wie Staffelrennen? Also -
Befragter:
Tja, nee! Ich möchte sagen: Das ist Mensch gegen Maschine!
Durch die letzte Wendung "Das ist Mensch gegen Maschine" wird der Gedanke der Konkurrenz und des Angetriebenwerdens, der scheinbar schon angepeilt wurde, wieder suspendiert. Die Akzentuierung "Mensch gegen Maschine" ist im Äußerungszusammenhang zunächst unverständlich. Daher fragt der Interviewer nach: Interviewer:
Mensch gegen Maschine?! Und würden Sie sagen, dass also: die Menschen, die auf so 'ner Baustelle sind, gleichsam zusammen gegen die Maschine laufen? - oder läuft jeder für sich gegen ein anderes Stück der Maschine?
Befragter:
Tja wenn: dann nur alle zusammen. Nicht, wenn die ganze Kolonne oder irgendwas - oder die ganze Gruppe - gute Arbeit macht und die auch in einer bestimmten Zeit erledigt, dann äh -: ist die Maschine damit ausgeschaltet, also man bräuchte dann ja keine Maschine dafür dransetzen, nicht. Und wenn es eben jetzt nicht so
1 Das qualitative interview
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läuft, naja, dann muss die her; und die Leute müssten dann - was weiss ich, was - was anderes machen oder - irgendwie Jetzt wird die Bedeutung des Zeitdrucks angedeutet und der Aspekt drohender Ersetzbarkeit des Arbeitenden durch Maschinen. Freilich: Auf einer Baustelle spielen Maschinen eigentlich keine hervorragende Rolle. Wieso wird gerade auf sie verwiesen? Wieder fasst der Interviewer nach, indem er auf die Ebene der allgemeinen Bildwahl zurückgeht und andere Momente anspricht, die der Befragte möglicherweise im Sinn hat: Interviewer:
Wenn Sie sagen: Alle Menschen, also alle zusammen gegen die Maschine: wie weit ziehen Sie dann die Grenze? Also ist es nur die Kolonne? Oder ist es die ganze Belegschaft auf 'ner Baustelle? Oder wie weit kann man - also: wenn man jetzt in dem Bild bleibt
Befragter:
Tja, ich möchte sagen: dann nur die Kolonne. - Nur die Kolonne. Denn ich meine jetzt: die ganzen - die ganzen hohen Herren, die könnte man oder kann man sich jedenfalls nicht vorstellen, dass die jemals ersetzt werden. Die müssen einfach da sein oder: müssen mehr oder weniger da sein, nicht.
Interviewer:
Und wenn man in dem Bild bleiben würde: machen dann diese "oberen Herren" dieses Wettrennen mit? Oder stehen sie am Rand und sind Zuschauer?
Betragter (ziemlich spontan): Die stehen am Rand und sind Zuschauer. - Möchte ich sagen. Denn: Dass ein Direktor mal abgesetzt wird oder irgend so was, so was hört man ja recht selten. Dass mal 'ne Menge Arbeiter - oder 'ne ganze Fabrik schließt oder sowas, das hört man ja ziemlich oft, und da kann man ja denn sagen, dass die denn, die oberen Herren, Zuschauer sind. Die Thematik ist angereichert, aber das Bild "Mensch gegen Maschine" ist noch nicht deutlich geworden. Vermutlich wird befurchtet, dass die Maschine den Arbeitern Arbeitsplätze wegnimmt, aber wie kann dies geschehen? Weitere Nachfragen und die Verwendung weiterer Bilder (insbesondere des Windhundrennens, wo der Hase um so schneller weggezogen wird, je schneller die Hunde laufen) fuhren dann auf ein diffuses Bild von der Arbeitswelt als einer sozial-technisch organisierten Einrichtung, die insbesondere ein Antriebs-System darstellt, das subjektive Gratifkationen nicht bereithält, vielmehr kontinuierlich die Bedrohung enthält, dass man bei zu geringer Arbeitseffektivität durch die Maschine ersetzt wird, sprich: seinen Arbeitsplatz verliert. Und dies macht nicht die Maschine selbst, sondern es sind eher die "hohen Herren", die selbst weniger um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen, aber die Macht haben, den Menschen
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III Methoden / Praxisteil
durch "die Maschine" zu ersetzen. Freilich werden diese letzten Überlegungen nicht deutlich; sie bleiben letztlich diffus und unverstanden. Das Beispiel zeigt, wie kompliziert und langweilig oft ein gemeinsamer Lemprozess sein muss, dessen Ziel ist, zu eruieren, was eigentlich gemeint ist. Die nicht artikulierbaren Vorstellungen sind oft ebenso wichtig wie dienjenigen, die in schnell fertigen Satzmustern bereit liegen. Dies muss ein Interviewer berücksichtigen. Probleme der Auswertung sind u.a. folgende: Damit die Antworten der Befragten sinnvoll gedeutet werden können, muss der Forscher die gleichen Interpretationsregeln anwenden wie der Befragte. Nicht nur das Interview selbst in seinem Vollzug ist also ein Interaktionsprozess, sondern dessen konstituierende Eigenschaften werden auch in der Auswertung aufrecht erhalten. Diese konstituiert nun nicht von wissenschaftlichen Theorien her abgeleitete Regeln, sondern suspendiert diese zumindest zunächst, um die Situationsdeutungen des Gesprächspartners angemessen zu erfassen. Damit bleibt der Gesprächspartner im Interview Subjekt in dem Sinne, dass im Rahmen seiner Vorstellungen und Konzepte gearbeitet wird, er also nicht zum Datenlieferanten für die Bestätigung von sozialwissenschaftlichen Theorien dient, die außerhalb seiner lebensweltlichen Prägungen liegen. Die Reliabilität, d.h. die Unabhängigkeit der Ergebnisse vom Messvorgang, ist bei offenen Interviews relativ gering im Vergleich zu geschlossenen. Dies zeigt sich dann, wenn Interpreten herangezogen werden, die dem Forschungsteam nicht angehören. Die Reproduzierbarkeit des Ergebnisses unter den gleichen Messbedingungen ist zumindest eingeschränkt, da der jeweilige "subjektive Faktor" eine kaum überschau- und ordnenbare Menge von Variablen einbringt (vgl. dazu Kohli 1978, S. 6 ff.). Anders steht es um die Validität offener bzw. qualitativer Interviews. Hier erlaubt gerade die Hereinnahme des subjektiven Faktors eine optimale "Annäherung an den Gegenstand" im intendierten Sinn. So können gerade bei der Abfrage sogenannter harter Fakten, die aus Validitätsgriinden bevorzugt werden, Fehler entstehen. Auch darauf weist Kohli hin (S. 22 f), indem er eine Wahluntersuchung heranzieht, nach der die Befragten zum Teil entgegen ihrem tatsächlichen Verhalten behaupten, sich an einer Wahl beteiligt zu haben. Es handelte sich um Personen, die stärker aufstiegsorientiert waren und darum die normative Forderung, sich an der Wahl zu beteiligen, als stark legitim betrachteten. Daher korrigierten sie im Interview ihr tatsächliches Verhalten. Gerade dies könnte im qualitativen Interview aufgedeckt, darüber hinaus zum Thema werden. Es ist zu fragen, welche Kodierungsregeln hermeneutische Verfahren, angewandt auf qualitative Interviews, benötigen. Facts sind leichter zu ermitteln als kognitive Inhalte, diese wiederum leichter als emotionale Zustände, und diese sind wiederum leichter dingfest zu machen als unbewusst bleibende Motivationsschübe. Diese verschiedenen "Ebenen" von Aussagen müssten z.B. unterschieden werden, da ihre jeweilige Glaubwürdigkeit und Nachprüfbarkeit variiert. Es gibt seit langem Methoden der Dokumen-
1 Das qualitative interview
165
ten- und Inhaltsanalyse, die versuchen, nach syntaktischen oder semantischen Einheiten (Satz- oder Sinnstruktur einer Aussageeinheit) vorliegendes Material für Mess- und Vergleichsoperationen bearbeitbar zu machen. Eine strikte Itemisierung freilich würde den stream of consciousness (H. James) gerade verfehlen. Es wäre also exakt zu bestimmen, inwieweit Messoperationen und tentatives hermeneutisches "Erschließen" von Sinngehalten einander ergänzen, ausschließen, bedingen.
Übungsaufgabe 9 Baacke erläutert in seinem Text die Probleme und Schwierigkeiten qualitativer Interviews und fordert vom Interviewer spezifische Qualifikationen. Stellen Sie die wesentlichen Aspekte von Baackes Ausführungen dar.
166
HI Methoden / Praxisteil
2
Das narrative Interview2
2.1
Darstellung der Methode und beispielhafte Anwendung
2.1.1
Das "narrative Interview" und sein methodologischer Kontext
Das "narrative Interview" ist ein von Fritz Schütze Mitte der siebziger Jahre entwickeltes Verfahren sowohl zur empirisch-sozialwissenschaftlichen Datenerhebung als auch zu deren Auswertung bzw. Interpretation. Insofern stellt es innerhalb der sozialwissenschaftlichen Methodologie eine Ausnahme dar. Dieser Umstand spiegelt sich auch in der methodologischen Zuordnung dieses Verfahrens wider. Einerseits wird es zu den qualitativ-empirischen Methoden gerechnet, andererseits der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik zugeordnet - je nachdem, ob die methodologischen Systematiker ihren Fokus auf das Erhebungs- oder das Auswertungsverfahren, auf die methodisch kontrollierte Produktion von Daten bzw. deren Interpretation richten. Das "narrative Interview" zählt neben der "unstrukturierten teilnehmenden Beobachtung" zu den wichtigsten Methoden der qualitativen Sozialforschung, für Roland Girtler ist sie sogar die "Königin" unter den soziologischen Methoden (Girtler31992, S. 149). Auf jeden Fall ist das "narrative Interview" kein „schnelles" Verfahren, sondern eine „äußerst zeit- und arbeitsintensive Arbeitsform" (Glinka 1988, S. 32). Die Erhebungsphase zielt letztlich darauf ab, einen Text als Grundlage für eine methodisch kontrollierte Interpretation herzustellen - was Ronald Hitzler und Anne Honer zur Aussage veranlasst, dass die Sozialwissenschaften zwar "keine Textwissenschaften im engeren Sinne", aber zumindest "text-bedürftige Wissenschaften" seien (Hitzler/Honer 1997, S. 11); bis ein solcher Text zustande kommt, bedarf es der Kontaktanbahnung mit den potentiellen Interviewpartnern, der Durchführung der Interviews sowie der Transkription desselben vom Tonband oder der Videoaufzeichnung, die ihrerseits schon Interpretationen sind (vgl. ebd.). Hans-Jürgen Glinka, ein Schüler und Kollege von Fritz Schütze, hat 1998 eine Monographie über das narrative Interview veröffentlicht; er berichtet aus eigener Erfahrung, wie zeit-fordernd dieses Verfahren ist; allein für die „strukturelle Beschreibung" eines narrativen Interviews, die sich nicht in einer simplen „Nacherzählung" erschöpft, veranschlagt er einen Zeitraum bis zu einem Vierteljahr (Glinka 1998, S. 32).
Der folgende Beitrag wurde im Rahmen meiner Lehrveranstaltung zur "Qualitativen Sozialforschung" an der Universität Innsbruck (SS 00) als Referat von den Studierenden Elisabeth Fritsch und Thomas Heel vorgetragen.
2 Das narrative interview
167
Pointiert filtern Roland Hitzler und Anne Honer die Gemeinsamkeiten der sozialwissenschaftlichen Hermeneutiken heraus: "Sie basieren auf Dummheit und auf Langsamkeit und zwar intendiertermaßen" (Hitzler/Honer 1997, S. 24). Das Programm des Unternehmens ist alt: Durch "künstliche Dummheit und Langsamkeit" verfremdet sozialwissenschaftliche Hermeneutik also absichtsvoll das zum größeren Teil kulturell hochgradig routinisierte, auf die pragmatischen Belange des gelebten Lebens abgestellte und ständig vielfältige Vorab-Gewissheiten applizierende Alltags-Verstehen - zum Zwecke nämlich der Aufklärung sozialer Praktiken über sich selber (ebd., S. 24 f.). Das narrative Interview ist eine besondere Form des offenen Interviews, das auch vom Interviewenden ein großes Maß an Offenheit einerseits und Zurückhaltung andererseits verlangt. "Wir gehen sozusagen mit dem ethnographischen Blick als Fremde ins Forschungsfeld. Wir dürfen also keinesfalls eine enggefasste Beobachtungsperspektive, die die Aufmerksamkeit a priori fokussieren und die gleichzeitig viele andere Erscheinungen ausblenden würde, einnehmen. Wir wollen uns ja gerade auch öffnen für das Fremde. Und so verbietet sich uns dann ebenso die Verwendung vorformulierter Beobachtungsstrategien und geschlossen formulierter Fragekomplexe. Wir wollen weder messen, ob eine Erscheinung im Feld auftritt oder nicht, noch wollen wir unsere Erfahrungen einem selektiv arbeitenden Kodierungsinstrument überlassen, das diese Erfahrungen verändern, das sie beschneiden und verzerren würde, und das sie aus dem Situationskontext herausreißen würde. Was wir wollen, ist ja gerade die ursprüngliche Erscheinungsweise der sozialen Erscheinung, ihre ganzheitliche Gestalt in ihrem Sozialkontext" (Glinka 1998, S. 27). Seinem Selbstverständnis nach folgt das narrative Interview einer sogenannten „abduktiven Forschungslogik" im Unterschied zu induktiven und deduktiven Forschungslogiken. Auch das „narrative Interview" zielt auf die Erzeugung von Theorie ab - allerdings nicht so, dass der einzelne Fall zu einer Anwendung einer Theorie oder Veranschaulichung einer Hypothese würde: "[...] in unserer Forschungsarbeit belassen wir zunächst die bereits vorliegenden und bekannten Theoriebestände der Sozialwissenschaften im Randbereich unserer Aufmerksamkeit. [...] Wir werden die etablierten Theorien und Hypothesen also erst zu einem späteren Zeitpunkt bewusst in den Aufmerksamkeitsfokus nehmen, dann nämlich, wenn wir bereits die allgemeinen Gesichtspunkte aufgrund der Grundlage des zu untersuchenden Datenmaterials herausgearbeitet haben [...]" (ebd., S. 38).
168 2.1.2
III Methoden / Praxisteil
Narrativität - erzähltheoretische Grundlagen
Das Erzählen, genauer die freie Erzählung, die Stegreiferzählung bildet den Kern des zu beschreibenden Verfahrens, dessen Anliegen es zunächst ist, eine solche Stegreiferzählung zu veranlassen, zu dokumentieren und sie endlich in einen Text zu transformieren, der als interpretationsbedürftig angesehen wird. Eine erste Konsequenz daraus ist, dass das narrative Interview nur in solchen Fällen erfolgreich eingesetzt werden kann, in denen die interessierenden sozialen Erscheinungen auch vom Interviewpartner als Geschichte erzählt werden können. Es eignet sich weniger zum Erfassen von Zuständen der sozialen Realität als zur Erforschung von Veränderungsprozessen; am prominentesten wird es in der biographisch-lebensgeschichtlichen Forschung eingesetzt, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren einen deutlichen Aufschwung erlebt hat. Die autobiographische Selbstvergewisserung markiert die Anfange des „modernen" Individuums, und heute wird allerorten von „Individualisierung", von „Patchwork-Identität" und „Bastelbiographie" gesprochen: "Selbst- und Weltversicherung gestaltet sich seit der Aufklärung zunehmend als lebenslanger Prozess biographischer Arbeit; primär geschieht sie im fortgesetzten Miteinander-Sprechen. [...] In der Moderne werden auf den neuesten Stand gebrachte Selbstbeschreibungen im Kontext familialer und milieuhafter Kommunikationen notwendig zur Identitätsbildung und -Sicherung für alle Gesellschaftsmitglieder [...]" (FischerRosenthal/Rosenthal 1997, S. 133 f.). Das besagte „fortgesetzte Miteinander-Sprechen" ist mittlerweile als "Talkshow" unausgesetzt ebenso wie das banale Alltagsmiteinander („big brother") im Fernsehen zu sehen. "Arabella", und wie die Klatschtanten und -onkels sonst noch heißen mögen, nehmen uns, wenn wir an die Methode denken, die wir hier beschreiben, die ganze Erhebungsphase samt Aufzeichnung ab. Die Rolle der Interviewerinnen ist dabei zwar nicht ganz im Sinne der Methode, die Auswertung wird dem Zuschauer überlassen könnte aber auch Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung sein. Das narrative Interview geht von der Annahme aus, dass sich biographische Selbstpräsentationen am überzeugendsten in Erzählungen als Textform für die Vermittlung selbst erlebter Ereignisse darstellen lassen (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, S. 136); das Interview konzentriert sich zunächst also seitens des Sozialforschers darauf, beim Interviewpartner, nachdem dieser entsprechend über Sinn und Art des Verfahrens eingewiesen worden ist, einen möglichst unbehinderten Erzählfluss zu generieren, wobei die Erzählaufforderung ganz offen („Erzählen Sie mir Ihre Lebensgeschichte") oder auf spezielle Forschungsthemen (wie z.B. Migrationserfahrungen) eingeengt sein kann. Der Interviewer ist während des Gespräches zu größter Zurückhaltung angehalten; seine Rolle beschränkt sich in der ersten Phase des Interviews - die autonom gestaltete Haupterzählung - darauf, durch sprachliche Ermunterung, Mimik, Gestik oder para-
2 Das narrative Interview
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verbale Äußerungen den Erzählfluss aufrechtzuerhalten und sich für die nächste Phase des Nachfragens Notizen zu machen. Fremdthematisierungen durch den Interviewenden sind in dieser ersten Interviewphase deshalb zu unterlassen, weil es hier darum geht, „unbeeinflusst von Fremdthematisierungen die innere Form der Erfahrungsaufschichtung für den Zuhörer und für den Erzähler zur eigenen Selbstvergewisserung zu explizieren" (Glinka 1998, S. 108). Sollten solche fremdthematischen Interventionen dennoch vorkommen, was hauptsächlich in Interviews der Fall ist, die von „Professionsnovizen" durchgeführt werden, kann dies laut Glinka „verheerende Auswirkungen" haben (ebd.). Ein in diesem Sinne problematisches Interviewerinnenverhalten findet sich auch in dem von uns näher betrachteten narrativen Interview (vgl. S. 150 f.); das sozialwissenschaftliche Interesse gilt in diesem Interview mit einer ehrenamtlichen Bürgermeisterin einer kleineren Stadt dem Einfluss, den dieses Ehrenamt auf die Biographie dieser Frau hat. Ein Beispiel: Die Erzählerin hebt auf die thematische Eingangsfrage, den Erzählstimulus - „Wie hat sich dein politisches Amt auf dein Leben ausgewirkt?" - der Interviewerin mit ihrer Erzählung an. Zunächst gibt sie auf die Frage eine globale beschreibende Antwort ("hat sich insofern auf mein Leben ausgewirkt, als dass es dreiviertel meiner Zeit in Anspruch nimmt." 3-5; diese Eingangsaussage wird mit dem Fachterminus auch als "Erzählpräambel" umschrieben). Darauf beginnt sie zu erzählen: "Das bedeutet also, dass ich für meine Familie und mein Privatleben immer weniger Zeit hatte." (5-6) Die Interviewerin begeht nun einen krassen Verstoß gegen die Methode, auch wenn man sie nicht in ihrer "strengen" Form anwendet: Der deutliche Marker für das Beginnen einer Erzählung - nämlich der Tempuswechsel innerhalb eines Satzes ("bedeutet.... hatte") - wird nicht als solcher wahrgenommen; statt dessen hakt die Interviewerin mit einer den Erzählfluss störenden und dirigierenden Frage ein, indem sie "Familie" sogleich mit "Tochter" assoziiert und somit das thematische Feld fokussiert: „Also Zeit für deine Tochter" (7). Im Verlauf des weiteren Interviews wird nämlich deutlich werden, dass die Erzählerin ganz andere Relevanzen in ihrem Familiensystem setzt. Damit ist der einsetzende Erzählfluss bereits unterbrochen; die Frage der Interviewerin bewirkt seitens der Erzählerin den Wechsel zur Argumentation (in diesem Falle einer Rechtfertigung): "Ja, obwohl... ich habe erst richtig angefangen, als dann, als meine Tochter schon zwölf Jahre alt war" (8-9). Hier wird deutlich zwischen Erzählen, Argumentieren und Beschreiben unterschieden; in der Erzähltheorie fungieren diese drei Diskursformen bzw. Handlungsschemata als drei Weisen der Sachverhaltsdarstellung bzw. -konstitution, denen wiederum spezifische Prozesse der Sinnbildung entsprechen:
170
III Methoden / Praxisteil
"Durch Erzählen werden die in subjektiven Bewusstseinsabläufen vollzogenen Thematisierungssequenzen kommunizierbar; Beschreibung stellt Interpretationen von thematisierten Wahrnehmungsgegenständen zur Übernahme durch andere Subjekte bereit; Argumentation zielt auf die Koordinierung von Handlungsmotiven" (Gumbrecht 1980, S. 408). Die Grundarm ahme des narrativen Interviews dabei ist, dass sowohl die thematischen und temporalen Verknüpfungen von Textabschnitten als auch die Generierung dieser Textsorten (Erzählung, Argumentation oder Beschreibung) nicht zufallig oder beliebig sind (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, S. 148). Etwas salopp formuliert Heiko Ernst in der März-Nummer von „Psychologie heute" den intendierten Zusammenhang (Das Titelthema dieser Nummer lautet „Wer bin ich? Leben ist Erinnerung" - was zumindest die Aktualität des Themas verdeutlicht): "[...] jede Lebenserzählung ist vor allem eine Form der Rechtfertigung und SelbstErklärung, und sie hat nur Sinn, wenn sie in einen öffentlichen Diskurs mündet: SelbstErzähler sind nicht die Autoren ihrer Lebensgeschichte, sie folgen nicht einem „inneren" Skript. Jede Selbsterzählung, und sei das berichtete Ereignis noch so banal und kurz, folgt einem vorgegebenen sprachlichen Muster und bestimmten narrativen Konventionen. Diese Muster entnimmt der Erzähler bewusst oder unbewusst dem Repertoire seiner Kultur oder seiner Gruppe" (Ernst 2000. S. 28). Als Konstruktionsregeln für den Idealtypus einer „wohlgeformten" Erzählung in der westlichen Kultur führen beispielsweise Keupp u.a. folgende fünf notwendigen Charakteristika an: 1.
"Ein sinnstiftender
Endpunkt
Damit eine Erzählung verständlich ist, muß klar sein, worauf der Erzähler hinauswill mit seiner Geschichte. Dies ist keineswegs trivial. Denn im Erzählen werden oft konkurrierende Endpunkte anvisiert: Man denke nur an Geschichten, in denen sich Ambivalenzen des Erzählers ausdrücken. [...] Erschwert wird die Findung eines sinnstiftenden Endpunkts nicht nur durch individuelles Scheitern, sondern auch durch gesellschaftliche Veränderungen. Die Erzählung „Wie ich zu meinem unbefristeten Arbeitsvertrag über 40 Wochenstunden gekommen bin" will zum Beispiel nur noch wenigen gelingen. [..] 2.
Die Einengung auf relevante Ereignisse
3.
Die narrative Ordnung der Ereignisse Die am meisten akzeptierte gesellschaftliche Konvention ist hier die der linearen temporalen Sequenz [...]. Scheitert die zeitliche Ordnung, bekommt jemand sei-
2 Das narrative Interview
171
ne Geschichte also „nicht auf die Reihe", so wirkt das auf den Kommunikationspartner irritierend. [...] Im Arbeitsbereich dagegen wird die Einhaltung dieser Konventionen besonders stark gefordert. [...] 4.
Die Herstellung von Kausalverbindungen [...] Jemand, der „nicht weiß, was er will", der sich „keinen Reim" auf sein Leben machen kann, der „sich selbst nicht versteht", ist nicht lesbar für seine Kommunikationspartner. [...]
5.
Grenzzeichen Im Erzählakt selbst verwenden die Erzähler Anfangs- und Endzeichen. Sie „rahmen" die Narration durch verschiedene regelgeleitete Formulierungen, die das Betreten und das Verlassen der „Erzählwelt" anzeigen (z.B. „das war so:...")" (Keupp u.a. 1999, S. 229-231).
Die gewählte Form der Sachverhaltsdarstellung bzw. -konstitution - hier vor allem das Handlungsschema der "Stegreiferzählung" - bringt also spezifische Zugzwänge mit sich. Für das Erzählen sind dabei nach Fritz Schütze der Detaillierungszwang, der Gestaltschließungszwang sowie der Relevanzfestsetzungs- und der Kondensierungszwang charakteristisch (Glinka 1998, S. 83 ff.), die wir hier aber nicht im Detail ausfuhren wollen. Sie werden später am Beispieltext erläutert.
2.1.3
Die Phasen des narrativen Interviews
a) Die Erzählaufforderung, die ganz offen oder auf bestimmte Themen oder Zeitabschnitte fokussiert sein kann. b) Die autonom gestaltete Haupterzählung oder biographische Selbstpräsentation, die idealerweise ohne Unterbrechung durch den Interviewer „fließen" sollte; diesen Fluss der Erzählung versucht der Interviewer durch sprachliche und nichtsprachliche Gesten aufrechtzuerhalten bzw. zu verstärken. c) Erzählgenerierende Nachfragen; diese Phase gliedert sich wiederum in eine erste, in der die während der autonomen Haupterzählung notierten Punkte (Stichworte, sog. „Erzählzapfen", offene Fragen) nachgefragt werden, und in eine zweite, in der wichtig erscheinende, aber bisher noch nicht angesprochene Bereiche nachgefragt werden. d) Interviewabschluss in Form eines abschließenden Gesprächs mit Gesamtbewertung des Gesprächs und der Gesprächssituation durch den Interviewten.
172
III Methoden / Praxisteil
Anschließend wird das per Tonband oder Video mitgeschnittene Interview nach bestimmten bzw. teils selber festzusetzenden Regeln transkribiert und anonymisiert, die Zeilen des so hergestellten Textes werden ausnummeriert. Allerdings wird nicht das ganze Datenmaterial transkribiert: Bedenkt man, dass Hans-Jürgen Glinka für eine Untersuchung im Rahmen einer Diplomarbeit mindestens fünf bis sechs narrative Interviews veranschlagt (Glinka 1998, S. 29) und den möglichen Umfang solcher teilweise auf mehrere Sitzungen verteilter Interviews, wäre die Transkription aller Gespräche viel zu aufwendig. Statt dessen wird in einem angeleiteten Forschungsgruppenverfahren ein erster Eckfall ausgewählt und zwar so, „dass mit seiner Bearbeitung möglichst viele Aspekte der theoretischen Varianz, die im empirischen Datenmaterial aufscheint, gefasst werden können" (ebd., S. 30).
2.1.4
Auswertungsschritte
Die Zahl der Auswertungsschritte differiert, je nachdem, welche Darstellung der Methode des „narrativen Interviews" man konsultiert. Grundsätzlich aber gilt, dass sich die systematische Interpretation bzw. Auswertung der Daten am Aufbau des Textes orientiert, also „sequenzanalytisch" vorgeht. a) Formale
Textanalyse
In diesem ersten Arbeitsschritt wird der Interviewtext entsprechend seiner zeitlichen Abfolge nach Segmenten sequenziert und in Analyseeinheiten gegliedert. Kriterien für diese Segmentbestimmung sind (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, S. 153): Sprecherwechsel; Textsorte (Argumentation, Beschreibung oder Erzählung und ihre Untergattungen) und Themenwechsel. Ziel dieses Arbeitsschrittes ist, das Erzählschema freizulegen. b) Strukturelle
Beschreibung
Hans-Jürgen Glinka fasst den Unterschied zur vorangegangen Auswertungsphase anschaulich: "Wir können uns [...] vorstellen, dass wir ein großes Objektiv mit variabler Brennweite haben. Mit diesem Objektiv haben wir zunächst das gesamte Interview sozusagen mit der Brennweite 28 im Blick. Für die strukturelle Beschreibung fahren wir nun das Objektiv auf die Brennweite 500 und rücken auf diese vorgestellte Weise das erste Segment ins Bild" (Glinka 1998, S. 31). Hier wird jedes einzelne Segment ausgelegt; interpretationsbedürftige Stellen werden, ohne dass man dabei den darauf folgenden Text berücksichtigt, auf ihre Bedeutungsmöglichkeiten hin befragt, bzw. es werden mögliche plausible Lesarten gebildet, die dann am weiteren Text überprüft und gegebenenfalls verworfen oder beibehalten wer-
2 Das narrative Interview
173
den; idealer weise wird diese Arbeit in einer Gruppe realisiert, da diese als Korrektiv gegen überzogene Interpretationen dienen kann. Die Hypothesenbildung orientiert sich an den folgenden Fragen: Weshalb wird dieses Thema an dieser Stelle eingeführt? Weshalb wird es in dieser Textsorte präsentiert? Weshalb wird es entweder so kurz oder so ausfuhrlich dargestellt? Was sind die möglichen thematischen Felder, in die sich dieses Thema einfügt? Welche Themen (Lebensbereiche und -phasen) werden angesprochen und welche nicht? (vgl. Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, S. 153). Die strukturelle Beschreibung ist die zentrale und grundlegende Ausgangsbasis für alle folgenden Auswertungsschritte. Allerdings könnte hier der Eindruck entstanden sein, es gehe hier vor allem um formale Elemente und weniger um inhaltliche biographische Daten und Stationen; diesbezüglich führen Fischer-Rosenthal/Rosenthal eine klärende Differenzierung ein; Sequenzanalyse bedeutet in der biographischen Analyse nämlich zweierlei: Die sequentielle Analyse der erlebten Lebensgeschichte einerseits, die der erzählten andererseits; für die Analyse der erlebten Lebensgeschichte fuhren sie den Terminus „genetische Analyse" ein (ebd., S. 149): "Bei der genetischen Analyse wird [...] - soweit dies möglich ist - die temporale Abfolge der biographischen Erlebnisse [...] rekonstruiert sowie die Bedeutung, die diese Erlebnisse damals für den Autobiographen hatten. [...] Bei der Analyse der Lebenserzählung geht es dagegen darum, in welchen Sequenzen sich die biographische Selbstpräsentation gestaltet. Hier wird die Gestalt der erzählten Lebensgeschichte und die funktionale Bedeutsamkeit ihrer Teile erfasst" (ebd., S. 150). c) Die Gesamtformung Um im zuvor zitierten Bild zu bleiben: In der Gesamtformung wechselt das Objektiv wieder vom Tele- aufs Weitwinkelobjektiv. Das heißt: "Wenn wir also vorher unsere Aufmerksamkeit auf die Entwicklung und Gestalt eines einzelnen Ereignisses, auf die darin aufscheinenden kognitiven Figuren und ihre Beziehungsstrukturen untereinander und die Zustandsveränderungen der handelnden bzw. erleidenden Ereignisträger konzentriert hatten, dann geht es in diesem Arbeitsschritt darum, die Gesamtgestalt der Geschichte mit den für sie konstitutiven großen sozialen, biographischen und/oder kollektiv-historischen Strukturen in den Blick zu bekommen" (Glinka 1998, S. 32).
174
/// Methoden / Praxisteil
Fischer-Rosenthal/Rosenthal nennen diesen Arbeitsschritt die Rekonstruktion der Fallgeschichte, in der es um die Entschlüsselung der Gestalt der erlebten Lebensgeschichte geht - unter strikter „Vermeidung einer Atomisierung einzelner biographischer Erlebnisse" (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, S. 155). Bereits in der Gesamtformung scheinen noch vorläußge theoretische Kategorien auf - einerseits enthält ja das Interview selbst argumentative und theoretische Sequenzen, andererseits entwickelt der Sozialforscher in seiner Arbeit Hypothesen, die letztlich auf die Konstruktion eines theoretischen Modells abzielen. Die beiden nächsten Phasen sind durch das Verfahren der wiederholten Kontrastierung geprägt. d)
Wissensanalyse
(Bei Fischer-Rosenthal/Rosenthal heißt dieser Arbeitsschritt „Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte"; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997, S. 152). Hier werden also auch die argumentativen, wertenden und die theoretischen Sequenzen des Interviews mit einbezogen bzw. mit der bisher im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Erzählung kontrastiert. Solche kommentierenden Textstellen lassen sich durch spezifische Textmerkmale vom Erzählstrom abgrenzen (etwa indem sie explizit eingeleitet werden: „Wenn ich heute darüber nachdenke, daxin..."). Hans-Jürgen Glinka fuhrt als Beispiele solcher Theorien die Orientierungs- und die Erklärungstheorien an (Glinka 1998, S. 195 ff.).
Exkurs: Diskussion anhand des Beispielinterviews Orientierungstheorien beziehen sich auf Handlungsplanungen- und alternativen, die sich auf die damalige Zukunft des Erzählers richten; wir können sehen, wie er die Handlungsaltemativen kontrastierend einschätzt und welche Relevanzen er setzt. In unserem Beispielinterview steht die Erzählerin vor der Alternative, sich innerhalb oder außerhalb einer Partei politisch zu engagieren. Tatsächlich engagiert sie sich mit anderen Müttern für mehr Kinderbetreuungsplätze (vgl. 2.2, Z.283 ff.), wobei sie sich besonders aktiv hervortut. Die Handlungsoption/-alternative „parteiliches Engagement" führt sie in der Erzählung als Aufforderung ihrer Mitstreiterinnen ein: „Menschenskind, du reißt dein Schott immer auf, du musst in die Politik" (Z.292 f.). Als ihre damalige Orientierung gibt sie an: „Ich habe immer auch geglaubt, dass man als ... parteilich ungebunden mehr erreichen kann" (Z.299) - und im Nachsatz heißt es sogleich: „Das stimmt nicht". Hier wird der Unterschied zwischen der damaligen Orientierung und - da sie nun jetzt einmal Bürgermeisterin ist - aus der aktuellen Erlebnissituation deutlich; das macht ja gerade den Unterschied zwischen erzählter und gelebter Lebensgeschichte aus: Die Erzählung verweist ständig auf die Gegenwart der Erzählerin. Aus dieser Gegenwartsperspektive wird ihr parteipolitisches Engagement trotz gegenteiliger Orientierung er-
2 Das narrative Interview
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klärungsbedürftig; die damalige Umorientierung führt sie so ein: „Mein [...] eigentlicher Wunsch war mit zu gestalten, nicht nur immer außerhalb zu stehen, zu schimpfen [...] sondern selber mit eingreifen" (Z.304 ff.). Allerdings schildert sie den darauf folgenden Parteisozialisationsprozess ausschließlich in Kategorien des Verlustes - also im Licht ihrer ursprünglichen Orientierung (der sie im Rahmen ihres zusätzlichen Engagements in der Friedensbewegung gleichzeitig treu bleibt): - „oftmals ohne Erfolg" (bezieht sich auf das Selber-mit-Eingreifen; (311) - „lernen müssen, Abhängigkeiten zu akzeptieren und zu respektieren" (316 f.) - „mein schwierigster Lernprozess, dass ich äh also Dinge, die die ich wirklich also für richtig hielt, (schnell) ob sie richtig waren is1 'ne andre Sache, dann nicht machen konnte, weil andre Mehrheiten etwas andres beschlossen haben..." (325 ff.). Deutlich treten die unterschiedlichen Orientierungen in der folgenden Sequenz hervor: "Und äh, so gab es also immer wieder Situationen, wo ich mich gefragt habe: Bist du eigentlich noch richtig? Im nachhinein glaube ich immer noch: Ja. Denn ich glaube nicht, dass wenn man seine Ziele nicht erreicht und das Handtuch wirft, dass man etwas bewegt, sondern du kannst immer nur von innen heraus etwas bewegen [...] wenn's auch nur kleine Schritte sind" (350 ff.). Diese Orientierung teilt die Erzählerin mit vielen ihrer Generation (68-er) und wurde berühmt unter dem Motto „Der lange Marsch durch die Institutionen", den viele antraten, um heute "feiste" Mitglieder jenes Establishments zu sein, das sie damals bekämpften. Wenn man genauer hinsieht - was ja der Zweck der Übung ist - sieht man, dass diese neue Orientierung in der Erzählung lediglich als „Hebel" wirkt, zumal sich die gesellschaftsverändernden (soweit man davon in einer Kleinstadt sprechen kann...) Ergebnisse recht bescheiden - auch umfangmäßig: sechs Zeilen (361-366) - ausnehmen: „Ach, da hast du auch ein bisschen mitgewirkt" (363). Der Umfang der darauf folgenden Erfolgsstory (siehe Folie „Erzählformen" und die strukturelle Beschreibung weiter unten), die in der gegenwärtigen „Unangefochtenheit" (zum Zeitpunkt des Interviews) gipfelt, nimmt 110 Zeilen in Anspruch (370-480). Glinka fasst zusammen: "Der Erzähler wird im Verlauf des Darstellungsverfahrens immer genau zwischen den Ereignisentfaltungen und seiner theoretisch-evaluativen Haltungseinnahme ihnen gegenüber differenzieren. [...] Damit leistet also bereits der Erzähler auf einer vorläufigen Erkenntnisebene analytische Arbeit" (Glinka 1998, S. 198). Die sogenannte pragmatische Brechung bedeutet nun, dass der Forscher seine Aufmerksamkeit auf die vorgestellten Argumente richtet, die der Erzähler fortlaufend mitdenken muss und an denen er sich abarbeitet (ebd., S. 199). In unserem Beispielinterview
176
III Methoden / Praxisteil
scheinen die Argumente und Gegenargumente durch die unterschiedlichen Orientierungen auf den ersten Blick nahe zu liegen. Berücksichtigt man allerdings die Ausführlichkeit in der Erfolgserzählung der Bürgermeisterin, könnte man ihre gegenwärtige Orientierung so umschreiben: aus der Gewinnerperspektive im Kürzel „Der Erfolg gibt recht" und aus der „Verlierer"-Perspektive mit dem Slogan „Macht korrumpiert". Ein Indiz dafür gibt auch die Erzätalkoda, die von der Interviewerin explizit mit der Frage nach dem „Blick in die Zukunft" (598) eingeleitet wird und somit eine direkte Aufforderung zur Entwicklung von Orientierungstheorien ist. In der Erzählkoda wird die Narration abgeschlossen, die Darstellungsaktivität ist im wesentlichen argumentativ und von kritischen Kommentaren begleitet (vgl. Glinka, 1998, S. 196). In unserem Beispielinterview lautet die Erzählpräambel, dass ihr politisches Amt „Dreiviertel meiner Zeit in Anspruch nimmt"; die Aufforderung, eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln, die einen baldigen freiwilligen oder erzwungenen („Soll'n da so Strömungen gegeben, ich sollte vielleicht vorher zurücktreten"; 604 f.) Abschied vom Amt mit sich bringen wird, ist natürlich heikel. Entsprechend unklar sind auch die Vorstellungen darüber; auf jeden Fall will sie sich weiterhin engagieren, „irgendso was" im „sozialen Bereich" (664f.), „egal ob Kirche oder Arbeiterwohlfahrt" (668). Das Engagement speist sich anscheinend weniger aus einem konkreten inhaltlichen Anliegen als aus der Ablehnung eines von der Erzählerin überzeichnet dargestellten „Hausfrauendaseins": „Also ich könnte mich nicht zu Hause hinsetzen und [...] äh die Regenbogenpresse lesen und mich mit den Sorgen und Nöten der High Society befassen und Kochrezepte austauschen, also dat wär nich mein Ding" (670 f.). e) Die kontrastive
Vergleichsphase
Im obigen Exkurs erfolgte bereits ein Vorgriff auf diese Phase, indem das politische Engagement der Erzählerin etwas polemisch als ein möglicher typischer biographischer Weg von Menschen ihrer Generation klassifiziert wurde. In dieser Phase wird der analysierte Abschnitt mit anderen Lebensgeschichten, die in anderen Interviews dokumentiert sind, in Kontrast gesetzt - sie werden sowohl mit ähnlichen als auch ganz anders gearteten Erzählungen verglichen, um die verschiedensten Ausprägungen von Merkmalen zu erfassen. Diese rekonstruktive Analyse mehrerer Fälle wird in der Folge zu Typen verdichtet; diese Typen sind so in der Wirklichkeit nicht vorfindbar, sie sind ein symbolisches Konstrukt als Ergebnis der sozialwissenschaftlichen Analyse. fi
Konstruktion eines theoretischen Modells
Hier kommen auch die zunächst ausgeblendeten sozialwissenschaftlichen Theoriebestände und Hypothesen wieder ausdrücklich zum Zug, sofern sie die aus dem Datenmaterial herausgearbeiteten Merkmale von Prozessen und ihren Rahmenbedingungen „gewinnbringend" erklären (Glinka 1998, S. 38). Hans-Jürgen Glinka spricht hier von einer „Gestaltschließung und endgültigen Sättigung des theoretischen Modells" (ebd., S. 33). Dieses Modell wird dann wiederum im Text überprüft.
2 Das narrative Interview
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Im nachfolgenden Praxisteil soll am Beispiel einer autobiographisch orientierten Fragestellung der Erzählfluss im "narrativen Interview" dargestellt und der interpretative Zugriff auf dieses "erzählerische Rohmaterial" veranschaulicht werden.
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Praxisteil: Der Einfluß eines politischen Ehrenamtes auf die Biographie narratives Interview mit einer ehrenamtlichen Bürgermeisterin 3 I: E:
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E:
I: E:
Wie hat sich dein politisches Amt auf dein Leben ausgewirkt? Mein politisches Amt hat sich insofern auf mein Leben ausgewirkt, als dass es dreiviertel meiner Zeit in Anspruch nimmt. Das bedeutet also, dass ich für meine Familie und für mein Privatleben immer weniger Zeit hatte. Also Zeit für deine Tochter Ja, obwohl., ich habe erst richtig angefangen als dann, als meine Tochter schon zwölf Jahre alt war, nicht und dann bin ich erst in die ... Geschichte eingestiegen. Und, äh .... (schnell) seit 1974 bin ich im Rat der Stadt.. (langsam) da war meine Tochter e, äh...schon sehr selbständig ich hatte immer das Glück, dass meine Mutter bei mir im Haus wohnte, sie hatte immer Betreuung, so dass ich nie ein schlechtes Gewissen haben musste. Ich hatte eben das Glück, dass mein Mann das in jeder Hinsicht mit getragen hat... Ja, dein Mann, ist ja auch politisch(schnell) Ja aktiv Ja und, äh,...hat dich da auch unterstützt.... (3sek) und äh...deine Mutter hat das dann ... also, hat sozusagen in der Zeit dann die ... Tochter betreut. Ja. Meine Mutter hat also von Anfang an bei uns gewohnt, in einer separaten Wohnung, und äh, wenn ich dann (lacht) in Anführungsstrichen unterwegs war, ne, dann hatte hat sie immer, sie ist immer dagewesen und ist immer auch für unsere Tochter dagewesen ... Das war ein an sich eine ideale Voraussetzung für meine Arbeit, darum konnte ich denn auch soviel Zeit wiederum, na Und soviel Zeit hat das auch beansprucht. Ja, ja, ja, ich sag ja dreiviertel...meiner Zeit, dass äh ... eigentlich hat sich mein mein ganzes äh Leben insofern
Das Interview wurde im Rahmen einer Hausarbeit im Studiengang Erziehungswissenschaften der FernUni Hagen durch Karin Bollmann angefertigt; für ihre Zustimmung zum Abdruck möchten wir uns bedanken.
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II! Methoden / Praxisteil
auch verändert, als dass die Politik, für diese Stadt immer mehr Mittelpunkt wurde und dadurch hat sich auch mein Freundeskreis sehr ausgedünnt. Nich, wir haben äh privat kaum noch Kontakte, leider, das ist so. Einige haben sich aus Überzeugung davon gemacht, die dann merkten, dass ich Sozialdemokratin bin, habn sie dann gesagt, (schnell, (mit verstellter Stimme)" also da ham wir nix mit am Hut und -zanken wolln wir uns nich" und andere einfach aus Zeitgründen .... wie oft musste ich absagenJa. - wenn 'ne Veranstaltung ist, nich, das tut mir leid, da hab' ich 'ne Sitzung, oder da ist 'ne Veranstaltung, da muss ich hin, hin wobei ich heute oftmals schon denke: ich muss das eigentlich gar nicht... Also die Pflicht dahin zu gehen, ähm die setzt du dir auch selber (... .)(fällt ins Wort) ja, ja,...ja, ja, ich bin ähdu entscheidest das selbst. ja, ich bin, äh, sehr (schnell) preußisch erzogen worden, (lachend): sehr pflichtbewußt, nicht, wenn du ein Amt oder eine Aufgabe übernimmst, dann musst du sie ganz machen hm und das habe ich immer sehr ernst genommen .... (3 sek) Ja, dein Freundeskreis hat dann eben entsprechend darunter gelitten. (schnell) Ja, ja ... und das äh bedaure und vermisse ich auch .... (6 sek) Und , äh ... und so ... hast du denn auch dadurch mehr mehr Freunde noch dazu gewonnen was Partei angeht'.? Ja ... ich habe (langsam) in diesen fünf, fünfundzwanzig Jahren äh gelernt, was echte Freunde sind, was wahre Freundschaft ist, oder äh Menschen kennengelernt, die mich als nicht als A B (Name der Erzählerin) äh betrachten, sondern die Bürgermeisterin. hm Und das habe ich zu Anfang bin ich sehr oft äh falsche äh Freunde reingefallen (schnell) heute nicht mehr, heute merke ich das, ich sehe ganz genau, die meinen den Menschen hm und die meinen das Amt, das muss man lernen, das ist.. ein schwieriger Prozess... Und du hast das aber für dich gelernt (dazwischen) ich habs für mich geschafft, ja das zu trennen? Ja
2 Das narrative Interview
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Und auch für die Familie, denk ich. Ganz genau, ganz genau... Ich falle nicht mehr auf Schmeicheleien rein .... (langsam) und bin also sehr skeptisch, wenn Leute mit denen ich an sich ... rein auch vom von der Herkunft und äh äh ... von... hm ja von allem her eigentlich nichts am Hut haben, nicht, wenn die so ... äh ... übermäßig freundlich sind und so, die können mich als A B gar nicht sehn. Is_so .... (3sek) hm .... (4sek) und was so äh ... so dein häusliches Engagement sonst so angeht, was hat sich da sonst so weiter entwickelt? Äh ... häuslich, du meinst jetzt also Familie, Haushalt und so, also das habe ich eigentlich all die Jahre gut vonander bekommen. Ich habe ... äh ... das ist vielleicht so'n banales Beispiel aber ich habe immer selber gekocht, immer. hm Ne, das mach ich auch heute noch, ich mach zum Beispiel hab' ich einen kleinen Gemüsegarten, der mein Hobby ist, bin ich also ganz stolz drauf und ich äh kümmere mich auch um den Garten, ich habe ... etwas Unterstützung was also die Arbeiten anbelangt, die ich nicht gerne mach, das ist Saubermachen, Putzen und sowas (heiter) das ist nicht mein Ding. (lacht) (lachend) Aber äh ... ansonsten hab'ich äh...wie gesagt bis vor .eineinhalb Jahren äh war meine Mutter immer da, die mir (schnell) sehr viel geholfen hat und die mich da unterstützt hat und heute ich schaff das ganz gut alleine, indem auch mein Mann inzwischen auch einiges macht. Nicht, das ist ja noch 'ne andere Generation, die hat ja noch nicht gelernt Haushalt zu mach im Haushalt etwas mit zu tun (dazwischen) Ne, ne, genau (lacht) und so nich? Und das nehm ich auch gar nicht übel, aber is'nun mal so, ne?.... Ja, und also die Kraft von deiner Mutter ist also dann ja ... weggefallen...(dazwischen, schnell) Ja. ja. und dann, wie lang ist das jetzt her? Meine Mutter ist im Januar vor zwei Jahren gestorben ... (leise) ja ... (wieder normal) und äh da hab' ich erst gemerkt, wie viel sie mir eigentlich auch geholfen hat, nich, nicht nur praktisch, sondern auch so. hm Nicht, wenn ich dann äh Rat brauchte oder äh ... da war sie mir eigentlich eine sehr gute Ratgeberin .... hm.... Und momentan, wen hast du jetzt so zum...Beraten, also
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deinen Mann sicherlich, ne? Ja, aber das ist etwas schwieriger geworden, seitdem er selber äh im Rat ist und die die äh Abläufe mitbekommt, ist, also ... er ist zu sehr .. eingebunden. Früher war das war das so, ich kam nach Hause, konnte das alles loswerden, aus meiner Sicht. Heute gibt es zwei Sichtpunkte, nicht? Er sieht das anders als ich, und da gibt es manchmal doch ganz schön, also ich kann nicht mehr (schnell) ich kann mich nicht mehr so ausheulen, nich, ich hab' früher immer gesagt... er ist mein äh ... (heiter) Mülleimer (lacht) und das ist er nicht mehr, nich, hm, nee das kann ich nicht, weil er die Abläufe mitbekommt, nicht und äh ... es hat äh ... auch Nachteile. Ja ( ) (leise seufzend) Ja Er ist dann sicherlich denn auch sehr ... aktiv jetzt wie... Äh, im Moment ist er gehandikapt, nicht, weil er gesundheitlich nicht gut drauf ist, aber ansonsten, er .. Ich sag mal so , im Gegensatz zu mir, ich bin ... ähm ... (langsam (überlegend) sehr quirlig und und (schnell) lebendig und geh auch schnell über Dinge hinweg, und er geht den Dingen immer auf den Grund, (heiter) das nervt mich manchmal. (lacht) Der, wenn wenn irgend etwas nicht ganz ast- absolut klar ist, nicht, da der läßt nicht locker, der hat äh ... hat dadurch allerdings auch schon einige Dinge, ne ... ich sag mal...in eine andere Richtung gebracht 'ne ... und äh, ich weiß nicht, ob ich diese ... diese Kraft auch hätte, das durchzustehn, das hat er. Also positiv Positiv, ja. Ja In der äh und er sagt mir dann auch also äh du ververgeudest auch sehr viel Kraft für sinnlose Dinge, du musst doch erkennen, dass es keinen Zweck hat, warum kämpfst du denn noch, na? Und äh äh , das das ist etwas, was ich nicht gelernt habe, nicht, ich denke immer noch, wenn ich für etwas eintrete und es für richtig finde, dann tu ich das immer noch, obwohl ich soviel Widerstände habe und oftmals dann auch, am Ende ... die Unterlegene bin, nich, die Kraft hätt ich wirklich sparen können dann, da hat er recht, (lacht) (lacht) Und ihr macht ziemlich viel jetzt auch äh ... zusammen (....) (dazwischen) Ja, ja momentan(...) politische Arbeit
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Ja auch so äh ... dadurch dass er ja nun schon Rentner ist äh sind wir auch, wir sind ja eigentlich 24 Stunden zusammen. hm Und äh, das meinte ich auch ein bißchen damit, das ist nicht so gut, weil dieser ... Punkt, nicht, die Politik, hier die Ratsarbeit, da war ich immer nochn bißchen und jetzt ist da gemeinsam, so dass es ... ahm ... es gibt keine, sonst war er immer son Regulativ von außen, hm nich, und jetzt ist er drin und denn ... sieht das anders aus, nich, ich ich fand die Situation vorher besser, hätt ich nicht gedacht, dass es so ist, aber das is so ... nich ... aber wir ... dadurch sind wir eben ... ja, fast 24 Stunden (heiter) immer zusammen. (lacht) Und das seit 38 Jahren... Ja, das ist allerhand. Ja, ja. 38 Jahre Ehe Ja. ist ja auch'ne ganz schöne Zeit Ja und wir kennen uns 45 Jahre. Oh! Wir ham ... ja sieben Jahre sind wir gegangen wie man früher sagte (lacht) und haben dann erst geheiratet, ja... Und das war auch damals ahm nicht anstößig. (schnell) Nein, wir haben nicht zusammengelebt.. Nee Nein, nein, nein, ich war zu Hause und er war zu Hause, aber das war ... ja wir haben uns dann verlobt, wie sich das äh ... gehörte. Ja und das liegt lag einfach daran, dass wir äh so spät erst geheiratet ham, ähm ... wir wollten unser Haus fertig ham, wir hatten den Plan zu baun, und das Haus sollte fertig sein, und das war, dann nicht als wir geheiratet habn, aber als unser Kind dann geboren wurde da, 63, da war das Haus dann fertig (lacht)... Ja... Und das ist äh das in C? In C., ja Ja und und dann habt ihr gleich eure Tochter da mit rein Ja, ja ja, ja, das war also, am 28. August sind wir eingezogen, (heiter) am 27. September ist sie geboren Das war echt (lacht) das war Maßarbeit (lacht) Oh, ja und stressig. (dazwischen) aber .. äh ich hab'da nicht sehr viel mitbekommen, weil ich vom sechsten Monat an im Krankenhaus gelegen hab, nicht, also, diese ganzen ... ich bin dann in die Wohnung gezogen, also ich hab' nachher
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dann erst gesagt, das muss da hin, das muss da hin (lacht) Nicht, aber vorher, diese ganzen ... und so die Hektik zum Rest hab' ich alles nicht mitbekommen und .. bin dann nachher mit meiner (verstellt die Stimme kindlich) Kleinen (lacht) F (Name der Tochter) dann nach Hause gekommen (lacht)... Hat da eure Mutter auch, äh, deine Mutter auch schon gleich mitgewohnt? Ja, ja. Von Anfang an? Meine Mutter hat äh, da lebte mein Vater auch noch, der starb dann ein Jahr später, und äh, meine Mutter ist die, meine Eltern sind gleich, wir hatten die Oberwohnung ausgebaut, sind die gleich mit eingezogen und meine Mutter hatte eigentlich vom ersten Tag an ... mit für unser Kind gesorgt, ohne äh in unsere Erziehung hereinzureden, nich. Ja , das ist ja selten. Ja, sie hat überhaupt nicht also, oder auch wenn sie denn, unsere F denn mal mit mir nicht klar kam, und nach oben zu Oma lief (verstellt Stimme weinerlich) "Ah und ich will also " "Also was sagt Mama? " nich, " das tut mir leid das mach ich nicht. "Nich. " Wenn Mama., nein gesagt hat, gibt's auch bei Oma Nein. Ja das is ja gut, das ist schon mal 'ne gute Basis. Ja, deswegen hat's auch nie wir haben auch nie äh irgendwelche Auseinandersetzungen gehabt, nicht, aber vielleicht lag es auch daran, dass meine Mutter eben selber acht Kinder hatte, hm nicht und äh, alle, alle acht zu ... selbst, ständigen und selbstbewußten Menschen erzogen hat, ne. Und äh ... sie war eine sehr kluge Frau. Und äh ... ich denke das ist unsrer Tochter sehr gut (schnell) sehr zu Gute gekommen. Ja, wenn immer jemand noch im Hause ist, ( ) Ja,ja auch wenn sie aus der Schule kam, es war, die ist, äh, also ich wüßte überhaupt nicht, dass sie mal nach Hause gekommen ist... und äh die Tür war verschlossen, das gabs überhaupt nicht.. Nee, das ist ja heutzutage ein bißchen anders Ja, ja und in sofern bin ich äh, sag ich immer wieder, ich habe sehr viel Glück gehabt in meinem Leben. hm Nicht, also das äh ... äh das is eine, einer dieser Glücks-ähpunkte unbedingt. Und deine Tochter war also 11 Jahre alt als du in den Rat gegangen bist?
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275E: ja, ja, als ich in die Politik, ich bin 1972 in die SPD 276 eingetreten, unsere Tochter ist 63 geboren, also war sie 277 neun und äh, als ich in den Rat gewählt wurde, das war 74, 278 war sie elf und als ich dann anfing wurde sie zwölf, so dass 279 sie, hm, eigentlich äh, ja, aus dem Allergröbsten raus 280 war (8sec) 281 I: hm und dann, äh, dein Anliegen, warum du in die Politik 282 gegangen bist. 283 E: ja, das war, also mein Anliegen war eigentlich ... äh ... es fing 284 an, wie es bei Frauen oft anfängt, wir hatten keinen 285 Kindergarten in C und äh in D gab es einen Kindergarten, 286 von der E-Kirche und der war immer ausgebucht also 287 überhaupt gar keine Chance und da ham wir uns da mit 'n 288 paar Müttern zusammen getan, haben einen Spielkreis 289 gegründet, ham dann unseren Bürgermeister unter Druck 290 gesetzt, ham den Kindergarten gekriegt und alles äh also in 291 in dem Bereich war ich sehr aktiv und dann ham die Frauen 292 gesagt (mit verstellter Stimme,) "Menschenskind, du reisst 293 dein Schott immer auf, du musst in die Politik" (lacht) 294 I: (lacht) 295 E: (heiter) Ich hab: "Mensch laß mich zufrieden, das will ich 296 nich. Ich wollte mich eigentlich nie binden. 297 I: hm 298 E: Ich wollte immer, ich habe immer auch geglaubt, dass man 299 als ... parteilich ungebunden mehr erreichen kann, das 300 stimmt nicht. Nich, und hab1 mich dann nachher mit äh 301 allen ... Parteiprogrammen auseinandergesetzt und bin dann 302 bei der SPD gelandet... 303 Ja und äh, äh, hab' mich also, also, ich hab' eigentlich, 304 ein, mein ähm eigentlicher Wunsch war mit zu gestalten, 305 nicht nur immer außerhalb zu stehen, zu schimpfen und sag: 306 oh, die müssen aber 307 I: immer mir, nee, hinnehmen, was (passiert) 308 E: richtig, sondern selber mit eingreifen, 309 I hm 310 E: und äh, ich hab' das auch eigentlich von Anfang an getan 311 und äh äh oftmals ohne Erfolg, manchmal mit Erfolg. Und 312 hab' dann eben lernen müssen, dass es eben ... äh du kein 313 Individualist mehr bist, nich, sondern du bist.ja in einer 314 Gruppe. 315 I: hm 316 E: Und ich habe lernen müssen, Abhängigkeiten zu akzeptieren 317 und zu respektieren, das war für mich 'n bißchen schwer. 318 I: Also die eigenen Interessen319 E: Ja, zurückzustellen, ja (seufzt). Das war eigentlich so der 320 schwierigste Prozess, LernProzess, ne, dass ich äh ... Dinge 321 dann mit entscheiden musste, von denen ich nicht überzeugt 322 war .. weil eben halt die Mehrheit es so
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III Methoden / Praxisteil
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hm beschlossen hat.. Ja, das war, das war eigentlich so meine, meine schwierigste, mein schwierigster LernProzess dass ich äh also Dinge, die die ich wirklich also für richtig hielt, (schnell) ob sie richtig waren is 'ne andre Sache, dann nicht machen konnte, weil andre Mehrheiten etwas andres beschlossen haben... hin, ja, das tut manchmal weh Ja, das tut sehr weh, ne .... (8 sek) Und äh .... dann hast du dich aber entschlossen, als äh Bürger, das war doch bevor du Bürgermeisterin warst Ja, ja, da (hustet) jetzt muss ich husten, ich hatte also niemals den Gedanken Bürgermeisterin zu sein, oder was, sondern ich wollte einfach, äh ... ja mitarbeiten was für diese Stadt für die Bürger dieser Stadt zu tun, und äh äh dadurch, dass ich natürlich immer auch meinen Mund aufgemacht habe und auch ein unbequemer Mensch war, (schnell) auch in der Fraktion unbequem war, sehr oft unbequem war, ich hatte Situationen, also ich hab' bestimmt zwei -, dreimal vor der Frage gestanden, verläßt du diese Partei oder nicht, nich, und äh ich habe damals äh in der Friedensbewegung aktiv äh mitgemischt, ich habe hier, also hier hatte sich eine Menschenkette gebildet, da habe ich gestanden und wurde natürlich fotografiert, nich, mit... da standen da eben Leute, mit denen man damals sich am besten nicht gezeigt hat (heiter), nich (lacht) Und äh, so gab es also immer wieder Situationen, wo ich mich gefragt habe: Bist du eigentlich noch richtig' ? Im nachhinein glaube ich immer noch: Ja. Denn ich glaube nicht, dass man wenn man seine Ziele nicht erreicht und Handtuch wirft, dass man dann etwas bewegt sondern du kannst immer nur von innen heraus etwas bewegen hm und wenn's auch nur so kleine Schritte sind. Ja (....) bewegt hast du ja sicherlich auch ja, das denk ich auch - für dich selber (... .)Ja, ja. Ja, ja. Ich denke auch, sind viele, viele äh Projekte auch in diese Stadt, dass ich manchmal denke: Ach, da hast du ein bißchen mitgewirkt. Ich hab' äh das niemals hinaus posaunt, hab' gesagt: Guck mal da hab' ich für gesorgt. sondern ich hab' immer so im Stillen gedacht: Siehste, schön, haste doch hingekriegt.. hm Eigentlich das hat mich eigentlich immer wieder bestätigt und hat mich auch, hat mir auch immer wieder Mut gemacht und ich denke, das ist auch äh das Geheimnis meines
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Erfolges, äh denn ich hab bei der ersten Wahl 74 als völlig Unbekannte, näh, auf Anhieb äh die viert meisten Stimmen in der Stadt gehabt, auf der SPD Liste, Ach so ja und ich stand auf Platz neun oder zwölf, (leise) ich weiß nicht mehr ganz genau, und hab' also kontinuierlich mein Stimmenanteil verbessert, bis zu dem ... Jahr 1986, bei der Wahl, das war eigentlich so diese entscheidende Wahl, da war vorher in eine äh Wahlperiode hatte die CDU mit äh andern zusammen die Mehrheit und hat auch den Bürgermeister gestellt und 86 bei der Kommunalwahl, (leise) da hatte ich also ein sagenhaftes Ergebnis, und da gab's vorher äh erhebliche Schwierigkeiten in der Partei. Ich hab' mich dann durchgesetzt und bin dann auf Platz eins der Liste gelandet und habe dadurch also einen, ich hab' einen Stimmenanteil gehabt, die mein, den mein Vorgänger auf diese Liste nie gehabt hat. Der war 17 Jahre Bürgermeister gewesen, nich, und gegen den habe ich innerhalb der Partei kandidiert auf Platz eins der Liste, nich, das war auch nicht so'n leichtes Ding .. und äh da hab durch durch durch diesen Wahlerfolg haben wir dann die absolute Mehrheit gekriegt, und da hab' ich dann, (zögerlich) so spontan wie ich eben halt bin, war hier, da wird ja im Rathaus dann ausgezählt, und alles lieb und doch immer, dann wieder (heiter, mit verstellter Stimme.) B, B, B (Name der Erzählerin) (lacht) Und bei mir ein Reporter sagte, kam denn und sagte dann (mit verstellter Stimme) "Na Frau B, was bedeutet das denn? " (heiter) ich sagte: Na, mindestens stellvertretende Bürgermeisterin (lacht) (Lacht) Ah, das ist schön, ne? Das stand am nächsten Tag dann in der Zeitung und dann bin ich natürlich, nachdem, innerhalb der Fraktion gewaltig unter Druck gesetzt worden, (schnell) hab' aber nicht nachgegeben, ich hab' gesagt: Ja bitte, mit welcher Begründung soll ich's nich machen? (mit verstellter Stimme) Ach ich könnte das nich, und ja ich sag: Ich hab's ja noch nie ähm probiert... ne, ich sag: Die Bürger möchten das... hm, ja. bei dem Wahlergebnis, nich, der äh Herr G, der damals als Bürgermeister kandidierte, hatte 4000 Stimmen und ich hatte 3000 nochwas, nich, also war mir ich und denn mit Abstand kam die andren, diese hatten denn 'n paar hundert und so, ne, und da hab' ich gesagt: Ich hab' die zweit meisten Stimmen, warum soll ich nicht Stellvertreterin werden? Und dann bin ich auch als Stellvertreterin gewählt
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worden, und in dieser, erst ja in der Fraktion, und das war dann also erst noch umstritten, und dann hab' ich aber ... fast alle, nicht alle, aber fast alle Stimmen gekriegt und wurde dann, ne, stellvertretende Bürgermeisterin, und ich weiß noch, dass ich dann ... äh, weiß ich gar nicht mehr wer das war, so, der sagte so (mit verstellter Stimme)" Ja, und wenn dann mal was passiert und du musst Bürgermeisterin werden? " Ich sag: Ja, dann mach ich's. (lacht) Nicht daran gedacht.. jemals in. diese Situation zu kommen. Ja Und das passierte dann 1989 im Dezember, verstarb ... der Bürgermeister G am Herzinfarkt, und dann stand ich davor, ne... Ganz plötzlich Ja, ja und hab' natürlich dann auch meinen Anspruch erhoben und (leise) das tat denn noch jemand bei uns in der Fraktion, der damalige Fraktionsvorsitzende Herr H hm und ich habe in einer Ortsvereinsversammlung, die also dramatisch war wie, (schnell) es hat's vorher und nachher nie wieder gegeben. 235 Mitglieder waren zu dieser Ortsvereinsversammlung gekommen und da wurde dann abgestimmt und da bekam ich die Mehrheit.. und das war am ... ahm am, einen Tag vor der Ratssitzung, und dann am nächsten Tag war Ratssitzung und die SPD hatte die absolute Mehrheit, nur ich kriegte nicht die erforderlichen Stimmen, sechs Stimmen aus der Partei (leise) hab' ich nicht bekommen, da musste ein zweiter Wahlgang her, und im, wenn kein Gegenkandidat ist, ist es so dass im zweiten Wahlgang nur die Ja-Stimmen zählen, alles andre nicht mehr, und da hätt ich mit meiner eigenen Stimme , hätt ich gewählt werden können, aber da kriegte ich dann auch statt 18 allerdings ... glaub ich, auch nur 12 oder 13, nich, und war dann ja Bürgermeisterin, ja.... und das war eigentlich so ... für mich ... im politischen Bereich, politischmenschlichen Bereich, die schlimmste Erfahrung, die ich gemacht hab' (leise) nich, was da an ... Niedertracht äh und Intrige gegen mich gesponnen wurde, das spottet jeder Beschreibung, aber ich hab das durchgestanden nich, und bin mit hocherhobene (lacht) erhobenen Kopf da hervorgegangen. Ja Das war jetzt 1990 und 91 war dann wieder die nächste Wahl... da gab es keine Widerstände mehr, da bin ich also mit einstimmig äh, nominiert worden, und hab1 das dann aber auch äh ... dieses Wahlergebnis bestätigt, indem ich also ... 7000 und 300 Stimmen kriegte, ne, und dann, der
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Nächste, das war damals noch L, der war noch bei uns in der Fraktion der bekam denn 2600 und alles andere fiel dann ab, ne hm Ja und dann ne das andere ist ja bekannt nich, die ham sich dann ja gespalten unter irgendeinem Vorwand, aber dies ist eigentlich der Grund, ne. Ja und so hab' ich dann... bin eigentlich immer mit den Aufgaben gewachsen ... muss ich sagen ... (leise) und heute bin eigentlich so unangefochten. Ja, also die Unangefochtenheit... aus der BevölkerungJa, ja -und auch aus der Partei Ja, ja, ja und das gibt natürlich sehr viel Selbstsicherheit, ne, dass ist, hm ... sonst weiß ich nicht, ob ich die Jahre so ...weggesteckt hätte, aber diese 10 Jahre, die haben ... mich sehr viel Kraft gekostet.. hm das ... muss ich auch sagen Auch gesundheitliche Ja, (seufzt) j a ... das ging nicht in den hohlen Bauch... Nee, das kann ich mir vorstellen, hm, das ist auch Streß denn. Ja. Ja, ja, ja, ja .... (3sek) Tja.... Aber haste ... so jetzt... das Gefühl, dass du jetzt wieder so'n bißchen mehr Kraft hast als so vor Ja. Ja ich muss ich sagen, ähm, was mich also .... unwahrscheinlich .. ähm...ja wie soll ich mal sagen, getroffen hat, das war der Tod meiner Mutter, nich. Und da war ich da sehr krank .. psychisch, aber auch körperlich, und ich denke mal, dass ich so ganz äh ... allmählich aus diesen ... äh, aus diesem tiefen Tal heraus bin, aus dieser Trauer, ich hab' also ganz furchtbar getrauert.. und äh, nicht laut und hier auf dem Markt gestanden und geweint oder so, sondern es hat mich äh ... innerlich zerrissen, also ich war.. ziemlich, ich hab das nie geglaubt, ich hab' immer, wie oft haben meine Mutter und ich auch darüber gesprochen, dass sie eines Tages, höchstwahrscheinlich vor mir stirbt, nich, und äh... ich hab' nie geglaubt, dass das so schlimm is, ne, das war .. wohl ich hab' ja ... äh sie hat ist so gestorben, wie sie es ... wollte und auch wie sie gelebt hatte, in Würde und in Frieden, nich. Ich war ja bei ihr, bei ihrem Tod und äh, sie hat mit einem Lächeln, im Gesicht ist sie eingeschlafen... da, da bin ich eigentlich sehr sehr dankbar und wenn ich ganz verzweifelt wieder war, denn seh' ich dieses Bild wie sie...
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III Methoden / Praxisteil
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hm so ... nich, und ich habe halte ihre Hand und plötzlich hört sie auf zu atmen. Aber das hat mich ... unheimlich Kraft gekostet... (atmet schwer) ja. Aber ich denke mal, äh ... weil irgendwann fangt dann ja der Verstand auch wieder an zu arbeiten, nich, dann sag ich mir, das ist so der Lauf des Lebens, am Ende des Lebens steht dann ja der Tod, nich, und was kann ich mir mehr wünschen, als so ein ... Leben, so ein zufriedenes Leben, das sie gehabt hat, so einen ... einen ... äh friedlichen Tod, nich, so wie sich den gewünscht hat, ohne langes Krankenlager ohne alles. Ja, das ist ja eigentlich, eigentlich schön. Richtig. Nur....für die Angehörigen ist es ja immer .. schlimmer. Nich, als wenn, als wenn (..) es ist ja reiner Egoismus, wenn ich gesagt hätte, ich hätte so gern meine Mutter noch länger behalten. Wohl wissend, dass sie nicht mehr gesund wird .. nich, und deswegen hab' auch gesagt.. du musst loslassen, nich, dass es so schwerfällt, dass hab' ich nicht geglaubt.. Aber auch da hab' ich sehr viel .. Hilfe von meinem Mann und auch von unsrer Tochter, das... das muss ich also ganz ehrlich sagen, allein hätte ich das, glaub ich, nicht geschafft. Und deine Tochter hat sich dann in der Zeit auch mehr um dich Ja, ja. Ja, ja ... meine Tochter hatte auch eine sehr enge Verbindung zu ihrer Oma, ne, aber sie hat das, äh, das war auf einer anderen Ebene, hm nich, und äh sie, sie hat mir das dann nachher immer wieder gesagt "Also Mutti, du musst dran denken äh, das ist das, was Oma sich gewünscht hat, nicht, und nich hier .. Monate oder jahrelang als als Pflegefall, stell dir das mal vor, nich, und dann ... sag ich: Is, richtig, ne. Ja klar. (schnell) Nun hab' ich sehr viel privates gesagt. Das ist okay. (lacht) Das ist ja dein Leben Ja... Äh du hast dann ... in der Zeit also auch politisch dann ... also Einschränkungen sozusagen gehabt, ja, äh selber also nichtJa, ja, ich hatte, nicht mehr die Power .. nich, und das ist das was äh ... was mich äh ... eigentlich sehr belastet hat, zusätzlich, weil., ich sagte schon zu Beginn ich mach etwas hundertprozentig hm es muss bei mir immer, nich dann hau ich da rein, ne, das muss dann auch alles, und ich merkte dann, dass ich ... Dinge
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563 564 565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579 580 581 582 583 584 585 586 587 588 589 590 591 592 593 594 595 596 597 598 599 600 601 602 603 604 605 606 607 608 609 610
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nicht mehr so, so ernst nahm, nich, oder auch nicht so wichtig nahm, und bis denn mal zum Beispiel auch J. zu mir sagte "Mensch A, ich hab ja Verständnis wenn du äh ... dass du .. dich in dich zurückziehst, aber ... Mensch du, du musst jetzt aber, jetzt wird's aber auch wieder mal Zeit, nich. Und da war ich eigentlich immer sehr dankbar, dass ich von der Seite denn auch mal wieder 'n Tritt in Hintem bekam (lacht). Das hat dir dann auch geholfen. (dazwischen) das hat mir geholfen, ja, ja, ja. Nich, weil, weil das war .. ich sag mal so, das war von außen, hm nicht von innen, Familie war wieder was anders, ich muss dazu immer noch sagen, ich bin ... ja die Älteste von acht Geschwistern, wir sind jetzt nur noch sechs und diese fünf andern, nich, das sind ja ich ich bin die Glucke, hm Nich, ich bin die Ersatzmutter, und die kommen dann zu noch mit ihren, nich, mit ihrer , mit ihrer Trauer und so, kam'n die andern dann auch noch zu mir, nich, also das war, war schon 'n bißchen viel Die haben auch Ansprüche an dich gestellt. Ja, ja, ja. (Und da hab ich dann allerdings 'nen Schnitt gemacht, nich, ich hab gesagt: Leute, also gerne jederzeit, ich bin eure Schwester, ich bin nicht eure Mutter. Ja. Ne, und .. gerade meine jüngste Schwester, nich, die ist 15 Jahre jünger als ich, und äh, ahm ... die hat ja noch sehr spät, also ihr erst einziges Kind gekriegt, nich, die K, ist jetzt zehn Jahre alt, dass is so wie für wie für mich Ersatzenkelkind nich, und da hab' ich dann auch gesagt: Ich bin K.s Tante, und deine Schwester, und nichts weiter! hm nich, aber das war ganz schön schwer, nich (atmet schwer) .... (4 Sek) Ja, und denn jetzt so, Blick in die Zukunft? (leise) Ja, Blick in die Zukunft.. für mich äh ... ich sag mal so ... ich bin bis zum Jahr 2001 gewählt, und bis dahin werde ich auch meine Arbeit machen. Habn auch ja im Vorstand schon darüber gesprochen, hm weil es kann ja auch so ... soll'n da so Strömungen gegeben, ich sollte vielleicht vorher .zurücktreten, und so weiter, wir ham alles durchgespielt, ich glaube nicht, das das klug wäre ... wenn ich vorher zurücktreten würde, und also würde ich... dieses Amt bis zum Jahr 2001 ... auch noch mit mit meiner Person auch ... noch ausfüllen wollen. Und wenn ich gesund bleibe, und wenn alles so läuft wie ich's mir
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611 612 613 614 615 616 I : 617 E: 618 I: 619 E: 620 621 622 I: 623 E: 624 I: 625 E: 626 627 628 629 630 631 I: 632 E: 633 634 635 636 637 I: 638 E: 639 640 I: 641E: 642 643 644 645 646 I: 647 E: 648 649 I: 650 E: 651 I: 653 I: 654 655 E: 656 I: 657 E: 658 659
/// Methoden / Praxisteil
denke ... ne, ja und dann ... von dann muss ich alles neu ordnen, (schnell) Also Bürgermeisterin werd1 ich nicht mehr ... das sag ich hier aber nur so offen sonst wenn ich auch draußen gefragt werde, sag ich: Ich hab' mich noch nicht entschieden, ich weiß noch nicht, nich (lacht) hm (..)Aber die Entscheidung is gefallen, hm nich, dass ich äh, ich könnte noch mal kandidieren, hauptamtlich, aber dass äh.. äh ... mute ich mir das nicht mehr zu. Nee, dasNich, das (... .) viel Kraft dann kostet. Ja, ja. Nein, nein, (schnell) wenn ich zehn Jahre jünger wäre, hätt' ich überhaupt nicht gezögert, ne, das wäre dann für mich noch mal so richtig schön der Abschluß gewesen, aber jetzt äh ... ist das für mich ... ja ist dann die Zeit um ... ich weiß noch nicht was ich mache, ob ich äh für den Rat kandidiere... das wäre dann ... für dich auch noch'ne Überlegung Ja äh ... ich werde gedrängt es zu tun. Nich, nun eben halt mein äh ... Potential an Wählern zu .. (lacht kurz) holen, nich, das is ... klar aber, ich weiß nich, ob es gut is, ich ... da muss ich noch mal..auch mit mit Leuten, die ganz neutral sind, hin und ganz außen vor sind, nich, ohne es zu denken, das ist gut für die Partei oder Ja. ja is jetzt für oder so nich, und da muss ich noch mal..äh also insofern, ich hab1 schon noch ein, zwei gute Freunde, nich, außerhalb der .. Partei, und ich denke ... äh da werde ich ... ich habe zugesagt, erstmal. dass ich kandidieren werde, Ja um hm, zu helfen auch, ne ... aber dieser Prozess is innerlich bei mir noch nicht abgeschlossen. Nee, das ... braucht 'n bißchen. Ja, ja.... Ja. Äh, so auf die auf die Zukunft gerichtet, würdest du jetzt so äh, dann ... sich sozusagen in Ruhestand setzen also in Ruhestand kann ich mich nicht setzen! (lacht) Unruhestand (lacht) Ja, richtig. Also wurde auf jeden Fall auf jeden Fall, wenn äh ... immer vorausgesetzt, ich bin gesundheitlich gut drauf, und und ich habe auch sonst keine Probleme" äh ich muss ja
2 Das narrative Interview
660 661 662 663 664 665 666 667 668 669 670 671 672 673 674 675 676 677 678 679 680 681 682 683 684
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I: E:
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I: E: I:
2.2.1
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auch überlegen äh ... ich hab' meinem Mann ja auch viel Zeit äh... vorenthalten. Ja (lacht) Nich, und äh äh, ich werde dann mich 'n bißchen mehr äh ... auf ihn auch wieder konzentrieren, aber .. näh, ich werde in jedem Falle, dann, a in in äh ... sozialem Bereich, im, da werde ich irgendso was machen. Dann sozial, auch so Kirche und ähnliches Ja ist egal ob Kirche oder oder Arbeiterwohlfahrt oder irgend so etwas, dass ich da mich dann wieder engagieren werde, (schnell) also ich könnte nicht nicht zu Hause hinsetzen und und äh äh ... die Regenbogenpresse lesen und mich mit den Sorgen und Nöten der High Society befassen und Kochrezepte austauschen, also dat war nich mein Ding (lacht) (lacht) Das äh das kann ich nich, kann ich mir jedenfalls noch nicht vorstellen ... nich Also steckt noch so viel Energie unbedingt noch (dazwischen) Ja, ja. Ja, unbedingt, unbedingt, ja. Ich hoffe nur immer, dass ich das eben auch körperlich schaffe Gesundheit, ist ja klar Ja, nich, das ist Voraussetzung, für alles. Ja, dann hoffe ich, dass du deine ... deine Vorstellungen, die du so hast, auch umsetzen kannst,
Praktische Anwendung am Beispiel des narrativen Interviews
Das folgende Beispiel anhand des vorliegenden narrativen Interviews kann im Sinne der vorgestellten Methode nur bruchstückhaft sein und sich exemplarisch auf Teile des Textes beziehen. a) Formale Textanalyse / Text- und thematische Feldanalyse Zuvor einige formale Hinweise: Fettgedruckte Passagen markieren Themen und Themenfelder, die die Erzählerin ein- und teilweise ausfuhrt. Kursive Passagen beziehen sich auf die Re-/Aktionen der Interviewerin, da diese sich im Sinne der methodischen Vorgaben des narrativen Interviews nicht immer ,, vorteilhaft" verhält. Sie sind als unmittelbarer Kommentar zum Interviewerinnen-Verhalten gedacht. Gewellt unterstrichene Passagen beziehen sich auf solche, die in der ersten Lektüre befremdlich anmuten und im Weiteren unter Umständen noch einmal aufgegriffen werden.
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III Methoden / Praxisteil
Einfach unterstrichene Wörter beziehen sich auf die Textsorte (Argumentation, Beschreibung, Erzählung). Die Erzählerin (im Folgenden kurz E) hebt auf die thematische Eingangsfrage der Interviewerin (im Folgenden kurz I) mit ihrer Erzählung an. Zunächst gibt sie auf die Frage eine globale Antwort ("hat sich insofern auf mein Leben ausgewirkt, als dass es dreiviertel meiner Zeit in Anspruch nimmt"; Erzählpräambel, 3-5). Darauf beginnt sie zu erzählen: "Das bedeutet also, dass ich für meine Familie und... hatte" (5-6). Damit ist der einsetzende Erzählfluss bereits unterbrochen; die Frage von I bewirkt auf der Seite von E den Wechsel zur Argumentation (in diesem Falle einer "Rechtfertigung"): "Ja, obwohl..." (8-10). "...und dann bin ich erst in die Geschichte eingestiegen" (9-10). Ein Dekonstruktivist hätte die wahre Freude mit dieser Wendung. E changiert zwischen versuchtem Wiedereinstieg und expliziter Rechtfertigung (Die Großmutter springt in die Kindesbetreuung ein; "so dass ich nie ein schlechtes Gewissen haben musste"; 14-15). E bewegt sich im thematischen Feld "Familie". "Ich hatte eben das Glück, dass mein Mann das in jeder Hinsicht mit getragen hat..." (15-17) E wechselt zu ihrem (offensichtlich) Ehemann; es fragt sich, was er mitgetragen hat - entweder die Kindererziehung (um die sich ja die Mutter von E bei ihrer Abwesenheit kümmert) oder die Entscheidung von E, in die Politik zu gehen. Die Zwischenfrage von I (18) ist erzählungshemmend; das folgende Gestammel von I (22-24) interpretieren wir als vorgeführte und dringend gebotene Rückbesinnung auf ihre Intervierlnnen-Rolle...). E knüpft erzählend an das Thema "Mutter" an; "in Anfuhrungsstrichen unterwegs" (27) I unterbricht den Erzählfluß und lenkt ihn ab (32). E beschreibt daraufhin, wie sich das Ehrenamt auf den weiteren Beziehungskreis (Freunde, Bekannte) ausgewirkt hat (34-47), um dann in die Argumentation zu wechseln ("ich muss das eigentlich gar nicht..."; 49-50). I interveniert; anstatt papageienhaft/therapeutisch den Fluss der Erzählung zu verstärken ("mhm" und dergleichen), fasst sie das Gehörte zusammen unter "Pflicht" (51); bedenklich, dass EI ins Wort fallen muss (53). Auf das Wort "Pflicht" seitens I reagiert E argumentativ mit ihrer "preußischen Erziehung" (55-59): Thema Arbeitshaltung.
2 Das narrative Interview
193
Nachdem I den Erzählfluss dadurch wieder in Gang bringen will, indem sie das zuvor Gesagte (vermeintlich) zusammenfasst - was unintendierter weise zu einer Art "Trauerreaktion" seitens E führt (62-63) -, versucht sie sich gleichsam alltagsberaterisch. indem sie es unternimmt, E durch die Frage nach neuen Freunden zu "trösten"(64-65). Es folgt (66-80) eine Beschreibung Es. wie sie fiir sich eine "professionelle Distanz" im Umgang mit Freunden und vermeintlichen Freunden erreicht hat, worauf I wieder einmal ins Wort fallt (81-83) und das Thema Familie ins Spiel bringt, was E aber nicht aufgreift; sie bleibt bei ihrem Thema (trotz unstatthafter - im Sinne der "Enthaltsamkeit" der Methode - Intervention Is). Offenbar hat I ein bestimmtes Interview-Schema entwickelt, das getragen wird von der Annahme, dass zwischen ehrenamtlichem politischem Engagement und Privat- und Familienleben eine Unvereinbarkeit bestehen muss, dass der Sinn der Sache darin bestehe, im Interview "herauszukriegen", wie er im Einzelfall gelöst (oder auch nicht) wurde; so, wie wir das narrative Interview verstanden haben, hätte I möglichst "unbefangen" an die Interview-Sitzung herangehen müssen - die Erzählung selbst hätte solche Brüche und Bruchlinien offenbart; so sind sie von I vorgegeben (z.B. "häusliches Engagement"; 92). E interpretiert Is Frage nach dem "häuslichen Engagement" im Sinne der Haushaltsführung und beschreibt, wie sie damit verfährt (95-106). Einen wichtigen Einschnitt bildet offenbar der Tod der Mutter, der indirekt eingeführt wird: "Bis vor eineinhalb Jahren äh war meine Mutter immer da" (108-109). Noch seltsamer mutet die Wendung an: "Und heute ich schaff das ganz gut alleine, indem auch mein Mann inzwischen auch einiges macht" (111-112). Auf Anfrage Is (euphemistisch: "Kraft von deiner Mutter ist also dann ja weggefallen"; 119,120), kommt der Tod der Mutter von E explizit zur Sprache: "Gestorben... (leise)" (124). Daraufhin hebt E mit einer Erzählung über Rollen und Funktionen der Mutter an (124-129), sie wird allerdings von I jäh unterbrochen, indem diese wieder in die Gegenwart wechselt, die keimende Erzählunz also abwärst; unserem Verständnis nach ist das in dieser Sequenz gezeigt Interviewerin- Verhalten denkbar falsch im Sinne des narrativen Interviews: "Und momentan, wen hast du jetzt so zum... Beraten, also deinen Mann sicherlich, ne?" (130-131) Allein der Tempuswechsel hätte genügt; zusätzlich verengt I das Gespräch auf die Rolle des Mannes von E als Berater. Das Verhalten von I kann allerdings auch als Vermeiden des Themas "Tod" interpretiert werden (damit würde ihr Vermeiden von Pausen im Gespräch korrespondieren - gleichsam als kommunikatives Analogon zum Tod). E geht zwar zunächst von der Beratungsftinktion ihres Mannes aus (132-147), beschreibt dann, welchen Stellenwert die politische Aktivität innerhalb ihrer Ehebeziehung erlangt hat, vor allem, seit ihr Mann auch in der Politik tätig ist (149-193). Hier gerät E in einen Sprachfluss, der vom Duktus her weniger erzählend als vergleichend
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III Methoden / Praxisteil
(früher-heute). aber dennoch bzw. gerade darum narrativ ist. Diese längere Passage ist sicherlich dem thematischen Kern sehr nahe. Js Verhalten ist, da "es" - die Sprache, die Erzählung Es - fließt, korrekt und zurückhaltend. E geht anschließend fließend über zu einer Erzählung über den Beginn ihrer Beziehung zu ihrem Mann bis zur Geburt der gemeinsamen Tochter (233). I unterbricht wiederum den Erzählfluss, indem sie nach der Mutter von E fragt (235236); offenbar hat I eine bestimmte Hypothese im Kopf, die sie wiederholt durch Fragen aktualisiert und die etwa lauten könnte: "E konnte sich deshalb in der Politik engagieren, weil ihre Mutter auf ihr Kind aufpasste". Dies bringt E unter eine Art Rechtfertigungszwang (239-272), den sie teils argumentativ, teils beschreibend, teils erzählend ausfuhrt, um ihn endlich biographisch als einen "dieser Glücks-äh-punkte" (271-272) zu verbuchen. I initialisiert die Erzählung Es über deren Einstieg in die Politik (273-274). E verortet ihren Einstieg in die Politik am Alter der Tochter, nämlich als diese gerade zwölf Jahre alt wurde, als sie "aus dem Allergröbsten raus war" (279-280; Was ist das Allergröbste?) Befragt nach dem "Anliegen" (281), erzählt E von ihrem politischen Einstieg (283-297), ihrer Suche nach einer weltanschaulich passenden Partei (298-308) und ihrer Parteisozialisation (310-329) I spricht E auf das Biirgermeisterlnnenamt an (332-333). Es erste Reaktion ist Husten (334); interessant auch die dreimalige Häufung des Wortes ..unbequem" (339, 340,341). E rekonstruiert ihre Selbstzweifel diesbezüglich und ihre Entscheidung für das politische Engagement (im Sinne eines „Ganges durch die Institutionen"; 355). E wechselt die Perspektive vom persönlichen Rollenverständnis hin zur äußeren politischen Erfolgsstory (Rückblick auf inhaltliche Erfolge: „Siehste, schön haste doch hingekriegt...", 365-366; Erzählung der Wahlerfolge - 368-392 - und mit Dialogen unterstützte Erzählung der eigentlichen Wahl und Bestellung zur Bürgermeisterin - 398 ff.): „... und war dann ja Bürgermeisterin" (452-453). ,ja... und das war eigentlich so ... für mich ... im politischen Bereich, politisch-menschlichen Bereich, die schlimmste Erfahrung, die ich gemacht hab' ..." (453-456) I kann sich zurückhalten, da E fließend erzählt (bis 476). E wechselt von sich aus zu den Kehrseiten des Erfolgs (ab 484): „Sehr viel Kraft gekostet" (484-485), wobei I wiederum die Themen angeben will („gesundheitliche"488, „Stress" - 490); E steigt allerdings nicht richtig darauf ein.
2 Das narrative Interview
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Wir vermuten hier wiederum eine gesprächsleitende Hypothese auf der Seite von I, nämlich dass die Mehrbelastung durch ein politisches Ehrenamt zu gesundheitlichen, psychischen und/oder privaten Beziehungsproblemen fiihre. E bringt von sich aus wieder den Tod der Mutter ausführlich zur Sprache (495-547) ein Ereignis, das sie immer noch sehr berührt. Die Auswirkungen dieses privaten Unglücks auf die repräsentative Rolle als Bürgermeisterin werden in der folgenden Äußerung greifbar: „... ich hab' also ganz furchtbar getrauert .. und äh, nicht laut und hier auf dem Markt gestanden und geweint oder so, sondern es hat mich äh ... innerlich zerrissen" (501-503). Is Frage nach den Auswirkungen dieses Todesfalls auf die politische Arbeit ist hier gerechtfertigt (554-555). E beschreibt die Auswirkungen als Energieverlust („hatte nicht mehr die Power", 556), was für sie sehr belastend ist, da sie an sich selber sehr hohe Anforderungen stellt („ich mach etwas hundertprozentig ... dann hau ich da rein", 559561). E beschreibt, wie dieser durch die Trauer bedingte Energieverlust im politischen Leben aufgenommen wird - einerseits Verständnis, andererseits die Aufforderung, die Pflichten ihres Amtes wahrzunehmen („Und da war ich eigentlich immer sehr dankbar, dass ich von der Seite denn auch mal wieder ,n Tritt in Hintern bekam"; 568-569). Anschließend beschreibt E, wie ihre fünf jüngeren Geschwister auf den Tod der Mutter reagierten: Sie suchten bei ihr - ..ich bin die Ersatzmutter"(580) - Rat und Trost, bis E klarstellt: ..ich bin eure Schwester, ich bin nicht eure Mutter" (587). Diese Passage ist in Hinsicht auf das Thema des Interviews sehr brisant. Die Erzählung zum Tod der Mutter endet in trauriger Nachdenklichkeit: „nich, aber das war ganz schön schwer (atmet schwer)... (4sek)" (596-597). I hält Es Schweigen wieder einmal nicht aus und versucht, die Perspektive auf die Zukunft zu lenken (598). Der „Blick in die Zukunft" (599) bringt weniger ein klares Bild, als vielmehr zunächst ein Räsonieren, ob sich E ganz aus der Politik zurückziehen soll oder eventuell als Stadträtin weiterhin engagiert bleiben will (628-630). Ihre Sorge gilt der Gesundheit, politisch aber ist für sie mit Ende der Amtsperiode „die Zeit um" (628), „dann muss ich alles neu ordnen" (611-612). Der Ausblick in die Zukunft gerät teilweise zu einer traurigen Bestandsaufnahme: Orientierung für die Zeit nach dem politischen Engagement erhofft sich E von „Leuten, die ganz neutral sind" (635-636), also nicht parteipolitisch gebundenen; allerdings scheint es davon nicht allzu viele zu geben: „ich hab schon noch ein, zwei gute Freunde, nich. außerhalb der Partei" (643-644). Zum anderen fördert der Blick in die Zukunft die Erkenntnis zutage, ihre Beziehung vernachlässigt zu haben: „ich hab' meinem Mann ja auch viel Zeit äh ... vorenthalten" (660-661). Andererseits kann sich E offenbar kein Leben ohne ehrenamtliches Engagement vorstellen: „ich wer-
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/// Methoden / Praxisteil
de in jedem Falle, dann a in äh ...sozialem Bereich, im, da werde ich irgend so was machen" (665-666).
b) Strukturelle
Beschreibung
Eine strukturelle Beschreibung des gesamten Interviews ist in diesem Rahmen nicht zu leisten. Statt dessen konzentrieren wir uns hier auf zwei ausgewählte Erzählsequenzen. •
Erzählsequenz „Der Weg an die Spitze" (Arbeitstitel; 370-460)
Diese Erzählsequenz haben wir deshalb gewählt, weil in ihr die Erzählung frei fließt ohne nennenswerte Intervention seitens der Interviewerin. Sie dient hier wesentlich dazu, die Mechanismen der Stegreiferzählung aufzuzeigen und exemplarisch in die analytische Terminologie (nach Hans-Jürgen Glinka) einzuführen. (370) (371) (372) (373) (374)
Eigentlich das hat mich eigentlich immer wieder bestätigt und hat mich auch, hat mir auch immer wieder Mut gemacht und ich denke, das ist auch äh das Geheimnis meines Erfolges, äh denn ich hab bei der ersten Wahl 74 als völlig Unbekannte, näh, auf Anhieb äh die viert meisten Stimmen in der Stadt gehabt, auf der SPD Liste
Die Wendung „Geheimnis meines Erfolges" hat in dieser Sequenz einerseits die Funktion der Ergebnissicherung für die vorhergehende Sequenz, die, wie bereits angedeutet worden ist, die inhaltlichen Erfolge bzw. Misserfolge des politischen Engagements der Erzählerin zum Thema hat - bemerkenswert ist dort die Kürze der Darstellung sowie das Fehlen jeder Detaillierung; während die Erzählerin mit einem „frauentypischen" Thema (Forderung nach einem Kindergarten) in die Politik eingestiegen ist, sind aus der gegenwärtigen Perspektive der Inhaberin des Bürgermeisterinnen-Amtes inhaltliche Aspekte anscheinend vernachlässigbar. Die Wendung „Geheimnis meines Erfolges" hat andererseits die Funktion einer Erzählpräambel. Die Erzählerin fuhrt sich sogleich als Geschichtenträgerin und die Partei als eine zentrale Ereignisträgerin (als soziale Einheit, die im weiteren Verlauf auch als Einzelperson auftritt) ein. Die „Stadt" schließlich steckt den physisch-sozialen Ereignisrahmen ab. (375) (376) (377) (378) (379) (380) (381) (382) (383) (384) (385)
375 E: ja und stand auf Platz neun oder zwölf, (leise) ich weiß nicht mehr ganz genau, und hab' also kontinuierlich mein Stimmanteil verbessert, bis zu dem ... Jahr 1986, bei der Wahl, das war eigentlich so die entscheidende Wahl, da war vorher in eine äh Wahlperiode hatte die CDU mit äh andern zusammen die Mehrheit und hat auch den Bürgermeister gestellt und 86 bei der Kommunalwahl, (leise) da hatte ich also ein sagenhaftes Ergebnis, und da gab's vorher äh erhebliche Schwierigkeiten in der Partei. Ich hab' mich dann durchgesetzt und bin dann auf Platz eins der Liste gelandet und habe dadurch also einen, ich
2 Das narrative Interview
(386) (387) (388) (389) (390) (391) (392) (393) (394) (395) (396) (397) (398) (399) (400) (401) (402)
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hab' einen Stimmenanteil gehabt, die mein, den mein Vorgänger auf diese Liste nie gehabt hat. Der war 17 Jahre Bürgermeister gewesen, nich, und gegen den habe ich innerhalb der Partei kandidiert auf Platz eins der Liste, nich, das war auch nicht so'n leichtes Ding .. und äh da hab durch durch durch diesen Wahlerfolg haben wir dann die absolute Mehrheit gekriegt, und da hab' ich dann, (zögerlich) so spontan wie ich eben halt bin, war hier, da wird ja im Rathaus dann ausgezählt, und alles lieb und doch immer, dann wieder (heiter mit verstellter Stimme.) B, B, B (Name der Erzählerin) 397 I: (lacht) 398 E: Und bei mir ein Reporter sagte, kam denn und sagte dann (mit verstellter Stimme) „Na Frau B, was bedeutet das denn?" (heiter) ich sagte: Na mindestens stellvertretende Bürgermeisterin (lacht) 402 I: (Lacht) Ah, das ist schön, ne?
Die Wendung „und hab' also kontinuierlich mein Stimmanteil verbessert" kann man als hochkondensierte Sequenz bezeichnen, da damit immerhin zwölf Jahre politischer Arbeit zusammengefasst und überbrückt werden. Wie sie das bewerkstelligt, welche Themen sie einbringt, welche Positionen sie einnimmt, welche innerparteilichen Koalitionen sie eingeht, wogegen sie opponiert - all dies wird ausgespart: In diesem Sinne kann man hier von einem Erzählzapfen sprechen, den die Interviewerin in der Nachfragephase aufgreifen könnte. Hier wird zudem der Linearisierungsmechanismus, der in Stegreiferzählungen wirksam ist, deutlich greifbar. Nachdem die Erzählerin also zwölf Jahre ihren Stimmenanteil verbessert hat, steuert ihre parteipolitische Karriere auf einen ersten Höhepunkt in der Ereigniskette der Erzählung zu: die Wendung „bis zu dem ... Jahr 1986, bei der Wahl" fungiert als sog. fokussierter Erzählsatz, der eine Zustandsveränderung mit „supra segmentaler Reichweite" markiert, also Veränderungen ankündigt, die im folgenden näher erläutert werden und nicht nur relevant für das aktuelle Erzählsegment sind. „Das war also die entscheidendes Wahl" usw. - verweist einerseits auf den Detaillierungszwang, der in der Erzählung wirksam wird; die Zuhörerin kann nicht wissen, weshalb diese Wahl so entscheidend ist; die Erzählerin führt in diesem Zusammenhang ihren inner-parteilichen Kontrahenten als Ereignisträger ein. Andererseits dient diese Sequenz der Situationsdeßnition, durch die ein eindeutiges Vorher und Nachher ausmachbar wird. Die Darstellungsarbeit der Erzählerin erzeugt hier also Spannung auf einen ersten sogenannten Verlaufskurvenhöhepunkt zu. Auf die Situationsschilderung (Stimmenauszählung im Rathaus) und die Schilderung des Interaktionstableaus („Reporter") folgt der szenische Höhepunkt, der in wörtlicher Rede wiedergegeben wird; „Schütze spricht in diesem Zusammenhang von einem „naturgemäßen" Darstellungsvollzug" (Glinka 1998, S. 161).
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(403) (404) (405) (406) (407) (408) (409) (410) (411) (412) (413) (414) (415) (416) (417) (418) (419) (420) (421) (422) (423) (424) (425) (426) (427)
III Methoden / Praxisteil
E: Das stand am nächsten Tag dann in der Zeitung und dann bin ich natürlich, nachdem ich in der Fraktion gewaltig unter Druck gesetzt worden, (schnell) hab' aber nicht nachgegeben, ich hab' gesagt: Ja bitte, mit welcher Begründung soll ich's nich machen? (mit verstellter Stimme) Ach ich könnte das nich', und ich sag: Ich hab's ja noch nie ahm probiert... ne, ich sag: Die Bürger möchten das... 411 I: hm, ja. 412 E: bei dem Wahlergebnis, nich, der äh Herr G, der damals als Bürgermeister kandidierte, hatte 4000 Stimmen und ich hatte 3000 noch was, nich, also war mir ich und denn mit Abstand kam die andren, diese hatten dann 'n paar hundert und so, ne, und da hab' ich gesagt: Ich hab' die zweit meisten Stimmen, warum soll ich nicht Stellvertreterin werden? Und dann bin ich auch als Stellvertreterin gewählt worden, und in dieser, erst ja in der Fraktion, und das war dann also erst noch umstritten, und dann hab' ich aber ... fast alle, nicht alle, aber fast alle Stimmen gekriegt und wurde dann, ne, stellvertretende Bürgermeisterin, und ich weiß noch, dass ich dann ... äh, weiß gar nicht mehr wer das war, so, der sagte so (mit verstellter Stimme) „Ja, und wenn dann mal was passiert und du musst Bürgermeisterin werden?" Ich sag: Ja, dann mach ich's. 427 I: (lacht)
Diese Passage fuhrt die szenische Gestaltung weiter. Zunächst wird ihre Äußerung in der „Zeitung" zitiert: Diese Sentenz dient als Erzählgerüstsatz und Ergebnissicherung zugleich; mit der „Zeitung" wird eine neue Instanz als kollektiver Ereignisträger eingeführt: die „öffentliche Meinung" kommt zur „Öffentlichkeit" im Sinne demokratischer Wahlen hinzu. Obwohl die Stegreiferzählung gleichsam einen Blick von hinten auf die Ereignisse wirft, da sie abgeschlossen sind und die Erzählerin „aus dieser Perspektive das Ineinandergreifen von Ereignissen in ihrer Gesamtformung hinsichtlich lebensgeschichtlicher oder sozialer, ja sogar historischer Prozesse erfassen und über große Zeitspannen hinweg überblicken" kann (Glinka 1998, S. 109), wirkt hier die für Stegreiferzählung typische Erinnerungsdynamik, in der die „abgelagerte Erinnenmgsaufschichtung wieder in Erlebnisabfolgen verflüssigt wird" (ebd., S. 110). Das heißt, es wird gerade in dieser Passage eine Umorientierung bzw. ein Bewusstwerdungsprozess der Geschichtenträgerin nachvollziehbar; die Entscheidung der Erzählerin, sich parteipolitisch zu engagieren, initiiert eine sogenannte Verlaufskurvenstruktur, in der die Geschichtenträgerin nicht nur aktiv handelnd, sondern auch passiv erleidend, also auch fremdgesteuert ist. Das ist ja auch das eigentliche Thema des Interviews, nämlich inwiefern sich durch das politische Engagement Strukturen privaten und öffentlichen Lebens verzahnen.
2 Das narrative Interview
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Interessant in dieser Passage ist, wie sich die Erzählerin zur Partei einerseits, zum „Wahlvolk" andererseits positioniert bzw. um eine solche Positionierung ringt: „ich sag: Ich hab's ja noch nie ähm probiert... ne, ich sag: Die Bürger möchten das...". Im ersten Satz drückt sich noch die Unsicherheit der Erzählerin mit der neuen Situation aus, im zweiten beruft sie sich auf den „Wählerwillen" als Legitimation; allerdings scheint sie sich, indem sie diese verkürzte politische Standardfloskel (als Kondensierung und Teilbestand einer globalen Kommentartheorie) verwendet, auch zum Zeitpunkt des Interviews nicht recht wohl zu fühlen, weshalb sie sich genötigt sieht, eine Rechtfertigung (412-418) daran anzuschließen. In der Folge erzählt die Erzählerin von ihrer Wahl zur stellvertretenden Bürgermeisterin, wobei sie wieder auf einen dialogisch-szenischen Höhepunkt zusteuert: „äh, weiß gar nicht mehr wer das war, so, der sagte so (mit verstellter Stimme) „Ja, und wenn dann mal was passiert und du musst Bürgermeisterin werden?" Ich sag: Ja, dann mach ich's." Hier präsentiert sich die Erzählerin - im Unterschied zum vorhergehenden Dialog - als fest entschlossene Frau, die „weiß, was sie will". (428) (429) (430) (431) (432) (433) (434) (435) (436) (437) (438) (439) (440) (441) (442) (443) (444) (445) (446) (447) (448) (449) (450) (451) (452) (453) (454) (455) (456) (457) (458) (459) (460)
E: Nicht daran gedacht.. jemals in diese Situation zu kommen. I: Ja E: Und das passierte dann 1989 im Dezember, verstarb ... der Bürgermeister G am Herzinfarkt, und dann stand ich davor, Ne... I: Ganz plötzlich E: Ja, ja und hab' natürlich dann auch meinen Anspruch erhoben und (leise) das tat denn noch jemand bei uns in der Fraktion, der damalige Fraktionsvorsitzende Herr H I: hm E: und ich habe in einer Ortsvereinsversammlung, die also dramatisch war wie, (schnell) es hat's vorher und nachher nie wieder gegeben. 235 Mitglieder waren zu dieser Ortsvereins Versammlung gekommen und da wurde dann abgestimmt und da bekam ich die Mehrheit.. und das war am ... ähm am, einen Tag vor der Ratssitzung, und dann am nächsten Tag war Ratssitzung und die SPD hatte die absolute Mehrheit, nur ich kriegte nicht die erforderlichen Stimmen, sechs Stimmen aus der Partei (leise) hab' ich nicht bekommen, da mußte ein zweiter Wahlgang her, und im, wenn kein Gegenkandidat ist, ist es so dass im zweiten Wahlgang nur die Ja-Stimmen zählen, alles andre nicht mehr, und da hätt ich mit meiner eigenen Stimme, hätt ich gewählt werden können, aber da kriegte ich dann auch statt 18 allerdings ... glaub auch nur 12 oder 13, nich, und war dann ja Bürgermeisterin. Ja.... und das war eigentlich so ...für mich ... im politischen Bereich, politischmenschlichen Bereich, die schlimmste Erfahrung, die ich gemacht hab* (leise) nich, was da an ... Niedertracht äh und Intrige gegen mich gesponnen wurde, das spottet jeder Beschreibung, aber ich hab das durchgestanden nich, und bin mit hocherhobene (lacht) erhobenen Kopf da hervorgegangen.
200
III Methoden / Praxisteil
Die folgende Gegensatzkonstruktion „Nie daran gedacht.. jemals in diese Situation zu kommen", dementiert scheinbar die zuvor präsentierte Entschlossenheit; andererseits hat sie die erzählerische Funktion, die Dramatik in Darstellung der Ereignisse zum Wendepunkt hin zu steigern. Die Interviewerin spielt das Spiel ideal mit, indem sie die dramatische Wende (Tod des Bürgermeisters) noch unterstreicht: „Ganz plötzlich..." Dem plötzlichen Tod wird in der Darstellung der Erzählerin allerdings nur insofern Relevanz beigemessen, als er den Weg frei macht für ihren Anspruch auf das Bürgermeisterinnen-Amt; auffallend ist hier das Fehlen jedweder Würdigung ihres Vorgängers, wie sie ansonsten in der Politikerinnen-Rhetorik üblich ist. Sogleich ist ein neuer Kontrahent und Mitbewerber um's Bürgermeisterinnen-Amt zur Stelle, der Fraktionsvorsitzende H. Nach der Schilderung der formalen Verläufe (innerparteiliche Abstimmung, Wahl im Stadtrat), stellt die Erzählerin ihren „Sieg" ambivalent dar; dieser ist weniger Anlass zu Freude, sondern bringt auch Neider auf den Plan: „im politischen Bereich, politischmenschlichen Bereich, die schlimmste Erfahrung, die ich gemacht hab'".
•
Erzählsequenz „Tod der Mutter" (493-597)
c) Gesamtformung
/Kernaussagen
1. Gleichsam die „Bedingung der Möglichkeit" für die Realisierung einer politischen Karriere war, dass die Mutter der Erzählerin deren Tochter betreute. Sie bezeichnet diesen Umstand als „Glückspunkt" in ihrem Leben, der ihr ermöglichte, guten Gewissens „unterwegs" zu sein. 2. Ihr politisches Engagement führte dazu, dass sie immer weniger „echte" Freunde hatte. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens beanspruchte ihre politische Tätigkeit viel Zeit („dreiviertel meiner Zeit"), zweitens wandten sich vermeintliche Freunde deshalb von ihr ab, weil sie sich politisch öffentlich deklarierte - bzw. sie wandte sich dann von ihnen ab, wenn sie glaubte, dass „Freunde" aus der politischen Position der Erzählerin „Kapital" schlagen wollten. Viele Menschen sahen sie nur als Trägerin einer Rolle, nur wenige Freunde als Individuum. 3. Der Tod ihrer Mutter war für die Erzählerin ein einschneidendes Erlebnis. Sie brauchte lange, um diesen Verlust zu bewältigen. Diese Belastung wirkte sich auch auf ihre politische Tätigkeit aus. 4. Für die Erzählerin war es eine große psychische Entlastung, dass sie ihrem Ehemann zu Hause von ihren Problemen erzählen konnte. Seit dem Zeitpunkt allerdings, da ihr Mann auch politisch aktiv geworden war, fiel diese Entlastungsfunktion des
2 Das narrative Interview
201
Mannes weg, da er von da an nicht mehr die nötige Distanz zu den Geschehnissen hatte. 5. Die Unterschiede in den Arbeitshaltungen zwischen ihr und ihrem Mann beschreibt die Erzählerin als groß. Während sie sich als bereit beschreibt, auch für zunächst aussichtslos erscheinende Anliegen aufgrund ihrer persönlichen Überzeugung sehr viel Energie zu investieren, beschreibt sie ihren Mann als besonnen, als einen, der zuerst die Aussichten auf Erfolg erwägt und sich erst dann engagiert, wenn sie in seinen Augen auch tatsächlich erfolgversprechend sind. 6. Die Motivation für ihr politisches Engagement war zunächst eine persönliche. Inhaltlich beziehen sich ihre Anliegen auf „frauentypische" Themen wie Kinderbetreuung. 7. Ursprünglich wollte sich die Erzählerin an keine Partei binden. Mit der Zeit aber änderte sie diese Meinung und kam zu der Überzeugung, dass, wenn sie etwas gestalten und verändern wollte, dies nur innerhalb einer Partei möglich sei. 8. Durch ihren Eintritt in eine politische Partei erlebte sie Abhängigkeiten und Einschränkungen (z.B. Klubzwang); dies beschreibt die Erzählerin als einen Lernprozess, der ihr sehr schwer gefallen ist. 9. Obwohl sich die Erzählerin im Laufe der Jahre auf den ersten Listenplatz in der Partei vorarbeitete, wobei sie unter innerparteilicher Konkurrenz zu leiden hatte, die auch vor menschlichen „Untergriffen" nicht zurückschreckte, zweifelten manche Parteikollegen daran, dass sie fähig wäre, das Amt der stellvertretenden Bürgermeisterin auszuüben. Allerdings war auch die Erzählerin anfangs von Selbstzweifeln nicht frei, sie musste erst in die neue Rolle hineinwachsen, bis sie sich - zum Zeitpunkt des Interviews - als selbstbewusste und unangefochtene Bürgermeisterin präsentieren konnte. 10. Als ältestes Kind wurde ihr, verstärkt nach dem Tod der Mutter, seitens der anderen Geschwister eine Ersatzmutter-Rolle aufgedrängt. Mit Rücksicht auf ihr politisches Amt gelingt es der Erzählerin, die Rollen klar zu stellen. 11. Die Zukunftsperspektive: Auch wenn sie nicht mehr Bürgermeisterin sein wird, will sich die Erzählerin weiterhin engagieren, sei es politisch, sei es karitativ.
202
III Methoden / Praxisteil
d) Wissensanalyse
Siehe Exkurs
e) Kontrastive Vergleichsphase muss aus Mangel an Vergleichsinterviews
entfallen!
f ) Konstruktion eines theoretischen Modells Da wir hier keine detaillierte Auswertung des Interviews vorlegen können, fuhren wir hier nur einige Thesen an, die mit der sozialwissenschaftlichen Literatur zu Politikerbiographien kontrastiert werden und dann wieder im Text überprüft werden müssten. Thesen: •
Wenn eine berufstätige Frau über die Möglichkeit verfügt, ihr Kind betreuen zu lassen, unterstützt das ihre (politischen) Karrierechancen.
•
Durch eine politische Karriere verändern sich Freundschaftsbeziehungen; teilweise wenden sich „Freunde" aufgrund der politischen Selbstdeklaration des Politikers/der Politikerin ab; teilweise wendet er / sie sich von „Freunden" ab, die diese Beziehungen für eigene Vorteile zu nutzen versuchen; teilweise erweitert sich der Freundschaftskreis um „Parteifreunde"; die Beziehung zu den verbliebenen „alten" Freunden vertieft sich.
•
Eine tiefe psychische Belastung (wie ein Todesfall im Familienkreis) wirkt sich negativ auf das (politische) Berufsleben aus.
•
Wenn in einer Partnerbeziehung beide Partnerinnen beruflich/ehrenamtlich im selben Bereich (z.B. Partei) engagiert sind, fehlt die nötige Distanz des einen, um den anderen durch (aktives) Zuhören zu entlasten bzw. ihr / ihm Rückendeckung zu geben (eine Art Supervisor- oder Coach-Funktion ausüben zu können).
•
Häufig ist ein inhaltliches Anliegen die anfängliche Motivation für ein politisches Engagement.
•
Durch die Bindung an eine Partei oder eine Institution erhöht sich die Möglichkeit, politische Anliegen durchzusetzen.
•
Aktives parteiliches Engagement bringt auch Abhängigkeiten und Einschränkungen mit sich (Partei-Sozialisation).
•
Die erste in der Geschwisterreihe hat häufig eine erhöhte Verantwortung für die anderen Geschwister zu tragen („Ersatzmutter"); möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen der Position in der Geschwisterreihe und der Bereitschaft, ein politisches Amt zu übernehmen (Bürgermeisterin gleichsam als Übermutter der Stadt).
•
Inhaltliche Anliegen verlieren im Verlauf einer politischen Karriere gegenüber machtpolitischen Fragen an Gewicht.
2 Das narrative Interview
203
Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Erzählerin ihre Familie, d.h. Ehemann und Tochter in ihren Erzählungen weitestgehend ausspart, auch wenn explizit nach ihnen gefragt wird. Einerseits könnte dies als eine von Prominenten und Stars her bekannte Verhaltensweise interpretiert werden, die dem Schutz der Privatsphäre dient. Gegen diese Interpretation spricht, dass der Tod der Mutter ausführlich und intim zur Sprache kommt. Das mag daher rühren, dass die Trauerphase nach ihrem Tod noch nicht abgeschlossen ist (bzw. dass durch die Aktivitäten im Amt die Trauer gar nicht ausgelebt werden kann). Dennoch bleibt der Eindruck bestehen, dass die Mutterbindung über das „gewöhnliche" Maß hinausgeht - während ihr Ehemann und ihre Tochter lediglich als Randfiguren erscheinen. Solche Fragen oder Vermutungen gehören aber eher in den Bereich des Therapeutischen. Eine mögliche Lesart wäre auch, da die Interviewerin mit der Erzählerin bekannt sein dürfte, zumal sie sie duzt, dass die Interviewerin unter Umständen eine Freundin des Hauses der Bürgermeisterin sein könnte - und so bestimmte Themen stillschweigend als bekannt vorausgesetzt werden müssten.
Übungsaufgabe 10 Listen Sie alle alternativen Deutungsmöglichkeiten zu dem Interviewtext auf, die Ihnen einfallen, suchen Sie z.B. nach "emotionalen Tönungen" wie Bedauern, Trauer o.ä. Welchen Eindruck hinterläßt auf Sie das Verhältnis Interviewer-Interviewende: Begründen Sie dies anhand von Textpassagen.
204
111 Methoden / Praxisteil
3
Die sozialwissenschaftliche Paraphrase
3.1
Vorbemerkung
"Sozialwissenschaftliche Hermeneutik basiert auf der Alltagshermeneutik, d.h. auf der Interaktions- und Interpretationskompetenz, auf dem Regelwissen alltäglich Handelnder als kompetent und sinnhaft Handelnder. Sie besteht als Interpretationslehre in dem Ausformulieren der Kompetenzen und des Regelwissens alltäglich Handelnder. Sie setzt methodisch eben jenes Regelwissen und jene Regelkompetenz zur Rekonstruktion des Sinnes von Interaktionsprodukten ein, die alltäglich Handelnde bei der Konstruktion des Sinnes von Interaktionsprozessen eingesetzt haben und immer schon einsetzten" (Soeffner 1980, S. 75/76). An der Herstellung von Interaktionsprodukten (z.B. biographischen Texten) ist der Wissenschaftler als Mitautor des sprachlichen Ausgangstextes und als erster Kritiker (kritischer Interpret) maßgeblich beteiligt. Deshalb ist prinzipiell davon auszugehen, dass die im hermeneutisch-lebensgeschichtlichen ForschungsProzess generierten "Daten" nicht Äußerungen "erster Ordnung", sondern immer schon Ergebnis eines Prozesses der Verständigung sind. Der interpretierende Forscher kann also an dieses Produkt nicht so herangehen, als ob es sich um einen ganz und gar fremden Text handelt. Damit würde er sich über die eigene Beteiligtheit an seiner Entstehung hinwegtäuschen. In diesem Kapitel geht es allerdings nicht um die Rekonstruktion der Herstellung von Texten (biographische, autobiographische Zeugnisse) und die dabei auftretenden Probleme 4 , sondern um die wissenschaftliche Erschließung solcher Texte. K. Mollenhauer (1984) schlägt eine Klassifikation von "Interpretationstypen" vor in: die Paraphrase, die "theoretische Rekonstruktion", die Herausarbeitung der Struktur einer individuellen Bildungsgeschichte. Bei der Paraphrase ist der Text (Interviewprotokoll) von Bedeutung als Informationsquelle für einen unbekannten Ausschnitt der Wirklichkeit. Relevant für die Nacherzählung (Paraphrase) sind dabei im wesentlichen die für objektivierbar zu haltenden Fakten, die im Text mitgeteilt werden (als Prototyp kann das Interview in der ethnologischen Forschung genannt werden). Die theoretische Rekonstruktion "verfolgt den Zweck, die Anwendbarkeit einer Theorie auf einen einzelnen Fall zu überprüfen oder auch einen einzelnen Fall nach Maßgabe einer solchen für bewährt gehaltenen Theorie dem Verständnis zu erschließen (Prototyp etwa der psychoanalytische Fallbericht, die Interpretation der Lebenswelt einer Arbeiterfamilie nach Maßgabe materialistischer Annahmen)" (Mollenhauer 1984, S. 158).
4
Vgl. dazu: Fuchs (1984), inbesondere aber Zinnecker (1982).
3 Die sozialwissenschaftliche Paraphrase
205
Interpretation als Herausarbeitung der Struktur einer individuellen Bildungsgeschichte heißt Interpretation erinnerter Bildungsgeschichte. Hier geht es um die Herausarbeitung der Schemata der Selbstinterpretation und Deutungsmuster der Interviewten in ihrer zeitlichen und aktuell-sozialen Dimension. Pädagogische Interpretation sollte - so Mollenhauer - nach dem 3. Typus (Herausarbeitung der Struktur einer individuellen Bildungsgeschichte) verlaufen. Als Aufmerksamkeitsrichtungen5 fiir diesen Interpretationstypus schlägt er folgende Dimensionen (Ereignisklassen, selektierende Kategorien) vor: Dominante Thematik oder -thematiken; Zeitperspektive, Zeitschema, Rhythmisierung der eigenen Bildungsgeschichte; Selbstlokalisierung im sozialen Kontext, soziale Attributierung; Sozialer Raum, Interaktionsnetze, Beziehungsstrukturen etc.; Intentionale Richtungen; Wahrgenommene Widerstände gegen Intentionen etc. (vgl. Mollenhauer 1984, S. 159). Im Folgenden werden ein deskriptives Verfahren der Hermeneutik und - als Kontrapunkt dazu - die Konzeption der "objektiven Hermeneutik" vorgestellt. Daran anschließend erfolgt die Darstellung des Verfahrens der psychoanalytischen Textinterpretation nach Maßgabe des Konzepts der psychoanalytisch orientierten Sozialforschung.
3.2
Darstellung der Methode 6
Wir verlassen uns im Alltagshandeln auf eingespielte Muster von Bedeutung und Verstehbarkeit, wir brechen unsere Interpretationsbemühungen immer dann ab, wenn unsere Deutung einen intersubjektiv akzeptablen Stand erreicht hat, der uns eine für uns sinnvolle Interaktion erlaubt und stellen nicht mehr das in Frage, was uns - als Mitglieder einer Sprachgemeinschaft - als Maß für "Verstandenhaben" schon vorgegeben ist. Daraus folgt, dass die methodologische Skepsis, die wir in unserem täglichen Handeln suspendieren, aus wissenschaftslogischen Gründen unverzichtbar ist. Beim wissenschaftlichen bzw. methodisch-kontrollierten Verstehen wollen wir ja gerade wissen, ob das, was wir meinen verstanden zu haben, tatsächlich stimmt, richtig ist, tatsächlich die
Prinzipiell gilt für alle Inteipretationstypen, dass es sich bei der Interpretation eines Textes um eine begrifflich geleitete Selektion handelt. Deshalb ist auch eine Explikation der die Selektion leitenden Aufmerksamkeitsrichtungen (Dimensionen, Kategorien etc.) erforderlich. Ausführliche Darstellung dieses Ansatzes von Heinze/Klusemann in: Heinze 1991 (Kulturforschung II, Teil II).
206
III Methoden / Praxisteil
Bedeutung hat, die wir ihm im Alltagsverstehen und -handeln beimessen. Damit ist auch die Grenze zwischen einer "naiven" und einer "kritischen" Paraphrasierung angegeben. Eine naive Paraphrasierung verläßt sich, wie das Alltagshandeln, auf das Maß der konventionell eingespielten, der herrschenden Deutungen. Kritisch dagegen nennen wir eine Paraphrase dann, wenn das methodische Mißtrauen der Interpreten sich sowohl gegen die eigenen Vorgriffe und Gesichtspunkte wendet als auch darauf sich richtet, dass die Interpretation - dadurch, dass sie vorzeitig abgebrochen wird - nur vorläufig gültig ist oder gar - je nach Interpretationstyp und Datenlage - ein Artefakt darstellen kann. Um diese als solche zu erkennen, bedarf es allerdings zusätzlicher Operationen, in denen sich nicht nur Sinn und Bedeutung von Texten expliziert, sondern deren soziale Genese und ideologisch-gesellschaftliche Funktion rekonstruiert wird. Dies aber gelingt nur, wenn der Forscher einerseits und in einem ersten Schritt seinen Gegenstand deskriptiv zu verstehen sucht sowie andererseits über weitere methodische Schritte sowie durch Inanspruchnahme wissenschaftlicher Theorien die Sinnstrukturen und Muster zunehmend erschließt und den manifesten Gehalt der Texte transzendiert. In diesem Sinne folgt wissenschaftslogisch auf die sozialwissenschaftliche Paraphrase eine "zweite" Interpretation, die erst die analytische Rekonstruktion von Sinnstrukturen und Mustern ermöglicht. Konkret verläuft der Interpretationsvorgang im Rahmen deskriptiv-hermeneutischer Rekonstruktion wie folgt: Bei der Interpretation in der Gruppe von Interpreten werden zunächst einzelne Bedeutungsgehalte aus dem Interviewprotokoll genannt und begründet. Dieser Vorgang spielt sich so ab, dass auf Nachfragen wie: "Wie meinst Du das?" "Das verstehe ich nicht." "Das habe ich aber ganz anders verstanden." "Kannst Du das mal erläutern?"... die Interpreten zu einer differenzierten Darstellung ihrer Sichtweisen aufgefordert werden. Der erste Schritt der Interpretation besteht darin, eine Explikation des von dem Textproduzenten (Interviewten) Gemeinten vorzunehmen. Erforderlich ist dazu, dass wir uns virtuell auf die Rolle der Interviewten einlassen. Die virtuelle Übernahme der Perspektive der Interviewten erfolgt über die Rekonstruktion ihrer handlungsleitenden Alltagstheorien und Situationsdefinitionen. Diese werden im Sinne eines hermeneutischen Zirkels erschlossen. Die Rekonstruktion verläuft Satz für Satz entlang der Erzählstruktur der Interviewten. In diesen RekonstruktionsProzess als VerstehensProzess gehen Alltagstheorien, Versatzstücke wissenschaftlicher Theorien und subjektiv-biographische Erfahrungen der Interpreten ein. Dieser VerstehensProzess enthält somit auch Elemente eines ersten - aber noch nicht wissenschaftlich elaborierten - theoriegeleiteten Erklärungsprozesses. Verstehen und Erklären stehen in einem dialektischen Spannungsverhältnis. Das heißt: Die Erklärungsprozesse sind Bestandteile und Phasen eines sich zyklisch entwickelnden Verstehensprozesses. Wir bezeichnen diesen als Erklärungen 1. Grades. Der zweite Schritt der Interpretation ist die metakommunikative Rekonstruktionsphase der Interpretation. Hier wird der Versuch unternommen, die von den Interpreten bereits festgehaltenen Erklärungsmuster aufzuzeigen und kritisch zu betrachten, voreilig vorgenommene Erklärun-
3 Die sozialwissenschaftliche Paraphrase
207
gen zu revidieren bzw. andere Möglichkeiten daneben zu stellen. Dabei wird eine Systematisierung und Gewichtung der Alltagstheorien und Situationsdefinitionen der Interviewten vorgenommen. Kriterien für diese Systematisierung der Erklärungen 1. Grades sind die subjektiven Bedeutungen, die die Interviewten selbst erlebten Erfahrungen und Handlungen zuschreiben. Aus ihren Erzählstrukturen versuchen die Interpreten, die Bedeutungshierarchie ihrer Erfahrungen und Konzepte zu erschließen, d.h. also Antworten auf Fragen zu finden wie: Was zählt für die Interviewten wirklich? Was steht obenan? Indikatoren für diese Systematisierung sind der quantitative Anteil innerhalb ihrer Erzählungen sowie der Ausdruck sprachlicher Betroffenheit. Des weiteren: Was wird wie betont bzw. intoniert; wo entstehen - logisch gesehen - Lücken in der Erzählung, wo sind Brüche, wo wird etwas häufig angesprochen, wiederholt? Ein weiterer Indikator sind die von den Interpreten in Anspruch genommenen und explizierten textimmanenten wissenschaftlichen Theoriefolien. Der dritte Schritt der Interpretation besteht in der Identifizierung einer Kernaussage. Diese Kernaussage ist Quintessenz und handlungsleitender Bezugspunkt der Alltagstheorien und Situationsdefinitionen der Interviewten. Die Identifizierung dieser Kemaussage erfolgt auf Grund der vorgenannten Systematisierung und der von den Interpreten in Anspruch genommenen Theoriefolie (z.B. Identität), in die die Wahl der untersuchungsleitenden Fragestellungen eingeht. Die untersuchungsleitenden Fragestellungen entspringen dem erkenntnisleitenden Interesse der Forscher-/Interpretengruppe. Die Kemaussage ist Essential des diskursiv ausgehandelten Interpretationsprozesses und nicht mißzuverstehen als eine Form von Instrumentalisierung der Interpretation. In der Regel erfordert die Interpretation eines Interviewprotokolls eine Vielzahl von Kernaussagen. Im Folgenden soll an Hand des Ausschnittes "Situation Studienaufnahme" aus dem Lebensweltprotokoll einer Fernstudentin der Interpretationsvorgang beispielhaft erläutert werden. Dabei geht es um die Illustration der zuvor beschriebenen Schritte bis hin zur Identifizierung der gewonnenen Kernaussage.
208
3.3
Il¡ Methoden / Praxisteil
Praxisbeispiel: Sozialwissenschaftliche Paraphrase: Interview mit einer Fernstudentin
Zur Illustration des ersten Schrittes und als Beispiel dafür, wie subjektiv-biographische Erfahrungen der Inteipreten in den Interpretationsvorgang eingebracht worden sind, ist der folgende Abschnitt aus einem ausgewählten Interviewprotokoll geeignet. Interviewte (I.): "Ich wollte eigentlich damals... Soziologie studieren... und Psychologie. Das war damals ja noch keine Schwierigkeit!" Hier sind verschiedene Bedeutungen von Aussagen aufgelistet, in die eigene subjektivbiographische Erfahrungen der Interpreten eingegangen sind. Interpretation: Dieser Satz läßt sich in einem mehrfachen Sinne verstehen: "Ich wollte eigentlich ... (konnte aber nicht. Und) das war übrigens damals noch keine Schwierigkeit". Fragen, die durch die Implikationen der Wortwahl nahegelegt werden: Warum konnte sie nicht? Warum war das damals noch keine Schwierigkeit? Aus familiären persönlichen Gründen, oder weil die Anforderungen damals leichter waren, oder der Zugang leichter war (z.B. in Psychologie), oder: Er könnte als Hinweis auf die Tatsache gemeint sein, dass es damals noch kein Numerus-Clausus-Problem gab. Er könnte bedeuten, "damals hätte ich Chancen gehabt, die ich heute nicht mehr habe" (möglicherweise liegt hier ein Hinweis auf Resignation, Enttäuschung oder Frustration vor) . Er könnte auch bedeuten, dass Frau X nach dem Abitur familiär noch ungebunden war. Als weitere Beispiele für den ersten Schritt der Interpretation und zur Illustration, wie z.B. Versatzstücke wissenschaftlicher Theoriefolien (hier Identität) von den Interpreten in die Interpretation eingebracht worden sind, sei verwiesen auf: I.: "Und dann merkte ich also, irgendwas ist los, und ich merkte auch, irgendwie gefiel mir das nicht mehr, irgendwie lief das nicht so, wie ich das gedacht hatte mir (schnell) ... und ...dann begann irgendwie ganz komisch ein Prozess, der einfach ... den ich mir überhaupt nicht erklären kann, und das, ich war einfach psychisch fertig. Ich habe also Alpträume gehabt, es war, es war (Stimme steigend) eine Katastrophe zu deutsch gesagt, nicht. Bei uns war, stand alles Kopf... (Lachen). Und dann hat sich das so langsam herauskristallisiert, dass ich irgendwas wollte ich also machen, nicht." Die Interpretation wird zunächst von unserer Vorstellung geleitet, welche Situationen dazu führen können, dass jemand "relativ" plötzlich und für ihn gar nicht unmittelbar erklärlich so fühlt, wie der Textproduzent (Frau X) es für jenen Lebensabschnitt schil-
3 Die sozial-wissenschaftliche Paraphrase
209
dert. Lag es an den zweieinhalb Jahren, in denen nur ein Kind vorhanden war? War das zweite Kind geplant? Wann hat die Konfrontation des Konzepts mit der Realität zur Erschütterung des eigenen Lebenskonzepts gefuhrt? Was aber deutlich wird, ist die Tatsache, dass eine Konfrontation zwischen Konzept und Realität stattfindet, die zunächst zu einem diffusen Unbehagen und zu einer Erschütterung des Wirklichkeitsbildes führte. Diese Konfrontation stellt sich als ein Prozess dar. Ihre Betroffenheit kommt auch in der Sprache zum Ausdruck. D.h. in unsere Interpretationen gehen Alltagstheorien der Interpreten ein. Noch ein anderes Beispiel: I.: "Ja, ja ja - sicher im Schuldienst. Und... dann habe ich von dem Studium Abstand genommen und bin dann meinen eigenen Weg gegangen, der mir also praktisch durch dieses Abitur vorgeschrieben war. Ich hab' dann, ich war erstmal ein viertel Jahr in... nur so privat, um die Sprache ein bißchen zu können und dann, ich hab' dann, es war erstmal sehr schwierig, weil ich eigentlich gar nicht recht wußte, was ich anfangen sollte, und dann war ich in der Versicherungsanstalt tätig, und dann war ich mal in einer Personalabteilung tätig und hab' erstmal so rumgerochen und... ich bin dann schließlich gelandet in einem Unternehmen der Textilbranche in A. ... ein recht bekanntes Unternehmen. Und da war ich dann 5 Jahre Chefsekretärin. Das war an und für sich ein schöner Job, der mir Spaß gemacht hat, zumal sie nicht mit so Tipperei (lachend) Tag für Tag, das hat mir an und für sich nie gelegen." Interpretation; Frau X sieht die Suche nach ihrem "eigenen Weg" durch das Wirtschaftsabitur vorstrukturiert, sie übernimmt also, so lautet unsere alltagstheoretische Erklärung - die gesellschaftliche Erwartung: Wer ein Abitur hat, der studiert oder geht in einen gehobenen Beruf, in ihrem Falle in ein Gebiet, das mit Wirtschaft zu tun hat. Als Beispiel für den zweiten Schritt der Interpretation - Systematisierung und Gewichtung der Alltagstheorien und Situationsdefinitionen von Frau X - sind die folgenden Passagen geeignet: I.: "Ich hätte die Kinder in fremde Obhut geben müssen, und das kam für mich überhaupt nicht in Frage." "Ja, (schnell) aber ich wollte es nicht. Ich habe also gesagt, ich möchte die Kinder hier in ihrem häuslichen Kreis lassen, es soll auch für die Familie keine allzu große Änderung eintreten. Denn ich sage also ganz offen, das Wohl meiner Kinder und die Entwicklung meiner Kinder und meiner Ehe gehen zunächst mal vor." Interpretation: Als Entscheidungskriterium für die FernUniversität kann die bessere Vereinbarkeit von Studium und "Familienpflichten" bei Frau X angenommen werden. Die Überordnung des Ziels "für die Familie da sein" und "Kinder selbst erziehen" über andere Ziele wird hier deutlich. Auch auf die Nachfrage bzw. den Hinweis, dass ein Kindergarten in A. existiere, weist sie nachdrücklich auf die prinzipielle Nachordnung ihres Ziels hin: "Das Wohl meiner Kinder und die Entwicklung meiner Kinder und meiner Ehe gehen zunächst mal vor." Hier stellt sich die Frage: Ist dies ihre Ansicht, ihr
210
III Methoden / Praxisteil
Wunsch oder eine Legitimation der ihr zugewiesenen Rolle seitens des Mannes, seitens der Mutter bzw. deren Sozialisationswirkung auf die Textproduzentin (Frau X)? Diese Textstelle ist gleichzeitig ein Element, das als Beleg für die im dritten Schritt der Interpretation identifizierte Kernaussage betrachtet werden kann. Diese Kernaussage ist als Quintessenz und handlungsleitender Bezugspunkt der Alltagstheorien und Situationsdefinitionen von Frau X zu verstehen. Die Kernaussage lautet: Ich muss etwas machen, was mir etwas bringt; aber es darf nichts sein, was meine von mir übernommene Rolle in meinem Lebenskreis entscheidend verändert. Oder differenzierter: Mein Lebenskonzept sieht so aus, dass ich einerseits intellektuell etwas leisten möchte, dass ich meine Fähigkeiten möglichst vielseitig einsetzen möchte, aber andererseits lege ich großen Wert auf harmonische soziale Bezüge. Oder: Ich möchte Ich sein, aber dabei nicht die Konventionen meines Lebenskreises brechen, die mir Sicherheit und auch bis zu einem gewissen Grad meine primären Bedürfnisse und Wünsche erfüllen. Das ist der Kern der Aussagen von Frau X zur Begründung der Studienaufnahme. Als beispielhafte Belege für diese Kernaussage sei auch auf folgende Stellen des Interviewprotokolls verwiesen: I.: "Und dann hat sich das so langsam herauskristallisiert, dass ich irgendwas wollte ich also machen, nicht..." (Frau X will was tun, was ihr etwas bringt) "hab ich mich dann dazu entschlossen, nicht, ich meine, eh: ich hatte auch wirklich ein echtes Bedürfnis ..." "weil er nämlich sofort merkte, also in mir steckte also eine Arbeitswut" (Bedürfnis von Frau X, was zu tun). "Für mich kommt gar nicht in Frage ein Studium, an dem ich also ... täglich oder an mehreren Tagen in der Woche ... mehrere Stunden außer Haus sein muss. Das wäre unmöglich, das könnte ich mir nicht denken das, ich hätte ja die Kinder in fremde Obhut geben müssen, und das kam für mich überhaupt nicht in Frage." "Denn ich sage also ganz offen, das Wohl meiner Kinder und die Entwicklung meiner Kinder und meiner Ehe gehen zunächst mal vor ..." (Frau Xs Lebenskreis darf nicht entscheidend verändert werden). "Nun war das natürlich mit dem Fernstudium und dieser Teilzeitmöglichkeit war ganz ideal..." (Balancierung der beiden Ansprüche). Wie kommen wir dazu, dies als Kemaussage zu behaupten? Aufgrund der vielfältigen Aussagen zu diesem Thema war festzustellen, dass sich für die Textproduzentin der Widerspruch zwischen familiärem Engagement und Selbstvervollkommnung offenbar als ein zentraler, das Fernstudium motivierend, und die damalige Situation für sie beherrschender Konflikt erwies.
3 Die sozial-wissenschaftliche Paraphrase
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Die Interpretation richtet sich auf die Balancierung dieser beiden Ansprüche, wobei die Interpreten davon ausgehen, dass die Interviewte sich dabei an wichtigen Bezugspersonen orientiert. Die Tatsache, dass die Interpreten übereinstimmend zu dieser Kernaussage gekommen sind, kann als Zeichen für die Plausibilität der Kernaussage betrachtet werden. Bei der Darstellung des Interpretationstyps sozialwissenschaftliche Paraphrase ist hoffentlich deutlich geworden, dass sich die Gültigkeit des in die jeweiligen Theoriefolien eingegangenen Vorverständnisses sowie der aus z.B. Interviewprotokollen ermittelten Bedeutungsgehalte in einem zyklischen Prozess herausstellt, in dem sich die theoretischen Vorentwürfe hinsichtlich ihrer Erklärungsrelevanz dieser Bedeutungsgehalte bewähren müssen und gleichzeitig durch diese differenziert bzw. detailliert werden. Wenn wir diesem hermeneutischen Modell bei der Geltungsbegründung von Interpretationen folgen, so stellt sich gleichwohl das Problem, nach welchen Kriterien letztlich beurteilt werden kann, ob im InterpretationsProzess eine Annäherung an die Ebene gültiger Aussagen erreicht wurde oder ob lediglich die eigenen Vorannahmen reproduziert und durch empirisches Material detailliert und illustriert wurden (vgl. dazu das folgende Kapitel). G. Kleining (1994) hat sich differenziert mit dem Verfahren der sozialwissenschaftlichen Paraphrase auseinandergesetzt. "Deskriptive Hermeneutik ist 'kritisch', indem sie die subjektiven Ideen der Interpreten transzendiert in Richtung auf ein angemessenes, 'objektives' Textverständnis. Sie ist auch 'kritisch', indem sie hinter dem Text die Lebenswelt zu erkennen sucht, deren Ausdruck er ist. Sie ist aber nicht kritisch, was die Beschreibung der Lebenswelt selbst betrifft. Weitere 'Fragen' wären hier zu stellen. Beispielsweise: warum gibt es Probleme bei dieser Befragten, die es bei Menschen in anderen Lebenswelten nicht gibt? Was ist ihre Funktion als Hausfrau? Usw. Diese Fragen gehen über die vorliegenden Daten hinaus, aber dann müssen diese eben ergänzt werden durch weitere Informationen. Fragen sollen also das vermeintliche Faktum einer fraglos gegebenen Lebenswelt hinterfragen, wodurch nicht nur die individuellen, sondern auch die gesellschaftlichen Probleme in den Blick geraten, die sich mit einer Segmentierung des Gemeinwesens in solche 'Lebenswelten' erst ergeben. Zusammenfassend und bewertend: Der Ansatz ist phänomenologisch, beschreibend, er ist auf die angemessene Interpretation von Daten ausgerichtet und, potentiell, von hoher Objektivität. Die Methode kommt vergleichsweise rasch zu Ergebnissen, und diese sind differenziert und nachweisbar aus den Daten. Ihre Resultate sind anders als die beispielsweise der objektiven Hermeneutik und umfassender, weil sie, im behandelten Falle, das derzeitige Verhalten erklären (Beginn eines Studiums an der FernUniversität) und nicht auf die These 'Emanzipation statt Familie' abstellen, die aus den Daten nicht belegt werden kann (latent) und auch nicht die Aufnahme eines Fernstudiums erklärt,
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III Methoden / Praxisteil
sondern eher auf ein Ausbrechen aus Ehe und Familie deuten zur Erfüllung des emanzipatorischen Bedürfnisses. Der Methode kommt weiterhin zugute, dass sie aus dem Alltagsverfahren des 'Verstehens' entwickelt ist, also dem naiven 'Begreifen' eines Textes und wenn nötig Nachfragen. Hier kann jedoch eine Verfahrenskritik angebracht werden, die technischer Art ist, nicht die Methodologie betrifft. Statt das Alltagsverfahren in die Befragung von Texten als Hauptmethode zu transformieren, wird ein vergleichsweise aufwendiges Paraphraseverfahren installiert, wenngleich dies immer auf 'Objektivität' des Textes abzielt und sich dadurch nicht verselbständigt, wie bei der objektiven Hermeneutik. Der Paraphrase muss im Verfahren dann eine Paraphrasen-Kritik folgen. Auch diese hätte man sich sparen können, wenn die Phase der Paraphrase übersprungen worden wäre. Die 'Kernaussage' müßte und könnte im direkten Zugriff auf den Text aus ihm herausgefiltert werden. Würde also 'die Befragung des Textes1 stärker eingesetzt, worauf ja die Erfahrungen hindeuten, dann würde auch die 'Lebenswelt' zu hinterfragen sein (und selbst der Vorgang des 'Verstehens'). Die Forschung müßte nicht bei der Beschreibung der Lebenswelt stehen bleiben - obgleich es schon eine beträchtliche Leistung ist, zu ihr vorgestoßen zu sein. Auf die objektive Hermeneutik kann die deskriptive ganz verzichten, da sie wesentlich besser geeignet ist, Texte aufzuklären als sie. Von vergleichsweise untergeordneter Bedeutung ist es, dass Regeln für die Befragung, die Analyse und die Zusammenstellung von Samples nicht gegeben werden, die sich aus einer umfassenden Methodologie ableiten lassen müßten" (Kleining 1994, S. 54/55).
Übungsaufgabe 11 Versuchen Sie auch hier bitte alternative Deutungen zu finden und aufzulisten. Stellen Sie besonders unverständliche "befremdliche" Textpassagen zusammen und "rätseln" Sie (möglichst kreativ) über den Zusammenhang von: Sprechanlaß (Interview), Verhältnis Interviewer-Interviewtem und diesen Textpassagen. Versuchen Sie Ihre Deutungen am Text nachzuweisen.
4 Das Konzept der objektiven (strukturellen) Hermeneutik
4
213
Das Konzept der objektiven (strukturalen) Hermeneutik Roswitha Heinze-Prause
4.1
Vorbemerkung
Das von Ulrich Oevermann entwickelte Konzept der "objektiven Hermeneutik" ist das seit Jahren in den Sozialwissenschaften am häufigsten rezipierte und diskutierte Verfahren der Textinterpretation (vgl. Aufenanger/Lenssen 1986; Garz/Kraimer 1983, 1991; Garz 1994; Reichertz 1988; Terhart 1981). Zum Ausgangspunkt der Entwicklung dieses Verfahrens wurde die Analyse sozialisatorischer Interaktion. In seinen Schriften "Die Architektonik von Kompetenztheorien und ihre Bedeutung für eine Theorie der Bildungsprozesse" (Oevermann 1973) sowie "Überlegungen zu einer Theorie der Bildungsprozesse" (Oevermann 1976b) kritisiert Oevermann eine Situation in der Sozialisations- und Bildungsforschung, die er u.a. durch einen theoretisch unreflektierten Umgang mit den Forschungsmethoden kennzeichnet. Als Konsequenz entwickelt er eine Metatheorie der Bildungsforschung, die er als "Theorie der individuellen Bildungsprozesse" bezeichnet. Im Anschluß an seine Kritik formuliert er in den methodologischen Arbeiten zur "objektiven Hermeneutik" eine Methodologie, die den Prozess der Konstitution empirischer Relationsprozesse in den Mittelpunkt stellt.
4.1.1
Die Theorie der individuellen Bildungsprozesse
Basis der Theorie der individuellen Bildungsprozesse als Metatheorie der Sozialisationsforschung ist die Explikation der Erfahrung des universellen und kulturellen Charakters von Sozialisation. Als erste Aufgabe einer Theorie der Bildungsprozesse formuliert Oevermann die theoretische Explikation der Struktur des sozialisierten Subjekts. Diese Explikation wird zum Bezugspunkt der Analyse von Sozialisationsprozessen. Dabei wird vorausgesetzt, dass das sozialisierte Subjekt prinzipiell der Sprache, des logischen Urteils und der Selbstreflexion fähig ist. Es beteiligt sich an der intersubjektiven Verständigung durch Regelbefolgung und "role-taking", es kann seine Bedürfnisse und Interessen sozial angemessen artikulieren und strategisch handeln. Damit beschreibt dieses Konzept die basalen Dimensionen des menschlichen Subjekts und seine prinzipiellen Fähigkeiten. Zentral für die Frage nach dem wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis der "Theorie der individuellen Bildungsprozesse" wird der Bezug dieses Konzepts der Dimensionen des sozialisierten Subjekts zur Diskursebene der philosophischen Erkenntnistheorie. Die '"Theorie der individuellen Bildungsprozesse" versteht sich einerseits als metatheoretische Reflexionsebene innerhalb der Sozialisationsforschung und ist damit Bestandteil einer Erfahrungswissenschaft. Gleichzeitig führt sie aber ihre Begründung bis auf
214
/// Methoden / Praxisteil
die Ebene der allgemeinen "Ausstattung" des Subjekts zurück und hebt dadurch bis auf die Ebene der Bedingungen der Möglichkeit von Autonomie a priori ab. Hier deutet sich ein unüberwindbarer Gegensatz in der "Theorie der individuellen Bildungsprozesse" an: Während es die Aufgabe der Philosophie ist, Sätze a priori zu formulieren und zu entwickeln, ist es die Aufgabe der Erfahrungswissenschaften, die begrifflichexplikative Fassung der konkreten Erscheinung zu leisten. Dieser Gegensatz in Oevermanns metatheoretischer Fundierung der Sozialisationsforschung wird durch die Inanspruchnahme der Kompetenztheorien der Linguistik und der kognitiven Psychologie aufgehoben. Um die "Theorie der individuellen Bildungsprozesse" als soziologische Disziplin auszuweisen, fordert Oevermann die Autonomie einer Strukturtheorie des Subjekts. Diese Strukturtheorie muss als soziologische Disziplin einen Begriff der Entfaltung des Subjekts und seiner Ausstattung entwickeln. Durch den Bezug zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft ist die "Theorie der individuellen Bildungsprozesse" als autonome Theorie des Subjekts im größeren Rahmen einer soziologischen Bildungstheorie einzuordnen. Das Programm der soziologischen Sozialisations- und Bildungsforschung umfaßt drei Schwerpunkte: Die Theorie der individuellen Bildungsprozesse bildet einen der drei Schwerpunkte. Der zweite Schwerpunkt beinhaltet die Theorien der historisch-kulturellen Determination und Transmission von Sinnzusammenhängen und Symbolsystemen. Er befaßt sich mit der Rekonstruktion der inneren Logik kultureller Konfigurationen und der Analyse ihrer Entwicklung. In diesem Rahmen wurde die Methodologie der "objektiven Hermeneutik" entwickelt. Der dritte Schwerpunkt beschäftigt sich mit den Makro-Theorien der Strukturen und Funktionen der gesellschaftlichen Organisation von Bildungsprozessen.
4.1.2
Der Begriff der "sozialisatorischen Interaktion"
Die objektive Hermeneutik wurde von Oevermann und seinen Mitarbeitern Ende der 60er Jahre entwickelt. Sie entstand als Methode zur Interpretation von Beobachtungsprotokollen sozialisatorischer Familieninteraktion im Rahmen des Projektes "Elternhaus und Schule", das bis 1968 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin durchgeführt wurde. Aus dieser Methode entwickelte sich ein zusammenhängendes Konzept, das eine Methode zur Rekonstruktion objektiver Sinnstrukturen, eine Methodologie und eine soziologische Sozialisationstheorie integriert. Die noch zu entwickeln-
4 Das Konzept der objektiven (slrukturalen) Hermeneutik
215
de soziologische Sozialisationstheorie hat dabei soziale Faktoren nicht als kontingente Randbedingungen für die Wirkungsweise psychischer Mechanismen zu betrachten, sondern sie muss beides miteinander vermitteln. Im Konzept der "sozialisatorischen Interaktion" schlägt sich dieser Versuch begrifflich nieder. Die soziologische Sozialisationstheorie setzt im Konzept der "sozialisatorischen Interaktion" inhaltlich und methodisch an, um die soziale Konstitution ontogenetischer Entwicklung zu erfassen. Die Strukturen des Subjekts entwickeln sich demnach als Folge der Auseinandersetzung des Kindes mit den Strukturen sozialisatorischer Interaktion. Dabei ist festzustellen, dass "die sozialisatorischen Interaktionen, an denen Kinder teilnehmen ... die Sinninterpretationskapazität des sich bildenden Subjekts auf seinem jeweiligen Entwicklungsstand weit übersteigen. Gerade darin aber ist die spezifische Leistungsfähigkeit sozialisatorischer Interaktion zu sehen" (Oevermann u.a. 1979, S. 353). Damit wird für die sozialisatorische Interaktion ein "überschießender Gehalt" angenommen, der wiederum von zentraler Wichtigkeit ist und zu entscheidenden Konsequenzen für die Erforschung sozialisatorischer Interaktion fuhrt. Die methodologische Konsequenz dieser Annahme ist, "dass die latenten Sinnstrukturen der sozialisatorischen Interaktion nur durch eine extensive Strukturinterpretation und Sinnauslegung beobachteter Interaktionen sichtbar gemacht werden können, die nicht unter dem Diktat der Verifikation durch Rekurs auf Bestätigung durch Angabe der beteiligten Personen selbst bestehen" (Oevermann u.a. 1976, S. 373). Das heißt: Aufgabe der objektiven Hermeneutik ist es, die objektive Bedeutung der protokollierten Interaktion zu rekonstruieren und zu explizieren. Daraus folgt, dass das Protokoll einer Interaktion wie ein "Text" behandelt wird, wie ein von seinen Produzenten abgelöster und von deren Intentionen analytisch zu trennender "Träger objektiver sozialer Sinnstrukturen" verstanden wird (ebd., S. 391).
4.1.3
Gegenstandsbestimmung und Textbegriff der objektiven Hermeneutik
Die objektive Hermeneutik versteht sich als inhaltsunspezifische allgemeine Methode zur Analyse von Objektivationen des Gegenstandsbereiches der sinnstrukturierten Welt. Im Unterschied zu deskriptiven (paraphrasierenden) und psychoanalytischen Verfahren geht es in diesem Ansatz nicht um die Analyse des subjektiv gemeinten Sinns, sondern um die Rekonstruktion objektiver, "latenter" Sinnstrukturen, die sich unabhängig von den Intentionen der Subjekte als soziale Realität konstituieren. Dies zeigt, dass der Begriff "objektiv" hier nicht im klassisch positivistischen Sinne auf ein standardisiertes Forschungsverfahren bezogen wird, vielmehr geht es um die Rekonstruktion der sozialen Sinnstrukturen im Handeln, so dass es treffender wäre, sie als "rekonstruktive" oder "strukturale" Hermeneutik zu bezeichnen.
216
III Methoden / Praxisteil
Basis der Analyse ist das der objektiven Hermeneutik zugrunde liegende Verständnis von "Text". Als "Texte" werden nicht nur literarische Produktionen, sondern auch sprachlich gefaßte Handlungen, z.B. jegliche Interaktionen, Ereignisse, Musik und Bilder begriffen. Alle diese Objektivationen des Menschen werden als "Texte" und damit als Sinngebilde verstanden. In den "Texten" sind die objektiven Bedeutungen enthalten und unabhängig von den subjektiven Intentionen der Handelnden rekonstruierbar. Auf das Freilegen dieser objektiven Bedeutungsgehalte bezieht sich die Bezeichnung "objektive" Hermeneutik, d.h. sie zielt auf die hermeneutische Rekonstruktion dieser Objektivationen. Damit unterscheidet sich die objektive Hermeneutik von der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik in der Nachfolge Schleiermachers und Diltheys nicht nur im Zugriff auf das Material, sondern auch durch die Bestimmung des Materials selbst: Sie bezieht sich auf die Tiefenstrukturen des "Textes" und nicht auf den Text, der als Ergebnis dieser Strukturen entstanden ist. Wenn ein "Text" einmal produziert wurde, konstituiert er eine eigengesetzliche Realität. Als Objektivation steht er "zeitlos" außerhalb der Aktualität des alltagspraktischen Handelns. Dies ermöglicht wiederum die vom Handlungsdruck entlastete wissenschaftliche Interpretation, die nicht auf die vergangene konkrete Handlung rekurriert, sondern auf die objektiven Sinnstrukturen dieser Handlung. Dabei wird das handelnde Subjekt zum Medium der Aktualisierung dieser Strukturen. Der Gegenstand, den der objektive Hermeneut bei seiner Sinnrekonstruktion behandelt, ist der "Text", den die interagierenden Personen produzieren, nicht die Motive der interagierenden Personen selbst. "Konkreter Gegenstand der Verfahren der objektiven Hermeneutik sind Protokolle von realen, symbolisch vermittelten sozialen Handlungen oder Interaktionen, seien es verschriftete, akustische, visuelle, in verschiedenen Medien kombinierte oder anders archivierbare Fixierungen" (Oevermann u.a. 1979, S. 378).
4.2
Grundannahmen der objektiven Hermeneutik
4.2.1
Der Begriff des Subjekts
Die objektive Hermeneutik hat eine sozio-genetische Perspektive der Entwicklung des Subjekts. Es entwickelt sich in der Konfrontation mit den Strukturen des gesellschaftlichen Handelns, die immer Bedeutungsstrukturen sind, zum Erwachsenen. Diese Sicht verweist auf die empirischen Theorien der Entwicklung des menschlichen Geistes: die Theorie der generativen Linguistik von Noam Chomsky, die genetische Erkenntnistheorie Jean Piagets, die psychoanalytische Theorie Siegmund Freuds, die Theorie der objektiven Bedeutung sozialen Handelns von George Herbert Mead.
4 Das Konzept der objektiven (strukturalen) Hermeneutik
217
Die genannten Theorien nehmen Bezug auf die wesentlichen Dimensionen des autonomen, handlungsfähigen und mit sich identischen Subjekts, d.h. auf den Bezugspunkt von Oevermanns "Theorie der individuellen Bildungsprozesse". Zu diesen Dimensionen gehören die Sprachfahigkeit, das logische und moralische Urteilsvermögen, die Fähigkeit zur Erkenntnis der eigenen Handlungsgründe und Antriebe sowie die Regelgeleitetheit und damit die soziale Konstituiertheit des Subjekts. Die Dimension der Regelgeleitetheit und die soziale Konstituiertheit des Subjekts sind von allgemeinerer Natur als die anderen drei Dimensionen, denn sie beziehen sich auf die grundlegende Qualität des menschlichen Geistes, die sowohl die erkenntnisfähige als auch die handlungspraktische Ebene strukturiert. So können biographische Strukturen als Manifestationen sozialer Handlungsregeln betrachtet werden und damit das Allgemeine darstellen, das wiederum nur in individuellen Ausprägungen zur Entfaltung kommt. Diese Sicht beschreibt die grundlegende Dialektik des Strukturalismus der objektiven Hermeneutik. Im Folgenden wird auf die Theorien rekurriert, die aus ihrer Sicht auf die Konstitution von Bedeutung eingehen und die das Entstehen der "Objektivität" dieser Bedeutung deutlich machen.
4.2.2
Die generative Linguistik Noam Chomskys
An dieser Stelle soll in Form eines Exkurses die "Architektonik" des Konzepts der generativen Linguistik skizziert werden. Bei diesem Konzept, das zu den Eckpfeilern der objektiven Hermeneutik zählt, geht es einerseits um die Darstellung der Überwindung des Gegensatzes von Erfahrungs- und Geisteswissenschaft hinsichtlich ihres methodischen Vorgehens. Andererseits rekurriert Chomskys Modell der Kompetenz und Performanz auf eine Konzeption des Geistes als ein System autonomer kognitiver Strukturen, das zur Basis der Regelbeherrschung und des Regelbewußtseins wird. Chomsky untersucht in seinem Buch "Regeln und Repräsentationen" die Fragen, die sich auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen und auf die mentalen Strukturen beziehen, sowie die Fragen, die der Anwendung dieser Fähigkeiten zugrunde liegen. Er bezieht sich dabei auf die Erforschung der menschlichen Sprache und sieht die Erforschung der Sprache in Analogie zur Untersuchung eines Körperorganes. Dies fuhrt ihn dazu, die Untersuchung der Sprache nach folgenden Punkten zu gliedern: "Funktion, Struktur, physikalische Grundlage, Entwicklung im Individuum, evolutionäre Entwicklung" (Chomsky 1978, S. 228). Zur Funktion der Sprache konstatiert er, dass Sprache vielerlei Funktionen habe und dass Kommunikation nicht die alleinige Funktion von Sprache sei. Vorrangige Funktion der Sprache sei vielmehr der Ausdruck von Gedanken.
218
III Methoden / Praxisteil
Chomsky hat durch seine Theorien die Linguistik und Psycholinguistik zu fundamentalen Neuorientierungen veranlaßt. Seine zentrale Problemstellung bezieht sich auf den Versuch, adäquate Formalismen zur Beschreibung der Grammatik natürlicher Sprachen zu entwickeln. Sprachliche Gebilde werden analysiert und zwar ohne dabei die situativen und historischen Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption zu berücksichtigen. Das Ziel dieser Analysen ist die Konstruktion von formalen Grammatik-Theorien. a)
Das Kompetenz-Performanz-Modell
Zentrale Bedeutung in der generativen Grammatik kommt dem Gegensatz von Kompetenz und Performanz zu. Chomsky betont, dass ein Sprecher in der von ihm beherrschten Sprache auch grammatikalisch richtige Sätze bilden kann, die er noch nie zuvor gehört hat. Mit Hilfe von Elementen dieser Sprache sowie mit einer bestimmten Menge von internalisierten Regeln kann ein Sprecher eine unendliche Menge von sprachlich korrekten Sätzen kreieren. Diese Möglichkeit bezeichnet Chomsky als eine spezifische sprachliche Kompetenz (vgl. Chomsky 1972, S. 483 ff.). Dabei ist es unwichtig, ob dem Individuum diese Regeln bewußt sind oder nicht. So sind zwar die Regeln der deutschen Grammatik dem Individuum "bekannt", d.h. es kann nach ihnen Sätze bilden; zumeist kann es aber diese Regeln nicht formulieren. Diese "schweigende" Kenntnis, die "tacit knowledge" ist Basis der Kompetenz. Die Anwendung der Kompetenz, d.h. den beobachtbaren Sprachgebrauch, faßt Chomsky durch den Begriff der Performanz. Er macht die Kompetenz des Individuums zum Gegenstand seiner Analyse und betont, dass die von ihm postulierten Grundsätze keine Theorie der Performanz sind. Die Performanz liefert lediglich die Daten zur Untersuchung der Kompetenz (vgl. ebd., S. 486). b)
Die Autonomie der Syntax
Die Untersuchung der sprachlichen Kompetenz führte zu der Annahme einer "Universalgrammatik", die allen menschlichen Sprachen eigen ist (vgl. Chomsky 1978, S. 35 ff.). Die Universalgrammatik ist Teil des Genotyps, stellt einen Aspekt des Anfangszustandes des menschlichen Geistes und des Gehirns dar. Das Sprachvermögen nimmt unter dem auslösenden und formenden Einfluß der Erfahrung die Form einer besonderen Grammatik an. Diese Grammatik bezeichnet ein System von Regeln und Prinzipien, das Laut und Bedeutung einander zuordnet. Chomskys Grammatik-Modell enthält drei Komponenten, eine semantische, eine phonologische und eine syntaktische. In allen Veränderungen, die dieses Modell erfuhr, erwies sich die syntaktische Komponente gegenüber den anderen Komponenten als autonom und wird daher als eigentlich generativer Teil angesehen. Die unabhängige syntaktische Komponente regelt die Beziehung zwischen Laut und Bedeutung unter Zugrundelegung verschiedener Strukturen.
4 Das Konzept der objektiven (strukturellen) Hermeneutik
219
Für Chomsky sind Sätze mentale Repräsentationen, die empirisch erfaßt werden können. Sie bestehen aus Wortketten und Phrasenstrukturen, die durch Regeln mit einfachen Eigenschaften in die phonetische Form gebracht werden. Sätze sind phonetische Repräsentationen und bestehen aus Wörtern; dabei gliedert sich die Zusammensetzung der Wörter in Phrasen, deren Gliederung durch die Regeln der Grammatik erfolgt. Erst die geordnete und damit strukturierte Folge macht aus der Wortreihe die sinnvolle Einheit des Satzes. Als linguistische Kategorie besteht der Satz aus einer Nominal-Phrase, dem Subjekt, und der darauffolgenden Verbal-Phrase, dem Prädikat. Dabei ergibt die Stellung des Verbs (z.B. vor oder nach dem Subjekt) die entsprechende Ja- oder Nein-Frage. "Die Regel, die diese Operation ausfuhrt, wird eine 'grammatische Transformation' genannt. Solche Transformationen bilden, ganz gleich, welche Struktur (bzw. Ordnung) dieser Menge (von Wörtern) auferlegt wird, eine Komponente der Syntax einer Sprache. Nennen wir sie die Transformations-Komponente"1 (ebd., S. 100). Durch die Anwendung grammatikalischer Transformationen und anderer Regeln entstehen die phonologisch repräsentierten Sätze der Sprache. Diese letzte, komplexe Struktur, die aktuelle Erscheinungsform des konkreten Satzes, die durch grammatische Transformationen entstand, bezeichnet Chomsky als "Oberflächenstruktur" (ebd., S. 101). Sie ist nicht geeignet für die semantische Interpretation. Zur Erklärung der Entstehung der Oberflächenstruktur benutzt Chomsky den Ansatz der "generativen Transformationsgrammatik". Dabei erzeugen die Basisregeln die "D-Strukturen (deep struetures, Tiefenstrukturen)" (ebd., S. 148). Durch Transformationen werden sie in "S-Strukturen", die sich auf die syntaktische Form beziehen, überfuhrt, um wiederum durch Regeln anderer Art in Oberflächenstrukturen verwandelt zu werden. Da die S-Strukturen nicht realisierte Kategorien der D-Struktur mit einschließen, sind sie geeignet für die semantische Interpretation. Damit erzeugen die unabhängigen syntaktischen Komponenten Strukturen, die auf die Repräsentation der Form und der Bedeutung bezogen sind. c)
Die Aufhebung des Gegensatzes von empirischer Analyse und formaler Deduktion
Um den Gegensatz von Empirismus und Idealismus zu überwinden, benutzt Chomsky einen neuen Begriff von Sprache und ihrer Analyse. Der Empirismus machte Sprache als beobachtbare Kausalkette zum Gegenstand der Analyse und betrachtete sie als klassifizierbare Wirkung angebbarer Ursachen im naturwissenschaftlichen Verständnis. Chomsky begreift sprachliches Handeln als Folge der Anwendung von den das Bewußtsein konstituierenden generativen Regeln. Damit ist Sprache als Objektivation dieser Regeln mehr als das quasi-dingliche Gebilde, das lediglich der Klassifizierung bedarf. Da sie eine innere Logik besitzt, erfordert sie eine sinnauslegende Interpretation. Obwohl die Probleme der Beschaffenheit der Regeln in der generativen Linguistik noch nicht gelöst sind, geht sie von ihrer Existenz als "kulturelle Universalien" aus. Diese
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III Methoden/Praxisteil
Annahme hat für das Selbstverständnis der generativen Linguistik und damit auch für die Methodologie der objektiven Hermeneutik weitreichende Konsequenzen, denn mit dieser Annahme wird der Gegensatz der "invariablen" Gegenstände der Naturwissenschaften und der "variablen" Gegenstände der Geisteswissenschaften aufgehoben. Zugleich wird die Trennung von Idealismus und Empirie überwunden: "Die universalgrammatischen Regeln der linguistischen Kompetenz müssen nämlich zugleich als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis vor jeder Erfahrung und als Gegenstände einer überprüfbaren, d.h. falsifizierbaren erfahrungswissenschaftlichen Rekonstruktion gelten" (Oevermann 1986, S. 25). Die Analyse der Sprache, die als Ausdruck eines logischen Erzeugungsprinzips, das in jeder sprachlichen Äußerung in der Form eines konstitutiven grammatischen Regelwerks wirksam ist, begriffen wird, muss über die Analyse der Beschreibungsart der beobachteten Phänomene zum logischen Kern der sprachlichen Äußerungen vordringen. Da dieser Kern, das System der grammatischen Regeln, als Bauprinzip in jeder Äußerung wirksam ist, benötigt die Analyse grundsätzlich nur einen Fall aus der Vielzahl sprachlicher Daten. Die empirische Analyse kann sich auf die extensive Regelrekonstruktion weniger Fälle beschränken. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Form der empirischen Analyse nur über unzureichende Überprüfungsmöglichkeiten verfügt. Auch diese Form der Hypothesenbildung kann bereits durch einen einzigen widersprechenden Fall falsifiziert werden.
4.2.3 Die Theorie der objektiven Bedeutung sozialen Handelns von George Herbert Mead Ein weiterer theoretischer Eckpfeiler der objektiven Hermeneutik ist der Rückgriff auf die Meadsche Theorie der objektiven Bedeutung sozialen Handelns, mit der die soziale Konstituiertheit des Subjekts und die intersubjektive Bedeutung des Handelns untermauert wird. Bei der Entwicklung seiner Theorie wurde Mead zum einen von den idealistischen Philosophien des 19. Jahrhunderts und zum anderen von der Evolutionstheorie des Charles Darwin beeinflußt. Die idealistischen Systeme betonen die Rolle des handlungsfähigen Subjekts, dessen individuelles Handeln aber nur im Rahmen der gesellschaftlichen Zusammenhänge zu begreifen sei. Mead übernimmt ihre Sicht der Rolle des Subjekts, aber im Unterschied zu ihnen setzt er die Vernunft als Basis des Erkennens und des Handelns ein. Zum anderen überträgt Mead das Evolutionskonzept Darwins auf menschliche Gesellschaften, d.h. er bezieht in den evolutionären Prozess die Entwicklung von Institutionen und Gesellschaften mit ein. Dieses Konzept ermöglicht es ihm, die Probleme der Autonomie, Freiheit und Innovation unter evolutionären und sozialen Kategorien zu fassen.
4 Das Konzept der objektiven (strukluralen) Hermeneutik
221
Jedoch läßt sich auf der menschlichen Stufe die Evolution durch intelligentes Handeln lenken. Dies wird ermöglicht durch die menschliche Fähigkeit zur symbolischen Darstellung. Meads zentrale These ist, dass die Handlung das Verhältnis zwischen Individuum und Umwelt bestimmt. Dabei wird das Handeln, das auf das Ich bezogen ist, zum integralen Bestandteil einer Handlung. Handeln ist bei Mead, obwohl es auf das Nicht-Ich zielt, immer auf das eigene Ich zurückbezogen. Diese Rückbezogenheit basiert vor allem auf der Sprache und entwickelt sich im Verlauf der Sozialisation, in dem das Subjekt die Fähigkeit zum "role-taking" erwirbt, und die schließlich zur "Ich-Identität" fuhrt. Die menschliche Wahrnehmung ist für Mead eine komplizierte Tätigkeit, in deren Verlauf man auf Reize selektiv reagiert und diese symbolisch unter Bezug auf das eigene Ich interpretiert. Die Einbettung der Wahrnehmung in die Handlung und deren Verlauf, der durch die Aktionen und Reaktionen der Interagierenden bestimmt wird, bezeichnet Mead als den "Dialog der Gesten". Für die menschliche Interaktion ist charakteristisch, dass die Bedeutung der Gesten angezeigt wird. Wenn die Bedeutung der Gesten für uns und für andere identisch ist, handelt es sich um eine "signifikante Geste" oder um ein "signifikantes Symbol". Die Sprache wird zum Träger dieser "signifikanten Symbole". Wichtig ist, dass der Bedeutungsinhalt im Verlauf des kooperativen Gruppenhandelns entsteht. Damit entwickelt die menschliche Gruppe ihr eigenes System signifikanter Symbole, das für alle Nichtmitglieder gültig ist und im Zentrum der Gruppenaktivitäten steht. Die Gruppenmitglieder sind dadurch fähig, ihr Handeln aus der Perspektive der anderen zu betrachten, zu interpretieren und zu beurteilen. Die Symbole, die im Verlaufe des Gruppenlebens entwickelt wurden, werden dabei von den Mitgliedern internalisiert und beeinflussen ihre individuellen Handlungen (vgl. Mead 1975 , S. 85 ff.). Beim Denken oder bei geistiger Tätigkeit erfolgt der symbolische Dialog der Gesten nicht zwischen zwei wirklichen Personen, sondern "innerhalb" einer Einzelperson. Indem sich diese Person die Standpunkte anderer Personen vorstellt, ist sie fähig, die Konsequenzen der von ihr geplanten Handlung zu beurteilen. Dieses Subjekt ist in der Lage, die Ausfuhrung von Handlungen so lange aufzuschieben, bis es die Bedeutungen und die Konsequenzen des von ihm geplanten Tuns geprüft hat: In diesem Prozess muss es zugleich sein eigenes Subjekt und Objekt sein. Dies ist aber nur möglich, wenn das Individuum aus sich "heraustritt" und sich von außen betrachtet. Die Fähigkeit, sich der eigenen Person gegenüber in die Rolle anderer zu versetzen und verschiedene Standpunkte nicht nur auf sich selbst zu beziehen, sondern sie zu einem System auszugestalten, erwirbt das Kind im Verlauf der Sozialisation. Mead bezeichnet dieses verallgemeinerte System von Einstellungen als den "generalisierten Anderen". So wird der "generalisierte Andere" zum Repräsentanten der Gesellschaft im Individuum. Das Individuum ist fähig, sein Verhalten so zu organisieren, dass es selbst bei Abwesenheit anderer berücksichtigt, welche Reaktionen es von ihrer Seite zu erwarten hätte (vgl. ebd., S. 241 ff.).
222
/// Methoden / Praxisteil
4.3
Bezugspunkte der objektiven Hermeneutik zu den Entwicklungstheorien des Subjekts
4.3.1
Die soziale Konstituiertheit des Subjekts und die "latente" Sinnstruktur
Das Konzept der objektiven Hermeneutik setzt voraus, dass es eine Dialektik zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und individuellem Dasein gibt. Dabei wird das Individuum in seiner Qualität durch die Gesellschaft und umgekehrt bestimmt, daraus ergibt sich gegenseitig wieder eine neue Qualität. Jedoch geht die Strukturiertheit der Sozialität der Konstitution des Subjekts voraus und liegt ihr zugrunde, denn die Wirklichkeit ist gesellschaftlich konstruiert, sie ist "vorgefertigt" durch die Gesellschaft. Die Strukturen des Subjekts sind das Ergebnis einer Rekonstruktion, die es an der Wirklichkeit der Gesellschaft vornimmt. Die Simistrukturen, nach denen das Subjekt handelt, sind Bestandteile der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen und existieren schon vor ihm. Meist sind sie ihm nicht bewußt. Trotzdem "wirken" sie, d.h. sie sind latent. Diese objektiven Sinnstrukturen sind das Ergebnis des Sozialisationsprozesses und bestimmen unser Handeln. "Die latenten Sinnstrukturen einer Interaktion werden konstituiert irn Zusammenspiel aller Regeln, die an der Erzeugung des Textes beteiligt sind. Es sind dies die universellen und einzelsprachspezifischen Regeln der sprachlichen Kompetenz auf den Ebenen der Syntax und der Phonologie, die Regeln einer kommunikativen oder illokutiven Kompetenz, die etwa in einer Universalpragmatik oder im Rahmen der Sprechakttheorie zu bestimmen wären, die universellen Regeln einer kognitiven und moralischen Kompetenz und die das sozio-historisch spezifische Bewußtsein des sozialisierten Subjekts konstituierenden institutionalisierten Nonnen, lebensweltspeziflschen Typisierungen und Deutungsmuster - also Regeln unterschiedlichen Typs und unterschiedlicher gattungsgeschichtlicher oder historischer Reichweite der Geltung" (Oevermann 1983a, S. 104). Aus dieser Beschreibung der latenten Sinnstrukturen ergibt sich, dass sie nicht auf subjektive Intentionen oder Konstitutionsleistungen zurückgeführt werden können, sondern - ausgehend von den Theorien Chomskys und Meads - als regelerzeugte überindividuelle Gebilde angesehen werden müssen. Dabei werden zur Basis der latenten Sinnstrukturen die universell geltenden Regeln, z.B. die kulturellen Universalien der Grammatikalität, der Vemünftigkeit usw. Diese Bestimmung der latenten Sinnstrukturen fuhrt zu der für die objektive Hermeneutik zentralen Unterscheidung von latenten Sinnstrukturen einerseits und der erst mit Bezug darauf erschließbaren Ebene der Realität von Subjektivität konstituierenden mentalen Repräsentanzen andererseits. Wesentlich für die objektive Hermeneutik ist, dass diese beiden Gegenstandsbereiche nicht einfach verschieden nebeneinander, sondern in einem asymmetrischen Bedingungsverhältnis zueinander stehen. Bevor Schlüsse über
4 Das Konzept der objektiven (strukturalen) Hermeneutik
223
Bewußtseinslagen und innere Realitäten begründet werden können, müssen zuvor die latenten Sinnstrukturen der sozialen Abläufe rekonstruiert worden sein. Entsprechend postuliert Oevermann zwei getrennte Realitätsbereiche der sozialen Interaktion: Zum einen die Realität der mentalen, intentionalen Repräsentanzen. Sie beeinhaltet die Vorstellungen des Subjekts, die von ihm auch beabsichtigt sind. Sie sind dem handelnden Subjekt bewußt, es kann sie artikulieren, es meint, nach ihnen sein Handeln auszurichten. Zum anderen die Realität der "latenten Sinnstrukturen" und der "objektiven Bedeutungen". Sie müssen dem handelnden Subjekt nicht bewußt sein, können ihm aber prinzipiell bewußt werden. Dies wäre der Idealfall eines vollkommen aufgeklärten Subjekts. "Mit dem Begriff von den latenten Sinnstrukturen werden objektive Bedeutungsmöglichkeiten als real eingeführt, unabhängig davon, ob sie von den an der Interaktion beteiligten Objekten intentional realisiert wurden oder nicht" (Oevermann u.a. 1979, S. 381). Die Identitätsformation entsteht in der Auseinandersetzung des Subjekts mit der sozialen Realität. Aus den verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten wählt das Subjekt aus, diese Auswahl bestimmt sein individuelles Verhalten und der Auswahl-Modus definiert seine Individualität. Damit konstituieren die latenten Sinnstrukturen die objektiv-interaktive Bedeutung des Handelns, sie bilden als Erzeugungsschemata die Grundlage der sozialen Realität. Sie stellen ein Reservoir von Bedeutungsmöglichkeiten in der sozialen Interaktion dar, die jedoch von den Handelnden nur in subjektiver Auswahl benutzt werden. Im Alltagshandeln führt der Handlungsdruck dazu, dass der Handelnde nicht alle Bedeutungen und auch nicht die Bedeutungsstruktur seines Handelns bewußt erfassen kann. Die Logik und Pragmatik des Alltagshandelns verlangt nach Abkürzungsstrategien bei der Sinnrepräsentation. Dem handelnden Subjekt ist deshalb immer nur ein Teil der Bedeutungsmöglichkeiten seines Interagierens bewusst.
4.3.2
Der Regelbegriff der objektiven Hermeneutik
Den Gegenstand der methodischen Operation der Sinnauslegung bildet für die strukturale Hermeneutik immer die objektive Bedeutungsstruktur einzelner Handlungen/ Äußerungen oder die latente Sinnstruktur einer Sequenz von Äußerungen/Handlungen. Dabei werden die Regeln, die in der Realität an der Erzeugung der Sinnstrukturen beteiligt waren und über die wir alle per Sozialisation verfugen, zum Kriterium für die Gültigkeit der Auslegung dieser Sinnstrukturen. Nur weil diese Regeln in der sozialen Realität gelten, können sie auch methodologisch in Anspruch genommen werden. Dabei käme ein Zweifel an der Geltung einer
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III Methoden/Praxisteil
ein Zweifel an der Geltung einer Interpretation, die im Rückgriff auf geltend angenommene Regeln entstand, einem Zweifel an der Möglichkeit der sozialen Verständigung gleich, für deren Erzeugung die Geltung der Regeln unterstellt wurde, denn die Sinnstrukturiertheit von sozialen Abläufen und Objektivationen setzt regelgeleitetes Handeln voraus. Die Existenz und die Geltung dieser Regeln und damit die Regelgeleitetheit des Handelns können - nach Oevermann - nicht in Zweifel gezogen werden. Nur die Explikation der Regeln in der Rekonstruktion kann in Frage gestellt werden. Ausgehend von der Grundannahme der Regelgeleitetheit sozialen Handelns bedarf die strukturale Hermeneutik aber zur Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen wie auch zur Begründung der Geltung dieser Rekonstruktion eines gesicherten Wissens von den geltenden Regeln. So kommt Oevermann dazu, Typen von Regeln zu unterscheiden und sie nach dem Grad der Reichweite ihrer Geltung zu differenzieren. Er unterscheidet "zwischen den universellen Regeln mit nicht kritisierbarem Gehalt über die universellen ethischen Maximen bis zu den lebensweltlich konkreten sozialen Normen" und nimmt dabei "eine gleitende Skala abnehmender Reichweite der Geltung verschiedener Typen von Regeln" an (Oevermann 1986, S. 32). a)
Universelle Regeln
Oevermann bezeichnet die universellen Regeln, die die größte Reichweite haben, da auf ihnen die Regelgeleitetheit sozialen Handelns basiert, auch als "kulturelle Universalien". Bei der Beschreibung dieser kulturellen Universalien bezieht er sich auf den Regelbegriff der generativen Linguistik Noam Chomskys. Chomsky nimmt die Existenz universalgrammatischer Regeln an. Er führt die Geltung dieser Regeln auf die Annahme einer universellen Strukturiertheit des menschlichen Spracherwerbsapparates zurück. Nur durch die Annahme der universellen Strukturiertheit des Spracherwerbsapparates kann erklärt werden, dass alle Menschen - zwar unter unterschiedlichen Bedingungen - ihre Muttersprache so gründlich beherrschen, dass eine soziale Verständigung gewährleistet ist. Auch die Fähigkeit des Subjekts, das einzelsprachspezifische und identische Regelwissen zu erwerben, verweist auf die universelle Strukturiertheit des Spracherwerbsapparates. Die Theorie der linguistischen Kompetenz, die die Existenz universeller Regeln voraussetzt, ist methodologisch abhängig von der Bedingung, dass grammatische von ungrammatischen Sätzen auf der Basis eines intuitiven Urteils der Grammatikalität unterschieden werden können. Die so gewonnenen Sätze werden zur unabhängigen Datenbasis für die Rekonstruktion der Regeln und dienen deren Überprüfung. Auf dieser Basis erfolgt die Ausarbeitung einer überprüfbaren Theorie, die zugleich in der Explikation die Begründung jener Kompetenz liefert, deren "naturwüchsige Funktion als intuitives Urteil der Angemessenheit und Wohlgeformtheit von Ausdrücken bzw. Handlungen in
4 Das Konzept der objektiven (strukturellen) Hermeneutik
225
die Konstitution der Datenbasis schon eingegangen ist" (ebd., S. 26/27). Oevermann bezeichnet dieses Verfahren als das Normal-Modell eines hermeneutisch-rekonstruktionslogischen Strukturalismus von Erfahrungswissenschaft und kritisiert damit gleichzeitig die Vorgehens weise der herkömmlichen empirischen Sozialforschung. Zusammenfassend lassen sich als Kriterien der universellen Regeln festhalten: Die universellen Regeln sind ihrem materiellen Gehalt nach nicht kritisierbar; sie stellen die Bedingung der Möglichkeit von Praxis dar, sind aber nicht Erzeugnisse der Praxis. Die universalgrammatischen Regeln ermöglichen die Annahme des unabhängigen intuitiven Grammatikalitätsurteils. Es kann "zwar durch die mit einem 'tacit knowledge' universeller Regeln gefüllte linguistische Kompetenz theoretisch aufgehellt werden... gleichwohl nie restlos erfahrungswissenschaftlich in diese Explikation aufgehen" (ebd., S. 26). Oevermann beschränkt die Regeln, deren Universalität mit der Nicht-Kritisierbarkeit ihres materialen Gehalts zusammengeht, nicht nur auf die universalgrammatikalischen Regeln Chomskys. Er vermutet diesen Regeltypus ebenso bei den Regeln des logischen Schließens, z.B. ist die Regel der Deduktion nicht zu kritisieren, ohne ihre materiale Geltung vorauszusetzen. Als weitere universelle Regeln nennt er die Regeln der "Logizität, Moralität und Vernünftigkeit" (Oevermann 1981, S. 12). Sie sind "ihrerseits nicht mehr kritisierbar", da sie die "universell geltenden, gewissermaßen als Struktur des menschlichen Geistes real existierenden Regeln" darstellen (ebd.). Jedoch ist zwischen der Geltung der Regeln selbst und der Geltung einer empirischen Rekonstruktion dieser Regeln zu unterscheiden. Der Versuch, die Geltung dieser Regeln in Frage zu stellen, gerät immer zum Beweis ihrer Geltung, da der Typ dieser universellen Regeln mit der Bedingung der Möglichkeit sprachlichen Ausdrückens zugleich auch die Bedingung der Möglichkeit der Kritik darstellt. Damit ist nur die Rekonstruktion dieser Regeln, nicht aber ihre Geltung kritisierbar. b)
Universell geltende ethische Normen
Bei den Regeln dieses Typs ist sowohl die Rekonstruktion als auch das Rekonstruierte kritisierbar. Die Geltung dieser Regeln kann diskutiert werden. Oevermann nennt als Regeln dieses Typs die 10 Gebote des Alten Testaments. Als ethische Prinzipien können sie zum Gegenstand einer rationalen Kritik werden, da ihre Geltung nicht Voraussetzung für die Möglichkeit zur Kritik ist. Die universell geltenden Normen sind als Prinzipien zwar nicht für das Handeln konstitutiv, aber im Bewußtsein der Subjekte als zu beachtende Normen vorhanden. Doch ist es möglich, diese Normen abzulehnen oder sie nicht zu praktizieren, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Dies ist bei den "kulturellen Universalien" nicht möglich. "Freiheit" von ihnen kann das Subjekt nicht erlangen, da es in diesem Fall nur noch bedeutungsloses Handeln produzieren würde. Die univer-
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seilen Regeln sind zwar "unformulierbar", trotzdem "kennen" wir sie und können sie bei der Interpretation heranziehen. Die beiden Klassen von Regeln - die universalgrammatikalischen Regeln und die universellen ethischen Normen - haben die größte Geltungsreichweite, da sie die Bedingung der Möglichkeit für soziales Handeln darstellen. Sie setzen das Bewußtsein von der Regel als Regel, ein "tacit knowledge" von der Regelhaftigkeit voraus. In Anlehnung an die Theorie der objektiven Bedeutung sozialen Handelns von George Herbert Mead nimmt Oevermann eine noch allgemeinere Ebene der Strukturierung sozialen Handelns an. Die Regelgeleitetheit des sozialen Handelns resultiert für ihn aus der objektiven Strukturiertheit von Sozialität. Die objektive Strukturiertheit von Sozialität wird zur Basis der Entwicklung des Regelapparates von Wahrnehmung, Sprache, Logik und Moral. So ergibt sich für die beiden Bereiche - den Bereich des sozialen Handelns und den Bereich der Sprache - eine gleitende Skala abnehmender Reichweite der Geltung von verschiedenen Typen von Regeln. Im Bereich der Sprache haben die universalgrammatikalischen Regeln die größte Reichweite, während die Regeln einer Einzelsprache schon eine geringere Reichweite aufweisen. Im Bereich des sozialen Handelns zeigt sich von den lebensweltlich sozialen Normen über die universellen ethischen Maximen zu den universellen Regeln mit nicht-kritisierbarem Gehalt eine zunehmende Reichweite der Geltung der verschiedenen Typen von Regeln. Sie alle sind als bedeutungsgenerierende Regeln bei der Rekonstruktion zu berücksichtigen. Die Erscheinungsform der universellen Regeln mit nicht-kritisierbarem Inhalt ist immer historisch spezifisch geprägt. Am Beispiel der Sprache erläutert Oevermann die Dialektik von Universalität und Historizität. Die Entfaltung der linguistischen Kompetenz eines Subjekts zeigt sich immer im historisch konkreten Material einer Einzelsprache. Jedoch ist diese Entfaltung wiederum auf die universalen Regeln des Spracherwerbsapparates angewiesen (vgl. Oevermann 1986, S. 30 ff.). c)
Konsequenzen für die Rekonstruktion
In der Rekonstruktion können die generierenden Regeln nicht selbst angegangen werden, sondern man versucht, gedankenexperimentell mit ihnen zu operieren. Dies geschieht durch das Finden von Lesarten, die nach dem Urteil der Angemessenheit zum Text passen könnten. Dadurch werden die Erfullungsbedingungen der in Anspruch genommenen generativen Regeln expliziert. Danach wird die gedankenexperimentell erstellte Reihe der Erfüllungsbedingungen mit dem tatsächlichen Kontext des Textes konfrontiert. Für die Begründung der Geltung der Interpretation ist dabei die Richtigkeit der gedankenexperimentellen Konstruktion der Erfüllungsbedingungen wesentlich.
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Dabei wird eine geltende Regel immer nur implizit in Anspruch genommen und ihr Geltungsbereich wird indirekt durch die gedankenexperimentelle Explikation der von ihr generierten Erflillungsbedingungen abgesteckt. Die Grenzen dieses Geltungsbereichs kann man - dies geschieht vor allem in strittigen Fällen - weiterhin konkret bestimmen, indem man zum interpretierenden Text nicht zusammenpassende Kontextbedingungen als Kontrastfolie zu den Erflillungsbedingungen ebenfalls gedankenexperimentell erstellt. Ziel dieses Verfahrens ist es, "Trübungen im konkreten Urteil der Angemessenheit durch Verdeutlichung, Kontrastierung und Focussierung auf fragliche Äußerungen oder Textbestandteile zu beseitigen" (ebd., S. 40). Das beschriebene Verfahren der Geltungsbegründung läßt sich am besten innerhalb einer Interpretationsgemeinschaft realisieren. Jedoch ist dies nicht prinzipiell notwendig.
4.3.3
Die TextfÖrmigkeit sozialer Wirklichkeit
Nur die objektiven Sinnstrukturen, die in den Texten nach generativen Regeln konstituiert werden, sind Gegenstand der objektiven Hermeneutik. Dabei sind die Texte, die die Protokolle konkreter sozialer Abläufe darstellen, materieller Träger der latenten Sinnstrukturen. Um als Grundlage der Analyse zu dienen, sind die Protokolle für die objektive Hermeneutik nicht an die Bedingung der Sprachlichkeit gebunden. Ein Protokoll kann in sprachlicher oder nicht-sprachlicher Form vorliegen, da die Sprache für Oevermann nur ein Medium der symbolisch interpretierbaren Realisierung von Handlungen unter mehreren verfugbaren Medien ist. Im Rückgriff auf die konstitutionstheoretisch fundamentale Ebene der objektiven Hermeneutik ist die Sprache aber das System, das die Regeln und Elemente der Symbolisierung und des Ausdrucks enthält. Auf dieser Ebene wird die Bedeutungsfunktion der Sprache konstituiert und dadurch die sinnstrukturierte soziale Handlung erst ermöglicht. Nur unter dieser Prämisse können andere, nicht-sprachliche Ausdrucksformen sinnstrukturierte Handlungen realisieren. Nichtsprachliche Ausdrucksformen sind also auf die vorgängige Struktur der Sprache und die dadurch erst mögliche Konstitution von Bedeutungen angewiesen. Ohne die "Benutzung" der Bedeutungsfünktion der Sprache ist es nicht-sprachlichen Ausdrucksformen unmöglich, sinnstrukturierte Handlungen zu konstituieren. Dieses konstitutionslogische Verhältnis von Sprache und Handlung einerseits und von Sprache und nichtsprachlichen Formen andererseits begründet den weiten Textbegriff der objektiven Hermeneutik. "Denn dieses konstitutionslogische Verhältnis bringt es mit sich, dass prinzipiell jeder vorsprachlich realisierte Ausdruck in seiner objektiven Bedeutungsstruktur versprachlicht werden kann. Die Versprachlichung bedeutet hier nur eine andere Realisierung dessen, was als sinnstrukturierte Handlung und mit Bezug auf sie grundsätzlich ohnehin durch Sprache konstituiert war. Deshalb sind wir berechtigt, jedes sinngenerierende Protokoll als Text zu behandeln und dieses zu der für die sozialwis-
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/// Methoden/ Praxisteil
senschaftliche Methodologie insgesamt elementaren Annahme der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit überhaupt zu verallgemeinern" (ebd., S. 46/47). Die Protokolle der sozialen Abläufe haben in der objektiven Hermeneutik einen besonderen Stellenwert. Sie sind nicht nur "Datenträger" sondern repräsentieren ebenso die Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit. Für Oevermann ist die soziale Wirklichkeit außerhalb von Protokollen methodologisch nicht greifbar. Die Wirklichkeitserfassung, die zum Gegenstand der Sozialwissenschaft wird, kann nur in Form eines Protokolls der sozialen Wirklichkeit geschehen. Entsprechend kann sich der Sozialwissenschaftler methodologisch nicht aus der textförmig protokollierten Wirklichkeit hinausbegeben. Oevermann unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen "Protokoll" und "Text". Jedoch ist diese Unterscheidung eher terminologisch, um damit deutlich zu machen, dass im Begriff des "Protokolls" der Akzent auf dem methodentechnischen Problem der Erzeugung der Datenbasis liegt, während der Begriff des Textes auf die Operationen zur Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen zielt. Die Annahme der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit ist für die objektive Hermeneutik grundlegend und verweist auf das dialektische Verhältnis von Lebenspraxis und Ausdrucksgestalt. Die Lebenspraxis als der Bereich der autonomen Entscheidungen der Subjekte wird in Form des Protokolls zur gültigen Ausdrucksgestalt ihres Handelns und ihres Lebens. Der Sozialwissenschaftler kann die Lebenspraxis immer nur in den textförmigen Ausdrucksgestalten fassen. Er hat keinen direkten Zugriff auf die Unmittelbarkeit der Erfahrung der Lebenspraxis, d.h. auf die außerhalb der Textförmigkeit liegende Schicht sozialer Wirklichkeit, und er bleibt methodisch auf die Vermittlung durch die Textförmigkeit angewiesen (vgl. Oevermann 1986, S. 49).
4.4
Das Verfahren der objektiven Hermeneutik als Kunstlehre
Auch im Alltag interpretieren und versuchen wir, Bedeutungen zu entschlüsseln: Interpretationen sind nicht auf wissenschaftliche Verfahren beschränkt. Doch steht das Interpretieren im Alltagshandeln unter praktischem Handlungsdruck und zielt darauf, möglichst schnell und treffsicher eine richtige Vermutung über die Absichten des Interaktionspartners zu erhalten. Im Alltagshandeln versuchen wir, die wahrscheinlichste Lesart (Deutung) möglichst rasch zu finden. Dabei greifen wir auf unsere Erfahrungen aus ähnlichen Situationen zurück und versuchen, durch ein Abkürzungsverfahren die aktuelle Situation in die bereits entwickelte Typologie von Situationen einzuordnen. Oevermann bezeichnet dies als die "das praktische Handeln ökonomisierenden Faktoren" (Oevermann u.a. 1979, S. 386). Dem steht die Methode der objektiven Hermeneutik diametral entgegen. Sie ist nicht rasches Erkennen auf den ersten Blick und sie muss gelernt werden. Oevermann be-
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zeichnet sie deshalb als "Kunstlehre", denn "im praktischen Handeln müssen Ziele realisiert werden, in der objektiven Hermeneutik müssen Strukturen möglichst differenziert zur Explikation gebracht werden" (ebd.). Er beschreibt das sinnauslegende Verfahren der objektiven Hermeneutik als "Kunstlehre", um damit deutlich zu machen, dass dieses Verfahren auf die intuitive Kraft des Verstehens zielt und dass es nur Zugangsmöglichkeiten für die Erkenntnisgewinnung aufzeigt. Entsprechend bietet dieses Konzept keine detailliert beschriebene Methodik, sondern lediglich einen methodologischen Rahmen.
4.4.1
Das Regelwissen als Basis der Rekonstruktion
Basis der Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen ist "ein intuitives Regelwissen, über das wir naturwüchsig alle verfugen, das aber einen radikalen Perspektivenwechsel von einem subsumtionslogischen Vorgehen zu einem rekonstruktionslogischen abfordert" (Oevermann 1986, S. 19). Dieses intuitive Regelwissen bezieht sich auf die Grundannahme der Regelgeleitetheit sozialen Handelns. Das Regelsystem, das die Bedeutungen der Handlungen der Subjekte erst konstituiert, entwickelt sich nach Mead in der Pragmatik einer Interaktionsgemeinschaft. Es existiert objektiv als kulturell Allgemeines in Gestalt der Regeln der Sprache und des Handelns in sozialen Kontexten. Dabei kann sich die Bedeutung der Begriffe mit ihren Handlungskonsequenzen ändern, aber sie sind uns als Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft bekannt und ihr objektiven Sinn ist für uns deshalb nachvollziehbar. Das intuitive Regelwissen oder die "realen Kompetenzen des soziohistorischen, sozialisierten Mitglieds einer Lebenswelt" bilden die Grundlage für die Interpretation und sollen möglichst "ungetrübt" benutzt werden (Oevermann u.a. 1979, S. 388). Bei der Entwicklung der "Kunstlehre" müssen nun Vorkehrungen getroffen werden, die zum einen eine möglichst geringe "Trübung" der Kompetenz des Interpreten ermöglichen. Zum anderen müssen die Faktoren, die eine Differenz zwischen latenter Sinnstruktur und ihrer subjektiv-intentionalen Repräsentanz bedingen, also Faktoren, die zur Restriktion der Sinninterpretationskapazität fuhren, minimiert werden. Als solche Faktoren nennt Oevermann den altersmäßigen Entwicklungsstand des Interpreten, die pathologische Beeinträchtigung der Sinninterpretationskapazität und die ökonomisierenden Faktoren des praktischen Handelns. Der erste Typ von Faktoren (Restriktionen der Sinninterpretationskapazität aufgrund des altersmäßigen Entwicklungsstandes) erfordert, dass nicht Subjekte, deren SozialisationsProzess noch nicht abgeschlossen ist, die Interpretation von Interaktionstexten übernehmen können. Die Forderungen, die sich aus den pathologisch restringierenden Faktoren ergeben, fuhren dazu, dass der Interpret nach Möglichkeit nicht so ausgeprägt neurotisch sein sollte, dass seine Befähigung zur intuitiv angemessenen Erfahrung sozialer Sachverhalte dar-
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unter leidet. Um die einzelnen, individualspezifischen Beschränkungen der Interpreten auszugleichen, sollte die Interpretation möglichst auch in einer Gruppe erfolgen. Der dritte Typ von Faktoren fuhrt zu einer Reihe von bedeutsamen Vorkehrungen. Am wichtigsten ist das Prinzip der extensiven Auslegung des Sinns von Interaktionstexten. Hier sollen gerade nicht möglichst treffsicher und möglichst schnell die Absichten des Handlungspartners entschlüsselt, sondern möglichst ausfuhrlich, d.h. unter Einschluß auch der "unwahrscheinlichen" Lesarten, möglichst alle Vorannahmen des Textes erfaßt werden. Ein weiteres wichtiges Prinzip ist der Grundsatz, für jedes im Text enthaltene Element eine Motivierung zu explizieren. Textelemente sollen nie als Produkte des Zufalls angesehen werden. Gerade in der Motivierung eines scheinbar belanglosen Elementes zeigt sich häufig später ein Ansatz für eine zentrale Interpretationslinie. Das Verfahren der objektiv hermeneutisehen Textinterpretation erfordert, dass man den ausgewählten Textausschnitt auch vollständig in seiner Totalität interpretiert. Mit der "Kunstlehre" formuliert Oevermann ein Verfahren, das sichern soll, dass der idealisierte Grenzfall eines ungetrübten, vollständig explizierten Sinnverständnisses sozialer Abläufe und ihrer Objektivationen möglichst stark angenähert erreicht werden kann. Die Eigentümlichkeit der objektiven Hermeneutik besteht darin, dass sie als Forschungspraxis denselben Restriktionen ausgesetzt ist wie die Handlungspraxis. Das einzige systematische Mittel, das ihr in der methodischen Anstrengung zur Verfugung steht, diesen Restriktionen zu entgehen, besteht darin, sich handlungsentlastet zu halten, d.h., in der Operation des Rekonstruierens auf der Handlungsebene selbst unpraktisch zu werden.
4.4.2
Die Sequenzanalyse
Die objektive Hermeneutik insistiert insbesondere auf die methodische Absicherung ihres Vorgehens. Oevermann fuhrt in seinen Schriften eine Reihe von Schritten auf, die für die Analyse der latenten Sinnstrukturen wichtig sind. Im Verlauf der Rekonstruktion wird versucht, sukzessiv zum objektiv Besonderen, zur spezifischen Sinnstruktur, die den Text als Ganzes erschließt, vorzudringen. Dabei ist es nicht nötig, längere Sequenzen zu analysieren, es genügen nur wenige, z.B. drei Äußerungen, die zum Gegenstand der Untersuchung werden, da aufgrund des vorausgesetzten strukturtheoretischen Paradigmas in jedem Teil die Struktur des Ganzen enthalten ist (vgl. Oevermann u.a. 1979, S. 404 f.).
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231
Die Sequenzanalyse impliziert folgendes Vorgehen: Die erste Sequenz der Interaktion wird möglichst extensiv gedeutet. Der Interpret muss alle Lesarten aufstellen, die die vorliegende Äußerung oder den Interakt als "pragmatisch angemessen, sozial akzeptabel oder vernünftig" erscheinen lassen. Dabei soll der Interpret möglichst auch unwahrscheinliche Lesarten entwickeln, ohne dabei sein Kontextwissen vorab mit einzubeziehen. Bei dieser Aufstellung der Lesarten werden nicht nur die universalen Kompetenzen des Interpreten gefordert, sondern auch seine Normalitäts- und Angemessenheitsentwürfe. Die entwickelten Lesarten werden mit dem faktischen Text konfrontiert. Dabei stellt man fest, dass häufig mehrere Lesarten passen, da sie sich nicht alle gegenseitig ausschließen. Lesarten, die zum Text nicht passen, werden hier ausgeschieden. Lesarten müssen grundsätzlich so angelegt sein, dass sie auf generelle Aussagen hinauslaufen. Erst wenn eine sinnvolle, generelle Aussage nicht gefunden werden kann, darf auf fallspezifische Kontextelemente zur Erklärung zurückgegriffen werden. Dabei gehört die Erklärung für diese fallspezifische Abweichung von den Normen mit zur Interpretationsaufgabe. Ausgeschlossen bleiben Spekulationen über das Innere des Textverfassers. Die an der ersten Sequenz aufgestellten Lesarten werden nun an die zweite Sequenz herangetragen und auf ihre Verträglichkeit hin überprüft. Auf diese Weise werden die Lesarten von Sequenz zu Sequenz immer weiter eingeschränkt, differenziert, neue Lesarten werden aufgenommen, bis eine Fallstruktur sichtbar wird. Im Laufe der Sequenzanalyse ergibt sich ein innerer Kontext, der die Aufstellung neuer Lesarten für spätere Sequenzen leichter und treffsicherer macht. "Je weiter die sequenzielle Analyse voranschreitet, desto schärfer konturiert sich die Selektivität der Fallstruktur vor der Folie der ursprünglich zu Beginn einer Szene noch offenstehenden und mit der allgemeinen latenten Sinnstruktur des Anfangsaktes gedeckten möglichen Interpretationen des Falles" (ebd., S. 421). Die Sequenzanalyse wird in dieser Weise so lange durchgeführt, bis eine Lesart gefunden ist, die den gesamten Interaktionstext sinnvoll erschließt. Es folgt die Prüf- oder Falsifikationsphase. Die rekonstruierte latente Sinnstruktur des Falles wird an späteren Sequenzen des Textes überprüft und es wird versucht, sie zu falsifizieren. Dafür werden die Sequenzen so ausgewählt, dass sie der rekonstruierten Sinnstruktur möglichst zu widersprechen scheinen. Denn der wichtigste Grundsatz ist, dass der Text selbst als Korrekturinstanz für die Interpretation fungiert, indem man die Lesarten immer wieder überprüft.
4.4.3
Das Verfahren der Feinanalyse
Als Gerüst für das Verfahren der Analyse hat Oevermann ein System von 8 Kategorien entwickelt. Es soll dem Interpreten ermöglichen, jede Sequenz eines Textes möglichst ausfuhrlich, d.h. vollständig auf allen 8 Ebenen zu interpretieren. Die in diesem Katego-
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III Methoden /Praxisteil
riensystem vorgenommenen ausführlichen Interpretationen von Texten nennt Oevermann "Feinanalyse". Im Folgenden werden die Ebenen der Feinanalyse dargestellt. Dabei wird auf den "Exkurs zum Verfahren der Feinanalyse" zurückgegriffen, der in dem Aufsatz "Die Methodologie einer objektiven Hermeneutik und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften" publiziert wurde (ebd., S. 354). In diesem Aufsatz werden - das einzige Mal - die Ebenen der Feinanalyse getrennt dargestellt und ausgeführt, welche Analyseschritte auf den einzelnen Ebenen erfolgen sollen. In seinen späteren Schriften bezieht sich Oevermann zwar auf das Verfahren der Feinanalyse, doch handhabt er die Methode in seinen eigenen Interpretationen sehr locker und offen. Ebene 0: Es erfolgt die Explikation des dem Interakt unmittelbar vorausgehenden Kontextes. Der "Systemzustand" vor dem Interakt soll aus der virtuellen Sicht desjenigen, der als nächster interagiert, erfaßt werden. Welche sinnvollen Handlungsalternativen stehen ihm zur Verfügung? Diese sinnvollen Alternativen können expliziert werden. Später unterscheidet Oevermann nochmal zwischen der Explikation des Globalkontextes und des unmittelbar vorausgehenden Kontextes. Als Interakt beschreibt er die "elementarste Einheit menschlichen Handelns und damit auch die kleinste analytische Einheit der Handlungstheorien" (ebd., S. 379). Ebene 1: Auf dieser Ebene erfolgt die Paraphrase der möglichen Bedeutungen des Interakts (der Aussage). Grundlage der Paraphrasierung ist das Verständnis des Interakts/der Aussage, das ein als "normal" betrachteter, kompetenter Interpret entwickelt. Er (oder die Interpretengruppe) versucht, sich zu der Bedeutungsvielfalt des gegebenen Interakts vorzutasten, wobei er seine "kommunikative Kompetenz" und seine "Sinninterpretationskompetenz" benutzt. Die Alltagskompetenz (die "Regeln, die eine linguistische Pragmatik dereinst als unsere Kompetenz in Wahrheit ausmachend explizieren wird") (ebd., S. 397) wird benutzt, um die Interpretation "intuitiv richtig" vorzustrukturieren. Dies geschieht in Form der Entwicklung von "Lesarten". Sie sollen die möglichen objektiven Bedeutungen des Interakts erfassen. Dazu werden Geschichten über möglichst unterschiedliche Situationen entwickelt, die zum Interakt passen könnten und die seine Geltungsbedingungen erfüllen.
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Ebene 2: Hier werden die subjektiven Intentionen des Handelnden expliziert. Die Interpreten stellen Vermutungen darüber an, welche Bedeutungen das interagierende Subjekt intendierte, es "bewußt" durchsetzen wollte. Sie gehen dabei spekulativ vor und ziehen indirekte Schlüsse aus ihren Vermutungen. Oevermann betont, dass dieses spekulative Vorgehen methodisch äußerst problematisch ist. Jedoch sieht er wieder eine Parallele zum Alltagshandeln. Auch dort gehen wir spekulativ vor und ziehen indirekte Schlüsse aus den vermuteten Beweggründen, um so Aufschluß über die Intentionen des Interaktionspartners zu erhalten. Als Abgrenzungskriterium der vermuteten Intentionen nennt er "das, was ein Sprecher in der Situation, würde man ihn unmittelbar mit der Rekonstruktion seiner Interaktion konfrontieren, als ihn tatsächlich motivierend akzeptieren würde" (ebd., S. 397), wobei er auch konstatiert, dass dieses Testkriterium vermutlich nicht realisierbar sein wird. Er setzt aber die Trennbarkeit von subjektiven Intentionen und objektiven Motiven voraus und beruft sich dabei auf die Ergebnisse der Psychoanalyse. Ebene 3: Auf dieser Ebene werden die objektiven Motive expliziert. Dabei wird davon ausgegangen, dass der paraphrasierte Interakt Sinnstrukuren enthält und konstituiert, d.h. soziale Realität setzt. Die Interpretation auf dieser Ebene ist für die gesamte Analyse bestimmend. Hier wird entschieden, wieviele und welche Bedeutungsmöglichkeiten der Text zuläßt. Die Analyse wird in zwei Richtungen fortgeführt: Zunächst wird der latente Sinn, der durch die bestimmte, manifeste Symbolorganisation dem Interakt beigegeben ist und der der Intention des Textproduzenten entspricht, expliziert. Dabei geht Oevermann davon aus, dass "die symbolisch objektivierte Intention, die zum Text veröffentlichte Intention des Sprechers ... gleichsam ein Eigenleben als reale soziale Struktur" fuhrt (ebd., S. 399). Danach wird versucht, die objektiven Motivierungen zu erfassen. Voraussetzung ist, "dass nichts, auch nicht das geringfügigste Merkmal eines Interakts, zufällig erzeugt worden ist, sondern objektiv motiviert ist" (ebd.). Ebene 4: Die Funktion des Interakts hinsichtlich der Verteilung von Interaktionsrollen wird expliziert. Es wird geklärt, in welcher Weise der Interakt die Interaktionschancen der anderen Beteiligten beschneidet oder eingrenzt, indem er Reaktionen, Kommentare erzwingt. Diese Ebene wird von Oevermann als weniger relevant angesehen, während die Ebenen 0,1,2,3,6 und 7 für die Rekonstruktion am wichtigsten sind.
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/// Methoden/
Praxisteil
Ebene 5: Hier werden die individual-spezifischen Besonderheiten sprachlicher Art analysiert. Die sprachlichen Merkmale des Interakts werden auf der syntaktischen, semantischen und/oder pragmatischen Ebene untersucht. Es werden die Merkmalsausprägungen festgestellt, die für eine sprachsoziologische Analyse wichtig sein könnten. Ebene 6: Die Struktur des Interakts/der Äußerung wird auf den ganzen Fall extrapoliert. Nun ist die Rekonstruktion der objektiv-latenten Sinnstruktur möglich. Die "Kommunikationsfigur", die situationsübergreifend und unabhängig vom Inhalt die Interaktionen kennzeichnet, wird sichtbar. Der Bezug zu den anderen Analyseebenen wird hergestellt, z.B. werden die verschiedenen Lesarten der Ebene 1 überprüft. Ebene 7: Hier werden die allgemeinen Zusammenhänge expliziert. Bezüge zur Sozialisationsforschung werden deutlich. Es wird dargelegt, welche allgemeinen, sozialisationstheoretischen Zusammenhänge sich am analysierten Beispiel feststellen, belegen oder problematisieren lassen. Zusammenfassend ist zu sagen, dass diese Entfaltung der Ebenen der Feinanalyse zu dem Mißverständnis führte, es handele sich um eine Art Rezept, nach dem eine methodisch genau kontrollierbare Analyse möglich sei. Oevermann selbst warnt jedoch davor, das System der Feinanalyse als starres, systematisch begründbares Klassifikationssystem zu betrachten. Es ist nicht mehr als ein Gerüst für eine ausschließlich qualitativ beschreibende Rekonstruktion der konkreten Äußerungen, gewissermaßen eine "checklist" für den Interpreten, die nur dazu dient, dem Material in ausreichender Ausführlichkeit Fragen zu stellen. Es hat keinerlei formale Bedeutung und läßt sich auch nicht mechanisch anwenden. Vielmehr zeigt es Zugangsweisen zur Erkenntnisgewinnung auf, benutzt aber dabei die intuitive Kraft des Verstehens (vgl. ebd., S. 394).
4.4.4
Zur Geltungsbegründung von Interpretationen
Die Reflektion über die Probleme der Gültigkeit von Rekonstruktionen latenter Sinnstrukturen ergab als Konsequenz, dass eine erkenntnislogische Differenz zwischen den Verfahren des Alltagshandelns und dem Verfahren der objektiven Hermeneutik nicht gezogen werden kann, die Logik des Vorgangs ist die gleiche. Unterschiedlich ist die extensive Sinnauslegung, die nur durch die Handlungsentlastung möglich wird.
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Die objektive Hermeneutik versucht ihren Gegenstand, die latenten Sinnstrukturen, approximativ zu erfassen. Sie liefert keine eindeutige und endgültige Interpretation. Damit ist "der InterpretationsProzess also prinzipiell offen und seine Ergebnisse jederzeit revidierbar" (ebd., S. 391). Als kritisches Korrektiv dient die Diskussion innerhalb der Interpretengruppe. Die Beschränkungen eines Einzelinterpreten sollen durch den DiskussionsProzess in der Gruppe ausgeglichen werden. Die Bereitschaft der Gruppenmitglieder "geradezu streitsüchtig ihre Interpretationen möglichst lange mit Argumenten gegen Einwände aufrecht zu erhalten, damit sie, wenn sie scheitern, möglichst informationsreich scheitern", ist eine der Grundlagen für die Validität der Interpretation (ebd., S. 393). Für das Verfahren der objektiven Hermeneutik existiert eine weitergehende Geltungsbegründung, die sich aus der Bestimmung der in Anspruch genommenen generellen Regeln z.B. der Logizität, der Moralität, ergibt. Dabei haben diese der Kompetenz des Subjekts zugrundeliegenden Regeln einen transzendentallogischen Status und verweisen auf die Ebene der allgemeinen "Ausstattung" des Subjekts. Jedoch wird die konkrete Erscheinung dieser "Ausstattung", die Performanz, und ihre "Interpretation" (die eine Rekonstruktion der zugrundeliegenden Regeln ist) Gegenstand einer empirisch vorgehenden Methode. Da der Interpret über das gleiche generelle Regelsystem wie die den Text produzierenden Subjekte verfugt, ist es ihm auch prinzipiell möglich, die sinnkonstituierenden Strukturen zu rekonstruieren. Dabei zeigt das Verfahren der objektiven Hermeneutik - zurückgehend auf die Architektonik der Kompetenztheorie von Chomsky - die folgende zirkuläre Struktur: Bei der Analyse der durch Regeln erzeugten sinnstrukturierten Gebilde menschlichen Handelns müssen zunächst die regelverletzenden Exemplare von den regelentsprechenden (z.B. ungrammatische vs. grammatische Sätze) getrennt werden. Um diese Trennung zu vollziehen, benutzen wir unsere intuitive Regelkenntnis. Zwar ist diese Regelkenntnis mehr oder weniger getrübt, jedoch soll diese Trübung durch die Vorkehrung der "Kunstlehre" mininiert werden. Wenn wir auf dieser Grundlage von den - intuitiv - regelentsprechenden Gebilden Strukturbeschreibungen entwickelt haben, erhalten wir nachträglich mit den Regelexplikationen die theoretische Begründung dafür, dass wir uns auf unser intuitives Urteil immer schon verlassen konnten. Die Sprache, die durch Regeln konstituiert wird, ist nach den theoretischen Prämissen begreifbar als Objektivation mentaler Urteilsstrukturen. Das intuitive Urteil kann sie dechiffrieren. In der wissenschaftlichen Analyse erfolgt eine Freilegung der zugrundeliegenden mentalen Strukturen. Dies läßt sich von der Sprache auf andere menschliche Objektivationen übertragen. Gebilde, die durch Regeln konstituiert sind, können als Objektivationen mentaler Urteilsstrukturen begriffen werden und sind dadurch in den intuitiven Urteilen des Gelingens dechiffrierbar. Unabhängig von der Geltung des Falsifikationsvorbehalts führt die Explikation der Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen bei demselben Text "in the long run" zu derselben Interpretation. Damit behauptet Oevermann, dass es für jeden konkreten Text eine gültige Sinnrekonstruktion gibt, eine be-
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III Methoden / Praxisteil
nennbare Menge von passenden Lesarten, in die "in the long run" alle Rekonstrukionen münden. 7
Übungsaufgabe 12 Stellen Sie die wesentlichen Unterschiede zwischen traditioneller geisteswissenschaftlicher Hermeneutik und "objektiver Hermeneutik" unter den Stichworten: Geltungsbegründung Erkenntnisinteresse Methodisches Prozedere einander gegenüber. Welches Wissenschaftsverständnis läßt sich aus der Konzeption der objektiven Hermeneutik ableiten? Formulieren Sie eine Gegenposition!
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Zur Praxis der "objektiven Hermeneutik", zu Anwendungsbeispielen aus der Bildenden Kunst, Medien- und Massenkultur, verweise ich auf Heinze-Prause/Heinze: Kulturwissenschaftliche Hermeneutik. Opaden 1996
4 Das Konzept der objektiven (strukluralen) Hermeneutik
4.5
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Praxisbeispiel: Alltagskommunikation
Sequenzanalyse einer Patientenbeschwerde8 - Beschwerdetext (Geschrieben auf der Rückseite des hausinternen Fragebogens) 01 Sehr geehrte Geschäftsführung des 02 Krankenhauses, 03 fünf Tage war ich Gast Ihres Hauses. 04 Bitte erlauben Sie mir, meinen Eindruck 05 dieser Zeit in den folgenden Ausführungen 06 zu schildern und mich im Anschluß mit 07 einem Interesse an Sie zu wenden. 08 Zu 2 - ärztliche Versorgung 09 Eine fachliche Beurteilung der ärztlichen Ver10 sorgung kann von mir nicht erbracht werden, 11 doch ich fühlte mich in guten Händen. 12 Essen 13 Der ernährungswissenschaftlich für angemessen 14 erachtete tägliche Mindestbedarf an Vitaminen, 15 Spurenelementen, Ballaststoffen, etc. wird durch 16 dieses Essensangebot sicherlich nicht erreicht. 17 Geschmacklich und optisch ist es kaum als 18 Genuß für einen kranken Menschen zu 19 bezeichnen. 20 Zu 3 21 Die Behandlung durch das Personal kann 22 als korrekt bezeichnet werden, d.h. Pflichten 23 werden erfüllt, d. h. aber nicht, dass der kranke Blattwechsel im Original 25 Mensch mit seinen Wünschen und Bedürfnissen 26 im Mittelpunkt der Behandlung steht. 27 Allgemein wird im gesamten Tagesablauf 28 eine sehr hektische Atmosphäre verbreitet und 29 als Patient fühlt man sich eher als Fremd30 körper oder störendes Element denn als 31 willkommener Gast. 32 Eine patientenbezogene Koordination des Tages33 ablaufes scheint nicht zu existieren: 34 Frühstück, Krankengymnastik, Infusion, etc. 35 kommen teilweise gleichzeitig. Das mag für 36 den organisatorischen Krankenhaus37 ablauf sinnvoll sein, trägt allerdings in 38 keinster Weise zu einer ganzheitlichen Be39 handlung des Patienten bei. 40 Informationen über seinen eigenen Krank-
Die Textvorlage wurde in leicht gekürzter Form einer Hausarbeit von Lutz-Udo Pampel, die im Rahmen eines erziehungswissenschaftlichen Studiums an der FernUni Hagen entstanden ist, entnommen. Für die Abdruckerlaubnis möchten wir uns bedanken.
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III Methoden / Praxisteil
41 heitszustand, Erfolg oder Weiterfiihrung 42 der Behandlung, geplante Dauer des Aufent43 haltes, etc. sind nur durch penetrantes 44 Nachfragen zu erhalten. Erschwerend kommt 45 hinzu, dass kaum Kommunikation 46 zwischen den einzelnen Berufsgruppen des 47 Krankenhauses stattzufinden scheint, geschweige 48 denn zwischen den Abteilungen (z. B. Stationen) Seitenwechsel im Original 49 Einen merkwürdigen Eindruck hinterließ bei 50 mir auch die Chefarztvisite: Ist es nötig, dass ca. 8 Ärzte ungefähr 0,5 Minuten Zeit 51 52 pro Patient haben. Wäre es nicht auch denk53 bar, dass z.B. 2 Ärzte sich wenigstens 2 54 Minuten Zeit für einen Patienten nehmen? 55 Der Gesamtaufwand wäre exakt gleich 56 die Verbesserung für den Patienten bedeutend. 57 Es ist mir klar, dass auch in Ihrem Hause 58 ein starker Kostendruck herrscht. 59 Ich habe jedoch, den Eindruck gewonnen, 60 dass die Qualität der Versorgung bzw. die 61 Leistungen des Personals als relativ gut 62 einzustufen sind. Die Mißstände sind 63 meines Erachtens auf mangelnde Koordination, 64 Kommunikation und fehlerhaftes bzw. nicht 65 vorhandenes Management zurückzuführen. An dieser Stelle ist im Original ein etwa acht Zentimeter langer Strich gezogen 66 Wie ich einem Aushang entnehmen konnte, 67 sind Sie gerade dabei, ein Leitbild für 68 das Krankenhaus zu entwickeln. 69 Da auch ich mich beruflich mit diesem 70 Thema befasse, interessiert mich Ihr Vor71 haben sehr. Blattwechsel im Original 72 -373 Hauptsächlich denke ich dabei an folgende 74 Fragen: 75 Welche Inhalte sind in Ihrem Leitbild 76 verankert? Für welche Bereiche wurde / wird das 77 78 Leitbild entwickelt und wie werden dabei 79 die von mir o.g. Punkte behandelt? 80 Wie wurden / werden die Mitarbeiterinnen 81 in die Entwicklung integriert? 82 Wie sieht die geplante Vorgehensweise 83 bei der Implementierung aus? 84 In Erwartung Ihrer Antwort 85 verbleibe ich mit freundlichen Grüßen 86 Es folgt die Unterschrift mit dem Anfangsbuchstaben des Vornamens und dem vollständigen Nachnamen; Anm. des Verf.
4 Das Konzept der objektiven (strukturalen) Hermeneutik
•
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Äußere Form
Die erste Seite des Beschwerdebriefes wurde auf die Rückseite des Fragebogens geschrieben. Die sonstigen verwendeten unlinierten zwei Blätter sind aus recyceltem Papier und beidseitig beschrieben, vermutlich mit Hilfe eines durchscheinenden Linienpapiers. Es ist eine große Schrift, die den vorhandenen Platz weitgehend ausnutzt, also kaum Ränder läßt. Insgesamt umfaßt das Schreiben, einschließlich des Fragebogens, fünf Seiten, von denen die Schreiberin die Blattrückseiten nicht mit Seitenzahlen versehen hat, sondern nur die Vorderseiten der zusätzlichen Blätter mit den Zahlen 2 und 3 beschriftet hat, was ein unübliches und unübersichtliches System darstellt. Das gesamte Schreiben verzichtet, abgesehen von den Angaben auf der Visitenkarte, auf die Angabe eines Absenders und des Datums. •
Wortwahl und Stil
Die Wortwahl und der Stil werden später im Zusammenhang mit den inhaltlichen Aussagen analysiert. •
Themen und Analyse - Antworten im Fragebogen
Untersuchungsgegenstand ist das Schreiben einer damals 34jährigen Frau, die sich in einer Station der HNO-Klinik des Krankenhauses aufgehalten hat und unter Bezugnahme auf den von ihr ausgefüllten krankenhausintemen Fragebogen auf der Rückseite des Fragebogens und beiliegenden Blättern hierzu Erläuterungen abgibt. Die Antworten auf dem Fragebogen und die Ergänzungen auf den beiliegenden Blättern sind handschriftlich erfolgt. Die drei Blöcke des Fragebogens wurden von der Frau mit Zahlen in Kreisen von 1 bis 3 versehen; zu den Blöcken 2 und 3 nimmt sie in ihrem Text Bezug. Laut beantwortetem Fragebogen war (1. Block) die Aufnahme sehr gut, die Informationen über Wahlleistungen waren "zufriedenstellend". Ihren Aufenthalt hat sie als "zufriedenstellend" bis "läßt zu wünschen übrig" empfunden. Die Ausstattung war "zufriedenstellend", ebenso "zufriedenstellend" sind ihre Wünsche erfüllt worden. Im zweiten Block gefiel ihr die ärztliche Versorgung ebenso wie die pflegerische "sehr gut". Die Regelung der Besuchszeiten war "zufriedenstellend", ebenso die "Sauberkeit der Räume und Einrichtungsgegenstände", "das Essen" empfand sie als "läßt zu wünschen übrig". Im dritten Block hat die Schreiberin, möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt, beispielsweise nachdem sie ihren Beschwerdetext geschrieben hatte, mit einem anderen Stift und/oder flüchtiger als zuvor, lediglich noch zwei Kreuze gemacht, wobei sie diese nicht mehr direkt auf den Kästchen verzeichnet hat. Diese Kreuze betreffen die Fragen,
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III Methoden/Praxisteil
wie sie von den Ärztinnen und Ärzten (eher "zufriedenstellend" als "sehr gut") sowie den Pflegekräften (eher "zufriedenstellend" als "läßt zu wünschen übrig") behandelt und betreut wurde. Diese Beurteilungen stellen eine deutliche Verschlechterung gegenüber den Beurteilungen des zweiten Blockes dar; bemerkenswert ist, dass sie diese Kreuze eher halbherzig und anscheinend nur der Vollständigkeit halber gemacht hat, um im Text einen Bezug zum Fragebogen herstellen zu können. Nicht sicher ist, ob die Frau Patientin ist bzw. war oder ob sie aus der Sicht einer/s Angehörigen schreibt, obgleich die Wahrscheinlichkeit eher für die Lesart "Patientin" spricht. Die Antworten auf dem Fragebogen mit drei "sehr gut", sechs "zufriedenstellend" sowie zwei "zufriedenstellend" und zwei "läßt zu wünschen übrig" lassen den Schluß zu, dass es sich eher um einen Beschwerdebrief als um ein lobendes Schreiben handelt. •
Einleitende Sätze des Beschwerdetextes
Die Anrede am Anfang der Erläuterungen auf dem begleitenden Text (1. Seite auf der Rückseite des Fragebogens) erscheint auf den ersten Blick als durchaus höflich und der Etikette entsprechend. (01/02) Sehr geehrte Geschäftsführung des (...) Krankenhauses kann aber auch lediglich eine Floskel sein, denn den (betriebswirtschaftlichen) Begriff Geschäftsführung zu personifizieren ist eher unüblich und wirkt entpersönlicht und distanziert. Angebracht im Sinne von Geschäftsbriefen wäre die Formulierung "Sehr geehrte Damen und Herren". Ein weiteres mögliches Motiv ist, mit dieser Bezeichnung besonders genau sein zu wollen, denn "Geschäftsführung" sagt mehr aus als "Damen und Herren". Andererseits ist "Geschäftsführung" auch wieder ungenau, weil Krankenhäuser wie dieses von einer dreisäuligen Direktion geleitet werden, was einer Patientin bekannt sein müßte, die bei der Aufnahme im Empfangsbereich Unterlagen ausgehändigt bekommen hat, die in entsprechenden Zusammenhängen stets den Begriff "Direktion" verwenden. Insofern könnte der gewählte Begriff auch ironisch gemeint sein. Sie möchte aber auf jeden Fall mit dem fiir sie sehr wichtigen Schreiben die oberste Führung und von dieser möglichst alle Funktionsträger erreichen, wobei sie vielleicht nicht weiß, wer für ihr Schreiben zuständig sein könnte. Des weiteren kann die Wahl der Adressatin darauf hindeuten, dass alles andere erfolglos war, oder das Thema so wichtig, so übergeordnet ist, dass es sofort ganz nach oben muss. Diese Art der Verdinglichung einer Anrede in Fortsetzung zu einem ausgefüllten Fragebogen erweckt den Eindruck, dass die Verfasserin, höflich, aber distanziert, gebildet, aber ungenau und eventuell ungeübt im Verfassen solcher Schreiben, noch etwas aussagen will. Zwar nicht etwas juristisch Bedeutungsvolles, aber durchaus Gravierendes für die Schreiberin. Trotz aller - eventuell nur vorgeschobenen Höflichkeit - wird noch et-
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was Negatives kommen, etwas, das eine mögliche Kränkung der Schreiberin zum Ausdruck bringen wird und eine Reaktion der Geschäftsführung erwarten läßt. Die im übrigen nicht zornige Anrede kann auch auf eine hohe emotionale Beteiligung hindeuten, dann wäre die Ungenauigkeit auf eine gewisse Spontaneität zurückzuführen. Diese Annahme erhält zusätzliche Bedeutung durch den Einleitungssatz (03) fünf Tage war ich Gast Ihres Hauses. Die Frau setzt an erste Stelle die Zeitdauer, die sie in dem Krankenhaus (der Geschäftsführung?) verbracht hat. Die Zeitdauer ist für sie also von hoher Bedeutung. Sie läßt offen, ob sie damit ausdrücken will, dass das eine besondere Leistung war, und, wenn ja, ob von ihr oder dem Krankenhaus. Die höfliche Art setzt sich fort, denn sie schreibt nicht das Personalpronomen "ich" an die vorderste Stelle, sondern den Zeitfaktor. Sie hat gelernt, dass es unhöflich ist, sich selbst an vorderste Stelle zu setzen. Genauer betrachtet erhält diese Art des Satzbaues eine weitere Bedeutung. "Fünf Tage war /ich Gast/Ihres Hauses" setzt den Status Gast ins Zentrum. Sie selbst als Gast war ihrer Meinung nach Zentrum, sowohl im Krankenhaus als auch in dieser Zeit, in ihrer (wertvollen) Zeit. Angenommen werden kann jedenfalls, dass die Frau aus ihrer Sicht schreibt, wenn auch immer noch nicht klar ist, ob sie das als betroffene Patientin oder als begleitende Angehörige tut. Offen bleibt deshalb auch, ob der Begriff "Gast" für sie ein Synonym für "Patient" ist. Wenn sie jedoch Patientin war, dann ist der Begriff sehr vornehm und mit einem hohen Anspruchsdenken versehen, wenn auch in gewisser Weise eine Fehleinschätzung, denn ein Krankenhaus ist kein Hotel oder Restaurant. Gegen die an sich mögliche Lesart "Ironie" spricht, dass der Begriff Gast nicht in Anführungszeichen steht. Oder ist sie weder Patientin noch begleitende Angehörige, sondern eine Art neutrale Beobachterin, die Interna des Krankenhauses feststellen, beobachten und anschließend berichten will? Ein Rollenkonflikt deutet sich an. Fortgesetzt wird der Widerspruch, auf der einen Seite sehr genau sein zu wollen (fünf Tage), auf der anderen Seite jedoch ungenau zu sein (Ihres Hauses), denn ein kommunales Krankenhaus ist natürlich nicht das Krankenhaus einer Geschäftsführung, es sei denn, auch diese Formulierung ist ironisch gemeint. Jedenfalls sind die Ausführungen eine kritische Nachbetrachtung, der Status "Gast Ihres Hauses", wie sie sich wohl gesehen, aber nicht unbedingt behandelt gefühlt hat, ist beendet oder wird im Zeitraum des Schreibens gerade beendet.(04) Bitte erlauben Sie mir, verlangt dieser Gast nun fast unterwürfig, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Wieder wird eine Floskel benutzt, wenn auch eine höfliche. Aber die Geschäftsführung soll ihr das, was folgen wird und aus ihrer Sicht unvermeidlich ist, erlauben, Absolution erteilen. Sie sagt es nicht gerne, aber was sein muss, muss sein. Sie muss etwas tun, was für die Geschäftsführung vielleicht nicht leicht hinnehmbar ist, aber wenn sie es möglichst frühzeitig sagt, hat sie nicht die alleinige Verantwortung, besser noch: die Geschäftsführung hat selber Schuld, denn diese hat es ihr ja erlaubt. Mit dieser Bitte will
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III Methoden / Praxis/eil
sie vielleicht eine Art Beißhemmung aufbauen, weil sie möglicherweise ein Harmoniebedürfnis empfindet. Sie schreibt aus ihrem Rollenkonflikt heraus unaufgefordert einen ihren Fragebogen erläuternden Brief und bittet hierfür um Erlaubnis. Sie ist vordergründig höflich, was aber wegen der Verwendung der Floskeln eher unglaubwürdig wirkt. Die von ihr gewählte Wortstellung setzt sie als Person zwar selbst wieder hintenan ("mir" an letzter Stelle), sie erwähnt sich jedoch auffallend häufig. Und mit (04/05/06) meinen Eindruck dieser Zeit in den folgenden Ausßihrungen zu schildern setzt sie diese Serie fort. Das heißt, innerhalb der ersten vier Zeilen erwähnt sie dreimal sich selbst: ich, mir, meinen. Sie will ihren Eindruck schildern, sie ist - vielleicht positiv, aber wahrscheinlicher wohl negativ - geprägt worden in dieser Zeit. Es geht um ihren Eindruck (nicht um daraus erst zu entwickelnde Erfahrungen und nicht unbedingt um Tatsachen), den sie nun unbedingt schildern will. Allerdings ist nicht klar, ob sie selbst erlebt hat, oder "nur" beobachtet hat, erfahren hat von anderen. Aber erlebt hat sie etwas, sie kann eine Aussage machen über diese Zeit. Sie kündigt an, nicht erzählen oder berichten zu wollen, sondern sie will schildern, also ausfuhrlich darstellen, in lebhaften Farben schildern , erst ein Bild malen, (06/07) und mich im Anschluß mit einem Interesse an Sie zu wenden. Auch das soll ihr die Geschäftsführung erlauben. Sie will zweierlei von der Geschäftsführung: zuerst Aufmerksamkeit und dann, im Anschluß, etwas verlangen dürfen. Nachdem sie einen auf sich bezogenen, subjektiven und prägenden Eindruck dieser alles Erleben umfassenden Zeit als Gast in vielfältigen und genauen Ausführungen geschildert hat, will sie die Ausrichtung ihrer Ausführungen drehen, und sich an die Geschäftsführung wenden. Von subjektiven, vielleicht emotionalen Empfindungen, Eindrücken weg hin zu einem sachlichen Interesse. Aber sie läßt offen, um was für ein Interesse es sich handelt. Ihre Wortwahl wirkt gekünstelt, ihr Stil geschraubt, gedrechselt, ihr Rollenkonflikt verdeutlicht sich in dem strategischen Schreibstil. Sie bietet einen Handel an: zuerst "leistet" sie ihre Schilderungen, dann kommt sie mit einem Interesse, hinter dem sich möglicherweise eine Forderung verbirgt. Es ist etwas anderes, aber beides gehört auch zusammen. Sie wendet sich an jemanden, von dem sie meint, dass er die Kompetenz hat, ihr Interesse zu wecken und möglicherweise auch zu befriedigen. Sie bittet um die Erlaubnis zu schildern, um sich dann an die Geschäftsführung zu wenden, aber erst im Anschluß. Ihre Schilderungen stehen im Vordergrund, ihr Interesse steht an zweiter Stelle. Oder, anders ausgedrückt: erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Aber wird wirklich etwas Gravierendes kommen oder nur etwas Banales? Denn die umständliche Formulierung, der ewig lange Formulierungsslalom deutet darauf hin, dass sie nichts verlangen darf, aber doch gerne etwas hätte. Außerdem ist ein Interesse nicht zwingend ihr eigenes Interesse
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Fazit aus den Einleitungssätzen Eine Frau, die sich selbst als Gast des sie behandelnden Krankenhauses sieht, will sich beschweren über das, was sie - möglicherweise als Patientin - in diesem Haus erfahren hat. Ihre Ausfuhrungen bemühen sich um eine gewählte und betont Genauigkeit anstrebende Ausdrucksweise, die aber in ihren floskelhaften Formulierungen unglaubwürdig wirkt und in einigen Begriffen und Erklärungen ungenau ist. Eine gewisse Egozentrik läßt sich feststellen, obwohl die Schreiberin versucht, die eigene Person nicht in den Vordergrund zu stellen. Die Frau will darüber hinaus etwas weiteres von der Geschäftsführung, was sie (noch) nicht näher benennt. Die im Krankenhaus verbrachte Zeit ist ihr sehr wichtig, sind diese fünf Tage doch ein Teil ihrer (wertvollen) Lebenszeit gewesen. War die ärztliche und pflegerische Versorgung auch sehr gut, so war die Unterbringung nur zufriedenstellend, der Aufenthalt ließ insgesamt eher und das Essen sicher zu wünschen übrig. •
Erste Theorie zur latenten Sinnstruktur
Die Frau ist von ihrem Krankenhausaufenthalt enttäuscht, wobei eine eventuell erhaltene, wahrscheinlich erfolgreiche Behandlung sekundär für sie ist. Eine erfolgreiche Behandlung kann eher angenommen werden als eine Entlassung aus dem Grund, dass ihr nicht geholfen werden konnte, weil ihre Wortwahl den Negativfall deutlicher wiedergeben würde. Sie empfindet die nicht erbrachten Leistungen, die ihr nach ihrer Meinung als Gast zustehen, als negativ prägend. Sie will Aufmerksamkeit erregen und etwas erlangen, was sie noch nicht hat. Dabei stellt sie sich als fachlich kompetent dar, um einer Geschäftsführung etwas sagen zu dürfen. Jedoch scheint sie Medium zu sein, denn sie meldet nicht ihr, sondern ein Interesse an. Die Wortwahl verdeutlicht ihren Rollenkonflikt. Sie hat beobachtet und will nun hierüber berichten. •
Analyse der Erläuterungen zu den Blöcken des Fragebogens Aussagen und Erwartungshaltungen im zweiten Block
Nach den einleitenden Sätzen nimmt die Frau Bezug zu den von ihr auf dem Fragebogen bezifferten Blöcken. Ihr reicht es nicht, einen "unpersönlichen" Fragebogen auszufüllen, sie will als Gast persönliche Beteiligung verdeutlichen, will die Anonymität des Kreuzchenmachens verlassen. Sie bricht jedoch die Reihenfolge des Fragebogens auf, indem sie auf Erläuterungen zum ersten Block verzichtet und gleich mit dem zweiten beginnt. (9/1 0) Eine fachliche Beurteilung der ärztlichen Versorgung kann von mir nicht erbracht werden, meint sie, obwohl sie im Fragebogen genau diese Versorgung bereits mit "sehr gut" bezeichnet hatte. Sie kann also eine fachliche Beurteilung nicht geben, kann sie aber andere geben? Nach der fachlichen Beurteilung fragt der Fragebogen jedoch nicht, sondern danach, wie die ärztliche Versorgung gefiel. Mit dieser Be-
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III Methoden / Praxisteil
antwortung interpretiert die Frau den Wortlaut anders, wobei sie den Begriff "ärztliche Versorgung" nicht definiert und außerdem nicht begründet, warum die Beurteilung nicht von ihr erbracht werden kann. Das bleibt der Geschäftsführung überlassen, der gerade ihre Meinung als Patientin (wenn sie eine ist) jedoch wichtig ist. Denn als Patientin könnte sie durchaus beurteilen, ob sie erfolgreich oder erfolglos behandelt wurde, womit sie Kompetenz und Berechtigung zur Beurteilung erhält. Sie will zwar ihre Eindrücke schildern, aber nicht an dieser Stelle, hier will sie nicht Farbe bekennen. Diese Beurteilung maßt sie sich nicht an; sie will sich nicht festlegen, nicht positionieren in einem Bereich, in dem sie mangels Wissens widerlegt werden könnte. Sie erklärt ihr Kreuz, will es jedem Recht machen, will, dass man sie versteht, will Hintergründe aufdecken, gibt sich mit einem einfachen Kreuz nicht zufrieden. Sie will Leistung erbringen und entschuldigt sich dafür, wenn sie sie nicht erbringen kann. Sie tut so, als würde diese Leistung abgefordert, die ihr jedoch nicht abverlangt werden kann. Letztlich will sie ärztliche Leistung, also die Leistung, die sie von ihrem gesundheitlichen Problem befreien soll bzw. sollte, nicht beurteilen. Oder doch? Denn im zweiten Teil dieses Satzes fährt sie fort: (1) doch ich fiihlte mich in guten Händen. Hier begibt sie sich auf die im Fragebogen erfragte Gefuhlsebene. Sie mag jedoch nicht sagen, ob sie sich gut aufgehoben, behandelt oder versorgt gefühlt hat, nein, sie fühlte sich "nur" in guten (unpersönlichen) Händen. Sie definiert nicht, was sie mit "gut" meint, was auch noch eine Abschwächung ihres "sehr gut" im Fragebogen darstellt. Insofern wird diese Formulierung wieder zu einer Floskel - einen Hund, einen Oldtimer gibt man in "gute Hände" ab, ein Patient wird gut versorgt, gut behandelt. Wenn sie sich in "guten Händen" gefühlt hat, wie hat sie sich dann gesehen? Als klein, in Hände passend? Als beschützt? Das ist unwahrscheinlich. Meint sie mit "guten Händen" fachliches Können? Aber genau das kann sie nach ihren eigenen Worten nicht beurteilen. Worin liegt der Sinn dieser Aussage für die Geschäftsführung? Sie kann die fachliche Versorgung nicht beurteilen, aber obwohl sie sich in guten Händen gefühlt hat, will sie Schwächen in diesem Bereich nicht ausschließen. Die von ihr im Fragebogen angekreuzten Kästchen bei den Pflegekräften, der Regelung der Besuchszeiten, der Sauberkeit der Räume und Einrichtungsgegenstände und bei der Unterbringung werden nicht erläutert, es geht von der ärztlichen Versorgung direkt weiter zum Essen: (13/14/15) Der ernährungswissenschaftlich für angemessen erachtete tägliche Mindestbedarf an Vitaminen, Spurenelementen, Ballaststoffen, etc. verdeutlicht in dieser Formulierung, ob abgeschrieben oder gewußt, die hohe Bedeutung des Essens für diesen Gast. Mit "ernährungswissenschaftlich" wird ein hoher Anspruch, weil kompetent, signalisiert, aber nicht sie selbst führt an, sondern die Ernährungswissenschaftler. Diese wiederum wissen nicht, sie erachten es nur für angemessen. Ein vordergründig wissenschaftlich ausgerichteter Satz wird in der Folge ungenau und unklar, wird sogar polemisch, denn der tägliche Mindestbedarf ist nicht einmal
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misch, denn der tägliche Mindestbedarf ist nicht einmal Durchschnitt, nicht normal, sondern eben nur Mindestbedarf, liegt am Existenzminimum. Laut dieser Aufzählung fehlt es nicht an diesem oder jenem, sondern an allem, wird verdeutlicht, dass das Krankenhaus inkompetent ist, eine vernünftige Ernährung anzubieten. Gerne wäre die Liste noch fortgesetzt worden, wie das Komma hinter den Ballaststoffen andeutet, aber dann fiel ihr doch nichts mehr ein, und es folgte das "etc.". Wichtigere Bestandteile einer Ernährung sind jedoch Fette, Eiweiße und Kohlenhydrate, die in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen und durch Vitamine etc. ergänzt werden müssen. Der Mindestbedarf (15/16) wird durch dieses Essensangebot sicherlich nicht erreicht. Der "ernährungswissenschaftliche" Anfang mündet jetzt in einer Vermutung, die sich selbst noch verstärken muss mit dem Füllwort "sicherlich", worauf im Falle einer klaren und belegbaren Aussage ersatzlos hätte verzichtet werden können. Die Ausfuhrungen basieren demzufolge auf einer subjektiven Meinung, die keine sachliche Begründung hat. Die Frau weiß nicht, sie vermutet. Und weil sie wiederum das weiß, leitet sie "ernährungswissenschaftlich" ein, um eine Kompetenzverstärkung zu erhalten. Hier wird zum ersten Mal ein klarer Vorwurf formuliert, bekennt die Frau das erste Mal Farbe. Sie führt jedoch nicht sich an, sondern die Ernährungswissenschaft, sie wäscht ihre Hände in Unschuld, sie äußert nicht die eigene Meinung. Dennoch ist es die eindeutige Klage eines Gastes, der vielleicht auf Diät gesetzt und nunmehr frustriert oder gar rachsüchtig den Anspruch auf eine gesunde Ernährung für einen gesunden Körper reklamiert. Warum sie von "diesem Essensangebot" und nicht von "diesem Essen" schreibt, bleibt unklar und muss deshalb als weiterer Beleg für eine ungenaue Ausdrucksweise angesehen werden. Die ernährungswissenschaftlichen Ausführungen zum Essen sollen im nächsten Satz mit einer Aussage verstärkt werden, wie sie auch von Otto Normalverbraucher kommen könnte: (17/18/19) Geschmacklich und optisch ist es kaum als Genuß fiir einen kranken Menschen zu bezeichnen. Die dramatische Verstärkung durch die Wortstellung - Adjektive vorne - steht einer wissenschaftlich-sachlichen Sprache konträr gegenüber, ist außerdem unlogisch und wirkt für die angestrebte Sachlichkeit eher abschwächend. Denn um die einzelnen Aussagen zu verstärken, müßte zuerst das subjektive Aussehen und dann die objektive wissenschaftliche Beweisführung folgen. Es sei denn, dass ihr subjektives Empfinden beim Anblick des Essens von der Schreiberin selbst als das stärkere Argument angesehen wird. Es kann allerdings auch möglich sein, dass ihr das Aussehen des Essens erst beim Schreiben eingefallen ist und seine Erwähnung dramaturgisch gut passend erschien.
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III Methoden / Praxisteil
Essen muss, nach Ansicht der Schreiberin, jedenfalls nicht nur wertvoll sein, sondern es muss auch gut aussehen, eben ein Genuß sein. Dieses kann ein Hinweis auf einen Menschen sein, der bewußt lebt und sich mit den Fragen des (alltäglichen) Lebens auseinandersetzt, aber es wirft die Frage auf, ob sie von sich selbst spricht, denn als (mögliche) Patientin einer Hals-, Nasen- und Ohren-Klinik wäre ihr Geschmackssinn eher beeinträchtigt. Essen bedeutet ihr offensichtlich viel, aber man geht nicht ins Krankenhaus, um gut zu essen. Dieses stellt einen Irrtum im Anspruch dar. Die Reihenfolge stützt aber auch die These, dass die Schreiberin sich selbst hintenan zu stellen versucht. Dieses wiederum wird unterstützt durch die Art der Formulierungen, die allgemein gehalten sind, weg von ihr als Person. Im Gegensatz zur Einleitung und zur Beurteilung der ärztlichen Versorgung schreibt sie hier nicht mehr explizit von sich selbst. Ihre Formulierung ist wieder ungenau, denn ist das Essen nun nur nicht als Genuß zu bezeichnen oder ist es tatsächlich kein Genuß? Sie kann sich zwischen wissenschaftlicher Korrektheit und journalistisch wirkendem Stil mit ironischer Überzeichnung nicht entscheiden. Ihr Stil wirkt dadurch indifferent. Ihre Ausfuhrungen zum Essen beziehen sich zentral auf einen kranken Menschen. Soll das heißen, dass dieses Essen für einen gesunden Menschen durchaus ein Genuß wäre? Das ist eher unwahrscheinlich. Deshalb erfährt die Aussage durch die Heranziehung des kranken Menschen eine Verstärkung. Für einen gesunden Gast ist es schon eine Zumutung, fiir einen kranken ist es gänzlich unzumutbar. Steht einem gesunden schon eine gesunde Ernährung zu, so hat ein kranker noch mehr verdient, gesund ernährt zu werden und neben der leidvollen Krankheit ein bißchen Genuß zu haben. Wieder schreibt sie nicht von sich, obwohl sie ihren Eindruck dieser Zeit angekündigt hat, sondern von einem kranken Menschen allgemein. Bemerkenswert ist, dass bislang nur vom Gast die Rede war und hier erstmals der "kranke Mensch" erwähnt wird. •
Aussagen und Erwartungshaltungen im dritten Block
Die weiteren Ausfuhrungen beziehen sich auf den dritten Block im Fragebogen: (21/22) Die Behandlung durch das Personal kann als korrekt bezeichnet werden. Sind mit Personal nur die Ärztinnen und Ärzte gemeint oder nur die Pflegekräfte oder beide oder noch andere? War die Beurteilung der Versorgung in Block 2 des Fragebogens noch mit "sehr gut" angekreuzt, so wurde die Behandlung und Betreuung durch die Ärzte in Block 3 eher als "zufriedenstellend" empfunden. Das "sehr gut" für die Pflege geht gar in Richtung "läßt zu wünschen übrig". Außerdem kann es nur als korrekt bezeichnet werden, es ist aber nicht unbedingt tatsächlich korrekt. Die Formulierung "durch das
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Hermeneutik
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Personal" ist umständlich, denn es gibt nur eine Behandlung, es sei denn, die Behandlung durch die einzelnen Berufsgruppen würde differenziert. Das erfolgt in den Ausfuhrungen jedoch nicht. Wieder benutzt die Schreiberin eine Wortwahl, die von ihr selbst weg ist: "man" bezeichnet. Diese Ausfuhrungen machen den Eindruck, dass sie nicht unbedingt etwas selbst erlebt hat, weder positiv noch negativ, sondern eine Beantwortung bzw. Erläuterung nur der Vollständigkeit halber liefert. Diese als korrekt bezeichnete Behandlung wird im zweiten Teilsatz relativiert: (22/23) d.h. Pflichten werden erfüllt. Erfüllte Pflichten sind das, was unbedingt getan werden muss, es ist das absolute Minimum, was erfüllt wird. Bezogen auf das Pflegepersonal wäre das Ziel, die unterste Stufe einer rechtlich unangreifbaren Versorgung, die sichere Pflege, erreicht. Sie scheint aber als Gast oder gar kranker Mensch deutlich mehr zu erwarten. Die Pflicht wird getan, aber nicht die Kür. Das Essen genügte ganz bestimmt nicht den Ansprüchen, aber das Personal tut auch nicht mehr, als unbedingt notwendig, obwohl sie erwartet, dass das (Pflege-)Personal ständig Serviceleistungen an ihr, dem Gast, vollbringt. Die im Ansatz positive Satzaussage "kann korrekt bezeichnet werden" wird im abschließenden Teil des Satzes sogar negiert: (23/25/25) d.h. aber nicht, dass der kranke Mensch mit seinen Wünschen und Bedürfnissen im Mittelpunkt steht. Tat das Personal bis hierhin dem Gast gegenüber sowieso nur seine Pflicht, so hat es jetzt den kranken Menschen keineswegs in den Mittelpunkt der Behandlung gestellt. Wieder erfolgt eine unklare und diesmal sogar falsche Aussage, denn der kranke Mensch oder Patient - bzw. seine Wünsche und Bedürfnisse - kann zwar nicht im Mittelpunkt des Krankenhausgeschehens oder im Mittelpunkt von Arbeitsabläufen stehen. Aber er selbst steht, das wird von der Logik vorgegeben, zwangsläufig im Mittelpunkt der Behandlung, nämlich seiner Behandlung. Nur so kann eine Behandlung funktionieren. Offen läßt die Schreiberin, warum sie meint, dass ein Krankenhaus ein Ort sein soll, in dem vorrangig Wünsche und Bedürfnisse des kranken Menschen als Einzelfall erfüllt werden müssen. Offen läßt sie auch, welche Bedürfnisse, ob Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken oder ob weitergehende Bedürfhisse wie Kommunizieren und Spielen nicht im Mittelpunkt stehen. Unklar bleibt auch, ob die Wünsche eines Patienten nicht im Mittelpunkt stehen oder die eines Gastes. •
Zweite Theorie zur latenten Sinnstruktur
Die Frau ist von ihrem Krankenhausaufenthalt mehr als enttäuscht, sie erscheint sogar als in ihrem Stolz verletzt und persönlich gekränkt zu sein. Sie fühlt sich vernachlässigt, was sie vielleicht in ihrem alltäglichen Leben oder Berufsleben so nicht gewöhnt ist, und will das auch zum Ausdruck bringen. Dieses schafft sie jedoch nur ansatzweise,
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/// Methoden / Praxisteil
weil sie fast alle Aussagen allgemein formuliert, also weit von sich weg ist. Dadurch bekommen ihre Ausführungen einen gekünstelten, unechten und gleichzeitig einen widersprüchlichen egozentrischen Stil, der im Motiv unglaubwürdig wirkt, weil sie ihre Eindrücke schildern wollte. Denn genau das bleibt bislang unklar: was will sie wirklich? Will sie ihren Eindruck schildern, mit Worten, die fern von ihr sind, oder will sie ihr Interesse (für was?) begründen? Sind ihre Ausführungen, ihre Schilderungen Vorbereitung für das anschließende Interesse? Oder dient das Interesse als vorgeschobene Begründung für die negativen Ausführungen? Auffällig sind die Widersprüche: genau steht ungenau, sachlich steht gefühlsbetont, eigenes Zurücknehmen und Distanz steht Egozentrik, der Gast steht dem kranken Menschen, in derselben Sache stehen die Beurteilungen "sehr gut" und "gut" einander gegenüber. Bemerkenswert ist auch die offensichtliche Scheu, sich selbst mit dem Begriff "Patient" in Verbindung zu bringen. Sie ist Gast, später spricht sie zumindest von einem kranken Menschen, aber in keinem Fall auf sich selbst bezogen. Die Art der Formulierungen scheint darauf hinzudeuten, dass sie zu diesen negativen und möglicherweise eigenen Erfahrungen eine deutliche Distanz bringen will oder bereits hat. Auf der einen Seite bemüht sie sich um sachliche Formulierungen, andererseits wird sie von ihren eigenen Gefühlen immer wieder eingeholt, was sich in Wortwahl und Satzbau niederschlägt. •
Relation der Aussagen zur beobachteten Krankenhausrealität, Teil 1
Von der abgefragten Versorgung über Behandlung und Betreuung kommt sie nun zu den von ihr oder anderen darüber hinaus empfundenen Eindrücken: (27/28) Allgemein wird im gesamten Tagesablauf eine sehr hektische Atmosphäre verbreitet. Es gibt nicht nur schlechtes Essen und unfreundliches Personal, sondern es wird insgesamt auch noch Hektik verbreitet. Zumindest heißt allgemein nicht ständig, oder gerade ständig und nur ab und zu nicht? Die ungenaue Ausdrucksweise überläßt den korrekten Rückschluß dem Leser. Aber "im gesamten Tagesablauf', ohne die genaue Stundenzahl anzugeben, fördert eher die Lesart "ständige" Verbreitung von Hektik. Die Ungenauigkeit setzt sich fort, denn wer verbreitet Hektik? Das Personal? Und, wenn ja, welches? Die Ärzte? Oder die Pflegekräfte? Die Atmosphäre ist nicht nur hektisch, sondern sehr hektisch, und diese sehr hektische Atmosphäre wird verbreitet. Verbreitet wohl im Sinne von "eine Krankheit verbreitet sich über das Land". Aber was bedeutet "hektisch" im Organisationsgefüge "Krankenhaus"? Ist das ein subjektiver Eindruck einer sensiblen, keinesfalls dickhäutigen Patientin, dessen Inneres durch äußere Umstände, durch atmosphärische Hektik negativ
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beeinflußt wird, oder ist es eine objektive und distanzierte Einschätzung einer neutralen Beobachterin? Und welcher Tagesablauf ist gemeint, der vom Personal oder der von den Patienten oder der von beiden? Und bezieht sich dieses nur auf die Station oder auf die Klinik oder auf das Krankenhaus? Die allgemein gehaltene Formulierung wirft mehr Fragen auf, als dass sie Eindrücke oder gar Antworten für die Geschäftsführung leistet. Dieser Teilsatz, der sich fortsetzt mit: (28/29) und als Patient fühlt man sich eher als Fremdkörper oder störendes Element , benutzt erstmals den Begriff "Patient", zwar nicht deutlich als Status der Schreiberin, sondern wieder allgemein, aber jetzt folgen vielleicht klare Aussagen. "Als Patient fühlt man sich eher als Fremdkörper", also der Patient im allgemeinen fühlt sich entseelt, entmenschlicht, und nicht nur das, sondern auch noch als fremd. Aber durch wen wird das bewirkt? Und wodurch wird das bewirkt? Wer empfindet so? Alle Patienten oder nur sie? Oder besonders sie gerade nicht? Diese allgemein gehaltene Aussage wird - anders ausgedrückt - wiederholt: "oder störendes Element". Der Patient im allgemeinen fühlt sich noch weniger als ein konkreter Fremdkörper, nur noch als ein (flüchtiges) Element. Der Patient fühlt sich als alles andere (30/31) denn als willkommener Gast. Der Bogen zum Gast, der gerne kommen will und gerne aufgenommen wird, zu ihr, dem Gast aus der Einleitung, ist nach einem Umweg über den kranken Menschen und einem kurzen Ausflug zum Patienten wieder geschlagen. (32/33) Eine patientenbezogene Koordination des Tagesablaufes scheint nicht zu existieren. Zum zweiten Mal wird der Begriff "Patient" genutzt, um Mißstände aufzuzeigen. Kann eine gastbezogene Ausrichtung der Aktivitäten schon nicht festgestellt werden, so fehlt eine patientenbezogene Koordination völlig. Diese Meinung wird - ähnlich wie bei "ernährungswissenschaftlich" - mit dem betriebswirtschaftlich ausgerichteten Fachbegriff "patientenbezogene Koordination" angehoben, um jedoch im zweiten Teil wieder in eine unklare Formulierung abzugleiten, "scheint nicht zu existieren". Die Schreiberin weiß nicht, ob eine Koordination existiert, sie vermutet, dass es nicht so ist, es kann bei den bemerkten Auswüchsen eigentlich nicht sein, aber sicher ist sie sich nicht. Oder ist das wieder nur eine ironische Formulierung, die sich einen wissenschaftlichen Anstrich gibt, weil die Schreiberin sehr wohl ahnt, dass Koordination existieren muss, wenn Krankenhausorganisation funktionieren soll? (34/35) Frühstück, Krankengymnastik, Infusion, etc. kommen teilweise gleichzeitig, anscheinend meint sie, dass sich der Tagesablauf in einem Krankenhaus auf den Patienten als Mittelpunkt beziehen oder sogar ausrichten muss. Die vernetzten Gesamtzusammenhänge eines Krankenhauses sind für sie nicht maßgebend, sondern einzig der Wunsch eines Patienten. Kranke Menschen sind das Wichtigste, was diese (Kranken-
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haus-)Welt hat. Gleichzeitig stattfindende oder sich ergänzende Arbeitsabläufe wirken auf die Schreiberin wie eine Zumutung. Es folgt dann ein Rückzug innerhalb der Aussage durch den Hinweis auf "teilweise", wobei vermutlich zeitweise gemeint ist, denn das Frühstück beispielsweise wird nicht in Einzelteilen nacheinander kommen, Mit der Reihenfolge dieser Aufzählung wird deutlich, welche Wertigkeit Krankenhausbehandlung für die Schreiberin einnimmt, denn die therapeutische Infusion kommt erst nach der eine Therapie begleitenden Krankengymnastik und diese wiederum kommt nach dem Frühstück. Wieder einmal deutet das Komma vor "etc." an, dass sie gerne noch mehr geschrieben hätte, ihr jedoch weitere Begriffe fehlten. (Es sei denn, die Schreiberin hat auch Schwächen in der Interpunktion, was stellenweise auch festgestellt werden konnte.) Nach der Therapie hätte sie bedeutungsmäßig sonst vielleicht gerne noch die Diagnostik, nach der sich jede Therapie ausrichtet, gesetzt. Es drängt sich verstärkt die Frage auf, ob die Schreiberin überhaupt Patientin war bzw. sich mit ihrer Rolle als (wahrscheinliche) Patientin identifiziert hat. Der fast von Anbeginn an festgestellte Rollenkonflikt wird immer deutlicher. Dennoch muss eine solche Aufzählung nicht unbedingt negativ gemeint sein, denn eine gleichzeitige Durchfuhrung bestimmter Maßnahmen, die sich nicht gegenseitig stören mit einer Infusion, bspw. am Arm, kann man ohne weiteres essen - können demzufolge als wirtschaftlich betrachtet werden. Mit ihrem nächsten Satz wird diese Lesart jedoch unwahrscheinlich: (35/36/37) Das mag fiir den organisatorischen Krankenhausablauf sinnvoll sein (,). Zuerst wollte sie offensichtlich nur "Krankenhausablauf 1 schreiben, aber dann wurde ihr bewußt, dass das ihren eigenen Ausfuhrungen zuwider laufen würde und ergänzte bzw. verbesserte demzufolge um den Begriff "organisatorischen". Sie macht allerdings einen sachlichen Fehler, denn ein Krankenhaus hat keinen Ablauf, sondern nur eine Tätigkeit oder eine Organisation können einen Ablauf haben. Die Schreiberin ahnt, dass das gleichzeitige Ablaufen bestimmter Tätigkeiten sinnvoll ist, aber sie akzeptiert es nicht. Sie unterstellt, dass Krankenhausorganisation und Bedürfnisse der Kranken voneinander abweichen. Was organisatorisch Sinn macht, ist nicht unbedingt angenehm für den Patienten, muss es in ihren Augen aber sein. Sie stellt die relativen Bedürfnisse des einzelnen Patienten höher als die übergeordneten Interessen eines riesigen sozialen Gefüges, in dem alle Räder ineinandergreifen müssen zum Wohle, zur Befriedigung der absoluten Bedürfnisse aller Patienten. Und wieder versucht sie ihre subjektiven Ausführungen pseudowissenschaftlich anzuheben, umrahmt das ganze jedoch mit einem unklaren, schwammigen "mag ... sinnvoll sein" und gleitet dann in ein Konglomerat von (falschem) Sprachdeutsch und Spezialbegriff ab: (37/38/39) trägt allerdings in keinster Weise zu einer ganzheitlichen Patientenversorgung bei. Das ist definitiv falsch, denn eine gute Ablauforganisation trägt sehr wohl zu einer ganzheit-
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liehen Behandlung bei, ist sogar wichtiger Bestandteil. "Ganzheitliche Patientenversorgung", die sie nicht definiert, unter der sie sich aber etwas vorstellt, muss in ihren Augen auch mehr sein, als sich in guten Händen zu fühlen, wobei nicht deutlich wird, was ihr fehlt. Die grammatikalisch falsche Steigerung von "kein" zugunsten einer vermeintlichen dramatischen Effektsteigerung schmälert die Wirkung dieses Satzes, der einerseits einen fachlich begründeten Anspruch - ganzheitliche Patientenversorgung - erhebt und andererseits Thekendeutsch verwendet. •
Relation der Aussagen zur beobachteten Krankenhausrealität, Teil 2
Die Analyse soll an dieser Stelle eine Komprimierung dahingehend erfahren, dass die nächsten Sätze jeweils komplett und nicht mehr sequenzweise betrachtet werden, weil die vielen und dadurch ihre eigene Aussage abschwächenden Wiederholungen von subjektiven Eindrücken das Erkennen der latenten Sinnstruktur nicht weiter beeinflussen. Außerdem soll nicht mehr jede Aussage ausfuhrlich analytisch untersucht werden, es sei denn, sie brächte einen neuen Aspekt. (40-44) Informationen über seinen eigenen Krankheitszustand, Erfolg oder Weiterführung der Behandlung, geplante Dauer des Aufenthaltes, etc. sind nur durch penetrantes Nachfragen zu erhalten. Die Informationen will ein Patient natürlich über seinen eigenen Krankheitszustand haben (über welchen sonst?), aber von wessen Erfahrungen als Patient spricht sie denn? Sie kennt nur Erfolg oder Weiterführung der Behandlung. Erfolg ist absolute Gesundung, weiterfuhrende Behandlung heißt weiter Kranksein. Penetrantes Nachfragen ist entweder wieder einmal ein falscher Begriff, denn dieses könnten so nur die Befragten empfinden, oder sie empfindet es inzwischen selbst, was allerdings nicht zu ihren vorherigen Ausfuhrungen passen würde. Aus Sicht der Fragenden müßte es jedoch heißen "permanentes Nachfragen". Diese fehlerhafte Begriffswahl kann drei Thesen stützen: entweder will die Schreiberin gebildeter wirken, als sie tatsächlich ist. Oder (unter Bezug auf die eingangs erwähnte Spontaneität) ihre emotionale Beteiligung ist höher, als es ihr Stil glauben machen will. Oder Ungenauigkeit ist ihr Stil, ob bewußt oder unbewußt, ob als Mittel zum Zweck, nicht genau sein zu müssen, oder nur aus Nachlässigkeit, sei dahingestellt. Sie erkennt immerhin an, dass Nachfragen zum Ziel, nämlich Informationen zu bekommen, fuhren. Sie wollte aber mehr, als sie normalerweise erhalten hätte. Sie, wenn sie denn überhaupt sich selber meint, war nicht informiert über die fünf Tage, die ihr entweder als schlecht versorgter Gast zu lang oder als vernachlässigte und zu früh entlassene Patientin zu kurz waren, denn es wird bislang nicht deutlich, ob sie als geheilt entlassen wurde, abgesehen davon, dass sie sich in "guten Händen" fühlte. Nachzufragen und nachfragen zu müssen ist jedoch legitim und für den mündigen Patienten normalerweise kein Problem.
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/// Methoden/
Praxisteil
Sie traut ihren eigenen Empfindungen nicht, sie braucht zusätzliche Informationen, aber nicht als Prognose, sondern nur zum Krankheitszustand, der von ihr losgelöst ist. Sie will Informationen über, nicht zu, nicht von dem Krankheitszustand, sondern darüberhinaus, als ob sie nicht wirklich interessiert sei am Ergebnis, also Gesundung, sondern nur an der Form, nach dem Motto: Hauptsache informiert sein. Einerseits stellt das einen immens hohen Anspruch dar, andererseits ist es eine auffallend unnatürliche Schwerpunktfestlegung. Ein weiterer Widerspruch findet sich darin, dass sie hier von einer geplanten Dauer spricht. Diese Planung, die offensichtlich auch wichtig für sie ist, hat sie weiter oben im Zusammenhang mit krankenhausorganisatorischen Maßnahmen jedoch als für den Patienten unsinnig bezeichnet. (44 - 48) Erschwerend kommt hinzu, dass kaum Kommunikation zwischen den einzelnen Berufsgruppen des Krankenhauses stattzufinden scheint, geschweige denn zwischen den Abteilungen. Die bisherigen Mißstände erfahren nach ihren Beobachtungen eine Erschwernis dadurch, dass das Personal kaum miteinander kommuniziert. Hier wie weiter oben fehlen jedoch gezielte Beispiele, die diese subjektive Behauptung belegen könnten. Auf die genaue und für die weitere Analyse unerhebliche Betrachtung der nächsten beiden Sätze sei hier verzichtet und deshalb nur noch auf zwei Aspekte verwiesen. Der Vorschlag der Schreiberin oder, besser ausgedrückt: der beobachtenden Patientin, die Chefarztvisite dahingehend zu verändern, dass statt acht Ärzten, die jeweils nur eine halbe Minute pro Patient Zeit haben, nur zwei Ärzte mit jeweils zwei Minuten Zeit einzusetzen, ist naiv. Denn erstens vernachlässigt sie dabei die Tatsache, dass in einem akademischen Lehrkrankenhaus (was ihr als Patientin anhand der ihr beim Empfang ausgehändigten Unterlagen bekannt sein müßte) viele angehende Ärzte oder Fachärzte lernen müssen. Zweitens ist die aufgemachte Rechnung rein rechnerisch zwar richtig, aber von den Ausgangsfakten her bereits falsch: Chefarztvisiten erfolgen für Ärztinnen und Ärzte zu Demonstrationszwecken. Für Patienten sind es kurze Kontrollen des Heilungsverlaufes bzw. des Gesundungsprozesses. Denn die Diagnostik ist bereits bei der Aufnahme und nach den Laboruntersuchungen erfolgt. Die Therapie ist daraufhin von der Stationsärztin (bzw. dem Arzt) in Absprache mit dem zuständigen Oberarzt (bzw. der Ärztin) festgelegt worden und wird auch von diesen weiter verfolgt bzw. kontrolliert. Offensichtlich hat die Schreiberin schlecht oder gar nicht recherchiert und sich nur auf unvollständige Beobachtungen verlassen, ohne sich um Hintergründe zu kümmern, und glaubt daher, dass jede/r (angehende) Ärztin/Arzt dem Patienten bei der Visite eine Leistung zukommen läßt.
4 Das Konzept der objektiven (strukturalen) Hermeneutik
253
Im nächsten Satz bemerkt sie, dass auch sie vom Kostendruck in den Krankenhäusern erfahren hat, um dann ein vermeintliches Friedensangebot zu machen, indem sie erklärt, (60/61/62) dass die Qualität der Versorgung bzw. die Leistungen des Personals als relativ gut einzustufen sind. Obwohl die Wertung nur "relativ gut" lautet, so ändert diese Aussage nichts daran, dass sie ihren eigenen Ausfuhrungen weiter oben, in denen die Leistungen desselben Personals als gerade mal pflichterfüllend bezeichnet wurden und die Versorgung keineswegs patientenkonzentriert war, widerspricht. Und dann erfahren vermeintliches Friedensangebot ebenso wie bisherige Ausfuhrungen endlich den langerwarteten Höhepunkt, nämlich, dass die Ursache der Mißstände ihres Erachtens (63/64/65) auf mangelnde Koordination, Kommunikation und fehlerhaftes bzw. nicht vorhandenes Management zurückführen sind. Die Katze ist aus dem Sack, aber es bleibt offen, ob die Schreiberin mit Management die Geschäftsführung oder das Management in allen Führungsebenen einschließlich der Stationen oder das Management diverser Betriebsabläufe als Aufgabe aller Mitarbeiter meint. Aufgrund ihrer Beobachtungen meint sie die Ursache der Mißstände ausgemacht zu haben und so der Geschäftsführung den möglichen Weg aus der Misere zeigen zu können, ohne dabei ins Detail gehen zu wollen. An dieser Stelle zieht die Schreiberin in ihren Ausführungen einen zentimeterlangen Strich und erklärt so dann ihr Interesse für das Leitbild des Krankenhauses, welches, wie sie einem Aushang entnommen hat, gerade entwickelt wird. Sie begründet ihr Interesse damit, dass auch sie sich soeben mit dieser Thematik beschäftigt. Abschließend stellt sie Fragen nach den Inhalten des Leitbildes und für welche Bereiche es entwickelt wurde. Wissen möchte sie auch, wie die von ihr in ihren Ausführungen erwähnten Punkte behandelt werden, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Entwicklung integriert wurden und wie die weitere Vorgehensweise bei der Implementierung aussieht. Sie verbleibt in Erwartung einer Antwort mit freundlichen Grüßen. •
Die latente Sinnstruktur
Die Frau benutzt den Krankenhausaufenthalt dazu, ihren Frust oder den Frust anderer Patienten, zu deren Medium oder Sprachrohr sie sich macht, zu Papier zu bringen und mit einem wissenschaftlichen Ansatz zu verbrämen. Die Vielzahl der geschilderten Beobachtungen und die in den Formulierungen verdeutlichte Distanz der Schreiberin zu diesen Beobachtungen lassen vermuten, dass es die Erlebnisse von vielen (Patienten) sind, von denen sie eine sein kann, zu denen sie aber möglicherweise nicht mehr gehört. Die Schreiberin wirkt teilweise ironisch, egozentrisch, fordernd, ungenau, empfindlich und vor allem als in einen prägenden Rollenkonflikt verstrickt, der ihr eine objektive Sichtweise unmöglich macht und ihren Stil wechselhaft und unglaubwürdig werden läßt. Sie scheint ständig auf der Suche nach Verbündeten zu sein, oder sie macht sich
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III Methoden / Praxisteil
zur Verbündeten von allen möglichen Leuten. Sie führt eine extreme Sprache, die stellenweise Schwarz-Weiß-Malerei betreibt. Die latente Sinnstruktur ist bereits im ersten Satz zu finden (fünf Tage war ich Gast Ihres Hauses), setzt sich fort im nächsten (bitte erlauben sie mir -) sie erwartet zwar nicht sofort Antwort, was ja unmöglich ist, aber nach Absenden des Briefes auf jeden Fall) und setzt sich im Mittelteil fort (unhaltbare oder gar falsche Behauptungen müssen seitens der Geschäftsführung, der Direktion zu Widerspruch oder Richtigstellung führen): sie will für sich Aufmerksamkeit erreichen. Diese Intention zieht sich durch das gesamte Schreiben: beginnend bei der vorn angeklemmten Visitenkarte, über den erläuterten ergänzten Fragebogen und den einzelnen gedrechselten Formulierungen bis zur Einschätzung der Ursache der ganzen Mißstände (fehlendes Management) und dem sehr spät geäußerten Interesse für das Leitbild. Sie will ihren Krankenhausaufenthalt und ihren Eindruck von der Geschäftsführung des Krankenhauses reflektiert wissen und Antworten haben zu ihren ihrer Meinung nach professionellen Fragen zum Leitbild. Sie sieht sich als Fachfrau, die sich sachlich mit einer vielschichtigen Problematik auseinandersetzt, die sogar als (ehemalige) Patientin in distanzierter Weise zu sich selbst der Geschäftsführung wertvolle Hinweise zu geben imstande ist und damit zu Recht eine Anerkennung in Form von Antwort und Informationen erwarten kann. Die relativ frühe Erwähnung, aber sehr späte Spezifizierung des "Interesses" dient sozusagen als Rahmen für ihre Ausführungen und erstes Sinnmuster. Dieses erste Sinnmuster wird jedoch bald von einem weiteren Sinnmuster, einer Art Masterplan eben ihren umfangreichen und detaillierten Ausführungen überdeckt. •
Zusammenfassende Analyse
Hitzler/Honer weisen darauf hin, dass nach Oevermann das Wissen um den äußeren Kontext erst genutzt werden darf, wenn zuvor analysiert bzw. festgestellt wurde, welche Lesarten auf die konkrete Situation bezogen zutreffen könnten (Hitzler/Honer, 1997, S. 43). Unter Berücksichtigung aller Fakten und der biographischen Daten (entnommen der Visitenkarte und dem Fragebogen) ist also im betrachteten Fall davon auszugehen, dass es sich um eine 34jährige Patientin handelt, die zum Teil aufgrund eigener Erlebnisse, aber hauptsächlich durch Schilderungen anderer Patienten eine negative Krankenhauserfahrung gemacht hat. Für andere Statusmöglichkeiten, wie Angehörige oder Besucherin, konnten keine zwingenden Anhaltspunkte gefunden werden. Ihre Ausführungen sind allerdings für eine betroffene Patientin untypisch. Ihre Spontaneität und ihr Engagement in den Formulierungen wirken durch ihre Distanz zu sich selbst halbherzig. Dabei macht sie sich - in Erwartung einer Gegenleistung: Informationen zum Leitbild offensichtlich nicht klar, dass ihre teilweise anklagenden Formulierungen auf die Empfänger negativ wirken könnten. Es sei denn, sie glaubt, die Geschäftsführung einschüchtern zu können, um so ihre Ziele leichter erreichen zu können. Hierfür scheint es jedoch
4 Das Konzept der objektiven (strukturalen) Hermeneutik
255
kein Motiv zu geben. Vermutlich besteht tatsächlich ein berufliches Interesse der betriebswirtschaftlich ausgebildeten Akademikerin an dem Leitbild des Krankenhauses, ein sachlicher Bezug zu den Ausfuhrungen vermag jedoch nicht hergestellt werden. Die Verbindung ist eher im emotionalen Bereich angesiedelt und beinhaltet, seitens der Geschäftsführung eine Rückmeldung auf die Ausführungen zu erhalten. Wenn die Schilderungen nicht genügt hätten, um eine Rückmeldung auf ihre Eindrücke zu erhalten, so unterstreichen die Fragen zum Leitbild den Anspruch auf Antwort. Unklar bleibt das Motiv, wenn auch die latente Sinnstruktur schon einige Erklärungen liefert. Denn trotz intensiver Auseinandersetzung mit den einzelnen Sequenzen konnte nicht herausgefunden werden, ob die Patientin vorrangig Interesse an dem Leitbild hat oder in erster Linie eine Rückmeldung auf ihre Beobachtungen, ihren Eindruck haben will. Anscheinend will sie zwar das eine mit dem anderen stützen, aber sie offenbart nicht ihren wirklichen Anspruch. Oberflächlich betrachtet will sie ihre Fragen zum Leitbild beantwortet haben, was legitim wäre. Dafür hätte sie aber nicht die seitenweisen Ausfuhrungen schreiben müssen, die phasenweise wirken, als hätte sich die Schreiberin erst während des Schreibens intensiv mit ihren Empfindungen und Betrachtungen auseinandergesetzt und das Bedürfnis entwickelt, sich etwas von der Seele zu schreiben. Dafür spricht auch, dass sie ihre Erläuterungen/Ergänzungen auf der Rückseite des Fragebogens beginnt, so dass sie für ihre Fragen zum Leitbild ein weiteres Blatt zu verwenden gezwungen war. In den Ausführungen zum Krankenhausgeschehen wiederum stellt sie der Geschäftsführung, also denjenigen, von denen sie etwas haben will, die ihre Fragen beantworten sollen, keine Fragen und macht auch keine Verbesserungsvorschläge. Sie wirkt eher als neutrale Beobachterin, die zwar subjektiv bewertet, aber dennoch distanziert wirkt. Der Schreibstil und die Aussagen fuhren eine denkbare Intention ad absurdum, mit diesen Ausführungen der Geschäftsführung einen Gefallen tun zu wollen, um dann berechtigt Auskünfte erwarten zu dürfen, eher leistet sie einen Dienst. Ob sie das erfolgreich tut, ist eine andere Sache. Die latente Sinnstruktur, dass die Schreiberin in erster Linie Aufmerksamkeit erreichen will, erklärt den teilweise gefühlsbetonten, obschon immer wieder um Sachlichkeit bemühten Stil. Inwieweit ihr Alter dabei eine Rolle spielt, soll hier unreflektiert bleiben. Andererseits jedoch ist persönliche Betroffenheit nur begrenzt feststellbar, denn dazu sind die Schilderungen nach den egozentrischen Einleitungssätzen zu distanziert und teilweise zu oberflächlich abgefaßt. Trotzdem darf vermutet werden, dass die Schreiberin neben ihrem Hauptinteresse mit ihren, um gepflegte Ausdrucksweise bemühten Ausführungen, eine positive Veränderung des Krankenhausgeschehens bewirken wollte. Ob der Mitteleinsatz für dieses (Neben-) Ziel adäquat war, soll hier nicht vertieft werden.
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1II Methoden / Praxisteil
Übungsaufgabe 13 Dokumentieren Sie schriftlich eine ähnliche Alltagsbegebenheit und betätigen Sie sich als Detektiv der "objektiven Hermeneutik". Die Erkenntnismöglichkeiten dieser Methode erschließen sich im Vollzug wesentlich besser als in der theoretischen Erörterung. Am meisten Spaß macht das in der Forschergruppe. Ebenfalls geeignet: ein Werbespot.
4 Das Konzept der objektiven (strukturellen) Hermeneutik
4.6
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Praxisbeispiel "Werbefeldzug"
Authentizität als Massenbetrug. Strukturale Analyse des Benetton-"Friedensplakats" von Oliviero Toscani Roswitha
Heinze-Prause
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist der Charakter des Mediums "Werbeplakat" als mehr oder weniger subtile Widerspiegelung des Alltags, als zeitgenössisches Dokument, das gesellschaftliche und politische Zustände festhält. Widerspiegelung wird hier nicht als Abbildung realen Alltags verstanden, sondern als Präsentation, als Verwendung von Alltagsmustern, Alltagsdeutungen, Alltagsprojektionen. Anlaß zur folgenden Analyse und Interpretation war die Irritation darüber, dass es möglich ist, mit einem Plakat, das als Todesmetapher gelesen werden kann, Werbung für Kleidung zu inszenieren. Gegenstand der strukturalen Analyse nach Maßgabe der "objektiven Hermeneutik" ist das "Friedensplakat" der Firma Benetton, das 1993 von Oliviero Toscani gestaltet und Anfang 1994 öffentlich präsentiert wurde. Dieses Plakat widerspricht in eklatanter Weise unseren Erwartungen an "Werbung": "Schönheit" des Produkts oder der Welt ist für dieses Exponat als Thema irrelevant. Im Gegenteil: Die militärischen Tarnfarben und das verschmutzte Hemd stehen in einem Kontrast zum bunten Image der Marke. Auch "inhaltlich" steht dieses Plakat quer zu unseren "naiven", alltäglichen Erwartungen. Denn: Krankheit, Leiden und Tod sind für die bunte Bilderwelt der Werbung ebenso ein Tabu wie die verdreckten, blutbeschmutzten Kleidungsstücke des Benetton-Plakats. Welche objektive Bedeutung hat dieser Kontrast? Wie wirkt dieses Friedens-Plakat, worauf zielt es ab? Diese Fragen sind Gegenstand der folgenden strukturalen Analyse. 4.6.1
Kontextwissen über ein Werbeplakat
Bei der strukturalen Analyse eines Werbeplakats bedarf es zunächst der Explikation der Erwartungen, die wir mit diesem Genre aufgrund unserer Erfahrungen und unseres Wissens verbinden. Wir wissen, dass Werbeplakate auf Papier gedruckt sind und dass sie eine Funktion haben. Sie werben mit Bild und Text für Produkte, für Veranstaltungen oder bestimmte Inhalte. Größe und Format ist auf Fernwirkung konzipiert, Text- und Bildposition folgen den kulturspezifischen Lesegewohnheiten. Sie sind für den öffentlichen Aushang vorgesehen. Als auf Fem- und Massenwirkung hin konzipiertes Medium sollten sie einfach und auffallend, leicht lesbar und verständlich sein, d.h. ihre "Botschaft" sollte mit einem Blick erfaßbar sein. Als Werbeträger sind Plakate funktional, sie zielen darauf ab, den Betrachter zum Kauf der beworbenen Ware zu motivieren. Traditionelle Mittel für diesen Zweck sind optimale Präsentation des Produkts, Hervorhebung des Gebrauchswerts (Nur XY wäscht farbecht) oder Suggerierung eines - der Funktion des Produkts äußerlichen - Tauschwerts. Die "klassische" Werbestrategie ver-
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III Methoden / Praxisteil
sucht, den Verbraucher mit einem Gebrauchswertversprechen zu überzeugen. Seit einigen Jahren ist ein Richtungswechsel zu beobachten: Nachdem es der Werbung gelungen ist, bei den Verbrauchern ein Markenbewußtsein zu etablieren, wird zunehmend nicht mehr das Produkt selbst, sondern das Image der Marke präsentiert. Als besonders auffälliges Beispiel der Trendwende der Werbestrategien dienen Im Folgenden die Plakate der Firma Benetton, obwohl auch andere Hersteller dem neuen Trend folgen, vor allem die Zigarettenproduzenten: Wer 'Marlboro' raucht, raucht nicht nur eine schmackhafte Zigarette, sondern ist ein Naturbursche, der so sein und fühlen will wie die Cowboys auf den Plakaten der Marke. Eine weitere Akzentverschiebung ist darin zu sehen, dass nicht nur für ein Image, sondern auch für Erlebnisse (vgl. Schulze 1994), die das Produkt zu versprechen vorgibt, geworben wird. Hier kann die Marlboro Werbung erneut als Beispiel dienen, versprechen doch die Plakate ein unmittelbares und echtes Naturerlebnis im "Marlboro Country". Oft überschneiden sich beide Strategien, bzw. werden gemeinsam benutzt. Das Image wird mit einem Erlebnis verbunden, und so genießen die hart arbeitenden Cowboys mit der Marlboro Zigarette das Erlebnis der ungezähmten Natur. Demgemäß handelt Werbung heute "nicht mehr von den Produkten, die konsumiert werden sollen; sie handelt vom Charakter der Konsumenten" (Postman 1988, S.158). Entsprechend ihrer Zielsetzung zeigt sie junge, fröhliche Menschen, die zudem glücklich darüber sind, dass sie ein bestimmtes Produkt besitzen und benutzen können. Offensichtlich - so suggeriert die Werbung - macht Konsum glücklich, vor allem der Konsum dieses speziellen Produkts. Trotzdem weiß jeder Betrachter, dass dieses Glücksversprechen nicht durch den Erwerb des Produkts einlösbar ist, d.h. wir alle wissen um die strukturale Unglaubwürdigkeit dieses "Prototyps" der Werbung. Von der Firma Benetton wissen wir, dass sie Kleidung produziert und verkauft, die an bestimmte Altersgruppen adressiert ist. Angesprochen sind Kinder bis zu 12 Jahren (Benetton 012) und Jugendliche, bzw. Konsumenten, die sich jung fühlen. Entsprechend hat die Firma ihr Markenimage in den 80er Jahren durch verschiedene Kampagnen etabliert. Festgesetzt hat sich in den Köpfen der Konsumenten der Slogan, der 1990 eingetragenes Markenzeichen der Firma wurde: Die "United Colors of Benetton". Dieser Slogan suggeriert Assoziationen: Er steht in Verbindung zu United States und United Nations und richtet sich sowohl auf die bunte Kleidung der Marke als auch auf die 'colors of man'. Die Marke propagiert Toleranz und geriert sich konsequent kosmopolitisch. Auch der Umfang der Kampagnen, die weltweit inszeniert wurden, bezeugen dies. Die United-colors-Strategie bewegt sich im konventionellen Rahmen, entspricht dem "Prototyp" von Werbung, da sie neben der Präsentation der Produkte über die Suggestion einer heilen und wünschenswerten Welt das fröhlich-bunte Image der Marke etabliert. Die farbigen "Kids" in bunter Benetton-Kleidung stehen für eine Welt, in der Kinder und Erwachsene in "Friede und Freude" leben können. Gleichzeitig mit der Produktpräsentation offeriert die Marke ihr Image: Benetton propagiert die Verständigung zwischen Völkern und Farben, das Logo wurde zum "Friedenssymbol", wie dies ehedem die weiße Taube war.
4 Das Konzept der objektiven (strukturellen) Hermeneutik
259
260
4.6.2
/// Methoden / Praxisteil
Paraphrasierung des Plakats
Die Analyse dieses Plakats trennt nicht zwischen den spezifisch bildnerischen und den Textelementen. Sie unterstellt, dass ein Textelement als bildnerisches Element eingesetzt wird. Des weiteren wird vorausgesetzt, dass Bild und Text der gleichen Strukturlogik folgen, gemäß der Oevermannschen Annahme (Oevermann 1979), dass sich die Strukturiertheit in jedem Detail reproduziert. Zudem wäre diese Trennung bei der Plakatanalyse prinzipiell willkürlich, da Werbung auf die spontane und simultane Erfassung zielt und eine Trennung diesem Merkmal von Werbung widerspräche. Die folgende Analyse geht von der Größe der dargestellten Elemente aus, beginnt bei den unmittelbar ins Auge fallenden Teilen und endet bei denen, die aufgrund ihrer Größenordnung nicht mehr auf Fernwirkung angelegt sind und deshalb von Nahem gelesen werden müssen. Das Plakat hat ein Querformat, das von der horizontalen Anordnung zweier Kleidungsstücke, einer Hose und einem T-Shirt, vorgegeben wird. Beide Kleidungsstücke liegen auf weißem Grund und füllen die Plakatfläche fast völlig aus. Die Anordnung der beiden Kleidungsstücke verläuft leicht bogenförmig, erreicht wird der etwas nach unten weisende Bogen dadurch, dass das Hemd nur mit der oberen Seite in der Hose steckt, während es unten aus der Hose "herausgerutscht" ist und so den weißen Grund des Plakats zwischen Hemd und Hose sichtbar macht. Diese Hose ist Teil eines Kampfanzugs, der im Mimikrymuster der militärischen Tarnfarben khaki, dunkelbraun, blatt- und olivgrün gestaltet ist. In Kniehöhe hat die Hose große, aufgesetzte Taschen, die Taschenklappe des unteren Hosenbeines ist leicht geöffnet. Am vorderen Verschluß und im Hüftbereich wurde die Hose mit einer braunroten Flüssigkeit verschmutzt. Der dunkelbraune Riemengürtel der Hose ist geöffnet, das obere Ende weist bogenförmig nach rechts, dorthin, wo der Kopf des Trägers der Kleidungsstücke sich befände, wenn er noch mit diesen Stücken bekleidet wäre. Das andere Ende des Gürtels fällt nach unten, biegt auf dem weißen Grund ab und zeigt nach links unten. Der weiße Spalt zwischen Hemd und Hose erfüllt zusammen mit dem bogenförmigen Aufliegen des unteren Gürtelendes die Funktion der Blickführung im Plakat. Damit wird die Leserichtung vorgegeben und führt die Augen des Betrachters nach links unten, wo der Markenname "UNITED COLORS OF BENETTON" in weißer Schrift auf grünem, rechteckigem Grund zu lesen ist. Das Aufliegen der Hose wirkt locker, der Faltenwurf zufällig, doch zeigt das obere Hosenbein leicht abgespreizt nach oben. Dies wiederum bezeugt, wie auch der Verlauf des Gürtels, eine genau auf Wirkung kalkulierte Anordnung und Drapierung. Durch die
4 Das Konzept der objektiven (strukturellen)
Hermeneutik
261
horizontale und leicht bogenförmige Anordnung assoziieren die Kleidungsstücke auf dem weißen Grund einen schwebenden Zustand. Das hellgrau melierte T-Shirt wird im Bauch- und Brustbereich durch eine rostbraunrote Flüssigkeit verschmutzt, die im Bauchbereich das Hemd völlig durchtränkt hat, während auf den Ärmeln nur noch Spritzer und Spuren erkennbar sind. Die Anordnung bzw. die Drapierung des Faltenwurfs lenkt den Blick auf ein kleines Loch im Hemd, auf der rechten Seite, etwa in Magenhöhe. Im Bereich des Lochs zeigt das Rot die intensivste Farbigkeit, da die rotbraune Flüssigkeit dort das Material des Hemdes durchgefärbt hat, während im Brustbereich das Rot transparent ist und die hellgraue Farbe des Shirts durchscheinen läßt. Insgesamt zeigt die Farbigkeit des Plakats einen harten Gegensatz: Sowohl die Hose als auch das Hemd sind in gebrochenen, abgestumpften, verschmutzten Tönen gehalten, dies gilt für die Tarnfarben der Kampfanzughose ebenso wie für das getrübte Rot des hellgraugrundigen Shirts. In deutlichem Kontrast dazu hebt sich das leuchtend klare grasgrüne Rechteck, auf dem der Markenname steht, vom weißen Untergrund ab. Diese Option bei der Farbgestaltung des Plakats evoziert die Emotionen des Betrachters: Er assoziiert mit den Tarnfarben des Mimikrymusters Kampfhandlungen, Gefahr und In-Deckung-gehen, während das durchlöcherte, verschmierte T-Shirt in dieser Farbigkeit nur als "blutverschmiert" gelesen werden kann. Auch kann er die Farben von Hemd und Hose mit "Kreatur" und "Natur" verbinden. Der beschriebenen Farbigkeit steht die klare, ungebrochene Farbgebung des "Logos" diametral entgegen. Durch die farbige Unterlegung wird das Textelement zu einem ikonischen Element und durch seine leuchtende Farbigkeit zugleich zum Blickfang, dessen klares Grün von der abendländischen Farbsymbolik traditionell mit "Hoffnung" übersetzt wird. Die ungetrübte Farbigkeit des Logos bewirkt einen harten Kontrast zu den gebrochenen Farben der Kleidungsstücke. Liest man diese Farben als "natürlicher" und "kreatürlicher" Herkunft, kann man sie - neben den Merkmalen der Anordnung der Kleidungsstücke - als Hinweis auf die Vergänglichkeit menschlichen Lebens interpretieren. Daher können die abgebildeten Kleidungsstücke in der gegebenen Darstellung als Allusion auf die Vanitas-Stilleben der vergangenen Jahrhunderte aufgefaßt werden. Die bildlichen Elemente entsprechen der Gattung und in der gegebenen Version sind sie als Todesmetapher zu deuten. Doch wodurch wird dieses Plakat zu einem „Friedensplakat"? Am oberen Rand des Plakats ist in schwarzer Schrift (Schrifttyp Courier, alle Buchstaben groß geschrieben) folgender Text in kroatischer Sprache zu lesen:
262
III
Methoden/Praxisteil
IZJAVA: JA OTAC, GOJKO GAGRO, POGINULOG MARINKA GAGRE ROD. 1963. GOD. U BLATNICI OPCINA CITLUK, SUGLASAN SAM DA SE UZMU PODACI MOGA POK. MARINKA U SVRHU PLAKATA ZA MIR U BORBI PROTIV RATA. ICH, GOJKO GAGRO, VATER DES GEFALLENEN UND 1963 IN BLATNICA, GEMEINDE CITLUK, GEBORENEN MARINKA GAGRO, GEBE MEINE EINWILLIGUNG, DASS DIE DATEN MEINES GEFALLENEN MARINKA ZUR REALISIERUNG EINES FRIEDENSPLAKATS IM KAMPF GEGEN DEN KRIEG VERWENDET WERDEN KÖNNEN. Die Anordnung des Textes - parallel zum oberen Bildrand - folgt durchaus den herkömmlichen Mustern der Plakatherstellung. Doch weicht er in zwei Punkten entscheidend von der Tradition ab: Weder ist er auf Fernwirkung hin konzipiert noch auf Öffentlichkeit, d.h. er dient nicht mehr der "Mindestinformation" des Verbrauchers, sondern verfolgt offensichtlich eine andere Zielsetzung. Die Fernwirkung wird durch das fast winzige Format der Schrift vereitelt, die Öffentlichkeit wird ausgeschaltet durch den Gebrauch der kroatischen Sprache. So können die bildlichen Elemente, die die Emotionalität ansprechen sollen, dominieren. Dennoch ist dieser Textteil des Plakats funktional, folgt einer Verschiebung der Wirkungsmöglichkeiten von Plakatwerbung: Weg von den schönen, vom Betrachter unmittelbar als Scheinwelt zu identifizierenden, bunten Bildern hin zur Darstellung einer "wirklichen" Wirklichkeit. Hier schließt diese Textsequenz an: Sie liefert ein Stück Authentizität, sie wäre weniger glaubhaft, wenn der Vater des Soldaten, wenn Gojko Gagro, sich der englischen Sprache bedient hätte. So führt der Ausschluß einer entscheidenden Funktion von Werbeplakaten - das Zielen auf eine möglichst breite Öffentlichkeit - zu einem Gewinn an Authentizität, zum Erreichen einer neuartigen Wirkung von Werbung - zu ihrer Glaubwürdigkeit. Durch diesen Text wird die Vorstellung des Betrachters, dass es sich bei den abgebildeten Kleidungsstücken um die Kleidung eines toten Soldaten handele, in Gewißheit überführt. Da aber nicht jeder Betrachter den Text verstehen kann, müssen die bildlichen Elemente eine umso deutlichere Sprache sprechen: Das Loch im Shirt kann nur als "Einschuß" interpretiert werden. Hier ist eine Verkehrung des Verhältnisses von Reflexion und Wahrnehmung zu konstatieren: Während Informationen traditionell aus Texten intellektuell gewonnen und verarbeitet werden, geschieht dies hier in umgekehrter Weise; durch das Betrachten der bildlichen Elemente und die emotionale Ansprache gewinnt der Verbraucher eine "Pseudoinformation", ein "Ahnungswissen" darüber, dass es sich um Kleidungsstücke eines gefallenen Soldaten handelt, während das Lesen des Textes ihm Rätsel aufgibt, ihn vermuten läßt, dass es sich um eine Sprache und dementsprechend um Kampfanzugteile aus dem Kriegsgebiet des ehemaligen Jugoslawien handelt. Insgesamt folgt das Plakat dem Trend zur Visualisierung des Denkens, da die Ansprache des Betrachters
4 Das Konzept der objektiven (strukturellen) Hermeneutik
263
und die Verarbeitung des Wahrgenommenen nur noch über den optischen "Kanal" laufen. Als Konsequenz ergibt sich ein Denken, das von der sinnlichen Wahrnehmung ausgeht, über Assoziationen verläuft und im Diffusen verharrt, da es nicht zur begrifflichen Distinktion und letztlich zur Sinnwahrnehmung vordringt. Dies belegt einmal mehr, dass die Werbemacher auf schon bereits durch die mediale Bilderflut trainierte Wahrnehmungsformen zurückgreifen. Dass es sich bei dem Plakat um ein "Friedensplakat" handelt, kann ein der kroatischen Sprache unkundiger Betrachter nicht unmittelbar erschließen, es sei denn, er interpretiert die Darstellung der Kleidungsstücke als Anklage und Absage an militärische Gewalt. Daher muss im Plakat ein Hinweis vorhanden sein, der diesen Anspruch des "Friedensplakates" direkt und unmittelbar erschließen läßt. Diese Funktion übernimmt das Logo der Marke Benetton, das in den vorangegangenen Kampagnen unter dem Slogan der „United colors" als Friedenssymbol etabliert wurde. Eine zweite Textsequenz befindet sich am rechten Rand. Ausgehend von rechts unten nach rechts oben kann in englischer (!) Sprache gelesen werden: United Colors of Benetton and Sisley are trademarks of Benetton Group SpA, Italy. Concept and photo: O. Toscani. Dieser Text ist in Groß- und Kleinbuchstaben, aber noch kleiner als der kroatische Text gedruckt. Er verläuft von der rechten unteren Ecke bis zur Mitte des Randes. Auch hier kann wieder der Ausschluß der Fernwirkung konstatiert werden. Zudem wird das Lesen zusätzlich erschwert: Der Betrachter muss sich geradezu den "Kopf verrenken", um die für ein Plakat außergewöhnlich angeordnete Schrift zu entziffern. Dennoch steht dieser Textteil an traditioneller und prominenter Stelle: Bedingt durch die europäische Leserichtung von links oben zellenförmig nach rechts unten, befindet sich in der Regel der Markenname in der rechten unteren Ecke der Plakate. Er bildet den "Schlußpunkt" und soll durch diese Position "haften" bleiben. Gerade dies ist hier nicht der Fall: In Erinnerung bleibt das "Logo", das links unten steht und durch seine kräftige und symbolhaltige Farbigkeit aus dem Zusammenhang des Plakats fallt. Da dieses Textelement hier nicht die Funktion des "Schlußpunkts" übernehmen kann, muss es eine andere Funktion haben. Sie ist im Kontext des neuen Anspruchs zu finden: Bedingt durch Inhalt, Größe, Anordnung und Sprache beinhaltet dieses Element eine sachliche Information und hat zugleich die Funktion, den Wahrheitsanspruch des Plakates zu stützen. Der zur Informationsentnahme nötige verstandesmäßige Zugriff des Betrachters wird jedoch durch die Winzigkeit der Schrift und die um 90° gedrehte Position geradezu abgeblockt. Er soll nicht seinem Verstand, sondern vielmehr seinem Gefühl bei der Rezeption dieses Plakats folgen. Ergänzend ist zu bemerken, dass dieser Text eine "Signatur" enthält. Sie stützt nochmals den Anspruch auf Authentizität, stellt aber auch - da dies bei Werbeplakaten nicht durchgängig ist - dieses Plakat in den Rang eines Kunstwerks.
264
4.6.3
III Methoden / Praxisteil
Strukturhypothese
Aus der Explikation kristallisiert sich die Struktur des Plakats heraus: Die Dominanz der bildlichen Elemente und das Zurückdrängen der Textelemente bedeutet keine Innovation, sie entspricht traditionellen Mustern der Plakatgestaltung. Durch die inhaltliche Lesbarkeit der Bildelemente als Todesmetapher werden im Betrachter starke Emotionen ausgelöst. Blickführung und Farbigkeit heben das Markenlogo hervor, das für Toleranz und Verständigung, d.h. für Frieden steht. Die emotionale Ansprache des Betrachters verstärkt sein Bedürfnis nach einer "heilen" Welt (im Unterschied zu den Plakaten des "Prototyps", die das Bedürfnis nach einer "schönen" Welt befriedigen). Dieses Bedürfnis wird scheinbar durch das Image des Finnenlogos erfüllt. Das Logo der Firma Benetton promoviert dieses Plakat zum „Friedensplakat". Dabei wird das Image der Marke Benetton beim Rezipienten als bekannt vorausgesetzt. Der Betrachter, der bei den blutverschmierten Kleidungsstücken verbliebe, würde es als Vergänglichkeitsmetapher lesen, dass dies nicht geschieht, dafür sorgt die leuchtende Farbigkeit des Logos. Mit ihm werden Hose und Shirt zur Anklage für unnötiges Leiden und Sterben. Die Gesamtheit der ikonischen Elemente bildet das Friedensplakat, das aber nur intuitiv und assoziativ erfahren werden kann, während die rationale Erfassung aufgrund der Gestaltung systematisch ausgeschaltet wird. Die blutverschmierte Kleidung eines durch eine Schußverletzung getöteten Soldaten lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Leiden (und Sterben) dieses Menschen. Diese Assoziation macht die Skandalträchtigkeit des Plakats aus: Die Vorstellung, dass Leiden und Tod von der Werbung für ökonomische Zwecke benutzt werden, erscheint obszön, regt auf und setzt die Diskussion über die Grenzen von Werbung wieder in Gang. Doch wie erfüllt dieses Plakat seine genuine Funktion, nämlich Werbung für eine bestimmte Ware zu machen ? Um die Strategie, die zur Erfüllung der ursprünglichen Aufgabe dient, zu verdeutlichen, muss dieses Plakat mit den Strukturmerkmalen des "Prototyps" von Werbung kontrastiert werden.
4 Das Konzept der objektiven (strukturalen) Hermeneutik
4.6.4
265
Warenästhetik und der Prototyp von Werbung
Präzise läßt sich die Funktion von Werbung mit dem Begriff der "Warenästhetik" fassen. Damit bezeichnet Haug "einen aus der Warenform der Produkte entsprungenen, vom Tauschwert her funktionell bestimmten Komplex dinglicher Erscheinungen und davon bedingter sinnlicher Subjekt-Objekt-Beziehungen" (Haug 1971, S.10). Dieser Begriff faßt auch den Doppelcharakter von Werbung, er beinhaltet sowohl den ursprünglichen sinnlichen Reiz, der von der Ware ausgeht als auch dessen Steigerung durch eine Schönheit, "wie sie im Dienste der Tauschwertrealisierung entwickelt und den Waren aufgeprägt worden sind, um beim Betrachter den Besitzwunsch zu erregen und ihn so zum Kauf zu veranlassen" (ebd.). Durch diese Überformung, die Ästhetisierung, ist das Produkt nicht mehr nur Ware, sondern wird zu einem Instrument der Manipulation. Die Werbung nimmt die Tendenz der Ästhetisierung der Ware auf und schreibt sie mit den ihr eigenen Mitteln fort: Die Schönheit der Ware wird zur dominanten Größe, ihr Kauf zudem mit einem Versprechen gekoppelt: Der Besitz der Ware verheißt Wohlbefinden und Glücklichsein, über den sinnlichen Zugang wird die Emotionalität des Betrachters angesprochen. So fuhrt nicht mehr das Produkt selbst zur Bedürfnisbefriedigung, Werbung geht über die simple Sättigung des Bedürfnisses hinaus, indem sie das Produkt mit einem Glückszustand verbindet und das Verlangen des Betrachters nach einer schönen, wenn auch irrealen Welt stillt. Der Gebrauchswert der Ware, der für den Konsumenten der eigentliche Kaufanreiz sein sollte, ist für die Werbung sekundär: Sie stellt die ästhetische Präsentation der Ware in den Vordergrund, setzt auf den sinnlichen Zugang des Betrachters und zielt auf seine Emotionalität, während sie den Gebrauchswert zurückdrängt. Über die Inanspruchnahme der Sinnlichkeit des Betrachters versucht sie den Akt des Tausches vorzubereiten, indem sie an die Stelle des Gebrauchswerts ein Gebrauchswertversprechen setzt, d.h. ausschlaggebend für die Kaufentscheidung des über seine Sinnlichkeit angesprochenen Konsumenten wird der über Werbung vermittelte schöne Schein der Ware. Konstitutiv für die Strukturlogik von Werbung ist somit die Erzeugung eines Scheins und die Evokation erstrebenswerter Vorstellungen im Betrachter. Werbung wendet sich an seine Emotionen und versucht eine rationale Betrachtungsweise auszuschalten. Die Zielsetzung der direkten Ansprache von Emotionen schlägt sich in der Gestaltung nieder: Schon die frühe Produktwerbung minimierte den Textteil des Plakats, ersetzte narrative Elemente, die nur rational faßbar waren, durch visuelle.
266
III Methoden / Praxisteil
Die Strukturlogik von Werbung kann wie folgt beschrieben werden: Ausblendung der Rationalität, Inanspruchnahme der Sinnlichkeit des Betrachters; Ästhetisierung der Ware, Präsentation des Produkts in einer "schönen" Welt. Das Versprechen eines Gebrauchswerts wird gekoppelt mit Vorstellungen oder Erlebnissen, die mit der Ware in der Regel nichts gemein haben. Werbung, die diesen Merkmalen entspricht, kann als "Prototyp" von Werbung bezeichnet werden.
4.6.5
Merkmale der neuen Konzeption von Werbung
Diese Ausfuhrungen gelten für das analysierte Plakat nur noch mit Einschränkungen, denn es akzentuiert die Merkmale des Prototyps neu und folgt einer Strategie, die als "Trendwende" der Plakatwerbung bezeichnet werden kann. Werbung zeigt die Realität und ist authentisch Insgesamt zeigt das Plakat einen neuen Ehrgeiz, indem es behauptet authentisch zu sein durch die Abbildung "wirklich" benutzter Kleidung, die Aussage des Vaters in der Originalsprache und durch eine Information, die "Information" darstellt. Damit beansprucht der ambitionierte Werbetyp „realer" und „glaubwürdiger" zu sein als die Bilder des „Prototyps". Dieser Anspruch wird scheinbar dadurch gestützt, dass Werbung, die nicht mehr zum Kauf eines Produkts, das sie überhöht darstellt, verleiten will, auf neue Weise glaubwürdig erscheint. Die "ungeschönte" Realität der Bildteile und die unübersetzte Sprache des Textteiles erheben den Anspruch, dass auch Werbung die Realität thematisiert, dass sie wirklich und wahrhaftig ist. Dies kann als neue, äußerst subtil wirkende Strategie von Werbung bezeichnet werden. Dagegen erscheinen die alten Strategien der Präsentation der geschönten Ware in einer Scheinwelt geradezu als simpel und anachronistisch. Die Scheinhaftigkeit von Werbung, bei den Bildern des Prototyps direkt erkennbar, wird beim neuen Werbetyp verleugnet. Zwar geben beide Werbestrategien ein Bild der Welt, doch während der Prototyp das Bild einer wünschenswerten Welt präsentiert, wird hier unmerklich ästhetisiert. Das analysierte Plakat zeigt eine Gestaltung, die perfekt auf Wirkung hin konzipiert ist. Damit wird die Irrealität beider Werbetypen vergleichbar. Sie liegt nicht in der Präsentation von schönen oder häßlichen Gegenständen, sondern in ihrer ästhetischen Überformung. Diese Zurichtung ist beim neuen Werbetyp nicht direkt erkennbar, sie wird verborgen hinter der Darstellung von „Realität". Die Kolonialisierung der Köpfe über die visuelle Wahrnehmung Dem ambitionierten Werbetyp geht es nicht mehr um die einfache Modellierung der Sinnlichkeit des Betrachters, sie zielt auf die Modellierung seiner Einstellungen zur Welt, zur Politik, zu Ökologie und Ökonomie. Nicht nur die Ausschaltung der Ratio
4 Das Konzept der objektiven (strukturellen) Hermeneutik
267
durch Emotionalität wird intendiert, sondern die "Kolonialisierung der Köpfe" durch Ein- und Vorstellungen, die über Werbung vermittelt werden. Weder ästhetisiert dieses Plakat eine Ware noch verspricht es einen mit der Ware verbundenen Gebrauchswert. Vielmehr werden über das durch Werbung etablierte Image der Firma, Vorstellungen, "An- und Einsichten", die durch den Markennamen evoziert werden, "Identifikationsangebote" vermittelt. Allerdings sind die An- und Einsichten, die das Plakat vermittelt, vorab gefiltert, zurechtgebogen und letztlich fremdbestimmt. Eben so wie die Firma ihre Produkte anbietet, macht die ambitionierte Werbung Angebote zur Übernahme der von ihr vorgegebenen Sicht der Welt. Sie wendet sich an Betrachter, die vorzugsweise konsumieren, sei es nun Kleidung oder Welteinstellung. Als Strukturmerkmal des ambitionierten Werbetyps kann die Verführung zur Übernahme von politischen Einstellungen, ethischen oder moralischen Haltungen konstatiert werden. Der ideale Benetton-Kunde ist oder fühlt sich jung, hat die jugendliche Neigung zur Vereinfachung komplizierter Sachverhalte internalisiert, geriert sich authentisch und originell, tolerant und kosmopolitisch. Er steht für seine Überzeugung, deren Hauptmerkmale er der Werbung entnommen hat. Mit der Kleidung kann der BenettonKunde auch die von der Firmenwerbung propagierte Sicht und Einstellung zur Welt kaufen, er nimmt die Identifikationsangebote wahr, die ihm die Werbung bietet. Um diese Identifikation in Gang zu bringen, operiert der "neue" Werbetyp mit der Provokation. Dies geschieht durch die Darstellung von Tabuthemen, z.B. von Leiden ("HIV Positiv"), Sterben ("Friedensplakat"), ungeschönter Körperlichkeit ("Giusy") oder spielt auf besondere religiöse bzw. politische Vorstellungen ("Zölibat") an. Doch was ist so provokativ an der Abbildung eines blut- und schleim verschmierten Neugeborenen? Sie weicht zunächst einmal von dem durch die Werbung überstrapazierten Kindchen-Schema ab. Die "ungeschönte" Körperlichkeit unterscheidet sich von der werbeüblichen Darstellung menschlicher Körper so stark, dass wir sie als "wirklich" und "wahrhaftig" lesen. Der gleichen Logik folgt das "Zölibat". Es zeigt einen Mönch und eine Nonne, beide jugendlich, die mit dem Anlegen des Habits ihren Sexualtrieb nicht abgelegt haben. Auch hier wird mit der "Wahrheit" gearbeitet. Durch die Strategie der Provokation evozieren die Plakate des neuen Typs die Emotionen des Betrachters bereits im Vorfeld und berauben ihn der Distanz, die notwendig ist, um Werbung als Scheinwelt zu erkennen. Bereits der erste Blick ruft starke Affekte hervor, die rationale Distanz wird von vornherein durch eine vom Plakat provozierte künstliche Aufgeregtheit überlagert. Die Darstellung trifft äußerst direkt und aggressiv die Emotionen des Betrachters.
268
III Methoden / Praxisteil
Der neue Trend verfolgt eine zweifache Zielsetzung: Das Stimulieren von Affekten, Assoziationen und Emotionen beim Betrachter wird gekoppelt mit der Darstellung von Realitätsbereichen, die bislang für die Werbung unantastbar waren. Damit führt Toscani von der Werbung ausgeblendete Elemente der Realität in das Genre ein. Diese Strategie scheint geeignet, das intuitive Wissen des Betrachters um die Scheinhaftigkeit von Werbung zu konterkarieren. Sie beansprucht "realer" zu sein und etabliert einen Typ von Werbung, der durch Einbeziehung von "Realismus" Glaubwürdigkeit vorgibt. Dieser Typus wiederholt das traditionelle Muster von Werbung in neuem, zeitgemäßen Outfit: Er stimuliert nicht zum Kauf durch Produktpräsentation wie in den prähistorischen Zeiten der Werbung, sondern arbeitet subtiler. Die völlige Ausschaltung des Intellekts durch Emotionalität sowie die Identifikation mit dem Firmenimage sollen die Voraussetzungen für die Übernahme der propagierten Weltsicht und den Kauf von Kleidung der Firma Benetton schaffen.
4.6.6
Die Ökonomie als Basis des neuen Werbetrends Aggressive Strategien als Merkmal des Bekleidungssektors
Die neuen Ambitionen der Werbung sind nicht zufällig entstanden, sie folgen nach wie vor ökonomischen Gesetzen. Angesichts "zunehmender Marktsättigungstendenzen für viele Produkte (besonders für Konsumgüter) und einer Vielzahl verschiedener Produkte, die im wesentlichen die gleiche Funktion erfüllen, kommt der Werbung die Aufgabe zu, ein bestimmtes Produkt aus der Masse konkurrierender Angebote herauszuheben und den Konsumenten zum Kauf dieses Produktes zu bewegen" (aktuell 1984, S. 752). Die Überfülle des Konsumgüterangebots, innerhalb dessen sich die einzelnen Produkte nur wenig, meist gar nicht voneinander unterscheiden, führt zu einer Werbestrategie, die die Zahl der Käufer zu erhalten versucht, statt sie zu vergrößern. Dies wird hier durch das vom Plakat vorgeschlagene "Identifikationsangebot" angestrebt. Für den Bekleidungsbereich, dessen Markt gesättigt ist, sind somit besonders aggressive Werbestrategien zu entwickeln. Diese Strategien müssen direkt und unmittelbar die Emotionalität ansprechen, Affekte erzeugen und die Rationalität schon im Vorfeld unterlaufen. Auch dies trifft auf den "ambitionierten" Werbetyp zu. Die Erschließung eines weltweiten Marktes durch Solo-Strategien Die weltweite Verbreitung der Benetton Werbung ist ebenfalls auf ökonomische Ursachen zurückzuführen. Während bis zur Mitte der 80er Jahre für jedes Land eigene Werbekampagnen, die sich an den nationalen Eigenheiten orientierten, entwickelt wurden, präsentieren die Kreativ-Direktoren namhafter Werbe-Agenturen nunmehr sog. „Solo-Kampagnen" für den europäischen Bereich. Dabei werden die nationalen Unterschiede ignoriert oder weitgehend eingeebnet. Das Ende der nationalen Vielfalt hat vor
4 Das Konzept der objektiven (strukturalen) Hermeneutik
269
allem finanzielle Gründe: Es ist kostengünstiger nur noch eine anstelle mehrerer unterschiedlicher Kampagnen zu entwickeln. Für die Benetton Gruppe gilt auch hier die Vorreiter Position: Bereits unter dem Motto der „United colors" initiierte die Firma eine weltweite Solo-Kampagne. Nunmehr werden in Italien die Werbefeldzüge für die ganze Welt konzipiert, doch im Unterschied zur Angleichungstendenz der für den europäischen Markt bestimmten Werbung , setzt Benetton auf die nationalen und ethnischen Unterschiede und stellt sie auf den Plakaten möglichst pittoresk dar. Dabei stehen im Hintergrund weitergehende ökonomische Interessen: Benetton erschließt mit dieser Werbung zugleich den expandierenden Markt der "Schwellenländer" der Dritten Welt, etabliert dort italienischen Chic zu akzeptablen Preisen und vermittelt - ganz nebenbei - die ethischen Werte der europäischen Aufklärung. Das neue Strukturmerkmal von Werbung reproduziert sich, es etabliert in den Köpfen Ein- und Vorstellungen ethischer und politischer Art: Dies überall und selbstverständlich auch in anderen Kulturkreisen. Somit wird Werbung künftig weltweit gleich sein, nach wie vor kreativ oder raffiniert und nun auch noch authentisch sein. Die Authentizität der neuen Werbebilder aber dient „höheren" Zwecken: Als Teil der Verkaufsstrategie wird sie zum Medium der Profitmaximierung.
Übungsaufgabe 14 Formulieren Sie unter der Perspektive "erlebnisorientierter Werbestrategien" eine Kritik dieses Plakats und trennen Sie davon möglichst deutlich: - Eine kritische Auseinandersetzung mit der Interpretation unter den Aspekten: Nachvollziehbarkeit, Plausibilität, Vollständigkeit, Diskursivität. - Formulieren Sie innerhalb der Methodologie der "objektiven Hermeneutik" alternative Lesarten.
270
/// Methoden / Praxisteil
5
Die psychoanalytische Textinterpretation
5.1
Darstellung der Methode
Die psychoanalytische Textinterpretation ist ein besonders bekanntes und traditionsreiches Anwendungsgebiet der "Psychoanalyse". Als "Psychoanalyse" bezeichnet man das Gesamtgefüge der theoretischen, methodologischen und praktischen Arbeiten Freuds; Psychoanalyse stellt somit eine Sammelbezeichnung dar für eine Metatheorie (als wissenschaftliches organisiertes Nachdenken über Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen psychologischer Theorien); ein Gefüge psychologischer Theoriemodelle (die bekanntesten sind die Triebmodelle und das Instanzenmodell); ein Behandlungsverfahren (das in Jahrzehnten entwickelte Methodenrepertoire der von Freud sogenannten "psychoanalytischen Redekur"); und ein der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik verpflichtetes Interpretationsprozedere (es kann z.B. auf literarische Texte, Kommunikationsprozesse oder auch Träume angewandt werden). In der psychoanalytischen Textinterpretation geht es wie im Alltagsverstehen zunächst darum, den manifesten Sinn des Textes zu erfassen. Die alltagspraktischen Verfahren des Verstehens und der implizit linguistischen Analyse, die der Interpret im logischen Verstehen anwendet, sind schon auf dieser Ebene so ausgerichtet, dass Inkonsistenzen des Textes als besondere Bedeutungsträger aufgefaßt werden. Das "logische Verstehen als ein erster methodischer Schritt isoliert die Eigenschaft umgangssprachlicher Kommunikation, Regelabweichungen zu erkennen und faßt diese - im Unterschied zur alltäglichen Kommunikation, in der es darum geht 'Mißverständnisse' möglichst rasch zu beheben - als Anzeichen eines problematischen Sinngehalts auf. Das Aufnehmen von Widersprüchen auf dieser Ebene der Sprachfiguren wird ergänzt durch ein Verstehen, das seine Aufmerksamkeit auf den metakommunikativen Gehalt des Textes richtet. Wir bezeichnen es mit Alfred Lorenzer als psychologisches Verstehen, weil es den im Text präsenten aktuellen KommunikationsProzess als Ausdruck einer psychologischen Situation des oder der Sprecher versteht. Der Interpret fragt hier nach der Art und Weise, wie Verständigung hergestellt wird. Der Text repräsentiert dramatische Entwürfe, Szenen, Lebensformen, die Sprachfiguren des Textes werden als Interaktionsfiguren verstanden. Indem der Interpret die Situationsbeschreibungen auf ein zugrundeliegendes Muster bezieht, vermag er diese untereinander zu vergleichen. So werden Widersprüche zwischen den Szenen und innerhalb der Szenen evident. Der Interpret hat die Aufgabe, diese widersprüchlichen Bedeutungen auszuarbeiten, um so zu dem Sinn vorzudringen, der in den Szenen und der spezifischen Grammatik des Textes verborgen ist.
5 Die psychoanalytische Textinterpretation
271
Das szenische Verstehen geht in tiefenhermeneutisches Verstehen über, wenn die Interaktionsfiguren eines Textes als Abwehrfiguren begriffen werden. Unter dieser Prämisse erzählt der Text nicht nur die Geschichte, die sich in den Sprach- und Interaktionsfiguren manifestiert. An ihr aktualisiert sich zugleich auch die Geschichte, die mit Hilfe jener psychisch verarbeitet werden soll. Es ergibt sich das Phänomen, das aus der psychoanalytischen Praxis bekannt ist, aber auch die alltäglichen Interaktionen permanent begleitet - das Phänomen der Übertragung. Auf Gegenstände, Personen, Beziehungen, Themen etc. werden problematische unbewußte Erlebnisstrukturen und Beziehungsmuster übertragen, die diesen inadäquat sind, deren implizite Bedrohlichkeit aber gerade dort psychisch bearbeitet werden kann, wo sie weit genug von den realen Praxiszusammenhängen, denen sie entstammen, entfernt sind. Stellvertretend wird an anderen Gegenständen verarbeitet, was in der Ursprungssituation zu viele Probleme, Angst und Unsicherheit bereiten würde. Im tiefenhermeneutischen Verstehen fragt der Interpret deshalb nach dem, was solche Probleme auslöst und wie verhindert wird, dass sie ins Bewußtsein dringen. Der Interpret konzentriert sich auf die Rekonstruktion der unbewußten Übertragungsbeziehungen, von denen der Text handelt. Er versucht, die unbewußte Szene zu entschlüsseln, die den Anlaß für die spezifische Bearbeitung im Text gibt. Eine Haltung des Interpreten im tiefenhermeneutischen Verstehen des Textes ist damit aufgezeigt: Er begreift das aktuelle Thema, von dem die Rede ist, als ein Übertragungsobjekt. In der Identifikation mit dem Thema vermag er nachzuvollziehen, wie dieses bearbeitet wird - vermag er die Widersprüche in der Bearbeitung zu erkennen. Aus jenen kann er nun im gesamten Zusammenhang der Interpretation auf die abgewehrten Interaktionsformen schließen. Gegen die Ausgrenzungsmechanismen des Textes versucht der Interpret zur Sprache zu bringen, was nicht zur Sprache gebracht werden soll" (Volmerg 1980, S. 206-208). Die Wahrung von strikter wissenschaftlicher Distanz und Objektivität, die im derzeitigen Wissenschaftsverständnis als allgemein gültige Kriterien gelten, ist für die Bearbeitung der in der psychoanalytischen Sozialforschung spezifischen Fragestellungen als unangemessen zurückzuweisen. Die psychoanalytisch orientierte Sozialforschung nimmt aufgrund der Betonung des Individuell-Biographischen eine Sonderstellung ein. An die Stelle der Objektivität der Zahl, statistisch überprüfbarer Daten, setzt sie die Subjektivität der Erfahrung des Erforschten, die Besonderheit seiner Biographie. In ihrem Anspruch auf Kommunizierbarkeit von Forschung zielen kommunikative Forschungsergebnisse auf die Überschneidung des wissenschaftlichen Diskurses mit der Umgangssprache ab. "Die Rolle des neutralen Beobachters einer scheinbar naturwissenschaftlichen Objektivität (zu) verlassen ... Ob die Forschenden den Sinn richtig interpretiert haben, läßt sich nicht von außen beurteilen. Um darüber etwas sagen zu können, muss man selbst erst die Perspektive der Forschenden übernehmen und den Prozess prüfen können, der zu der Interpretation geführt hat. Hier hat die Kritik ihren Ort, indem sie gleichsam von innen die Modi der Interpretation auf ihre sinnverzerrenden Wirkungen befragt" (Leithäuser/Volmerg 1987, Bd. 2, S. 296 f.).
272
/// Methoden / Praxisteil
Im anschließenden Beispiel einer Literaturinterpretation werden einige grundlegende Strukturen psychoanalytischen Interpretierens deutlich: Interpretiert wird stets auf einen "dahinterliegenden Sinn" hin, d.h. tiefenhermeneutisch. Über die Interpretation soll nicht nur die Identifikation des Eigentlich-Gemeinten des Textes erreicht werden, sondern darüber hinaus eine interpretative Annäherung an den Autor des Textes. Salopp formuliert bedeutet dies: Nicht die psychische Struktur des fiktiven Romanhelden, sondern die Motive des Schreibenden, ihm diese Struktur zu geben, sind Zielpunkt des interpretatorischen Interesses. Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene des Interpreten gelten nicht als "Wahrnehmungsverunreinigungen", sondern werden über Bewußtmachung zu kreativen und besonders wertvollen Interpretationswerkzeugen. Substanz und Tiefenschärfe psychoanalytischer Interpretationen sind in Abhängigkeit von emphatischem Einfühlungsvermögen, interpretatorischer Kreativität und möglichst umfangreichem Kontextwissen des Interpreten zu sehen. Das ausgewählte Beispiel, Tillmann Mosers Interpretationssequenz zu Kafkas "Kleine Frau", stellt hier ein brillant formuliertes, gut nachvollziehbares, in sich konsistentes Stück psychoanalytischer Deutungsarbeit dar.
Übungsaufgabe 15 Vergleichen Sie anhand der vorangegangenen Textpassagen den Gültigkeitsanspruch der Interpretation der "objektiven Hermeneutik" mit dem Gültigkeitsanspruch der psychoanalytischen Interpretation. Konzentrieren Sie sich auf Unterschiede!
5 Die psychoanalytische Textinterpretation
5.2
273
Praxisbeispiel: Literaturinterpretation
Tillmann Moser: Das zerstrittene Selbst. Zu Kafkas Erzählung "Eine kleine Frau" In einer noch unveröffentlichten Arbeit über Dichter auf der Analysencouch schreibt Johannes Cremerius: "Unter den Dichtern der letzten sechzig Jahre gibt es kaum einen, der sich nicht mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt hat". Für viele hat sie eine entscheidende Rolle in ihrer künstlerischen Entwicklung gespielt. Kafka, Brod, Gross und Werfel sind so von ihr beeindruckt, dass sie 1917 den Plan fassen, eine Zeitschrift zur Propagierung der Psychoanalyse herauszugeben. Er wurde nie verwirklicht. Ob sich Kafka je selbst als potentieller Patient an einen Analytiker gewandt hat, scheint unbekannt. Doch muss ihn der Gedanke beschäftigt haben. Instinktiv könnte er allerdings auch gespürt haben, dass die Psychoanalyse, als er sie gebraucht hätte, eine seinen Problemen angemessene Theorie und Behandlungsform noch nicht hatte und er eine weitere Traumatisierung, mindestens aber den Verlust einer absoluten Utopie: nämlich verstanden zu werden, riskiert hätte, eine Utopie, die endlich ausschließlich ans Schreiben delegiert wurde. Aber die Vemichtungswünsche den eigenen Manuskripten gegenüber verraten auch hier die Brüchigkeit der Utopie. Bis in die spätesten Erzählungen hinein, zu denen die Kleine Frau gehört, ist Verstanden-Werden wohl zu eng verknüpft mit der Phantasie von Gericht und bedrohlicher öffentlicher Verhandlung. Immerhin wissen wir, dass er mit Rudolf Steiner, als der in Prag Vorträge hielt, Gespräche führte, in denen es ums "Verstehen" ging. Steiner war nicht Psychoanalytiker, aber Kafka scheint in ihm den Psychologen gesucht zu haben. Die Gestalt des "Freundes" in der Kleinen Frau, dem der Icherzähler sein Problem, wie bagatellisierend auch immer, vortrug, könnte ein Nachhall des Versuchs sein, Steiner oder später einem anderen "seelenkundigen" Freund das in der Erzählung angesprochene Problem vorzutragen; es könnte aber auch der Nachhall lediglich der Phantasie, der kleinen Utopie sein, mit einem Sachkundigen zu sprechen. Der Icherzähler ist verwundert über die Ernsthaftigkeit, mit der der "Freund dennoch nicht darüber hinweghörte" (wie Kafka es selbst bei seinen engsten Freunden empfand, T. M.; eindrucksvolle Belege bei Miller), sondern "aus eigenem der Sache an Bedeutung hinzugab, sich nicht ablenken ließ und dabei verharrte". (188) Um so schmerzlicher dann für den seit Jahren gequälten Erzähler, dass das Ergebnis des riskanten Kommunikationsversuchs der Rat ist, "ein wenig zu verreisen. Man geht sicher nicht fehl, diese Passage, der angesichts des geringen Umfangs der ganzen Erzählung doch ein erhebliches Gewicht zukommt, als die Verarbeitung eines mißglückten Versuchs anzusehen, vom Schwierigsten einem anderen Menschen Mitteilung zu machen. Die Folgen sind, bei aller Ruhe des Tons, im Grunde verheerend: nämlich die Entscheidung, die "Außenwelt" quasi endgültig auszuschalten, "keine ... auffallenden Veränderungen zuzulassen, wozu auch gehört, mit niemandem davon zu sprechen". (188) Die Begründung: Bagatellisierung und Isolierung, Wendung zur endgültigen Einsamkeit "deshalb, weil es eine kleine, rein persönliche und als solche immerhin
274
HI
Methoden/Praxisteil
leicht zu tragende Angelegenheit ist und weil sie dieses auch bleiben soll". Voll bitterer Ironie wird betont, dass die Bemerkungen des Freundes also doch einen Nutzen hatten. Nicht umsonst fragt Alice Miller in ihrem großen Essay über Kafka: "Was wäre geschehen, wenn Franz Kafka in seiner großen Verzweiflung über das Nichtheiratenkönnen, über die Tuberkulose, deren psychische Bedeutung er mit großer Klarheit gesehen hat, über die Qualen der Schlaflosigkeit und zahlreicher anderer Symptome das Sprechzimmer eines mit Triebdeutungen arbeitenden Analytikers aufgesucht hätte?" (308) Sie läßt in ihrer mit Recht polemischen Auseinandersetzung mit Gunter Mecke keinen Zweifel daran, "dass der Patient in seiner Analyse, d.h. in der Gegenwart, dem realen Trauma seiner Kindheit nochmals ausgesetzt" würde. (324/25) Der Icherzähler in der Kleinen Frau scheint eine minimale, ambivalente, aufflackernde und fast wieder erlöschende Hoffnung zu behalten, dass "diese Sache" eines/keines Tages doch noch entschieden wird, "und gewiß nicht morgen und übermorgen und wahrscheinlich niemals" (189), und hält diese Möglichkeit nur aus mit der wiederholten Versicherung, dass, selbst wenn sich die Öffentlichkeit endlich damit beschäftigen wird, sie ja in Wirklichkeit doch nicht zuständig ist. Genialer kann man einer psychoanalytischen Interpretation kaum die Wirklichkeit absprechen und sie gleichzeitig fordern, das Wissen andeuten, man werde "doch wohl nicht unbeschädigt aus dem Verfahren hervorgehen" und sich quasi über den herannahenden Tod hinaus, zu vergewissern, "dass ich in der Öffentlichkeit nicht unbekannt bin" (190) (was, auf Kafka übertragen, die Rettung der Manuskripte voraussetzte, T. M.). Darf man die Sache also endlich verhandeln, in der (vielleicht angemaßten) Rolle eines Sachkundigen, der nach längerem Zuhören dem Erzähler vielleicht mehr bieten könnte als den Rat zu verreisen? Astrid Lange-Kirchheim hat sich anhand der Kleinen Frau dafür entschieden und solide genetische und diagnostische psychoanalytische Erwägungen angestellt, die überzeugen. Der literaturwissenschaftlich-ästhetische Aspekt mag dabei, angesichts der notwendigen Knappheit, etwas zu kurz gekommen sein. Er wird auch in meinem Beitrag fehlen. Was mich gereizt hat, ihrer Deutung eine ergänzende hinzuzufügen, war die bei der Lektüre der Kleinen Frau9 spontan aufleuchtende Möglichkeit, dieses streitbare und irritierende Wesen der "kleinen Frau" ohne deren Interpretation als mütterliches Introjekt anzuzweifeln, als die abgewehrte weibliche Seite des Icherzählers (und damit wohl auch Franz Kafkas) zu deuten, als seine bitterböse und als unversöhnlich zur männlichen Seite in Kontrast stehend erlebte Anima (Jung), die natürlich zutiefst geprägt ist von den Katastrophen der frühmütterlichen Beziehung. Diese Deutung steht nicht im Widerspruch zu der von Lange-Kirchheim, sie greift sie vielmehr auf einer anderen metapsychologischen Ebene auf: nämlich dort, wo der weibliche
9
A. Lange-Kirchheim: Kein Fortkommen. In Frank Kafkas Erzählung "eine kleine Frau". In: Phantasie und Deutung. Würzburg 1986.
5 Die psychoanalytische Textinterpretalion
275
Anteil der biologisch gegebenen Bisexualität durch Identifikationen mit der Mutter (und Aspekten anderer Frauen, etwa der bedrohlichen Köchin im Hause Kafka u. a.) geformt und überformt worden ist. Es würde sich dann in der Erzählung nicht nur um einen verzweifelten Kampf mit einem noch immer zum Bereich der Mutter gehörigen, also leichter nach außen zu projizierenden Introjekt handeln, sondern um die unablässige und nicht aufzulösende Heimsuchung durch die eigene Weiblichkeit. Die Bitterkeit der Auseinandersetzung wäre dann zusätzlich dadurch determiniert, dass der weibliche Aspekt sich permanenter Verleugnung und Geringschätzung ausgesetzt sieht, sich dafür rächt und für beide Seiten die schiefe Bahn gegenseitiger Entwertung öffnet. Seit Winnicott Mashud Khan, Ronald D. Laing u.a. wissen wir, dass das Selbst vielfach geteilt sein kann. Die Teile können durch Abgründe voneinander getrennt sein und nichts voneinander wissen. Distanz und Feindseligkeit bzw. Ahnungslosigkeit der Teile voneinander hängen natürlich von den Identifikationsfragmenten ab, an die das Subjekt sich halten musste bzw. mit denen es abgespeist wurde, ebenso wie von Spannungsfeldern, innerhalb derer die Identifikationen stattfanden. Im Falle der Kleinen Frau haben wir den Kampfzustand des "geteilten Selbst" (Laing) vor uns. Da die Externalisierung des weiblichen Anteils zumindest für das Bewußtsein des Icherzählers geglückt scheint, dürfen wir uns nicht wundern, dass es sich um eine Beziehung handelt, in der man sich sozusagen zu Tode ärgert, ohne dass ein Selbstmord des seiner selbst bewußten und seine Autonomie betonenden Teils freilich eine Lösung brächte, denn der weibliche Teil würde ja, ohne je eine faire Lebenschance gehabt zu haben, mit untergehen, und er wehrt sich nach Kräften: "Ihre Unzufriedenheit mit mir ist ja, wie ich jetzt schon einsehe, eine grundsätzliche; nichts kann sie beseitigen, nicht einmal die Beseitigung meiner selbst; ihre Wutanfälle etwa bei der Nachricht meines Selbstmords wären grenzenlos." (187) Das klingt zunächst, als ob sie überleben würde, aber diese Phantasie ist bei ihrer Deutung als Introjekt oder reine Projektionsfigur ebenfalls absurd. Manche Passagen der Erzählung erscheinen in einem neuen Licht, versteht man sie als Szenen zwischen einem erbittert zerstrittenen Paar, das sich so weit auseinandergelebt hat, dass es selbst den Bestand einer Bindung zu leugnen versucht, und dieses Paar als Mann und Frau in einer Person und aufs äußerste verfeindet und nur noch durch die Feindschaft gebunden sieht: Trennung oder Milderung der Feindschaft erscheinen unmöglich. Sogar die Idee, dass sich die Feindschaft bis in die kleinsten Seelen- (und Körper-)teile eingenistet hat, ist bewußtseinsnah, und also auch die, dass es sich um das in der psychosomatischen Tiefenstruktur verankerte weibliche Selbstbild handelt: "... immer hat sie etwas an mir auszusetzen, immer geschieht ihr Unrecht von mir, ich ärgere sie auf Schritt und Tritt; wenn man das Leben in allerkleinste Teile teilen und jedes Teilchen gesondert beurteilen könnte, wäre gewiß jedes Teilchen meines Lebens für sie ein Ärgernis." (184) Die Anstrengung der Externalisierung durch den Icherzähler ist immer aus seiner Biographie kennen. Er schiebt es jedoch ihr zu, wenn er feststellt, "wie sie sichtbar unter diesem Ärger auch körperlich leidet. Es kommen hie und da, sich mehrend in letzter Zeit, Nachrichten zu mir, dass sie wieder einmal am Morgen bleich, übernächtigt, von Kopfschmerzen gequält und fast arbeitsunfähig gewesen sei." (185)
276
HI Methoden / Praxisteil
Es gibt weitere Hinweise auf die intime mannweibliche Verstrickung in einem einzigen Körper: dass "ihr Verhalten natürlich auch mir peinlich ist", selbst wenn es "kein liebendes Leid" ist; dass "diese unreine Sache" öffentlich zu besprechen dem weiblichen Teil "für ihre Scham zuviel wäre". (185) Noch andere Indizien sprechen für die These, dass es sich um eine unauflösliche innere Streitehe handelt, in der keiner obsiegen und den anderen auslöschen darf: "Es liegt ihr gar nichts daran, mich wirklich zu bessern", denn jede "Besserung" des männlichen Teils, die nicht den Kontrakt verändert, ist ja sinnlos. Der Icherzähler ahnt auch, die "Welt" könne ihm "die Frage stellen, warum ich denn die arme kleine Frau durch meine Unverbesserlichkeit quäle und ob ich sie etwa bis in den Tod zu treiben beabsichtige ... ". (186) Vor einem Introjekt kann man gelegentlich Ruhe haben, es mag sich besänftigen lassen; nicht allerdings, wenn es sich mit den eigenen weiblichen Anteilen liiert hat und somit durch deren Verleugnung, Entwertung oder Vermeidungsversuche ständig neu gekränkt wird. Die äußerste Ambivalenz, die sich doch fast zur Seite ausschließlicher Wut und Bedrohung aufgelöst zu haben scheint, wird auch spürbar in dem totalen Wechsel in der Deutung des Ursprungs der Beziehung: Der Icherzähler sagt, er hätte, selbst wenn die Frau krank wäre, "nicht das geringste Mitgefühl..., da mir j a die Frau völlig fremd ist und die Beziehung, die zwischen uns besteht, nur von ihr hergestellt ist und nur von ihrer Seite aus besteht" (186), ein Widerspruch also in einem einzigen Satz (er ist ja pausenlos mit ihr beschäftigt), ein Widerspruch, der wenige Sätze weiter manifest wird: Die "Welt" würde natürlich den Verdacht einer Liebesbeziehung hegen, obwohl er sich mit superlativischer Wucht einzureden versucht, dass "es bis zur äußersten Deutlichkeit zutage liegt, dass eine solche Beziehung nicht besteht", und nun kommt die Umkehr, nämlich: "dass, wenn sie bestehen würde, sie eher noch von mir ausginge". (186) Der Grund: Er könnte sie bewundern wegen "der Schlagkraft ihres Urteils und der Unermüdlichkeit ihrer Folgerungen". Aber dies bleiben nicht die einzigen positiv anerkannten Attribute der Frau; sie ist nämlich "recht schlank" (wenn auch stark geschnürt). Alle Attribute könnte man mit einer "wenn auch"-Schleife versehen: Das Haar ist "stumpf-blond" (blond, wenn auch stumpf; sie ist beweglich (wenn sie die Beweglichkeit auch übertreibt), sie hat eine "völlig normale Hand" (wenn auch mit "scharf voneinander abgegrenzten" Fingern. (183/4) Eine gewisse liebevolle Faszination scheint mir unverkennbar, zumal er ihre Urteile zunächst "ihrem Schönheitssinn, ihrem Gerechtigkeitsgefühl, ihren Überlieferungen, ihren Hoffnungen" zuschreibt, Eigenschaften, die ihr eine durchaus anziehende Würde verleihen. Nur die "Scham" hindert sie, anders als durch "die äußern Zeichen eines geheimen Leides ... die Angelegenheit vor das Gericht der Öffentlichkeit zu bringen". (185) Mit Recht, denn was würde wohl geschehen, wenn der abgewehrte weibliche Teil plötzlich öffentlich zu agieren begänne? Von hier aus ist der Weg nicht mehr weit zu den von Mecke so kriminalistisch-persekutorisch herausgearbeiteten homosexuellen Tendenzen bei Kafka, und doch scheut man sich und würde wohl auch zu Unrecht mit so globalen diagnostischen Zuordnungen das komplizierte, konflikthaft wogende Gleichgewicht zwischen männlich und weiblich als "latent homo-
5 Die psychoanalytische Textinterpretation
111
sexuell" bezeichnen. Kafkas Gebärphantasien im Umkreis seiner ersten Erzählungen sprechen eine andere Sprache.10 Verwenden wir noch einige Gedanken auf die Frage, wie es zu diesem Ausmaß an Feindseligkeit gegenüber der eigenen Weiblichkeit gekommen sein könnte, und sehen uns zuerst im Text um: Alles deutet bei der "Kleinen Frau" auf eine unterdrückte Koketterie hin, die bei einem Mann natürlich stark effeminiert wirken würde. Die wichtigste Geste aber, auf die der Erzähler einen ungewöhnlich langen und verschnörkelten Satz verwendet, ist das Spreizen der Finger. Der Leser möge einmal mit seiner eigenen Hand experimentieren: Es gibt kaum eine andere Erklärung dafür als die, dass die Frau unbewußt körpersprachlich einen äußersten Schrecken und panikartige Abwehr einer Gefahr darstellt, allenfalls noch, falls man die Handinnenflächen sich selbst zuwendet, eine große und reizvolle Fremdheit, fast einen Identitätsverlust. Diese Grundgefühle, ebenso wie die Fähigkeit der Frau, als zentralen Beziehungsinhalt Ärger zu empfinden, laden in der Tat eher zur Externalisierung als zu fröhlicher Identifikation ein. Die gleiche Lösung liegt nahe, wenn wir uns die frühe Biographie Kafkas ansehen: Die Mutter steht ihm zwar in ihren liebenswerten Eigenschaften viel näher, aber sie war entwertet, dem Vater fast hörig, unselbständig, überarbeitet und eben in dieser extremen Weise auf ein dominierendes und ihre Autonomie vernichtendes männliches Wesen bezogen wie die "Kleine Frau". Dennoch ist die Hypothese nicht allzu gewagt, dass sie als Identifikationsobjekt immer noch anziehender war als der Vater in seiner niederwalzenden Mächtigkeit, wie sie im Brief an den Vater beschrieben wird, nur dass es eben angesichts der Gegengeschlechtlichkeit und der extremen Entwertung der Mutter nahelag, diese Identifikation in den Untergrund zu verdrängen, selbst wenn ihre (bzw. der "kleinen Frau") Zähigkeit, Beweglichkeit und Frauenschlauheit möglicherweise die Quelle der Lebendigkeit auch des Icherzählers bilden. Doch dies wiese er wohl weit von sich, zumal seine "weibliche Seite" manche Aspekte enthält, die als für weibliche Schwäche typisch und verächtlich gelten: Sie bekommt einen Schwächeanfall, muss sich an der Stuhllehne festhalten, wie in Panik "an ihrem Schnürleib herumnesteln"; sie vergießt "Tränen des Zorns und der Verzweiflung", um zuletzt dem großmäuligen und zur Tagesordnung übergehenden männlichen Verdikt zu verfallen: "Frauen wird leicht übel, die Welt hat nicht Zeit, auf alle Fälle aufzupassen". (189) Man ahnt leicht, wieviel Selbstverachtung des allzu früh auf Sanatorien angewiesenen Mannes Franz Kafka hier durch Verschiebung auf die Seite der Frau oder seines eigenen weiblichen Selbst verarbeitet wurde. Für
M. Mitscherlich spricht in ihrem grundlegenden Aufsatz sowohl von "passiv femininen Liebesbedürfnissen" (64) wie von "untergründigen homosexuellen Wünschen" (77) oder von "masochistischhomosexuellen Wünschen", die mit "ozeanischen Verschmelzungswünschen" liiert seien. (8o) Sie legt auch besonderes Gewicht auf die "Identifikationen" mit der Mutter, die durch intensive äußere wie psychische Trennungserlebnisse verstärkt würden. Vermutlich läßt sich sogar von einer "globalen Identifizierung" mit der Mutter im Sinne von Müller-Pozzi sprechen, die dann eintritt, wenn es überhaupt nicht zu einer befriedigenden präverbalen Interaktion kommt, die die Voraussetzung für die Bildung von Autonomie und Identität ist.
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III Methoden / Praxisteil
den mit der Körpersprache vertrauten Analytiker (oder Regisseur oder Spielpädagogen) gewinnt die bis ins Körperschema reichende Doppelgeschlechtlichkeit des Icherzählers schließlich eine fast groteske Evidenz durch eine Geste, wie man sie bei Kindern, Männern und Frauen findet, die in ihr Körperbild unbewußt die Merkmale des anderen Geschlechts mit aufgenommen haben und ebenso unbewußt meinen, man müßte es ihnen ansehen. Es heißt nämlich, obwohl der Ich-Erzähler die fortdauernde Unruhe über die "kleine Frau" als eine Alterserscheinung abtun will: "Von wo aus also ich es auch ansehe, immer wieder zeigt sich, und dabei bleibe ich, dass, wenn ich mit der Hand auch nur ganz leicht diese kleine Sache verdeckt halte, ich noch sehr lange, ungestört von der Welt, mein bisheriges Leben ruhig werde fortsetzen dürfen, trotz allen Tobens der Frau". (190) Die Hand verdeckt dann buchstäblich unbewußt oder symbolisch eine Vagina, ebenso wie Frauen in therapeutischen Szenen durch Verdecken darauf hinweisen können, dass das unbewußte Körperschema einen Penis einschließt. Die "kleine Frau" zeigt Züge, die sie verlockend oder bewunderungswürdig machen, wie auch Aspekte, die den Icherzähler schrecken. Ihr Inbegriff ist wohl die eingeschnürte Beweglichkeit mit den beiden Polen von Schönheitssinn und fingerspreizender Panik. Angesichts des Identifikationsdrucks (aufgrund der psychischen Unverträglichkeit des Vaters), der Kafka auf die Mutter zutrieb, wäre es nicht verwunderlich, wenn er auf der Suche nach "brauchbaren" Zügen nicht nur die negativ-ablehnenden Züge, die eher ins abweisende Introjekt eingingen, aufgespürt hätte, sondern auch die in der Familienatmosphäre brachliegenden, eher lebenslustigen und koketten Tendenzen der Mutter; mit ihnen hätte er aber gleichzeitig eine Anima genährt, die angesichts einer schwachen männlichen Identität einen gefährlichen Sog zur weiblichen Seite in Gang setzt. So beglückwünscht sich der Icherzähler schließlich dazu, dass seine "Anschauung" von der Sache (die sich selbst nicht verändert) sich wandelt, insofern sie "teils ruhiger, männlicher wird" und schon kommt das aufhebende Gegenteil, "eine gewisse Nervosität annimmt". (188) Obwohl er sich in der beruhigenden Phantasie wiegt, "ein anderer als ich" hätte die kleine Frau vielleicht längst "als Klette erkannt" ... und unter seinem Stiefel zertreten (190), folgt doch sofort das erneute Geständnis einer Unruhe, die weit ins Somatische reicht: Er fängt an, "gewissermaßen nur körperlich, auf Entscheidungen zu lauern ... ". (190) Es handelt sich, je mehr die Jahre vergehen, doch zunehmend um einen psychosomatischen Prozess, bei der die beiden Subjekte (die in meiner Deutung verfeindete Subjektkerne innerhalb eines einzigen Gesamtsubjektes sind) gar die Symptome tauschen können und nicht mehr erkennen, wer wen mehr beunruhigt. Die äußerste Intimität der Kenntnis des Anderen, wie sie bei getrennten Subjekten wohl nur bei psychotischer Wahrnehmung denkbar ist, wird schließlich dadurch deutlich, dass der Icherzähler von seinen Versuchen berichtet, sich nicht ohne Mühe und Sorgfalt zu ändern, wobei es aber auf das reale Ergebnis gar nicht ankommt, weil das ins Subjekt eingelagerte Subjekt, ja, hier in Teilen des Gewissens oder dem Auge Gottes ähnlich, nur aber mit weiblichem Scharfsinn und intrasubjektiver Hellsicht versehen, gleichsam magisch auf die Intention, nicht auf die Ausfuhrung reagiert. Denn auf die Änderungen muss er sie gar nicht "aufmerksam machen, sie merkt alles Derartige früher als ich, sie merkt schon den
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Ausdruck der Absicht in meinem Wesen ... " (187); und ebenso genau kennt er ihre Reaktionen und kann sie antizipieren. Dieser erbarmungslose Kampf gegen die eigene weibliche Seite, die in der Folge ebenso erbarmungslos und unablässig an ihm nörgelt und gleichzeitig hoffnungslos unter seinem Versuch, sie loszuwerden, leidet, kann natürlich, anders als es sich der Icherzähler einzureden versucht, nicht zu einer wirklich entfalteten Männlichkeit fuhren. Der Kampf gegen die "kleine Frau" scheint damit auch wie ein ferner Nachhall des fünfjährigen Briefkampfes von Kafka um Feiice Bauer, in dem er noch um ihr Verstehen ringt (wie um sein eigenes) bis hin zu der rührenden Geste, ihr ein Kinderbild zu schicken, "das böse Gesicht war damals Spaß, jetzt halte ich es für geheimen Ernst". (Wagenbach, mit Bild, S. 25). Kafka konnte sie nicht als freundliche, von ihm getrennte Anima in sein Leben aufnehmen. Die eigene Weiblichkeit musste ihm deshalb um so suspekter werden. Dem Kampf in der Kleinen Frau um die Externalisierung entspricht in den Briefen an Feiice noch der Kampf um die Verlobte, die auch ferne Projektionsfigur war, ein Kampf, der, hört man genau auf seine Worte, dem um orale Einverleibung gleicht: "Du nun gehörst zu mir, ich habe Dich zu mir genommen; ich kann nicht glauben, dass in irgendeinem Märchen um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als um Dich in mir, seit dem Anfang und immer von neuem und vielleicht für immer. Also gehörst Du mir." (730) Und wie um zu zeigen, dass auch er Teile von sich hin und her schieben muss, folgt wenig später: "Dass zwei in mir kämpfen, weißt Du. Dass der bessere der zwei Dir gehört, daran zweifle ich gerade in den letzten Tagen am wenigsten" (55). Man kann sich fragen, ob Kafkas Leben nicht anders verlaufen wäre, wenn das Urbild des "Freundes" aus der kleinen Frau nicht nur, wenn Kafka, wie der Icherzähler, ihm sein Problem vortrug, geraten hätte, "ein wenig zu verreisen. Trotz des vorwiegend triebtheoretisch orientierten Standes der damaligen Psychoanalyse läßt sich ein Therapeut mit hochentwickelter Intuition vorstellen, der genug intrapsychisches szenisches Verständnis gehabt hätte, um nicht sofort in die Deutungsmuster des topischen oder des Strukturmodells von Freuds Triebabwehr- und Sublimationskonstrukts zu verfallen. Eine Reihe von Schriftstellern fühlte sich auch durch die damalige Psychoanalyse verstanden, zum Überleben fähiger gemacht und in ihrer Kreativität gefordert. Sie müssen die Utopie des Verstandenwerdens durch einen Menschen festgehalten haben, während sich bei Kafka Resignation breitmachte, eine immer hellsichtigere Selbstdiagnostik und der Entschluß, "die Sache", die ja schließlich doch lebensbedrohlich wurde, als "eine kleine, rein persönliche ... Angelegenheit« zu betrachten, nicht zuletzt wohl wegen der Überzeugung, er werde "nicht unbeschädigt aus dem Verfahren hervorgehend (189), wenn auch mit den mildernden Umständen, dass die Öffentlichkeit ihn später längst als ihr "achtenswertes Mitglied" erkannt hat. Spätestens seit Winnicott wissen wir, dass der Analytiker, ist er nur hellsichtig genug, die Anwesenheit verschiedener, auch polarisierter Selbstanteile spüren, mit ihnen sprechen kann, als handelte es sich um selbständige Subjekte. Sie antworten ihm aus dem Zentrum ihrer abgespalteten, lange verleugneten und beschämt versteckten Identität
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III Methoden / Praxisteil
heraus. In einem seiner Fallbeispiele wandte er sich z. B. an das junge Mädchen, das, diesem unbekannt, in einem älteren Mann eingelagert war. Vor allem die Gestalttherapie hat unsere szenischen Möglichkeiten, mit den Fragmenten eines geteilten Selbst umzugehen, erheblich erweitert, aber auch in der Psychoanalyse gewinnt das szenische Denken angesichts von Selbstanteilen zunehmend an Boden. Im Falle des Icherzählers der Kleinen Frau, und wohl auch Franz Kafkas selbst, wäre es gleichgültig, ob er je nach theoretischer Ausrichtung des Therapeuten oder der ihm zugänglichen vorbewußten Wahrnehmung mit der abgespaltenen Weiblichkeit in Kontakt träte oder mit dem externalisierten Introjekt. Es bedarf allerdings intensiven Augenkontakts, um den jeweils draußen gehaltenen Teil zu entdecken, will man nicht darauf warten, bis er sich in einer Übertragungsverwirrung zeigt. Was also würden wir heute tun, wenn sich der IchErzähler der Kleinen Frau oder auch ein Mensch von der verschreckbaren Sensibilität eines Kafka bei uns einfände, der die Bereitschaft zum endgültigen Rückzug aus der Kommunikation über seine psychische "Krankheit zum Tode" in der Form des "lauernden Blickes eines alten Mannes" (190) mit sich brächte? Wir verdanken diesem Rückzug ins Schreiben so viel, dass es vermessen wäre, eine Güterabwägung zu treffen: das Werk auf der einen, das Ausmaß des Leidens auf der anderen Seite. Aber ein einziges Mal hat der Icherzähler ja die Kommunikation versucht. Es geht mir hier nicht so sehr um nachträgliche Phantasien über eine mögliche Psychotherapie Kafkas - der Therapeut hätte auf jeden Fall ein Dolmetscher sein müssen für das zerstrittene Selbst, als vielmehr um die These, dass Schriftsteller wie Kafka stellvertretend durch ihre Gestaltungskraft wie durch ihre Leidensfähigkeit seelische Erkrankungen, die bisher unbekannt waren, in eine Gestalt bringen und sich für ihre Darstellung bisher unbekannte Mitteilungsformen wählen. Da man annehmen kann, dass es sehr viele Menschen gibt, die sich mit analogen Problemen herumschlagen und die ähnliche Formen der vorsichtigen Enthüllung sowie, in der Gegentendenz, der tarnenden Verhüllung und der irreführenden Externalisierung wählen, hilft uns die Analyse einer solchen Erzählung vielleicht, auch für den Umgang mit Patienten Neuland zu erschließen. Dies soll nicht als utilitaristische Reduktion des Kunstwerks oder seiner Analyse zum wohlfeilen Musterfall einer Neuroseform und ihrer tastenden Kommunikation verstanden werden. Es ist aber meine Überzeugung, dass es gerade der oft einer psychoanalytischen Interpretation entgegengehaltene Kunst-Charakter eines Werkes ist, der eben durch das Ausmaß des Gestaltungswillens und der Gestaltungsfahigkeit des Künstlers weitere Aufschlüsse gibt über das zugrunde liegende psychische Geschehen, indem er den Prozess von Offenbaren, Verschleiern, Überarbeiten und legitimitätsuchender oder schamüberwindender Transformation in die Form sozusagen ins Unendliche treibt; wie uns umgekehrt eine verfeinerte Kenntnis des mitgeteilten psychischen Konfliktpotentials mehr Informationen über die Wahl der künstlerischen Mittel und die unzähligen ästhetischen Entscheidungen liefern wird, die der Künstler trifft. Da es sich bei der Kleinen Frau um eine Art Vermächtnis hinsichtlich elementarer Kommunikationsentscheidungen in Kafkas Leben zu handeln scheint, darf man auch jeden Satz als vielfach determiniert ansehen. Dieser Hinweis mag rechtfertigen, dass ich der plausiblen
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Ansicht von A. Lange-Kirchheim so unmittelbar eine ergänzende Deutung an die Seite stelle. Die Wahrheit mag zwischen der "Objektivität" des Textes und der jeweiligen Perspektive des Interpreten liegen. Der Text wird durch den Interpreten ja erst wirklich konstituiert, soweit er ihn freilich nicht entstellt. Der therapeutische Gewinn wäre vermutlich von beiden Zugängen her der gleiche, machte man ihn zur diagnostischen Voraussetzung für die Eröffnung einer Behandlung. Franz Kafka selbst hat seine männlichen und seine weiblichen Anteile im Leben nicht in fruchtbarer Weise auseinanderdividieren oder in lebensbejahender Form zusammensetzen können. Er scheint in der Hingabe ans Schreiben zu einer Art androgyner Einheit gefunden zu haben, die ihn allerdings nur trug, solange er schrieb. Deshalb kommt dem Schreiben wohl auch die Funktion einer synthetischen Droge" zu. Kafka hat sich irgendwann zur vollkommenen Abhängigkeit von dieser Droge bekannt, mit den entsprechenden Vernichtungsphantasien. Das Schreiben, so läßt er immer wieder erkennen, hat an den Grundkonflikten nichts geändert, nur an der Fähigkeit, sie auszuhalten. Hierin liegt vielleicht die Tragik jenes in der Kleinen Frau angedeuteten mißglückten Kommunikationsversuchs mit dem "Freund": Es muss für einen Schriftsteller entsetzlich sein, wenn er spürt, dass sein Schreiben keine selbstheilende Kraft mehr entfaltet, sondern nur noch das Protokoll eines Untergangs ist. Nehmen wir also noch einmal an, es handle sich bei der Kleinen Frau um eine Art selbstdiagnostisches Vermächtnis (einschließlich der Auseinandersetzung mit der Idee einer Psychotherapie sowie der vorausphantasierten "Wiederaufnahme" des diagnostischen Verfahrens posthum), so erhebt sich noch einmal die Frage des (hypothetischen) therapeutischen Zugangs. Meine Hypothese ist, dass Kafka, hätte er sich einer psychosomatischen Behandlung unterzogen, vermutlich über lange Zeit zunächst eine sogenannte "Kokon"-Übertragung herzustellen versucht hätte, also eine Neuinszenierung von Nichtgetrenntheit, Verschmelzung, vielleicht sogar fötaler Geborgenheit, um dann allmählich "auszuschlüpfen" und sich zu individuieren. Mit Sicherheit wurde der Umgang mit solchen technisch-therapeutischen Problemen damals nicht gelehrt, sie waren auch theoretisch noch kaum faßbar. Leichter wäre der Zugang zum geteilten "Selbst" vermutlich auch heute mit den szenischen Möglichkeiten einer psychoanalytisch fundierten Gestalttherapie, die sowohl dem Therapeuten wie einem der Selbstkerne des Patienten durch die Inszenierung erlaubt, mit den abgespaltenen Teilen in Kontakt zu treten und sie im intrapsychischen Rollenspiel zu erforschen und allmählich zu integrieren. Die Kokon-Übertragung kann dabei ganz unexplizit verlaufen: Der Kokon ist der vom Therapeuten getragene Bühnenraum der Inszenierung, in den, gleich dem Raum der Übertragung, nach den Selbstteilen allmählich auch die konturierten Objekte der Kindheit eintreten können. Mit aller Vorsicht möchte ich die Kleine Frau mit einem
M. Mitscherlich verweist auf Äußerungen Kafkas zum gleichen Thema, wonach Schreiben für ihn war "wie einem Irrsinnigen sein Wahn" oder "eine Form des Gebets" (63).
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III Methoden / Praxisteil
neuen Begriff benennen, dem des "Extrojekts", ohne ihn metapsychologisch schon genauer fassen zu können. Es handelt sich nicht um Projektion, weil diese ein reales äußeres Objekt voraussetzt, auf das projiziert wird. Dem Icherzähler bleibt aber bewußt, dass die "Kleine Frau" in einem fast ausschließlich auf ihn bezogenen Zwischenbereich lebt. Sie ist aber auch kein Wahngebilde, weil er sich der besonderen Existenzform zwischen außen und innen reflektierend bewußt bleibt und ihm nur begrenzten Einfluß auf sein Leben erlaubt. Obwohl Teile der "Kleinen Frau" genetisch als "Introjekt" wohl korrekt beschrieben sind, wird es doch mit Macht stets außerhalb der Selbstgrenzen zu halten versucht. Es wird, anders als Introjekte, nie angeeignet; nie ichsynton erscheint nur das Ringen um die Externalisierung und die strategischen Erwägungen zum Umgang mit ihm. Es ist ein Teil des Ich-Erzählers, der doch stets draußen bleibt. (1986) Schrifttum Franz Kafka: Die kleine Frau. In: Gesammelte Werke, Fischer Taschenbuchausgabe, Bd. 4,1976. Ders: Briefe an Milena, Fischer Taschenbuchverlag, 1976. Gunter Mecke: Franz Kafkas Geheimnis. In: Psyche, 1981, S. 209-236. Alice Miller: Dichtung (Das Leiden des Franz Kafka). In: Du sollst nicht merken. Frankfurt 1981. M. Mitscherlich-Nielsen: Psychoanalytische Bemerkungen zu Franz Kafka. In: Psyche. 1977, S. 60-83. Heinz Müller-Pozzi: Die Angst vor Liebesverlust und der Verzicht auf Individuation. In: Psyche 1985, S. 877-904. Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. Berlin 1989
Übungsaufgabe 16 Lesen Sie Kafkas "Kleine Frau" und setzen Sie sich ganz bewußt den Irritationen des Textes aus. Notieren Sie kurz ihre "Übertragungen" und vergleichen Sie diese mit Mosers Ausfuhrungen. Wo liegen Ähnlichkeiten, wo Unterschiede?
5 Die psychoanalytische Textinterpretation
Übungsaufgabe 17 K u r s k r i t i k Notieren Sie kurz: Welche Kursteile sind ihnen besonders schwer-/leichtgefallen? Welche Kursteile waren besonders interessant/langweilig? Welche Kursteile haben Interesse auf "mehr" geweckt? Welche Interpretationsmethoden würden Sie auswählen, warum?
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IV
IV Anhang / Musterlösungen
ANHANG / MUSTERLÖSUNGEN
Übungsaufgabe 1 1
Alltägliche Beschreibung
Gespräch im Gasthaus nach einem Schitag A trifft seinen Freund B am Biertisch und erzählt ihm: "Stell Dir vor, heute war ich Schifahren in W. Wie ich in W. ankomme, der ganze Parkplatz schon voll Autos, rate woher die alle gekommen sind". B:" Kunststück, natürlich Deutsche, was denn sonst." A: "Ja, und kannst Du Dir vorstellen was an der Liftstation los war, eine Viererkolonne von der Station bis zum Gasthaus zurück. Am liebsten wäre ich gleich wieder umgekehrt. Und dann so ein Idiot, natürlich ein Deutscher, kann sich nicht einmal richtig anstellen und steht mir vor lauter Drängelei hinten auf meine neuen Schi." B: "Ja natürlich, und schon hast Du einen Kratzer im Schi." A: "Ja klar, aber dem habe ich ordentlich meine Meinung gesagt! Und dann, ja, Du hast ja keine Ahnung wie blöd sich manche beim Einsteigen in den Sessel anstellen, alle paar Augenblicke musste der Lift abgestellt werden." B: "Natürlich die Frauen, oder?" A: "Ja klar, aber sonst war es ein toller Tag, super Wetter, super Schnee." Hebt sein Bier: "Zum Wohl!" Kennzeichen der Alltagsbeschreibung Die Alltagsbeschreibung ist persönlich und spiegelt die Bedürfnisse des Erzählenden, seine Befindlichkeit und seine Erlebnisweise wider. Sie ist wertend, unsystematisch und "naiv" in dem Sinne, dass die Beobachtung unreflektiert als Wirklichkeit genommen wird. Sie ist auch einseitig, weil der Gegenstand nur aus der subjektiven Perspektive gesehen und beschrieben wird. Diese Alltagsbeschreibung ist als "unwissenschaftlich" oder als "vorwissenschaftlich" zu charakterisieren.
2 Qualitative Beschreibung Kennwort: Liftstation Zeit: 26.12.1998, 10.00 Uhr (Weihnachtsferien) Ort: W., Talstation des Jägeralpliftes, 1.450 Meereshöhe Situation: Parkplatz: bis auf wenige Plätze voll, ca. 80% PKW, 20% Busse Liftstation: Warteschlange in Viererreihe ca. 50m lang.
IV Anhang / Muslerlösungen
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Beobachtung: 1. Die Abfertigung der Wartenden erfolgte aufgrund des neuen Viererliftes relativ rasch, einige drängten ungeduldig und standen dem Vordermann auf die Schi. Einige bemerkten dies nicht, andere schimpften verärgert wegen der Beschädigung ihrer Schi, ausländerfeindliche Bemerkungen fallen. 2. Während des Beobachtungszeitraumes musste der Lift einmal abgestellt werden wegen eines Kindes, das offensichtlich Angst hatte, auf den fahrenden Sessel aufzusteigen.
Kennzeichen der qualitativen Beschreibung Die qualitative Beschreibung enthält deutlich mehr "Objektivität", weniger Wertung, und ist systematisch gegliedert. Sie ist weniger einseitig und mehr auf den Gegenstand bezogen als die Alltagsbeschreibung. Die Alltagsbeschreibung abstrahiert von vielen Seiten des Faktischen zugunsten der Einseitigkeit des subjektiven Erlebens und Bewertens. Die qualitative Beschreibung dagegen abstrahiert von der Einseitigkeit und bewegt sich zu auf die Lebendigkeit des Gegenstandes.
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Quantitative Beschreibung
Der Parkplatz füllte sich zunehmend von 8.00 bis 10.00 Uhr auf 75% der Parkfläche und blieb dann konstant bis 11.00 Uhr. Zwischen 11.00 und 12.00 Uhr füllte sich der Parkplatz auf 100%. Der Grund für das neuerliche Ansteigen der Parkplatzbelegung dürfte in der Tatsache liegen, dass ab 12.30 die Halbtagskarten ausgegeben werden. Dass der Platz von 12.00 bis 16.00 Uhr zu 100% ausgelastet war, liegt an der Hochsaison während der Weihnachtsfeiertage. Um 16.00 Uhr leert sich der Platz sehr schnell, da die Lifte um 16.00 Uhr abgestellt werden.
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IV Anhang/Musterlösungen
Liftwartezeiten
Die Wartezeiten am Lift bewegen sich zwischen 3 und 10 Minuten. Zwischen 8.00 und 9.00 betragen sie 5 Minuten, ab 10.00 sind die meisten "Ganztagsfahrer" auf der Piste. Um 10.00 haben leichte Schneefalle eingesetzt und wohl deswegen zu einer kürzeren Wartezeit gefuhrt. Ab 12.00 kommen auch die "Halbtagsfahrer" auf die Piste. Ab 12.00 macht sich dann die Mittagspause durch kürzere Wartezeiten bemerkbar. Die Unterbrechungen des Liftbetriebes lassen sich wohl am ehesten mit der Auslastung des Liftes und mit den Ermüdungserscheinungen der Schifahrer am Nachmittag verstehen.
IV Anhang / Musterlösungen
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Kennzeichen der quantitativen Daten Im Vergleich zur Alltagsbeschreibung und zu den qualitativen Daten sind die quantitativen weniger subjektiv und insofern "wissenschaftlicher". Sie sind aber auch nicht wirklich "objektiv", weil die Auswahl der dargestellten Varianten nicht zwingend ist, sondern von mir mehr oder weniger willkürlich gewählt worden ist. Die Daten sind stärker abstrahiert als die qualitativen, verlieren aber an Wirklichkeitsnähe und Lebendigkeit. Auch eine Vervielfältigung quantitativer Daten würde daran nichts ändern. Die qualitative Form stellt Zusammenhänge in struktureller und zeitlicher Hinsicht dar, in der quantitativen Form werden gleichwertige Elemente in unterschiedliche "Menge", also Differenzen der Häufigkeit aufgelistet.
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IV Anhang / Musterlösungen
Übungsaufgabe 2 Die Gegenstände der Naturwissenschaften lassen sich als von der Natur vorgegebene Realitäten beschreiben, d.h., die Naturwissenschafter gehen davon aus, dass es eine unabhängig von den Menschen existierende Wirklichkeit gibt. Dabei nehmen sie eine gleichförmige Kontinuität der Gegenstände an. Zu den Naturwissenschaften zählen beispielsweise die Physik, Chemie, Medizin und die Biologie. Entsprechend den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen unterscheiden sich sowohl die wissenschaftlichen Untersuchungsfragen, als auch die Wege und Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns. Naturwissenschaftliches Arbeiten ist u.a. auch dadurch charakterisiert, dass man bezüglich der beforschten Gegenstände und der Theorien eine strukturelle Unterscheidung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen vornehmen kann. Aufgrund der relativen Konstanz (zumindest über einen bestimmten Zeitraum) ist es in den Naturwissenschaften üblich, deduktiv-nomologisch zu arbeiten. Bei der Durchführung eines Experiments wird der spezifische Einzelfall auf die jeweiligen Gesetzmäßigkeiten hin überprüft, d.h. es wird vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen. Betrachten wir z.B. das physikalische Phänomen der Schwerkraft, so können wir sagen: "Alle Steine fallen zu Boden". Dieses naturwissenschaftliche Gesetz kann immer wieder erprobt und verifiziert werden (wichtig ist dabei, dass die ursprünglichen Untersuchungsbedingungen weitgehend dieselben bleiben). Lediglich die Geschwindigkeit und die Dauer des Falls werden von bestimmten Faktoren, wie beispielsweise dem Gewicht des Steins, der Fallhöhe etc. abhängen. Die Gegenstände der Sozialwissenschaften existieren nicht unabhängig von den Menschen, sondern sie werden von ihnen produziert. Es geht um Individuen in sozialen Bezügen, die soziale Realitäten schaffen. Diese Realitäten sind keineswegs konstant, sondern unterliegen bezüglich ihrer Struktur und Bedeutung Veränderungen, was bedeutet, dass sie sich (weiter-)entwickeln und bewegen. Das Interesse der Sozialwissenschaften gilt der Erkenntnis dessen, wie eine spezifisch untersuchte Gruppe bestimmte, ausgewählte, den Forscher interessierende Gegenstandsbereiche konstituiert. Gegenstände der sozialwissenschaftlichen Forschung können somit beispielsweise Gruppen (z.B. Gruppe von Teenagern), soziale Institutionen (z.B. Schulen, Familien und Kirchengemeinden), Vereine (z.B. Tennisclub), soziales Handeln (z.B. das Arbeiten), Nonnen (z.B. der Händedruck zur Begrüßung), Werte (z.B. konservative versus progressive Werthaltungen) und Ideologien (z.B. anarchistisches Gedankengut) sein. Soziale Realitäten lassen sich nicht einfach in ein Allgemeines und Besonderes einteilen. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil sich die Lebenssituationen und -muster von Individuen nicht ohne Weiteres in eine allgemeine Struktur, in ein allgemeines Raster einbringen lassen; sie sind genauso subjektiv und einzigartig wie die Individuen selbst.
IV Anhang/ Musterlösungen
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Es gilt deshalb auch kein deduktions-logisches Verhältnis zwischen dem Besonderen, dem Einzelnen und dem Allgemeinen. Daher kann man auch nicht, so wie in den Naturwissenschaften, Allsätze wie "Ein Stein fallt immer zu Boden" formulieren. Ein Allsatz die Sozialwissenschaften betreffend könnte z.B. lauten "Alle weinenden Menschen sind traurig". Dieser Satz würde das Weinen der Menschen lediglich auf die Trauer reduzieren und alle anderen Gründe, weshalb Menschen weinen, ausschließen: z.B. Trauer, Freude, Hilflosigkeit, Zorn, Reizung der Augen etc. In den Sozialwissenschaften müssen die Individuen, die bestimmte Phänomene produzieren bzw. daran teilhaben, in die Forschung mit einbezogen werden; es wird nicht reichen, lediglich die Phänomene zu betrachten.
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IV Anhang / Musterlösungen
Übungsaufgabe 3 Hierarchisierung Der Aspekt "Hierarchisierung" bezieht sich in der vorgetragenen Kritik hauptsächlich auf die Struktur der Untersuchungssituationen; bereits Haltung und Umgangsformen, die "Untersuchungsleiter" gegenüber ihren "Probanden" einnehmen, weisen Analogien zu denen zwischen Vorgesetztem-Untergebenem/n bzw. Manager-Angestelltem auf; im berühmten "Milgram-Experiment" z.B. wird eindrucksvoll (und erschütternd zugleich) die kritiklose Unterwerfung unter die Autorität der "Weißmäntel", die bis zur Tötung auf Anweisung geht, vorgeführt. Der Proband ist in diesem experimentellen Labor-Verhältnis nur als Absonderer von untersuchungsrelevanten Informationen von Interesse; andere (bzw. überhaupt) Aspekte seines Menschseins sind darin allenfalls unerwünschte Störfaktoren; die Relevanz (ihr "definitiver Realitätsgehalt") solcher standardisierter Untersuchungen ist allein schon dadurch gegeben, dass die Bürokratisierung und die damit einhergehende Hierarchisierung j a nicht nur Spezifika der etablierten Sozialforschung sind, sondern für weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ebenso zutreffen (zumal bestimmte Forschungsarbeiten für eben diesen Zweck angestellt werden, die gesellschaftliche "Realität" noch weiter in diese Richtung umzugestalten). Für lebensweltliche oder subkulturelle Fragestellungen ist ein solches Vorgehen mehr als fraglich; von daher ist die Verallgemeinerbarkeit solcher Forschungen anzuzweifeln.
Vorstrukturierung Das zweite Kennzeichen der bürokratischen Umgestaltung der Untersuchungssituation ist die Vorstrukturierung aller darin vorgesehenen sozialen Aktivitäten. Vor allem sind die Handlungsmöglichkeiten des Forschers eingeschränkt. Er hat nicht nur die Reaktionen der Untersuchten unter Kontrolle zu bringen, sondern muss auch sich selbst kontrollieren und zurücknehmen. Dabei werden soziale Interaktionsbedingungen unterdrückt, was zu einer Beeinträchtigung der Beobachtungsmöglichkeiten auf Seiten des Forschers fuhren kann. Auch verarmt eine solche Untersuchungssituation in kognitiver Hinsicht. Denn Lernprozesse sind während der standardisierten Forschung nicht vorgesehen, wenn, dann vor oder auch nach ihres Ablaufes, weil der Forscher schon im Voraus weiß, was er in Erfahrung bringen will. Dadurch wird ein Verstehen und eine Weiterentwicklung während der Untersuchung verhindert.
IV Anhang/Musterlösungen
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Reduzierung und Abwertung der Untersuchungssituation Durch die vom Forscher hergestellte soziale Distanz bei der bürokratisierten Forschung wird die unmittelbare sinnliche Erfahrung unterdrückt. Diese Distanz entsteht durch die zeitliche Beschränkung, durch das Ausblenden der realen Umwelt des Probanden aus der Untersuchungssituation oder durch das Delegieren der Untersuchungserhebungen an Hilfskräfte. Somit fließt die sinnliche Erfahrung kaum mehr in das Untersuchungsergebnis ein. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass das Ergebnis oft zuwenig im historischen Kontext gesehen wird. Um Menschen klassifizieren und standardisieren zu können, ist es notwendig zu abstrahieren. Somit scheiden alle Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens als Untersuchungsziel aus bzw. es wird versucht, eine künstliche Gleichstellung der Probanden herzustellen. Durch die vordefinierte Struktur der Untersuchung in der quantitativen Sozialforschung kann kein Erkenntnisprozess während der Forschung stattfinden. Die eigentliche Untersuchungstätigkeit verliert durch die technische Vorbereitung bzw. Ausarbeitung an Bedeutung. Somit schwindet der Realitätsbezug der Forschung.
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IV Anhang / Musterlösungen
Übungsaufgabe 4 Lebenswelt ist räumlich offen Durch Fortschritte im technischen Bereich gelingt es uns immer leichter, unsere Lebenswelt räumlich zu öffnen. Durch das Internet wird es ermöglicht, leicht in fremde, in der Realität weit entfernte Lebenswelten und Kulturkreise einzudringen. Die Begegnung mit fremden Kulturkreisen wird mehr und mehr zu einer reellen, alltäglichen Erfahrung. Den Migrationsströmen, entstehend durch das Nord-Süd-Gefalle bzw. West-OstGefälle, kann eine "Festung Europa" auf Dauer nicht Stand halten. Auch der Fortschritt in der Medizin stellt eine räumliche Erweiterung unserer Lebenswelt dar. Durch verschiedene medizinische Praktiken (z.B. Röntgen, Ultraschall ...) weiß ich über mein Inneres Bescheid.
Lebenswelt ist zeitlich offen Indem ich mich mit der Geschichte meiner Gesellschaft befasse, kann ich auf meine eigene Biographie Rückschlüsse ziehen, obwohl ich niemals in jene Vergangenheit eingebunden war. Ich kann mir typisch erscheinende menschliche Wesensmerkmale auf ihre Wurzeln zurückzuführen versuchen: z.B. die Verteilung der Geschlechterrollen, die Art Bekanntschaften zu schließen, verschiedene Methoden im Umgang mit Gewalt... In Bezug auf meine eigene Geschichte können Erinnerungen in bestimmten Lebensabschnitten wichtiger sein als in anderen. So kann z.B. die Erinnerung an die eigene Mutter-Kind-Beziehung Bedeutung erlangen, wenn man selbst einer Elternschaft entgegensieht. Die Öffnung der Lebenswelt gegenüber jener Vergangenheit bestimmt nun gleichzeitig die Antizipation der Zukunft. Lebenswelt ist offen auf einer Realitätsebene Ein Wechsel zwischen Emotionalität und Einbildung kann dann vorliegen, wenn in einem Streit eine Projektion der eigenen Emotionen auf den anderen erfolgt. Jemand, der im Streit sehr wütend wird, kann im Anschluss daran den Eindruck haben, sein Gegenüber habe ihn angeschrieen. Einen Wechsel zwischen Handlung und Traum kann ich z.B. im Langstreckenlauf erkennen. Ich kann dort an einen Punkt gelangen, an dem ich das Laufen, also die Handlung, nicht mehr ganz realisiere. Das Laufen wird zur monotonen Fortbewegung und muss nicht mehr bewusst gesteuert werden. Hier liegt ein Wechsel von verschiedenen Bewusstseinsebenen vor.
IV Anhang / Musterlösungen
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Lebenswelt ist offen in der gesellschaftlichen Dimension Dass Lebenswelt in dieser Hinsicht offen ist, kann gut an der Entwicklung des Kindes nachvollzogen werden. Während für das Neugeborene die Mutter noch den einzigen Bezugspunkt darstellt, wird das Kind im Lauf seiner Entwicklung in immer wieder neue Gruppierungen eingebettet: Familie, Freunde, Partnerschaften, Arbeitskollegen, Vereine etc. Abhängig von der Zugehörigkeit zu bestimmten peer-groups sind die Art der Urteilsfindung oder die Interessenwahl. Die gesellschaftliche Dimension ist eng mit der räumlichen und der zeitlichen Dimension verknüpft. Der lebensweltlich-kulturelle Hintergrund wirkt sich zum Beispiel auf die individuellen Wahlmöglichkeiten eines Menschen aus. So ist der Vorgang der Berufswahl nicht in allen Gesellschaften gleich organisiert und lässt in bestimmten Gesellschaften keine Entscheidungsfreiheit zu. Ebenso eng kann auch die freie Wahlmöglichkeit sein, bestimmten peer-groups angehören zu wollen.
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IV Anhang / Musterlösungen
Übungsaufgabe Aktionsforschung Wurzeln und Bezugspunkte: Interaktionistische Human Relations Bewegung • Symbolischer Interaktionismus • Kritische Theorie •
Prinzipien der Aktionsforschung: • Anspruch auf Praxisrelevanz und kritische Intervention • Aktionsforschung greift unmittelbar in die Praxis ein und will Praxis verändern • Aktionsforschung als Forschung im Handlungsfeld (Berufsalltag der Akteure) • Aktionsforschung definiert den Forschungsprozess als offenen •
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Aufhebung der Hierarchie zwischen Forscher und Probanden "Kooperierender Dialog", ehrliche, offene Auseinandersetzung zwischen Forschern und Praktikern im Sinne eines herrschaftsfreien Diskurses Forscher und Erforschte verständigen sich gemeinsam über die Angemessenheit von Fragestellungen Daten entstehen in einem Prozess der Kooperation Rollenwechsel: Der Praktiker als Forscher und umgekehrt Austausch von strukturellem und Alltagswissen Forschung als offener, gegenseitiger Lernprozess Solidarisierung Bereitstellung von Ressourcen für die Praxisveränderung Aktionsforschung sieht sich als Erkenntnisprozess in einem Herstellungsprozess AF lässt keine endgültigen Hypothesen zu, ständige Rückkopplung und Reflexion sind notwendig Flexibilität in der Verwendung von Untersuchungsmethoden
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Empirische Sozialforschung Wurzeln und Bezugpunkte: • Kritischer Rationalismus • Positivismus
Prinzipien der Empirischen Sozialforschung: Handlungs- und Kommunikationsverbot - Forscher entzieht sich der sinnlichen Erfahrung - Asketische Haltung des Forschers Strenge Trennung zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis
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Der Forschungsprozess ist vorstrukturiert, die Aktivitäten und Handlungsmöglichkeiten der Forscher sind stark eingeschränkt Hierarchisierung der Untersuchungssituation Soziale Distanz zwischen Forscher und Probanden - Vertechnisierung in Vorbereitung und Auswertung
Fragestellungen sind vorgegeben, Hypothesen formuliert Statistisch verwertbare Daten als Ergebnis Klare Rollenzuweisung: Erforschte als Objekte Auskundschaftung des Objekts als Zielsetzung Forschung als vorstrukturierter und vorprogrammierter Prozess Soziale Distanz
Bestimmendes Untersuchungsmodell ist die "Repräsentative Umfrage"
IV Anhang / Musterlösungen
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Kommunikative Validierung Kommunikative Validierung meint die Miteinbeziehung des Dialogs in die Interpretation, in den eigentlichen Problemhorizont. Oevermann kritisiert dabei die "Trivialität" der alltagspraktischen Verständigung und scheidet die kommunikative Validierung als wissenschaftlichen Begriff aus. Kommunikative Validierung hat dort Sinn, wo die theoretischen Interpretationen von Aussagen die Funktion haben, eine mit den Befragten gemeinsame Praxis vorzubereiten und zu strukturieren. Dabei müssen sich die Beteiligten über die objektiven Bedingungen des Untersuchungsfeldes und eventuelle Veränderungsmöglichkeiten klar werden. Kommunikative Validierung ist dann gesichert, wenn es zu einer Übereinstimmung der Beteiligten kommt. Sie steht für einen zuverlässigen, wechselseitigen Aufklärungsprozess, wobei sich überlegene Interpretationskompetenzen der Forscher und überlegenes Erfahrungswissen der Praktiker gegenüber stehen. Erst im Dialog mit beiden Kompetenzträgern ist kommunikative Validierung sinnvoll. Die Rollendifferenz ist notwendig. Aufklärung von Interpreten und Erforschten bedingt sich wechselseitig. Validierung soll ein zweiseitiger Lehr- und Lernprozess sein, wobei die gemeinsame Weiterentwicklung der Erkenntnisse über den Untersuchungsgegenstand als Ziel im Raum steht.
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Übungsaufgabe 6 Nach der Veröffentlichung von "Erkenntnis und Interesse" (1968) erschien 1981 die Theorie kommunikativen Handelns von Habermas. Auf die Frage "Wie kommt überhaupt eine soziale Ordnung zustande?" antwortet Habermas mit zwei verschiedenen Ordnungstypen. Dies sind die Lebenswelt und das System. Die gegenwärtige Gesellschaft zeichnet sich, im Gegensatz zu ihrer Evolution (vgl. Entkoppelung von System und Lebenswelt), durch die unauflösbare Spannung der beiden Ordnungstypen aus. Der Begriff "Lebenswelt" Nachdem die Versuche, in der abendländischen Geistesgeschichte einen absoluten Ausgangspunkt unserer Erkenntnis zu gewinnen, insgesamt gescheitert sind, greift Habermas den Begriff der Objektiven Erkenntnis auf. Obwohl Objektive Erkenntnis im absoluten Sinne nicht möglich ist, verzichtet Habermas jedoch nicht auf jegliche Wissenschaftlichkeit. Habermas greift somit auf Husserl zurück, der bereits erkannte, dass jeder Forscher seine Fragen auf dem Hintergrund seiner eigenen Kultur und Einstellungen stellt. Hinter diesen Aussagen steht ein subjektiver Hintergrund, den Habermas aufzunehmen versucht. Dieser subjektive Hintergrund besteht aus intuitivem Wissen, individuellen Fertigkeiten, sozial eingeübten Praktiken, als auch aus Hintergrundüberzeugungen. Dies alles sind Faktoren, die die Lebenswelt, ein Begriff, den Husserl prägte, ausmachen. Neben Husserl beruft sich Habermas auch auf den späten Wittgenstein, der konstatierte, dass die Grenze meiner Sprache auch die Grenze meiner Welt ist. Habermas ist daher der Meinung, dass jede Handlung auch sprachlich übersetzt werden kann. Den analogen Begriff zum kommunikativen Handeln bildet die Lebenswelt, deren ursprüngliche Bedeutung des phänomenologischen Begriffes lautet, dass jeder in soziale Interaktion Tretende innerhalb eines bestimmten Sinnhorizontes handelt, der für den Handelnden jedoch nicht hintergehbar ist. Der besagte Sinnhorizont setzt sich nun für jede Person aus der Summe ihrer biographisch erworbenen Erfahrungen und den daraus resultierenden Weltanschauungen zusammen. Die Sinnhorizonte sind somit kulturabhängig, wobei es auch Gemeinsamkeiten bestimmter Kulturkreise geben kann. Habermas bezeichnet die Lebenswelt als eine Perspektive, von der aus die Akteure ihre Lebenspraxis organisieren. Für ihn ist der Begriff Lebenswelt ein sozialer Ordnungstypus, der zwei Aufgaben für die soziologische Analyse hat: Erstens gibt er eine Dimension der soziologischen Theorie an und zweitens markiert der Begriff eine Form der sozialen Ordnung, die durch lebensweltlich orientierte Handlungen der Akteure hergestellt wird.
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Der Begriff "System" Der Begriff "System" beschreibt zum einen eine Perspektive der soziologischen Rekonstruktion und zum anderen einen sozialen Ordnungstypus, der eine wechselseitige Ausschließung und Ergänzung zum Begriff der "Lebenswelt" darstellt. Demnach stellt der Begriff "System" eine soziale Realität dar, die im Gegensatz zu der Subjektivität der Handelnden eine objektive Unbeeinflussbarkeit von Gesellschaft gegenüberstellt. Für Habermas ist das Handeln in einem System auf die objektiv vorgegebenen Systemimperative ausgerichtet, die für den Einzelnen äußerliche Steuerungsvorgaben darstellen. Das "System" als Ordnungstypus beschreibt deshalb eine Form der Integration, die vom Einzelnen nur noch akzeptiert, aber nicht mehr mit subjektiver Sinnperspektive erfüllt werden kann. Die Verständigung zwischen den einzelnen Handelnden erfolgt nicht mehr über die Kommunikation, sondern über objektiv vorgegebene Steuerungsmedien.
Der Begriff "Entkoppelung" In "einfachen" Gesellschaften fallen für Habermas die System- und die Lebensweltperspektive zusammen und stellen somit eine Einheit von subjektiver Sinnperspektive und objektiver Strukturierung sozialer Realität dar. Lebenswelt und System sind in diesen Gesellschaften gewissermaßen deckungsgleich. Grundsätzlich anders verhält sich dies in "modernen" Gesellschaften", die durch eine Ausgrenzung einzelner Systeme charakterisiert sind. Habermas führt hier am Beispiel des kapitalistischen Wirtschaftssystems eine Ausdifferenzierung primär systemisch integrierter Handlungsbereiche, die den lebensweltlichen Perspektiven der einzelnen Menschen als äußerlich gegenüberstehen, an. Diese ausgegrenzten Systeme folgen nur noch einer Eigenlogik, die nicht mehr dem konkreten Sinnhorizont der Handelnden entspringt, aber auch kein gesellschaftliches Ganzes mehr bilden. So entsteht in "modernen" Gesellschaften eine Spannung zwischen System und Lebenswelt, die von beiden "Begriffen" nicht mehr als gesellschaftliches Ganzes repräsentiert werden, sondern sich als Teile voneinander entkoppeln. Diese Entkoppelung und die daraus resultierende Spannung macht für Habermas das Moderne an der zeitgenössischen Gesellschaft aus und ist der Grund für einerseits die Krisenanfalligkeit moderner Gesellschaften und andererseits für die "Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systeme". System und Lebenswelt differenzieren sich laut Habermas wie folgt voneinander: "System und Lebenswelt differenzieren sich, indem die Komplexität des einen und die Rationalität der anderen wächst, nicht nur jeweils als System und Lebenswelt - beide differenzieren sich gleichzeitig auch voneinander ... Auf dieser Analyseebene bildet sich die Entkoppelung von System und Lebenswelt so ab, dass die Lebenswelt, die mit einem wenig differenzierten Gesellschaftssystem zunächst koextensiv ist, immer mehr zu einem Subsystem neben anderen herabgesetzt wird. Dabei lösen sich die systemischen Mechanismen immer weiter von den sozialen Strukturen ab, über die sich die soziale Integration vollzieht" (Habermas 1981, Bd.", S. 230).
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Die "Ambivalenz" Die Ambivalenz der Grundbegriffe, eine Folge der Entkoppelung der Systeme, meint, dass Aussagen über die Realität und die Theorie gleichzeitig getroffen werden. An ihr wird besonders deutlich sichtbar, wie Theoriestruktur und Konstitution des Gegenstandsbereichs durch Theorie zusammen hängen und ineinander verwoben sind.
Der Begriff "Primat der Lebenswelt" Für Habermas konstituiert sich eine Person und deren Lebenswelt durch Kommunikation, somit Sprache. Die modernen Gesellschaften lassen sich in wesentlichen Teilen (z.B. Wirtschaft) nicht mehr aus der Sicht der Handelnden beschreiben. Eine Beschreibung ist nur mehr in objektivierter Form als Rekonstruktion der objektiven Strukturen möglich, eine Handlung nur mehr durch System bewältigbar. System- und Lebensweltperspektive sind beide als sozialwissenschaftliche Zugangsweisen legitim. Habermas hält aber am Primat der Lebenswelt fest, denn damit systemisch Intergration überhaupt zu einem sozialen Ordnungstypus werden kann und somit Teil des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, müssen die entsprechenden Systemkonzepte gesellschaftlich legitimierbar sein und als lebensweltliche Handlungsbezüge beziehbar sein. "Herrschaftsfreier Diskurs" Für Habermas bildet die Sprache normative gesellschaftliche Grundlagen: Verständlichkeit und Richtigkeit, Wahrheit und Vernunft sind konstitutive Bestandteile einer zielgerichteten Kommunikation, d.h. die Verständigung der Menschen untereinander bestimmt somit ihr Handeln. Die daraus entstehenden sozialen Interaktionen lassen sich durch eine normative Moral ausfuhren. Individuelle Überzeugungen, Lebenserfahrungen und Wissen der miteinander kommunizierenden wie handelnden Menschen werden durch Austausch und Diskussion im Interesse gemeinsamer Handlungsziele gebündelt. Anders als Horckheimer und Adorno sieht Habermas in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft die Möglichkeit ihrer Kritik angelegt. Sie sollte an den Regeln des vernünftigen Gesprächs aller Bürger orientiert sein, deren Zustimmung Voraussetzung aller politischen Entscheidungen ist. Habermas hat sich deshalb immer wieder intensiv mit der Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des vemunftgeleiteten Diskurses beschäftigt. Der Diskurs der Wissenschaften ist nach seiner Auffassung dem Wesen nach eine Erscheinung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit; rein objektive Erkenntnis kann es nicht geben. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der "kommunikativen Kompetenz" des Einzelnen und der Gesellschaft als der Kommunikationsgemeinschaft aller Bürger. Diskurs als Dialog bedeutet herrschaftsfreie Kommunikation. Der Dialog beruht auf der gegenseitigen Anerkennung der Subjekte.
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So wird auch das Wissen der Wissenschaften letzten Endes durch den Dialog vermittelt. Die Gesprächssituationen, die als Diskurs benannt werden, zeichnen sich gegenüber dem umgangssprachlichen kommunikativen Handeln dadurch aus, dass im Diskurs über grundlegende Werte und Normen reflektiert und ein Konsens zu erreichen versucht wird. Wichtig dabei erscheint, die Kriterien für den Diskurs zu finden, d.h. sagen zu können, wann es sich bei einem Gespräch um einen Diskurs handelt und wann nicht. Dazu entwirft Habermas eine "ideale Sprechsituation", die den wahren vom falschen Diskurs unterscheiden soll. Diese Sprechsituation charakterisiert er als Freiheit von äußerem Zwang und Freiheit von den Zwängen, die sich aus der Kommunikation selbst bzw. deren Struktur heraus ergeben. Ferner müssen in der idealen Sprechsituation die Chancen der Kommunikationsmöglichkeiten der Teilnehmer gleichmäßig verteilt sein, um eine herrschaftsfreie Diskussion zu ermöglichen.
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Übungsaufgabe 7 Segmentare Differenzierung Die Gesellschaft besteht aus einzelnen, sich gegenseitig ausschließenden Segmenten (z.B.: Familie, Sippe, Stamm). Jedes Gesellschaftsmitglied gehört einem der Segmente an. Historisch gesehen die früheste Entwicklungsstufe, heute noch bei auf Steinzeitstufe lebenden Völkern zu beobachten. Stratifikatorische Differenzierung Die nächste Stufe der Entwicklung. Quer zu den Segmenten der segmentaren Differenzierung entstehen soziale Schichtungen, die für die gesamte Gesellschaft eine Hierarchie festlegen. Dieser Vorgang ist vor allem an der Geschichte des Mittelalters beobachtbar. Funktionale Differenzierung Ausdruck und Form der modernen Gesellschaft. Autonome Funktionalsysteme entstehen, die auf die Bearbeitung jeweils einer gesellschaftlichen Funktion spezialisiert sind. Diese Funktionalsysteme sind abstrakte Handlungszusammenhänge. Jedes Teilmitglied der Gesellschaft partizipiert daran aktiv oder passiv. Beispiele für Funktionalsysteme: Wirtschaftssystem, Schulsystem, Rechtssystem. Das einzelne Gesellschaftsmitglied kann diese Systeme in der Praxis kaum mehr beeinflussen. Reduktion von Komplexität im Verhältnis System-Umwelt Unsere Umwelt ist derart komplex, dass sie von keinem System als Ganzes erfasst werden kann. Damit sich ein System dennoch erhalten kann, muss es sich die Umwelt "erfassbar" machen, d.h. die Umwelt muss von diesem System auf eine bearbeitbare Form reduziert werden. Ein System arbeitet dann erfolgreich, wenn trotz der Komplexitätsreduktion die wesentlichen Aspekte der Umwelt erhalten bleiben, was wiederum eine höhere systemeigene Komplexität voraussetzt. Die Reduktion von Komplexität ist immer eine Selektion von den vielen Möglichkeiten, die die Umwelt zur Verfügung stellt. Neben dem Sinn gelten die Mediencodes als fundamentale Reduktionsmechanismen. Sozialsysteme sind autopoietisch. Sie produzieren sich selbst, indem sie sich selbst organisieren und steuern. Autopoietische Systeme selektieren ihre Umwelt nach einer systemspezifischen Sinnhaftigkeit. Mediencodes ermöglichen ein Anschlusshandeln. Über Mediencodes werden mögliche Handlungen ermittelt, die noch systemkonform sind; sie garantieren also, dass ein System trotz Umweltreduktion funktioniert.
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Übungsaufgabe 8 a) Der Konstruktivismus geht davon aus, dass alles Erleben von Systemen durch subjektive „Filter" erfolgt. Sowohl die Auswahl einer Differenz, mit der die Welt beobachtet wird, als auch die Auswertung der Beobachtungen sind zwangsläufig vom System abhängig und damit subjektiv. Selbst dann, wenn es so etwas wie eine Realität gäbe, wären die Systeme nicht in der Lage, diese objektiv zu erkennen. Diese grundsätzliche Überzeugung fuhrt dazu, dass der Konstruktivismus sich als Theorie des Beobachtens versteht und nicht als Theorie der Beschreibung von beobachteten Wirklichkeiten. Gleichzeitig bedeutet dies eben auch, dass es unmöglich ist, die Wirklichkeit zu entdecken, denn die subjektiven Einflüsse und Verarbeitungen von Beobachtungen fuhren immer dazu, dass eine Realität erfunden werden muss. Die beschriebene Position wird im Übrigen auch von der modernen Systemtheorie vertreten und gilt danach für alle Arten autopoietischer Systeme. Für Bewusstseine und soziale Systeme bedeutet dies, dass es gleichgültig ist, ob sie etwas sind, wichtig ist, was sie glauben, dass sie sind: Wer wirklich überzeugt ist, er sei der König von Deutschland, ist für sich der König von Deutschland, gleichgültig, was alle anderen behaupten. Und ein Unternehmen, das sich in einer monopolistischen Position glaubt, wird seine Preise so festsetzen, als sei es alleine auf dem Markt. So lange es nicht „einsieht", dass es Konkurrenten besitzt, die seine Marktchancen beeinflussen, wird es sich dieser „Bedrohung" durch Konkurrenz nicht stellen können. Und schließlich wird die Politik, die überzeugt ist, das wirtschaftliche Geschehen steuern zu können, immer weiter in das Wirtschaftssystem eingreifen wollen, gleichgültig, wie sehr sie sich dafür verschulden muss oder wie aussichtslos ihre Bemühungen auch sein mögen - die Subventionen und Überproduktionen in vielen Bereichen politisch gesteuerter Wirtschaftszweige zeugen von dieser Tatsache ebenso wie die hohen Staatsschulden in fast allen großen Volkswirtschaften.
b) Beide Sachverhalte liegen letztlich in der Autonomie und Subjektivität der Systeme begründet. Systeme sind in ihren Beobachtungen autonom und subjektiv. Sie beobachten, wie sie beobachten und deuten ihre Beobachtungen auf eine fiir sie individuell typische Weise. Empirische Forschung müsste diese Ausgangslage ignorieren, wenn sie erfolgreich sein wollte. Weil es keinen objektiven Zugang zur Wirklichkeit geben kann, Empirie diesen aber braucht, um eine Beobachtung an der Wirklichkeit zu überprüfen, muss empirische Forschung schon im Ansatz misslingen, denn der Versuch, eine Beobachtung an der Wirklichkeit zu messen wäre immer ein subjektiver Versuch desjenigen Systems, das die empirische Forschung betreibt und damit die subjektive Erschaffung von Realität.
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Weil aber die Systeme autonom in ihren Entscheidungen über eigene Beobachtungen sind, wird niemals verhindert werden können, dass sich Forschung an der Realität orientiert - obgleich diese aus der Sicht der radikal-konstruktivistischen (System-) Theorie verschlossen bleiben muss. Auch an systemtheoretische Überlegungen kann zweifelsohne mit empirischer Forschung angeschlossen werden, wenn beispielsweise versucht wird, die Beobachtungen anderer zu beobachten. Diese Orientierung an der Umwelt muss auch zwangsläufig sein, weil jedes System sich aus der Umwelt „Nahrung" besorgen muss, mit dem es seine Autopoiese aufrecht erhält. Darüber hinaus besteht der Anspruch von Wissenschaft häufig darin, „brauchbare" Erkenntnisse zu liefern, was dann in der Regel mit einem Bezug zur Realität verbunden wird. Dem eigenen Anspruch genügen heißt dann für Wissenschaft, empirische Aussagen zu treffen und zu überprüfen. Im Endeffekt zeigt sich hier eine gewisse Paradoxie von Wissenschaft, denn die Erkenntnis, dass Wirklichkeit, so es sie gibt, verschlossen bleiben muss, schützt nicht davor, dass man versucht, sich an der Wirklichkeit zu orientieren. Paradoxien sind allerdings für die Systemtheorie nichts ungewöhnliches, weil viele paradoxe Phänomene dann entstehen, wenn sich eine Aussage auf sich selbst bezieht, und Selbstreferenz bildet den Kern der Theorie sozialer Systeme.
c) Die Systemtheorie nimmt die Tatsache, dass das „Innenleben" von Systemen von außen nicht beobachtet werden kann, sehr ernst. Sie muss deshalb die Möglichkeit des Einblicks in andere Systeme verneinen. Wenn dies so ist, kann systemtheoretische Untersuchung immer nur auf den Ablauf der Systemreproduktion beschränkt bleiben. Versuche, die Programmierung, also die „Gesetzmäßigkeiten" der internen Abläufe zu untersuchen, müssen an der Undurchdringlichkeit der Systeme abprallen und scheitern. Diese Sichtweise stellt eine „Erkenntnis" (im Rahmen der Systemtheorie kann es Erkenntnisse im herkömmlichen Sinne nicht geben, auch Erkenntnisse sind subjektive Überzeugungen) und eine Einschränkung gleichermaßen dar. Forschung kann nach dieser Meinung nicht in die Systeme eindringen - dies ist die Erkenntnis -, und somit braucht Forschung sich um die Interna der Systeme gar nicht zu kümmern - dies bildet die Einschränkung des Spielraums für Forschung, die mit der Sichtweise untrennbar verbunden ist. Aus der Perspektive der Systemtheorie ist diese Folge allerdings nur dann als Einschränkung zu verstehen, wenn man nicht-systemtheoretisch argumentiert. Eine Systemtheorie verzichtet nur auf das, was von vornherein zum Scheitern verurteilt sein muss. Lediglich Positionen außerhalb der Systemtheorie können eine Beschränkung in dieser Tatsache sehen. Misst man allerdings eine theoretische Position an ihrer Praxistauglichkeit, so stellt der Verzicht auf die Untersuchung von systeminternen Gegebenheiten und Vorgängen eine deutliche Einschränkung der wissenschaftlichen Arbeit dar. Fragen wie sie die Psycho-
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logie stellt, wenn sie Ursachen für Depressionen sucht, wie sie die Ökonomie stellt, wenn sie die marktwirtschaftlichen Abläufe beschreiben will, wie sie die Soziologie stellt, wenn sie die Sozialisation erforscht etc. sind gar nicht mehr zulässig, weil es immer um die Frage nach internen Gegebenheiten von Systemen geht. Dass sehr wohl auch Systemtheoretiker gelegentlich von der strikten und reinen Lehre abweichen, wird spätestens daran deutlich, dass die wenigsten von ihnen vor einem Blinddarmdurchbruch den Arzt auffordern, die Operation zu unterlassen, weil seine Auffassung, den Blinddarm zur Rettung des Patienten zu entfernen, eine unzulässige Missachtung des Black-box-Phänomens darstellen muss.
d) Grundsätzlich muss im Kontext der Systemtheorie angenommen werden, dass jedes System eine individuelle Beobachtungsperspektive einnimmt. Da Bewusstseine und soziale Systeme zwangsläufig unterschiedliche Systeme bilden, folgt schon hieraus, dass sich die beiden Perspektiven nicht decken können. Darüber hinaus kann argumentiert werden, dass sich in sozialen Systemen eigene Strukturen ergeben, die eben kommunikative Ereignisse erzeugen. Kommunikation ist aber niemals von einem einzigen Bewusstsein und/oder einer einzelnen Gruppe von Bewusstseinen, die mit anderen in kommunikativen Kontrakt treten, steuerbar, denn Kommunikation muss die kommunikative Reaktion des anderen partizipierenden Systems immer mit einschließen. Auf die angesprochene Trennung von Unternehmensleitung und Unternehmen gewendet heißt dies konkret. Selbst dann, wenn das Management für das Unternehmen denken will, kann es nicht alle Kommunikationsstrukturen eines Unternehmens erfassen - das Unternehmen ist auch für das Management eine Black-Box. Wie Anweisungen formell und informell im Unternehmen weitergetragen werden, wie sie interpretiert werden, wen sie erreichen u.Ä. liegt in den Strukturen der Unternehmung verborgen, nicht in der Hand der Unternehmensleitung. Dadurch kann das Management niemals sicher wissen, wie das Unternehmen auf bestimmte Ereignisse und Entscheidungen reagiert, denn das System Unternehmen inkludiert viel mehr Bewusstseine - und dies auf seine eigene Weise - als lediglich die Unternehmensleitung und inkludiert somit auch immer die Impulse, die von diesen Bewusstseinen ausgehen.
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Übungsaufgabe 9 Probleme und Schwierigkeiten Werden Interviewprotokolle interpretiert, kann das angewandte Interpretationsverfahren mit dem in der Alltagspraxis verwendeten kommunikativen Verstehen verglichen werden: Die virtuelle Übernahme der Perspektive jeweiliger Interaktionspartner ist eine Grundoperation kommunikativen Handelns in der Alltagskommunikation und wissenschaftlichen Tätigkeit. Allerdings unterscheidet sich das Interview wesentlich von Alltagskommunikation: diese ist chaotischer, diffuser und zugleich restriktiver als die von Spontaneität gereinigte Interviewkommunikation. Die Praxis zeigt, dass Forscher häufig nicht in der Lage sind, ihre Berufsrolle während des Interviews zu substituieren. Dies vor allem, wenn die Befragten hohes Prestige besitzen, z.B. selbst Wissenschaftler sind. Häufig werden in diesem Zusammenhang Forschungs- und Interviewerfragen miteinander vermengt. Forschungsfragen sind solche, die im Rahmen des wissenschaftlichen Programms das Gespräch leiten sollen. Interviewerfragen hingegen sollen dieses Programm in kommunikative Akte umsetzen. •
Lebensweltverstehen mit Hilfe qualitativer Interviews ist deshalb besonders anspruchsvoll, weil die Dimensionen dieser Lebenswelt nicht von vornherein bekannt sind. Die Erkundung von Lebenswelt umfasst ökonomische, historische, soziale, biographische, subjektiv-psychologische, situativ-affektive und andere Faktoren, die erst als geordnetes Bündel aufeinander beziehbar sind. Deshalb muss das Frageziel eingeschränkt werden. Z. B. auf die Situation von Femstudenten oder das Partizipationsbedürfnis von Stadtteilbewohnern.
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Auch das qualitative Interview ist auf Verallgemeinerungen aus. Diese liegen vor der Untersuchung, die diese dann bestätigen oder auch widerlegen kann. Z.B. kann die Hypothese geprüft werden, dass Menschen auf Erschütterungen in ihrer Lebenswelt mit konstruktivem Handeln reagieren.
Mit „Leitfadenbürokratie" ist die Tatsache gemeint, dass qualitative Interviews durch einen vorbereiteten Leitfaden gerade gehemmt werden, durch den sie gefordert werden sollen. •
Das qualitative Interview setzt ein besonderes Maß an fachlicher und persönlicher Kompetenz voraus. Der Interviewer muss
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das Forschungsziel kennen,
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flexibel sein und in der Lage, die Probleme des Befragten nicht innerhalb seines eigenen Bezugsrahmen zu sehen (Rollendistanz),
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Vertrauen erwecken, um Eloquenz und Artikuiationsfreude zu befördern,
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die Spannung zwischen Taktgefühl und Zurückhalten und notwendigem Nachfragen und Vertiefen gerade an „Krisenpunkten" für das Interview produktiv machen zu können.
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Der Forscher sollte zunächst durch teilnehmende Beobachtung lernen, wie und worüber im Alltag der betreffenden Kultur Fragen gestellt werden, und seine eigenen Fragen diesen möglichst anpassen.
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Der Interviewer muss zwischen echter Meinungslosigkeit, Verweigerung und mangelnder Informiertheit unterscheiden können.
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Der Interviewer muss bereit sein, durch Nachfragen und Vertiefen, indem er sich auf die gleiche Sprachebene begibt und beispielsweise die gewählten Bilder des Sprechers übernimmt, das Gespräch als Lernprozess aufzufassen; er muss in der Lage sein, zunehmend Unklarheiten aufzuhellen. Er muss vor allem wissen, wann und wo er nachfassen muss.
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Übungsaufgabe 10 Wenn ich das Interview nach "emotionalen Tönungen" untersuche, fallen mir vordergründig folgende emotionale Gefühle, die zum Ausdruck kommen, auf: •
Stolz
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Trauer Bedauern
• •
Unsicherheit Angst
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Liebe
Stolz Die Erzählerin ist wahnsinnig stolz darauf, in der Politik tätig zu sein, und auch darauf, gewisse Sachen bewirkt zu haben. Es kommt nur zwischen den Zeilen heraus, direkt spricht es die Erzählerin nicht an. Z.B.: I: Ja (...) bewegt hast Du ja sicherlich auch E: Ja, das denk ich auch I: ... für dich selber (...) E: Ja, ja, ja. Ich denke auch, viele viele ah Projekte auch in dieser Stadt, dass ich manchmal denke: Ach, da hast du ein bisschen mitgewirkt (...) Der Interviewer will darauf hinlenken, dass sie auch für sich, auf sich einmal stolz sein kann. Die Erzählerin will darauf lenken, dass die Projekte für die Gemeinde wichtig sind (was sie auch sind), aber dass es auch für sie selbst (die Erzählerin) wichtig ist, für sich selbst etwas erreicht zu haben. Trauer Trauer kommt im Erzähltext in verschiedenen Formen zum Ausdruck. Einerseits ist es die Trauer, wenig Zeit für die Familie gehabt zu haben und gleichzeitig auch die Freunde vernachlässigt haben zu müssen. Eine ganz andere Form der Trauer ist es, die Mutter verloren zu haben, die ihr wahnsinnig nahe gestanden ist, und auch als Ratgeber eine wichtige Funktion eingenommen hat. Trauer auch darum, dass sie oft Verantwortung übernehmen musste. Sie erwähnte kurz, dass sie die älteste von 8 Kindern ist, und nach wie vor viel erwartet wird. Die Erzählerin trauert auch um die 10 Jahre, in denen sie viele Opfer bringen musste, und auch viele gesundheitliche Einbußen auf sich nehmen musste. Beispiele:
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S. 124: E: ... Nich, wir haben äh privat kaum noch Kontakte, leider, das ist so (...). (Trauer um Freunde) S. 126/127: I. Und darin, wie lang ist das jetzt her? E: Meine Mutter ist im Januar vor zwei Jahren gestorben ... (leise) ja .. . (wieder normal) und äh da hab' ich erst gemerkt, wie viel sie mir eigentlich geholfen hat (...). (Trauer um Wegfall von Hilfe/Unterstützung) S. 139: E: Ja, ja, ich muss sagen, ahm, ja wie soll ich mal sagen, getroffen hat, das war der Tod meiner Mutter, nicht. Und da war ich da sehr krank... psychisch, aber auch körperlich, und ich denke mal, dass ich so ganz äh ... allmählich aus diesen ... äh, aus diesem tiefen Tal heraus bin, aus dieser Trauer, ich hab' also ganz furchtbar getrauert... (...). (Trauer um Tod der Mutter. Verlust) Angst Weiters kommt in bezug auf Ihre Gesundheit/ihren Körper immer wieder eine gewisse Angst, dass ihr Körper nicht mehr lange mithalten könnte. Und die Hoffnung, dass sie gesundheitlich noch lange fit sein möge. Unsicherheit Manchmal kommt die Unsicherheit zum Vorschein. Sie spricht bei gewissen Passagen schneller, oder leiser, und man hat das Gefühl, sie würde sich schämen, oder hätte wenig Selbstbewusstsein bei diesen Stellen. Z.B. (...) dann ... bin eigentlich immer mit den Aufgaben gewachsen ... muss ich sagen (leise) und heute bin ich eigentlich so unangefochten. Verhältnis Interviewer/Interviewende a) b) c) d)
kennen sich bereits Interviewer weiß viel vom Leben der Erzählerin, oder hat sich bereits gut informiert. Erzählerin hat das Bedürfnis zu reden (Vertrauen zum Interviewer) gleicher Humor (lachen bei selben Passagen)
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ad a) Beginn des Interviews: I: Wie hat sich dein politisches Amt auf dein Leben ausgewirkt? E: Mein politisches Amt (...) ad b) I: Ja, dein Mann ist ja auch politisch ... E: Ja I: aktiv E: ja I: und äh ... hat dich da auch unterstützt... ad c) E (schnell): Nun hab ich sehr viel Privates gesagt. I: Das ist okay E:lacht I: Das ist ja dein Leben add) (...) "Na, Frau B., was bedeutet das denn?" (heiter) ich sagte: Na, mindestens Stellvertretende Bürgermeisterin (lacht) I: (lacht) Ah das ist schön, ne? (...)
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Übungsaufgabe 11 I.: "Ich wollte eigentlich damals... Soziologie studieren... und Psychologie. Das war damals ja noch keine Schwierigkeit!" Interpretation: Frau X ursprüngliche Vorstellung war es Psychologie und Soziologie zu studieren. Schließlich geht sie diesem Wunsch jedoch nicht nach, sondern betätigt sich anderweitig, sie steigt in das Berufsleben ein. Der Grund für diese Änderung ihrer ursprünglichen Pläne könnten einerseits unvorhersehbare äußerliche Faktoren gewesen sein, die ihr die Möglichkeit des Studiums verbauten und keine selbständige Entscheidung zuließen. Andererseits haben vielleicht eigene Überlegungen in Bezug auf Vorteile des Berufseinstiegs (z.B. der Wunsch nach dem Abitur endlich eigenes Geld zu verdienen) zu diesem Entschluss geführt. Mit der Aussage: "Das war damals ja noch keine Schwierigkeit" könnte die Sprecherin auf die zum damaligen Zeitpunkt besseren Studienbedingungen Bezug nehmen (weniger Studenten und dadurch leichterer Zugang zu diversen Studien, Kursen, Prüfungen ), auf die damals noch besseren Aussichten mit einem abgeschlossenen Studium einen Arbeitsplatz zu erhalten, auf die damals leichteren Anforderungen oder das fehlende Numerus Clausus System. Andererseits könnte diese Aussage aber auch ihre damalige Freiheit implizieren, da sie zu jenem Zeitpunkt noch nicht an eine Familie gebunden war und in dieser Weise nach Belieben ihre Zeit für das Studium einteilen hätte können ohne Rücksicht nehmen zu müssen auf den Tagesablauf ihres Mannes und ihrer Kinder. I: "Und dann merkte ich also, irgendwas ist los, und ich merkte auch, irgendwie gefiel mir das nicht mehr, irgendwie lief das nicht so, wie ich das gedacht hatte mir (schnell) ... und ... dann begann irgendwie ganz komisch ein Prozess, der einfach ... den ich mir überhaupt nicht erklären kann, und das, ich war einfach psychisch fertig. Ich habe also Alpträume gehabt, es war, es war (Stimme steigend) eine Katastrophe zu deutsch gesagt, bei uns war, stand alles Kopf. ..(Lachen). Und dann hat sich das so langsam herauskristallisiert, dass ich irgendwas wollte ich also machen, nicht." Interpretation: Mit der Aussage: "Und dann merkte ich also, irgendwas ist los, und ich merkte auch, irgendwie gefiel mir das nicht mehr, irgendwie lief das nicht so, wie ich das gedacht hatte mir..." bringt die Sprecherin zum Ausdruck, dass sie mit ihrer Situation nicht mehr zufrieden war. Die Rolle, die sie in ihrer Familie einnimmt (Hausfrau und Mutter), kann ihre Bedürfnisse nicht mehr befriedigen und steht im Gegensatz zu ihrer früheren Vorstellung eines Familienlebens. Sie verspürt einen inneren Umbruch ("und dann merkte
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ich also, irgendwas ist los..."), einen in Gang gesetzten Prozess, den sie sich nicht erklären kann, der sie aber zu einem größeren Bewusstsein ihrer aktuellen Situation, ihrer eigentlichen Unzufriedenheit damit und zum Erkennen ihrer eigenen Wünsche und Bedürfnisse fuhrt. Dass dieser von der Interviewten angesprochene Prozess plötzlich einsetzte und begann ihr Lebenskonzept in Frage zu stellen, deutet daraufhin, dass die Betroffene ihren Wunsch zu studieren durch äußere störende Faktoren, die sie davon abhielten, nicht realisieren konnte. Es wird der Eindruck erweckt, als ob nach langen Jahren des Zurücknehmens ihres Studien- und Berufswunsches, diese sozusagen "verdrängten" Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung aus ihr herauszubrechen begannen. Ihre innere Aufgewühltheit und Unzufriedenheit waren natürlich auch für ihre Umgebung zu spüren und wirkten sich auf das Familienklima aus ("Bei uns war, stand alles Kopf').
I: "Ja, ja ja - sicher im Schuldienst. Und... dann habe ich von dem Studium Abstand genommen und bin dann meinen eigenen Weg gegangen, der mir also praktisch durch dieses Abitur vorgeschrieben war. Ich hab' dann, ich war erst mal ein viertel Jahr in... nur so privat, um die Sprache ein bisschen zu können und dann, ich hab' dann, es war erst mal sehr schwierig, weil ich eigentlich gar nicht recht wusste, was ich anfangen sollte, und dann war ich in der Versicherungsanstalt tätig, und dann war ich mal in einer Personalabteilung tätig und hab' erst mal so rumgerochen und... ich bin dann schließlich gelandet in einem Unternehmen der Textilbranche in A. ... ein recht bekanntes Unternehmen. Und da war ich dann 5 Jahre Chefsekretärin. Das war an und für sich ein schöner Job, der mir Spaß gemacht hat, zumal sie nicht mit so Tipperei (lachend) Tag für Tag, das hat mir an und für sich nie gelegen." Interpretation: Die Interviewte bringt zum Ausdruck, dass sie von ihrem Plan zu studieren Abstand nahm und eine andere Richtung einschlug. Mit ihrer Aussage: "...und bin dann meinen eigenen Weg gegangen, der mir also praktisch durch dieses Abitur vorgeschrieben war" ergibt sich ein Widerspruch zu einer ihrer früheren Aussage, in der sie zum Ausdruck bringt, dass sie eigentlich Soziologie und Psychologie studieren wollte. Obwohl Frau X eigentlich studieren wollte, bezeichnet sie den Weg den sie, nachdem sie ihre Pläne aufgab oder aufgeben musste, einschlug als ihren "eigenen Weg", der ihr jedoch durch ihr Abitur bereits vorgeschrieben war. Der Aspekt des Durchsetzens des eigenen Willens, der normalerweise mit der Aussage "seinen eigenen Weg gehen" verbunden ist, verliert in der Aussage von Frau X an Substanz. Sie ging nicht wirklich ihren eigenen Weg, sie ging den, der noch offen war. Durch die folgende Aussage von Frau X "Ich hab' dann, ich war erst mal ein viertel Jahr in ... nur so privat, um die Sprache ein bisschen zu können und dann, ich hab' dann, es war erst mal sehr schwierig, weil ich eigentlich gar nicht recht wusste, was ich anfangen sollte..." wird die vorhergehende Interpretation über die Widersprüchlichkeit ihrer Aussagen gestützt.
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Frau X verdeutlicht, dass sie, nachdem sie ihre Pläne zu studieren aufgab, ein viertel Jahr im Ausland verbrachte. Danach war es sehr schwierig für sie, weil sie nicht recht wusste, was sie anfangen sollte. Beide Aussagen zeugen von einem großen Maß an Orientierungslosigkeit, wie sie sich ausbreitet, wenn von den eigentlichen Plänen und Wünschen Abstand genommen werden muss. Hätte für Frau X der Berufseinstieg wirklich bedeutet ihren eigenen Weg zu gehen, dann wäre ein längerer Aufenthalt im Ausland in Bezug auf die Realisierung ihrer Wünsche nur hinderlich gewesen und ebenso hätte sie nach dem Zurückkommen nicht derartig unter Orientierungslosigkeit gelitten. In dieser Hinsicht erhält der Aufenthalt im Ausland den Charakter einer Flucht aus Orientierungslosigkeit in Bezug darauf, welche Ziele nach Aufgabe der eigentlichen nun angestrebt werden sollen. I: "Ich hätte die Kinder in fremde Obhut geben müssen, und das kam für mich überhaupt nicht in Frage." "Ja, (schnell) aber ich wollte es nicht. Ich habe also gesagt, ich möchte die Kinder hier in ihrem häuslichen Kreis lassen, es soll auch für die Familie keine allzu große Änderung eintreten. Denn ich sage also ganz offen, das Wohl meiner Kinder und die Entwicklung meiner Kinder und meiner Ehe gehen zunächst mal vor."
Interpretation: Nachdem Frau X sich entschieden hat, dass sie "etwas machen wollte", d.h. ein Studium aufnehmen wollte, taucht das Problem der Versorgung ihrer Familie auf, die sie nach ihren Aussagen auf keinen Fall durch ihr Studium vernachlässigen will. Um ihre Kinder nicht in fremde Hände geben zu müssen, während sie die Uni aufsucht, entscheidet sie sich für ein Fernstudium. Das Fernstudium erscheint als die perfekte Lösung des Konflikts zwischen Familienpflichten auf der einen Seite und Wunsch nach Selbstverwirklichung auf der anderen. Die Aussage: "Das Wohl meiner Kinder und die Entwicklung meiner Kinder und meiner Ehe gehen zunächst einmal vor", erweckt den Eindruck als könnte diese Aussage von einer anderen Person stammen, die in dieser Weise auf die Eröffnung der neuen Pläne durch Frau X reagierte und die nun von ihr selbst übernommen und wiederholt wird. Repräsentiert diese Aussage wirklich die eigene Meinung der Sprecherin oder identifiziert sie sich mit den Erwartungen ihres Mannes oder anderer Menschen in ihrer Umgebung, die das Studium an einer Universität und damit das "Alleinlassen" der Kinder nicht tolerieren würden? Die plötzliche Veränderung von Frau X ("dann begann irgendwie ganz komisch ein Prozess"), d.h. ihre plötzlichen emanzipatorischen Wünsche haben wahrscheinlich zu Konflikten mit ihrer Familie geführt, worauf die Entscheidung für ein Fernstudium als Kompromiss eingesetzt wurde, um beide Parteien zu befriedigen. Vielleicht hätte Frau X ja ganz gerne den häuslichen Bereich ein paar mal pro Woche verlassen um etwas Abstand und Zeit für sich selbst zu erlangen. Vielleicht hätte sie es genossen und als
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anregend empfunden, neue Menschen kennen zu lernen, statt immer nur mit ihren Kindern den Tag zu verbringen. Durch das introjizierte Rollenbild findet sie jedoch nicht den Mut sich und ihrer Familie diesen Wunsch einzugestehen. Dies wird gleichgesetzt mit Gleichgültigkeit gegenüber ihren Kindern und ihres Mannes, mit dem Bild einer "Rabenmutter", die so unverschämt ist auch auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten.
Kernaussage Ein plötzlich in mir einsetzender Prozess begann mir bewusst zu machen, dass ich ein großes Bedürfiiis nach Verwirklichung in mir fühlte, welches durch die Rolle als Hausfrau und Mutter nicht befriedigt werden konnte. Dieses Gewahrwerden meiner Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation führte mich auf meine ursprünglichen Pläne zurück, das Studium der Soziologie und Psychologie. Da ich nicht wollte, dass meine Familie den Eindruck erhält, dass ich sie durch meine wiedererwachten Interessen zur Seite schiebe oder vernachlässige, entschied ich mich für ein Fernstudium, das es mir erlaubt, beides unter einen Hut zu bringen. Es war mir besonders wichtig zu einem Kompromiß zwischen meinen eigenen Interessen und meiner Familie zu kommen, um in den Augen meines Mannes und anderer Menschen in meiner Umgebung nicht als egoistisch und selbstsüchtig zu gelten. Die Harmonie in der Beziehung zu meinem Mann, meiner Kinder und meiner Umgebung, liegt mir sehr am Herzen.
Belege I: "Und dann hat sich das so langsam herauskristallisiert, dass ich irgendwas wollte ich also machen, nicht..." (ein einsetzender Prozess beginnt ihr ihre Bedürfnisse bewußt zu machen). "hab ich mich dann dazu entschlossen, nicht, ich meine, eh: ich hatte auch wirklich ein echtes Bedürfnis...", "weil er nämlich sofort merkte, also in mir steckte also eine Arbeitswut" (Bedürfnis nach Selbstverwirklichung .welches durch die Rolle als Hausfrau unbefriedigt bleibt). "Nun war das natürlich mit dem Femstudium und dieser Teilzeitmöglichkeit war ganz ideal..." (Frau X legt Wert auf Harmonie mit ihrer Familie und Umgebung und in diesem Sinne darf sich nichts an der Situation ändern).
Befremdliche Textpassagen "Und... dann habe ich von dem Studium Abstand genommen und bin dann meinen eigenen Weg gegangen, der mir also praktisch durch dieses Abitur vorgeschrieben war."
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Interpretation: Mit dieser Aussage erweckt Frau X den Eindruck, als hätte jemand (z.B. ihre Eltern) ihr den Plan zu studieren aufgedrängt, sie hätte jedoch davon Abstand genommen, um ihren eigenen Weg zu gehen. In einer anderen Aussage weist sie jedoch daraufhin, dass es ihr eigentlicher Wunsch war zu studieren. Wie kommt es zu einem derart widersprüchlichen Satz? Wahrscheinlich empfindet Frau X, die gezwungen war ihre ursprünglichen Pläne zu studieren zur Seite zu schieben um zu arbeiten, es als sehr schwierig einzugestehen, dass sie ihren eigentlichen eigenen Weg nicht gehen konnte und den Wunsch danach verdrängen musste. In dieser Weise bezeichnet sie die alternative, aufgezwungene Tätigkeit als ihren "eigenen Weg". Da Frau X jedoch von einem Prozess spricht, der plötzlich in ihr einsetzte und der ihr zu einer Bewusstmachung ihrer verdrängten Wünsche, d.h. ihres Wunsches nach Selbstverwirklichung im Studium, verhalf und in dieser Weise zu einer emanzipatorischen Entscheidung führte, ist es wahrscheinlicher, dass sie weniger Probleme hatte es sich selbst einzugestehen als dem Interviewer. Indem sie ihren eingeschlagenen Weg als ihren eigenen bezeichnet, weigert sie sich, dem Interviewer gegenüber ihre eigentliche Desorientierung zuzugeben. Ihre Desorientierung in Bezug auf die Wahl einer Tätigkeit kommt aber deutlich zum Ausdruck, indem sie zunächst ins Ausland reiste und danach mehrmals ihren Job wechselte. Schließlich findet sie sich mit ihrer nicht ihren eigentlichen Zielen entsprechenden Lebenssituation ab und verbleibt fünf Jahre als Chefsekretärin in einem Unternehmen. Frau X erwähnt gegenüber dem Interviewer zwar, dass dies ein schöner Job war, der ihr Spaß machte, doch wird durch die relativierende Aussage: "an und für sich" deutlich, dass das Verbleiben in dieser Arbeitsstelle als Ausdruck eines Prozesses des sich Abfindens mit der gegenwärtigen Lebenssituation aufgefasst werden kann. Meine Interpretation ist, dass die Sprecherin es dem Interviewer nicht eingestehen wollte, jahrelang eine Tätigkeit aufgeführt zu haben, die ihren Zielen nicht entsprach und sie nicht ausfüllte und sie erst Jahre später den Mut aufbringt, ihre Wünsche durchzusetzen. Dies wird um so schwieriger, als der Interviewer, im Gegensatz zu ihr, genau ihre Pläne (Studium der Psychologie und Soziologie) für sich verwirklicht hat und in dieser Weise in gewisser Hinsicht ein Ideal für sie darstellt.
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Übungsaufgabe 12 Traditionelle geisteswissenschaftliche Hermeneutik Hierbei handelt es sich um die Wissenschaft des Verstehens. In den Erziehungswissenschaften ist das hermeneutische Verfahren ein fixer Bestandteil der Methoden. Der Begriff entwickelte sich im 17. Jahrhundert und meinte zunächst die Kunst der Deutung und des Verstehens von Texten, speziell von literarischen, philosophischen und juristischen Texten und von der Bibel. Hermeneutische Verstehensprozesse werden seit Schleiermacher (1768 - 1834) auch auf Erziehung und Unterricht angewendet. Er sagt, dass die Hermeneutik eine "Kunstlehre des Verstehens" ist, die sich auf Grundlage sprachlicher Äußerungen entwickelt. Verstehen setzt einen Sprechenden, einen Text (einen Zusammenhang, Kontext) und einen "Verstehen-Wollenden" voraus. Während des Lesens eines Textes erleben wir die Situation (hautnah) und können deshalb auch den Text verstehen. Die Textdeutung ist untrennbar mit der Zeit und Kultur verbunden, in der sich das Geschehen abspielt. Hermeneutik als ein verstehendes Verfahren bezieht sich nicht nur auf die Textanalyse, sondern auch auf die Erziehungswirklichkeit als Praxisfeld "pädagogischer Akte" (vgl. H. Gudjons, Zeitschrift Pädagogik, 10/92, S. 46 ff.). Nochmals: Das Verstehen gilt als der methodische Grundbegriff der geisteswissenschaftlichen Pädagogik.
Der Begriff "hermeneutischer Zirkel" Kein Mensch geht ohne Voraussetzungen an das Verstehen eines Textes oder einer Szene heran. Jeder bringt immer ein gewisses Maß an Vorverständnis mit ein. Eine Wissenschaftler, der die Sozialisation von Jungen in der Schule untersucht, war ja selbst einmal ein Junge und hat entsprechende Erfahrungen gemacht. Diese Erfahrungen können das Verstehen der Jungen in der Schule erleichtern aber auch erschweren (behindern). "Als hermeneutischer Zirkel wird die Gebundenheit jedes Verstehens von Ganzheiten und ihrer Teile an Voraussetzungen verstanden, von denen jedes Verstehen seinen Ausgang nimmt und wieder zu ihm zurückkehrt. Man muss immer schon in der Sprache leben und die anderen Menschen verstehen, bevor man über die Sprache nachdenkt" (vgl. Tschmaler 1978, 32, in: Zeitschrift Pädagogik, 11/92, S. 46 f.). Beim hermeneutischen Zirkel handelt es sich um ein Wechselspiel von Vorwissen und Überprüfung des Wissens, erweiterten Wissens, neuerlicher Analyse bis zum (fast) völligen Verständnis. In diesem Prozess kommt es zu einer wechselseitigen Korrektur der subjektiven und objektiven Aspekte des Verstehens. Die traditionelle geisteswissenschaftliche Hermeneutik ist eine deskriptive Methode. Das Individuum verfugt über einen Wissensvorrat (Alltagswissen, Erfahrungswissen ...). Das alte Wissen wird rekonstruiert und ins "heutige Wissen" übertragen. Das handelnde Subjekt kann Wissen artikulieren und glaubt, dass es mit diesem Wissen auch Handlungen ausfuhren kann. Es sollte jedoch beachtet werden, dass die subjektiven
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(individuellen) Äußerungen bei der Auslegung in den Bezugsrahmen der gesellschaftlichen Sozialisationsdeutung gestellt werden müssen. Ziel ist es, die Rede bzw. den Text ebenso gut zu verstehen wie deren Produzenten - wenn möglich sogar noch besser.
Objektive Hermeneutik Die objektive Hermeneutik wurde von Oevermann und seinen Mitarbeitern entwickelt. Sie entstand als Methode zur Interpretation von Beobachtungsprotokollen sozialisatorischer Familieninteraktion. Aus dieser Methode entwickelte sich ein zusammenhängendes Konzept, das eine Methode zur Rekonstruktion objektiver Sinnstrukturen, eine Methodologie und eine soziologische Sozialisationstheorie integriert. Das Protokoll einer Interaktion wird wie ein „Text" behandelt und wird wie ein von seinen Produzenten abgelöster und von deren Intentionen analytisch zu trennender "Träger objektiver sozialer Sinnstrukturen" verstanden. Im Unterschied zu deskriptiven und psychoanalytischen Verfahren geht es in diesem Ansatz nicht um die Analyse des subjektiv gemeinten Sinns, sondern um die Rekonstruktion objektiver, "latenter" Sinnstrukturen, die sich unabhängig von den Intentionen der Subjekte als soziale Realität konstituieren. Man könnte also die objektive Hermeneutik auch als „rekonstruktive" oder "strukturale" Hermeneutik bezeichnen. Basis der Analyse ist das der objektiven Hermeneutik zugrunde liegende Verständnis von „Text". Als Texte werden jegliche Interaktionen, Ereignisse, Musik und Bilder begriffen. Die objektive Hermeneutik hat eine soziogenetische Perspektive der Entwicklung des Subjekts. Es entwickelt sich in der Konfrontation mit den Strukturen des gesellschaftlichen Handelns, die immer Bedeutungsstrukturen sind, zum Erwachsenen. Diese Sicht verweist auf die empirischen Theorien der Entwicklung des menschlichen Geistes: die Theorie der generativen Linguistik von Noam Chomsky, die genetische Erkenntnistheorie von Jean Piaget, die psychoanalytische Theorie Sigmund Freuds und die Theorie der objektiven Bedeutung sozialen Handelns von George Herbert Mead. Die genannten Theorien nehmen Bezug auf die wesentlichen Dimensionen des autonomen, handlungsfähigen und mit sich identischen Subjekts. Zu diesen Dimensionen gehören die Sprachfähigkeit, das logische und moralische Urteilsvermögen, die Fähigkeit zur Erkenntnis der eigenen Handlungsgründe und Antriebe sowie die Regelgeleitetheit und damit die Konstituiertheit des Subjekts. Die Dimension der Regelgeleitetheit und die soziale Konstituiertheit des Subjekts sind von allgemeinerer Natur als die anderen drei Dimensionen. Ausgehend von der Grundannahme der Regelgeleitetheit sozialen Handelns bedarf die strukturale Hermeneutik zur Rekonstruktion der latenten Sinnstrukturen wie auch zur Begründung der Geltung dieser Rekonstruktionen eines gesicherten Wissens von den geltenden Regeln. So kommt Oevermann dazu, Typen von Regeln zu unterscheiden und sie nach dem Grad der Reichweite ihrer Geltung zu differenzieren. Er unterscheidet "zwischen den universellen Regeln mit nicht kritisierbarem Gehalt über die universellen ethischen Maximen bis zu den lebensweltlich konkreten sozialen Normen" und nimmt dabei eine abnehmende Reichweite der Geltung verschiedener Typen von Regeln an.
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Das Verfahren der objektiven Hermeneutik ist eine Kunstlehre. Im Alltagshandeln versuchen wir, die wahrscheinlichste Lesart möglichst rasch zu finden. Wir greifen dabei auf unsere Erfahrungen aus ähnlichen Situationen zurück und versuchen, die aktuelle Situation in die bereits entwickelte Typologie von Situationen einzuordnen. In der objektiven Hermeneutik geht es nicht um rasches Erkennen auf den ersten Blick, in der objektiven Hermeneutik müssen Strukturen möglichst differenziert zur Explikation gebracht werden. Bei der Entwicklung der Kunstlehre müssen nun Vorkehrungen getroffen werden, die zum einen eine möglichst geringe "Trübung" der Kompetenz des Interpreten ermöglichen. Zum anderen müssen die Faktoren, die eine Differenz zwischen latenter Sinnstruktur und ihrer subjektiv-intentionalen Repräsentanz bedingen, minimiert werden. Am wichtigsten ist aber das Prinzip der extensiven Auslegung des Sinns von Interaktionstexten. Hier sollen gerade nicht möglichst treffsicher und schnell die Absichten des Handlungspartners entschlüsselt, sondern möglichst ausführlich alle Vorannahmen des Textes erfasst werden. Außerdem gilt es, für jedes im Text enthaltene Element eine Motivierung zu explizieren. Gerade in scheinbar belanglosen Elementen kann später ein Ansatz für eine zentrale Interpretationslinie gefunden werden. Durch die Sequenzanalyse soll die methodische Absicherung des Vorgehens gewährleistet werden. Dabei soll die erste Sequenz der Interaktion möglichst extensiv gedeutet und mit dem Text konfrontiert werden. Häufig wird man feststellen, dass mehrere Lesarten passen. Solche, die nicht passen werden hier ausgeschieden. Die an der ersten Sequenz aufgestellten Lesarten werden nun an die zweite Sequenz herangetragen und auf ihre Verträglichkeit hin überprüft. Auf diese Weise werden die Lesarten immer weiter eingeschränkt, bis eine Fallstruktur sichtbar wird und den gesamten Interaktionstext sinnvoll erschließt. Dann wird die rekonstruierte latente Sinnstruktur weiter überprüft und versucht diese zu falsifizieren. Der Text selbst soll als Korrekturinstanz für die Interpretation fungieren. Zur Geltungsbegründung von Interpretationen kann gesagt werden, dass die objektive Hermeneutik versucht ihren Gegenstand, die latenten Sinnstrukturen, approximativ zu erfassen. Sie liefert keine eindeutige und endgültige Interpretation. Der Interpretationsprozess ist prinzipiell offen, seine Ergebnisse sind jederzeit revidierbar. Als kritisches Korrektiv dient die Diskussion innerhalb der Interpretengruppe. Für das Verfahren der objektiven Hermeneutik gibt es eine weitergehende Geltungsbegründung, die sich aus der Bestimmung der in Anspruch genommenen generellen Regeln ergibt. Das Verfahren der objektiven Hermeneutik zeigt folgende zirkuläre Struktur: Bei der Analyse der durch Regeln erzeugten sinnstrukturierten Gebilde menschlichen Handelns müssen zunächst die regelverletzenden Exemplare von den regelentsprechenden getrennt werden. Dafür nutzen wir unsere intuitive Regelkenntnis. Diese ist zwar mehr oder weniger getrübt, soll jedoch durch die Vorkehrungen der "Kunstlehre" abgesichert werden. Wenn wir auf dieser Grundlage Strukturbeschreibungen entwickelt haben, erhalten wir nachträglich mit den Regelexplikationen die theoretische Begründung dafür, dass wir uns auf unser intuitives Urteil immer schon verlassen konnten.
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Übungsaufgabe 13 Langsamer Herzschlag im Hintergrund Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie von der Kurve angesaugt werden Herzschlag im Hintergrund wird schneller und Sie kleben auf der Idealspur und die Zeit Herzschlag im Hintergrund hört auf (Pause) steht still. Einsetzen der Musik - eine Frau singt auf Englisch Der Ford Focus trägt Sie durch Die Kurve kraftvoll und doch ganz sanft, denn die einzigartige Multilink-Hinterachse arbeitet mit. Genießen Sie (Pause) es bei einer Probefahrt. Da können Sie den Ford Focus jetzt sogar gewinnen Hintergrundmusik hört auf Ford Focus jetzt Probe fahren und gewinnen
Daten zum Werbespot Dieser Werbespot wurde im Programm 0 3 des Österreichischen Rundfunks am 12.06.2000 um 18.25 ausgestrahlt. Die Dauer des Spots beträgt 25 Sek. Der Text wird von einem männlichen Sprecher gesprochen. Die Hintergrundmusik, ein Musikstück mit Text, wird von einer Frau gesungen. Grundstruktur Grundsätzlich besteht der Radiospot aus zwei Teilen. Der erste Teil vermittelt dem Hörer nicht, welches Produkt hier beworben wird. Es ist vielmehr eine Hinfuhrung zum eigentlichen Thema, nämlich der Bewerbung eines Autos. Der zweite Teil bewirbt das Auto, dessen Name nun auch genannt wird. Diese Zweiteilung wird auch durch eine Pause zwischen diesen zwei Blöcken und dem Einsetzen von Musikuntermalung bei Beginn des zweiten Blocks realisiert. Block 1 Der 1. Block beginnt mit Herzschlag im Hintergrund. Der Herzschlag verweist auf die Physis des Menschen und betrifft jeden Menschen unmittelbar, weil er jedem lebenden Menschen sozusagen "immanent" ist. Herzschlag kann sich aber auch auf einen gleichbleibenden Rhythmus beziehen, eine gleichbleibende, in gleichen Abständen sich vollziehende Bewegung darstellen. Ein Herzton kann aber auch durch seinen dumpfen und rhythmischen Ton beruhigende Wirkung haben. Da ein Herzton den Menschen in "seiner Existenz" betrifft, steht er auch in Verbindung mit Gesundheit und Krankheit, mit Leben und Tod.
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Im Vordergrund beginnt nun der Sprecher mit dem Text. Der Satz besteht aus drei Teilen, die durch Änderung des Hintergrundgeräusches voneinander getrennt werden. Der 1. Teil wird vom 2. Teil durch die Zunahme der Frequenz des Herzrhythmus im Hintergrund getrennt, der 2. Teil durch Weglassen jeglicher Hintergrundgeräusche. Der 1. Teil des Satzes lautet: Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie von der Kurve angesaugt werden ... Der Hörer wird direkt angesprochen: Kennen Sie..., wenn Sie... Vorauszuschicken ist der Umstand, dass der Zuhörer nur weiß, dass es sich um einen Werbespot handelt, aber nicht, welches Produkt beworben wird. Erstmals wird nach Gefühlen gefragt. Der Zuhörer wird somit auf eine Gefühlsebene gebracht. Er soll sich erinnern, ob er ein solches Gefühl schon einmal gehabt hat, nämlich jenes, von der Kurve angesaugt zu werden. Es ist nicht von irgendeiner Kurve die Rede, sonder von DER Kurve. Die Verwendung des bestimmten Artikels suggeriert dem Zuhörer Aktualität und Authentizität. Die Kurve wird sozusagen personifiziert, als ein Gegner, den es zu schlagen gilt. Die Verwendung des Verbs 'ansaugen' scheint eine Art Pleonasmus zu sein. Eine Kurve kann rein physikalisch nicht ansaugen, denn der Körper, der eine Kurve passiert wird auf Grund der Fliehkraft zu Boden gedrückt. Es wird durch das Verb 'ansaugen' die große Kraft beschrieben, die die Kurve ausübt und die es zu überwinden gilt. Ansaugen hat aber auch etwas mit Motoren zu tun. Jeder Motor muss Luft ansaugen, um Benzin verbrennen zu können. Von daher ist der Begriff des Ansaugens auch ein Begriff, welcher in der Sprache der Auto- bzw. Motorradinteressierten häufig Verwendung findet. 2. Teil des Satzes: In diesem Teil nimmt im Hintergrund die Frequenz des Herztones immer mehr zu. Die Zunahme erzeugt Spannung. Der Zuhörer fragt sich, was passiert, wenn der Herzschlag zu schnell wird. Der gesprochene Text lautet: und Sie kleben auf der Idealspur und die Zeit ... Kleben auf der Idealspur: Auch der Ausdruck "auf einer Spur kleben" scheint dem Fachjargon der Auto- und Motorradinteressierten bzw. Sehnellfahrern zuortbar zu sein. Eine Idealspur hat nur deijenige, der die Spur schon mehrmals gefahren ist, sie sozusagen ausgetestet hat, um eben zu wissen, welches die ideale Spur ist. Plötzlich kommt der Zusatz "und die Zeit". Gleichzeitig hört das Hintergrundgeräusch auf, und es tritt eine kleine Pause von ca. 1 Sekunde ein. Der Sprecher spricht weiter und sagt "steht still". Die Aussage "und die Zeit steht still" soll an Situationen erinnern, wo man als Fahrer knapp an einem Unfall vorbeigekommen ist. In solchen Situationen verliert man das Gefühl für Zeit. Gott sei Dank kein Unfall, aber es war knapp.
Block 2 Der zweite Block beginnt mit den Einsetzen einer Hintergrundmusik, einer "ins Ohr gehenden Melodie", gesungen von einer Frau. Die Musik wirkt beruhigend auf den Zuhörer. Sie steht im Gegensatz zu der mit Spannung und Erwartung gefüllten Untermalung des ersten Blocks. Es wird auf Englisch gesungen. Es ist nicht wichtig, was der
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englische Text bedeutet. Davon auszugehen ist, dass der Durchschnittsösterreicher nicht versteht, was dieser Text bedeutet. Wichtig ist nur, dass er englischsprachig ist. Mit Technik und Englisch sind die USA verbunden, das Synonym für Fortschritt, Leistung und Zuverlässigkeit, die Sicherheit, immer am neuesten Stand zu sein. Vielleicht soll das auf Englisch gesungene Lied auch primär jüngere Menschen ansprechen, die eher Bezug zu englischsprachigen Liedern haben. Nun folgt der Text: Der Ford Focus trägt Sie durch die Kurve kraftvoll und doch ganz sanft, denn die einzigartige Multilink-Hinterachse arbeitet mit... Es wird zu ersten Mal auf das Produkt verwiesen, das beworben wird, nämlich auf den Ford Focus. Im Gegensatz zum 1. Block, wo man an das Gefühl erinnert wird, von der Kurve angesaugt zu werden, wird hier im Gegensatz betont, dass der Ford Focus einen durch die Kurve trägt. Dies impliziert, dass dieses Auto Schutz und Sicherheit bietet. Man kann sich diesem Auto anvertrauen, man kann sich eben tragen lassen. Wie trägt dieses Auto einen durch die Kurve? Kraftvoll und doch ganz sanft. Eigentlich sind diese beiden verwendeten Adjektive komplementär. Etwas kann nicht kraftvoll und gleichzeitig sanft sein. Verstärkend wirkt noch die Verwendung von 'ganz'. Hier wird ein Idealbild dargestellt. Kraftvoll ist das Auto für den Mann, den Schnellfahrer. Sanft ist das Auto für eine Frau. Es gibt ihr Sicherheit. Obwohl ein Auto rein nach grammatikalischem Geschlecht neutral ist, wird hier eine künstliche natürliche Zweigeschlechtlichkeit konstruiert, die Kraft als männlicher Teil und die Sanftheit als weiblicher Part. Es wird nun auf ein technisches Feature dieses Automobils verwiesen, welches dafür verantwortlich zeichnet, dass das Auto in Kurven den Fahrer/die Fahrerin kraftvoll und doch ganz sanft durch die Kurve trägt, nämlich die einzigartige Multilink-Hinterachse arbeitet mit. Das technische Detail, das hier genannt wird, ist einzigartig, d.h. dem Zuhörer wird suggeriert, dass es so etwas bei keinem anderen Automobil gibt. Diese Einzigartigkeit hebt diese Marke von allen anderen Marken ab. Die Kaufentscheidung soll nicht nach nur optischen oder motorischen Kriterien erfolgen, sondern nach Sicherheitskriterien. Da diese Sicherheitseinrichtung nur in diesem Auto eingebaut ist, muss sich der potentielle Käufer für dieses Modell entscheiden. Die Hybridbildung Multilink sagt für den durchschnittlichen Autofahrer nichts aus, sie gibt keinen Hinweis auf die Funktionsweise dieser Sicherheitseinrichtung. Der Zuhörer wird zum Schluss kommen, dass dies etwas qualitativ Hochwertiges, Hochkomplexes, in wissenschaftlichen Untersuchungen Entwickeltes sein muss und daher für seine Sicherheit beim Fahren gerade gut genug ist. Außerdem wird wieder an das Gefühl des Zuhörers appelliert, indem er direkt angesprochen wird: Genießen Sie es (Pause) bei einer Probefahrt ... Der Hörer soll das Gefühl, mit einem so sicheren Auto zu fahren, selbst erleben, indem er zum Händler geht, um dort mit einem Focus-Modell Probe zu fahren. Ein weiterer Anreiz liegt in der Möglichkeit, eines dieser sicheren Autos zu gewinnen: Da können Sie den Ford Focus jetzt sogar gewinnen... 'sogar' suggeriert, dass es eigentlich für ein solches Auto, ein Auto mit solchen Qualitäten, nicht angebracht ist, ein Gewinnspiel zu veranstalten, denn auf-
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grund seiner Qualitäten ist dieses Auto seinen Preis einfach wert. Mit Sicherheit sollte eigentlich nicht gespielt werden. Nachdem die Hintergrundmusik beendet ist, erfolgt erneut die Aufforderung, den Ford Focus Probe zu fahren und zu gewinnen. Dies ist eine imperative Aufforderung, die für den Hörer stets in Erinnerung bleiben soll.
Latente Siimstruktur Die latente Sinnstruktur dieser Werbung ist, sich aus Sicherheitsüberlegungen für dieses Modell zu entscheiden. Der 1. Block appelliert an die Gefühlsebene: an eine "brenzlige" Situation beim Autofahren, die mit Herzton und Beschreibung nachgestellt wird. Im zweiten Block wird auf die Einzigartigkeit der diesem Modell eigenen Sicherheitseinrichtung verwiesen. Eine Erfahrung, wie sie im ersten Block beschrieben wird, soll dem potentiellen Kunden durch den Kauf dieses Autos erspart bleiben.
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Übungsaufgabe 14 Das Thema "Krieg" ist nun also in die Werbewelt eingezogen. Tabuthemen werden aufgegriffen, um eine Profitmaximierung zu erreichen. Die dargelegte Interpretation ist für mich eigentlich in allen Punkten völlig nachvollziehbar. Wenn man eine Querverbindung zur Berichterstattung in den Medien herstellt, so sind auch in diesem Bereich ähnliche Tendenzen feststellbar. Besonders interessant, ja überhaupt erst sehenswert, wird eine Fernsehsendung erst dann, wenn Realität gezeigt wird. Talkshows zeigen Personen, die aus ihrem "wirklichen Leben" berichten. Ein amerikanisch / britischer Luftangriff auf den Irak wird von westlichen (!) Nachrichtenagenturen live aus Bagdad übertragen und erreicht, gerade richtig in der Hauptsendezeit postiert, unglaubliche Einschaltquoten Für mich war es also nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Werbung diese neuen Strategien aufgriff. Für sehr bedenklich halte ich dabei die mitgelieferten politischen Botschaften, die nebenher sozusagen frei Haus daherkommen, sie werden in solchen Spots natürlich nie explizit ausformuliert, beinhalten aber meiner Meinung nach eine viel zu einseitige Weltsicht. Wobei natürlich zu fragen ist, ob der Werbung ein politisch gut informierter, klar denkender Mensch, der sich eine Meinung gebildet hat, lieber ist, als ein auf westlichen Konsum ausgerichteter, nicht besonders politisch interessierter. Probleme mit der Interpretation dieses Plakates habe ich bei dem Vergleich des Druckwerkes mit einem Kunstwerk. Nur durch die Signierung eines Bildes wird ein solches noch nicht zum Kunstwerk. Auch die Bedeutung der Farbe Grün als Farbe der Hoffnung habe ich bis dato nicht bewusst assoziiert. Hervorragend finde ich die Interpretation in bezug auf die genaue Auslegung und äußerst detaillierte Betrachtungsweise. Praktisch kein kleinstes Detail bleibt unerwähnt. Schade, dass die Abbildung des Plakates im Skriptum äußerst mangelhaft ist, so dass viele Details durch die Interpretation überhaupt erst "sichtbar" werden. Ich halte deshalb die Interpretation für vollständig. Die Diskursivität bleibt dadurch gewahrt, dass m. E. nach die einzelnen Betrachtungsweisen punktuell aufgezählt werden und somit auch punktuell widerlegt werden könnten. Alternative Deutungsmöglichkeiten - Lesarten: a) Es könnte sich auch um die Kleidung eines Terroristen handeln, der gerade im Begriff war, unschuldige Frauen und Kinder als Geiseln zu nehmen. Bei diesem Versuch entstand ein Handgemenge und aus der Pistole des Täters löste sich zufällig ein Schuss, der ihn in den Bauch traf und tödlich verletzte. b) Benetton könnte mit der Darstellung auch darauf aufmerksam machen, dass die Kleidung dieser Firma qualitativ so gut ist, dass sie in den härtesten Materialschlachten der Welt - den Kriegen - verwendet wird. Sie ist also fast durch nichts zu verwüsten.
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c) Wer Benetton - Kleidung trägt, ist ein toller Kämpfer. Nichts kann ihn umwerfen, es sei denn eine Kugel. Als äußerst tapferer Kämpfer ist ihm aber dann der sofortige Einlass in den Himmel gewiss. d) Der Krieg ist das letzte große Abenteuer des erwachsenen Mannes. Mit Benetton Kleidung ist es noch viel schöner, daran teilzunehmen. e) Bei der Kleidung handelt es sich um die zurückgebliebenen Kleidungsreste einer Filmproduktion. Die rot-bräunliche Verfärbung des Gewandes resultiert aus der Verwendung von Tomaten - Ketchup. Gedreht wurde der 5. Teil von RAMBO mit Sylvester Stallone. Somit möchte auch dieser berühmte Mann auf die Kleidung von Benetton nicht verzichten. Die zwei Kleidungsstücke werden bei der nächsten Benefiz Aktion der Firma zugunsten einer Aktion gegen Gewalt in den Medien versteigert. Unvergleichlichen Wert erhalten die Gegenstände durch den Schweiß des Schauspielers, der noch überall in der Kleidung zu riechen ist.
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Übungsaufgabe 15 Objektive Hermeneutik
Psychoanalytische Textinterpretation
Allgemeines:
Allgemeines:
Die objektive Hermeneutik ist ein Verfahren, das den Prozess der Konstitution empirischer Relationsprozesse in den Mittelpunkt stellt. Das Konzept wurde von Ulrich Oevermann entwickelt und ist das seit Jahren am häufigsten rezipierte und diskutierte Verfahren der Textinterpretation in den Sozialwissenschaften.
Die Methode der psychoanalytischen Textinterpretation stellt ein besonders bekanntes und traditionsreiches Anwendungsgebiet der Psychoanalyse dar.
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Versuch, den manifesten Sinn des Textes zu erfassen.
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Logisches Verstehen = erster methodischer Schritt.
Reflexion latenter Sinnstrukturen extensive Sinnauslegung - approxima• tive Erfassung. Der Interpretationsprozess ist prinzipiell offen.
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Kritisches Korrektiv: Diskussion innerhalb der Interpretengruppe Grundlage fur Validität der Interpreta- • tion. Weitgehende Geltungsbegründung - • ergibt sich aus der Bestimmung der in Anspruch genommenen generellen Re- • geln = transzendentallogischer Status. Die latenten Sinnstrukturen werden aufgrund der Verwendung gleicher Re- • gelsystems durch den Interpreten und den Produkteur des Textes rekonstuiert. Zirkuläre Struktur der objektiven Her• meneutik: 1. Trennung der durch Regeln erzeugten sinnstrukturierenden Gebilde menschlichen Handelns in regelverletzende und regelentsprechende Exemp• lare - intuitive Regelkenntnis.
Psychologisches Verstehen: im Text präsenter aktueller Kommunikationsprozess = Ausdruck einer psychologischen Situation des Sprechers; Sprachfiguren des Textes werden als Interpretationsfiguren verstanden. Übergang des szenischen Verstehens in ein tiefenhermeneutisches Verstehen. Phänomen der Übertragung. Einnahme einer Sonderstellung aufgrund der Betonung des IndividuellBiographischen. Wahrung von strikter wissenschaftlicher Distanz und Objektivität wird zurückgewiesen. Subjektivität der Erfahrung des Erforschten, die Besonderheit seiner Biographie = "Messungsinstrument" der Daten. Strukturen pretierens:
psychoanalytischen
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2. Nachträglich mit den Regelexplikationen erhält man die theoretische Begründung. 3. Sprache begreifbar als Objektivation mentaler Urteilsstrukturen, da sie durch Regeln konstituiert ist. 4. Wissenschaftliche Analyse bewirkt eine Freilegung der zugrunde liegenden mentalen Strukturen •
Objektivationen mentaler Urteilsstrukturen = Gebilde, die durch Regeln konstruiert sind,
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Oevermann behauptet, dass jeder konkrete Text eine gültige Sinnstruktur hat.
tiefenhermeneutisch: Interpretation auf einen "dahinter liegenden Sinn", zur Identifikation des eigentlich Gemeinten noch interpretative Annäherung an den Autor des Textes (Motive), Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene des Interpreten werden über Bewusstmachung zu kreativen und besonders wertvollen Interpretationswerkzeugen, Substanz und Tiefenschärfe psychoanalytischer Interpretation in Abhängigkeit von emphatischem Einfühlungsvermögen, interpretatorischer Kreativität, möglichst umfangreichem Kontextwissen.
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Übungsaufgabe 16 Interpretationsvorlage: Franz Kafka: Eine kleine Frau Es ist eine kleine Frau, von Natur aus recht schlank, ist sie doch stark geschnürt; ich sehe sie immer im gleichen Kleid, es ist aus gelblichgrauem, gewissermaßen holzfarbigem Stoff und ist ein wenig mit Troddeln oder knopfartigen Behängen von gleicher Farbe versehen; sie ist immer ohne Hut, ihr stumpfblondes Haar ist glatt und nicht unordentlich, aber sehr locker gehalten. Trotzdem sie geschnürt ist, ist sie doch leicht beweglich, sie übertreibt freilich diese Beweglichkeit, gern hält sie die Hände in den Hüften und wendet den Oberkörper mit einem Wurf überraschend schnell seitlich. Den Eindruck, den ihre Hand auf mich macht, kann ich nur wiedergeben, wenn ich sage, dass ich noch keine Hand gesehen habe, bei der die einzelnen Finger derart scharf voneinander abgegrenzt wären, wie bei der ihren; doch hat ihre Hand keineswegs irgendeine anatomische Merkwürdigkeit, es ist eine völlig normale Hand. Diese kleine Frau nun ist mit mir sehr unzufrieden, immer hat sie etwas an mir auszusetzen, immer geschieht ihr Unrecht von mir, ich ärgere sie auf Schritt und Tritt; wenn man das Leben in allerkleinste Teile teilen und jedes Teilchen gesondert beurteilen könnte, wäre gewiss jedes Teilchen meines Lebens für sie ein Ärgernis. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum ich sie denn so ärgere; mag sein, dass alles an mir ihrem Schönheitssinn, ihrem Gerechtigkeitsgefühl, ihren Gewohnheiten, ihren Überlieferungen, ihren Hoffnungen widerspricht, es gibt derartige einander widersprechende Naturen, aber warum leidet sie so sehr darunter? Es besteht ja gar keine Beziehung zwischen uns, die sie zwingen würde, durch mich zu leiden. Sie müsste sich nur entschließen, mich als völlig Fremden anzusehen, der ich ja auch bin und der ich gegen einen solchen Entschluss mich nicht wehren, sondern ihn sehr begrüßen würde, sie müsste sich nur entschließen, meine Existenz zu vergessen, die ich ihr ja niemals aufgedrängt habe oder aufdrängen würde - und alles Leid wäre offenbar vorüber. Ich sehe hierbei ganz von mir ab und davon, dass ihr Verhalten natürlich auch mir peinlich ist, ich sehe davon ab, weil ich ja wohl erkenne, dass alle diese Peinlichkeit nichts ist im Vergleich mit ihrem Leid. Wobei ich mir allerdings durchaus dessen bewusst bin, dass es kein liebendes Leid ist; es liegt ihr gar nichts daran, mich wirklich zu bessern, zumal ja auch alles, was sie an mir aussetzt, nicht von einer derartigen Beschaffenheit ist, dass mein Fortkommen dadurch gestört würde. Aber mein Fortkommen kümmert sie eben auch nicht, sie kümmert nichts anderes als ihr persönliches Interesse, nämlich die Qual zu rächen, die ich ihr bereite, und die Qual, die ihr in Zukunft von mir droht, zu verhindern. Ich habe schon einmal versucht, sie darauf hinzuweisen, wie diesem fortwährenden Ärger am besten ein Ende gemacht werden könnte, doch habe ich sie gerade dadurch in eine derartige Aufwallung gebracht, dass ich den Versuch nicht mehr wiederholen werde.
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IV A nhang / Muslerlösungen
Auch liegt ja, wenn man will, eine gewisse Verantwortung auf mir, denn so fremd mir die kleine Frau auch ist, und so sehr die einzige Beziehung, die zwischen uns besteht, der Ärger ist, den ich ihr bereite, oder vielmehr der Ärger, den sie sich von mir bereiten lässt, dürfte es mir doch nicht gleichgültig sein, wie sie sichtbar unter diesem Ärger auch körperlich leidet. Es kommen hie und da, sich mehrend in letzter Zeit, Nachrichten zu mir, dass sie wieder einmal am Morgen bleich, übernächtig, von Kopfschmerzen gequält und fast arbeitsunfähig gewesen sei; sie macht damit ihren Angehörigen Sorgen, man rät hin und her nach den Ursachen ihres Zustandes und hat sie bisher noch nicht gefunden. Ich allein kenne sie, es ist der alte und immer neue Ärger. Nun teile ich freilich die Sorgen ihrer Angehörigen nicht; sie ist stark und zäh; wer sich so zu ärgern vermag, vermag wahrscheinlich auch die Folgen des Ärgers zu überwinden; ich habe sogar den Verdacht, dass sie sich - wenigstens zum Teil - nur leidend stellt, um auf diese Weise den Verdacht der Welt auf mich hinzulenken. Offen zu sagen, wie ich sie durch mein Dasein quäle, ist sie zu stolz; an andere meinetwegen zu appellieren, würde sie als eine Herabwürdigung ihrer selbst empfinden; nur aus Widerwillen, aus einem nicht aufhörenden, ewig sie antreibenden Widerwillen beschäftigt sie sich mit mir; diese unreine Sache auch noch vor der Öffentlichkeit zu besprechen, das wäre für ihre Scham zuviel. Aber es ist doch auch zu viel, von der Sache ganz zu schweigen, unter deren unaufhörlichem Druck sie steht. Und so versucht sie in ihrer Frauenschlauheit einen Mittelweg; schweigend, nur durch die äußern Zeichen eines geheimen Leides will sie die Angelegenheit vor das Gericht der Öffentlichkeit bringen. Vielleicht hofft sie sogar, dass, wenn die Öffentlichkeit einmal ihren vollen Blick auf mich richtet, ein allgemeiner öffentlicher Ärger gegen mich entstehen und mit seinen großen Machtmitteln mich bis zur vollständigen Endgültigkeit viel kräftiger und schneller richten wird, als es ihr verhältnismäßig doch schwacher privater Ärger imstande ist; dann aber wird sie sich zurückziehen, aufatmen und mir den Rücken kehren. Nun, sollten dies wirklich ihre Hoffnungen sein, so täuscht sie sich. Die Öffentlichkeit wird nicht ihre Rolle übernehmen, die Öffentlichkeit wird niemals so unendlich viel an mir auszusetzen haben, auch wenn sie mich unter ihre stärkste Lupe nimmt. Ich bin kein so unnützer Mensch, wie sie glaubt; ich will mich nicht rühmen und besonders nicht in diesem Zusammenhang; wenn ich aber auch nicht durch besondere Brauchbarkeit ausgezeichnet sein sollte, werde ich doch auch gewiss nicht gegenteilig auffallen; nur für sie, für ihre fast weißstrahlenden Augen bin ich so, niemanden andern wird sie davon überzeugen können. Also könnte ich in dieser Hinsicht völlig beruhigt sein? Nein, doch nicht; denn wenn es wirklich bekannt wird, dass ich sie geradezu krank mache durch mein Benehmen, und einige Aufpasser, eben die fleißigsten Nachrichtenüberbringer, sind schon nahe daran, es zu durchschauen oder sie stellen sich wenigstens so, als durchschauten sie es, und es kommt die Welt und wird mir die Frage stellen, warum ich denn die arme kleine Frau durch meine Unverbesserlichkeit quäle und ob ich sie etwa bis in den Tod zu treiben beabsichtige und wann ich endlich die Vernunft und das einfache menschliche Mitgefühl haben werde, damit aufzuhören - wenn mich die Welt so fragen wird, es wird schwer sein, ihr zu antworten. Soll ich dann eingestehen, dass ich an jene Krankheits-
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zeichen nicht sehr glaube und soll ich damit den unangenehmen Eindruck hervorrufen, dass ich, um von einer Schuld loszukommen, andere beschuldige und gar in so unfeiner Weise? Und könnte ich etwa gar offen sagen, dass ich, selbst wenn ich an ein wirkliches Kranksein glaubte, nicht das geringste Mitgefühl hätte, da mir ja die Frau völlig fremd ist und die Beziehung, die zwischen uns besteht, nur von ihr hergestellt ist und nur von ihrer Seite aus besteht. Ich will nicht sagen, dass man mir nicht glauben würde; man würde mir vielmehr weder glauben noch nicht glauben; man käme gar nicht so weit, dass davon die Rede sein könnte; man würde lediglich die Antwort registrieren, die ich hinsichtlich einer schwachen, kranken Frau gegeben habe, und das wäre wenig günstig für mich. Hier wie bei jeder andern Antwort wird mir eben hartnäckig in die Quere kommen die Unfähigkeit der Welt, in einem Fall wie diesem den Verdacht einer Liebesbeziehung nicht aufkommen zu lassen, trotzdem es bis zur äußersten Deutlichkeit zutage liegt, dass eine solche Beziehung nicht besteht und dass, wenn sie bestehen würde, sie eher noch von mir ausginge, der ich tatsächlich die kleine Frau in der Schlagkraft ihres Urteils und der Unermüdlichkeit ihrer Folgerungen immerhin zu bewundern fähig wäre, wenn ich nicht eben durch ihre Vorzüge immerfort gestraft würde. Bei ihr aber ist jedenfalls keine Spur einer freundlichen Beziehung zu mir vorhanden; darin ist sie aufrichtig und wahr; darauf ruht meine letzte Hoffnung; nicht einmal, wenn es in ihren Kriegsplan passen würde, an eine solche Beziehung zu mir glauben zu machen, würde sie sich soweit vergessen, etwas derartiges zu tun. Aber die in dieser Richtung völlig stumpfe Öffentlichkeit wird bei ihrer Meinung bleiben und immer gegen mich entscheiden. So bliebe mir eigentlich doch nur übrig, rechtzeitig, ehe die Welt eingreift, mich soweit zu ändern, dass ich den Ärger der kleinen Frau nicht etwa beseitige, was undenkbar ist, aber doch ein wenig mildere. Und ich habe mich tatsächlich öfters gefragt, ob mich denn mein gegenwärtiger Zustand so befriedige, dass ich ihn gar nicht ändern wolle, und ob es denn nicht möglich wäre, gewisse Änderungen an mir vorzunehmen, auch wenn ich es nicht täte, weil ich von ihrer Notwendigkeit überzeugt wäre, sondern nur, um die Frau zu besänftigen. Und ich habe es ehrlich versucht, nicht ohne Mühe und Sorgfalt, es entsprach mir sogar, es belustigte mich fast; einzelne Änderungen ergaben sich, waren weithin sichtbar, ich musste die Frau nicht auf sie aufmerksam machen, sie merkt alles derartige früher als ich, sie merkt schon den Ausdruck der Absicht in meinem Wesen; aber ein Erfolg war mir nicht beschieden. Wie wäre es auch möglich? Ihre Unzufriedenheit mit mir ist ja, wie ich jetzt schon einsehe, eine grundsätzliche; nichts kann sie beseitigen, nicht einmal die Beseitigung meiner selbst; ihre Wutanfälle etwa bei der Nachricht meines Selbstmordes wären grenzenlos. Nun kann ich mir nicht vorstellen, dass sie, diese scharfsinnige Frau, dies nicht ebenso einsieht wie ich, und zwar sowohl die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen als auch meine Unschuld, meine Unfähigkeit, selbst bei bestem Willen ihren Forderungen zu entsprechen. Gewiss sieht sie es ein, aber als Kämpfernatur vergisst sie es in der Leidenschaft des Kampfes, und meine unglückliche Art, die ich aber nicht anders wählen kann, denn sie ist mir nun einmal so gegeben, besteht darin, dass ich jemandem, der außer Rand und Band geraten ist.
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eine leise Mahnung zuflüstern will. Auf diese Weise werden wir uns natürlich nie verständigen. Immer wieder werde ich etwa im Glück der ersten Morgenstunden aus dem Hause treten und dieses um meinetwillen vergrämte Gesicht sehn, die verdrießlich aufgestülpten Lippen, den prüfenden und schon vor der Prüfung das Ergebnis kennenden Blick, der über mich hinfährt und dem selbst bei größter Flüchtigkeit nichts entgehen kann, das bittere in die mädchenhafte Wange sich einbohrende Lächeln, das klagende Aufschauen zum Himmel, das Einlegen der Hände in die Hüften, um sich zu festigen, und dann in der Empörung das Bleichwerden und Erzittern. Letzthin machte ich, überhaupt zum erstenmal, wie ich mir bei dieser Gelegenheit erstaunt eingestand, einem guten Freund einige Andeutungen von dieser Sache, nur nebenbei, leicht, mit ein paar Worten, ich drückte die Bedeutung des Ganzen, so klein sie für mich nach außen hin im Grunde ist, noch ein wenig unter die Wahrheit hinab. Sonderbar, dass der Freund dennoch nicht darüber hinweghörte, ja sogar aus eigenem der Sache an Bedeutung hinzugab, sich nicht ablenken ließ und dabei verharrte. Noch sonderbarer allerdings, dass er trotzdem in einem entscheidenden Punkt die Sache unterschätzte, denn er riet mir ernstlich, ein wenig zu verreisen. Kein Rat könnte unverständiger sein; die Dinge liegen zwar einfach, jeder kann sie, wenn er näher hinzutritt, durchschauen, aber so einfach sind sie doch auch nicht, dass durch mein Wegfahren alles oder auch nur das Wichtigste in Ordnung käme. Im Gegenteil, vor dem Wegfahren muss ich mich vielmehr hüten; wenn ich überhaupt irgendeinen Plan befolgen soll, dann jedenfalls den, die Sache in ihren bisherigen, engen, die Außenwelt noch nicht einbeziehenden Grenzen zu halten, also ruhig zu bleiben, wo ich bin, und keine großen, durch diese Sache veranlassten, auffallenden Veränderungen zuzulassen, wozu auch gehört, mit niemandem davon zu sprechen, aber dies alles nicht deshalb, weil es irgendein gefährliches Geheimnis wäre, sondern deshalb, weil es eine kleine, rein persönliche und als solche immerhin leicht zu tragende Angelegenheit ist und weil sie dieses auch bleiben soll. Darin waren die Bemerkungen des Freundes doch nicht ohne Nutzen, sie haben mich nichts Neues gelehrt, aber mich in meiner Grundansicht bestärkt. Wie es sich ja überhaupt bei genauerem Nachdenken zeigt, dass die Veränderungen, welche die Sachlage im Laufe der Zeit erfahren zu haben scheint, keine Veränderungen der Sache selbst sind, sondern nur die Entwicklung meiner Anschauung von ihr, insofern, als diese Anschauung teils ruhiger, männlicher wird, dem Kern näher kommt, teils allerdings auch unter dem nicht zu verwindenden Einfluss der fortwährenden Erschütterungen, seien diese auch noch so leicht, eine gewisse Nervosität annimmt. Ruhiger werde ich der Sache gegenüber, indem ich zu erkennen glaube, dass eine Entscheidung, so nahe sie manchmal bevorzustehen scheint, doch wohl noch nicht kommen wird; man ist leicht geneigt, besonders in jungen Jahren, das Tempo, in dem Entscheidungen kommen, sehr zu überschätzen; wenn einmal meine kleine Richterin, schwach geworden durch meinen Anblick, seitlich in den Sessel sank, mit der einen Hand sich an der Rückenlehne festhielt, mit der anderen an ihrem Schnürleib nestelte, und Tränen des Zornes und der Verzweiflung ihr die Wangen hinabrollten, dachte ich immer, nun sei
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die Entscheidung da und gleich würde ich vorgerufen werden, mich zu verantworten, Aber nichts von Entscheidung, nichts von Verantwortung, Frauen wird leicht übel, die Welt hat nicht Zeit, auf alle Fälle aufzupassen. Und was ist denn eigentlich in all den Jahren geschehen? Nichts weiter, als dass sich solche Fälle wiederholten, einmal stärker, einmal schwächer, und dass nun also ihre Gesamtzahl größer ist. Und dass Leute sich in der Nähe herumtreiben und gern eingreifen würden, wenn sie eine Möglichkeit dazu finden würden; aber sie finden keine, bisher verlassen sie sich nur auf ihre Witterung, und Witterung allein genügt zwar, um ihren Besitzer reichlich zu beschäftigen, aber zu anderem taugt sie nicht. So aber war es im Grunde immer, immer gab es diese unnützen Eckensteher und Lufteinatmer, welche ihre Nähe immer auf irgendeine überschlaue Weise, am liebsten durch Verwandtschaft, entschuldigten, immer haben sie aufgepasst, immer haben sie die Nase voll Witterung gehabt, aber das Ergebnis alles dessen ist nur, dass sie noch immer dastehen. Der ganze Unterschied besteht darin, dass ich sie allmählich erkannt habe, ihre Gesichter unterscheide; früher habe ich geglaubt, sie kämen allmählich von überall her zusammen, die Ausmaße der Angelegenheit vergrößerten sich und würden von selbst die Entscheidung erzwingen; heute glaube ich zu wissen, dass das alles von alters her da war und mit dem Herankommen der Entscheidung sehr wenig oder nichts zu tun hat. Und die Entscheidung selbst, warum benenne ich sie mit einem so großen Wort ? Wenn es einmal - und gewiss nicht morgen und übermorgen und wahrscheinlich niemals - dazu kommen sollte, dass sich die Öffentlichkeit doch mit dieser Sache, für die sie, wie ich immer wiederholen werde, nicht zuständig ist, beschäftigt, werde ich zwar nicht unbeschädigt aus dem Verfahren hervorgehen, aber es wird doch wohl in Betracht gezogen werden, dass ich der Öffentlichkeit nicht unbekannt bin, in ihrem vollen Licht seit jeher lebe, vertrauensvoll und Vertrauen verdienend, und dass deshalb diese nachträglich hervorgekommene leidende kleine Frau, die nebenbei bemerkt ein anderer als ich vielleicht längst als Klette erkannt und für die Öffentlichkeit völlig geräuschlos unter seinem Stiefel zertreten hätte, dass diese Frau doch schlimmstenfalls nur einen kleinen hässlichen Schnörkel dem Diplom hinzufugen könnte, in welchem mich die Öffentlichkeit längst als ihr achtungswertes Mitglied erklärt. Das ist der heutige Stand der Dinge, der also wenig geeignet ist, mich zu beunruhigen. Dass ich mit den Jahren doch ein wenig unruhig geworden bin, hat mit der eigentlichen Bedeutimg der Sache gar nichts zu tun; man hält es einfach nicht aus, jemanden immerfort zu ärgern, selbst wenn man die Grundlosigkeit des Ärgers wohl erkennt; man wird unruhig, man fangt an, gewissermaßen nur körperlich, auf Entscheidungen zu lauem, auch wenn man an ihr Kommen vernünftigerweise nicht sehr glaubt. Zum Teil aber handelt es sich auch nur um eine Alterserscheinung; die Jugend kleidet alles gut; unschöne Einzelheiten verlieren sich in der unaufhörlichen Kraftquelle der Jugend; mag einer als Junge einen etwas lauernden Blick gehabt haben, er ist ihm nicht übelgenommen, er ist gar nicht bemerkt worden, nicht einmal von ihm selbst, aber, was im Alter übrigbleibt, sind Reste, jeder ist nötig, keiner wird erneut, jeder steht unter Beobachtung, und der lauernde Blick eines alternden Mannes ist eben ein ganz deutlich lauernder Blick, und es ist nicht schwierig, ihn festzustellen. Nur ist es aber auch hier keine
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wirkliche sachliche Verschlimmerung. Von wo aus also ich es auch ansehe, immer wieder zeigt sich und dabei bleibe ich, dass, wenn ich mit der Hand auch nur ganz leicht diese kleine Sache verdeckt halte, ich noch sehr lange, ungestört von der Welt, mein bisheriges Leben ruhig werde fortsetzen dürfen, trotz allen Tobens der Frau. Nutzt man den von C. G. Jung entwickelten Interpretationsansatz der „Amplifizierung" für die Erzählung „eine kleine Frau" von Franz Kafka, so ergeben sich einige, die Interpretation von T. Moser ergänzende zusätzliche Aspekte, die hier kurz erläutert werden sollen. „Amplifizierung" wird ein Interpretationsentwurf genannt, der jeden Teilaspekt eines Textes (seien es Personen, Orte, Handlungen) als Ausdruck einer Person deutet; auf Kafkas Text bezogen meint dies: die kleine Frau, der Ich-Erzähler, die Öffentlichkeit, die Nachrichtenüberbringer, der Freund sind Teilaspekte des fiktionalen Ganzen der Erzählung, das wiederum zu verstehen ist als Botschaft zwischen dem Autor und seiner Leserschaft. Betrachtet man das Verhältnis der „Personen" der Erzählung unter dieser Perspektive so ist es gekennzeichnet durch Ärger und Leiden (die kleine Frau), Ohnmacht und Fremdheitsempfinden (Ich-Erzähler); Bemühen und Verständnislosigkeit (der Freund), sorgenvolle Ahnungen (die Nachrichtenüberbringer, die Verwandten), Desinteresse oder richterliche Verfolgung (die Öffentlichkeit, die Welt). Jede dieser Haltungen zeichnet sich durch ein Gespaltensein in nicht auflösbarer Paradoxie aus: Ärger und Wut der kleinen Frau äußern sich in einem Kampfesmut, der nicht zum Ziel kommen kann, aber auch nicht abzuwenden scheint; das Ohnmachtsempfinden des Ich-Erzählers sich ändern zu müssen und doch nicht zu können wird konterkarriert von dem Empfinden unbeteiligt und fremd zu sein, folglich keinerlei Verpflichtung der kleinen Frau gegenüber zu haben. Das scheinbar nachhaltige Interesse des Freundes endet in dem nutzlosen Rat zu verreisen, der deutlich macht, dass der beschriebene Konflikt nie verstanden wurde, die Nachrichtenübermittler wissen nichts und überbringen dennoch Nachrichten, die Öffentlichkeit nimmt keine Notiz und könnte doch zur richterlichen Instanz werden. Eine zentrale Position in der Erzählung nimmt hierbei die kleine Frau ein. Beim Lesen der Erzählung, die verwirrt durch ihre zahlreichen Widersprüche und Verästelungen, ergeben sich fast notwendig eine Anzahl von naiven, alltagsnahen Fragen und es wächst die Ungeduld mit den unklaren, schwebenden Formulierungen der Erzählung: Wer ist die kleine Frau ? Was will sie vom Ich-Erzähler ? Was eigentlich stört die kleine Frau am Ich-Erzähler ? Wo kommt sie her ? Die Formulierung „ich sehe sie immer im gleichen Kleid" lässt darauf schließen, das keine Alltagsbegegnung gemeint sein kann, ebenso wie das „holzfarbene" Kleid und ihre Hände, deren Finger „derart scharf von einander abgrenzt sind" weniger auf eine reale Person als auf eine Erscheinung, eine symbolische Personifikation schließen lassen. Widersprüchlich und fremdartig geschildert ist sie ausschließlich durch ihren Widerwillen und ihre Wut auf den Ich-Erzähler, die bis zur (vorgetäuschten?) körperlichen
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Erschöpfung reicht, in der Erzählung präsent. Der Eindruck, dass Kafka keine Person sondern eine personalisierte Empfindung schildert, verdichtet sich im Schlusssatz: „wenn ich mit der Hand auch nur ganz leicht diese kleine Sache (die kleine Frau, U.K.) verdeckt halte". In seinen Tagebüchern formuliert Kafka sinngemäß über seine Verlobte: „Du bist mir das Messer, mit dem ich in mir schneide" und ganz ähnlich ist der Eindruck, den diese „kleine Frau", so winzig, dass sie mit einer Hand zu verdecken ist, erweckt: sie ist „der Stachel im Fleisch" des Ich-Erzählers eine unerschöpfliche, grenzenlose Wut, nicht zu besänftigen, selbst zerstörerisch, hellsichtig, scharfsinnig und nicht zu löschen. Die Anfälle körperlicher Schwäche, die hier der „kleinen Frau" zugeschrieben werden, sind aus Kafkas Leben bekannt; seine Einsicht, dass er psychisches Leiden somatisiere, schreibt er in dieser Erzählung der „kleinen Frau" zu: halb abwertend (dass, wer eine solche Wut empfinde, auch stark genug sei, sie zu durchleben), halb besorgt und mitleidig gegenüber einer „armen, kleinen Frau". Ebenso wie die „kleine Frau" weist jeder Teilaspekt des Textes in sich selbst Brüche und unauflösbare Widersprüche auf, und das Verhältnis der Teilaspekte zu einander ist gebrochen, widersprüchlich und paradox. In der Schwebe gehalten werden diese Widersprüche durch die Distanz wechselseitiger Fremdheit (die kleine Frau ist fiir den Ich-Erzähler eine bedeutungslose Fremde), durch eine Haltung der „Bewegungslosigkeit" (kein Verreisen) und durch abwiegelndes Minimalisieren des Konfliktes (das ganz Private gehört nicht vor die Öffentlichkeit). Stellt man die Erzählung „eine kleine Frau" als fiktive Fallstudie einem manifesten Fall von Paranoia gegenüber, werden die Unterschiede deutlich: während in der klassischen Paranoia eine Stimme (umgangssprachlich ganz parallel hierzu häufig „einen kleinen Mann im Ohr haben" genannt) als fremdes im eigenen Gehirn empfunden wird, ist die kleine Frau außerhalb der Körpergrenzen des Ich-Erzählers lokalisiert; während die Stimme als übermächtig und das eigene Leben dominierend empfunden wird, stellt die kleine Frau ein immerwährendes Ärgernis dar (eigentlich ist sie der Ärger), das beherrschbar und verheimlichbar erscheint. Die Phase des Kampfes zwischen der Stimme und der eigenen Ich-Organisation wird in der Psychotherapie als Latenzphase, der Sieg der Stimme als manifeste Psychose bezeichnet; in der Erzählung jedoch kommt es durch Distanzierung und Rationalisierung zu keinem Kampf zwischen dem Ich-Erzähler und der kleinen Frau; die Öffentlichkeit (als Gesamtorganisation des Individuums) wird nicht als richterliche Instanz hinzugezogen, es gibt keinen Sieger und keinen Verlierer. Letztlich dokumentiert sich innerhalb der Erzählung das Verhältnis des Autors zu seiner Leserschaft: eine Botschaft wird übermittelt, aber Kontakt, Veränderung, Bewegung, eine konfliktreiche Auseinandersetzung, eine Bearbeitung des Problemfeldes ist nicht möglich auf Grund der Distanz und der Fremdheit zwischen den Instanzen. So mag es sein, dass die Erzählung „eine kleine" Frau sich auswirkt auf den Leser wie die fiktive „kleine Frau" auf den Ich-Erzähler: ein Ärgernis, das nicht aufzulösen ist und doch quasi „bedeutungslos" bleiben kann für das reale Alltagsleben.
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Übungsaufgabe 17 Eine Lehrveranstaltung über Methodologie und Forschungspraxis wird meistens schon von vornherein als "trockenes Pflaster", als langweilig und dazu noch anstrengend abgestempelt. Man ahnt riesige Theorieblöcke ohne jeglichen Praxisbezug voraus. In diesem Fall traf nichts dergleichen zu. Die Inhalte waren stets verständlich und wurden auch immer wieder durch Beispiele, audiovisuelle Medien und Referate erläutert, der Unterricht aufgelockert. Der von Ihnen verfasste begleitende und ergänzende Kurs zur Lehrveranstaltung war mir zudem eine große Hilfe. Im Selbststudium gelang es mir einen Überblick bezüglich qualitativer Sozialforschung zu erarbeiten. Aus Zeitgründen konnte ich nämlich die beiden Wochenendblöcke nicht zur Gänze besuchen. Gerade deshalb oder - schade, dass ich gerade deshalb mit dem Skriptum einige Schwierigkeiten hatte. Jene Kursteile, die ich während meiner Anwesenheit mitverfolgt hatte, waren mir leicht verständlich. Zudem ergänzten und erklärten sie Uneinigkeiten meiner Niederschrift. Durch die Übungsaufgaben konnte ich schließlich überprüfen, ob ich die jeweiligen Inhalte auch richtig verstanden habe. Vor allem versuchte ich wirklich die Fragen mit eigenen Worten zu beantworten. Im Bereich der Gesellschaftstheorie lieferte mir dieser Kurs nützliches Zusatzwissen und mehrere "aha!" - Erlebnisse. Bestimmte Begrifflichkeiten und Zusammenhänge aus der Lehrveranstaltung von Dr. Anette Scheunpflug über Luhmannsche Systemtheorie wurden mir erst mit Hilfe Ihres Kurses klarer. Die neuen Erkenntnisse weckten mein Interesse auf "mehr", so dass es mir schlussendlich tatsächlich gelungen ist, die Theorie sozialer Systeme zumindest ansatzweise zu überschauen. Schwer verständlich empfand ich hingegen das Kapitel über "Das Problem der wissenschaftlichen Verallgemeinerung". In der Arbeitsgruppe besprachen wir jedoch jede einzelne Übungsaufgabe. Auf diese Weise konnte ich einige meiner Wissenslücken auch in diesem Fall füllen. Die größte Schwierigkeit bereitete mir "Die psychoanalytische Textinterpretation", und zwar nicht die Erläuterung der Methode selbst, sondern vielmehr ihre praktische Anwendung. Unglücklicherweise traf es bei der Aufteilung der Übungsfragen in der Gruppe gerade mich! Auf keinem Fall war es so, dass ich die Aufgabenstellung sogleich aufgab. Ich suchte "verzweifelt" nach Hilfestellungen bei meinen Kolleginnen und in der Literatur. Vergebens, trotz der verständlichen Darstellung im Kurs und des ergänzenden Buches aus der Institutsbibliothek von Carl Pietzcker fehlt mir das notwendige Basiswissen, weiteres literarisches bzw. biographisches Wissen über den Autor Franz Kafka, um die geforderte Interpretationsmethode anwenden zu können. Der Aufwand, um meine Lücken füllen zu können, war mir ehrlich gesagt einfach zu viel für eine Einführungsvorlesung. Allgemein wurde ich aufgrund Ihres Kurses auf vieles neugierig und habe somit begonnen, mich in bestimmte Gebiete bzw. Interpretationsmethoden qualitativer Sozialforschung einzulesen.
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In besonderer Weise konnte ich mich für das "Narrative Interview" begeistern. Abschließend möchte ich trotz einiger Schwierigkeiten meine positive Erfahrung mit Ihrem Kurs nochmals unterstreichen. Für die Lösung aller Übungsaufgaben ist bzw. wäre der Zeitaufwand jedoch enorm, vielleicht könnten sie diesen Aspekt nochmals überdenken. Trotzdem finde ich diese Form des Wissenserwerbes eine sehr fruchtbare Alternative zur Routine der mündlichen Gruppenkolloquien und schriftlichen Prüfungen an unserem Institut.
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