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german Pages 618 [619] Year 2007
Uwe
Flick
% QUALITATIVE 6 SOZIALFORSCHUNG Eine Einführung
rowohlts
enzyklopädie
Über den Verfasser Uwe Flick, Prof. Dr. phil,, geb. 1956 in Heidelberg. Studium der Psychologie und Soziologie in München
und Berlin. Habilitation 1994. Seit 1997 Professor für
Qualitative Forschung an der Alice Salomon Hochschule Berlin und Privatdozent an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Zuvor Tätigkeiten an der Freien Universität Berlin (1985—1989), Technischen Universität Berlin (1989 bis 1996), Medizinischen Hochschule Hannover (1996 bis 1997) und der Memorial University of Newfoundland, St. John’s, Kanada (Adjunct Professor 2000-2003). Lehr- und Forschungstätigkeiten u.a. an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris, der London School of Economics,
der City University London, Massey University Auckland (Neuseeland), Santiago de Chile, Karlstad, Padua, Lissabon sowie an der Universität Wien (2011-2012). Forschung und Lehre zu: Qualitative Methoden, Alltagswissen, individuelle und öffentliche Gesundheit, Qualitative Evaluation, Jugendobdachlosigkeit, Gesund-
heit und Alter, Buchpublikationen: Qualitative Forschung — ein Handbuch (Hg, mit E. v. Kardorff und I. Steinke; Reinbek 2000, 72010, London u.a. 2004); Handbuch
Qualitative
Sozialforschung (Hg. mit E. v. Kardorff, H. Keupp, L. v. Rosenstiel und S. Wolff; München
1991, *1995); An Introduction to Qualitative Research (London u.a.
1998; 4'* ed. 2009); Psychologie des Sozialen (Hg.; Reinbek 1995; Cambridge u.a.
1998); Psychologie des technisierten Alltags (Opladen 1996); Alltagswissen über Gesundheit und Krankheit (Hg.; Heidelberg 1991, Paris 1993); Wann fühlen wir uns gesund? (Hg.; Weinheim
1998); Vertrauen, Verwalten, Einweisen (Opladen
1989); Innovation durch New Public Health (Hg.; Göttingen 2002); Gesundheit als Leitidee? (mit U, Walter u. a.; Bern 2004); Triangulation — eine Einführung (Wiesbaden ?20711); Alt und gesund? (mit U. Walter u.a.; Wiesbaden 2006); Qualitative Evaluationsforschung (Hg.; Reinbek 2006); The SAGE
Qualitative Research Kit
(Hg.; London u.a. 2007, Porto Alegre 2010, Warschau 2011); Designing Qualitative Research (London u. a. 2007, Porto Alegre 2010, Warschau 201 1); Managing Quality in Qualitative Research (London u.a. 2007, Porto Alegre 2010, Warschau 2011); Gesundheit auf der Straße (mit G. Röhnsch; Weinheim
2008); Sozialforschung:
Methoden und Anwendungen — Ein Überblick für die BA-Studiengänge (Reinbek 2009}; Introducing Research Methodology — A Beginners’ Guide to Doing a Research Project. London u.a. 2011).
Uwe Flick
Qualitative Sozialforschung Eine Einführung
rowohlts enzyklopädie im Rowohlt Taschenbuch Verlag
rowohlts enzyklopädie Herausgegeben von Burghard König
Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe Oktober 2007
5. Auflage November 2012 Originalausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1995
Copyright © 1995, 2002 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann Satz Proforma PostScript (InDesign) bei Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung CPI — Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany ISBN 978 3 499 55694 4
Inhalt
Vorwort zur erweiterten Neuausgabe
I
Rahmen
9
n
I
Orientierung durch das Buch
2
OQualitative Sozialforschung —- Aktualität, Geschichte, Kenn-
3
zeichen 22 Qualitative und quantitative Forschung
H#
Ethik qualitativer Forschung
Von der Theorie zum Text 5 6 7
H_
56
39
71
Zur Verwendung von Literatur in qualitativer Forschung Theoretische Positionen 81 Konstruktion und Verstehen von Texten 106
Forschungsdesign 8
ı2
121
Der qualitative Forschungsprozess
122
9 10 ı1
Fragestellungen in qualitativer Forschung Zugangzum Feld 142 Auswahlstrategien: Sampling 154
132
12
Designs qualitativer Forschung —- ein Überblick
172
72
Verbale Daten 13
14 15 16
193
Leitfaden-Interviews 194 Erzählungen als Zugang 227 Gruppendiskussion und Focus-Group
Verbale Daten — Zugänge im Überblick
Beobachtung und mediale Daten 17
18
I9 20 21
Beobachtung und Ethnographie 281 Visuelle Daten: Fotos, Film und Video 304 Zur Verwendung von Dokumenten 321 Qualitative Online-Forschung 333
Beobachtung und mediale Daten - Zugänge im Überblick
Vom Text zur Theorie
22
Dokumentation von Daten 371 Kodierung und Kategorisierung 386
23
25
26
27
268
279
Vi
24
248
369
Konversations-, Diskurs- und Gattungsanalyse
422
Narrative und hermeneutische Analysen 436 Computer in qualitativer Forschung 451 Textinterpretation — Methoden im Überblick 473
357
VIl
Geltungsbegründung, Darstellung und Perspektiven qualitativer Forschung 485
28
Gütekriterien qualitativer Forschung 487 Qualität in der qualitativen Forschung — jenseits von Kriterien 511 Darstellung qualitativer Forschung 531
29 30 31
Qualitative Forschung —
Stand der Dinge und Zukunftsperspektiven
Literatur
568
Verzeichnis der Abbildungen 599 Verzeichnis der Tabellen 600 Verzeichnis der Kästen 60r Namenregister 603 Sachregister 609
547
Vorwort zur erweiterten Neuausgabe
Qualitative Sozialforschung
durchläuft
im deutschen,
mehr
noch
im
englischen Sprachraum einen stetigen Prozess des Wandels — neue Ansätze und Weiterentwicklungen bestehender Programme und Methoden kommen hinzu. Sie wird von immer mehr Disziplinen aufgegriffen und
differenziert sich in verschiedenen Anwendungsfeldern zunehmend
aus. Dabei sind neue Trends, neue Methoden, neue Fragestellungen und Entwicklungen zu verzeichnen. Dieses Buch erschien ursprünglich unter dem Titel «Qualitative Forschung — Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwis-
senschaften» und ab der insgesamt sechsten Auflage 2002 in einer revidierten Neuausgabe als «Qualitative Sozialforschung — eine Einführung». Die Änderung des Buchtitels bot sich an, um Verwechslungen mit dem zwischenzeitlich in derselben Reihe erschienenen Band «Qualitative Forschung —- ein Handbuch» (Flick, Kardorff & Steinke 2000) zu vermeiden. Während Letzteres Vertiefungen und eine breitere Palette einzelner Ansätze aus der Sicht der Autoren, Vertreter oder Protagonisten dieser
Ansätze liefert, will die vorliegende Einführung in stärkerem Maß eine Orientierung im zunehmend unübersichtlich werdenden Feld der qualitativen Forschung geben. Durch den neuen Titel sollte der einführende
Charakter stärker unterstrichen werden ohne die einschränkende Bin-
dung an bestimmte Disziplinen. Dieses Buch wendet sich an Lehrende
und Studierende aus unterschiedlichen Disziplinen, von den Sozial- und
Erziehungswissenschaften über Psychologie, Sozialarbeit zu den Pflegeund Gesundheitswissenschaften und anderen Fächern und Fachbereichen, in denen heute qualitative Forschung betrieben und gelehrt wird. Für die vorliegende Neuausgabe wurde das Buch erneut revidiert und vor allem in verschiedene Richtungen erweitert. Die fast schon unüber-
schaubare Literatur in neuen Zeitschriften, Neuausgaben der wichtigsten Lehr- und Handbücher sowie neuen Buchreihen erforderte eine durchgängige Aktualisierung der behandelten Literatur in dieser Einführung.
Das Grundprinzip des Buchs — seine Orientierung an den Stationen des qualitativen Forschungsprozesses sowie die vergleichende Gegenüberstellung der Methoden und Ansätze in jedem dieser Schritte — wurde indes beibehalten, auch wenn an seiner Struktur einiges verändert wurde. Neue
Kapitel wurden
aufgenommen,
um
aktuellen Entwicklungen
und Erfordernissen Rechnung zu tragen. So sind jetzt eigene Beiträge zur Forschungsethik (Kapitel 4), zur Verwendung von Literatur bei qualitativer Forschung (Kapitel 5) und zum Forschungsdesign (Kapitel 12) ent-
halten. Neue Forschungsbereiche sind hinzugekommen - Dokumenten-
analysen (Kapitel 19) und qualitative Online-Forschung (Kapitel 20). Das Buch beginnt mit einem neuen Kapitel zur Orientierung (Kapitel ı) und endet mit einem neuen Überblick zu Stand und Perspektiven der qualitativen Forschung (Kapitel 31). Andere Kapitel wurden an neuer Stelle im Buch verortet — etwa das zum Verhältnis qualitativer und quantitativer Forschung (jetzt Kapitel 3) oder zur Verwendung von Computern in qualitativen Analysen (jetzt Kapitel 26). Andere wurden in mehrere Kapitel aufgeteilt — vor allem im Teil V, in dem Beobachtung (Kapitel 17)
und visuelle Forschung (Kapitel 18) getrennt behandelt werden, und im
Teil VI, in dem Konversations-, Diskurs- und Gattungsanalysen (Kapitel 24) sowie narrative und hermeneutische Analysen (Kapitel 25) für sich genommen dargestellt werden. Schließlich wurden das Layout des Buchs und seine didaktischen Ele-
mente noch einmal überarbeitet. So wird jedem Kapitel eine Übersicht der behandelten Themen und Lernziele vorangestellt, Beispiele und Verdichtungen bei der Darstellung einzelner Ansätze werden in Kästen hervorgehoben. Die Kapitel enden jeweils mit einer Auswahl weiterführender Literatur, Kernpunkten und Übungen.
Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit wurde darauf verzichtet, immer
die männliche und die weibliche Form zu verwenden. Leserinnen und Le-
ser mögen sich bitte abwechselnd eine weibliche und eine männliche Person vorstellen, wenn von Forschern und Interviewpartnern die Rede ist.
Abschließend gilt mein herzlicher Dank erneut dem Herausgeber der
Reihe rowohlts enzyklopädie, Dr. Burghard König, für seine Unterstützung
bei der Realisierung dieses Projekts über die Jahre hinweg.
Uwe Flick
]
Rahmen
Der erste Teil skizziert einen Rahmen für die Durchführung qualitativer
Forschung. Er soll Einordnung und Verständnis der späteren Kapitel er-
leichtern. Als Orientierung durch das Buch stellt das erste Kapitel seinen Aufbau vor. Das anschließende Kapitel gibt einen Überblick darüber, warum qualitative Forschung in den letzten Jahrzehnten des 20. und am
Beginn des 21. Jahrhunderts eine besondere Relevanz erlangt hat. Nach
einem Überblick über die Hintergründe qualitativer Forschung werden ihre wesentlichen Kennzeichen kurz vorgestellt (Kapitel 2). Das dritte
Kapitel beleuchtet die Beziehung zwischen qualitativer und quantitati-
ver Forschung sowie Möglichkeiten und Probleme ihrer Verknüpfung. Kapitel 4 skizziert die spezifischen ethischen Fragen bei qualitativer Forschung. Insgesamt soll dieser Teil eine Basis für die Anwendung der in den späteren Kapiteln ausführlicher behandelten qualitativen Metho-
den liefern.
ı
Orientierung durch das Buch
Ansatz des Buchs
12
Aufbau des Buchs
13
Spezielle Bestandteile des Buchs Zur Verwendung des Buchs
19
21
Ziele: Nachdem Sie dieses Kapitel gelesen haben, sollten Sie e den Aufbau des Buchs kennen,
e wissen, wo die einzelnen Aspekte qualitativer Forschung darin behandelt werden, und
e sehen, welche Kapitel Sie für unterschiedliche Ziele jeweils verwenden können.
Ansatz des Buchs
Dieses Buch richtet sich an zwei Zielgruppen — Einsteiger in die qualitative Forschung und Forscher mit etwas mehr Erfahrung. Für Anfänger in qualitativer Forschung oder sogar in der Sozialforschung insgesamt, in der Regel Studierende an Universitäten und Fachhochschulen, ist es als grundlegende Einführung in die Prinzipien und die Praxis qualitativer Forschung,
ihre theoretischen
und
erkenntnistheoretischen
Hintergründe sowie die wichtigsten Methoden konzipiert. Darüber hinaus lässt es sich im qualitativen Forschungsalltag als eine Art Werkzeugkasten in der Auseinandersetzung mit praktischen Fragen und Pro-
blemen nutzen.
Qualitative Forschung etabliert sich in vielen Sozialwissenschaften, in der Psychologie, der Pflegewissenschaft etc. Mittlerweile steht eine Vielzahl spezifischer Methoden zur Verfügung, die jeweils von unterschiedlichen Prämissen ausgehen und verschiedene Ziele verfolgen. 12
Jede qualitative Methode beruht auf einem spezifischen Gegenstands-
verständnis. Qualitative Methoden lassen sich nicht unabhängig vom Forschungsprozess und vom untersuchten Gegenstand sehen. Sie sind jeweils auf besondere Art und Weise in den Prozess der Forschung eingebettet und können am besten in einer prozessorientierten Perspektive
beschrieben und verstanden werden. Deshalb ist das zentrale Anliegen
dieses Buchs, die verschiedenen Schritte im Prozess qualitativer For-
schung darzustellen und dabei die wichtigsten qualitativen Methoden
der Datenerhebung und -analyse sowie der Bewertung und Ergebnispräsentation in einen prozessorientierten Rahmen einzuordnen. Dies soll einen Überblick über das Feld der qualitativen Forschung, über die
methodischen Alternativen darin und die damit verbunden Ansprüche, Anwendungen und Grenzen geben und die Leser in die Lage versetzen,
die für ihren Gegenstand und ihre Fragestellung jeweils am besten geeignete methodische Strategie auszuwählen.
Vorgehen der Darstellung
Ein Ausgangspunkt ist dabei, dass qualitative Forschung vor allem mit Texten arbeitet: Erhebungsverfahren — wie Interviews oder Beobachtun-
gen — produzieren Daten, die durch Aufzeichnung und Transkription in
Texte überführt werden,
an denen
Interpretationsverfahren ansetzen.
Dabei werden verschiedene Wege beschritten, die zu den Texten im Zentrum der Forschung hinführen und von ihnen wegführen. Ganz knapp lässt sich der qualitative Forschungsprozess als Weg von der Theorie zum Text und als Weg vom Text zur Theorie skizzieren, deren Schnittpunkt in
einem spezifischen Forschungsdesign die Erhebung verbaler oder visueller Daten und ihre Interpretation ist.
Aufbau des Buchs Das Buch besteht aus sieben Hauptteilen, die den Prozess qualitativer
Forschung in seinen wesentlichen Schritten darstellen.
13
Teil I steckt einen Rahmen für die Durchführung qualitativer Forschung ab. ® Kapitel 2 wirft einige grundlegende Fragen qualitativer Forschung auf. Dazu wird ihre Relevanz vor dem Hintergrund aktueller Tendenzen in der Gesellschaft und in den Sozialwissenschaften skizziert. Qualitative und
quantitative Forschung werden anhand der Entwicklungen in den USA
und Europa eingeordnet. Es wird eine Reihe von Kennzeichen, die ver-
schiedene Ansätze qualitativer Forschung verbinden, herausgearbeitet. e Kapitel 3 widmet sich der Verbindung qualitativer und quantitativer Forschung. Leitfragen für die Bewertung der Angemessenheit qualita-
tiver und quantitativer Forschung werden skizziert. Diese sollen dem
Leser erleichtern, die Entscheidung zwischen qualitativer und quantitativer Forschung (oder auch für eine Kombination beider) für die eigene Untersuchung fundierter zu treffen. ® Kapitel 4 behandelt Aspekte der Forschungsethik. Diese verdient hier eine besondere Aufmerksamkeit,
da qualitative Forschung wesentlich
weiter in Bereiche des Privaten und des Alltagslebens der Teilnehmer vordringt als andere Ansätze, Ethische Reflexion und Sensibilität im Vorfeld einer Studie werden hier besonders relevant, jedoch verfehlen allgemeine Diskussionen forschungsethischer Fragen häufig die Spezifik qualita-
tiver Forschung. Nach der Lektüre dieses Kapitels sollte die Bedeutung
von Ethikkodices wie auch von Ethikkommissionen deutlich geworden sein. Häufig hängt es jedoch von den praktischen Entscheidungen im Feld ebenso stark ab, inwieweit eine Studie ethischen Prinzipien ent-
spricht oder nicht. Teil II behandelt die ersten Schritte im Prozess qualitativer Forschung — von der Theorie zum Text. e Kapitel 5 beschäftigt sich mit der Einbeziehung von — theoretischer,
methodischer und empirischer - Literatur in einer qualitativen Studie. Dabei geht es um deren Relevanz im Verlauf der Studie und beim Schreiben über sie, wobei am Ende einige Hinweise zur Literaturrecherche gegeben werden. e Kapitel
6 stellt die unterschiedlichen
theoretischen Positionen,
die
qualitativer Forschung zugrunde liegen, dar. Symbolischer Interaktio14
nismus, Ethnomethodologie und strukturalistische Modelle werden als
Hauptperspektiven in ihren Grundannahmen und neueren Entwicklun-
gen diskutiert, um darüber die im zweiten Kapitel begonnene Liste der wesentlichen Kennzeichen qualitativer Forschung zu vervollständigen. Ergänzend werden zwei wesentliche
Debatten, die einen starken Ein-
fluss auf die vor allem internationale Diskussion haben, behandelt. Fe-
ministische Ansätze und Gender Studies ebenso wie Positivismus versus
Konstruktivismus spielen in vielen Bereichen qualitativer Forschung eine zentrale Rolle — wenn die Gegenstände, der Prozess der Forschung
und die Verwendung qualitativer Methoden konzipiert werden. e Kapitel 7 entwickelt einen erkenntnistheoretischen Hintergrund für eine konstruktivistisch konzipierte qualitative Forschung auf der Basis von Text als empirischem Material. Im dritten Teil — Forschungsdesign — treten praktische Fragen der For-
schungsplanung bei qualitativen Studien in den Vordergrund.
e Kapitel 8 skizziert den Forschungsprozess und zeigt, dass hier die
einzelnen Schritte wesentlich enger miteinander verzahnt sind als im
eindeutiger unterscheidbaren, schrittweisen Vorgehen quantitativer Forschung. s Kapitel 9 widmet sich der Bedeutung einer klar umrissenen Fragestel-
lung für die Durchführung qualitativer Forschung und zeigt, wie man zu einer entsprechenden Fragestellung kommt. e Kapitel 10 erörtert den Einstieg in das Untersuchungsfeld und den Zugang zu Teilnehmern an einer Studie. e Kapitel ıı behandelt das Sampling — wie Fälle individuell oder in
Gruppen und wie Interviewpartner oder Beobachtungssituationen ausgewählt werden. o Kapitel 12 gibt einen Überblick über praktische Fragen des Forschungs-
designs bei qualitativen Studien und über die Basisdesigns qualitativer Forschung.
Teil IV führt in eine der Hauptstrategien der Datensammlung ein: Verbale Daten werden in Interviews, Erzählungen oder Focus-Groups produziert, 15
s Kapitel 13 stellt Interviewverfahren vor, deren gemeinsames Kennzeichen die Verwendung eines Leitfadens mit mehr oder minder offenen
Fragen zur Stimulierung von Antworten ist. Einige Methoden — etwa das fokussierte Interview — werden für unterschiedliche Zwecke eingesetzt,
während andere — wie das Experteninterview — durch spezifische Anwendungsfelder bestimmt sind.
e Kapitel 14 skizziert einen zweiten Weg zu verbalen Daten. Hier ist die Stimulierung von Erzählungen (von Lebensgeschichten oder stärker fokussiert über bestimmte Situationen) der zentrale Schritt. Solche Erzählungen werden in eigens dafür konzipierten Interviews erhoben — in narrativen Interviews im ersten und episodischen Interviews im zweiten Fall.
o Kapitel 15 behandelt die Methoden zur Sammlung verbaler Daten in
Gruppen. Focus-Groups und Gruppendiskussionen sind in verschiedenen Bereichen en vogue. Beide basieren auf der Stimulierung von Diskussionen, während Gruppeninterviews mehr auf die Beantwortung von Fragen abzielen. Gemeinsame Erzählungen werden in einer Gruppe von Menschen in Bezug auf zusammen erlebte Ereignisse bzw. Prozesse erhoben.
e Kapitel 16 fasst die Methoden zur Erhebung verbaler Daten zusam-
men, um darüber eine Hilfestellung bei der Entscheidung zwischen den
im Teil Iv behandelten Alternativen zu geben. Dazu werden die Metho-
den verglichen und eine Checkliste für eine solche Entscheidung vorgestellt.
Teil
V widmet sich der Beobachtung und den medialen Daten, die etwa ver-
schiedene Wege der Kommunikation gleichzeitig erfassen oder elektro-
nische Daten einschließen. e Kapitel ı7 behandelt teilnehmende und nicht-teilnehmende Beobachtung und Ethnographie, bei denen jeweils andere Methoden (etwa Interviews oder Dokumentenanalysen) die eigentlichen Beobachtungen ergänzen. e Kapitel 18 stellt visuelle Daten und die Analyse von Fotos, Film und Video in den Vordergrund, e Kapitel 19 beschreibt die Konstruktion und Bearbeitung von Dokumenten in qualitativer Forschung. 16
e Kapitel 20 diskutiert das Internet als Forschungsfeld und als Instrument für die Durchführung von Forschung unter Verwendung einiger der in vorangegangenen Kapiteln schon behandelten Methoden — wie Interviews, Focus-Groups oder Ethnographie.
e Kapitel 21 entwickelt eine vergleichende Perspektive auf Beobachtung
und mediale Daten, um die Entscheidung für oder gegen das einzelne Verfahren durch die Gegenüberstellung von Vorteilen und Problemen jeder Methode zu erleichtern.
Nachdem bislang die Sammlung und Herstellung von Daten im Vordergrund stand, skizziert Teil VI den Weg vom Text zur Theorie— wie sich aus
diesen Daten und den daraus produzierten Texten theoretisch relevante Einsichten mit qualitativen Analyseverfahren entwickeln lassen. e Kapitel 22 widmet sich der Dokumentation von Daten in qualitativer Forschung. Feldnotizen und Transkription werden detaillierter in technischen Aspekten anhand von Beispielen diskutiert.
e Kapitel 23 behandelt Methoden der Kodierung und Kategorisierung bei der Analyse von Texten. e Kapitel
24 diskutiert Ansätze, die nicht nur daran interessiert sind,
was gesagt wird, sondern vielleicht noch stärker daran, wie etwas gesagt wird. Konversationsanalysen untersuchen, wie Kommunikation im All-
tag und in Institutionen funktioniert, welche Methoden die Beteiligten
dabei benutzen, um in unterschiedlichen Kontexten zu kommunizieren. Diskurs- und Gattungsanalysen entwickeln diesen Ansatz in unterschiedliche Richtungen weiter, e Kapitel 25 beleuchtet narrative und hermeneutische Verfahren. Auch
hier werden Texte sowohl nach ihrem Inhalt als auch in formaler Hinsicht interpretiert. Eine Erzählung wird etwa nicht nur daraufhin analysiert, was dargestellt wird, sondern auch daraufhin, wie die Geschichte beim Erzählen entfaltet wird und was das wiederum über das Erzählte aussagt. s Kapitel 26 diskutiert die Verwendung von Computern und spezieller Software für die Analyse qualitativer Daten. Prinzipien und Beispiele der wichtigsten Programme werden vorgestellt. Dies soll Anhaltspunkte
geben für die Entscheidung, ob ein Programm für die eigene Analyse verwendet werden soll und welches. 17
® Kapitel 27 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Analyse qualitativer Daten. Hier finden sich wieder ein Vergleich der Ansätze und eine Checkliste. Dies soll die Auswahl des für das eigene Projekt und seine Fragestellung geeigneten Verfahrens erleichtern. Teil VII führt zur Methodologie qualitativer Forschung zurück und behandelt Fragen der Geltungsbegründung und Darstellung. s Im Kapitel 28 wird die Anwendung traditioneller Gütekriterien in qualitativer Forschung, deren Grenzen und alternative Kriterien, die für
qualitative Forschung oder spezifische Ansätze darin entwickelt wurden, diskutiert. Am Ende soll deutlich werden, warum die Beantwortung der Frage nach der Qualität qualitativer Forschung eine der Haupterwartungen von außerhalb und gleichzeitig eine Notwendigkeit für die Verbesserung der Forschungspraxis darstellt. e Kapitel 29 sucht Antworten auf die Frage nach der Qualität qualitativer Forschung jenseits der Formulierung von Kriterien. Als Alternativen werden Strategien des Qualitätsmanagements, der Beantwortung der Indikationsfrage (von Methoden und Ansätzen) und die Triangulation
diskutiert.
e Kapitel 30 widmet sich der Darstellung qualitativer Forschung — wie
lassen sich Ergebnisse einer bestimmten Leserschaft nahebringen, und welchen Einfluss hat die Art der Darstellung auf die berichteten Ergebnisse? ® Im abschließenden Kapitel 31 wird der Stand der Dinge in der qualitativen Forschung noch einmal zusammengefasst. Zukünftige Entwick-
lungen sowie Fragen des Lehrens und Lernens qualitativer Forschung
werden behandelt, bevor das Kapitel mit einem Ausblick auf die Zukunft
qualitativer Forschung, die zwischen Kunst(lehre) und Methode oszil-
liert, endet.
Ziel der Darstellung Im Laufe der Geschichte qualitativer Forschung ist eine Vielzahl von Methoden entstanden, die durch verschiedene Ausgangspunkte und Ziele
gekennzeichnet sind. Sie unterscheiden sich in ihrem Verständnis des 18
untersuchten Gegenstandes und tragen auf ihre Weise zur allgemeinen Diskussion über qualitative Forschung und ihre Weiterentwicklung bei. Qualitative Methoden nicht isoliert, sondern im Rahmen des Forschungsprozesses zu behandeln, erscheint notwendig vor dem Hinter-
grund von Erfahrungen sowohl aus ihrer praktischen Anwendung in der Empirie wie aus der Lehre mit Studenten und aus der Fortbildung mit Mitarbeitern in laufenden Forschungsprojekten. Eine solche prozess-
bezogene Darstellung will dieses Buch liefern. Damit soll einerseits ein Überblick zur Entscheidung für bestimmte Methoden der Erhebung oder
Auswertung gegeben werden, der andererseits erlaubt, die Stimmigkeit der einzelnen Methode mit den anderen Bestandteilen des Prozesses zu beurteilen: Inwieweit passt das aus den jeweils möglichen Alternativen
gewählte Interpretationsverfahren (Kapitel 27) mit der Methode der Erhebung (Kapitel 16 oder 21) und der Gestaltung des Forschungsprozesses (Kapitel 8) oder dem angewendeten Auswahlverfahren (Kapitel 11) zusammen?
Zur Vertiefung und bei der Anwendung der einzelnen Methode er-
scheint die Auseinandersetzung mit weiterer Literatur über das jeweilige Verfahren notwendig, weshalb sich Verweise zu den wesentlichen Arbeiten in den Kapiteln finden.
Spezielle Bestandteile des Buchs
Um den Nutzen des Buchs für das Studium und die Durchführung qualitativer Forschung zu erhöhen, enthält es verschiedene Bestandteile
durchgängig in allen Kapiteln:
e Ziele Am Anfang findet sich eine Orientierung durch das jeweilige Kapitel, die aus zwei Teilen besteht: ein Überblick über die Themen, die darin behandelt werden, und eine Liste von Zielen des Kapitels, die umreißt, was der Leser nach der Lektüre des Kapitels verstanden haben sollte. e Kästen Kästen fassen die zentralen Schritte einer Methode
zusammen,
ent-
halten praktische Hinweise oder Beispielfragen (etwa bei Interviews). 19
® Fallbeispiele
Fallbeispiele zur Ilustration von Methoden und deren Anwendung in
konkreten Studien beschreiben, wie qualitative Forschung praktisch umgesetzt wird und welche Probleme oder Fragen dabei jeweils auftreten. Neben Studien von einschlägigen qualitativen Forschern wird meine eigene Forschung dazu herangezogen. Einige Projekte werden wiederholt
aufgegriffen, um verschiedene Themen daran zu illustrieren.
e Checklisten Mehrere Kapitel (z2, 16, 2x und 27) enthalten Checklisten, die Entscheidungen bei der Auswahl einer Methode und die Überprüfung ihrer
Angemessenheit unterstützen sollen. o Tabellen
Diese Kapitel enthalten auch Tabellen, in denen die zuvor detaillierter
beschriebenen Methoden verglichen werden. Durch diese vergleichende Perspektive auf die einzelne Methode sollen deren Stärken und Schwächen im Lichte von Alternativen verdeutlicht werden. Auch dies soll den
Leser dabei unterstützen, sich für die » Methode für seinen Forschungsgegenstand zu entscheiden. e Kriterien zur Einordnung der Methoden Die im Folgenden behandelten Methoden werden am Ende ihrer Darstellung jeweils anhand einer Reihe von Kriterien einer vergleichenden
Einordnung unterzogen (z. B.: Die Grenzen der Methode). Diese Kriterien werden wiederholt angewendet und sollen die Orientierung und Bewertung der Einzelmethode erleichtern. e Querverweise
Querverweise sollen die Bezüge zwischen spezifischen Methoden oder methodischen Problemen aufzeigen und damit zu einer Kontextualisierung der Darstellung von Einzelproblemen beitragen., e Kernpunkte Am Ende jedes Kapitels werden die darin behandelten Kernpunkte hervorgehoben.
e Übungen
Übungen dienen der Rekapitulierung der Inhalte eines Kapitels in der Auseinandersetzung mit qualitativen Studien anderer Forscher und in der Planung eigener Projekte, 20
e Weiterführende Literatur Am Ende der Kapitel finden sich jeweils Literaturhinweise zur Ver-
tiefung ihrer Inhalte.
Zur Verwendung des Buchs
Das Buch kann auf verschiedene Art genutzt werden, je nach Interesse
und Vorkenntnis in qualitativer Forschung, Einerseits lässt es sich von Anfang bis Ende lesen, da es entlang den Schritten der Planung und Umsetzung qualitativer Forschung aufgebaut ist. Diese Schritte führen von der Sammlung des notwendigen Hintergrundwissens zum Forschungs-
design und seiner Umsetzung in einem Projekt und enden bei Fragen der Bewertung und Darstellung eigener Forschung. Andererseits lässt sich das Buch auch selektiv lesen, je nach eigenem Interesse: e Theoretisches Hintergrundwissen über qualitative Forschung findet sich in den Kapiteln 2 bis 7, die einen Überblick über (erkenntnis-)theoretische Grundlagen geben. s Methodische Fragen der Planung qualitativer Forschung werden detaillierter in Teil ın behandelt, in dem es um Forschungsdesigns geht,
und in Teil vıt, der die Geltungsbegründung qualitativer Forschung zum
Gegenstand hat. o Praktische Probleme der Konzipierung einer qualitativen Studie behandelt Teil ım, in dem sich Vorschläge für das Sampling in qualitativer
Forschung, die Formulierung von Forschungsfragen und den Feldzugang
finden.
e In den Teilen ıv bis v_ werden praktische Probleme bei der Anwendung qualitativer Methoden der Sammlung und Analyse von Daten detaillier-
ter für eine Vielzahl von Methoden dargelegt.
2
OQualitative Sozialforschung —
Aktualität, Geschichte, Kennzeichen
Zur Aktualität qualitativer Forschung
22
Grenzen quantitativer Forschung als Ausgangspunkt Kennzeichen qualitativer Forschung Zur Geschichte qualitativer Forschung
23
26 30
Qualitative Forschung am Ende der Moderne
36
Ziele: Nach der Lektüre dieses Kapitels sollten Sie
e qualitative Forschung in ihre Geschichte und Hintergründe einordnen können, e gemeinsame Kennzeichen unterschiedlicher Ansätze qualitativer Forschung kennen und e sehen, warum qualitative Forschung zeitgemäß und notwendig in der
aktuellen Sozialforschung ist.
Zur Aktualität qualitativer Forschung
Qualitative Forschung gewinnt besondere Aktualität für die Untersuchung sozialer Zusammenhänge, da die Pluralisierung der Lebenswelten in modernen Gesellschaften - im Sinne der «neuen Unübersichtlichkeit» (Habermas 1985), der zunehmenden «Individualisierung von Lebenslagen und Biographiemustern» (Beck 1986) oder der Auflösung al-
ter sozialer Ungleichheiten in die neue Vielfalt der Milieus, Subkulturen,
Lebensstile und Lebensweisen (Hradil 1992) — eine neue Sensibilität für empirisch untersuchte Gegenstände erforderlich macht. Nachdem Vertreter der Postmoderne erklären, dass die Zeit der großen Erzählungen und Theorien zu Ende sei (Lyotard 1986), sind eher lokal, zeitlich und
situativ begrenzte Erzählungen zeitgemäß. Angesichts dieser Plurali-
sierung der Lebenslagen und Deutungsmuster in der modernen und 22
postmodernen Gesellschaft bekommt die Feststellung Herbert Blumers (1969/1973, S. 118) neue Aktualität: «Die Ausgangsposition des Sozialwissenschaftlers und des Psychologen ist praktisch immer durch das Fehlen des Vertrautseins mit dem, was tatsächlich in dem für die Studie ausgesuchten Bereich des Lebens geschieht, gekennzeichnet.» Der rasche soziale Wandel und die resultierende Diversifikation von Lebenswelten konfrontieren Sozialforscher zunehmend mit sozialen Kontexten und Perspektiven, die für sie so neu sind, dass ihre klassischen
deduktiven Methodologien — die Fragestellungen und Hypothesen aus theoretischen Modellen ableiten und an der Empirie überprüfen - an der Differenziertheit der Gegenstände vorbeizielen. Forschung ist dadurch
in stärkerem Maß auf induktive Vorgehensweisen verwiesen: Statt von
Theorien und ihrer Überprüfung auszugehen, erfordert die Annäherung
an zu untersuchende Zusammenhänge
mehr, die fraglos übernommen
werden können. Was sie anbie-
tet, sind eingeschränkte Deutungsangebote, die zwar weiter reichen als
Alltagstheorien, aber in der Praxis ähnlich flexibel gehandhabt werden können (...)» (S. 31). Ebenso wird deutlich, dass sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse auch im Alltag kaum
wahrgenommen
ihre Fragestellungen und Ergebnisse Einhaltung methodischer Standards blemen entfernt bleiben. Analysen ein Großteil der zuvor formulierten
und benutzt werden,
da
häufig nicht zuletzt zugunsten der zu weit von Alltagsfragen und -proder Forschungspraxis zeigen, dass Ideale der Objektivität darin nicht
eingelöst werden kann. Trotz aller methodischen Kontrollen lässt sich
nicht vermeiden, dass die Forschung und ihre Ergebnisse von Interessen,
sozialen und kulturellen Hintergründen der Beteiligten mitbestimmt werden. Diese Faktoren spielen bei der Formulierung von Fragestellungen und Hypothesen ebenso eine Rolle wie bei der Interpretation von Daten und Zusammenhängen. Die von Bonß und Hartmann diskutierte Entzauberung bleibt schließlich nicht ohne Konsequenzen für die in Psychologie und Sozialwissenschaft anzustrebende und vor allem noch realisierbare Form der Erkenntnis:
25
«Unter den Bedingungen der Entzauberung der objektivistischen Ideale kann nicht mehr umstandslos von objektiv wahren Sätzen ausgegangen werden. Was bleibt, ist die Möglichkeit subjekt- und situationsbezogener Aussagen, die zu begründen Aufgabe einer soziologisch akzentuierten Konzeption von Erkenntnis wäre» (Bonß & Hartmann 198s, S, 21).
Die empirisch begründete Formulierung solcher subjekt- und situationsspezifischer Aussagen ist ein Ziel, das mit qualitativer Forschung erreicht werden kann.
Kennzeichen qualitativer Forschung
Qualitative Forschung ist von anderen Leitgedanken als quantitative Forschung bestimmt. Wesentliche Kennzeichen sind dabei die Gegenstandsangemessenheit von Methoden und Theorien, die Berücksichtigung und Analyse unterschiedlicher Perspektiven sowie der Reflexion des Forschers über die Forschung als Teil der Erkenntnis.
Gegenstandsangemessenheit von Methoden und Theorien Wissenschaftliche Disziplinen haben methodische Standards entwickelt,
auch um sich darüber von anderen Disziplinen abzugrenzen. Beispiele sind hier das Experiment als die Kernmethode in der Psychologie oder die Umfrageforschung in der Soziologie. In diesem Prozess der Etablierung als wissenschaftliche Disziplin werden Methoden gelegentlich zum Bezugspunkt für die Bewertung der Angemessenheit von Ideen und
Themen für empirische Untersuchungen, was manchmal zu Vorschlägen führt, Gegenstände, die sich nicht experimentell oder in Umfragen untersuchen
lassen, nicht zum
Gegenstand
von empirischen
Studien
zu machen. Bei manchen Themen und Gegenständen ist es schwierig, Variable eindeutig zu identifizieren und zu isolieren, weshalb
ein ex-
perimentelles Design nicht formuliert werden kann. Manche Themen lassen sich nur an wenigen Fällen untersuchen, weshalb dabei Probleme
mit großen Stichproben für repräsentative Studien und mit der Generali26
sierung von Ergebnissen entstehen, Dass es sinnvoll ist zu überlegen, ob eine Fragestellung empirisch realisiert werden kann, steht außer Frage (vgl. hier Kapitel 9). Dass die wenigsten Phänomene in der Realität mit
isolierten Merkmalen ursächlich erklärt werden können — wie dies etwa die Konzipierung eines psychologischen Experiments verlangt —, liegt an der Komplexität von Realität und Phänomenen. Würden empirische Untersuchungen ausschließlich nach dem Modell der Isolierung eindeutiger Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gestaltet, entfielen alle komplexeren Gegenstände. Der Ausschluss solcher Phänomene aus dem Spektrum empirischer Forschungsgegenstände ist die eine Lösung in der
Gestaltung der Beziehung zwischen Gegenstand und Methode bei «widerständigen> Gegenständen. Als zweiter Lösungsweg wird versucht, in komplexen Untersuchungsdesigns quantitativer Forschung (z.B. Mehrebenenanalysen) Kontextbedingungen zu berücksichtigen und komplexe Modelle empirisch und statistisch zu erfassen. Die notwendige methodische Abstraktion
erschwert die Rückbindung an den untersuchten Alltag zusätzlich. Die grundsätzliche Schwierigkeit, dass die Analysen nur das zeigen können, was zuvor im zugrunde gelegten Modell der Wirklichkeit schon erfasst war, wird dabei nicht behoben.
Der dritte Lösungsweg - Methoden so offen zu gestalten, dass sie der
Komplexität im untersuchten Gegenstand gerecht werden können - wird in qualitativer Forschung beschritten. Hier ist der zu untersuchende Ge-
genstand Bezugspunkt für die Auswahl von Methoden und nicht umge-
kehrt. Gegenstände werden dabei nicht in einzelne Variable zerlegt, son-
dern in ihrer Komplexität und Ganzheit in ihrem alltäglichen Kontext untersucht. Deshalb ist ihr Untersuchungsfeld auch nicht die künstliche Situation im Labor, sondern das Handeln und Interagieren der Subjekte
im Alltag. Um der Differenziertheit des Alltags gerecht zu werden, sind ihre Methoden dabei durch eine Offenheit gegenüber ihrem Gegenstand gekennzeichnet, die auf unterschiedliche Weise gewährleistet wird (vgl. Kapitel 13 bis 21). Ziel der Forschung ist dabei weniger, Bekanntes (etwa bereits vorab formulierte Theorien)
zu überprüfen, als Neues
zu ent-
decken und empirisch begründete Theorien zu entwickeln. Auch wird die Bestimmung der Gültigkeit der Untersuchung, hier wieder unter 27
Bezug auf den Gegenstand, vorgenommen und folgt nicht — wie bei quantitativer Forschung — ausschließlich abstrakten Kriterien der Wissenschaftlichkeit. Vielmehr werden zu zentralen Kriterien, ob Erkennt-
nisse im empirischen Material begründet sind und ob die verwendeten Methoden dem untersuchten Gegenstand angemessen ausgewählt und
angewendet wurden. Weitere Kriterien sind die Relevanz des Gefundenen und die Reflexivität des Vorgehens (vgl. Kapitel 28 und 29).
Perspektiven der Beteiligten und ihre Vielschichtigkeit Am Beispiel psychischer Störungen lässt sich ein weiteres Kennzeichen qualitativer Forschung verdeutlichen. Epidemiologische Studien konnten zeigen, in welcher Häufigkeit etwa die Schizophrenie in der
Bevölkerung auftritt. Sie belegen weiterhin, dass ihre Verteilung in der Bevölkerung unterschiedlich ist: In unteren sozialen Schichten treten schwere psychische Störungen — wie Schizophrenie —- weitaus häufiger
auf als in höheren sozialen Schichten. Diese Zusammenhänge wurden von Hollingshead und Redlich (1958) in den 1950er Jahren gefunden und seitdem immer wieder bestätigt. Auf diesem Weg konnte jedoch einerseits die Richtung des Zusammenhangs nicht geklärt werden: Fördern
die Lebensbedingungen in unteren Schichten das Auftreten und den
Ausbruch psychischer Störungen, oder rutschen Menschen mit solchen Störungen in die unteren Schichten ab? Andererseits können solche Ergebnisse nichts darüber aussagen, was es heißt, mit einer psychischen Krankheit zu leben: Weder wird die subjektive Bedeutung dieser Krankheit (oder von Gesundheit) für die unmittelbar Betroffenen deutlich noch
die Unterschiedlichkeit der Perspektiven auf die Krankheit in ihrem Umfeld erfasst. Wie ist die subjektive Bedeutung von Schizophrenie für den Patienten und wie für seine Angehörigen? Wie gehen die verschiedenen
Beteiligten mit der Krankheit aktuell um? Was hat im Laufe des Lebens des Patienten zum Ausbruch seiner Krankheit geführt und was dazu, dass daraus eine chronische Krankheit geworden ist? Welchen Einfluss hatten
die verschiedenen
Institutionen,
die den Patienten in seinem
Leben behandelt haben, auf diesen Verlauf? Welche Vorstellungen, Ziele
und Routinen bestimmen konkret deren Umgang mit dem Fall? 28
Qualitative Forschung, die sich einem Thema wie psychischer Krankheit widmet,
orientiert sich eher an solchen
die Unterschiedlichkeit
der Perspektiven
Fragen.
Sie verdeutlicht
— des Patienten,
seiner An-
gehörigen, der Professionellen - auf den Gegenstand und setzt an den
subjektiven und sozialen Bedeutungen, die mit ihm verknüpft sind, an. Sie untersucht Wissen und Handeln der Beteiligten. Sie analysiert die diesbezüglichen Interaktionen und Umgangsweisen mit psychischer
Erkrankung im jeweiligen Feld. Zusammenhänge werden im konkreten
Kontext des Falls beschrieben und aus ihm erklärt. Qualitative Forschung
berücksichtigt, dass die auf den Gegenstand bezogenen Sicht- und Handlungsweisen im Feld sich schon deshalb unterscheiden, weil damit unterschiedliche subjektive Perspektiven und soziale Hintergründe verknüpft sind.
Reflexivität des Forschers und der Forschung
Anders als bei quantitativer Forschung wird bei qualitativen Methoden die Kommunikation des Forschers mit dem jeweiligen Feld und den Beteiligten zum expliziten Bestandteil der Erkenntnis, statt sie als Störvariable so weit wie möglich ausschließen zu wollen. Die Subjektivität
von Untersuchten und Untersuchern wird zum Bestandteil des Forschungsprozesses. Die Reflexionen des Forschers über seine Handlungen und
Beobachtungen
im
Feld, seine Eindrücke,
Irritationen, Einflüsse,
Gefühle etc, werden zu Daten, die in die Interpretationen einfließen, und
in Forschungstagebüchern oder Kontextprotokollen dokumentiert (vgl. Kapitel 22).
Spektrum der Ansätze und Methoden qualitativer Forschung
Qualitative Forschung basiert nicht auf einem einheitlichen theoretischen und methodischen Verständnis. Verschiedene theoretische Ansätze und die zugehörigen Methoden bestimmen Diskussionen und Forschungspraxis. Subjektive Sichtweisen sind dabei ein erster Ansatzpunkt. Der Herstellung und dem Ablauf von Interaktionen widmet sich
ein zweiter Forschungsstrang. Die Rekonstruktion der Strukturen in 29
sozialen Feldern und des latenten Sinns von Handlungen sind Ziel einer dritten Forschungsrichtung (vgl. ausführlicher Kapitel 6). Dieses Spektrum unterschiedlicher Ansätze ist das Ergebnis verschiedener Entwicklungslinien in der Geschichte qualitativer Forschung, die teils parallel,
teils phasenweise nacheinander verlaufen sind.
Kasten 2.1: Kennzeichen qualitativer Forschung — Teil ı e Gegenstandsangemessenheit von Methoden und Theorien ® Perspektiven der Beteiligten und ihre Vielschichtigkeit e Reflexivität des Forschers und der Forschung e Spektrum der Ansätze und Methoden qualitativer Forschung
Zur Geschichte qualitativer Forschung Hier kann nur ein knapper und eher kursorischer Überblick über die Geschichte qualitativer Forschung gegeben werden. Die Verwendung qualitativer Methoden hat in der Psychologie und den Sozialwissenschaften
jeweils lange Traditionen. In der Psychologie verwendete Wilhelm Wundt verstehende und beschreibende Methoden im Rahmen seiner
Völkerpsychologie (1900-1920) gleichberechtigt neben den experimentellen Methoden seiner allgemeinen Psychologie. Etwa zur selben Zeit entbrannte in der deutschen Soziologie ein Streit zwischen einem mehr monographischen Wissenschaftsverständnis, das eher induktiv und am
Einzelfall orientiert war, und einer empirisch-statistischen Vorgehensweise (Bonß 1982, S. 106). In der amerikanischen Soziologie spielten lan-
ge Zeit (bis in die 1940er Jahre) biographische Methoden, Fallanalysen
und beschreibende Verfahren eine zentrale Rolle. Dies lässt sich exemplarisch an der Bedeutung der Studie von Thomas und Znaniecki «The
Polish Peasant in Europe and America» (1918-1920) und allgemeiner an der Bedeutung der «Chicagoer Schule der Soziologie» zeigen (vgl. hierzu Fischer-Rosenthal 1995, S. 115—-1716). Im Verlauf der Etablierung beider Wissenschaften haben sich jedoch 30
zunehmend
die in besonderer Weise kompetent sind» (Deeke 1995, S. 7-8).
214
Unter diese Definition fällt auch der Biographieträger als Experte seiner selbst (Schütze 1983) oder der chronisch Kranke als Experte für seine Krankheit. Wenn jedoch Experten-Interviews unter dieser Bezeichnung
durchgeführt werden, sind in der Regel Mitarbeiter einer Organisation in einer spezifischen Funktion und mit einem bestimmten (professionellen) Erfahrungswissen die Zielgruppe. Dafür geben Bogner und Menz (2002, S. 46) eine klarer umrissene Definition von Experten und Exper-
tenwissen: «Der Experte verfügt über technisches, Prozess- und Deutungswissen, das sich auf sein spezifisches professionelles oder berufliches Handlungsfeld bezieht. Insofern besteht das Expertenwissen nicht allein aus systematisiertem, reflexiv zugänglichem Fachoder Sonderwissen, sondern es weist zu großen Teilen den Charakter von Praxis- oder Handlungswissen auf, in das verschiedene und durchaus disparate Handlungsmaximen und individuelle Entscheidungsregeln, kollektive Orientierungen und soziale Deutungsmuster einfließen. Das Wissen des Experten, seine Handlungsorientierungen, Relevanzen usw. weisen zudem — und das ist entscheidend — die Chance auf, in
der Praxis in einem bestimmten organisationalen Funktionskontext hegemonial zu werden, d.h., der Experte besitzt die Möglichkeit zur (zumindest partiellen) Durchsetzung seiner Orientierungen. Indem das Wissen des Experten praxiswirksam wird, strukturiert es die Handlungsbedingungen anderer Akteure in seinem Aktionsfeld in relevanter Weise mit.»
Die beschriebene Funktion des Experten in seinem Feld führt häufig zu einem gewissen Zeitdruck, wenn es zum Experten-Interview kommen soll. Aus diesem Grund werden Experten-Interviews in der Regel als Leitfaden-Interviews
durchgeführt
(Liebold
&
Trinczek
2002,
S. 33),
auch wenn das narrative Interview von Schütze (1983 — vgl. Kapitel 14) ursprünglich als Verfahren zur Befragung von Experten — Kommunalpolitiker —- für einen bestimmten Handlungsablauf — kommunale Ent-
scheidungsprozesse — entwickelt wurde. Die Konzentration auf den Status des in einer bestimmten Funktion bei der
Anwendung des Experten-Interviews schränkt die Bandbreite der poten-
ziell relevanten Informationen, die der Befragte Experten zu identifi-
zieren, wenn es z.B. um die Analyse von Abläufen in Institutionen geht. Dann kann es sich oft als schwierig erweisen, diesen für ein Interview zu
gewinnen. Dabei und auch im eigentlichen Interview tritt das Problem
des Zeitdrucks auf — Experten-Interviews müssen häufig deutlich knapper kalkuliert und durchgeführt werden als andere Formen qualitativer
Interviews. Schließlich verlangen sie vom Interviewer selbst häufig ein hohes Maß an Expertise — um die interessierenden, gelegentlich sehr komplexen
Prozesse, um
die es im Interview gehen soll, zu verstehen
und in die «richtigen> Fragen umzusetzen bzw. kompetent nachfragen zu können. Weiterhin tritt hier das Problem der Vertraulichkeit auf —-
nicht selten werden heikle Themen für ein Unternehmen, auch in der Konkurrenz mit anderen Mitbewerbern auf dem Markt, angesprochen.
Dies kann zu Antwortverweigerungen oder Vorbehalten gegenüber der Tonbandaufzeichnung (vgl. Kapitel 22) des Interviews führen, aber auch komplizierte Genehmigungsprozesse mit übergeordneten Hierarchien zur Folge haben.
218
Beitrag zur allgemeinen Methodendiskussion In diesem Anwendungsfeld treten verschiedene Probleme von Leitfaden-Interviews besonders deutlich zutage: Steuerungsprobleme stellen sich hier verstärkt, da der Interviewte weniger als Person denn in einer bestimmten Eigenschaft interessiert. Dabei zeigen sich am ExpertenInterview die methodischen Probleme einer pragmatisch orientierten qualitativen Sozialforschung bzw. lassen sich daran aufzeigen: Wie kann
man in begrenzter Zeit, mit spezifischem Fokus gezielt einen metho-
disch kontrollierten Zugang zu subjektiven Erfahrungsweisen finden,
ohne die gesamte Person bzw. Lebensgeschichte in den Blick zunehmen? Die Notwendigkeit für den Interviewer, im Interview zu verdeutlichen, dass auch er mit der Thematik vertraut ist, ist auch in anderen Kontexten
Bedingung für einen erfolgreichen Interviewverlauf.
Einordnung in den Forschungsprozess
Theoretischer Hintergrund ist die Rekonstruktion subjektiver Sichtweisen in einem spezifischen Ausschnitt (vgl. Kapitel 6). Die Auswahl der Interviewpartner wird gezielt erfolgen, wobei das theoretische Sampling nur eine Variante ist, die von Patton (2002) vorgeschlagenen Alternativen teilweise geeigneter sind (vgl. Kapitel 1 1). Die Auswertung von Experten-
Interviews richtet sich vor allem auf Analyse und Vergleich der Inhalte des Expertenwissens, wobei häufig spezifische Formen der Kodierung (vgl. Kapitel 23) angewendet werden.
Grenzen der Methode
,
In der Fokussierung der Methode liegt ein Grund dafür, dass sie häufig nur als komplementäres Verfahren eingesetzt wird. Zeitdruck und ande-
re technische Probleme, die dabei auftreten, können ihre Verwendung
als eigenständiges Verfahren an Grenzen stoßen lassen. Für viele Fra-
gestellungen ist der ausschließliche Fokus auf Wissen einer spezifischen Zielgruppe auch zu eng.
219
Das ethnographische Interview
Im Rahmen der Feldforschung wird zwar hauptsächlich mit teilnehmender Beobachtung gearbeitet. Bei deren Anwendung spielen auch Befragungen eine Rolle (vgl. Becker & Geer 1979; Spradley 1980). Ein spezielles Problem ist, wie sich ergebende Gespräche im Feld als Interviews gestaltet werden können, in denen der Gesprächspartner seine spezifischen Erfahrungen mit dem Gegenstand der Forschung systema-
tisch darlegt. Der räumlich-zeitliche Rahmen ist dabei weniger eindeutig umgrenzt als in anderen Interviewsituationen. Dort werden Zeit und Ort
ausschließlich für das Interview vereinbart. Hier entstehen Gelegenheiten für Interviews häufig spontan und überraschend aus regelmäßigen Feldkontakten. Explizite Vorschläge für die Durchführung solcher ethnographischen Interviews formuliert Spradley (1979, S. 58-59): «Am besten stellt man sich ethnographische Interviews als eine Reihe von freundlichen Unterhaltungen vor, in die der Forscher langsam neue Elemente einführt, um Informanten darin zu unterstützen, als Informanten zu antworten. Die ausschließliche Verwen-
dung solcher ethnographischer Elemente oder ihre zu schnelle Einführung wird dazu führen, dass aus Interviews formale Befragungen werden. Die Beziehung wird sich im Nichts auflösen und Informanten beenden möglicherweise ihre Kooperation.»
Ethnographische Interviews beinhalten in Abgrenzung zu solchen nach Spradley (1979, S. 59-60) folgende Bestandteile:
® einen expliziten Zweck des Gesprächs (der aus der Fragestellung resultiert);
s ethnographische Erklärungen, in denen der Interviewer das Projekt (warum überhaupt ein Interview) oder die Aufzeichnung bestimmter Äußerungen darlegt (warum er etwas notiert); ergänzt werden diese durch alltagssprachliche Erklärungen (mit dem Ziel, dass Informanten Zusammenhänge in ihrer Sprache darstellen), Interviewerklärungen (die verdeutlichen, warum
diese spezifische Gesprächsform
gewählt wird,
mit dem Ziel, dass der Informant sich darauf einlässt) und Erklärungen
für bestimmte (Arten von) Fragen, mit denen die Art des Fragens explizit eingeführt wird; 220
e ethnographische
Fragen,
d.h.
beschreibende
Fragen,
strukturelle
Fragen (deren Beantwortung zeigen soll, wie Informanten ihr Wissen über den Gegenstand organisieren) und kontrastive Fragen (aus denen
Informationen resultieren sollen über Bedeutungsdimensionen, die Informanten verwenden, um Gegenstände und Ereignisse in ihrer Welt zu unterscheiden).
Bei dieser Methode stellt sich durch den offenen Rahmen das allgemeine Problem der Herstellung und Aufrechterhaltung von Interviewsitua-
tionen in pointierter Form. Die von Spradley genannten Charakteristika der Gestaltung und expliziten Definition von Interviewsituationen treffen auch für andere Kontexte der Verwendung von Leitfaden-Interviews zu. Dabei kann ein Teil der Klärungen zwar der eigentlichen Interview-
situation vorgelagert werden. Für die Herstellung eines tragfähigen Arbeitsbündnisses für das eigentliche Interview, das erst gewährleistet, dass der Interviewpartner sich tatsächlich darauf einlässt, sind die von Spradley skizzierten expliziten Klärungen in jedem Fall hilfreich. Die Methode wird vor allem kombiniert mit Feldforschungs- und Beobachtungsstrate-
gien (vgl. Kapitel 17) verwendet. Einen aktuelleren Überblick über die Verwendung ethnographischer Interviews gibt Heyl (2001). In Anlehnung an Kvale (1996) wird dabei ein stärkeres Gewicht auf das Interview als Ko-
Konstruktion durch Interviewer und Interviewpartner gelegt. Heyl verknüpft die Diskussion um das ethnographische Interview mit aktuelleren Arbeiten zur Gestaltung von Interviews generel!l (etwa Bourdieu 1996; Gubrium & Holstein 1995; Kvale 1996; Mishler 1986 u.a.). Jedoch entwickelt sie keinen spezifischen Ansatz des ethnographischen Interviews daraus.
Durchführung von Leitfaden-Interviews: Vermittlungsprobleme und Steuerung Bislang wurden verschiedene Spielarten des Leitfaden-Interviews> als eine
der methodischen Säulen qualitativer Forschung behandelt. Kennzeich-
5 Als weitere Varianten sind etwa biographische Interviews (Fuchs 1984,5. 179-81) zu
nennen, in denen anhand eines Leitfadens biographische Daten erhoben werden. Der 221
nend für diese Interviews ist, dass mehr oder minder offen formulierte Fragen in Form eines Leitfadens in die Interviewsituation «mitgebracht> werden, auf die der Interviewte frei antworten soll. Zur Überprüfung des Erhebungsinstruments vor seiner Anwendung hat Ullrich (1999, S. 436—437) vier Anhaltspunkte vorgeschlagen, die im Rahmen der Konstruktion des Leitfadens kritisch für jede einzelne Frage geprüft werden sollten (vgl. Kasten 13.5).
Kasten 13.5: Ansatzpunkte für die Überprüfung von Fragen in Interviews ı. Warum wird diese Frage gestellt bzw. der Erzählstimulus gegeben? — theoretische Relevanz — Bezug zur Fragestellung 2. Wonach wird gefragt/Was wird erfragt? — inhaltliche Dimension? 3. Warum ist die Frage so (und nicht anders) formuliert?
— Verständlichkeit — Eindeutigkeit — Ergiebigkeit der Frage 4. Warum steht die Frage, der Fragenblock, der Erzählstimulus
an einer bestimmten Stelle — Grob- und Feinstruktur des Leitfadens — Verteilung von Fragetypen — Verhältnis zwischen einzelnen Fragen
Ausgangspunkt der Methode ist, dass restriktive Vorgaben, wann, in welcher Reihenfolge und wie Themen zu behandeln sind, in standardisierten Interviews oder Fragebögen den Weg zur Sicht des Subjekts eher verstellen als eröffnen. Auf dem Weg zu thematisch relevanten, subjektiven Perspektiven ergeben sich im Leitfaden-Interview jedoch Vermittlungs-
probleme zwischen den Vorgaben des Leitfadens und den Zielsetzungen
der Fragestellung auf der einen Seite, den Darstellungsweisen des Interviewpartners auf der anderen Seite. So kann und soll der Interviewer im überwiegende Teil dieser Forschung stützt sich jedoch auf Erzählungen und wird von daher im folgenden Kapitel behandelt. 222
Verlauf des Interviews entscheiden, wann und in welcher Reihenfolge er welche Fragen stellt. Ob eine Frage möglicherweise schon en passant beantwortet wurde und weggelassen werden kann, lässt sich nur ad hoc entscheiden. Ebenso steht der Interviewer vor der Frage, ob und wann er
detaillierter nachfragen und ausholende Ausführungen des Interviewten eher unterstützen sollte bzw. ob und wann er bei Abschweifungen des Interviewten zum Leitfaden zurückkehren sollte. Aufgrund dieser Spielräume bei der konkreten Gestaltung des Interviews beim gleichzeitigen Versuch, bestimmte
vorgegebene
Themen
darin in jedem
Fall zu be-
handeln, wird auch der Begriff des «teilstandardisierten Interviews» verwendet. Diese Einzelentscheidungen, die nur in der Interviewsituation
selbst getroffen werden können, verlangen vom Interviewer ein großes Maß an Sensibilität für den konkreten Interviewverlauf und für den Interviewten. Darüber hinaus verlangen sie ein großes Maß an Überblick über das bereits Gesagte und seine Relevanz für die Fragestellung der Untersuchung,. Dabei ist eine permanente Vermittlung zwischen dem Interviewverlauf und dem Leitfaden notwendig. Hopf (1978) warnt vor der
Gefahr der Leitfadenbürokratie, die den in solchen Interviews möglichen
Gewinn an Offenheit und Kontextinformationen einschränkt, weil der
Interviewer zu starr am Leitfaden klebt und etwa im falschen Moment die Ausführungen des Interviewten unterbricht und zur nächsten Frage
übergeht, statt vertiefend anzuknüpfen. Als mögliche Gründe hierfür nennt Hopf (1978, S. 101)
o die Schutzfunktion, die der Leitfaden für den Interviewer bei der Bewältigung seiner Verunsicherung durch die offene oder unklare Ge-
sprächssituation haben kann, s die Angst des Interviewers vor der Illoyalität gegenüber den Forschungszielen (etwa weil er eine Frage weglässt) und e das Dilemma zwischen Zeitdruck (durch die begrenzte Zeit der Interviewpartner) und Informationsinteresse des Forschers.
Deshalb hat sich ein ausführliches Interviewtraining als notwendig er-
wiesen, in dem in Rollenspielen die Anwendung des Leitfadens erprobt
wird. Diese gespielten Interviewsituationen werden (nach Möglichkeit
auf Video) aufgezeichnet und anschließend von den an der Studie betei-
ligten Interviewern gemeinsam auf Interviewfehler, auf den Umgang mit 223
dem Leitfaden, auf Vorgehensweisen und Probleme bei der Einführung und dem Wechsel von Themen, nonverbales Verhalten des Interviewers
und seine Reaktionen auf den Interviewpartner ausgewertet, um Interventionen und die Steuerung des Interviews zu vereinheitlichen. Damit lassen sich gleichsam Probleme (Wie sind Interviews zu gestalten und durchzuführen?) aufgreifen und Lösungen dafür diskutieren,
um die Verwendung von Interviews stärker zu fundieren.
Für die Vorbereitung und Durchführung des eigentlichen Interviews finden sich bei Hermanns (2000) hilfreiche Vorschläge. Er beschreibt die Interviewbeziehung als ein Drama, in dem für das Geschehen — die
Entfaltung der gegenstandsbezogenen Sicht- und Erfahrungsweisen des Interviewpartners — eine Bühne geschaffen wird. Dieses Drama «erschafft seine Personen» — den Interviewpartner in seiner thematischen und persönlichen Selbstdarstellung, den Interviewer in seiner Rolle als aktiver und permissiver Zuhörer, der den anderen angemessen und aus-
reichend zu Wort kommen lässt und ihn dabei unterstützt und fördert. Im Rahmen einer instruktiven «Regieanweisung zur Interviewführung» gibt Hermanns (2000, S. 367--368) u.a. folgende Hinweise:
«1. Machen Sie Ihrer Gesprächspartnerin rechtzeitig den Rahmen klar (...) 2. Schaffen Sie im Interview ein gutes Klima (...) 3. Schaffen Sie Ihrem Gegenüber Raum, sich zu zeigen (...) 4. Geben Sie dem «Drama> die Möglichkeit, sich zu entwickeln (...) 5. Versuchen Sie im Interview nicht, theoretische Begriffe zu entdecken, sondern die Lebens-
welt Ihrer Gesprächspartnern.»
Auf der technischen Ebene unterstreicht Hermanns die Bedeutung eines natürlichen und selbstverständlichen Umgangs mit dem Kassettenrekorder, um zu vermeiden, dass sich die darauf bezogenen Unsicherheiten und Hemmungen des Interviewers auf den Interviewpartner übertragen. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass der konsequente Einsatz des Leitfadens die Vergleichbarkeit der Daten erhöht und dass sie durch
die Fragen Struktur gewinnen. Wenn konkrete Aussagen über einen
Gegenstand Ziel der Datenerhebung sind, ist ein Leitfaden-Interview der ökonomischere Weg. Wenn der Verlauf des einzelnen Falls und der Kontext von Erfahrungen im Vordergrund der Fragestellung stehen, bleibt 224
zu prüfen, ob nicht Erzählungen über die Entwicklung von Fall und Erfahrung vorzuziehen sind®.,
Kernpunkte e Mit den in diesem Kapitel beschriebenen Interviewformen lassen sich verschiedene Wege zu ähnlichen Zielen beschreiten. Den Interviewpartnern soll so viel Spielraum wie möglich gegeben werden, um ihre Sichtweisen zu entfalten. Gleichzeitig soll ihnen eine Struktur vorgegeben werden, worüber sie in ihren Antworten sprechen sollen. e Die vorgestellten Interviewformen können als solche angewendet werden, häufig jedoch sind sie eine Orientierung dafür, wie sich ein Interview und eine Liste von Fragen planen und gestalten lassen, um das Thema der Untersuchung zu erfassen. e Ein zentraler Schritt ist die Vorbereitung von Nachfragen: Was sollte gefragt werden, wenn die Antworten des Interviewpartners zu allgemein bleiben oder den beabsichtigen Punkt verfehlen? e Interviews können um einen zweiten Termin erweitert werden, bei dem eine
kommunikative Validierung und Strukturierung der Aussagen mit dem Interviewpartner angestrebt wird.
Übung 13.1 ı. Finden Sie einen Artikel, der eine Studie wiedergibt, die auf Interviews basiert. Versuchen Sie herauszufinden, welche der in diesem Kapitel behandelten Methoden verwendet wurde oder als Orientierung des methodischen Vorgehens angesehen werden kann. 2. Betrachten Sie die Fragen, die in den Interviews in dieser Studie gestellt wurden, und überlegen Sie, wie sie von der Orientierung an einer
der hier vorgestellten Methoden profitieren könnten. 3. Entwickeln Sie für Ihre eigene Untersuchung einen Leitfaden ent-
sprechend einer der Interviewformen, die in diesem Kapitel vorgestellt wurden.
6 Für aktuellere Entwicklungen im Bereich des Online-Interviews vgl. Kapitel 20.
225
Weiterführende Literatur Das fokussierte Interview Merton, R.K, & Kendall, P.L. (1979). Das fokussierte Interview. In: C. Hopf & E. Wein-
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226
14
Erzählungen als Zugang
Das narrative Interview Das episodische Interview
228 238
Erzählungen zwischen Biographie und Episode
245
Ziele: Nach der Lektüre dieses Kapitels sollten Sie e mit der Verwendung von Erzählungen in qualitativer Forschung vertraut sein,
e die Unterschiede zwischen Lebensgeschichten und Episoden als Grundlage von Erzählungen kennen und e die Vorteile und Probleme der Verwendung der unterschiedlichen Formen von Erzählungen in Interviews sehen.
Statt den Zugang zu individuellen Erfahrungswelten über die in Leitfaden-Interviews erreichbare Offenheit zu suchen, werden auch Erzählungen‘ des Interviewpartners als Datensorte verwendet. Ausgangspunkt ist dabei eine grundsätzliche Skepsis, inwieweit subjektive Erfahrungen überhaupt im Frage-Antwort-Schema von Interviews, auch wenn dieses
flexibel gehandhabt wird, erschlossen werden können. Erzählungen eröffnen demgegenüber einen umfassenderen und in sich strukturierten Zugang zur Erfahrungswelt des Interviewpartners. Eine Erzählung wird dabei folgendermaßen charakterisiert:
ı Teilweise werden auch in Leitfaden-Interviews Erzählungen des Interviewten als ein Element mit aufgenommen (z.B. im problemzentrierten Interview). Im Zweifelsfall, nämlich wenn sie unergiebig sind, werden sie dem Leitfaden jedoch untergeordnet. Allgemeiner hat Mishler (1986, S. 235) untersucht, was passiert, wenn Interviewpart-
ner in Leitfaden-Interviews zu erzählen beginnen, wie mit solchen Erzählungen umgegangen wird und wie diese in Interviews eher unterdrückt als aufgegriffen werden.
227
«Es wird zunächst die Ausgangssituation geschildert («wie alles anfıng>), und es werden dann aus der Fülle der Erfahrungen die für die Erzählung relevanten Ereignisse ausgewählt und als zusammenhängender Fortgang von Ereignissen dargestellt ().»
Dass die Methode funktioniert und vor allem in der Haupterzählung reichhaltigere Versionen eines Geschehens oder von Erfahrungen liefert als andere Formen der Darstellung, wird damit begründet, dass sich der Erzähler in bestimmten Zwängen («dreifache Zugzwänge des Erzählens») verstrickt, sobald er sich auf die Situation des narrativen
Interviews insgesamt eingelassen und die Erzählung einmal begonnen hat. Diese Zwänge sind der Gestaltschließungszwang, der Kondensierungs-
zwang und der Detaillierungszwang. Der erste Zwang führt dazu, dass der Erzähler eine einmal begonnene Erzählung zu Ende bringt. Der zweite bewirkt, dass nur das für das Verständnis des Ablaufs Notwendige in der
Darstellung enthalten ist und schon aus Gründen der begrenzten Zeit so verdichtet wird, dass der Zuhörer sie verstehen und nachvollziehen kann. Der Detaillierungszwang hat zur Folge, dass zum Verständnis not-
wendige Hintergrundinformationen und Zusammenhänge in der Erzäh-
lung mitgeliefert werden. Durch diese Zwänge beim Erzählen wird die in
anderen Gesprächsformen funktionierende Steuerung der Darstellung so weit außer Kraft gesetzt, dass auch Themen und Bereiche zur Sprache kommen:
«Der Erzähler von unvorbereiteten Stegreif-Erzählungen eigenerlebter Erfahrungen ist getrieben, auch über Ereignisse und Handlungsorientierungen zu sprechen, über die er es aus Schuld- bzw. Schambewußtsein oder aufgrund seiner Interessenverflechtung in normalen Gesprächen und konventionellen Interviews vorzieht zu schweigen» {(Schütze 1976, 5. 225).
Damit wurde eine Technik zur «Hervorlockung (...) von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten» (Schütze 1976) entwickelt, die
aus drei Gründen Daten liefert, die andere Formen der Befragung nicht
liefern können: einerseits durch die Verselbständigung der Darstellung 231
beim Erzählen, andererseits weil «Menschen sehr viel mehr von ihrem Leben «wissen»> und darstellen können, als sie in ihren Theorien übersich
und ihr Leben aufgenommen haben. Dieses Wissen ist den Informanten auf der Ebene der erzählerischen Darstellung verfügbar, nicht aber auf der Ebene von Theorien» (Hermanns 1995, S. 185).
Schließlich wird von der Analogie zwischen der Darstellung in der
Erzählung und dem erzählten Erleben trospektiven Erfahrungsaufbereitung die lebensgeschichtlichen Ereignisse nisse) vom Erzähler als Handelndem
ausgegangen: «In der narrativ-rewird prinzipiell so berichtet, wie (ob Handlungen oder Naturereigerfahren worden sind» (Schütze
1976, 5. 197). Fallbeispiel: Ausschnitt aus einem narrativen Interview Zur Veranschaulichung wird der folgende Anfang der biographischen Haupterzählung eines Psychiatriepatienten (E) wiedergegeben (Riemann 1987, S. 66—67). Die Angaben über Orte und Gegenden sind aus Datenschutzgründen durch allgemeine Bezeichnungen in ((...)) ersetzt. Kursive Worte sind nachdrücklich betont, ein Schräg-
strich signalisiert die Unterbrechung eines Worts durch ein anderes, die Position der bestätigenden Signale (cxhmh», «Ah ja») des Interviewers (I) sind jeweils genau an der
R s
Stelle wiedergegeben, an der sie erfolgten: E
2
I
3
E
4
_ Also, ich bin in ((Gebiet im ehemals deutschen Osten)) geboren hm — Undzwarim (()), das eine rein katholische, rein/ziemlich rein katholische Gegend von ((Gebiet, West-Gebiet)).
s
I
Ahja
6
E
((Stadt))
7
I
8
E
hmh _ Mein Vater eh ... war Hauptmann
g
I
hm
ı10 II
E
Und...eh war schon Amtsgerichtsrat ... Und ist dann gefallen.
ı2
I
13
E
14
hmh %— Meine Mutter saß mit meinem älteren Bruder/er ist drei Jahre älter als ich/ und mir alleine da und eh-ist mit uns geflohen.
ı5
I
ı16
E
17 18
hmh Über die Wege weiß ich im Einzelnen nichts, mir fällt da nur ein
als Erinnerung, daß mal eh in einem Zug saß und furchtbar/eh furchtbaren Durst oder überhaupt Hunger empfand
232
ı9
I
20 21 22
E I
23
hmh
< unddaß dann jemand mit ’ner Kanne kam und uns in eine Tasse eh Kaffee schüttete und daß ich das als sehr erholsam emphmh
E
fand.
24 25 26
I
Aber mit diesem Zug sind auch andere Erinnerung verbunden, die vielleicht schon hinweisen eh auf ganz später, also als ich in hm
27
E
die Psychiatrie kam, ne.
28 29 30
Nämlich eh — das taucht als Bild immer wieder mal auf. Und zwar hatten wir uns da in dem Zug zum Schlafen zurechtgelegt, und ich wurde irgendwie erhöht ... eh zum Schlafen gelegt.
31
I
hmh
32
E
Undmuß in der Nacht heruntergefallen sein, ohne aufgewacht zu
33
sein.
34
I
hmh
35
E
Unddaerinn/erinner ich mich, daß mich eine eh weibliche, nicht
36
meine Mutter, eine weibliche Person in die Arme nahm und mich so anlächelte.
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I
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E
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I
hmh _ Das sind meine frühesten Erinnerungen. hmh>».
Diese Erzählung zieht sich noch über 17 Transkriptseiten. Das Interview wird an einem zweiten Termin fortgesetzt. Eine ausführliche Fallanalyse findet sich bei Riemann (1987, S. 66-200). An diesem Beispiel kann man sehen, wie ein narratives Inter-
view beginnt, wie die Lebensgeschichte des Interviewpartners darin entfaltet wird und wie das Interview sich langsam Themen annähert, die für die Fragestellung direkt relevant sind, aber gleichzeitig eine Menge an Informationen liefert, die auf den ersten Blick möglicherweise weniger relevant erscheinen. Letztere entfalten ihre Relevanz möglicherweise erst während der Analyse des Interviews.
Mit der Datensorte Erzählung ist im narrativen Interview einerseits die Erwartung verknüpft, dass darin die faktischen Abläufe deutlich werden, dass diese offenbaren, zum
untersuchten Gegenstand, gar der einzig gangbare und (methodisch) vertretbare Weg. In solchen Diskussionen wird jedoch ein wesentliches Merkmal qualitativer Forschung außer Acht gelassen: Methoden sollten nach ihrer Gegenstandsangemessenheit (vgl. Kapitel 2) ausgewählt und bewertet werden. Außer in rein methodenexplorativen
Studien, deren
Hauptzweck
Durchführbar-
ist, Erkenntnisse
über die Durchführung,
keit und Probleme bestimmter Methoden zu gewinnen und in denen der Untersuchungsgegenstand nur exemplarischen Charakter für die Beant-
wortung solcher Fragen hat, sollte die Entscheidung für eine bestimmte Methode als nachgeordnet betrachtet werden: Gegenstand, Fragestellung, untersuchte Subjekte und angestrebte Aussagen sind bei qualitativer Forschung Referenzpunkte zur Beurteilung der Angemessenheit konkreter Methoden.
276
Vierter Bezugspunkt: Einordnung der Methode in den Forschungsprozess Schließlich sollte eine gewählte Methode auf ihre Einordnung in den Forschungsprozess hin geprüft werden. Dabei ist das Ziel, einerseits zu klären, ob das Vorgehen bei der Erhebung von Daten mit demjenigen bei ihrer Interpretation zusammenpasst. So ist es kaum sinnvoll, bei der
Erhebung von Daten der Entwicklung von Verläufen und der ihnen eigenen Struktur in der Darstellung großen Raum zu geben und deshalb ein narratives Interview anderen Alternativen vorzuziehen, wenn
die
erhaltenen Daten dann einer Inhaltsanalyse unterzogen werden, die ausschließlich mit von bestimmten Theorien vorgegebenen Kategorien
und Paraphrasen des eigentlichen Textes arbeitet (vgl. hierzu Kapitel
23). Ebenso wenig sinnvoll ist es, ein Interview, in dem der Akzent auf
die stringente Behandlung der Themen des Leitfadens gelegt wurde, mit
hermeneutischen Verfahren (vgl. Kapitel 25) sequenziell auf die Entwicklung der Struktur der Darstellung hin analysieren zu wollen. Ähnlich lässt sich die Vereinbarkeit des Erhebungsverfahrens mit der Art der
Auswahl von Fällen (vgl. Kapitel 1 1), dem theoretischen Hintergrund der eigenen Studie (vgl. Kapitel 6) und dem Verständnis des Forschungsprozesses insgesamt (z.B. Theorieentwicklung versus Hypothesentest; vgl. Kapitel 8) prüfen. Anhaltspunkte liefern dazu die bei der Behandlung der einzelnen Methode enthaltenen Abschnitte zu ihrer Einordnung in den
Forschungsprozess., Sie skizzieren jeweils das dieser Methode inhärente
Verständnis des Forschungsprozesses und seiner Bestandteile. Zu prüfen
ist dann, inwieweit die Anlage der eigenen Untersuchung und ihr Verständnis der jeweiligen Schritte mit dem der Methode inhärenten Verständnis übereinstimmen.
277
Kernpunkte ® Alle Methoden zur Sammlung verbaler Daten haben ihre Stärken und Schwächen. e Alle geben den Teilnehmern an einer Studie den Raum, eigene Erfahrungen etc. darzustellen. ® Gileichzeitig strukturiert jede Methode das, was mit ihr untersucht wird, auf
besondere Weise. e Vor und während der Anwendung einer spezifischen Methode zur Beantwortung einer Fragestellung sollte deren Angemessenheit genau geprüft werden.
Übung 16.1 1. Wählen Sie eine qualitative Studie aus der Literatur, die auf Interviews
oder Gruppendiskussionen basiert. Überlegen Sie, inwieweit die dabei angewandte Methode dem Gegenstand und der Zielgruppe der Unter-
suchung angemessen ist.
2. Prüfen Sie für Ihre eigene Studie, welche Ihre Hauptgründe für die Verwendung einer spezifischen Methode sind.
Weiterführende Literatur Barbour, R. (2007). Doing Focus Groups (Book 4 of The SAGE Qualitative Research Kit —
hrsg. von U, Flick). London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage. Flick, U. (2000a). Episodic Interviewing. In: M. Bauer & G. Gaskell (Hrsg.). Qualitative Researching with Text, Image and Sound — a Handbook. London: Sage, S. 75—92. Hermanns, H. (1995). Narratives Interview. In: U. Flick, E, v. Kardorff, H. Keupp, L. v. Rosenstiel & S. Wolff (Hrsg.). Handbuch Qualitative Sozialforschung. München (2.
Aufl.): Psychologie Verlags Union, S. 182--185. Hermanns, H. (2000). Interviewen als Tätigkeit. In: U. Flick, E. v. Kardorff & I. Steinke (Hrsg.). Qualitative Forschung — ein Handbuch. Reinbek: Rowohlt, S. 360—369. Kvale, S. (2007). Doing Interviews (Book 2 of The SAGE Qualitative Research Kit —- hrsg. von U. Flick). London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage,
Loos, P. & Schäffer, B. (z001). Das Gruppendiskussionsverfahren. Opladen: Leske & Budrich,
V
Beobachtung und mediale Daten
Im vorangegangenen Teil des Buchs findet sich ein Überblick über methodische Zugänge, denen gemeinsam ist, dass sie im Wesentlichen Daten auf einer Ebene — der Sprache — produzieren. Andere Informationen jenseits dessen, was Teilnehmer an einer Studie sagen, haben begrenzte
Relevanz für diese Ansätze. Die Geschichte der qualitativen Sozialfor-
schung wie die gegenwärtigen Entwicklungen schließen eine Reihe von Zugängen ein, die darauf abzielen, diese Begrenzung zu überschreiten.
Teil V widmet sich Methoden, die über das gesprochene Wort in den produzierten Daten hinausgehen. Teiinehmende und nicht-teilnehmende Beobachtung haben eine lange Tradition in der qualitativen Forschung, erhalten im Rahmen der Ethnographie neue Relevanz und beeinflussen die qualitative Forschung insgesamt nachhaltig. Dieses Vorgehen wird
in Kapitel 17 beschrieben. Beobachtung aus zweiter Hand — mithilfe von Fotos, Film oder Video — gewinnt seit einiger Zeit mehr Aufmerk-
samkeit. Während im Bereich der verbalen Daten ein «narrativer turn> in den letzten Jahren zu verzeichnen war, lassen sich mittlerweile andere Wenden verzeichnen — wie der und die performative Wende. Diese verlangen nach einer Erweiterung der Daten, um die mit
diesen Wenden verbundenen Fragestellungen untersuchen zu können. Film und Fotografie sind allgegenwärtig, und Bilder dominieren immer
mehr Bereiche unseres Alltags. Entsprechend konsequent ist es, dass Medien wie Film, Fotos und Video sowohl Formate für die Produktion
von Daten als auch zum Gegenstand qualitativer Forschung werden. Kapitel 18 widmet sich visuellen Daten. Qualitative Forschung kann jedoch auch mediatisierte Daten nutzen. Die Verwendung von Dokumenten für Untersuchungen hat eine lange Tradition in der qualitativen Forschung, Sie können als Spuren persönlicher Erfahrungen (etwa Tagebücher) oder institutioneller Interaktionen bzw. Praktiken (z.B. Akten) gesehen werden (vgl. Kapitel 19). Computervermittelte Interaktion bestimmt einen immer größeren Teil des Alltags von Wissenschaftlern, aber auch von po279
tenziellen Untersuchungsteilnehmern. E-Mail, Internet, das World Wide
Web, Chatrooms, Newsgroups, Blogs etc. sind vertraute Wege der Kommunikation geworden —- zumindest für viele Menschen. Entsprechend ist es kein Wunder, dass das Internet nicht nur als Forschungsgegenstand, sondern auch als Instrument entdeckt worden ist, um Forschungs-
teilnehmer anzusprechen und Online-Interviews und virtuelle Ethnographien durchzuführen. Zum Gegenstand von Kapitel 20 werden die
Verheißungen und Tücken dieser neuen Möglichkeiten — und wie sich solche Forschung realisieren lässt. Das diesen Teil abschließende Kapitel 21 fasst die verschiedenen Ansätze der Sammlung von Beobachtungsund medialen Daten vergleichend zusammen.
17
Beobachtung und Ethnographie
Beobachtung
282
Teilnehmende Beobachtung Ethnographie
Ziele:
287
296
Nachdem Sie dieses Kapitel gelesen haben, sollten Sie
e die Alternativen der Beobachtung kennen, die Sie für eigene Untersuchungen nutzen können,
e die speziellen Probleme der teilnehmenden Beobachtung verstanden haben und
® Ethnographie als die aktuelle Entwicklung im Kontext dieser Traditio-
nen sehen.
Insbesondere in den USA standen Beobachtungen in der Geschichte qualitativer Forschung und in der methodischen Diskussion im Mittelpunkt. Dabei sind unterschiedliche Konzeptionen von Beobachtung und
hinsichtlich der Rolle des Beobachters zu verzeichnen. So gibt es Studien,
in denen der Beobachter nicht zum Teil des beobachteten Feldes wird,
etwa in der Tradition von Goffman (1972). Daneben stehen Ansätze, die ihre Erkenntnisse über die zunehmende Aufnahme des Forschers als Teilnehmer in das beobachtete Feld gewinnen wollen. Ethnographie hat in den letzten Jahren den Platz der teiilnehmenden Beobachtung einge-
nommen,
Insgesamt wird bei diesen Verfahren der Akzent darauf gelegt, dass Handlungsweisen nur der Beobachtung zugänglich seien, Interviews und Erzählungen als Daten nur Darstellungen über diese anbieten. Vielfach wird mit Beobachtung der Anspruch verbunden, herauszufinden,
wie etwas tatsächlich funktioniert oder abläuft. Darstellungen in Interviews enthalten demgegenüber eine Mischung davon, wie etwas ist, und davon, wie es sein sollte, die erst noch entwirrt werden muss. 281
Beobachtung Die Fähigkeit zur Beobachtung ist neben den im Interview genutzten Fähigkeiten, zu sprechen und zuzuhören, eine weitere Alltagskompetenz,
die in qualitativer Forschung methodisch systematisiert und verwendet
wird. Dabei werden nicht nur visuelle Wahrnehmungen, sondern auch solche, die auf Hören, Fühlen und Riechen beruhen, einbezogen (Adler
& Adler 1998). In Anlehnung an Friedrichs (1973, S. 272-273) lassen sich Beobachtungsverfahren generell nach fünf Dimensionen klassifizieren. Unterschieden wird nach
® verdeckter Beobachtung versus offener Beobachtung: Inwieweit wird den Beobachteten der Vorgang der Beobachtung offenbart? ® nicht-teilnehmender Beobachtung versus teilnehmender Beobachtung:
Inwieweit wird der Beobachter zum aktiven Teil des beobachteten Feldes? ® systematischer Beobachtung versus unsystematischer Beobachtung:
Wird ein mehr oder minder standardisiertes Beobachtungsschema verwendet oder eher offen für die Verläufe selbst beobachtet? s Beobachtung in natürlichen versus Beobachtung in künstlichen Si-
tuationen: Wird im interessierenden Feld beobachtet, oder werden Interaktionen in einen speziellen Raum zum Zweck der besseren Beobacht-
barkeit «verlegt>?
e Selbst- versus Fremdbeobachtung:
Meist werden andere Menschen
beobachtet. Welcher Stellenwert wird dabei der reflektierenden Selbstbeobachtung des Forschers zur stärkeren Fundierung der Interpretation
des Beobachteten beigemessen?
Diese generelle Klassifikation trifft auch für Beobachtung in qualita-
tiver Forschung zu, außer dass hier durchgängig natürliche Situationen
zur Datenerhebung gewählt werden. Im Folgenden wird zunächst nichtteilnehmende Beobachtung behandelt. Diese Form verzichtet auf Interventionen im Feld - im Gegensatz zu Interviews und zu teilnehmender Beobachtung. Die damit verbundene Erwartung wird wie folgt umris-
sen: «Reine Beobachter verfolgen den Fluß der Ereignisse, Verhalten
und Interaktion gehen weiter, wie sie dies ohne die Anwesenheit eines
Forschers tun würden, ohne von Störungen unterbrochen zu werden» (Adler & Adler 1998, S. 81). 282
Dabei wird die von Gold (1958) entwickelte Typologie von Beobachterrollen zum Ausgangspunkt genommen, um Unterschiede zu teilnehmender Beobachtung zu bestimmen. Gold unterscheidet als Typen e den vollständigen Teilnehmer, e den Teilnehmer-als-Beobachter,
e den Beobachter-als-Teilnehmer und e den voliständigen Beobachter. Letzterer hält Distanz zum beobachteten Geschehen, um es nicht zu beeinflussen. Dies wird zum Teil dadurch erreicht, dass die eigentliche
Beobachtung in der Situation durch Videoaufzeichnungen ersetzt wird. Öder es wird versucht, die Aufmerksamkeit der Beobachteten vom Forscher abzulenken, sodass der Vorgang des Beobachtens möglichst schnell und vollständig in Vergessenheit gerät. In diesem Zusammenhang wird auch die verdeckte Beobachtung angewendet, bei der beobachtete Personen darüber nicht informiert werden. Dieses Vorgehen ist indessen
ethisch fragwürdig, vor allem wenn es sich um überschaubare Felder handelt und eine Information der Beobachteten und ihre Zustimmung praktisch realisierbar wären. Häufig wird diese Art von Beobachtung jedoch in öffentlichen Räumen durchgeführt — auf Bahnhöfen oder Plätzen, in Cafes mit häufig wechselnder Frequentierung —, wo dieses Einver-
ständnis nicht eingeholt werden kann.
Phasen der Beobachtung Als Phasen solcher Beobachtung werden benannt (vgl. Adler & Adler 1998; Denzin 1989b; Spradley 1980): s die Auswahl eines Settings: wo und wann die interessierenden Pro-
zesse und Personen beobachtet werden können; e die Festlegung, was bei der Beobachtung tatsächlich und unbedingt festgehalten werden soll;
e das Training der Beobachter, um solche Fokussierungen zu vereinheitlichen;
e beschreibende Beobachtungen,
die eine zunächst noch allgemeine
Darstellung des Feldes beinhalten; 283
® fokussierte Beobachtungen,
die sich zunehmend
auf die für die Fra-
gestellung relevanten Aspekte konzentrieren;
e selektive Beobachtungen, die nur noch zentrale Aspekte gezielt erfassen sollen;
e der Abschluss der Beobachtung, wenn die theoretische Sättigung (Glaser & Strauss 1967/1998) erreicht ist, d.h. weitere Beobachtungen keine neuen Erkenntnisse mehr bringen.
Probleme der Durchführung Eine zentrale Schwierigkeit ist dabei, eine praktikable Rolle für den Beobachter zu definieren, mit der er sich im Feld oder an seinem Rand auf-
halten und gleichzeitig dies beobachten kann (vgl. den Abschnitt zu Teilnehmerrollen in Kapitel 10). Je öffentlicher und unüberschaubarer das Feld ist, desto leichter dürfte es sein, eine Rolle einzunehmen, die nicht
weiter auffällt und das Feld nicht weiter beeinflusst. Je überschaubarer ein Feld ist, desto schwieriger ist es, sich darin aufzuhalten, ohne Teil-
nehmer zu werden., Eine Lösung für dieses Problem skizziert Niemann
(1989, S. 73) für die Beobachtung des Freizeitverhaltens von Jugend-
lichen an «Freizeitorten»: «Die Beobachtungen erfolgten verdeckt, um
zu verhindern, daß die Jugendlichen in ihrem ortstypischen Verhalten beeinflußt werden.» Fallbeispiel: Freizeitverhalten von Jugendlichen Dabei wurden Jugendliche «parallel zu zwei Meßzeitpunkten» in jeweils zwei Diskotheken,
Eisstadien,
Einkaufszentren,
Sommerbädern,
Hallenbädern,
Fußballver-
einen, Konzerthallen etc. in verschiedenen Situationen an den genannten Orten beobachtet. Die Situationen wurden nach dem Zufallsverfahren ausgewählt (S. 76), in
denen dafür spezifische «Entwicklungsaufgaben» (z. B. um das Ziel der Integration in die Peergruppe zu realisieren) auf Protokollbögen festgehalten wurden. Zur Vorbereitung wurde ein Beobachtertraining durchgeführt, bei dem unabhängig voneinander durchgeführte Beobachtungen einer Situation auf ihre Übereinstimmung hin ausgewertet wurden, um diese zu steigern. Es wurde ein Beobachtungsmanual zur Vereinheitlichung der Aufzeichnungen eingesetzt. «Situationsbeobachtungen wurden grundsätzlich erst nach Abschluß protokolliert (...) zumeist auf der Basis freier Aufzeichnungen auf kleinen Zetteln, Bierdeckeln oder
284
Zigarettenschachteln. Hier war zwar die Gefahr der Verzerrung und Ungenauigkeit der Wiedergabe gegeben, der aber das Ziel gegenüberstand, die Einwirkung auf das Verhalten der Jugendlichen zu minimieren. Für die Aussagekraft der Beobachtungen war in erster Linie entscheidend, Reaktivität der Erhebung zu vermeiden, zumindest zu reduzieren» (S. 79).
Die Vermeidung von Reaktivität, d.h. der Rückwirkung des Vorgangs der Beobachtung auf das Beobachtete, bestimmt hier die Datenerhebung. Er-
gänzt wird diese durch Interviews mit einzelnen Jugendlichen. Merkens (1989, S. 15) kennzeichnet diese Strategie » folgendermaßen: «Der Beobachter versucht hier, die Personen im Feld nicht zu stören, indem er bestrebt ist, sich möglichst unsichtbar zu machen. Seine Interpretationen des von ihm Gesehenen
erfolgen aus seinem Horizont; (...) Der Beobachter konstruiert für sich
Bedeutungen, von denen er unterstellt, sie leiteten die Aktionen
der Handelnden,
wie er sie wahrnimmt.»
Die Beeinflussung der Erhebung wird zwar vermieden, doch wird eine entscheidende Verengung der Perspektive bei der Interpretation der Daten, die aus einer Außenperspektive auf das untersuchte Feld erfolgen muss, in Kauf genommen.
Beitrag zur allgemeinen Methodendiskussion Um die Aussagekraft der auf diesem Wege erhaltenen Daten insgesamt zu erhöhen, wird die Triangulation von Beobachtungen mit anderen
Datenquellen und die Triangulation durch den Einsatz verschiedener Beobachter empfohlen. Dabei sind geschlechtsspezifische Unterschiede
ein wesentlicher Aspekt. Gerade bei der Beobachtung an öffentlichen Plätzen sind die Zugangs- und Bewegungsmöglichkeiten und damit die Beobachtungsmöglichkeiten für Frauen aufgrund ihrer speziellen Gefährdung eingeschränkter als für Männer. Auf der anderen Seite sind die
Wahrnehmungen für solche Einschränkungen und Gefährdungen bei Frauen in stärkerem Maß sensibilisiert, wodurch sie anders beobachten und ihnen andere Dinge auffallen als männlichen Beobachtern. Darin
zeigt sich die «Geschlechtsspezifik der Feldarbeit» (vgl. Lofland; zit. nach Adler & Adler 1998, S. 95), weshalb gemischtgeschlechtliche Teams bei Beobachtungsstudien empfohlen werden. Eine weitere Anregung ist die genaue Selbstbeobachtung des Forschers beim Einstieg in das Feld,
im Verlauf der Beobachtung und rückblickend auf den Prozess der Beobachtung,
um
implizite
Eindrücke,
scheinbare
Nebensächlichkeiten
und Wahrnehmungen in die Reflexion des Prozesses und der Ergebnisse einzubeziehen.
Einordnung der Methode in den Forschungsprozess Theoretischer Hintergrund ist hier, die Herstellung sozialer Wirklichkeit aus einer Außenperspektive zu analysieren. Zielsetzung ist (zumindest häufig) die Prüfung theoretischer Konzepte für bestimmte Phänomene an ihrem Auftreten und ihrer Verteilung (vgl. Kapitel 8). Fragestellungen
zielen auf Zustandsbeschreibungen von bestimmten Lebenswelten (z. B.
Jugendliche in Berlin) ab, die Auswahl von Situationen und Personen
erfolgt systematisch nach Kriterien wie Repräsentativität und Zufall (vgl. Kapitel 1 1). Die Auswertungen der Daten basieren auf Häufigkeits-
auszählungen für bestimmte Handlungen, wofür kategorisierende Verfahren angewendet werden (vgl. Kapitel 23).
Grenzen der Methode Insgesamt ist diese Form der Beobachtung ein Ansatz, mit dem Felder
aus der Außenperspektive beobachtet werden sollen. Sie ist von daher vor allem für die Beobachtung öffentlicher Räume verwendbar, in denen die Zahl der Teilnehmer nicht begrenzt werden kann. Sie stellt weiterhin einen Versuch dar, Geschehen in ihrem natürlichen Verlauf zu beobach-
ten. Inwieweit dieser Anspruch realisierbar ist, bleibt fraglich, da der Vorgang des Beobachtens in jedem Fall das Beobachtete beeinflusst. Die gelegentlich mit dem Ziel der Nichtbeeinflussung des Feldes begründete verdeckte Beobachtung ist forschungsethisch höchst problematisch. Weiterhin führt der Verzicht des Forschers auf die Interaktion mit dem
Feld nicht nur zu Problemen bei der Auswertung der Daten und der Über286
prüfung von Interpretationen, da systematisch darauf verzichtet wird, die Innenperspektive des Feldes und der Beobachteten zu erschließen.
Diese Strategie bleibt eher einem Methodenverständnis quantitativ-standardisierter Forschung verhaftet.
Teilnehmende Beobachtung
Verbreiteter in qualitativer Forschung ist die teilnehmende Beobachtung (vgl. Lüders 2000a). Eine Definition lautet: «Teilnehmende Beobachtung ist eine Feldstrategie, die gleichzeitig Dokumentenanalyse, Interviews mit Interviewpartnern und Informanten, direkte Teilnahme
und Beobachtung sowie Introspektion kombiniert» (Denzin 1989b, S, 157-158). Hier sind das Eintauchen des Forschers in das untersuchte
Feld, seine Beobachtung aus der Perspektive des Teilnehmers, aber auch
sein Einfluss auf das Beobachtete durch seine Teilnahme wesentliche Kennzeichen. Die Unterschiede zur gerade behandelten nicht-teilnehmenden Beobachtung und ihren Zielen verdeutlichen die sieben Kennzeichen teilnehmender Beobachtung, die Jorgensen (1989, S. 13-14) nennt: «(z) ein spezielles Interesse an menschlichen Bedeutungen und Interaktionen aus der Perspektive von Personen, die