Psychologie des Lebens: Dilthey im Diskurs [1 ed.] 9783666406836, 9783525406830


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Psychologie des Lebens: Dilthey im Diskurs [1 ed.]
 9783666406836, 9783525406830

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Mark Galliker / Hans-Ulrich Lessing

Psychologie des Lebens

Philosophie und Psychologie im Dialog

Herausgegeben von Gerd Jüttemann und Christoph Hubig Band 19: M  ark Galliker / Hans-Ulrich Lessing

Psychologie des Lebens

Mark Galliker / Hans‐Ulrich Lessing

Psychologie des Lebens Dilthey im Diskurs

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40683-6

Inhalt

Hans-Ulrich Lessing Diltheys Konzeption einer verstehenden Psychologie . . . . . . . 7 Mark Galliker Diltheys Beitrag zu einer Psychologie des Lebens . . . . . . . . . . 64 Hans-Ulrich Lessing Erster Brief an Herrn Galliker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Mark Galliker Erster Brief an Herrn Lessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Hans-Ulrich Lessing Zweiter Brief an Herrn Galliker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Mark Galliker Zweiter Brief an Herrn Lessing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159



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Hans-Ulrich Lessing Diltheys Konzeption einer verstehenden Psychologie1 Für Moritz und Lotta

Vorbemerkungen Die hier versuchte textnahe Darstellung von Diltheys Entwurf einer beschreibend-zergliedernden Psychologie, die man auch als eine verstehende Psychologie bezeichnen kann, obwohl Dilthey selbst diesen Begriff für seine Psychologie nicht benutzt, stützt sich vor allem auf seine einschlägigen Hauptwerke: die »Einleitung in die Geisteswissenschaften« und die »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«. Auf eine Auseinandersetzung mit der inzwischen sehr umfangreichen Forschungsliteratur zu Dilthey muss aus Platzgründen verzichtet werden. Wilhelm Dilthey hat ein sehr umfangreiches Werk hinterlassen, zu dem neben einer Vielzahl von philosophischen und philo­ sophiegeschichtlichen Schriften u. a. auch Biografien, literatur­ geschichtliche und -kritische, geistesgeschichtliche, poetologische, psychologische und pädagogische Arbeiten sowie ein großer, bislang nur zum Teil edierter Nachlass, ein sehr großer Briefwechsel und etliche Nachschriften von Vorlesungen zur Philosophie, 1

Aus Diltheys »Gesammelten Schriften« (GS, 1914–2006), hrsg. von Bernhard Groethuysen u. a., 26 Bände. Leipzig/Berlin: Teubner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) wird im Folgenden unter der Angabe der (römischen) Bandnummer und der (arabischen) Seitenzahl zitiert. Zitate aus der »Vorrede« zur »Einleitung in die Geisteswissenschaften« und aus den »Vor­berichten« der Herausgeber werden durch Anführung der (kleinen) römischen Seitenzahlen nachgewiesen. Aus den Bänden von Diltheys »Briefwechsel« (hrsg. von Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing. Göttingen, 2011, 2015, 2019) wird unter den Siglen »BW, Bd. I«, »BW, Bd. II«,»BW, Bd. III« zitiert. Hervorhebungen in zitierten Texten werden durch Kursivschrift wiedergegeben.

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Psychologie und Pädagogik gehören. Unbestritten im Zentrum seines Œuvres steht die Philosophie der Geisteswissenschaften, deren Ziel eine umfassende Grundlegung dieser Wissenschaften war und eine Erkenntnistheorie, eine Logik und eine Methodologie der Geisteswissenschaften umfassen sollte. Diese Grund­ legung, die Dilthey mit seinem Hauptwerk, der »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (1883; GS, Bd. I), realisieren wollte, konnte von ihm nicht abgeschlossen werden. Zwar liegen einige Veröffent­lichungen und zahlreiche Ausarbeitungen, Entwürfe, Fragmente und Dispositionsskizzen zum zweiten Band vor, doch blieb diese »Kritik der historischen Vernunft«, wie Dilthey seinen Plan einer Begründung der Geisteswissenschaften gelegentlich – allerdings mit einer gewissen Zurückhaltung – im Anschluss an Kant auch genannt hat, ebenso unvollendet, wie einige andere seiner Projekte. Im Mittelpunkt dieser Grundlegung steht neben der Erkenntnistheorie die Psychologie, die eine doppelte Rolle spielt: Sie übernimmt einerseits die Funktion einer Grundwissenschaft in der Stufen­folge der einzelnen Geisteswissenschaften und ist andererseits ein wichtiges Element der Erkenntnistheorie selbst. Die Psychologie ist somit der zentrale Schnittpunkt, gleichsam das Nervenzen­trum von Diltheys Theorieprogramm: Sie ist nicht nur grundlegend für die Geisteswissenschaften, sondern auch von fundamentaler Bedeutung für die Erkenntnistheorie, aber auch für die Ethik, die Literaturgeschichte, die Poetik, die Pädagogik und die Philosophie der Philosophie, d. h. die Weltanschauungslehre, der sich Dilthey in seinen letzten Lebensjahren verstärkt zugewendet hat. Die Psychologie, die diese umfassenden Aufgaben zu erfüllen hat, wird von Dilthey als eine beschreibend-zergliedernde bestimmt und in seiner großen Programmschrift »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« von 1894 in ihren Grundzügen entworfen. Sie stellt einen Alternativentwurf zur seiner­zeit herrschenden naturwissenschaftlich inspirierten, quantifizierenden Psychologie dar, die von ihm als »erklärende« bzw. »konstruktive« Psychologie bezeichnet wird. Im Gegensatz zu dieser Psychologie verzichtet die von Dilthey entwickelte deskriptive Psychologie auf die Verwendung spekulativer, d. h. empirisch 8

nicht eindeutig überprüfbarer Hypothesen zur Erklärung see­lischer Phänomene oder Vorgänge. Im Mittelpunkt seiner Psychologie stehen die Abgrenzung von der erklärenden Psychologie, die Klärung des Begriffs und die Bestimmung der Aufgabenstellung einer beschreibend-zergliedernden Psychologie sowie die Analyse des Strukturzusammenhangs des Seelenlebens. Diltheys Psychologie ist eine Psychologie des Lebens. Das psychische Leben ist nicht nur ihr Forschungsobjekt, sondern sie geht auch vom Leben, d. h. dem erlebten seelischen Zusammenhang bzw. der Totalität der see­lischen Kräfte, aus und versucht auf dieser Basis die einzelnen Glieder dieses Zusammenhangs zu analysieren und zu beschreiben. Für die Interpretation (und Rezeption) von Diltheys Psychologie ist es von nicht unerheblicher Bedeutung, sich bewusst zu machen, dass seine deskriptive Psychologie kein für sich bestehendes, autonomes Konzept ist, sondern vielmehr ein integrales Element seines großen philosophischen Projekts einer umfassenden erkenntnistheoretischen, logischen und methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. In meiner Darstellung von Diltheys Psychologie des Lebens gehe ich daher in der Weise vor, dass ich in einem ersten Schritt den Ort und die Funktion der Psychologie im Kontext seines Projekts einer Grundlegung der Geisteswissenschaften erläutere, um dann sein in den »Ideen« entfaltetes Programm einer deskriptiven Psychologie des Lebens detailliert vorzustellen.

Die Funktion der deskriptiven Psychologie im Kontext der philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften Die philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften ist das zentrale Projekt Diltheys, dem er sich während der gesamten Zeit seiner wissenschaftlichen Biografie gewidmet hat. Es grundiert und umrahmt fast alle seine Forschungsarbeiten. Das Werk, das diese Grundlegung leisten sollte, ist die »Einleitung in die Geistes­ wissenschaften«, die den erklärenden Untertitel »Versuch einer Grund­legung für das Studium der Gesellschaft und Geschichte« 9

trägt. Der erste Band dieses Werks erschien 1883, der geplante Fortsetzungsband, der neben einer breiten wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Darstellung die systematische Begründung der Geistes­wissenschaften, d. h. eine Erkenntnistheorie, eine Logik und eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, enthalten sollte, konnte von Dilthey nicht vollendet werden. Sein Hauptwerk blieb ebenso wie die Schleiermacher-Biografie, die »Studien zur Geschichte des deutschen Geistes« und »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« ein Torso. Der erste Band der »Einleitung«, dem zahlreiche Vorstufen und Entwürfe vorausgingen (vgl. Lessing, 1984, 2001), ist Diltheys Freund und wichtigsten philosophischen Gesprächspartner, dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, gewidmet. Er umfasst zwei Bücher, ein systematisches und ein historisches. Das erste einleitende Buch bietet eine »Übersicht über den Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, in welcher die Notwendigkeit einer grundlegenden Wissenschaft dargetan wird« (GS, Bd. I, S. 1–120). Dass diese grundlegende Wissenschaft nicht in der Metaphysik gesucht werden kann, ist das Beweisziel des zweiten, historischen Buchs, das den Titel »Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften. Ihre Herrschaft und ihr Verfall« (GS, Bd. I, S. 121–408) trägt und eine »Phänomenologie der Metaphysik« (GS, Bd. I, S. 395, S. 406; vgl. S. 400) verfolgt. In diesem umfangreichen Buch zeichnet Dilthey die Geschichte der Metaphysik von der Entstehung der Wissenschaft in Griechenland bis zur Etablierung der neuzeitlichen Naturwissenschaften nach. Dilthey zeigt hier, dass zwar die »metaphysische Wissenschaft« ein »historisch begrenztes Phänomen« ist (GS, Bd. I, S. 386), Metaphysik als Wissenschaft oder Erkenntnis zerstört ist und eine metaphysische Begründung der Geisteswissenschaften unmöglich ist, die »metaphysische Stim­ mung« (GS, Bd. I, S. 364 f.), das »Meta-Physische unseres Lebens als persönliche Erfahrung« (GS, Bd. I, S. 384), das »meta-­physische Bewußtsein der Person« aber, wie er schreibt, »ewig« ist (GS, Bd. I, S. 386). Neben der Metaphysik sind es vor allem der Positivismus Auguste Comtes und der Empirismus John Stuart Mills, die Dilthey als seine Hauptgegner betrachtet. An der Auseinandersetzung mit diesen Positionen entwickelt Dilthey seine eigene philosophische 10

Fragestellung und die Ausrichtung seines philosophischen Standpunktes. Insbesondere das sechste Buch »On the logic of moral sciences« von Mills »A system of logic. Ratiocinative and inductive« (1843) wird für Dilthey zur nachdrücklich bekämpften Kontrastfolie, an der seine eigene Position ihre Kontur gewinnt. Ziel der »Einleitung« ist »die selbständige Konstituierung der Geisteswissenschaften« (GS, Bd. I, S. 8), »die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften, ihren inneren Zusammenhang, ihr Leben aus eigener Kraft zur Anerkennung zu bringen« (GS, Bd. I, S. 410) bzw. die »Grundlegung und Organisation der Geisteswissenschaften« (GS, Bd. I, S. 415). Dazu gilt es, »die Frage nach den philosophischen Grundlagen der Geisteswissenschaft« zu lösen, und zwar »mit dem höchsten mir erreichbaren Grad von Gewißheit« (GS, Bd. I, S. xv). Im Hintergrund des Unternehmens steht die Absicht, für die historische Schule, die »die Emanzipation des geschichtlichen Bewußtseins und der geschichtlichen Wissenschaft« vollbrachte, die fehlende erkenntnistheoretische Grundlegung zu liefern. In dieser fehlenden erkenntnistheoretischen Begründung erkennt Dilthey die Ursache dafür, dass die von der historischen Schule etablierte Geschichtsbetrachtung sich nicht gegen den Positivismus Comtes und Mills behaupten konnte, die den Versuch unternahmen, die Geschichtswissenschaft durch die »Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien und Methoden« zu begründen (GS, Bd. I, S. xvi). Der historischen Schule ist es daher – so Diltheys Kritik – weder gelungen, einen »selbständigen Zusammenhang der Geisteswissenschaften« zu errichten noch »auf das Leben Einfluß zu gewinnen«. Diltheys Arbeit ist von dem Impuls getragen, die inneren Schranken der historischen Schule aufzubrechen, »welche ihre theoretische Ausbildung wie ihren Einfluß auf das Leben hemmen mußten« und die durch die historische Schule hervorgerufene Grundlagenunsicherheit der Geisteswissenschaften durch eine Erkenntnistheorie zu beseitigen, genauer durch eine Begründung »auf das einzige in letzter Instanz sichere Wissen«, d. h. auf die »Analysis der Tatsachen des Bewußtseins« (GS, Bd. I, S. xvi; vgl. S. xvii f.). Diese Situation der Geisteswissenschaften motiviert Dilthey zu seinem Versuch, »das Prinzip der historischen Schule und 11

die Arbeit der durch sie gegenwärtig durchgehends bestimmten Einzelwissenschaften der Gesellschaft philosophisch zu begründen und so den Streit zwischen dieser historischen Schule und den abstrakten Theorien zu schlichten« (GS, Bd. I, S. xvii). Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen die Fragen nach dem Zusammenhang und der sicheren Grundlage der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse: »Wo ist der feste Rückhalt für einen Zusammenhang der Sätze, der den Einzelwissenschaften Verknüpfung und Gewißheit gibt?«. Liegt dieser Zusammenhang, so fragt sich Dilthey, in der Metaphysik, gibt es eine metaphysisch begründete Geschichtsphilosophie und ein entsprechendes Naturrecht? Oder ist die Antwort der Positivisten die richtige? Aber weder die metaphysische noch die positivistische Begründung der Geisteswissenschaften bieten in seinen Augen adäquate Antworten auf die ihn bewegenden Fragen, denn die Positivisten und Empiristen scheinen ihm »die geschichtliche Wirklichkeit zu verstümmeln, um sie den Begriffen und Methoden der Naturwissenschaften anzupassen«. Wie Dilthey in der auf »Ostern 1883« datierten »Vorrede« zum ersten Band der »Einleitung« schreibt, soll das Gesamtwerk zwei Bände mit insgesamt fünf Büchern umfassen. Das erste Buch enthält zunächst als Ausgangsbasis der Untersuchung eine »Übersicht über die Einzelwissenschaften des Geistes« (GS, Bd. I, S. xix; zur Absicht des ersten Buches vgl. auch GS, Bd. I, S. 416). Das zweite Buch hat eine Darstellung der Geschichte des metaphysischen Denkens zum Inhalt, die auf den Beweis hinausläuft, »daß eine allgemein anerkannte Metaphysik durch eine Lage der Wissenschaften bedingt war, die wir hinter uns gelassen haben, und sonach die Zeit der metaphysischen Begründung der Geisteswissenschaften ganz vorüber ist«. Das dritte Buch, mit dem der zweite Band eröffnet werden soll, wird nach Diltheys Planung die historische Untersuchung mit einer Darstellung der postmetaphysischen Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften und der Erkenntnistheorie fortsetzen und die erkenntnistheoretischen Arbeiten bis in die unmittelbare Gegenwart darstellen und bewerten (vgl. auch GS, Bd. I, S. 407 f.). Mit dem vierten und fünften Buch soll dann versucht werden, die eigene erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften vorzulegen (GS, Bd. I, S. xix). 12

Eine etwas abweichende und instruktivere Übersicht über die Gesamtanlage und die Aufgabenstellung der »Einleitung« findet sich in dem Brief (vor dem 6. Juli 1882), den Dilthey einer Sendung Korrekturbögen der »Einleitung« an Richard Schöne, den Leiter der Hochschulabteilung im Kultusministerium, beigegeben hat. Die »Einleitung« unternimmt demnach den Versuch, »eine Aufgabe zu lösen, welche durch die Lage der gegenwärtigen Wissenschaft gestellt ist, die metaphysische Grundlegung der Einzelwissenschaften durch eine Erkenntnißtheorie und ein auf sie gegründetes Studium der einzelnen Beziehungen der Wissenschaften zueinander sowie allgemeiner der Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften zu ersetzen« (BW, Bd. I, S. 885). Diltheys Ziel ist es, wie er schreibt, dadurch »die wirklichen Grundlagen der Geisteswissenschaften festzustellen« (BW, Bd. I, S. 885 f.). Das erste Buch der Einleitung soll, »im Gegensatz gegen die heute herrschenden Construktionen aus der Schule von Comte und Mill, die wirkliche innere Struktur der Geisteswissenschaften erfassen, wie sie sich in den Einzelwissenschaften geschichtlich entwickelt hat«, woraus sich »der Erweis der Nothwendigkeit einer allgemeinen Grundlegung ergibt« (BW, Bd. I, S. 886). Das zweite Buch, das »eine Art von geschichtlicher Description der Metaphysik« enthält, soll zeigen, »daß die Metaphysik eine allgemein anzuerkennende Grundlegung der Einzelwissenschaften nicht mehr herzustellen vermag«, da »eine Wissenschaft von dem inneren allgemeinen objektiven Zusammenhang der Erscheinungen, wie sie die Metaphysik zu sein beansprucht«, unmöglich ist (BW, Bd. I, S. 886). Der zweite Band soll »den Aufbau der erkenntnißtheoretischen Grundlegung« enthalten, der in einer Erkenntnistheorie besteht, »welche im Gegensatz gegen die bisherigen Versuche auf Selbstbesinnung über das ganze Gebiet der Thatsachen des Bewußseins gegründet ist, nicht auf einseitige Untersuchung der Intelligenz«. Daraus ergibt sich als Konsequenz »die Bestimmung des Verhältnisses Naturwissenschaften Geisteswissenschaften« (BW, Bd. I, S. 886), und zwar so, dass die relative Autonomie der geistigen Welt und damit der Geisteswissenschaften erkannt und gesichert wird: »Die geistigen Thatsachen können dem Netz des denknothwendigen Zusammenhangs, welches die Naturwissenschaften feststellen, 13

in einer ganz bestimmten Weise eingeordnet werden, ohne daß dadurch die relative Selbständigkeit der geistigen Welt, die wir ja so erkennen, wie sie wirklich ist, ohne daß die Freiheit des Willens dadurch beeinträchtigt wird« (BW, Bd. I, S. 886 f.). Abgeschlossen werden soll das Werk durch eine »Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften« (BW, Bd. I, S. 887). Eine wesentlich differenzierte und umfangreichere Übersicht über Ziel und Anlage, nicht zuletzt der Bücher drei und vier der »Einleitung« sowie der Grundgedanken, die den systematischen Untersuchungen zugrunde liegen, enthält ein Briefentwurf aus dem Februar 1883 an Friedrich Althoff, der seit dem 10. Oktober 1882 die Stelle des Personaldezernenten für die Universitäten im Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegen­heiten bekleidete. Wichtig in diesem sogenannten »Althoff-Brief« ist für unsere Fragestellung vor allem Diltheys Bemerkung, dass er mit seinem Werk eine »auf Psychologie basierte Erkenntnißtheorie der Geisteswissenschaften« vorlegen will, wobei mit dem Wort »psychologisch« die »Totalität des Seelenlebens« (BW, Bd. II, S. 32; vgl. S. 34) gemeint ist, d. h. – wie in der »Vorrede« formuliert – die »ganze Menschennatur« oder der »ganze Mensch«, mit anderen Worten »dies wollend fühlend vorstellende Wesen« (GS, Bd. I, S. xviii; vgl. S. xix). Dieser ganze Mensch »in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte« (GS, Bd. I, S. xviii), die seelische Totalität ist das, was Dilthey mit seinem Begriff des »Lebens« bezeichnet, wobei »das Leben« sein Gegenbegriff zum bloßen Vorstellen, d. h. der einseitigen Intellektualität, ist (vgl. GS, Bd. I, S. xix). Eine kurze Übersicht über Diltheys Verwendung des Lebensbegriffs (Lessing, 2011, S. 61–74) macht im Übrigen deutlich, dass dieser Begriff in seinem Werk eine Entwicklung aufweist. In der »Einleitung« und ihrem Umkreis macht Dilthey vom Begriff des Lebens nur relativ wenig Gebrauch (vgl. GS, Bd. I, S. 141, S. 148, S. 260, S. 265, S. 372, S. 395). Hier dient er als erkenntnistheore­ tischer Oppositionsbegriff zur klassischen Bewusstseinsphilosophie, die Dilthey durch Intellektualismus und bloßes Vorstellen charakterisiert, und bezeichnet die Totalität des Bewusstseins, den ganzen Menschen, das wollend fühlend vorstellende Wesen und – gegen die Annahme eines starren, ungeschichtlichen Apriori 14

gerichtet – Entwicklungsgeschichte unseres Erkenntnisvermögens (vgl. GS, Bd. I, S. xviii).2 Der »ganze Mensch« in seiner Lebendigkeit steht in diesem Kontext gegen ein intellektualistisch restringiertes abstraktes Erkenntnissubjekt. Seit Mitte der 1880er Jahre wird der Lebensbegriff zu einem psychologisch-anthropologischen Grundbegriff, der die Struktur des Seelenlebens bezeichnet, und gegen Ende der 1880er Jahre, nachdem Dilthey in der Struktur des Lebens die Grundlage der Psychologie erkannt hatte, wird der psychologische Standpunkt zu einem biologischen erweitert und vertieft (vgl. GS, Bd. XIX, S. 345). Im Spätwerk begegnet dann eine Vielzahl von Stellen, an denen Dilthey auch von der Rätselhaftigkeit und der »Unergründlichkeit des Lebens« spricht (vgl. etwa GS, Bd. XIX, S. 344; Bd. VIII, S. 145). Daneben bezeichnet Dilthey mit diesem Begriff den individuellen Lebensverlauf und seine Beschreibung (vgl. etwa sein »Leben Schleiermachers«), den gesellschaftlichen oder geschichtlichen Zusammenhang und das Innewerden oder Für-sich-Sein (vgl. GS, Bd. XIX, S. 161). Das Zentrum von Diltheys Lebensbegriff scheint mir in der sogenannten »Struktur des Seelenlebens« zu liegen, die eine psychologische (Denken-Wollen-Fühlen), aber auch eine biologische (»System der Triebe« [BW, Bd.  II, S. 262]) Dimension aufweist. Daher kann Dilthey auch sagen: »Der Mensch ist im Kern ein Bündel von Trieben« (vgl. auch GS, Bd. X, S. 12, S. 50, S. 104 sowie Bd. V, S. 177, S. 205 f., S. 210). Diese Struktur des Seelenlebens erwächst aus der Grundsituation des Menschen in der Wechselwirkung mit seiner Umwelt, die Dilthey durch den Funktionskreis von Reiz und Reaktion kennzeichnet.3

2 »Das apriori Kants ist starr und tot; aber die wirklichen Bedingungen des Bewußtseins und seine Voraussetzungen, wie ich sie begreife, sind lebendiger Prozeß, sind Entwicklung, sie haben ihre Geschichte« (GS, Bd. XIX, S. 44; vgl. S. 51). 3 »Die Struktur und Artikulation des Lebens ist überall, wo psychisches Innen auftritt, sonach in der ganzen Tier- und Menschenwelt dieselbe. […] Die Urzelle des inneren Lebens ist überall der Fortgang vom Eindruck aus dem Milieu des Lebewesens zu der Bewegung, die das Verhältnis zu diesem Milieu im Lebewesen anpaßt« (GS, Bd. XIX, S. 345).

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Leben ist somit erstens der Gesamtzusammenhang der strukturierten Tatsachen des Bewusstseins, der für die erkenntnistheoretische Reflexion unhintergehbar ist. Es ist die »Totalität unseres Selbst«, das nicht nur vorstellt und denkt, sondern auch fühlt und will. Leben ist darüber hinaus der Zusammenhang des sich in der Zeit vollziehenden Prozesses, d. h. Entwicklung und Artikulation (vgl. GS, Bd.  XIX, xliv). Und Leben ist der Zusammenhang von Trieb, Wille und Gefühl, der in der Wechselwirkung des Subjekts mit seiner Umgebung, seinem Milieu besteht und im Wechselspiel von Eindruck und Reaktion zentriert ist (vgl. GS, Bd. V, S. 95 f.).4 Dieser Zusammenhang der unterschiedlichen seelischen Vorgänge, wie Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle, Triebe und Volitionen, der »bei allen animalischen Wesen auf unserer Erde dieselbe ist und das psychische Grundgesetz dieser Lebewesen ausmacht« (GS, Bd. V, S. 95), ist »das Leben selbst« (GS, Bd. V, S. 152; vgl. S. 176 ff., S. 200 ff.). Und dieses »Leben selbst« steht im erkenntnistheoretisch-psychologischen Zentrum von Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften. Unter den »Geisteswissenschaften« versteht Dilthey in der »Einleitung« »das Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande haben« (GS, Bd.  I, S. 4) bzw. die »Wissenschaften des Menschen, der Geschichte, der Gesellschaft« (GS, Bd. I, S. 5). Daneben gibt es in Diltheys frühem und mittlerem Werk noch zahlreiche mehr oder weniger modifizierte Bezeichnungen für die Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Festzuhalten ist, dass er dem Begriff »Geisteswissenschaften«, der nicht zuletzt durch Diltheys »Einleitung« endgültig etabliert wird, durchaus nicht unkritisch gegenübersteht, die Wahl dieses Begriffs allerdings für alternativlos hält. Die Entscheidung für den Begriff »Geisteswissenschaften« als Bezeichnung der Wissenschaften der Gesellschaft und der 4

Der »Grundtyp« der Struktur des Seelenlebens besteht nach Dilthey darin: »Eindrücke und Bilder rufen in dem System unserer Triebe und der mit ihnen verbundenen Gefühle zweckmäßige Reaktionen hervor; durch diese werden willkürliche Bewegungen ausgelöst, und so wird das Eigenleben an seine Umgebung angepaßt« (GS, Bd. V, S. 96).

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Geschichte begründet Dilthey einerseits mit der deutschen Übersetzung von Mills Hauptwerk »Logic« durch J. Schiel, der die »Moral sciences«, die Mill im sechsten Buch seiner »Logik« thematisiert, mit dem Begriff »Geisteswissenschaften« übersetzt hatte, der sich in der Folge durchsetzt und – wie Dilthey schreibt – »eine gewohnte und allgemein verständliche geworden [ist]« (GS, Bd. I, S. 5). Darüber hinaus erscheine dieser Begriff »verglichen mit all den anderen unangemessenen Bezeichnungen, zwischen denen die Wahl ist, als die mindest unangemessene. Sie drückt höchst unvollkommen den Gegenstand dieses Studiums aus. Denn in diesem selber sind die Tatsachen des geistigen Lebens nicht von der psycho-physischen Lebenseinheit der Menschennatur getrennt« (GS, Bd. I, S. 5 f.). Alternativbegriffe wie »Gesellschaftswissenschaft« (Soziologie), »moralische«, »geschichtliche« oder »Kulturwissenschaften« sind in Diltheys Augen »zu eng […] in bezug auf den Gegenstand, den sie ausdrücken sollen« (GS, Bd. I, S. 6). Und der Begriff »Geisteswissenschaften« habe »wenigstens den Vorzug, den zentralen Tatsachenkreis angemessen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die Einheit dieser Wissenschaften gesehen, ihr Umfang entworfen, ihre Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften, wenn auch noch so unvollkommen, vollzogen worden ist«. Das Motiv, die Geisteswissenschaften als ein autonomes Wissenschaftsgebiet von den Naturwissenschaften abzugrenzen, reicht, wie Dilthey schreibt, »in die Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins«, denn in ihm findet der Mensch »eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, alles dem Gedanken zu unterwerfen und allem innerhalb der Burgfreiheit seiner Person zu widerstehen, durch welche er sich von der Natur absondert« (GS, Bd. I, S. 6; vgl. S. 385). Der Mensch erkennt sich, wie Dilthey mit Spinoza festhält, in dieser Natur als ein »imperium in imperio« (GS, Bd. I, S. 6; vgl. S. 385, S. 388). Während sich das »Reich der Natur« als »Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit« darstellt, blitzt im »Reich der Geschichte« Freiheit »an unzähligen Punkten dieses Ganzen« auf (GS, Bd. I, S. 6). Dieser Gegensatz von objektiver Notwendigkeit, durch die die Natur definiert ist, und Freiheit (des Willens), durch die die Geschichte konstituiert wird, markiert für Dilthey noch bis in seine Spätschrift »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistes17

wissenschaften« (1910) den Grundgegensatz, der eine Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften begründet. Den konkreten erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt einer Sonderung der Geistes- von den Naturwissenschaften findet Dilthey in der »Unvergleichbarkeit« des »Gesamterlebnisses der geistigen Welt« mit der Sinneserfahrung über die Natur (GS, Bd. I, S. 9; vgl. S. 314). Die Geisteswissenschaften basieren auf der »inneren Erfahrung«, die Naturwissenschaften dagegen auf sinnlich gegebenen Erfahrungen (GS, Bd. V, S. 243 ff.). Diese inneren Erlebnisse, die ein eigenes »Reich von Erfahrungen« konstituieren, sind Gegenstand einer besonderen Erfahrungswissenschaft, d. h. der Geisteswissenschaften, und eine wichtige Aufgabe der erkenntnistheoretischen Grundlegung liegt in der Analyse der Erlebnisse der geistigen Welt und der Begründung der von Dilthey postulierten Unvergleichbarkeit von innerer und äußerer, d. h. sinnlicher Erfahrung (GS, Bd. I, S. 9; vgl. S. 11 f.). Gegen den zeitgenössischen Materialismus und Naturalismus richtet Dilthey mit einer gewissen Emphase ein Argument für die Annahme der Autonomie der Geisteswissenschaften, das nach über hundert Jahren wieder von überraschender Aktualität ist: »Und solange nicht jemand behauptet, daß er den Inbegriff von Leidenschaft, dichterischem Gestalten, denkendem Ersinnen, welches wir als Goethes Leben bezeichnen, aus dem Bau seines Gehirns, den Eigenschaften seines Körpers abzuleiten und so besser erkennbar zu machen imstande ist, wird auch die selbständige Stellung einer solchen Wissenschaft nicht bestritten werden« (GS, Bd. I, S. 9). Die Geisteswissenschaften sind also die geschichtlichen und gesellschaftlichen Wissenschaften, ihr Objekt sind Geschichte und Gesellschaft bzw. die Kultur. Die Philologien, die heute den Kernbestand der Geisteswissenschaften ausmachen, spielen in der »Einleitung« überraschenderweise aber keine Rolle. Ein entscheidender Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die »Einleitung« als Gegenschrift zu Mills »Logik« konzipiert ist, der in seinem Werk auch nur die Wissenschaften der Gesellschaft behandelt (Lessing, 2015a, S. 11–31). Dilthey thematisiert in der »Einleitung« vornehmlich die Wissenschaften der Gesellschaft, die – wie er deutlich macht – wegen der gegenwärtigen fundamentalen gesellschaftlichen Veränderun18

gen auch von entscheidender praktisch-politischer Bedeutung sind: »Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vorhanden sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden. Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber denen der Natur« (GS, Bd. I, S. 4). Diese Wissenschaften der Gesellschaft unterteilt er in die »Wissenschaften von den Systemen der Kultur« und die »Wissenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft«. Die Geschichtswissenschaft wird nur zum Ende des ersten Buches (GS, Bd. I, S. 94 ff.) zum Thema einer (methodologischen) Erörterung; sie bildet den Hauptgegenstand von Diltheys Schrift »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« (GS, Bd. VII, S. 77–188), die er als unmittelbare Fortsetzung der »Einleitung« konzipiert hat (vgl. GS, Bd. VII, S. 117). Ihre Aufgabe einer Erkenntnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit können die Geisteswissenschaften nur mithilfe der »Kunstgriffe des Denkens« lösen. Diese sind die Analysis und die Abstraktion (vgl. GS, Bd. I, S. 27). Insbesondere die Analysis nimmt in Diltheys Denken eine herausragende Stelle ein und wird nicht nur in der Psychologie zur zentralen Methode (vgl. u. a. auch GS, Bd. I, S. 373 ff.). Jede der verschiedenen Einzelwissenschaften entsteht nur durch eine selektive Abstraktion aus dem komplexen Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Forschung, und zwar durch »den Kunstgriff der Herauslösung eines Teilinhaltes aus der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit« (GS, Bd. I, S. 28). Daraus folgt die für Dilthey wichtige Konsequenz, dass jede einzelne Geisteswissenschaft nur relativ, also ausschnitthaft die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit erkennen kann. Im ersten Buch der »Einleitung«, das eine einführende Übersicht über den Gesamtbestand der Geisteswissenschaften und ihre Erkenntnisinteressen bietet, entwickelt Dilthey im Fortgang eine Art von System oder eine Hierarchie der Geisteswissenschaften. Als basale Wissenschaft bezeichnet er die »Wissenschaften der Einzel­ menschen« (GS, Bd. I, S. 28). Da die Analyse in den Lebens­einheiten oder wie er auch sagt, den »psychophysischen Individuis«, die Ele19

mente erkennt, aus denen sich Gesellschaft und Geschichte aufbauen bzw. zusammensetzen, bildet »das Studium dieser Lebenseinheiten […] die am meisten fundamentale Gruppe von Wissenschaften des Geistes« (GS, Bd. I, S. 28; vgl. S. 375). Die Untersuchung der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit besitzt, wie Dilthey hervorhebt, der naturwissenschaftlichen Erforschung der Struktur der Materie gegenüber einen entscheidenden Vorteil. Denn dem Geisteswissenschaftler ist in ihm selbst durch Introspektion »die Einheit unmittelbar gegeben, welche das Element in dem vielverwickelten Gebilde der Gesellschaft ist«, da er selbst eine der Lebenseinheiten ist, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt. Dagegen sind dem Naturwissenschaftler die Elemente der Natur nicht unmittelbar gegeben, sie müssen vielmehr hypothetisch erschlossen werden (GS, Bd. I, S. 28; vgl. auch S. 35–39, S. 402 f.). Während in den Naturwissenschaften die Elemente der Natur »durch eine Zerteilung der äußeren Wirklichkeit, ein Zerschlagen, Zersplittern der Dinge nur hypothetisch gewonnen werden«, sind es in den Geisteswissenschaften »reale, in der inneren Erfahrung als Tatsachen gegebene Einheiten«: »Die Naturwissenschaft baut die Materie aus kleinen, keiner selbständigen Existenz mehr fähigen, nur noch als Bestandteile der Moleküle denkbaren Elementarteilchen auf; die Einheiten, welche in dem wunderbar verschlungenen Ganzen der Geschichte und der Gesellschaft aufeinanderwirken, sind Individua, psycho-physische Ganze, deren jedes von jedem anderen unterschieden, deren jedes eine Welt ist« (GS, Bd. I, S. 29). Wichtig und grundlegend für Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften ist die Behauptung einer »Verschiedenheit zwischen unserem Verständnis zur Gesellschaft und dem zur Natur« (GS, Bd. I, S. 36). Anders gesagt: Der Geisteswissenschaftler steht in einer anderen Beziehung, einem anderen, »günstigeren« (GS, Bd. I, S. 28) Verhältnis zu dem von ihm zu erforschenden Objekt, also der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, als der Naturwissenschaftler zu der von ihm erforschten Natur. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass der Erforscher der Gesellschaft selbst Element dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit ist und dadurch ein anderes, intimes Verhältnis zu seinem Objekt besitzt, das beim Naturwissenschaftler nicht vorliegt. Die menschliche Lebenseinheit, das Individuum, findet sich mit anderen »Individua« in der 20

gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit vor als ein Element unter anderen Elementen dieser Wirklichkeit und in Wechselwirkung stehend mit anderen Elementen. Dieses besondere Verhältnis des forschenden Wissenschaftlers zur erforschten Wirklichkeit, das für die Geisteswissenschaften spezifisch ist, hat Dilthey in einer Passage der »Einleitung« sehr anschaulich formuliert: »Viel verschlungener noch, rätselhafter als unser eigener Organismus, als seine am meisten rätselhaften Teile, wie das Gehirn steht diese Gesellschaft, d. h. die ganze geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, dem Individuum als ein Objekt der Betrachtung gegenüber. Der Strom des Geschehens in ihr fließt unaufhaltsam voran, während einzelne Individua, aus denen er besteht, auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und von ihm wieder abtreten. So findet sich das Individuum sich in ihm vor, als ein Element, mit anderen Elementen in Wechselwirkung. Es hat dies Ganze nicht gebaut, in das es hineingeboren ist. Es kennt von den Gesetzen, in denen hier Individuen aufeinander wirken, nur wenige und unbestimmt gefaßte. Wohl sind es dieselben Vorgänge, die in ihm, vermöge innerer Wahrnehmung, ihrem ganzen Gehalt nach bewußt sind, und welche außer ihm dieses Ganze gebaut haben; aber ihre Verwicklung ist so groß, die Bedingungen der Natur, unter denen sie auftreten, sind so mannigfaltig, die Mittel der Messung und des Versuchs sind so eng begrenzt, daß die Erkenntnis dieses Baues der Gesellschaft durch kaum überwindlich erscheinende Schwierigkeiten aufgehalten worden ist.« Aber trotz dieser unüberwindlich scheinenden Problematik bedeutet das Eingebettetsein des Forschungssubjekts in das Forschungsobjekt einen entscheidenden Vorteil: »Die Tatbestände in der Gesellschaft sind uns von innen verständlich, wir können sie in uns, auf Grund der Wahrnehmung unserer eigenen Zustände, bis auf einen gewissen Punkt nachbilden, und mit Liebe und Haß, mit leidenschaftlicher Freude, mit dem ganzen Spiel unserer Affekte begleiten wir anschauend die Vorstellung der geschichtlichen Welt« (GS, Bd. I, S. 36). Ausgehend von dem subjektiven Erleben, der inneren Wahrnehmung, gelingt es dem in Gesellschaft lebenden Subjekt, in einem gewissen Umfang, gesellschaftliche Gegebenheiten oder Sachverhalte zu rekonstruieren oder zu reproduzieren. Dagegen ist die Natur »uns stumm«: »Die Natur ist uns fremd. Denn sie ist 21

uns nur ein Außen, kein Inneres« (GS, Bd. I, S. 36). Ganz anders die Gesellschaft: Sie ist »unsere Welt. Das Spiel der Wechselwirkungen in ihr erleben wir mit, in aller Kraft unseres ganzen Wesens, da wir in uns selber von innen, in lebendigster Unruhe, die Zustände und Kräfte gewahren, aus denen ihr System sich aufbaut« (GS, Bd. I, S. 36 f.). Wir erfahren also nach Dilthey in unserem eigenen Erleben dieselben Vorgänge, Handlungsmotive, Emotionen, Passionen etc., die die Struktur der Gesellschaft konstituieren. Durch diese Identität von Erkenntnissubjekt und -objekt besitzt der Geisteswissenschaftler einen privilegierten Zugang zur Erkenntnis der Gesellschaft; die Gesellschaft erschließt sich in ihren konstitutiven Elementen durch Rekurs auf die eigene Innerlichkeit. Dieses besondere Verhältnis zwischen Forschungssubjekt und - objekt bedingt den besonderen Charakter der Erforschung der Gesellschaft, der einen fundamentalen Unterschied zu demjenigen der Naturforschung aufweist. Zwar räumt Dilthey ein, dass die Möglichkeit, auf gesellschaftlichem Feld Gesetzmäßigkeiten zu finden, »nach Zahl, Bedeutung und Bestimmtheit der Fassung« weit hinter den entsprechenden Möglichkeiten auf naturwissenschaft­lichem Gebiet zurückbleibt. Hinzukommen die besonderen Probleme, die sich bei der Erforschung der einzelnen psychischen Einheiten ergeben, und zwar »durch die große Verschiedenartigkeit und Singula­ rität dieser Einheiten, wie sie in der Gesellschaft zusammenwirken, durch die Verwicklung der Naturbedingungen, unter denen sie verbunden sind, durch die Summierung der Wechsel­wirkungen, welche in der Aufeinanderfolge vieler Generationen sich vollzieht und die es nicht gestattet, aus der mensch­lichen Natur, wie wir sie heute kennen, die Zustände früherer Zeiten direkt abzuleiten oder die heutigen Zustände aus einem allgemeinen Typus der menschlichen Natur zu folgern« (GS, Bd. I, S. 37). Es sind also vor allem die Diversifikation der menschlichen Individuen, die Komplexität der historisch-gesellschaftlichen Prozesse und Entwicklungen und schließlich die Geschichtlichkeit der menschlichen Natur, die einer Erkenntnis der psycho-physischen Individuen massive Probleme bereiten. Aber diese Probleme werden – so Dilthey – »mehr als aufgewogen durch die Tatsache, daß ich selber, der ich mich von innen erlebe und kenne, ein Bestand22

teil dieses gesellschaftlichen Körpers bin, und die anderen Bestandteile mir gleichartig und sonach für mich ebenfalls in ihrem Inneren auffaßbar sind. Ich verstehe das Leben der Gesellschaft« (GS, Bd. I, S. 37). Diese von Dilthey festgehaltenen Tatsachen einer Teilhabe an den gesellschaftlichen Interaktionen und das Postulat einer Gleichartigkeit der Menschen werden so zu den entscheidenden Bedingungen geisteswissenschaftlicher und nicht zuletzt psychologischer Forschung. Wegen der Integration des Forschungssubjekts in die gesellschaftlichen Abläufe und Strukturen, die Identität von Subjekt und Objekt, sind die Geisteswissenschaften durch ein fundamental anderes Subjekt-Objekt-Verhältnis ausgezeichnet als die Naturwissenschaften: »Das Individuum ist einerseits ein Element in den Wechselwirkungen der Gesellschaft, ein Kreuzungspunkt der verschiedenen Systeme dieser Wechselwirkungen, in bewußter Willensrichtung und Handlung auf die Einwirkungen derselben reagierend, und es ist zugleich die dieses alles anschauende und erforschende Intelligenz« (GS, Bd. I, S. 37; vgl. S. 38, S. 51). Gestützt auf diese Grundeinsichten wendet sich Dilthey gegen die positivistischen Versuche einer Unterordnung der geistig-geschichtlichen Erscheinungen unter die Naturwissenschaften (vgl. GS, Bd. I, S. 108), einer Anpassung der geisteswissenschaftlichen Methoden an die der Naturwissenschaften, wie sie von Comte und – in allerdings abgeschwächter Form – von Mill praktiziert wird. Wie Dilthey mit Nachdruck schreibt, ist »die ganze Geschichte der Geisteswissenschaften […] ein Gegenbeweis gegen den Gedanken einer solchen ›Anpassung‹. Diese Wissenschaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die der Natur«. Und er fügt das entscheidende Argument hinzu: »Ihr Objekt setzt sich aus gegebenen, nicht erschlossenen Einheiten, welche uns von innen verständlich sind, zusammen; wir wissen, verstehen hier zuerst, um allmählich zu erkennen. Fortschreitende Analysis eines von uns in unmittelbarem Wissen und in Verständnis von vornherein besessenen Ganzen: das ist der Charakter der Geschichte dieser Wissenschaften« (GS, Bd. I, S. 109). Die Erfahrung der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt ist somit fundamental verschieden von der Naturerfahrung, denn »es ist eine eigene Art von Erfahrung, 23

die hier stattfindet: das Objekt baut sich selber erst vor den Augen der fortschreitenden Wissenschaft nach und nach auf; Individuen und Taten sind die Elemente dieser Erfahrung, Versenkung aller Gemütskräfte in den Gegenstand ist ihre Natur«. Hinzu kommt noch ein weiteres Charakteristikum, das die Geisteswissenschaften grundsätzlich von den Naturwissenschaften unterscheidet, denn anders als in den Naturwissenschaften ist in ihnen »das auffassende Vermögen […] der ganze Mensch«, die »Mächtigkeit des persönlichen Lebens«, die Gesamtheit aller Gemütskräfte, d. h. Leben und nicht bloß der reine, abstrakte Intellekt (GS, Bd. I, S. 38). Die Tatsache, dass der Geisteswissenschaftler auch Element des Gegenstandes ist, dem sein wissenschaftliches Interesse gilt, bedingt auch die Genese der Geisteswissenschaften aus dem praktischen Leben der Gesellschaft selbst und die für sie konstitutive Verknüpfung von analytischen und normativen Aktivitäten. Wie Dilthey schreibt, »sind die Wissenschaften der Gesellschaft […] von dem Bewußtsein des Individuums über seine eigene Tätigkeit und deren Bedingungen ausgegangen; auf diese Weise bildeten sich Grammatik, Rhetorik, Logik, Ästhetik, Ethik, Jurisprudenz zunächst heraus« (GS, Bd. I, S. 38). In der Politik verband sich das praktische Interesse mit einem rein theoretischen, während die Geschichtsschreibung »ausschließlich aus solchem Bedürfnis eines freien, anschauenden, von dem Interesse am Menschlichen innerlich bewegten Überblicks entstand«. Die zunehmende Differenzierung der Berufswelt und deren Folgen einer stärkeren Betonung theoretischer Inhalte für die Berufsausbildung führten allmählich zu einer Verwissenschaftlichung der zunächst rein an praktischen Aufgabenstellungen orientierten Disziplinen. Die Ausdifferenzierung der einzelnen Geisteswissenschaften erfolgte daher, wie Dilthey ausführt, »nicht durch einen Kunstgriff des theoretischen Verstandes, welcher das Pro­ blem der Tatsache der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt durch eine methodische Zerlegung des zu untersuchenden Objektes zu lösen unternommen hätte«, sondern »das Leben selber vollbrachte sie« (GS, Bd. I, S. 39). Dilthey erkennt damit als die letzte Ursache der Ausgliederung der verschiedenen Geisteswissenschaften in dem »große[n] Differenzierungsprozeß der Gesellschaft«. 24

In dem Gesamtzusammenhang der Geisteswissenschaften ist eine Struktur – oder besser – ein Aufbauverhältnis erkennbar, das sich als Ergebnis der Analyse der gesellschaftlich-­geschichtlichen Wirklichkeit erweist und vom Einfachen zum Komplexen führt. Da Dilthey als letztes, basales Element der gesellschaftlich-­geschichtlichen Wirklichkeit die psychische Einheit herausgestellt hatte, kommt der Wissenschaft der psychischen Einheiten somit eine grundlegende Funktion zu. Diese Theorie der Einzelmenschen bzw. der psycho-­ physischen Lebenseinheiten ist »die Anthropologie und Psycho­ logie«5 (GS, Bd. I, S. 29). In diesem Zusammenhang formuliert Dilthey Einsichten zum Gegenstand und zur Methode der Psychologie, die er in den »Ideen« weiter ausführen wird. Bedeutsam sind diese Ausführungen zur Psychologie, weil hier mit einer gewissen Verbindlichkeit für seine weitere psychologische Arbeit nicht nur das Objekt und die Methode der psychologischen Forschung bestimmt werden, sondern auch der Ort festgeschrieben wird, der der Psychologie innerhalb seiner Theorie der Geisteswissenschaften und dem Gesamtzusammenhang der Geisteswissenschaften selbst zukommt. Die »Ideen« stellen im Prinzip nur die weitere Ausführung und Konkretisierung der in der »Einleitung« niedergelegten Grundansichten Diltheys zur Psychologie dar. Ihr Material findet die psychologische (und anthropologische) Forschung in der »ganze[n] Geschichte und Lebenserfahrung«, und Dilthey ergänzt, dass »gerade die Schlüsse aus dem Studium der psychischen Massenbewegungen […] in ihr eine stets wachsende Bedeutung erlangen [werden]« (GS, Bd. I, S. 29). Die Psychologie verwertet – so Dilthey – die ganze Fülle der Tatsachen, die den Gegenstand der Geisteswissenschaften überhaupt aus­machen. Dies verbindet sie mit den Wissenschaften der Gesellschaft und der Geschichtswissenschaft.

5 Da Dilthey keinen Versuch einer Abgrenzung der beiden Wissenschaften unternimmt, sondern beide offensichtlich als ungesonderte Einheit mit allerdings wechselnden Schwerpunktsetzungen betrachtet, schließe ich mich Diltheys Sprachgebrauch an und differenziere in der Regel nicht zwischen der Psychologie und der Anthropologie.

25

Das Objekt der Psychologie bilden die psychischen Einheiten. Dilthey meint damit offensichtlich die individuellen Seelenleben bzw. den psychischen Zusammenhang der Einzelmenschen, die seiner Definition zufolge psycho-physische Individuen sind, oder die einzelnen Individuen. Eine eindeutige Bestimmung der Bedeutung dieses Begriffs fehlt hier ebenso wie bei manch anderer Begriffsbildung Diltheys, was das genaue Verständnis seiner Ausführungen nicht erleichtert. Dilthey verzichtet oft auf eine genaue Definition der verwendeten Begrifflichkeit, er ist – mit Hans Blumen­berg (1976, S. 127) gesagt – kein »harter Formulierer«. Wichtig ist Diltheys Hinweis, dass es außerhalb dieser psychischen Einheiten »überhaupt keine geistige Tatsache für unsere Erfahrung [gibt]« (GS, Bd. I, S. 29). Andererseits umfasst die Psychologie nicht alle Tatsachen, die Gegenstand der Geisteswissenschaften sind bzw. was von uns an psychischen Einheiten wahrnehmbar ist. Sie hat daher nur einen Teilinhalt des einzelnen Individuums zum Gegenstand ihrer Forschung. Daher kann sie allein durch »eine Abstraktion von der Gesamtwissenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesondert und nur in beständiger Beziehung auf sie entwickelt werden« (GS, Bd. I, S. 29 f.). Die psychische Einheit stellt sich zwar als in sich geschlossenes, durch einen eigenen Willen bestimmtes, sich selbst Zwecke setzendes Gefüge dar, das nur als wertvoll erkennt, was so in ihrem Gefühl erscheint, und das als wirklich und wahr, gewiss und evident anerkennt, was durch ihr Bewusstsein legitimiert ist. Aber dieses Ganze, das sich einerseits durch ein Selbstbewusstsein als eine in sich geschlossene Einheit weiß, erweist sich auf der anderen Seite als ein bloßer, abhängiger Teil des umfassenden Zusammenhangs der gesellschaftlichen Wirklichkeit: »Seine Organisation zeigt es als von außen Einwirkung empfangend und nach außen zurückwirkend« (GS, Bd. I, S. 30). Hier scheint ein weiterer wichtiger Gedanke durch, den Dilthey auch im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Psychologie formuliert und der das Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt und die Beziehung des geistigen Lebens eines Menschen zu seiner biologischen Grundlage betrifft. Wie Dilthey ausführt, »entsteht ein Individuum, wird erhalten und entwickelt sich auf Grund der Funktionen des tierischen Organismus und ihrer Beziehun26

gen zu dem umgebenden Naturlauf; sein Lebensgefühl ist wenigstens teilweise in diesen Funktionen gegründet; seine Eindrücke sind von den Sinnesorganen und ihren Affektionen seitens der Außenwelt bedingt; den Reichtum und die Beweglichkeit seiner Vorstellungen und die Stärke sowie die Richtung seiner Willensakte finden wir vielfach von Veränderungen in seinem Nervensystem abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfasern zur Verkürzung, und so ist sein Wirken nach außen an Veränderungen in den Lageverhältnissen der Massenteilchen des Organismus gebunden; dauernde Erfolge seiner Willenshandlungen existieren nur in Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt. So ist das geistige Leben eines Menschen ein nur durch Abstraktion loslösbarer Teil der psycho-physischen Lebenseinheit, als welche ein Menschendasein und Menschenleben sich darstellt« (GS, Bd. I, S. 14 f.; vgl. S. 17). Diese Einsicht in den Wirkungszusammenhang Mensch-Natur wird im Übrigen in den »Ideen« zur Grundlage der Strukturpsychologie. Der Mensch ist nach Dilthey also einerseits eine psycho-physische Einheit, d. h. ein Leib-Seele-Zusammenhang und kein »reines« Vernunft- oder Geistwesen. Andererseits ist der Mensch aber auch ein Zusammenhang afferenter und efferenter Wirkungen, d. h. genauer: ein Wechselwirkungszusammenhang zwischen der Lebenseinheit und der gesellschaftlichen Umwelt. Die Lebenseinheit ist daher nicht als eine von der Gesellschaft losgelöste autonome Substanz zu denken, sondern sie ist integraler Bestandteil der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit: »Seine ganze Inhaltlichkeit ist nur eine inmitten der umfassenden Inhaltlichkeit des Geistes in der Geschichte und Gesellschaft vorübergehend auftretende einzelne Gestalt; ja der höchste Zug seines Wesens ist es, vermöge dessen es in etwas lebt, das nicht es selber ist« (GS, Bd. I, S. 30). Dies hat für die Psychologie spezifische methodische Konsequenzen: »Der Gegenstand der Psychologie ist also jederzeit nur das Individuum, welches aus dem lebendigen Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesondert ist, und sie ist darauf angewiesen, die allgemeinen Eigenschaften, welche psychische Einzelwesen in diesem Zusammenhang entwickeln, durch einen Vorgang von Abstraktion festzustellen. Den Menschen, wie er, abgesehen von der Wechselwirkung in der Gesell27

schaft, gleichsam vor ihr ist, findet sie weder in der Erfahrung, noch vermag sie ihn zu erschließen […]. Selbst der ganz enge Umkreis unbestimmt ausdrückbarer Grundzüge, welche wir geneigt sind, dem Menschen an und für sich zuzuschreiben, unterliegt dem ungeschlichteten Streit hart aneinanderstoßender Hypothesen« (GS, Bd. I, S. 30). Der Mensch ist folglich ein gesellschaftliches Wesen, und die Psychologie, wenn sie eine Erfahrungswissenschaft sein will, hat mit diesem Datum zu rechnen. Alle Spekulationen über den Menschen an sich und den Menschen unabhängig von seiner gesellschaftlichen Verfasstheit, die nur durch unbeweisbare Hypothesen anzustellen sind, werden von Dilthey entschieden zurückgewiesen, da sie den Aufbau der Geisteswissenschaften unsicher machen, indem »in die Grundmauern« (GS, Bd. I, S. 30) Hypothesen eingefügt werden. Dilthey zeigt diese Problematik an den sich widersprechenden Hypothesen auf, die das Verhältnis der Individualeinheiten zur Gesellschaft »konstruktiv« behandeln. Es handelt sich hierbei einerseits um die alte naturrechtliche Theorie, die zunächst die Individuen isoliert von der Gesellschaft betrachtet und sie in einem zweiten Schritt mechanisch zu einer Gesellschaft zusammensetzt. Aber auch die Gegenposition, die unterschiedliche Formeln für die Einheit der Gesellschaft und die Unterordnung der Individuen unter das gesellschaftliche Ganze gefunden hat, wie Organismus, Volksseele oder Volksgeist, bedeuten nach Dilthey keine Lösung des Problems: »Das Verhältnis der psychischen Einheiten zur Gesellschaft darf sonach überhaupt keiner Konstruktion unterworfen werden. Kategorien, wie Einheit und Vielheit, Ganzes und Teil, sind für eine Konstruktion nicht benutzbar: selbst wo die Darstellung ihrer nicht entbehren kann, darf nie vergessen werden, daß sie in der Erfahrung des Individuums von sich selber ihren lebendigen Ursprung gehabt haben, daß sonach durch keine Rückanwendung mehr an dem Erlebnis, welches das Individuum sich selber in der Gesellschaft ist, aufgeklärt werden kann, als die Erfahrung für sich zu sagen imstande ist« (GS, Bd. I, S. 31). Daher kann Dilthey als Grundsatz seiner psychologischen Konzeption festhalten: »Der Mensch als eine der Geschichte und Gesellschaft vorauf gehende Tatsache ist eine Fiktion der gene28

tischen Erklärung; derjenige Mensch, den gesunde analytische Wissenschaft zum Objekt hat, ist das Individuum als Bestandteil der Gesellschaft« (GS, Bd. I, S. 31 f.; vgl. GS, Bd. V, S. 341, S. 375). Und das schwierige Problem, das die Psychologie zu lösen hat, ist die »analytische Erkenntnis der allgemeinen Eigenschaften dieses Menschen« (GS, Bd. I, S. 32). Die auf diese Weise von Dilthey postulierte Psychologie und Anthropologie ist »die Grundlage aller Erkenntnis des geschichtlichen Lebens, wie aller Regeln der Leitung und Fortbildung der Gesellschaft. Sie ist nicht nur Vertiefung des Menschen in die Betrachtung seiner selbst. […] Sie will allgemeine Sätze entwickeln, deren Subjekt diese Individualeinheit ist, deren Prädikate alle Aussagen über sie sind, welche für das Verständnis der Gesellschaft und der Geschichte fruchtbar werden können« (GS, Bd. I, S. 32). Die so definierte Aufgabe von Psychologie und Anthropologie erfordert auch »eine Erweiterung ihres Umfangs«, die für Diltheys Psychologie-Konzeption von besonderer Bedeutung ist: »Über die bisherige Erforschung der Gleichförmigkeiten des geistigen Lebens hinaus muß sie typische Unterschiede desselben erkennen, die Einbildungskraft des Künstlers, das Naturell des handelnden Menschen der Beschreibung und Analysis unterwerfen und das Studium der Formen des geistigen Lebens durch die Deskription der Realität ihres Verlaufs sowie seines Inhaltes ergänzen. Hierdurch wird die Lücke ausgefüllt, welche in den bisherigen Systemen der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit zwischen der Psychologie einerseits, der Ästhetik, Ethik, den Wissenschaften der politischen Körper sowie der Geschichtswissenschaft andererseits existiert« (GS, Bd. I, S. 32). Neben der Umfangserweiterung der Psychologie ist auch ihre methodische Ausrichtung von herausragender Wichtigkeit für die von Dilthey postulierte Psychologie als Grundwissenschaft der Geisteswissenschaften, denn »die Aufgaben einer solchen grundlegenden Wissenschaft kann die Psychologie nur lösen, indem sie sich in den Grenzen einer deskriptiven Wissenschaft hält, welche Tatsachen und Gleichförmigkeiten an Tatsachen feststellt, dagegen die erklärende Psychologie, welche den ganzen Zusammenhang des geistigen Lebens durch gewisse Annahmen ableitbar machen will, von sich reinlich unterscheidet« (GS, Bd. I, S. 32). An dieser 29

Stelle markiert Dilthey den entscheidenden metho­dischen Gegensatz, der zwischen einer beschreibenden und einer erklärenden Psychologie besteht und der seine weiteren Überlegungen fundieren wird. Die deskriptive Psychologie, die Dilthey an einer Stelle auch als »wahre Realpsychologie« bezeichnet (GS, Bd. I, S. 34), stellt unter Verzicht auf weitergehende erklärende Hypothesen die reinen psychischen Tatsachen und die an diesen Tatsachen erkennbaren Regel- oder Gesetzmäßigkeiten fest, während die erklärende oder wie er später auch sagen wird: konstruktive Psychologie den Gesamtzusammenhang des psychischen Lebens durch einige wenige hypothetische Annahmen zu deduzieren versucht. Interessant ist auch die in diesem Zusammenhang angestellte Überlegung, die Dilthey in den »Ideen« wiederaufnehmen wird, dass nur durch die deskriptive Ausrichtung der Psychologie für die erklärende Psychologie »ein genaues, unbefangen festgestelltes Material gewonnen werden [kann], welches eine Verifikation der psychologischen Hypothesen gestattet« (GS, Bd. I, S. 32). Noch wichtiger aber ist allerdings der Gedanke, dass nur durch eine rein beschreibende Psychologie »endlich die Einzelwissenschaften des Geistes eine Grundlegung erhalten, die selber fest ist, während jetzt auch die besten Darstellungen der Psychologie Hypothesen auf Hypothesen bauen« (GS, Bd. I, S. 32 f.). Dieselbe Kritik an einem falschen Idealismus, wie Dilthey ihn bei Smith, Mill, Knies oder Arnold (vgl. z. B. GS, Bd. XVIII, S. 36 f., S. 50 f.) auszumachen glaubt, die, anstatt sichere Erkenntnisse über psychologische Elementarvorgänge ihren Forschungen zugrunde zu legen, die Grundlagen der Geisteswissenschaften mit nicht beweisbaren Hypothesen belasten und damit Unsicherheiten in diese hineintragen, die den ganzen weiteren Aufbau gefährden, ist somit auch leitend für die Psychologie-Konzeption, die Dilthey im ersten Band der »Einleitung in die Geisteswissenschaften« von 1883 entwickelt. Als wichtige Ergebnisse seiner bisherigen Überlegungen kann Dilthey festhalten: Die Analyse der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit macht als ihre Grundelemente oder -bausteine die Lebenseinheiten, die Einzelmenschen oder psycho-physischen Individuen aus. Da die Theorie dieser Lebenseinheiten die Psychologie (und Anthropologie) ist, wird die Psychologie zur ersten und 30

Grundwissenschaft unter den geisteswissenschaftlichen Einzelwissenschaften. Daher bilden ihre »Wahrheiten« (GS, Bd. I, S. 33), d. h. ihre Aussagen oder Forschungsergebnisse, die Basis für den weiteren Aufbau geisteswissenschaftlichen Wissens. Da aber die Aussagen der Psychologie nur einen Teilinhalt der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit zum Inhalt haben, sind sie nur relativ auf diese Wirklichkeit und haben die Beziehung auf diese Wirklichkeit zu ihrer Voraussetzung. Daher ist eine erkenntnistheoretische Grundlegung notwendig, die einerseits das Verhältnis der Psychologie zu den anderen Geisteswissenschaften und anderer­seits die Beziehung der Geisteswissenschaften, die Teilinhalte der zu erforschenden Wirklichkeit sind, zur umfassenden gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit selbst klärt. Aus der Position und Funktion der Psychologie im Gesamtzusammenhang der Geisteswissenschaften folgt, dass sie als eine deskriptive Wissenschaft konzipiert werden muss, die sich von der erklärenden Wissenschaft abgrenzt, die hypothetisch die psychischen bzw. geistigen Tatsachen mithilfe einfacher Annahmen zu fassen versucht, wobei der Begriff einer deskriptiven Wissenschaft – wie Dilthey hinzufügt – in der erkenntnistheoretischen Grundlegung noch genauer zu explizieren ist (vgl. GS, Bd. I, S. 33). Auf die Psychologie und Anthropologie des Einzelmenschen folgt als nächste Einzelwissenschaft im Aufbau der Geisteswissenschaften die Ethnologie oder vergleichende Anthropologie, also »das wissenschaftliche Studium der natürlichen Gliederung der Menschheit sowie der einzelnen Völker« (GS, Bd. I, S. 40). Während die Anthropologie des Einzelmenschen »den allgemeinen menschlichen Typus, die allgemeinen Gesetze des Lebens der psychologischen Einheiten, die in diesen Gesetzen angelegten Differenzen von Einzeltypen« entwickelt, thematisiert die Völkerkunde oder Ethnologie »die natürliche Gliederung des Menschengeschlechts und die durch sie unter den Bedingungen des Erdganzen entstehende Verteilung des geistigen Lebens und seiner Unterschiede auf der Oberfläche der Erde«. Im System der Geisteswissenschaften bilden die »Wahrheiten« der Anthropologie (und Psychologie) die Grundlage oder Voraussetzung der von Dilthey sogenannten »Theorien zweiter Ordnung« (GS, Bd. I, S. 41), die die am Einzelmenschen gewonnenen 31

psychologischen oder anthropologischen Basistheorien anwenden »auf die Wechselwirkung von Individuen unter den Bedingungen des Naturzusammenhangs«. Dadurch entstehen zwei neue Wissenschaftsgruppen: die »Wissenschaften der Systeme der Kultur und ihrer Gestaltungen« und die Wissenschaften der »äußeren Organisation der Gesellschaft und der einzelnen Verbände innerhalb derselben« (GS, Bd. I, S. 41; vgl. S. 53 f.). Für beide Wissenschaftsgruppen bzw. »Klassen der theoretischen Wissenschaften der Gesellschaft« gilt, dass ihnen Tatsachen zugrunde liegen, »welche nur vermittels der psychologischen Begriffe und Sätze analysiert werden können« (GS, Bd. I, S. 68), d. h. es besteht für sie eine Abhängigkeit von der Psychologie oder anders gesagt: die Psychologie (und Anthropologie) ist die Grundwissenschaft der Wissenschaften der Gesellschaft. Unter den »Systemen der Kultur« versteht Dilthey »dauernde Gebilde«, die entstehen, wenn »ein auf einem Bestandteil der Menschennatur beruhender und darum andauernder Zweck psychische Akte in den einzelnen Individuen in Beziehung zueinander setzt und so zu einem Zweckzusammenhang verknüpft« (GS, Bd. I, S. 43; vgl. S. 49 ff., S. 378 ff.). Solche Kultursysteme sind das Recht (GS, Bd. I, S. 52–57, S. 60, S. 77–81), die Sittlichkeit (GS, Bd. I, S. 57 f., S. 58–63), die Kunst (GS, Bd. I, S. 58), die Wissenschaft (GS, Bd. I, S. 58), die Wirtschaft (GS, Bd. I, S. 57), die Sprache (GS, Bd. I, S. 58) und die Religion (GS, Bd. I, S. 58): »Diese Systeme beharren, während die einzelnen Individuen selber auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und von demselben wieder abtreten. Denn jedes ist auf einen bestimmten, in Modifikationen wiederkehrenden Bestandteil der Person gegründet. Die Religion, die Kunst, das Recht sind unvergänglich, während die Individua, in denen sie leben, wechseln« (GS, Bd. I, S. 50; vgl. S. 87). In diesen Systemen, diesen »mächtigen Realitäten« (GS, Bd. I, S. 60), werden anthropologisch-psychologische Inhalte auf Dauer gestellt, erfüllen gesellschaftlich notwendige Zwecke, transzendieren die Einzelmenschen und gewinnen »den Charakter von massiver Objektivität« (GS, Bd. I, S. 51). Sie beruhen, darauf weist Dilthey wiederholt hin, auf bestimmten, je spezifischen »psychischen oder psychophysischen Inhalten« (GS, Bd. I, S. 45, vgl. S. 54, S. 63). Jedes System ist »das Erzeugnis eines Bestandteils der menschlichen Natur, einer in ihm 32

angelegten, durch den Zweckzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens näher bestimmten Tätigkeit« (GS, Bd. I, S. 52). Diesen Inhalten entsprechen Begriffe, die sich von denen der Individualpsychologie unterscheiden und von ihm als »Begriffe zweiter Ord­ nung« bezeichnet werden (GS, Bd. I, S. 45), da der anthropologisch-­ psychologische Inhalt, auf dem der jeweilige Zweckzusammenhang eines Kultursystems beruht, durch die Wechselwirkung zwischen den Individuen in zeitlicher Progression komplexe Tatbestände generiert, die von denjenigen, die in der Individualpsychologie ermittelt werden, fundamental verschieden sind. Entsprechend bringen die Wissenschaften der Kultursysteme im Verhältnis zur Anthropologie »Wahrheiten zweiter Ordnung« (GS, Bd. I, S. 46) hervor. Aufgrund des »Lebensreichtum[s] des einzelnen Individuums« (GS, Bd. I, S. 49) partizipiert das Individuum an mehreren Kultursystemen und wird »ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen« (GS, Bd. I, S. 51). Kultursysteme sind also anthropologisch bzw. psychologisch fundierte, über die Individuen hinausreichende Zweckzusammenhänge (vgl. GS, Bd. I, S. 44 f.). Daraus folgt die besondere Bedeutung, die besondere Rolle und Funktion der Psychologie für die Erforschung dieser Wissenschaften: »Die Tatsachen, welche die Systeme der Kultur bilden, können nur vermittels der Tatsachen, welche die psychologische Analyse erkennt, studiert werden. Die Begriffe und Sätze, welche die Grundlage der Erkenntnis dieser Systeme ausmachen, stehen in einem Verhältnis von Abhängigkeit zu den Begriffen und Sätzen, welche die Psychologie entwickelt« (GS, Bd. I, S. 46). An anderer Stelle schreibt Dilthey, dass die Streitfragen in Bezug auf die Erkenntnis dieser Systeme »nur mit Hilfe einer wahrhaft deskriptiven Psychologie« gelöst werden können (GS, Bd. I, S. 59). Unter der »äußeren Organisation« versteht Dilthey entsprechende permanente objektive gesellschaftliche Gebilde, die gebildet werden, »wenn dauernde Ursachen Willen zu einer Bindung in einem Ganzen vereinen, mögen nun diese Ursachen in der natürlichen Gliederung oder in den Zwecken, welche die Menschennatur bewegen, gelegen sein« (GS, Bd. I, S. 43; vgl. S. 64–86). Zu solchen äußeren Organisationen zählt Dilthey Staaten, Gesellschaften, Gemeinden, Kirchen, Familien, Parteien und Verbände (vgl. 33

GS, Bd. I, S. 65, S. 378 ff.). Und auf dem Gebiet der äußeren Organisation besteht ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis von den Begriffen und Theorien der Anthropologie wie bei den Wissenschaften der Kultursysteme (vgl. GS, Bd. I, S. 48), da auch hier, wie er zeigen kann, überall psychische Tatsachen den äußeren Organisation zugrunde liegen (vgl. GS, Bd. I, S. 66). Diese Tatsachen liegen einerseits »in jeder Art von Gemeinschaft und Bewußtsein von Gemeinschaft« vor. Die andere für das Verständnis der äußeren Organisation der Gesellschaft grundlegende psychische und psycho-physische Tatsache »wird durch das Verhältnis von Herr­ schaft und Abhängigkeit zwischen Willen gebildet« (GS, Bd. I, S. 67). Der vorgelegten Betrachtung der systematischen Gliederung bzw. des Stufenaufbaus der Geisteswissenschaften von der Psychologie bis zu den Wissenschaften der äußeren Organisation entnimmt Dilthey entscheidende Argumente gegen die Geschichtsphilosophie und die Soziologie (GS, Bd. I, S. 93–112, S. 420–423), die für das »allgemeinste[ ] und letzte[ ] Problem der Geisteswissenschaften« eine einfache Antwort präsentieren. Dieses allgemeinste und letzte Problem der Geisteswissenschaften besteht in der Frage: »gibt es eine Erkenntnis dieses Ganzen der geschichtlichen Wirklichkeit?« (GS, Bd. I, S. 87). Die Geschichtsphilosophie definiert Dilthey als Theorie, die »den Zusammenhang der geschichtlichen Wirklichkeit durch einen entsprechenden Zusammenhang zu einer Einheit verbundener Sätze zu erkennen unternimmt«, und in der Soziologie im Sinne Comtes sieht er diesen Erkenntnisanspruch noch gesteigert, »indem sie vermöge der Erfassung dieses Zusammenhangs eine wissenschaftliche Leitung der Gesellschaft herbeizuführen hofft« (GS, Bd. I, S. 93). Unter Hinweis auf die Geschichte der Geisteswissenschaften, in denen »die Weisheit vieler Jahrhunderte eine Zerlegung in Einzelprobleme vollbracht [hat]« und in denen diese Einzelprobleme »einer streng wissenschaftlichen Behandlung unterworfen [wurden]« (GS, Bd. I, S. 93), weist Dilthey die in seinen Augen völlig überzogenen Erkenntnisprätentionen von Geschichtsphilo­sophie und Soziologie entschieden zurück. Nur mithilfe der Einzel­wissenschaften lässt sich, wie er überzeugend darlegt, der Zusammenhang der Geschichte erkennen. Die Lösung des Problems der Erklärung des Zusam-

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menhangs der Geschichte kann – so Diltheys These – nur in einer Geschichtswissenschaft erfolgen, in der die von ihm dargestellten Einzelwissenschaften zur Anwendung kommen und miteinander kooperieren (GS, Bd. I, S. 94). Die geschichtliche Wirklichkeit ist nicht durch geniale Intuition oder Spekulation zu erfassen, sondern nur durch »Analysis, Zerlegung«. Die Geschichtswissenschaft ist daher angewiesen auf die Integration »der wissenschaftlichen Erkenntnis der psychischen Einheiten, aus denen diese Wirklichkeit besteht, der dauernden Gestaltungen, die in der Wechselwirkung derselben sich entwickeln und Träger des geschichtlichen Fortschritts sind«. Der Zusammenhang der Geschichte lässt sich nicht, wie von Geschichtsphilosophie oder Soziologie behauptet, durch eine Formel oder ein Prinzip aussprechen (GS, Bd. I, S. 95, S. 97), denn »jede Formel, in der wir den Sinn der Geschichte ausdrücken, ist nur ein Reflex unseres eigenen belebten Inneren« (GS, Bd. I, S. 97). Seine entsprechende Einsicht formuliert Dilthey in einem methodologischen Bekenntnis: »Die höchst zusammengesetzte Wirklichkeit der Geschichte kann nur vermittels der Wissenschaften erkannt werden, welche die Gleichförmigkeiten der einfacheren Tatsachen erforschen, in die wir diese Wirklichkeit zerlegen können« (GS, Bd. I, S. 94 f.; vgl. S. 110 f., S. 113, S. 124, S. 145). Das heißt: »Die Erkenntnis des Ganzen der geschichtlichen-gesellschaftlichen Wirklichkeit, welcher wir uns als dem allgemeinsten und letzten Problem der Geisteswissenschaften entgegengetrieben fanden, verwirklicht sich sukzessive in einem auf erkenntnistheoretischer Selbstbesinnung beruhenden Zusammenhang von Wahrheiten, in welchem auf die Theorie des Menschen die Einzeltheorien der gesellschaftlichen Wirklichkeit sich aufbauen, diese aber in einer wahren fortschreitenden Geschichtswissenschaft angewandt werden, um immer mehreres von der tatsächlichen, in der Wechselwirkung der Individuen verbundenen geschichtlichen Wirklichkeit zu erklären« (GS, Bd. I, S. 95). Diltheys Auseinandersetzung mit der Philosophie der Geschich­te und der Soziologie, die die Möglichkeit einer Gesamterkenntnis des historischen Zusammenhangs propagieren, hat ein weiteres Mal die Bedeutung der Psychologie (und Anthropologie) als Grundwissenschaft für die Geisteswissenschaften deutlich gemacht: »Das Studium des Individuums als der Lebenseinheit in der Zusammen35

setzung der Gesellschaft ist die Bedingung für die Erforschung der Tatbestände, die aus der Wechselwirkung dieser Lebenseinheiten in der Gesellschaft durch Abstraktion ausgelöst werden können; nur auf der Grundlage der Ergebnisse der Anthropologie, vermittels der theoretischen Wissenschaften der Gesellschaft in ihren drei Hauptklassen, der Ethnologie, der Wissenschaften von den Systemen der Kultur sowie derer von der äußeren Organisation der Gesellschaft kann das Problem des Zusammenhangs unter den aufeinanderfolgenden Zuständen der Gesellschaft allmählich einer Lösung nähergeführt werden« (GS, Bd. I, S. 111; vgl. S. 114). Dilthey kann demonstrieren, dass für die Geisteswissenschaften »psychische und psychophysische Tatsachen die Grundlage der Theorie nicht nur vom Individuum, sondern ebenso von den Systemen der Kultur sowie der äußeren Organisation der Gesellschaft bilden und daß dieselben der historischen Anschauung und Analysis in jedem ihrer Stadien zugrunde liegen« (GS, Bd. I, S. 119). Wie Dilthey gegen Ende des zweiten Buches der »Einleitung« schreibt, soll die im dritten Buch vorzulegende »Geschichte des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins in seiner Beziehung zu den Geisteswissenschaften darlegen, wie es durch die erkenntnistheoretische Stellung zu den Objekten bedingt ist« (GS, Bd. I, S. 407). Diese historische Darstellung wird  – so Diltheys Programm – zu zeigen haben, »wie die Rückstände der metaphysischen Epoche nur langsam überwunden und so die Konsequenzen der erkenntnistheoretischen Stellung nur sehr allmählich gezogen wurden. Sie wird sichtbar machen, wie innerhalb der erkenntnistheoretischen Grundlegung selber die Abstraktionen, welche die dargelegte Geschichte der Metaphysik hinterlassen hat, nur spät und bis heute noch sehr unvollständig weggeräumt worden sind« (GS, Bd. I, S. 407 f.). So, und das ist für unsere Fragestellung sehr aufschlussreich, weil hier die fundamentale Bedeutung der Psychologie für die erkenntnistheoretische Grundlegung sichtbar wird, »soll sie [die historische Darstellung, H.-U. L.] zu dem psychologischen Standpunkte hinführen, welcher nicht von der Abstraktion einer isolierten Intelligenz, sondern von dem Ganzen der Tatsachen des Bewußtseins aus das Problem der Erkenntnis aufzulösen unternimmt«. Es gelte nun – nach Kant, in dem sich »nur die Selbstzersetzung der Abstraktionen, welche die […] Geschichte 36

der Metaphysik geschaffen hat«, vollzog – »die Wirklichkeit des inneren Lebens unbefangen gewahr zu werden und, von ihr ausgehend, festzustellen, was Natur und Geschichte diesem inneren Leben sind« (GS, Bd. I, S. 408). Die Aufgabe der auszuarbeitenden deskriptiven Psychologie als einer wahren Realpsychologie ist daher die unbefangene Wahrnehmung der Wirklichkeit des inneren Lebens, d. h. des psychischen Zusammenhangs. Die programmatische Formulierung der so postu­lierten Psychologie legt Dilthey in seiner Akademieabhandlung »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« von 1894 vor.

Die Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie6 Das Projekt einer deskriptiven Psychologie gehört zu Diltheys ältesten philosophischen Konzeptionen und nimmt schon früh in seinem Werk eine bedeutende Stelle ein. Diltheys beschreibende Psychologie, die er in Opposition zur herrschenden, naturwissenschaftlich orientierten »erklärenden« Psychologie entwickelt, versteht sich als eine Erfahrungspsychologie. Ihre Methoden sind die unbefangene Beobachtung, Beschreibung, Zergliederung und Vergleichung der in innerer Erfahrung gegebenen psychischen Tat­ sachen, und ihr Ziel ist die empirisch gesicherte, allgemeingültige Feststellung von Gleichförmigkeiten des seelischen Lebens, und »die Tatsache, um deren Analysis es sich in dem, was man Psycho­ logie nennt, handelt, ist das Leben selber, wie es vermöge der Einheit des Selbstbewußtseins zu einem Ganzen verknüpft ist« (GS, Bd. XIX, S. 99). Den entscheidenden Vorteil der deskriptiven Psychologie gegenüber der auf Hypothesen gestützten Erklärungspsychologie sieht Dilthey darin, dass durch innere Wahrnehmung, also das 6 Im Folgenden stütze ich mich z. T. auf meinen Aufsatz »Wilhelm Dilthey’s conception of a descriptive and comprehensive psychology« (Lessing, 2018). Zu Diltheys Psychologie-Projekt vgl. auch Lessing (2016a, 2016b).

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Selbsterleben, die Vorgänge »von innen« so erkannt werden, wie sie sind (vgl. GS, Bd. XVIII, S. 69). Dem inneren Erlebnis kommt nach Dilthey Sicherheit, Unmittelbarkeit und Zusammenhang zu (GS, Bd. V, S. 169 f.). Hier gibt es keine Trennung in Subjekt und Objekt. Das seelische Leben ist mir als mein Leben von innen täuschungsfrei gegeben. Dadurch besitze ich einen exklusiven Zugang zum seelischen Zusammenhang, d. h. dem Leben, und er muss nicht hypothetisch konstruiert werden. Konkrete Überlegungen zur Psychologie finden sich in Diltheys Werk ab Mitte der 1860er Jahre. So offenbart bereits die Habilita­ tions­schrift »Versuch einer Analyse des moralischen Bewusstseins« (1864; GS, Bd.  VI, S. 1–55), dass Dilthey schon in diesem frühen Stadium seines Werks ein nachdrückliches Interesse an psychologischen Problemen besitzt. Dies belegt nicht nur seine Auseinandersetzung mit der Völkerpsychologie, sondern vor allem auch die Forderung nach einer Psychologie, die nicht nur die Formen und Gesetze, sondern auch den Inhalt des Geistes berücksichtigt (GS, Bd. VI, S. 43; GS, Bd. XVIII, S. 5). In diesem Zusammenhang sind auch die frühen Berliner Logik-Vorlesungen von Interesse, die im »Grundriß der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften« von 1865 (GS, Bd. XX, S. 19–32), Diltheys erstem Entwurf eines Wissenschaftssystems und Keimzelle der »Einleitung in die Geisteswissenschaften«, dokumentiert sind. Sie zeigen nicht nur, dass sich Dilthey gründlich in die zeitgenössische Psychologie eingearbeitet hat (vgl. GS, Bd.  XX, S. 26 f.), sondern machen auch deutlich, dass er sich neben seinem bisherigen Forschungsschwerpunkt Schleiermacher ein anderes zentrales Forschungsfeld erschlossen hat, und zwar das Forschungsprogramm einer philosophischen Begründung der Geisteswissenschaften, in dem der Psychologie in mehrfacher Hinsicht eine wesentliche Funktion zukommt. Dieses neue Projekt einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, das aus der Konfrontation der Historischen Schule mit dem Positivismus Auguste Comtes sowie dem Empirismus John Stuart Mills und Henry Thomas Buckles erwächst, durch die die (geistes-)wissenschaftliche Lage in Deutschland zu Beginn der 1860er Jahre geprägt ist (vgl. Diltheys Scherer-­Nachruf, GS, Bd. XI, S. 236–253, bes. S. 242 f.; GS, Bd. V, S. 3–6), nötigt Dilthey 38

schon früh, Überlegungen zur Methode der Psychologie anzustellen. In diesem Zusammenhang steht auch seine in den ab Mitte der 1860er Jahre entstehenden Texten zur Logik und Wissenschaftslehre zum Ausdruck kommende Abgrenzung von solchen psychologischen Ansätzen, die dem Methodenideal der Naturwissenschaften verbunden sind und den Versuch unternehmen, die Geisteswissenschaften auf eine erklärende Elementar-Psychologie zu begründen. Gegen solche Versuche wendet sich Dilthey mit allem Nachdruck, indem er darauf verweist, dass eine naturwissenschaftlich orientierte, d. h. »erklärende« Psychologie, »im ganzen« unmöglich sei »wegen der Kumulation der Hypothesen, welche sie herbeiführen muß«, und postuliert gegen eine solche Psychologie, dass zur Erkenntnis der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt »das Studium des Menschen mit dem der Geschichte« zu verknüpfen sei (GS, Bd. XVIII, S. 3). Als Alternative zur naturwissenschaftlich orientierten Psychologie entwickelt Dilthey Ideen zu einer neuen, nicht-erklärenden Psychologie als Grundwissenschaft der Geisteswissenschaften, die er zunächst mit einem vom romantischen Dichter Novalis übernommenen Begriff als »Realpsychologie« bezeichnet. In Novalis’ Ansätzen zu einer realen Psychologie oder Anthropologie erkennt Dilthey wichtige Anregungen für seine eigene philosophische Frage­ stellung. Vor allem in der von Novalis geäußerten Überzeugung, dass der unendliche Gehalt der menschlichen Natur nur in seiner geschichtlichen Entwicklung erforscht werden kann, erkennt Dilthey die Antizipation eines ihm naheliegenden Standpunkts (vgl. GS, Bd. XXVI, S. 197), den er im Übrigen später auf die gegen Nietzsche gerichtete Formel bringen wird: »Was der Mensch sei, sagt ihm nur die Geschichte« (GS, Bd. VIII, S. 226 u. ö.). In einer langen Passage seines Novalis-Aufsatzes von 1865, die sehr bemerkenswert ist, formuliert Dilthey den Entwurf zu einer solchen, von Novalis antizipierten Idee einer Realpsychologie: »Was heißt Realpsychologie? Eine Psychologie, welche den Inhalt unserer Seele selber zu ordnen, in seinen Zusammenhängen aufzufassen, soweit möglich zu erklären unternimmt. Indem ich die Gesetze erforsche, nach welchen Empfindungen sich in Vorstellungen ausbilden und Vorstellungen sich zu einander verhalten: so finde ich nichts als Formen, innerhalb derer die Seele thätig ist. 39

Liegt in diesen Formen der zureichende Erklärungsgrund für die Verwandlung der Empfindungen, in welchen unsre Seele auf die Reize antwortet, in das zusammenhängende Ganze menschlicher Weltansicht? Angeborene Ideen, Kategorien und Grundsätze haben die beiden großen älteren deutschen Philosophen diesen Gesetzen als einen zweiten Faktor gegenübergestellt. Die Bedeutung des Problems wird aber erst in seinem ganzen Umfang gesehen, sobald man erkennt, dass die Phänomene des Willens und der Gefühle auf die Verhältnisse der Vorstellungen nicht zurückführbar sind. Wenn Spinoza von der Selbsterhaltung ausgeht, wenn Kant in dem Sittengesetz eine eigene aus dem Vorstellungsleben nicht erklärbare Wurzel unserer moralisch-religiösen Weltansicht annimmt: so ergiebt sich von hier aus eine noch viel weiterreichende Erklärung des Inhaltes unserer Seele. In dieser Richtung weiterschreitend, erblicken wir Schleiermacher, Hegel, Schopenhauer. Es sind Anfänge. Wir heute müssen unsern eigenen Weg uns bahnen, aber doch mit dem Gefühl, dass andere vor uns mit diesen höchsten Problemen rangen, mit beständigem Rückblick auf ihre Arbeiten, so ganz unvollkommen auch die Methode derselben war« (GS, Bd. XXV, S. 224 f.; vgl. GS, Bd. XXVI, S. 198).7 Dieses Projekt einer nicht-erklärenden, induktiv arbeitenden, auf die Inhalte des psychischen Lebens zielenden Realpsychologie oder Anthropologie, die Dilthey seit Mitte der 1870er Jahre auch als »beschreibende« bzw. »deskriptive« Psychologie bezeichnet, gehört seit den späteren 1860er Jahren zum Kern seines Unternehmens einer Grundlegung der Geisteswissenschaften. Dilthey verfolgt seine Idee einer nicht-erklärenden Psychologie aber nicht nur im Kontext der Philosophie der Geisteswissenschaften. Eine wesentliche Inspirationsquelle und ein wichtiger Forschungsgegenstand der beschreibenden Psychologie ist die

7 Zu Novalis’ Projekt einer Realpsychologie vgl. auch Diltheys »Leben Schleiermachers« (GS, Bd. XIII/1, S. 380). – Sogar noch in der »Einleitung« (GS, Bd. I, S. 34) benutzt Dilthey den Begriff »Realpsychologie«, um sein Unternehmen einer deskriptiven psychologischen oder anthropologischen Grundwissenschaft zu bezeichnen (vgl. auch GS, Bd. XVIII, S. 54; GS, Bd. V, S. 156; GS, Bd. VIII, S. 197).

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dichterische Einbildungskraft,8 wie auch später seine Poetik von 1887, »Die Einbildungskraft des Dichters«, belegen wird, der wichtigsten Vorstufe der »Ideen«. Nach der Publikation des ersten Bandes seines »Leben Schleier­ machers« (1870), also mit Beginn seiner Breslauer Zeit (1871–1882), kommt Dilthey auf seine Ansätze zu einer Realpsychologie als Grundlage der Geisteswissenschaften zurück, und zwar im Zusammenhang seines Projekts einer erkenntnistheoretischen Begründung der Geisteswissenschaften, auf dem nun der Schwerpunkt seines philosophischen Interesses liegt. Die bedeutendste einschlägige systematische Veröffentlichung der Breslauer Jahre ist die sogenannte »Abhandlung von 1875« »Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat« (GS, Bd. V, S. 31–73), die wichtigste Vorstufe der »Einleitung«. In ihrem Umfeld entstehen eine Reihe von Entwürfen, Fragment gebliebenen Abhandlungen, Vorarbeiten und Fortsetzungsversuchen der »Abhandlung von 1875« sowie zwei umfangreiche Ausarbeitungen zur deskriptiven Psychologie, »Die Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens und ihre Einteilung« (ca. 1880; GS, Bd. XVIII, S. 117–183) und die sogenannte »Breslauer Ausarbeitung« (ca. 1880; GS, Bd. XIX, S. 58–173), die belegen, welche besondere Bedeutung Diltheys Breslauer Jahre für die Entwicklung seiner deskriptiven Psychologie besitzen. Wichtige weitere Schritte zur Ausformulierung seines Projekts einer deskriptiven Psychologie unternimmt Dilthey in den 1880er Jahren: 1886 veröffentlicht er seine Rede »Einbildungskraft und Wahnsinn« (GS, Bd. VI, S. 90–102), in der er den Begriff des »erworbenen Zusammenhangs des Seelenlebens« einführt und erläutert (vgl. GS, Bd.  VI, S. 94–96). 1887 publiziert Dilthey als Beitrag zur Festschrift für Eduard Zeller die große Abhandlung »Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik« (GS, Bd. VI, S. 103–241), mit der er den Versuch einer »psychologischen 8 Vgl. dazu vor allem auch Diltheys Erstfassung des Goetheaufsatzes von 1877 »Über die Einbildungskraft der Dichter« (GS, Bd. XXV, S. 126–169) und die späte Fassung des Aufsatzes, die unter dem Titel »Goethe und die dichterische Phantasie« in Diltheys literarhistorischem Sammelband »Das Erlebnis und die Dichtung« (1906) publiziert wurde (GS, Bd. XXVI, S. 113–172). – Zur Phantasie-Problematik vgl. Rodi (1969, 2003a) und Lessing (2015 b).

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Grundlegung einer Poetik« unternimmt (GS, Bd.  VI, S. 164; vgl. S. 185).9 Dabei verhält er sich – wie Dilthey schreibt – beschreibend und schließt erklärende Hypothesen aus (vgl. GS, Bd.  VI, S. 144; vgl. auch S. 146, S. 161 f., S. 168). Im Zusammenhang dieser psychologischen Grundlegung der Poetik behandelt Dilthey zentrale Begriffe und Themen der beschreibenden Psychologie, wie das »Erlebnis« (GS, Bd. VI, S. 131, S. 161 u. ö.), den »erworbene[n] Zusammenhang des Seelenlebens« (GS, Bd.  VI, S. 143 f., S. 167 ff. u. ö.), die »Struktur des Seelenlebens« (GS, Bd. VI, S. 143 f., S. 167), die »Totalität des Lebens (GS, Bd. VI, S. 145) und die Wechselwirkung zwischen Selbst und Außenwelt (GS, Bd.  VI, S. 150). 1888 erscheint der Aufsatz »Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen pädagogischen Wissenschaft« (GS, Bd.  VI, S. 56–82), in dem Dilthey die »Eigenschaften des Seelenlebens« analysiert, »welche ein System von Regeln der Erziehung ermöglichen« (GS, Bd.  VI, S. 62–69). Hier arbeitet Dilthey auch den »teleologischen Zusammenhang des Seelenlebens« heraus (GS, Bd. VI, S. 63, S. 66), der in den »Ideen« eine wichtige systematische Rolle spielen wird. 1894 schließlich wird – als Abhandlung der Berliner Akademie der Wissenschaften – seine Programmschrift »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« (GS, Bd. V, S. 139– 237) veröffentlicht, der zwei Akademievorträge zugrunde liegen und die die ausführliche Erläuterung und Begründung seiner Konzeption einer beschreibenden Psychologie als Grundwissenschaft 9 Vgl. auch Diltheys Aufsatz »Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe« von 1892 (GS, Bd. VI, S. 242–287; bes. S. 273 f.). Dort schreibt er: »Freilich kann die Psychologie nach dem jetzigen Grade ihrer Ausbildung nur wenige allgemeine Sätze über die schöpferische Einbildungskraft ableiten. Der Ästhetiker muß von den schöpferischen Vorgängen in den einzelnen Kunstgebieten ausgehen. Diese beschreiben, feststellen, analysieren ist sein Geschäft« (GS, Bd. VI, S. 273). »Nur daß man die Tatsachen zunächst hinnehme, beschreibe, zergliedere, nicht aber auf unsere gegenwärtig vorherrschende Psychologie reduzieren wolle. Vielmehr geht diese nach meiner Überzeugung einer Umgestaltung vermittels der Analysen in den einzelnen konkreten Gebieten des geistigen Lebens entgegen. […] Das nächste Bedürfnis ist jedoch heute, diese großen Erscheinungen der Menschennatur zu beschreiben und zu zergliedern, ohne jene Hypothesen, deren die aus einer bestimmten Zahl von analytischen Befunden alle übrigen ableitende Psychologie natürlich nicht entbehren kann« (GS, Bd. VI, S. 274).

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der Geisteswissenschaften enthält. Die »Ideen«, mit deren Publikation Dilthey die große Hoffnung verbunden hatte, die seit Jahren stockende Arbeit an der Vollendung des zweiten systematischen Bandes der »Einleitung in die Geisteswissenschaften« wieder in Gang zu bringen und in absehbarer Zeit abzuschließen, erfahren eine ebenso heftige wie unerwartete Kritik durch den Psychologen Hermann Ebbinghaus (1896/1984). Als Folge dieser vernichtenden Kritik (vgl. Rodi, 2003b, S. 173–183; Lessing, 2015c, S. 147–166), die Dilthey als persönlichen Angriff wertet, bricht er nach einigen vergeblichen Versuchen einer umfassenden Replik auf Ebbinghaus’ Polemik (vgl. GS, Bd. XXII, S. 337–345; GS, Bd. V, S. 237–240; vgl. auch BW, Bd.  III, S. 70 f.) und der Veröffentlichung der Fragment gebliebenen und wegen der Kontroverse mit Ebbinghaus nur verkürzt publizierten Abhandlung »[Über vergleichende Psychologie.] Beiträge zum Studium der Individualität« (1895/96), in der seine Überlegungen in Richtung auf eine komparative Psychologie weitergeführt werden, seine psychologischen Arbeiten ab. Dilthey lässt sein Projekt einer umfassenden philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften ruhen und widmet sich für einige Jahre wieder ausschließlich historischer Forschung. Erst nach der Jahrhundertwende, und zwar in den »Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften«, nimmt er den Faden seiner strukturpsychologischen Arbeit wieder auf (vgl. v. a. GS, Bd.  VII, S. 3–69, S. 323–332; GS, Bd. V, S. 372–378; GS, Bd.  VIII, S. 15–24, S. 82 f., S. 176, S. 180–182), ohne allerdings seine Strukturpsychologie in eine abschließende, systematisch gerundete Form bringen zu können. Fruchtbar gemacht werden Diltheys Überlegungen zur deskriptiven Psychologie v. a. noch in der großen Abhandlung »Das Wesen der Philosophie« von 1907 (GS, Bd. V, S. 339–416, bes. S. 372–378) und in den späten Arbeiten zur Weltanschauungslehre (um 1911; GS, Bd. VIII, S. 1–71, S. 73–118, bes. S. 15–24, S. 82 f., S. 176, S. 180–182). Diltheys Konzeption einer deskriptiven Psychologie steht – wie gezeigt wurde – im Kontext seines Plans einer umfassenden philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften, seiner »Kritik der historischen Vernunft«, die er mit seiner »Einleitung« realisieren wollte. Wesentliche Teile des systematischen zweiten Bandes der »Einleitung«, den Dilthey nicht abschließen konnte, wurden 43

erst 1982 aus seinem umfangreichen Nachlass aufgrund verschiedener Gliederungs- und Dispositionsskizzen im Band XIX seiner »Gesammelten Schriften« veröffentlicht. Für diesen zweiten, unvollendet gebliebenen Band der »Einleitung«, der die eigentliche Systematik der Grundlegung enthalten sollte, hatte Dilthey auch die Ausarbeitung seiner Konzeption einer deskriptiven Psychologie vorgesehen. Die Ausformulierung des Projekts der im ersten Buch der »Einleitung« postulierten deskriptiven Psychologie unternimmt Dilthey in seiner berühmt gewordenen Akademie-Abhandlung »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« von 1894. Im Zentrum der ersten Hälfte der »Ideen« findet sich zunächst die Begründung seiner These, dass die zeitgenössische, am Methodenideal der Naturwissenschaften orientierte Psychologie, die er als »erklärende Psychologie« bezeichnet, nicht in der Lage ist, die Funktion einer sicheren psychologischen Grundlegung der Wissenschaften der Gesellschaft und der Geschichte zu erfüllen, da sie notwendigerweise darauf angewiesen ist, Hypothesen zu verwenden, die – so Diltheys Kritik – Unsicherheiten in die Grund­lagen der Geisteswissenschaften hineintragen. Daraus folgt Diltheys zweite These, dass nur eine neue, nicht-naturwissenschaftlich verfahrende Psychologie diese geforderte Grundlegungsaufgabe erfüllen kann. Diese neue, alternative Psychologie-Konzeption kann – so Diltheys dritte These – nur eine »deskriptive Psychologie« sein, weil nur eine beschreibende (und zergliedernde) Psychologie im Gegensatz zur erklärenden oder konstruktiven Psychologie auf den Einsatz von Hypothesen verzichtet und das im Erleben gegebene Seelen­leben in Beschreibungen adäquat und allgemeingültig abbildet. Die genauere Bestimmung des Begriffs und die Gliederung einer solchen deskriptiven Psychologie sowie einige exem­plarische materiale psychologische Analysen stehen im Mittelpunkt der zweiten Hälfte der »Ideen«. Dilthey eröffnet die »Ideen« mit einer Definition der erklären­ den Psychologie. Sie ist  – wie Dilthey erläutert  – gewissermaßen eine atomistische Physik des Seelenlebens, denn sie strebt an, »die Erscheinungen des Seelenlebens einem Kausalzusammenhang vermittels einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen unterordnen« (GS, Bd. V, S. 139). Sie stellt einen Kausal­zusammenhang auf, »welcher alle Erscheinungen des See44

lenlebens begreiflich zu machen beansprucht. Sie will die Konstitution der seelischen Welt nach ihren Bestandteilen, Kräften und Gesetzen genau so erklären, wie die Physik und Chemie die der Körperwelt erklärt« (GS, Bd. V, S. 139; vgl. S. 159).10 Die erklärende Psychologie begründet, so kritisiert Dilthey, »das in der Erfahrung gegebene Leben auf einen hinter ihm liegenden rationalen Zusammenhang, der in dem erfahrenen Leben so nicht gegeben ist. Diese Konstruktion des im Leben Gegebenen durch ein ihm Unterlegtes kann unser Wissen vom lebendigen Zusammenhang nicht ergänzen wollen. Derselbe ist nur möglich, indem Teilinhalte der lebendigen Erfahrung des Erwirkens am Leitfaden äußerer Naturerkenntnisse verbunden werden. Diese erklärende Psychologie bedient sich sonach der Verkürzung der vollen Lebendigkeit und der Einmischung von Voraussetzungen aus dem Naturgebiet. Sie leitet aus Teilinhalten des Lebens ab, die in einen rationalen Kausalzusammenhang gebracht werden« (GS, Bd. V, S. 194 f.). Kurz: »Das Verfahren der erklärenden Psychologie ist aus einer unberechtigten Erweiterung der naturwissenschaftlichen Begriffe über das Gebiet des Seelen­lebens und der Geschichte entstanden« (GS, Bd. V, S. 195). Besonders charakteristische Vertreter dieser naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologie sind u. a. die Assoziationspsychologie, Johann Friedrich Herbart, John Stuart Mill, Herbert Spencer, Hippolyte Taine sowie die verschiedenen Varianten des Materialis­ mus (vgl. zu John Stuart Mill: GS, Bd. V, S. 160 f.; zu Spencer: GS, Bd. V, S. 161 f.; zum Materialismus: GS, Bd. V, S. 162 f.; zu Taine: GS,

10 Vgl. auch die entsprechende Definition: »Wir verstehen unter erklärender Psychologie […] die Ableitung der in der inneren Erfahrung, dem Versuch, dem Studium anderer Menschen und der geschichtlichen Wirklichkeit gegebenen Tatsachen aus einer begrenzten Zahl von analytisch gefundenen Elementen. Unter Element wird dann jeder Bestandteil der psycholo­ gischen Grundlegung, welcher zur Erklärung der seelischen Erscheinungen gebraucht wird, verstanden. Sonach ist der Kausalzusammenhang der seelischen Vorgänge nach dem Prinzip: causa aequat effectum, oder das Assoziationsgesetz geradesogut ein Element für die Konstruktion der erklärenden Psychologie als die Annahme unbewußter Vorstellungen oder ihre Verwertung« (GS, Bd. V, S. 158).

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Bd. V, S. 163; zu Herbart: GS, Bd. V, S. 163 f.; zu Wundt: GS, Bd. V, S. 166 f.).11 In der erklärenden Psychologie erkennt Dilthey einen Spezialfall einer erklärenden Wissenschaft, deren Ideal sich an der atomistischen Physik orientiert und für die die »Unterordnung eines Erscheinungsgebietes unter einen Kausalzusammenhang vermittels einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen (d. h. Bestandteilen des Zusammenhangs)« wesentlich ist (GS, Bd. V, S. 139). Da die erklärende Psychologie »aus einer begrenzten Zahl eindeutig bestimmter Elemente eine ganz vollständige und durchsichtige Erkenntnis der seelischen Erscheinungen herbeizuführen überzeugt ist«, glaubt Dilthey sie noch genauer mit dem Begriff der »konstruktiven Psychologie« bezeichnen zu können.12 Das entscheidende Charakteristikum der erklärenden oder konstruktiven Psychologie ist nach Dilthey also das Ziel einer Kausalerkenntnis psychischer Phänomene oder Vorgänge. Diese Intention kann sie allerdings – ähnlich wie die Naturwissenschaften – nur durch eine »Verbindung von Hypothesen« (GS, Bd. V, S. 140) verwirklichen. Dabei versteht Dilthey unter einer Hypothese nicht jeden, »einen Erfahrungsinbegriff 11 Über die Genese der erklärenden Psychologie schreibt Dilthey: »Die erklärende Psychologie entstand aus der Zergliederung der Wahrnehmung und der Erinnerung. Ihren Kern bildeten von Anfang an Empfindungen, Vorstellungen, Lust- und Unlustgefühle als Elemente sowie die Prozesse zwischen diesen Elementen, insbesondere der Prozeß der Assoziation, zu welchem dann als weitere erklärende Vorgänge Apperzeption und Verschmelzung hinzutraten. So hat sie gar nicht die ganze volle Menschennatur und deren inhaltlichen Zusammenhang zum Gegenstand« (GS, Bd. V, S. 156). 12 Diltheys Freund, Graf Paul Yorck von Wartenburg, empfiehlt in einem Brief vom 15.12.1894, in dem er seine kritischen Anmerkungen zu den »Ideen« mitteilt, meines Erachtens zu Recht die Verwendung der Bezeichnung »kon­ struktive Psychologie« (vgl. BW II, S. 469). – Vgl. auch: »Das erste Merkmal der erklärenden Psychologie ist […] ihr synthetischer oder konstruktiver Gang. Sie leitet alle in der inneren Erfahrung und in deren Erweiterungen auffindbaren Tatsachen aus einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen ab« (GS, Bd. V, S. 158). Oder: »Die erklärende Psychologie will aus gewissen von ihr studierten elementaren Prozessen, wie Assoziation, Verschmelzung, Apperzeption diese großen Zusammenhänge, wie Raum, Zeit und Kausalität, konstruieren« (GS, Bd. V, S. 183).

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durch Induktion ergänzende[n] Schluß«. Eine Hypothese in dem Sinn, wie er sich in den Naturwissenschaften herausgebildet hat, ist Dilthey zufolge eine Ergänzung, durch die ein Kausalzusammenhang hergestellt wird, der nicht durch einfache Beobachtung gegeben ist. Erweisen sich mehrere Hypothesen als denkmöglich, so besteht die Aufgabe darin, durch einen empirischen Vergleich der vorliegenden Tatsachen mit dem, was aus den Hypothesen folgt, diejenige Hypothese zu ermitteln, die sich bewährt und die anderen zu verwerfen. Als Beispiel einer naturwissenschaftlichen Hypothese führt Dilthey die kopernikanische Hypothese an, wonach »die Erde um ihre Achse in 24 weniger 4 Minuten sich dreht und zugleich eine fortschreitende Bewegung um die Sonne in etwa 365 1/4 Sonnentagen besitzt«. Diese Hypothese ist durch ihre Begründung durch Kepler, Galilei, Newton etc. »in den gesicherten Besitzstand der Wissenschaft« übergegangen und wurde zu einer »keinem Zweifel mehr unterworfenen Theorie«. Die Stärke der Naturwissenschaften liege darin, dass sie in der Mathematik und dem Experiment Instrumente besitzen, der Überprüfung der Hypothesen »den höchsten Grad von Genauigkeit und Sicherheit zu geben«. Während in den Naturwissenschaften, nicht zuletzt aufgrund ihrer spezifischen Überprüfungsmöglichkeiten, die Verwendung von Hypothesen verantwortbar bzw. geradezu notwendig ist, stellt sich allerdings die Frage nach der Legitimität einer solchen Übertragung des Verfahrens der naturwissenschaftlichen Hypothesenbildung auf das seelische Leben (vgl. GS, Bd. V, S. 142, S. 159). Zunächst hält Dilthey als eine unbestreitbare Tatsache fest, »daß jede erklärende Psychologie eine Kombination von Hypothesen zugrunde legt, welche durch das angegebene Merkmal sich zweifellos als solche kennzeichnen, indem sie andere Möglichkeiten nicht auszuschließen vermögen« (GS, Bd. V, S. 142). Die Versuche, eine vollständige Kausalerklärung in der Psychologie herzustellen, sind somit in einen »Nebel von Hypothesen gebannt«, für die – das kommt noch erschwerend hinzu – anders als in der Naturforschung, bedingt durch die spezifischen Eigenschaften des Psychischen, keine Möglichkeit einer experimentellen Erprobung der konkurrierenden Hypothesen an den psychischen Tatsachen 47

selbst besteht.13 Als Beispiele solcher Hypothesen führt Dilthey u. a. die »Lehre von dem Parallelismus der Nervenvorgänge und der geistigen Vorgänge« und die »Zurückführung aller Bewußtseinserscheinungen auf atomartig vorgestellte Elemente, welche in gesetzlichen Verhältnissen auf einander wirken« (GS, Bd. V, S. 142 f.), an. Somit sieht sich Dilthey berechtigt, für die erklärende Psychologie festzustellen: »Ein Kampf aller gegen alle tobt auf ihrem Gebiete nicht minder heftig als auf dem Felde der Metaphysik. Noch ist nirgends am fernsten Horizont etwas sichtbar, was diesen Kampf zu entscheiden die Kraft haben möchte« (GS, Bd. V, S. 142). Gegen die Vertreter der erklärenden Psychologie, die ihre weitgehende Verwendung von Hypothesen mit Berufung auf die Naturwissenschaften begründen, macht Dilthey den »Anspruch der Geisteswissenschaften« geltend, »ihre Methoden ihrem Objekt entsprechend selbständig zu bestimmen«: »Die Geisteswissenschaften müssen von den allgemeinsten Begriffen der generellen Methoden­ lehre aus durch das Probieren an ihren besonderen Objekten zu bestimmteren Verfahrungsweisen und Prinzipien innerhalb ihres Gebietes gelangen, wie es die Naturwissenschaften eben auch getan haben. Nicht dadurch erweisen wir uns als echte Schüler der großen naturwissenschaftlichen Denker, daß wir die von ihnen erfundenen Methoden auf unser Gebiet übertragen, sondern dadurch, daß unser Erkennen sich der Natur unserer Objekte anschmiegt und wir uns so zu diesem ganz so verhalten, wie sie zu dem ihrigen« (GS, Bd. V, S. 143). Der entscheidende erkenntnistheoretische Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften besteht nach Dilthey darin, »daß jene [die Naturwissenschaften, H.-U. L.] zu ihrem Gegenstande Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen [den Geisteswissenschaften, H.-U. L.] von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten« (GS, Bd. V, S. 143). Das heißt, die 13 »Die Tatsachen können im Gebiet des Seelenlebens nicht zu der genauen Bestimmtheit erhoben werden, welche zu der Erprobung einer Theorie durch Vergleichung ihrer Konsequenzen mit solchen Tatsachen erforderlich ist« (GS, Bd. V, S. 144).

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Naturwissenschaften haben die äußere, die Geisteswissenschaften die innere Erfahrung zur Grundlage (vgl. GS, Bd. V, S. 143, S. 169 f.). Daher können die Naturwissenschaften nur durch »ergänzende Schlüsse, vermittels einer Verbindung von Hypothesen« einen Zusammenhang der Natur herstellen. In den Geisteswissenschaften liegt dagegen »der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde« (GS, Bd. V, S. 143). Diesen essenziellen Unterschied zwischen den beiden Erkenntnisarten bringt Dilthey in einem oft zitierten und ebenso oft missverstandenen Diktum auf eine Formel: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« (GS, Bd. V, S. 144). Und er fügt dieser prägnanten Formulierung eine Erläuterung hinzu, in der ein wesentlicher Grundgedanke seiner Philosophie der Geisteswissenschaften zum Ausdruck kommt: »Denn in der inneren Erfahrung sind auch die Vorgänge des Erwirkens, die Verbindungen der Funktionen als einzelner Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzen gegeben. Der erlebte Zusammenhang ist hier das erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende«. Dies bedingt den fundamentalen Unterschied zwischen den geisteswissenschaftlichen und den naturwissenschaftlichen Methoden. Das Seelenleben, die Historie und die Gesellschaft ist dem Forscher auf andere Weise gegeben als dem Naturwissenschaftler die Natur. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass die Hypothesen in der Psychologie nicht dieselbe Rolle spielen wie in der Naturforschung. In der Naturerkenntnis vollzieht sich – so Dilthey – »aller Zusammenhang durch Hypothesenbildung«, während in der Psychologie »gerade der Zusammenhang ursprünglich und beständig im Erleben gegeben [ist]: Leben ist überall nur als Zusammenhang da.« Die Psychologie benötigt somit keine »durch Schlüsse gewonnenen unterlegten Begriffe, um überhaupt einen durchgreifenden Zusammenhang unter den großen Gruppen der seelischen Tatsachen herzustellen«. Der Zusammenhang seelischer Tatsachen und Prozesse ist im Erleben unmittelbar gegeben, daher ist die Psychologie nicht darauf angewiesen, hypothetisch gewonnene Begriffe zu verwenden, um diesen Zusammenhang zu konstruieren. Somit unterscheidet sich die Methode der Psychologie vollständig von den Methoden der Physik oder Chemie, und die Hypothese ist nicht ihre notwendige Grundlage. 49

Da Hypothesenverbindungen auf dem Gebiete des Psychischen nie die Sicherheit und Gültigkeit naturwissenschaftlicher Theorien erzielen können, stellt Dilthey die Frage, ob in der Psychologie nicht ein alternatives Verfahren »die Fundierung unseres Verständnisses von allem Seelenleben auf einen Inbegriff von Hypothesen vermeiden könne«. Dieses andere Verfahren, das vor den »außerordentlich nachteiligen Folgen« der »Herrschaft der erklärenden oder konstruktiven Psychologie« für die Entwicklung der Geisteswissenschaften bewahrt (GS, Bd. V, S. 145; vgl. S. 191–193), nennt Dilthey das beschreibende und zergliedernde. Unter der beschreibenden Psychologie versteht Dilthey »die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist. Diese Psychologie ist also Beschreibung und Analysis eines Zusammenhangs, welcher ursprünglich und immer als das Leben selbst gegeben ist« (GS, Bd. V, S. 152). Die deskriptive Psychologie – das ist der wesentliche Unterschied zur erklärenden Psychologie – »geht vom erlebten, ursprünglich und mit unmittelbarer Mächtigkeit gegebenen Zusammenhange aus; sie legt auch das noch der Zergliederung Unzugängliche unverstümmelt dar« (GS, Bd. V, S. 153; vgl. S. 182).14 Sie hat »die Regelmäßigkeiten im Zusammenhange des entwickelten Seelenlebens zum Gegenstand. Sie stellt diesen Zusammenhang des inneren Lebens in einem typischen Menschen dar. Sie betrachtet, analysiert, experimentiert und vergleicht. Sie bedient sich jedes möglichen Hilfsmittels zur Lösung ihrer Aufgabe. Aber ihre Bedeutung in der Gliederung der Wissenschaften beruht eben darauf, daß jeder von ihr benutzte Zusammenhang durch innere Wahrnehmung eindeutig verifiziert werden kann und daß jeder solche Zusammenhang als Glied des umfassenderen aufgezeigt 14 »Die Betrachtung des Lebens selber fordert, daß die ganze unverstümmelte und mächtige Wirklichkeit der Seele von ihren niedrigsten bis zu ihren höchsten Möglichkeiten gelange. Dies liegt innerhalb der Forderungen, welche die Psychologie selber an sich stellen muß, wenn sie nicht hinter Lebenserfahrung und dichterischer Intuition zurückbleiben will« (GS, Bd. V, S. 157).

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werden kann, der nicht erschlossen, sondern ursprünglich gegeben ist« (GS, Bd. V, S. 152; vgl. S. 157, S. 168 f., S. 193 f., S. 196). Die beschreibende Psychologie ist grundlegend sowohl für die Geisteswissenschaften (vgl. GS, Bd. V, S. 146–148, S. 156 f., S. 193) wie für die Erkenntnistheorie (vgl. GS, Bd. V, S. 146, S. 148–152), und Dilthey geht sogar so weit, darüber hinaus der deskriptiven Psychologie eine wichtige Funktion für die erklärende Psychologie selbst zuzuweisen, denn »diese erhielte in der beschreibenden ein festes deskriptives Gerüst, eine bestimmte Terminologie, genaue Analysen und ein wichtiges Hilfsmittel der Kontrolle für ihre hypothetischen Erklärungen« (GS, Bd. V, S. 153). Grundlegend für die Geisteswissenschaften ist die deskriptive Psychologie, weil jede Geisteswissenschaft auf psychologische Erkenntnisse angewiesen ist, da »eine Empirie, welche auf die Begründung dessen, was im Geiste geschieht, aus dem verstandenen Zusammenhang des geistigen Lebens, verzichtet, […] notwendig unfruchtbar [ist]« (GS, Bd. V, S. 147). Wie Dilthey am Begriff der Religion, an der Jurisprudenz, den Staatswissenschaften und der Geschichte und Theorie von Literatur und Kunst zeigen kann, bedarf jeder Geisteswissenschaftler fundierter psychologischer Begriffe und Erkenntnisse: »Wie die Systeme der Kultur: Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft, wie die äußere Organisation der Gesellschaft in den Verbänden der Familie, der Gemeinden, der Kirche, des Staates aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele hervorgegangen sind, so können sie schließlich auch nur aus diesen verstanden werden. Psychische Tatsachen bilden ihren wichtigsten Bestandteil, ohne psychische Analyse können sie also nicht eingesehen werden. Sie enthalten Zusammenhang in sich, weil Seelenleben ein Zusammenhang ist. So bedingt das Verständnis dieses inneren Zusammenhangs in uns überall ihre Erkenntnis« (GS, Bd. V, S. 147 f.; vgl. auch S. 157).15 Dil15 Die Geisteswissenschaften »bedürfen einer Psychologie, welche vor allem fest und sicher ist, was niemand der jetzigen erklärenden Psychologie nachrühmen kann, welche zugleich aber die ganze mächtige Wirklichkeit des Seelenlebens zur Beschreibung und, soweit möglich, zur Analysis bringt. Denn die Analyse der so komplexen gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit kann nur ausgeführt werden, wenn diese Wirklichkeit zunächst in die einzelnen Zwecksysteme zerlegt wird, aus denen sie besteht; jedes dieser

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they bringt diese Erkenntnis auch in einer weiteren Formulierung zum Ausdruck, in der noch ein anderer wichtiger Gesichtspunkt mitschwingt: »Ohne Beziehungen auf den psychischen Zusammenhang, in welchem ihre Verhältnisse gegründet sind, sind die Geisteswissenschaften ein Aggregat, ein Bündel, aber kein System. Jede noch so rohe Vorstellung von ihrer Verbindung untereinander beruht auf irgendeiner rohen Vorstellung von dem Zusammenhang der seelischen Erscheinungen« (GS, Bd. V, S. 148). Ähnliches gilt für die Erkenntnistheorie, der – wie Dilthey einräumt – selbstverständlich keine Psychologie als Grundlage vorausgeschickt werden kann (vgl. GS, Bd. V, S. 146, S. 150). Aber auch die Erkenntnistheorie bedarf – so seine These – psychologischer Einsichten: »Augenscheinlich können die geistigen Tatsachen, welche den Stoff der Erkenntnistheorie bilden, nicht ohne den Hintergrund irgendeiner Vorstellung des seelischen Zusammenhangs miteinander verbunden werden« (GS, Bd. V, S. 148; vgl. S. 150 f.). Das schwierige Verhältnis der Erkenntnistheorie zur Psychologie versucht Dilthey in einer Formel auszusprechen, die allerdings die Grundproblematik nicht befriedigend auflöst: »Erkenntnistheorie ist Psychologie in Bewegung, und zwar sich nach einem bestimmten Ziele bewegend. In der Selbstbesinnung, welche den ganzen unverstümmelten Befund seelischen Lebens umfaßt, hat sie ihre Grundlage: Allgemeingültigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit werden von diesem Befund aus erst nach ihrem Sinn bestimmt« (GS, Bd. V, S. 151 f.). Das Ziel dieser von Dilthey postulierten Psychologie, die sich mit Recht auch als eine »verstehende Psychologie« bezeichnen lässt (vgl. GS, Bd. V, S. 157, S. 172, S. 175), ist also »eine unbefanZwecksysteme, wie Wirtschaftsleben, Recht, Kunst und Religion, gestattet dann vermöge seiner Homogeneität eine Zergliederung seines Zusammenhangs. Dieser Zusammenhang in einem solchen System ist aber kein anderer als der seelische Zusammenhang in den Menschen, welche in demselben zusammenwirken. Sonach ist er schließlich ein psychologischer. Er kann daher nur von einer Psychologie verstanden werden, welche gerade die Analysis dieser Zusammenhänge in sich faßt, und das Ergebnis einer solchen Psychologie ist für den Theologen, Juristen, Nationalökonomen oder Literar­ historiker nur dann benutzbar, wenn nicht ein Element von Unsicherheit, von Einseitigkeit, von wissenschaftlicher Parteiung aus dieser Psychologie in die Erfahrungswissenschaften des Geistes dringt« (GS, Bd. V, S. 156 f.).

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gene und unverstümmelte Auffassung des Seelenlebens« (GS, Bd. V, S. 168). Und Dilthey geht so weit, für die von ihm projektierte Psychologie zu behaupten, dass sich durch die so definierte Aufgabenstellung ein Weg für die Psychologie eröffnet, »welcher einen viel höheren Grad von Sicherheit verspricht, als derjenige ist, den die erklärende Psychologie nach ihrer Methode erreichen kann« (GS, Bd. V, S. 157). Die Lösung ihrer Aufgabe muss zwei Anforderungen erfüllen: »Die volle Wirklichkeit des Seelenlebens muß zur Darstellung und tunlichst zur Analysis16 gelangen, und diese Beschreibung und Analysis muß den höchsten erreichbaren Grad von Sicherheit haben« (GS, Bd. V, S. 168).17 Da die erklärende Psychologie diese zwei Forderungen nicht erfüllen kann,18 ergibt sich die folgende methodische Konsequenz: »Die Psychologie muß den umgekehrten Weg einschlagen, als den die Vertreter der Konstruktionsmethode gegangen sind. Ihr Gang muß ein analytischer, nicht ein konstruktiver sein. Sie muß vom entwickelten Seelenleben ausgehen, nicht aus elementaren Vorgängen dasselbe ableiten« (GS, Bd. V, S. 168 f.). Der »Gang« der so postulierten Psychologie ist daher »ausschließlich beschreibend und zergliedernd« (GS, Bd. V, S. 169). Die Möglichkeit einer solchen beschreibenden und zergliedernden Psychologie, der die Aufgabe einer sicheren, unverstellten 16 Unter »Analysis« versteht Dilthey »die Zergliederung einer gegebenen komplexen Wirklichkeit. Durch die Analysis werden Bestandteile gesondert, die in der Wirklichkeit verbunden sind. […] alle Analysis hat ihr letztes Ziel in der Auffindung der realen Faktoren durch die Zerlegung des Wirklichen« (GS, Bd. V, S. 174). 17 Die Beschreibung und Analyse sind für Dilthey die entscheidenden methodischen Instrumente der geisteswissenschaftlichen und insbesondere der psychologischen Forschung. Vgl. auch den von Eduard Spranger (1966, S. 151) überlieferten Ausruf Diltheys in seinem Seminar (1901): »Analyse und Description! Analyse und Description!«. 18 »Die erklärende Psychologie als System kann nicht nur jetzt, sondern für alle Zeiten eine objektive Erkenntnis des Zusammenhanges der psychischen Erscheinungen nicht herbeiführen. Sie hat nur einen heuristischen Wert. Wie groß auch die Bedeutung der erklärenden Monographie sein mag: das Verfahren, einen Inbegriff hypothetischer Erklärungselemente festzustellen und in einer Konstruktion den Inbegriff der erreichbaren psychischen Erscheinungen daraus abzuleiten, führt zu keiner objektiven Erkenntnis des Seelenlebens« (GS, Bd. V, S. 193).

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und unvoreingenommenen Beschreibung und zuverlässigen Analyse der seelischen Totalität des entwickelten Menschen gestellt ist, begründet Dilthey unter Hinweis auf »die besondere Natur unserer Erfahrung von seelischen Erscheinungen«. Während wir Naturobjekte »von außen« (GS, Bd. V, S. 169), d. h. auf der Basis äußerer bzw. sinnlicher Wahrnehmungen erkennen, ist uns das Seelenleben auf ganz andere Weise gegeben. Denn die innere Wahrnehmung, durch die uns Psychisches zugänglich wird, beruht »auf einem Innewerden, einem Erleben, sie ist unmittelbar gegeben. Hier ist uns in der Empfindung oder dem Lustgefühl, das sie begleitet, ein unteilbar Einfaches gegeben« (GS, Bd. V, S. 170). Wie Dilthey am Beispiel der Empfindung einer violetten Farbe deutlich zu machen sucht, die als ein »inneres Phänomen« angesehen ein »Unteilbares« ist, tritt »ein in der inneren Erfahrung als Erlebnis Gegebenes hervor«. Wir erleben, wie Dilthey weiter ausführt, »beständig Verbindungen, Zusammenhänge in uns, während wir in den Sinneserregungen Verbindung und Zusammenhang unterlegen müssen«. Die spezifischen Charakteristika der Auffassung innerer Zustände (vgl. GS, Bd. V, S. 172 f.) prägen die Methode der psychologischen Forschung. Ihr entscheidendes Fundament ist dabei der erlebte »Zusammenhang des Seelenlebens«. In diesem Kontext weist Dilthey auf mehrere Eigentümlichkeiten der psychologischen Forschung hin. Das erste Spezifikum der Auffassung psychischer Zustände ist die »Intellektualität der inneren Wahrnehmung« (GS, Bd. V, S. 172), d. h. die Tatsache, dass die innere Wahrnehmung zwar einerseits ebenso wie die äußere durch die Beteiligung der »elementaren logischen Operationen«, wie »Unterscheiden, Gleichfinden, Grade der Verschiedenheit bestimmen, Verbinden, Trennen, Abstrahieren, mehrere Zusammenhänge zu einem verknüpfen, aus mehreren Tatsachen eine Gleichförmigkeit gewinnen« (GS, Bd. V, S. 171 f.), zustande kommt, dass sich aber andererseits an der inneren Wahrnehmung besonders klar erkennen lässt, »wie die elementaren logischen Vorgänge von der Auffassung der Bestandteile selber unabtrennbar sind« (GS, Bd. V, S. 172). Die zweite essenzielle Eigentümlichkeit besteht darin, dass »der erfahrene Zusammenhang des Seelenlebens […] die feste, erlebte und unmittelbar sichere Grundlage der Psychologie bleiben [muß], 54

wie tief sie auch in die experimentelle Einzelforschung eindringe« (GS, Bd. V, S. 172). Das heißt, die Auffassung seelischer Zustände »entsteht aus dem Erlebnis und bleibt mit ihm verbunden. In dem Erlebnis wirken die Vorgänge des ganzen Gemütes zusammen. In ihm ist Zusammenhang gegeben, während die Sinne nur ein Mannigfaltiges von Einzelheiten darbieten. Der einzelne Vorgang ist von der ganzen Totalität des Seelenlebens im Erlebnis getragen, und der Zusammenhang, in welchem er in sich und mit dem Ganzen des Seelenlebens steht, gehört der unmittelbaren Erfahrung an. […] Alles psychologische Denken behält diesen Grundzug, daß das Auffassen des Ganzen die Interpretation des einzelnen ermöglicht und bestimmt.«19 Dies prägt auch schon »die Natur des Verstehens unserer selbst und anderer«: »Wir erklären durch rein intellektuelle Prozesse, aber wir verstehen durch das Zusammenwirken aller Gemütskräfte in der Auffassung. Und wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das einzelne uns faßbar zu machen«. Als eine weitere Besonderheit der inneren Erfahrung führt Dilthey an: »Die einzelnen seelischen Vorgänge in uns, die Verbände seelischer Tatsachen, die wir innerlich wahrnehmen, treten mit einem verschiedenen Bewußtsein ihres Wertes für das Ganze unseres Lebenszusammenhangs in uns auf. So hebt sich in der inneren Auffassung selber das Wesentliche vom Unwesentlichen ab« (GS, Bd. V, S. 172 f.). Als letzten Grundzug psychologischer Forschung hält Dilthey fest, »daß sie aus dem Erleben selber herauswächst und in diesem stets ihre festen Wurzeln behalten soll« (GS, Bd. V, S. 173). Im Gegensatz zur Naturforschung, die einen Zusammenhang erst hypothetisch herstellen muss, ist in der Psychologie »dieser Zusammenhang der Funktionen im Erlebnis von innen gegeben. Alle psychologische Einzelerkenntnis ist nur Zergliederung dieses Zusammenhangs. So ist hier eine feste Struktur unmittelbar und 19 »In der Psychologie ist […] dieser Zusammenhang der Funktionen im Erlebnis von innen gegeben. Alle psychologische Einzelerkenntnis ist nur Zerglie­ derung dieses Zusammenhangs. So ist hier eine feste Struktur unmittelbar und objektiv gegeben, daher hat die Beschreibung auf diesem Gebiete eine zweifellose, allgemeingültige Grundlage« (GS, Bd. V, S. 173).

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objektiv gegeben, daher hat die Beschreibung auf diesem Gebiete eine zweifellose, allgemeingültige Grundlage. Wir finden nicht durch Ergänzung zu den einzelnen Gliedern deren Zusammenhang, sondern das psychologische Denken artikuliert und distin­ guiert von dem gegebenen Zusammenhang aus« (GS, Bd. V, S. 173 f.; S. 174 f.). Somit kann Dilthey postulieren, »daß eine Psychologie möglich ist, welche, von dem allgemeingültig erfaßten Zusammenhang des Seelenlebens ausgehend, die einzelnen Glieder dieses Zusammenhangs analysiert, ihre Bestandteile und die sie verbindenden Funktionen beschreibt und erforscht, so tief als sie kann, aber keine Konstruktion des ganzen Kausalzusammenhangs der psychischen Vorgänge unternimmt. […] Die beschreibende und zergliedernde Psychologie endigt mit Hypothesen, während die erklärende mit ihnen beginnt. Ihre Möglichkeit beruht eben darauf, daß ein solcher allgemeingültiger, gesetzlicher, das ganze Seelenleben umfassender Zusammenhang für uns ohne Anwendung der in den erklärenden Naturwissenschaften gebotenen Konstruktionsmethode möglich ist« (GS, Bd. V, S. 175).20 Die beschreibende und zergliedernde Psychologie gliedert sich – wie Dilthey programmatisch festhält – in zwei Teile. Der erste, allgemeine Teil hat zunächst die Aufgabe, eine verbindliche psychologische Terminologie zu erarbeiten (vgl. GS, Bd. V, S. 176; vgl. S. 185), und seine weitere Funktion besteht darin, den »Strukturzusammenhang« im ausgebildeten Seelenleben herauszuarbeiten (GS, Bd. V, S. 176; vgl. S. 200–213). Der Begriff der Struktur ist der Zentralbegriff von Diltheys Psychologie (vgl. Rodi, 2003c; 2016). Er bezeichnet – bildlich gesprochen – die »architektonische Gliederung« des Seelenlebens, d. h. den »inneren Zusammenhang« der verschiedenen psychischen Tei20 »Die erklärende Psychologie will aus gewissen von ihr studierten elementaren Prozessen, wie Assoziation, Verschmelzung, Apperzeption diese großen dauernden Zusammenhänge, wie Raum, Zeit und Kausalität, konstruieren; dagegen die beschreibende Psychologie trennt Beschreibung und Analysis dieser dauernden Zusammenhänge von den erklärenden Hypothesen. So ermöglicht sie einen allgemeingültigen Zusammenhang der psychologischen Erkenntnis, in welchem das Ganze des Seelenlebens anschaulich, klar und scharf gesehen wird« (GS, Bd. V, S. 183).

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le.21 Dabei hat die psychologische Analyse vor allem die Aufgabe, das »Strukturgesetz« zu ermitteln, »durch welches die Intelligenz, das Trieb- und Gefühlsleben und die Willenshandlungen zu dem gegliederten Ganzen des Seelenlebens verknüpft sind« (GS, Bd. V, S. 176). Dieser strukturelle Zusammenhang, der in diesem Strukturgesetz abgebildet wird, setzt sich, wie Dilthey bemerkt, »nur aus lebendigen Erfahrungen über die einzelnen Verbindungen seelischer Bestandteile zusammen. Seine Bedeutung ist uns in der inneren Erfahrung auf das eindringlichste gegeben«. Da der seelische Zusammenhang ein teleologischer ist (vgl. GS, Bd. V, S. 176, S. 207, S. 210), ergibt sich als ein zweites Grundgesetz des Seelenlebens dasjenige der Entwicklung. Ein drittes »allgemeines Verhältnis« ist nach Dilthey »in dem Wechsel der Bewußtseinszustände und in der Einwirkung des erworbenen Zusammenhangs des Seeelenlebens auf jeden einzelnen Akt des Bewußtseins enthalten« (GS, Bd. V, S. 177). Der Zusammenhang des Seelenlebens enthält nach Dilthey drei Hauptbestandteile: erstens den »Zusammenhang der Wahrnehmun­ gen, Vorstellungen und Erkenntnisse« (GS, Bd. V, S. 181), zweitens den »Zusammenhang unserer Triebe und Gefühle« (GS, Bd. V, S. 185) und drittens den großen Zusammenhang der »menschli­ chen Willenshandlungen« (GS, Bd. V, S. 188). Die zentrale Aufgabe der deskriptiven Psychologie ist das Verständnis der Struktur des Seelenlebens. Daher kommt in den »Ideen« eine besondere Bedeutung dem Kapitel »Die Struktur des Seelenlebens« zu (GS, Bd. V, S. 200–213), in dem Dilthey die Grundzüge seiner Strukturpsychologie skizziert. Die Struktur des Seelenlebens ist die Gliederung der inneren Zustände, die aus dem Einwirkungs-Wirkungszusammenhang von Lebenseinheit und umgebenden Milieu entsteht (vgl. GS, Bd. V, S. 200). In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Dilthey bei der Erläute21 Die psychische Struktur »ist die Anordnung, nach welcher psychische Tatsachen von verschiedener Beschaffenheit im entwickelten Seelenleben durch eine innere erlebbare Beziehung miteinander verbunden sind. Die Grundform dieses seelischen Zusammenhangs ist dadurch bestimmt, daß sich alles psychische Leben von seinem Milieu bedingt findet und rückwärts auf dies Milieu zweckmäßig einwirkt« (GS, Bd. V, S. 373). – An anderer Stelle (GS, Bd. V, S. 272) bezeichnet Dilthey die Struktur als den »lebendigen Wirkungszusammenhang des Seelenlebens«.

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rung seiner Konzeption auf biologische Begriffe wie Reiz, Reflex, Bewegung, Anpassung, Trieb etc. zurückgreift.22 Fundamental für seinen Entwurf ist der Gedanke, dass »die Struktur und Artikulation des Lebens […] überall, wo psychisches Innen auftritt, sonach in der ganzen Tier- und Menschenwelt dieselbe [ist].« Denn »die Urzelle des inneren Lebens ist überall der Fortgang vom Eindruck aus dem Milieu des Lebewesens zu der Bewegung, die das Verhältnis zu diesem Milieu im Lebewesen anpasst«, wie Dilthey in dem Nachlass-Text »Leben und Erkennen« schreibt (GS, Bd. XIX, S. 345).23 Indem die beschreibende Psychologie diese Struktur des Seelenlebens, also die Gliederung der inneren Zustände, erfasst, die sich durch die und in der Wechselwirkung zwischen der Lebenseinheit und dem sie umgebenden Milieu bildet, »erschließt sich ihr der Zusammenhang, welcher die psychischen Reihen zu einem Ganzen verknüpft. Dieses Ganze ist das Leben« (GS, Bd. V, S. 200). Das Zentrum der seelischen Struktur ist nach Dilthey »ein Bündel von Trieben und Gefühlen […], von welchem aus das Spiel der Eindrücke durch den Gefühlsanteil, der von diesem Zentrum aus ihnen zuteil wird, in die Aufmerksamkeit erhoben, Wahrnehmungen und deren Verbindungen mit Erinnerungen, Gedankenreihen gebildet werden, an welche alsdann Steigerung des Daseins oder Schmerz, Furcht, Zorn sich anschließen« (GS, Bd. V, S. 206).24

22 »Die biologische Breite der Betrachtung ist erforderlich, um in bezug auf die Struktur des Lebens zu überzeugen. Ich war früher bestrebt, die psychologische Grundlegung zur Geltung zu bringen gegenüber dem einseitigen Intellektualismus. […] Seitdem ich aber in der Struktur des Lebens die Grundlage der Psychologie erkannte, mußte ich den psychologischen Standpunkt zu dem biologischen erweitern und vertiefen« (GS, Bd. XIX, S. 345). 23 Vgl. auch die »Breslauer Ausarbeitung« (GS, Bd. XIX, S. 100), wo Dilthey von der »Tatsache« spricht, »welche ich als Wechselwirkung der Lebensein­ heit mit der Außenwelt im Umsatz von Eindruck, der aus der Außenwelt wirkend eintritt, und Antrieb, der auf sie zurückwirkt« (vgl. auch GS, Bd. XIX, S. 102 und zahlreiche weitere Stellen in seinem Werk). 24 »[…] die Struktur des Seelenlebens, welche Reiz und reagierende Bewegung miteinander verkettet, [hat] ihr Zentrum in dem Bündel von Trieben und Gefühlen […], von welchen aus der Lebenswert der Veränderungen in unserem Milieu abgemessen und die Rückwirkungen auf dasselbe eingeleitet werden« (GS, Bd. V, S. 210).

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Grundlage der beschreibenden Psychologie ist der erlebte Strukturzusammenhang (vgl. GS, Bd. V, S. 206 f.). Die Struktur des Seelen­lebens, die sich als ein Zusammenhang, als eine Verbindung der verschiedenartigen Vorgänge des Vorstellens, Fühlens und Wollens zu einer Einheit zeigt, wird nicht durch Schlüsse festgestellt, »sondern sie ist die lebendigste Erfahrung, deren wir überhaupt fähig sind. Alle anderen inneren Erfahrungen sind in ihr eingeschlossen« (GS, Bd. V, S. 210). Mit einer Art Phänomenologie der erfüllten Lebensmomente kann Dilthey zeigen, dass (beinahe) jeder Bewusstseinsstand (status constientiae), d. h. der »Umfang meines Bewusstseins in einem gegebenen Momente« (GS, Bd. V, S. 201), neben einem Vorstellungsbestandteil auch eine Gefühlserregung und eine Willens­ tätigkeit (Volition) enthält (vgl. GS, Bd. V, S. 201 ff.). In weiteren Analysen, die Diltheys Selbstverständnis nach ebenfalls gänzlich ohne Hypothesen auskommen, beschreibt er die Zusammenhänge oder Reihen, die in den vorstellenden Zuständen (Wahrnehmungen, erinnerte Vorstellungen, sprachliche Denkprozesse) und Willenstätigkeiten (Abwägung von Motiven, Wahl, Auslösung von Bewegungsvorgängen) vorliegen. Der Strukturzusammenhang wird erlebt, und dies sichert die Möglichkeit, Menschliches zu verstehen: »[…] weil wir diesen Strukturzusammenhang, welcher alle Leidenschaften, Schmerzen und Schicksale des Menschenlebens in sich faßt, inne werden, darum verstehen wir Menschenleben, Historie, alle Tiefen und Abgründe des Menschlichen« (GS, Bd. V, S. 206). Den seelischen Strukturzusammenhang begreift Dilthey zugleich als einen in der inneren Erfahrung gegebenen teleo­logischen Zusammenhang, d. h. als einen subjektiv-immanenten Zweckzusammenhang, da er einen Zusammenhang darstellt, »welcher Lebensfülle, Triebbefriedigung und Glück zu erwirken die Tendenz hat« (GS, Bd. V, S. 207; vgl. S. 210, S. 215 f.). Bedeutsam ist für Dilthey der Gedanke, dass der in der inneren Erfahrung gegebene Zusammenhang unseres Seelenlebens »erläutert und bestätigt« (GS, Bd. V, S. 210) werden kann durch die Feststellung seiner Präsenz und seiner Funktion im ganzen Tierreich, wobei sich für ihn das »ganze System der tierischen und menschlichen Welt« als die »Entfaltung dieser einfachen Grundstruktur 59

des Seelenlebens in zunehmender Differenzierung, Verselbständigung der einzelnen Funktionen und Teile sowie höherer Verbindung derselben untereinander dar[stellt]« (GS, Bd. V, S. 211). Diese Behauptung findet sich – so Dilthey – am einfachsten am tierischen Nervensystem bestätigt, das im Kern als elementarer Reiz-Reaktions-Zusammenhang beschrieben werden kann, der sich dem jeweiligen tierischen Entwicklungsstand gemäß immer weiter ausdifferenziert. Die Struktur des Seelenlebens besitzt, wie Dilthey ausführt, drei Grundeigenschaften: Der psychische Lebensprozess ist zunächst nicht aus Einzelteilen zusammengesetzt, sondern bildet eine originäre Einheit. Er ist »ursprünglich und überall von seinen elementarsten bis zu seinen höchsten Formen eine Einheit. Das Seelenleben wächst nicht aus Teilen zusammen; es bildet sich nicht aus Elementen; es ist nicht ein Kompositum, nicht ein Ergebnis zusammenwirkender Empfindungsatome oder Gefühlsatome: es ist ursprünglich und immer eine übergreifende Einheit« (GS, Bd. V, S. 211). Zweitens ist dieser psychische Zusammenhang bedingt »durch die Lage der Lebenseinheit innerhalb eines Milieus«, d. h. die Lebenseinheit steht mit der Außenwelt in einer Wechselwirkung, die von Dilthey beschrieben wird als »Anpassung zwischen der psychophysischen Lebenseinheit und den Umständen, unter welchen sie lebt«. In dieser »Anpassung« vollzieht sich die »Verbindung der Reihe sensorischer Vorgänge mit der Reihe der motorischen«, und auch das menschliche Leben »steht unter diesem großen Gesetz der ganzen organischen Natur« (GS, Bd. V, S. 212; vgl. S. 214). Das dritte Charakteristikum des Lebenszusammenhangs besteht darin, dass in ihm »die Glieder so miteinander verbunden sind, daß nicht eines aus dem anderen nach dem Gesetz der in der äußeren Natur herrschenden Kausalität, nämlich dem Gesetz der quantitativen und qualitativen Gleichheit von Ursache und Wirkung, folgt« (GS, Bd. V, S. 212). Denn der Zusammenhang zwischen seinen verschiedenartigen und nicht auseinander ableitbaren Bestandteilen, also der Vorstellungen, Gefühle und Willensprozesse, ist »sui generis« (GS, Bd. V, S. 213). Ergänzt wird die Strukturlehre durch eine Betrachtung der Entwicklung des Seelenlebens, und beide Forschungsrichtungen, die synchrone, die die Struktur analysiert, und die diachrone, die die 60

seelische Entwicklung thematisiert, und für die der Begriff der »Artikulation« wichtig wird (GS, Bd. V, S. 214, S. 217, S. 221), bedingen einander (GS, Bd. V, S. 213–226). Ein abschließendes Kapitel der »Ideen« ist außerdem noch der Lehre von der Individualität, d. h. dem »Studium der Verschiedenheiten des Seelenlebens«, gewidmet (GS, Bd. V, S. 226–237). Diese vergleichende Psychologie, der Dilthey seine große, allerdings unvollendet gebliebene Abhandlung »Über vergleichende Psychologie« widmen wollte, verstand er als eine unmittelbare Fortsetzung der beschreibenden und zergliedernden Psychologie (vgl. GS, Bd. V, S. 241).25 An diesen allgemeinen Teil, in dessen Mittelpunkt die Lehre vom psychischen Strukturzusammenhang steht, sollen sich Diltheys Konzeption zufolge die Analyse der drei großen Zusammenhänge anschließen, die in der Struktur des Seelenlebens miteinander verbunden sind. Diese sind die Intelligenz, das Trieb- und Gefühlsleben und die Willenshandlungen (GS, Bd. V, S. 180; S. 181–190). Der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens, der den »Hauptgegenstand der psychologischen Beschreibung und Analysis innerhalb der drei großen in der seelischen Struktur verbundenen Glieder des Seelenlebens« bildet (GS, Bd. V, S. 180), ist uns – wie Dilthey schreibt – »zunächst im entwickelten Menschen, und zwar in uns selber, gegeben«. Er ist aber nicht als ein Ganzes bewusst und kann der psychologischen Analyse zugrunde gelegt werden, sondern ist »zunächst nur mittelbar in einzelnen reproduzierten Teilen oder in seinem Wirken auf seelische Prozesse für uns auffaßbar«. Daher vergleichen wir – so Dilthey – »seine Schöpfungen, um ihn vollständiger und tiefer zu erfassen«: »In den Werken genialer Menschen können wir das energische Wirken bestimmter Formen von geistiger Tätigkeit studieren. In Sprache, Mythos und religiösem Brauch, Sitte, Recht und äußerer Organisation sind Erzeugnisse des Gesamtgeistes vorliegend, in denen das menschliche Bewußtsein, mit Hegel zu reden, objektiv geworden ist und so der Zergliederung standhält« (GS, Bd. V, S. 180; vgl. S. 190). Das heißt, neben die Introspektion tritt Diltheys Konzeption zufolge 25 Zur Aufgabe der vergleichenden Psychologie vgl. GS, Bd. V, S. 266. Das Verhältnis der generellen zur vergleichenden Psychologie erörtert Dilthey in GS, Bd. V, S. 268.

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auch die Analyse menschlicher Ausdrucksformen, also das, was er im Spätwerk als den »objektiven Geist« bezeichnet hat (GS, Bd. VII, S. 146–152, S. 208 f.). Diltheys Plädoyer für eine beschreibende und zergliedernde Psychologie ist getragen von der Grundüberzeugung, dass die erklärende Psychologie keinen Weg darstellt, um zu einer objek­ tiven Erkenntnis des seelischen Zusammenhangs zu kommen (vgl. GS, Bd. V, S. 173). Dagegen erleben wir – so Dilthey – in uns diesen Zusammenhang. Er ist »der eignen inneren Lebendigkeit entnommen« (GS, Bd. V, S. 194). Die innere Erfahrung des Selbst ist für Dilthey daher die unhintergehbare Basis psychologischer Forschung: »Wir können nun nicht einen Zusammenhang machen außerhalb dessen, der uns gegeben ist. Hinter denselben, wie er in der inneren Erfahrung selbst gegeben ist, kann die Wissenschaft von diesem Seelenleben nicht zurückgegen. Das Bewußtsein kann nicht hinter sich selber kommen. Der Zusammenhang, in welchem das Denken selber wirksam ist und von dem es ausgeht und abhängt, ist für uns die unaufhebbare Voraussetzung. Das Denken kann nicht hinter seine eigne Wirklichkeit, hinter die Wirklichkeit, in welcher es entsteht, zurückgehen«.26 Die Methode der erklärenden Psychologie, ist – wie gezeigt – aus einer illegitimen Übertragung naturwissenschaftlicher Begriffe auf das Gebiet des Seelenlebens entstanden (vgl. GS, Bd. V, S. 195). Indem Dilthey den Unterschied zwischen der äußeren Natur und dem »lebendigen Zusammenhang der Seele« festhält, wird hier einmal mehr Diltheys lebensphilosophische Grundeinsicht manifest. Dieser Zusammenhang ist nämlich »Leben, das vor allem Erkennen da ist«, und »Lebendigkeit, Geschichtlichkeit, Freiheit, Entwicklung sind seine Merkmale« (GS, Bd. V, S. 196). Die Analyse dieses Zusammenhangs ergibt nirgends »ein Dingliches oder Substanziales, wir können nirgend aus Elementen zusammensetzen, es gibt keine isolierten Elemente, diese sind überall untrennbar von den Funktionen«. Die Basis von Diltheys Lebensphilosophie ist damit die Einsicht in die »Lebendigkeit unseres Selbst«, die aber »mehr [ist] als Ratio«. 26 » […] den lebendigen Zusammenhang der Seele haben wir nicht allmählich versuchend gewonnen« (GS, Bd. V, S. 196).

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Die Bedingung der Möglichkeit einer deskriptiven Psychologie ist die Realität innerer Wahrnehmung, und diese ist durch unsere Kenntnis innerer, mentaler Zustände gegeben, über die wir ohne Zweifel verfügen. Während jede äußere, sinnliche Wahrnehmung auf einer Unterscheidung des wahrnehmenden Subjekts von dem wahrgenommenen Objekt fußt, ist nach Dilthey die innere Wahrnehmung »zunächst nichts anderes als eben das innere Bewußtsein eines Zustandes oder Vorganges«. Innere Wahrnehmung beruht somit auf einem Innewerden: »Ein Zustand ist für mich da, indem er bewußt ist. Wenn ich mich traurig fühle, so ist dies Gefühl von Traurigkeit nicht mein Objekt, sondern indem dieser Zustand mir bewußt ist, ist er für mich da, für mich, als welchem er eben bewußt ist. Ich werde seiner inne« (GS, Bd. V, S. 197). Bei der inneren Wahrnehmung liegt somit eine Identität von Für-mich-Dasein und Bewußtsein vor; es gibt hier keine Trennung in ein Wahrnehmungssubjekt und -objekt. Als den besonderen Vorzug der inneren Wahrnehmung kann Dilthey daher festhalten: »In diesem Innewerden der eignen Zustände fassen wir sie ohne Vermittlung äußerer Sinne in der Realität auf, wie sie sind« (GS, Bd. V, S. 198). Damit behauptet Dilthey einen täuschungsfreien, objektiven und sicheren Zugang zu unseren inneren Zuständen. Ergänzt werden die inneren Wahrnehmungen durch die Hilfsmittel der Analyse der »gegenständlichen Produkte des psychischen Lebens«, wie Sprache, Mythos, Literatur, Kunst und alle geschichtlichen Leistungen (GS, Bd. V, S. 199; vgl. S. 180, S. 190, S. 199 f.), sowie das Verstehen fremder Personen, wobei Dilthey das Verstehen Anderer als einen geistigen Vorgang begreift, der »einem Schlusse der Analogie äquivalent ist« (GS, Bd. V, S. 198; vgl. auch GS, Bd. XX, S. 101, S. 106, S. 315; GS, Bd. I, S. 9; GS, Bd. V, S. 67, S. 246, S. 248 ff., S. 277; GS, Bd.  XIX, S. 223; GS, Bd.  VII, S. 118 f., S. 145, S. 207, S. 211). Verstehen als Übertragung oder Transposition des eigenen Inneren auf ein fremdes Seelenleben ist damit – wie Dilthey im Spätwerk formuliert – letztlich nur ein »Wiederfinden des Ich im Du« (GS, Bd.  VII, S. 191). Dieses Transpositions- oder Übertragungsmodell des psychologischen Verstehens wird erst im Zusammenhang seiner späten Theorie des objektiven Geistes überwunden (vgl. GS, Bd. VII, S. 146 f., S. 148, S. 151, S. 208, S. 278, S. 291; vgl. zu Diltheys Theorie des Verstehens auch Lessing, 2016c). 63

Mark Galliker Diltheys Beitrag zu einer Psychologie des Lebens

Vorbemerkungen In diesem Beitrag, der zeitgleich mit dem Eingangsartikel von Herrn Lessing geschrieben wurde, werden einige Begriffspaare vorgestellt, die in Diltheys Werk vorkommen und hinsichtlich einer Psychologie des Lebens von Bedeutung sein könnten. Meines Erachtens vermögen sie einerseits die Fruchtbarkeit des Ansatzes von Dilthey aufzuzeigen, andererseits scheinen sich mit dieser Darstellung bei einigen von ihnen auch Schwierigkeiten abzuzeichnen, die bei einer Entwicklung von Diltheys Ansatz auftreten könnten. Die ausgewählten Begriffspaare sollen nicht nur eine Einführung in das Gebiet von Diltheys Psychologieverständnis ermöglichen, sondern gleichzeitig den Dialog mit Herrn Lessing einleiten.

Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft Dilthey wendet sich in der »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (1883/1990) den Geisteswissenschaften in Unterscheidung von den Naturwissenschaften zu. Was den Naturwissenschaften von Natur aus vorgegeben ist und den Naturwissenschaftlern nur Produkt des Nachdenkens über die Gegenstände der Natur ist, involviert in den Geisteswissenschaften von Anfang an die Menschen als solche. Die Geisteswissenschaften spielen für dieselben eine andere Rolle als die Naturwissenschaften. Personen, mithin auch die Wissenschaftler/-innen, haben zu ihnen einen anderen Bezug als zu den Naturwissenschaften. Es sind menschliche Taten, Schöpfun64

gen, Ideen, mit denen es die Geisteswissenschaft zu tun hat. In ihr geht es um die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und seiner Geschichte, auch mit seiner Gesellschaft und der Natur, in der er lebt, während sich in den Naturwissenschaften Menschen der Natur gegenüberstellen und deren Gegenstände objektivieren, indem sie dieselben als Sachverhalte kontrollieren und manipulieren. Im Unterschied zu den Naturwissenschaftlern, die es mit natürlichen Sachverhalten zu tun haben, befassen sich die Geisteswissenschaftler in erster Linie mit geistigen Inhalten. Bei ihnen bekommt es das Bewusstsein des Menschen mit dessen eigenen Schöpfungen der Kultur, der Kunst und der Literatur zu tun, mitunter auch mit seinen geistigen Produktionen und wissenschaftlichen Überzeugungen. Der Lebensphilosoph Dilthey wendet sich in der »Einleitung« vom metaphysischen Denken ab und setzt sich mit dem naturwissenschaftlich orientierten Positivismus seiner Zeit auseinander. Die Wirklichkeit ist so zu studieren und wissenschaftlich zu erfassen, wie sie durch die menschliche Erfahrung gegeben ist. Nach Dilthey konnten die Positivisten die Einzelwissenschaften nicht ihrem Anspruch gemäß miteinander verknüpfen und vermochten die Architektonik des ungeheuren, durch Anfügung beständig erweiterten Gebäudes der Geisteswissenschaften auch nicht in ihrem Gefüge zu ergründen. Diltheys eigener Anspruch besteht nun darin, diesen Bauplan verständlich zu machen, indem er die Geisteswissenschaften neben den Naturwissenschaften als Ganzes wie auch als eigenständigen Bereich betrachtet. Dilthey stellt zwar in der »Einleitung« die Geisteswissenschaften nicht dichotomisch den Naturwissenschaften gegenüber, wie es später manchmal den Anschein erwecken wird, und er sucht auch noch keine scharfe Unterscheidung zwischen geisteswissenschaftlichem Erklären und Verstehen, wie es in den »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« der Fall sein wird. In der »Einleitung« versucht er, die naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Bereiche noch abwägend aufeinander zu beziehen und eher weiche Grenzen zu ziehen, was jedoch nichts daran ändert, dass er schon den Bereich der geisteswissenschaft­licher Erkenntnis separat angelegt hat und für die Eigenständigkeit derselben eintritt. Diltheys Meinung nach benötigen die Geisteswissenschaften eine selbstständige Methodologie, die unter Berücksichtigung der 65

historischen Perspektive von der menschlichen Selbstbestimmung ausgeht, die nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern primär psychologisch begründbar ist. Nach Lessing (2001) begreift Dilthey als Basis der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis das Erleben und das Verstehen: Das sind die Grundbegriffe seiner Philosophie der Geisteswissenschaften sowie seiner philosophischen Hermeneutik (vgl. Lessing, 2001, S. 107). Der historisch orientierte Lebensphilosoph findet in den Lebenseinheiten der »psychophysischen Individuen« die »Elemente, aus welchen Gesellschaft und Geschichte sich aufbauen« (GS, Bd. I, S. 28). Andererseits stellt er auch fest, dass »der Gegenstand der Psychologie […] jederzeit nur das Individuum [ist], welches aus dem lebendigen Zusammenhang der geschichtlich-­ gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgesondert ist« (GS, Bd.  I, S. 30). Handelt es sich hier am Eingang der »Einleitung« lediglich um den Hinweis um zwei verschiedene, gleichermaßen mögliche Ausgangspunkte oder gleich um ein erstes Anzeichen eines Widerspruchs, der sich möglicherweise durch das Gesamtwerk hindurchzieht oder sind die beiden Aussagen eher als methodologische Herausforderung zu werten? Letzteres wird durch die anschließende Aussage nahegelegt, dass die Psychologie darauf angewiesen ist, »die allgemeinen Eigenschaften, welche psychische Einzelwesen in diesem Zusammenhang entwickeln, durch einen Vorgang von Abstraktion festzustellen« (GS, Bd. I, S. 30). Wie diese Abstrahierung methodologisch vorgenommen werden soll, insbesondere ohne die hier noch nicht angeführte dazugehörige Konkretisierung, wird von Dilthey in der »Einleitung« allerdings nicht expliziert.

Externe Organisation und interner Zusammenhang In der »Einleitung« wird u. a. auch darauf hingewiesen, dass sich der Mensch mit seiner Umgebung austauscht. In Diltheys Werk wird von Anfang an dieses »Konzept der Wechselwirkung« mit dem »Zweckzusammenhang« verknüpft. Die Individuen sind »in der Wechselwirkung des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens 66

tätig, indem sie in dem lebendigen Spiel ihrer Energien eine Mannigfaltigkeit von Zwecken zu verwirklichen suchen« (GS, Bd. I, S. 44). Mit dem Konzept der Wechselwirkung wird der Mensch einerseits intern mit seinem Organismus verbunden und andererseits in einen externen Zusammenhang gebracht: »Die regellose Gewalt seiner Leidenschaften so gut als sein inniges Bedürfnis und Gefühl von Gemeinschaft machen den Menschen, wie er Bestandteil in dem Gefüge dieser Systeme ist, so zu einem Glied in der äußeren Organisation der Menschheit« (GS, Bd. I, S. 47). Der Lebensphilosoph fasst also psychische Elemente im Zusammenhang in dem »Zweckganzen« von »Systemen« auf und stellt in Aussicht, die Beziehungen in denselben zu untersuchen, indem er nicht zuletzt auch die Eigenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft in ihrem Gefüge von Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie die Weitergabe der Kulturgüter von Generation zu Generation berücksichtigt (GS, Bd. I, S. 66). Was bedeutet dies in wissenschaftlicher Hinsicht? Dilthey beantwortet diese Frage vorerst wie folgt: »Die Wissenschaft unternimmt […], nach dem Satze vom Grunde, welcher allem Erkennen zugrunde liegt, die Abhängigkeiten festzustellen, welche innerhalb eines solchen auf einem Bestandteil der Menschennatur beruhenden, über das Individuum hinausgreifenden Zweckzusammenhangs zwischen den einzelnen psychischen oder psychophysischen Elementen bestehen« (GS, Bd. I, S. 44; Hervorh. M. G.). In diesem Zusammenhang wird bestimmt, wie ein Element das andere bedingt bzw. wie vom Auftreten einer Eigenschaft in ihm das einer anderen abhängig ist. Nach Dilthey kann der Mensch nur in der Gesellschaft, quasi »von innen«, geisteswissenschaftlich, betrachtet werden; d. h., er kann nicht an sich, »d. h. außerhalb von Geschichte und Gesellschaft« verstanden werden (Lessing, 2001, S. 51). Da nach Dilthey jeder einzelne Mensch in seine persönliche sowie gesellschaftliche Geschichte verwoben ist, kann er nur angemessen untersucht werden, wenn man seine kulturellen und sozialen Beziehungsgeflechte berücksichtigt, in denen er lebt. Dilthey wird deshalb versuchen, eine Theorie der Kultursysteme und der sozialen Organisationen der Menschen zu entwickeln. Dies setzt 67

für ihn als Historiker die Aufgabe voraus, möglichst viel systematisches Wissen über diese Gebiete sich anzueignen. In der »Einleitung« scheinen an manchen Textstellen die gesellschaftlichen und historischen Verhältnisse den individuellen und persönlichen Phänomenen vorgängig zu sein. Allerdings wird der schöpferische Prozess der Person letztlich doch auf das vereinzelte Individuum zurückgeführt. So gesehen, erweist sich die gesellschaftliche und historische Kontextualisierung lediglich als Bedingung der Möglichkeit der Entfaltung individueller schöpferischer Kraft. Dilthey verwendet den Begriff der äußeren Organisation der Gesellschaft in der »Einleitung« mehrmals. Auch in der Überschrift eines Unterkapitels (in Kapitel XIII) kommt dieser Begriff vor. Hingegen wird der Begriff der inneren Organisation nicht verwendet. Dilthey weist aber darauf hin, dass im Zweckzusammenhang ein Element das andere bedingt. Die äußere Organisation der Gesellschaft werde bis in ihre feinsten Verästelungen hinein einerseits von Gemeinschaft und andererseits von Herrschaft und Abhängigkeit seelisch durchströmt. Sämtliche Verbandsverhältnisse würden sich auf diese Weise psychologisch zusammensetzen. Nach Dilthey hat sich die externe Organisation der Gesellschaft im Verlauf der Zeit ausdifferenziert. Demnach ist die externe Organisation in ihrem Zweckzusammenhang auch in sich differenziert zu beschreiben. Offenbar gelangt man dadurch nicht zu einer »internen Organisation«, aber doch zu einem »inneren Zusammenhang« (GS, Bd. I, S. 131).

Naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Psychologie Da Dilthey in den »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« die Psychologie als »reale« aufzufassen versucht, die er in methodischer Hinsicht als beschreibend und zergliedernd charakterisiert, sie indes manchmal nur als »deskriptive Psychologie« oder zuweilen gar nur als »analytische Psychologie« bezeichnet, und sie der damals noch jungen naturwissenschaftli68

chen »erklärenden Psychologie« als »nicht-erklärende Psychologie« gegenüberstellt, kann diese Untersuchung gegebenenfalls auch als ein erster Ansatz zu einem geisteswissenschaftlichen Programm der Psychologie gelesen werden (zu Diltheys Ausdrucksweise »Psychologie für die Geisteswissenschaften« vgl. GS, Bd. V, S. 168).1 Nach Dilthey basiert die erklärende Psychologie auf grundlegenden oder elementaren Einheiten, die nachträglich über bloß angenommene Konstruktionen (in der heutigen Kognitiven Psychologie oft als »Hypothetische Konstrukte« bezeichnet) zusammengesetzt werden. Dilthey kritisierte die damals aufkommende naturwissenschaftliche Psychologie in inhaltlicher und methodo­ logischer Hinsicht. Dabei befürchtete er vor allem die unberechtigte Erweiterung der naturwissenschaftlichen Psychologie auf Bereiche, die ihr nicht zustehen. Seiner Meinung nach ließen sich die naturwissenschaftlichen Konzepte und Methoden auf die meisten Teilgebiete der Psychologie nicht übertragen. Diltheys Darstellung der erklärenden Psychologie und seine Kritik an derselben wird in diesem Beitrag nicht dargestellt und kommentiert (vgl. Galliker, 2010a). Hier sei nur darauf hingewiesen, dass diese Kritik seinerzeit eine heftige Kontroverse auslöste (vgl. Galliker, 2010b). Ebbinghaus wies diese Kritik zurück und kritisierte seinerseits Diltheys geisteswissenschaftlichen Ansatz der Psychologie. An dieser Stelle sei nur wiederholt, dass Ebbing1

Von einigen Interpreten wurde Diltheys Psychologie auch »verstehende Psychologie« genannt, wofür es in seinem Werk zumindest dem Signifikat nach Anhaltspunkte gibt. Den Signikanten Verstehen verwendet er u. a. in den »Ideen«, wenn er z. B. schreibt, dass wir »im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen« ausgehen (vgl. u. a. GS, Bd. V, S. 172). In den »Zusätzen aus den Handschriften« qualifiziert er das Verstehen gleichsam methodologisch als »das grundlegende Verfahren für alle weiteren Operationen der Geisteswissen­ schaften« (vgl. GS, Bd. V, S. 333). Mithin kann auch die Psychologie, die laut Dilthey die Grundlage der Geisteswissenschaften bilden soll, »verstehende Psychologie« genannt werden. Zum psychologischen Programm Diltheys siehe Galliker (2013, S. 193–207; 2015b, S. 146–150). Allerdings stellt sich die Frage, ob Dilthey auch als »Begründer der geisteswissenschaftlichen Psycho­ logie« bezeichnet werden kann, spricht doch einiges dafür, dass er die Wurzeln seines eigenen Denkens bei Wilhelm Wundt fand, bei dem nur dessen mittlere Schaffensphase als ausgesprochen naturwissenschaftlich und experimentalpsychologisch betrachtet werden kann (vgl. Jüttemann, 2006, S. 23 ff.).

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haus zwar Diltheys Kritik in zentralen Punkten nicht verstand oder nicht verstehen wollte, obwohl sie weitgehend zutreffend war und auch noch hinsichtlich der heutigen akademischen Psychologie teilweise geltend gemacht werden kann. Allerdings vermisste Ebbinghaus zu Recht die Klarheit in der Darstellung sowie ein Beispiel einer Untersuchung im Sinne einer »Psychologie für die Geisteswissenschaften« (Galliker, 2013, S. 201). Im Zentrum von Diltheys Psychogie stehen die Lebenszusammenhänge des Menschen. In diesen Lebenszusammenhängen erlebt der Mensch seine je besondere Welt. Dem Erlebnis kommt in Diltheys Lebensphilosophie und Psychologie Priorität zu. Das Konzept beinhaltet Emotion, Volition und Kognition. Diese oft als grundlegende »Vermögen« missverstandenen Elemente bilden primär eine Einheit und lassen sich erst sekundär – für besondere wissenschaftliche Zwecke – voneinander trennen; was bedeutet, dass sie in der Forschung zu guter Letzt wiederum zu vereinigen sind, will man der Realität keine Gewalt antun. Für den Lebensphilosophen ist relevant, was und wie die Individuen die Welt und sich selbst erleben, wie sie ihre Lage zur Welt empfinden und was sie dazu denken. Trieb, Leidenschaften, Wille sowie Zweckmäßigkeit sind wesentlich für das, was der Autor »Leben« nennt. Auch das Denken ist durchaus von Bedeutung, aber es kommt ihm nicht Priorität zu. Dem Lebensphilosophen zufolge denken Menschen nicht losgelöst von ihren Erlebnissen. Da nach dem Autor die Menschen Zusammenhänge – bei der Darstellung seines geisteswissenschaftlichen Ansatzes meint er damit reale Zusammenhänge und nicht etwa nur quasi-­physikalische oder mathematische im Sinne der erklärenden Psychologie – immer in der Gesellschaft durch diese erfahren, können die Mitglieder einer Gesellschaft dieselben auch persönlich erleben und gedanklich nachvollziehen bzw. verstehen. Von Menschen verstanden werden können auch die mit den Menschen entstandenen Institutionen sowie die (Kultur-)Güter, wurden sie doch von ihnen geschaffen und werden von ihnen auch weiterhin reproduziert und/oder neu produziert: »In der Sprache, dem Mythos, der Literatur und Kunst, überhaupt in allen geschichtlichen Leistungen haben wir gleichsam gegenständlich gewordenes psychisches Leben vor uns: Produkte der wirkenden Kräfte, welche psychischer Natur sind« (GS, Bd. V, S. 199 f.). 70

Demnach wird nicht nur davon ausgegangen, dass von Menschen Gemachtes von eben diesen auch verstanden werden kann, sondern auch, dass psychische Prozesse in der Außenwelt erscheinen (quasi i. S. einer »externen Seele«). Zu dieser externen Welt gehören die von den Menschen (in langwierigen, nur teilweise bewussten gesellschaftlichen Prozessen) konstituierten Systeme des Staates, der Wirtschaft, der Religion, der Kunst und des Zusammenlebens. Aus der menschlichen Organisation dieser Systeme gehen dann auch die jeweils aktuellen Beziehungen der Individuen hervor, und zwar nicht nur in interindividueller, sondern auch in intraindividueller Hinsicht. Dilthey entnahm die entsprechenden Gedankengänge teilweise dem Lazarus-Steinthalischen Programm der Völkerpsychologie (Galliker, 1993). Auch wenn Dilthey sich zu Recht gegen die Hypostasierung der Gesellschaft gegenüber dem Individuum und dem Psychischen stellt und er die übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhänge in Einzelzusammenhängen zu verstehen versucht, abstrahiert er zwischenzeitlich – zumindest seiner Intention nach – weder vom Gesamtgesellschaftlichen noch vom Individuum, sondern versucht beide Bereiche durch die sozialen Interaktionen, die er gleichermaßen in sozialen wie in psychischen Strukturen verwurzelt, zu vermitteln (vgl. auch Acham, 2013). Nach Dilthey werden menschliche Beziehungen in gesellschaftlichen Zusammenhängen erfahren bzw. erlebt. Aus den übergreifenden Relationen gehen in inhaltlicher Hinsicht auch die psychischen Phänomene hervor und können entsprechend auch untersucht bzw. studiert und reflektiert werden. Indessen geschieht dies primär in ihren unmittelbar erlebten Verbindungen, wobei mit ihnen nicht nur bewusste, sondern auch weniger bewusste Züge derselben zum Vorschein kommen. Als Beispiel seien die direkt auf die Zweckzusammenhänge verweisenden Phänomene des Willens angeführt: »Wir studieren Natur, Gesetze, Zusammenhang unserer Willens­ handlungen an der äußeren Organisation der Gesellschaft, an der wirtschaftlichen und rechtlichen Ordnung. Hier haben wir dieselbe Objektivation des Zusammenhangs in unserem praktischen Verhalten vor uns, welche in Zahl, Zeit und Raum und den anderen Formen unserer Welterkenntnis für unser Wahrnehmen, Vorstel71

len und Denken vorliegt. Die einzelne Willenshandlung ist […] im Individuum nur der Ausdruck einer dauernden Willensrichtung, welche das ganze Leben erfüllen kann, ohne uns beständig gegenwärtig zu sein« (GS, Bd. V, S. 190). Dilthey zufolge orientiert sich die geisteswissenschaftliche Untersuchung psychischer Phänomene am Strukturzusammen­ hang derselben; ein Begriff, der sich auf das elementare Lebensverhältnis und nicht nur auf die seelischen Strukturen im einzelnen Individuum bezieht (intraindividueller Strukturzusammenhang), sondern auch auf Zusammenhänge zwischen einzelnen Individuen (interindividueller Strukturzuammenhang) oder mehreren Individuen bis hin zu gesellschaftlichen Verbänden (kollektiver Strukturzusammenhang). Der Zusammenhang ist Personen jeweils durch die innere Erfahrung in den Verhältnissen des Einwirkens auf die entsprechende Umgebung, der Rückwirkung in der Wechselwirkung mit derselben als ein geschichtlich-gesellschaftlicher und zugleich individuell-lebendiger gegeben. Erfahren wird ein äußerer Strukturzusammenhang, der »er-lebt« wird und mithin als »innerer« erscheint, als solcher indes nicht psychologistisch zu verstehen ist, sondern lediglich als »Innewerden der eigenen Zustände« (GS, Bd. V, S. 198).2 In Diltheys Verständnis ist das Innewerden des Strukturzusam­ menhangs die einfachste Form des »Bewusst-seins«. Demnach wird die »innere Welt« primär als Inneres der äußeren Welt betrachtet und nicht einfach als innerer Gegenstand der Introspektion im Unterschied zur gewöhnlichen Wahrnehmung eines externen Gegenstandes. Die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und die geisteswissenschaftliche Psychologie im Besonderen untersuchen die gesellschaftliche Realität »von innen«, mithin in ihrem lebendigen Zusammenhang. Wenn Menschen in diesem Lebenszusammenhang zur Besinnung kommen, kann ihnen dieses »(Innen-)Leben« respektive 2 Lessing (2011) neigt aufgrund diverser Stellen in Diltheys »Einleitung« zu dieser Interpretation, etwa wenn er in »Wilhelm Dilthey« (2011, S. 46) schreibt: »Dieses ›Darinnen-Sein‹ in einer ›immer schon‹ verstandenen Welt, das durch Erleben (bzw. Erlebnis), Verstehen und Beteiligung an der gesellschaftlichen Praxis vermittelt ist, erweist sich damit als Bedingung der geisteswissenschaftlichen Objektkonstitution«.

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das ihnen in diesem Zusammenhang nahe­gelegte gefühlsmäßige und gedankliche Leben auch wissenschaftlich zugänglich werden, insbesondere wenn dabei die menschlichen Vergegenständlichungen berücksichtigt werden.

Beschreibung und Zergliederung In den »Ideen« unterschied Dilthey die Vorgehensweise der »Psychologie für die Geisteswissenschaften« in die zwei Abschnitte Beschreibung und Zergliederung des Vorliegenden, wobei er weder vom Signifikat noch vom Signifikanten her immer eine klare Trennung vornimmt (u. a. wird recht häufig »Deskriptive Psychologie« und seltener auch »Analytische Psychologie« als Oberbegriff für deskriptive und analytische Psychologie verwendet). Methodologisch betrachtet erfolgt zunächst eine Beschreibung des Strukturzusammenhangs, wobei die objektiv gegebene feste Struktur der externen Welt, in welcher der Beschreibende steht, die konkrete Grundlage der Deskription bildet. Durch dieselbe werden regelmäßige Abfolgen von Vorgängen herausgehoben, wird auch unterschieden, verglichen, sondiert, wiederum verbunden. Zur Beschreibung kommt also – schon dem Signifikat nach – auch die Zergliederung der komplexen Wirklichkeit hinzu. Die mit dem beschriebenen Zusammenhang des Seelenlebens beginnende Analyse weist zurück auf Konstituenten seiner Entwicklung, wobei dieselbe nur in »Bestandteile gesondert (wird), die in der Wirklichkeit verbunden sind« (GS, Bd. V, S. 174). Beim Rückblick auf frühere Stufen der Entwicklung und der Sondierung ihrer Konstituenten und Bestimmung ihrer Momente habe der Forscher immer zu beachten, dass es sich bei dieser Isolierung um eine künst­liche handelt, die nur dazu beitragen kann, dass das »individuelle Seelen­ leben eine hellere Beleuchtung« erhält (GS, Bd. V, S. 214). Im Unterschied zur naturwissenschaftlichen Psychologie wird in der geisteswissenschaftlichen Psychologie der psychische Prozess von seinen höchsten Formen bis zu seinen elementarsten als Einheit aufgefasst. »Das Seelenleben wächst nicht aus Teilen zusammen; es bildet sich nicht aus Elementen; es ist nicht ein Komposi73

tum, nicht ein Ergebnis zusammenwirkender Empfindungsatome oder Gefühlsatome: es ist ursprünglich und immer eine übergreifende Einheit. Aus dieser Einheit haben sich seelische Funktionen differenziert, verbleiben aber dabei an ihren Zusammenhang gebunden« (GS, Bd. V, S. 211). Dilthey weist in den »Ideen« auch darauf hin, dass bei den geisteswissenschaftlichen Untersuchungen erlebter Strukturzusammenhänge die Herausarbeitung der Übergänge zwischen den Phänomenen relevant ist. »Weil wir dieser Übergänge […] inne werden, darum verstehen wir Menschenleben, Historie, alle Tiefen und Abgründe des Menschlichen« (GS, Bd. V, S. 206). Der Autor führt u. a. aus dem Bereich Emotion und Motivation folgendes Beispiel an: »Wer erführe nicht in sich, wie Bilder, welche der Phantasie sich aufdrängen, plötzlich ein heftiges Verlangen hervorrufen, oder wie dieses im Kampf mit dem Bewusstsein großer Schwierigkeiten doch zu einer Willenshandlung hindrängt?« (GS, Bd. V, S. 206). Die einzelnen Glieder eines Lebenszusammenhangs sind weder nach dem Gesetz der Natur (Kausalität) noch nach einem solchen der logischen Begründung (zureichender Grund) miteinander verbunden, sondern »der Zusammenhang zwischen diesen verschiedenartigen, nicht auseinander ableitbaren Bestandteilen ist sui gene­ ris« (GS, Bd. V, S. 213). Nach Dilthey erfolgt das Verständnis einer Entstehung durch sich selbst ohne vorgängige Deduktion aus übergeordneten Konstrukten wie bei der erklärenden Psychologie. Das Verstehen geht vom unmittelbar Vorgefundenen aus, von der psychischen Struktur als einem System innerer erlebbarer Beziehungen, und folgt den Vorgängen in der Abfolge in diesem Vorgegebenen. Indessen kann der psychische Strukturzusammenhang nicht ohne teleologisches Moment verstanden werden. »Ein Zusammenhang, welcher Lebensfülle, Triebbefriedigung und Glück zu erwirken die Tendenz hat, ist ein Zweckzusammenhang. Sofern die Teile in der Struktur so miteinander verbunden sind, daß die Verbindung Triebbefriedigung und Glück hervorzurufen, Schmerzen abzuwehren geeignet ist, nennen wir ihn zweckmäßig. Ja in der seelischen Struktur allein ist der Charakter der Zweckmäßigkeit ursprünglich gegeben, und wenn wir etwa dem Organismus oder der Welt Zweckmäßigkeit zuschreiben, so ist dieser Begriff nur aus dem inneren Erleben übertragen. Denn jede Beziehung von Tei74

len zu einem Ganzen erhält erst aus dem in ihr realisierten Wert den Charakter der Zweckmäßigkeit, dieser Wert aber wird nur im Gefühls- und Triebleben erfahren« (GS, Bd. V, S. 207). Dilthey versucht mit seinem Konzept des Zweckzusammenhangs die Trennung von Kausalität und Finalität in der Darstellung des anschaulich erfahrbaren Partikularen zu überwinden. Zusammen mit der Möglichkeit des Bewusstseins als Innewerden eines strukturellen Zusammenhangs eröffnet sich ihm ein neuer Wirklichkeitsbereich, der als phänomenologisch-hermeneutischer oder analytisch-synthetischer bezeichnet werden kann (s. u.). In den »Ideen« sah Dilthey seine Aufgabe darin, den Strukturzusammenhang im ausgebildeten Seelenleben herauszuheben respektive diesem in der architektonischen Gliederung des theoretischen Gebäudes seinen Platz zuzuweisen. Den psychischen Zusammenhang sieht der Autor bedingt durch die Lage dieser Lebenseinheit in Wechselwirkung mit der Umwelt. »Die Lebenseinheit steht mit der äußeren Welt in Wechselwirkung; die besondere Art dieser Wechselwirkung kann […] als Anpassung zwischen der psychophysischen Lebenseinheit und den Umständen, unter welchen sie lebt, aufgefaßt werden« (GS, Bd. V, S. 212). Jede Wechselwirkung des Menschen mit seiner Umwelt beinhaltet ein Moment der Zweckmäßigkeit. Dilthey reduzierte die Erfahrung nicht mehr auf das letztlich naturwissenschaftliche Reiz-Reaktions-Schema, das innerhalb der allgemeinen Psychologie der akademischen Psychologie bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus relevant war (insbesondere in der behavioristischen Lernpsychologie), sondern ging von einem umfassenderen Erfahrungskonzept aus. Die Erfahrung im Sinne Diltheys wird als Triade von Wirklichkeitsauffassung (Denken), Wertgebung (Fühlen) und Zwecksetzung (Wollen) verstanden. Es sind also drei Teile zum Zusammenhang des Seelenlebens vereinigt. Diesen Zusammenhang nennt Dilthey psychische Struktur (Rodi, 2016; vgl. GS, Bd. V, S. 373). Die Triade von Denken, Fühlen und Zwecksetzung ist hinsichtlich einer »Psychologie des Lebens« von wesentlicher Bedeutung, doch wird sie erst historisch-gesellschaftlich eingebettet »sinnvoll«; ein Zusammenhang, der Dilthey zufolge doch wieder nur »in sich«, »psychisch« erfahren und eingesehen werden kann: 75

»Wie die Systeme der Kultur: Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft, wie die äußere Organisation der Gesellschaft in den Verbänden der Familie, der Gemeinden, der Kirche, des Staates aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele hervorgegangen sind, so können sie schließlich auch nur aus diesem verstanden werden. Psychische Tatsachen bilden ihren wichtigsten Bestandteil, ohne psychische Analyse können sie also nicht eingesehen werden. Sie enthalten Zusammenhang in sich, weil Seelenleben ein Zusammenhang ist. So bedingt das Verständnis dieses inneren Zusammenhangs in uns überall ihre Erkenntnis. Sie konnten als eine übergreifende Macht über den einzelnen nur entstehen, weil Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit im Seelenleben besteht und eine gleiche Ordnung für die vielen Lebenseinheiten ermöglicht« (GS, Bd. V, S. 147 f.; Hervorh. M. G.).

Äußere Erfahrung und innere Erfahrung In der Schrift »Beiträge zum Studium der Individualität« (1896/1990) weist Dilthey darauf hin, dass die Allgemeine Psychologie, auf die er sich in den »Ideen« beschränkt habe, in ihrem Gegenstande die Gleichförmigkeit des Seelenlebens suche, was unter Abstraktion von den individuellen Differenzen erfolge. An dieser Stelle kann indes nicht auf Diltheys Vorstellungen zur Differen­ziellen Psychologie (sowie dessen Vergleichende Psychologie) in seinem »Studium der Individualität« eingegangen werden. In unserem methodologisch orientierten Zusammenhang interessiert dieses Studium nur hinsichtlich des Erfahrungskonzepts, das in diesem Beitrag dargestellt wird und das sich aus äußerer und innerer Erfahrung zusammensetzt: Dilthey versteht unter einer äußeren Erfahrung »den Vorgangsinbegriff, in welchem durch das diskursive Denken eine oder mehrere äußere Wahrnehmungen in einen solchen Zusammenhang gebracht werden, daß diese Wahrnehmungen dadurch zu besserem Verständnis erhoben und die Erkenntnis der Außenwelt dadurch erweitert wird« (GS, Bd. V, S. 243). 76

Die innere Erfahrung entsteht aus der äußeren Wahrnehmung durch das Innewerden von Vorgängen. Unter den resultierenden internen Vorgängen bzw. der internen Erfahrung versteht Dilthey »den Vorgangsinbegriff, in welchem durch das diskursive Denken eine oder mehrere innere Wahrnehmungen in einen solchen Zusammenhang gebracht werden, daß diese geistigen Tatsachen dadurch zu besserem Verständnis erhoben und unsere Erkenntnis der inneren Welt dadurch erweitert wird« (GS, Bd. V, S. 245). Das durch die innere Erfahrung Gegebene kann wiederum auf äußere Objekte übertragen werden (GS, Bd. V, S. 250). Nach Dilthey ist die Wirklichkeit, die in ihrem äußeren Erscheinen, in Wirkungen oder als objektivierter Niederschlag vom Leben vorgegeben und konkret erfahrbar ist, in »geistige Lebendigkeit« (zurück-)übersetzbar, so wie die den Strukturzusammenhängen innewohnenden geistigen Erfahrungen wiederum auf externe Objekte übertragen werden können. Diese Transposition erlaube es, aus der Fülle eigener Erfahrungen externe Erfahrungen nachzubilden bzw. zu verstehen, was es auch ermögliche, »in der Lebendigkeit die Ursachenund Wirkungszusammenhänge aufzufinden«, wobei es sich nicht um eine Erklärung von, durch und mit Konstrukten, sondern um ein »Verständnis der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit« handle (GS, Bd. V, S. 265). Dem Lebensphilosophen zufolge sind zwar die geistigen Tatsachen primär im individuellen Erleben gegeben, doch aus der Fülle eigener Erlebnisse werden durch die Transposition auch andere Erlebnisse nachgebildet und verstanden (Dilthey, 1896/1990, S. 263). In epistemologischer und wissenschaftlicher Hinsicht scheint hier der Primat den externen Objekten zugedacht werden zu können. Dies trifft zwar nicht für alle Textstellen zu, aber beispielsweise auch für die folgende: »Die Geisteswissenschaften […] ordnen ein, indem sie zu allererst und hauptsächlich die sich unermeßlich ausbreitende geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie nur in ihrem äußeren Erscheinen oder in Wirkungen oder als bloßes Produkt, als objektivierter Niederschlag vom Leben uns gegeben ist, zurückübersetzen in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen ist« (GS, Bd. V, S. 265, Hervorh. M. G.).

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Erlebnis und Begriff Wenngleich es im vereinbarten »Dilthey im Diskurs« und damit auch in diesem Beitrag vor allem um die Methodologie der Psychologie und allenfalls auch um »das Wesen der Psychologie« bei Dilhey geht, möchte ich an dieser Stelle kurz auf Diltheys Schrift zum »Wesen der Philosophie« (1907) eingehen, beinhaltet sie doch hinsichtlich der Psychologie ebenfalls relevante Passagen. Wie in anderen Werken bestimmt oder besser umschreibt Dilthey im »Wesen der Philosophie« den Begriff der psychischen Struktur. Dies geschieht wiederum mit einem Verweis auf das Konzept der Wechselwirkung, die er hier allerdings nur auf das »Milieu« bezieht: »Die Grundform dieses seelischen Zusammenhangs ist dadurch bestimmt, daß sich alles psychische Leben von seinem Milieu bedingt findet und rückwärts auf dies Milieu zweckmäßig einwirkt« (GS, Bd. V, S. 373). Dilthey weist wie schon in den »Ideen« darauf hin, dass der psychische Strukturzusammenhang einen teleologischen Charakter hat, was er insbesondere anhand der Auffassung externer Gegenstände erläutert: »So macht schon innerhalb des gegenständlichen Auffassens eine Zielstrebigkeit sich geltend; die Formen der Repräsentation irgendeiner Wirklichkeit bilden Stufen, in einem Zweckzusammenhang, in welchem das Gegenständliche zu immer vollständigerer und bewußterer Repräsentation gelangt. Diese Verhaltungsweise, in der wir das Erlebte und Gegebene auffassen, erzeugt […] sonach den Zweckzusammenhang der Wirklichkeitserkenntnis« (GS, Bd. V, S. 373; Hervorh. M. G.). Demnach ist der Einzelmensch als isoliertes Wesen eine bloße Abstraktion, die allenfalls aus methodologischen Gründen erfolgt, indes immer nur zwischenzeitlich. Ein konkretes Verständnis einer Person kann allenfalls über die sukzessive Berücksichtigung einer Reihe von Voraussetzungen erreicht werden, u. a. der klimatischen Verhältnisse, der sozialen Klassen, des örtlichen Zusammenlebens, des Zusammenwirkens bei der Arbeit, der zwischenmenschlichen Interaktionen in der Freizeit, den besonderen Dominanzverhältnissen innerhalb und außerhalb der Produktion usw. Die Person wird de facto Moment der ihr vorgegebenen Gesellschaftlichkeit. So involviert, bleibt die Person nicht unbedingt ausschließlich Objekt, 78

sondern kann sich gegebenenfalls auch zum Subjekt aufschwingen; ein Vorgang, der durch das Prinzip der ursächlich wirkenden Zwecke angelegt ist (s. Näheres unter »Kausalität und Finalität«, S. 81 ff.). Die immanente Zweckmäßigkeit äußert sich in der Geschichte als Veränderung oder in bestimmten Bereichen auch als Entwicklung. Voraussetzung dazu ist die Tradierung, die es Menschen gestattet, mit ihren eigenen Erfahrungen und Produktionen auf fortgeschrittenem gesellschaftlichem Niveau anzusetzen. Die »Erzeugnisse jeder Art bestehen fort als Grundlage für immer neue Generationen« (GS, Bd. V, S. 375). Deshalb ist die Psyche des Menschen nicht wie in der zeitgenössischen Allgemeinen Psychologie im gesellschaftlichen Vakuum zu (re-)konstruieren, sondern als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse zu verstehen und zugleich als Subjekt zu beschreiben und zu analysieren. Personen begründen sich in ihren Lebensverhältnissen selbst und immer wieder anders. Dilthey versuchte, den bestehenden Dualismus von Kausalerklärung und Darstellung des anschaulich erfahrbaren Partikularen zu überwinden. Er verwendet dabei heterogene Kategorien, die als solche beweglich sind und auch neuen Lebensverhältnissen angeglichen werden können. Die Mannigfaltigkeit der Anschauung wird nicht wie in der heutigen Kognitiven Psychologie von übergeordneten allgemeingültigen Kategorien des Verstandes aus untersucht: Erst indem sich der Wissenschaftler von ewig gleichen Gesichtspunkten und notwendigen Zusammenhängen verabschiedet, kann er ihrem Gegenstand überhaupt gerecht werden und ihn auch wissenschaftlich verstehen. Statt Formalismen zu verwenden, arbeitet Dilthey mit flexiblen Begriffen möglichst entlang den von ihnen referierten und erlebten Gegenständen. In seiner Psychologie spielt das Erlebnis eine mindestens ebenso große Rolle wie der Begriff. Aus der Art, wie das Leben Sinn macht, entstehen auch die Begriffe. Dies kann hinsichtlich des täglichen Lebens für die sogenannten Alltagsbegriffe angenommen werden, aber auch hinsichtlich der Wissenschaft für die in ihr verwendeten Konzepte. Es stellt sich die Frage, welches Verhältnis zwischen Erlebnis und Begriff besteht. Diltheys Antwort lautet wie folgt: »In der geisteswissenschaftlichen Methode liegt die beständige Wechselwir79

kung des Erlebnisses und des Begriffs. In dem Nacherleben der individuellen und kollektiven Strukturzusammenhänge finden die geisteswissenschaftlichen Begriffe ihre Erfüllung, wie andererseits das unmittelbare Nacherleben selbst vermittels der allgemeinen Formen des Denkens zu wissenschaftlicher Erkenntnis erhoben wird. Wenn diese beiden Funktionen des geisteswissenschaftlichen Bewußtseins zur Deckung gelangen, dann erfassen wir das Wesenhafte der menschlichen Entwicklung« (GS, Bd. V, S. 341). Nach Dilthey soll im Bewusstsein kein Begriff sein, der sich nicht geformt hat an der ganzen Fülle des historischen Nacherlebens; kein Allgemeines darf in ihm sein, das nicht aus der historischen Realität extrahierbar ist. Dilthey zufolge will die wissenschaftliche Erkenntnis zum Wesenhaften und Notwendigen gelangen. Seinem Dafürhalten nach kann dies nur dann gelingen, wenn die Strukturzusammenhänge des individuellen und des gesellschaftlichen Lebens durch sogenannte Subjektbegriffe verstanden werden. »Ihr Charakter ist dadurch bedingt, daß sie nicht nur einen Sachverhalt ausdrücken, der in einer Vielheit von Subjekten stattfindet, sonach ein Gleichförmiges, Allgemeines, das in diesen sich wiederholt, sondern zugleich einen inneren Zusammenhang, zu welchem die verschiedenen Personen durch diesen Sachverhalt miteinander verknüpft sind« (GS, Bd. V, S. 342).3 Wissenschaft besteht indes nicht zuletzt darin, zu klar umrissenen Begrifflichkeiten zu gelangen. Doch kann man nach Dilthey nicht bei entsprechend getrennten Begriffen stehenbleiben, die zudem als starre Konzepte fixiert werden. Nur für den Verstand sind Dinge getrennt, die in Wirklichkeit eine Einheit bilden. Nicht nur Erlebnis und Begriff gehören realiter zusammen, sondern auch Idee und Wirklichkeit, Geist und Natur, Mechanismus und Organismus, Kausalität und Finalität.

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Diltheys Verständnis des Verhältnisses von Erlebnis und Begriff übte in Theorie und Praxis einen großen Einfluss auf Eugene Gendlin aus, dem neben Carl Rogers wohl wichtigsten Vertreter der weitgehend geisteswissenschaftlich geprägten Humanistischen Psychologie, vgl. u. a. Gendlin (1978/1991; 1997/2016).

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Kausalität und Finalität Diltheys »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« (1910) geht von der Psychologie als Grundlage der Geisteswissenschaften aus und stellt an sie folgende Ansprüche: Sie bestimmt die Genese des Wissens, klärt den Aufbau der geistigen Welt in den einzelnen Bereichen und formuliert eine entsprechende Methodologie. Es stellt sich die Frage, ob diesen Ansprüchen auch entsprochen werden kann. Die geistig-geschichtliche Welt wird als Wirkungszusammenhang betrachtet, der sich vom Kausalzusammenhang der Natur durch Erzeugung von Werten und der Realisierung von Zwecken unterscheidet. Als individueller Wirkungszusammenhang kann die Lebenseinheit des Individuums verstanden werden. Der Wirkungszusammenhang wird im Unterschied zum natürlichen Kausal­ zusammenhang erlebt. Er wird auf den Strukturzusammenhang des Seelenlebens zurückgeführt, obwohl er denselben übergreift, was zu forschungslogischen Problemen führen wird. Der frühere Begriff Zweckzusammenhang wird im »Aufbau« meistens durch den Begriff Wirkungszusammenhang substituiert. Während mit dem »Zweck« im Zweckzusammenhang das Ziel einer Handlung anvisiert wird, bezieht sich die »Wirkung« im Wirkungszusammenhang auf eine verursachende Kraft, die zu einem dadurch hervorgerufenen Ergebnis, in der Regel zu einer eben bewirkten Veränderung führt. Im Unterschied zum Zweckzusammenhang wird also mit dem Wirkungszusammenhang nicht nur ein Ziel in Aussicht gestellt, sondern auch ein Ergebnis erzielt. Der Wirkungszusammenhang ist nicht so zu verstehen, dass die Person, die in ihrem Zentrum steht, nur die Wirkung einer Ursache ist. Im Gegenteil: Das Subjekt wird selbst aktiv und realisiert sein beabsichtigtes und damit schon vorgängig bewertetes Ziel. Damit wird es auch mit Leistungen in Verbindung gebracht: »[Der] Wirkungszusammenhang unterscheidet sich von dem Kausalzusammenhang der Natur dadurch, daß er nach der Struktur des Seelenlebens Werte erzeugt und Zwecke realisiert. Und zwar nicht gelegentlich, nicht hier und da, sondern es ist eben die Struktur des Geistes, in seinem Wirkungszusammenhang auf der Grundlage des Auffassens Werte zu erzeugen 81

und Zwecke zu realisieren. Ich nenne dies den immanent-teleologischen Charakter der geistigen Wirkungszusammenhänge. Unter diesen verstehe ich einen Zusammenhang von Leistungen, der in der Struktur eines Wirkungszusammenhanges gegründet ist« (GS, Bd. VII, S. 153). Das Konzept der Leistung verweist auf die Produkte oder Schöpfungen, die aus dem Wirkungszusammenhang hervorgehen: »Die so entstehende Leistung besteht in der Auffassung der geistigen Welt als eines Wirkungszusammenhanges oder eines Zusammenhanges, der in dessen dauernden Produkten enthalten ist. Die Geisteswissenschaften haben ihren Gegenstand an diesem Wirkungszusammenhang und dessen Schöpfungen« (GS, Bd. VII, S. 153). Wo es gilt, die Produkte der Objektivationen zu analysieren, besteht die Aufgabe darin, den Wirkungszusammenhang, in dem sie entstanden sind, zu erfassen. Die den Wirkungszusammhang repräsentierenden Begriffe beziehen sich auf Vorgänge, Geschehen und Handlung. In erster Linie bringen sie die dem Wirkungszusammenhang innewohnende Veränderlichkeit und Unruhe, die sich in ihm vollziehende Zwecksetzung zum Ausdruck. Der Wissenschaft entsteht dann die Aufgabe, »die Beziehungen in den Begriffen dementsprechend zu bilden« (GS, Bd. VII, S. 157). Doch noch bevor wir uns der Frage zuwenden können, ob und wenn ja, wie Dilthey diese Beziehungen aus dem Wirkungszusammenhang herausarbeiten kann, müssen wir uns fragen, wie überhaupt ein Wirkungszusammenhang aus dem mannigfaltigen Geschehen heraushebbar ist. Personen leben in der Regel in komplexen Beziehungszusammenhängen. Beispielsweise ist ein Richter nicht nur am Gericht tätig, sondern er ist noch in verschiedene andere Wirkungszusammenhänge involviert; er ist Mitglied einer Familie, in einer Partei ist er politisch tätig, in seiner Freizeit geht er vielleicht diversen Beschäftigungen nach (vielleicht ist er Mitglied eines Segelclubs, organisiert eine Lesegruppe, nimmt neuerdings auch Tanzstunden usw.). Dilthey bezieht sich indes – wenigstens diesbezüglich – nicht auf einzelne Personen, sondern auf deren Funktionen: »So sind […] nicht Individuen in ihrer Ganzheit zu solchem Wirkungszusammenhang verbunden, sondern inmitten der Mannigfaltigkeit der 82

Wirkungsverhältnisse sind nur die­jenigen Vorgänge aufeinander bezogen, die einem bestimmten System angehören, und der einzelne ist in verschiedenen Wirkungs­zusammenhänge verwebt« (GS, Bd. VII, S. 167). Aus dem Zusammenwirken mehrerer, oft vieler Individuen, die den gleichen Zweck verfolgen, ergeben sich überindividuelle Strukturen, wie beispielsweise jene des Rechtssystems mit seinen Gesetzestexten, Gerichten, Richtern, Anwälten usw. Überindividuelle Wirkungszusammenhänge sind Zusammenhänge, in denen verschiedene Individuen aufgrund mehr oder weniger gleicher Interessen auf das gleiche Ziel hin ausgerichtet sind. Die überindivi­duellen Strukturen gewinnen mit der Zeit an Eigenständigkeit und verfestigen sich zu eigentlichen Systemen. Sie verselbstständigen sich und bestimmen einander übergreifend immer mehr das Denken, Sprechen und Verhalten der in ihnen involvierten Menschen. Im Unterschied zu einem bloßen Phänomenalismus nach Husserl’schem oder auch Mach’schem Muster geht es Dilthey zufolge darum, einen »Realismus« nicht nur der Außenwelt in einem allgemeinen, sondern durchaus in einem konkret-­ gesellschaftlichen Sinne anzustreben. Erkennen und Handeln der Geisteswissenschaften realisiert sich an geistigen, körperlichen und auch institutionellen Objekten. Zwar stellt Dilthey das Individuum und dessen Bewusstsein ins Zentrum seiner Deskription und Analyse, doch entsteht dessen Welt in den Überschneidungen verschiedener Systeme, die im Leben einer Person von Bedeutung sind: »Es sind neue Katego­rien, Gestalten und Formen des Lebens, an die wir uns wenden müssen und die am Einzelleben selbst nicht aufgehen. Das Individuum ist nur der Kreuzungspunkt für Kultursysteme, Organisationen, in die sein Dasein verwoben ist« (GS, Bd. VII, S. 251).4

4 Bereits in der »Einleitung« (1883/1990) schrieb Dilthey, dass das einzelne Individuum »[…] ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen [ist], welche sich im Verlauf der fortschreitenden Kultur immer feiner spezialisieren« (GS, Bd. I, S. 51). Der Begriff Kreuzungspunkt resp. »Kreuzen« wird in Eugene Gendlins »Ein Prozess-Modell« (1997/2016) eine wichtige Rolle spielen.

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Die Wirkungszusammenhänge (z. B. soziale Verbände) werden auf verschiedenen Ebenen gesehen. »Soziale Verbände sind in dieser Einheit übereinander gelagert, und jeder derselben ist ein relativ selbständiger Wirkungszusammenhang« (GS, Bd.  VII, S. 174). In jeder Gesellschaft überlagern sich die Wirkungszusammenhänge und stehen in bestimmten Verbindungen zueinander. Nach Auffassung Diltheys ist auch der Staat selbst ein Wirkungszusammenhang – sowohl in seiner internen als auch in seiner externen Macht, die als solche auf andere Gesellschaften und Kultursysteme hinausgreifen kann. Doch wie lässt sich ein Wirkungszusammenhang bestimmen? Ein Wirkungszusammenhang ist sozial eingebettet. Um einen Angriffspunkt für die Feststellung eines solchen zu erhalten, gilt es nach Dilthey zunächst eine einzelne Wirkung zu finden. Zu dieser werden rückwärts schreitend die einzelnen Momente aufgesucht. Wenn unter diversen Faktoren nur einer als wirksam erachtet werden soll, wird dessen Bestimmung umso schwieriger. Diltheys Anweisung zur Bestimmung eines einzelnen Wirkungszusammenhangs berücksichtigt u. a. das Forschungsziel: »Wir grenzen irgendwo den unbegrenzten ursächlichen Konnex nach der Bedeutung der Momente und nach unserem Zwecke ab. So heben wir einen Wirkungszuammenhang heraus, um die in Frage stehende Veränderung zu erklären« (GS, Bd. VII, S. 158; Hervorh. M. G.). Nach Dilthey basiert das Studium der Gesellschaft auf der Analyse und Synthese ihrer Wirkungszusammenhänge. Indessen kann man sich fragen, wie eine solche Untersuchung vor sich geht, bleibt doch der Aufbau der einzelnen Zusammenhänge in ihrer komplexen Zusammensetzung unbestimmt. Allerdings weist Dilthey schon im »Aufbau« auf die Aufgabe hin, die darin besteht, »ganz systematisch von unten die Regelmäßigkeiten zu studieren, welche die Struktur des Wirkungszusammenhanges in den Trägern desselben vom Individuum aufwärts ausmachen« (GS, Bd. VII, S. 185). Im Weiteren weist Dilthey darauf hin, dass die Analyse vom Konkreten zum Abstrakten fortgeht von dem wissenschaftlichen Studium der natürlichen Gliederung der Menschheit und der Völker zur Sonderung der einzelnen Wissenschaften der Kultur und der Trennung der Gebiete der äußeren Organisation der Gesellschaft (GS, Bd. VII, S. 187). 84

Subjekt und Objekt Dilthey schreibt in den »Zusätzen zum Aufbau der geschichtlichen Welt« (1926c/1965): »Die äußeren Objekte, alle Schwerter, alle Kronen, Gold und Pflugschar, die der Historiker bedarf, sind […] Bestandteile der Erlebnisse. Ich erinnere mich an den historischen Vorgang des französischen Krieges, den ich miterlebt habe. Dann sind diese äußeren Vorgänge ein Bestandteil von Erlebnissen. Als solche gehören sie dem Leben selber an. Sie sind ja auch nicht bloße optische Phänomene. Ihre Realität ist eben die, welche in dem Lebensbezug des Verhältnisses von Impuls und Hemmung, von dem Druck eines Unabhängigen, sonach von Wirken auf ein wollendes Subjekt besteht« (GS, Bd. VII, S. 334; Hervorh. M. G.). Die Vorgänge der Zweckzusammenhänge gehen in den inneren Vorgängen eines Subjekts auf. Bei diesen Vorgängen kann es sich offenbar auch um solche einer materiellen, ja kriegerischen Welt handeln. Zweifellos wirken dieselben auf das Subjekt ein. Dilthey bezieht sich indes meistens auf die »geistige Welt«, insbesondere wenn er deren Einfluss auf das Subjekt aufzeigt, sowie auf dessen Rückwirkung auf die Umwelt. »So ist einerseits diese geistige Welt die Schöpfung des auffassenden Subjektes, andererseits aber ist die Bewegung des Geistes darauf gerichtet, ein objektives Wissen in ihr zu erreichen« (GS, Bd. VII, S. 191). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Konsti­ tution der geistigen Welt im Subjekt ein Wissen der ideellen sowie materiellen Wirklichkeit möglich macht. Dilthey versuchte zunächst die Konstituierung des Subjekts phylogentisch zu verstehen, wobei er, wenngleich nur skizzenhaft und über seine Werke verstreut, vom natürlichen Stoffwechsel über soziale Interaktion bis zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Widerständig­ keit der Realität gelangte.5 5 In diesem Zusammenhang ist auch zu verstehen, dass Dilthey an einzelnen Stellen seines Werkes das einfache Reiz-Reaktions-Muster thematisiert. Sein Anliegen war eigentlich von Anfang an, ein Muster zu finden, in dem zwischen Reiz und Reaktion vermittelt wird. Dies versuchten schließlich auch die Neobehavioristen und bis heute die Kognitiven Psychologen, allerdings in einem rein objektivistischen Sinne, vgl. u. a. Foppa (1965).

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Der Autor verfolgte die Entwicklung der Lebewesen zu höheren Formen und untersuchte, wie sich das Leben schließlich nach deren Innenseite hin artikulierte. »Dieser inneren Artikulation entspricht die äußere des tierischen, organischen Körpers in einer Reihe von Stufen. Zwischenglieder zwischen dem Eindruck und der vollzogenen Bewegung mehren sich. Das Anfangs- wie das Endglied nehmen zusammengesetzte Formen an« (GS, Bd. XIX, S. 345; Hervorh. M. G.). Zwischen Eindruck und Bewegung ist schon in der aufsteigenden Reihe der Tiere eine allmähliche Zunahme der psychischen Mitte bemerkbar« (GS, Bd.  XIX, S. 103). Schließlich erscheint der Mensch, »dessen Innerlichkeit sein Wahrnehmen leitet und formiert und seine Handlungen in jedem Momente beherrscht« (S. 104). Diese Entwicklung kann in ein Schema gefasst werden, in dem sich aus dem infrahumanen Bereich ein humaner Teilbereich herausstellt. In diesem sieht der Autor auch die Basis, ja den Beweis, für seinen Ansatz: »In diesem umfassenden […] Zusammenhang, in dessen Verhältnis zu unserem intellektuellen Innenleben liegt der überzeugende, unantastbare Beweis dafür, daß Denken im Leben auftritt, an dieses gebunden ist und im Dienste seines Zusammenhangs steht« (GS, Bd. XIX, S. 345). Unantastbar ist dieser »Beweis« wohl kaum. Allerdings kann man davon ausgehen, dass jeder Mensch weiß, auch wenn er sonst nichts weiß, dass er vor der Reaktion auf eine Reizung nachdenken oder unmittelbar reagieren kann. Zum Schema gehört, dass das Subjekt (oder wenn man will: das Selbst) von außen affiziert wird und seine Rückwirkung auf Dinge und Menschen in der Außenwelt ausübt (GS, Bd. VII, S. 322). Auf eine Person wirkt von außen etwas ein und sie bewirkt selbst etwas, hat selbst eine Auswirkung. Demnach handelt es sich um einen Einwirkungs-Auswirkungs-Prozess. Weitergehend in der Entwicklung wird die Person zu etwas veranlasst und veranlasst selbst etwas. Sie wird bewegt und setzt selbst etwas in Bewegung, löst selbst etwas aus. Offenbar ist in diesem Prozess etwas zusammengeschlossen, was sich auseinanderlegen lässt. Allerdings kann man sich fragen, wie aus der Einwirkung Auswirkung wird. Einwirkung und Auswirkung sind doch Gegensätze. Oder gibt es etwas, das zwischen Einwirkung und Auswirkung vermittelt? Dazu wäre ein Mittleres notwendig. Existiert ein Drittes, das zwischen Einwirkung und Auswirkung vermittelt? 86

Im Verlaufe der Phylogenese der Lebewesen sind dieselben immer weniger in Reaktionsmechanismen eingebunden und gelangen mit der Homogenese auch in Wirkmechanismen und Wirkzusammenhänge, in denen sich den Menschen Freiräume eröffnen, die ihnen Besinnung und damit schließlich auch die Sprache nahelegen, worauf bereits Herder hingewiesen hatte (Herder, 1772/1966, S. 26). Ist die Besinnung das gesuchte Dritte? Im Begriff Besinnung steckt der Signifikant Sinn, dessen Signifikat der geistige Gehalt von etwas ist; Sinn meint auch die Fähigkeit von Wahrnehmung und Empfindung in Beziehung zu etwas, nicht zuletzt zu sich selbst (vgl. Duden, 2010, S. 857). Wenn man sich besinnt, wird man seiner Umwelt und zugleich sich selbst bewusst(er), man überlegt sich etwas eine Weile lang, erinnert sich an etwas und möglicherweise beabsichtigt man auch etwas. Dilthey bezeichnete diese Vorgänge in den »Ideen« wie erwähnt als Innewerden. Indessen führt es vorerst nur zu einem eher diffus wahrgenommenen Zusammentreffen und Ineinanderfließen verschiedener Erlebnisinhalte. Diese Kontiguität geht reflektierenden Unterscheidungen voraus. In »Leben und Erkennen« beschreibt der Lebensphilosoph und Erkenntnistheoretiker der Geisteswissenschaften die Entstehung und einfachste Ausgestaltung des Innenlebens wie folgt: »Die Urzelle des inneren Lebens ist überall der Fortgang vom Eindruck aus dem Milieu des Lebewesens zu der Bewegung, die das Verhältnis zu diesem Milieu im Lebewesen anpaßt. Es gibt in allem Innenleben keine ursprünglichere Verbindung als diese. Sie ist da, ohne daß noch die Fähigkeit des Lebewesens, Eindrücke zu empfangen, sich in ein Mannigfaltiges von Empfindungen differenziert hätte. Alle Kunstgriffe der Natur, unser Wahrnehmen dem äußeren Wirklichen anzupassen, entstehen erst auf der Grundlage dieses ursprünglichen Verhältnisses« (GS, Bd. XIX, S. 345). Demnach ist das Innenleben ursprünglich noch kaum strukturiert. Es handelt sich um ein »Gemisch« aus ursächlichen und zweckmäßigen, passiven und aktiven, wahrnehmenden und begehrenden, vorhergehenden und nachfolgenden Komponenten. Aus ihm lösen sich allmählich zwei psychische Bereiche voneinander, die nun auch entsprechend voneinander unterschieden werden können. »Allmählich schaltet sich […] zwischen diesen beiden Abteilungen des Verlaufs der psychischen Handlung ein selbstän87

dig arbeitendes psychisches Leben ein, in dem Vorstellungen durch einen rein inneren Ablauf hervorgerufen werden; ein Zentrum gestaltet sich, von welchem aus dann sowohl Wahrnehmen und Fühlen als Begehren und Handeln mitbestimmt, ja in vielen Fällen geleitet werden« (GS, Bd. XIX, S. 103). Nach Dilthey besteht der psychische Zusammenhang in einer regelmäßigen Anordnung von Momenten, die zueinander in Beziehung stehen. Zugleich bestehen Beziehungen der Teile zum Ganzen (GS, Bd.  VII, S. 325). Ansonsten ist dasjenige, was in diesem Zusammenhang vorkommt, noch unbestimmt und erscheint, nicht näher betrachtet, meistens nur als Konglomerat mit dem Bindemittel des Subjekts. Zuweilen kann sich subjektiv ein ausgeglichenes Bewusstsein ausbilden. Meistens wird allerdings nur für kurze Zeit ein Zustand des Gleichgewichts erreicht. Das angenehm affizierte Subjekt genießt in diesem Fall seinen Zustand; es ist sozusagen wunschlos glücklich. »Alles Begehren erscheint dann erfüllt, der Wille schweigt, es ist ein Ruhepunkt in der Veränderlichkeit des Lebens. Spiegelklar und hell ist die Fläche der sonst so bewegten Seele. Aber nur ein Moment, und zwischen der Außenwelt und dem Gefühlsleben ist diese Harmonie vorüber« (GS, Bd. VII, S. 332). In der Folge wird wieder begehrt, was noch nicht ist. Im Wahrnehmen und Erkennen oder dann erst im externen Verhalten zeigt sich die Spannung des Willens erneut. Die Bedeutung oder diese Lebenseinheit bezeichnet Dilthey bekanntlich als Zweck. Mit dem zweckbewussten Willen verbindet er die Souveränität der Menschennatur. Gelegentlich schwingt sich der Autor geradezu zu einem Verständnis eines »mächtigen Willens« auf, das mit jenem Schopenhauers oder gar Nietzsches vergleichbar ist: »Dieser zweckbewusste Wille ist aber in der ganzen Gesellschaft und Geschichte das Siegreichste und Machtvollste. Ihm muß sich alles unterwerfen, auch die last- und leidvollsten Lebensverhältnisse, selbst wo diese Lebensverhältnisse den Willen und das Leben, welches ihn trägt, vernichten« (GS, Bd. XIX, S. 377). Andererseits wird der Mensch extern bestimmt, ja wird nicht selten zum Objekt gemacht. Dilthey intendiert, Kausalität und Finalität, Vergangenheit und Zukunft, Objektivität und Subjek­ tivität zusammenzustellen und miteinander zu verbinden. 88

Vergangenheit und Zukunft Hinsichtlich des auf die Zukunft hin ausgerichteten Zwecks ist es wichtig, dass das Subjekt im momentanen Strukturzusammenhang voraus- und zurückblicken kann. »Der Strukturzusammenhang ist nicht bloß rückwärts in die Erinnerung und ihre Unabänderlichkeit gerichtet, er dringt unablässig – und dies ist sein stärkster Zug – aus der Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft, rechnend, mit Bildern spielend, aber auch strebend« (GS, Bd. VII, S. 330). Demnach hat der psychische Strukturzusammenhang eine zeitliche Struktur. »Indem wir zurückblicken in der Erinnerung, erfassen wir den Zusammenhang der abgelaufenen Glieder des Lebensverlaufs unter der Kategorie ihrer Bedeutung. Wenn wir in der Gegenwart leben, die von Realitäten erfüllt ist, erfahren wir im Gefühl ihren positiven oder negativen Wert, und wie wir uns der Zukunft entgegenstrecken, entsteht aus diesem Verhalten die Kategorie des Zweckes« (GS, Bd. VII, S. 201). Für Dilthey ist diese zeitliche Gliederung des psychischen Zusammenhangs von inhaltlicher und methodischer Bedeutung. Die Korruptibilität des individuellen Vorgangs kann überwunden werden. Das zeitlich voneinander Getrennte wird in Verbindung gebracht und so möglich gemacht, dass Vergangenes bewahrt bleibt und Flüchtiges im Fortgang zu haltbareren Formen verfestigt wird. Auf diese Weise können auch auseinanderliegende Erlebnisse miteinander in Verbindung gebracht und verglichen werden. Im Alltag geschieht dies in individueller und interindividueller Hinsicht durch Erinnerungen und deren interpersonale Anregungen; in der Wissenschaft erfolgt dies mehr durch das Heranziehen von Schriftstücken und Dokumenten, die nebeneinandergelegt, bewusstseinsmäßig miteinander verbunden und so schließlich auch ausgelegt werden. Zusammenhänge können sich zwischen weit voneinander entfernten Ereignissen oder Sachverhalten ergeben. So kann ein Plan, den eine Person fasst, strukturell mit einer langen Reihe von Handlungen verbunden sein, die in mehreren Jahren und in weiten Abständen von ihr auftreten: »Der ganze Lebenslauf ist ein Strukturzusammenhang zeitlich beliebig weit abstehender Erlebnisse, von innen gegliedert und zur Einheit verbunden« (GS, Bd.  VII, 89

S. 325). In diesem Zusammenhang ist wohl auch eine mögliche Lösung des Problems der Identität des Menschen zu suchen. Beispielsweise fühlt sich ein älterer Mann immer noch als der gleiche, der er schon als Junge war. Nach Keller (1974, S. 30) könnte der Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft als Übergang aus dem eigenen »Je-schon« ins eigene »Je-erst-noch« (noch vor der tatsächlichen Fassung und Gestaltung des vorgegebenen Erlebnisgehaltes im Sinn der ihm erst zukommenden Bestimmung) verstanden werden. Unter der Dominanz des Je-erst-noch steht schon das Wollen und dann erst recht das Handeln. »Hierbei hat der aktuale Daseinsvollzug den Charakter des Zielsetzens und Hervorbringens: und in dieser Präsentation erfüllt die Retention ihre zu dienende Funktion als Berücksichtigung der je schon gegebenen Umstände, die Protention aber als abtastendes Vorentwerfen dessen, was möglich und was zu tun ist« (S. 30). Die Vergangenheit ist kraft ihres Einflusses auf die Gegenwart in derselben selbst enthalten. Hinsichtlich der Zukunft nimmt die Gegenwart schon einiges vorweg. So gesehen bleibt in der Gegenwart nicht viel von dieser in einem unmittelbaren Sinne übrig. Sie ist nurmehr quasi ein Umschlagplatz von der Vergangenheit zur Zukunft. »Indem die Gegenwart Vergangenheit und Zukunft in sich aufnimmt, macht sie sich selbst zunichte« (D’Alberto, 2005/2015, S. 157). Demnach kommt es in der Gegenwart im Wesentlichen nurmehr zu einer »Umschaltung« von der Vergangenheit zur Zukunft. Gleichwohl kann im Sinne von Diltheys »Gegenwart, die von Reali­täten erfüllt ist«, die Besinnung ausgedehnter verstanden werden. Sie ist bewusstes Innenleben. Sie integriert sich zwischen den äußeren Einflüssen auf die Person, die etwas in der Außenwelt bewirken möchte. Das Subjekt stellt seine Bestimmung durch externe Voraussetzungen in eine eigene Bestimmung externer Begebenheiten um. Somit handelt es sich um die Umstellung einer passiven in eine aktive Objektivierung. Aus dem rezeptiven Subjekt, einem Objekt, wird ein aktives Subjekt. Das Subjekt ist Objekt und Subjekt. Auch wenn die Gegenwart als minimalisiert erscheint, kann in derselben doch die Objekt-Subjekt-Wende der Person stattfinden. Die Objekt-Subjekt-Wende ist der Angelpunkt des Wirkungszusammenhangs, insbesondere der Angelpunkt zwischen Vergan90

genheit und Zukunft, Kausalität und Finalität. In diesen Augen­ blicken des psychischen Strukturzusammenhangs wird von Mal zu Mal die persönliche Identität konstituiert und zugleich bestätigt. Einer vom Objekt zum Subjekt gewendeten Person stehen hinsichtlich ihrer weiteren Vorstellungen, Intentionen und schließlich Handlungsweisen in der Regel mehrere Optionen offen. Dieser Sachverhalt ist nicht zuletzt auch in methodologischer Hinsicht von Bedeutung. Aus Diltheys Darlegung folgt, dass im psychologischen Bereich genaue Prognosen im Sinne kritisch-rationalistischer Wissenschaftstheorie nicht möglich sind. Auch wenn in der Experimentellen Psychologie die Ergebnisse einzelner Überprüfungsexperimente replizierbar sein mögen (insbesondere in der Gestaltpsychologie), so wird in den meisten Gebieten der Psychologie die aktuelle Überprüfung der Replikationshypothese, die Replikation der Replikation, selten realisierbar sein. Auf die Gegenwart und die Vergangenheit bezogene Unter­ suchungen könnten sich indessen der Frage widmen, in welchem Verhältnis die Einwirkungen und Bestimmungen des Menschen auf dessen Selbstbestimmungen und Auswirkungen auf andere Menschen und Sachverhalte zueinander stehen. Werden die Möglichkeiten des Menschen immer größer (z. B. aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden technologischen Hilfsmittel) oder werden sie im Gegenteil in Wirklichkeit kleiner. Auch könnte man sich der Frage widmen, welche sachlichen Verhältnisse dazu führen, Menschen im Sinne von Sachzwängen zu beherrschen. Natürlich könnte man solche Fragen nicht generell beantworten. Im Sinne Diltheys müssten entsprechende Untersuchungen nach diversen Voraussetzungen differenziert werden (u. a. nach Epochen, Kulturen, Gesellschaften, Gruppen, Personen). Der Wirkungszusammenhang birgt Möglichkeiten in sich, aber ergibt keine Notwendigkeit. Die Kontingenz limitiert jeweils auch die Erkenntnis des Zusammenhangs miteinander auftretender Sachverhalte. Das Subjekt ist ein in sich gegensätzliches Konzept. Einerseits bedeutet der Begriff das Zugrundeliegende (z. B. Ich), pejorativ auch: das Heruntergekommene (Ich), das in seiner mehr oder weniger weit zurückliegenden Vergangenheit unterdrückt wurde und deshalb noch in seiner Gegenwart bedrückt ist; andererseits auch der Akteur, die handelnde, auf die Zukunft hin ausgerichtete 91

Person, die als solche Sachverhalte (mit-)bestimmt und verändert, gegebenenfalls dabei auch andere Menschen unterdrückt. Wenn man das Subjekt in seiner Vergangenheit und Zukunft betrachtet, stellt sich die Frage, welche Verantwortung ihm zukommt. Winkler (2013) hat wie folgt auf die praktische Bedeutung von Diltheys Subjektbegriff hingewiesen: »Man tut so, als ob das Denken und die Veränderung des Denkens allein im Subjekt verlaufen und an diesem gemessen werden können. Erstaunlicherweise nimmt Subjektivität jedoch in Diltheys Pädagogik und Psychologie eine Juxtaposition ein. Sie ist in gewisser Weise Derivat der zwar individuellen Seelenstruktur, die in lebendiger Praxis mit der sozialen und kulturellen Umwelt erzeugt wird. Man kann dem Einzelnen nicht bloß die Verantwortung für sich selbst zurechnen, sondern muss nach der – wie Dilthey sagt – äußeren Organisation einer Gesellschaft und ihrer Kultur fragen, wenn man seelische Vorgänge begreifen, die Befähigung zur Lebenspraxis erfassen und diese pädagogisch begleiten oder fördern will« (Winkler, 2013, S. 228). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Subjekt als Bedingtes Bedingen oder härter formuliert: als Bestimmte Bestimmung aufgefasst werden kann. Mit diesem Begriff des Subjekts wird es inhaltlich widersprüchlich gefasst, jedoch noch in keiner Weise inhaltlich ausgeführt. Allerdings hat ein innerer Widerspruch etwas Weitertreibendes, bezeichnet er doch einen Gegensatz, dessen beide Seiten sich wechselseitig bedingen, ergänzen und wiederum zusammensetzen.

Explikation und Implikation In der Wechselwirkung des Menschen mit der Gesellschaft und/ oder Natur führt das Subjekt zu Objektivierungen, die in der Folge das Subjekt zunächst als Objekt bedingen, bevor sich dasselbe wieder subjektiviert und schließlich zu einer erneuten Objektivierung gelangt usw. In diesem Kreislauf erfolgen also Bewegungen, die »durch das Individuum als ihren Durchgangspunkt hindurch(gehen)« (GS, Bd. VII, S. 251). 92

Das subjektive Innenleben kann allerdings in intersubjektiver und soweit auch wissenschaftlicher Hinsicht nur indirekt erörtert werden, indem deren Konsequenzen ins Auge gefasst und die Auswirkungen praktisch verfolgt werden. Ein »Inneres« kann wissenschaftlich betrachtet nur durch ein »Äußeres« verstanden werden. Dies gilt auch für die individuelle Introspektion, insofern sie immer schon verbal vermittelt ist. Aufgrund der externen Produktionen und insbesondere aufgrund der Veränderungen in denselben kann auf interne Ereignisse rekurriert und können dieselben zumindest in ihrem gedanklichen Aspekt rekonstruiert werden.6 Ein entsprechender Schluss setzt allerdings voraus, dass die Produktionen ihrem Maßstab entsprechen. Aber auch die Möglichkeit der Feststellung einer Korrespondenz wäre noch kein realistisches Wahrheitskriterium. Wenn aufgrund des Primats des Erlebnisses die Relation zwischen Aussage und Welt formuliert werden kann oder auch nur gesucht wird, fällt der Bezug auf dasjenige, was der Fall ist, weg, sodass letztlich Wahrheit als Bezugsgröße ausgeschlossen wird (Grundmann, 2018, S. 11 ff.). Immerhin wäre es möglich, über überindividuelle Wirkungszusammenhänge Wahrheiten als intersubjektive Wahrheitszusammenhänge zu verstehen, wodurch dieselben nicht auf psychische Zustände (wie subjektive Überzeugungen) reduziert werden müssten und als Eigenschaft je einzelner und je besonders erlebender Personen ausgeschlossen werden könnten (Grundmann, 2018, S. 18 ff.). Demnach wäre der Mensch (auch) in epistemologischer Hinsicht ein kulturelles-gesellschaftliches Wesen. Doch würde dies dann nicht bedeuten, dass der psychische Strukturzusammenhang als Basis der Psychologie und darüber hinaus der Geisteswissenschaften überhaupt obsolet wäre? Wenn wir den alltagssprachlichen Ausdruck des Innenlebens betrachten, stellen wir fest, dass die objektivierten und subjektiven Momente des Bewusstseins häufig in getrennt grammatisch passiven und aktiven Sätzen zum Ausdruck gelangen. Wird das Implizite in seinen Auswirkungen verfolgt und auseinandergelegt, kann es sich als gegensätzlich erweisen. Gegebenenfalls kommen 6 Näheres hierzu kann in den Publikationen der Kulturhistorischen Schule gefunden werden, vgl. insb. Wygotski (1934/1974).

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auch die bewussten passiven und aktiven Aspekte eines psychischen Strukturzusammenhangs sukzessive, in verschiedenen Äußerungen hintereinander zur Sprache. Als Beispiel kann ein Dialog aus Anton Tschechovs »Heiratsantrag« (1889/1959) angeführt werden. Der Gutsbesitzer Lomov möchte bei seinem Nachbarn, dem Gutsbesitzer Tschubukov, um die Hand von dessen Tochter Natalia anhalten: »Lomov: Sehen Sie, Verehr Stepanytsch … pardon, Stepan Verehrowitsch … das heißt, ich bin furchtbar aufgeregt, wie Sie zu sehen belieben … Mit einem Wort, Sie allein können mir helfen, obgleich ich, natürlich, es durch nichts verdient habe und … und gar kein Recht habe, auf Ihre Hilfe zu rechnen … Tschubukow: Ach, schieren Sie’s nicht so auseinander, Muttchen! Sagen Sie’s direkt! Nun? Lomov: Sofort … Diese Sekunde. Also ich bin gekommen, um die Hand Ihrer Tochter Natalia zu bitten« (Tschechov, 1889/1959, S. 25 f.). Vorgängigen Einbeziehungen (hier etwa Risiken versus Erfolgsaussichten) folgt schließlich die Explikation. Diese kann auch einen widersprüchlichen Charakter haben, wobei die Gegensätze miteinander sozusagen im gleichen Ausdruck oder sukzessive hintereinander geäußert werden können. Explikationen folgen weitere Einbeziehung bzw. Implikationen und zwar auf Seiten des Hörers sowie auf Seiten des Subjekts der erfolgten Äußerung. Diese Implikationen können beidseitig zu neuen Explikationen führen. Der Hörer kann eine Antwort geben, der Sprecher einer ersten noch unmittelbar etwas hinzufügen. Auf solche und ähnliche Weise ergibt sich ein Dialog. Implikation meint Einbeziehung von etwas. Dilthey verwendet den Begriff Innewerden. Spätestens nachdem Dilthey das »Faktum des Innewerdens von Bewusstseinsvorgängen« erkannt hatte, war es für ihn »nicht mehr sinnvoll, bei der naturwissenschaftlichen Außensicht stehenzubleiben, wie dies z. B. vom Behaviorismus gefordert [wurde]« (Johach, 2013, S. 119 f.). Der Begriff des Innewerdens weist als solcher auf einen Prozess hin. Allerdings rekurriert Dilthey vorerst nur auf das Ergebnis dieses Prozesses, wenn er darauf hinweist, dass Innewerden bedeutet, »daß ein Etwas bewußt ist« (GS, Bd. VII, S. 318; Hervorh. M. G.). 94

Dilthey zufolge handelt es sich bei »bewussten Tatbeständen« um das »letzte Fundament der Geisteswissenschaften«, wobei er es nur als terminologische Frage betrachtet, ob dieses »Etwas« als Inhalt bezeichnet werden kann (GS, Bd.  VII, S. 318). Ein bewusster Tatbestand ist das »Bewußtsein eines erlebten Tatbestandes«, dessen Bedingung das »Zusammenfassen« bzw. die »Operation des Auffassens« ist, womit wiederum mehr der Prozesscharakter der Implikation hervorgehoben wird (GS, Bd. VII, S. 319). Auf der Basis von Dilthey hat Gendlin den Prozess des Implizierens und Explizierens eingehend theoretisiert (Gendlin, 1997/2016). Nach Dilthey setzt sich das, »was die Geisteswissenschaften ausmacht oder begründet […] zusammen aus Erlebnissen, Ausdruck derselben, Verstehen von Ausdrücken für Erlebnisse und Begriffen, welche sich auf die Erlebnisse beziehen« (GS, Bd. VII, S. 318). Es handelt sich um eine strukturelle Beziehung, die mit der Triade »Erlebnis – Ausdruck – Verstehen« formelhaft zusammengefasst werden kann (Rodi, 2016, S. 116). »Die Kategorie des Ausdrucks ist gleichsam der Januskopf zwischen den beiden Bewegungen: einerseits das Resultat der Objektivierung, andererseits der Einsatzpunkt für die verstehende Aneignung dieser Objektivation« (S. 116). An zentraler Stelle dieser Triade steht der Ausdruck. Ein Ausdruck kann als Explikation verstanden werden. Die Explikation führt wiederum zur Implikation, die hier als Verstehen erscheint, mit dem das Innewerden abermals einsetzt. Dasjenige, was innegeworden ist, dieses Innere, gelangt erneut zum Ausdruck, wodurch rückwärts aus ihm auch das Innere neu verstanden werden kann. Mit der Implikation des Expliziten korrespondiert die Explikation des Impliziten. Die Explikation ist der Prozess der Objektivierung bzw. Vergegenständlichung oder wie sich Dilthey ausdrückt: »ein Fortgang des Geistes zum Festen und Notwendigen« (GS, Bd. VII, S. 329). In der vorliegenden Arbeit wurde die Explikation anhand der Herausstellung des widersprüchlich bestimmten Subjekts illus­ triert; eines Subjekts, das einerseits bestimmt wird und andererseits selbst bestimmt. Explikation bedeutet Explikation des Impliziten. In einer vorgegebenen Vorstellung steckt schon ansatzweise dasjenige, was später herausgeholt wird, doch ist es in dieser Vorstellung ursprünglich nur verworren vorhanden. Die Explikation besteht 95

nun im »Herausholen des Darinsteckenden«, indem es entworren wird. Die Entwirrung besteht im Wesentlichen in der Entwicklung von dem, was in der Ausgangsvorstellung noch verwickelt war. Im vorliegenden Fall bestand diese Analyse in der Unterscheidung der zwei Seiten in der Stellung des Subjekts. Das Ergebnis einer Explikation des Impliziten ist zwar sicherlich nicht überwältigend, denn eigentlich wussten schon alle Interessierten, was »darinsteckt«, aber eben so herausgehoben wussten sie es oft doch noch nicht. Das Erlebnis führt im Ausdruck zu einem Ergebnis, welches schließlich dem Erlebnis selbstständig extern gegenübersteht. »Und zwar entsteht der Ausdruck in dem ganzen Bereich des Verhaltens; er ergreift Stoff der Wirklichkeit aller Art, um in ihm ein Mittel des Verständnisses zu finden; das Gefühl äußert sich in der Miene und der Gebärde, es findet Symbole in Wort und Ton; der Wille erreicht schließlich auch einen festen Ausdruck in Vorschriften und Gesetzen; so objektiviert sich der Geist, und diese Objektivation ist ihm äußerlich und doch sein Geschöpf« (GS, Bd.  VII, S. 329). Hervorgebracht werden mündliche und schriftliche Äußerungen, Gedichte, Kunstwerke, aber auch alltägliche Gebrauchsgegenstände aller Art und schließlich auch Institutionen. Dilthey illustriert kulturelles Schaffen wie folgt: »Die Verse des Dichters, die Erzählungen der Geschichtsschreiber von den frühesten zugänglichen Zeiten ab, sonach vor aller psychologischen Reflexion, malen, singen und künden die Erlebnisse in ihrem eigenen Charakter. Sie lassen ein Gegenständliches sehen, sie gehen nun auf das Verhalten zu ihm über, sie explizieren die Beziehungen und lehren uns diese zu unterscheiden. Wie sie aus einem starken Erleben entsprungen sind, drücken sie es aus« (GS, Bd. VII, S. 329). Die ideellen und materiellen Produktionen der Menschen, die in Wirkungszusammenhängen tätig sind, bieten Zeichen, die dazu anhalten können, Inneres wiederzugeben. »Die Handlungen und ihre dauernden äußeren Wirkungen dienen uns beständig, das Innere zu rekonstruieren« (GS, Bd. VII, S. 320). Beispielsweise versucht man von Rechtsregeln auf die Intentionen des Gesetzgebers und von diesen auf ihre geistigen Voraussetzungen zurückzugehen. »So verstehen wir aus den Institutionen überhaupt Wertungen der 96

Lebensverhältnisse, Zwecksetzungen, Bewußtsein der Bindung, wie dies alles zu einer bestimmten Zeit und an einer bestimmten Stelle als ein Inneres vorhanden, das sich für uns in diesem Äußeren ausdrückt« (GS, Bd. VII, S. 320). Nach Dilthey ist alles, was im Bewusstsein vorkommt, Erlebnis. Im Humanbereich ist Bewusstsein immer schon Inbegriff und als solcher auch Vorgriff oder Vorbegriff der Explikation: Wenn nun strukturell betrachtet zu diesem Erlebnis dessen Ausdruck und zu diesem das Verstehen in ein Verhältnis tritt, entsteht ein eigenständiges Gebilde, das den eigentlichen Gegenstand der Psychologie und im Weiteren der Geisteswissenschaft bildet. Die ursprünglichen In- und Vorbegriffe erhalten einen neuen Stellenwert: »Indem ich aus der angegebenen strukturellen Relation heraustrete in die andere des gegenständlichen Auffassens, nach welcher das Erkennen in einer Beziehung von Begriffen verläuft, die ihre Erfüllung an Erlebnissen und Verständnissen haben, befinde ich mich nun im begrifflichen Verhalten, das dann seine eigenen Beziehungen zu Erlebnis und Verständnis hat« (GS, Bd. VII, S. 318). Damit stellt sich die Frage, ob eine Übereinstimmung zwischen Ausdruck und Erlebnis überhaupt erzielt werden kann. Anzunehmen ist, dass es eher selten gelingen wird, nur das auszudrücken, was schon immanent vorhanden war. Was mit dem Ausdrücken kontextuell erscheint, wird in der Regel mitberücksichtigt oder gar hinzugefügt. Der Ausdruck ist ein Prozess, der weiter voranträgt als das, was er wiedergibt oder zu repräsentieren vorgibt. Mit anderen Worten: Das Explizieren umfasst mehr und gegebenenfalls auch anderes als das Geschehen, in dem das Explizierte vorgängig noch implizit war.7 Bedeutet dies, dass Verständnis des ursprünglich Erlebten und Verständnis nicht möglich sind? Betrachten wir Diltheys Darstellung des Ausdrucks in der Sprache, der wohl umfassendsten und zugleich differenziertesten menschlichen Produktion, mit der in mannigfaltiger Art und Weise Erlebnisse ausgedrückt werden können. »Ich gewahre etwas, ich urteile über es, ich habe Lust an ihm, ich will etwas –, in diesen und hundert ähnlichen Wortverbindungen spre7 Eugene Gendlin schreibt im »Ein Prozess-Modell« (1997/2016, S. 57) dazu u. a.: »Keine Explikation ist je äquivalent mit dem […], was sie expliziert.«

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chen wir Erlebnisse aus, ohne uns über die innere Beziehung, die darin zum Ausdruck kommt, zu besinnen« (GS, Bd.  VII, S. 326). Dilthey schließt indes ein richtiges Verständnis sprachlicher Ausdrucksweisen keineswegs aus: »Wenn […] jemand diese Ausdrücke gebraucht, so verstehe ich sofort, was in ihm vorgeht, und an dem festen Ausdruck kann ich besser als am Erleben selber das in dem Erlebnis enthaltene Verhalten mir zum Bewusstsein bringen: dann unterscheide und beziehe ich nur, was mit dem Ausdruck gemeint und sonach im Erlebnis vorhanden war« (GS, Bd. VII, S. 326). Nach Hubig (1988/1995, S. 79) manifestiert sich in den objektiven sprachlichen Äußerungen die Bedeutsamkeit der Erlebnisse: »Erst auf dem Umweg dieses ›objektiven Geistes‹, der dasjenige ausmacht, was überhaupt als Bedeutung in Frage kommt, und auf dem Umweg über die Untergliederungen dieses Geistes, die Dilthey als historische Typen bezeichnet und die die Arten der Bedeutung festlegen, kann die Bedeutsamkeit eines einzigen Erlebnisses ausgemacht werden, was mit dem Erlebnis selbst gleichkommt, da es ja evidente Bedeutung – und nichts anderes – ist.« Innerhalb der Verständigung können sich auch semantische Differenzen ergeben – in der Alltagssprache und in der Literatur. Letztere sind in der Regel auf sekundäre Quellen angewiesen, die ebenfalls Vergegenständlichungen darstellen. »Ich stelle mir jetzt den Inbegriff dessen vor, was Goethe künstlerisch, literarisch, wissenschaftlich veröffentlicht hat und was in seinem Nachlaß sich vorfindet. Wie anders ist hier das Verhältnis zwischen dem Ausdruck und dem Inneren!« (GS, Bd. VII, S. 321).

Einfache Grundstruktur und komplizierte Ausformungen Im »Aufbau« (1910/1965) behandelt Dilthey die historisch-gesellschaftliche Entwicklung auf der Ebene meistens nicht nur interindividueller, sondern auch darüber hinausgreifender kultureller Wirkungszusammenhänge; andererseits stellt er hinsichtlich des Individuums und dessen Innewerden fest: »Im Erleben bin ich mir selbst als Zusammenhang da« (GS, Bd. VII, S. 160). Man kann sich fragen, wie die intraindividuellen und die überindividuellen Wir98

kungszusammenhänge miteinander zusammenhängen und ineinander übergehen. Dieses Problem scheint jedoch nur lösbar zu sein, wenn der Wirkungszusammenhang vorgängig definiert werden kann und somit die einzelnen Wirkungszusammenhänge voneinander abgegrenzt, als solche bestimmt und miteinander ins Verhältnis gebracht werden können. Demnach wird eine Differenzierung im strukturellen Aufbau der Wirkungszusammenhänge intendiert. Dilthey versucht singuläre in übergreifende Wirkungszusammenhänge zu integrieren, indem er die letzeren als komplexere versteht, welche auch die einfacheren und elementaren enthalten. So weist er zunächst darauf hin, dass die Auslegung tradierter Objektivationen, die als solche immer einen intersubjektiven Charakter haben, das Erleben des Subjekts voraussetzt und umgekehrt das Verstehen des Erlebens des Subjekts das Verstehen allgemeinen Wissens impliziert: »Die Erweiterung unseres Wissens über das im Erleben Gegebene vollzieht sich durch die Auslegung der Objektivationen des Lebens, und diese Auslegung ist ihrerseits nur möglich von der subjektiven Tiefe des Erlebens aus. Ebenso ist das Verstehen des Singulären nur möglich durch die Präsenz des generellen Wissens in ihm und dies generelle Wissen hat wieder im Verstehen seine Voraussetzung« (GS, Bd. VII, S. 160). Menschen unterliegen in ihrem persönlichen Erleben der Korruptibilität der Zeit und vermögen deshalb nicht ohne Weiteres zu einem historischen Bewusstsein zu gelangen, indes können vielleicht diese Schranken dank der Wissenschaft überwunden werden. Doch muss man sich fragen, wie es im Sinne von Dilthey Wissenschaftlern und Rezipienten von Wissenschaft überhaupt möglich ist, das ihren Erlebnissen übergeordnete Wissen sich anzueignen. Zur Beantwortung dieser Frage könnte Dilthey auf die Objek­tivationen überindividueller Wirkungszusammenhänge hinweisen, in welche Personen integriert sind oder zu denen Interessierte allenfalls Zugang finden könnten. Im Verlauf der Zeit würden die Objek­ tivationen des Geistes beständig zunehmen, was das Material für das historische Verstehen anwachsen ließe.. Umfassendere Zusammenhänge würden erkennbar, was den Fortschritt in der geschichtlichen Erkenntnis erst ermöglichen würde (GS, Bd. VII, S. 346). Nach Dilthey entwickelt sich das Seelenleben aus einfachen Zusammenhängen zum Reichtum der strukturellen Beziehungen 99

in der Menschheit. Hierin können Anordnungen ineinander übergehender Verhaltensweisen »nach gewissen typischen Grundstellungen« festgestellt werden (GS, Bd.  VII, S. 346). Will man einen Begriff von Diltheys »Typus« erlangen, muss man von den einzelnen Formen zur Elementarform gelangen. »Die Urzelle der geschichtlichen Welt ist das Erlebnis, in dem das Subjekt im Wirkungszusammenhang des Lebens zu seinem Milieu sich befindet« (GS, Bd. VII, S. 161). Wenn wie erwähnt die Subjekt-Objekt-Wende das elementare Phänomen der spezifisch menschlichen Psyche ist, müsste ein historisch-­genetischer Zusammenhang dieser »Urform« mensch­ lichen Daseins bis zu den heutigen Formen nachweisbar sein, wobei das ursprüngliche einfache Muster unter Berücksichtigung zusätz­ licher gesellschaftlicher Bestimmungen sukzessive nicht nur komplexer, sondern zugleich im Ganzen immer kompakter ausgestaltet werden könnte. Sofern dieses Muster bestimmt werden könnte, wäre auch eine zunehmende Konkretisierung der ursprünglich noch einfachen (und hinsichtlich entwickelten Form noch allgemeinen) Kontur möglich. »Das ganze System der tierischen und menschlichen Welt stellt sich als die Entfaltung dieser einfachen Grundstruktur des Seelenlebens in zunehmender Differenzierung, Verselbständigung der einzelnen Funktionen und Teile sowie höherer Verbindung derselben untereinander dar« (GS, Bd. V, S. 211; Hervorh. M. G.). Demnach gelangt der Forscher von der Elementarform zur Mannigfaltigkeit der Phänomene. Dies scheint indes nur möglich zu sein durch die sukzessive Berücksichtigung zusätzlicher Begebenheiten (und insofern »Voraussetzungen«) im Verlaufe der Phylogenese und in der Folge der Homogenese. Umgekehrt ausgedrückt: Die Genese des Forschungsgegenstandes würde notwendigerweise in seiner zunehmender Spezifik begriffen. Soweit scheint Diltheys Konzeption der Strukturdifferenzierung durchaus realisierbar zu sein. Dilthey weist in diesem Zusammenhang neben der Naturgeschichte und der daraus hervorgehenden spezifisch menschlichen Entwicklung auch auf die Ontogenese hin: »Der Übergang aus der einfacheren in die komplizierteren Formen kann an der Entwicklungsgeschichte des Kindes studiert werden, von dem Eintreten einer Erinnerung ab, welche von einem Wechsel innerer Zustände 100

ausgeht, mit welchem Innerlichkeit beginnt, bis zur Ausbildung von Voraussicht und der damit zusammenhängenden Wahl zwischen Entschlüssen in Bezug auf die Zukunft« (GS, Bd. XIX, S. 104; Hervorh. M. G.). Dilthey verstand ursprünglich unter »Hermeneutik« meistens im traditionellen Sinne das Auslegen von schriftlichen Dokumenten. Erst sein »Aufbau« machte ihn zum Hermeneutiker in seinem besonderen Sinne. So weist Scholtz (2013) darauf hin, dass es in diesem Werk nicht mehr nur um das Textverstehen, sondern um das Verstehen von allen Phänomenen der spezifischen menschlichen Entwicklung geht. »Und so sollte man besser von einer Historik sprechen, die sich in dieser großen Abhandlung findet, allerdings einer solchen, die nicht nur auf die politische Geschichte zugeschnitten ist, sondern für alle historischen Geisteswissenschaften Geltung beansprucht« (Scholtz, 2013, S. 131 f.). Nach Rodi (2016) war der Mitbegründer der Hermeneutik kein Hermeneutiker im quasi handwerklichen Sinne. Unter Berufung auf Goethe und die deutschen Romantiker sei Dilthey einerseits vom wissenschaftlich jeweils zu verstehenden gesamten Gegenstand ausgegangen, um dessen Teile zu verstehen und andererseits von den Teilen, um das Ganze entstehen zu lassen. »Dies ist die universale Ebene der Hermeneutik, zu der nach Diltheys zeitgebundener Meinung im Wesentlichen nur die Geisteswissenschaften Zugang haben« (Rodi, 2016, S. 13).

Analyse und Synthese Unter Hermeneutik kann die Strukturtheorie, aber auch die Verstehenstheorie verstanden werden (Rodi, 2016, S. 13). Diltheys Verstehenstheorie wird hier nicht im psychotherapeutischen Sinne verstanden, die sie auch ist (Finke, 2015), sondern als geisteswissenschaftliches Verfahren, das nicht zuletzt für die Psychologie im Allgemeinen (und nicht nur im besonderen klinisch-therapeutischen Sinne) relevant sein könnte. Seit der Antike wird »Analysis« das Verfahren des Vorgehens von einem Vorgegebenen zu dessen Prinzipien (reduction ad prin­ 101

cipia) genannt. Mit »Synthesis« wird der umgekehrte Vorgang bezeichnet, die Rekonstruktion eines schon Gegebenen aufgrund von Prinzipien. Betrachten wir zunächst die Analyse (bzw. »Zergliederung«), der schon in den »Ideen« eine zentrale Stellung zukommt. Mit ihr wird eine vorgegebene Vorstellung auseinandergenommen, Aspekte oder Teile derselben werden unterschieden und besonders herausgehoben. Aus der Analyse resultiert eine andere, neue Fassung des Vorgegebenen, schon Bekannten, wobei neu die Art ist, wie das im Ausgangspunkt enthaltene als Besonderes nun herausgehoben ist. Da es sich jedoch bei der Analyse lediglich nur um einen Erkenntnisakt betreffend die Wirklichkeit handelt und nicht um die Wirklichkeit selbst, darf der Erkennende nicht auf das ausgesonderte Einzelne fixiert bleiben, sondern sollte die einzelnen Aspekte wieder vereinigen und zum (neu verstandenen) Ganzen zusammenfügen. Damit gelangen wir zur Synthese: Wie erwähnt unterteilte Dilthey in den Ideen (1894/1990) das psychologische Vorgehen hinsichtlich seiner geisteswissenschaftlichen Fragestellung hauptsächlich in Deskription und Analyse. Später wies Dilthey (1910/1965) im »Aufbau« u. a. darauf hin, dass »das Verstehen des Singulären nur möglich [ist] durch die Präsenz des generellen Wissens in ihm«, wobei dieses »generale Wissen […] wieder im Verstehen seine Voraussetzung [hat]« (GS, Bd. VII, S. 152). Bei der Erkenntnis besteht ein Verhältnis wie jenes von Singulärem zum Generellen von den Teilen zum Ganzen. Nach Dilthey setzt der »Überblick über das Ganze […] das Verstehen der Teile voraus, die in ihm vereinigt sind« (S. 152). Während sich die erste Aussage dieser »Zusammenfassung« noch auf das singuläre Wissen im unmittelbaren Erleben einer Person bezieht, wird mit der zweiten Aussage auf allgemeines Wissen hinsichtlich des geschichtlichen Verlaufs verwiesen. Ungeachtet der Frage, wie in diesem Prozess die Kluft zwischen individuellem und überindividuellem Wissen überbrückt werden kann (vgl. auch Scholtz, 2013, S. 141), scheint es sich um eine zirkuläre Bewegung zu handeln, die neben deskriptiven Momenten auch analytische Momente einschließt und hierdurch vom Konkreten zum Allgemeinen und von diesem wieder zurück zum Konkreten 102

gelangt. Letzteres erweist sich somit nicht mehr bloß als Deskription, sondern auch als Synthese. Oder umgekehrt formuliert: Die ursprüngliche Deskription war eigentlich schon von Anfang eine Art Synthese, wenngleich noch nicht eine ausdrückliche, war sie doch noch nicht analysiert. Schon Goethe hatte sich gefragt, um was es sich bei der »geheimnisvollen Synthese«, mit der sich der Analytiker beschäftigt, handelt. Seine Antwort: Möglicherweise sei es »nur eine Aggregation […], ein Nebeneinander, ein Miteinander« (Goethe, 1792–1833/1999, S. 23). Auch Dilthey wies in »Leben und Erkennen« (GS, Bd. XIX, S. 353) am Beispiel der Melodie darauf hin, dass dieselbe eine Einheit bildet, »die nicht vor den Teilen, sondern in, mit und durch sie besteht«. In den »Ideen« wurde der synthetische Teil des synthetisch-­ analytischen Verfahrens noch nicht näher bestimmt. Dilthey (1894/1990) stellte lediglich fest: »Der Gang einer solchen Psychologie [muß] ausschließlich beschreibend und zergliedernd sein […], gleichviel ob im Dienste dieses Verfahrens synthetische Denkakte erforderlich sind. Dem entspricht ein anderer methodischer Grundzug einer solchen Psychologie. Ihren Gegenstand muß der entwickelte Mensch und das fertige vollständige Seelenleben bilden. Dieses soll in seiner Totalität aufgefaßt, beschrieben und analysiert werden« (GS, Bd. V, S. 169). Hingegen konnte Dilthey im »Aufbau« (1910/1965) die Synthese hinsichtlich der Untersuchung einzelner Wirkungszusammenhänge schon etwas näher bestimmen. Er stellte sie gleichberechtigt neben die Analyse, indem er sie mit der Induktion in Verbindung brachte. Dilthey machte in dieser Arbeit nochmals auf die Objektivie­ rung der Wirkungszusammenhänge bzw. auf die Schöpfungen, die aus denselben hervorgehen, aufmerksam und hielt fest: »Der Zusammenhang in ihnen ist verschieden nach ihrem Charakter, aber Zergliederung des Werks als eines Ganzen auf induk­ tiver Grundlage und synthetischer Rekonstruktion des Ganzen aus der Beziehung seiner Teile, wieder auf Grundlage der Induktion, unter beständiger Präsenz der Totalität, greifen auch hier ineinander. Mit dieser Richtung des Denkens auf Zusammenhang ist in den Geistes­wissenschaften nun die andere verbunden, welche, 103

vom Besonderen zum Allgemeinen und rückwärts gehend, Regel­ mäßigkeiten in den Wirkungszusammenhängen aufsucht. Hier macht sich das umfassendste Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit der Verfahrungsweisen geltend. Die Verallgemeinerungen dienen der Bildung von Zusammenhängen, und die Analysis des konkreten und universalen Zusammenhangs in Einzelzusammenhänge ist der fruchtbarste Weg zur Auffindung allgemeiner Wahrheiten« (GS, Bd. VII, S. 158; Hervorh. M. G.). Nach Dilthey greifen Analyse eines Werkes als eines Ganzen (auf induktiver Grundlage) und synthetische Rekonstruktion des Ganzen aus der Beziehung seiner Teile (ebenfalls induktiv) ineinander. Vom Besonderen unter beständiger Präsenz des Allgemeinen zu demselben aufsteigend und wiederum rückwärts gehend, wird versucht, Regelmäßigkeiten in den Wirkungszusammenhängen aufzufinden (GS, Bd. VII, S. 158). Die Analyse setzt also schon eine Synthese voraus, so wie die Synthese eine Analyse voraussetzt. Demnach verfahren Forscher wie Dichter »immer zugleich synthetisch und dann wieder analytisch« (Rodi, 2016, S. 43). Bei diesem Verhältnis von Analyse und Synthese handle es sich nicht um Gegensätze, sondern man könne von einem komplementären Verhältnis ausgehen (vgl. Rodi, 2016, S. 85 f.). Entsprechend der induktiven Konstitution der Synthese sind beim intuitiven Ausgangspunkt des Ableitens und in der Folge bei der eigentlichen Analyse aufgrund der Deskription auch deduktive Vorgehensweisen relevant, wenngleich dieselben nicht mit logischen Deduktionen identifiziert werden können. In beiden Fällen werden mit diesen Verfahrensweisen mehr »klassifikatorisch-ordnende Interessen« verfolgt, »sei es im Gang vom Allgemeinen zum Besonderen (analytisch) oder umgekehrt (synthetisch)« (GS, Bd. VII, S. 158). Das analytisch-synthetische Verfahren ermöglicht es, die notwendigen inneren Zusammenhänge eines Ganzen in dem gesamten Ensemble seiner Seiten zu finden. Das Verfahren ist sui generis aufgebaut und beinhaltet eine spiralförmige Bewegung von der Analyse zu einer ersten Synthese und auf dieser neuen strukturellen Ebene wieder eine solche von der Synthese zur Analyse usw. – schlussendlich mit dem Ziel, eine Theorie zu entwickeln. Dilthey 104

vermochte jedoch nie zu demonstrieren, zu welchen Ausgestaltungen eine solche Vorgehensweise in einem Forschungsprogramm führen würde. Dies geschah auch nicht – wie zuweilen angenommen – mit seinen biografischen Studien (D’Alberto, 2015).

Denkanstöße und Herausforderungen Nach Lessing (2016d) versuchte Dilthey im Verlaufe seines Lebens eine Theorie der Geiseswissenschaften sowie ihrer Methoden und ihres Forschungsprojektes zu entwickeln, die realistischer und praxisnäher waren als positivistische Untersuchungen, die außerhalb des Bereichs der Geisteswissenschaften realisiert wurden und in ihren Forschungsprogrammen keinen historisch-gesellschaftlichen Bezug thematisierten (Lessing, 2016d, S. 61). Dilthey war nicht nur der erste bedeutende Denker, der als Grundlage der Geisteswissenschaften die Psychologie positionieren wollte, sondern der die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende naturwissenschaftliche Psychologie als lebensfremd betrachtete und sie grundsätzlich kritisierte. Er vermochte erste Ansätze zu einer Psychologie zu präsentieren, die als »Lebenspsychologie« bezeichnet werden kann. Diese alternative Psychologie, die auch Aspekte der Humanistischen Psychologie vorwegnahm, könnte dazu beitragen, diese weiterhin zu entwickeln und auszubauen. Sie macht den Menschen nicht länger zu einem naturwissenschaftlichen Objekt, sondern betrachtet ihn mitunter auch als Subjekt, das selbst fähig ist, Objekte hervorzubringen. Es handelt sich um eine geisteswissenschaftliche Psychologie, mit der die menschliche Wirklichkeit nicht nur von außen betrachtet wird wie in der herkömmlichen akademischen Psychologie, sondern die auch Wege eröffnet, diese Realität von innen, in ihrem lebendigen Zusammenhang zu betrachten, zu beschreiben, zu analysieren und das Unterschiedene wiederum zu vereinigen. Dadurch kann zumindest in Aussicht gestellt werden, eine Psychologie zu entwickeln, die ihrem Gegenstand nicht länger äußerlich bleibt, sondern sich diesem möglichst eng anschmiegt. 105

Dilthey hat, wenngleich noch nicht ein eigentliches psychologisches Forschungsprogramm formuliert, so doch wichtige Denkanstöße hinsichtlich einer zukunftsträchtigen Huma­nistischen Psycho­logie gegeben. Um einen Gegenstand wirklich untersuchen zu können, muss der Forscher sich in einen diesbezüglich relevanten Wirkungszusammenhang versetzen und in diesem womöglich selbst aktiv werden, bis er sich in diesem gleichsam »wie zu Hause fühlt«. Um beispielsweise sinnvolle Aussagen über die Psychiatrie und/oder die Psychopathologie machen zu können, muss er sich selbst in die Psychiatrie begeben und dort in der einen oder anderen Art tätig werden (vgl. Weinmann, 2019). In methodologischer Hinsicht hat Dilthey viele für die Humanistische Psychologie wichtige Hinweise gegeben, von denen hier einige stichwortartig nochmals angeführt werden: ȤȤ Orientierung an thematisch relevanten übergreifenden Lebenszusammenhängen; ȤȤ Extraktion thematisch relevanter spezifischer Wirkungszusammenhänge; ȤȤ Deskription bedeutungsvoller psychischer Struktur- und Wirkungszusammenhänge; ȤȤ Bestimmung der kausalen und finalen Momente in psychischen Strukturzusammenhängen; ȤȤ Beachtung der Übergänge und Bewegungen in den Wirkungszusammenhängen; ȤȤ Berücksichtigung der Objektivierungen in bestimmten Wirkungszusammenhängen; ȤȤ Explikation des Impliziten und Implikation des Expliziten; ȤȤ Extraktion der notwendigen Bedingungen wirkungsspezi­fischer Erfahrungen; ȤȤ Fortgang von der am einfachsten und allgemeinsten Organisation zur komplexen Organisation; ȤȤ Feststellung der Veränderungen sowie der Regelmäßigkeiten in den konkreten Wirkungszusammenhängen und ȤȤ Feststellung der Rückwirkungen der Konsequenzen der Wirkungszusammenhänge auf deren Voraussetzungen. Dilthey konnte schon wichtige Anregungen für die Lösung dieser Probleme geben. Indessen vermochte er auch seinen eigenen 106

Ansprüchen in manchen Punkten noch nicht zu genügen. So konnte er bis zu seinem Lebensende keine eigene Forschungsarbeit vorlegen, welche seinen Vorstellungen nahekam, ja er versuchte es nicht einmal. Und was vielleicht ebenso relevant ist: Eine ausformulierte geisteswissenschaftliche Methodologie erstellte Dilthey nicht. Unter­suchungen, die ihm als Vorbilder hierzu hätten dienen können, waren ihm damals schon vorgegeben.8 Einige der bereits angeführten Punkte werden sicherlich nicht leicht zu realisieren sein. Wir haben gesehen, dass schon der zweite Punkt enorme methodische Probleme bereitet. Neben der Herauslösung und genauen Bestimmung einzelner Wirkungszusammenhänge bleibt wohl die Überschreitung des individuellen Bewusstseins in Richtung auf ein gesellschaftliches und historisches eine der größten inhaltlichen und methodologischen Herausforderungen. Diltheys meines Erachtens größter Verdienst, sein Versuch aus der psychologischen Perspektive die Dichotomie von Gesellschaft und Individuum zu überwinden, stellt sich zugleich als eines der größten Probleme seines Ansatzes heraus. Problematisch ist auch die Extraktion der wirkungsspezifischen Erfahrungen bzw. der Elementarform des Wirkungszusammenhangs. Beispielsweise nimmt man A, B, C, D und E als mögliche Bedingungen einer zu bestimmenden Elementarform wahr. Doch wie erkennt man, welche Bedingungen notwendig und welche im konkreten Fall arbiträr sind? Möglicherweise wird der Sachverhalt mit einem Vergleich des entsprechenden Wirkungszusammenhangs mit ähnlichen Zusammenhängen in der Vergangenheit und/oder auch der Gegenwart etwas durchsichtiger. Vielleicht sieht man dann, dass E in ähnlichen Fällen gar nicht nachweisbar ist bzw. dass die Elementarform meistens auch ohne E existiert. Oder man stellt fest, dass ohne die Voraussetzungen von C zwar 8 Man denke etwa an Goethes (1810/1997)»Farbenlehre« vorzüglich in Ergänzung und Kritik durch »Ueber das Sehn und die Farben« des jungen Schopen­ hauer (1870) oder an »Das Kapital« von Marx (1867/1969), das Dilthey (GS, Bd. XVII, S. 186 f.) seinerzeit besprochen hat. Marx versuchte, dasjenige was den Menschen gesellschaftlich-historisch vorgegeben und weiterhin politökonomisch durchgesetzt wird, am Material konzeptuell zu durchdringen, systematisch aufzuarbeiten und in seinen Verhältnissen mit Gleichungen mathematisch auszuformulieren (vgl. u. a. Quaas, 2016).

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das Grund­muster ebenfalls formiert wird, aber nur in ähnlicher oder gar relativ stark veränderter Ausgestaltung. Indessen gründet auf der genauen Bestimmung des Grundmusters der Fortschritt in einer geisteswissenschaftlichen Forschungsarbeit, besteht doch derselbe im Wesentlichen in erfolgreichen Konkretisierungen, Ausstaffierungen und Austragungen eben dieses Musters. Diltheys psychologischer Ansatz ist zweifellos von Interesse, doch stellen sich viele Fragen, nicht zuletzt auch grundsätzliche, von denen abschließend drei angeführt werden sollen. 1. Wie lassen sich einerseits historische und gesellschaftliche Phänomene im Großen und andererseits psychische Phänomene im Kleinen zusammenbringen und miteinander vermitteln? 2. Können individuelle Erlebnisse und Kombinationen einzelner Erlebnisse sämtliche Kategorien der vergangenen und gegenwärtigen Welt beinhalten respektive können historisch-gesellschaftliche Zusammenhänge ausschließlich aus diesen Erlebnissen abgeleitet werden? 3. Wie lassen sich allfällige Ergebnisse geisteswissenschaftlich, insbesondere hermeneutisch durchgeführter Untersuchungen überprüfen? Zwar scheint ein Überprüfungsverfahren beispielsweise im Sinne des kritisch-rationalistischen Wissenschaftsverständnisses den Gegenständen der Geisteswissenschaften und weiten Bereichen der Psychologie nicht angemessen zu sein; gleichwohl stellt sich die Frage, wie auch in diesen Bereichen wissenschaftliche Verbindlichkeit hergestellt werden kann.

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Hans-Ulrich Lessing Erster Brief an Herrn Galliker

Lieber Herr Galliker, haben Sie besten Dank für Ihre erhellende Darstellung der Psycho­ logie-Konzeption Diltheys. Mit großer Freude konnte ich feststellen, dass wir in wesentlichen Punkten ähnliche Ansichten vertreten; Unterschiede zwischen unseren Auffassungen sehe ich im Wesentlichen nur bei bestimmten Akzentsetzungen. So stimme ich mit Ihnen darin überein, dass Dilthey ein neues psycholo­ gisches Paradigma bzw. Forschungsprogramm einer geisteswissenschaftlichen, verstehenden Psychologie etablieren wollte bzw. etabliert hat (vgl. Galliker, 2013, 2015). Dilthey richtet sich mit seinem Entwurf einer beschreibenden Psychologie gegen die dominierende konstruktive, naturalistische Psychologie, die u. a. von den älteren Psychologen bis zu Herbart, Drobisch und Lotze und von der modernen Psychologie, »diese Seelenlehre ohne Seele« (GS, Bd. V, S. 159), d. h. den unterschiedlichen Fraktionen des Materialismus, den Assoziationspsychologen sowie Spencer und Taine vertreten wird. Während Sie als Psychologe Diltheys Bemühungen um eine Neuausrichtung der Psychologie – wenn ich recht sehe – eher unter dem Aspekt einer Neukonstituierung der Disziplin Psychologie sehen, steht meine Betrachtung von Diltheys psychologischer Konzeption allerdings vollständig im Kontext der angestrebten erkenntnistheoretisch-methodologischen Grundlegung der Geistes­wissenschaften. Die postulierte deskriptive Psychologie wird von Dilthey – so meine These – weniger als eine selbstständige, autonome wissenschaftliche Disziplin angesehen, sondern sie wird – soweit ich sehe – in ihrer Ausrichtung und Intention nur dann wirklich verständlich, wenn 109

man sie vor dem Hintergrund und als wesentlichen Baustein seiner »Kritik der historischen Vernunft« begreift. Diltheys Psychologie ist eingebunden in sein umfassendes Grundlegungsprojekt, und ihre Fragestellungen und metho­dischen Ansätze sind diesem Projekt verpflichtet und daher nur im Rahmen dieses Projekts vollständig fassbar. Dilthey versteht die Psychologie (und Anthropologie), wie in der »Einleitung in die Geistes­ wissen­schaften« ausgeführt, als fundamentale Wissenschaft innerhalb des »Systems« der Geisteswissenschaften. Sie analysiert die Individuen und liefert die Wahrheiten erster Ordnung, die in den Wissenschaften, die auf der Psychologie bzw. Anthropologie basieren, zur Grundlage ihrer Forschungen dienen und die zu »Wahrheiten zweiter Ordnung« führen. Und diese auf den Ergebnissen der Psychologie fußenden Geisteswissenschaften sind die Ethnologie, die Wissenschaften der Kultursysteme, die Wissenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft und schließlich die Geschichtswissenschaft. Da das Individuum die elementare Einheit der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit darstellt und alle Kultursysteme und alle äußeren Organisationen aus den Interaktionen der psycho-physischen Individuen und den Wechselwirkungen mit dem sie umgebenden Milieu hervorgehen,1 sind diese – das ist Diltheys Grundüberzeugung – nur verständlich durch den Rückgang auf die Individuen und die Erforschung der Individuen. Die Analyse dieser gesellschaftlichen Zusammenhänge setzt, so Diltheys Argument, folglich die Analyse der Individuen voraus. Dilthey begreift dementsprechend die großen Formen der Kultur als Objektiva­ tionen des dauernden, gleichförmigen Willens der Individuen (vgl. GS, Bd. V, S. 190). Andererseits macht Dilthey aber auch deutlich, und das haben Sie zu Recht sehr ausdrücklich in Ihrer Darstellung betont, dass es kein abstraktes, außerhalb gesellschaftlich-geschichtlicher Zusammenhänge existierendes Individuum gibt. Der Mensch ist primär ein gesellschaftliches Wesen und nur vor dem Hintergrund seines kulturell-geschichtlichen Kontextes zu erforschen. 1

»Alle menschlichen Erzeugnisse entspringen aus dem Seelenleben und dessen Beziehungen zur äußeren Welt« (vgl. GS, Bd. V, S. 372).

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Die erklärende oder konstruktive Psychologie, die Diltheys Analyse zufolge durch die Nähe zu naturwissenschaftlichen Methoden und den Einsatz von Hypothesen und die Vernachlässigung der Geschichtlichkeit und der gesellschaftlich-kulturellen Bedingtheit der Individuen definiert ist, würde – so Dilthey – Unsicherheiten in das Fundament der Geisteswissenschaften hineintragen, wodurch seine quasi-cartesianische Absicht, ein festes Fundament für die Geisteswissenschaften zu errichten, unterlaufen würde. Ich stimme auch mit Ihnen darin überein, dass Diltheys Ansatz gelegentlich durch Unklarheiten, missverständliche Formulierungen, fehlende eindeutige Definitionen und eine nicht zu verleugnende Umständlichkeit der Argumentation belastet ist. Weiterhin muss ich Ihnen zustimmen, dass Dilthey keine konkreten empirischen Forschungsleistungen präsentiert hat, die seinem Ansatz bei der Durchsetzung geholfen hätten. Schließlich gehe ich mit Ihnen konform in der Kritik, dass Dilthey keine ausdifferenzierte Methodologie vorgelegt hat. Dies betrifft nicht nur die »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«, sondern auch die »Individualitätsabhandlung« »Beiträge zum Studium der Individualität«, die Abhandlung »Die Entstehung der Hermeneutik« und den »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«. In all diesen Schriften gibt es zahlreiche Hinweise auf eine mögliche Methodologie, aber keine wirklich ausgearbeitete Methodenlehre. Nun muss man allerdings einerseits berücksichtigen, dass man den Titel seiner Abhandlung über die deskriptive Psychologie ernst nehmen muss: Es sind »Ideen« zu einer auszuarbeitenden Psychologie, es ist eine Programmschrift, ein Manifest, aber keine systematisch abgerundete, fertig ausformulierte Darstellung der neuen Psychologie, sondern vielmehr der Entwurf des Programms einer alternativen, deskriptiven Psychologie und der Entwurf einer Gliederung der projektierten beschreibenden und analytischen Psychologie (vgl. GS, Bd. V, S. 176–190). Andererseits sollte der geplante zweite Band der »Einleitung in die Geisteswissenschaften« erst die ausgeführte Methodologie der Geisteswissenschaften enthalten. Außerdem überzeugen mich die Hinweise, die Sie darauf geben, dass Dilthey in gewisser Weise bestimmte Einsichten der Humanistischen Psychologie vorweggenommen und insofern eine Art Weg111

bereiter dieser Tradition der Psychologie gewesen ist, die u. a. von Harold Maslow, Charlotte Bühler, Carl Ramson Rogers und Eugene Gendlin vertreten wurde (vgl. Galliker, 2015c; Johach, 2009). Wir sind uns sicher auch darin einig, dass der Streit mit Ebbinghaus, den Sie mehrfach behandelt haben (Galliker, 2010a, 2010b, 2016), nicht nur für Diltheys eigene systematische Arbeit und seine wissenschaftliche Biografie von großer, entscheidender Bedeutung war. Die Konfrontation eines kulturalistisch-hermeneutischen Ansatzes mit einem szientistisch-naturalistischen Denken bedeutete auch eine richtungsweisende Weichenstellung der deutschen Psychologie. Diltheys richtige Intuition mit seiner Option für eine qualitativ-verstehende Psychologie, die sich in Opposition zur dominierenden quantitativ-analytischen Psychologie in Stellung bringt, hat für die psychologische Forschung einen zweiten Weg jenseits der messend-quantifizierenden Psychologie ausgewiesen, der aber sehr zum Schaden der Psychologie nur wenig Zustimmung und Nachfolge erfuhr. Unabhängig von den konkreten methodologischen Problemen, die Diltheys Ansatz anhaften und die ich unten noch thematisieren werde, muss ein großes Thema angesprochen werden, das für Diltheys Position und die Konzeption seiner Psychologie von ausschlaggebender Bedeutung ist. Dies ist Diltheys Konzept des »Strukturzusammenhangs«. Die Lebenseinheit, so erläutert Dilthey in der erst postum veröffentlichen Abhandlung »Leben und Erkennen« (ca. 1892/93), »ist eine Struktur, in welcher das Spiel der Reize von außen Vorgänge und Zustände im Inneren hervorruft, welche dann wieder Rückwirkungen nach außen zur Folge haben. Diese Struktur ist ein innerer Zusammenhang; seine Mitte ist das Bündel von Trieben, das zuallervorderst den Menschen charakterisiert«. Und diese Struktur ist »ein höchst realer, kernhafter Zusammenhang, ja der Kern des Lebens selber« (GS, Bd. XIX, S. 353). In seiner späten Abhandlung »Das Wesen der Philosophie« (1907) definiert Dilthey den Zusammenhang des Seelenlebens bzw. die »psychische Struktur« als »die Anordnung, nach welcher psychische Tatsachen von verschiedener Beschaffenheit im entwickelten Seelenleben durch eine innere erlebbare Beziehung miteinander verbunden sind«, wobei »die Grundform dieses seelischen 112

Zusammenhangs […] dadurch bestimmt [ist], daß sich alles psychische Leben von seinem Milieu bedingt findet und rückwärts auf dies Milieu zweckmäßig einwirkt« (GS, Bd. V, S. 373). Dieser Komplex mannigfaltiger äußerer Einwirkungen auf das Individuum und entsprechender zweckmäßiger Reaktionen, d. h. Willenshandlungen auf das Milieu, ist »menschliches Leben« (GS, Bd. V, S. 373; vgl. GS, Bd. V, S. 177).2 Leben ist insofern der strukturierte Zusammenhang von vielfältigen kognitiven, emotiven und volitiven Prozessen. Die Struktur ist also eine »innere Beziehung« (GS, Bd. V, S. 204) der verschiedenen psychischen Elemente und Prozesse, die – und das ist ein weiteres wichtiges Charakteristikum der Struktur bzw. des Strukturzusammenhangs – unmittelbar erfahren wird: »Und das ist nun für das ganze Studium dieses seelischen Strukturzusammenhangs das Entscheidende: die Übergänge eines Zustandes in den anderen, das Erwirken, das vom einen zum anderen führt, fal­ len in die innere Erfahrung. Der Strukturzusammenhang wird erlebt. Weil wir diese Übergänge, dies Erwirken erleben, weil wir diesen Strukturzusammenhang, welcher alle Leidenschaften, Schmerzen, Schicksale des Menschenklebens in sich faßt, inne werden, darum verstehen wir Menschenleben, Historie, alle Tiefen und Abgründe des Menschlichen« (GS, Bd. V, S. 206). Gegen diese Auffassung hat Ebbinghaus in seiner Polemik gegen Diltheys »Ideen« vehement Einspruch erhoben: »Die Übergänge eines Zustandes in den anderen und alle möglichen Einzelerlebnisse mögen in die innere Erfahrung fallen; der Strukturzusammenhang selbst wird nicht erlebt; er ist nicht lebendigste Erfahrung; Dilthey selbst hat ja vorher zugestanden, daß er das Dunkelste der ganzen Psychologie sei [vgl. GS, Bd. V, S. 204, H.-U. L.]. Vorstellungen und Wollungen, Lust und Unlust, Einheit, Zweckmäßigkeit, Wirksamkeit, das alles sind wahrhafte und wirkliche innere Erlebnisse. Aber daß nun das ganze Vorstellen und Wollen dem einheitlichen Zwecke der Bewirkung größter Lust dient, dieser eigenartige Zusammen­ hang jener Erlebnisse findet sich als solcher niemals in der inneren 2 »Der Lebensverlauf besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne Erlebnis ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist; es ist durch die Struktur mit anderen Teilen zu einem Zusammenhang verbunden« (GS, Bd. VII, S. 195).

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Wahrnehmung; er wird erraten, rückwärts erschlossen, hinzukonstruiert, oder wie man es nennen will« (Ebbinghaus, 1896/1984, S. 75). Diltheys Programm einer deskriptiv-analytischen Psychologie steht und fällt mit seiner Setzung, dass der Strukturzusammenhang unmittelbar erlebt werden kann. Andererseits besitzt die Tatsache einer unmittelbaren Erfahrbarkeit des seelischen Zusammenhangs nach Dilthey auch fundamentale Bedeutung für die Möglichkeit des Verstehens, d. h. die Hermeneutik des Anderen. Dies hat Dilthey an einer Stelle der »Ideen« unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: »In dem Erlebnis wirken die Vorgänge des ganzen Gemütes zusammen. In ihm ist Zusammenhang gegeben, während die Sinne nur ein Mannigfaltiges von Einzelheiten darbieten. Der einzelne Vorgang ist von der ganzen Totalität des Seelenlebens im Erlebnis getragen, und der Zusammenhang, in welchem er in sich und mit dem Ganzen des Seelenlebens steht, gehört der unmittelbaren Erfahrung an. Dies bestimmt schon die Natur des Verstehens unserer selbst und anderer. Wir erklären durch rein intellektuelle Prozesse, aber wir verstehen durch das Zusammenwirken aller Gemütskräfte in der Auffassung. Und wir gehen im Verstehen vom Zusammenhang des Ganzen, der uns lebendig gegeben ist, aus, um aus diesem das einzelne und faßbar zu machen« (GS, Bd. V, S. 172). Auch an zahlreichen anderen Stellen in Diltheys Werk finden sich Belege für Diltheys fundamentale psychologische These, dass »der Zusammenhang in der Lebenseinheit« erlebt wird, d. h. »unmittelbar gegeben« ist (GS, Bd.  XIX, S. 353). Man kann daher diese These als Grundthese seiner gesamten Psychologie und Erkenntnisanthropologie ansehen. Dass der Strukturzusammenhang und die Erfahrbarkeit dieses Zusammenhangs durch innere Erfahrung für Diltheys Psychologie-Konzeption essenziell ist, hat er selbst in seiner Antwort auf Ebbinghaus’ Angriff zum Ausdruck gebracht: »Die Geisteswissenschaften gehen aus von dem in der inneren Erfahrung gegebenen seelischen Zusammenhang. Darin, daß Zusammenhang im Seelenleben primär gegeben ist, besteht der Grundunterschied der psychologischen Erkenntnis vom Naturerkennen […]. Da im Gebiet der äußeren Erscheinungen nur Neben- und Nacheinander in die Erfahrung fällt, könnte der Gedanke von Zusammenhang nicht entstehen, wäre er nicht in der eignen zusammenhängenden Einheit114

lichkeit gegeben. Diese ist ohne Hypothesen über eine einheitliche Spontaneität oder seelische Substanz, durch unsere inneren Wahrnehmungen und deren Verbindungen, im Strukturzusammenhang des Seelenlebens gegeben. Von demselben sind alle Einheitsbildungen und alle einzelnen Zusammenhänge umfaßt. Hinter diesen Zusammenhang können wir nicht zurückgehen; er ist die einheitliche Bedingung für Leben und Erkennen. So enthält er den sicheren Ausgangspunkt für die Psychologie« (GS, Bd. V, S. 237 f.; vgl. u. a. auch S. 173 f., S. 193, S. 240). Und Dilthey fügt hinzu: »Denn zunächst ist der Strukturzusammenhang selbst in ganz sicherer Weise gegeben« (GS, Bd. V, S. 238). Der Strukturzusammenhang, als »Ausdruck unserer einheitlichen strukturellen Lebendigkeit«, macht, »als eine einheitliche Kraft, dies Wort ohne jede metaphysische Substantialisierung genommen, den lebendigen Wirkungs­ zusammenhang innerhalb des Seelenlebens und der geschichtlichen Welt wenigstens innerhalb eines gewissen Umfangs verständlich«. Dass der Strukturzusammenhang selbst »in ganz sicherer Weise gegeben« ist, ist einerseits die Grundlage einer deskriptiven Psychologie im Dilthey’schen Sinne, die darauf beruht, dass der Struktur­ zusammenhang adäquat erfasst und beschrieben werden kann, und andererseits die entscheidende Bedingung der Möglichkeit, den Zusammenhang des Lebens und den Anderen zu verstehen. Dies hat Dilthey in einem Entwurf zur Fortsetzung des »Aufbaus« herausgestellt: »Der Lebensverlauf besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne Erlebnis ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist; es ist durch die Struktur mit anderen Teilen zu einem Zusammenhang verbunden. In allem Geistigen finden wir Zusammenhang […]. Nur weil das Leben selbst ein Struktur­ zusammenhang ist, in welchem die Erlebnisse in erlebbaren Beziehungen stehen, ist uns Zusammenhang des Lebens gegeben« (GS, Bd. VII, S. 195). Schon in der Abhandlung »Die Mannigfaltigkeit des psychischen Lebens und ihre Einteilung« (ca. 1880) hat Dilthey denselben Gedanken ausgesprochen: »Das Verhältnis dieser drei elementaren Funktionen zueinander innerhalb dieser verschiedenen status contientiae ist nicht direkt erkennbar; jedoch ist es als Erlebnis da, wir werden seiner inne und verstehen von ihm aus den fundamen­ 115

talen Zusammenhang in allem Lebendigen« (GS, Bd. XVIII, S. 116 f.). Und an anderer Stelle schreibt Dilthey: »Hier sind wir im Mittelpunkt der Psychologie. Diesen bildet ein Zusammenhang, welcher nicht in Begriffen ausgedrückt werden kann, den wir aber erleben und der in Folge davon von uns in concreto zum Bewußtsein gebracht werden kann: der einzige Zusammenhang einer Realität, eines realen Wesens, den wir überhaupt vorstellen können, und der für uns das Schema der Auffassung eines jeden anderen lebendigen und realen Ganzen wird« (GS, Bd. XVIII, S. 164 f.). Diese Äußerungen, die das Zentrum von Diltheys Psychologie erhellen, sprechen deutlich die Beziehung aus, die zwischen dem Konzept des Strukturzusammenhangs, der unmittelbar gegeben ist, und der Möglichkeit einer Hermeneutik des Anderen bestehen. Die Hermeneutik des Anderen beruht nach Dilthey auf einer Transposition, einem Analogieschluss, bei dem wir das, was uns in unserer inneren Erfahrung gegeben ist, aufgrund der fremden Lebensäußerungen analog in den anderen Menschen übertragen (vgl. GS, Bd. V, S. 249). Da – so Dilthey – »die inneren Vorgänge, welche nur an den menschlichen Körpern auftreten, […] denen ganz gleichartig [sind], die in der inneren Erfahrung gegeben sind, […] sind diese geistigen Tatsachen [, die »mit dem Sinnesbilde eines menschlichen Körpers verbunden sind«,] uns wirklich bis auf den letzten Grund verständlich. Sie sind alle untereinander verwandt« (GS, Bd. V, S. 249; vgl. auch S. 250 und zahlreiche weitere Stellen in Diltheys Schriften). Diltheys Projekt einer beschreibend-verstehenden Psychologie, das Ebbinghaus mit dem Begriff einer »Armchair-Psychologie« verächtlich gemacht hat (vgl. BW, Bd. II, S. 562), enthält, wie Sie ausgeführt haben, zweifellos große Chancen für die Entwicklung einer verstehenden, humanistischen Psychologie, die sich als Alternative zu einer quantifizierenden, naturalistischen Psychologie begreift, die die seelische Wirklichkeit des Menschen, mit Dilthey gesprochen, »verstümmelt«. Aber Diltheys Konzeption birgt auch einige methodologische Probleme, die auch von Ihnen in drei Fragen angesprochen werden und die ich abschließend thema­tisieren möchte. Eine Grundschwierigkeit ergibt sich aus der Frage, wie eine einerseits adäquate und andererseits allgemeingültige Beschrei116

bung der Bewusstseinszustände und des seelischen Zusammenhangs überhaupt möglich ist. Auf diese Frage hätte eine ausgearbeitete Methodologie der deskriptiven Psychologie eine Antwort zu geben, die von Dilthey zwar vorgesehen war, aber nicht in Angriff genommen wurde. Dilthey gibt auf diese Frage, wie eine allgemeingültige Auffassung des seelischen Zusammenhangs möglich ist, nur die nicht recht befriedigende Antwort, dass wir den seelischen Zusammenhang erleben und uns durch Introspektion gegenständlich machen können. Dilthey argumentiert zwar mit dem unbestrittenen Vorteil der inneren Wahrnehmung gegenüber der äußeren Wahrnehmung, dass wir im Innewerden die eigenen seelischen Zustände ohne Vermittlung der äußeren Sinne »in ihrer Realität auf[fassen], wie sie sind« (GS, Bd. V, S. 198). Dies beantwortet aber nicht die Frage nach der Möglichkeit der adäquaten, allgemeingültigen Beschreibung dieser Zustände. Eng verbunden mit dieser Problematik ist eine weitere. Diltheys Konzeption einer beschreibenden Psychologie basiert auf der fundamentalen Unterscheidung von äußerer und innerer Wahrnehmung bzw. Erfahrung. In seiner Abhandlung »Beiträge zum Studium der Individualität« definiert Dilthey zunächst die äußere oder sinnliche Wahrnehmung als »den Vorgang, in welchem die in den Sinnen auftretenden Eindrücke zu einem von dem Selbst unterschiedenen Ganzen verbunden werden« (GS, Bd. V, S. 243). Unter der äußeren Erfahrung versteht Dilthey dann »den Vorgangsinbegriff, in welchem durch das diskursive Denken eine oder mehrere äußere Wahrnehmungen in einen solchen Zusammenhang gebracht werden, daß diese Wahrnehmungen dadurch zu besserem Verständnis erhoben und die Erkenntnis der Außenwelt dadurch erweitert wird«. Unterschieden von der äußeren oder sinn­lichen Wahrnehmung ist das Innewerden von »inneren Vorgängen oder Zuständen«. Diese inneren, psychischen bzw. geistigen Tatsachen sind »die verschiedenen Zustände des Gefühls sowie die Akte des Denkens und Wollens« (GS, Bd. V, S. 244). In der inneren Wahrneh­ mung werden, wie Dilthey definiert, »durch die Aufmerksamkeit die Beziehungen deutlicher zum Bewußtsein gebracht, in denen die Bestandteile eines inneren Vorgangs oder Zustandes zueinander stehen«. In genauer Entsprechung zu seiner Definition der äußeren Erfahrung bestimmt Dilthey die innere Erfahrung als »den 117

Vorgangsinbegriff, in welchem durch das diskursive Denken eine oder mehrere innere Wahrnehmungen in einen solchen Zusammenhang gebracht werden, daß diese geistigen Tatsachen dadurch zu besserem Verständnis erhoben und unsere Erkenntnis der inneren Welt dadurch erweitert wird« (GS, Bd. V, S. 245). Die äußere, sinnliche Erkenntnis ist die Basis des Naturerkennens, wobei die äußere Erfahrung von Kausalität und Zusammenhang ein hypothetisches Konstrukt darstellt, da dieser Zusammenhang – wie schon von Hume behauptet – nicht erfahren werden kann, sondern – wie Dilthey sagt – in der äußeren Wirklichkeit nur durch unterlegte Hypothesen herzustellen ist. Dagegen beruht die Psychologie auf dem Selbsterleben, dem inneren Erleben bzw. dem Innewerden. Dem inneren Erlebnis kommt nach Dilthey Sicherheit, Unmittelbarkeit und Zusammenhang zu (vgl. GS, Bd. V, S. 169 f.). Hier gibt es – so Dilthey – keine Trennung in Subjekt und Objekt, und das seelische Leben ist als mein Leben mir von innen täuschungsfrei gegeben. Damit besitze ich einen exklusiven Zugang zum seelischen Zusammenhang, er muss nicht hypothetisch konstruiert werden. Der Zusammenhang des Seelenlebens ist somit unmittelbar in meiner inneren Erfahrung gegeben und damit eine sichere Basis für das Verstehen des Anderen (vgl. GS, Bd. V, S. 210). Dieser Ansatz bei der inneren Erfahrung enthält allerdings ein entscheidendes Problem: Wie ist die geforderte objektive psychologische Erkenntnis möglich, da die deskriptive Psychologie die Perspektive der ersten Person einnimmt? Kann ich denn überhaupt sicher sein, dass beim Anderen ähnliche Erlebnisse, ähnliche Zusammenhänge vorliegen? Das kann nur vermutet werden, da ich keinen unabhängigen, objektiven Zugang zum anderen Ich besitze. Denn das Verstehen des Anderen ist in Diltheys Konzeption nur durch Analogieschlüsse bzw. durch Übertragung des eigenen Seelenlebens auf den Anderen möglich (vgl. GS, Bd. V, S. 277; vgl. auch S. 206). Diltheys Psychologie funktioniert daher nur unter der starken Voraussetzung, dass es eine »große innere Verwandtschaft alles menschlichen Seelenlebens« gibt (GS, Bd. V, S. 199). Sein Modell des Verstehens (vgl. GS, Bd. V, S. 172, S. 198 f., S. 206) illustriert die ganze Problematik seines Ansatzes einer deskriptiven Psychologie. Durch den Ausgang von der Perspektive der ersten Person – dem 118

Innewerden – kann das fremde Ich nur insoweit verstanden werden, als es mit mir übereinstimmt.3 Die Möglichkeit der Übertragung, der Transposition meiner Erfahrungen auf das andere Ich, setzt aber die Gleichartigkeit der menschlichen Natur (vgl. GS, Bd. V, S. 229), die große seelische Verwandtschaft der Menschen voraus, was die Psychologie aber erst zu begründen und nachzuweisen hätte. Dadurch gerät das Projekt in einen unaufgelösten Begründungszirkel. Dilthey hat diese methodologische Problematik offenbar nicht gesehen oder in ihrer Bedeutung unterschätzt. Jedenfalls gibt er in seinen Arbeiten keine Lösungsansätze für dieses doch nicht ganz unbedeutende Problem zu erkennen. Ein letztes Problem der Dilthey’schen Psychologie betrifft das Verhältnis der (ahistorisch gedachten) Struktur des Seelenlebens zur Geschichtlichkeit des Menschen (vgl. z. B. GS, Bd. V, S. 266, S. 302). Dass seine Behandlung dieses fundamentalen Problems noch von einer befriedigenden Lösung entfernt war, hat Dilthey selbst in einem Brief an Paul Natorp (vom 9. März 1895), der der Sendung seiner »Ideen« beigegeben war, eingeräumt: »Der Versuch, die Geschichtlichkeit der Menschennatur psychologisch abzuleiten und den Eingang in die geschichtlichen Kategorien zu finden, ist gewiß auch nach sehr langem Nachdenken noch höchst ergänzungsbedürftig« (BW, Bd. II, S. 480 f.). Ich bin schon sehr gespannt auf Ihren Antwortbrief. Mit freundlichen Grüßen Ihr Hans-Ulrich Lessing 3 An einer Stelle (GS, Bd. V, S. 198 f.) weist Dilthey selbst auf diese Grundproblematik hin, die seinem Analogieschluss-Modell oder Transpositions-Modell des Verstehens anhaftet: »Wir ergänzen die innere Wahrnehmung durch die Auffassung fremder Personen. Wir fassen das Innere derselben auf. Dies geschieht durch einen geistigen Vorgang, welcher einem Schlusse der Analogie äquivalent ist. Die Mängel dieses Vorgangs sind dadurch bedingt, daß wir nur durch Übertragung unseres eignen Seelenlebens ihn vollziehen. Dasjenige an einem fremden Seelenleben, was von diesem eignen Innern nicht bloß quantitativ abweicht oder durch Abwesenheit von etwas, das im eignen Innern vorhanden ist, sich unterscheidet, kann von uns schlechterdings nicht positiv ergänzt werden. Wir können in solchem Fall sagen, daß ein uns Fremdes hinzutritt, wir sind aber nicht imstande zu sagen, was dieses sei.«

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Mark Galliker Erster Brief an Herrn Lessing

Lieber Herr Lessing, vielen Dank für Ihren weiterführenden Brief. Es freut mich, dass wir über Diltheys Werk und dessen wissenschaftliches Potenzial hinsichtlich der modernen Psychologie und Psychotherapie in einen Dialog gelangen. Ihr Brief ist für mich in verschiedener Hinsicht aufschlussreich und hat mich zu weiteren Überlegungen angeregt. Sie stimmen meiner Interpretation weitgehend zu und sehen Differen­zen im Wesentlichen nur bei bestimmten Akzentsetzungen. So sind wir uns sicherlich einig darin, dass Sie – wie Sie zu Beginn Ihrer Ausführungen schreiben – Diltheys psychologische Konzeption vor allem im Kontext der angestrebten erkenntnistheoretisch-methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften betrachten, während ich sie eher unter dem Aspekt einer Neukonstituierung der Disziplin Psychologie sehe. Ich bin mir bewusst, dass Diltheys wichtigstes Anliegen die psychologische Grundlegung der Geisteswissenschaften war; doch glaube ich, dass man an mehreren Stellen von Diltheys Programmschrift »Ideen« (1894/1990) sowie an anderen Stellen seiner Schriften sehen oder zumindest herauslesen kann, dass Dilthey mitunter an eine neue geisteswissenschaftliche Psychologie gegenüber der naturwissenschaftlich orientierten und experimentell ausgerichteten Allgemeinen Psychologie dachte, die Sie »erklärende und konstruktive Psychologie« nennen (meines Erachtens »konstruktiv« im Sinne einer Postulierung abstrakter »Konstrukte«, die für alle Versuchspersonen gelten sollen). Auch Ebbinghaus ging in seiner Kontroverse mit Dilthey meistens, wenngleich nicht immer, davon aus, dass dieser eine Psycho120

logie begründen wollte, die der seinen entgegengesetzt war. Allerdings finden sich im Werk des Begründers der Geisteswissen­schaft auch Stellen, die eher dafür sprechen, dass Dilthey die geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Psychologie nicht als unabhängig voneinander, sondern als einander ergänzend betrachtete (vgl. u. a. GS, Bd. V, S. 154). So wird mitunter die Auffassung vertreten, dass sich Natur- und Geisteswissenschaften nicht auf zwei unterschiedliche Wirklichkeiten, sondern auf zwei verschiedene Aspekte derselben beziehen. Indessen könnte meines Erachtens als psychologische Basis der Geisteswissenschaften nur eine eigenständig erarbeitete wissenschaftliche Psychologie dienen, die als solche selbst einen wesentlich anderen Charakter hat als die naturwissenschaftliche Psychologie und dieselbe nicht nur komplementiert oder denselben Gegenstand der Psychologie von zwei Seiten betrachtet. Sie haben an mehreren Stellen Ihres Briefes zu Recht darauf hingewiesen, dass sich Dilthey zufolge das Individuum in Wechsel­wirkung (laut dem Psychologielexikon Dorsch: Interaktion, wechselseitige Beeinflussung) mit dessen Umgebung befindet. So schreiben Sie, dass sich alles psychische Leben von dessen (umgebenden) »Milieu bedingt findet« und auf dasselbe zweckmäßig zurückwirkt. Weiterhin erinnern Sie an Diltheys Auffassung, dass der Strukturzusammenhang erlebbar ist, wobei im Erlebnis die »Vorgänge des ganzen Gemüts« zusammenwirken. Wenn Elemente und Vorgänge ausschließlich in einem jeweils erlebten, alles umgreifenden Zusammenhang verbunden sind, kann man sich sicherlich fragen, ob Dilthey, wenn er darauf besteht, dass »etwas« oder gar »alles« erlebt sein muss, damit wirklich mehr meint als das, was mithin »bewusst« und wahrnehmungsmäßig »gegeben« ist (vgl. Rickert, 1920, S. 18). Der Lebensphilosoph versucht seine »fundamentale psychologische These« zu belegen, dass die Lebenseinheit unmittelbar erlebt wird, jedoch ohne dass er sein Konzept des (erlebbaren) Strukturzusammenhangs vorgängig eindeutig bestimmt hat. Manchmal scheint von ihm alles im Kleinen und Großen (von einzelnen Personen, Gruppen bis zu den Kultursystemen, Nationen und historischen Epochen, ja auch bis zum »Leben selbst«) als »Strukturzusammenhang« betrachtet zu werden. 121

Bezüglich des Verhältnisses von »äußerer Erfahrung« und »innerer Erfahrung« verwendet Dilthey in beiden Fällen den Ausdruck »Vorgangsinbegriff« (GS, Bd. V, S. 245) und sieht nach dem »Innewerden« der Erfahrung die Differenz nur in der besonderen Aufmerksamkeit, die den inneren Vorgängen oder Zuständen zugewendet wird (S. 244). Demnach unterscheidet Dilthey nicht zwischen »Begriff« und »Inbegriff«, was meines Erachtens dem Verständnis des Innewerdens entsprechen würde, allerdings an der weiteren Fragwürdigkeit seiner Begrifflichkeit auch nichts ändern könnte. In beiden Fällen handelt es sich um Konzepte, die zwar zu seinem Wechselwirkungskonzept passen würden, nicht aber zu seinem Konzept unmittelbarer innerer Erfahrungen, falls überhaupt unterstellt werden darf, dass bei ihm dieses Konzept immer in gleicher Weise verwendet wird. Doch Signifikanten wie »unmittelbare Erfahrungen« oder »innere Erlebnisse« scheinen bei ihm eher auf jeweils diverse Signifikate zu verweisen. Innere Erlebnisse würden bei einem konsistenten Ansatz der Wechselwirkung immer auf dem Innewerden beruhen, wodurch sie ebenfalls als »mittelbare« Erlebnisse verstanden werden müssten, genauso wie jene Erfahrungen, mit denen man (mitunter durch wiederholte Erlebnisse) Erkenntnisse erhält, seien es nun externe oder interne Erfahrungen, die als solche nicht länger als unmittelbare betrachtet werden könnten, also auch dort nicht, wo »unmittelbare Erfahrungen« und »innere Erlebnisse« als Synonyme figurieren. So kann etwa nach Schopenhauer, der sich teilweise Goethe und Schelling anschloss und schließlich auch den ursprünglich verehrten Kant heftig kritisierte, jedermann ausschließlich sein Wille unmittelbar bekannt sein (vgl. u. a. Schopen­hauer, 1819/1987, S. 164), da nur in dieser Hinsicht Subjekt und Objekt zusammenfallen (S. 179). Auch Sie weisen darauf hin, dass es im »Selbsterleben« Diltheys keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt gibt. Um jedoch darüber hinauszukommen – nicht zuletzt auch im Sinne Schopenhauers –, ist »Vorstellung« notwendig, insbesondere begriffliches Denken, das einen gewissen Abstand zwischen Subjekt und Objekt schafft (vgl. Rickert, 1920, S. 110). Solange das Erleben noch intuitiv bleibt, ist es noch kein eigentliches Erkennen, allenfalls eine Vorstufe desselben (Rickert, 1920, S. 117). Wie dem auch sei: Schließlich stellen Sie in Ihrem Brief zu Recht die meines Erachtens entscheidende Frage nach den Bedingungen der 122

Möglichkeit einer adäquaten, allgemeingültigen Beschreibung der Zustände und Vorgänge, die für Dilthey von Bedeutung sind. Wenn Sie mit Dilthey davon ausgehen, dass ein Erlebnis motivationale, emotionale sowie kognitive Seiten aufweist, scheint es mithin auch möglich zu sein, dass in Erlebnissen kognitive Seiten isoliert und aus ihnen vielleicht gar kognitive Momente herausgehoben werden können. Dennoch fällt es einem schwer, sich vorzustellen, dass aus individuellen Erkenntnissen schließlich auch solche der überindividuellen Art hervorgehen können, stellten sich doch eine Reihe von Problemen, von denen hier nur auf das Generalisierungsproblem hingewiesen werden kann. Ich stimme Ihnen zu, dass im Sinne Diltheys im Gebiet der äußeren Erfahrungen nur Neben- und Nacheinander in die individuelle Erfahrung fallen und demzufolge ein Gedanke von Zusammenhang nicht entstehen könnte, würde er nicht innerhalb der Verschiedenes zusammenfügenden Einheit eines momentanen Bewusstseinsausschnitts erscheinen. Dilthey konnte nur so einen Ausgangspunkt für seine Psychologie und in der Folge eine Grundlage für die Geisteswissenschaften finden; zumindest dort, wo er den Ansatz der Wechselwirkung außer Acht lässt oder gar vergisst. Doch wie sollte der weitere Aufbau seiner Wissenschaft schließlich vonstatten gehen, beispielsweise hinsichtlich persönlicher Erinnerungen oder gar historischer Zusammenhänge? Zunächst zu den Erinnerungen: Vorstellungen können sich assoziativ anderen Vorstellungen anschließen, die schließlich auf Vergangenes zurückverweisen bzw. »er-innert« werden. Zu einem Einfall bzw. einer Erinnerung desselben, d. h. zu einer Gedankenverbindung, womöglich von einem »Aha-Erlebnis« im Sinne Bühlers begleitet (vgl. Bühler, 1934/1999, S. 311), könnte es Dilthey zufolge dann – und nur dann – kommen, wenn Gegenwarts- und Vergangenheitsvorstellung innerhalb einer Bewusstseinsspanne erlebt werden; doch wissen wir aus der Psychoanalyse, dass beispielsweise eine Patientin plötzlich weint, ohne dass sie einen Anlass dazu anzugeben vermag bzw. ohne dass in einer in ihrem Bewusstsein vorbeiziehenden Assoziationskette eine Vorstellung aufgetaucht ist, die das Weinen veranlasst haben könnte. Hinsichtlich einer Kenntnisnahme schriftlicher Dokumente mit der Intention einer Erkenntnis historischer Zusammenhänge 123

könnte man zur Not zwei verschiedene Textstellen direkt nebenoder nacheinanderstellen und lesen bzw. dieselben auch miteinander »erleben«, um sich beide Stellen gleichzeitig zu Bewusstsein zu führen. Doch wäre dieses Erlebnis eines (insbesondere auch gedanklichen) Zusammenhangs noch unvermittelt? Schon der Vorgang selbst sowie die Tatsache, dass es sich bei den Textstellen um vorgängig sprachlich ausformulierte handelt, sind als externe Vermittlungen des scheinbar unmittelbaren Erlebnisses zu betrachten. Indessen haben Sie in Ihrem Brief schließlich auf das methodologische Problem aufmerksam gemacht: Bei einem Primat der inneren Erfahrung ergibt sich für die Psychologie das Problem der Wissenschaftlichkeit. Es stellt sich die Frage, wie man aus einem rein psychisch verfassten Bereich zu einer Geschichtsschreibung als einer wissenschaftlichen Disziplin gelangt, so wie man sich fragen kann, wie man aus der Geschichte (zumindest als einer bis und mit Dilthey als »unsystematisch« eingeschätzten) philosophisch relevante Prinzipien ableiten kann (vgl. u. a. Rickert, 1920, S. 46). Auch wenn Dilthey das Subjekt mancherorts als gesellschaftlich eingebettetes versteht, gelangt er mit seinem andernorts gepflegten Psychologis­ mus doch nicht zur Intersubjektivität. Nur wenn er das menschliche Wesen konsequent und durchgängig als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse betrachten würde, könnte er die Intersubjektivität primär setzen und von dieser einen Weg zum einzelnen Subjekt finden. Soll mit Wissenschaft Allgemeingültigkeit erreicht werden, scheint sie nur über Intersubjektivität konstituierbar zu sein, die auch unabhängig von vereinzelter Subjektivität besteht. Lukács, der in seinem Werk »Die Zerstörung der Vernunft« (1960) hinsichtlich seiner Kritik Diltheys hauptsächlich Rickert (1920) referierte, befasste sich v. a. mit dem Verhältnis Individuum und Geschichte. Zwar erkannte er Diltheys Kritik am »akade­ mischen Positivismus« an, doch er bezweifelte, dass es möglich ist, aus individuellen Erlebnissen einen Weg zur Grundlegung der Geschichtswissenschaft zu finden. Nach Meinung von Lukács übersah der deutsche Lebensphilosoph in seiner »Kritik der histo­ rischen Vernunft«, dass jedem Erlebnis schon Vorformen, wenn nicht »Formen der Wirklichkeit« vorausgesetzt sind. So gelangt Lukács zu folgendem Schluss: »Eine Psychologie als Fundamental­ wissenschaft der Geschichte kann es nicht geben« (1960, S. 369). 124

Was Ebbinghaus für die Allgemeine Psychologie reklamierte, nämlich primär die Erfahrbarkeit hypothetischer Zusammenhänge, scheint zumindest für überindividuelle Zusammenhänge, wie sie auch in der Sozialpsychologie, Soziologie oder Geschichtswissenschaft, alles Disziplinen der Geisteswissenschaften, thematisiert werden, zutreffend zu sein; andernfalls würden je nach den jeweiligen Standpunkten der wahrnehmenden Individuen Zusammenhänge reflektiert, welche für dieselben zwar stimmig sein mögen, aber wohl kaum von ideologischen Repräsentationen der Wirklichkeit unterscheidbar wären. Wenn Wissenschaft wirklich subjektivistisch nicht formierbar sein sollte, wird es auch keine wissenschaftlich legitimierbare Psycho­logie, mithin auch keine psychologische Grundlage der Geisteswissenschaften im Sinne Diltheys geben. Dabei ist mir durchaus bewusst, dass auch bei Dilthey Ansätze zur Intersubjek­ tivität und damit zur Wissenschaftlichkeit bestehen. Denken wir nur etwa an eine Konzeption wie Objektivation. Dilthey übernahm sie indes nicht als Moment dialektischer Bewegungen (etwa im Sinne Hegels), um sie begriffssystematisch zu organisieren. Er lehnte sich diesbezüglich an die trivialisierte Konzeption von dem ihm in jungen Jahren noch nahestehenden Völkerpsychologen Lazarus an. Immerhin vermochte Lazarus (1862) der Objektivation in ihrer besonderen, eigenwilligen Kontextualisierung und Ausformulierung noch die Aneignung hinzufügen, womit er zumindest auf dem Weg zu einer vordergründigen »Synthese« war, mit der er insofern den Kreislauf der Tradierung schon fast schließen konnte (Galliker, 1993). Bei Dilthey bezieht sich die »Innerlichkeit« schließlich auch auf Objektivationen, in dieselben sich Rezipienten hineinbegeben, derer sie sich innewerden. Deren methodischer Zugang ist nicht die »Innenwendung« im Sinne von Augustinus (397/2003), die schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Psychologie zur »Selbstbeobachtung« (sog. Introspektion) münden wird, wenigstens in einem gewissen Sinne sogar in das Selbstverständnis der Würzburger Schule (sog. systematische, kontrollierte oder auch experimentelle Selbstbeobachtung), sondern eben »Innewerden«, in einem zumindest sozialen, manchmal auch gesellschaftlichen Kontext (Dilthey rekurriert in diesem Zusammenhang oft ledig125

lich auf das »Milieu«), was andere »Inhalte« und auch eine andere Methodologie verlangt. Bei Diltheys »höherem Verstehen« (GS, Bd. VII) geht es darum, dass eine Person durch ihre plastische Kraft auch Gegenstände aufzufassen und zu »verlebendigen« sucht (vgl. u. a. auch Rodi, 2011, S. 108), was doch – zumindest in einem gewissen Sinne – der Aneignung entsprechen könnte. Wenn eine Lebensäußerung (wie z. B. eine geistige Produktion) fixiert ist, kann zu ihr zurückgekehrt werden; dies auch von mehreren Seiten, verschiedenen Personen, sodass eine intersubjektive Auslegung schließlich durchaus möglich sein könnte (vgl. u. a. auch GS, Bd. V, S. 319). Wenn ich Sie recht verstehe, gehen Sie davon aus, dass Diltheys Programm hinsichtlich einer geisteswissenschaftlichen Psychologie »steht und fällt« mit seiner Setzung, dass Strukturzusammenhänge unmittelbar erlebbar sind, wobei »Übergänge eines Zustandes in den anderen«, die in die innere Erfahrung fallen, für das Studium eben dieser Zusammenhänge (meines Erachtens insbesondere methodologisch) »entscheidend« sind. Sie weisen auch darauf hin, und das finde ich besonders relevant, dass »die Tatsache einer unmittelbaren Erfahrbarkeit des seelischen Zusammenhangs« nach Dilthey auch fundamentale Bedeutung für die Möglichkeit des Verstehens im Sinne der »Hermeneutik des Anderen« hat. Ich kann Ihnen nur zustimmen, dass Dilthey einiges zum Verständnis nicht nur des höheren Verstehens, sondern auch des elementaren, persönlich wichtigen und auch hinsichtlich der Psychotherapie relevanten Verstehens beitrug und damit zu einem Pionier der Psychotherapie wurde. Selbst wenn uns Dilthey hinsichtlich einer humanistischen Psychologie als einer allgemeinen Wissenschaft, entgegen meiner ursprünglichen Hoffnung, vielleicht nicht so viel zu bieten vermochte, meines Erachtens nicht als Pionier der Psychologie gelten kann, erwies sich sein Beitrag doch hinsichtlich insbesondere der humanistischen Psycho­ therapie als ergiebig, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche. Allerdings war Dilthey nicht der erste Philosoph, der wesent­ liche Konzepte der modernen Psychotherapie vorbereitete oder gar vorwegnahm. Schon Schleiermacher (1838/1977) versuchte das Verstehen zu verstehen. Vom »komparativen Verstehen« (vergleichendes Erschließen eines Sinnzusammenhangs in einem fachspe126

zifischen Kontext) unterschied er das »divinatorische Verstehen« (bzw. ahnende Verstehen), bei dem intendiert wird, »sich gleichsam in den anderen zu verwandeln« (vgl. Schleiermacher, 1838/1977, S. 169). Schleiermacher wies auch schon darauf hin, dass man die Äußerungen eines Anderen, nicht zuletzt auch die verbalen, zuweilen in die eigene Sprache übersetzen müsse, um sie genauer verstehen zu können (vgl. Schleiermacher, 1813/2002, S. 67). Damit eröffnete sich in der Verständigung die Möglichkeit des Gewinns eines »Mehrwertes«. Meines Erachtens glaubte auch Dilthey, mit dem hermeneutischen Verfahren den zu verstehenden Sprachproduzenten »besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat« (GS, Bd. V, S. 331). Allerdings stellt sich dabei die Frage, ob eine über das Selbstverständnis hinausweisende Interpretation für einen zu verstehenden abwesenden Autor oder auch einen anwesenden Gesprächspartner zutreffend ist bzw. bei einer präsenten zu verstehenden Person »intersubjektive Verständigung« im konkreten Fall tatsächlich zustande kommt, was von einigen Personzentrierten Gesprächspsychotherapeuten eher skeptisch gesehen wird, von anderen aber durchaus auch bejaht wird (vgl. u. a. Finke, 2002). Dilthey, der Schleiermacher eingehend studiert und auch eine monumentale philosophische Biografie desselben verfasst hatte (vgl. hierzu auch D’Alberto, 2015), unterschied von dessen divina­ to­rischen Vorgehensweise die seinige hauptsächlich durch zur Devina­tion hinzukommende komparativen Verfahrensweisen sowie durch das Prinzip der Kongenialität. Unter dem elementaren Verstehen anderer Personen im zwischenmenschlichen Handeln verstand Dilthey das Verstehen als »Nachfühlen fremder Seelenzustände«. Dabei achtete er nicht zuletzt – und in dieser Beziehung durchaus theoretisch konsequent – auf externe Zeichen, was später auch in der Humanistischen Psychotherapie (insbesondere in der Gestalttherapie) relevant wurde. »Erst durch den Vorgang der Nachbildung dessen, was so in einzelnen Zeichen in die Sinne fällt, ergänzen wir dies Innere. Alles: Stoff, Struktur, individuellste Züge dieser Ergänzung müssen wir aus der eigenen Lebendigkeit übertragen« (GS, Bd. V, S. 318). Nach Dilthey versetzt sich die verstehende Person in die persönliche Welt der zu verstehenden Person hinein. Dieses Hinein127

versetzen erfolgt indes im Bewusstsein einer Distanz, die es einerseits womöglich zu überwinden gilt, andererseits aber in keine Identifikation münden soll (vgl. u. a. auch Rodi, 2011, S. 108). Es handelt sich um einen Perspektivenwechsel, bei dem es nicht nur um ein emotionales Verstehen geht, ein intuitives Erspüren und erahnendes Mitschwingen, sondern zugleich auch um ein Verständnis der phänomenalen Welt der zu verstehenden Person. Beim Innewerden entsprechender Sinnzusammenhänge wird den Ausführungen des Gegenübers, ohne die eigene Position aufzugeben, solange Vollkommenheit unterstellt, bis man trotz aller Bemühungen zum Ergebnis gelangt, dass die Barrieren der Verständigung nicht auf Seiten des Rezipienten liegen. Dilthey versuchte deshalb, wenngleich nicht nur deshalb, auch eine vordiskursive Schicht freizulegen und einen Zugang zu ihr zu finden; eine Schicht des unmittelbaren organismischen Erlebens, was insbesondere für zukünftige humanistische Psychologen und Psychotherapeuten von Bedeutung war (Rodi, 2011, S. 105). Die in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika sich formierende Humanistische Psychologie orientierte sich u. a. auch an der geisteswissenschaftlichen Tradition, die sich vorgängig mit dem Bekanntwerden der Arbeiten von Dilthey in Europa herauskristallisierte und von Migranten in die USA gebracht wurde (vgl. u. a. Hutterer, 1998/2006, S. 248). 1962 gründeten Charlotte Bühler (1893–1974), Abraham Maslow (1908–1970), Carl Rogers (1902–1987) und andere humanistisch gesinnte Psychologen und Psychotherapeuten die American Association for Humanistic Psychology (Sitz in San Francisco). Der Mitbegründer der Humanistischen Psychologie und Begründer der Personzentrierten Gesprächspsychotherapie Rogers verwendete in seiner »Theory of Therapy« den Begriff »Empathie«: »Empathisch zu sein bedeutet, den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so, als ob man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals die ›als ob‹-Position aufzugeben. Das bedeutet, Schmerz oder Freude des anderen zu empfinden, gerade so wie er empfindet, dessen Gründe wahrzunehmen, so wie er sie wahrnimmt, jedoch ohne jemals das Bewusstsein davon zu verlieren, dass es so ist, als ob man verletzt würde usw.« 128

(Rogers, 1959/2009, S. 44). Bei einer verlorenen »als ob«-Position würde sich der Therapeut oder die Therapeutin mit dem Klienten oder der Klientin identifizieren; ein Vorgang, welcher der Therapie abträglich wäre. In »Therapeut und Klient« (1977/1988) führte Rogers auch das »Konzept des einfühlenden Verstehens« an: »Ein solches einfühlendes Verstehen heißt, daß der Therapeut in der Welt des Klienten gleichsam zu Hause ist« (S. 23). Zwar brachte auch schon Dilthey Mitfühlen und auch Einfühlen mit dem Verstehen in Verbindung (vgl. Scholz, 2011, S. 96), doch das »Konzept des einfühlenden Verstehens« verwendete er noch nicht, und einer »Einfühlungstheorie« gegenüber blieb er weitgehend indifferent (vgl. Rodi, 2011, S. 107). Wenn ausschließlich vom eigenen Fühlen des Therapeuten auszugehen wäre und auf das Fühlen des Klienten geschlossen würde – ein Vorgang, der auch von Dilthey nicht immer ausgeschlossen wird – ergibt sich das Problem des Analogieschlusses und damit das Problem der Privatsprache, so wie es Wittgenstein in den »Philosophischen Untersuchungen« (1947/1971) in einem grundsätzlichen Sinne behandelt hat. Sie selbst weisen in Ihrem Brief darauf hin, dass Diltheys Übertragung des eigenen Seelenlebens auf andere Menschen nur unter der starken Voraussetzung der Gleichartigkeit der menschlichen Natur erfolgen könnte, was indes zunächst psychologisch nachzuweisen wäre, wodurch dieses Projekt in einen »unaufgelösten Begründungszirkel« käme. Das Pro­blem der Intersubjektivität stellt sich also nicht nur im eigentlichen wissenschaftlichen Bereich, sondern auch hinsichtlich der »psychotherapeutischen Kunstlehre«, zumal die Vergegenständlichung und damit die Zwischenschaltung von Objekten gerade in diesem Bereich weitgehend wegfällt, wenn man von der mehr sozialpädagogisch orientierten »Themenzentrierten Interaktion« von Cohn (1975/2000) absieht, die als humanistische Gruppentherapie verstanden werden kann. So treffend Ihre Argumentation zweifellos ist, erlaube ich mir dennoch die Frage, ob nicht wenigstens im Bereich der Psychothe­ rapie das Problem praktisch aufgefasst, wenngleich nicht aufgelöst werden könnte, beispielsweise wenn sich der logische Zirkel als hermeneutischer Zirkel herausstellen würde. Rogers führte in seiner »Theory of Therapy« (1959/2009) neben der Empathie eine Reihe weiterer Begriffe ein, zu denen auch das 129

Konzept der Akzeptanz gehörte, die er als »bedingungslose« verstand. Dieses Konzept verwendete Rogers wie folgt: »Ich habe oft von ›Akzeptieren‹ […] gesprochen, um diesen Aspekt des therapeutischen Klimas zu beschreiben. Dieses Klima ist durch ein gleichmäßig starkes Gefühl der Akzeptierung gekennzeichnet, gleichgültig, ob der Klient von negativen ›schlechten‹, schmerzlichen, ängstlichen und abnormalen Gefühlen spricht oder von ›guten‹ positiven, reifen, zuversichtlichen und sozialen Gefühlen« (1961/2006, S. 277). Das vielleicht wichtigste Konzept in Rogers’ Theorie ist indes die Kongruenz, worunter er die Übereinstimmung der Vorstel­ lungsgestalt bzw. des wahrgenommenen Selbst (auch Selbstaktualisierung genannt) mit der Aktualisierungstendenz bzw. der aktuellen Erfahrung des Organismus verstand. Lukits (2016) hat darauf hingewiesen, dass Rogers’ Theorie eine bipolare Struktur aufweist, die jener von Vorstellung und Wille (insbesondere im Sinne von »Lebenswille«) in der Philosophie Schopenhauers (1819/1987; 1844/2005) entspricht, der – durchaus ähnlich wie später auch Dilthey – in ambivalenter Weise an die Transzendentalphilo­sophie Kants anknüpfte (Näheres in Galliker, 2019). Aufgrund der relativen Autonomie der Aktualisierung des Selbst kommt es unter ungünstigen Umständen und insbesondere Bewertungsbedingungen zu einer Differenz der beiden Tendenzen (Selbstaktualisierung versus Aktualisierungstendenz) und damit zu einer Inkongruenz von wahrgenommenem Selbst und organismischem Erleben bzw. zu einer inadäquaten Symbolisierung der vollständigen Erfahrung (vgl. u. a. Rogers, 1959/2009, S. 35). Nach Lukits handelt es sich bei der Inkongruenz um eine »Diskrepanz zwischen einer organismischen Erfahrung und deren nicht vollständigem Gewahrsein, also einer Diskrepanz zwischen organismischer Erfahrung und bewusstem Erleben« (2018, S. 118); eine Inkongruenz, die es in einer Personzentrierten Gesprächspsychotherapie aufzulösen oder wenigstens zu verringern gilt. Damit stellt sich die Frage, ob wenigstens im psychotherapeu­ tischen Bereich das Problem der Intersubjektivität umgangen bzw. Missverständnisse vermieden werden können. Das von Ihnen angesprochene Problem des Begründungszirkels mag zwar grundsätzlich nicht lösbar sein und wir Therapeuten tun wohl gut daran, 130

immer offen zu bleiben für die Möglichkeit, dass wir einen Klienten oder eine Klientin letztlich doch nicht (ganz) verstehen, doch möchte ich es hier nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass es Vorgehensweisen gibt, die das Problem zumindest in einem prak­ tischen Sinne zu verringern vermögen. Ein Beispiel ist Keils »Hermeneutische Empathie in der Klienten­ zentrierten Psychotherapie« (1997). Nach dem Autor bieten v. a. die kongruenten nicht-akzeptierenden und nicht-verstehenden spon­tanen Reaktionen des Therapeuten den »hermeneutischen Schlüssel« zum Verstehen der Inkongruenz des Klienten. Der Thera­ peut erspürt somit das inkongruente Selbst des Klienten und dessen Bedingungszusammenhang und damit eröffnet er sich und im Weiteren auch dem Klienten oder der Klientin den »Horizont der Kongruenz« (vgl. Keil, 1997, S. 11). Dies erfolgt aber nur, wenn der Therapeut im Nicht-Akzeptieren und Nicht-Verstehen selbst kongruent ist. »Resultieren seine Reaktionen aus seiner eigenen Inkongruenz, dann enthalten sie keinen Hinweis auf die Problematik des Klienten, sondern verweisen auf seine eigene« (S. 10). Keil weist auch darauf hin, dass neben dem inkongruenten Nicht-Akzeptieren und Nicht-Verstehen das inkongruente Akzeptieren und Verstehen ebenfalls vorkommen, für das gerade Gesprächspsychotherapeuten und -therapeutinnen besonders anfällig seien (S. 12). Nach Keil, der zu den wenigen Gesprächspsychotherapeuten gehört, die Empathie, Akzeptanz und Kongruenz nicht einfach als Forderungen nebeneinandergestellt haben, vermag die Personzentrierte Psychotherapie hinsichtlich der intersubjektiven Verständigung eine hermeneutische Funktion erfüllen, indem die drei genannten Konzepte nicht unabhängig voneinander betrachtet, sondern in eine Ergänzungsreihe gebracht werden. Ich bin Ihnen, Herr Lessing, dankbar, dass Sie in Ihrem Brief festgehalten haben, dass Dilthey mit seiner »deskriptiven Psychologie die Perspektive der ersten Person einnimmt«. Dies brachte mich auf den Gedanken, dass sich das Problem der Intersubjektivität in Wissenschaft und Psychotherapie in Theorie und Praxis von Gendlins »First-Person-Science« respektive »Focusing« so nicht stellt. In beiden Fällen geht Gendlin im Anschluss an Dilthey von der Person (bzw. deren Leib) in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt aus. Die hinsichtlich der Intersubjektivität relevante Interaktion von 131

Person zu Person ist in die Person-Umwelt-Interaktion involviert, wenngleich sie von Gendlin theoretisch nicht besonders hervorgehoben wird und in praktischer Hinsicht eine Therapeutin oder auch eine Bekannte als Begleitperson fungiert, die das eigenständige, körperbezogene Vorgehen der Person unterstützt, indes in keiner Weise zu beeinflussen oder gar zu forcieren versucht. Bei Gendlins »ganzheitlicher Einpersonenwissenschaft« handelt es sich um eine prozessorientierte Wissenschaft im Unterschied zur traditionellen »atomistischen Wissenschaft«, in welcher der Forschungsgegenstand ein Dritte-Person-Objekt ist, das von außen betrachtet wird wie etwas, das sich dem Forscher gegenüber befindet. »Wenn diese Beobachter sich selbst studieren wollten, würden sie dafür andere Beobachter anheuern. Wir wollen eine Wissenschaft daneben stellen, mit deren Hilfe Menschen sich selbst erforschen« (Gendlin zit. nach Wiltschko, 2008, S. 184; Hervorh. M. G.). Gendlin fragt sich, wie eine Wissenschaft möglich sein könnte, aus welcher die Person nicht herausfällt, so wie dies bei einer Wissenschaft der Fall ist, in der alles in kleinstmögliche, voneinander abgetrennte und deshalb unbelebte Stücke zerteilt wird, so wie sich auf ähnliche Weise schon Dilthey in seinen »Ideen« (1894/1990) ausgedrückt hatte. Gendlin wies hinsichtlich seines Schaffens ausdrücklich auf die Relevanz Diltheys hin: »Vieles habe ich bei Wilhelm Dilthey gefunden. Der ›Erlebnisstrom‹ von Dilthey ist mein experiencing: Erleben als Prozess, nicht als Ansammlung expliziter Erlebnisse. Dilthey hat mit dem Auslegen von Texten begonnen, mit der Hermeneutik. Er sagt zum Beispiel: Jedes Erleben ist auch ein Verstehen und ein Ausdruck, so wie jeder Ausdruck ein Erleben und ein Verstehen und alles Verstehen auch Erleben und Ausdruck ist« (vgl. Gendlin zit. nach Wiltschko, 2008, S. 150; Hervorh. Wiltschko). Zu den relevanten Fundstellen von Gendlins Konzept bei Dilthey gehören auch Begriffe wie Kreuzen und Vorantragen (vgl. u. a. GS, Bd.  VII, S. 156 ff.). Dilthey verfügte seinerseits über Kenntnisse Schopenhauers, verwendete auch Begriffe desselben in vergleichbaren Kontexten wie z. B. Innewerden (vgl. u. a. Schopenhauer, 1819/1987, S. 80), ein Signifikant, den schon Herder und andere Autoren verwendet hatten; allerdings ist in Diltheys eher fragmentarischen Stellungnahme zu Schopenhauer keine einheitliche Linie 132

erkennbar. Gendlins »Explikationshermeneutik« bildete sich in der Tradition des deutschen Idealismus heraus. So scheint Diltheys Bezug auf Schopenhauers »Immanenzgedanke« relevant gewesen zu sein (vgl. Kohl u. Schubbe, 2018, S. 289). Allerdings bezieht sich Gendlin in seinem »Prozess-Modell« auch direkt auf die »Phänomenologie des Geistes« von Hegel (1807/1970), in dem dieser die Menschheitsgeschichte als einen immanenten, durch immer neu entstehende Widersprüche vorangetriebenen Prozess betrachtete (vgl. Gendlin, 1997/2016, S. 19). Wie Dilthey an manchen Stellen seiner Schriften geht auch Gendlin in seinem Hauptwerk »Ein Prozess-Modell« von der Interaktion aus (1997/2016, S. 51 ff.). Gendlin nennt sein Konzept im Sinne eines Axioms »Interaktion first« (S. 92). Nach dem Autor ist der Lebensprozess eine beständige Leib-Umwelt-Interaktion, eine Wechselwirkung mit dessen Umgebung. Gemäß Gendlin, der an entsprechende Textstellen Diltheys anschließt, vermag kein Mensch aus seiner Kultur, Gesellschaft, Familie usw. herauszutreten. Das sind alles persönliche Bezüge, die sich in seinem Organismus kreuzen. »Selbst die höchsten Verzückungen der Religion hängen zusammen mit Eindrücken der Natur, klimatischen Verhältnissen, Enthaltung von Nahrung, Speise, Schlaf usw. Physische Tatsachen sind so in allen Geisteswissenschaften mit geistigen Tatsachen verbunden. Die geistigen Tatsachen treten zu den physischen hinzu. Sie treten an den Sinnesobjekten auf« (GS, Bd. V, S. 252). Gendlin zufolge werden mit der Interaktion jeweils neue Erfahrungen vom Organismus einbezogen, wodurch sich das schon früher Integrierte verändert, bevor es weitergehend aufgefächert und ausgebreitet wird. Gendlins Prozess ist ein sich selbst generierender Lebensprozess, der im Wesentlichen darin besteht, dass sich die Person in etwas Gegebenes hineinbegibt; in der Regel in etwas bereits interaktiv Involviertes, wodurch sich etwas Weiteres ereignet, das weitergehend wiederum ausgedrückt wird. Auf jede weitere Aktivität folgt wieder ein neues Implizieren. »Jedes Geschehen geschieht in das letzte Implizieren hinein und verändert es« (Gendlin, 1997/2016, S. 171). Ein sich vorantragendes Geschehen ist eine Explikation, die jedoch nicht als einfache Repräsentation verstanden werden kann, 133

sondern selbst jeweils ein weiterer Prozess ist. Nach Gendlin bedeutet das Explizieren u. a. auch, dass es mehr und auch anderes umfasst als das Geschehen, in dem das jetzt Explizierte vorgängig noch implizit war. »Keine Explikation ist je äquivalent mit dem (…), was sie expliziert« (Gendlin, 1997/2006, S. 57). Was sich gleichbleibt, kann nicht abgesondert von dem betrachtet werden, was sich verändert, und vice versa. Das Explizieren trägt das Implizieren, natürlich immer auch das neuerliche, mit sich voran; d. h., der Prozess setzt sich stets weiter fort. In Gendlins Prozess-Modell erscheint auch der Focusing-­Prozess als Praxis der Theorie. Zu Beginn des Focusing-Prozesses beinhaltet das Erleben lediglich undeutlich wahrnehmbare Empfindungen. Zunächst ist nur ein diffuses »Etwas« (felt sense), beispielsweise etwas Schweres, Klebriges oder Flatterndes in einem bestimmten Bereich des Leibes spürbar (Gendlin, 1986/1998, S. 56). Wir befinden uns beim felt sense in einem vom Individuum fokussierten Bereich, der von einem Zusammenhang gebildet wird, welcher – um Ihre Worte zu gebrauchen – »nicht in Begriffen ausgedrückt werden kann, den wir aber erleben und der in der Folge davon von uns in concreto zum Bewusstsein gebracht werden kann«. Nach Gendlin impliziert der felt sense die empfindungsmäßigen Konstituenzien der eigentlichen Emotionen (z. B. Liebe, Hass, Wut) sowie deren diverse Verbindungen mit der Außenwelt. Das Innewerden in dieser Welt wird in leiblicher Hinsicht fokussiert. Wegleitend ist die persönliche Welt des Klienten (etwa seine Arbeitsüberlastung in seiner Firma) und nicht nur eine besondere, im Sinne der Kritik Wittgensteins (1947/1971) rein privat aufgefasste »eigene Innenwelt« (d. h. der Stress isoliert vom Arbeitsplatz), die es nach Wittgenstein nicht geben kann. Der felt sense ist Gendlin zufolge mehr als das, was vorgängig schon hinsichtlich eines (z. B. psychosomatischen) Problems gewusst wurde. Er ist die Quelle für weiterführende Schritte des Fühlens, besteht er doch ursprünglich aus implizierten Bedeutungen, die – unter der Voraussetzung eines »achtsamen Verweilens« – als nun explizite Bedeutungen ausgefaltet bzw. mittels Sprache ausgedrückt werden können. Der felt sense kann in keiner Weise erzwungen werden. Man kann auf ihn nur geduldig warten. Erst wenn Subjekt und Objekt nicht mehr getrennt sind und schließlich eine Einheit bilden, stei134

gen mit der Zeit aus dem körpernahen, empfindungs­mäßigen »Etwas« Bilder, Symbole oder Worte auf (vgl. u. a. Gendlin, 1978/1981, S. 136). Schon Dilthey hatte in seiner »Entstehung der Hermeneutik« (1900/1990) darauf hingewiesen, dass Verstehen ein Vorgang ist, in welchem wir schließlich »aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen« (Dilthey, 1900/1990, S. 318). Es handelt sich um über Objektivierungen tradierte »Sinnesgebilde«, welche als solche nur an den menschlichen Organismen auftreten (vgl. u. a. GS, Bd. V, S. 249 f.). Sie bilden quasi ein Außen-Innen-Scharnier, das nicht nur das Analogie-Problem als umgehbar erscheinen lässt, sondern auch nahelegt, dass die vielfältigen Bezüge einer Person zu ihrer externen Welt sich gegebenenfalls im felt sense kreuzen und widerspiegeln können. Damit wird auch deutlich, dass schon der felt sense nicht einfach »begrifflos« angelegt ist, doch sind mit ihm vorerst weder diesbezügliche Begriffe oder auch nur entsprechende Vorbegriffe bewusst. Indessen wird vom felt sense ausgehend allmählich etwas zum Bewusstsein gebracht, was vorgängig ursprünglich noch in keiner Weise ausgedrückt werden konnte, doch zuwartend vorgrifflich sich herauskristallisieren und schließlich gewissermaßen auf einen vorläufigen Begriff gebracht werden kann. Denn der Klient oder die Klientin orientiert sich in der Folge zwischen den sich herausbildenden Bedeutungen und den sich (u. U. neu) bildenden Gefühlen und versucht sozusagen in einem alltäglich-hermeneutischen Sinne ihre Symbole und ihre Emotionen fortlaufend aufeinander abzustimmen und so sukzessive immer näher zu erläutern. Die Person prüft (meistens mehrmals), ob sie (schon) eine Übereinstimmung erreicht hat. Gerät der symbolisch in den Fokus genommene felt sense in diesem Sinne in Bewegung, resultiert hieraus, wenn derselbe und ein Symbol schließlich zusammenfallen, ein felt shift, mit dem etwas pötzlich begriffen und zugleich weiter ausgeführt wird; ein Aha-Effekt, der allerdings als solcher nicht immer im Sinne Bühlers (1934/1999, S. 311) auch als Erlebnis zum Vorschein kommt. Diese Bewegung kann als weiterführende Explikation von leiblich Implizitem in neuer Gestalt verstanden werden. Beim Focusing handelt es sich um eine hermeneutische Vorgehensweise, die 135

letztlich auf der Basis von Dilthey verstanden und von jeder Person auch praktiziert werden kann. Indem ich hoffe, dass Sie Gendlin hinsichtlich unserer Fragestellung, ob Dilthey allenfalls etwas zum Vorgehen in der Psycho­ therapie beizutragen vermag, ebenfalls eine gewisse Bedeutung beimessen können, grüße ich Sie freundlich, Ihr Mark Galliker

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Hans-Ulrich Lessing Zweiter Brief an Herrn Galliker

Lieber Herr Galliker, ich bedanke mich sehr für Ihren inhaltsreichen Brief. Es freut mich, dass wir offensichtlich in vielerlei Hinsicht in unseren Auffassungen über Diltheys psychologische Konzeption große Gemeinsamkeiten aufweisen. Von besonderem Interesse waren für mich nicht zuletzt Ihre Ausführungen im zweiten Teil Ihres Briefes. Dass Dilthey auf die moderne Psychotherapie gewirkt hat, war mir durchaus vertraut (Rodi, 2011; Scholtz, 2011), nur war mir nicht bekannt, wie groß diese Wirkung war, sodass Sie sogar davon sprechen können, dass Dilthey geradezu als ein »Pionier der Psychotherapie« angesehen werden muss. Ihre Darstellung des Umfangs und der Intensität dieser Wirkung Diltheys auf die Psychotherapie ist wirklich eindrucksvoll. Bisher ging ich davon aus, dass sich Diltheys Einfluss in erster Linie auf die Vertreter der sogenannten »geisteswissenschaft­ lichen« bzw. »verstehenden« Psychologie erstreckte. Zu dieser Richtung innerhalb der deutschsprachigen Psychologie im 20. Jahrhundert zählen vor allem die Dilthey-Schüler Eduard Spranger und Herman Nohl, aber auch Autoren, die in einem weiteren Sinne der Dilthey-Schule zugehören, wie z. B. Theodor Litt oder Erich Rothacker, aber auch der Misch- und Nohl-Schüler Otto Friedrich Bollnow sowie nicht zuletzt Karl Jaspers mit seiner »Allgemeinen Psychopathologie« (1913) und seiner »Psychologie der Weltanschauungen« (1919). Außerdem lässt sich auch z. B. der Psychiater Hans Walter Gruhle, obwohl aus einem anderen wissenschaftlichen Kontext als der Dilthey-Schule stammend, der 137

von Diltheys Psychologie-Konzeption ausgehenden verstehenden Psychologie zurechnen. Sie zeigen eindrucksvoll, wie die führenden amerikanischen Vertreter der Humanistischen Psychologie bzw. der Personzentrierten Gesprächspsychotherapie Anregungen durch die Hermeneutik Diltheys aufnahmen bzw. in den Bahnen der Dilthey’schen Hermeneutik weiterdenken. Sie erwähnen vor allem Carl Rogers und Eugene T. Gendlin, der ausdrücklich auf die Relevanz Diltheys für die Ausarbeitung seines eigenen Ansatzes »ganzheitlicher Einpersonwissenschaft« (»First-Person-Science« bzw. »Focusing«) hingewiesen habe. Eine kleine Korrektur gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang. Sie verweisen zu Recht darauf, dass Dilthey nicht der erste Philosoph war, der wesentliche Konzepte der modernen Psychotherapie vorbereitet oder gar vorweggenommen hat und erinnern in diesem Kontext mit Recht an Schleiermachers Hermeneutik. Dann führen Sie aus, dass auch Dilthey glaubte, mit seiner Hermeneutik den zu verstehenden Sprachproduzenten »besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat«. Das von Ihnen zitierte Dilthey-Wort (GS, Bd. V, S. 331) aus dem Aufsatz »Die Entstehung der Hermeneutik« (1900) ist allerdings kein authentisches Dilthey-­Zitat, sondern steht im Kontext seiner Schleiermacher-Darstellung, die er abschließt mit dem die Schleiermacher’sche Hermeneutik zusammenfassenden Satz: »Das letzte Ziel des hermeneutischen Verfahrens [Schleiermachers, H.-U. L.] ist, den Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat. Ein Satz, welcher die notwendige Konsequenz der Lehre von dem unbewussten Schaffen ist.«1 Dass dies nicht unbedingt Diltheys eigene Auffassung wiedergibt, zeigt sich, wenn man sich die wenigen einschlägigen Texte Diltheys zur Hermeneutik vergegenwärtigt. Neben der Spätschrift »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« (1910), in der Dilthey die Grundlinien seiner hermeneutischen Philosophie der Geisteswissenschaften entwickelt, ohne allerdings eine 1

»Auf dieser neuen Anschauung vom Schaffen beruht der kühne Satz Schleiermachers, es gelte, einen Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstand. In dieser Paradoxie steckt doch eine Wahrheit, die einer psycholo­ gischen Begründung fähig ist« (GS, Bd. VII, S. 217; vgl. GS, Bd. V, S. 335).

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ausgearbeitete Hermeneutik vorzulegen, sind es vor allem die schon erwähnte kurze Abhandlung »Die Entstehung der Hermeneutik« von 1900 sowie der wichtige Nachlass-Text »Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen« (GS, Bd.  VII, S. 205–220; Zusätze: GS, Bd.  VII, S. 220–227), auf die sich eine Beschäftigung mit Diltheys Hermeneutik beziehen muss. Angemerkt sei, dass es sich bei dem kurzen Text »Hermeneutik« (GS, Bd. VII, S. 225–226), wie Hans-Georg Gadamer nachgewiesen hat, um einen originalen Schleiermacher-Text handelt (Gadamer, 1960/2010, S. 226, Anm. 2). Nun bieten diese wenigen Texte, die im Vergleich zu Diltheys sehr umfangreichen Gesamtwerk nur einen verschwindend kleinen Teil einnehmen, alles andere als eine elaborierte Theorie des Verstehens. Der Aufsatz »Die Entstehung der Hermeneutik« geht aus von der Frage »nach der wissenschaftlichen Erkenntnis der Einzelpersonen, ja der großen Formen singulären menschlichen Daseins überhaupt« (GS, Bd. V, S. 317). Für Dilthey ist diese Frage von größter praktischer, emotionaler und wissenschaftlicher Bedeutung: Einerseits setzt »unser Handeln […] das Verstehen anderer Personen überall voraus«. Andererseits entspringt »ein großer Teil menschlichen Glücks […] aus dem Nachfühlen fremder Seelen­zustände« und schließlich ist »die ganze philologische und geschichtliche Wissenschaft […] auf die Voraussetzung gegründet, daß dies Nachverständnis des Singulären zur Objektivität erhoben werden könnte«. Hermeneutik, die Prozesse von Verständnis und Auslegung, sind folglich nicht nur für die historischen, sondern auch für die systematischen Geisteswissenschaften von fundamentaler Bedeutung, wobei entscheidend ist, dass das zu verstehende Singuläre objektiv aufgefasst werden kann bzw. das Verständnis »zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann«. Der Gegenstand der Geisteswissenschaften ist nach Dilthey zwar »unmittelbare innere Wirklichkeit selber«, und zwar »als ein von innen erlebter Zusammenhang« (GS, Bd. V, S. 317 f.). Aber das zu verstehende fremde Dasein ist uns, wir er hinzufügt, »zunächst nur in Sinnestatsachen, in Gebärden, Lauten und Handlungen von außen gegeben« (GS, Bd. V, S. 318), also durch die äußere Wahrnehmung. Das Problem der Auffassung fremder Individualität ergibt sich nun dadurch, dass »erst durch einen Vorgang der Nach­bildung dessen, was so in einzelnen Zeichen in die Sinne fällt«, wir dieses 139

Innere ergänzen, wobei wir »alles: Stoff, Struktur, individuellste Züge dieser Ergänzung […] aus der eignen Lebendigkeit übertragen [müssen]«. Damit stellt sich für das Übertragungsmodell des Verstehens die fundamentale Frage: »Wie kann nun ein individuell gestaltetes Bewußtsein durch solche Nachbildung eine fremde und ganz anders geartete Individualität zu objektiver Erkenntnis bringen?« (GS, Bd. V, S. 318). Dilthey liefert in diesem Text keine explizite Antwort auf diese Grundfrage. Er definiert vielmehr zunächst das Verstehen als »Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen« bzw. als »Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen« (GS, Bd. V, S. 318), und er fügt die bemerkenswerte Erläuterung hinzu: »Dies Verstehen reicht von dem Auffassen kindlichen Lallens bis zu dem des Hamlet oder der Vernunftkritik. Aus Steinen, Marmor, musikalisch geformten Tönen, aus Gebärden, Worten und Schrift, aus Handlungen, wirtschaftlichen Ordnungen und Verfassungen spricht derselbe menschliche Geist zu uns und bedarf der Auslegung« (GS, Bd. V, S. 318 f.). Das Aufgabenfeld des Verstehens umfasst folglich den Gesamtbereich der menschlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Das Verstehen, das verschiedene Grade aufweist, kann Dilthey zufolge nur dann zu einem »kunstmäßigen Vorgang« werden, indem »ein kontrollier­ barer Grad von Objektivität« erzielt wird, »wenn die Lebensäußerung fixiert ist und wir so immer wieder zu ihr zurückkehren können« (GS, Bd. V, S. 319). Ein solches »kunstmäßiges Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen« wird Auslegung oder Interpretation genannt (vgl. auch GS, Bd. VII, S. 217, S. 309). Zwar kann es auch eine Hermeneutik geben, die Kunstwerke oder archäologische Artefakte zum Gegenstand hat, aber da, wie Dilthey ausführt, »in der Sprache allein das menschliche Innere seinen vollständigen, erschöpfenden und objektiv verständlichen Ausdruck findet«, »hat die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins« (GS, Bd. V, S. 319). Die Texthermeneutik besitzt damit eine begründete Vorzugsstellung (vgl. auch GS, Bd. V, S. 331; GS, Bd. VII, S. 217). 140

Dabei kommt der Interpretation der Werke bedeutender Dich­ter, Entdecker, religiöser Genien oder echter Philosophen eine besondere Bedeutung zu, da solche Werke, die Dilthey später »Erlebnisausdrücke« nennen wird (vgl. GS, Bd. VII, S. 206 f.), »immer wahr« sind und »im Unterschied von jeder anderen Äußerung in fixierten Zeichen für sich einer vollständigen und objektiven Interpretation fähig« sind (GS, Bd. V, S. 320). Wie Dilthey noch bemerkt, hat die Kunst der Interpretation, die wie jede Kunst nach gewissen Regeln verfährt, »Darstellungen ihrer Regeln« (GS, Bd. V, S. 320) hervorgebracht, und aus dem Streit über diese Regeln, aus der Auseinandersetzung unterschiedlicher Positionen oder Schulen über die Auslegung und dem daraus resultierenden Bedürfnis, die Regeln der Interpretation zu begründen, ging die »hermeneutische Wissenschaft« hervor, die Dilthey als die »Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen« definiert (vgl. auch GS, Bd. VII, S. 217, S. 315). Ihre Aufgabe ist die Bestimmung der »Möglichkeit allgemeingültiger Auslegung aus der Analyse des Verstehens« (GS, Bd. V, S. 320). Neben der Aufklärung der Bedingungen der Möglichkeit der philologischen, Allgemeingültigkeit erzielenden Interpretation erkennt Dilthey eine zweite Hauptaufgabe der Hermeneutik darin, »gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch [zu] begründen, auf welcher alle Sicherheit der Geschichte beruht« (GS, Bd. V, S. 331). Damit wird – so Dilthey – diese »Lehre von der Interpretation« zusammen mit der Erkenntnistheorie, der Logik und Methodenlehre ein »Hauptbestandteil der Grundlegung der Geisteswissenschaften«. Die »Zusätze aus den Handschriften« enthalten neben einigen Wiederholungen auch einige wesentliche Ergänzungen, die kurz erwähnt seien. Zunächst ist Diltheys These bemerkenswert, dass das Verstehen »grundlegend für die Geisteswissenschaften« ist: »Verstehen […] ist das grundlegende Verfahren für alle weite­ ren Opera­tionen der Geisteswissenschaften« (GS, Bd. V, S. 333). Er begründet dies mit dem Hinweis auf den fundamentalen methodologischen Unterschied von Geistes- und Naturwissenschaften: »Wie in den Naturwissenschaften alle gesetzliche Erkenntnis nur 141

möglich ist durch das Meßbare und Zählbare in den Erfahrungen und in diesen enthaltenen Regeln, so ist in den Geisteswissenschaften jeder abstrakte Satz schließlich nur zu rechtfertigen durch seine Beziehung auf die seelische Lebendigkeit, wie sie im Erleben und Verstehen gegeben ist«. Außerdem listet Dilthey drei Schwierigkeiten oder Aporien auf, die dem Verstehen inhärent sind. Diese sind erstens das schon angesprochene Problem, wie eine Individualität eine »ihr sinnlich gegebene fremde individuelle Lebensäußerung zu allgemeingültigem objektivem Verständnis sich bringen« kann (GS, Bd. V, S. 334). Das erscheint nur möglich unter der Bedingung, »daß in keiner fremden individuellen Äußerung etwas auftreten kann, das nicht auch in der auffassenden Lebendigkeit enthalten wäre«. Und Dilthey begründet dies durch die folgende nicht unproblematische Annahme: »Dieselben Funktionen und Bestandteile sind in allen Individualitäten, und nur durch die Grade ihrer Stärke unterscheiden sich die Anlagen der verschiedenen Menschen.« Die zweite Aporie findet ihren Ausdruck in dem sogenannten »hermeneutischen Zirkel«: »Aus dem Einzelnen das Ganze, aus dem Ganzen doch wieder das Einzelne« (GS, Bd. V, S. 334). Und in der dritten Aporie formuliert Dilthey die unaufhebbare Reziprozität von Verstehen und Erklären (vgl. auch GS, Bd. V, S. 336 f.). In seinem Manuskript »Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen«, vermutlich wenigstens zum Teil die Vorlage zu einem Vortrag vom Januar 1910, hält Dilthey zunächst fest, dass sich »das Verstehen fremder Lebensäußerungen und Personen« ausbildet »auf der Grundlage des Erlebens und des Verstehens seiner selbst und in beständiger Wechselwirkung beider miteinander« (GS, Bd. VII, S. 205). Im Fortgang unterscheidet er verschiedene Klassen von Lebensäußerungen und entsprechende Formen des Verstehens (elementare und höhere). Bestimmte elementare Formen des Verstehens, z. B. das Personenverstehen im Alltag, beruhen auf einem Analogie­schluss, der vermittelt ist durch die »regelmäßige Beziehung« zwischen einer einzelnen Lebensäußerung und dem in dieser Ausgedrückten (GS, Bd. VII, S. 207). Andere elementare Verstehens-Formen beruhen dagegen auf einer durch eine Ordnung in einer Gemeinsamkeit festgelegte 142

Beziehung zwischen einer Lebensäußerung und dem darin zum Ausdruck kommenden Geistigen (z. B. einfache sprachliche Ausdrücke, Begrüßungsformeln, zweckmäßige Handlungen). Für diese eingespielte und die Individuen umgebende Gemeinsamkeit hat Dilthey im »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« den von Hegel übernommenen, aber umdefinierten Terminus »objektiver Geist« eingeführt (vgl. GS, Bd. VII, S. 146 ff.). Dieser objektive Geist, d. h. »die mannigfachen Formen, in denen die zwischen den Individuen bestehende Gemeinsamkeit sich in der Sinneswelt objektiviert hat« (GS, Bd. VII, S. 208), ist – so Dilthey – »das Medium, in welchem sich das Verständnis anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen vollzieht«. Diesen Zusammenhang von (elementarem) Verstehen und objektivem Geist hat Dilthey im »Aufbau« in eindringlichen Worten festgehalten: »Jede einzelne Lebensäußerung repräsentiert im Reich dieses objektiven Geistes ein Gemeinsames. Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet; der einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre von Gemeinsamkeit, und nur in einer solchen versteht er. Alles Verstandene trägt gleichsam die Marke des Bekanntseins aus solcher Gemeinsamkeit an sich. Wir leben in dieser Atmosphäre, sie umgibt uns beständig. Wir sind eingetaucht in sie. Wir sind in dieser geschicht­lichen und verstandenen Welt überall zu Hause, wir verstehen Sinn und Bedeutung von dem allen, wir selbst sind verwebt in diese Gemeinsamkeiten« (GS, Bd. VII, S. 146 f., vgl. S. 208 f.). Der objektive Geist ermöglicht also ein elementares Verstehen ohne ein bewusstes Schlussverfahren (vgl. GS, Bd. VII, S. 209). Die höheren Formen des Verstehens kommen dann zum Einsatz, wenn es durch wachsende Distanz zwischen einer zu verstehenden Lebensäußerung und dem Verstehenden zu Unsicherheiten in Bezug auf die Richtigkeit des Verständnisses kommt oder wenn es etwa gilt, den »Zusammenhang in einem Werk oder einer Person, einem Lebensverhältnis« zu erschließen (GS, Bd. VII, S. 212). Notwendig wird es in solchen Fällen, z. B. weitere Lebensäußerungen zu berücksichtigen, um die bestehenden Zweifel auszuräumen. Weitere Methoden sind das Sichhineinversetzen bzw. die Trans143

position, die »Übertragung des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen« (GS, Bd.  VII, S. 214) oder das Nacherleben (vgl. GS, Bd. VII, S. 214 ff.), wobei das »Nacherleben des Fremden« wiederum »nur durch eine Rückbeziehung auf die Erlebnisse der eignen Person möglich gemacht wird« (GS, Bd. VII, S. 315). Auf diese Weise entsteht zwischen dem Erleben und dem Verstehen, die »psychologisch angesehen, immer getrennt [sind]«, ein struktureller Zusammenhang, »daß, was ich an einem anderen verstehe, ich in mir als Erlebnis auffinden, und was ich erlebe, ich in einem Fremden durch Verstehen wiederfinden kann«. Dilthey hat die Differenzierung dieser verschiedenen Formen des höheren Verstehens nicht bis zur letzten Klarheit durchgeführt; auch fehlt eine breit ausgearbeitete und erkenntnistheoretisch abgesicherte Methodenlehre des Verstehens; diese war vorgesehen für das letzte Buch der »Einleitung in die Geisteswissenschaften«. Dass es in Diltheys Werk nur Ansätze zu einer Theorie des Verstehens gibt und keine wirklich ausgereifte Hermeneutik ist nicht nur bedauerlich im Hinblick auf Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften, der damit ein ganz wesentlicher Baustein fehlt, sondern nicht zuletzt auch für die praktizierenden Interpreten, zu denen auch die Psychotherapeuten gehören. Für die psychotherapeutische Praxis bedeutet dies, dass die Probleme, die Sie aufgezeigt haben, nicht mit letzter Sicherheit durch Rekurs auf Diltheys Überlegungen zum Verstehen gelöst werden können. Er hätte vermutlich auf die Erfahrung des Therapeuten im Umgang mit Menschen und seine »persönliche Kunst und Virtuosität« vertraut, ohne eine definitive theoretische Auflösung des Problems der Intersubjektivität anbieten zu können. Aber trotz dieses schmerzlichen Defizits bleiben Diltheys Überlegungen zum Verstehen und zur Methode der Psychologie von größter Bedeutung. Er plädiert in und mit seinem Werk für die uneingeschränkte methodische Autonomie der Geisteswissenschaften und zeigt, vor allem mit den »Ideen«, eine Alternative zur »erklärenden« Psychologie auf, die auch heute noch nicht obsolet ist. Dilthey führte Zeit seines wissenschaftlichen Lebens einen Kampf gegen die »Verstümmelung der Wirklichkeit«. Er trat an gegen die positivistische »Verstümmelung« der Geschichte, etwa 144

durch Henry Thomas Buckle, und die naturalistische »Verstümmelung« des Seelenlebens durch die atomistisch-konstruktive Psychologie seiner Zeit. Das Ziel der von ihm postulierten beschreibenden und zergliedernden Psychologie war es, »die ganze unverstümmelte und mächtige Wirklichkeit der Seele von ihren niedrigsten bis zu ihren höchsten Möglichkeiten« zur Darstellung zu bringen (GS, Bd. V, S. 157; vgl. S. 168). Und diese Forderung einer »unverstümmelten«, ganzheitlichen Auffassung der Seele bleibt aktuell angesichts von naturalistischen (z. B. Hans Albert) oder einheitswissenschaftlichen Konzepten (z. B. Mario Bunge), die den Versuch unternehmen, das naturwissenschaftliche Methodenideal auf die Erforschung der seelischen Wirklichkeit zu übertragen. Angesichts solcher Bemühungen stellt sich allerdings die Frage, ob man dem Psychischen näher kommt durch Experimente und Quantifizierung oder nicht vielmehr durch verstehend-beschreibende Verfahren, wie sie von Dilthey praktiziert werden. Das Leben ist – wie Dilthey an vielen Stellen seiner Schriften festhält – »die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden muß« (GS, Bd. VII, S. 261). Das Leben ist aber nicht nur die Grundtatsache für die Philosophie, sondern auch die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Psychologie bildet. Psychologie im Sinne Diltheys ist daher im Wortsinne eine »Psychologie des Lebens«; das Leben, d. h. der von innen erlebte (Struktur-) Zusammenhang ist das Subjekt und zugleich das Objekt psychologischer Forschung. Da nach Dilthey das Seelenleben ein »Unergründliches« ist (GS, Bd. VII, S. 331), bleibt für die Psychologie sein Satz gültig: »Das Verstehen ist eine unendliche Aufgabe« (GS, Bd. V, S. 336). Mit herzlichen Grüßen aus Dortmund Ihr Hans-Ulrich Lessing

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Mark Galliker Zweiter Brief an Herrn Lessing

Lieber Herr Lessing, besten Dank für Ihren informativen Brief, der auch wichtige Explikationen enthält, die sich hinsichtlich der Psychotherapie als weitertragend erweisen können. Besonders dankbar bin ich für den Hinweis, dass der Begründer der Geisteswissenschaft selbst drei Aporien zur Sprache bringt, die ich im Folgenden ebenfalls kommentieren möchte, bevor ich mich zu unserem eigentlichen Thema, der »Psychologie des Lebens«, äußern werde. Unter einer »Aporie« versteht man eine »Weg- oder Ausweglosigkeit« in Hinsicht auf die Lösung eines philosophischen Pro­ blems, insbesondere weil in den verwendeten Begriffen oder in der Sache selbst Widersprüche enthalten sind. Dilthey scheint indes in den Aporien lediglich »eines der tiefsten erkenntnistheoretische[n] Probleme« oder häufiger gar nur »Schwierigkeiten« zu sehen (vgl. GS, Bd. V, S. 333). Erste Aporie: Dilthey leitet die Darstellung seiner erster Aporie wie folgt ein: »Jeder ist in sein individuelles Bewußtsein eingeschlossen gleichsam, dieses ist individuell und teilt allem Auffassen seine Subjektivität mit. Schon der Sophist Georgias hat das hier liegende Problem so ausgedrückt: gäbe es auch ein Wissen, so könnte der Wissende es keinem anderen mitteilen. Ihm freilich endigt mit dem Problem das Denken. Es gilt, es aufzulösen. Die Möglichkeit, ein Fremdes aufzufassen, ist zunächst eines der tiefsten erkenntnis­ theoretischen Probleme« (GS, Bd. V, S. 333 f.). Dilthey fragt sich: »Wie kann eine Individualität eine ihr sinnlich gegebene fremde individuelle Lebensäußerung zu allgemeingültigem objektivem Verständnis bringen?« (GS, Bd. V, S. 334), und 146

er antwortet hierauf wie folgt: »Die Bedingung, an welche diese Möglichkeit gebunden ist, liegt darin, daß in keiner fremden individuellen Äußerung etwas auftreten kann, das nicht auch in der auffassenden Lebendigkeit enthalten wäre. Dieselben Funktionen und Bestandteile sind in allen Individualitäten, und nur durch die Grade ihrer Stärke unterscheiden sich die Anlagen der verschiedenen Menschen« (GS, Bd. V, S. 334; Hervorh. M. G.). Sie haben meines Erachtens zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich dabei um »eine nicht unproblematische Annahme« handelt. Man denke nur etwa an das Linguistische Relativitätsprinzip (s. Näheres in Gleitman & Papafragou, 2013). Immerhin stellt Dilthey im »Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« (1910/1965) fest, dass eine »Auslegung« unmöglich wäre, wenn Lebensäußerungen einander völlig fremd wären, und dass sie unnötig wäre, wenn in ihnen nichts fremd wäre. »Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also. Sie wird überall erfordert, wo etwas fremd ist, das die Kunst des Verstehens zu eigen machen soll« (GS, Bd.  VII, S. 225; Hervorh. M. G.). Sie verweisen auf weitere Textstellen, an denen Dilthey das Verständigungsproblem behandelt, u. a. Bezug nehmend auf die »eingespielte und die Individuen umgebende Gemeinsamkeit« der Menschen aufgrund des »objektiven Geistes«, der meines Erachtens bei unserem Autor auf »geistiges Leben« rekurrierbar sein müsste und schon deshalb mit dem gleichen Signifikanten in Hegels Dialektiv signifikativ nicht übereinstimmen kann. Ebenfalls argumentieren Sie mit Diltheys »äußerer Wahrnehmung« und der »Nachbildung« dessen, was so in einzelnen (An-)Zeichen in den Sinn fällt. Auch wenn der »unmittelbar« von innen erlebte Zusammenhang »zunächst nur in Sinnestatsachen, in Gebärden, Lauten und Handlungen gegeben [ist]« (GS, Bd. V, S. 318), bleibt unklar, wie dieselben mit deren Wahrnehmung in ihrer Bedeutung auch aufgefasst und verstanden werden können. Wie können diese Wahrnehmungen im Alltag begrifflich »aufgearbeitet« werden und später auch in der Wissenschaft von einem solchen Ausgangspunkt kommend zu realitätsadäquaten Konzepten führen? Wenn Dilthey glaubt, das »Innere« einer »fremden Individualität« durch Nachbildung »ergänzen« zu können, handelt es sich meines Erachtens 147

nicht nur um unbestimmte oder auch mehrdeutige Wortbildungen, sondern in inhaltlicher Hinsicht stellt sich mitunter auch die Frage, ob hierdurch nicht geradezu Projektionen mehr nahegelegt anstatt verhindert werden. In Anbetracht, dass in Diltheys erster Aporie v. a. das grundsätzliche Problem der zwischenmenschlichen Kommunikation zum Vorschein kommt, finde ich indes auch Ihren Hinweis auf das Manuskript »Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen« wichtig, in dem Dilthey gleich zu Beginn feststellt, dass sich »auf der Grundlage des Erlebens und des Verstehens seiner selbst und in beständiger Wechselwirkung beider miteinander, […] das Verstehen fremder Lebensäußerungen und Personen [ausbildet]« (GS, Bd. V, S. 205; Hervorh. M. G.). Unter dem gleichen Titel finden sich noch andere Gedanken Diltheys, die hinsichtlich der zwischenmenschlichen Verständigung relevant sind. So weist er darauf hin, dass »auch das Verstehen […] von dem Maß der Sympathie abhängig [ist]« (GS, Bd. V, S. 277). Damit stellt er wohl nicht infrage, dass »Sympathie […] doch sehr viel mehr als nur eine Erkenntnisbedingung [ist]«; doch Gadamer wird in »Wahrheit und Methode« gerade dies monieren (1960/2010, S. 237). Rogers hat die Empathie, die Kongruenz sowie die »Wertschätzung« (u. a. Sympathie, Wärme, Respekt) auf Seiten des Therapeuten als Bedingungen von Veränderungen im therapeutischen Prozess thematisiert (vgl. 1959/2009, S. 40), ohne auch nur auf die Idee zu kommen, die Wertschätzung mit der Empathie gleichzusetzen respektive zu bestreiten, dass Sympathie auch etwas Anderes oder wenn man will: »sehr viel mehr« als Verstehen sein kann (vgl. Gadamer, 1960/2010, S. 237). Ein weiteres Beispiel für die Ergiebigkeit von Diltheys Werk hinsichtlich der Gesprächspsychotherapie: »Jedes bedeutende Gespräch fordert auf, die Äußerungen des Unterredners in einen inneren Zusammenhang zu bringen, der in seinen Worten nicht von außen gegeben ist« (GS, Bd.  VII, S. 225 f.). Dabei stellt sich die Frage, ob Dilthey an dieser Stelle den »inneren Zusammenhang« – wie so oft – psychologistisch versteht; oder versteht er ihn linguistisch, als ein in einem (hier sprachlichen) Zusammenhang Impliziertes, was eher mit seinem überindividuellen, letztlich historischen Ansatz korrespondieren würde, wenngleich er diesen in 148

seinen Annäherungen an Erlebnisse und Bewusstseinsphänomene nicht selten auf eine bloße »Milieutheorie« reduziert. Was Dilthey in Bezug auf die Historik feststellt, nämlich dass sie daran gebunden ist, »daß dauernd fixierte Lebensäußerungen dem Verständnis vorliegen, so daß dieses immer wieder zu ihnen zurückkehren kann« (GS, Bd.  VII, S. 217), scheint mir auch für die zwischenmenschliche Verständigung maßgebend zu sein. So besteht die Psychotherapie aus einer Reihe von Gesprächen und in jedem Gespräch kann auf frühere Gesprächssequenzen und auch auf Sequenzen in früheren Gesprächen beidseitig sich sprachlich »er-innernd« zurückgegriffen werden. Rogers, der Begründer der Gesprächspsychotherapie, wurde auch zum Wegbereiter der modernen Therapieforschung, als er die Gespräche schließlich auf Tonband aufnahm und nachträglich zu beschreiben und zu zergliedern begann, was sich nachhaltig auf die Verbesserung der Qualität des therapeutischen Prozesses auswirken sollte (vgl. u. a. Eckert, 2003, S. 338 ff.). Dilthey hat zweifellos viel zur gemeinsamen Verständigung in der Gesprächsführung und zur Entwicklung der Humanistischen Psychotherapie beigetragen. Selbst der kritische Rationalist Albert (1994/2012), den Sie in Ihrem Brief zu Recht mit naturalistischen (i. S. von naturwissenschaftlichen) Konzepten in Verbindung bringen, würdigt in seiner »Kritik der reinen Hermeneutik« das Programm der älteren Hermeneutik bis und mit Dilthey, das er an die soziale Praxis gekoppelt betrachtet: »Zumindest eines ihrer Ziele scheint mir die Entwicklung einer Kunstlehre der Interpreta­ tion gewesen zu sein« (Albert, 1994/2012, S. 89 f.). Doch stellt sich nach wie vor die Frage, ob das Verständigungsproblem auch theoretisch gelöst werden kann. Ist es ausschließlich durch eine Kunst (z. B. jene eines besonders einfühlsamen Psychotherapeuten) prak­ tisch lösbar oder auch theoretisch hinsichtlich einer wissenschaft­ lichen Psychologie (wenn wir einmal von Gendlins »First-Person-­ Science« absehen), die über ein entsprechendes methodologisches Rüstzeug verfügt. Zweite Aporie: Dilthey stellt sie wie folgt dar: »Aus dem Einzel­ nen das Ganze, aus dem Ganzen doch wieder das Einzelne. Und zwar das Ganze eines Werkes fordert Fortgang zur Individualität [des Urhebers; M. G.], zur Literatur, mit der sie in Zusammenhang 149

steht. Das vergleichende Verfahren läßt mich schließlich erst jedes einzelne Werk, ja den einzelnen Satz tiefer verstehen, als ich ihn vorher verstand« (GS, Bd. V, S. 334; Hervorh. M. G.). Bei der Interpretation von Texten zeigt sich dieser Zirkel im paradox wirkenden Umstand, dass sich das Verstehen des Ganzen und das Verstehen seiner Teile wechselseitig voraussetzen; d. h., in der Form eines hermeneutischen Zirkels. Dieser kann als ein Kreislauf verstanden werden, der indes nicht unbedingt als Circulus vitiosus, als fehlerhafter Kreis, pejorativ betrachtet werden muss, sofern die Sätze in ihrem Kontext interpretiert werden, letztlich vor dem Hintergrund des Textes in seiner Ganzheit, die umgekehrt indes nur ausgehend von eben den einzelnen Sätzen erfassbar wird. Schon gar nicht handelt es sich um einen Circulus in probando, es ist kein Kreis des Beweises, geht es doch nicht um einen »Nachweis« im Sinne einer Begründung wie beim logischen Zirkel im Sinne des Kritischen Rationalismus, sondern um eine Verfahrensweise zur Gewinnung weiterer Erkenntnisse, wenn man will: »tieferer Erkenntnisse«. Es handelt sich also nicht um einen logischen Zirkel­schluss, bei dem ein Beweis geführt wird mit Voraussetzungen, in denen das zu Beweisende schon enthalten ist. Der hermeneutische Zirkel ist ein vorwärtsgerichtetes Verfahren, bei dem unter Berücksichtigung des Kontextes Informationen hinzukommen, welche die Erkenntnis weiterführen. Als Beispiel kann hier Gendlin (1997/2016) angeführt werden. Zwar ist seine Theorie nicht frei von Zirkeldefinitionen, also Definitionen, in denen das Definiendum im Definiens vorkommt, doch ist das auch in seiner Theorie thematisierte Focusing eine Praxis der Explikation des Impliziten im Sinne eines Weitertragens desselben allein durch den jeweilen Kontext des Klienten, sodass sich die unter der ers­ ten Aporie vorgebrachte Frage gar nicht stellt. Dieses Weitertragen oder eben Herausstellen und Vorantragen erfolgt als solches ohne eigentliche Hilfe des Therapeuten, sodass bei Gendlin die von Dilthey angedeutete »Schwierigkeit« auch hinsichtlich der zweiten Aporie nicht zur Geltung kommt (s. die Darstellung von Gendlins Ansatz in meinem ersten Brief an Sie). In der »Entstehung der Hermeneutik« (1900/1990) verweist Dilthey u. a. auch auf die »logische Seite des Verstehens«. »In unserer logischen Terminologie ausgedrückt, besteht [sie] im Zusam150

menwirken von Induktion, Anwendung allgemeinerer Wahrheiten auf den besonderen Fall und vergleichendem Verfahren. Die nähere Aufgabe wäre die Feststellung der besonderen Formen, welche hier die genannten logischen Operationen und ihre Verbindungen annehmen« (GS, Bd. V, S. 330). Albert (1994/2012), welcher der Induktion sonst kritisch gegenübersteht und in seinen Hauptwerken nur den logischen Zirkel im engeren Sinne thematisiert, merkt hier gegenüber Dilthey erstaunlicherweise in einem durchaus affirma­tiven Sinne an, dass dieser es als selbstverständlich erachtete, »daß in den Natur- und in den Geisteswissenschaften ›dieselben elementaren logischen Operationen‹ auftreten, nämlich: ›Induktion. Analysis, Konstruktion, Vergleichung‹, wobei sich die Induktion, ›deren Data die sinnlichen Vorgänge sind‹, nach [Dilthey] ›hier wie überall auf der Grundlage eines Wissens von einem Zusammenhang‹ vollzieht« (Albert, 1994/2012, S. 102; Hervorh. M. G.). Tatsächlich rekurriert Dilthey in der »Entstehung der Hermeneutik« und in anderen Werken, etwa im »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« meistens auf den Zusammenhang, häufig auf den Zweckzusammenhang, womit wir indes wieder beim Problem dieses Begriffs angelangt sind: Beim Problem der Definition und der jeweiligen Bestimmung des Zweckzusammen­hangs und dessen notwendigen Ausdifferenzierungen, auf dass dieses Konzept auch realwissenschaftlichen Forschungsvorhaben genügen könnte (s. einführenden Artikel). Nach Dilthey ist der Gegenstand der Methodenlehre »die geschichtliche Ausbildung der Methode und ihre Spezifikation in einzelnen Gebieten von Hermeneutik« (GS, Bd. V, S. 335). Zu dieser Verfahrensweise gehört für Dilthey (1900/1990) auch die Ausformulierung von Regeln, deren Aufgabe es ist, »die Möglichkeit allgemeingültiger Auslegung aus der Analyse des Verstehens« zu bestimmen (GS, Bd. V, S. 320). Eine besondere Aufgabe sieht Dilthey in der Auslegung der Dichter, bei der verschiedene Regeln zu berücksichtigen sind, u. a. auch die Regel, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat; eine »Regel«, die er in seiner »Entstehung der Hermeneutik« von Schleiermacher übernommen hat (GS, Bd. V, S. 331) und von der er sich in dieser Schrift (Bd. V, S. 317–331, in den »Zusätzen aus den Handschriften« (GS, Bd. V, S. 332–338) und auch in anderen Schriften nicht distanziert 151

hat, sondern Schleiermacher insbesondere bei der Darlegung seines eigenen hermeneutischen Ansatzes explizit und noch häufiger implizit in diesem Punkt gefolgt ist. Dies scheint auch dort der Fall zu sein, wo er einmal Schleiermachers Satz, es gelte einen Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstand, einen »kühnen Satz« nennt, wenn er hinzufügt: »In dieser Paradoxie steckt doch eine Wahrheit, die einer psychologischen Begründung fähig ist« (GS, Bd. VII, S. 217; Hervorh. M. G.). So schreibt Dilthey – hier ohne direkten Verweis auf Schleiermacher – in Bezug auf die Dichtung: »Aus der Regel: besser verstehen als der Autor sich verstanden hat, löst sich auch das Pro­blem von der Idee in einer Dichtung« (GS, Bd. V, S. 335; Hervorh. M. G.). Diese Idee sei im Sinne eines unbewussten Zusammenhangs, der in der Organisation des Werkes wirksam ist, vorhanden. Dem Dichter selbst werde sie nie ganz bewusst sein; der Interpret ist es, der sie heraushebt; also in diesem Sinne den Autor besser versteht als dieser sich selbst. Dilthey führt an anderer Stelle das Beispiel Goethe an. Das durch Selbstzeugnisse, Beobachtungen und Erinnerungen Erfassbare werde ergänzt durch Verbindung des­selben mit Verständnis und Analyse der Werke, was in erster Linie durch deren Auslegung erfolge, in denen der Zusammenhang des see­lischen Lebens zum Ausdruck komme, wobei die Sprache die fruchtbarsten Aufschlüsse liefere (vgl. GS, Bd.  VII, S. 321 f.). Wie durch die Analyse zusätzlicher Werke können durch die Berücksichtigung weiterer Lebensäußerungen noch bestehende Zweifel ausgeräumt werden, worauf Sie in Ihrem Brief ja ebenfalls hinweisen. Wie wäre eine weitere Bestätigung einer Interpretation im Sinne Diltheys einzuholen? Durch den Interpretierten selbst? Doch dies ist bei Autoren meistens nicht (mehr) möglich. Durch die Übereinstimmung verschiedener Interpreten, die nach der gleichen Methode vorgehen? Nach Gadamer, dessen Philosophie in eine universelle Hermeneutik mündet, welche die unaufhebbare Geschichtlichkeit und Sprachlichkeit der Welterfahrung thema­tisiert, ist Dilthey »nicht wahrhaft über den romantischen Ansatz hinausgekommen« (vgl. Gadamer, 1960/2010, S. 244; Fußnote 132). Allerdings kann dies füglich bezweifelt werden, auch wenn sich bei Dilthey Textstellen finden, in denen er beispielsweise von der »Unergründlichkeit« des Seelenlebens schreibt (GS, Bd. VII, S. 331). 152

Vielleicht verstehen jedoch gewiefte Hermeneutiker, insbesondere wenn sie den näheren oder auch weiteren Kontext mitberücksichtigen, tatsächlich mehr die zu verstehenden Personen, als diese sich selbst verstehen würden. Indessen gewinnen sie dieses »Mehr-Verstehen« nicht selten aufgrund ihres Vorverständnisses oder bei einem erfahrenen Praktiker aus mehreren Perspektiven, die der zu verstehenden Person (noch) nicht zukommen oder möglicherweise auch nicht zukommen können. Wenn es sich bei diesem Praktiker um einen Gesprächspsychotherapeuten handelt, stellt sich ihm die Frage, ob diesbezügliche Mitteilungen auch etwas zum Selbstverständnis des Klienten beitragen. Rogers ging ganz vom persönlichen Bezugsrahmen des Klienten aus, versuchte sich sozusagen in diesen hineinzuversetzen (vgl. Rogers, 1959/2009, S. 44). Er gelangte sehr selten über das »einfühlende Verstehen« dessen hinaus, was der Klient ihm vorbrachte, und versuchte dies etwa im Unterschied zu den Psycho­analytikern in der Regel auch nicht (Näheres in Klein u. Galliker, 2007). Dritte Aporie: Dilthey schreibt hierzu: »Schon jeder einzelne seelische Zustand wird von uns nur verstanden von den äußeren Reizen aus, die ihn hervorriefen. Ich verstehe den Haß von dem schädlichen Eingriff in ein Leben. Ohne diesen Bezug wären Leidenschaften von mir gar nicht vorstellbar. So ist das Milieu für das Verständnis unentbehrlich. Aufs höchste getrieben, ist Verstehen so nicht vom Erklären unterschieden, sofern ein solches auf diesem Gebiet möglich ist, und das Erklären hat wieder die Vollendung des Verstehens zu seiner Voraussetzung« (GS, Bd. V, S. 334). Zunächst stellt sich indessen die Frage, ob es sich hierbei überhaupt um eine Aporie handelt. Jeder Satz ist in sich konsistent und als solcher auch verständlich. Auch wenn die vier Sätze miteinander betrachtet werden, ergibt sich noch keine Aporie. Allerdings stellen sich Fragen wie die folgenden: Warum benennt Dilthey hier sowie an anderen, thematisch vergleichbaren Textstellen nur das »Milieu« und nicht die Geschichte, nicht die Kultur und deren Güter, die von Menschen produziert und von anderen Menschen nachgebildet und wiederum angeeignet werden, nicht die Gesellschaft und die interpersonellen Beziehungen in ihr oder auch nicht die Interaktion der Individuen mit ihrer Umwelt, was ja Dilthey ebenfalls vielerorts thematisiert? Ist er, was die »äußeren Reize« 153

anbelangt, in Bezug auf die Psychologie letztlich doch nur ein bloßer »Milieutheoretiker«, dies wegen oder trotz seines »Historismus«, der als solcher oder größtenteils von diversen Philosophen (u. a. Rickert) und Wissenschaftstheoretikern (u. a. Albert) abgelehnt wird? Auf weitere Probleme, die in der dritten Aporie formulierten Sätze betreffend, stößt man, wenn man sie im Kontext anderer Aussagen von Dilthey betrachtet, beispielsweise im Vergleich mit dem ersten Satz, der unter der ersten Aporie angeführt ist. Wo die Wirklichkeit in ihrer Individualität und Besonderheit betrachtet wird und stellenweise die Rede davon ist, dass jeder Mensch in sein individuelles Bewusstsein eingeschlossen ist, diesem »Mythos des Gegebenen« (Albert, 2011, S. 22.), ist es zumindest problematisch, zugleich (oder jedenfalls: auch) auf historische und/oder gesellschaftliche Zusammenhänge zu rekurrieren (und sei es nur auf das »Milieu«). Dies wird um so fragwürdiger, wenn auch ein »histo­ risches Bewusstsein«, eine (insbesondere historische) »Erklärung«, »allgemeine Gleichförmigkeiten« (vgl. u. a. GS, Bd. V, S. 87) oder gar eine »Theorie der Geschichte« (GS, Bd. VII, S. 271 ff.) ins Auge gefasst werden, die als solche auch mit Allsätzen, die universelle Begriffe beinhalten, formuliert würden. So muss man sich fragen, woher ein Begriff wie Zweckzusammenhang kommt. Auch wäre die Herkunft von Konzepten wie Objektivation (i. S. v. Lazarus) und Verinnerlichung, die zwischen historisch-­gesellschaftlichen Zusammenhängen und individuellen Vorgängen vermitteln, aufzuweisen. Können sie aus dem unmittelbaren Erleben kommen? In Diltheys Werk kommt eine Contradictio (wenngleich meistens nicht unmittelbar in adjectio) zum Vorschein, wenn mehr oder weniger weit auseinanderliegende Textteile miteinander verglichen werden. Dann stösst man auch auf einen grundsätzlichen Widerspruch; man könnte fast sagen zwischen »Psychologismus« und »Historismus«, wobei die beiden Begriffe hier der Kürze halber nur in ihrem allgemeinsten und somit undifferenzierten Sinne hinsichtlich des Primats des Psychischen bzw. des Historischen verwendet werden. Dilthey ist abwechslungsweise in beiden Richtungen tätig, ohne dieselben miteinander integrieren zu können. Meines Erachtens wäre dies auch nicht möglich gewesen, wenn er dazu Gelegenheit gehabt hätte, seinen Ansatz theoretisch, metho154

dologisch und womöglich noch empirisch auszuarbeiten und der Nachwelt nicht nur bruchstückhaft zur Diskussion zu stellen, handelt es sich doch in diesem Fall eben wirklich um eine im engeren Sinne aporetische Verstrickung. Gadamer sieht nur einen »Zwiespalt« zwischen Lebensphilo­ sophie und Wissenschaft in Diltheys Analyse des »historischen Bewusstseins«; von einem Widerspruch im Ansatz ist bei ihm nicht die Rede. Er fragt sich zwar, wie man sich über die »Vorurteile der eigenen Gegenwart« erheben kann, um einen »historischen Sinn« (oder auch ein »historisches Bewußtsein«) auszubilden (Gadamer, 1960/2010, S. 235) und weist auch darauf hin, dass Dilthey »die Grundlegung der Historik in einer Psychologie des Verstehens« vorschwebte (S. 236), doch behandelt er nur das Problem, wie Dilthey »die Standortgebundenheit des historischen Betrachters« überwinden könnte (S. 235). Er gelangt bei seiner Behandlung des »Zwiespaltes« zu folgendem Schluss: Daß es zu der Leistung des Denkens, die dem Leben selbst immanent ist, »den ›Standpunkt der Reflexion und des Zweifels‹ einzunehmen gilt und daß diese Arbeit ›in allen Formen von wissenschaftlichem Nachdenken‹ (und sonst nicht) vollbracht wird, […] mit den lebensphilosophischen Einsichten Diltheys schlechterdings nicht zu vereinigen [ist]« (S. 242). Beim Übergang vom dritten zum vierten Satz in Diltheys dritter Aporie (s. S. 115) fragt man sich zunächst, warum Dilthey plötzlich das Verhältnis von Verstehen und Erklären thematisiert. Jetzt wird indes deutlich, dass dies ein stillschweigender Ausdruck des angedeuteten Widerspruches in seinem Ansatz ist, der möglicherweise nur Ausdruck eines gesellschaftlichen und dann auch persönlichen Widerspruchs ist (etwa i. S. v. Lukács, 1960), mit dem er anscheinend sein ganzes philosophische Leben lang zwar gerungen hat, ohne ihn aber – jedenfalls soweit ich es sehe – als solchen zu explizieren. Immerhin gibt er unmittelbar nach der Darstellung seiner drei Aporien zu bedenken: »In all diesen Fragen kommt zum Vorschein: das erkenntnistheoretische Problem ist überall dasselbe: allgemeingültiges Wissen aus Erfahrungen« (GS, Bd. V, S. 334; Hervorh. M. G.) Dilthey hat in den »Ideen« und in anderen Arbeiten nicht nur die geisteswissenschaftliche Psychologie der naturwissenschaftli155

chen »erklärenden Psychologie« gegenübergestellt, sondern auch andere Verhältnisse zwischen Verstehen und Erklären angesprochen (u. a. ein komplementäres Verhältnis). Im weiteren Kontext der Darstellung seiner dritten Aporie gelangt er zu folgendem Verhältnis: »Wenn wir nun den ganzen Vorgang der Erkenntnis des Singularen als einen Zusammenhang begreifen müssen, so entsteht die Frage, ob man im Sprachgebrauch Verstehen und Erklä­ ren sondern könne. Dies ist unmöglich, da allgemeine Einsichten durch ein der Deduktion analoges Verfahren, nur ungelöst, als Sachkenntnis in jedem Verstehen mitwirken […]. Sonach haben wir es mit einer Stufenfolge zu tun« (GS, Bd. V, S. 337). Die Frage stellt sich, ob der wichtigste Vertreter der geschichtlichen Lebensphilosophie für die Signifikanten »Verstehen« und »Erklären« nicht durchgehend die gleichen Signifikate verwendete und/oder ob er im Verlaufe der Zeit seine Position in Bezug auf das Verhältnis von Verstehen und Erklären alternierte. Nach Rickert (1920) gibt es keine Wissenschaft ohne konsistent konzeptuelles und systematisches Denken. Der Sinn jedes Begriffes bestehe darin, dass er Sachverhalte in einem gewissen Abstand zum unmittelbar wirklichen Leben darstellt. Soweit etwas durch Erkenntnis »begriffen« ist, hört es auf, »real zu leben«. Dem Autor zufolge ist der Dualismus von Erlebnis und Begriff niemals aufhebbar. Jeder Wissenschaft, auch der Geisteswissenschaft, der Geschichte, der Biografieforschung, mit der sich Dilthey eingehend befasst hat, und nicht zuletzt der Psychologie (als Wissenschaft), ist immer höchstens nur eine relative Lebens- und Wirklichkeitsnähe beschieden. Natürlich gibt es auch Begriffe, die sich auf Leben­ diges, Fließendes beziehen (z. B. Gendlins Begriffe), doch werden auch diese Konzepte selbst nicht fließend, sondern bleiben als solche starr, soweit sie eindeutig definiert und konsistent verwendet werden, andernfalls wären sie keine (richtigen) Begriffe. »Kurz, es wird nie gelingen, Erkenntnis zu finden, deren Inhalt sich mit dem unmittelbar erlebten und insofern realen Leben deckt, und das heißt: es wird nie möglich sein, in logisch oder wissenschaftlich verständlichen Sätzen vom Leben zu reden, in deren Sinn das Leben selbst eingegangen ist, denn Worte müssen uns logisch verständlich sein, allgemeine ›Bedeutungen‹ haben, und diese sind immer Begriffe« (Rickert, 1920, S. 112). 156

Umgekehrt ist das bloße Erleben des Lebens noch kein Erkennen des Lebens, setzt doch Erkennen im Sinne Schopenhauers schon mit der Vorstellung Objektivierung und damit zumindest minimales Abrücken des Erkennenden vom unmittelbaren Erleben voraus. Spätestens in dem Moment, in dem ein Mensch beginnt, etwas zu erkennen, und sei aus dem scheinbar »unmittelbaren Erleben, hört er auf, ausschließlich Lebendiges zu erleben. Demnach kann die »Lebensphilosophie« und mithin eine »Psychologie des Lebens« den Signifikanten »Leben« nur in einer semantisch-analytischen Weise enthalten, nicht aber vom Leben oder dem Erleben signifikativ ausgehen und von ihm etwas in begrifflicher und schließlich realwissenschaftlicher Hinsicht erhoffen. Eine Person, die etwas zu erkennen sucht, bleibt nie ausschließlich beim lebendigen Leben und Erleben, sondern schränkt dieses ein, begreift und erkennt es letztlich auf Kosten des unmittelbaren Erlebens. Dies gelte für jedes Erkennen, für jedes alltägliche und jedes wissenschaftliche Erkennen, ja für jedes kulturelle Unterfangen. Damit sei weder etwas gegen das Leben, noch gegen die Kultur inklusive Wissenschaft gesagt. »Dennoch kann der allein, welcher die Lebendigkeit auch in sich zurückzudrängen vermag, ein Kulturmensch genannt werden und erst dort gibt es daher objektive Kulturgüter, wo sie zur Lebendigkeit des Lebens in einer Art von Gegensatz stehen« (Rickert, 1920, S. 156). Wissenschaft schließt zwar Erlebnisse ein, das weiß jeder, der mit Wissenschaft zu tun hat, indes gehen aus den Erlebnissen an sich keine Begriffe hervor und umgekehrt kann mit Begriffen auch nicht lebendiges Leben eingefangen werden. Als Philosoph oder Forscher kann man sich allenfalls die Aufgabe stellen, dem Leben so nahe wie möglich zu kommen, wobei gleichwohl immer ein gewisser (möglicherweise minimaler) Abstand gewahrt wird oder bewahrt bleibt. Rationalismus oder Intellektualismus, der von der Fülle des Lebens abstrahiert und dem Erleben keinen Wert »beimisst«, ist keine Lösung des Problems; das Gleiche gilt auch für jeden Antirationalismus und Antiintellektualismus. Nach Rickert kann man nicht ein unmittelbares Erleben zur Grundlage einer Wissenschaft oder gar eines Wissenschaftssystems machen. Alle Begriffe der Wissenschaft sind kulturell vorgeprägt, und selbst das scheinbar unmittelbare Erleben ist es gewis157

sermaßen, wenngleich sich der Erlebende dessen meistens nicht bewusst ist. »Nur wer verstanden hat, daß das Leben des Lebens und das Erkennen des Lebens auseinanderfallen, kann ein Philosoph des Lebens werden, der sowohl das Leben liebt als auch über das Leben nachdenkt« (Rickert, 1920, S. 194). Wie wir im Verlaufe des Diskurses gesehen haben, führte die Lebensphilosophie zwar nicht zu einer konsistenten wissenschaftlichen Theorie, aber schließlich doch zu einer aussichtsreichen psychotherapeutischen Praxis. Die Humanistische Psychotherapie würde nicht ohne Erlebnisbegriff auskommen, doch selbst der Begriff des Erlebens kann nicht von puren Erlebnissen hergeleitet werden. Auch im Focusing, das scheinbar ganz vom leiblichen Erleben des Klienten ausgeht, sind die Begriffe, die der Klient schließlich hervorbringt, wie ich in meinem ersten Brief an Sie aufzuzeigen versuchte, letztlich soziokulturell vermittelt. Zwar muss die Humanistische Psychotherapie, die der Lebensphilosophie Diltheys viel zu verdanken hat, nötigenfalls vom Irrationalismus eines Klienten ausgehen, aber selbst hat sie meines Erachtens keinen irrationalen Charakter. Indessen kann die Lebensphilosophie nicht die Grundlage einer wissenschaftlichen Psychologie bilden. Die Psychologie wird erst zu einer Wissenschaft, die dieses Prädikat verdient, durch ebenso aufwendige wie kontinuierliche Begriffsarbeit, innere Konsistenz, Systematik usw. Demnach kann die Psychologie als Wissenschaft auch nicht aufgrund der vorliegenden Lebensphilosophie zu einer »Psychologie des Lebens« werden, doch kann sie unter Berücksichtigung Diltheys – vielmehr als dies bisher in der akademischen Psychologie der Fall war – das Leben berücksichtigen und sich ihm endlich annähern. Ich hoffe, dass wir mit unserem »Dilthey im Diskurs« etwas zur Klärung des Problems beitragen können, inwieweit Dilthey einen Beitrag zur modernen Psychologie und/oder Psychotherapie zu leisten vermag, und wir die Leser und Leserinnen zu einer weitergehenden Diskussion anregen können. Es grüßt Sie herzlich aus Mannheim Ihr Mark Galliker 158

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