Psychoanalytische Literaturinterpretation: Aufsätze aus "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft" (1912-37) 9783110934755, 9783484190542


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German Pages 309 [312] Year 1999

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Table of contents :
Einleitung: Zur Frühgeschichte psychoanalytischer Literaturinterpretation
Zur Psychologie des Tragischen (1912)
Von der Pathographie zur Psychographie (1912)
Die Motivgestaltung bei Schnitzler (1913)
Der Doppelgänger (1914)
Künstlerisches Schaffen und Witzarbeit (1929)
Zur Problematik des »oralen« Pessimisten. Demonstriert an Christian Dietrich Grabbe (1934)
Anhang
Quellennachweise
Weiterführende Bibliographie
Register
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Psychoanalytische Literaturinterpretation: Aufsätze aus "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft" (1912-37)
 9783110934755, 9783484190542

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Deutsche Texte Herausgegeben von Gotthart Wunberg

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Psychoanalytische Literaturinterpretation Aufsätze aus »Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften« (1912-1937)

Herausgegeben und eingeleitet von Jens Malte Fischer

Deutscher Taschenbuch Verlag Max Niemeyer Verlag Tübingen

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Psydioanalytisdie Literaturinterpretation : Aufsätze aus »Imago, Zeit seh r. für Anwendung d. Psychoanalyse auf d. Geisteswiss.« (1912- 1937) / hrsg. u. eingeleitet von Jens Malte Fischer. - [München] : Deutscher Taschenbuch-Verlag; Tübingen : Niemeyer, 1980. (Deutsche Texte ; 54) ISBN 3-423-04363-6 (Dt. Taschenbuch-Verl.) ISBN 3-484-I9054-X (Niemeyer) NE: Fischer, Jens Malte [Hrsg.]

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980 Satz: Industriedruckerei Wörner Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. ISBN Niemeyer 3-484-i9oj4-x / ISSN 0418-9159 ISBN dtv 3-423-04363-6

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG Zur Frühgeschichte psychoanalytischer Literaturinterpretation

i

LEO KAPLAN Zur Psychologie des Tragischen (1912)

33

ISIDOR SADGER Von der Pathographie zur Psychographie (1912)

64

HANNS SACHS Die Motivgestaltung bei Schnitzler (1913)

85

OTTO RANK Der Doppelgänger (1914)

104

THEODOR REIK Künstlerisches Schaffen und Witzarbeit (1929)

188

EDMUND BERGLER

Zur Problematik des »oralen« Pessimisten. Demonstriert an Christian Dietrich Grabbe (1934)

221

ANHANG Quellennachweise

278

Weiterführende Bibliographie

279

Register

293

EINLEITUNG: Zur Frühgeschichte psychoanalytischer Literaturinterpretation

I Als im Jahre 1912 zum ersten Male »Imago« erschien, »Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften«, war aus den Pionierarbeiten eines Wiener Arztes bereits die psychoanalytische Bewegung geworden. War die Zusammenarbeit des jungen Freud mit Wilhelm Fließ und Josef Breuer aus je verschiedenen Gründen nur (allerdings weitreichende) Episode geblieben, so hatte sich seit etwa 1902 um Freud ein Schülerkreis gebildet, der sich jeden Mittwochabend im Wartezimmer der Freudschen Praxis traf. Der Name > Psychologische Mittwoch-GesellschaftBurghölzli< war. Im Impressum wurden Freud und Bleuler als Herausgeber genannt, die Redaktion lag bei Jung. Am Schluß des fünften Jahrgangs wurden die Leser informiert, daß von nun an Freud alleiniger Herausgeber sei und die Redaktion von Karl Abraham und Eduard Hitschmann übernommen werde; der Titel wurde in »Jahrbuch der Psychoanalyse« geändert. In den Impressa der psychoanalytischen Publikationen spiegelt sich höchst lakonisch wider, was hinter den Kulissen auf dramatische, gelegentlich sogar tragische Weise vor sich gegangen war und was auf den bekannten Kongreßfotos nicht zu erkennen ist. So war es mit dem »Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen«, so war es auch mit dem »Zentralblatt für Psychoanalyse«, das aus dem Nürnberger Kongreß von 1910 hervorging. Alfred Adler und Wilhelm Stekel wollten es zu einer Bastion der Wiener gegenüber einer befürchteten Suprematie der Züricher ausbauen. Der erste Jahrgang war noch nicht vollendet, als bereits mitgeteilt wurde, daß der Redakteur Adler wegen wissenschaftlicher Differenzen mit dem Herausgeber (Freud) freiwillig aus der Redaktion ausscheide. Aber auch an Stekel hatte Freud bald keinen zuverlässigen Mitarbeiter mehr und so mußte er eine Gegengründung veranlassen, die »Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse«, die seit Anfang 1913 erschien und als offizielles Publikationsorgan der »Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung« das »Zentralblatt für Psychoanalyse« ablöste. Genau in jene aufregend-unruhigen, aber auch fruchtbaren Jahre fällt auch die Gründung der »Imago«, die im Gegensatz zu den anderen Zeitschriften der psychoanalytischen Bewegung über lange Zeit ein Hort der Stabilität war, bis auch sie durch den >Abfall< Otto Ranks betroffen wurde. Daß Freud für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften mehr als bloßes Ver-

ständnis haben würde, mußte dem flüchtigen Blick in seine Schriften einleuchten. Von den ersten Anmerkungen über C. F. Meyer in den Briefen an Wilhelm Fließ über die ödipus- und Hamlet-Deutungen in der »Traumdeutung«, die detaillierte Auseinandersetzung mit Wilhelm Jensens »Gradiva«-Erzählung bis zu den Überlegungen zu »Der Dichter und das Phantasieren« war seine eigene Inklination zur Literatur, die Abkunft so vieler Anregungen für die Wissenschaft vom Unbewußten aus Literatur und Mythos offen hervorgetreten. In seiner frühen Darstellung der »Geschichte der psychoanalytischen Bewegung« sagt Freud dazu: »Die meisten dieser Anwendungen [der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften] gehen, wie begreiflich, auf eine Anregung aus meinen ersten analytischen Arbeiten zurück. Die analytische Untersuchung der Nervösen und der neurotischen Symptome Normaler nötigte zur Annahme psychologischer Verhältnisse, welche unmöglich nur für das Gebiet gelten konnten, auf dem sie kenntlich geworden waren. So schenkte uns die Analyse nicht nur die Aufklärung pathologischer Vorkommnisse, sondern zeigte auch deren Zusammenhang mit dem normalen Seelenleben auf und enthüllte ungeahnte Beziehungen zwischen der Psychiatrie und den verschiedensten anderen Wissenschaften, deren Inhalt eine Seelentätigkeit war. Von gewissen typischen Träumen aus ergab sich z. B. das Verständnis mancher Mythen und Märchen. [...] Ein anderer Weg leitete von der Traumforschung zur Analyse der dichterischen Schöpfungen und endlich der Dichter und Künstler selbst. Auf seiner ersten Station ergab sich, daß von Dichtern erfundene Träume sich oft der Analyse gegenüber wie genuine verhalten (Gradiva). Die Auffassung der unbewußten seelischen Tätigkeit gestattete eine erste Vorstellung vom Wesen der dichterischen Schöpfungsarbeit; die Würdigung der Triebregungen, zu der man in der Neurotik genötigt war, ließ die Quellen des künstlerischen Schaffens erkennen und stellte die Probleme auf, wie der Künstler auf diese Anregungen reagiere und mit welchen Mitteln er seine Reaktionen verkleide.«4 Freud selbst weist darauf hin, daß es gerade auf diesem Gebiet wertvolle Mitarbeiter gab, die nicht von der Medizin, der Psychologie oder der Psychiatrie zur Psychoanalyse gekommen waren. Schon unter den Mitgliedern der »Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft« waren ja einige solcher >Laien< vertreten, wie Graf, Heller, Bach und vor allem Otto Rank. Rank Freud (s. Anm. 3), S. 171 f.

hatte die Gewerbeschule absolviert und mit einer Empfehlung Alfred Adlers und dem Manuskript seines Buches »Kunst und Künstler« Kontakt zu Freud aufgenommen. Er wurde dann nicht nur Freuds wichtigster und (lange Zeit) loyalster Mitarbeiter, sondern studierte und promovierte daneben noch an der Wiener Universität. Es wird in der Frühzeit der psychoanalytischen Bewegung deutlich, daß Freud daran gelegen war, seine Anhänger nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten strategisch gezielt einzusetzen — seine besondere Sympathie gehörte dabei immer auch den nichtärztlichen Analytikern. Dies kommt etwa in der »Selbstdarstellung« von 1925 zum Ausdruck, wenn er gewissermaßen die Arbeitsgebiete verteilt und die Religions- und Ethnopsychologie im Anschluß an »Totem und Tabu« an Theodor Reik und Giza. Roheim delegiert, während er das Gebiet der Mythologie Otto Rank zuweist.5 Ein erstes Forum für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften vor Gründung der »Imago« waren die »Schriften zur angewandten Seelenkunde«, die zuerst bei Hugo Heller in Wien, dann bei Franz Deuticke, Leipzig/Wien (dies die beiden wichtigsten psychoanalytischen Verlage jener Jahre) erschienen. Diese Monographien-Reihe wurde 1907 eindrucksvoll genug mit Freuds »Der Wahn und die Träume in W. Jensens >GradivaGradivaDer Dichter und das Phantasieren^ im Prinzip alles das stehe, was Graf gesagt habe. Freuds weitgehende Zustimmung zu Grafs Thesen provoziert Sadger zu einer Klarstellung: er schreibe Pathographien aus rein medizinischem Interesse und nicht um den Prozeß des künstlerischen Schaffens aufzuklären.*7 Deutlicher hätte er es nicht machen können, daß er bei aller theoretischen Distanzierung doch ein getreuer Nachfahre der alten Pathographen ist, der jetzt nur Kaptationen für psychoanalytisdie Klassen betreibt statt für psychiatrische (während etwa Otto Rank bei der späteren Diskussion über Sadgers Kleist-Vortrag ebenso deutlich sagt, daß er eine Abneigung gegen Pathographien habe).88 Darin spricht sich nicht nur die grundsätzliche Differenz zwischen dem Nervenarzt Sadger und dem Literaturwissenschaftler Rank aus, sondern es wird auch die Tatsache erklärlich, daß Arbeiten vom Sadgerschen Typus nur in den ersten Jahrgängen der »Imago« vertreten sind (er selbst mit zwei Aufsätzen). Der von Freud getadelte Schematismus kennzeichnet auch jene Pathographien Sadgers, die außerhalb der »Imago« erschienen (vgl. hierzu Teil B der Bibliographie) und sie kennzeichnet auch seinen in diesem Band abgedruckten Aufsatz, dessen Bedeutung als Dokument für ein Durchgangsstadium psychoanalytischer Biographik-Diskussion dadurch nicht gemindert wird. In Freuds harsche Kritik an Sadger spielte wohl auch die Erkenntnis hinein, daß dessen etwas krude Methoden der Sache der psychoanalytischen Bewegung Schaden zufügen könnten, und richtig war es wenig später die Meyer-Pathographie, die den Feinden der Psychoanalyse kräftige Nahrung bot: Im Rahmen der Bemühungen, die Psychoanalyse auch außerhalb Wiens zu etablieren, hatte Karl Abraham vor dem Berliner Psychiatrischen Verein im November 1908 einen Vortrag gehalten, der zu tumultartigen Szenen führte. 28

Nunberg/Federn, Protokolle, Bd. I, S. 250. *7 Nunberg/Federn, Protokolle, Bd. I, S. 252. 28 Nunberg/Federn, Protokolle, Bd. II, S. 201.

Ein gewisser Braatz bezog sich ausdrücklich auf Sadgers Meyer-Studie und erklärte, daß hier deutsche Ideale auf dem Spiel stünden und daß dagegen drastische Maßnahmen ergriffen werden müßten.2* Die Ablehnung von Sadgers psycho-pathographischer Methode scheint jedoch später einer milderen Beurteilung gewichen zu sein, denn in einer Rezension seines 1920 erschienenen Hebbel-Buchs erklärt Hanns Sachs, der freilich an den früheren Diskussionen noch nicht teilgenommen hatte, daß er mit Inhalt und Methode von Sadgers Untersuchung durchaus einverstanden sei. Das, was er kritisiert, deckt sich allerdings mit den alten Vorwürfen Freuds, nämlich die Schärfe eines Staatsanwalts, die den armen Sünder Hebbel auf die Anklagebank zerre.80 In seinem in diesem Bande abgedruckten Aufsatz »Von der Pathographie zur Psychographie« zeigt sich, daß Sadger einige Einwände der »Mittwoch-Gesellschaft« gegen seinen Meyer-Vortrag beherzigt hat, so den von Federn, daß er über die sexuelle Entwicklung Meyers kein Wort gesagt habe, weil darüber nichts bekannt sei, ergo könne man auch keine Pathographie schreiben.81 Nun hebt er hervor, daß die Darstellung des Liebeslebens des Helden der wichtigste Teil einer Psychographie sein müsse. Der Weg von der Pathographie zur Psychographie sei der von der Aufsuchung des Kranken im Genie zur Darstellung der seelischen Zusammenhänge. Der zweite Teil des Aufsatzes versucht die Exemplifizierung der theoretischen Ausführungen am Beispiel Hebbels, dem Gegenstand des späteren Buches. Wie sehr Sadger jedoch auch hier über das Ziel hinausschießt, zeigt ein einziges Beispiel: unverfroren setzt er bei Hebbel die frühkindliche Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehrs voraus, für die er nicht den geringsten Beleg hat. Auch wenn man Sadger zugute hält, daß Freud lange die >Urszene< (der Begriff wird von Sadger nicht benutzt) als real erlebte voraussetzte, so ist dies eine jener Willkürlichkeiten, die der Sache der Psychoanalyse erheblichen Schaden zufügten. Trotz der weitgehenden Ablehnung von Sadgers Arbeiten bringen erst die späteren Jahrgänge der »Imago« erkennbare Fortschritte im Genre der Psycho-Pathographie. Ich nenne vor allem die bedeutenden Arbeiten von Ernst Kris über den Bildhauer Franz Xa-

* Vgl. Jones, Freud, Bd. II, S. 142. 80 Hanns Sachs in: Imago 9, 1923, S. 506 f. 81 Nunberg/Federn, Protokolle, Bd. I, S. 241.

ver Messerschmidt81 und von Edmund Bergler über Christian Dietrich Grabbe (in diesem Bande abgedruckt). Hier wird eine Vorgehensweise deutlich, die sich auf das Vorbild von Freuds Leonardo-Aufsatz zurückbesinnt, gleichzeitig jedoch auch versucht (wovor Freud noch zurückgescheut war), dem Wesen der künstlerischen Leistung näher zu kommen und nicht nur den Zusammenhang zwischen äußeren Erlebnissen und Reaktionen der Person auf dem Weg der Triebbetätigung aufzuzeigen. Daß die Problematik der Psychopathographie noch keineswegs ausdiskutiert ist, zeigt die Stellungnahme Janine Chasseguet-Smirgels anläßlich einer Analyse des Films »Letztes Jahr in Marienbad«. Der Mangel der biographischen Methode ist es in ihren Augen, vor allem an der Erhellung der unbewußten Triebinhalte interessiert zu sein und daran, mittels der Analyse eines Kunstwerks und eines Künstlers das Wissen über das Unbewußte zu vertiefen (wie man sieht, sind dies keine unbedingt neuartigen Argumente). Sie plädiert dafür (und versucht es in ihrer Filmanalyse), auf lebensgeschichtliche Daten zunächst zu verzichten und sich auf das Kunstwerk und seine Formqualitäten zu konzentrieren, womit einer der wesentlichen Diskussionspunkte der letzten Jahrzehnte angesprochen ist, der jedoch aus unserem Themenkreis herausführt.88 Daß es daneben immer noch >klassische< Psychopathographien gibt, zeigen die in dem von Alexander Mitscherlich edierten Band »Psycho-Pathographien I« enthaltenen Studien William G. Niederlands über Heinrich Schliemann und C. F. Meyer, womit jener Kreis geschlossen scheint, der von Freuds ersten Ausführungen zu Problemen der Literatur über Meyers »Richterin« und »Hochzeit des Mönchs« ausging und über Sadgers Meyer-Studie geführt hatte.84 III Der zweite Problemkreis läßt sich in der Frage zusammenfassen, inwieweit Künstler und Neurotiker als verwandt oder gar als identisch anzusehen seien - diese Frage hat immer wieder zu Mißverständnissen Anlaß gegeben. Das kenntnisreiche und zuverlässige 88

88 84

Ernst Kris, Ein geisteskranker Bildhauer, in: Imago 19, 1933, S. 384411 (wieder in: Kris, Die ästhetisdie Illusion, S. 116-144). Chasseguet-Smirgel, Letztes Jahr in Marienbad. William G. Niederland, Analytisdie Studie über das Werk Heinridi Sdiliemanns, und: Conrad Ferdinand Meyer- Eine tiefenpsychologische

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Kompendium Norbert Groebens etwa sagt dazu: »Die These vom Künstlertum durch Neurose hat, wie schon die psychoanalytischen Biographien erkennen lassen, ihre wichtigste wissenschaftliche Grundlage durch die Psychoanalyse gewonnen«85 - ein Satz, der in dieser Eindeutigkeit nicht haltbar ist. Es ist wohl richtig, daß es Analytiker gegeben hat, die eine solche These vertreten haben: das größte Unheil hat hier wahrscheinlich Wilhelm Stekel angerichtet. In seiner vielgelesenen Broschüre von 1909 »Dichtung und Neurose« dekretierte er ohne viel Federlesens, daß seine Forschungen den Beweis erbracht hätten, »daß zwischen dem Neurotiker und dem Dichter gar kein Unterschied besteht. Nicht jeder Neurotiker ist ein Dichter. Aber jeder Dichter ist ein Neurotiker.«" Stekel distanziert sich zwar von der alten Neurosenthese der Moreau, Lombroso und Nordau; für ihn manifestieren sich in künstlerischen Hervorbringungen keine Krankheitsprozesse, die sich etwa durch Schädelmessungen feststellen ließen. Insofern befindet sich Stekel bereits auf dem Boden eines fortgeschritteneren Neurosenverständnisses, das die Neurose als mangelndes seelisches Gleichgewicht, als Störung der Affektivität betrachtet. Die Neurose wird jedoch bei ihm geradezu apotheotisch als Trägerin des Fortschrittes gefeiert, denn nicht nur Künstler, sondern auch Propheten, Philosophen und Erfinder seien als Neurotiker anzusehen.87 Stekel ist immerhin so korrekt, darauf hinzuweisen: »Wohl ist der große Einfluß der Freudsdien Forschungsergebnisse überall zu bemerken. Allein dem Kundigen wird es nicht entgehen, daß ich manchmal meine eigenen Wege wandle.«88 Daß Stekel mit seinen Ansichten zunächst keineswegs alleine stand, zeigt etwa die kleine populärwissenschaftliche Darstellung zum Thema »Dichtung und Psychoanalyse«, die Theodor Reik 1912 verfaßte und in der er zum Teil wörtlich Stekels Thesen aus »Dichtung und Neurose« übernahm, sich auch ausdrücklich auf ihn berief.8* Hingegen gibt es (und das unterschlägt eine vereinfaStudie, in Mitsdierlidi (Hrsg.), Psydio-Pathographien I, S. 90-127 und S. 128-141. Freuds Bemerkungen finden sich in: Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 220 ff. 85 Groeben, Literaturpsychologie, S. 47. ** Stekel, Dichtung und Neurose, S. 5. 87 Stekel, Dichtung und Neurose, S. 72. 88 Stekel, Dichtung und Neurose, S. V. 89 Theodor Reik, Dichtung und Psychoanalyse, in: Pan 2,1912, S. 519-526 17

chende Feststellung wie die Groebens) bereits in der Frühzeit der psydioanalytischen Diskussion andere Positionen. So hat Otto Rank schon in seinem 1907 erschienenen Buch »Der Künstler« Differenzierungen vorgenommen, die für die Zukunft fruchtbar wurden und die vor allem den Bereich der Sublimierung betreffen. Wie viele andere geht auch Rank von der seit Freuds »Traumdeutung« unausweichlichen Parallele zwischen Traumarbeit und künstlerischem Schaffensprozeß aus. Den Künstler stellt Rank dabei zwischen Träumer und Neurotiker. Vom Traum als Ort psychischer Kompromißbildungen zwischen unterdrückten und legitimierten Trieben führe der Weg bei fortschreitender psychischer Sublimierung zunächst zu einer Art gemeinsamem Massentraum, dem Mythos, ähnlich wie auch die Kunst bei den Alten zunächst Gemeinschaftsprodukt gewesen sei. Was für den Traum nicht mehr zu bewältigen war, jedoch noch nicht pathogen genug für eine Neurose, das führte zu Kunstprodukten, die auch den Rezipienten Spannungsabfuhr ungefährlicher Art erlaubten.40 Rank nimmt eine Wesensgleichheit des psychischen Prozesses bei Träumer, Künstler und Neurotiker an, hebt aber gerade die gewichtigen Unterschiede hervor, die vor allem in der aktiven Rolle bestehen, die der Künstler gegenüber seinem Primärprozeß übernimmt: er finde aus der Regression im Gegensatz zum Neurotiker wieder in die Realität zurück und es gelinge ihm oft sogar, aus der Regression, der Erschaffung von Phantasiewelten, eine sozial erfolgreiche Rolle zu machen (hier knüpft später Ernst Kris mit seiner Vorstellung von der kontrollierten Regression an). Immer wieder betont Rank, der weniger als Stekel in Gefahr ist, die Bedeutung von Kunst und Künstler ins Divinatorische zu heben, die Aktivität, die Willenskraft des Künstlers, die ihn vom passiven Träumer und Neurotiker unterscheide, die Wichtigkeit der Bearbeitung von Konflikten, die so in eine Form gebracht werden, die sie für andere mitgenießbar macht (ähnlich unmißverständlich drücken sich Rank und Sachs im bereits erwähnten Einleitungsaufsatz der »Imago« aus).41 In der Einleitung zur

40

(wieder in: Urban [Hrsg.], Psydioanalyse und Literaturwissenschaft, S. 11-18). Otto Rank, Der Künstler, Ansätze zu einer Sexualpsychologie. Hier: zitiert nach der erweiterten 2. und 3. Auflage, Wien/Leipzig 1918, S. J2 ff.

41

Rank (s. Anm. 40), S. 64 f.; Rank/Sachs (s. Anm. 13), S. 13. 18

2. Auflage seines ehrgeizigen Buchs »Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage« hat Rank noch einmal seine Thesen in aller wünschenswerten Deutlichkeit zusammengefaßt und die Distanz zu Stekel betont: »Was der Dichter so letzten Grundes mit dem Neurotiker gemeinsam hat, ist das übermächtige, vorzeitig nach Betätigung und Phantasiebildung drängende Triebleben und die zu seiner Eindämmung erforderlichen mächtigen Hemmungen, die das Schuldgefühl konstituieren. Bis zu diesen Konflikten läuft die Entwicklung ziemlich parallel; dann findet aber der Künstler den Weg, das schädliche Übermaß an unbezähmbarem Trieb und an drückendem Schuldgefühl in rechtfertigender Befreiung unter sozialer Sanktion zu entladen, während der Neurotiker zwischen Trieb und Schuldgefühl schwankend des Konfliktes in keiner Weise Herr zu werden vermag. [...] Andererseits werden wir uns auch hier wieder durch die fast ans Pathologische streifende Schilderung psychischer Leiden nicht zu der verwirrenden Behauptung Stekels verleiten lassen, daß der Dichter regelmäßig ein Neurotiker sei, sondern zumindest das einzig Sichere, was wir von dieser Beziehung aussagen können, festzuhalten suchen, daß nämlich den Künstler seine für ihn befreiende und zugleich sozial hochwertige Leistung von der Leistungsunfähigkeit des Neurotikers immer so scharf scheiden wird, daß auch die innigste Verwandtschaft in den Vorbedingungen diese deutlich sichtbare Grenze nicht zu verwischen vermag. So wenig man das Kunstwerk schlechtweg mit dem Traum identifizieren darf, so wenig hat man ein Recht, es ausschließlich als neurotisches Symptom oder seinen Urheber, solange er leistungsfähig bleibt, als krankhaften Neurotiker zu werten. Ein tieferes Verständnis der seelischen Verwandtschaft des Dichters mit dem Neurotiker wird uns vielmehr gerade zu der Einsicht führen müssen, daß der Dichter allerdings hart an der Grenze der Neurose steht - die er stellenweise auch überschreitet —, daß er sie aber im allgemeinen eben durch seine künstlerische Produktion noch zu überwinden imstande ist.«48 Wenn also Norbert Groeben in Zusammenfassung neuerer Forschungsergebnisse und vermeintlicher Korrektur der psychoanalytischen Kreativitätsauffassung ausführt: »Der Schriftsteller zeigt also z. T. durchaus Erscheinungen, die neurotischen Symptomen und Problemen analog sind; ihre Verarbeitung aber ist gerade eine nicht neurotische, so 48

Otto Rank, Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psydiologie des dichterischen Sdiaffens, Leipzig/Wien2 1926, S. 21 ff. 19

daß ein produktiver Literat von der Persönlichkeitsstruktur her im Normalfall keine >kranke< (neurotische) Kreativität zeigen wird [...]«,** so stimmt er hier völlig mit einem der Gründerväter psychoanalytischer Kreativitätsforschung überein, der den damaligen Wissensstand mit aller Klarheit zusammengefaßt hat (von ganz anderer Warte aus hat etwa gleichzeitig mit Rank C. G. Jung die Ineinssetzung von Kunstwerk und Neurose abgelehnt und nur ähnliche psychische Vorbedingungen beim Zustandekommen eines Kunstwerks konzediert, zu einem Zeitpunkt, als er seine analytische Psychologie< längst von der Psychoanalyse getrennt wissen wollte).44 Es ist jedoch zuzugeben, daß dies ein Punkt war (dies zeigen auch die ersten Jahrgänge der »Imago«), in dem immer wieder Unsicherheit herrschte. Zu dieser Unsicherheit mag vor allem beigetragen haben, daß von der unangefochtenen Autorität Sigmund Freuds in diesem Falle letzte Klarheit nicht zu erlangen war. Es scheint fast so, als sei Freud einer definitiven Antwort aus dem Weg gegangen. In der ersten kleinen Analyse, die er einem literarischen Werk gewidmet hat, nämlich C. F. Meyers »Die Richterin«, beigelegt einem Brief an Wilhelm Fließ aus dem Jahre 1898, fällt ihm bereits auf, daß es sich um die poetische Abwehr der Erinnerung eines inzestuösen Verhältnisses mit der Schwester handele.» Merkwürdig nur, daß diese genau so geschieht wie in der Neurose.«45 Eine wesentlich berühmtere Stelle ist jene Passage aus der Leonardo-Arbeit, die unmittelbar an die bereits zitierte Verteidigung der Pathographie anschließt - sie erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch als zweideutig-mißverständlich: »Heben wir ausdrücklich hervor, daß wir Leonardo niemals zu den Neurotikern oder >NervenkrankenStudienausgabePrinz von HomburgPrinz von Homburgs Stuttgart 1980, Reclam). Trotz dieser Vorarbeiten ist, wie ich glaube, ein anregender Band zustande gekommen, mit dem der Reichtum der »Imago« noch keineswegs ausgeschöpft ist, wie Teil A der Bibliographie anzudeuten vermag - dies gilt erst recht für Arbeiten, die über den Bereich der Literatur hinausgehen. Daß alle Beiträge der »Imago« auf gleich hohem Niveau stehen, kann natürlich nicht behauptet werden. Schon im vorliegenden Band wird ja ein Gefalle deutlich. Es gibt immer wieder, vor allem in den ersten Jahrgängen, vulgäranalytische Ausrutscher. Besonders frappierend ist ein Beitrag Georg Groddecks mit dem Titel »Der Symbolisierungszwang«.98 Groddeck hat ja einen guten Ruf als interessanter Außenseiter und eigenwilliger Popularisator der Psychoanalyse, vor allem wegen seines >psychoanalytischen Romans< »Der Seelensucher« und wegen des »Buch vom Es. Psydhoanalytische Briefe an eine Freundin«. Dieser Ruf wird jedoch durch seinen »Imago«-Aufsatz etwas ramponiert. Eine Passage über das Schneewittchen-Märchen liest sich dort so: »Schneewittchen wird mit dem Jäger, der den Mann darstellt, während sein Messer der Phallus ist, in den Wald - die Schamhaare - geschickt, um dort getötet zu werden, d. h. das Verlangen nach der Brautnacht ist da. Es kommt jedoch nicht zum Verkehr, das Kind bleibt unberührt und der Jäger tötet an ihrer Stelle einen Frischling, was die Erschlaffung des Penis von dem Beischlaf andeutet. Schneewittchen lebt nun in Verborgenheit hinter den Bergen, die als Hinterbacken gelten können, bei den sieben Zwergen. Der Zwerg ist ein bekanntes Symbol des schlaffen Gliedes. Die Zahl sieben bezeichnet Kopf, Rumpf, Gliedmaßen und Glied, der Mann ist die heilige Sieben, während das Weib die böse, kastrierte Sieben ist.«'7 Groddeck ist hier offensichtlich bei der Un" Georg Groddeck, Der Symbolisierungszwang, in: Imago 8, 1912, 8.67-81. " Groddeck (s. Anm. 66), S. 69.

tersudiung des Symbolisierungszwanges einem Dechiffrierungszwang zum Opfer gefallen; leider gibt es keinen Hinweis darauf, daß der Beitrag parodistisch gemeint sein könne. Vielleidit darf man die Tatsache, daß dies Groddecks einziger Beitrag in der »Imago« geblieben ist, zugunsten der Redaktion auslegen.

LEO KAPLAN

Zur Psychologie des Tragischen [1912] Einleitende Bemerkungen. - »Der gefesselte Prometheus«. - »Tannhäuser und der »erotisdie Dualismus«. - Agamemnon und Baumeister Solneß. Sdilußbetraditungen. Einleitende Bemerkungen Die Tragödie birgt in sich einen merkwürdigen Widerspruch. Denn »wir weiden uns an schmerzlichen Kämpfen, an Kämpfen, die nicht zum Siege, sondern zum Untergang des Helden führen, zum Untergang gerade der Person, die vielleicht unsere stärksten Sympathien gewann. Fast gewinnt es den Anschein, als sei unsere Befriedigung um so größer, je trauriger die Vorgänge auf der Bühne«1. Wie kommt es nun, daß die Wahrnehmung der tragischen Situation auf der Bühne für uns mit Lustgefühlen verbunden sein kann? Die Aufdeckung des psychischen Mechanismus, der dem geschilderten Widerspruch zu Grunde liegt, ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung. Vorher noch einige Bemerkungen. Die Psychoanalyse hat auf den mannigfachsten Gebieten menschlicher Seelentätigkeit den Kampf zwischen Wunsch und Wirklichkeit, die Schicksale dieses Kampfes und seine Folgen aufgedeckt, und es erwies sich, daß es immer »unsere Unzufriedenheit mit dieser Welt ist, die uns zwingt, uns in einer anderen, zweiten Welt zu ergehen«8. Jeder Wunsch hat die Tendenz, sich vollkommen zu realisieren. Unseren Wünschen stehen 1

C. Stumpf, »Die Lust am Trauerspiel« in »Philosophische Reden und Vorträge«. 1 W. Steckel, »Dichtung und Neurose« (Bergmann, Wiesbaden 1909), p. 14.

33

aber nicht nur äußere Hindernisse im Wege, sondern häufig genug auch innerliche Hemmungen religiöser oder ethischer Natur, manchmal geraten sie auch mit dem Selbsterhaltungsinstinkt in Konflikt. Solche »unmoralische« und »peinliche« oder »schädliche« Wünsche werden aus dem Gesamtbewußtsein »verdrängt««, sie werden »unbewußt«. Den dies bewirkenden und die herrschenden Bewußtseinsinhalte schützenden Vorgang, nennt Freud sehr vielsagend die »Zensur«. Um sich den Weg zur Äußerung zu verschaffen, müssen die verdrängten Wünsche sich irgendwie maskieren, sie müssen entstellt werden. Es liegt die Vermutung nahe, ob nicht vielleicht auch die tragisch wirkende Verwicklung eine solche Maske und Entstellung sei. Um die hier kurz skizzierten Gedanken an einem Gebiet unbewußter seelischer Tätigkeit zu illustrieren, wollen wir einen ganz einfachen kleinen Traum betrachten, der von einem mir bekannten Herrn geträumt wurde: »Er spaziert mit seinem Freunde X. (der vor einigen Jahren Selbstmord verübt hatte) auf der Brücke in seiner Heimatstadt. Er sagt zu X.: Warum hast du deinem Leben ein Ende gemacht? (Zur selben Zeit scheint es, als fragt er: Warum willst du deinem Leben ein Ende machen?). Sage es mir offen, ich werde dich nicht hindern«. Der Betreffende fühlte sich zu jener Zeit infolge schlimmer Familienverhältnisse sehr unglücklich. Nach einer unangenehmen häuslichen Szene ging er sehr aufgeregt aus, und war bald außerhalb der Stadt, auf freiem Felde. Es war im Winter, es wehte ein eiskalter Wind. Den Leichtgekleideten fror es sehr. Er dachte: »Ich muß zurück, sonst erkälte ich mich noch.« Sofort tauchte aber der Gedanke auf: »Und wenn du dich erkältest, ist's auch kein Unglück, man stirbt nur einmal.« Wir sehen im Träumer eine Selbstmordstimmung rege, die auch im Traume sich äußert: es wird dort von Selbstmord gesprochen, der nicht gehindert werden soll. Der peinliche Wunsch zu sterben wird durch den Freund X. symbolisch ausgedrückt. Wir haben hier ein sehr häufiges Requisit der Traumarbeit, eine Spaltung des Ich: der Freund X. ist ein Doppelgänger des Träumenden. Zwischen Traum und Drama besteht aber eine große Analogie. Die Handlung im Traume hat für den Träumenden denselben objektiven Charakter, wie das Schauspiel auf der Bühne für den Zuschauer. Auch im Traume rollen sich bestimmte räumlich und zeit34

lieh geordnete Bilder oder Vorgänge ab, es erscheinen verschiedene Personen, die in mannigfaltige Beziehungen zu einander treten. Der Traum ist ein Drama von der besonderen Beschaffenheit, daß es nur von der träumenden Person gesehen werden kann. Daß der Zustand des Dichtens dem Traume verwandt sei, haben die Dichter selbst schon längst bemerkt. So sagt z. B. Hebbel: »Der Zustand dichterischer Begeisterung ist ein Traum-Zustand, so müssen andere Menschen sich ihn denken.« Oder auch: »Ich sehe Gestalten mehr oder weniger hell beleuchtet, sei es nun im Dämmerlicht meiner Phantasie oder der Geschichte, und es reizt mich, sie festzuhalten, wie der Maler, Kopf nach Kopf tritt hervor, und alles Übrige findet sich hinzu, wenn ich es brauche.« Ebenso berichtet Otto Ludwig: »Dann seh' ich Gestalten, eine oder mehrere in irgend einer Stellung und Gebärdung für sich oder gegeneinander ... Bald nach vorwärts, bald nach dem Ende zu von der zuerst gesehenen Situation aus, schießen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Szenen habe8:« So sagt auch Heine (Reisebilder II, Kap. VII): »Es geht den Dichtern wie den Träumern, die im Schlafe dasjenige innere Gefühl, welches ihre Seele durch wirkliche äußere Ursachen empfindet, gleichsam maskieren, indem sie an die Stelle dieser letzteren ganz andere äußere Ursachen erträumen, die aber insoferne ganz adäquat sind, als sie dieselben Gefühle hervorbringen.« Nach diesen kurzen Vorbemerkungen gehen wir zum eigentlichen Thema dieser Untersuchung über. Zu diesem Zwecke werden wir einige Dramen psychoanalytisch4 behandeln. »Der gefesselte Prometheus« von Aischylos Der Titan Prometheus wird auf Befehl Zeus' an einem Felsen angeschmiedet. Er erzählt uns selbst, worin seine Schuld bestand: »Um des Guten willen, daß ich den Menschen tat, bin ich verdammt! Weil ich im Stab, dem Flammenquell geborgen, der ihnen Lehrer ward 8

Zitiert bei Prof. Otto Behaghel, »Bewußtes und Unbewußtes im dichterisdien Schaffen.« (Leipzig, Freitag, 1907), p. 16. * Die »psydio-analytisdie« Methode sucht »die Quellen eines psydiischen Endgeschehens aufzudecken und die Entwicklungsphasen zu verfolgen.« Diskuß. d. Wiener psychoanalytischen Vereins. H. i. (»Über d. Selbstmord«) (Wiesbaden, Bergmann, 1910), Vorw. p. 4.

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in aller Kunst und köstlicher Gewinn! Das sind die Frevel, die mich des luft'gen Kerkers wert gemacht.« Prometheus nennt Zeus einen »harten Gott«, der das Recht gefangen hält. Als Zeus den väterlichen Thron bestieg, wollte er die Menschen gänzlich ausrotten. Niemand widersprach, nur Prometheus wagte für die Menschen einzutreten. Auch gefesselt bleibt Prometheus stolz und kühn. Er rühmt sich, daß Zeus einst wohl seiner nötig haben wird, da er ihm verkünden könnte, »wer ihn des Szepters seiner Macht beraubt«. Das Verhalten des Chores ist durch die folgenden Worte charakterisiert: »O zähme deinen Stolz und lerne Rat von deinem Weh! Was soll die kühne Rede?... O nimmer soll mein Sinn der Macht des Zeus, dem Allbeherrscher nimmer widerstreben ...«. Wir müssen uns vorerst Rechenschaft geben über die Bedeutung der Person des Zeus. Er ist, wie auch der Jehowa der alten Hebräer, die personifizierte traditionelle Gewalt des Familienhäuptlings, des »Vaters«, er ist der in den Himmel versetzte Patriarch5. In einer Phase der geschichtlichen Entwicklung wird die patriarchalische Gesellschaftsordnung mit ihren traditionellen Gebräuchen und Sitten zum Hemmnis des weiteren Fortschrittes. Es häufen sich unter den Mitgliedern der großen Familie allmählich Unzufriedenheiten gegen die bestehende »heilige« Ordnung, gegen den Vater Zeus, der an der Spitze dieser Ordnung steht. Diese erlaubte dem Vater, das neugeborene Kind auszusetzen oder zu töten, sowie den Erwachsenen als Knecht zu verkaufen. Der Vater war der »selbstherrliche königliche Mann«, der über die freien und unfreien Menschen gebietet, die zu seinem Hause gehören *. Kein Wunder, daß Zeus, der »himmlische Vater«, als »harter Gott«, der das Recht gefangen hält, in unserem Drama geschildert wird. Aber die Rebellion (im Be6

In analoger Weise verfahren nodi unsere Kinder. So erzählt Jung: »Sdion seit zirka einem Vierteljahre spannen die Kinder eine stereotype Phantasie von einem »großen Bruder,« der alles weiß, alles kann und hat, an allen Orten war und ist, wo die Kinder nicht waren und alles tun darf, was sie nicht dürfen.« Jung nennt sie die »primitive Definition Gottes«. Die Quelle dieser Phantasie ist nicht weit zu suchen; das Modell dazu ist der Vater, der so etwas zu sein scheint wie ein Bruder der Muttter. Jung, »Über Konflikte der kindlichen Seele«, (Wien, Deuticke 1910, p. 13). • Wilamowitz-Moellendorff, »Staat und Gesellschaft«. (»Kultur der Gegenwart«, II, Abt. IV. Bd. I, p. 35 (Leipzig, Teubner). 36

wußtsein) ist noch nicht so weit fortgeschritten, daß man sich offen die Auflehnung gegen Vater Zeus eingestehen könnte; man fürchtet noch zu stark seine Gewalt (d. h. die geschichtlich entstandene psychische »Einstellung« ist noch unerschütterlich). Jede soziale Ordnung ist am Anfange ihrer Entstehung von großem lebensfördernden Wert für die Beteiligten. Sie ruft darum im Bewußtsein starke lustbetonte Affekte hervor, die, wie jeder lustbetonte Affekt, sich zu erhalten suchen und folglich konservativ wirken müssen. Durch Vererbung und Suggestion der Erziehung und Überlieferung verpflanzen sich diese konservativ wirkenden Affekte von Geschlecht zu Geschlecht und bilden in ihrer Gesamtheit die »Zensur«. Unter den oben beschriebenen Umständen muß sich im Bewußtsein eine Spaltung vollziehen. Die Gefühle, die sich gegen Zeus auflehnen, schaffen sich einen neuen Gott Prometheus, der mit den Menschen sympathisiert und für ihre Interessen eintritt. Alle harten Worte, die man dem Vater Zeus ins Gesicht schleudern möchte, werden Prometheus in den Mund gelegt. Beachten wir jetzt die oben angeführten Worte des Chores, so sehen wir ganz klar, daß bei allen Sympathien, die der Chor für den Gotteslästerer Prometheus hegt, er Zeus gegenüber doch ehrfurchtsvoll bleibt. Die geschilderte Spaltung vollzieht sich somit im Bewußtsein des Chores selbst, Prometheus ist ein Doppelgänger des Chores, er ist vom Chore sozusagen »geträumt« worden, oder, um einen Ausdruck von Nietzsche zu brauchen, er ist die »Vision« des Chores. Die Leiden des Prometheus sind ein Deckmantel, der dem antiken Zuschauer, wie auch uns noch erlaubt, uns an den »unerlaubten« Taten des Helden zu weiden. Zugleich bedeuten sie aber auch den Triumph der noch herrschenden Tradition. Somit bedeutet die tragische Situation ein Kompromiß der streitenden Tendenzen, eine eigenartige Abstumpfung der Gegensätze, durch ein gewisses Gewährenlassen beider. In dieser Abstumpfung, die eine Verminderung der Spannung zwischen den feindlich einander gegenüberstehenden Tendenzen bedeutet, ist die »Lust am Trauerspiel« begründet. Außer dem betrachteten sozialen Konflikt sind im »gefesselten Prometheus« noch Familienkonflikte im engeren Sinne des Wortes enthalten. Besseren Verständnisses halber müssen wir hier einige Vorbemerkungen einschalten. Das Kind ist seinen Eltern gegenüber in sexueller Hinsicht nicht ganz indifferent, wie man im allgemeinen anzunehmen geneigt ist. Gewöhnlich hängt der Sohn mehr an 37

der Mutter, die Tochter mehr an dem Vater. Diese Einstellung des Kindes zum Vater oder zur Mutter, ein durchaus erotisches Verhältnis, ruft in ihm die Eifersucht gegen seinen Rivalen wach. Ich sah einmal, wie ein dreijähriger Knabe mit seiner Milchflasche den Vater auf den Kopf schlug, weil dieser mit der Mutter zärtlich wurde. C. G. Jung erzählt von einem 15 jährigen Mädchen7, »bei dem in der Analyse ein mehrfach wiederkehrender Einfall auftrat: Schillers Lied von der Glocke fiel ihr ein, sie hat es zwar nicht gelesen, sondern nur einmal durchgeblättert und konnte sich nur entsinnen, etwas von einem »Dome« gelesen zu haben. Weiterer Einzelheiten konnte sie sich nicht entsinnen. Die Stelle lautet: Von dem Dome Schwer und bang Tönt die Glocke Grabgesang usw. Adi die Gattin ist's, die Teure, Adi es ist die treue Mutter, Die der schwarze Fürst der Sdiatten Wegführt aus dem Arm des Gatten usw.

Die Tochter liebt natürlich ihre Mutter und denkt nicht entfernt an deren Tod, hingegen liegt die Sache gegenwärtig so: Die Tochter muß mit der Mutter auf 5 Wochen zu Verwandten reisen, das Jahr zuvor war die Mutter ohne sie gegangen und die Tochter blieb allein mit dem Vater zu Hause. Leider wird heuer »die kleine Gattin« aus dem Arme des Gatten »weggeführt«, während es doch dem Töchterchen lieber wäre, wenn die »treue Mutter« vom Kinde schiede«. Ein sexueller Konflikt der beschriebenen Art tritt uns auch im »gefesselten Prometheus« entgegen. Prometheus erzählt, daß er »im Stabe den Flammenquell geborgen«, der den Menschen »Lehrer ward in aller Kunst«. Bekanntlich stammt ursprünglich der Prometheusmythus aus Indien. In der Rigveda aber wird merkwürdigerweise das Fünklein, das beim Feuerreiben morgens beim Sonnenaufgang entsteht, als »kleines Kind« betrachtet8. Es wird hier gewissermaßen das Feuerreiben mit dem Sexualakte identifiziert*. 7

Jung a. a. O. p. 3. A. Drews, »Die Christusmythe«, p. 46. 9 Karl Abraham, »Traum und Mythus« (Wien, Deuticke), p. 29 ff. Prometheus heißt audi Pramanta = der Feuerraubende, der Feuerreibende. 8

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Ferner weiß jeder Psychoanalytiker, daß in allen traumartigen Zuständen Feuer das Liebesfeuer symbolisiert. Audi im gewöhnlichen Sprachgebrauch versteht man unter »Flamme« eine Geliebte. Somit bedeutet die Bergung des Flammenquells die Anmaßung des Sohnes, die Stelle des Vaters einzunehmen. Die Eifersucht und, in Verbindung damit, das Rachegefühl gegen den Vater äußert sich darin, daß Zeus durch seinen eigenen Abkömmling gestürzt sein wird (durch den künftigen Sohn der Jo). Ein Seitenstück zu dem letztgesagten bildet die Episode mit der wahnsinnigen Jo. Auf Verlangen des Chores berichtet Jo über ihre Schicksale. Es traten zu ihr allnächtlich Traumbilder mit Schmeichelreden, die sprachen: »O du hochbeglückte Maid, warum so lange Jungfrau? Wartet dein die köstliche Vermählung doch! Denn Zeus hat des Verlangens Pfeil nach dir getroffen, mit dir in Liebe sehnt er sich vereint. Du aber, Kind, verschmähe nicht den Schlummer in seinem Arm.« Die sexuelle Neigung der Tochter zum Vater tritt hier klar zu Tage. Bemerkenswert sind die Worte, mit welchen die wahnsinnige Jo fortläuft: »Weh mir! - der Brand - der Geißelschlag des Wahnsinns! Der Stich - der feur'ge - bohrt sich mir ins Hirn!« Der »feur'ge Stich« - Was ist es anders, als das Phantasieren über den Zeugungsakt, dargestellt durch ein in der Psychoanalyse wohlbekanntes Mittel neurotischer Symptombildung - die »Verlegung nach oben«. Jo empfindet den feurigen Stich im Hirn. Aber man weiß es eben aus der Erfahrung bei neurotischen Personen, daß diese unter dem Druck der sexuellen Abwehr gewisse Empfindungen, die mit den sexuellen Organen irgendwie verknüpft sind, mit Organen der oberen Körperhälfte assoziieren. Freud nennt diesen Vorgang »Verlegung nach oben«10. Wir wissen ferner, daß Jo sehr lange auf der Erde irren wird, daß ihr tausend Hindernisse im Wege stehen werden, bis sie endlich nach Lernas Wiesenthal gelangt, wo sie sich Zeus hingibt. In dem langen Herumirren äußert sich der Widerstand der »Zensur« gegen Matha = das männlidie Genitale. Das Lied der Vedensänger während der Feuererzeugung lautet: »In den beiden Hölzern liegt der jätaoedas, wie in den Sdiwangeren die wohlbewahrte Leibesfrucht . . . In die Dahingestreckte laßt hinein den Stab, der du deß kundig bist; sogleich empfängt sie, hat den Befruchtenden geboren . . .« (Kühn, »Herabkunft des Feuers«). 10 Freud, >Bruchstück einer Hysterie-Analyse« in der »Sammlung kleiner Sdiriften zur Neurosenlehre«, II. Reihe. (Wien, Deutidte).

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den »unmoralischen« Trieb. Der Kampf mit ihren Gelüsten, das Unterdrücken-wollen der letztern bringt Jo zum Wahnsinn. Darauf deutet im Drama Prometheus hin, indem er zu Jo sagt: »Dort (in Lernas Wiesenthal) schenkt dir der Sinne Klarheit Zeus zurück und nur mit leichter Hand dich sanft berührend, zeugt er mit dir den schwarzen Epaphos, so nach des Gottes sanfter Tat geheißen.« Der Wahnsinn erscheint hier durch den unbefriedigten Sexualtrieb hervorgerufen. Daß hier die »sanfte Hand« an Stelle des sexuellen Organs tritt, ist wohl meistens wiederum Folge der »Verlegung nach oben«, andererseits sehen wir hier eine feine Sexualsymbolik am Werk. In der Person der Jo wird ein »unerlaubter« Wunsch abregiert (realisiert). Darum ihr tragisches Schicksal (ihr Wahnsinn), mit dessen Hilfe die »Zensur« umgangen wird. Der Inhalt des »gefesselten Prometheus« ist »überdeterminiert«. Der soziale Konflikt, sowie die sexuellen, die in diesem Drama agieren, stammen aus demselben Boden, sie haben ihre Wurzel im Schöße derselben sozialen Organisation - der Familie. Richard Wagners »Tannhäuser« und der »erotische Dualismus* Um den »Tannhäuser« zu verstehen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit dem Anfange der dritten Szene des ersten Aktes widmen. Der junge Hirt spielt auf der Schalmei und singt: Frau Holda (Venus) kam aus dem Berg hervor, Zu ziehen durch Fluren und Auen, Gar süßen Klang vernahm da mein Ohr, Mein Auge begehrte zu schauen: Da träumt ich manchen holden Traum.

Die vorherige Szene im Venusberge muß also als die Vision des jungen Hirten aufgefaßt werden, er spielt hier die Rolle des Chores im antiken Drama. Die Stimmung des »holden Traumes« geht aber bald über in die Stimmung der Reue, es ertönt der Chor der Pilger: Adi, sdiwer drückt midi der Sünde Last, Kann länger sie nidit mehr ertragen usw. -

Der Kultur-Mensch ist im schweren Ringen aus dem Tiermenschen entstanden. Das durch die Kultur überwundene Tierische ist jedoch in unserem Unbewußten lebendig geblieben und verursacht manchen »holden Traum«. Als solchen haben wir die erste und zweite 40

Szene unseres Dramas zu betrachten. Wir sehen, wie die Jünglinge von den Nymphen gelockt werden, wie die liebenden Paare sich finden. Es kommt ein Zug von Bacchantinnen, die Liebenden zu wilder Lust, zu wachsender Ausgelassenheit auffordernd. »Die Berauschten stürzen sich in brünstige Liebesumarmung«. Es erscheinen Satire und Faune, die durch ihre Jagd auf die Nymphen die Verwirrung vermehren; »der allgemeine Taumel steigert sich zur höchsten Wut«. Also eine plastisch geartete erotische Phantasie: die wilden Triebe der unmittelbaren tierischen Natur walten frei. Das Bewußtsein des Kulturmenschen kann aber nicht ruhig dem ungehemmten Aufsteigen der nackten Sinnlichkeit zuschauen. Darum »beim Ausbruche der höchsten Raserei, erheben sich entsetzt die drei Grazien. Sie suchen den Wütenden Einhalt zu tun und sie zu entfernen«. Tannhäuser verkörpert den Zwiespalt unseres Ich: das heiße Verlangen nach der nackten Sinnlichkeit und die Unmöglichkeit, sich ihr gänzlich hinzugeben. Er erwacht in den Armen der Frau Venus und spricht: Nach Freude, ach! nadi herrlidiem Genießen Verlangt' mein Herz, es dürstete mein Sinn Doch sterblich, ach! bin ich geblieben, Und übergroß ist mir dein Lieben; Wenn stets ein Gott genießen kann, Bin ich dem Wechsel Untertan; Nicht Lust allein liegt mir am Herzen, Aus Freuden sehn' ich mich nach Schmerzen: O Königin! Göttin! Laß' midi zieh'n!

Die letzten Worte Tannhäusers in dieser Szene sind: Göttin der Wonne und Lust! Nein! Ach, nicht in dir find' ich Friede und Ruh'! Mein Heil liegt in Maria!

Venus verschwindet. Wir haben vor uns die dritte Szene, wo die Stimmung des »holden Traumes« in die Stimmung der Reue umschlägt: Tannhäuser nimmt das Motiv der Pilger auf. Der Zwiespalt, von dem wir gesprochen haben, führt zu zweifachem Verhalten zum Weib, zu dem Dualismus in der Erotik: das Weib in der Doppelrolle der Venus und der Heiligen. Tannhäusers Heilige ist Elisabeth. Als die Sänger ihn wieder nach der Wartburg

rufen und er ihnen nidit folgen will, genügt es, den Namen Elisabeth zu nennen, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. Dieser Heiligen ist Tannhäuser niemals mit unverhüllert Sinnlichkeit genaht. Von ihr ist er nach dem Venusberg gegangen, von dort ist er zu ihr wiedergekehrt. Die beiden Seiten des erotischen Dualismus bedingen und ergänzen einander. Weil die nackte, ungebundene Sexualität uns unmöglich, suchen wir im Gegensatz dazu das Weib zur Heiligen zu machen. Weil aber diese anderseits die Sinne unbefriedigt (hungernd) läßt, wird sie zur Helferin der Revolte der rein tierischen Triebe. Am schroffsten tritt der Dualismus in der vierten Szene des zweiten Aufzuges, in dem Preissingen der Sänger zu Tage. Vor der Aufgabe, das Wesen der Liebe zu schildern, stehen sich die tollkühne Begehrung der Sinne (Tannhäuser) und die vor aller Wirklichkeit fliehende asketische Stimmung (Wolfram v. Eschenbach, sowie die anderen Minnensänger) schroff gegenüber. Wolfram: . . . mir zeiget sich ein Wunderbronnen, In den mein Geist voll hohen Staunens blickt; Aus ihm er sdiöpfet gnadenreidie Wonnen, Durch die mein Herz er namenlos erquickt. Und nimmer möcht' ich diesen Bronnen trüben, Berühren nicht den Quell mit frevlem Mut, In Anbetung möcht' ich mich opfernd üben , . .

Darauf Tannhäuser: O Wolfram, der du also sangest, Du hast die Liebe arg entstellt... Ich nah' ihm kühn, dem Quell der Wonnen, In die kein Zagen je sich mischt, Denn unversiegbar ist der Bronnen Wie mein Verlangen nie erlischt.

Und als Antwort auf die Auslassungen erhabener Minne von seiten Walters v. d. Vogelweide und Biterolfs bricht Tannhäuser schließlich in die feuerigen, diese Versammlung geradezu als Gotteslästerei anmutenden Klänge des Liedes an die »Göttin der Liebe« aus. Die allgemeine Entrüstung, die diesem Liede Tannhäusers folgt, ernüchtert diesen wieder, die Reuestimmung gewinnt abermals die Oberhand.

Zum Heil den Sündigen zu führen, Die Gottgesandte nahte mir; Doch ach! sie frevelnd zu berühren, Hob ich den Lästerblick zu ihr!

Zum Büßen seiner Sünde geht er nach Rom. Es ist ihm aber dort nicht gut ergangen. Der Papst wollte ihm nicht vergeben, weil er der »bösen Lust« genossen und im »Venusberg geweilt«. Der Ekel vor dem »lügnerischen Klang der Verheißung« trieb ihn zurück zum Venusberg: Dahin zog's mich, wo ich der Wonn' und Lust So viel genoß, an ihre warme Brust! Zu dir, Frau Venus, kehr' ich wieder ...

Die durch die Heiligmachung des Weibes unbefriedigt gebliebene Libido sucht sich zu entladen, die zu despotisch ausgeübte Gewalt des ethischen Grundsatzes wird durch die revoltierenden Triebe umgestoßen. Freilich, nicht für lange. Die »Zensur« gewinnt bald wieder die Oberhand, die Ordnung wird wieder hergestellt. Aber auf einen Kompromiß muß jetzt die »Zensur« eingehen. Es erscheint der Sarg mit der Leiche Elisabeths. Tannhäuser beugt sich über die Leiche, sinkt langsam nieder und mit den letzten Worten: Heilige Elisabeth, bitte für mich!

stirbt er. Das ist die erste, letzte und einzige Liebesvereinigung Tannhäusers und der heil. Elisabeth. Wir sehen, wie hier der Tod die Realisierung eines gehemmten Wunsches darstellt, somit einen lustbetonten Zustand bedeutet. Eigentlich haben auch Erwachsene keine adäquate Vorstellung vom Tode, die Vorstellung eines »Nichtseins« hat für uns immer den Charakter irgend eines »Seins«, eines vielleicht nur anders gearteten »Seins«. In unserer Phantasie ist der Tod nur »ein Leben nach dem Tode«, wohin wir in der höchsten Not eines seelischen Konfliktes alles in diesem realen Leben unerreichbar Ersehnte verlegen. So verfuhr in früher Zeit die Phantasie des Volkes, so verfährt noch jetzt die Phantasie des Dichters, indem er die Konflikte des Lebens durch den Tod und im Tode zu lösen meint. Wir wollen jetzt die zwei Frauengestalten, Elisabeth und Venus, näher betrachten. Elisabeth ist von Liebessehnsucht ergriffen. Als sie mit Tannhäuser zusammentrifft, wird sie ganz verwirrt, er soll ihr helfen, »das Rätsel ihres Herzens« zu lösen. Sie erzählt von der 43

Wirkung, welche seine Lieder auf sie ausgeübt, in zitternden unsäglich bewegenden Worten schildert sie ihm, welche neuen Welten diese Klänge in ihr aufgetan haben, »Gefühle und Verlangen, die sie nie gekannt«, und wie »Frieden ihr und Lust dahin« war, als er geschieden. »Heinrich! Heinrich! Was tatet ihr mir an?« Elisabeth ist die Heilige, das rein Sinnliche der Liebe ängstigt sie, sie ist die »reine Jungfrau«, sie nennt sich selbst so. Als Tannhäuser sein Lied der Göttin der Liebe singt, hört Elisabeth mit wachsender Angst zu. Als sie Tannhäuser gegen die auf ihn sich stürzenden Ritter beschützen will, ruft sie diesen zu: Zurück! Des Todes achte idi sonst nidit! Was ist die Wunde eures Eisens gegen Den Todesstoß, den idi von ihm empfing?

Mit anderen Worten, Elisabeth, die Liebende, wird von dem Anstürmen des Sinnlich-Erotischen zu Tode getroffen. Diese Stimmung ist noch ausgeprägter in ihrem Flehen vor dem Bilde der heiligen Maria: Wenn je, in tör'gen Wahn befangen, Mein Herz sidi abgewandt von dir, Wenn je ein sündiges Verlangen, Ein weltlich Sehnen keimt' in mir, So rang ich unter tausend Schmerzen, Daß ich es tot' in meinem Herzen.

Hier tritt der erotische Dualismus klar zu tage. Das »sündige Verlangen«, das »weltliche Sehnen«, das in Elisabeth keimt, will emporwachsen. Es entsteht der Traum vom Venusberg, wo Venus, das zweite Ich der Elisabeth, ihren geliebten Tannhäuser in ihrer Umarmung hält. Wir sahen Tannhäuser von Elisabeth zur Venus, und von dieser wieder zu Elisabeth fliehen, zweimal. Am Ende muß Elisabeth sterben, um sich mit Tannhäuser ewig zu vereinigen. Im Tode wird somit das sinnliche und nicht-sinnliche Element der Erotik wieder vereinigt, im Liebestode der unerträgliche Zustand des Dualismus der Liebe vernichtet. Das Weib als Heilige ist in der Gestalt der heiligen Maria, der Mutter Gottes, im Christentum zu göttlichen Ehren gelangt. Die unbefleckte Empfängnis ist ein Kompromiß zwischen dem sinnlichen und nicht-sinnlichen Element der Erotik. Durch dieses Wunder bleibt Maria heilig und doch dabei Weib. Im »Tannhäuser« tritt darum der erotische Dualismus als Kampf zwischen Christen44

turn und Heidentum auf. Denn Venus ist die altgermanische Göttin Holda", die Göttin der Fruchtbarkeit und des Gedeihens der Fluren. Die Einführung des Christentums hat im Volke den alten heidnischen Glauben nicht gänzlich zerstören können und Holda ward in unterirdischen Höhlen, in das Innere von Bergen verwiesen, wo sie mit ihrem Gefolge die armen Menschen zu unseliger sinnlicher Lust zu verlocken suchte. Wir haben bis jetzt die Dramen gedeutet, ohne auf das persönliche Leben und Erleben des sie gestaltenden Dichters selbst einzugehen. Die Dichtung wird zum Kunstwerk, insofern sie nicht nur für den Dichter, sondern auch für uns, d. h. für den Zuschauer oder überhaupt die das Kunstwerk Genießenden gilt, d. h. insofern die Dichtung in uns bestimmte Gefühle auslöst. Darum kann und muß ein Kunstwerk in seiner Beziehung zum allgemeinen Erlebnis gedeutet werden, d. h. in erster Linie aus der Analyse des Werkes selbst. Aber wenn diese Arbeit durchgeführt ist, kann das nähere Eingehen auf die persönlichen Schicksale des Dichters als eine Art Kontrolle der vollzogenen Deutung dienen. In unserem Falle liegt uns glücklicherweise einiges Material vor. Den Dualismus, von dem wir oben gesprochen haben, finden wir wirklich bei Wagner selbst vor. Er erzählt uns ": »Im Punkte der wirklichen Liebe beobachtete ich... an einer von mir bewunderten Frau die Erscheinung, daß ein dem meinigen gleiches Verlangen sich nur an den trivialsten Begegnungen befriedigt wähnen durfte... Wandte ich mich nun endlich hiervon mit Widerwillen ab... so äußerte sich (meine Natur), menschlich und künstlerisch, notwendig als Sehnsucht nach Befriedigung in einem höhern, edleren Elemente, das in seinem Gegensatze zu der einzig unmittelbar erkennbaren Genußsinnlichkeit der mich weithin umgebenden modernen Gegenwart in Leben und Kunst, mir als ein reines, keusches, jungfräuliches, unnahbar und unangreifbar liebendes erscheinen mußte. Was endlich konnte diese Liebessehnsucht, das Edelste, was ich meiner Natur nach zu empfinden vermochte, wieder anders sein, als Verlangen nach dem Hinschwinden aus der Gegenwart, nach dem Ersterben in einem Elemente unendlicher, irdisch unvorhandener Liebe, wie es nur mit dem Tode erreichbar schien? Was war aber dennoch im Grunde die11 lt

Vorwort zu »Tannhäuser«. Rieh. Wagner, »Mitteilungen an meine Freunde«. Schriften und Didbtungen. Bd. IV, p. 278-79. 45

ses Verlangen anderes, als die Sehnsucht der Liebe, und zwar der wirklichen, aus dem Boden der vollsten Sinnlichkeit entkeimten Liebe, - nur einer Liebe, die sich auf dem ekelhaften Boden der modernen Sinnlichkeit eben nicht befriedigen konnte?« Weiter erzählt Wagner in betreff des »Tannhäuser« folgendes18: »Mit meinem ganzen Wesen bin ich in so verzehrender Weise dabei tätig gewesen, daß ich mich entsinnen muß, wie ich, je mehr ich mich der Beendigung der Arbeit näherte, von der Vorstellung beherrscht wurde, ein schneller Tod würde mich an dieser Beendigung verhindern, so daß ich bei der Aufzeichnung der letzten Note mich völlig froh fühlte, als ob ich einer Lebensgefahr entgangen wäre.* Wir sehen hier, wie der Widerwille gegen eine frivole Sinnlichkeit den Dualismus am Werk hervorbringt und einen Selbstmordaffekt zur Folge hat. Durch das künstlerische Schaffen wurde der Selbstmordaffekt abreagiert, der Künstler entgeht einer »Lebensgefahr«. Besonders klar tritt hier der Zusammenhang zwischen Tod und Sexualität zutage. Denn was ist hier der Tod? Nur derjenige Zustand, wo der dualistische Gegensatz zwischen »Sinnlich« und »NichtSinnlich« ausgeglichen ist. Derselbe Dualismus, der sich in den Gestalten der Elisabeth und der Venus kundgibt, tritt uns auch in einer hübschen schlesischen Volkssage entgegen, in der Sage von der schönen Liska und dem Ritter vom Ziskenschloß: »Unfern der alten Ziskenburg ist ein Weiher. An dessen Ufer ist die schöne Liska oft erschienen und hat sich im Mondenschein gebadet; ihre Kleider aber hat sie am Rande des Weihers auf den Büschen zum Trocknen aufgehängt. Wer die schöne Liska eigentlich gewesen, weiß niemand zu sagen, wahrscheinlich aber eine Priesterjungfrau aus der alten Heidenzeit. Soviel aber ist gewiß, daß sie ein wunderlieblich zauberhaft Frauenbild war, mit langem wallenden Blondhaar und überaus keusch und züchtig. Denn sie duldete nie, daß ein Männerauge ihre unverhüllte Schönheit erschaute, und wer sie im Bade belauschte, fand bald seinen Tod. Nur ein Mann hat jemals ihr Herz gerührt. Das war ein Ritter und Burgherr des Ziskenschlosses zur Zeit der Kreuzzüge. Mit dem hat sie am Rande des Weihers oft Zusammenkünfte gehalten, lange Zeit, aber ihn immer davor gewarnt und ihm verboten, sie im Bade zu sehen, weil dies sein und ihr Unglück sein würde. Den Ritter 18

Ib. p. 284. 46

aber faßte eine lüsterne Sehnsucht, seine Geliebte in allem Reiz ihres Leibes zu schauen, und als er endlich sein heftiges Verlangen nicht mehr zu unterdrücken vermochte, schlich er sich heimlich des Abends in die Büsche des Weihers und belauschte die schöne Liska, wie sie ins Bad stieg. Zu spät gewahrte sie es, machte dem Ritter mit bittern Tranen Vorwürfe und verkündete ihm, daß er binnen wenigen Tagen zur Strafe sterben und sein Geschlecht verlöschen müsse, wovor ihn selbst ihre Liebe nicht bewahren könne. Darauf nahm sie von ihm Abschied und der Burgherr bereute vergeblich seine lüsterne Neugier. Nach drei Tagen war er tot.«..." Die schöne Liska ist ein »heiliges« Weib, denn sie duldet nie, daß ein Männerauge ihre »unverhüllte Schönheit« erschaute. Die unterdrückte Sexualität aber, die zu ihrem Rechte nicht kommen kann, sucht sich in Phantasiebildern zu befriedigen. Daraus entsteht die Vision vom Ritter, der sie beim Baden heimlich belauschte. Die Liska, das heilige Weib, verwandelt sich somit in Venus. Der Widerwille gegen das sündige Verlangen äußert sich dann in der Bestrafung des Ritters, d. h. die Vision wird zerstört. In der schlesischen Volkssage bleiben, zum Unterschiede vom Wagnerschen Drama, die beiden sich widerstreitenden Naturen der Frau in einer und derselben Person vereinigt. Der Zwiespalt ist noch nicht so weit fortgeschritten, daß es nötig schiene, die zweite Natur zur größeren Entstellung in einer zweiten Person zu verkörpern. Die »Spaltung« oder die »Auseinanderlegung« ist somit nur ein Mittel der höchsten Entstellung. Ein Hauptmoment der kulturellen Entwicklung besteht darin, daß das Sexualleben auf ein gewisses Minimum reduziert wird, damit durch Sublimierung frei gewordener Energie höhere Werte entstünden 15. Also realisierte sich die Entwicklung gleichsam als eine ökonomisierung der Sexualität. Die Liebe ist eine notwendige Erscheinung der geschilderten ökonomisierung, indem sie individualisierte, ausschließliche, d. h. nur auf ein bestimmtes Geschlechtsobjekt gerichtete Sexualität bedeutet. In dieser Genesis der Liebe ist aber ein keimender Widerspruch gegeben. Das Prinzip der Ökonomie 14

Rieh. Kühnau, »Sdilesisdie Sagen«. Bd. II (Leipzig, B. G. Teubner, 1911), p. 228-230. 18 ». . . die Flamme, die einst in brillanten Feuerwerksspielen die Welt ergötzte, plötzlich zu weit ernsteren Bränden verwendet werden mußte ...« (H. Heine).

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fordert, daß der Äußerung der Sexualität die Höchstschätzung gegenüber anderen Werten mehr und mehr abgesprochen werde; die Ausschließlichkeit der Liebe dagegen fordert ebenso notwendig, daß dem Sexualobjekt, somit der Äußerung der Sexualität selbst, eine immer höhere Wertschätzung zugesprochen wird. Die Lösung des Widerspruches ist ein Kompromiß: die Heiligmachung, die Idealisierung der Frau. Folge davon ist aber der erotische Dualismus, ein Zwiespalt der Seele, der zu einer der Hauptwurzel des DramatischTragischen wird. Aischylos* »Agamemnon* und Ibsens »Baumeister Solneß«. In Ibsens »Baumeister Solneß« drückt sich ein Konflikt aus, der das Hauptmotiv von Aischylos' »Agamemnon« ausmacht. Wir wollen darum der näheren Analyse von Ibsens Drama eine kurze Betrachtung des »Agamemnon« vorausschicken. Am Anfang der Handlung erfahren wir, daß vor zehn Jahren Agamemnon in den Krieg gegen Troja gezogen war. Der Vorwand war die Entführung der schönen Helena durch Paris, den trojanischen Königssohn. Doch die »keusche Göttin« Artemis »blickte finster diesem Kriege«. Bald hat sich ein »schlimmer Fahrtverzögerer«, ein entgegenwehender Wind eingestellt. Nach der Deutung des weisen Sehers Kalchas, mußte Agamemnon seine Tochter Iphigenia auf dem Altare zur Beschwichtigung der erzürnten Götter opfern. »So fiel die Jungfrau für den Weiberkrieg«. Jetzt kehrt Agamemnon siegreich zurück, er führt mit sich auf hohem Wagen Kassandra, die er seiner Gattin mit den Worten empfiehlt: »Und freundlich führe dort die Fremde mir mit hinein«. Bald darauf werden Agamemnon und Kassandra von Klytaimnestra (Agamemnons Gattin) erschlagen. Es ist merkwürdig, daß Agamemnon aus Troja Kassandra mitbringt, die er nicht wie die anderen Gefangenen gefesselt, sondern auf seinem Wagen frei mit sich führt. Auch sind die Worte der Klytaimnestra nach der vollbrachten Tat beachtenswert: »Tot liegt er da, der mich so tief verletzt... Tot auch die mitgeschleppte Seherin (Kassandra), die wohl die Nächte göttlich ihm verklärt, als treue Buhle auf dem Schiffe stets ihm nahe war!« Der Krieg mit Troja oder der »Weiberkrieg«, wie ihn der Chor nennt, symbolisiert hier den Kampf um sexuelle Güter. In einem bestimmten Moment des ehelichen Lebens steigt im Menschen die Sehnsucht nach neuer 48

Liebe auf, man will wieder jung sein, des Hasses Kraft und besonders die Macht der Liebe spüren. Die Ursache dieser Erscheinung liegt darin, daß die monogamischen Forderungen der Kultur nicht gänzlich die polygamischen Urtriebe in uns zu vernichten imstande sind. Es entsteht dann die Vision des Agamemnon (unseres zweiten Ich), der nach Troja geht und dort sich Kassandra erwirbt. Das Widerstreben der »Zensur« gibt sich darin kund, daß die »keusche Göttin« Artemis dem Kriege »finster blickte«. Die Kinder, die heißgeliebten Kinder sind es, die das Abbrechen alter Liebesbeziehungen so schwer machen. Darum der »schlimme Fahrtverzögerer«, der entgegenwehende Wind. Die Tochter Iphigenia muß auf dem Altare geopfert werden, die Hemmungen werden nur so überwunden. Daß dieses Opfer auf Veranlassung des weisen Sehers geschieht, bedeutet eben die Legalisierung, Rechtfertigung vor der »Zensur«, es wird damit ein religiöser Vorwand vorgetäuscht. Wie das Gefühl gegen Agamemnons Tat sich empörte, folgt schon aus der Tatsache, daß in einer späteren Zeit Euripides Iphigenia vom Scheiterhaufen durch die Göttin Artemis selbst fortgetragen werden und durch eine zu opfernde Hindin ersetzt werden läßt, Iphigenia wird in Tauris als Priesterin eingesetzt. Das erinnert lebhaft an die biblische Legende, wo Abraham seinen Sohn Isaak opfern soll, der aber im letzten Moment auf Befehl Gottes durch ein Lamm ersetzt wird. »Du sollst das Tierische in dir opfern«, diesen Gedanken sucht die Gesellschaft uns zu suggerieren. Da Agamemnon es nicht konnte, so muß er am Ende umkommen. Der tragische Tod Agamemnons ist somit eine Forderung der »Zensur«. Zur selben Zeit bedeutet dieser Tod aber noch etwas anderes, er wird zum Träger der Lust, die er zu sühnen scheint. Wie Tannhäuser wird auch Agamemnon durch den Tod mit der Geliebten vereint - ein Kompromiß zwischen Trieb und »Zensur«. Baumeister Solneß ist ebenfalls in seinem sexuellen Leben unbefriedigt und sehnt sich nach neuem erotischen Erleben. Im siebenten Auftritte des ersten Aktes spricht er mit Dr. Herdal von dem entsetzlichen Grauen, das er fühlt. Denn »eines Tages, da kommt die Jugend hierher und klopft an die Tür ... Ja, dann ist's aus mit Baumeister Solneß«. In diesem Moment klopft es an die Tür und Hilde Wangel tritt ein. Als Herdal dann Abschied nimmt, sagt er beim Fortgehen zu Solneß: »Sie prophezeiten dennoch richtig, Herr Solneß!« ... Die Jugend kam also doch und klopfte bei Ihnen an«. Die »entsetzliche Angst vor der Jugend«, von der Solneß später 49

auch mit Hilde spricht, dürfte wohl verwandelte sexuelle Sehnsucht sein1 . Denn im zweiten Akte, sechster Auftritt, haben wir folgendes Gespräch: Hilde: Sagen Sie mir, Baumeister - wissen Sie bestimmt, daß Sie mich nie gerufen haben? Solneß (leise und langsam): Ich glaube fast, ich muß es getan haben. Hilde: Was wollen Sie von mir? Solneß: Sie sind die Jugend, Hilde. Hilde (lächelnd): Die Jugend, vor der sie solche Angst haben?" Solneß (nickt langsam): Und die ich doch im Grunde so sehnlich herbeiwünsche. Allerdings gibt Solneß für diese Angst einen anderen Grund an. Er fürchtet nämlich, daß die Jugend sich an ihm mit der Forderung herandrängt, ihr Platz zu machen. Wir müssen aber beachten, daß jeder Angstzustand, anfänglich im Bewußtsein scheinbar gegenstandlos auftauchend, von diesem schnell genug irgend wie plausibel begründet wird, denn dadurch wird der Ausbreitung der 16

Auf den Zusammenhang zwisdien Angst und unbefriedigter Sexualität hat zuerst S. Freud aufmerksam gemacht [siehe »Samml. kleiner Schriften zur Neurosenlehre, I. Folge«, sowie auch seine »Traumdeutung« (Kap. über die »Angstträume«)]. Eine schöne Illustration haben wir in folgendem. Am i. August 1807 sdirieb die jugendliche Bettina an Goethe: »Wenn Du diese Nadit audi wach gehalten bist, sollst Du dodi einen Begriff haben von dem ungeheuren Sturm. Eben wollte idi nodi ganz stark sein und midi gar nicht fürchten; da nahm aber der Wind einen so gewaltigen Anlauf und klirrte an den Fensterscheiben und heulte so jammernd, daß ich Mitleid spürte, und riß er so stark die schwere Türe auf, er wollte mir das Licht auslöschen; ich sprang auf den Tisch und schützte es, und ich sah nur durch die offene Thür nach dem dunklen Gang, um dodi gleich bereit zu sein, wenn Geister eintreten sollten; ich zitterte vor herzklopfender Angst, da sah ich was sict bilden draußen im Gang; und es war wirklich als wollten zwei Männer eintreten, die sich bei der Hand hielten; einer weiß und breitschultrig, und der andere schwarz und freundlich; und ich dachte: das ist Goethe! Da sprang ich vom Tische Dir entgegen und lief zur Tür hinaus, auf den dunklen Gang, vor dem ich midi gefürchtet hatte, und ging bis ans Ende Dir entgegen und meine ganze Angst hatte sich in Sehnsucht verwandelt; und ich war traurig, daß die Geister nicht kamen, Du und der Herzog«, (Bettina von Arnim. Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. I). 50

Angst im Bewußtsein entgegengearbeitet. Man könnte hier von einer »Eindämmungstendenz« sprechen17. Außerdem kommt in der Forderung der Jugend auch die »Zensur« zu ihrem Rechte. Als wollte sich Solneß sagen: »Du bist schon zu alt, um nach neuen sexuellen Abenteuern zu haschen. Ueberlasse es der Jugend.« Jetzt verstehen wir, daß der ehemalige Architekt Knut Brovik und Baumeister Solneß eigentlich nur die verschiedenen Tendenzen desselben Ich verkörpern. Denn Knut Brovik verlangt von Solneß er solle vor seinem Sohne (d. i. der Jugend) zurücktreten, worauf Solneß die Antwort gibt: »Halvard Solneß - der soll jetzt anfangen zurückzutreten? Platz machen jenen die da jünger sind. Den allerjüngsten vielleicht! ... Aber ich trete niemals zurück! Weiche niemals vor irgend jemand! . . .« Knut Brovik spielt hier die Rolle des Chores im antiken Drama, Baumeister Solneß ist aber seine Vision. Einst schrieb Ibsen an Björnson: »In seiner Lebensführung sich selbst realisieren, das ist, meine ich, das Höchste, was ein Mensch erreichen kann.« Und weil dieses Höchste meist nicht realisierbar ist, müssen wir hinzufügen, bleibt für die Selbstrealisierung dann als einziger Weg, der Weg der gedankenmäßigen Befriedigung seiner Wünsche, die Vision, offen. Hilde sucht dem Baumeister in Erinnerung zu bringen, wie er vor zehn Jahren in Lysanger den Turm für die Kirche baute und was sich dabei ereignete. Er hat ihr damals versprochen, wenn sie erst groß wäre sollte sie seine Prinzessin sein; sie würden dann fortgehen und er werde ihr ein Königreich kaufen. Er habe sie sogar geküßt. Hilde beschreibt es sehr genau: »Sie faßten mich mit beiden Armen und bogen mir den Kopf zurück und küßten mich. Viel mal nacheinander.« Im ersten Moment will Solneß diese Tatsache nicht anerkennen, er leugnet sie entschieden. Nach einigem Nachdenken aber spricht er: »Ich muß an das alles gedacht haben. Ich muß es gewollt haben. Es gewünsdity dazu Lust gehabt haben.« Mit anderen Worten: alles, was Hilde erzählt, ist eine Realisierung 17

Es ist eine Erscheinung, die der gesamten Pathologie eigentümlich ist. »Der Organismus reagiert zunächst mit Allgemeinerscheinungen, er reagiert solidarisdi auf die Schädigung. In einer zweiten Phase sehen wir den Organismus bestrebt, die Schädigung in irgend einer Weise zu lokalisieren, sei es auf einen bestimmten Ort, sei es auf eine bestimmte Qualität der Wirkung.« Otto Groß. Über psychopathische Minderwertigkeit. (Wien und Leipzig, Wilh. Braumüller, 1909), p. 61j. 51

seiner Wünsche; in dem Nicht-Anerkennen-Wollen haben wir wiederum nur Äußerungen der »Zensur,« das Widerstreben gegen die unerlaubte Regung. Wir streiften schon wiederholt den Widerstreit der noch aktiven polygamischen Tendenzen und der monogamischen Forderung im Leben des Mannes der Kulturepoche. Der Konflikt wird aber gesteigert, und so erst zu wirklicher Tragik vertieft, durch einige Umstände unseres gegenwärtigen Kulturstandes. Jahrtausende war die Frau eine Art Sklavin des Mannes, sie hatte nur gewisse Funktionen im engen Kreise der Familie. Kein Wunder, daß auf einer gewissen Höhe seiner kulturellen Entwicklung der Mann in seiner Frau keine Gefährtin mehr finden kann: sie steht ihm verstandeslos gegenüber und wird somit zur Hemmung in seinen höheren idealen Strebungen. Frau Solneß ist zwar eine gutmütige Frau, die ihren Mann in ihrer Art lieb hat. Für seine Bestrebungen und Pläne hat sie aber keinen Sinn. Baumeister Solneß erzählt es uns indem er zu Hilde sagt: »Es war ein großes Glück, daß Sie jetzt kamen ... Denn ich saß hier so allein ... Jetzt hab ich doch endlich jemand, mit dem ich reden kann.« Als Solneß erzählt, wie er jetzt Heimstätten baut, fragt Hilde: »Könnten Sie nicht auch über den Heimstätten da so'n wenig - so Kirchentürme machen? .. . Ich meine etwas, was emporzielt - frei in die Luft hinauf. Mit dem Wetterhahn in schwindelnder Höhe.« Darauf Solneß: »Merkwürdig genug, daß Sie das sagen. Denn das ist's ja eben, was ich am allerliebsten möchte.« Dem unmittelbaren Sinnlich-Erotischen ist jede Individualisierung und Ausschließlichkeit fremd. So erfahren wir, daß »im Leben der niedrigsten Wilden nicht die entferntste Spur von der Idee der Keuschheit sich findet. Die Befriedigung eines Triebes ist einfach ein Naturvorgang, der an sich weder gut noch bös ist. ... Die Jugend frönt einen schrankenlosen Geschlechtsgenuß«18. Die Liebe in unserem Sinne ist ihnen unbekannt. Es wird uns z. B. berichtet, daß »eines der schönsten Geschenke des Schöpfers dem Indianer nicht zuteil geworden ist; die leidenschaftliche Liebe zum Weibe...« Bei den Indianern ist der Mann dem Weibe und diese ebenso dem Manne bei weitem nicht mit der leidenschaftlichen und zärtlichen Liebe zugetan, als dies bei Europäern und ändern Völkern der Fall 18

Nadi Sutherland, zitiert bei Sdiultze. Psychologie der Naturvölker (Veit & Co., Leipzig, 1900), p. 136.

S*

ist1 . Die sexual-ökonomisierende Tendenz, kann nur dann voll zu ihrer Geltung kommen, wenn Hand in Hand mit ihr die Errichtung eines »psychischen Ueberbaues« in der Erotik sich vollzieht: das Verhältnis zwischen Mann und Weib muß einen idealistischen Anstrich bekommen M. Die bisherige Gesellschaftsordnung suchte diese sexual-ökonomisierende Tendenz, nämlich die Konzentrierung der Erotik auf ein Objekt, hauptsächlich durch äußere Mittel durchzuführen: durch die Suggestion gesetzlicher Satzungen, die in unserem Bewußtsein als »Pflicht« erscheinen; denn die Pflicht ist zwar ein Zwang, mit dem unser Ich sich mehr oder weniger identifiziert, der aber zugleich als etwas Fremdartiges erscheint, dem man eben nur gezwungen Gehorsam leistet. Die volle Verwirklichung der Kulturstrebungen ist nur möglich, wenn die bloß suggerierte »Pflicht« in einen integrierenden Bestandteil des Ich sich verwandelt. Frau Solneß verkörpert diese äußere Macht der gesellschaftlichen Suggestion, die Pflicht. Als Hilde sie fragt, ob sie jetzt froh sei, daß sie ins neue Haus ziehen sollen, antwortet sie: »Ich sollte froh sein. Denn Halvard will es ja so haben ... Das ist ja nur meine Pflicht, mich ihm zu unterwerfen. Aber manchmal fällt es so schwer, den Sinn zum Gehorsam zu zwingen«. Als Hilde ihr dankt, daß sie so lieb zu ihr sei, antwortet sie: »Das ist einfach meine Pflicht. Und darum tue ich es so gern«. Anders Hilde. Sie sagt zum Baumeister: »O ich kann das häßliche garstige Wort nicht ausstehen! ... Es hört sich so kalt und spitzig und stechend an. Pflicht - Pflicht - Pflicht. Finden Sie das nicht auch? Daß es einen gleichsam sticht?« In Hilde, wie wir aus dem Vorhergehenden sehen, realisiert sich das Liebesbedürfnis Solneß', stillt sich seine Sehnsucht nach der neuen Frau, die zugleich Weib und Gefährtin sein kann, und an die ihn darum nicht nur einzig die »häßliche Pflicht« für das Leben binden soll. Das alte Haus brannte ab, d. h. das alte Liebesverhältnis ist abgebrochen. Auch hier, wie im »Agamemnon«, sind es die Kinder, die einem im Wege stehen. Das Hindernis mußte wegge19 20

Nadi Karl Ferd. Appun, zitiert ebenda, p. 158. »Je isolierter das erotisdie Triebleben vom übrigen Bewußtseinsinhalte dasteht, desto mehr nähert sidi der sexuelle und damit audi der gesamte übrige Charakter des Individuums dem Typus des Tierisdien.« Otto Groß. Die cerebrale Sekundärfunktion, p. 61.

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schafft werden: die Kinder sterben. Aber wie Solneß erzählt: »Die zwei kleinen Kinder - von denen ist es nidit so leicht loszukommen, Hilde«. Anderseits wird auch durch das Fortgehen von der alten Liebe das Leben der Frau zertrümmert. Denn auch die Frau Solneß, »die hatte auch ihre Anlagen zum Bauen«. Nämlich »kleine Kinderseelen aufzubauen ... Und das alles, das liegt jetzt da. Ungebraucht - und unbrauchbar für immer«. Hier liegt der Konflikt klar zu Tage. Weil wir noch mit uns selbst nicht einig sind, weil das Alte in uns noch genügend Kraft besitzt, um das Neue nicht aufkommen zu lassen, können wir letzteres nicht in wirklicher Tat, sondern nur in unserer Phantasie realisieren. Dieser Sachverhalt wird, wie es scheint, von Solneß selbst instinktiv-autoanalytisch wahrgenommen. Er sagt zu seiner Frau: »Ich bin in bodenloser Schuld - dir gegenüber, Aline ... Ich habe Dir nie etwas Böses zugefügt. Und trotzdem habe ich die Empfindung, als ob eine erdrückende Schuld fortwährend auf mir lastet«. Er geht soweit, daß er sogar in sich selbst die Ursache des Brandes des alten Hauses suchen will. Hören wir, was er in diesem Punkt zu Hilde spricht: »Glauben Sie nicht auch, Hilde, daß es einzelne, auserwählte Menschen gibt, denen die Gnade verliehen wurde und die Macht und die Fähigkeit, etwas zu wünschen, etwas zu begehren, etwas zu wollen - so beharrlich und so - unerbitterlich - daß sie es zuletzt bekommen müssen«. D. h. der Brand des alten Hauses realisiert wirklich einen Wunsch Solneß', darum aber muß er sich schuldig fühlen. Solneß baute früher Kirchen, hohe Türme setzte auf sie sein hochfliegender Drang. Später ist ihm der Gedanke gekommen, daß Gott ihm seine Kleinen genommen, damit er, der Baumeister, von nichts anderem gebunden, nur Baumeister sein solle. Als er vor zehn Jahren oben auf dem Kirchenturm stand und den Kranz an die Wetterfahne hängte, da sprach er zu Gott: »Jetzt hör' mich an, du Mächtiger! Von heute an will ich freier Baumeister sein. Auf meinem Gebiet, wie du auf dem deinigen. Nie mehr will ich Kirchen für dich bauen. Nur Heimstätten für Menschen«. Allmählich aber ist der Baumeister zur Überzeugung gelangt, daß »Heimstätten für Menschen zu bauen - keine fünf Pfennig wert« sei. »Denn die Menschen haben die Heimstätten da gar nicht nötig. Jedenfalls nicht, um glücklich zu sein«. Das ihn drückende Schuldbewußtsein wälzt Solneß auf Gott. Gott nämlich habe es gewollt, er solle nur Baumeister sein und von seiner Familie sich lossagen. 54

Diese Abwälzung gelingt ihm aber nicht. Denn er sagt zu Hilde: »Ich will Ihnen sagen, wie das Glück empfunden wird! Es wird empfunden, wie eine große hautlose Stelle hier auf der Brust ... Ach, wenn Sie wüßten, wie das zuweilen saugt und brennt«. Darum die Unzufriedenheit mit seinem Beruf als Baumeister: »Heimstätten zu bauen - ist keine fünf Pfennige wert«. Im Grunde genommen ist der Trieb zum »Bauen« wohl ein Symbol eines viel elementareren Triebes. Denn im dritten Auftritte des dritten Aktes als Solneß sagt: »Wird aber nie mehr bauen - der arme Baumeister, antwortet Hilde: »Doch! Zu zweien werden wir sein. Und dann bauen wir das Herrlichste — das Allerherrlichste, was es auf Erden gibt«. - Solneß (gespannt): »Hilde - sagen Sie mir, was das ist!« - Hilde (sieht ihn lächelnd an, schüttelt den Kopf ein wenig, spitzt die Lippen und spricht wie zu einem Kinde): »Die Baumeister - die sind sehr - sehr dumme Leute«. In Solneß lebt ein Unhold, wie er sich ausdrückt, richtiger gesagt, Solneß ist der Unhold, der in uns lebt. Aber ein Unhold mit einem »recht schwächlichen Gewissen«, mit einem »kränklichen Gewissen«. Solneß steigt auf den Turm, um dann herabzusteigen, wie er Hilde verspricht, und »seine Prinzessin« mit den Augen zu umschlingen und sie zu küssen, viele, viele Male. Aber die »Zensur« stellt ihre Forderungen, das »schwächliche« Gewissen macht den soviel Unternehmenden schwindelnd, Solneß stürzt und bleibt auf der Stelle tot, d. h. der »Unhold« ist getötet, besiegt. Solneß' Tod hat auch einen anderen Sinn. Die Entsagung in der Liebe fällt einem sehr schwer. »Und was soll aus mir werden«, sagt Solneß zu Hilde, »wenn Sie fort sind? ... Ich - ich, der ein freudenloses Leben nicht tragen kann!« Der Tod Solneß5 ist das Fortgehen aus einem »freudenlosen Leben«. Denn, wie die Psychoanalytiker sagen: »Das Leben gibt bloß jener auf, der Liebe zu erhoffen aufgeben mußte«81. Tatsächlich wissen wir in diesem Punkte, daß der »Baumeister Solneß« zu einer Entsagung im Leben des Dichters selbst in Beziehung steht. »Im Herbste 1889 hatte Ibsen in Gossensaß die Bekanntschaft einer jungen Dame gemacht, die seine Gedankenwelt in eine starke Erregung versetzt hatte. Die Jugend war durch sie noch einmal seinem alternden Leben nahe getreten, die Sonne des Frühlings seinem Herbste auf21

Dr. med. J. Sadger in d. »Diskuss. d. Wiener psydioan. Vereins«. H. I, p. 27. 55

gegangen. Von ihrem Zauberhauch muß sich damals sein Busen jugendlich erschüttert gefühlt haben. Selbst noch im späten Nachgefühle dieses Glückes erschien ihm der Sommer in Gossensaß als der glücklichste, schönste in seinem Leben (Brief von 13. März 1898) ...«". Am 20. September schrieb Ibsen jener jungen Dame ins Stammbuch23: »Hohes, schmerzliches Glück - um das Unerreichbare zu ringen«. Am 19. September kommt Hilde, um vom Baumeister Solneß ihr Königreich zu fordern. Da das Glück aber unerreichbar war, so mußte Solneß zum Tode stürzen. In diesem Bilde wird gleichsam der Selbstmordtrieb abreagiert. Was für eine Rolle spielt Kaja im Drama? welcher Art sind die Beziehungen zwischen Solneß und Kaja? Daß Kaja Liebe zum Baumeister fühlt, wissen wir genau. Denn auf Solneß' Frage über ihre Gefühle zu Ragnar, antwortet Kaja: »Ich war Ragnar sehr, sehr gut - einmal - Ehe ich hierher kam zu Ihnen ... Ach, Sie wissen es ja, jetzt bin ich bloß einem einzigen gut! Keinem anderen in der ganzen Welt! Kann nie einem anderen gut werden«. Im Gespräch mit Dr. Herdal gibt Solneß den Deckgrund an, warum er unbedingt Kaja bei sich behalten muß. Denn hätte er das Mädchen hier im Bureau, dann bliebe auch Ragnar, der ein sehr tüchtiger Gehilfe war, bei ihm. Merkwürdig ist aber die Tatsache, daß sobald Hilde erscheint, Solneß Ragnar und Kaja entbehren kann, er kündigt beiden. Kaja ist eigentlich dieselbe Vision, wie Hilde. Wir haben hier eine Erscheinung, die auch im Traume vorkommt: zwei Träume derselben Nacht sind Variationen desselben Themas. Die Liebessehnsucht weckt in unserem Drama einmal das Bild Kajas, dann das der Hilde. In der ersten Vision sucht das Bewußtsein noch den wirklichen Grund möglichst durch Vortäuschung fremder Motive zu vertuschen. In der zweiten Vision ist schon diese Vertuschung fast aufgegeben. Merkwürdig ist noch die folgende Szene am Anfang des Dramas: Solneß legt Kaja beide Hände an den Kopf und flüstert: »ich kanns ohne Sie nicht aushallen, begreifen Sie ... (drückt ihr einen Kuß aufs Haar). Kaja - Kaja!« Diese Szene erinnert lebhaft an diejenige, welche später Hilde aus ihrer ersten Begegnung mit dem Baumeister schildert. Wie Solneß und Knut Brovik nur die verschiedenen Tendenzen des männlichen Ich darstellen, so verkörpern Frau Solneß und Hilde 22

M

J. Collin, Henrik Ibsen. Heidelberg (Carl Winter) 1910. ib. 56

Wangel die verschiedenen Tendenzen des weiblichen Ich. Wir vernehmen aus dem Munde der pflichtgetreuen Frau: »Aber manchmal fällt es so schwer, den Sinn zu Gehorsam zu zwingen.« Als Hilde im Gespräch den Brand des alten Hauses berührt, bemerkt Frau Solneß: »Oftmals muß ich ja selber sagen, daß es eine gerechte Strafe war.« Über den Tod ihrer Kinder äußert sie: »Das war ja eine höhere Fügung. Und wenn so etwas kommt, da muß man sich unterwerfen. Und Gott danken obendrein.« Auch hier ist eine Unzufriedenheit und ein Schuldgefühl zu verspüren. Auch sehen wir den Versuch, die Verantwortung Gott zuzuschieben. Also auch in der Seele der Frau spielt sich ein Konflikt ab. Die engen Grenzen des Familienlebens mit seinen kleinlichen Pflichten, die die Frau ganz in Anspruch nehmen und sie für alles andere fast abgestumpft machen, müssen eine Unzufriedenheit hervorrufen. Daraus entsteht die Vision Hilde, in deren Seele ein Unhold haust, die die Pflicht »häßlich« findet und ihrem Auserwählten eine freie Gefährtin im Leben sein will. Hilde fordert: »Mein Schloß soll oben hoch liegen. Und frei nach allen Seiten hin. So daß ich weit hinausblikken kann - weit hinaus.« Ferner: »Ach, wie kommt mir doch alles so albern vor! Wirklich so albern -! ... Daß einer nach seinem Glück nicht greifen darf. Nach seinem eigenen Leben nicht! Bloß weil jemand dazwischen steht... Ich möchte wissen, ob man das im Grunde nicht dürfte. Aber trotzdem - Ach, wenn man doch die ganze Geschichte verschlafen könnte!« Hilde will ein Raubvogel sein, der nie in den Käfig hinein müssen soll. Und doch auch sie hat ein krankes, schwächliches Gewissen. Denn Hilde, die zum Baumeister gekommen, um ihr Königreich zu fordern, will jetzt plötzlich fort. Sie sagt: »Ich kann nicht Böses vorhaben gegen eine, die ich kenne! Ich kann ihr nicht nehmen, was ihr gehört!« Die zum neuen Leben erwachende Frau ist noch nicht mit sich einig. Der Baumeister, der ihr das Königreich versprochen hat, muß auch darum vernichtet werden. And) hier ist Tragik die Folge der Uneinigkeit mit sich selbst. Im Herabstürzen des Baumeisters liegt noch ein dritter, tieferer symbolischer Grund verborgen. Als Hilde am Anfange des Dramas schildert, wie vor zehn Jahren der Baumeister oben am Turme stand, da sagt sie! »Es war so wundervoll spannend, da unten zu stehen und zu Ihnen hinaufzublicken. Denkt nur, wenn er jetzt abstürzte! Er - der Baumeister selber!« Am Ende des Dramas, als der Baumeister abstürzt, schwenkt Hilde den Shawl aufwärts und 57

schreit mit wilder Innigkeit: »Mein - mein Baumeister!« Ihr Wunsch ist erfüllt, der Baumeister ist zu ihr abgestürzt. Schlußbetrachtungen Wir fanden die Tragik als Folge der Einmischung der »Zensur«: die herrschenden Werte in uns sind noch stark genug, die Realisierung der sie in Frage stellenden Tendenzen zu unterbinden, wir müssen uns mit deren gedankenmäßigen Erfüllung begnügen. Die Tatsachen, die uns die Psychoanalyse liefert, zwingen uns, die menschliche Psyche dialektisch zu begreifen, als einen kontinuierlichen Fluß einander bekämpfender psychischer Tendenzen. Das Drama ist eine kompromißhafte doppelseitige Anpassung, wodurch eine Art von Abstumpfung der Gegensätze, eine Verminderung der feindlichen Spannung erreicht wird. Darin ist der therapeutische Wert der tragischen Kunst begründet. »Die kulturfeindlichen Triebe werden sublimiert und so in den Dienst der Kultur gestellt. Sie sind tatsächlich ein Teil jener Kraft, die das Böse will und das Gute schafft24.« In der tragischen Kunst sind aber auch Gefahren verborgen. »Von Illusion zu Illusion gelockt, erreicht man schließlich ein Ziel: in der Kunst! - aber im Leben?« ". Auch abgestumpfte Gegensätze bleiben doch Gegensätze, die früher oder später zu einer (nicht bloß gedachten, sondern wirklichen) Katastrophe führen können, das tragische Kunstwerk schafft die wirklichen Konflikte natürlich nicht aus der Welt. »Fest eingewurzelte Suggestionen, die einen Konflikt mit natürlichen Trieben bedingen, behalten ihre pathogene Wirksamkeit, solange sie nicht durch bewußte Überwindung wirklich beseitigt und die Konflikte wirklich gelöst werden« 2e. Der Kunstgenuß an und für sich kann nicht zu dieser »bewußten Überwindung« gerechnet werden. Letzteres wird erst durch die psychoanalytische Betrachtung des Kunstwerkes erreicht. Auch Th. Lipps geht von der Tatsache aus, daß das vorhandene und von uns mitempfundene Leiden in der Tragödie, wie bei jeder

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Stekel, a. a. O. p. 71. Gerh. Hauptmann, »Aus meinem Diarium«. »Frankf. Zeitung«, 1911, Nr. 106, Erstes Morgenblatt. 26 Otto Groß, a. a. O., p. 51 (Fußnote). 88

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Tragik, der Grund unseres Genusses daran sei27. Das Leiden ist aber nicht Zweck, sondern bloß Mittel. Denn erst dann empfinden wir den Wert eines uns lieben Gegenstandes deutlicher, wenn er beschädigt, zerstört, vernichtet sei. »So wird unser Verlust Gewinn, nicht tatsächlich, aber für unser Empfinden. Es mischt sich in unserem Gefühl des Bedauerns oder der Wehmut mit dem Schmerz um die Zerstörung ein erhöhtes Bewußtsein des Wertes, ein erhöhter und, eben durch den Schmerz vertiefter Genuß« 28. Durch das Leiden offenbare sich die volle Größe des Helden. Denn »was wollte uns das Leiden all der liebenswerten Gestalten ... bedeuten, wenn nicht das Bild ihrer Persönlichkeit, das uns durch das Leiden geoffenbart und zugleich menschlich näher gerückt und heller erleuchtet wird ... Und was wären sie trotz ihrer Liebenswürdigkeit, wenn uns nicht das Leiden vergegenwärtigte, was für Persönlichkeiten es sind, in deren Dasein das Geschick so grausam eingreift, welches ganz anderen Geschickes wert« 2e. Eine sonderbare Theorie, welche fordert, daß wir eine uns liebe Person dem Leiden aussetzen, um sie für unser Empfinden noch lieber zu machen! Und doch ist hier ein Kern von Wahrheit enthalten: Zwischen den Leiden des Helden und seiner Persönlichkeit ist ein fester Zusammenhang gegeben. Freilich, nicht weil der Held leidet, wird er uns lieb, sondern umgekehrt: weil der Held uns, richtiger gesagt unserem zweiten Ich, lieb ist, muß er leiden. In Widerspruch mit sich selbst nähert sich auch Lipps dieser Erkenntnis, wenn er sagt: »Kein Leiden, wie es auch heißen mag, kann durch sein bloßes Dasein erfreuen ... Das Leiden erhebt und erzeugt Genugtuung, sofern in ihm die innere Macht des Guten über das Böse in der Persönlichkeit sich kundgibt« so. Oder: »Das Recht wird gesühnt, d. h. das Rechtsbewußtsein im Helden, das durch die Leidenschaft niedergehalten war, kommt zur Geltung und eben damit findet unser Rechtsbewußtsein, das er verneint hatte, seine Anerkennung« 31. Es sollte heißen: Nicht das Leiden erfreut uns, sondern die Leidenschaft; das Leiden kommt nur als Beschwichtigungs-, ja 27

Th. Lipps, Der Streit über die Tragödie. (Hamburg und Leipzig. Leopold Voß, 1891.) pag. 41. 88 ib. p. 42. M ib. p. 46. 30 ib. p. 54. 31 ib. p. 61.

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sogar Bestechungsmittel der »Zensur« zur Wirkung. Oder wie sich Hebbel ausdrückt: »Phantasie ist nur in Gesellschaft des Verstandes erträglich.« Der tragische Held verletzt die durch den Willen der Allgemeinheit der Individualpsyche suggerierte Norm. Denn er verkörpert das »Unbewußte«; aber »das Unbewußte ist vorzüglich das Böse« *2. Der tragische Held kann somit als der Verbrecher betrachtet werden; seine Leiden bedeuten dann die Wiederherstellung der verletzten Norm, wie auch die unbewußt vollzogene Bestrafung oder Vergeltung - die eindringlichste Wiederholung des »sozial-ethischen Unwerturteils« über die »böse« Tat. Auch umgekehrt, ist der wirkliche Verbrecher der Repräsentant des »Bösen«, das tief in unserem Unbewußten schlummert. Wie der tragische Held, muß er Leiden auf sich nehmen, er muß bestraft werden: das fordert unser »Rechtsbewußtsein«. »Man projiziert das Böse nach außen und sucht dann irgendwo draußen ihm den Kopf abzuschlagen«M. Wir haben hier die dramatisch-tragische Handlung von der Bühne in das wirkliche Leben versetzt. Von diesem Standpunkte aus ist es leicht, in die Psychologie der »Vergeltungstheorien« im Strafrecht sich zu vertiefen. Die Idee der Vergeltung, von der die große Masse unserer Zeit, sowie noch viele namhafte Rechtslehrer durchdrungen sind, behauptet, daß der Strafakt nicht die Verbesserung oder Unschädlichmachung des Verbrechers in erster Linie ins Auge zu fassen hat84, sondern hauptsächlich die Wiederherstellung des allgemeinen Willens — der Rechtsnorm. Die Genugtuung des erfüllten »Rechtsbewußtseins« ist somit der »Lust am Trauerspiel« identisch. Sie ist hervorgerufen durch den dramatischen Zwiespalt unserer Seele. Den äußeren Ausdruck findet dieser Umstand in der dialogischen Gestaltung der modernen Rechtssprechung: der Staatsanwalt verkörpert die »Zensur«, der Verteidiger vertritt die Interessen der »bösen« Triebe. Zuletzt ist noch die Frage zu erörtern, wie die wunscherfüllende Vision in ihrer mimisch-plastischen Leibhaftigkeit zustande kommt, 32

Fritz Wittels, Tragische Motive. (Berlin, Fleisdiel & Co. 1911), p. 33· Wittels, a. a. O., p. 38. 34 »Die Verbesserungstheorie will Strafe, weil gebessert werden müsse; sie begründet aber nicht, weshalb die Besserung gerade durch Strafe herbeizuführen s e i . . . Läge der Rechtsgrund der Strafe in dem Besserungszwedce, so müßte man den unverbesserlidien Bösewidit ungestraft las-

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d. h. wie es dazu kommt, daß unsere Wünsche Fleisch und Blut bekommen? Die wunscherfüllende Tätigkeit der Phantasie wirkt nach Gesetzen, die dem gesamten psychischen Leben eigentümlich sind. Ein Grundgesetz des seelischen Lebens ist nämlich, daß jeder Teil eines Gesamterlebnisses die übrigen Teile zu reproduzieren bestrebt ist. (Gesetz der Assoziation.) Die verschiedenen »Teile« sind eigentlich nur Phasen eines einheitlichen seelischen Prozesses. Wir können das Vorherige darum auch folgendermaßen aussprechen: ein beginnender psychischer Prozeß ist immer bestrebt, sich vollständig abzuwickeln. Diese Tendenz wird immer verwirklicht, so lange keine Gegentendenzen vorhanden sind, die die erste im Gleichgewicht halten. Die Vorstellung eines Dinges A hat an und für sich die Tendenz in die Wahrnehmung des Dinges A überzugehen. Dem aber steht gewöhnlich im Wege die Gegentendenz: Die »Wirklichkeit« des Dinges A nur unter bestimmten Umständen anzuerkennen. Wenn aber die Gegentendenz, der »Wirklichkeitssinn« - ein eigentümlicher Bestandteil der »Zensur« -, dank irgend welchen Umständen abgeschwächt sei, so kann die erste Tendenz voll in Kraft treten und zur Vision bringen. Die Vision wird somit möglich, wenn eine psychische Tendenz von den Gegentendenzen sich möglichst loslöst, »dissoziiert«. (Th. Lipps.) Wir wollen hier einen konkreten Fall betrachten. Ein Herr N. N. hat eines Tages die Nachricht bekommen, daß sein Freund X. durch Selbstmord seinem Leben ein Ende gemacht hat. Diese Nachricht hat ihm eine ihm sehr nahe stehende Person, die er schon längere Zeit nicht gesehen hatte, überbracht. Die Freude des Wiedersehens hat N. N. am Tage gehindert, über die traurige Nachricht nachzudenken. Als er sich Nachts zum Schlafen hinlegte, sah er an der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers seinen Freund X. stehen. Das Zimmer war nur durch den Mondschein schwach beleuchtet. Die Vision dauerte einige Sekunden, trat aber in voller Deutlichkeit und plastischer Leibhaftigkeit vor ihn. Sie war die einzige Möglichkeit seinen verstorbenen Freund wiederzusehen, mit dem er von der Kindheit an eng verbunden war. Am Tage konnte sich die unbesen.« »Wenn der Gedanke der Prevention sdion die Reditfertigung der Strafe enthielte, so wäre es folgeriduig, die Bestrafung dem Verbredien vorausgehen zu lassen.« Albredit Friedr. Berner, Lehrbudi d. deutschen Strafredits. Fünfte Aufl. Leipzig. 1871. p. 9/10.

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wußte Sehnsucht nach dem Freunde nicht genügend von allen Gegentendenzen, insbesondere derjenigen des »Wirklichkeitssinnes« dissozieren. Erst spät abend nach einem Tage verschiedener ermüdender Erlebnisse, ist die Kritik des »Wirklichkeitssinnes« erlahmt und somit wurde die Möglichkeit für die Entstehung der Vision geschaffen. »Wenn ein lieber Freund gestorben ist, was kann das Bewußtsein mehr tun, als ihn beweinen? Aber das Unbewußte macht ihn lebendig, indem es einfach nicht zur Kenntnis nimmt, daß er gestorben ist« 85. Die Dissozierung einer bestimmten Tendenz kann aber erleichtert werden, wenn irgend ein Anknüpfungspunkt in der Wirklichkeit selbst vorhanden ist. Wir müssen nämlich beachten, daß jede Wahrnehmung bestrebt ist die ihr ähnlichen wachzurufen. Wenn ich z. B. jemand treffe, der einem meiner Bekannten ähnlich sieht, so bin ich im ersten Augenblick unwillkürlich geneigt, ihn als meinen Bekannten wahrzunehmen. Dadurch erklären sich alle diejenigen Visionen, die man gewöhnlich Illusionen nennt, zum Unterschiede von den Halluzinationen - den reinen Visionen. Der Unterschied muß bloß graduell gedacht werden: je stärker die bestimmte Tendenz ist, desto weniger braucht sie äußerliche Anhaltspunkte, um sich vollkommen (in der Vision) zu realisieren. Wie wir sahen, daß Bloß-Gedachte wird zur Wahrnehmung dadurch, daß es sich von der Wirkung der Gegentendenzen möglichst loslöst. In der kindlichen Psyche, wo mangels genügender Erfahrung der »Wirklichkeitssinn« noch schwach entwickelt ist, ist auch die Visionsfähigkeit viel stärker. »Ein vierjähriges Kind will zeichnen. Unsicher zieht es auf dem Papier einen wackeligen Strich... Mit kühnem Mut erklärt das Kind den Strich für einen Reiter, für irgend ein kompliziertes Gebilde, für welches es will. Das ist unbegrenzte Schöpferkraft, das ist die Stimme Gottes: es werde Licht! Und es ward Licht.«3* Das Gesagte gilt auch von den Menschen niederer Kulturstufen. Die Menschen sahen zu jener Zeit die Götter und Helden von ihren Höhen herabsteigen, weil sie an ihrer wahren Existenz gar nicht zweifelten. Aber auch der erwachsene moderne Mensch ist häufig genug in Lagen versetzt, wo er mehr oder weniger visionsfähig wird. Wenn wir im Zuseherraum des Theaters sitzen, so wird schon 86 88

Fr. Wittels a. a. O. p.8. ib. p. j.

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bloß durch die Zusammenhäufung freudig gestimmter und keine ernstliche Beschäftigung ausübender Menschen, in uns eine feierliche Stimmung hervorgerufen und dauernd wach erhalten, die die Alltäglichkeit mit ihren Erfahrungen von uns fern hält. Der Boden für eine Dissoziation ist dann geschaffen. Die Darsteller auf der Bühne tun das Weitere: sie geben uns die Anhaltspunkte, an die anknüpfend unsere schöpferische Phantasie ihre Arbeit leistet. Denn das auf der Bühne Dargestellte bekommt nur dann seine volle Bedeutung, wenn wir seine »Wirklichkeit« anzuerkennen bereit sind. Somit sind die wirklichen Künstler und Dichter zuletzt wir selbst; die sogenannten Darsteller auf der Bühne sind nur Hilfsmittel, »gelegentliche Ursachen« unserer Vision. Es erscheint auf der Bühne Tannhäuser; sofort ergreift unser zweites Ich diese Gelegenheit, um seine längst gehegten Wünsche zu erfüllen, und sich mit Tannhäuser identifizierend, umarmt es die schöne Venus. Im Traume, wo die Dissoziation bis aufs äußerste fortgeschritten und der »Wirklichkeitssinn« ganz erlahmt ist, brauchen wir der Mithilfe der Darsteller nicht, um unsere Vision zustande zu bringen. Das Drama kann somit charakterisiert werden als Traum, dessen Zustandekommen durch äußere Hilfsmittel (der Darsteller auf der Bühne) erleichtert wird. Wir haben früher Traum und Drama dadurch von einander unterschieden, daß ersterer nur von der träumenden Person selbst erlebt werden kann. Die äußeren Hilfsmittel des Dramas bedingen für dasselbe die Möglichkeit von einer Vielfalt von Menschen »geträumt« zu werden. Mit dieser »Vielheit« tritt aber ein neues, ein soziales Moment hinzu: die wunscherfüllende Instanz ist genötigt mit solchem Material zu arbeiten, welches in jedem einzelnen Bewußtsein, das in diese »Vielheit« eingeht, Anklang finden könnte. Die Kunst ist wie die Religion sozial, sie kann nur für den »Herdenmenschen« existieren. »Die Ausbildung kantiger Individualitäten ... macht zum Theatergenusse untauglich. Im Theater soll man nur Herdenmensch sein.«37 Das Drama ist folglich ein sozialer Traum, ein Traum des »Herdenmenschen«. Der »kantige« Mensch, der ausgesprochene Individualist, kann zwar gelegentlich Tragödiendichter werden, er wird aber schwerlich sein Publikum finden.

Fr. Wittels a. a. O. p. 104. 63

ISIDOR SADGER

Von der Pathographie zur Psydiographie [1912] Seitdem Morel und Magnan die Symptome der beschrieben und Lombroso auf den Zusammenhang zwischen Genie und Wahnsinn, richtiger zwischen Genie und Belastung hingewiesen hatte, unternahmen verschiedene Neurologen und Psychiater, ihr spezialistisches Fachwissen an Dichtern, Musikern und bildenden Künstlern, sowie deren Schöpfungen zu erproben. Was jeweils als Blüte irrenärztlichen Wissens fachmännische Gehirne bewegte, wurde flugs auf den Genius appretiert und dem großen Publikum als totsichere Wahrheit vorgesetzt. Dies konnte um so leichter geschehen, als die meisten Laien, zu welchen ja Kunstgenießende sowie Kunstrichter fast ausnahmslos gehören, im Gefühl ihrer psychiatrischen Unzulänglichkeit und vom neuen Lichte der Wissenschaft geblendet, kaum ernstlich zu widersprechen wagten. Ein wirkliches Entzücken und innere Freude empfanden sie freilich ob jenes Beginnens in den seltensten Fällen. Meist fühlten sie nur, man entweihe ihre angebeteten Götter, ohne die Erkenntnis irgendwie dadurch zu fördern, daß man dem Abnormen eine wissenschaftliche Etikette anklebe. Mochte auch Moebius, wohl der Hellsichtigste und Gedankenreichste der Pathographen, entgegenhalten, die Erfahrung lehre, daß beim Genie »neben großen Eigenschaften unverkennbare Defekte und bei manchen auch Syndrome vorhanden seien, die auf den abnormen Grundzustand hinweisen«, daß ferner »in der Regel bei ungewöhnlichen Leistungen nicht alle Fähigkeiten gesteigert sind, sondern nur einige, während neben ihnen andere nur normale oder gar unternormale vorhanden sind« S mochten kleinere Geister von der Höhe ihres fachmännischen Wissens herab untrügliche Seelenkunde verschleißen, dem Laien ward dabei nie recht wohl. Er empfand nur, man verkleinere seine Genien, ohne doch zu ihrem inneren Verständnis ein Nennenswertes beizutragen. Noch mißlicher wurde die Lage dadurch, daß in den allerletzten Jahren die in praxi häufigsten Krankheitsformen der Irrenkunde 1

»Über Entartung«, Grenzfragen des Nerven- und Seelenleben. Heft 3. 1900.

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durch Emil Kraepelin umgeordnet wurden. Seine Präzisierung und vor allem Ausdehnung der Begriffe Dementia praecox und manisch depressives Irresein, ein Beginnen, das heute noch nicht vollendet und von einer Auflage seines klassischen Lehrbuches zur anderen wechselt, setzte nicht nur die Zünftigen, die alle paar Jahre umlernen mußten, in schwere Pein, sondern richtete auch unter den Pathographien Verheerungen an. Wer eine auch nur etwas ältere liest, sogar von namhaften Irrenärzten, z. B. »Die Darstellung krankhafter Geisteszustände in Shakespeares Dramen« von Dr. Hans Lähr aus dem Jahre 1898, der wird erstaunen, wie veraltet heute seine Anschauungen sind und vollends die Diagnosenstellung. Ja, man braucht nicht einmal vierzehn Jahre zurückgehen, um die Früchte von Kraepelins umstürzender Tätigkeit zu schauen. Es konnte passieren, daß eine Diagnose von 1905 schon 1910 vollständig überholt war, oder, was noch erquicklicher, daß namhafte Psychiater auf Grund des nämlichen Quellenmaterials zu entgegengesetzten Diagnosen kamen *. Das war nun ein Punkt von großer Bedeutsamkeit. Fußte doch der Anspruch der Irrenärzte, ihr Votum als entscheidend respektiert zu sehen, einzig auf dem fachmännischen Besserwissen. Ward dieses aber selber in Frage gestellt, vom Sockel der absoluten Unfehlbarkeit gestürzt, wie jene Vorfälle zur Evidenz erwiesen, mit welchem Rechte wollte der Psychiater den Laien noch belehren? Hatte doch einer der Bestschreibenden unter jenen, Willy Hellpach, sich den Ausspruch geleistet: »Ich bin wirklich ein Bewunderer des Kraepelinsdien Lehrbuches, aber daß auch die Dramatiker sich je* Vgl. z. B. den ergötzlidien Streit zwischen Moebius und Gruhle, ob Sdieffel an Dementia praecox oder Cyclothymie gelitten habe, in Moebius »Kritischen Bemerkungen über Pathographie«. (Anhang zu dessen Brosdiüre: »Über Scheffels Krankheit«, Marhold 1907.) Für den Fachmann will ich hier noch einschieben, daß scharf zu unterscheiden ist zwischen den Pathographien älteren Stils und den modernen. Die ersteren legten vornehmlich die Entartung, richtiger Belastung des Dichters fest (diese Schriften betrafen meist nur Poeten, erst in späterer Folge wurden auch andere Genien behandelt) und beleuchteten höchstens gegebenenfalls seine Geisteskrankheit sowie die abnormen Charaktere in seinen Werken. Seit Kraepelins Umwälzung wird die Belastung nur nebenbei gestreift, das Hauptgewicht aber auf spitzfindige psychiatrische Differenzialdiagnostik im Leben wie in den Werken gelegt. Diese Wandlung zum Böseren hat leider auch Moebius mitgemacht. 65

weils nach der letzten Auflage richten müßten, das schiene mir doch zu viel verlangt« *. Noch mißlicher wirkte die mangelnde psychologische Schulung unserer Irrenärzte. Was die Genießenden besonders unliebsam empfanden, war, daß alle psychiatrische Forschung ausschließlich nur Diagnosen gab - wie sich jetzt erwies: von zweifelhaftem Werte doch zum Verstehen weder des Genies noch seiner Schöpfungen Erkleckliches beitrug. Daß z. B. ein Poet an progressiver Paralyse verstarb, war ja an sich immerhin wissenswert, doch verstand man darum seine dichterische Eigenart nicht um ein einziges Quentchen besser. Waren doch just die Irrenärzte, die mit solch grandioser Würde auftraten, durchaus keine großen Seelenkenner. In einem Aufsatze des Gauppsdien »Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie« schrieb ich im Jänner 1907: »Wenn ein sonst ganz intelligenter Mann von der menschlichen Psyche gar nichts versteht, aber buchstäblich gar nichts, dann ist er sicher Psychologe von Beruf oder - Psychiater!« Dieser Ausspruch blieb bis zum heutigen Tage unwidersprochen und besteht auch zur Stunde, rühmliche Ausnahmen wie etwa die Bleuler-Jungsdie Schule abgerechnet, noch völlig zu Recht. War dem Psychiater die Diagnose alles, nach deren Feststellung er sich ruhig aufs andere Ohr legen konnte, so schätzte der Genießende jene für nichts. Was er mit heißer Seele suchte und keiner der Irrenärzte ihm gab, war ein besseres Begreifen der seelischen Zusammenhänge, nicht bessere Namen. Die Diagnose galt ihm nichts, das Verständnis alles! Und dieser Forderung gegenüber versagte die zünftige Psychiatrie in jeder Beziehung. Wenn Moebius kurz vor seinem Tode in den »Kritischen Bemerkungen über Pathographie« das Geständnis ablegte: »Eines aber ergibt sich immer wieder: Unsere Unterlagen reichen nicht aus, wir wissen noch allzu wenig. Daher sage ich: ceterum censeo, pathographiam esse augendam«, so unterschrieb der Laie zwar gern das Geständnis von den unzureichenden Unterlagen, doch kaum die weitere Forderung des Autors. In diesen Kampf zwischen irrenärztlicher Autorität und dem instinktiven Empfinden des Laien, der sich den Glauben an seine Dichter nicht rauben lassen mochte, trugen die genialen Entdeckungen Freuds ein neues verheißungsvolles Licht hinein. Die wesenlich8

»Das Pathologisdie in der modernen Kunst.« Heidelberg 1911. Carl Winter.

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ste Leistung des genannten Forschers für Nichtmediziner war die Eroberung des Unbewußten und ferner der Nachweis, welch überragende, vorbildliche Stellung der Entwicklung des Sexuellen im Leben jedwedes Menschen zukäme. Nun ist ja der Dichter nach Richard Wagners schönem Wort »ein Wissender des Unbewußten«. Das hatten die Laien längst schon gefühlt, ohne dies doch klärlich erweisen zu können. Jetzt aber ward von wissenschaftlicher Seite Bestätigung erbracht. Wenn auch noch zur Stunde neun Zehntel aller Irrenärzte den Poeten vorwerfen, daß sie »zu viel Sinn im Wahnsinn witterten«, zu viel versteckte, heimliche Bedeutung in die Äußerungen des Irrsinns mischten; wenn Wilhelm Weygandt den Satz aufstellte4: »Der Geisteskranke weist ja keine normale psychologische Motivierung auf«. Von einer solchen »könne bei Irrsinnsfällen überhaupt nicht mehr die Rede sein«, Behauptungen, die Gattpp erst kürzlich in ähnlicher Art wiederholte5, so hat doch Jung, ein Schüler Freuds, für die verbreitetste aller Psychosen, die Dementia praecox, Sinn und Verstand und Wunscherfüllung in den Symptomen nachweisen können und andere Jünger sind eifrig am Werke, dies auf sämtliche Geisteskrankheiten auszudehnen. So begreift sich das Bekenntnis C. G. Jungs': »Wir Psychiater konnten bisher ein Lächeln nicht unterdrücken, wenn wir lesen, wie ein Dichter sich bemüht, eine Psychose zu schildern. Allgemein werden solche Versuche als höchst untauglich angesehen, denn der Dichter lege in seine Auffassung der Psychose psychologische Verknüpfungen hinein, die dem klinischen Krankheitsbilde gänzlich abgehen. Wenn der Dichter nicht geradezu darauf ausgeht, aus einem psychiatrischen Lehrbuch einen Fall zu kopieren, so weiß es der Dichter meistens besser als der Psychiater.« Doch nicht bloß die krankhaften Regungen der Seele verstand der Poet mit fühlenden Sinnen, noch mehr war er im Normalen zu Hause und wußte als bester Seelenkenner es weit sicherer zu künden denn alle Psychologen. In einer geradezu verblüffenden Weise 4

»Abnorme Charaktere in der dramatischen Literatur, Shakespeare Goethe Ibsen - Gerhart Hauptmann«. Hamburg und Leipzig. Leop. Voß, 1910. 5 »Das Pathologisdie in Kunst und Literatur«. Deutsdie Revue. Herausg. von Richard Fleischer. April 1911. ' »Der Inhalt der Psydiose«. 3. Heft der »Sdiriften zur angewandten Seelenkunde«, herausg. von Prof. Freud. Leipzig und Wien. Franz Deuticke, 1909. 67

stimmen die Ergebnisse der Freudschen Psychologie mit den Schilderungen großer Dichter überein. Nach zweierlei Richtung haben die Tiefenforschungen des letzten und seiner Schüler hier umwälzend gewirkt: für das Verständnis der Kunst sowohl wie ihrer Schöpfer, aber auch der innigen Wechselbeziehungen zwischen den beiden. Zum ersten Punkte brauche ich nur an das Licht zu erinnern, welches auf den »Hamlet«, das größte Rätsel der Weltliteratur, durch Freuds Aufdeckung des Ödipus-Komplexes geworfen wurde. Als Freud in seiner »Traumdeutung« und später auf seinen Bahnen Jones7 zum ersten Male erklären konnten, woran sich so viele Genießende und Kritiker seit fast drei Jahrhunderten vergeblich die Zähne ausgebissen hatten, mit einem Schlage so manche bisher nur halb oder gar nicht verstandene Kunst durchsichtig wurde wie Bergkristall, da begann der ungeheure Fortschritt, den die Aufdeckung des Unbewußten und Sexuellen für das Verständnis der Kunst geschaffen, auch dem stumpfsten Auge sinnfällig zu werden. Man sah jetzt deutlich: wo der Kunstrichter notgedrungen aufhören mußte, weil er nicht mehr zu begreifen vermochte, dort setzte die Freudsdie Psychologie überhaupt erst an, und zwar bereits im Gebiet des Normalen, nicht erst des pathologisch Verzerrten. Damit aber gab sie ein unverrückbares Fundament zum Verständnis jener genialen Schöpfungen. Präzise Diagnosen, die ja immer nur wenige Jahre galten, bis irgend ein neuer Kraepelin erstand, die waren jetzt ganz unwichtig geworden. Hauptsache wurde das seelische Begreifen, was ja die Genießenden allzeit gesucht hatten. Auch anderes, das man bisher zu verstehen glaubte, obwohl es mehr ein Mitfühlen war als wirkliches Erfassen, ward nunmehr in helle Beleuchtung gerückt. Gab Freud doch jetzt zum ersten Male eine wirkliche und wahrhafte Seelenkunde, d. h. eine solche des Unbewußten, statt des Schauens in das eigene Innere, welches Moebius so trefflich als hoffnungslos gegeißelt hatte. 8 Es ist durchaus menschlich, daß jeder den heiß bewunderten Genius auch im Leben und Wirken kennen lernen möchte. Da erwiesen sich nun die Biographen als ganz unzulänglich. Wie sollten sie auch anders. Freilich, die äußeren Lebensdaten wußten sie ganz sauber zu 7

»Das Problem des Hamlet und der Ödipus-Komplex«, Schriften zur angewandten Seelenkunde, 10. Heft, Leipzig und Wien, Deutidte, 1911. 8 »Die Hoffnungslosigkeit aller Psydiologie«, 2. Aufl., 1907, Halle a. d. Saale, Marhold.

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sichten und zu schlichten. Auch den makroskopischen Einfluß der Umgebung konnten sie zur Not noch einzeln aufzeigen. Fehlte nur leider das geistige Band und die Erklärung, warum dies mehr als jenes gewirkt und just so gewirkt hatte, und wie der Genius zu dem geworden, was wir heute bewundern. Nicht bloß, weil der letztere kaum je congeniale Biographen fand, vermochte die zünftige Lebensbeschreibung so wenig zu sagen. Das wichtigste war wohl die mangelnde Kenntnis des Unbewußten und der sexuellen Zusammenhänge, die Freud erst mühsam aufdecken mußte. Wir können es heute dreist aussprechen: was bisher an Biographischem geleistet wurde, ist wenig mehr als Rohmaterial, das eine künftige Seelenkunde erst zu wirklich verstehenden Lebensbeschreibungen umformen muß! Vielleicht die wichtigste Partie derselben wird das Liebesleben des Helden sein. Wissen wir doch heute aus tausendfältiger Erfahrung heraus, daß die sexuelle Entwicklung des Menschen vorbildlich wird für sein ganzes Dasein. Und so sehr sich auch mancher abgestoßen fühlt durch das »Wühlen im Schmutze«, wie der schöne Ausdruck unserer Gegner lautet, die aus eigenen verdrängten Komplexen heraus auch der vorsichtigsten Erwähnung und Berührung des Geschlechtlichen in allerweitestem Bogen ausweichen, die Forschung der Zukunft wird an diesem entscheidenden Triebe des Menschen achtlos nimmer vorüber können, wie dies leider bis heute fast immer geschah. Wer seine Prüderie nicht überwinden kann, dem steht es ja frei, sich mit »reinlicheren« Gegenständen zu befassen. Nur von der Psychologie, dem Seelenstudium irgend eines Menschen, lasse er die Finger. Denn das ist ohne intensive Beschäftigung mit dessen Geschlechtsleben nicht mehr denkbar. Färbt ja doch dies, wie alle Nachprüfung stets wieder ergibt, auf das Schaffen jeglichen Genius ab, sogar bis ins Detail seiner Werke. Vieles z. B., was uns bis heute an Dichterschöpfungen unverständlich blieb, und zwar nicht bloß in Einzelheiten, sondern selbst die Stoffwahl und Art des Schaffens wird mit eins zur Tageshelle erleuchtet, sobald man den Mut findet, auf das Geschlechtliche einzugehen. Nicht selten wird man zu seiner maßlosen Verblüffung erkennen, wie tief die sexuelle Gebundenheit des Genies da reicht'. Es wird eine der neuen und wichtigsten Aufgaben jeder künftigen 8

Einen interessanten Beitrag hat W. Stekel in »Dichtung und Neurose«, Bergmann, Wiesbaden 1909, geliefert. 69

Lebensbeschreibung sein, die innigen und steten Wechselbeziehungen aufzuspüren, die zwischen seinem Liebesleben und seinem Künstlerschaffen bestehen. Nur muß man da bis zu den »Müttern« hinabsteigen, nicht etwa entsetzt Halt machen wollen vor einzelnen im Kindesalter physiologischen Gefühlen, wie beispielsweise den IncestPhantasien, die als Phantasien ein ganzes Leben lang fortwirken können. Wer nur den wissenschaftlichen Mut aufbringt, all diese Dinge einfach zu schauen und nicht absichtlich seelenblind zu sein, wenn jene förmlich in die Augen springen, wird erstaunt sein über all die Fülle von ungeahnten Zusammenhängen und die sofortige Lösung von Rätseln, welche bislang einfach unlösbar schienen. Es werden sich da ganz andere Perspektiven eröffnen, als sie die bisherigen Biographien zu geben vermochten. Wo diese je Zusammenhänge aufdeckten zwischen Leben und Dichtung, da waren sie aliergröbster Art, will sagen nur jene, die wirklich geradezu auf der Hand lagen. Die feineren Beziehungen blieben ihnen selber völlig verschlossen, die konnten sie drum dem Genießenwollenden nie offenbaren. Hier beut sich eine der dankbarsten Aufgaben und durchaus jungfräulicher Boden, der tausendfältige Frucht verheißt. War nunmehr die Arbeit der Pathographie, zumindest der älteren, hauptsächlich der Belastung gewidmeten, überflüssig worden, um nicht zu sagen, völlig überholt? Ich glaube mitnichten. Man hat keinen Grund, sie gering zu achten oder gar für die Zukunft ausschalten zu wollen. Sie braucht da lediglich den ihr vollgebührenden Platz zu erhalten, um ihr Stück zur Aufklärung beizutragen. Geschichtlich war sie ein Durchgangsstadium, ja sie bleibt für die letzten biologischen Grundlagen noch heute geradezu unerläßlich. Man darf nur nicht alles aus Belastung allein erklären wollen, wie früher nicht allzuselten geschah, da die Psychologie des Unbewußten noch nicht geschaffen. Zur Stunde erscheint die Pathographie uns einzig berufen, die letzten konstitutionellen Momente aufzuhellen, an die kein seelisches Senkblei mehr langt. Hier hat sie tatsächlich Neues gegeben und just die Untersuchung der Genies, zum Beispiel der Dichter, hat uns gelehrt, die Symptome der »Belastung und Entartung« festzustellen, wie ich in einer größeren Studie ausführte10. Daß diese allerletzte Arbeit früher erfolgte, als die doch eigentlich näher liegende seelische Deutung ist in der historischen Entwicklung 10

»Belastung und Entartung. Ein Beitrag zur Lehre vom kranken Genie«, 1910, Leipzig, Eduard Demme.

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begründet. Diese führte eben von der »Pathographie« zur »Psychographie«, um ein gutes Wort von Weygandt zu gebrauchen (1. c.), d. h. von der Aufsuchung des Kranken im Genie zur Darstellung der seelischen Zusammenhänge. Freuen wir uns, daß jene erste Arbeit, die wir doch hinterdrein tun hätten müssen, bereits geschehen ist. Wer jetzt Verständnis des Genius und seiner Schöpfungen sucht, dem sind bereits alle Wege geebnet. Die Stellung der Pathographie für die Zukunft aber möchte ich also definieren. Sie gewinnt einen bleibenden, dauernden Wert, wenn sie darauf verzichtet, bloß zweifelhafte Diagnosen zu geben, die ein kommendes Jahrzehnt ganz sicher über den Haufen wirft, oder samt und sonders alles aufs Krankhafte zuspitzen. Hingegen ist es ihre wahre Aufgabe, die verschiedenen konstitutionellen Faktoren, mit anderen Worten die Belastung des Genies in einwandfreier Weise festzulegen und jene Symptome anzuführen, die durch sie allein oder doch vorwaltend zu deuten sind. Fast jedes psychische Geschehen ist recht kompliziert und mindestens auf zwei Beinen stehend, dem organischen Anteil und der seelischen Begründung. Den ersteren zu hellen, besonders in seinen konstitutionellen Elementen, der angeborenen Gehirnanlage, ist die Bestimmung der Pathographie. Sonst aber gebe sie präzise Diagnosen nur insoweit, als diese wirklich zweifellos feststehen, wie etwa die progressive Paralyse. Doch auch bei unverkennbaren Krankheitszeichen ist nicht Übereinstimmung mit dem herrschenden Lehrbuch das eigentlich Wertvolle, sondern die Erklärung der seelischen Begleitsymptome, welche stets auf das Unbewußte und Infantile zurückzuführen sind, wie ich beispielsweise in meinem Lenaubuche " dargetan habe. Eine jede künftige Psychographie wird also, um erschöpfend zu sein, ein pathographisches Kapitel aufweisen müssen, da vermutlich kein einziger Genius existiert, der nicht mehr oder weniger belastet wäre und davon erheblich beeinflußt würde. Hauptsache aber bleibt immer und allzeit die Erklärung der seelischen Zusammenhänge im Leben wie im Schaffen eines jeden Genies. 11

Vgl. das Kapitel über des Diditers Paralyse (S. 79-95) in meiner Studie »Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus«, 6. Heft der Sdiriften zur angewandten Seelenkunde, herausgegeben von Prof. Freud, Leipzig und Wien, Franz Deuticke, 1909. Hier ist das Hauptgewidit nidu auf die typischen Ausfallssymptome der Paralyse gelegt, die durdi den organisdien Hirnsdiwund bedingt sind, sondern auf die Deutung der psydiischen Äußerungen und deren Zurüdtführung in die Kindheit. 71

II. Was ich im vorstehenden allgemein und programmartig ausführte, will ich an einem Einzelbeispiel nunmehr erläutern und genau aufzeigen, wo das Können des Literaturhistorikers endet und jenes des Psychographen beginnt. Ich wähle als Exempel Hebbels »Judith«. Hören wir vorerst, was die Biographen zu melden wissen. Eduard Kulke vernahm über die Entstehung des Dramas aus des Dichters eigenem Munde folgendes12: »Ich hatte nicht die mindeste Absicht, ein Drama zu schreiben oder auch nur zu der schönen Literatur in eine nähere Beziehung zu treten. Ich wollte mich der juristischen Laufbahn widmen. Eines Tages war ich bei Ludmilla Assing zu Besuch und die Unterhaltung betraf die neueste dramatische Literatur. Ich äußerte mich über sämtliche Erscheinungen derselben sehr herb und streng. Die Unterhaltung lenkte sich auf Gutzkow und dessen Werke, vorzüglich auf dessen > König SaulSaul< müßte sich doch wohl leicht überbieten lassen. >Ich nehme Sie beim Wort!< sagte Ludmilla heftig, worauf ich ruhig erwiderte: >Sie bringen mich hiedurch nicht im geringsten in Verlegenheit.< Ich hatte ein Gemälde, welches die Judith mit dem Haupt des Holofernes darstellte, nicht lange vorher gesehen. Es hatte in mir einen so mächtigen Eindruck hinterlassen, daß ich gar keinen Stoff zu suchen brauchte, weil sich mir der Stoff der >Judith< so von selbst aufgedrängt. Über Nacht war der fünfte Akt fertig, die entscheidende Katastrophe. Hierauf ging ich mit einem Freunde spazieren und rezitierte auf dem Wege einzelne Stellen aus dem fünften Akt. Mein Freund war darüber erstaunt und ich erzählte ihm das Vorgefallene. Er und mehrere andere, die den fünften Akt kennen lernten, drangen in mich, das Drama ganz zu komponiren und aufzuschreiben. In vierzehn Tagen war die >Judith< fertig.« In diesem Bericht fällt zweierlei auf: Zunächst daß ein Bild auf den sonst keineswegs so kunstsinnigen Hebbel einen derart mächtigen Eindruck machte, daß sich ihm das Thema als Stoff für ein 12

»Erinnerungen an Friedridi Hebbel«, Wien, 1878, Verlag von Karl Konegen,

Trauerspiel von selber aufdrängte, sodann daß der fünfte Akt zuerst fertig wurde, die Katastrophe also, Liebesnacht und Rache des entehrten Weibes, ihm die Hauptsache war. Wir wollen uns beides vorläufig merken, gleich hier aber festlegen, daß eine tiefergrabende Erklärung von keinem Biographen irgend gegeben oder auch nur versucht wurde. Nur in einem Punkte, Judiths doch gar zu rätselhafter Brautnacht, suchte man etwas weiter zu schürfen, indem man den Dichter selber befragte. Die Antwort lautete nach Eduard Kulke: »Judith soll Holofernes töten. Damit sie dies imstande sei, muß sie sich ihm ergeben; darin liegt ihr Opfer. Ein Weib, das solch ein Opfer bringen soll, ist im Drama schlechterdings nur möglich, wenn sie weder Jungfrau, noch eigentlich Weib ist. Ist sie wirklich Weib, so kennt sie die Größe des Opfers und es widerstrebt ihrem innersten Gefühl, sie kann sich nicht entschließen; ist sie Jungfrau, kann ihr der Gedanke, dieses Opfer zu bringen, gar nicht in den Sinn kommen, dies verhindert die Naivetät der Jungfräulichkeit. Die biblische Judith ist also im Drama schlechterdings unmöglich. Die Judith, welche die Tat vollführen soll, darf keine Jungfrau sein und muß es doch sein. Das ist nur dann möglich, wenn sie verheiratet ist, aber von ihrem Manne nicht berührt wurde. Einer solchen Jungfrau kann der Einfalt kommen und doch kennt sie, weil sie eben noch Jungfrau ist, die Größe des Opfers nicht, zu dem sie sich entschließt. Es handelt sich also darum, in der Brautnacht etwas zu setzen, das Manasse zurückhält, sich ihr zu nähern. Was dies etwa sei — und hier liegt das Geheimnis - das ist ganz gleichgiltig. Supponiere sich jeder, was ihm beliebt, sei es ein Gesicht, ein Gespenst oder was immer, darum handelt es sich gar nicht, es handelt sich nur um die Konsequenz dieser Erscheinung. Die dramatische Motivierung ihrer nachherigen Heldentat bedingt eine vorausgegangene ehelose Ehe.« Was Hebbel da einleitend über die Notwendigkeit sagt, die Judith zur jungfräulichen Witwe zu machen, hat er im Tagebuch, dann ferner in einem Brief an die Crelinger nochmals umschrieben. Der Sinn, ja stellenweise der Wortlaut, ist immer der gleiche. Trotzdem wird manchen das Gewicht der vorgebrachten Gründe nicht genügend dünken, ja vielleicht sogar eine Ahnung beschleichen, daß da weit mehr verborgen sein müsse, als der Dichter selber Wort haben mochte. Ganz besonders jedoch ist der Schluß der oben zitierten Äußerung Hebbels ausweichend. »Es sei ganz gleichgiltig, was Manasse zurückhalte, supponiere sich jeder, was ihm beliebe«, ist 73

doch keine Erklärung, sondern eine Abweisung, die durchsichtig besagt, daß dem Dichter das Forschen in jener Region zu unangenehm sei. Umsomehr besteht ein Grund, zu vermuten, daß da vielleicht der Kern des Problems zu finden sein müsse, den Hebbel selber zwar unbewußt kannte, sich aber klar und bewußt zu machen, gar weislich hütete. Was ich sonst bei Biographen und Kunstrichtern über die »Judith« finde, ist von Kleinigkeiten abgesehen, ausschließlich nur ästhetische Betrachtung, doch ohne Versuch einer tieferen Deutung. Denn über die Worte des Dichters geht keiner hinaus, die Lösung jener, wie anderer Rätsel unternahm kein Einziger. Und doch tritt gleich in jenem Erstling die spezifische Eigenheit Hebbels hervor, sexuelle Begriffe mit ganz besonders geknüpften Voraussetzungen in den Mittelpunkt so vieler Handlungen zu stellen. Dies ist ein Moment von so entscheidender Wichtigkeit, daß ich es hier vorwegnehmen will. Schon Laube, der unseres Dichters Schaffen mit Augen des Neides und Hasses verfolgte, vermeinte bald nach dem ersten Zusammentreffen in Wien: »Wenn Sie bei der Wahl Ihrer Stoffe nicht immer erst zwei Drittel Ihrer Kraft aufbieten müßten, um dem Publikum den Gegenstand appetitlich zu machen, so würden Sie mich, Gutzkow und uns alle so darniederwerfen, daß wir nicht wieder aufstehen könnten.« Und Hebbel bemerkte dazu im Tagebuch: »Diese Äußerung blieb mir buchstäblich im Gedächtnis, weil ich etwas Wahres darin fand.« Es ist eine tief zu beklagende Tatsache, daß Hebbel nie eigentlich populär geworden; trotz aller grandiosen Leistungen. Ja, er blieb nicht einmal lange auf irgend einer Bühne heimisch. Wohl hatte so manche seiner gewaltigen Schöpfungen starken Erfolg, doch wurde kein einziges Repertoirestück, das sich wie andere klassische Werke auf die Dauer behauptete. Die Ursache dieser merkwürdigen Erscheinung ist hauptsächlich in der verzwickten erotischen Prämisse zu suchen, die Hebbels Dramen fast sämtlich auszeichnet. Bis man mit seiner sexuellen Rabulistik fertig geworden, ist die halbe Teilnahme aufgezehrt. Am treffendsten sprach dies Grillparzer aus nach einer Vorlesung von »Gyges und sein Ring«: »Wie ist das filtriert! Wie ist das filtriert!« Wieso aber kam denn unser Poet zu solcher Besonderheit, warum muß er immer auf geschraubten sexuellen Stelzen stehen, obwohl er im Leben weder ausschweifend war, noch irgend pervers? Nach dem Zeugnisse Bambergs vermochte Hebbel nicht anders zu schaffen, als in Abhängigkeit von seinen Erlebnissen. Dies habe geradezu 74

»Hebbels innerstes Wesen« ausgemacht, weshalb z. B. der »Moloch« niemals fertig geworden. Waren nun jene geschlechtlichen Prämissen nicht wirklich erlebt, wo war dann der Dichter eigentlich mit ihnen zusammengestoßen? Wiederum kann ich mich auf das Zeugnis eines Mannes berufen, der Hebbel jahrelang nahestand und dem er sich wie keinem zweiten enthüllte. Die Motive, warum sich der letztere seine poetischen Vorwürfe aus dem sexuellen Gebiete hole, meint Emil Kuh, seien nicht so versteckt, wie man gewöhnlich glaube. Sie stammten aus dem Kontraste seines gewaltigen Lebensgefühles zu den frühzeitigen Demütigungen und den fortgesetzten Entbehrungen. Die Phantasie des Darbenden spiegle sich gerne die Genüsse der Erde vor. Den köstlichsten Trank jedoch am Gastmahl des Lebens kredenze die Liebe. »Das Naturrätsel der Liebe beschäftigte seine Phantasie wie sein Denken und vermöge des Dranges, überall den letzten Gründen nachzuspüren, verweilt er halb neugierig, halb trübsinnig bei den psychologischen Wurzeln dieser Leidenschaft.« Halten wir also zweierlei fest: Das Schaffen Hebbels braucht ein Erlebnis, dies aber war, im Geschlechtlichen mindestens, einzig nur innerlich, bloß in der Einbildungskraft geschehen. Beides reicht freilich zur Erklärung nicht aus. Denn gehungert hat mehr als ein deutscher Poet, der sich in Träumen und Phantasien dann schadlos hielt. Kein anderer jedoch außer Friedrich Hebbel hat darum geschraubte sexuelle Voraussetzungen für unumgänglich nötig erachtet. Dem muß wohl noch mehr zugrunde liegen, als seine Lebensbeschreiber vermelden. Will man da erschöpfende Aufklärung erhalten, so muß man eine andere Schmiede aufsuchen. Nun lehrte die moderne Seelenkunde, welche die Resultate der psychoanalytischen Forschung verwendet, daß solche lebenslange Wirkung nur zweierlei Gründe haben kann, neben welchen jene der Biographen sehr gut bestehen: es muß sich um sexuelle Eindrücke in äußerst früher Kindheit handeln, die, wenn wir die Lebensbeschreiber heranziehen, bloß der Phantasie des Knaben entsprangen. Nur solche frühe Eindrücke vermögen ein Leben lang fortzubestehen und alle Rätsel des Dichterschaffens zu erklären. Hier wären zwei Einwände zu erledigen: vorerst man dürfe Erfahrungen, die an Neurotikern gewonnen wurden, nicht auf gesunde Poeten übertragen. Zum zweiten, daß in jener supponierten, zartesten Kindheit Sexuelles doch höchstens bei Kranken vorkomme. Beides läßt sich bei Hebbel mit Leichtigkeit widerlegen. Zunächst war Hebbel keineswegs so gesund, als er dem Laien er75

sdieinen möchte. Abgesehen von seinen Belastungssymptomen, auf welche ich hier nicht eingehen will, ist uns aus seiner Kindheit manches berichtet, was berechtigte Zweifel auszulösen geeignet ist. Einiges sei hier angeführt. Der Knabe schon hatte einen Hang zum Grübeln, der eigentlich das ganze Leben fortwährte. Als er eines Morgens die Auferstehung sah, traf nach Emil Kuh »der Gesang ihn tief. Aus der biblischen Vorstellung von der Auferstehung des Herrn löste sich, neue, überschwängliche Bilder gebärend, die Vorstellung von der Auferstehung aller Menschenkinder heraus. Das jüngste Gericht in seiner Furchtbarkeit und Unbegreiflichkeit nahm vor seinen Augen plastische Formen an; insbesondere war das Ineinandergewachsensein der Leiher ein Bild, das ihm lange keine Ruhe ließ. >Wo aberist in dem Tale Josaphat Raum für alle die Auferstandenen, wo Raum allein für Barbarossa und dessen Heere?< Diese Fragen schlugen in Zweifel um, die ihn umso stärker peinigten, als sie den Phantasieglauben, der sie doch erzeugt hatte, nicht im mindesten erschütterten, vielmehr umarmten und umrankten wie ein Schlinggewächs den unbeugsamen Stamm.« Noch zudringlicher verfolgte ihn die Vorstellung des Nichts, das er mit krampfhafter Anstrengung sich denkbar zu machen suchte. Auf einem der Notitzblätter, welche zerstreute biographische Einzelzüge enthalten, finden sich unter dem Schlagworte: Das Nichts die Worte geschrieben: »Qualen meiner Jugend«. Schon hier erkennt ein jeder Fachmann das Bild der infantilen Zwangsneurose mit ihrer Zweifel- und Grübelsucht. Doch läßt sich diese durch Hebbels ganzes Leben und Schaffen deutlich verfolgen, nur daß ein Gott ihm gab, zu sagen, was er litt, und dadurch vor den schwersten Folgen bewahrte. Allzeit hatte er den Rechtfertigungstrieb und nicht bloß das Streben, sich selbst zu belauern, sondern auch vor den ändern auseinanderzusetzen, wie fast alle seiner dramatischen Gestalten. Unter seinen autobiographischen Notizen steht das Bekenntnis: »Ich hatte immer den Trieb, den Menschen begreiflich zu machen, warum ich in meinem Verhältnis zu ihnen so und nicht anders handelte.« Und Kuh ergänzte: »Hebbel war einer der Menschen, die allzeit vor Gericht, vor ihrem inneren Gericht gestanden haben und nur spärlich von diesem unheimlichsten und gefährlichsten aller Verhöre durch das äußere Leben abgelenkt wurden«. Die moderne Psychoneurologie hat nun aufgedeckt, daß solche Zwangsgedanken regelmäßig auf erotische Dinge einer allerfrühesten Kindheit zurückgehen, daß das Grübeln konstant ein Grübeln 76

über sexuelle Dinge ist, der Zwang, sich vor allen rechtfertigen zu müssen, sich sehr wohl begreift, wenn man ihn auf kindlich-sexuelle Wünsche und Phantasien bezieht. Damit stimmt recht gut, was Hebbel in der autobiographischen Skizze »Meine Kindheit« berichtet. Als er in seinem vierten Jahre in die Klippschule gebracht worden und endlich aufzuschauen wagte, da fiel sein erster Blick auf ein schlankes, blasses Mädchen, Emilie Voß. »Ein leidenschaftliches Zittern überflog mich, das Blut drang mir zum Herzen, aber auch eine Regung von Scham mischte sich gleich in mein erstes Empfinden, und ich schlug die Augen so rasch wieder zu Boden, als ob ich einen Frevel damit begangen hätte. Seit dieser Stunde kam Emilie mir nicht mehr aus dem Sinn, die vorher so gefürchtete Schule wurde mein Lieblingsaufenthalt, weil ich sie nur dort sehen konnte, die Sonn- und Feiertage, die mich von ihr trennten, waren mir so verhaßt, als sie mir sonst erwünscht gewesen sein würden, ich fühlte mich ordentlich unglücklich, wenn sie einmal ausblieb. Sie schwebte mir vor, wo ich ging und stand, und ich wurde nicht müde, still für mich hin ihren Namen auszusprechen, wenn ich mich allein befand ... Diese Neigung dauerte bis in mein 18. Jahr.« Wie man sieht, unterschied sich diese Verliebtheit des im vierten Lebensjahr stehenden Knaben in gar nichts von den Gefühlen des Erwachsenen. Ja, mich dünkt, es bestand sogar ein gewisses sexuelles Begehren von freilich infantiler Art, für welches ich wenigstens die sofortige Schamregung ansprechen möchte, die den Knaben beim ersten Anblick befiel. Bestätigt wird dies durch gleichzeitig schwere Angstzustände, die, wie wir durch Freuds Entdeckungen wissen, ganz sicher mit sexuellem Verlangen und dessen Unterdrückung zusammenhängen. Fassen wir das bisher Gesagte zusammen. Wir finden bei Hebbel ganz sicher schon im vierten Lebensjahre ein ungemein lebhaftes Liebesleben, das fraglos auf eine konstitutionell verstärkte Erotik hinweist, und erschließen weiters aus den gleichzeitigen schweren Angstzuständen sowie aus verschiedenen Zwangsideen in der späteren Knabenzeit auf unterdrückte libidinöse Regungen. Gehen wir nun nochmals auf jene infantile Zwangsneurose ein. Was hatte der Dichter denn angestellt, daß er sich zeitlebens rechtfertigen mußte und die angeblich letzten Motive seines Handelns und Ichtriebes auseinandersetzen? Vielleicht gibt uns jene frühe Auferstehungsneurose, die zwischen des Dichters 6. und 10. Lebensjahr fällt - eine präzisere Zeitbestimmung ist nicht überliefert - den

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nötigen Schlüssel. Was den Knaben ganz besonders quälte, ihm lange Zeit keine Ruhe ließ, war »das Ineinandergewachsensein der Leiber«. Sehen wir von der Christenlehre ab und fragen wir uns, wo findet denn ein solches Ineinanderwachsen der Leiber tatsächlich statt, so gibt es dafür nur eine Antwort: beim Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Weib. Die ausnehmend tiefe Nachwirkung läßt dann die Vermutung gerechtfertigt erscheinen, daß der Knabe, oder richtiger das Kind, vor dem man noch gar nicht sich genieren zu müssen für notwendig hält, weil es vom Geschlechtlichen nichts versteht, den Verkehr der Eltern belauscht haben wird. Nimmt man die überaus ärmlichen Verhältnisse in Hebbels Vaterhaus, den geringen Stand und die mangelhafte Erziehung dazu, so wird meine Vermutung umso wahrscheinlicher, als ja der Glaube an die sexuelle Unschuld des Kindes noch selbst zur Stunde und in guten Häusern gang und gäbe und die Quelle vieler Neurosen ist. Wie reagiert nun ein kleines Kind auf solche ganz frühe Sexualerlebnisse? Aus den Analysen unserer Neurotiker, aber auch der Angstzustände von Kindern1* wissen wir bestimmt, daß diese, wenn sie auch keineswegs schon alles begreifen, doch gleichwohl ein recht weitgehendes Verständnis für die unzweifelhaft geschlechtliche Natur der halb erlauschten, halb erschlossenen Ehe-Intimitäten besitzen. In ihnen regt sich dann leicht das Verlangen, auch dabei zu sein, jenes Reizvoll-Sinnliche mitansehen zu können, ja, wie ich aus Psychoanalysen weiß, sogar der Wunsch, vom Vater selber hiebei herangezogen zu werden. Als Hebbel in sehr viel späteren Jahren bei Herodot von Kandaules liest, der dem Antrieb nicht widerstehen konnte, sein verborgenes Schönheitsgut vor fremden Augen zu enthüllen, seinen Liebling Gyges die hüllenlose Gattin schauen zu lassen, da packt ihn der Stoff auf der Stelle so mächtig, daß alle dramatischen Grundlinien gleich feststehen, wobei er nur noch aus anderen Kinderphantasien den unsichtbar machenden Ring hinzutut. Wie hat er nur einmal zu Kulke geäußert: »Die Erfindung hängt nicht vom Dichter ab und darum auch nicht die Wahl seiner Stoffe. Sie kommt wie ein Blitz, und dieser kommt und trifft ungerufen«. Wir dürfen hinzufügen, was bei Hebbel besonders deutlich hervortritt, sie kommt wie ein Blitz, weil er diese Stoffe schon längst 13

Vgl. hierzu Freuds »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben«, Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologisdie Forschungen, erster Band, erste Hälfte 1909.



in Kinder- und Pubertätsphantasien ganz ausgesponnen oder mindestens ähnlich behandelt hatte. Drum konnte er vom »Gyges« an Uechtritz schreiben: »Ich war mir sonst bei meinen Arbeiten immer eines gewissen Ideenhintergrundes bewußt. Daran mangelt es diesmal ganz, mich reizte nur die Anekdote, die, nur etwas modifiziert, außerordentlich für die tragische Form geeignet erschien, und nun das Stück fertig ist, steigt plötzlich zu meiner eigenen Überraschung, wie eine Insel aus dem Ozean, die Idee der Sitte als die alle bedingende und bindende daraus hervor.« Die Idee der Sitte, der arg verletzten Sühne heischenden Sittlichkeit aber führt zurück zu dem bei Hebbel nach Kuh so erhöhten Schuldgefühl. War doch sein ganzes Dichten und Schaffen ein unablässiger Rechtfertigungsversuch, bei dem die Idee der Sittlichkeit, vielleicht nur die notgedrungene des Kindes, zum Schlüsse ihre Triumphe feiert. Doch jene erlauschten Intimitäten des elterlichen Ehelebens übten offenbar noch tiefere Wirkung, die wir freilich bloß aus den Dramenthemen erschließen können und etwa nach der Analogie und den Resultaten unserer Psychoanalysen. Aus den letzteren wissen wir, daß Knaben, die solches einmal oder gar wiederholt erlebten, teils auf der Stelle, teils noch mehr in den Jahren der Reife mit allerlei Phantasien reagieren. Nicht bloß, daß sie, wie ich vorhin ausführte, dabei sein wollen, sie gehen noch weiter und setzen sich direkt an Stelle des Vaters. Sie träumen davon, den Ehemann bei der Mutter zu spielen, nachdem der Vater vorher entfernt worden. Das sieht nun für den Laien, dem solche Probleme nie aufgegangen, völlig absurd aus. Und doch genügt schon die Alltagsbeobachtung, noch mehr dann die Analyse von Träumen und mancher Dramen der Weltliteratur, um jene »absurde« Kinderphantasien als einfach typisch zu erkennen. Ein Kollege erzählt mir folgendes Gespräch mit seinem eigenen fünfjährigen Töchterchen. Sie beginnt: »Ich will heiraten.« - »Wen denn?« — »Dich, Papa!« — »Ich habe ja schon eine Frau.« - »Dann hast du halt zwei Frauen.« — »Das geht nicht.« - »Also gut, dann wähle ich mir einen Mann, der so lieb ist wie du.« Hier schaut man ganz deutlich die Verliebtheit des Kindes, die sich in dem Wunsch einer Heirat ausspricht und gar keine Rücksicht auf die entgegenstehenden Rechte der Mutter nimmt. Noch belehrender sind die Beispiele Freuds in seiner »Traumdeutung«. »Ein achtjähriges Mädchen meiner Bekanntschaft benützte die Gelegenheit, wenn die Mutter vom Tisch abberufen wird, um sich als Nachfolgerin zu proklamieren. >Jetzt 79

will ich die Mama sein, Karl, willst du nodi Gemüse? Nimm doch, ich bitte dich, usw.< Ein besonders begabtes und lebhaftes Mädchen von nicht vier Jahren äußert direkt: >Jetzt kann das Muatterl einmal fortgehen, dann muß das Vaterl mich heiraten und ich will seine Frau sein.< Im Kinderleben schließ dieser Wunsch durchaus nicht aus, daß das Kind auch seine Mutter zärtlich liebt. Wenn der kleine Knabe neben der Mutter schlafen darf, sobald der Vater verreist ist, und nach dessen Rückkehr ins Kinderzimmer zurück muß zu einer Person, die ihm weit weniger gefällt, so mag sich leicht der Wunsch bei ihm gestalten, daß der Vater immer abwesend sein möge, damit er seinen Platz bei der lieben, schönen Mama behalten kann, und ein Mittel zur Erreichung dieses Wunsches ist es offenbar, wenn der Vater tot ist. Denn das eine hat ihm die Erfahrung gelehrt: Tote Leute, wie der Großpapa z.B., sind immer abwesend, kommen nie wieder.« So sehr es dem Mehrheitsempfinden widerspricht, so ist der Gedanke, die Mutter zu freien, Eifersucht auf den Vater und in weiterer Folge Mordideen gegen diesen wirklich alltäglich und keinem von uns im Grunde ganz fremd, zumindest im Traum, der zensurfreier ist. Nur ward jener ganze Ideenkomplex sorgfältig unterdrückt, in den Hades des Unbewußten geschleudert und, weil verpönt, auch mit Entsetzen und Abscheu belegt. Die Griechen jedoch, die in natürlichen Dingen weit menschlicher dachten als das sexualunfrohe Urchristentum, erfanden für die menschlichen UrInstinkte die Sage vom Oedipus, der den Vater erschlägt und, sich an seine Stelle setzend, die Mutter heiratet. Sophokles »König Oedipus« wirkt heute noch so stark wie bei den zeitgenössischen Griechen, weil eine Stimme in unserem Inneren die zwingende Gewalt just seines Schicksals anerkennt im Gegensatz zu späteren Schicksalstragödien. Und zwar ergreift uns, wie Freud in seiner »Traumdeutung« ausführt, sein Schicksal nur darum so unwiderstehlich, weil's auch das unsere hätte werden können. »Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten, unsere Träume überzeugen uns davon. König Oedipus, der seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. Aber glücklicher als er, ist es uns seitdem, insofern wir nicht Psychoneurotiker geworden sind, gelungen, unsere sexuellen Regungen von unserer Mutter abzulösen, unsere Eifersucht gegen unsere Vä80

ter zu vergessen. Doch der Traum, mit der Mutter sexuell zu verkehren, wird ebenso wie damals auch heute vielen Menschen zuteil, die ihn empört und verwundert erzählen.« Jahrhunderte nach »König Öedipus« schuf ein Seelenkünder wie William Shakespeare im »Hamlet« ein ähnliches, unsterbliches Menschheitsproblem, das Genießer und Deuter stets wieder zu neuer, doch bisher vergeblicher Erklärung reizte. Vergeblich darum, weil man das Menschlichste nicht sehen mochte, die in dem Innern eines jeden Mannes schlummernde Verliebtheit in die eigene Mutter. »Hamlet kann alles«, erklärt uns Freud, »nur nicht die Rache an dem Manne vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter dessen Stelle eingenommen hat, an dem Manne, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kinderwünsche zeigt. Der Abscheu, der ihn zur Rache drängen sollte, ersetzt sich so bei ihm durch Selbstvorwürfe, durch Gewissensskrupel, die ihm vorhalten, daß er, wörtlich verstanden, selbst nicht besser sei, als der von ihm zu strafende Sünder. Ich habe dabei ins Bewußte übersetzt, was in der Seele des Helden unbewußt bleiben muß.« Kehren wir nunmehr zu unserem Ausgangspunkt, der »Judith« zurück, so werden zwei Rätsel jetzt völlig durchsichtig. Manasse schreckt in der Hochzeitsnacht vor seinem verlangenden Weib zurück, wofür der Dichter statt einer Erklärung nur die Ausflucht gibt: »Denke sich jeder, was er will, ein Gesicht, ein Gespenst oder was immer ".« Des Mannes Verhalten ist nun eine Form der seelischen Impotenz, die dem Nervenarzt sehr geläufig ist. Durch Psychoanalyse läßt sich stets wieder der Beweis erbringen, daß jenes Gesicht oder jenes Gespenst, um mit Hebbel zu reden, nichts anderes darstellt, als die eigene Mutter, auf welche die Inzestphantasien des Knaben wie des späteren Ehemannes zurückgehen. Manasse kann sein Weib nicht berühren, weil das Gespenst der noch immer geliebten Mutter vor ihm auftaucht, und daß Hebbel just diesen Umstand benutzt und einer Aufklärung entschieden ausweicht, scheint dafür zu sprechen, daß er selber als Kind das Verlangen nährte, der Vater soll seine eigene Frau nie angerührt haben. Muß die Mutter schon das Weib des verhaßten Vaters werden, dann sei sie wenigstens Jungfrau geblieben, wie die Ehegattin des Ma14

Nestroy hat dies trefflidi travestiert: »Ein ewiges Dunkel bleibt 's und niemand waß es, Das eigentlidie Bewandtnis mit 'n Manasses.« 81

nasse 15, und Jungfrau natürlich für den eigenen Sohn, der nicht verträgt, daß die Mutter schon früher einen Mann erkannt hat. Was der Dichter als Motivierung vorbringt, warum er Judith zur jungfräulichen Witwe machen mußte, ist nur posthume, wenn auch äußerst geschickte Rationalisierung einer Kinderphantasie, die den beleidigenden Verkehr der Eltern einfach aus der Welt schafft. Wenn in der Hypnose einem Medium aufgetragen wird, hinterher im Zimmer den Schirm aufzuspannen, und dieser Befehl dann zur Ausführung kommt, so weiß die Versuchsperson für ihr seltsames Tun stets eine plausible Erklärung zu geben. Und doch wird keiner der Anwesenden zweifeln, daß sie ausschließlich eine posthypnotische Suggestion erfüllte, die sie nur nachträglich geschickt erklärt. Ganz ebenso geht auch der Dichter vor, macht seine Judith zur unberührten Witwe, die in eheloser Ehe lebte, weil der Knabe Hebbel für seine Phantasie eine Jungfrau braucht, gibt aber hinterdrein eine sehr scharfsinnige Motivierung an, in der er lediglich den Gesetzen der Psychologie gefolgt sein will. Der jungfräulichen Mutter Hebbels widersprach nur leider die böse Wirklichkeit. Kam doch zwei Jahre nach unserem Dichter ein Brüderchen auf die Welt. Wie fand sich Hebbel dichterisch mit dieser Tatsache ab? Da gibt sich Judith Holofernes zwar hin als Gottes Werkzeug, um die sonst verlorene Vaterstadt zu retten, nimmt aber sogleich auch Rache dafür, indem sie den Entehrer mit dem Schwert enthauptet. Nachträglich packt sie aber das Grauen, sie könne dem Holofernes einen Sohn gebären. Noch mehr, die Phantasie vom entehrten und sich rächenden Weibe muß ein Hauptproblem in des Knaben Seele gebildet haben, das er immer wieder im Kopfe wälzte und in allen Einzelheiten ausführte. Drum wirkte das Bild der Judith mit dem Haupt des Feindes so mächtig auf ihn, drum war das Drama in seinen Grundlinien alsbald fertig, drum endlich packte ihn vor allem ändern und kam auch zunächst zur dramatischen Ausführung die Katastrophe, während das übrige erst später und mählig hinzugedichtet ward. Immer wieder reizt das entwürdigte Weib den Dichter zur Tragödie. Bald, wie in der »Judith«, hat sie der Mann zur Sache herabgedrückt, was Todesstrafe heischt, bald wird eine Königin, das 15

Das stimmt nicht bloß mit den Resultaten der Analysen überein, sondern auch mit den Mythen von der unbefleckten Empfängnis, die in ähnlicher Weise auch viele Völker und Kulte sich schufen. 82

typische Traum- und Märchensymbol für die eigene Mutter, von ihrem Gatten so tief verletzt, daß sie Rache nehmen muß, ob sie jetzt Rhodope, Mariamne oder Brunhild heißt. Auch das direkte Gegenstück, der ewig nagende Zweifel des Knaben, ob die Mutter ihm auch die Treue gehalten, hat später im Drama Erlösung gefunden in Siegfried, Genoveva, Herodes und Leonhard. Wenn die Kunstkritiker mit Recht beanstanden, daß Herodes sein Weib nicht weniger als zwei Mal unter das Schwert stellt, so ist das nicht ästhetisch zu entschuldigen, wohl aber begreiflich aus den Phantasien des zum Dichter bestimmten Knaben heraus. Ich habe vorstehend nur einiges wenige zur Erklärung der »Judith« anführen können. Um allen Beziehungen in extenso nachzugehen, gebricht es am Räume. Nur zu einem Punkte will ich noch eine Ergänzung geben. In einer Travestie hat Johann Nestroy, der kaum minder infernalische Satire besaß, als ein tiefbohrendes psychologisches Wissen, nicht bloß die Judith trefflich persifliert (Bin Witwe aus einem sehr guten Haus, Und kenn' mich vor Unschuld gar nicht aus), sondern fast noch trefflicher den assyrischen Feldherrn. Es ist weit mehr als ein bloßer Witz, wenn Holofernes den Gesandten an den Kopf wirft: »Ich bin ein großartiger Kerl«, ein andermal wieder peroriert: »Ich hab die Spiegeln abg'schafft, weil sie die Frechheit haben, mein Gesicht, was einzig in seiner Art is, zu verdoppeln«, oder endlich monologisiert: »Ich bin der Glanzpunkt der Natur, noch hab ich keine Schlacht verloren, ich bin die Jungfrau unter den Feldherrn. Ich möcht' mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, um zu sehen, wer der Stärkere is, ich oder ich!« Auch daß er aus den nichtigsten Vorwänden einen seiner Hauptleute nach dem ändern durchsticht, um sich schließlich an seinen Kämmerer zu wenden: »Schafft's m'r die Leichen weg! Nur ka Schlamperei not!«, oder endlich die Meinung, er sei ein Judenfresser, mit den Worten zurückweist: »Es ist nicht so arg, ich hab nur die Gewohnheit, alles zu vernichten«, all das führt tief in die Motivierung des Sadismus hinein, nicht bloß bei Holofernes. Lange vor Kuh durchschaute der geniale Satiriker Nestroy, wie sehr sich Hebbel in seinem Erstlingsdrama selber konterfeite mit seinen persönlichen Eigentümlichkeiten und dem ganzen Kraftüberschuß der Jugend ". 18

Das ist kein Widersprudi zu meiner früheren Behauptung, Judith, die den Holofernes enthauptete, sei die Mutter, die sich für die Erniedrigung durdi den Vater rädit. Holofernes hat eben Züge von beiden. Er 83

Aus dieser Uberempfindung heraus nimmt er den Kampf mit dem Vater auf. Wie sagt nur Hebbel-Holofernes von Judith: »In ihrem Herzen wohnt niemand als ihr Gott. Den will ich jetzt vertreiben!« Fühlt er in seinem maßlos gesteigerten Ich-Gefühl sich doch stark genug dazu: »Kraft! Kraft! Das ist's. Er komme, der sich mir entgegenstellt, der mich niederwirft. Ich sehne mich nach ihm! Es ist öde, nichts ehren zu können, als sich selbst.« Und als Judith zitternd einwirft: »Und wenn der Himmel seinen Blitz nach dir wirft, um dich zu zerschmettern?« erhält sie nur zur Antwort: »Dann reck' ich die Hand aus, als ob ich selbst es ihm geböte und der Todesstrahl umkleidet mich mit düst'rer Majestät.« Im Innersten erschüttert, muß Judith bekennen: »Meine Empfindungen und Gedanken fliegen durcheinander wie dürre Blätter. Mensch, entsetzlicher, du drängst dich zwischen mich und meinen Gott! Ich muß beten in diesem Augenblick und kann's nicht!« Da spielt der Dichter seinen letzten Trumpf aus: »Stürz hin und bete mich an!« Der Kampf gegen den Vater und die Todeswünsche wider den glücklicheren Nebenbuhler sind auch biographisch gut zu belegen. So fleht der 14jährige Hebbel, als sein Vater im Sterben liegt, krampfhaft zu Gott, er möge jenem nur noch acht Tage schenken. Sogleich erholt sich der verloren Geglaubte und stirbt auch wirklich erst acht Tage später, so daß dem Sohne sein Gebet eine mystische Wirkung gehabt zu haben schien. Von den Neurosen her wissen wir, was dieses krampfhafte Flehn um Verlängerung des Lebens zu bedeuten hat. Es ist die Sühne für den früher oft wiederholten Wunsch, der Vater solle sterben, wie ja auch der Glaube an Ahnungen und allerlei mystische Kräfte typisch dem Psychoneurotiker zukommt. Ganz ebenso ist auch die übermächtige Reaktion zu erklären, als Hebbel von einem Attentat auf den König von Preußen erfuhr. Da schrieb er an den Großherzog von Weimar: »Das furchtbare Ereignis hat mir acht Tage lang keine Ruhe gelassen; Erdbeben, Überschwemmungen, feuerspeiende Berge sind in meinen Augen nichts gegen solche Eruptionen des menschlichen Gehirns, die doch.da sie mit der Vernunft absolut nichts zu tun haben, unbeschadet der Zurechnungsfähigkeit mit ihnen zusammenist einerseits der böse Vater, dem die Frau nur eine Sadie ist und ein Gefäß der Lust, wofür er die Strafe des Todes erleidet, anderseits wieder der Dichter selbst und als soldier der einzige Mann seiner Zeit, der würdig ersdieint eines soldien Weibes.

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hängen müssen, und ich gelange nicht eher zum Frieden mit mir selbst, ja mit der Menschennatur überhaupt, als bis ich sie mir auf irgendeine Weise moralisch auflösen kann.« Und an Dingelstedt ähnlich: »Mich hat selten etwas mit solchem Ekel erfüllt!« Woher dies Übermaß von Abscheu, noch dazu für eine Tat an einem fremden Herrscher? Dies wird nur verständlich, wenn wir uns erinnern, daß der Landesvater ganz regelmäßig beim Neurotiker wie Gesunden Vertreter des eigenen Vaters wird und der Mordversuch am König einen alten Kindheitsgedanken Hebbels selber realisiert hatte. Je schärfer er seine bösen Regungen wider den Vater später unterdrückte, desto heftiger wurde die Reaktion, der Abscheu und Ekel vor dem Attentäter, der solche Phantasien zur Wirklichkeit machte. Ich glaube vorstehend aufgezeigt zu haben, wie ich mir eine Befruchtung der Literaturkritik und der Lebensbeschreibung durch die Ergebnisse der psychoanalytischen Forschung denke. Mich dünkt, einem jeden, den nicht eigene Komplexe von allem Geschlechtlichen fernhalten, wird klar geworden sein, welch eine Fülle von neuen Erkenntnissen und neuem Verständnis die Methoden der modernen Nervenheilkunde da zu bieten haben.

HANNS SACHS

Die Motivgestaltung bei Schnitzler Die folgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch als Beitrag zur Künstlerpsychologie zu gelten. Ich habe es mir - von einer Ausnahme abgesehen - nicht gestattet, von den Resultaten der Psychoanalyse Gebrauch zu machen und mich darauf beschränkt, ihre Anschauungsweise anzuwenden. Durch diese Methode läßt sich zwar kein neues Verständnis des künstlerischen Schaffens gewinnen, aber vielleicht eine wichtige Vorarbeit dafür leisten; es soll damit der Beweis erbracht werden, daß im Schöpfungsakte des Künstlers, wie sonst im Seelenleben, alles, das Kleinste wie das Größte, dem Gesetze der Determination unterworfen ist. 85

Eine Abzweigung vom »Weg ins Freie« Es ist dem Dichter nicht möglich, den Kreis zu durchbrechen, den seine Pläne und Entwürfe um ihn gezogen haben. Wonach er auch greifen mag, in seiner Hand verwandelt es sich wieder in eines seiner Grundmotive; ihm ergeht es wie jenem Tankred im »Befreiten Jerusalem«, der die Geliebte verwundet, wenn er einen Ast vom Baume schlägt, weil es sein Schicksal ist, ihr überall und in allen Dingen zu begegnen. Wie vergeblich das Bemühen bleibt, über seinen Schatten zu springen, läßt sich an dem großen Roman Schnitzlers »Der Weg ins Freie« gut erweisen. Es ist kaum anzunehmen, daß er die bewußte Absicht hatte, in den beiden Literaten des Buches, Bermann und Nürnberger, sein eigenes künstlerisches Porträt zu zeichnen, durch ihre Pläne und Werke sein eigenes Programm für die Zukunft mitzuteilen. Es darf nicht einmal für sicher gelten, daß er seine künftigen Stoffe damals schon gewählt hatte, um so reizvoller ist es, ihnen in der ersten Gestalt zu begegnen - früher vielleicht als der Dichter selbst - und ein Stück seiner Arbeitsmethode zu erraten. Die politische Komödie Bermanns und ihr Versuch, gegen beide Parteien gerecht zu sein, der daran scheitert, daß der Dichter innerlich beiden Parteien Unrecht gibt, ist in »Professor Bernhardi« unschwer wiederzuerkennen. Der ablehnende und ironische Ausgang des Stückes, der viele nicht befriedigt hat, erklärt sich aus der Selbstkritik, die der Dichter durch seine Geschöpfe an sich üben ließ. Gleichzeitig sind in »Professor Bernhardi« die Grundlinien von Nürnbergers Roman aufbewahrt geblieben: » . . . und zum Helden seines Buches hatte er einen tätigen und braven Mann gewählt, der ... auf der Höhe Überblick und Einsicht gewann und ... ins Leere hinabstürzte.« Schnitzler hat dem einen Autor die Tendenz, dem anderen den Aufbau seines Werkes leihen müssen, oder richtiger gesagt, als er daran ging, sein Werk zu schaffen, hatte er die Teile schon da und dort ausgestreut. Schöpfen heißt nur auf finden und einsammeln, was schon längst seelisch vorhanden war, und es zu neuen und gemäßen Formen zusammenfügen. So liegt auch in dem Opernstoff Heinrich Bermanns schon der Keim zum »Medardus«. Ein Hauptmotiv, das mißlungene Attentat, der von einem schwärmerischen Jüngling gegen einen gehaßten und bewunderten Tyrannen vergeblich erhobene Dolch, ist beiden gemeinsam. Gemeinsam auch die Unklarheit der Motive, aus denen der Entschluß reift, im Entwurf kennt sie der Dichter selbst noch 86

nicht recht und verspricht sie nachzutragen, in der Tragödie sind sie dem Helden so wenig bewußt, daß er sie erst aus dem Munde eines anderen erfährt. Gemeinsam ist ferner die Begnadigung, die der durch den Anschlag bedrohte Herrscher hier wie dort dazu benützt, um mit Menschenseelen und Schicksalen zu experimentieren, auf die er von seiner Höhe ungerührt hinabsieht. Ähnliche Motive, wie sie den König leiten, der den Jüngling »aus einem Tag, wie ihn noch kein Sterblicher genossen, ins furchtbarste Dunkel stürzen« will, vermutet Medardus bei Napoleon, um das zuvorkommende Benehmen des Kerkermeisters zu erklären: »Nein, eine Verschärfung bedeutet es. Es soll mich um so furchtbarer treffen. Sie war seine Geliebte, Etzelt! Er rächt sich! .. . Das ist es.« Beidemal wird die Begnadigung zurückgewiesen und der Held wählt freiwillig den Tod. Gemeinsam ist schließlich die Prinzessin, die dem Helden geheimnisvoll, bald als hingebende Geliebte, bald als Feindin und Mörderin entgegentritt. Im Entwurf wird dieser Zwiespalt nur auf äußerliche Weise, durch die seltsame Lage des Helden begründet, in der Tragödie gehen Wonne und Gefahr, Liebe und Haß von den Bewegungen ihres Innern aus, wenn ihr Empfinden und Handeln sich nicht völlig zu einer Persönlichkeit zusammenschließen will, so kann das vielleicht dadurch begründet sein, daß ihr die Seele erst eingehaucht wurde, als es die Gesetze der Komposition verlangten. Der Dichter hat dasMotiv,das ihn im Roman nur beiläufig zu beschäftigen schien, in seine Tragödie aufgenommen. Ob er sein altes Eigentum bei der zweiten Verwendung wiedererkannte oder neues zu erfinden wähnte, darf uns hier nicht kümmern. Unsere Untersuchung gilt nur der einen Frage: Läßt sich eine Gesetzmäßigkeit in dieser Wiederkehr der Motive vermuten und welche Mechanismen der Entstellung und Veränderung sind dabei tätig? Aus der Phantasiegestalt des Königs, der in seiner ungeheuren Wachheit die Menschen zwischen Dämmerung und Dunkel hintaumeln sieht, ist eine höchst reale Person, eine Figur der Weltgeschichte geworden: Napoleon I. Mit unfehlbarer Divination hat der Dichter die Stimmung, die diesen Namen umwittert, herauszufinden, festzuhalten und zu vertiefen gewußt; seine geheimnisvolle Wirkung, die das ganze Stück durchzieht, läßt die Umrisse eines übermenschlichen geistigen Antlitzes ahnen, so etwa wie Bermann sie bilden wollte. Von größter Einsicht zeigt es, daß der Träger des Namens nie han87

delnd die Szene betritt; solche Gestalten gleichen, im Drama verwendet, dem Riesen aus dem »Märchen« Goethes, dessen Schatten ungeheuere Kräfte hat, während sein Leib nicht die kleinste Last zu heben imstande ist. Das Auffälligste im Geschicke des Ägidius: höchste Lust genossen von einem, der weiß, daß er dem Tode geweiht ist, ging auf den jungen Medardus nicht über. Wir werden später sehen, daß es sich hier um eines der allertypisdiesten Motive Schnitzlers handelt, das er leicht aufgreifen und wieder fallen lassen konnte, da es sich seiner formenden Hand stets bereitwillig darbot. Auch im Medardus klingt es in jener Szene mit dem Kerkermeister und auch sonst an mancher Stelle an, seine Ausgestaltung mußte diesmal geopfert werden, weil das Ganze einem ursprünglich fremden Zusammenhang eingefügt wurde. Der versuchte Dolchstoß ist im »Medardus« nicht mehr das erregende Moment, aus dem sich die Handlung entwickelt, sondern ein letztes Aufflackern vor dem Ende. Nicht nur an die Stelle des Königs tritt Napoleon, er übernimmt gleichzeitig die Rolle des begünstigten und besitzenden Rivalen, so daß er den Vater und Verlobten des Entwurfes in einer Person vereinigt. Dagegen hat der Vater der Prinzessin Helene eine deutliche Verwandtschaft mit dem Bräutigam Heliodor, da beide hart ans Narrentum streifen, auch den Herzogstitel und vor allem den Cäsarenwahn miteinander teilen. Für den wirklichen Verlobten, den Marquis, bleibt wenig mehr übrig, die wesentlichen Züge hat er seinem Oheim abgetreten und muß nun ziemlich farblos durch die Handlung wandeln. Im »Weg ins Freie« berichtet Heinrich Bermann von den Phantasiebildern, mit denen er sich auf seiner Ferienreise umgeben hatte. »Da entwickeln sich dann die allerseltsamsten Beziehungen zwischen den wirklichen und den erfundenen Figuren. Ich könnte Ihnen von einer Unterhaltung berichten, die zwischen meinem verstorbenen Großonkel, der Rabbiner war, und dem Herzog Heliodor stattgefunden hat, wissen Sie, mit dem, der sich in meinem Opernstoff herumtreibt, eine Unterhaltung, so amüsant, so tiefsinnig wie im allgemeinen weder das Leben noch Operntexte zu sein pflegen ...« Das Wirkungsvolle bei der Gegenüberstellung dieser beiden Figuren ist offenbar der Kontrast der prosaisch philiströsen Wirklichkeit mit den kühnen Linien und abenteuerlichen Horizonten eines aller Banalität entrückten Daseins. Dieser selbe Kontrast ist einer der Tragbalken der Komposition

des »Medardus« geworden, nur der Rassengegensatz, der ihn verstärken hilft, blieb dort unverwendbar und fand erst später in »Professor Bernhardi« seinen Platz, Die Buchhändlersfamilie Klähr und die Wiener Typen, die ihren Bekanntenkreis bilden, auf der einen, die Valois und ihre Gefolgschaft auf der anderen Seite - aus der Unvereinbarkeit dieser Gegensätze entsteht der tragische Konflikt und von hier aus wird er weiterhin ständig genährt. Die beiden für die Handlung selbst ganz unwesentlichen Gruppen sind deshalb so eingehend geschildert, damit sie möglichst stark voneinander abstechen, ohne die Deutlichkeit und Selbstverständlichkeit dieses Abstandes würde das ganze Stück sinnlos. Der Hauptträger des Kontrastes auf der adeligen Seite ist der alte Herzog, den wir als Ersatzmann des Heliodor erkannt haben; sein Gegenspieler, der gegen Pathos und Leidenschaft die Skepsis und vernünftige Unterwerfung unter die Wirklichkeit vertritt, ist der Sattlermeister Eschenbacher — der Onkel des Helden. So hat sich mit erstaunlicher Treue selbst dieses flüchtige Detail, auf das der Dichter gewiß kaum geachtet hat, wieder durchzusetzen gewußt, sobald das Motiv, dem es zugehörte, aufklang. Die Schwäche des Dramas liegt in der mangelhaften Motivierung des ersten Konfliktes. Es läßt sich nicht recht begreifen, warum eine so gütige und klare Natur wie Frau Klähr, auf einer nichtigen Bedingung besteht und ihre Tochter trauern und verblühen läßt, nur weil der blinde und halbnärrische Vater des Geliebten nicht als sein Freiwerber in ihr Haus kommen will. Ein ähnlicher Widerspruch zwischen Charakter und Handlungsweise wird sich wohl kaum in einem zweiten Werk Schnitzlers finden, der in Sorgfalt und Makellosigkeit der Technik entschieden das Musterbild nachIbsensaer Dramatik ist. Wir haben aus unserer Analyse erfahren, daß dieses Kontrastmotiv unsprünglich nur nebenher ging; erst später wurde es mit dem danebenliegenden, aber inhaltsfremden Ägidiusmotiv in Verbindung gebracht. (Übrigens blieb die Verbindung auch äußerlich ziemlich indirekt, denn das eine tritt erst kurz vor Schluß in den Vordergrund, das andere ist nur am Anfang ausdrücklich betont: das Mittelstück, der eigentliche Kern der Tragödie wird von einem dritten Motiv beherrscht, das in einen anderen Zusammenhang gehört.) Wir müssen den Sprung in der Kausalität nicht mehr als Zufall betrachten; er bezeichnet die Stelle, wo es dem Dichter nicht gelang, die ursprünglich fremden Elemente seines Innern bis zum restlosen Ineinanderaufgehen zu vermischen. 89

«Zum großen Wurstel.« Schnitzler hat es dem Sammler seiner Lieblingsmotive und -gestalten leicht gemacht. Mit sicherem Griff hat er sie selbst zusammengefaßt und kunstvoll ineinander geschachtelt zur Schau gestellt. Die Burleske »Zum großen Wurstel«, die so entstanden ist, gilt mir als eine seiner reifsten und höchsten Leistungen. Zwei selten vereinte Vorzüge haben zusammengewirkt, um ein ungewöhnliches Ganzes zu schaffen: von der Selbstironie verliehene geniale Leichtigkeit, die den düsteren und tiefen Menschheitsproblemen des Dichters ihr Gewicht nimmt und sie in ausgelassenem Narrentanz herumwirbelt, und sorgsamste Technik, die in wenigen Zeilen, mit den knappsten Wendungen, eine Fülle von Charakteren und Situationen auszuschöpfen weiß. Der Direktor des Marionettentheaters legt die Absicht des Werkes, wenngleich im Stil des Praterausrufers, deutlich genug dar: »Ein Theater, welches fürderhin jeglichen Theaterbesuch endgiltig überflüssig zu machen geneigt und anvertraut ist. Denn eine Betrachtung oder selbst Besichtigung des Theaterzettels beweist, daß hier für jegliches dramatische Bedürfnis des geehrten Publikums in vollem Maß gesorgt und vertreten ist.« Dramatische Motive in unpersönlicher Allgemeinheit zusammenzufassen ist ein für den Dichter unlösbares Problem; wieviel von dem, was Scbnitzler gestaltet hat, in dem kleinen Marionettendrama wiederkehrt, wird eine kurze Untersuchung ergeben. Die Anfangssituation zeigt uns den Helden zwischen zwei Frauen stehend: das süße Mädel, das ihm Blumen bringt und harmlos beglückende Zärtlichkeit schenkt, und die dämonische Frau, für die er im Duell mit ihrem Gatten fallen soll, obgleich sie ihm nichts bedeutet. Der Konflikt der »Liebelei« ist unverkennbar, nur daß in parodistischer Zuspitzung der Held die Frau nicht einmal kennt, für die er sterben muß. Auch diese Ubertreibung ist nicht völlig neu: Im »Tagebuch der Redegonda« büßt Dr. Wehwald seine bloß geträumten Wonnen mit dem Tod von der Hand des Gemahls der Unbekannt-Geliebten, während ein anderer sie entführt. Als Nebenmotiv kehrt dieselbe Situation im »Zwischenspiel« wieder; dort hat der Graf die unangenehme Eigenschaft, die Verhältnisse seiner Frau erst zu entdecken, wenn sie vorbei sind. Amadeus wird durch die Sorge Cäciliens davor bewahrt, sich für eine längst Vergessene schlagen zu müssen, wie sein Vorgänger, der Maler, von dem Al90

bertus Rhon sagt: »Da wäre ein junger Mensch um ein Haar umgebracht worden, wegen einer Sache, die längst vorbei ist... Weißt Du was mir eigentlich leid tut, in höherem Sinn? Daß der Maler kein Genie ist und der Graf ihn nicht wirklich erschossen hat. Da läge was großartig Tragikomisches in der Sache.« Ähnlich wird Friedrich Hofreiter von der Rache Natters erst getroffen, nachdem ihm dessen Frau gleichgiltig geworden ist. Die Liebenden nehmen Abschied, für kurze Trennung nach Liesls Meinung; der Held weiß, daß es für ewig ist. Ebenso hofft der Freiherr von Leisenbohg, da er aus Klärens Armen kommt, auf ein ungetrübt glückliches Beisammensein in naher und ferner Zukunft und ahnt nicht, daß sie nur mit der Absicht, sich ihm für immer zu entziehen, die Seine geworden ist. Auch Frau Berta Garlan hält die Nacht, die den Abschied von dem Jugendgeliebten und der Jugend bedeutet, für den Beginn einer neuen Liebeszeit. Schwache Ausläufer lassen sich hier nicht minder aufzeigen. Im »Weg ins Freie« zum Beispiel ist es Oskar Ehrenbergs Amy, die nicht weiß, daß der lustige Abend im Prater der letzte ist, den sie mit ihm verlebt und Bermann, der sich den Abschiedstag in Erinnerung ruft »und seine Ahnungslosigkeit, daß alles dieses zum letztenmal wäre«. Die rein lyrische Verwertung findet sich in dem Gedicht »Anfang vom Ende«: »und daß ich längst Abschied von Dir genommen, mein Mädel, - du weißt's ja nicht.« Der ernste und der heitere Freund sind deswegen parodistisch wirksam, weil sie gemeinsam die Bühne betreten, da doch sonst in jedem Stück nur für einen von beiden Platz ist: dem Helden steht entweder ein ernster Berater zur Seite wie Etzelt und der Arzt im »Ruf des Lebens« oder einer, dessen Aufgabe es ist, ihm und dem Stück etwas Heiterkeit mitzuteilen, wie Theodor in der »Liebelei«, Florian Jackwerth in den »Letzten Masken« und der Dichter Albertus Rhon im »Zwischenspiel«. Die beiden Sekundanten sind Rivalen des Helden, etwa wie Friedrich Hofreiter für sein Duell sich die zwei Männer zu Helfern wählt, denen er das Weib, das sie liebten, weggenommen hat und in der Novelle »Der Mörder« Alfred Adelens Bräutigam zum Sekundanten nimmt. In den Abgangsworten deutet der Dichter auf die Art, aus den Episoden eines Werkes die Handlung der späteren zu entwickeln, die wir schon als seine eigene Arbeitsmethode kennen gelernt haben. Die Herzogin von Lawin bringt mit ihrem Verführungsversuch in das Stück jenes bevorzugte Motiv der durch das Wissen von der

Unabwendbarkeit des nahen Todes vertieften letzten Lust, das wir als den Kern des Ägidius-Stoffes schon gestreift haben. In der Fassung des Opernplanes tritt die innere Verwandtschaft des Motivs mit dem Liebestod Tristans, die in anderen Gestaltungen kaum erratbar ist, auch in äußeren Zügen hervor, in beide rauscht als Symbol der Unendlichkeit und des Todes das Meer hinein, so daß die Meerfahrt ihnen zum wesentlichen Stimmungs- und Handlungselement wird: Wie im ersten Akt des »Tristan« führt den Ägidius ein Schiff gemeinsam mit einer, die ihm bald Mörderin, bald Geliebte ist, dem Verhängnis entgegen und sein Tod hängt wie im letzten Akt an der Landung eines Schiffes. Daß im »Weg ins Freie« die Tristan-Partitur und die Schilderung einer Tristan-Vorstellung Platz gefunden haben, ist also keineswegs zufällig. Die vollständige Analyse eines Kunstwerkes müßte uns zeigen, daß die Willkür bei der Komposition überhaupt keine Rolle spielt und die bewußte Wahl eine sehr geringe. Wenn wir zu den weniger rein ausgeprägten Formen unseres Motivs niedersteigen, finden wir schon eines der frühesten, »Sterben«, unterirdisch davon durchzogen. Die Schilderung, wie für den, der sein Todesurteil erfahren hat, die letzten Züge aus dem Becher des Lebens veränderten Geschmack bekommen, ist der eigentliche Vorwurf der Erzählung. Später erwächst aus demselben Boden die Gestalt der Katharina im »Ruf des Lebens«, die sich der Liebe nicht ersättigen kann, seitdem sie ihr Grab so nah vor sich sieht. In der Novelle »Die Fremde« weiß Albert, daß ihn seine Braut nach kurzem Glück verlassen wird und findet »in dem festen Entschluß, dann die Welt zu verlassen, den einzigen Halt«. Herr von Sala fordert von seinem Arzt, daß er ihm nicht durch Verheimlichung den Genuß seiner Todesstunde »wegeskamotiert«. Wenn Etzelt mit Bitterkeit ausruft: »Du wärst meinethalben in den Armen der Prinzessin nie wieder aufgewacht!« so scheint er einer geheimen Sehnsucht seines Freundes, die von diesem Ausweg träumte, Worte geliehen zu haben, denn Medardus erwidert »vor sich hin«: »Kein übler Wunsch, Etzelt, kein übler Wunsch.« Im »Schleier der Beatrice« steht das Motiv wiederum im Mittelpunkt. Aus dem Bewußtsein heraus, daß ihm und den Seinen der nächste Morgen den unentrinnbaren Untergang bringen muß, erhebt der Herzog Bentivoglio die unbekannte Schönheit, die Handwerkerstochter, zu seiner Gemahlin und lädt die blühende Jugend seiner Stadt zur Hochzeitsfeier. Das Fest wird zur Orgie, weil die ganze Stadt ihm nachfolgt

und sich in Rausch und Taumel einer höchsten Lust für den Tod weiht. Im »großem Wurstel« erhält dieses letzte Glück noch eine besondere Note, weil es durch eine Frau gewährt wird, die sich darauf kapriziert, nur einen Todgeweihten zu lieben. Auch dies hat sein ernstes Vorbild in der Kurtisane Lucretia, die ihren Schwur ausführt und nach der Liebesnacht den Jüngling, dem sie angehört hat, tötet. An diese reiht sich wieder die Tat der »Frau mit dem Dolch« an. Wie die Herzogin von Lawin stürzt sich auch Marie im »Ruf des Lebens« in die Arme des Geliebten, von dem sie erfahren hat, daß er dem Tode verfallen ist. Der Herzog, der nun die Szene betritt, ist eine amüsante Karikatur der Gestalt des vollkommenen Verführers, wie sie Schnitzler manchmal zu zeichnen liebt. Die dämonische Unwiderstehlichkeit eines Herzog von Cadignan im »Grünen Kakadu« oder Herrn von Sala mußte sorgfältig von jeder Beimischung von Schwerenötertum rein gehalten werden. Hier und im »Tapferen Cassian« hat sich der Dichter entschädigt, indem er ins entgegengesetzte Extrem übersprang. Durch den Selbstverrat Liesls erfährt der Held unvermutet, daß sie den Herzog geliebt hat, so wie Meister Cyprian aus dem eigenen Mund seiner Frau das Geständnis ihrer tiefen Neigung zu Paracelsus vernehmen muß, auch Filippo Loschi hört aus den Worten der nichtsahnenden Beatrice, daß er ihre Seele nicht mehr ganz besitzt. Ironisch verwendet ist die Situation in der Anatol-Szene »Die Frage an das Schicksal«, wo der Eifersüchtige aus Angst vor einer vollkommen wahrhaftigen Antwort darauf verzichtet, die Frage an die Geliebte zu stellen. Der Held weist die angebotene Versöhnung zurück und fordert nun selbst das Duell und damit den sicheren Tod von der Hand des Gegners. Ganz das Gleiche haben wir Ägidius und Medardus tun sehen, deren Attitüde hier wiederholt — oder vorausgeahnt — wird. Es folgt eine aufs äußerste verkürzte Wiedergabe der Abschiedsszene zwischen Filippo und Beatrice, deren parodistische Wirkung eben auf der Abbreviatur beruht. Statt der vergeblichen Versuche des Dichters und des Herzogs, das Seelengeheimnis Beatricens zu ergründen, erhalten wir die bündige Selbsterläuterung Liesls: »Es war halt so schön! Es ist meine Natur.« Wie Filippo will der Held durch den gemeinsamen Tod die Untreue entsühnen. Das Schwanken Beatricens zwischen Lebensgier und Hingabe ersetzt Liesl durch 93

die unzweideutige Absage: »Nein, fällt mir nicht ein — ich bring' mich nicht um«, auf die prompt Ekel und Verstoßung folgen. Der als Vater der Verlassenen erscheinende düstere Kanzlist ist eine Karikatur des Herrn Rosner, der auch von der trübseliggrauen Amtsatmosphäre umgeben ist und einen wenig erfolgreichen Versuch macht, von dem »Verführer« seiner Tochter Rechenschaft zu verlangen. Mit seinem sinnlosen Gebelfer bildet er das Gegenstück zu dem gütig-weisen Vater aus der »Liebelei«. Ganz neu ist nur die »soziale Note« in seiner Rede, denn ihr ist Schnitzler stets fremd geblieben; er läßt sie auch hier durch seinen Helden mit verächtlicher Geste beiseite schieben. Der Vetter von Brackenburg, der gar nicht begehrt, der Erstgeliebte zu sein, wenn er nur der letzte bleiben darf, ist eine typische Figur der neueren Literatur. In der »Liebelei« bleibt der Cousin Binder, der Typus solcher »Männer, die nichts glauben«, hinter den Kulissen, dagegen hat ihn Schnitzler mit besonderer Delikatesse im »Freiherr von Leisenbohg« behandelt. Auch hier gibt es eine Gegensatzfigur, den Dr. Berthold Stauber im »Weg ins Freie«, der sich absolut nicht in die Rolle Brackenburgs finden kann. Der Held, der eben noch von Liebe und Haß, Neid und Hingabe umglüht war, bleibt plötzlich allein; mit einem Schlage wenden sich alle von ihm ab und lassen ihn ohne menschliche Beziehung zurück. Auf diesen Grundton sind alle drei Stücke der Puppenspielerserie gestimmt. Die Helden der beiden anderen Einakter, Georg und Martin, erleiden dasselbe Schicksal; sie werden in die Einsamkeit ausgestoßen, weil sie die Liebe, die ihnen entgegenkam, zum Spiel ihrer Eitelkeit mißbraucht hatten. Zum Schluß greift das Marionettenstück auf die Theaterbühne über und von dort aus, alle Schranken der Illusion durchbrechend, auf die Zuschauer selbst, bis durch das spöttische Drohwort der Rätselgestalt Spiel und Täuschung vollkommen aufgehoben werden und jeder einzelne sich unvermutet Äug* in Äug' mit der Wahrheit sieht. Damit ist der Gipfel erreicht und da mit den Worten des Direktors »die Bühne, das Abbild des Erdentreibens, auch Spiegel der Welt« sein soll, muß gleich wieder der Tageslärm einsetzen und in seiner bunten Scheinwichtigkeit fortgehen, als wäre nichts geschehen. Das Zusammenfließen von Wirklichkeit und Schein, Traum und Erlebnis ist ein Problem, das auf Schnitzler von je die stärkste Anziehung geübt hat. Die Stellen aufzuzählen, wo er sich damit beschäftigt, ist wohl unnötig. Die Grenzverwischung zwischen 94

Bühne und Lebensernst ist ein Sonderfall dieses Problems, den er schon einmal im »Grünen Kakadu« mit höchster Meisterschaft behandelt hat. Die komisch-parodistische Wirkung des Marionettenspieles beruht vor allem darauf, daß trotz Bewahrung der dramatischen Form alle technischen Regeln des Dramas auf den Kopf gestellt werden. Die Handlung geht ohne Rücksichtnahme auf die retardierenden Elemente geradewegs auf ihr Ziel los wie eine Pistolenkugel. Jede Person des Stückes teilt ohne Umschweife alle ihre Absichten und Vorsätze mit. Dadurch werden dem Dialog alle Ausbeugungen vom Persönlichen ins Allgemeine unmöglich gemacht, die für das moderne »Problemstück« — das der »große Wustel« parodiert - das Wichtigste sind. Der technischen Schwierigkeit, derlei einzufügen, ohne den Anschein zu erwecken, daß den handelnden Personen die kritischen Erörterungen mehr am Herzen liegen als ihr eigenes Schicksal, wird absichtlich durch das plumpste Auskunftsmittel begegnet und dieses noch ins Groteske verzerrt. Der »Räsonneur«, dem die ganze Weisheit in den Mund gelegt wird, ist in die Handlung kaum je völlig einzuflechten; im Puppenstück steht er ihr vollkommen ferne, »er kümmert sich um niemanden und niemand kümmert sich um ihn.« Jeder Auftretende erläutert nicht nur seine Pläne, sondern auch seinen Charakter und Aufgabe, die ihm demgemäß in der Handlung zufällt, so daß für die indirekte Charakteristik - den Kernpunkt aller dramatischen Technik - gar kein Platz mehr bleibt. Mit einer Offenherzigkeit, die dem Zuschauer nicht mehr zu erraten übrig läßt, geben die Figuren gelegentlich auch Winke über den literarischen Stil, den sie repräsentieren; so tröstet sich der Held damit, daß er in eine moderne Truhe gehöre, während der alte Kanzlist mit seiner sozialen und moralischen Anklagestellung aus einer uralten Schachtel stammt. Hinter dieser Ausgelassenheit, die in der Auflehnung der Marionetten gegen den Dichter gipfelt, steckt allerdings ein Stück wehmütigen Verzichtes. Wer mit Marionetten spielt, der braucht sie nachher nur in die richtigen Schachteln des Literaturstils, aus denen er sie genommen hat, wieder zurückzulegen, von anderen Sorgen bleibt er frei. Der Dichter, der danach strebt, lebende Menschen zu gestalten, muß immer fühlen, daß ihm ihre Persönlichkeit nicht in der ganzen Fülle und Tiefe, wie sie sich zwischen Geburt und Tod ausbreitet, zugänglich wird, sondern nur innerhalb des kleinen Be95

zirkes der von ihm erfundenen Handlung. Alles was vorher und nachher geschieht, bleibt ihm rätselhaft, denn er kann seine Handlung nicht nach Willkür wählen, um bald dies, bald jenes Stück Menschenlaufbahn zu überblicken; mit unsichtbaren, aber unauflöslich festen Banden ist er an bestimmte Motive gekettet, die ihm die Möglichkeiten der Erfindung begrenzen. Es mag ihm wohl scheinen, als wollten die von ihm gezeugten Gestalten ihres Schöpfers spotten, wenn sie sich seiner schaffenden Phantasie nicht mehr fügen wollen, ja, seinen Händen entgleitend ins Wesenlose verschwinden, sobald er es versucht, sie über den Kreis hinaus, der ihm gegönnt ist, zu verfolgen. Diese Beschränkung in der Motivwahl, die für uns die Charakterlinien der künstlerischen Persönlichkeit ergibt, bedeutet für den Künstler die Grenze, die auch der reichsten und tiefsten Natur gezogen ist. Der Giftbecher Es kann nicht bedeutungslos sein, wenn in den Phantasien eines Dichters eine bestimmte Episode stets wiederkehrt. Nicht das kommt für uns in Betracht, ob sie in seinem Schaffen und Denken einen hervorragenden Platz einnimmt; mag sie ein noch so unbedeutendes Requisit der Handlung sein, wenn sie sich nur immer wieder durchzusetzen weiß, immer wieder dort zum Vorschein kommt, wo es der Gang der Ereignisse gestattet, werden wir doch vermuten, daß sie irgendeinmal eine dominierende Rolle im Seelenleben gespielt hat, etwa wie wir daraus, daß sich ein bestimmtes Götterbild bei der Ausgrabung einer antiken Stadt in zahlreichen kleinen Wiederholungen findet, schließen können, daß die dargestellte Gottheit an diesem Orte einst allgemeine Verehrung genoß. Die führende Stellung hat eine solche Episode - oder die Phantasie, der sie angehörte - offenbar längst verloren. Aber ins Nichts aufgelöst hat sie sich darum doch nicht: sie wartet in der Tiefe, bis die Gelegenheit zu ihrer Verwendung kommt, und niemand kann ermessen, ob es nicht ihr geheimer Einfluß ist, der die Gelegenheit herbeiführen hilft, d. h. ob bei dem Aufbau der Dichtung, wenn er gleich ganz anderen Zielen zustrebt, unbewußt auf die Möglichkeit sie einzufügen Rücksicht genommen wird. Solche Episoden zu verfolgen, kann wohl der Mühe wert sein. »Nur eines Griffes von seinem Finger hätte es bedurft, das Glas umzustoßen, das bläulich vom Tischchen herüberschillerte und die 96

Gifttropfen wären, ein harmloses Naß, in die gleichgiltigen Dielen versickert. Aber Alfred lag regungslos und wartete. Er wartete, bis er endlich, mit stillstehendem Herzen, einer ihm wohlvertrauten Bewegung Elisens gewahr wurde, die mit halbgeschlossenen Augen ihre Hand nach dem Glase ausstreckte, um, wie sie immer vor dem Einschlafen tat, ihren letzten Durst zu stillen.« So wird in der Novelle »Der Mörder« das Gift gereicht. Ganz ebenso vergiftet im »Ruf des Lebens« Marie ihren Vater, indem sie eine tödliche Dosis des Schlafmittels in das Glas schüttet, das er vor dem Einschlafen leert. In »Lebendige Stunden« geht die Mutter Heinrichs freiwillig aus dem Leben und sucht - wie jene beiden Mörder - einen natürlichen Tod vorzutäuschen. »Man trinkt das Morphiumflascherl aus, in der Früh wird man tot im Bett gefunden.« Dieselbe Art zu sterben hat wohl Frau Mathilde in »Die griechische Tänzerin« gewählt, die alle für das Opfer eines Herzschlages halten; nur der eine, der sie ohne Glück geliebt hat, ahnt, daß sie dem untreuen Gatten, für den sie gestorben ist, noch die Gewissensbisse wegen ihres Selbstmordes zu ersparen suchte, wie die Hofrätin ihrem Sohn. Im »Schleier der Beatrice« läßt Filippo seine Geliebte glauben, er habe ihr heimlich Gift ins Glas gegossen, wie es Alfred im »Mörder« tut, um sie zu erproben, ehe er mit ihr in den Tod geht. Ein letzter, humoristischer Ausläufer dieser Vergiftungsepisode ist die Idee des Albertus Rhon im »Zwischenspiel«: »Du beschenkst mich mit einem Schluß zu unserem gestrigen Stück. Ich danke. Der ist mir zu abgeschmackt — den glaubt kein Mensch. Ich habe einen viel besseren: Du wirst vergiftet - ja. Und weißt du, von wem? ... Von einer ganz neuen Figur: einem dir unbekannten Liebhaber deiner Frau.« Fast überall finden wir, soweit die Details überhaupt ausgeprägt sind, zwei gemeinsame Hauptmerkmale: Daß das Gift im Schlaftrunk genossen wird und die Absicht, einigen oder allen ein natürliches Ende vorzutäuschen, gelingt. In den meisten Fällen wird das Gift von dem Geliebten dargereicht, sei es nun direkt oder so, daß er nur der Anlaß, nicht der Täter ist. Zweimal sterben Eltern durch die Kinder, einmal ein Vater von der Hand der Tochter, einmal eine Mutter für ihren Sohn. Wir dürfen uns nicht in Vermutungen verlieren, welche Gestalt die ursprünglichste war; es ist sehr möglich, daß keine von diesen darauf Anspruch erheben kann, daß jede nur ein Stück aufbewahrt und alles übrige entstellt hat. Die Gewißheit, die wir aus diesem Material gewinnen können, reicht nur soweit wie die Ubereinstim97

mungen. Um das andere zu erschließen, müßten wir ein Stück Kenntnis einsetzen, das nicht aus der Literatur geschöpft worden ist. Was ist die Liebe, sag? Zwei Seelen und ein Gedanke, Zwei Herzen und ein Schlag.

Kann der Trieb, der den Menschen bewegt, sich aufzugeben, sein Schicksal an die Gefühle eines anderen zu ketten, jemals völlige Befriedigung finden? Kann es gelingen, dauernd alle Winkel und Heimlichkeiten einer fremden Seele zu durchdringen und sich selbst ihr ebenso völlig aufzutun? Nur die flachste Schönfärberei, die den Blick in die eigenen Seelenkämpfe scheute, konnte diesem geträumten Ziel aller Liebe irdische Wahrheit und Verwirklichung leihen. Die tiefen und schöpferischen Geister haben von Plato an, der seinen Sokrates sich der Gabe berühmen läßt, überall einen Liebenden und einen Geliebten zu erkennen, bis zu Dostojewsky ein unerbittliches Nein gesprochen. So gleichmäßig ihre Antwort klang, so verschieden war die Begründung; wer sie aus ihren Werken herauszulesen vermag, ist der wesentlichen Wurzel ihrer Persönlichkeit in der Erkenntnis ein bedeutendes Stück näher gekommen. Die Erklärung, die Poeten und Philosophen am häufigsten geben, schreibt der grundsätzlichen Verschiedenheit der beiden Geschlechter in dem, was ihnen die Liebe bedeutet, die Schuld zu. Je tiefer und wahrer die Neigung ist, desto deutlicher wird sich in ihr die Grundart des eigenen Geschlechtes bei beiden Liebenden offenbaren; statt sich zu vereinigen, müssen sie immer deutlicher die Tiefe des Abgrundes fühlen, der sie auseinanderhält, und nach der kurzen Seeligkeit des Findens einander für alle Zeiten verlieren. Seltener findet sich eine zweite Deutung, die mit der ersten übrigens sehr wohl vereinbar ist. Sie geht davon aus, daß die Liebe als eine recht komplizierte Angelegenheit gelten darf; da sie die ganze, vielfältig gespaltene Persönlichkeit des Menschen umfassen und ausfüllen kann, muß sie wohl von allen Kraftquellen her, die in seiner Seele entspringen, von allen seinen Instinkten und Trieben Unterstützungen an sich gezogen haben. Hinter der Zärtlichkeit stehen die anderen, minder geistigen Anteile des Geschlechtstriebes, dann aber auch Herrschsucht und Eitelkeit, Selbstopferungs- und Unterwerfungslust und vieles andere. Bis zu diesem Punkt vermag auch die gewöhnlichste Beobachtungsgabe leicht mitzugehen. Was aber nur die wenigen »Kenner der Höhen und Tiefen« ausgespro98

dien und gestaltet haben ist die Tatsache, daß sich mit der Liebe auch ihr vollkommenes Gegenteil gerne verschwistert: der Haß. Daß Liebe und Haß, nicht eines dem anderen nachfolgend oder miteinander abwechselnd, sondern gleichzeitig und miteinander hausend, in einer Brust wohnen können, scheint der vollkommenste Widerspruch. Wo geniale Schöpferkraft einen Zwiespalt dieser Art in einer Gestalt verkörpert hat, da entstanden jene Rätselwesen wie Hamlet und Penthesilea, an deren Verständnis der Witz der Ästhetiker und Psychologen verzweifelt. Wer freilich gelernt hat, mit dem bewußten auch ein Stück vom unbewußten Seelenleben zu sehen, weiß, daß Liebe ohne Haß, Haß ohne Liebe weit seltener anzutreffen sind als beide verbunden, wenn auch meist nur einer von ihnen sich im Licht des Bewußtseins sonnen darf, während der andere in der Tiefe wirkt und harrt, ob nicht einmal die Stunde seines Aufstieges komme. In solchen Fällen sind die beiden Affektgegensätze zwar in einer Person vereinigt, aber durch die Schranke, die zwischen Bewußtem und Unbewußtem aufgerichtet ist, hinreichend geschieden, um den Zustand erträglich zu erhalten; nur wenn eine äußere oder innere Veränderung dem Verdrängten den Weg zur Herrschaft freizumachen scheint, beginnen die Kämpfe und Konflikte. In jenen selteneren Fällen, wo die beiden unversöhnlichen Gegner ganz oder teilweise bewußt geblieben sind, ist Friede und Ruhe verloren. Ein unaufhörlicher Kampf reißt den Unglücklichen zwischen zwei Extremen hin und her, so daß er sich und den anderen in seinem Fühlen unverständlich, beinahe entrückt scheint. Zwei Ausgänge sind möglich: Entweder der eine Kämpfer erweist sich überlegen und verdrängt den anderen vom Schauplatz oder die Natur verweigert ihre wohltätige Hilfe und dann bleibt nur die letzte dunkle Zuflucht offen, hinter deren Tore keine innere Zwietracht folgen kann. Dieses zweite, tragische Ende hat Schnitzler, der das Ringen zwischen Haß und Liebe zu schildern liebt und oft als Motiv verwendet, seinen jungen Medardus finden lassen, nachdem ihn das Schwanken zwischen Liebe und Haß, die er beide mit gleichem Feuer für die Prinzessin empfindet, aus allen menschlichen Beziehungen herausgerissen und vom Helden zum Narren entwertet hat. Wohl niemals vorher wurde das Problem dieses Zwiespalts mit so viel Klarheit angeschaut, mit so viel Unerschrockenheit durchgeführt. Aus dem ersten Ausbruch des Hasses tönt schon die mitge99

borene Liebe heraus und wo immer dann das eine von beiden Gefühlen das Wort führt, klingt das andere, bald stärker, bald schwächer mit. Diese »Ambivalenz«, wie der von Bleuler eingeführte Fachausdruck unserer Wissenschaft lautet, steckt im Keim schon im Ägidius-Stoffe, wo sie zunächst dem Vater der Prinzessin gilt. »Ägidius muß sich natürlich für gerettet halten. Er wundert sich nicht übermäßig, denn sein Haß gegen den König war immer sehr von Bewunderung unterzündet.« Wir haben schon davon gesprochen, daß auch die Prinzessin ein Doppelantlitz zu führen beginnt. Was dort unbestimmt aufdämmerte, ist im Medardus als Hauptmotiv in die Mitte der Handlung getreten. Nach diesem Punkte streben alle Fäden zusammen: Alles Vorhergehende dient nur als Zündschnur, um diese Mine springen zu lassen, und das jähe, überraschende Ende kommt von hier aus wie der Blitz aus einer Wolke, die den Himmel schon längst verdüstert hat. Das Ineinanderweben von Liebe und Haß hat der Dichter noch ein anderes Mal, in der Novelle »Der tote Gabriel« in den Mittelpunkt gestellt. Hier tritt die liebend-Hassende nur einen Augenblick aus den Schleiern, die ihr Wesen verdecken, hervor, um gleich wieder dahinter unterzutauchen. Der scheinbar kühle und objektive Ton der Erzählung hält das Geheimnis ihrer Seele bis ans Ende fest, das nicht zögernd und schrittweise, sondern in einem Strahl plötzlicher, fast schmerzhafter Klarheit zugleich dem Mann, an dem sie ihr Schicksal erlebt, und dem Leser enthüllt wird. Die schärfste Seelenanalyse eines in Liebe und Haß gegen dasselbe Mädchen Befangenen gibt die Novelle »Der Mörder«. Alfred beginnt seine sanfte und zärtliche Geliebte zu hassen, weil sie ihm als Hindernis einer neuen, ersehnten Verbindung gilt; erst versucht er die Herzkranke durch seine Umarmungen zu töten und, da dies mißlingt, greift er zum Gift. Das Auftauchen des im Unbewußten längst gehegten Todeswunsches als Mordplan, der plötzlich in völliger Durchdachtheit, in allen Details vollendet, vor seiner Seele steht, ist ein schönes Beispiel der intuitiven Einsicht des Dichters in das Walten psychischer Mächte. Aber in all seinem Groll und seinen finsteren Plänen verschwindet die Liebe niemals und selbst nach der äußersten Tat des Hasses denkt der Mörder seines Opfers als »einer unsäglich Geliebten« und empfindet es als Wonne, für sie sterben zu dürfen. Im »Hirtenlied« ist das erste Abenteuer der von ihrem Gatten freigegebenen Dionysia ein feindliches Zusammentreffen mit dem 100

fremden Hirten; sie eilt ihm nach, um ihn zu züchtigen, und ergibt sich ihm doch gleich darauf in Liebe. Ähnliche Episoden ließen sich wohl noch einige zeigen, aber fesselnder ist es, der Wirkung dieses Motives dort nachzugehen, wo es unsichtbar zugrunde Hegt. Die Haltung, die Bermann in »Der Weg ins Freie« gegen seine Geliebte einnimmt, wird erst verständlich, wenn man neben der Liebe und Eifersucht auch unbewußten Haß unter die Motive rechnet. Das »Gefühl der Befreitheit«, das den Baron Wergenthin jedesmal überkommt, wenn er von einer Geliebten Abschied nimmt, dürfte wohl aus der Quelle eines ähnlichen Zwiespalts der Empfindungen stammen. Schon daß die Werke, in denen das Problem bewußt und ausführlich behandelt ist, sämtlich zu den späteren gehören, rechtfertigt den Schluß, daß es in den früheren bereits irgendwie enthalten war. Es kommt in keinem Seelenleben, auch dem des Dichters, durch die Entwicklung etwas Neues hinzu, nur daß bei ihm die Keime zu ihren Möglichkeiten heranwachsen und schattenhaft-flüchtige Linien zu leibhaften Gestalten werden. Menächmen Sthnitzler hat zweimal ein und dasselbe Motiv zum Mittelpunkt eines Werkes gemacht. Der Einakter »Die letzten Masken« und die Novelle »Der Tod des Junggesellen« verkörpern beide den Satz, daß zwischen Leben und Tod jede Gemeinschaft aufhört (»denn Tod und Leben pilgern auf getrennten Pfaden«), durch denselben Stoff. Das Ärgste und Bitterste, der mit der geliebten Gattin an Eheglück und Ehre geübte Betrug, verliert seine Wirkung, wenn der Tod zwischen Betrüger und Betrogene getreten ist. In der später entstandenen Novelle ist das Thema reiner herausgearbeitet: dort fehlt die Beimischung eines dem Motiv fernstehenden und darum störenden Grundes, der dem Sterbenden die Lippen öffnet, wie es der Haß und die Wut des Erfolglosen gegen den Emporkömmling in »Die letzten Masken« tut. Auch ist das Problem weitergeführt, da die Erkenntnis der Vergeblichkeit seines Beginnens in dem Einakter nur dem Sterbenden aufgeht und ihm das Wort von der Lippe zurückdrängt, während in der Novelle die Betrogenen ihr Schicksal erfahren und die gehoffte Wirkung dennoch ausbleibt. Diese Ausarbeitung führte zu einer neuen Konsequenz, denn wenn ein solches Versagen und Wirkungsloswerden wirklich den Wert einer typisch

mensdilidien Erscheinung haben sollte, durfte es nicht bloß Einem begegnen, sondern mehreren, womöglich recht verschiedenen Charakteren. Erst durch diese Vervielfältigung wird der Stoff wirklich ausgeschöpft und so treten an die Stelle des einen betrogenen Ehemannes ihrer drei. Nun ist durchaus nicht anzunehmen, daß der Dichter die Absicht hatte, in der Novelle durch irgendein Detail an das frühere, verwandte Werk zu erinnern. Eher läßt sich das Gegenteil vermuten, etwa aus der völligen Umkehrung des Milieus, durch die aus einer ärmlichen Kammer des Allgemeinen Krankenhauses das luxuriöse Heim eines reichen Genießers geworden ist. Dennoch haben sich bei zwei von jenen drei neuen Figuren, und gerade bei den beiden, die lebendiger gezeichnet und tiefer erfaßt sind, nämlich dem Dichter und dem Arzt, kleine Züge ihres Vorgängers aus dem Einakter erhalten, die ihre Abstammung von ihm unzweideutig dartun. Der Dichter ist durch die Gemeinsamkeit des Berufes schon an Weihgast herangerückt. Bei ihm ist das, was im Einakter der Hauptantrieb für das Übelwollen des Sterbenden gegen den Freund war, in letzter Abschwächung als subjektives Gefühl noch bestehen geblieben: er glaubt, daß Neid und kleinliche Rache gegen ihn, den großen und berühmten Mann, die Motive jenes Abschiedsbriefes gewesen sein müssen. Das Verhältnis Weihgasts zu seiner Gattin, das er mit den Worten schildert: »Wahrhaftig, bei ihr find' ich mich selbst — den Glauben an mich selbst wieder, wenn ich nah daran bin, ihn zu verlieren - die Kraft zu schaffen, die Lust zu leben. Und je älter man wird, um so mehr fühlt man, daß dies doch der einzige wahre Zusammenhang ist, den es gibt«, ist genau das nämliche wie es der Dichter für sich empfindet: »... und allzulange war es her, daß sie aufgehört hatte, ihm die Geliebte zu bedeuten. Doch anderes war sie ihm geworden, mehr und edleres: eine Freundin, eine Gefährtin; voll Stolz auf seine Erfolge, voll Mitgefühl für seine Enttäuschungen, voll Einsicht in sein tiefstes Wesen.« Auch in dem Detail, daß beide von einem Bühnenwerk erzählen, das sie eben zur Aufführung vorbereiten, gleichen sich die Gestalten. Für den Arzt ist die Familie Weihgasts übriggeblieben, mit kleinen Veränderungen: er »denkt an den Ältesten, der heuer sein Freiwilligenjahr abdient«, und jener erzählt: »Und mein Bub' — Bub'! — dient heuer sein Freiwilligenjahr ab«. Aus der einen verheirateten Tochter sind in der Novelle zwei geworden, von denen die ältere verlobt ist. Dann wiederholt »die peinliche Empfindung, daß sie

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nun so weit waren, sie alle, die noch vor wenig Jahren jung gewesen«, mit der sich der Arzt an das Krankenlager begibt, die Worte Weihgasts: »Die Jungen. Wenn man bedenkt, daß man vor zehn Jahren selbst noch ein Junger war«, und der Gedanke des Arztes »Man hat sich recht selten gesehen in der letzten Zeit« entspricht dem Vorwurf: »Wenn du dich auch eine Reihe von Jahren um deinen alten Freund nicht mehr gekümmert hast . . . « Sogar die unangebrannte Zigarette des Arztes ist in dem älteren Werke schon vorgeahnt, nur ist es nicht sein Vorgänger, sondern eine Episodenfigur, der Dr. Tann, den die Rücksicht auf die Umgebung zwingt, eine »nicht brennende Virginia im Mund« zu halten. Einem ähnlichen unbeabsichtigten Zusammenstimmen in kleinen Äußerlichkeiten, durch das die Wiederkehr desselben Inhaltes sich verrät, läßt sich noch öfter begegnen. So schildert Schnitzler zweimal den unersättlichen Lebensdurst in der Figur eines uralten Greises, einmal nur beiläufig durch die Worte des Herrn von Sala in »Der einsame Weg«: »Übrigens kenn' ich einen, der dreiundachtzig Jahre alt ist; er hat zwei Frauen begraben, sieben Kinder, von den Enkeln ganz zu geschweigen« und das anderemal etwas ausführlicher in »Der junge Medardus«, wo der »uralte Herr« von sich erzählt: »Ich bin dreiundneunzig ... Mir sind gar viele schon g'storben ... Dann meine Frau vor fünfundfünfzig. Dann meine zweite, das war aber schon eher eine Gemahlin, vor vierzig. Dann fünf Söhne und drei Töchter und so ungefähr dreißig Enkelkinder«. Die Übereinstimmung ist nicht zu verkennen. In der späteren Fassung ist ein Kind hinzugekommen — ebenso wie im »Tod des Junggesellen«, wo aus zweien drei wurden, wie hier aus sieben acht — und ein Jahrzehnt des Lebensalters. Sonst ist alles vollkommen gleich geblieben, obwohl der Dichter das Vorbild kaum vor Augen gehabt hat und gewiß nicht bestrebt war, es möglichst getreu zu wiederholen. In »Der einsame Weg« kommen zwei Personen vor, die in Hinsicht auf ihre Einstellung zu dem geistigen Zentrum des Stückes und auch in dem Erleben, das ihnen durch die Handlung zugewiesen ist, fast völlig parallel sind. Das ist Professor Wegrat und Doktor Reumann. Beide wählen statt der Buntheit eines Abenteurerdaseins den einförmigen Pfad der Pflicht und der Selbstaufopferung, beide verlieren die Geliebte an einen jener anderen, die den verlockenden, reizvoll wechselnden, aber zuletzt einsamen Weg durchs Leben gehen. Sie sind im Grunde nur eine Gestalt in verschiedenen Phasen 103

der Entwicklung; der Unterschied liegt eigentlich nur darin, daß jeder einer anderen von den zwei im Drama vertretenen Generationsstufen angehört. Diese Gemeinschaft bricht an einer Stelle auch in ihren Worten durch. Doktor Reumann sagt: »Was Sie, gnädige Frau, Verachtung nennen, - wenn ich überhaupt etwas davon verspürte - wäre ja doch nichts anderes als maskierter Neid. Oder denken Sie, daß es mir an dem guten Willen fehlte, mein Leben so zu führen, wie ich es die meisten anderen führen sehe? Ich habe nur nicht das Talent dazu. Wenn ich aufrichtig sein soll, gnädige Frau, die Sehnsucht, die am tiefsten in mir steckt, ist die, ein Schurke zu sein, ein Kerl, der heuchelt, verführt, hohnlacht, über Leichen schreitet. Aber ich bin durch Mängel meines Temperamentes dazu verurteilt, ein anständiger Mensch zu sein ...« Und ebenso äußert sich Professor Wegrat, wenn er seiner Vergangenheit gedenkt, nur daß er weniger Schärfe und wissenschaftliche Objektivität in seine Worte legt als der junge Arzt: »Die Welt tat sich gewissermaßen weiter auf als sonst. Und ich spürte eine Art von Neid auf dich, wie manchmal zu jener Zeit. In mir erwachte ein Gefühl, als könnt' ich auch alles, wenn ich nur wollte. Es gab so viel zu sehen und erfahren, - das Leben strömte so mächtig hin; man mußte nur etwas frecher sein und selbstbewußter und sich hineinwerfen.« »Der Selbstverrat dringt den Menschen aus allen Poren« sagt Freud in seiner »Psychopathologie des Alltagslebens«. Das gilt für Gestalten der Dichtung nicht minder wie für jene des Lebens. OTTO RANK

Der Doppelgänger Partout oü j'ai voulu dormir, Partout oü j'ai voulu mourir, Partout oü j'ai toud^ la terre, Sur ma route est venu s'asseoir Un malheureux ve*tu de noir, Qui me ressemblait comme un frere. Musset. I.

Die Psychoanalyse, die auf Grund ihrer Methodik gewohnt ist, jeweils von der aktuellen psychischen Oberfläche ausgehend, tiefer104

liegendes und bedeutsames seelisches Erleben aufzudecken, hat am wenigsten Anlaß, einen zufälligen und banalen Ausgangspunkt zur Aufrollung weiterreichender psychologischer Probleme zu scheuen. Es soll uns also nicht weiter stören, wenn wir die Entwicklungs- und Bedeutungsgeschichte einer altüberlieferten Volksvorstellung, die phantasievolle und grüblerische Dichter auch zur Darstellung reizte, von einem »romantischen Drama« zurück verfolgen, welches vor kurzem die Runde durch unsere Kinotheater gemacht hat. Das literarische Gewissen mag sich damit beruhigen, daß auch der Verfasser dieses rasch populär gewordenen Stückes »Der Student von Prag* ein Dichter von Ruf ist und daß er sich an hervorragende, in der Wirkung bewährte Vorbilder gehalten hat; andere Bedenken gegen den innerlichen Gehalt eines so sehr auf äußerliche Wirkungen angewiesenen Schaustückes wollen wir so lange beiseite schieben, bis sich gezeigt hat, in welchem Sinne ein auf uralter Volksüberlieferung basierter Stoff von eminent psychologischem Gehalt durch die Anforderungen neuer Darstellungsmittel verändert wird. Vielleicht ergibt sich, daß die in mehrfacher Hinsicht an die Traumtechnik gemahnende Kinodarstellung auch gewisse psychologische Tatbestände und Beziehungen, die der Dichter oft nicht in klare Worte fassen kann, in einer deutlichen und sinnfälligen Bildersprache zum Ausdruck bringt und uns dadurch den Zugang zu ihrem Verständnis erleichtert. Zumal wir aus ähnlichen Untersuchungen erfahren haben, daß es oft einem modernen Bearbeiter gelingt, dem eigentlichen Sinn eines uralten und im Laufe der Überlieferung unverständlich gewordenen oder mißverstandenen Stoffes auf intuitivem Wege wieder näherzukommen. Versuchen wir zunächst, die schattenhaft flüchtigen, aber eindrucksvollen Bilder des von Hans Heinz Ewers stammenden Filmdramas festzuhalten: Balduin, Prags flottester Student und bester Fediter, hat sein ganzes Geld vertan und ist seines wüsten Treibens überdrüssig. Mißmutig wendet er sidi von seinen Kumpanen und ihren Vergnügungen mit der Tänzerin Lyduschka ab. Da naht sidi ihm ein unheimlicher Alter und bietet ihm Hilfe an. Im Gespräch mit diesem sonderbaren Abenteurer, Scapinelli, durch den Wald lustwandelnd, wird Balduin Zeuge eines Jagdunfalles der jungen Komtesse von Sdiwarzenberg, die er aus dem Wasser rettet. Er wird aufs Schloß eingeladen und trifft dort mit dem Bräutigam und Vetter der Komtesse, Baron Waldis-Schwarzenberg zusammen. Obwohl er sidi unbeholfen benimmt und beschämt abziehen muß, 105

hat er auf die Komtesse solchen Eindruck gemacht, daß sie ihren Verlobten von da an kühl zurückweist. Auf seiner Bude übt Balduin vor dem großen Spiegel Fechterstellungen, dann versinkt er in trübes Nachdenken über seine mißliche Lage. Da erscheint Scapinelli und bietet ihm ein Vermögen an gegen Unterzeichnung eines Kontraktes, der ihm gestatte, aus Balduins Zimmer mitzunehmen, was ihm beliebe. Balduin weist lachend auf die kahlen Wände und die primitive Einrichtung und unterzeichnet fröhlich den Schein. Scapinelli sieht sich suchend im Zimmer um und findet anscheinend nichts was ihm entspricht, bis er endlich auf Balduins Spiegelbild weist. Dieser geht willig auf den vermeintlichen Scherz ein, erstarrt aber vor Staunen beim Anblick seines zweiten Selbst, das sich vom Spiegel loslöst und dem Alten durch die Türe und auf die Straße hinaus folgt. Als vornehmer Herr hat der ehemalige Student Zutritt in Kreise erlangt, wo er die verehrte Komtesse wiedersieht. Bei einem Ball hat er Gelegenheit, ihr auf der Schloßterrasse seine Liebe zu gestehen. Das Mondscheinidyll wird aber durch Dazwischentreten des Bräutigams gestört und von Lyduschka belauscht, die Balduin bald als Blumenmädchen in den Weg tritt, bald ihm auf halsbrecherischen Wegen unablässig folgt. Aus den süßen Gedanken an den ersten Erfolg seiner Liebeswerbung wird Balduin jäh durch die Erscheinung seines Spiegelbildes gerissen, das an eine Säule gelehnt auf der Brüstung der Veranda auftaucht. Er glaubt seinen Augen nicht zu trauen und wird erst durch die herannahenden Freunde aus seinem Dämmerzustand gerissen. Bei der Abfahrt steckt Balduin der Komtesse in ihrem - vorhin fallen gelassenen Taschentuch einen Zettel zu, auf dem er sie bittet, in der nächsten Nacht auf den Judenfriedhof zu kommen. Lyduschka schleicht der Komtesse bis in ihr Zimmer nach, um den Inhalt des Zettels zu erfahren, findet aber nur das Taschentuch und Balduins Krawattennadel, die ihm als Briefverschluß gedient hatte. Am nächsten Abend eilt die Prinzessin zum Stelldichein, Lyduschka, die sie zufällig erblickt, folgt ihr wie ein Schatten. Auf dem einsamen Friedhof wandeln die Liebenden in herrlicher Mondnacht. Auf einer kleinen Anhöhe machen sie Halt und eben ist Balduin im Begriffe, die Geliebte zum erstenmal zu küssen, als er entsetzt innehält und auf seinen Doppelgänger starrt, der sich plötzlich hinter einem der Grabsteine gezeigt hat. Während Komtesse Margit, von der unheimlichen Erscheinung erschreckt, die Flucht ergreift, sucht Balduin vergebens, seines ebenso plötzlich verschwundenen Ebenbildes habhaft zu werden. Inzwischen hat Lyduschka das Taschentuch Margits mit Balduins Busennadel dem Verlobten der Komtesse überbracht, der beschließt, Balduin auf Säbel zu fordern. Da er aller Warnungen vor Balduins Fechtkunst nicht achtet, entschließt sich der alte Graf Schwarzenberg, der Balduin schon für die Rettung seiner Tochter verpflichtet ist, um Schonung 106

seines künftigen Schwiegersohnes und einzigen Erben zu bitten. Nach einigem Widerstreben läßt sich Balduin das Wort abnehmen, seinen Gegner nicht zu töten. Auf dem Wege zum Duell kommt ihm aber im Wald sein früheres Ich mit dem blutigen Schlager entgegen und wischt ihn blank. Ehe Balduin noch an den Ort des Duells kommt, sieht er von Ferne, daß sein anderes Ich den Gegner bereits getötet hatte. Seine Verzweiflung wächst noch, als er von da an im Hause des Grafen nicht mehr vorgelassen wird. Vergebens sucht er seine Liebe beim Wein zu vergessen; beim Kartenspiel sieht er sich seinem Doppelgänger gegenüber; Lyduschka lockt ihn ohne Erfolg. Er muß die Geliebte wiedersehen und schleicht bei Nacht - auf demselben Wege wie früher schon Lyduschka - in das Zimmer Margits, die ihn noch nicht vergessen hat. Er wirft sich ihr schluchzend zu Füßen, sie vergibt ihm und ihre Lippen finden sich zum ersten Kuß. Da bemerkt sie bei einer zufälligen Bewegung, daß neben ihrem Bild im Spiegel das seinige fehle: erschreckt fragt sie ihn nach der Ursache, da verhüllt er beschämt sein Haupt und grinsend erscheint in der Tür sein Spiegelbild. Margit fällt bei dessen Anblick in Ohnmacht und Balduin entweicht entsetzt, nunmehr auf Schritt und Tritt von dem grausigen Schatten gefolgt. Er flieht gehetzt durch Gassen und Straßen, über Wall und Graben, durch Wiese und Wald; endlich begegnet er einem Wagen, wirft sich hinein und spornt den Kutscher zur höchsten Eile an. Nach einer längeren Fahrt in rasendem Tempo glaubt er sich geborgen, steigt aus und will den Kutscher entlohnen - da erkennt er in ihm sein Spiegelbild. Rasend stürzt er weiter: an allen Ecken sieht er die Spukgestalt, an ihr vorbei muß er in sein Haus stürmen. Türen und Fenster verschließt er sicher. Er will seinem Leben ein Ende machen, legt die geladene Pistole bereit und schickt sich an, seinen letzten Willen aufzusetzen. Da steht der Doppelgänger wieder grinsend vor ihm; seiner Sinne nicht mächtig, greift Balduin zur Waffe und schießt nach dem Phantom, das mit einem Schlage verschwunden ist. Befreit lacht er auf und glaubt sich von aller Qual erlöst. Rasch enthüllt er den sonst dicht verhängten Handspiegel und sieht sich zum erstenmal seit langer Zeit wieder darin. Im selben Moment verspürt er einen heftigen Schmerz an der linken Brustseite, fühlt sein Hemd voll Blut und merkt, daß er angeschossen ist. Im nächsten Augenblick stürzt er tot zu Boden und Scapinelli erscheint schmunzelnd, um den Kontrakt über der Leiche zu zerreißen. Das letzte Bild zeigt Balduins Grab an einem Wasser, überschattet von einer mächtigen Trauerweide. Auf dem Grabhügel sitzt sein Doppelgänger mit dem schwarzen unheimlichen Vogel, dem ständigen Begleiter Scapinellis. Zur Erläuterung dienen die schönen Verse Mussets (La nuit de d^cembre):

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Ou tu vas, j'y serais toujours, Jusques au dernier de tes jour, Ou j'irai m'asseoir sur ta pierre.

Über Sinn und Bedeutung dieser unheimlichen Begebenheiten will das Programm nicht lange im Zweifel lassen. Die »Grundidee« soll die sein, daß die Vergangenheit eines Menschen ihm unentrinnbar anhaftet und ihm zum Verhängnis wird, sobald er versucht, sich ihrer zu entledigen; diese Vergangenheit soll sich in Balduins Spiegelbild selbst verkörpern, aber auch in der rätselhaften Gestalt der Lyduschka, die ihn aus seinem früheren Studentenleben her verfolgt. Es mag sein, daß dieser Erklärungversuch - um einen solchen handelt es sich, nicht um das Herausheben der in der Sache selbst liegenden Grundidee - in gewisser Beziehung genügen könnte, sicher aber vermag diese allegorisierende Deutung weder den Gehalt des Stückes zu erschöpfen, noch den lebhaften Eindruck der Handlung voll zu rechtfertigen. Es bleiben noch genug auffällige Züge, die eine Erklärung fordern. Vor allem die Tatsache, daß der unheimliche Doppelgänger gerade nur »alle Stunden süßen Beisammenseins« mit der Geliebten stören muß und auch nur für sie — und den Helden selbst - sichtbar wird. Und zwar tritt er um so erschreckender dazwischen, je inniger die Liebe zu werden sucht: beim ersten Geständnis auf der Terrasse erscheint das Spiegelbild gewissermaßen als ruhiger Mahner, bei der nächtlichen Liebesszene auf dem Friedhof stört es die intime Annäherung, indem es den ersten Kuß hindert, und bei der entscheidenden Versöhnung endlich, die mit Kuß und Umarmung besiegelt wird, trennt es die Liebenden gewaltsam für immer. So erweist sich der Held eigentlich als unfähig zur Liebe, die in der rätselhaften Gestalt der charakteristischerweise von ihm nicht beachteten Lyduschka verkörpert scheint. Von seinem eigenen verkörperten Ich wird Balduin an der Liebe zum Weibe gehindert und wie ihm sein Spiegelbild zur Geliebten folgt, so folgt Lyduschka der Komtesse wie ein Schatten: und beide Doppelgänger stellen sich zwischen das Heldenpaar, um es zu entzweien. Außer diesen bei Anwendung des allegorischen Schlüssels unerklärlichen Zügen ist vor allem nicht einzusehen, was den Dichter — oder seine literarischen Vorgänger - dazu bewegen haben sollte, die Vergangenheit gerade in der Gestalt des selbständig gewordenen Spiegelbildes darzustellen; auch begreift man mit dem rationellen Denken allein nicht die schweren seelischen Folgen, die sich an dessen Verlust knüpfen und am allerwenigsten den sonderbaren Tod des Helden. 108

Ein dunkles, aber unabweisbares Gefühl, das den Zuschauer gepackt hält, scheint uns zu verraten, daß hier tiefe menschliche Probleme berührt werden und die Besonderheit der Kinotechnik, seelisches Geschehen bildlich zu veranschaulichen, macht uns mit übertriebener Deutlichkeit darauf aufmerksam, daß es das interessante und bedeutsame Problem des Verhältnisses des Menschen zu seinem Ich ist, welches uns in seiner Störung als Schicksal des Individuums versinnbildlicht wird. Um die Bedeutung dieses Grundproblems für das Verständnis des Stückes würdigen zu können, müssen wir die verwandten Motivgestaltungen in den literarischen Vorbildern und Parallelen verfolgen und mit den entsprechenden folkloristischen, ethnographischen und mythischen Überlieferungen vergleichen; es soll daran deutlich werden, wie alle diese in die Urgeschichte der Menschheit, auf primitive Vorstellungen zurückgehenden Motive in einzelnen besonders disponierten Dichtern eine poetische Gestalt gewinnen, die sich in hohem Grade mit ihrem ursprünglichen, später verwischten Sinne deckt und in letzter Linie auf das Urproblem des Ich zurückführt, das der moderne Bearbeiter, unterstützt oder genötigt durch die neue Darstellungstechnik, so aufdringlich in den Vordergrund gerückt hat und eine so anschauliche Sprache sprechen läßt.

II. »Ich denke mir mein Idi durch ein Vervielfältigungsglas; alle Gestalten, die sich um midi bewegen, sind Ichs und ich ärgere midi über ihr Tun und Lassen.« E. Th. A. Hoffmann.

Es ist kaum zweifelhaft, daß Ewers, der moderne E. Th. A. Hoffmann, wie man ihn nennt, zu seiner Filmidee hauptsächlich von seinem literarischen Ahn und Meister inspiriert wurde, wenngleich noch andere Quellen und Einflüsse wirksam gewesen sind.1 Hoff1

Selbstverständlich soll damit die eigene dichterische Initiative, als die Haupttriebkraft der poetisdien Produktion, nidit im mindesten untersdiätzt werden. Daß Ewers den absonderlichen und okkulten Phänomenen des Seelenlebens seit jeher besonderes Interesse entgegengebracht hat, braucht Kennern seiner Werke nicht erst gesagt zu werden. Zu ver109

mann ist der klassische Gestalter des Doppelgängertums, das in der romantischen Dichtung zu den beliebtesten Motiven zählte. Fast keines seiner zahlreichen Werke ist völlig frei von Anspielungen auf dieses Thema, in vielen bedeutsamen Dichtungen von ihm dominiert es. Das nächste Vorbild der Ewersschen Gestaltung findet sich im Abschnitt III. (»Die Abenteuer der Sylvesternacht«) des zweiten Teils der »Phantasiestücke« und ist überschrieben: »Die Geschichte vom verlernen Spiegelbilde.« (I, 265 bis 279.)* Sie erzählt in seltsamer Verknüpfung mit dem Phantasie- und Traumleben des »reisenden Enthusiasten« wie Erasmus Spikher, ein ehrsamer deutscher Ehemann und Familienvater, bei seinem Aufenthalt in Florenz in das Liebesnetz der dämonischen Giulietta gerät und bei seiner Flucht wegen Totschlages eines Nebenbuhlers der Heißgeliebten auf ihre Bitten sein Spiegelbild zurückläßt. Sie standen gerade vor dem Spiegel, »der ihn und Giulietta in süßer Liebesumarmung zurückwarf« ; sie »streckte sehnsuchtsvoll die Arme aus nach dem Spiegel. Erasmus sah, wie sein Bild unabhängig von seinen Bewegungen hervortrat, wie es in Giuliettas Arme glitt, wie es mit ihr im seltsamen Duft verschwand.« (I, 271.) Schon auf der Heimreise wird Erasmus wegen seines zufällig entdeckten Mangels zum Gespött der Leute. Darum »ließ er überall wo er hinkam, unter dem Vorwand eines natürlichen Abscheus gegen jede Abspiegelung, alle Spiegel schnell verhängen und man nannte ihn daher spottweise den General Suwarow, der ein gleiches that« (274). Zu Hause stößt ihn seine Frau von sich, während sein Sohn ihn verhöhnt. In seiner Verzweiflung naht sich ihm der geheimnisvolle Begleiter Giuliettas, der Doktor Dapertutto und verspricht ihm Wiedererlangung ihrer Liebe und seines Spiegelbildes, wenn er sich entschlöße, Weib und Kind dafür aufzuopfern. Die Erscheinung Giuliettas bringt ihn in neue Liebesraserei; sie zeigt ihm, wie getreu sie das Spiegelbild bewahrte, indem sie das Tuch vom Spiegel zieht. »Erasmus sah mit Entzücken sein Bild der Giulietta sich anschmiegend; unabhängig von ihm selbst warf es aber keine seiner Bewegungen zurück« (277). Er ist nahe daran, den höllischen Pakt abzuschließen, der ihn selbst weisen wäre nur auf sein letztes Drama »Das Wundermäddien von Berlin« (1912), das einzelne leise Beziehungen zu dem späteren »Student von Prag« verrät. 2 Sämtliche Hinweise auf Hoffmanns Werke beziehen sich auf die fünfzehnbändige Ausgabe von Griesebach in Hesses Klassikern. HO

und die Seinen den fremden Mächten überliefern soll, als er durch die plötzliche Erscheinung seiner Frau gewarnt, die Höllengeister hinweg zu beschwören vermag. Er zieht dann auf den Rat seiner Frau in die weite Welt, sein Spiegelbild zu suchen, und trifft mit dem schattenlosen Peter Schlemihl zusammen, der bereits in der Einleitung zu der »Geschichte« vorgekommen war (»Die Gesellschaft im Keller«, I. p. 257 bis 261) und darauf hinweist, daß Hoffmann mit seiner phantastischen Erzählung ein Gegenstück zu der berühmten »wundersamen Geschichte« von Chamisso geben wollte, deren Inhalt wohl als bekannt vorausgesetzt werden kann. Des Zusammenhanges wegen seien nur die wesentlichen Übereinstimmungen und Parallelen kurz hervorgehoben. Wie bei Balduin und Spikher handelt es sich auch bei Schlemihls Schattenverkauf um eine Seelenverschreibung (Teufelspakt) und auch hier bekommt der Held Spott und Verachtung der Welt zu verspüren. Als Analogie zur Bewunderung des Spiegelbildes ist die sonderbare Bewunderung des Schattens durch den grauen Mann hervorzuheben3, wie überhaupt die Eitelkeit einer der hervorstechendsten Charakterzüge Schlemihls ist (»das ist im Menschen, wo der Anker am zuverlässigsten Grund faßt«). Die Katastrophe wird auch hier - wie in den bisher betrachteten Fällen — durch die Beziehung zum Weib herbeigeführt. Schon die schöne »Fanny« ist von der Schattenlosigkeit Schlemihls entsetzt und derselbe Mangel läßt ihn auch sein Lebensglück bei der liebevollen Mina verscherzen. Der bei Balduin offen hervortretende Wahnsinn im Gefolge der Katastrophe ist bei Spikher und Schlemihl, die sich schließlich beide dem Bösen noch zu entwinden vermögen, nur vorübergehend angedeutet. Nach dem Bruch mit Mina durchschweift Schlemihl »in irrem Lauf Wälder und Fluren. Angstschweiß troff von meiner Stirne, ein dumpfes Stöhnen entrang sich meiner Brust, in mir tobte Wahnsinn«. Schon aus dieser Parallele ergibt sich die später von anderer Seite zu stützende Gleichwertigkeit des Spiegel- und des Schattenbildes, die beide als selbständig gewordene Ebenbilder dem Ich entgegentreten. Von den zahlreichen Nachahmungen des Peter Schle3

»Während der kurzen Zeit, wo idi das Glück genoß, midi in Ihrer Nähe zu befinden, hab' idi, mein Herr, einige Male - erlauben Sie, daß idi es Ihnen sage - wirklich mit unausspredilicher Bewunderung den sdiönen, schönen Sdiatten betrachten können, den Sie in der Sonne, und gleidisam mit einer gewissen edeln Verachtung, ohne selbst darauf zu merken, von sidi werfen, den herrlidien Schatten da zu ihren Füßen«. III

mihl 4 sei hier nur das feine Andersensdie Märchen »Der Schatten« erwähnt, das von dem Gelehrten erzählt, dessen Schatten sich in den Ländern der heißen Zone von seinem Besitzer freimacht und ihm einige Jahre später als Mensch wieder begegnet. Zunächst hatte der Schattenverlust für den Mann keinerlei üble Folgen - nach Art von Sdilemihls Schicksal — gehabt, denn es wuchs ihm ein neuer, wenn auch bescheidener Schatten nach. Aber dem ersten sehr vermögend und ansehnlich gewordenen Schatten gelingt es allmählich, seinen ursprünglichen Besitzer sich dienstbar zu machen. Zuerst fordert er von ihm Stillschweigen über sein früheres Schattendasein, da er beabsichtigt, sich zu verloben. Bald treibt er jedoch die Kühnheit so weit, seinen ehemaligen Herrn wie seinen Schatten zu behandeln. Er erregt dadurch die Aufmerksamkeit einer Königstochter, die ihn schließlich zum Manne begehrt. Der Schatten sucht endlich seinen früheren Herrn gegen ein hohes Gehalt dazu zu bewegen, die Rolle des Schattens vor aller Welt zu spielen. Dagegen lehnt sich aber alles in ihm auf und er trifft Anstalten, den Usurpator seiner menschlichen Rechte zu verraten. Dieser aber kommt ihm zuvor und läßt ihn ins Gefängnis sperren; da er seiner Braut versichert, sein »Schatten« wäre verrückt geworden und halte sich für einen Menschen, wird es ihm leicht, noch am Abend der Hochzeit die heimliche Beseitigung des seiner Liebe gefährlichen Mannes zu bewirken und so sein Liebesglück zu sichern. Diese in einem bewußten Gegensatz zur Geschichte Peter Sdilemihls gestaltete Erzählung verbindet die Fabel von den schweren Folgen der Schattenlosigkeit mit der Gestaltung des Motivs, wie sie beim Studenten von Prag vorliegt. Denn auch im Märchen Andersens handelt es sich nicht bloß um einen Mangel wie bei Chamisso, sondern um die Verfolgung durch den selbständig gewordenen Doppelgänger, der seinem Ich immer und überall - mit katastrophaler Wirkung aber wieder in der Liebe - hindernd in den Weg tritt. Deutlicher ist wieder die Schattenlosigkeit betont in Lenaus Gedicht »Anna«, dem die schwedische Sage 5 von einem hübschen 4 6

Vgl. Goedecke, Grundriß der deutsdien Diditung VI, 149 f. Dieselbe Sage hat Frankl in der Ballade »Die Kinderlose« (Ges. Werke 2, 116, 1880) und Hans Müller von der Leppe in seinem Kronberger Liederbuch (Frankfurt iS^j, p. 62) unter dem Titel »Fluch der Eitelkeit« behandelt. - Vgl. die auch über die verschiedenen Fassungen der Sage orientierende Arbeit von J. Holte: »Lenaus Gedicht Anna« (Euphorion IV, 1897, p. 323). 112

Mädchen zugrunde liegt, welches den Verlust seiner Schönheit durch Kindersegen fürchtet. Ihr Wunsch, immer so jung und schön zu bleiben, treibt sie vor der Hochzeit zu einer geheimnisvollen Alten, die sie durch Zauber von den sieben ihr zugedachten Kindern befreit. In unwandelbarer Schönheit verlebt sie sieben Ehejahre, bis einst ihr Gatte im Mondenschein bemerkt, daß sie keinen Schatten wirft. Zur Rede gestellt, bekennt sie ihre Schuld und wird verstoßen. Nach weiteren sieben Jahren harter Buße und schweren Jammers, die ihre tiefen Spuren hinterlassen haben, wird Anna durch einen Einsiedler entsühnt und stirbt mit Gott versöhnt, nachdem ihr vorher in einer Kapelle die Schatten ihrer sieben ungeborenen Kinder erschienen waren. Von entfernteren dichterischen Darstellungen des Schattenmotivs seien noch kurz genannt: In Goethes »Märdien« die Schilderung des Riesen, der am Flußufer wohnt und dessen Schatten mittags unvermögend und schwach ist, um so mächtiger aber bei Sonnenauf- und Untergang. Setzt man sich da auf den Nacken seines Schattens, so wird man, während er sich bewegt, zugleich mit über den Fluß gehoben. Um sich von dieser Beförderungsart unabhängig zu machen, baut man an dieser Stelle eine Brücke. Aber wenn der Riese sich nun morgens die Augen rieb, so fuhr der Schatten seiner Fäuste so mächtig unter Menschen und Tiere, daß alle zusammenstürzten. - Ferner Mörikes Gedicht »Der Schatten«: Ein Graf, der ins Heilige Land zieht, läßt sich von seinem Weib Treue schwören. Der Eid ist falsch, denn die Frau vergnügt sich mit ihrem Buhlen und sendet dem Mann einen Gifttrank nach, an dem er stirbt. Zur selben Stunde stirbt aber auch das treulose Weib, nur ihr Schatten bleibt unauslöschlich im Saal bestehen. - Endlich noch ein kleines Gedicht von Richard Dehmel »Der Schatten« nach R. L. Stevenson, das sehr hübsch die Rätselhaftigkeit des Schattens für das Kind schildert, das nicht weiß, wozu es seinen kleinen Schatten hat: »Das Sonderbarste an ihm ist, wie er sich anders macht; Gar nicht wie artige Kinder tun, hübsch alles mit Bedacht. Und manchmal springt er schneller hoch als mein Gummimann; Und manchmal macht er sich so klein, daß Keiner ihn finden kann.« (Deutsche Chansons, Brettllieder, Leipzig 1911, p. 64.). Stevenson hat übrigens das Problem der Doppelexistenz in seiner Erzählung »Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und des Herrn Hyde« behandelt.

Von den bisher betrachteten Gestaltungen des Stoffes, in denen der unheimliche Doppelgänger deutlich eine selbständig und sichtbar gewordene Abspaltung des Ichs ist (Schatten, Spiegelbild), un"3

tersdieiden sidi jene eigentlichen Doppelgängerfiguren, die einander als reale und leibhaftige Personen von ungewöhnlicher äußerer Ähnlichkeit gegenüberstehen und die Wege kreuzen. Hoffmanns erster Roman »Die Elixiere des Teufels« (1814) basiert auf einer zu den sonderbarsten Verwechslungen führenden Ähnlichkeit zwischen dem Mönche Medardus und dem Grafen Viktorin, die — ohne es zu wissen - vom selben Vater stammen. Ihre merkwürdigen Schicksale sind nur auf Grund dieser mystischen Voraussetzung möglich und verständlich. Beide erkranken, vom Vater erblich belastet, an seelischen Störungen, deren meisterhafte Schilderung den Hauptinhalt des Romans bildet'. Der durch einen Sturz wahnsinnig gewordene Viktorin hält sich in seiner Krankheit für Medardus und gibt sich für ihn aus. Seine Identifizierung mit Medardus geht — allerdings nur unter Berücksichtigung der poetischen Lizenz - so weit, daß er dessen eigene Gedanken ausspricht, so daß Medardus glaubt, sich selbst sprechen zu hören, sein innerstes Denken als Stimme von außen zu vernehmen 7. Dieses paranoische Bild wird ergänzt durch die Beachtungs- und Verfolgungsideen, denen er im Kloster ausgesetzt ist, durch die Erotomanie, die sich an das nur flüchtig geschaute Bild der Geliebten knüpft, sowie das krankhaft gesteigerte Mißtrauen und Selbstgefühl. Auch wird er von der quälenden Idee beherrscht, einen kranken Doppelgänger zu haben, worin ihn die • Vgl, O. Klinke: Hoffmanns Leben und Werke vom Standpunkt eines Irrenarztes. Halle (1902), 2. Aufl. 1908. 7 Eine psychologische Einsicht in diese Gestaltung des Doppelgängers verrät Dostojewskis Roman »Die Brüder Karamasow«. Bevor Iwan Karamasow wahnsinnig wird, erscheint ihm der Teufel und bekennt sich als seinen Doppelgänger. Als Iwan eines abends spät nadi Hause kommt, tritt ein unheimlicher Herr ein und erzählt ihm Dinge, von denen sidi herausstellt, daß Iwan sie selbst einmal in seiner Jugend ausgedacht, aber wieder vergessen hatte. Er sträubt sich dagegen, die Wirklichkeit der Erscheinung anzuerkennen: »Nidit eine Minute lang akzeptiere ich dich als reale Wahrheit. Eine Lüge bist du, eine Krankheit bist du, ein Trugbild. Nur weiß ich nicht, womit ich dich vernichten kann. - Du bist meine Halluzination. Du bist die Verkörperung meiner selbst, übrigens nur einer Seite von mir . .. meiner Gedanken und Gefühle, aber nur der allerscheußlichsten und dümmsten. - Alles,... was sich schon längst überlebt hat, worüber ich schon längst zu einer anderen Ansicht gekommen b i n . . . schleppst du mir heran, als wären es Neuigkeiten. Du bist ich selbst, nur mit einer anderen Fratze, du sprichst gerade das, was ich denke. ..« 114

Erscheinung des geistesgestörten Kapuziners bestärkt. - In deutlicher Verknüpfung mit der Rivalität um das geliebte Weib erscheint das Hauptmotiv dieses Romans herausgearbeitet in der späteren Erzählung »Die Doppelgänger« (XIV, 5 bis 52). Wieder handelt es sich um zwei, äußerlich zum Verwechseln ähnliche und durch geheimnisvolle Familienbeziehungen einander nahestehende Jünglinge, die infolge dieses seltsamen Schicksals und durch ihre Liebe zu demselben Mädchen in die unverständlichsten Abenteuer geraten, welche ihre Lösung erst finden, als sich die beiden Nebenbuhler vor der Geliebten gegenüberstehen und freiwillig auf ihren Besitz verzichten. Die gleiche äußere Ähnlichkeit verbindet in den »Lebensansichten des Katers Murr« das Schicksal des zur Geisteskrankheit disponierten Kreisler mit dem des wahnsinnigen Malers Ettlinger, dem Kreisler nach dem Ausspruch der Prinzessin Hedwiga so ähnlich sieht, als wäre er sein Bruder (X, 139). Dies geht so weit, daß Kreisler sein im Wasser geschautes Spiegelbild für den wahnsinnigen Maler hält und ihn ausschilt, während er unmittelbar darauf glaubt, sein eigenes Ich und Ebenbild neben sich einherschreiten zu sehen (X, 146 f.). Von tiefstem Entsetzen erfaßt, stürzt er ins Zimmer zu Meister Abraham und fordert ihn auf, den lästigen Verfolger mit einem Dolchstoß niederzustoßen, ein Impuls, dessen Ausführung der Student von Prag mit seinem Leben bezahlen muß. Hoff mann, der das Doppelgängerproblem noch in anderen Werken behandelte (»Prinzessin Brambilla«, »Das steinerne Herz«, »Die Brautwahl«, »Der Sandmann«, u. a.) hat zweifellos starke persönliche Antriebe dazu gehabt; dennoch ist der Einfluß nicht zu unterschätzen, den der damals auf der Höhe seines Ruhmes stehende Jean Paul übte, der das Doppelgängermotiv in die Romantik eingeführt hatte 8 . Auch im Schaffen /. Pauls dominiert dieses Thema in allen seinen psychologischen Varianten. Wirkliche Doppelgänger sind Leibgeber und sein Freund Siebenkäs, der ihm aufs Haar ähnlich sieht und sogar den Namen mit ihm tauscht. Im »Siebenkäs« steht die ständige Verwechslung der beiden - ein Motiv, das auch sonst bei Jean Paul häufig ist (z. B. in »Katzenbergers Badereise«) — im Mittelpunkt des Interesses, im »Titan« kommt sie 8

Vgl. dazu und zum folgenden F. J. Schneider: Jean Pauls Jugend und sein Auftreten in der Literatur. Berlin 1905 (bes. p. 316 bis 320) sowie J. Czerny: Jean Pauls Beziehungen zu Hoff mann. Gymn. Progr. Mies 1906/07 und 1907/08. "5

nodi episodisch vor. Neben diesem leibhaftigen Doppelgängertum, welches sich bei Jean Paul auch in der Form findet, daß jemand in der Gestalt des Geliebten dessen Geliebte zu verführen versucht (Amphytrionmotiv), hat der Dichter, wie kein zweiter vor- und nachher, das Problem der Spaltung und Vervielfachung des Ich in krasser Ausprägung immer wieder behandelt. »Im ,Hesperus* läßt er das Ich bereits als unheimliches Gespenst vor sich erstehen« (Schneider). Viktor wird schon in der Kindheit von solchen Geschichten besonders gepackt, in denen Leute sich selbst sehen. »Oft besieht er abends vor dem Einschlafen seinen Körper so lange, daß er ihn von sich abtrennt und als eine fremde Gestalt neben seinem Ich stehen und gestikulieren sieht. Darauf legt er sich mit dieser fremden Gestalt schlafen« (Czerny). Auch hatte Viktor eine heftige Abneigung gegen Wachsfiguren, die er mit Ottomar (»Die unsichtbare Loge«) teilt, welcher als Scheintoter sein Ich in den Lüften sieht. Dieser Schauder vor Wachsfiguren wird verständlich im »Titan«, wo Albano in ohnmächtiger Wut seine eigene Wachsbüste zerquetscht; aber es ist ihm dabei »wie Selbstmord und Betasten des Ichs.« Schoppe und Albano sind von dem zerstörenden Wahn eines sie verfolgenden Doppelgängers besessen. Aus dem Traumtempel, wohin sich Albano verirrt hat, wird er durch die mitlaufenden Spiegelichs verscheucht. »Auch Leibgeber im ,Siebenkäs* sieht sich von einem Heer von Ichs umgeben, indem er sein Ich, sein und Firmians, seines Doppelgängers Spiegelbild, also drei Ich mit Firmian selbst, dem vierten, in Vergleich zieht... Firmian tritt zum Spiegel und drückt mit dem Finger den Augapfel seitwärts, so daß er im Glase sein Bild doppelt sehen mußte, und wendet sich mitleidig an seinen Freund mit den Worten: aber du kannst freilich die dritte Person darin nicht sehen« (Schneider), Die im Namen Leibgeber angedeutete Entpersönlichungstendenz finden wir im »Titan« wieder. Roquairol, der als grenzenloser Egoist geschildert ist, sehnt sich doch einmal nach einer Freundschaft und schreibt an Albano: »Da sah ich Dich und wollte Dein Du werden - aber es geht nicht, denn ich kann nicht zurück, aber Du vorwärts, Du wirst mein Ich einmal.« * »Spielend seine eigene Tragödie, nachäffend sein eigenes Ich gibt er sich den Tod« (Schneider}. »Zur entsetzlichDie gleidie Tendenz hat Ridiard Dehmel, der Nadidichter des erwähnten Sdiattengedidites von Stevenson, in dem schönen Gedidit »Masken« ausgedrückt, welches schildert, wie der Dichter auf einem Maskenball 116

sten Pein steigert sich die Vorstellung, vom Ich verfolgt zu werden, bei Schoppe. Er denkt sich die Seligkeit in einer ewigen Befreiung vom Ich. Fällt sein Blick nur zufällig einmal auf seine Hände oder Beine, so fährt schon über ihn die kalte Furcht, er könne sich erscheinen und den Ich sehen. Der Spiegel muß verhangen werden, denn er bebt vor seinem Spiegelurangutang« (Schneider). Auch finden sich verjüngende und altmachende Spiegel (ähnlich auch Bilder, die ihre richtigen Züge nur unter einer bestimmten Lupe erkennen lassen), was auf Spikher übergegangen zu sein scheint, dem auch einmal sein Gesicht veraltet und verzerrt entgegengrinst. Wir erinnern uns hier daran, daß Spikher auch - wie Balduin - alle Spiegel verhängen läßt: »aber aus dem entgegengesetzten Grunde, weil sie sein Ich nicht mehr wiedergeben« (Czerny). Bei Schoppe geht diese Angst sogar so weit, daß er die gehaßten Spiegel zerschlägt, da ihm aus ihnen sein Ich entgegentritt. Und wie Kreisler und Balduin den Doppelgänger töten wollen, so sendet Schoppe an Albano seinen Stockdegen mit der Aufforderung, die unheimliche Erscheinung in Rattos Keller zu töten. »Schoppe stirbt schließlich an seiner Wahnidee mit dem Satz der Identität auf den Lippen« (Sdrineider). Es ist bekannt, daß jean Paul im »Titan« Stellung nahm zur Fi'c&feschen Philosophie und zeigen wollte, wohin der transzendentale Idealismus bei äußerster Konsequenz führen müsse. Man hat darüber gestritten, ob der Dichter dem Philosophen bloß seine Anschauungen gegenüberstellen oder ob er ihn ad absurdum führen wollte; wie dem auch sei, scheint es jedenfalls deutlich, daß beide auf ihre eigene Weise versuchten, sich mit dem ihnen persönlich nahe gehenden Problem des Ich auseinander zu setzen. Einzelne originelle Gestaltungen leiten von den leibhaftigen Doppelgängerfiguren zu den Darstellungen über, welche die subjektive Bedingtheit und Bedeutung der sonderbaren Einstellung wiein versdiiedenen Masken vergebens sein Idi sucht und jede Strophe mit den Worten besdiließt: »Du bist es nidit - dodi Idi bin Du«, bis er zuletzt das findet, was er sudite: Und Du, bist du's: du Domino im Spiegel, In dessen Blidt die Farben meerhaft sdiwanken, Du maskenlos Gesidit: zeig her das Siegel, Das mir ausdrüdtt den Grund deiner Gedanken: Bist du es selbst? Ausdruck - du nickst mir zu: Grundsiegel - Maske - Bist Idi Du?

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der erkennen lassen. Eine davon ist Ferdinand Raimunds romantisdi-komisches Märdien »Der Alpenkönig und der Menschenfeind«, wo der Doppelgänger des reichen Rappelkopf von dem mit echt Raimundscher Naivität objektivierten Alpengeist dargestellt wird. Dem in der Verkleidung seines Schwagers auftretenden Rappelkopf spielt der Alpenkönig Astragalus in der Rolle des Rappelkopf selbst dessen lächerliche Fehler und Schwächen vor. Die Handlung führt des Helden Heilung von seiner hypochondrischen Menschenfeindlichkeit und seinem paranoischen Mißtrauen herbei, indem der Dichter ihm sein eigenes Ich wie in einem »Seelenspiegel« erblicken läßt; er lernt dadurch sich selbst hassen und seine früher so verhaßte Umgebung lieben. Bemerkenswert ist, daß einige typische Motive des Doppelgängertums hier aus ihrer unbewußten Tragik in die Erkenntnissphäre des Humors gehoben erscheinen. In den Seelentausch fügt sich der halsstarrige Rappelkopf schließlich wie in einen Scherz und die Gegenüberstellung der beiden Doppelgänger in den Hauptszenen des Stückes führt zu mehrfachen Verwechslungen und Verwicklungen, so daß der Held schließlich nicht weiß, wo er sein Ich suchen soll und bemerkt: »Ich furcht* mich vor mir selber.« Die »verdammte Doppelgängerei« führt endlich zu gegenseitigen Beleidigungen und zum Duell. Der Impuls, sich von dem unheimlichen Gegenspieler auf gewaltsame Weise zu befreien, gehört, wie wir sahen, zu den wesentlichen Zügen des Motivs und wo dem Impuls nachgegeben wird, wie beispielsweise im Studenten von Prag und anderen noch zu besprechenden Gestaltungen, da zeigt es sich deutlich, daß das Leben des Doppelgängers mit dem der Person selbst aufs engste verknüpft ist. Diese geheimnisvolle Grundlage des Problems wird bei Raimund zur bewußten Voraussetzung der Probe. Im letzten Moment vor dem Duell erinnert sich Rappelkopf dieser Bedingung: »Wir haben alle zwei nur ein Leben. Wann ich ihn erschieße, so schieß ich mich selber tot.« Er wird dadurch vom Banne gelöst, daß Astragalus sich ins Wasser stürzt und Rappelkopf, der in ihm zu ertrinken fürchtet, in eine Ohnmacht fällt, aus der er dann geheilt erwacht. Besonders interessant ist uns ein Rest des Spiegelmotivs, das auf die innerliche Bedeutung des Doppelgängers hinweist. Auf dem Höhepunkt des Wahnes, kurz vor der Flucht von Haus und Familie, erblickt sich Rappelkopf in dem hohen Wandspiegel seines Zimmers; er verträgt den Anblick seines Gesichtes nicht und »zerschlägt den Spiegel mit geballter Faust«. In einem hohen Wandspiegel in Rappelkopfs Hause wird 118

aber dann der Alpenkönig sichtbar, der später als Doppelgänger erscheint. In anderer Form hat Raimund dasselbe Thema im »Verschwender« behandelt. Der Bettler, der Flottwell ein Jahr lang überall hin folgt, stellt sich zwanzig Jahre später als sein Doppelgänger heraus, der ihn - nach Art eines Schutzgeistes, wie auch der Alpenkönig einer ist - vor gänzlichem Ruin bewahrte. Tatsächlich glaubt Flottwell in ihm den Geist seines Vaters zu erblicken, bis er, durch sein hartes Schicksal belehrt, in der warnenden Erscheinung sich selbst in seinem fünfzigsten Lebensjahr erkennt. Auch hier versucht der Verfolgte den lästigen Begleiter zu töten, aber er vermag ihm nichts anzuhaben. Die Beziehung dieses Doppelgängers zu dem im Alpenkönig auftretenden ist in einem gemeinsamen Motiv angedeutet, dessen psychologische Erörterung in einen anderen Zusammenhang gehört. Wie nämlich der Bettler von Flottwell Schätze erbettelt, um sie dann dem gänzlich Verarmten zurückzustellen (»ich hab* für dich bei dir gebettelt«), so wendet Rappelkopf, der gleichfalls ein scheinbar Verarmter und schließlich wieder reich Gewordener ist, dieses Motiv der »gemeinsamen Kasse« ins Komische, indem er das von seinem Doppelgänger weggeworfene Geld mit dem Bemerken aufhebt, daß diese Gemeinsamkeit des Besitzes eine weit bequemere Einrichtung wäre, als die unerwünschte Gemeinschaft mit Gesundheit und Leben des anderen. Steht auch das Thema des Altwerdens mit dem hier unberücksichtigt gebliebenen Geldkomplex in einem interessanten Zusammenhang, so lassen sich doch einzelne Verbindungsfäden auch zum Doppelgängerproblem verfolgen. Daß der Bettler in der Gestalt des um zwanzig Jahre gealterten Flottwell erscheint, erinnert an den auf den Alpenkönig bezüglichen Mädchenglauben, daß sein Anblick um vierzig Jahre älter mache. Und wie der Alpenkönig im Spiegel erscheint, schließt Lieschen die Augen, aus Furcht, ihre Schönheit einzubüßen. Dieser Zug stellt wieder die Verbindung zu den altmachenden und verjüngenden Spiegeln bei Jean Paul sowie den Zerrspiegeln bei Ho ff mann und anderen her. Diese Furcht vor dem Altwerden wird als eines der tiefsten Probleme des Ich behandelt in Oskar Wildes Roman »Das Bildnis des Dorian Gray« (1890). Der schöne und jugendfrische Dorian äußert beim Anblick seines wohlgetroffenen Porträts den vermessenen Wunsch, immer so jung und schön zu bleiben und die Spuren des Alters und der Sünde auf das Bild übertragen zu können. Die119

ser Wunsch sollte ihm unheimlicherweise in Erfüllung gehen. Zum erstenmal bemerkt er eine Änderung an dem Bilde, als er die ihn über alles liebende Sibyl grausam und kalt von sich stößt, ähnlich wie die meisten seiner Schicksalsgenossen in der Liebe zum Weibe am eigenen Ich irre werden. Von da an bleibt das stets alternde und die Spuren der Sünde verratende Bild das sichtbare Gewissen Dorians. An ihm lernt er, der sich selbst über die Maßen liebt, seine eigene Seele verabscheuen und er verhüllt und verschließt das ihm Furcht und Entsetzen einflößende Bild, um es nur in besonderen Momenten seines Lebens zu betrachten und mit seinem eigenen ewig unveränderten Spiegelbild zu vergleichen. Das frühere Entzücken an seiner Schönheit macht allmählich einem Abscheu vor dem eigenen Ich Platz. Schließlich »verfluchte er die eigene Schönheit, und indem er den Spiegel auf den Boden schleuderte, zertrat er ihn mit dem Absatz in tausend Splitter«. Eine ausgesprochen neurotische Spiegelphobie ist mit feiner künstlerischer Wirkung als Inhalt eines vom Helden geschätzten Romans erzählt, dessen Held im vollen Gegensatz zu Dorian seine außerordentliche Schönheit in früher Jugend verloren hatte. Seither blieb ihm eine »groteske Furcht vor Spiegeln, polierten Metallplatten und stehendem Wasser«. Nachdem Dorian den Maler des verhängnisvollen Bildes ermordet und Sibyl in den Tod getrieben hat, findet er keine Ruhe mehr: »es wurde ihm zur Gewißheit, daß er verfolgt, umgarnt und schließlich zu Tode gehetzt würde.« Er beschließt ein Ende zu machen und das Bild zu vernichten, um sich auf diese Weise von der unerträglichen Vergangenheit zu befreien. Er durchschneidet das Bild und fällt im selben Augenblick gealtert und entstellt mit dem Messer im Herzen tot zu Boden, während das Bild ihn unversehrt in jugendlicher Schönheit zeigt. Von anderen Romantikern, die das Doppelgängermotiv behandelten und in irgendeiner Form hat es fast bei jedem Verwendung gefunden10 sei hier nur Heine noch kurz erwähnt, weil bei ihm der Doppelgänger, der nadi literarhistorischem Urteil zu seinen Urmotiven gehört, audi nidit als leibhaftiger Gegenspieler, sondern in einer mehr verinnerlichten Form auftritt. »Im >Ratcliff< will er das Schicksal zweier Menschen 10

Bei Tieck, Arnim, Brentano vorwiegend in der äußerlichen Form der Verwechslung oder der Lösung verwickelter Handlungen durch Identifizierung verschiedener Personen; bei Novalis u. a. in einer mystischen Verschwommenheit; bei Fouqtte (»Der Zauberring« II, 13), Kerner (»Die Reiseschatten«) u. a. nur episodisch.

gestalten, deren Leben durch den Zwang einer Doppelexistenz von Sinnlosigkeit erfüllt ist, die sich morden müssen, obwohl sie sich lieben. Ihre Alltagsexistenz wird fort durchkreuzt von dem Leben ihrer Ahnen, das sie noch einmal zu leben gezwungen sind. Dieser Zwang bedingt die Spaltung der Persönlichkeit«,11 Ratcliff gehorcht einer inneren Stimme, die ihn ermahnt, jeden zu morden, der sich Marien naht. In anderer Form findet sich das Motiv in den »florentinischen Nächten«: das Doppelsein der Madame Laurencer, deren heiteres Tagesleben mit nächtlichen Tanzekstasen wechselt, von denen sie am Tage ruhig wie von etwas längst Vergangenem spricht. Verwandt ist die Geschichte des toten Laskaro im »Atta Troll«, »dem die Mutterliebe nächtlich mit der stärksten Salbe ein verzaubert Leben einreibt«. In »Deutschland. Ein Wintermärchen« (Kap. VI) erscheint dem Dichter immer ein sonderbarer Geselle, wenn er nachts am Schreibtisch sitzt, gefragt gibt er sich zu erkennen: »ich bin die Tat von deinen Gedanken.« Auch in manche Gedichte Heines spielt ähnliches hinein und in der berühmten Vision der wilden Jagd träumt er sich selbst ein Doppelleben.

Wie man sieht, nähern sich diese Gestaltungen des Motivs einem Extrem, das mit unserem Thema nur in loserem Zusammenhang steht. Hat es sich bisher entweder um einen leibhaftigen Doppelgänger gehandelt, der wieder in die entferntere Verwechslungskomödie ausmündet12, oder um ein vom Ich losgelöstes und selbständig gewordenes Ebenbild (Schatten, Spiegelbild, Porträt), so stoßen wir hier auf die darstellerisch entgegengesetzte Ausdrucksform der gleichen seelischen Konstellation: es werden nämlich zwei verschiedene, durch Amnesie getrennte Existenzen von ein und derselben Person dargestellt. Diese Fälle von Doppelbewußtsein, die auch klinisch zur Beobachtung gelangt sind 1S, haben in der neueren Literatur vielfach Darstellung gefunden 14, können jedoch für unsere weitere Untersuchung außer Betracht bleiben ". 11

Herrmann Helene: Studien zu Heines Romanzero. Berlin 1906 - Vgl. auch W. Siebert: Heines Beziehungen zu Hoffmann (Beitr. z. deutsch. lit. Wiss. Bd. VII). Marburg 1908. 11 Der unsterbliche Lustspielstoff, der von Plautus' »Menaechmi« bis zu Fuldas »Zwillingsschwester« seiner Wirkung sicher war; als bekannte Typen seien genannt: Shakespeare »Comedy of the errors«, Lecoque »GirofU-Girofla«, Nestroy »Der Färber und sein Zwillingsbruder«. ** Vgl. die orientierende Schrift von Max Dessoir: »Das Doppel-Ich«. 2. Aufl. Leipzig 1896. 14 So in dem berühmten, später auch dramatisierten Roman von George du Manner »Trilby«, ferner Hugh Conway »Called back«, Dick-May 121

Wir wenden uns von diesen Grenzfällen aus wieder jenen für unsere Analyse ergiebigeren Stoffen zu, in denen es zu einer mehr oder minder deutlichen Gestaltung einer Doppelgängerfigur kommt, die jedoch zugleich als spontane subjektive Schöpfung krankhafter Phantasietätigkeit erscheint. An die beiseite gelassenen Fälle von Doppelbewußtsein, die psychologisch als Grundlage und darstellerisch gewissermaßen als Vorstufe des voll ausgeprägten Doppelgängerwahns erscheinen, schließt sich unmittelbar als Übergang zu der uns interessierenden Gruppe Maupassants eindrucksvolle Erzählung »Le Horla« (1887). Der Held der Geschichte, dessen Tagebuchaufzeichnungen uns der Dichter vorlegt erkrankt an Angstzuständen, die ihn insbesondere nachts quälen, ihn bis in seine Träume verfolgen und keinem Mittel dauernd weichen wollen. Eines nachts entdeckt er zu seinem Entsetzen, daß die Wasserflasche, die abends gefüllt war, völlig geleert dastand, obwohl niemand in das versperrte Zimmer eindringen konnte. Von diesem Augenblick an konzentriert sich sein ganzes Interesse auf jenen unsichtbaren Geist - den Horla -, der in ihm oder neben ihm lebt. Er stellt Versuche an und sucht ihm auf jede Weise zu entgehen. Vergebens: er wird nur immer mehr von der selbständigen Existenz des Geheimnisvollen überzeugt. Überall fühlt er sich belauert, betrachtet, durchdrungen, beherrscht, verfolgt von ihm. Oft wendet er sich blitzschnell um, damit er ihn endlich zu sehen und fassen bekäme. Oft stürzt er sich in das leere Dunkel seines Zimmers, wo er den Horla wähnt, um »ihn zu packen, ihn zu erwürgen und zu töten«. Schließlich gewinnt dieser Gedanke der Befreiung von dem unsichtbaren Tyrannen die Oberhand. Er läßt Fenster und Türen seines Zimmers mit fest verschließbaren eisernen Laden versehen und »L'affaire Allard« (»Unheimlidie Gesdiiditen«), Paul Lindaus neuerdings auch verfilmtes Drama »Der Andere«, Georg Hirschjela »Das zweite Leben« u. a. m. 15 Gänzlich außer adit lassen wir die okkulte Auffassung des Doppelgängertums, wie sie als gleichzeitige Existenz desselben Individuums an zwei versdiiedenen Orten interpretiert wird. Als typisdien Vertreter dieser Lehre vergleiche man Strindherg: »Inferno. Legenden« (Sämtl. Sehr., deutsch v. Schering, IV, 4, Verlag Müller, München), p. 50 f., 285 etc. - In vielen Dichtungen Strindhergs ist die Spaltung der Persönlichkeit bis zum Extrem geführt (vgl. bes. den Roman »Am offenen Meere«). Über Strindhergs Paranoia vergleiche man die Pathographie von S. Rahmer (Grenzfragen d. Lit. u. Mediz. Heft 6, 1907). 122

schleicht sich eines abends vorsichtig heraus, um den Horla unentrinnbar einzuschließen. Dann steckt er das Haus in Brand und sieht von Ferne zu, wie es mit allem, was darin lebt, zugrunde geht. Aber zuletzt kommen ihm doch Zweifel, ob der Horla, dem das ganze galt, vernichtet werden könne und er sieht als einzig sicheren Weg zur Befreiung den eigenen Selbstmord 1 . Auch hier trifft also wieder der dem doppelgängerischen Ich zugedachte Tod die eigene Person. Wie weit die Spaltung derselben geht, zeigt eine vor der entscheidenden Katastrophe sich abspielende Spiegelphantasie. Der Held hat sein Zimmer hell erleuchtet, um dem Horla aufzulauern. »Hinter mir steht ein hoher Spiegelschrank, der mir täglich dazu gedient hat, mich zu rasieren, mich anzuziehen und in dem ich mich jedesmal, wenn ich vorüberging, von Kopf bis zu Fuß betrachtete. Ich tat also, als schriebe ich, um ihn zu täuschen, denn auch er spähte nach mir. Und plötzlich fühlte ich, ich war meiner Sache ganz sicher, daß er über meiner Schulter gebeugt las, daß er da war und mein Ohr streifte. Ich stand auf, streckte die Hände aus und drehte mich so schnell um, daß ich beinahe gefallen wäre. Und nun? Man sah hier so gut wie am hellen Tage, und ich sah mich nicht in meinem Spiegel. Das Glas war leer, klar, tief, hell erleuchtet, aber mein Bild war nicht darin, und ich stand noch davor, ich sah die große, klare Spiegelscheibe von oben bis unten und sah das mit entsetzten Augen an! Ich wagte nicht mehr, vorwärts zu gehen, ich wagte keine Bewegung zu machen, ich fühlte, daß er da war, aber daß er mir wieder entwischen würde, er, dessen undurchdringlicher Körper hinderte, daß ich mich selbst spiegeln konnte. Und Entsetzen! plötzlich sah ich mich selbst in einem Nebel mitten im Spiegel, in einem Schleier, wie durch Wasser hindurch und mir war es, als ob dieses Wasser von links nach rechts glitte, ganz langsam, so daß von Sekunde zu Sekunde mein Bild in schärferen Linien erschien ... Endlich konnte ich mich vollkommen erkennen und das Entsetzen blieb mir in den Gliedern, daß ich jetzt noch zittere« ". In einer kleinen Skizze »Lui« 1S, die sich wie ein Entwurf zum »Horla« ausnimmt, hat Maupassant einzelne für uns interessante 18

In einer ähnlichen Schilderung von Poritzky (»Geistergesdiichten«) ist »der Unbekannte« der Tod, der dem Betreffenden gleichfalls unablässig und unsichtbar folgt. 17 Maupassants gesammelte Werke, übersetzt von G. v. Ompteda. Bd. VII. 18 Deutsch von Moeller-Bruck, Reclam-Bibl. Nr. 4315, p. 10 ff. "3

Züge deutlicher hervortreten lassen. So die Beziehung zum Weib, denn die ganze Erzählung von dem geheimnisvollen »Er«, der dem Helden die grauenhafte Furcht vor sich selbst einflößt, erscheint als das Geständnis eines Mannes, der sich gegen seine bessere Einsicht verheiraten will, verheiraten muß, einfach aus dem Grunde, weil er es nicht mehr erträgt, nachts allein zu sein, seit er einmal beim Nachhausekommen »Ihn« im Lehnsessel am Kamin den Platz einnehmen sah, den er selbst innezuhaben pflegte. »Er verfolgt mich unaufhörlich. Das ist Wahnsinn! Doch es ist so. Wer, Er? Ich weiß sehr wohl, daß er nicht existiert, daß er nicht wirklich ist. Er lebt bloß in meiner Ahnung, in meiner Furcht, in meiner Angst! —Wenn wir jedoch zu zwei sein werden, fühle ich deutlich, ja ganz deutlich, wird er nicht mehr da sein. Denn er ist nur da, weil ich allein bin, einzig weil ich allein bin!« Die gleiche Stimmung hat, zu melancholischer Resignation abgetönt, ergreifenden Ausdruck in Mussets »La nuit de d cembre« (1835) gefunden. In einem Zwiegespräch mit der »Vision« erzählt der Dichter, daß ihm seit der Kindheit immer und überall ein schattenhafter Doppelgänger folge, der ihm wie ein Bruder gleiche. In den entscheidenden Momenten seines Lebens erscheint ihm der schwarzgekleidete Begleiter, dem er nicht entrinnen kann, so weit er auch vor ihm flieht und dessen Natur er nicht zu erkennen vermag. Und wie er einst als verliebter Jüngling mit seinem Doppelgänger allein war ", so ist er nun viele Jahre später eines nachts in süße Erinnerungen an die Zeit der Liebe versunken, als die Erscheinung sich wieder zeigt. Der Dichter sucht ihr Wesen zu ergründen, er spricht sie als böses Geschick, als guten Engel und schließlich, als die Erinnerungen an die Liebe sich nicht verscheuchen lassen, als sein eigenes Spiegelbild an: Mais tout a coup j'ai vu dans la nuit sombre Une forme glisser sans bruit. Sur mon rideau j'ai vu passer une ombre; Elle vient s'asseoir sur mon lit. 19

A Tage oü croit ä l*amour, J'ltais seul dans ma diambre un jour, Pleurant ma premiere misere. Au coin de mon feu vint s'asseoir Un £tranger vetu de noir, Qui me ressemblait comme un fr£re. 124

Qui done es-tu, morne et pale visage, Sombre portrait vetu de noir? Que me veux-tu, triste oiseau de passage? Est-ce un vain reve? est-ce ma propre image Que j'aper9ois dans ce miroir?

Schließlich gibt sich die Erscheinung als »Einsamkeit« zu erkennen. - Mag es auch auf den ersten Blick sonderbar erscheinen, daß die Einsamkeit, ähnlich wie bei Maupassant, als lästige Gesellschaft eines Zweiten empfunden und dargestellt wir, so liegt doch der Akzent - was auch Nietzsche aussprach - auf der Geselligkeit mit dem eigenen Ich, das sich als Doppelgänger objektiviert. Ein ähnliches Selbstgespräch mit dem eigenen personifizierten Ich liegt Jean Pauls »Beichte des Teufels bei einem großen Staatsbediensteten« zugrunde 20 . In interessanter psychologischer Einkleidung findet sich das gleiche Motiv in der »Eines Nachts« betitelten Erzählung von /. E. Poritzky 21. Dem in der Blüte der Jahre stehenden Helden der feinen Skizze scheint sich eines Nachts »ein Faust an Alter und Weisheit« anzuschließen zu tiefsinnigem, erinnerungsreichem Zwiegespräch. Der Alte erzählt von einer tags zuvor erlebten Mitternachtsstunde, in der ihn vor dem Spiegel eine Erinnerung aus der 20

Ähnliches findet sidi bei Coleridge (Poems) und Baudelaire (Fleurs du Mal). Vom ersten sei das Gedidit »Verwandlung« (in der Nadididitung von Hugo v. Hofmannsthal) erwähnt, das ähnlidi wie Mussets Verse ein Zwiegespräch zwischen dem Freund und dem Diditer darstellt, dem sein eigenes wahres Ich erscheint: »Bann es in eines Augenblickes Räume, So ist's ein bröckelnd Nidits vom Land der Träume. Nimm, Jahre haben dunkel dir gewirkt, Du siehst, was jedes Leben in sidi birgt.« Von Baudelaire stehe hier als Beispiel eine Strophe aus »Le jeu« .(übersetzt von Wolf v. Kalckreuth): »Das ist das schwarze Bild, das idi im bösen Traume Mit allzuklarem Bude erspäht in näditger Zeit. Ich selber schaute in dem grauenhaften Räume Mich aufgestützt, stumm und von tiefem Neid.« Die Unmöglichkeit, von der Vorstellung des eigenen Ich loszukommen, hat Wedekind in dem Gedicht »Der Gefangene« geschildert. 21 »Gespenstergeschichten.« Georg Müller, Verlag, München 1913. In der im selben Bande befindlichen Erzählung »Im Reiche der Geister« erscheint dem Studenten Orest Najaddin in geheimnisvoller Weise sein Doppelgänger (p. 84). "5

Kinderzeit überkam, welche die abergläubische Furcht, um Mitternacht in den Spiegel zu schauen, zum Inhalt hatte. »Ich lächelte in Erinnerung daran und trat vor den Spiegel hin, als wollte ich heute noch die Legenden der Jugend Lüge strafen und verhöhnen. Ich blickte hinein, aber da meine Vorstellung ganz von meinen Knabenjahren erfüllt war, und ich mich im Geiste so schaute, wie ich als Knabe ausgesehen hatte, da ich gewissermaßen ganz mein gegenwärtiges Sein vergessen hatte, blickte ich mit stierem Befremden in das durchfurchte Greisenantlitz, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte.« Diese Entrückung geht so weit, daß die Gestalt vor dem Spiegel mit ihrer ehemaligen Knabenstimme um Hilfe ruft und der Greis die Erscheinung schützen will, die plötzlich verschwunden ist. Er sucht sich Rechenschaft von dem Erlebnis zu geben: »Ich kenne die Spaltung unseres Bewußtseins sehr wohl, mehr oder minder stark hat sie jeder schon empfunden: Jene Spaltung, in der man seine eigene Person in allen bereits durchlaufenen Verwandlungen schattenhaft am Auge vorüberziehen sieht 2 i ... Aber es liegt auch die Möglichkeit in uns, zuweilen unsere zukünftigen Lebensformen zu erblicken . . . dieses Schauen des zukünftigen Selbst ist manchmal so stark, daß wir glauben, fremde Menschen zu sehen, die sich körperlich leibhaftig von uns ablösen, wie ein Kind vom Mutterleibe. Und dann begegnet man diesen von unserem Ich heraufbeschworenen Erscheinungen der Zukunft und nickt ihnen zu. Das ist meine geheimnisvolle Entdeckung28. Dem französischen Psychologen Ribot verdankt man einige sehr seltsame Beispiele seelischer Spaltung, die sich nicht schlechtweg als Halluzinationen erklären lassen. Ein sehr intelligenter Mann besaß die Fähigkeit, seinen Doppelgänger vor sich hin zu bannen. Er lachte stets laut über die Vision und der Doppelgänger antwortete mit dem gleichen Lachen. Lange Zeit hindurch belustigte ihn das gefährliche Spiel; schließlich nahm es aber ein böses Ende. Er kam allmählich zu der Überzeugung, daß er von 22 23

Wie in Mussets Versen. Man vergleiche dazu den in Hebbels Tagebüchern (3. VI. 1847) mitgeteilten Traum seiner Frau, wo sie in einem Spiegel ihr ganzes zukünftiges Leben sieht; zuerst sieht sie ihr Gesidu ganz jugendlich, dann immer älter werdend und am Schluß wendet sie sich ab in der Furcht, ihr Gerippe werde nun kommen. Siehe auch Hebbels Eintragung vom 15. Dezember 1846: »Jemand, der sich selbst im Spiegel sieht, und um Hilfe schreit, weil er einen Fremden zu sehen glaubt; man hat ihn nämlich angemalt.« 126

sich selbst verfolgt wurde, und da das andere Ich ihn unausgesetzt plagte, neckte und ärgerte, beschloß er eines Tages diesem traurigen Dasein ein Ende zu machen.« Nach Anführung eines weiteren Beispiels fragt der Greis den Begleiter, ob er sich noch nie alt fühlte, trotz seiner fünfunddreißig Jahre, und als dieser verneint, verabschiedet er sich. Der Jüngere will die Hand ergreifen, faßt aber zu seinem Erstaunen ins Leere, weit und breit ist kein Mensch zu sehen. »Ich war allein und mir gegenüber stand ein Spiegel, dessen Gefangener ich war, und erst jetzt, als er meine Augen freigegeben hatte, sah ich, daß die Kerze tief herabgebrannt w a r . . . Hatte ich mit mir gesprochen? Hatte ich meinen Körper verlassen, und war ich erst jetzt in ihn zurückgekehrt? Wer weiß... Oder hatte ich mich, wie Narziß, gegen mich selber gekehrt und war dann den künftigen Gestalten meines eigenen Ich begegnet und habe ihnen zugenickt? Wer weiß . . . « Eine für manche späteren Bearbeiter vorbildliche Gestaltung hat Edgar Allan-Poe dem Doppelgängerstoff in seiner Novelle »William Wilson« gegeben. Der Held der in der ersten Person erzählten Geschichte, der sich William Wilson nennt, begegnet schon in seiner Kindheit auf der Schule einem Doppelgänger, der mit ihm Namen, Geburtstag, aber auch Gestalt, Sprache, Benehmen und Gang so sehr teilt, das sie für Brüder, ja sogar für Zwillinge gelten. Bald wird der sonderbare Namensvetter, der den Helden in allem und jedem nachahmt, zum treuen Kameraden, unzertrennlichen Gefährten, schließlich aber zum gefürchteten Rivalen. Nur durch seine Stimme, die sich über den Flüsterton nicht erheben kann, unterscheidet sich der Doppelgänger noch von seinem Vorbild; aber auch diese ist in Tonfall und Aussprache identisch, so daß »sein eigenartiges Flüstern zum vollkommenen Echo meiner eigenen Stimme wurde«. *4 Trotz dieser unheimlichen Nachäffung ist der Held nicht fähig, sein Gegenstück zu hassen und vermag auch nicht, sich den von ihm »heimlich angedeuteten Ratschlägen«, denen er nur mit Widerwillen gehorcht, zu entziehen. Diese Toleranz wird einigermaßen dadurch gerechtfertigt, daß die Imitation anscheinend nur vom Helden selbst wahrgenommen wird, seinen Kameraden ** Übersetzt von Gisela Etzel (Poe: Das Feuerpferd u. a. Novellen. Mit 15 Bildbeigaben von Alfred Kubin. Verlag Georg Müller, Mündien 1910). Es sei darauf hingewiesen, daß Poe audi eine Parabel »Shadow« geschrieben hat (vgl. den Novellenband in Everyman's Library, p. 109).

aber nicht weiter auffällt. Ein Umstand war einzig geeignet, den Helden in Ärger zu versetzen und das war die Nennung seines Namens. »Sein Klang war meinen Ohren abstoßend, und als ich am Tage meines Schulantritts erfuhr, daß gleichzeitig ein zweiter William Wilson eintrete, war ich auf diesen zornig, weil er den verhaßten Namen trug, und dem Namen doppelt feind, weil auch noch ein Fremder ihn führte, der nun schuld war, daß ich ihn doppelt so oft hören mußte.« Eines Nachts schleicht der Held in die Schlafkammer seines Doppelgängers und muß sich dort überzeugen, daß die Züge des Schlafenden nicht das Resultat einer bloßen spöttischen Nachahmungssucht sein können. Entsetzt flieht er aus der Schule und kommt nach einigen Monaten eines Aufenthalts zu Hause als Student nach Eton. Dort beginnt er ein lockeres Leben zu führen und hat an die unheimliche Episode in der Schule längst vergessen, als ihm eines Nachts bei einem Zechgelage sein Doppelgänger, in der gleichen modernen Kleidung, nur mit undeutlichen Gesichtszügen, erscheint. Er flüstert nur warnend die Worte »William Wilson« und verschwindet. Alle Nachforschungen nach seinem Wesen und seinem Verbleib sind erfolglos. Es stellt sich nun heraus, daß er am selben Tage aus der Schule verschwunden war wie sein Vorbild. Bald danach geht der Held nach Oxford, wo er sein äußerst luxuriöses Leben fortsetzt, aber moralisch immer tiefer sinkt und auch vor den Kniffen des Falschspiels nicht zurückschreckt. Eines Abends, als er in Gesellschaft eben hohe Summen auf diese Weise gewonnen hatte, tritt der Doppelgänger plötzlich ein und enthüllt sein Gebaren. Beschämt und geächtet muß sich Wilson zurückziehen und verläßt am nächsten Morgen Oxford, um - ähnlich wie Mussets Dichter — durch ganz Europa ruhelos von Ort zu Ort zu fliehen. Aber überall durchkreuzt der Doppelgänger seine Unternehmungen, allerdings immer in einer Unheil verhütenden Weise. Endlich kommt es, nachdem Wilson beschlossen hatte, sich der drückenden Tyrannei des Unbekannten um jeden Preis zu entziehen, in Rom auf einem Maskenball zur Katastrophe. Eben versucht Wilson, sich der reizenden Gattin seines alternden Gastgebers zu nahen, als ihn eine Hand an der Schulter faßt. Er erkennt in der Maske, die genau wie er gekleidet ist, seinen Doppelgänger und zieht ihn in einen Nebenraum, wo er ihn zum Duell herausfordert. Nach kurzem Zweikampf stößt er dem Doppelgänger den Degen ins Herz. Da rüttelt jemand an der Türe, Wilson wendet sich für einen Augen128

blick ab» aber im nächsten Moment hat sich die Situation in überraschender Weise geändert. »Ein großer Spiegel - so schien es mir zuerst in meiner Verwirrung - stand jetzt da, wo vorher keiner gewesen war, und als ich im höchsten Entsetzen zu ihm hinschritt, näherten sich mir aus seiner Fläche meine eigenen Züge - bleich und blutbesudelt — meine eigene Gestalt, ermatteten Schrittes. So schien es, sage ich, doch war es nicht so. Es war mein Gegner - es war Wilson, der da im Todeskampfe vor mir stand. Seine Maske und sein Mantel lagen auf dem Boden, da, wo er sie hingeworfen. Kein Faden an seinem Anzug - keine Linie in den ausgeprägten und eigenartigen Zügen seines Antlitzes, die nicht bis zur vollkommenen Identität mein eigen gewesen wären! Es war Wilson; aber seine Sprache war kein Flüsterton mehr, und ich hätte mir einbilden können, ich selber sei es, der da sagte: >Du hast gesiegt, und ich unterliege. Dennoch, von nun an bist auch du tot — tot für die Welt, den Himmel und die Hoffnung! In mir lebtest du — und nun ich sterbe, sieh hier im Bilde, das dein eigenes ist, wie du dich selbst ermordet hastich kann meine Seele jeden Tag sehen, ich stelle mich einfach gegen die Sonne< (Mansfeld). So berichtet Spieth von den Eweleuten: >In seinem Schatten ist die Seele des Menschen zu sehenDen persönlich gedachten ... Seelenstoff glaubt man verkörpert im Schattem, Klamroth von den Saramo: >Der Schatten, den der lebendige Mensch warf, wird durch Vereinigung mit der Seele des Verstorbenen zum kungu (Geist)Denn die Seele (mayo auch = anatomisch Herz) verwest, aber der Schatten verwest nichtWas von den Gestorbenen bleibt und in das Totenreich hinabsteigt, das ist sein Schatten: kirische. Dies ist nicht etwa nur ein Bild für die durch den Tod körperlos gewordene Persönlichkeit, sondern es bezeichnet rein wörtlich den Schatten des Menschen, wie er sich im Sonnenlichte auf die Erde zeichnet. Dieselbe Vorstellung bei den Salisch und im fernen 82 Westen KanadasIdi< verniditen« (Nadi Mereschkowski, p. 65). Wie sich der Narzißmus des Mannes damit abzufinden sudit, zeigt eine für Strindbergs ganze Einstellung zum Weib typisdie Stelle aus »Legenden« (p. 293): »Wir beginnen ein Weib zu lieben, indem wir bei ihr Stück für Stück unserer Seele niederlegen. Wir verdoppeln unsere Persönlidikeit und die Geliebte, die bisher gleidigültig, neutral war, beginnt sidi in unser anderes Ich zu kleiden und sie wird unser Doppelgänger.« In Villiers de l'hle-Adams Novelle »Vera« genügt es dem Manne, seine junge verstorbene Frau zu halluzinieren, gleidisam in seiner eigenen Person audi sie zu verkörpern und er fühlt sidi in diesem Doppelleben glücklich. - Narzißtische Phantasien und Spiegelphantasien in desselben Autors Novelle »Sei ein Mann« (1. c.). 187 Heinzelmann 1. c. p. 60.

187

Form der pathologischen Selbstliebe wie in der griechischen Sage oder bei Oskar Wilde, dem Vertreter des modernsten Ästhetentums, sei es in der Abwehrform der pathologischen, oft bis zum paranoischen Wahnsinn führenden Angst vor dem eigenen Ich, das im verfolgenden Schatten, Spiegelbild oder Doppelgänger personifiziert erscheint. Auf der anderen Seite kehrt aber in denselben Phänomenen der Abwehr auch die Bedrohung wieder, vor der sich das Individuum schützen und behaupten will, und so kommt es, daß der die narzißtische Selbstliebe verkörpernde Doppelgänger gerade zum Rivalen in der Geschlechtsliebe werden muß oder daß er, ursprünglich als Wunschabwehr des gefürchteten ewigen Untergangs geschaffen, im Aberglauben als Todesbote erscheint.

Theodor Reik

Künstlerisches Schaffen und Witzarbeit [1929] Spiritus flat, ubi vult. Joh. 3, 8. I

Die Disziplin der Ästhetik, die noch immer zwischen normativer und psychologischer Betrachtungsweise schwankt, untersucht innerhalb der Kategorie des Komischen auch die Entstehung, die Mittel und die Lustwirkung des Witzes. Soweit meine allerdings beschränkte Kenntnis reicht, ist es bisher keinem ernstzunehmenden Forscher dieser Wissenschaft eingefallen, die geheimnisvollen seelischen Vorgänge des künstlerischen Schaffens und diejenigen Prozesse, die man als Witzarbeit bezeichnen kann, in Zusammenhang miteinander zu bringen. Eine solche Verbindung scheint sich schon durch den ungeheuren Abstand des Produktes beider Leistungen, etwa eines Shakespeare-Or&mzs und eines gelungenen Witzwortes zu verbieten. Ein solcher Eindruck mag allerdings den Ästhetiker von einem Versuch, hier Zusammenhänge finden zu wollen, abschrecken. Er wird den Psychologen, dem Werturteile fernliegen, nicht abhalten, wenn dieses Beginnen ihm durch andere Gesichtspunkte nahegelegt wird. Ein solcher Vergleich der

künstlerischen Konzeption und der Witzarbeit braucht auch keineswegs Übereinstimmungen in den meisten Punkten anzustreben und zu ergeben. Manchmal liefert gerade die Berücksichtigung der entscheidenden Differenzen neben der der Gemeinsamkeiten überraschende Aufschlüsse. Für den psychologischen Forscher wird es schon wertvoll sein, wenn ein Stück Übereinstimmung ihm einen Zugang zu bisher ungeklärten und unverstandenen Sachverhalten eröffnet, auch wenn die eigene Fähigkeit, die Probleme zu lösen, nicht ausreichend ist. Vielleicht kann ich die Entrüstung, die angesichts eines so »blasphemischen« Vergleiches aufsteigen will, ein wenig beschwichtigen, wenn ich berichte, wie ich zu einem so absurd scheinenden Versuch gelangt bin. Ein Zusammentreffen dreier Eindrücke von ungleicher Stärke sind von mir - ich weiß nicht, ob mit Recht - dafür verantwortlich gemacht, daß diese gedankliche Verknüpfung auftauchte. Der erste Eindruck entstammt dem Bericht eines Patienten, der an einer Zwangsneurose erkrankt ist, über einen seiner Tagträume. Es handelte sich um eine jener häufig auftretenden Phantasien, die seine Aufmerksamkeit in der Analyse gerade in dieser Zeit stark beschäftigen. Während eines längeren Spazierganges waren seine Gedanken immer wieder zu seiner Frau zurückgekehrt. Es hatte vor kurzem einen ernsthaften Konflikt in seiner Ehe gegeben, durch den die Möglichkeit des Zusammenlebens in Frage gestellt schien. In seinen Gedanken versuchte er nun, seine Frau zu rechtfertigen und sich aller Umstände zu erinnern, die ihr Verhalten in einem milderen Lichte erscheinen ließen und auf seine eigene Schuld an dem Zerwürfnis hinwiesen. Gerade an dieser Stelle tauchte nun mitten im Straßenlärm jener Tagtraum auf, der folgenden Inhalt hatte: seine Frau würde einem Autounfall zum Opfer fallen oder an einer plötzlichen Krankheit sterben. An die Stelle dieser Phantasie trat rasch eine andere, welche ihm die Situation zeigte, daß seine Frau auf dem abendlichen Heimwege von einer Besorgung in einer menschenleeren Gasse von einem Räuber angefallen und ermordet werde. In der Fortsetzung jenes Tagtraumes dachte er, er selbst würde dann, von ihrer tyrannischen Launenhaftigkeit befreit, sein Leben in vollen Zügen genießen, mit dem durch den verminderten Haushalt ersparten Gelde weite Reisen machen und seinen wechselnden Liebhabereien leben. Auch die Aussicht auf manches Band mit Frauen, das leicht geknüpft und leicht gelöst werden könnte, tauchte lockend auf. Es wird den Psychologen kaum überraschen, 189

wenn er erfährt, daß sich der Träumer, an diesem Punkte seiner Gedanken angelangt, mit einem gewissen Schauer von seiner Phantasie abwandte und eine reaktiv verstärkte Zärtlichkeit für die in ihr so schlecht behandelte Gefährtin verspürte. In diesem Zusammenhange wird es auch nicht als Zufall erscheinen, daß er sich einige Minuten nachher beim Überqueren eines verkehrsreichen Platzes so wenig aufmerksam erwies, daß er fast selbst unter die Räder eines fahrenden Automobils geriet. Ich wurde an den Tagtraum meines Patienten wieder erinnert, als ich am selben Abend die Lektüre eines Romanes, der mir empfohlen worden war, »An American Tragedy« von Theodore Dreiser, fortsetzte. Ich hatte aufmerksam den Weg des Helden der Erzählung, Clyde, der ihn aus einem erbärmlichen sozialen Milieu fortführt und zum beneideten Liebling einer reichen und verwöhnten Gesellschaft von Milliardären und ihren Damen werden läßt, verfolgt. Der Roman schildert nun, wie der junge Mann, der zuerst eine niedrige Stellung bekleidet und arm und einsam ein durch Ehrgeiz und Neid verdüstertes Dasein führt, ein junges Mädchen verführt, das von ihm schwanger wird. Von einem jener reichen und schönen Mädchen aus dem Milliardärmilieu angezogen, will er sich nun jener Verantwortung rasch entziehen und die Verbindung mit der reichen Dame betreiben, die Glück, Luxus und große Karriere zu versprechen scheint. Das schwangere Mädchen, das fühlt, wie ihr der Geliebte immer mehr entgleitet, drängt angstvoll zur Heirat. In diesem schweren seelischen Konflikt taucht in Clyde, durch einen Zeitungsbericht angeregt, ein verbrecherischer Plan auf, den er wirklich ausführt. Er bestellt die Geliebte zu einem Rendezvous, fährt sie auf einen einsamen See hinaus, tötet sie und versenkt den Leichnam ins Wasser. Die Auffindung der Leiche, die Verhaftung und die Überführung des Verbrechers, sowie seine Hinrichtung bilden den letzten Teil des Romanes, der mehr als ein Einzelschicksal schildern will. In großen, reinen Linien wird hier die Umwelt des amerikanischen Proletariats und die einer oberflächlichen Luxuswelt gezeichnet und das Seelenleben bestimmter Typen junger, amerikanischer Menschen mit erstaunlicher, psychologischer Klarheit und Prägnanz dargestellt. War es ein Zufall, daß der Bericht über einen ergötzlichen Vorfall, der sich einige Tage später in einer Zeitung fand, meine Gedanken noch einmal zu jenem Tagtraum meines Patienten zurückführte? Es wurde dort von dem Treiben einer Verbrecherbande er190

zählt, welche sich romantisch »Die schwarze Hand« nannte und bestimmte Gegenden in den südamerikanischen Staaten unsicher machte. In einer Stadt jenes heimgesuchten Rayons lebte nun seit Jahr und Tag ein fleißiger und wohlhabender Bürger, auf dessen sonst behagliches Dasein die Tyrannei einer stets nörgelnden und streitsüchtigen Ehefrau einen schweren Schatten warf. Dieser Mann erhielt eines Tages einen Erpresserbrief der »Schwarzen Hand«, in dem ihm aufgetragen wurde, binnen zwei Tagen die Summe von ooo Dollar an einem bestimmten Orte zu hinterlegen, widrigenfalls seine Gattin für immer spurlos verschwinden werde. Die Antwort, die in die Hände des Bandenführers gelangte, hatte folgenden Wortlaut: »Verehrter Herr! Ich habe zwar keine 10000 Dollar, bringe aber Ihrem freundlichen Vorschlage großes Interesse entgegen.« Die Eindrücke, die aus so verschiedenem Material stammen, haben sich nach einiger Zeit stark genug erwiesen, um zu bestimmten Gedanken über das Entstehen des Tagtraumes, das künstlerische Schaffen und die Witzarbeit zu führen, denen ich nun selbst neugierig folgte. Der Tagtraum meines Patienten unterscheidet sich in keinem wesentlichen Punkte von anderen Produkten dieser Art, wie wir sie häufig genug in der Analyse gesunder und seelisch erkrankter Personen kennenlernen. Dreisers Roman ist, zu welchem Urteil man auch immer über seine besonderen Eigenschaften gelangt, unstreitig ein Kunstwerk, dessen Gestaltungskraft uns einen hohen ästhetischen Genuß verschafft. Jene Antwort des in seinem Eheglück bedrohten Bürgers aber ist gewiß ein exquisiter Witz, der seine Gattung vorzüglich repräsentiert. Ist nun ein Zusammenhang zwischen diesen drei so verschiedenen seelischen Produkten aufzeigbar? II

Es scheint nicht zweifelhaft zu sein, daß der berichtete Tagtraum, das Kunstwerk und der angeführte Witz denselben wesentlichen seelischen Inhalt haben, so different dieser auch in jeder dieser drei Bildungen behandelt wird. Bei allen handelt es sich um den Ausdruck von sonst verborgen gehaltenen, sozial verpönten Wunschregungen, die auf die gewaltsame Entfernung oder Tötung eines nahestehenden Objektes abzielen. Dieses Objekt ist nun Gegenstand jener eigenartigen, zwischen Haß und Liebe schwankenden Gefühlseinstellung, die man in der Psychoanalyse als ambivalent bezeichnet. 191

Die Übereinstimmung in den drei Phantasieschöpfungen geht so weit, daß in ihnen allen ein Zusammenhang zwischen dem Objekt jener ambivalenten Einstellung und bestimmten materiellen Ansprüchen besteht. Nicht der seelische Inhalt, sondern die Form, in der dieser seine Gestaltung gefunden hat, ist es also, was die drei psychischen Schöpfungen unterscheidet. Die Tatsache, daß in diesen drei Beispielen derselbe Stoff in so verschiedenartiger Gestaltung erscheint, gibt an sich keine Aufklärungen über einen allgemeineren Zusammenhang von Tagtraum, Kunstwerk und Witz. Eine eindringende psychologische Betrachtung zeigt, daß es allgemein dieselben Konflikte und seelischen Vorgänge sind, die in Tagtraum, Dichtung und Witz zur Darstellung gelangen. Diese Gemeinsamkeit ergibt sich aus den psychischen Voraussetzungen und Zielen dieser Bildungen. Der Tagtraum ist eine Vorstufe der Dichtung. In ihm erscheinen die Wünsche des Einzelnen, die er sorgsam vor anderen geheim gehalten hat, erfüllt. Der Tagträumer erringt Erfolg und Beifall, gewinnt ein reizvolles Mädchen, gelangt zu Ruhm und Reichtum, erfüllt eine große Mission usw. Es bildet keinen Widerspruch zu dieser allgemeinen Funktion der Wunscherfüllung des Tagtraumes, daß er manchmal auch peinlichen oder schreckhaften Charakter hat. Es handelt sich in diesen Fällen eben um die Wunscherfüllung von Bestrafungstendenzen, die sich als Reaktion auf das Auftauchen verbotener oder vom Ich abgelehnter Regungen eingestellt haben. In diesen zwischen bewußtem und unbewußtem Seelenleben schwankenden Bildungen verbergen sich nämlich hinter der bewußtseinsfähigen Fassade, welche die Erfüllung bestimmter Wünsche des Einzelnen zeigen, Strebungen anderer Art, inzestuöse, grob-egoistische und sinnliche Triebregungen. Der Tagträumer weiß so nur in einem begrenzten Ausmaße, worin der Lustgewinn an seiner Phantasie liegt. Er weiß häufig (nicht immer), daß die Erreichung der in seinem Tagtraum auftretenden Ziele lustvoll ist, aber er weiß nicht, daß sich hinter ihrem manifesten Inhalt ein anderer, geheimer, weit weniger harmloser verbirgt. Wie der Tagtraum erfüllt auch das Kunstwerk diese verdrängten Regungen seines Schöpfers und zeigt die bewußt abgewehrten Impulse befriedigt. Durch ihre Darstellung befreit sich der Dichter von dem seelischen Druck, mit dem ihre Unterdrückung verbunden ist. Auch der Witz bringt eine solche, freilich verschiedenartige Befreiung von Hemmungsaufwand, der zur Niederhaltung sozial verbotener, sexueller und aggresiver Triebregungen notwendig war. 192

Der Tagtraum darf völlig egoistisch sein, da er nicht zur Mitteilung an Andere bestimmt ist.1 Aus demselben Grunde darf er auch auf kunstvolle Ordnung, auf Logik und Aufbau verzichten und wird sein Interesse nur auf einige Bilder oder Szenen konzentrieren. Er braucht seiner Natur nach ja nur für den Träumer verständlich zu sein. Aus dem Rohmaterial des Tagtraumes formt sich in langsamer, unterirdischer, psychischer Art die Dichtung. Sie muß das rein Egoistische abstreifen, muß Ordnung und Zusammenhang zwischen ihren einzelnen Elementen herstellen, einen kunstvollen Aufbau und eine sorgfältig durchgearbeitete Form anstreben; sie muß ferner allen verständlich sein. Der wesentliche Unterschied zum Tagtraum ergibt sich daraus, daß dieser asozial ist, die Dichtung aber eine große soziale Leistung darstellt. Der Witz ist sozial wie das Kunstwerk; der Witzige begnügt sich nicht etwa damit, die Nichtswürdigkeit oder Nichtigkeit eines Objektes zu erkennen. Er strebt danach, sie Anderen mitzuteilen, seine Erkenntnis darzustellen. Aus dem Vergleich des früher dargestellten Tagtraumes, der Dichtung »Eine amerikanische Tragödie« und jenem Witz des Ehemannes hat sich die Auskunft ergeben, daß in diesen drei Bildungen verpönte, von der Gesellschaft streng verurteilte Wünsche zum Ausdruck kommen. Die Geheimhaltung des Tagtraumes, die allgemein gilt und nur durch die Psychoanalyse eine notwendige Durchbrechung erfährt, sowie die Affekte, die ihm folgten, legen Zeugnis von ihm ab, daß sich der Träumer eines Inhaltes schämt, d. h. daß er ein Schuldgefühl mit ihm verbindet. Nichts mehr von jenem Schuldgefühl ist dem Dichter bewußt. Die Bewußtseinsarbeit hat es vermocht, das Inhaltliche seines Werkes von seinem Ich abzulösen, ihm eine allgemein-menschliche Einkleidung zu geben und er strebt danach, sein Produkt seinen Zeitgenossen zu zeigen. Wir wissen, daß auch beim Künstler jenes Schuldgefühl, das an dem latenten Inhalt seines Werkes hängt, unbewußt bestehen bleibt, aber es scheint, daß ein Teil davon gerade durch die Arbeit an der Form, durch das Ringen mit dem widerstrebenden Vorstellungs- und Sprachmaterial bewältigt wird. Ein anderes, schwer auffindbares Stück jenes unbewußten Schuldgefühles bleibt gewiß noch lebendig. 1

Über den Tagtraum und seine seelisdien Besonderheiten vgl. das sdiöne Budi von Hanns Sachs »Gemeinsame Tagträume«, Imago-Büdier, Bd. V, Wien 1925. 193

Ähnlich müssen die psychischen Verhältnisse beim Witzigen liegen. Auch dort muß das Auftauchen verbotener, sexueller und aggressiver Tendenzen von einer Reaktion des Schuldgefühls begleitet sein, obwohl uns nichts dergleichen am Schöpfer des Witzes auffällt. Aber auch dort scheint es, als könne die intellektuelle und affektive Leistung, die wir als Witzarbeit bezeichnen, einen Teil dieses verborgenen Schuldgefühls seelisch bewältigen helfen. Wir werden also darauf verweisen, daß ein Stück Schuldgefühl durch das Gelingen der Leistung seine Beschwichtigung erhält. Die soziale Leistung des Lustgewinnes, die der Dichter und der Witzige Anderen zuteil werden läßt, hat rückwirkend eine Art seelischer Befreiung für ihn selbst zur Folge. Wir werden an dieser Stelle einer merkwürdigen psychologischen Antinomie gewahr. Das Auftauchen unterdrückter, verbotener Regungen sowie die geheime Darstellung ihrer Wunschziele im Tagtraum und in Phantasien erscheint von starkem Schuldgefühl begleitet. Wenn es gelingt, mit der Gestaltung dieser eigenen verborgenen Wunschregungen auch Anderen Lust zu bringen, wird das individuelle Schuldgefühl geringer. Ich begnüge mich hier mit dem Hinweis darauf, daß das Schuldgefühl von der Natur der sozialen Angst ist und dieses, sein tiefstes Wesen die Beschwichtigung erklärt, die durch die soziale Leistung erzielt wird. Die Fortsetzung dieser Studie wird Anlaß geben, auf diesen wichtigen Punkt zurückzukommen. III

Die Abgrenzung ist für die Zwecke dieser Untersuchung von jetzt an durch die Linie gegeben, welche die soziale Leistung von den Bildungen scheidet, die rein eigensüchtige Ziele verfolgen und von der Wirkung auf andere absehen. Wir können deshalb die psychologische Erörterung des Tagtraumes in den Hintergrund treten lassen und uns auf die Erforschung der psychologischen Zusammenhänge zwischen künstlerischem Schaffen und Witzarbeit beschränken. Die Dichtung - hier als Repräsentantin aller Künste betrachtet bringt ihre spezifische Lustwirkung durch das Zusammenwirken zweier Komponenten zustande. Sie bietet vorerst den Zuhörern eine wichtige Verlockungsprämie in der Form der Vorlust, indem diese Gefallen an der kunstvollen Form und Gestaltung, an Reim und Wortwahl, am Aufbau und an der Symmetrie des Ganzen finden. Durch diese Vorlust bestochen, gelangen sie dazu, williger die verborgenen Inhalte des Kunstwerkes aufzunehmen und zu genie194

ßen. Diese Endlust hängt aber völlig an der dargestellten Erfüllung jener geheimen Regungen, die der Dichter unbewußt zum Ausdruck bringt. Ebenso kommt die Lustwirkung des Witzes zustande. Die ihm eigentümliche Lust stammt ebenfalls aus zwei Quellen: aus den kunstvollen Mitteln, die seine Technik zur Hand gibt, und aus seinen geheimen Tendenzen. Es ist leicht darstellbar, daß der psychische Vorgang der Lustentbindung beim Zuhörer nur den beim Dichter selbst kopiert. Der Künstler verschiebt die an den Tendenzen hängende starke Affektenergie auf ihre Gestaltung. Auch er überschätzt kraft dieses typischen Verschiebungsmechanismus die Bedeutung der Formung, ja, es läßt sich ahnen, daß er den Mut zur Darstellung jener verpönten Regungen erst durch die Möglichkeit, ihnen diese besondere, auf das Feinste angepaßte, in ihrer Enthüllung verhüllende Form zu geben, gewinnt. Wir haben ja bemerkt, daß der Tagträumer, der sich in der Phantasie mit denselben verbotenen Wunschregungen beschäftigt, die selbstgeschaffenen Bildungen sorgsam geheim hält. Auch der Schöpfer des Witzes würde sich nicht getrauen, seine besonderen aggressiven und erotischen Tendenzen zu äußern, wäre er nicht sicher, daß er durch die witzige Form auch eine tolerante Beurteilung, ja sogar Beifall für ihren Inhalt gewärtigen könnte. Diese hohe Bedeutung der Form aber läßt uns erkennen, daß hier die Lösung eines der wichtigsten Probleme des ästhetischen Schaffens und Genießens zu suchen ist. Geben wir vor allem zu, daß wir nicht wissen, was uns eigentlich in der Dichtung ergreift und im Witz lachen macht, weil die tiefsten Motive unserer Gefühlsreaktion unbewußter Art sind, daß wir uns, wären die in der Dichtung und im Witz enthaltenen Regungen kraß und formlos zutage getreten, abgestoßen fühlen würden und daß erst die ästhetische Form uns so sehr besticht, daß wir auch auf den so verpönten Inhalt mit lustvollen Affekten reagieren, so ergibt sich folgende psychologisch interessante Problemlösung: ein dem Bewußtsein unerträglicher Sachverhalt, dessen Inhalt ein unbewußtes Triebziel darstellt, wird durch die bewußte Lustwirkung an der Form in erhöhtem Grade lustvoll. Dadurch, daß eine Lustquelle, die ästhetische Freude, eröffnet wird, wird auch die dahinterliegende, verborgenere, verschüttete Lustquelle wieder lebendig. Es handelt sich also um eine psychische Summationswirkung: Vorlust aus dem ästhetischen Gefallen an der Form plus Endlust aus der Affektabfuhr verbotener Triebregungen. Eine solche innige psychologische 195

Verbindung ist aber nach den Forschungsresultaten der Psychoanalyse nicht möglich, wenn nicht ein geheimer, wesentlicher Zusammenhang zwischen den beiden, anscheinend voneinander unabhängigen Elementen besteht. Wir kommen der Lösung der Frage am nächsten, wenn wir sagen: was heute Form ist, war selbst einmal ein Stück Inhalt; was wir heute als Schale bezeichnen, selbst einmal ein Teil des Kernes. Es ist also eine spätere Differenzierung, welche jene anscheinende Unabhängigkeit des einen Elementes vom anderen ermöglicht. Es muß aber jene ursprüngliche, später verlorengegangene Identität sein, welche die aufgezeigte Summierung der Lustwirkung zustande kommen läßt. IV

Der psychische Vorgang des dichterischen Schaffens hat seit jeher das Interesse der Menschen angezogen, weil er uns Alltagsmenschen so rätselhaft schien. Die psychoanalytische Forschung hat nun gezeigt, daß wir alle unbewußt ein Stück jener seelischen Arbeit leisten, über deren Sonderbarkeit wir uns verwundern. Im Traume werden wir Unbegabten alle zu einer Art Dichter. Die Psychoanalyse hat erwiesen, daß im Traume ein Stück rezentes Erleben Anschluß an alte verdrängte Wünsche gefunden hat, welche die Traumbilder in entstellter Form als erfüllt darstellen. In ähnlicher Art muß sich der Vorgang des dichterischen Schaffens abspielen. Ein flüchtig gelesener Zeitungsbericht wird etwa in dem Dichter zunächst unklare, allmählich klarer werdende Phantasien entstehen lassen, aus denen sich langsam durch jenen Entpersönlichungs- und Formungsprozeß - wir haben gesehen, daß beide miteinander verbunden sind — eine gegliederte, organisch wachsende Dichtung kristallisiert. Das Wesentliche der dichterischen Arbeit geht im Unbewußten vor sich. Der aktuelle Anlaß wird psychisch bedeutungslos und fällt bewußt häufig dem Vergessen anheim. Was aus ihm wird, wie er sich erweitert und vertieft, welche Vorstellungs- und Affektverknüpfungen er eingeht, wird mehr und mehr bedeutungsvoll. Es ist etwa so, wie wenn ein Gegenstand in einen tiefen See fällt, immer tiefer und tiefer, dort am Grunde lange liegen bleibt und allen Veränderungen der Tiefendimension unterliegt, von fremdem Material umsponnen und durchdrungen wird und nun unter dem Einfluß einer bestimmten Kraft wieder langsam an die Oberfläche steigt, bis er wieder ans helle Tageslicht gelangt. 196

Man darf, ohne den Unterschied der Art zu vernachlässigen, den Vorgang der Witzarbeit mit dem der dichterischen Konzeption in dieser Richtung vergleichen. Freud hat gezeigt, daß dieser Prozeß der Witzbildung so vor sich geht, daß ein vorbewußter Gedanke für einen Augenblick der unbewußten Bearbeitung unterliegt, um dann vom Bewußtsein erfaßt zu werden. Dieser Vorgang kann uns vielleicht gerade durch seine Abweichungen einige Sonderzüge des dichterischen Schaffens besser verstehen lassen. Es ist klar, daß vor allem das Zeitmoment innerhalb der beiden Prozesse einen entscheidenden Unterschied bedingt. Im Witz wird der vorbewußte Gedanke nur für Sekunden dem Unbewußten überlassen, um dann ebenso rasch von der Bewußtseinsinstanz erfaßt zu werden. In der Dichtung versinkt das vorbewußte Material für Tage, Wochen oder Monate ins Unbewußte, kristallisiert sich langsam um den Kern, verlötet sich mit neuen Elementen. Eine langsame schmerzensreiche Bewußtseinsarbeit bringt dann dieses Produkt zur Formung. Würde der Witzige einen rezenten Einfall ebensolange der unbewußten und dann der bewußten Vorarbeitung überlassen, so käme sicherlich kein Witz zustande, sondern etwa ein sozialkritisches Werk. Setzen wir dichterische Begabung voraus, so würde vermutlich eine Satire oder, noch wahrscheinlicher, eine Tragödie aus der Grundstimmung, aus welcher der Witz entsteht, hervorgehen. Das Unterscheidende liegt sicherlich auch in der psychologisch unzugänglichen Frage der spezifischen Begabung, aber hier handelt es sich nur um den seelischen Vorgang und die ihm eigentümlichen Mechanismen. Der Witz wäre also in der Richtung des Zeitintervalls zwischen rezentem Eindruck und Gestaltung am ehesten jener Art der Lyrik zu vergleichen, die man als Gelegenheitspoesie bezeichnet. Seiner psychischen Dynamik nach aber steht er dem Drama am nächsten, weil in ihm ein seelischer Konflikt zwischen bestimmten Mächten und Gegenmächten (Triebtendenzen und den vorgelagerten Hemmungen) zur Entladung und Entlastung gelangt. Es hängt mittelbar sicher mit diesem besonderen Zeitmoment zusammen, daß zwei Elemente im Witze deutlich hervortreten, die der Dichtung nicht zu eigen sind. Der Witz verbirgt seinen egoistischen Charakter nicht so sorgfältig wie die Dichtung; der Witzige bekennt sich in ihm weit unzweideutiger zu seinen eigensüchtigen, sexuellen oder feindseligen Impulsen. Der Witz, in dem der vorbewußte Gedanke rasch ins Unbewußte versinkt und rasch wieder aus ihm auftaucht, ist sozusagen noch mehr behaftet und belastet mit allem Tang und allem Schlamm, der 197

aus den Tiefen stammt (um den früheren Vergleich wieder aufzunehmen). Es war keine Zeit, das Produkt der unbewußten Bearbeitung von allen jenen Kennzeichen seiner Herkunft zu reinigen und abzulösen. Nehmen wir ein Beispiel: ein Bild des »Simplizissimus« stellte einen Herrn dar, der mit verschränkten Armen vor einer Dame steht, die eben im Begriffe ist, ihm eine heftige Szene zu machen: »Es war der schrecklichste Moment meines Lebens, Otto, als ich deinen Abschiedsbrief bekam. Ich wollte mich erschießen, aber ich hatte kein Geld, mir einen Revolver zu kaufen.« - »Liebste, hättest du mir nur ein Wort gesagt!« Eine unwillige, grob egoistische Regung, ein Impuls heftiger Wut und Ungeduld wirken hier um so stärker, weil sie in eine höfliche, ja herzliche Form gekleidet sind. Vergleichen wir die Äußerung dieses Gemütsmenschen etwa mit derselben Szene, wie sie ein Dichter schildern würde. Dieser würde etwa in psychologisierender Darstellung den inneren Konflikt gestalten, dem der junge Mann, der sich von einer früheren Geliebten loslösen will, ausgesetzt ist. Auch er würde vermutlich zeigen, daß die verlassene Geliebte dem Manne eine große Szene macht, in der sich manche unechte Töne in die Äußerungen ihrer Trauer mengen. Er würde die zwiespältigen Gefühle seines Helden darzustellen sich bemühen: wie dieser Mitleid mit der Verlassenen fühlt, aber gleichzeitig die starke Sehnsucht, ihrer ledig zu werden; wie seine Anteilnahme eine heftige Ungeduld und Wut gegenüber dem Mädchen nicht ausschließt und in ihm trotz aller freundlichen Gefühle der Wunsch aufsteigt: hätte sie sich doch getötet! Vielleicht würde der Dichter noch die seelischen Reaktionen, welche dieser auftauchende Wunsch in seinen Helden auslöst, zu schildern versuchen. Wir können alle diese starken Gefühle auch in dem jungen Manne, der sich in seiner witzigen Replik anscheinend zärtlich gebärdet, vermuten. Was aber zum Ausdruck kommt, ist eine grob egoistische Reaktion, die wir als roh abweisen würden, wäre sie nicht in eine wahrhaft glänzende Form gekleidet. Eine andere Eigentümlichkeit des Witzes erklärt sich ebenfalls aus dem kurzen Zeitintervall, das in seiner Entstehung eine so bedeutungsvolle Rolle spielt: seine Abhängigkeit von der rezenten Situation, aus der er entspringt. Der rezente Eindruck ist ja auch für die Dichtung bedeutungsvoll genug, aber je größer das Format des Dichters, um so kraftvoller wird er danach streben, sein Werk von diesem loszulösen und es von jenem Eindruck unabhängiger zu 198

machen. Das Wissen um die Einzelheiten der Beziehung Goethes zu einem bestimmten jungen Mädchen ist etwa für die ästhetische Wirkung des ersten Teiles des »Faust« nicht notwendig und gewiß nicht wesentlich. Die Kenntnis der speziellen Entstehungssituation einer Dichtung trägt nichts zu ihrer lustvollen Wirkung bei. Anders beim Witz: wir können viele und sicher sehr lachkräftige Witze nicht würdigen, wenn wir ihre Entstehungssituation nicht kennen. Derselbe Witz, der einmal in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation Lachstürme ausgelöst hat, mag, ein Jahr später erzählt, die Zuhörer völlig kalt lassen, ja wir selbst, die wir damals herzlich mitlachten, verstehen oft jetzt in der Erinnerung kaum, worüber wir damals haben lachen können. Derselbe Witz, der uns zum Lachen brachte, weil er z. B. die jetzt herrschenden sozialen Verhältnisse verhöhnt, büßt alle seine Lustwirkung ein, wenn sich jene Verhältnisse ändern. Man könnte sagen: der blitzartigen Entstehung des Witzes entspricht sein rasches Verblühen. Ich sehe etwa in einem alten Jahrgang des »Simplizissimus« ein Bild des Zeichners Thöny, der zwei preußische Offiziere während eines Konzertes darstellt. Der eine flüstert dem Kameraden hinter der vorgehaltenen Mütze zu: »Kommen Sie, Kamerad - jetzt steigt die Symphonie das Aas hat vier Sätze.« Ich erinnere mich, daß ich einmal herzlich über diese Verhöhnung gelacht habe, aber jetzt kann ich kaum mehr lächeln. Es kann nicht nur der Mangel an Neuheit sein, der diese Einbuße der Lustwirkung erklärt. Es muß an der Änderung der sozialen Umwelt liegen, daß ich jetzt nicht mehr über diesen Hohn lachen kann: der Weltkrieg und der Zusammenbruch jenes besonderen Offizierstypus liegt in der Zwischenzeit. Derselben Usur der Lustwirkung unterliegt - wenngleich in geringerem Maße — der sexuelle Witz. Eine Zeichnung von F. v. Reznicek mit der Überschrift »Wozu«? stellt zwei Backfische vor dem Schlafengehen dar. »Sag mal,« sagt die eine, »was willst du eigentlich noch im Pensionat? Du bist ja schon verdorben.« Es ist kaum mehr möglich, über diesen Witz zu lachen, da heute das Mädchenpensionat keineswegs mehr diejenige, vor anderen ausgezeichnete Stätte ist, deren hervorragendste Aufgabe es ist, die heranwachsende weibliche Jugend im trauten Zwiegespräch in die Geheimnisse des Sexuallebens einzuführen. Auch bezeichnet die Jugend von heute den Besitz solchen Wissens, der sozial in viel größerem Ausmaße als erlaubt, ja erwünscht gilt, nicht mehr als »verdorben«. Die Veränderung der Anschauungen über die sexuellen Fragen, namentlich aber über die 199

Aufklärung der Jugend, hat die Lustwirkung dieses Witzes, der vielleicht einmal als vortrefflich galt, bedeutend vermindert, wenn nicht vernichtet. Ein anderes Bild aus einem alten Jahrgange desselben Witzblattes zeigt noch deutlicher, wie schädlich der Wechsel der Anschauungen der Lustwirkung des Witzes sein kann. Die Tante Minna zeigt sich in der Familie zum ersten Male im Radlerkostüm in Pumphosen. Der kleine Karl ruft seiner Mutter in höchstem Staunen zu: »Sie mal, die Tante hat auch Beine!« Die anfängliche Verblüffung, die sich meiner anläßlich dieses Witzes bemächtigte, hatte nichts vom Charakter jener »Verblüffung« an sich, welche die Autoren zusammen mit der nachfolgenden »Erleuchtung« für so wesentlich für die Witzwirkung halten. Dieser Verblüffung war vielmehr durch die Verwunderung darüber, worin da der Witz liegen soll, begründet. Erst nach einigen Sekunden konnte ich mich erinnern, daß die allgemeine Mode jener Zeit die Frauenröcke bis über die Schuhe fallen ließ und daß das Staunen des kleinen Karl so seinen guten Sinn hatte. Es ist kaum zweifelhaft, daß dieser Witz im Zeitalter des Bubikopfes und des bis zu den Knien reichenden Rockes nicht mehr als Witz empfunden wird. Gewiß, auch ich mußte nach Erkennung des wahren Zusammenhanges lächeln, aber dieses Lächeln, das halb belustigt, halb gerührt war, bezog sich eben auf eine entschwundene, die »gute, alte« Zeit, der solche Scherze vermutlich als vortreffliche Witze galten. Gewiß unterliegen auch Kunstwerke, ja sogar diejenigen, die wir als die größten ihrer Art ansehen, solchen abschwächenden Wirkungen der Zeiten, aber sie erweisen sich, vermutlich gerade wegen jenes Entpersönlichungsprozesses, der selbst soviel Zeit in Anspruch nimmt, doch weit resistenter gegenüber den Einflüssen der Umwandlungen der Umwelt. Dieser mehr zeitgebundene und vom Ich seines Schöpfers weniger ablösbare Charakter bedingt es auch, daß der Witz sich nicht wie Dichtung - in ihren reinsten Formen - an alle wendet, sondern an eine Gruppe von Menschen, die viel enger begrenzt erscheint als das Publikum einer Dichtung. Über dieselben Witze zu lachen ist ein Zeichen viel weitergehender psychischer Übereinstimmung als der Beifall, der etwa der Aufführung eines Dramas gilt. Ein Beispiel, das diesen Sachverhalt illustriert: Ein Zuschauer bei der Bayreuther Aufführung des »Parsifal« wendet sich an seinen Nachbarn: »Ich kann dabei nicht lachen. Wirklich, ich kann dabei nicht lachen.« Das klingt wie Unsinn; niemand wird erwarten, daß ein Zuhörer 200

der tief tragisdien Vorgänge dieses Bühnenweihespieles lacht. Wer diesen Witz zu genießen vermag, hat sich unbewußt zu der Ansicht bekannt, daß auch er der Versuchung unterworfen war, über jene so bedeutsamen Szenen auf der Bühne zu lachen, sie komisch zu finden und jene Helden des Parsifalspieles als Kreuzritter von der traurigen Gestalt zu verhöhnen. Hier wird sogleich klar, daß jener Witz auf Lacher nur innerhalb einer engbegrenzten Gruppe rechnen darf. Nietzsche hätte vermutlich herzhaft über ihn gelacht,2 ebenso der von ihm verachtete Zola (trotz aller »souvenirs de Bayreuth*). Der begeisterte Wagnerverehrer, der in der geistigen Atmosphäre des sächsischen Meisters lebt, wird auf denselben Witz mit Entrüstung reagieren und ihn vielleicht schal und geschmacklos finden. Ein Bonmot wie jenes, das die Charakteristik eines österreichischen Ministers gibt: »Er hatte regelmäßig eine rasche Auffassung, aber diese Auffassung war regelmäßig falsch« dürfte bei allen unzufriedenen Österreichern - d. h. also bei allen Österreichern - lebhaften Anklang finden. Seine Wirkung verblaßt aber außerhalb der Grenzen dieses Landes. Wer die Psyche des Österreichers nicht kennt, wird etwa den Stimmungsbericht, den, wenn ich nicht irre, Karl Kraus von der politischen Lage in dem kostbaren Satz: »Die Situation ist verzweifelt, aber nicht ernst« gab, kaum gebührend würdigen können. Ja, es ist möglich, daß die Lustwirkung eines Witzes von tieferem Gehalt dadurch, daß eine rezente Anspielung später nicht mehr voll gewürdigt werden kann, stark beeinträchtigt wird. Hier das entsprechende Beispiel eines jüdischen Witzes, in dem der Vater den jungen Sohn fragt: »Warum willst du das Mädel heiraten? Sie hat ka Mitgift, sie is* nicht schön, sie ...« - »Ich liebe sie, Vater!« - »Was heißt, du liebst? Bist du Sonnenthal?« Die Wirkung dieses ausgezeichneten Witzes mag bereits jetzt darunter leiden, daß eine neue Generation sich keine angemessene Vorstellung von der Bedeutung jenes großen Schauspielers machen kann, der für unsere Eltern die Gestalten jugendlicher Liebhaber so unvergleichlich verkörperte. Der verborgene Inhalt des Witzes aber liegt in dem Zweifel an der Realität und dauernden Natur der Liebe, die der skeptische Vater nur auf der Bühne gelten lassen will. Die tie2

»Nidits für Spaziergänger mehr zu empfehlen, als sich Wagner in verjüngten Proportionen zu erzählen: z.B. Parsifal als Kandidaten der Theologie mit Gymnasialbildung (letztere als unentbehrlidi zur reinen Torheit)« (Nietzsche: Der Fall Wagner.) 201

fere Lustquelle stammt aus dem Angriff auf diese am sorgsamsten beschützte Illusion des Abendlandes. Wir haben erkannt, daß die Kürze des Zeitintervalls in der Witzarbeit für bestimmte charakteristische Züge des Witzproduktes verantwortlich ist. Vergessen wir nicht als das Wichtigste hervorzuheben, daß dieser zeitlichen Begrenzung die Kürze des Witzes selbst, die nach Hamlets Wort seine Seele ist, entspricht.

Der Prozeß der Witzarbeit ist von Seiten der Ästhetik noch wenig verstanden worden. Man überdenke etwa die wesentlichen Punkte in der Auffassung, die Deutschlands führender Ästhetiker, Johannes Volkelt, über das Werden des Witzes vertritt. Der Witz sei »von dem Boden des geistesfreien, mit seinen Vorstellungen willkürlich spielenden Subjektes aus gebildet«.3 Immer wieder kehrt dieser Forscher in seinen Ausführungen über den Witz zu dieser seiner Lieblingsvorstellung von der »organischen Verknüpfung des Witzes mit dem geistesfreien Subjekt« zurück. Betont so Volkelt immer wieder, der Witz sei seinem Wesen nach Bestätigung eines geistesfreien, mit seinen Vorstellungen willkürlich spielenden Subjektes, so behauptet Theodor Lipps ganz im Gegensatz dazu, daß der Witz als solcher »gänzlich unpersönlich ist« und »mit der Individualität dessen, der ihn macht, nichts zu tun hat«.4 Beide Forscher irren und dieser Irrtum ergibt sich aus der mangelnden psychologischen Kenntnis der seelischen Vorgänge in der Witzbildung, das will heißen, aus der unrichtigen Einschätzung des wechselnden Anteils, den das Unbewußte und das Bewußte an der Witzarbeit nehmen. Es ist ebenso verfehlt, die Mitwirkung des Bewußtseins in der Witzgenese zu übertreiben, wie das Volkelt tut, als sie völlig auszuschließen, wie Lipps es will. Der von Freud dargestellte psychische Prozeß der Witzbildung zeigt, daß die Vorstellung eines geistesfreien, mit seinen Vorstellungen spielenden Subjektes eher dem Phantasiereichtum Volkelts als dem des Schöpfers des Witzes entspricht. Die »Geistesfreiheit« als ein subjektives Gefühl ergibt sich aus der Wirkung einer Illusion und stellt sich vielmehr schon als ein Erfolg der Witzarbeit ein, die in ihrem wichtigsten Anteil durch 8 4

System der Ästhetik, 2. Bd. 2. Aufl., 1925, S. 507. Komik und Humor. S. 111. 202

die Wirkung unbewußter Determinanten bestimmt ist. Das Subjekt ist in der Witzbildung weit passiver als dies Volkelt und andere Autoren annehmen. Der Ausdruck »einen Witz machen« darf uns nicht irreführen. Der Anteil des Unbewußten ist in der Produktion des Witzes so ausschlaggebend, daß man eher sagen darf, daß der Witz in der Person auftaucht, ja manchmal das Gefühl hat, der Witz überfalle die Person. Wer einen Witz macht, d. h. durch bewußte Anstrengung produziert, macht keinen Witz mehr. Wir haben uns jenen Augenblick, in dem der vorbewußte Gedanke einer unbewußten Verarbeitung unterliegt, als eine Art partieller Absence vorzustellen. In diesem Zeitbruchteil findet eine Vorstellung Anschluß an eine fernliegende, die ihr doch unbewußt verbunden ist, taucht ein aus der gegenwärtigen Situation stammendes Gefühl tief in das Reservoir alter, verschütteter Impulse, die unzerstörbar und ungebändigt in uns leben. Diese Impulse können sich nicht unverändert äußern, - es käme sonst zu einer aggressiven oder sexuellen Aktion, — sie treffen auf dem Rückweg zur Wahrnehmungssphäre auf die seelische Zensur. Aus dem Gegeneinander und Miteinander dieser beiden Faktoren, des Wiederkehrend-Verdrängten und der Gegenströmungen, ergibt sich das Wesentliche der Witzarbeit, erklären sich die Besonderheiten der Witzbildung. Der Witz stellt demnach ein Kompromißprodukt von abgewehrten und abwehrenden Vorstellungen dar. Erst an dieser Stelle, bei der Rückkehr vom Unbewußten, setzt die Bewußtseinsarbeit ein. Die Bewußtseinsinstanz erfaßt nun das aus den Tiefen aufsteigende Vorstellungsmaterial, gliedert es und bringt es in eine Form, die ebenfalls der Mitwirkung jener beiden Tendenzen entspricht. Diese Form verrät noch in der Verwendung der Klangassoziation, in Wortwahl, Wortzusammensetzung und Satzanordnung die Arbeitsweise des Unbewußten und erfüllt doch alle Anforderungen, die zum raschen Verständnis notwendig sind. Ich versuche den Vorgang an einem Beispiel zu illustrieren: In einem Berliner Kaffeehaus sitzt eine Herrengesellschaft. Eine Schwester der Heilsarmee tritt an den Tisch und reicht eine Sammelbüchse dar: »Bitte, für gefallene Mädchen!« Ein Herr antwortet: » gebe direkt.« Der psychische Vorgang ist folgender: die Aufforderung zu jenem Almosen hat in dem Herrn eine besondere psychische Reaktion ausgelöst. Wir können aus jener Antwort schließen, daß er kein Almosen geben wollte, daß seine ursprüngliche Reaktion eine abweisende und unwillige hätte sein können. Die 203

Antwort hätte vielleicht in grober Form gelautet: »Ach, lassen Sie mich in Ruhe mit solchen Bitten!« Die Worte »gefallene Mädchen« aber haben Anschluß an unbewußtes Material gefunden, haben an den Vorstellungskomplex sexueller Triebregungen gerührt. Die Analyse führt also von der intendierten Replik: »Ich glaube nichts« zur unbewußten Bearbeitung der Vorstellung »Gefallene Mädchen«. Der unbewußte Vorgang hat den Charakter eines auftauchenden Wunsches: ich möchte Sexual verkehr mit einem solchen Mädchen haben (vielleicht an Erinnerungen anknüpfend). Die Verknüpfung dieser Wunschregung mit einem Geldgeschenk gehört teilweise schon der bewußten Vorstellungsarbeit an. Als Kompromißausdruck der aus dem Unbewußten auftauchenden Regungen und der vom Bewußten festgehaltenen Anforderung ergibt sich so die Vorstellung: wenn ich einem gefallenen Mädchen etwas geben soll, gebe ich es ihr selbst, indem ich sie für den Sexualgenuß durch Geld entlohne. Die Vorstellungsreihe läuft also so: ich will nichts geben - ich will lieber mit einem solchen Mädchen sexuell verkehren - ja ihr selbst würde ich dann Geld geben - ich gebe direkt. Der psychische Vorgang ist etwa der Durchfahrt eines Eisenbahnzuges durch einen Tunnel zu vergleichen: aus der Bewußtseinshelle fährt der Zug plötzlich durch eine kurze Dunkelheit, da wird es wieder lichter, um bald darauf ganz hell zu sein. Jene Strecke, welche der seelische Vorgang von der beabsichtigten Antwort: »Ich gebe nichts« zu der wirklich erfolgenden: »Ich gebe direkt« durchlauft, erreicht im Augenblick des Eintauchens in die unbewußte Sphäre - der Dunkelheit des Tunnels unseres Vergleiches - ihren wichtigsten und bestimmendsten Punkt. Er entscheidet nicht nur das Schicksal der Form der Antwort in der Verdichtung (»Ich gebe nichts — ich will ihr selbst geben - ich gebe direkt«), sondern auch das ihres Inhaltes, der zu der Absicht der Bitte in direkten Gegensatz tritt. Ich habe an dieser Stelle die Bemerkung nachzutragen, daß auch der seelische Vorgang beim Zuhörer in denselben Bahnen verläuft. Auch er stellt einen seelischen Kurzschluß dar und geht in annähernd derselben Zeit vor sich wie die Witzarbeit. Ein Witz, dessen Pointe man erst erfassen kann, nachdem man lange nachgedacht hat, verdient diese Bezeichnung nicht mehr. Der Vergleich des Vorganges der Witzarbeit mit dem Passieren eines Tunnels durch einen Eisenbahnzug mag auch dazu beitragen, deutlich zu machen, wo der Irrtum von Lipps gelegen ist, der den Witzvorgang völlig dem Unbewußten zuteilt. Diese Betrachtungs204

weise vernachlässigt vergleichsweise jene Strecken, welche der Zug passiert, wenn er in den Tunnel einfährt und wenn er ihn verläßt, die Anfangs- und die Endsituation der Witzarbeit. Der Irrtum von Lipps besteht also darin, den Anteil der Bewußtseinsinstanzen am Zustandekommen des Witzes völlig zu leugnen. Es ist nicht richtig, daß der Witz ein gänzlich unpersönliches Produkt und von der Individualität seines Schöpfers völlig unabhängig ist. Gewiß bestehen für das Unbewußte des Menschen keine individuellen Unterschiede, soweit die Existenz der Triebkomponenten als solcher in Frage steht. Es bestehen aber quantitative Differenzen in ihrer Verteilung, es gibt Verschiedenheiten in den Triebschicksalen und den Triebdarstellungen, es gibt Mengungsverhältnisse zwischen Durchsetzung des Triebdrängens und der Einflüsse der Hemmungen, die individuell verschieden sind. VI

Es bleiben noch genug unbeantwortete Fragen übrig. Einige davon sind bereits von Freud in seiner Untersuchung hervorgehoben worden, haben aber bei dem damaligen Stande der analytischen Forschung noch keine Antwort finden können. Wir haben gehört, daß das Lachen über den Witz ein Anzeichen jener Lust ist, die sich aus der Aufhebung einer bisherigen psychischen Besetzung ableitet. Wenn man als die erste Person des Witzes seinen Schöpfer, als die zweite jene, gegen welche der Witz gerichtet ist, und als die dritte den Zuhörer bezeichnet, so ist der seelische Vorgang der Witzwirkung bei dieser letzten der folgende: er hört die Worte des Witzes, ist dadurch genötigt, jene Vorstellung oder Gedankenverbindung, welche dem Witzigen selbst vorschwebte, zu reproduzieren und gelangt auf diesem Wege zur Aufhebung des Hemmungsaufwandes, was als lustvoll empfunden wird. Das große Stück seelischer Energie, das zur Aufrechterhaltung des Hemmungsaufwandes bisher notwendig war, wird durch den Witz plötzlich als überschüssig gefühlt. Die von Freud in diesem Zusammenhange aufgeworfene Frage, warum der Hörer des Witzes lache, der Schöpfer nicht lachen könne, ist durch die psychologische Würdigung dieser Dynamik in allgemeiner Art nicht beantwortbar. Die vorsichtige Auskunft Freuds geht dahin, daß beim Hörer jener seelische Besetzungsaufwand aufgehoben und durch Lachen abgeführt wird, während sich bei der Person, die den Witz »macht«, Hemmungen in der Abfüh205

rungsmöglichkeit ergeben. Der psychische Vorgang bei der ersten Person des Witzes, derjenigen, die ihn produziert, weicht also von dem bei der dritten Person ab. Der seelische Hemmungsaufwand muß auch bei der ersten Person aufgehoben worden sein, denn sonst käme kein Witz zustande, da solche Aufhebung die wesentlichste Vorbedingung seiner Entstehung darstellt. Es besteht also bei der ersten Person, beim Schöpfer des Witzes, eine Störung in der Möglichkeit der seelischen Abfuhr, als deren deutliches Zeichen sich uns sonst das Lachen darstellt. Die freigewordene psychische Energie ist vielleicht sofort einer anderen seelischen Verwendung zugeführt worden. Jene Aufhebung des Hemmungsaufwandes ist zwar erfolgt, aber die dort abgezogene Energie ist vielleicht für die Witzarbeit selbst verwendet worden, welche die erste Person zu leisten hat. Gewiß gewinnt auch die Lust aus solcher Aufhebung des Hemmungsaufwandes, aber der erneute Aufwand an der Witzarbeit, zu der diese erste Person des Witzvorganges genötigt und der für den Hörer entfällt, zieht sich von diesem Lustgewinn ab. Abschließend sagt Freud, daß die psychologische Konstellation während der Witzarbeit der freien Abfuhr des Gewonnenen überhaupt nicht günstig sei. Zur Unterstützung seiner Ansicht führt Freud an, daß der Witz auch bei der dritten Person seinen Lacheffekt einbüßt, sobald derselben ein Aufwand an Denkarbeit zugemutet wird. Allein ein solcher größerer Aufwand an Denkarbeit wäre auch bei der ersten Person in der Witzarbeit schädlich. Unter diesen Umständen käme kein Witz, sondern etwa ein Urteil mit scharfsinniger oder aggressiv betonter Begründung zustande. Wenn Freud hervorhebt, die Anspielungen des Witzes müßten augenfällige sein, die in ihm enthaltenen Auslassungen sich leicht ergänzen usw., um die Lachwirkung des Witzes zu gewährleisten, so beziehen sich diese Bedingungen nicht nur auf die Aufnahme, sondern auch auf die Produktion des Witzes. Wäre derjenige, der den Witz produziert, genötigt, mühevoll nach sprachlichen Mitteln der Anspielung zu suchen, sorgfältig dem Tertium comparationis nachzuspüren oder sich die Frage vorzulegen, ob er dieses oder jenes Mittelglied seines Gedankenvorganges in der sprachlichen Mitteilung ohne Schaden für das Verständnis seines Witzes auslassen dürfe, so wäre sein Witz verlorene Liebesmüh. Freud behauptet mit Recht, daß mit der Erweckung des bewußten Denkinteresses die Wirkung des Witzes in der Regel unmöglich gemacht werde, aber er unterläßt es, hinzuzu206

fügen, daß mit solcher Erweckung der Denkinteressen bereits die Entstehung des Witzes unmöglich gemacht wäre. Wir haben dennoch eine bestimmte Denkarbeit sowohl bei der ersten als auch bei der dritten Person vorauszusetzen. Wir wissen auch, von welcher Art sie ist und daß sie eine große Strecke unterirdisch verläuft. Es kann sich also nur darum handeln, daß das Denkinteresse, das anfänglich aufgebracht wird, durch den Einbruch unbewußter Tendenzen sozusagen überrumpelt wird, um sich dann wieder der Wahrnehmung des Ausganges jenes Konfliktes zuzuwenden. Es hat sozusagen seinen Weg an jene unbewußten Mächte für einen Zeitbruchteil abtreten müssen. Es soll übrigens nicht unbemerkt bleiben, daß der Mangel an Verständnis für einen Witz oft nicht so sehr den Eindruck eines intellektuellen Versagens als den einer affektiven Abblendung macht, wie wir sie in der Symptomatologie der Neurosen so häufig konstatieren. Auch dort erfolgt ein solches Aussetzen des Verständnisses an den Stellen, die ihrer Natur nach starke gegensätzliche Gefühle gegen einen bestimmten Vorstellungsinhalt wachrufen. Es ist klar, daß die Existenz und unbewußte Wirksamkeit solcher gegensätzlicher Strömungen das Verständnis eines Witzes auf das empfindlichste beeinträchtigen können. Kehren wir zur Überprüfung der Freudsdien Argumentation von hier aus zurück. Sie war richtig, aber in ihrer Darstellung zu allgemein. Der Fortschritt unserer analytischen Kenntnisse wird dazu führen müssen, diese Annahmen einer Korrektur zu unterwerfen, die zugleich eine Einschränkung und Ergänzung bedeutet. Wirklich muß man, wie Freud dies getan hat, von der Untersuchung der seelischen Vorgänge bei der dritten Person ausgehen, will man die Gründe erkennen, warum die erste Person, der Schöpfer des Witzes, nicht lacht. Die ökonomische Betrachtungsweise als solche müßte eigentlich zu der Erwartung führen, daß der Lustgewinn bei der dritten Person des Witzvorganges geringer ausfallen sollte als bei der ersten. Die erste Person hat ja den Witz geschaffen; zu der Lust aus dem ersparten Hemmungsaufwand müßte, würde man erwarten, die freudige Aussicht auf den Erfolg und den Beifall treten, der sich dem Schöpfer des Witzes zuwenden wird. Das Freudsdie Argument, daß nämlich die Störung der psychischen Abfuhr durch die Witzarbeit selbst bewirkt werde, da diese einen bestimmten Betrag psychischen Aufwandes in Anspruch nimmt, behält freilich seine Bedeutung. Allein es ist klar, daß auch die dritte Person, der Zuhörer, in der Nachbildung der seelischen Vorgänge in der ersten 207

eine Art Witzarbeit leistet, die man als negativen Abdruck der primären bezeichnen kann. Das »Verstehen des Witzes« stellt selbst eine solche sekundäre Witzarbeit dar, eine Art psychischer Übernahme des Prozesses in der Identifizierung mit der ersten Person. Der psychische Vorgang beim Schöpfer des Witzes und beim Zuhörer ist also annähernd derselbe; nur ihre Richtung ist verschieden. Bei der Witzproduktion wird ein vorbewußter Gedanke einer unbewußten Bearbeitung für eine Sekunde überlassen und das Resultat dieses Vorganges ist eben der Witz. Beim Zuhörer geht der psychische Prozeß vom fertigen Produkt, dem Witz, aus und verfolgt denselben Weg nach rückwärts. Die Lust des Witzes wird der dritten Person nicht sozusagen »geschenkt«, wie Freud sagt, sondern nur unter dem Selbstkostenpreis verkauft. Es ist unverkennbar, daß es auch von Seiten des Zuhörers eines gewissen, wenngleich geringeren seelischen Aufwandes bedarf, um den Witz zu würdigen und zu erfassen. Auch hier ist die Analogie zum künstlerischen Schaffen und Genießen bemerkenswert: Der Zuhörer eines Dramas, der Leser eines Romanes geht von dem fertigen psychischen Gebilde aus und gelangt durch Identifizierung mit dem Dichter dazu, regressiv dieselben unbewußten Tendenzen zu reproduzieren, deren Wirksamkeit die Dichtung ihre Entstehung verdankt. Was Nietzsche als Zuhörer der Bizetsdien »Carmen« in sich Verspürte, zeigt paradigmatisch den seelischen Vorgang bei jedem künstlerischen Genießen: »Ich vergrabe meine Ohren unter diese Musik, ich höre deren Ursache.« Der Zuhörer geht in dem unbewußten Vorgang bis zur Entstehung des Kunstwerkes zurück, nimmt unbewußt Kenntnis von den triebhaften Regungen, die zu seiner seelischen Genese gedrängt haben - wenn es ein Kunstwerk ist und ein Zuhörer, würdig, es zu hören. Es ist selbstverständlich, daß diese gemeinsamen Züge mannigfache Differenzen zwischen den beiden Vorgängen nicht ausschließen; diese sind schon durch den Unterschied von Produktion und Reproduktion sowie durch den Gegensatz der Richtung der seelischen Prozesse gegeben. Es gibt daneben andere, die hier nicht erörtert werden sollen. VII

Freud selbst gesteht zu: »Wir sind hier wohl nicht in der Lage, tiefere Einsicht zu gewinnen; wir haben den einen Teil unseres Problems, warum die dritte Person lacht, besser aufklären können, als 208

dessen anderen Teil, warum die erste Person nicht lacht.« Die Annäherung an die Lösung dieser zweiten Frage wird uns heute leichter, da wir gerade durch den Fortschritt der Forschung Freuds eine noch tiefere Einsicht in den Ablauf unbewußter seelischer Prozesse erhalten haben. Die Verwendung des freigewordenen psychischen Aufwandes für den Zweck der Witzarbeit allein konnte uns nicht erklären, warum derjenige, der einen Witz produziert, nicht zu lachen vermag. Wenn dieses Argument ökonomischer Art nicht ausreicht, werden wir uns wieder der Würdigung der Affektdynamik zuwenden. Freud betont, daß man den vollen Eindruck von der Unentbehrlichkeit der dritten Person für die Vollendung des Witzvorganges erhält. Alles, was am Witz auf Lustwirkung abziele, ist auf diese dritter Person gerichtet, als ob nicht zu überwindende Hindernisse einer solchen bei der ersten Person im Wege stünden. Dem ist wirklich so, aber wir können dennoch auch nicht einen Augenblick lang annehmen, daß die Witzbildung ihrer Natur nach ein altruistischer Vorgang ist, der vom eigenen Lustgewinn absieht, und nur darauf aus ist, anderen Personen Lust zu verschaffen. Tatsächlich aber scheint sich hier ein bedeutungsvoller Unterschied den Gebieten des Witzigen und des Komischen zu ergeben. Der seelische Vorgang der Witzbildung ist mit dem Einfallen des Witzes nicht abgeschlossen: der Einfall will anderen mitgeteilt werden. Der Vorgang der Witzbildung gelangt erst durch solche Mitteilung zu seinem Abschlüsse. Das Komische kann ich allein genießen; zum Genuß des eigenen Witzes - strenger gesagt, zu seinem vollen Genüsse — kann ich erst auf dem Umwege über den Genuß des Anderen kommen. Der Witzige ergänzt seinen nur unvollständigen Lustgewinn, indem er das für ihn unmögliche Lachen auf dem Umwege über den Eindruck der zum Lachen gebrachten Person erreicht. Man kann beobachten, daß, wer zuerst mit ernster Miene einen Witz erzählt, dann in das Gelächter der anderen mit einem gemäßigteren Lachen einfällt. Freud kommt hier der Aufklärung im nächsten, wenn er behauptet, daß wir darum genötigt sind, unseren Witz dem Anderen mitzuteilen, weil wir selbst über ihn nicht zu lachen vermögen. Es kann nicht schwierig sein, den von Freud hier vorgezeichneten Weg bis ans Ende zu verfolgen. Wenn der Zuhörer des Witzes lacht, sein Schöpfer aber nicht lachen kann - wie wäre es da, einen inneren Zusammenhang zwischen diesen beiden Tatsachen anzunehmen? Wie wäre es, anzunehmen, daß gerade in der Anwesenheit dieses oder dieser Zuhörer ein Moment enthalten sein müßte, wel209

ches den Lacheffekt bei der ersten Person hemmt? Ist dies aber möglich? Haben wir nicht eben von Freud gehört, daß die dritte Person für die Vollendung des Witzvorganges völlig unentbehrlich ist? Hier ergibt sich doch ein krasser Widerspruch! Wenn unsere Annahme auch nur einen Schein von Berechtigung hätte, würde sich folgende unwahrscheinliche Situation ergeben: der Schöpfer des Witzes kann nicht lachen, weil er durch die Anwesenheit einer anderen Person daran gehindert wird, aber er produziert den Witz, damit diese andere Person lache, und stimmt dann in ihr Lachen ein. An diesem Punkte wird uns der Leser sicher die Gefolgschaft verweigern. Der Anspruch auf seine intellektuelle Geduld scheint hier allzu groß zu werden. Und doch führt nur die psychologische Analyse dieser antinomischen Situation zur Lösung des Problems: es erscheint mir wahrscheinlich, daß es die vorbewußte oder unbewußte Sorge um die Art der Aufnahme des Witzes ist, die in erster Reihe jene Störung der psychischen Abfuhr bei der ersten Person bewirkt. Wenn es wahr ist, daß der Witz verdrängte, verbotene Tendenzen zum Ausdruck bringt, so ist es für seine Wirkungen wesentlich, daß sich der Zuhörer mit ihrem Inhalte einverstanden erklärt, d. h. daß er dazu gelangt, in sich dieselben Tendenzen walten zu lassen und den inneren Protest gegen die ihm zugemutete Aufhebung der Hemmung auszuschalten. Es muß in dieser Sorge um die zu erwartende Reaktion von sehen der Zuhörer begründet sein, wenn der Schöpfer des Witzes an der freien Abfuhr seiner psychischen Besetzung gehemmt erscheint. Diese Überlegung in Verbindung mit der Einsicht von der Notwendigkeit des Zuhörers für den Witzvorgang und von dem Mitteilungsbedürfnis des Witzigen führt zu der Auskunft, daß auf der einen Seite die Mitteilung an diese dritte Person von Seiten der Triebtendenzen gefordert wird, diese Mitteilung aber gleichzeitig von einer Art Sorge oder Angst wegen ihrer Aufnahme begleitet ist. Der Drang nach Mitteilung ist natürlich stärker als die Hemmung, aber diese wird sich doch noch in der Störung der freien Abfuhr bei dem Schöpfer des Witzes Ausdruck verschaffen. Von hier aus ist es nur noch ein kleines Stück Weges zur endgültigen Aufklärung der Frage: wenn wir einen Witz erzählen, können wir nicht lachen, weil wir der Zustimmung der Zuhörer nicht sicher sind, weil wir nicht wissen, ob wir lachen dürfen. Das kann sich freilich nicht auf die Oberfläche des einzelnen Witzes beziehen, sondern auf seinen latenten Inhalt, nämlich auf den Ausdruck der verbotenen sexuellen oder aggressiven Tenden210

zen. Anders ausgedrückt: wir gestatten uns nicht den vollen Lustgewinn, der aus der Aufhebung des Hemmungsaufwandes resultiert, weil die dann zutage tretenden Regungen sozial verboten und vom Schuldgefühl besetzt sind. Das Lachen des Anderen gibt dann das Zeichen der sozialen Anerkennung, liefert gleichsam die Gewähr dafür, daß dieser Lustgewinn nicht verabscheuenswert ist und legitim erscheint. Er befreit also von dem übriggebliebenen Stück des unbewußten Schuldgefühls, das mit den im Witz ausgedrückten Impulsen verbunden ist. Wir gelangen weiter, wenn wir bedenken, daß es die Ersparung von Hemmungsaufwand ist, der wir die spezifische Lust am Witz verdanken. Dieser seelische Hemmungsaufwand wird aber zu einem wesentlichen Teile durch das unbewußte Schuldgefühl bedingt, das ursprünglich seiner Natur nach Angst vor dem Liebesverlust war und durch die Verdrängung jener starken Triebregungen verstärkt wurde. Das Lachen der Zuhörer wäre sonach insbesondere ein Zeichen dafür, daß dieses Schuldgefühl überflüssig geworden ist und erspart werden kann. Das Ich, von Schuldgefühlen für Augenblicke befreit, fühlt sich wieder mit sich selbst einig; eines Stückes sozialer Angst ledig, kann es jetzt in das Lachen der Anderen einstimmen. Wenn wir noch einmal die Situation des Schöpfers des Witzes, die durch das Mitteilungsbedürfnis auf der einen, durch ein Stück unbewußten Schuldgefühles auf der anderen Seite gekennzeichnet wird, psychologisch würdigen, so gewinnen wir noch ein weiteres Stück Aufklärung über die Natur des Witzes, eine Aufklärung, die weiter reicht als die bisherigen. Wir haben gehört, daß die im Witze ausgedrückten Tendenzen verboten sind, daß sie verdrängt waren und daß sich der Witz besonderer Techniken bedient, um dieses Verdrängte wieder dem Ich zuzuführen. Die Notwendigkeit dieser Form, ohne die wir den Ausdruck jener Regungen zurückweisen würden, die Hemmung der Abfuhr bei demjenigen, der den Witz produziert, sowie das diese Störung begründete Schuldgefühl, welches durch die Mitteilung des Witzes beschwichtigt wird, zwingen zu der Annahme, daß es sich in ihm um eine bestimmte Art des Geständnisses handelt. Es ist hinzuzufügen, daß der Witz ein unbewußtes Geständnis darstellt, da wir weder wissen, worüber wir lachen, noch, zu welchen unterirdischen Triebregungen wir uns im Witz bekennen. Auch der Witz stellt so einen Ausdruck des unbewußten Geständniszwanges dar, den ich anderen Ortes als eine durch den Kulturfortschritt bedingte Entwicklung des primären 211

Äußerungsdranges der elementaren Triebregungen dargestellt habe.5 Vielleicht ist jene Aufklärung, die wir in der Psychologie des Witzvorganges erhalten haben, geeignet, uns auch ein Stück Einsicht in einige Besonderheiten der dichterischen Arbeit zu gewähren. Auch der Dichter, der sein Werk aufführen sieht, ist nicht erschüttert wie seine Zuhörer; der Lustspiel dichter lacht nicht über seine eigenen komischen Einfalle. Es scheint auch hier jenes affektökonomische Prinzip vorzuherrschen, demzufolge die dichterische Arbeit der freien Affektabfuhr hinderlich ist. Dafür mögen wie für die ähnlichen psychologischen Verhältnisse in dem Witzvorgang mehrere seelische Faktoren bestimmend sein. Die Verschiebung des Affektaufwandes auf die Gestaltung ist sicher eines dieser Momente. Ein anderer, besonders wichtiger Grund mag darin liegen, daß die adäquate Affektabfuhr stückweise während der Arbeit vor sich geht, das heißt also, daß der Dichter seine freigewordene Affektenergie in dieser Zeit in kleiner Münze abführt, während die Kürze der Zeit, welche dem Zuhörer zur Verfügung steht, zwingt, die Affektabfuhr sozusagen in einem Akt, in komprimierterer Form durchzuführen. Wir sagten ja auch, daß der Prozeß der Witzarbeit selbst Lustgewinn bedeuten müsse, daß sich aber aus der beifälligen Aufnahme des Witzes eine Verstärkung des Lustgewinnes ergebe. Ähnlich stellt sich auch beim Dichter schon während des Schaffens ein Stück psychischer Befreiung ein, das doch erst durch den Erfolg seines Werkes gekrönt wird. Gewiß ist damit, wie Sachs gelegentlich richtig betont hat, eine starke Befriedigung des Narzißmus des Künstlers gegeben, aber daneben muß auch die Beschwichtigung des unbewußten Schuldgefühles, das ja die narzißtische Ichbesetzung empfindlich schädigt, Berücksichtigung erfahren. Es ist so, wie wenn der Erfolg ihm die Gewähr bietet, daß er nichts zu befürchten habe, wenn er jene verbotenen Regungen geäußert hat. Zu fürchten - von welcher Seite? Von Seiten der Zuschauer, die auf sein Werk auch mit Zeichen des Mißfallens reagieren könnten. Es wurde bereits angedeutet, daß sich das Schuldgefühl, das primär an den latenten Triebregungen der Dichtungen hängt, auf die 5

In einem größeren Werke »Geständniszwang und Strafbedürfnis« (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bd. XVIII, Wien 192$) habe ich darzustellen versucht, wie die verdrängten Triebregungen einer Äußerungstendenz unterliegen, die sich unter dem Einflüsse bestimmter Kulturfaktoren zu einem unbewußten Geständniszwange entwickelt. 212

Form verschiebt, so daß also ein künstlerischer Fehler vom Dichter als Schuld empfunden wird. Indem die Zuhörer, das Publikum, dem Werke Beifall spenden, zeigen sie, daß sie sich mit dem Dichter identifizieren, sich zu denselben verbotenen Tendenzen bekennen, die er in seinem Kunstwerke gestaltet hat. Dabei mag der Künstler noch so geringschätzig von der Meinung der Menge denken, ihr Beifall gibt sozusagen wieder die Erlaubnis, die Isolierung des Ausnahmemenschen, des (durch sein Triebleben und das darauf reagierende Schuldgefühl) zum Paria Gewordenen aufzuheben. Der Urteilsspruch des Zuschauers oder einiger von ihnen erscheint wirklich nicht wichtig; der der Gesamtheit hat unbewußt tieferen Wert, als der Künstler wahr haben will. Carl Maria von Weher war es, wie ich glaube, der über das Publikum geäußert hat: »Der Einzelne ist ein Esel, aber das Ganze ist ein Gott.« Der Urteilsspruch: »Nicht versungen und nicht vertan« ist eigentlich ein auf das ästhetische Gebiet verschobenes »Ahsolvo te«, das hier nicht der Priester, sondern die Gesamtheit verkündet. Die Bestätigung des Gelingens seines Werkes bedeutet für den Dichter unbewußt den endgültigen Freispruch für das heimliche Verbrechen, von dem er sich durch seine Arbeit entlasten wollte, die Befreiung vom Druck des Schuldgefühles. Besser noch als durch die euphorische Stimmung, die sich des Künstlers nach der beifälligen Aufnahme seines Werkes bemächtigt, läßt sich dies negativ erweisen. Das Mißfallen der Zuhörer, die kritische Abweisung des Werkes löst beim Künstler eine schwere Depression aus, die aus der Reaktion auf eine rein ästhetische Meinung allein nicht erklärt werden kann. Gewiß, der Narzißmus des Künstlers wird durch eine solche Abweisung stark erschüttert, aber zu dieser Wirkung gesellt sich die Vertiefung des Schuldgefühles, von dem sich der Künstler in seinem Werke zu lösen hoffte. Es ist also so, als hätte der Künstler sein Mißlingen als Ausdruck seiner moralischen Mängel empfunden. Auch der Witz zielt auf Aufhebung der sozialen Angst, bemüht sich ebenfalls um soziale Einreihung durch eine unbewußte Werbung für seine verbotenen Inhalte und bedient sich zur Erreichung dieses Zieles ebenfalls wie die Kunst der Verlockungsprämie der Form. Das Mißlingen eines Witzes, beziehungsweise die abweisende oder kühle Aufnahme desselben von seiten der Zuhörer bewirkt zwar keine Depression bei seinem Urheber, aber macht ihn doch betreten und beschämt, erzeugt in ihm doch ein deutliches Gefühl der Insuffizienz und des Mißbehagens. Ja, hier wird noch deutlicher als 213

beim erfolglosen Dichter ein reaktives, dem Ich geltendes Schamgefühl oder eine Regung des Ärgers über sich selbst konstatierbar: »Wie konnte ich nur einen so dummen (geschmacklosen, unpassenden) Witz machen!« Die Abweisung der Witzleistung wird unbewußt als Verwerfung der Tendenzen, die im Witz zum Ausdruck kommen, gefühlt, und so weist die Reaktion wieder auf den Inhalt zurück, von dem aus sie anfänglich auf die Form verschoben wurde.

VIII Die Antwort auf die Frage, warum der Urheber oder Erzähler eines Witzes sozusagen eine Sanktion von Seiten der Zuhörer braucht, ist durch den Hinweis auf den latenten Inhalt des Witzes gegeben. Die Tendenzen des Witzes sind solche, die man sonst nicht laut zu äußern wagt, und die Anderen, die Zuhörer, haben sich diesem Verbote stillschweigend unterworfen, diese Abhaltung als bindend anerkannt. Derjenige, der einen Witz »macht«, verstößt sozusagen gegen diese sakrosankten Verpflichtungen, welche die Gesellschaft anerkennt. Er löst sich von der Masse ab und setzt sich so dem Verdachte aus, das Privileg der Aggression, deren Versuchung alle unbewußt in sich verspüren, für sich allein in Anspruch nehmen zu wollen. Nun aber wird diejenige Person, welche tut, was alle zu tun insgeheim wünschen, aber nicht wagen, von der Masse - die Zuhörer dürfen wir hier als deren Repräsentanz annehmen - immer mit zwiespältigen Gefühlen bedacht. Sie hatte den Mut aufgebracht, das auszusprechen, was alle unbewußt fühlen und auszusprechen nicht fähig waren. Der Betreffende ist deshalb Objekt der Bewunderung, aber auch des erbitterten, unbewußten Neides. Wer sich so von der Masse ablöst, wird unbeliebt, ja verhaßt, wofern er es nicht versteht, das, was ihn mit ihr verbindet, in den Vordergrund zu rücken, sich ihr als ihr Vertreter zu empfehlen. Wer sich so getraut, bestimmten, von allen unbewußt gefühlten, aber sozial verbotenen Regungen Worte zu leihen, hat sich allen Gefahren ausgesetzt, die den kühnen Rechtsbrecher bedrohen. Er muß vor allem darauf bedacht sein, die Anderen durch die Verlockungsprämie der Form darüber hinwegzutäuschen, daß sein Fahrzeug eine wenig harmlose Fracht führt. Der Ausdruck: »Die Lacher auf seine Seite ziehen« deutet an, daß diese ursprünglich mit ernsten Mienen auf der entgegengesetzten standen. Der Witzige bedarf des Beifalls besonders deshalb, weil dieser ihm die Gewähr gibt, daß ihn keine Strafe, 214

kein sozialer Liebesverlust dafür trifft, daß er sich in seinem Witz gegen das Tabu verehrter Personen und Institutionen, überkommener Anschauungen vergangen hat. Die Zuhörer zeigen ihm durch ihr Lachen, daß sie sein Wagnis nicht übel genommen haben, ja daß sie es gerne selbst unternommen hätten und ihn nur als Sprachrohr ihrer Tendenzen ansehen. Sie räumen so ein, daß sie zur Identifizierung mit ihm gelangt sind, sie bekennen sich unbewußt durch ihr Lachen zu denselben Tendenzen, denen der Urheber des Witzes durch seine Worte ein Ventil geschaffen hat. Die »public opinion*, der Beifall der Zuhörer, ist hier an die Stelle der Zustimmung der Eltern getreten. Dieser aber wollte sich einst das noch schwache und hilflose Kind versichern und das Ich wünscht sie auch jetzt noch, weil es sich vor dem Liebesverlust bei den Eltern fürchtet. Was hier ausgeführt wurde, stimmt ausgezeichnet zu den psychoanalytischen Annahmen, die Freud auf einem anscheinend weit abliegenden Felde gemacht hat. Durch eine Reihe von psychologischen Tatsachen sah er sich zu einer Rekonstruktion der Vorgänge in der Urhorde, welche die Anfangsorganisation der Menschheit bildet, gedrängt. Der Häuptling dieser Urhorde von primitiven Menschenwesen war ein gewalttätiger, grausamer Tyrann gewesen, dem alle Weibchen gehörten und der die heranwachsenden Söhne austrieb. Er war das Ideal jedes Einzelnen von ihnen gewesen, gleichzeitig geliebt und gehaßt, bewundert und gefürchtet. Einmal rotteten sich die Söhne nun zusammen und erschlugen den gewaltigen Vater, dem keiner allein gewachsen war. Keiner von ihnen konnte später allein den heiß begehrten Platz des Vaters einnehmen, weil sich sonst die Kämpfe um die Herrschaft erneuert hätten. Sie alle mußten auf die Erbschaft des Vaters verzichten. Es bildeten sich langsam Brüdergemeinschaften, die durch bestimmte Verbote und Verzichte gekennzeichnet waren und in denen alle dieselben Rechte und Pflichten hatten. Die neuen Familienorganisationen, die sich nach vielen Zwischenfällen konstituierten, waren nur Schatten der alten, denn jetzt gab es der Väter viele und das Recht jedes Einzelnen war durch das jedes Anderen eingeschränkt. Die Reaktionen auf den Vatermord, jene alte Untat, deren Nachklang noch in Sagen, religiösen Sitten und in verschiedenen sozialen Einrichtungen erkennbar ist, bezeichnen die Anfänge der menschlichen Kultur, geben den Anstoß zu den großen Bildungen der Religion, des Rechtes und der gesellschaftlichen Ordnung. Die Fortsetzung dieses wissenschaftlichen Mythus Freuds ver215

sucht es nun auch, das Auftreten des ersten epischen Dichters in Zusammenhang mit der durch Jahrhunderttausende dauernden Nachwirkungen jenes gewaltigen Urverbrechens zu hingen. Der erste Dichter war ein Einzelner gewesen, der sich von der Masse ablöste, indem er sich an die Stelle des Vaters setzte und den Genossen erzählte, was die Phantasie ihm in der Form der Wunscherfüllung gezeigt hatte: wie er allein den furchtbaren Vater erschlug. Die Taten dieses Helden, der zugleich sein eigener Dichter ist, dieses Dichters, der zugleich sein eigener Held ist, werden so zum erstenmal der Masse erzählt und die Zuhörer, die alle von denselben, zwischen Sohnesstolz und Vatersehnsucht schwankenden Regungen erfüllt sind, identifizieren sich unbewußt mit dem Dichter, der ihnen erfüllt zeigt, was sie alle wünschen. Sie verzeihen ihm seinen Phantasieanspruch, daß er allein es war, der die große Tat begangen haben will, weil er es durch die Kunst seiner Darstellung verstanden hat, die Regungen des Neides und der Rivalität zu beschwichtigen und seine Zuhörer dazu zu bringen, wie er zu fühlen anstatt ihm zu zürnen. Dieser epische Dichter hatte aber einen Vorläufer, der dasjenige, was jener erzählte, mimte. In der griechischen Tragödie, die aus dem religiösen Mimus hervorging, ist es der leidende Held, der ein schreckliches Verbrechen begangen hat und es nun fürchterlich büßt, während der Chor ihn bedauert, warnt und ermahnt. Dieser untergehende Held ist der Sohn, der jene Untat beging und nun dafür bestraft wird. Das fürchterliche Geschehen, das die Handlung der Tragödie rings um den tragischen Bock zeigt, wurde nun im Satyrspiel von der heiteren, von der komischen Seite gesehen. Die Spieler - ursprünglich ein einzelner Spieler — stellten in der Tragödie dasselbe dar wie in der Komödie. Zeigten sie in dem einen Verbrechen und Sühne des mythischen Sohnes, so treiben sie in dem anderen mit Entsetzen Scherz. Es ist kein Widerspruch, wenn wir annehmen, daß jener Held der Tragödie, welcher ursprünglich der einzige Spieler war, zugleich den untergehenden Vater und den aufrührerischen Sohn darstellte. * Diese Doppelrolle entsprach durchaus der ambivalenten Einstellung der Epigonen zu dem Vater, mit dem sie sich in Reue identifizierten und demgegenüber sie doch Trotz und Re* Die obige Darstellung des Ursprungs und des Wesens der Tragödie basiert auf den Ausführungen Freuds in »Totem und Tabu« (Ges. Sdiriften, Bd. X), korrigiert diese aber in einigen wesentlidien Punkten. 216

gungen der Rebellion spürten. Kam in der Tragödie seine furditbare Macht zur Darstellung, so wurde er in dem Satyrspiel in seiner Ohnmacht verspottet, wurden hier seine Unarten und Fehler komisch gezeigt. Von der komischen, mimischen Situation, von der Verhöhnung des Vaters in Gesten, von seiner Darstellung in der Entstellung führt durch Jahrtausende eine einzige Linie zur Genese des Witzes. Wir haben hier das Quellgebiet des Witzes gefunden. Er setzt in der Darstellung weniger Worte jene rebellischen Tendenzen fort, die frühe Geschlechter der Menschen in Mimik und Gesten, Verkleidung und Karikatur zum Ausdruck brachten. Hier wird die psychische Gemeinsamkeit zwischen dem Dichter und dem Witzigen klar. Sie lösen sich kraft ihrer Begabung von der Masse ab, verfügen aber über besondere Wege, die Rückkehr zu ihr wieder zu erreichen. Jene Sonderstellung, die mit der Durchsetzung verbotener Triebziele verbunden ist, erregt ein unbewußtes Schuldgefühl, d. h. soziale Angst, die wohl begründet ist. Wer es wagt, zu sagen, was Andere nicht einmal bewußt zu denken sich getrauen, ist ein Held, gefürchtet und beneidet, wie nur einer, der tut, was Andere gerne täten und zu tun nicht den Mut finden. Ihm droht gerade wegen seiner Sonderstellung jene Gefahr, die durch die feindliche und neidische Einstellung der Anderen heraufbeschworen wirdDiese soziale Angst zwingt ihn, sich der Masse wieder anzunähern, sie auf seine Seite zu bringen und alle Schuldgefühle durch den Beifall, den er erringt, zu beschwichtigen. Doch wohin sind wir geraten? Der Schöpfer des Witzes ist in unserer Betrachtung in die Nähe des Helden gerückt. Wer ein loses Witzwort aussprach, sollte in die Nachbarschaft dessen gelangen, der eine befreiende Tat ausführte? Und dies wegen einiger Worte nur, verklingender, entgleitender Laute? IX

Das Wort verdient unsere Minderschätzung nicht. Es hat die bedeutsamste Erbschaft angetreten: es wurde zum Ersatz der Tat. So wie in der Religion die heilige Handlung immer mehr dem heiligen Worte wich, so hat die Kulturentwicklung im allgemeinen dazu geführt, daß das Wort die Aktion in immer weiterem Ausmaße vertrat. Das Wort, das wir jetzt als Verständigungsmittel im Alltag gebrauchen, war auch nicht immer ein gleichgültig betrachtetes, von geringem Gefühlsaufwand begleitetes Mittel zum sozialen Verkehr 217

wie heute. Es gab eine Zeit, da das Wort mehr und Wichtigeres bedeutete als in unserer Zeit, die soviel redet und so wenig sagt. Das Wort barg einst Zauberkräfte, es hatte magische Eigenschaften. Wer über bestimmte Worte verfügte, konnte die Geister der Luft, der Erde und der Unterwelt beschwören. Man mußte sich hüten, bestimmte Worte zu gebrauchen, weil sie Macht hatten über Leben und Tod; das Aussprechen der Gottesnamen war verboten, das böser Geister wurde vermieden. Am Worte hing Segen und Fluch, Glück und Verderben. Und hat denn das Wort allen seinen Zauber verloren? Spricht es nicht im Urteil des Richters den Spruch über das Schicksal von Menschen, zwingt es uns nicht im Munde des Dichters in jene Stimmung, die diesem letzten Magier gefällt? Es entsühnt den Schuldigen durch den Priester, bringt den Kranken Linderung, führt die Massen zu gewaltigen Leistungen oder vernichtenden Aktionen und bestimmt die Zukunft der Einzelnen und der Völker. Das Wort, dessen große Bedeutung für die Massenwirkung niemand leugnen wird, hat noch ein großes Stück jener magischen Macht, die ihm einst gegeben war, im Witz behalten. Es ist noch beladen mit jenen Eigenschaften, die einst seine Zauberkraft begründet haben und erweist sich noch immer als abgeblaßte Handlung. Es entkleidet das Objekt im obszönen Witz und schädigt oder vernichtet es im aggressiven. Dies ist gewiß bildlich gemeint, aber das Bild geht auf ein Stück realen Geschehens zurück. Der Witz greift wirklich sein Objekt an, - die ursprüngliche Bedeutung des Angreifens blickt hier durch, — er ist sozusagen nur eine wortgewordene Aktion. Wir haben früher dargelegt, daß sich der Witz aus Handlungen, aus einzelnen Aktionen, die durch Mimik und Gesten unterstützt wurden, entwickelt hat. Diese Handlungen hatten ursprünglich magische Bedeutung und das Wort, das dabei zuerst keine und später nur eine sekundäre Rolle spielte, gewann erst im Laufe der Kulturentwicklung in steigendem Maße jene Bedeutung, die es heute im Witze hatte. Aus der Magie der Handlung wurde die Magie des Wortes. Der Schauspieler ging dem Dichter voraus, vielmehr: er war einmal identisch mit ihm. Diese Herkunft des Wortes aus dem Sinnlichen, sozusagen Handgreiflichen, läßt sich noch in den vielfachen Übergangsphasen bei den breiten Volksmassen studieren; dort wird auch erkennbar, daß die Witzeslust ursprünglich mit der Gebärde oder der Aktion inniger verknüpft war als mit dem Worte. 218

Auch hier geht Volkelt Irrwege, weil er die Witzphänomene nur vom Standpunkte der Bewußtseinspsychologie beurteilt. So behandelt er den Witz in Gebärde und Handlung mit Absicht nicht, denn dieser »entsteht lediglich durch Übertragung der dort (am Worte) gewonnenen Bestimmungen auf die sichtbare Erscheinung«7. Diese späte Übertragung geht aber alte Bahnen, die einst der Witz gegangen war, als ihm noch keine anderen zur Verfügung standen. Es ist keine Neuerung, die vom Wortwitze zum Witz in Gebärde und Handlung führt, sondern die Erneuerung einer Entwicklung, die ursprünglich die umgekehrte Richtung verfolgte. Jene Annahme von Volkelt wäre etwa einer Behauptung, das Bilderrätsel sei eine Übertragung der am gedruckten Worte gewonnenen Bestimmungen auf das Bildhafte, vergleichbar. Wir wissen aber, daß sich das Alphabet der Druckschrift selbst aus einer Bilderschrift entwickelte. Jene Übertragung entspricht also einer Rückkehr zu der ursprünglichen Form. So fremdartig uns dies auch heute erscheinen mag: die Übertragung des Witzes, der durch das Wort seine Wirkung erreicht, auf das Witzige in Gebärde und Handlung stellt eigentlich ein Rückgreifen auf eine frühe, auf die primäre Phase der Witzentwicklung dar. Wenn wir noch jetzt die Witzerzählung durch mimische Zeichen und Gebärden unterstützen, greifen wir zu Mitteln, die ursprünglich die einzigen Ausdrucksmöglichkeiten des Witzes waren und erst sehr spät zum Rang von Begleiterscheinungen degradiert wurden. Die Bedeutung der Wortwahl, Wortsetzung und Satzverknüpfung im Witz entspricht ökonomisch durchaus derjenigen, welche die Formarbeit im künstlerischen Schaffen besitzt. Daß sich diese psychische Leistung im Witz nur en miniature vollzieht, unterscheidet sie ihrem Wesen nach nicht von jener imponierenderen und bedeutungsvolleren. In parvis magna voluisse sät est. Es ist uns durch Freuds Untersuchungen bekannt, daß die Wortbehandlung im Witz der Worteinschätzung des Kindes entspricht. Das Ich kehrt in jenen Sekunden, welche die unbewußte Bearbeitung des Gedankens bezeichnen, zur infantilen Wortbehandlung zurück, die Ausdrücke so behandelt, wie wenn sie Dinge wären. Hier einige Beispiele, wie Kinder Worte behandeln: mein Sohn Arthur sprach als kleiner Junge von einem Bekannten, der Paul Kohn hieß, nur als von einem Herrn Balkon. Er fürchtete sich vor einem Herrn, von dem er 7

System der Ästhetik, z. Bd., S. $31. 219

gehört hatte, daß er Reisender sei, weil er dieses Wort mit »reißen« (an den Haaren ziehen) zusammenbrachte. Ein Wachinspektor erweckte dagegen in ihm freundliche Gefühle, weil dieser Würdeträger für ihn mit dem geliebten »Speck« verbunden war. Ein anderer kleiner Knabe, dem man einmal einen Papagei gezeigt hatte, wünschte auch die dazugehörige Mamagei zu sehen. Man vergleiche mit diesen Beispielen infantiler Wortbehandlung etwa die witzige Behauptung jener Heineschen Figur, Rothschild habe ihn ganz famillionär behandelt, oder Nietzsches Charakteristik: »Liszt oder die Schule der Geläufigkeit - nach Weibern.« Auch hier werden wir darauf aufmerksam, daß dieses Spiel mit den Worten nicht immer nur ein Spiel war. Wenn Karl Kraus einmal die (hier in der Verkürzung wiedergegebene) obszön-witzige Behauptung aufstellte, es gebe keine unverstandenen Frauen, es gebe nur unbegriffene, so liegt in der Vertauschung der Synonyma ein Rückgreifen auf altes, verlorengegangenes Sprachgut vor, das noch im Hebräischen »Ein Weib erkennen« und »Geschlechtsverkehr mit einem Weibe haben« gleichsetzt. Auch das Vollnehmen einer abgeblaßten Redewendung, die Benützung der Plastizität eines Ausdruckes weist auf eine Phase der Menschheitsentwicklung zurück, da dem Worte eine höhere Bedeutung zukam als bei den heute lebenden Generationen und da es nicht nur eine lose Hülle der Dinge war, sondern ihr enganliegendes und schwer ablösbares Kleid.

X Auch der Schöpfer des Witzes benimmt sich so, als wäre die Allmacht des Wortes, welche eine mythische Vorzeit beherrschte, noch in Kraft. Durch den Zauber des Wortes wird der Zuhörer in einen Bann geschlagen, der ihn vergessen läßt, wie unverträglich die Tendenzen, denen der Witz Ausdruck verleiht, mit seinen sozialen, ethischen, religiösen usw. Ansprüchen sonst ist. Hinter der abgeblaßten Macht des Wortes wird auch heute noch im Witz der Geist ihrer realen Wirksamkeit verspürbar. Die Frauen dulden es nicht, daß man in ihrer Gegenwart unverhüllt frivole oder obszöne Witze macht, und entziehen dem Übeltäter ihre Geneigtheit, die für alle so wichtig ist. Der Staat und die Religionen schützen sich durch Paragraphe des Strafgesetzbuches und Drohungen gegen den witzigen Angriff auf ihre Einrichtungen oder ihre autoritative Personen und bestrafen ihn, wenn er bestimmte, ziemlich enggezogene 220

Grenzen überschreitet. Der Witz bezeugt so, daß ein Stück der Macht der Worte, das die Macht der Gedanken vertritt, noch immer erhalten geblieben ist. Er vermag es, die sich schämende Frau durch Worte zu entblößen und so in einem gewissen Sinne Besitz von ihr zu nehmen. Er erreicht auch seine aggressiven Absichten, deren verborgene Tiefe wir anerkennen, wenn wir sagen: Lächerlichkeit tötet. Auch im Witz sind also die Allmachtsbestrebungen der Menschheit gleichsam in Kraft geblieben. Wie im Tagtraum und in der Dichtung tauchen im Witz bestimmte, unausgelebte seelische Möglichkeiten aus den Tiefen des Unbewußten auf. Auch der Witz gehört wie die Kunst jenem Zwischenreich an, das sich zwischen der wunschversagenden Realität und der wunscherfüllenden Phantasie einschiebt. Der Humor stellt sich als eine besondere Art des Trostes im Kampfe ums Dasein dar, der Witz als eine besondere Art der Waffe. Beide entstammen dem Grunde des Leidens. Beide haben pathogenen Charakter. So darf der Psychologe mit Nietzsche von sich behaupten: »Vielleicht weiß ich am besten, warum der Mensch allein lacht: er leidet so tief, daß er das Lachen erfinden mußte.«

EDMUND BERGLER

Zur Problematik des »oralen« Pessimisten * Demonstriert an Christian Dietrich Grabbe Drum Fluch der Welt, wo jeder Bauernlümmel Mit Hilfe einer Viehmagd Etwas Unsterblidies verfertigen kann. Gothland in Grabbes »Herzog Theodor von Gothland« 1820. Ich stehe erträglich, aber idi bin nidit glücklich, werde es wohl auch nie wieder. Ich glaube, hoffe, wünsche, liebe, achte, hasse nichts, sondern verachte nur noch immer das Gemeine; ich bin mir selbst so gleidigültig, 1

Nach einem Vortrag, gehalten in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung innerhalb des Seminars für die theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse am 9. März 1934. 221

wie es mir ein Dritter ist: ich lese tausend Bücher, aber keins zieht mich a n . . . Ruhm und Ehre sind Sterne, derenthalben ich nicht einmal aufblicke; ich bin überzeugt, alles zu können, was ich will, aber auch der Wille scheint mir so erbärmlich, daß ich ihn nicht bemühe; ich glaube, ich habe so ziemlich die Tiefen des Lebens, der Wissenschaft und der Kunst genossen; ich bin satt von den Hefen; nur Musik wirkt noch magisch auf mich, weil ich sie nicht genug verstehe. Meine jahrelange Operation, den Verstand als Scheidewasser auf mein Gefühl zu gießen, scheint ihrem Ende zu nahen: Der Verstand ist ausgegossen und das Gefühl zertrümmert. Aus einem Brief Grabbes an Kettembeil am 4. Mai 1827. Thumelico: Mutter! Thusnelda: Was begehrst du, mein Junge? Thumelico: Ein kleines Butterbrot, nicht größer als meine Hand. Thusnelda: Ein großes, ein ganz großes sollst du haben! Iß, trink und freue dich des Augenblicks, ehe die schweren Jahre kommen! Aus Grabbes letztem Drama »Die Hermannschlacht« 1836.

I. Triebtendenzen des Pessimisten Ein Pessimist ist ein Mensch, der die Existenz der Sonne am Schatten erkennt. Diese Definition, die mir ein geistvoller pessimistischer Patient gab, berücksichtigt, so scharf sie auch einen Zug des Pessimisten - den düsteren Aspekt der Welt - herausarbeitet, eine Reihe von Eigenschaften nicht. Vor allem die bekannte Tatsache, daß der Pessimismus eine narzißtische Schutzmaßnahme des Ichs darstellt: durch gedankliche Vorwegnahme künftigen Unheils schützt sich der Pessimist vor seinem Schreckgespenst: der Düpierte zu sein. Es sieht manchmal so aus, als hätte sich der Pessimist mit der Tatache, daß alles im Leben mißlingt, abgefunden, doch erträgt er diese Tragödie nur um den Preis eines narzißtischen Lustgewinns, den er aus der richtigen Voraussage schöpft. Dieses krampfhafte Sich-nichtDüpieren-lassen-wollen läßt vermuten, daß der infantile Allmachtswahn der Pessimisten besonders empfindliche Schläge in aller jrähester Kindheit erlitten haben muß, d. h. diese Menschen haben den 222

Zusammenbruch der »autarkischen Fiktion* nicht verwunden und begnügen sich nicht mit den üblichen Restitutionsversuchen der verlorenen narzißtischen Einheit.2 Gerade dieses Fixiertbleiben an die Enttäuschung macht das Krankhafte aus und bedingt die Unfähigkeit zur Objektbesetzung und Liebe, die die »normalen« narzißtischen Restitutionsversuche darstellen. All dies läßt die Erwartung aufkommen, daß der Pessimist in seinen Unheilsprophezeiungen immer gegen einen Unsichtbaren polemisiert, etwa nach der Formel : Ich habe ja immer gewußt, daß du ein schlechter Kerl bist und mich nicht liebst. Nun ist es im ersten Augenblick nicht ersichtlich, wie aus der Tatsache eines erwarteten unheilvollen Ausgangs, der sich gegen die eigene Person richtet - wann erwartete der Pessimist von der Welt Gutes? -, Lust geschöpft werden kann, es sei denn ein Stück masochistischer Befriedigung. Diese kommt beim oralen Pessimisten in ausgiebigem Maße zur Geltung, genau so wichtig ist aber das Ad-absurdum-Führen, resp. das Ins-Unrecht-Setzen der infantilen Machtperson - es handelt sich immer um die phallische Mutter —, die sich hinter dem, erst später vermännliehten, supponierten Schicksal, Fatum usw. verbirgt. Dieses Ins-Unrecht-Setzen dient doppeltem Zweck: es schafft ein Stück Lust aus dem schadenfrohen Ausleben der unbewußten Aggression (es ist bekannt, wie schadenfroh Pessimisten sind, wenn sie die »Harmlosen« durch Prophezeiungen schrecken), und nimmt ein Stück Über-Ich-Bestrafung vorweg, indem es die peinliche Vorstellung der Nichterfüllung verschafft.8 Der orale Pessimist leitet aus diesen ständigen Enttäuschungen die Berechtigung zu seinem Haß gegen die erhöhte Mutterimago ab, da - wie nachzuweisen sein wird - der orale Pessimist gar nicht der Erfüllung seiner Kinderwünsche, sondern der Kindheitsenttäuschung nachjagt. Wie jeder Neurotiker ist er einem Grammophonliebhaber vergleichbar, der aber nur für eine Platte Interesse hat, die er immer bei sich trägt: wo er ein Grammophon sieht, stürzt er sich mit Feuereifer darauf und läßt, nie ermüdend, seine einzige Platte ablaufen. Der orale Pessimismus ist wie ein neurotisches Symptom aufgebaut: unbewußte Lust und unbewußte Bestraf ungs2 8

Siehe Jekels und Bergler »Übertragung und Liebe«, Imago 1934. H. i. Bei Zwangsneurotikern hat der (anale) Pessimismus nodi den Sinn, daß das »Günstige« nidit ausgesprochen werden darf, um das »Sdiidcsal« nidit zu »provozieren«, da ja in der Zwangsneurose Worte magisdie Bedeutung haben. "3

medianismen halten einander die Waage und das Ich schafft in seinem Versuch der Vereinheitlichung ein Kompromiß.4 II. Die analytische Literatur zum Problem des Pessimismus Der erste Analytiker, der die Grundzüge einer Philosophie des Pessimismus - es war die Schopenhauers - aus dem Unbewußten ihres Schöpfers ableitete, war Eduard Hitsdjmann, der bewies, daß die frühesten und zutiefst reichenden Wurzeln des Pessimismus dieses Philosophen aus der eigenartigen Elternkonstellation entsprangen. Pessimismus sei keine Weltanschauung, sondern eine krankhafte Verstimmung. Zur Rechtfertigung der primär subjektiv-pessimistischen Verstimmung werde sekundär die Verwerflichkeit und Schlechtigkeit der Welt herangezogen, wobei ein großes Stück der Systembildung auf unbewußten Projektionen beruhe. Schopenhauer war einer aus jener Minorität von Tischgängern an des Herrgotts Tafel, denen es nicht schmeckt; ihr Kost verachten beweist nicht, daß das Gebotene schlecht ist, sondern - ihre psycho-physische Konstitution. Hitschmann betont die Bedeutung des Narzißmus und vor allem des masochistischen Lustgewinns beim Pessimismus in Übereinstimmung mit Nietzsche. »Deutlidi läßt sidi die Freude am eigenen Leiden in der ganzen pessimistisdien Darstellung und Auffassung des Lebens erkennen, da ja am Mißraten, Verkümmern, am Sdimerz, am Unfall, am Häßlichen, an der willkürlichen Buße, an der Entstellung, Selbstgeißelung, Selbstopferung ein Wohlgefallen gefunden und gesucht wird. Dies ist alles im hödisten Grade paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sidi selbst nidit zwiespältig will, welche sidi selbst an diesen Leiden genießt« (Nietzsche). Das, was ein Philosoph für die objektive Wahrheit, für letzte Lösungen der Welträtsel ansieht, ist nach Hitschmann psychologisdi individuellste Zwangsgedankenbildung und deren Projektion und 4

Man darf nicht vergessen, daß das ganze neurotische Gebäude des Pessimisten etwas Sekundäres darstellt und einem der vielen möglichen Ausgänge des realen oder vermeintlichen Nicht- oder Zuwenig-Geliebtseins in der frühesten Kindheit entspricht. Nur darf man sich die »Enttäuschungen«, an denen der Pessimist erkrankt, nicht allzu primitiv vorstellen. So fragt etwa der Grabbe-Biograph Ziegler: »Was hatte denn die Welt dem jungen Grabbe groß zuleide getan?« - Die Enttäuschungen liegen in der unwahrscheinlich frühen oralen Säuglingsperiode und gehen auf die Mutter-Kind-Beziehung zurück. 224

es sind die ureigensten Affekte des Philosophen, die ihn in bestimmte Richtungen zwingen.

Bedenkt man, daß diese geistreiche Arbeit aus der Frühzeit der Analyse stammt, ist man über die Treffsicherheit der Formulierungen - vor allem das Aufspüren des masochistischen Genusses beim Pessimisten ist staunenswert — frappiert und versteht, weshalb Freud diese Arbeit in seinem Werk »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung« zugleich mit dem philosophisch-analytischen Aufsatz Wintersteins »Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie« besonders hervorhebt. Und die Triebkonstituenten des Pessimismus? Wir wissen, daß es einen »analen« und einen »oralen« Pessimisten gibt. Der anale Pessimist hat eine glänzende Beschreibung in einer späteren Arbeit Eduard Hitschmanns gefunden, der nichts hinzuzufügen ist. Hitschmann rekonstruiert in dieser Arbeit den Charakter des zwangsneurotischen Misanthropen von Moliere: »Nehmen wir an, er sei ein der zärtlidien Mutter besonders ergebenes und ursprünglidi verwöhntes Kind. Der Vater war aus derberem Holz, grob, von nidit der strengsten Sittenstrenge. Der Sohn, an die Mutter fixiert, dem Vater eifersüditig und immer kritischer gegenüberstehend, würde sidi, aus der zu überwindenden Feindseligkeit heraus, ein besonders strenges Über-Idi aufrichten. Inzestuöse Phantasien auf die Mutter ließen das Sexuelle doppelt ablehnungswert ersdieinen; es fiele audi mit unter das viele Ekelhafte, das ein anal Veranlagter verwirft. Narzißmus plus Analität geben eine Disposition zur Homosexualität, die durdi Identifizierung mit der Mutter verstärkt, aber nie manifest würde. Das Vorbild der Mutter müßte viel strenge Gesittung, etwa audi kritisdi gegen den weniger gediegenen Vater ausgespielt, zur Nadilebung enthalten. Innerer Zwang zur Enthaltsamkeit, gesteigert durdi ängstlidi einschüchternde Erziehung der Mutter, weldie die Forderung, aussdiließlidi ihn zu lieben, enttäuschen mußte, ließe nichts übrig, als Unfähigkeit und Kränkung. Das Resultat ein nazarenisdier, gar nidit hellenisdier Mann, ein Enttäuschter, ein Weltverbesserer, ein Ethiker, aber ein polternder, ohne Liebe, über dem ein düsterer Sdiatten ruht.« - Der Autor hebt in der Arbeit hervor: das gesteigerte Selbstgefühl des Alceste, sein Opponieren aus Prinzip, seine Übertreibungen, masochistische Züge des Leidenwollens, sein paranoides Mißtrauen und die Tatsache, daß Haß, Verneinung, Pedanterie und Ubermoral dominieren.

Ansonsten berichtet die analytische Literatur wenig über den oralen Pessimisten. Die erste Äußerung finden wir bei Abraham, der "5

in seinen »Beiträgen der Oralerotik zur Charakterbildung« darauf hinweist, daß der schwerblütige Ernst der analen Pessimisten nicht unmittelbarer analer Herkunft ist, sondern aus der Enttäuschung der oralen Wünsche des frühesten Alters entstand. Abraham nimmt eine Unterteilung der oralen Stufe in zwei Teile vor, wobei in der ersten das Saugen, in der zweiten das Beißen die Hauptrolle spielt, und meint, daß eine geglückte Verarbeitung der oralen Erotik die erste und somit vielleicht wichtigste Voraussetzung eines späteren normalen Verhaltens in sozialer wie in sexueller Beziehung bildet. Ob nun das Kind in der Säuglingsperiode Lust entbehren mußte oder durch "Übermaß an Lust verwöhnt wurde die Wirkung sei die gleiche. Das Kind nimmt unter erschwerten Bedingungen Abschied vom Stadium des Saugens. Da sein Lustbedürfnis entweder nicht genügend gestillt wurde oder zu anspruchsvoll geworden ist, stürzt sich sein Begehren mit besonderer Intensität auf die Lustmöglichkeiten des nächsten Stadiums, wobei ständig die Gefahr der Regression lauert. Das heißt, die Lust am Beißen wird besonders hervortreten, ebenso die überstarke Ambivalenz. In manchen Fällen stehe die Charakterbildung unter oralem Einfluß: dem unerschütterlichen Optimismus, daß die Mutterbrust ewig fließen werde (eine Einstellung, die zu weltfremder Sorglosigkeit führen kann), stehe der Pessimist gegenüber, der dem Leben gegenüber eine sorgenvolle Einstellung habe und die Neigung »es sich sauer werden zu lassen« und sich selbst einfachste Vorgänge des Lebens über Gebühr erschwere. Abraham nennt ferner eine Reihe von Abkömmlingen dieser Einstellung: z.B. den Beamten, dem die Subsistenzmittel bis zum Tode garantiert werden müssen, den Ungeduldigen, Ehrgeizigen, Geizigen, oral Aggressiven, den Hast- und Ruhelosen usw. Die auf der oral-sadistischen Stufe Fixierten seien feindselig und bissig (Neid, Mißgunst, Eifersucht), während die auf der ersten - saugenden - Stufe Zurückgebliebenen ein heiteres und umgängliches Wesen an den Tag legen. Freud hat in seinen letzten Arbeiten die präödipale Mutterbindung des Kindes hervorgehoben und gemeint, »daß die Gier des Kindes nach seiner ersten Nahrung überhaupt unstillbar ist, daß es den Verlust niemals verschmerzt«, und sarkastisch hinzufügt, er wäre nicht überrascht, wenn die Analyse eines Primitiven, der noch an der Mutterbrust saugen durfte, als er schon laufen und sprechen konnte, ebenfalls den Vorwurf, zu wenig Milch erhalten zu haben, zutage fördern würde. 226

Ferenczi hat den Pessimismus im allgemeinen mit einer Störung des Wirklichkeitssinnes zu erklären versucht: »Alle Kinder leben im glücklichen Wahne der Allmacht, der sie irgend einmal - wenn auch nur im Mutterleibe - wirklich teilhaftig waren. Es hängt von ihrem »Daimon« und ihrer »Tyche« ab, ob sie die Allmachtsgefühle auch ins spätere Leben hinübertreten - und Optimisten werden können, oder ob sie die Zahl der Pessimisten vermehren werden, die sich mit der Versagung ihrer unbewußten irrationalen Wünsche nie versöhnen, sich durch die nichtigsten Anlässe beleidigt, zurückgesetzt fühlen und sich für Stiefkinder des Schicksals halten - weil sie nicht seine einzigen oder Lieblingskinder bleiben können.« (»Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes«, 1913.)

III. Aus Grabbes Kindheit Im folgenden wird der Versuch gemacht, an Hand eines Bruchstücks einer psydioanalytisdien Dichterbiographie dem Problem des oralen Pessimisten näherzukommen. Daß gerade Christian Dietrich Grabbe als Testobjekt gewählt wird, hängt mit mehreren Gründen zusammen: mit der Bewunderung des Verfassers für Grabbes Werke, mit der Tatsache, daß drei der hervorstechendsten Eigenschaften Grabbes - seine Oralität,5 seine Allmachtsidee* und sein Zynismus 7 - zum engeren Arbeitsgebiet des Verfassers gehören, und endlich mit dem Reiz, ein von den wissenderen Biographen als unlösbar erklärtes Problem zu lösen: »Einen Proteus in hundert Gestalten und nirgends zu fassen« nennt ihn z. B. Ziegler; »keine Formel deckt ihn ganz« resümiert Hillekamps. Über die Bedeutung Grabbes - dieses Buonarotti der Tragödie (Marggraff) - sei ein Urteil Heinrich Heines angeführt: 5

»Zur Problematik der Pseudodebilität.« Int. Zeitschr. f. Psa., XVIII, 1932. - »Der Mammakomplex des Mannes« gemeinsam mit L. Eidelberg. Int. Zeitschr. f. Psa., XIX, 1933. - »Übertragung und Liebe« gemeinsam mit L. Jekels, Imago, XX, 1934. - »Über einige noch nicht beschriebene Spezialformen der Ejakulationsstörung.« Int. Zeitschr. f. Psa., XX, 1934. - »Über die Vorstadien der männlichen Schlagephantasie.« Erscheint in Int. Zeitschr. f. Psa. 6 »Das Unheimliche.« Erscheint demnächst in International Journal of Psychoanalysis (London). - Eine Arbeit des Verf. über die Entwicklung der kindlichen Größenideen ist in Vorbereitung. 7 »Zur Psychologie des Zynikers«, Psa. Bewegung, V, 1933. ~ »Talleyrand. Ein Beitrag zur Psychologie des Zynikers.« In Druck. 227

» . . . will hier nur bemerken, daß besagter Dietrich Grabbe einer der größten deutschen Dichter war und von allen unseren dramatischen Dichtern wohl als derjenige genannt werden darf, der die meiste Verwandtschaft mit Shakespeare hat. Er mag weniger Saiten auf seiner Leier haben als andre, die dadurch ihn vielleicht überragen, aber die Saiten, die er besitzt, haben einen Klang, der nur bei dem großen Briten gefunden wird. Er hat dieselben Plötzlichkeiten, dieselben Naturlaute, womit uns Shakespeare erschreckt, erschüttert, entzückt. Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch seine Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und eine Ausgelassenheit, die das Tollste und Abscheulichste überbieten, das je ein Gehirn zutage gefördert. Es ist aber nicht Krankheit, etwa Fieber oder Blödsinn, was dergleichen hervorbrachte, sondern eine geistige Intoxikation des Genies. Wie Plato den Diogenes einen wahnsinnigen Sokrates nannte, so könnte man unseren Grabbe leider mit doppeltem Rechte einen betrunkenen Shakespeare nennen.«

»Ein origineller und ziemlich absonderlicher Dichter« — so nennt Freud im »Unbehagen in der Kultur« Grabbe - hatte eine ungewöhnliche Jugend: Grabbe wuchs im Zuchthaus zu Detmold auf. Sein Vater war Zuchtmeister, d. h. Gefangenenaufseher. »Die Wohnung der Eltern lag über und neben den Zellen, in welchen Verbrecher eingesperrt saßen und man gelangte zu ihnen nur, indem man an Schildwachen und Türen, die mit eisernen Stangen verriegelt waren, vorüberging« (Ziegler). Der Vater wird als gutmütiger, freundlich-liebenswürdiger Pantoffelheld geschildert. Das Regiment im Hause führte Frau Grabbe - »der Zuchthauskommissarius« -, wie sie scherzweise genannt wurde. Da Grabbes Mutter für seine spätere Entwicklung die entscheidende Rolle spielte, seien die einander widersprechenden Äußerungen von beiden Biographen Grabbes, Duller und Ziegler, nebeneinandergestellt. Es sei im vorhinein hervorgehoben, daß sowohl Dullers, wie Zieglers Objektivität wiederholt angezweifelt wurde: Duller stand unter dem Einfluß von Grabbes Witwe, die mit der Mutter Grabbes in erbitterter Feindschaft lebte - »sie stiehlt, sie sauft«, zeterte sie - und Ziegler wieder wird Voreingenommenheit gegen Frau Grabbe vorgeworfen und angedeutet, daß seine Informationen von seiner Frau, einem früheren Dienstmädchen der Frau Grabbe, stammen. Duller entwirft ein grausiges Bild der Mutter Grabbes, das offenbar haßverzerrt ist und aus diesem scharfsichtigen Haß heraus - Duller ist ja ein Sprachrohr der Gemahlin Grabbes - sogar die Wichtigkeit der präödipalen Mutterbindung ahnt: 228

»Grabbes Mutter lebt nodi. An ihrer Brust begann sein Unglück. In jenem zarten Alter, da der Vater dem Kinde noch nichts sein kann, die Mutter ihm alles sein muß, fand er am Herzen der Mutter kein Weichtum, keinen Schutz, fand er darin fast sein Verderben. Die Kombinationen seiner frühesten Kindheit hatten etwas Dämonisches, dessen Einfluß,, wiewohl durch Erziehung ünd'Bildung geschwächt, und wie es schien, verwischt doch in der Folge mit einem Male gebieterisch wieder zum Vorschein kam, und sich als feindseliges, vernichtendes Element geltend machte. Denkt euch eine weibliche Natur, in welcher jede geistige Regung unter der starren, schmutzigen Rinde des Sinnenlebens erstickt bleibt, in welcher die Wahrheit nie zum Durchbruch gelangt, in welcher - statt des Bewußtseins - nur der Instinkt, mit welcher - statt des Willens - nur dies oder jenes bizarre Verlangen, wie sinnliche Anregung eines gebar, schaltet und waltet, - eine solche bösartige, halbverrückte Natur, und - in eines solchen Wesens Schutz gegeben denkt euch ein Kind, das jeden Anblick, jedes Wort, jede Vorstellung wie Muttermilch einsaugt, dem die Mutter das lebendige Evangelium, dem sie erste und letzte, dem sie die heiligste Liebe, die es noch nicht zu fassen und später nie zu erwidern und zu vergelten vermag, das Organ sein soll, durch welches es das ganze Geheimnis seines Lebens wie einen Traum übersieht, auf den es vielleicht erst auf dem Sterbebette sich wieder besinnt. Von allem diesen fand das Kind Grabbe das Gegenteil. Denkt euch eine Mutter, die ihrem Kinde von dessen viertem Lebensjahre an täglich betäubende geistige Getränke darbietet, und ihm des Nachts beim Schlafengehen solche vor das Bette setzt. In tiefstem Schmerze erzählt Grabbe dies von der seinigen.«

Ziegler behauptet so ziemlich das Gegenteil: »Grabbes Mutter, eine starke, hochgebaute Frau, die in ihrer Jugend schön gewesen sein soll und deren noch jetzt ausdrucksvolle Züge und helle Augen noch jetzt sehr viel Energie und Willenskraft andeuten, stellt in ihrer weißen Pikeemütze und ihrem breitgesteckten Tudi eine repräsentable Bürgersfrau dar. Freilich ist ihr etwas Leidenschaftliches und Hastiges eigen, weswegen sie manchmal auf Erfüllung wunderlicher Einbildungen, die sie sich in den Kopf gesetzt hat, mit Beharrlichkeit bestehen k a n n . . . Wenn Duller in seiner Biographie Grabbes von ihr erzählt, daß sie Letzteren in seiner Kindheit durch Roheit und Härte eingeschüchtert und ihm des Nachts beim Schlafengehen betäubende geistige Getränke vors Bett gesetzt habe, so lautet das freilich sehr romantisch ... indessen ist dieser phantastische Aufputz lediglich in dem Gehirn der Witwe Grabbes entstanden. Die Eltern liebten den Sohn mit der zärtlichsten Liebe, zumal sie sich einen Sohn gewünscht. (Grabbe war das einzige Kind.) Besonders scheint er der Augenstern der Mutter 229

gewesen zu sein, in der Weise, daß sie wohl nicht ganz frei davon gewesen sein möchte, ihn in seiner Jugend verzärtelt und ihm viel zugute gehalten zu haben.«

Um die Unsicherheit voll zu machen, sei noch auf eine Stelle in Heines »Memoiren« verwiesen, in welcher Heine direkt hervorhebt, daß Grabbes Mutter ihm das Trinken abgeraten habe: »Eine Geschichte will ich hier einweben, da sie die verunglimpfte Mutter eines meiner Kollegen in der öffentlichen Meinung rehabilitieren dürfte. Ich las nämlich einmal in der Biographie des armen Dietrich Grabbe, daß das Laster des Trunks, woran derselbe zugrunde gegangen, ihm durch seine eigene Mutter frühe eingepflanzt worden sei, indem sie dem Knaben, ja dem Kinde Branntwein zu trinken gegeben habe. Diese Anklage, die der Herausgeber der Biographie aus dem Munde feindseliger Verwandter erfahren, scheint grundfalsch, wenn ich mich der Worte erinnere, womit der selige Grabbe mehrmals von seiner Mutter sprach, die ihn oft gegen »dat Suppen« mit den nachdrücklichsten Worten verwarnte. Sie war eine rohe Dame, die Frau eines Gefängniswärters, und wenn sie ihren Wolf-Dietrich karessierte, mag sie ihn wohl manchmal mit den Tatzen einer Wölfin auch ein bischen gekratzt haben. Aber sie hatte doch ein echtes Mutterherz.« (Memoiren, Ausg. Bong, Bd. 15, S. 79.)

Der ganze Streit um die Person der Mutter Grabbes ist dadurch provoziert worden, daß man annahm, Grabbe sei an seiner Trunksucht zugrunde gegangen, wobei die Tendenz bestand, die Schuld an dem Alkoholismus der Mutter zuzuschieben. In Wirklichkeit starb Grabbe im Alter von 35*/2 Jahren (n. Dezember 1801-12. September 1836) an Tabes, der Spätfolge einer in der Studentenzeit akquirierten Lues.8 Dieser Fehldiagnose ist es zu danken, daß wir von den Biographen einiges über die Mutter Grabbes erfahren. Nachdem dieser Streit wegen der Schuld oder Unschuld der Mutter an Grabbes Trunksucht durch die Verifizierung der Diagnose gegenstandslos geworden ist, gewinnt er doch wieder eine ganz andere Bedeutung, und zwar vom analytischen Gesichtspunkt, von Grabbes überstarker Oralität her. Und wenn auch der primitive Vorwurf der »Anlernung« des Säuglings zum Potus ein der psychoanalytischen Deutung bedürftiges Märchen ist, das Grabbe selbst kolportiert hat," so ist natürlich immer wieder die Beziehung des 8 9

Vgl. Erich Ebstein, »Grabbes Krankheit«. »Aber es kam Grabbe auch nicht darauf an, wenn sich's gerade schickte, 230

Kindes zur Mutter der Ausgangspunkt und der Schlüssel zum Verständnis jeder Persönlichkeit. Jede Analyse zeigt immer wieder, in welchem Ausmaß die Bedeutung des Vaters für die psychische Entwicklung bisher überschätzt und die der Mutter unterschätzt wurde. Die letzten Arbeiten Freuds über die »präödipale Mutterbindung« sprechen im Sinne dieser Annahme.10 Nach dem von Duller, Ziegler und Heine Angeführten ist anzunehmen, daß die Erziehung der Mutter durchaus inkonsequent war: Uberzärtlichkeit und unmotivierte Strenge wechselten ab, wobei das Rabiate der Mutter beim Kinde selbst bei Liebkosungen Angstbereitschaft hervorrief. Sehr treffend ist Heines Vergleich mit einer Wölfin, die mit ihren Tatzen auch liebend gekratzt haben mag. Dafür spricht auch folgende Szene zwischen Mutter und Knabe in der »Hermannsschlacht« (»Eingang«, 6.): Thusnelda: Einen Kuß, Junge! Noch einen und noch tausende - ich werde nicht satt. Thumelico: Deine Küsse tun weh. Thusnelda: Kind, idi bin zu froh.

IV. Grabbes Oralität Es muß bei Grabbe eine offenbar konstitutionell bedingte Verstärkung der oral-sadistischen Komponente angenommen werden, die durch akzidentelle Erlebnisse " in die Höhe getrieben sein mag. Auf diese Stufe der Sexualentwicklung regredierte Grabbe, wobei man begreiflicherweise Zeitpunkt und akzidentellen Anlaß, dem bloß die Rolle des agent provocateur zufällt, nicht mehr feststellen kann. Das sadistische Aussaugen und Beißen anderer und die Rückwendung dieser Aggression gegen die eigene Person unter dem Drucke des unbewußten Schuldgefühls, das sich im Strafbedürfnis äußert, seine Romantik aus dem Milieu der Hintertreppe zu schöpfen. So entstanden denn Geschiditen, wie die von dem begnadigten Mörder, den er als kleines Kind an einem Wollfaden im Gefängnishofe herumführte oder das gräßliche, von ihm selbst in die Welt gesetzte Gerücht, daß die eigene Mutter dem vierjährigen Kinde Branntwein vors Bett gesetzt habe.« (Wukadinowic.) 10 Vgl. E. Bergler und L. Eidelberg, a. a. O. 11 Wir wissen nichts über den Zeitpunkt der Mutterbrustentwöhnung Grabbes und können nur aus Indizien auf die Stärke dieses Traumas schließen.

in Form der Angst vor dem Gefressenwerden, spielen bei Grabbe eine übergroße Rolle. Diese Einstellung kann man im realen Verhalten Grabbes finden und mit einer Unzahl von Zitaten aus seinen Werken belegen. So erzählt z. B. Gräfin Elisa v. Ahlefeld (die Freundin Immermanns), daß sie Grabbe mit ihrer schönen Hand nicht zu nahe kommen durfte, da er sonst sofort hineinbiß, »weil sie gar so appetitlich sei«. »Er war wie ein Kind«, sagte die Gräfin von ihm, »so gut, so unartig, so lenksam, aber auch so schmutzig«. Eine ähnliche Szene - diesmal handelt es sich um einen Mann erzählt Ziegler (S. 77): »Einst traf er auf einem Balle mit ein paar Berliner Studenten, die, idi weiß nidit von wem, eingeführt waren, zusammen, der eine von ihnen hieß Eidiholz ... Die jungen Leute hatten sidi an ihn gedrängt, saßen mit ihm in einer Nebenstube, wo sie miteinander zediten, und flössen hier über in Lobeserhebungen über die Grabbeschen Werke, was allerdings nidit ohne Reiz für Grabbe blieb, der für Schmeicheleien zu Zeiten sehr empfänglich war. Das hatte eine Weile gedauert, da näherten sich mehrere von Grabbes älteren Bekannten und warfen spöttisdie Blicke auf diese seine Unterhaltung. Grabbe merkte das, sdiien sich darüber zu schämen, daß er sich mit den jungen Leuten in solche Vertraulichkeit eingelassen habe und brach nun auf höchst seltsame Art auf. Er sprang auf und während der Herr Eichholz noch vor ihm stand und fortfuhr zu demonstrieren, drückte er ihm die Hand mit den Worten: >Ja, ja, Sie haben ganz rechthier haben Sie ein Zeichen meiner Hochachtung.< Dann drehte er sich um, verzog das Gesicht zu einer lächerlichen Miene und ging aus dem Zimmer.«

Ein Studienkollege Grabbes erzählte folgende Szene, die Ebstein (S. 21) zitiert: »Daß Grabbe sich oftmals sehr herabwürdigte, ist ein bekanntes Ding... Grabbe war geradezu ein Schwein. Mehrere junge Juristen machten wir einen Spaziergang auf dem Detmolder Stadtbruche. Da es dämmerte, liefen Mäuse hin und her. Plötzlich warf sich Grabbe auf die Erde, haschte wie ein Kater nach den Tieren, erhaschte eines und nahm es zwischen die Zähne. Einer rief: >Trägst du es so zur »Stadt Frankfurt« hin, gebe ich so und so viel aus.< - Grabbe gab sich auch hiezu her.«

Aus Grabbes »Nanette und Marie« stammt folgende Episode: Nanette: Pietro (Vater):

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Weh! Was ist?

Nanette:

Die Nadel hier - sie stach Mir in den Finger - er blutet Leonardo (Liebhaber): Laß mich ihn Aussaugen! Nanette: Ha, der Unbarmherzige! Ich fühl es, wie er mir die Seele wegsaugt!

Ebenfalls aus »Nanette und Marie«: Leonardo:

Oh, Nanette, holder Name! Sollt ich dereinst verzweifelt und verlassen Im fürchterlichsten Schmerz darniederliegen, So würde ich »Nanette« sagen und Wie Himmelsfrieden würd' es mich umweben!

Pah,

Nanette: Ich liebe meinen Namen nicht, er klingt Zu zimperlich! - Ein Wort wie Krokodil, Das war' ein Nam' gewesen, welcher zu Der grimmen Miene paßte, die ich dir So gerne zeigte und nicht zeigen kann. Leonardo:

Nein, keine grimme Miene, auch nicht nur Zu scherzen! Deine Augenbrauen sind Zwei Raben in dem Schnee, und wenn du sie Zusammenzögst, so würd' ich denken, daß Sie ihre Flügel regten, um mir auf Den Busen loszufliegen und ihn ausZuhacken!

Nanette:

Pfui doch, du erschreckst mich vor Mir selbst, - kaum wage ich an meine Stirn Zu fassen, - meine Augenbrauen könnten Mir in den Finger beißen ...

Leonardo:

Deine Finger Verdienten das um meinetwillen! Halb Geöffnet, gleich schlau ausgestellten Mäusefallen Erwischen sie mit einem Druck die Herzen Und lassen ihren Fang nicht eher - Ei, Sieh da! Wie niedlich!

Besonders beweisend ist eine Szene aus dem Märchenspiel »Aschenbrödel*. Dort stellt die Feenkönigin der Olympia eine sonderbare Dienerschaft zur Verfügung: der Kutscher ist eine verwandelte Ratte, die Kammerzofe eine verzauberte Katze.

Königin der Feen: Doch müssen wir bei all den Feengaben Zur Freude auch den Scherz noch haben. Der Kutscher fehlt - 'ne Ratte naget dort. »Ratte sei Kutscher! Fahre du wild! Wild wie du bist!« Die Zofe fehlt - ei, will die Katz da fort? »Katze werd* Zofe! Sanft und doch beißig! Katzennatur!« (Der Kutscher, eine verwandelte Ratte, tritt ein, graugekleidet, mit einem Zopf bis an die Fersen und einer großen Peitsche.) (Er will in das Loch kriechen.) Weh' mir, ich ward zu groß. Zofe (sieht den Kutscher, für sich murmelnd): Häh, die Ratte! Ich springe auf sie los! - Doch still - Ich habe keine Krallen mehr. Kutscher: Wie unbehaglich ist mir! Wie wohl war mir in meiner süßen Heimat - Wie schön war ich! Wie schändlich bin ich verwandelt! Zofe (sacht geschlichen): Fassen muß ich die Ratte, doch Kutscher (erblickt die Zofe): Huh, was riech' ich? Königin der Feen: Kutscher, wirst du kindisch? Kutscher: Wenn man mir ans Leben will? Königin der Feen: An das Leben? Kutscher: Das Geschöpf da will mich fressen - aber kommt's mir, ich sterbe nicht umsonst, ich wehre mich. Königin der Feen: Das holde Mädchen erschreckt dich? Du nimmst sie einst noch zur Frau. Kutscher: Daß ich morgens nach der Hochzeitsnacht statt neben ihr in ihrem Magen läge ... 'S ist 'ne Katze. Der Hund hol ihre Schönheit. Damit betrügt sie die Mäuse. - Aber wir Ratten, - doch wir ersten Geschöpfe, wir ahnen gleich, was so 'ne St. Simonistin für eine auffresserische Tendenz unterm Fell hat. Königin der Feen: Sie sieht dich so mild, so traurig an. Kutscher: Mild? Ja, um mich heranzulocken! Traurig? Ja, weil ich nicht komme! Sie hat meinen Vater ermordet, den braven Greis, nun ist sie noch nicht satt,12 sie will noch den Sohn. Königin der Feen: Du rasest! Kutscher: Ich sollt' es, ich hab Ursach' über Ursach'. Denn auch meiner Geliebten biß sie neulich das vierte Bein aus - Gottlob, die hat noch drei behalten, mehr als du je gehabt. - Und ich - hab' ich nicht gestern mit ihr auf dem Kornboden gekämpft bis aufs Blut? Ich, meine Geliebte, einige gute Freunde und Freundinnen aßen ein bißchen Korn, klatsch" Vgl. einen Brief Grabbes an seine Mutter (21. Juli 183$): »Dein letzter Brief hat mich sehr krank gemacht. Wirst Du -, ich mags nicht sagen. Du willst hieher kommen? - mich nun ganz ausziehen, weil ich Dir vieles geschickt und schicken werde? Noch nicht satt?«

ten ein wenig, hielten nachher einen kleinen Ball, der etwas Lärm machte. - Jene Kreatur hört das, schleicht heran, springt mir in den Nacken, krallt sich hinein, beißt mir den Kopf, ich ihr in meiner Angst das Ohr ... schaut, da hat sie noch die Narbe - und nur ihr erster Schreck vor meinem verzweifelten Widerstand rettete uns. Zofe: Mein Lieber, du irrst dich in der Person - laß dich umarmen komm', fern von Menschen laß uns tändeln und spielen auf grüner Au. Kutscher: Ei, Madmoiselle Miau! Er wird sich hüten! Spricht sie schon wieder von »Au«? Kann sie das »auen« und »miauen« auch jetzt nicht lassen? Zofe (zur Königin der Feen): Oh, laß mich mit dem guten Mann allein! Kutscher: Eh' soll der Gottseibeiuns bei mir sein. Zofe: Ich werde mich mit ihm verständigen! Kutscher: Zu fressen mich, will sie mich bändigen. Königin der Feen (zum Kutscher): Genug, zum Wagen stracks, Und zu des Königs Hofe Fahr du Olympia und ihre Zofe! Kutscher: Ich auf dem Bock und das Tier hinter mir? Daß es jeden Augenblick mir ins Genick fällt? Königin der Feen: Ich werde dich vor ihr beschützen, Doch auf dem Bocke sollst du sitzen! Kutscher: Schon wieder soll. Ich fühl's, ich muß ...

In Grabbes »Napoleon* schreit Jouve: »Hacket dem verräterischen Schneider die Finger ab und steckt sie in den Mund als Zigarren der Nation.« Einer der Grundsätze von Grabbes Faust (»Don Juan und Faust«, IV. 3.) lautet: Was ich wünsche, muß ich haben oder Ich schlag's zu Trümmern! Wenn ich schmachte (Sei's nach der Liebe oder nach dem Himmel), So werd ich nicht, wie manche Sehnsuchtsnarren, Vom Schmachten satt und freu' in süßlicher Melancholie und Selbstzufriedenheit daran mich Nein, nein, da halt* ich's lieber mit dem Tiger, der So lange Hunger fühlt, bis er der Speise Genug hat und den Raub zerreißt, Auf den er lauert. - Muß man denn zerreißen, Um zu genießen? Glaub's fast, wegen der Verdauung. Ganze Stücke schmecken schlecht, Mir sagen's Seel' und Magen ...

In »Marias und Sulla* kommt diese kannibalische Tendenz noch deutlicher zum Ausdruck:

Flavius (in der Senatsrede): Blut oder Brot! Wir hungern! Unten an Dem Tiber Hegt der Marius und sperrt Die Zufuhr! Nicht ein Stäubchen Mehls gelangt Zur Stadt! Er läßt es in die Wellen schütten! Die Mütter wollen ihre Kinder schlachten, Pest, Seuchen, Jammer brechen jäh herein!

In Grabbes Jugenddrama »Herzog Theodor von Gothland« wimmelt es von oral-sadistischen Anspielungen. Skiöld spricht von Menschenopfern, der alte Gothland drückt den Wunsch, seinen Sohn zu töten, folgendermaßen aus: »Nun wollen wir ihn schlachten wie ein Huhn«, Berdoa höhnt des Helden Träume als Wiederkäuen des Brudermords: »Er kann kein Bruderfleisch verdauen«, Herzog Theodor erzählt einen Traum, in welchem sein ermordeter Bruder in Gestalt einer ungeheuren Spinne ihm »die Brust aussog«, Rolf zeigt seine selbstangenagten Fingerknochen und der Kanzler bricht in den Verzweiflungsschrei aus: Hier Ist meine nackte Brust! Durchbohr' sie, reiß Sie auf! Saug ihre Wunden! Bruderblut Ist Nektartrank! Schlürf es! Hin strömt es dir! Mit Freuden geh' ich's, wenn es dich Beglückt! Berausche dich darin, Bis daß du dich davon erbrichst!... Ja, ja, Kettet's kettet's an, Das Ungetüm, das seine Brüder frißt.

Grabbe verließ die orale Entwicklungsphase mit einer schweren Läsion: die gütige und die fressende Mutter sollten von nun an ständig um die Herrschaft in seiner Brust ringen und seine Beziehung zum Leben bestimmen. Es ist auffallend - und für die These der oralen Regression beweisend -, daß bei Grabbe Frauen und Männer als »Fressende« und »Gefressene« ohne Geschlechtsunterschied vorkommen. Das hängt damit zusammen, daß es für das Kind auf der oralen Stufe einen Geschlechtsunterschied noch nicht gibt: die Frauen sind ebenso phallische, d. h. Wesen mit einem Brustpenis, wie die Männer. Aus dieser nicht überwundenen oralen Phase ist Grabbes Alkoholismus, vieles an seiner Dichtung, seine Größenideen, sein Pessimismus, ja seine ganze Sexualität zu vertehen. 136

V. Grabbes Alkoholismus Grabbes alkoholisdie Süditigkeit erwächst auf dem Boden der oralen Triebkonstitution und stellt ein sehr komplexes Phänomen dar. Alle bisherigen analytischen Versuche, das tiefste Agens der Süchtigkeit zu finden, haben keine Lösung gebracht. Die Arbeiten von Rado, Wulff, M. Klein, M. Schmideberg, Glover, E. P. Hoffmann geben trotz höchst bedeutungsvollen Hinweisen keine befriedigende Antwort. Daß die orale Triebkonstitution allein nicht genügt, ist anerkannt. Dazu muß neben einer offenbar konstitutionellen GiftAffinität - eine Süchtigkeit zu einem speziellen Gift kann sich, wie eine Reihe von nichtanalytischen Autoren hervorhob, nur dort entwickeln, wo der Körper dieses Gift mit Lustreaktionen beantwortet: gibt es doch Individuen, die z. B. Morphium mit dysphorischen Reaktionen beantworten -, noch ein Etwas hinzukommen, das uns bisher nicht bekannt ist. Vielleicht ergeben die psychischen Reparationsversuche des Entwöhnungstraumas einen weiteren Zugang zum Problem. Mit diesen Vorbehalten — derzeitige Unlösbarkeit des Problems können wir bei Grabbes Alkoholismus folgende Konstituenten finden: 1. Der Potus ist vorerst eine Wiederholung der oralen Lust und ein Versuch einer Wiedergutmachung der oralen Enttäuschung. Der Alkoholiker bekommt soviel zu trinken, als er nur will, die infantile Sehnsucht scheint erfüllt, die dahinter lauernde, aus der Versagung resultierende Depression zeitweise überwunden. 2. Der Potus stellt zugleich eine »magische Geste« dar, die zeigt, wie der Potator in der Kindheit bezüglich der Milch hätte behandelt werden wollen. 3. Das Animieren anderer zum Trinken (eine von Grabbe wiederholt berichtete Attitüde) bedeutet die Identifizierung mit der gütigen, oralspendenden Mutter. (Bei jedem Menschen besteht nach Freud die Tendenz, passiv Erlebtes aktiv zu wiederholen.) 4. Auch die konsekutive Logorrhoe und das bombastische Bramarbasieren im Rausch sind einerseits Identifizierungsprodukte mit der gütigen Mutter, anderseits stellen sie durch Amovierung des verbietenden Uber-Ichs jenen Zustand narzißtischer Glückseligkeit und das Zurückgleiten auf die Stufe der kindlichen Allmadn dar, die bei jeder Süchtigkeit zu konstatieren ist. Das schwache aktuelle Ich kann sich der unbewußten Triebtendenzen nicht erwehren und erliegt immer wieder der narzißtischen »Versuchung«. 237

5. Ein weiterer Beweis der kindlichen Allmacht beim Alkoholiker ergibt sich aus der Urethralerotik. Ich konnte wiederholt in Analysen feststellen, daß Alkoholiker beim häufigen, durch Alkoholgenuß bedingten Urinieren infantil-sadistische Größenideen auslebten. Bezeichnend hierfür ist eine Störung des Zeitgefühls bei diesen Menschen, die, ohne betrunken zu sein, beim durch Saufen bedingten Urinieren das Gefühl einer unendlich langen Zeitspanne haben. Diese Größenideen kombinieren sich mit urethral-analen Herabsetzungstendenzen, für die gerade Grabbe ein Beispiel liefert. So erzählt Grabbes Biograph Ziegler folgende Szene: » . . . Erinnere idi midi, als Hannibal gezwungen war, Italien zu verlassen, hielt er einen Kriegsrat und während nun seine Generale weise beraten, stellt er sidi bei Seite und schlägt sein Wasser ab. > Wartet erst einmal !< sagt er veräditlidi zu seiner Umgebung, >Ich muß erst einmal p . . .< Als er wirklich abreist, verrichtet er erst seine Notdurft, indem er spridit: >Das ist mein Denkmal, weldies idi hinterlassen Wenn man Grabbe fragte, ob er denn dergleichen drucken lassen wolle, versetzte er: >Allerdings. Und keinen Buchstaben werde ich streichen^ «

Wenn man die bei Grabbe klar nachweisbare Gleichsetzung von Mutter und Heimat in Rechnung stellt (siehe S. 366), ergibt diese Miktion eine allerstärkste Aggression gegen die Mutter. (Italien war Hannibals »erweiterte« und eroberte Wahlheimat.) 6. Im Potus Hegt zugleich eine Anklage gegen die die Milch verweigernde Mutter (der gegenüber der Potator ambivalent eingestellt ist) etwa nach der Formel: Schau, was du aus mir gemacht hast: einen Säufer. 7. Anderseits ist in der Trunksucht eine Rachehandlung gegen die Mutter auf dem Umwege über die introjizierte Mutter unverkennbar.1* Der Potator ist dann psychologisch nicht er selbst, sondern die Mutter. Die Schädigung gilt nicht dem Säufer, sondern der zu bestrafenden introjizierten Mutter. Es ist die Umkehrung der Situation: säugende Mutter — saugendes Kind, wobei die Mutter aus Rache mit Gift »angefüllt« wird. 18

Dieser Mechanismus steht der Melancholie nahe und unterscheidet sich von ihr durch die partielle Einverleibung. H. Wulff nennt den Vorgang bei seinen Fällen von Freßsucht treffend »ein Mittelding zwischen Melancholie und Sucht«. (»Über einen interessanten oralen Symptomenkomplex und seine Beziehung zur Sucht.« Int. Zschr. f. Psa., XVIII, 1932.) Ebendort Hinweise auf die Differenzen zur Melancholie und Hervorheben der Triebentmischung. 238

8. Zugleich ist eine Trotzhandlung gegen die Mutter, resp. die Autorität unverkennbar: »Eines Tages ist Grabbe in einem Konditorladen, dessen Besudi den Schülern verboten war, mit einigen seiner Altersgenossen anwesend, als einer der Lehrer hereintritt, vielleidit, um eine Erfrisdiung zu nehmen. Da wandelt ihn eine solche Verlegenheit und Keckheit an, daß er augenblicklich sechs Liköre fordert und alle sechs in Gegenwart des Lehrers hinunterstürzt.« (Ziegler.)

9. Daß unbewußte homosexuelle und exhibitionistische Tendenzen im Potus in männlicher Gesellschaft hervortreten, ist eine bekannte Komponente. Das gilt nicht für den »stillen Suff«, wo das früher hervorgehobene Hinabgleiten in frühe narzißtische Stufen und das Sich-Hingeben an solche Phantasien mehr hervortritt. Grabbe, der ursprünglich immer in Männergesellschaft trank, kam in letzten Jahren immer mehr davon ab. Aus seiner Düsseldorfer Zeit werden Szenen geschildert, in welchen er halbe Tage lang mit dem epileptischen Komponisten Burgmüller ohne zu sprechen trinkend »verdöste«, d. h. sich schweigend seinen Phantasien hingab. Bezeichnend ist, daß er in dieser Zeit an der »Hermannschlacht«, also einem Mutterproblem arbeitete (siehe S. 367 f.). Endlich sei auf die Zusammenhänge zwischen Oralität und Homosexualität verwiesen (siehe »Mammakomplex«). . Die Schuldgefühlsentlastung erfolgt beim Potus auf verschiedenen Wegen. Beim Trinken in Gesellschaft dadurch, daß auch andere sich berauschen, also durch deren Mitschuldigmachen. Ferner in der realen Selbstschädigung durch den Potus, im folgenden Katzenjammer, den Selbstvorwürfen, dem Odium bei den Mitmenschen usw. usw. »Anfangs Elend und später häuslicher Gram trieben den unglücklichen Grabbe, im Rausche Erheiterung oder Vergessenheit zu suchen, und zuletzt mochte er wohl zur Flasche gegriffen haben, wie andere zur Pistole, um dem Jammertum ein Ende zu machen. >Glauben Sie mirder konnte viel vertragen und wäre nicht gestorben, weil er trank, sondern er trank, weil er sterben wollteDiese Selbstzerstörung raubte Grabbe nicht nur die Möglichkeit, ein glücklicher Mensch zu werden, worüber er später die bitterste Reue um das Unwiderbringliche empfand (vgl. Don Juan und Faust); sie bedeutet auch viel für die äußere Art und Erscheinung seiner Poesie, in der sich das Unfruchtbare einer zerstörten Natur, die einsame Abgeschlossenheit, die bizarre Kälte, das geringe Erleben ausdrückte Bei der Würdigung von Grabbes Verhältnis zur Frau, die ihm im Grunde nur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse war, wird diese krankhafte Folge seines verheerenden Jugendlasters besonders zu erwähnen sein.« (S. 20/21.) Näheres bei E. Bergler-L. Eidelherg, a. a. O. - Grabbes grimmig-witzige Verhöhnungen der Autorität gehen zum Teil auf die nicht gelöste Ddipussituation zurück. Besonders bezeichnend ist eine Szene aus »Gothland«: »Ich kann Euch Erdenkön'ge nur bedauern, Ihr sollt der 256

Alle diese Schlußfolgerungen sind nach Ergebnissen der Psychoanalyse, soweit eine direkte Onanieschädigung angenommen wird, nicht stichhaltig, es sei denn, man rechnet die ungenügende Aggressionsabfuhr (Nunberg, Jekels und Bergler) bei der Onanie zu den direkten Schädigungen. Dagegen haben die Schuldgefühle, die sich als Reaktion auf die unbewußt die Onanie begleitenden Phantasien einstellten, bei Grabbe unleugbar eine Rolle gespielt, um so mehr, als er seine luetische Infektion, seine ständigen Krankheiten und endlich seine vielen Tabessymptome (vor allem die Impotenz) wahrscheinlich auf die Onanie zurückgeführt hat. Auch dürfte Grabbe ein Zwangsonanist gewesen sein. Von hier aus gewinnen wir einen Zugang zu Grabbes Stellung zum Schuldgefühl. Er erklärt es zwar als etwas »Überflüssiges«, macht sich hohnlachend darüber lustig und läßt Gothlands Sohn schwören, daß er nie Reue fühlen will (»So schwör', daß du nicht Reue fühlen willst«, IV. I.). Auch Sulla, Grabbes Idealgestalt, hat Gewissensbisse. So sagt Grabbe im unvollendeten Sulla-Szenarium: »Sulla selbst tritt auf. Er übersieht den weiten Aschenhaufen, aus eingestürzten Häusern und verbrannten Mensdien bestehend. Momentan fällt ihm der Gedanke ein, daß es möglich sein könnte, über diese Verwüstung einstmals Reue zu fühlen, er bridit in den alle Umstehenden erschütternden Natursdirei aus: >£ntsetzlich! Schrecklich! Ungeheuer!< Doch sdinell ist Sulla beruhigt und belächelt seinen menschlichen Ausruf, dessen Natur er richtig beurteilt...« An einer anderen Stelle heißt es von Sulla: »Ernstliche Gewissensbisse brauch: er nicht zu fürchten, dazu ist er in sich selbst zu abgerundet.«

In die gleiche Kerbe schlagen Aussprüche, die das Unwiederbringliche betrauern und die Bestrafung akzeptieren. Etwa ein Ausspruch Fausts: Verwünscht, der Mensch erkennt nur dann, Wann er's bereits getan hat, das, was er Götter Rolle spielen und seid Menschen.« Ferner ein zweiter Ausspruch Gothlands: »Wenn nicht einmal ein Königssohn oder ein König glücklich ist, ja dann gibt es kein Glück auf Erden.« Man beachte endlich die Behauptung Grabbes, »das Große besteht meist aus ein paar Kniffen« und die berserkerische Ironie im »Hannibal« - der Siegesbote von Cannae wird in Karthago zurechtgewiesen: »Schrei nicht so!« und ähnliche Stellen mehr. - Grabbes Ödipuskomplex war aber prägenital stark unterbaut und viele Aggressionen dieser Phase scheinen ursprünglich der phallischen Mutter gegolten zu haben. 257

Getan, und Teufelshände Sind öfters unsichtbar im Spiel Aus Nichts schafft Gott, wir schaffen aus Ruinen. Erst zu Stücken müssen wir Uns schlagen, eh* wir wissen, was wir sind Und was wir können! - Schrecklich' Los!

Ähnliches bedeutet es, wenn Grabbe sagt: »Der Mensch trägt Adler in dem Haupt, und steckt mit seinen Füßen in dem Kot.« Den gleichen Gedanken spricht der Ritter - Mephisto - in »Don Juan und Faust« aus: Die Pflanze, die vom Boden sich empor Will schwingen, muß mit Kot gedüngt erst sein, Bevor sie frei kann wurzeln und aufschießen. Der Kot - ihr nennt ihn Leidenschaft, sei's Geiz, Sei's Ruhm, sei's Aberglaube, sei es Liebe.

Anderseits sind wilde Anklagen gegen das Schicksal*' bei Grabbe zu konstatieren. Dies führt zum Problem seines dichterischen Schaffens. VIII. Der Einfluß der Prägenitalität Grabbes auf sein dichterisches Schaffen Grabbes unbewußte Angst war die des Gefressenwerdens vom Weibe, eine Angst, die, wie früher ausgeführt, die Schuldgefühls19

Grabbe war zutiefst ein sentimentaler Mensch und seine Zynismen sind vielfach nach dem Typus der »sentimental-pathetischen Zynismen« aufgebaut: »Es sind dies Pathetiker, die über die Ungerechtigkeiten der besten aller Welten empört sind, Sentimentale, die sich ihres inneren Gefühls schämen und es umgemünzt in Form des Zynismus - als Distanzierungsmittel - vorbringen. Dieser Zynismus trägt aber das Zeichen >made in sentiments< in seiner ganzen Art: er ist dem Weinen näher als dem Lachen.« Näheres in der Arbeit »Zur Psychologie des Zynikers« a. a. O. - Ziegler berichtet (S. 75), Grabbe habe eine »sonderbare Abneigung gegen alles gehabt, was nach Sentimentalität aussah, wobei man aus der oftmaligen Äußerung: >Um Gotteswillen, nur nicht sentimental, nur nicht süß!< mit Sicherheit annehmen konnte, daß tief im Grunde sein Gemüt sehr zart und weich beschaffen war«. — Wie bei allen Zynismen handelt es sich um ein Ausleben der unbewußten Aggression um den Preis der Beschwichtigung des Ober-Ichs durch einen spezifischen Ich-Vorgang, den »zynischen Mechanismus«. Wie groß Grabbes Aggression war, beweisen die berüchtigten Grabbeismen. 258

reaktion auf eigene (ursprünglich auf die Mutter bezogene) oralaggressive Tendenzen darstellte. Grabbes ganze Dichtung ist für ihn ein Beweis, daß die Frau ungefährlich, dumm, bedeutungslos ist, dient also vorerst der unbewußten Selbstberuhigung, wobei es wohl überflüssig ist zu betonen, daß der ganze hier zu schildernde Vorgang Grabbe nicht bewußt war. Deshalb sind Grabbes Helden grausam, hinterlistig, blutgierig und vor allem - Männer. Einerseits färbt also die grausame Frau, gegen die Grabbe sich wehrt, auf seine Helden ab, in einer anderen Schicht identifiziert sich Grabbe selbst mit ihnen. Es ist, als würde jemand aus Angst vor einer Maffia selbst Mitglied dieser Maffia. Anderseits genügt dieser indirekte Beweis der Ungefährlichkeit der Frau nicht, es folgt ein zweiter: die Helden selbst sind keine Helden, Grabbe zeigt deren »Brüchigkeit« auf. Ich habe den Eindruck, als könnte man Grabbes unbewußte Argumentation wie folgt präzisieren: Erstens kann mir die Frau nichts antun, weil sie bedeutungslos und schwach ist, zweitens sind nur Männer grausam und gefährlich und drittens sind auch diese Männer letzten Endes doch nicht gefährlich, da sie innerlich schwach sind,30 ich kann also sicher sein. Die »Wiederkehr des Verdrängten« bedingt aber, daß Grabbes dichterische Frauengestalten nur dann pulsierendes Leben fühlen lassen, wenn sie - Mannweiber sind. Die Herzogin von Angoul&ne (»Der einzige bourbonische Sprößling, der verdiente, Hosen zu tragen«, sagte Napoleon), die Baronin im »Aschenbrödel« und Thusnelda in der »Hermannschlacht« atmen wirkliches Leben, alle ändern, übrigens recht seltenen Frauengestalten Grabbes (»Man ist zu sehr unter Männern« warf ihm schon Ziegler vor) sind blutleer. An einer Stelle kommt Grabbe das beinahe zum Bewußtsein: Ingomar: Deine Frau ist kein Weib. Hermann: Alle Wetter, was denn? Ingomar: Kann's nicht recht sagen. Doch gegen ihre Stirn tauscht* ich nicht die Sonne, nicht den Blitz gegen ihr Lächeln, und ihren Mut und Verstand betreffend ... (»Die Hermannschlacht*, erster Tag.)

Das, was die Biographen Grabbes »Nihilismus« und »Dämonologie« nennen, ist ein verzweifeltes unbewußtes Ringen mit der Frage: Welchen Sinn hat eine Welt, in der das Kind von der Mutter 80

Gewiß kompliziert sich der Vorgang durch die aus dem Ödipuskomplex stammende Aggression gegen den Helden = Vater. 259

nicht geliebt wird, ja von ihr gefressen werden kann? Begreiflicherweise kommt Grabbe diese Frage bloß auf dem Umweg einer »Verschiebung« zum Bewußtsein. Grabbes Antwort lautet: Diese Welt hat keinen Sinn. Bei einem innerlich so aggressiven 31 Menschen, wie Grabbe, löst diese Erkenntnis nicht Resignation, sondern titanenhafte Anklage aus. Schon im »Gothland« des zwanzigjährigen Grabbe heißt es: (Donnersdiläge.) Hordit! Horcht! Das sind die Fußtritte des Sdiicksals! - Oh, Jetzt erst, jetzt erst begreif idi euch, Ihr himmelstürmenden Giganten! Zerstörend, unerbittlich, Tod Und Leben, Glück und Unglück, anEinander kettend, herrscht Mit alles niederdrückender Gewalt Das ungeheure Schicksal über unsern Häuptern! Aus den Orkanen flicht Es seine Geißeln sich zusammen Und peitscht damit die Rosse seines Wagens durch Die Zeit und schleppt, wie Der Reiter an des Pferdes Schweife den Gefangenen mit sich fortreißt, Das Weltall hinterdrein! Die Himmelsbogen sind gekrümmte Würmer, Und krampfhaft ringeln sie Sich unter seinen Füßen! Die Menschenherzen sind der Staub, Worauf es geht! - Oh, immer, immer mehr Begreif ich euch, Giganten! Was ist natürlicher als Himmelssturm? Oh, der Glaube an Ein Schicksal ist nicht furchtbar - hold und tröstlich Ist dieser Kinderglaube aus der Zeit Der Griechen, welche noch nichts Schlimmes ahnten! Das Geschick ist grausam und entsetzlich, Doch planvoll, tückisch, listig ist es nicht! Allmächt'ge Bosheit also ist es, die Den Weltkreis lenkt und ihn zerstört! 51

Grabbes überstarke Aggression verführt noch den Schwerkranken zum Ausspruch: »Gab's nur Krieg, gesund war ich. Doch nun muß ich ihn machen in Tragödien.« Prinz Heinrich sagt in »Kaiser Friedrich Barbarossa* (I. 2): »Der Kampf auch, ob wir siegen oder fallen, ist Lust!« 260

... weil es verderben soll, Ist das Erschaffene erschaffen! Deshalb ist unsres Leibes kleinster Schmerz, Empfänglich für den ungeheu'rsten Schmerz, Deshalb sind unsre Glieder so gebrechlich, Deshalb sind wir so fasernackt geboren! Daß die Verführung sicher uns Beliste, wurden wir Mit Dummheit reichlich ausgestattet, und Unsterblich sind wir für - die Höllenstrafen. - Weil es verderben soll, ist das Erschaffene Erschaffen! Wie ein ries'ges Henkerrad Kreist dort der sogenannte Himmelsbogenj Die Tage und die Nächte, Sonne, Mond Und Sterne sind Wie arme Delinquenten draufgeflochten, und Mit ausgesparten Gnadenstößen Zerrädert und zermalmt er sie! Pfui, pfui! wie ekelt mich die Schöpfung an! Der Jahreszeiten wechselnde Erscheinungen, die immer wiederkehrenden Verwandlungen an dem Gestirnten Firmament - was sind sie anders als Ein ew'ges Fratzenschneiden der Natur? - Zwar habe ich gemordet, Doch Morden ist So schlimm nun grade nicht! Vom Morden lebt ja alles Leben, wenn Du atmest, mordest du! - Ein Ding, das nichts Ist, einen Menschen machte ich zu etwas, sei's Auch nur zu Mist! Bei einem Vieh Bedenk ich mich, eh' ich das Messer zücke! (Sein Dasein hat 'nen Zweck - es wird Gegessen.) Doch bei einem Menschen Bedenke ich mich nicht; sein Leben Nützt weder anderen, noch ihm ... Vor wem sollt' ich erröten? Ei, mordet jene schwärende, giftGeschwollne, aufgebrochne, eiternde Pestbeule, die ihr Sonne nennt und als Das Ebenbild der Gottheit ehrt, nicht auch? Wie an der Amme Brust das Kind, so liegt An ihr das durst'ge All - und boshaft tränkt Sie es mit ihrer fieberheißen Milch; 261

Daß sie zum Mord aufgären mögen, tropft Sie Feu'r in unsre Adern, Und zärtlich, wie 'ne Mutter brütet sie Die lieben Krokodile aus den Eiern! Ha, Sonne! Könnt' Ich dich einmal bei deinem Strahlenhaare packen Am Felsen wollt ich dein Gehirn zerschmettern Und dich, was Schmerz heißt, fühlen lassen.

In späteren Werken wird immer wieder dieses Thema mit großer dichterischer Genialität abgewandelt, eine Orgie des Pessimismus und der Weltverneinung: »Ist nicht jedes seiner Stücke« - fragt Hillekamp - »gleichsam Illustration des Wortes: Wie klein ist der Mensch? Was bleibt vom mächtigen Gothland nach gewaltig rauschhaftem Dasein als die Erkenntnis, daß es nicht lohne, zu leben? Denn nur: Weil es verderben soll, Ist das Erschaffene erschaffen.« (III, i.)

Faust gelangt weder an sein Ziel der Erkenntnis noch zur Beschränkung auf das Irdische durch die Liebe, und Don Juan versinkt mit einem »Nein« auf den Lippen. Auch die Idee der »Hohenstaufen« liegt ähnlich, obschon es zunächst anders scheinen mag. Zunächst Barbarossa: Hier liegt der Schwerpunkt des Dramas im Kampf der Weifen und Waiblinger, des Löwen und Barbarossas. Der Staufer siegt in diesem Kampf, aber es ist nur ein äußerlicher Sieg, denn in Wirklichkeit hat er mit seinem Sieg auch die innere Einheit Deutschlands getroffen und den Grund für die unselige Zukunft des Landes gelegt. Er triumphiert, aber seine Glorie ist Lüge. Wenn er stolz von sich sagt: »Mein Erdgeschäft ist aus« — so sagt er damit zugleich, daß er seinem Ideal, der Herrschaft über Italien, Deutschlands beste Kraft geopfert hat -, damit wird das selbstbewußte Wort fast zu einer Ironie. Er ist ein großer Mann, aber er hat den Keim zum Untergang seines Geschlechts und seiner Macht selbst gelegt: Tragische Ironie des Schicksals - die der pessimistische Dichter hier erspürt. Dieser Nihilismus wirkt sich noch stärker in »Heinrich VI.« aus. Das Ziel dieses Menschen ist ungeheuer groß: Ich, Kaiser, Die Kaiserkrone erblich, - Deutschland, Neapel Unter meinem Fuß, - der Papst Zu meinem Bischof erniedrigt, - wert Ist das zahlloser Leichen. 262

Ja, dieser Zweck erscheint ihm »groß genug, die Welt aufzuopfern« (I. 2.). Und was erreicht er? Seine Lebenskraft wird in der Blüte vernichtet, alles Errungene zerfällt wieder, sein Thronerbe ist ein schwaches Kind, und an seiner Stelle nimmt der Papst, des Kaisers schlimmster Feind, die Regierung an sich. Grabbe entläßt uns hier, fühlbarer noch als sonst, mit dem Bewußtsein: Der Mensch beginne, was er will, es ist nichtig vor dem unerforschlichen Es, dem Schicksal, das ihm alles aus der Hand reißen kann, wenn es ihm paßt. Heinrich geht unter, aber der Hirte überlebt ihn. Die Großen verschwinden wie Meteore, aber die Kleinen, die Masse, das Volk überdauern sie. Auch Napoleon: Er vergeht nach dem Traum der Hundert Tage (»Wir haben hundert Tage groß geträumt«), aber »statt eines großen Tyrannen kommen lauter kleine und statt der goldenen Zeit wird eine sehr irdene, zerbröckliche kommen« (V. 7.). - Auch hier hat das Kleine, Zähe, Beharrliche, die Masse, die Quantität, gesiegt. Und voll bitterer Ironie läßt Grabbe den kleinen Schwätzer Prusias über den großen Hannibal triumphieren, seine Leiche mit dem roten Königsmantel decken: »Grad* so machte es Alexander mit Dareios.« (Aus Hillekamps »Grabbe«.) Grabbes Oralität hat noch eine andere Wirkung auf die Gestaltung seiner Dramen : sz Immer wieder geht der Held an einer von außen kommenden Versagung zugrunde: Hannibal und Varus z. B. bekommen keine Hilfstruppen, Napoleon ist ein Opfer der Dummheit Grouchys (»Grouchy hat viel daran verdorben - daß das Schicksal des großen Frankreichs von der Dummheit, Nachlässigkeit oder Schlechtigkeit eines einzigen Elenden abhängen kann« »Napoleon«, V. 5.), Heinrich VI. fällt dem blinden Zufall zum Opfer. Es wird also - eine im Drama unmögliche Prämisse - die Bösartigkeit der Umwelt an Stelle des inneren Konflikts gesetzt. Dies ist einigen Kritikern Grabbes aufgefallen.32" 31

Es sei hervorgehoben, daß die hier vorgebraditen psychoanalytischen Deutungen der Triebtendenzen und ihre Wirkungen auf Grabbes Dramatik die Frage der spezifisdien Begabung Grabbes unberührt lassen, da es sich dabei nadi Freud um ein konstitutionelles, psydiologisch nicht weiter determinierbares Etwas handelt. 3io Ploch: Grabbes Helden gehen nidit an sich selber, an ihren sie zum tragisdien Untergang prädestinierenden Charaktereigensdiaften, sondern immer nur an äußeren Verhältnissen, Intriguen und puren Zufällen zugrunde. Zaunert: ... der Dichter Grabbe ringt sidi fast nie zu einer wirklichen 263

Was aber die Kritiker Grabbe bloß als dramatischen Fehler vorhalten, kann nun auf Grund der früher vorgebrachten Annahmen erklärt werden: da Grabbes dramatische Produktion der Abreagierung des Traumas der Brustentziehung dient, muß der Schuldige die versagende Außenwelt, d. h. die erste Repräsentanz derselben, die Mutter sein! IX. DAS »Positive* in Grabbes Weltbild: Freundschaft und Heimat Grabbes Biographen unterteilen vielfach in primitiver Weise seine Eigenschaften fein säuberlich in »positive« und »negative« und kommen betrübt zum Resultat, daß die zerstörenden (in ihrer Sprache: die negativen) Tendenzen die Oberhand hatten. Diese Schwarzweißmalerei sei erwähnt, weil sie die ganze Hilf- und Sinnlosigkeit einer nicht analytisch fundierten Biographik aufzeigt. Nun hat - in der Terminologie der Biogaphen - Grabbes Weltbild doch zwei Lichtseiten: seine Anerkennung der Freundschaft und das Lob der Heimat. Wie steht es damit? Die Liebe welkt dahin; Sie ist auf Irdisdies gegründet, Gemeines ist's, wofür sie flammt; Nur Freundsdiaft, die die Geister bindet, Ist ewig wie der Geist, aus dem sie stammt; Drum strahlt hoch auf des Himmels mädit'gem Feld Der Freundsdiaft Bild und leuchtet durch die Welt. Doch wer am Busen seines Bruders liegt, Der fand die heil'ge Stätte auf, an der Er sicher ruhet im Gewühl des Lebens (»Gothland«.)

Es wurde früher betont, daß Grabbes Beziehung zum Mann stark homosexuell gefärbt war: man denke an den Potus in Männergesellschaft. Diese sublimierte Homosexualität war zugleich ein Stützpunkt gegen die »fressende« Frau, auch ein Beweis, daß sie ungefährlich ist. Die jahrelangen Bordellbesuche Grabbes in Männergesellschaft sind nicht nur von der homosexuellen Seite aus zu erklären, die Männergesellschaft war zugleich Schutzgarde und Beweis, daß die Dirne - da so viele Männer mit ihr verkehrten - ungefährlich sei. tragischen Idee durch, er hat nie den Schuldbegriff in seiner ganzen Tiefe erlebt; immer wieder werden äußere Ursachen herbeigeholt, um den Fall des Helden zu erklären. 264

Ebenso ist Grabbes Lob der Heimat aus der Mutterbeziehung determinierbar. Die Biographien zitieren bei dieser Gelegenheit einige Lobverse der Vaterlandsliebe in »Don Juan und Faust« und führen als entscheidenden Beweis das Nationaldrama »Die Hermannschlacht« an. Vorerst: der gleiche Don Juan sagt höhnisch: Den gewinn' idi nodi Mit patriotischen Phrasen, um so eher, Als idi sie ernstlich meine!

Die analytische Erfahrung, daß Vaterland fürs Unbewußte die Valenz Mutter" besitzt, kann bei Grabbe mit vielen Stellen seiner Werke belegt werden. So sagt etwa Tankred in »Kaiser Heinrich VI.« (I. i.): Was wir Normannen einst hier waren, sind Hier jetzt die Deutschen. - Sie erwartet künftig Vielleicht das gleiche Los. - Wie sich der Held Die Braut erringt, errangen wir mit Kraft Und Stahl dies Land - bei Gott, es ist *ne Braut - wo wäre Ein Mädchen in Europa, flammender Und bräutlicher als unser Reich? - Es ruht Ja unter Myrthen, unter Blumen, - zwei Vulkane Sind seine Hochzeitsfackeln - Rebenketten, Festlich durchleuchtet von dem Gold der Trauben, schlingen Als Gürtel prangend sich um seine Küsten, Und an Siziliens Ufern schmachten Palmen, Mit ihren Blättern wie mit Zungen lechzend, Dem Liebenden entgegen! -Doch als der Alcide sich die Omphale gewonnen, Entnervte er an ihres Busens Flaum Und der Normannen Stärke schmolz im Kuß Und in des Südens Sonne ...

Konstanze beklagt sich im gleichen Drama (I. 2.) über Heinrich: Ach, ich Unselige! - Er liebt mich nicht Sein Blick irrt durch die Welt und übersieht mich Anstatt nach einem Busen, streckt er seine Arme Nach ganzen Ländern, ganzen Völkern aus. -

Noch klarer spricht sich Grabbe aus, wenn er Don Juan beim Anblick des Bildes Donna Annas sagen läßt: Siehe z. B. Beispiele aus der Biographie Napoleons, bei L. Jekels, Imago II, 1914 und E. Bergler, Psa.-Bewegung V, 1933.

Ich blick' und blicke - zu 'nem Kinde werd' Ich wieder. - Eine Heimat, die ich nie geschaut, Umlächelt mich. - Gibt's andre Heimaten Als das Geburtsland?

Und Heinrich der Löwe (»Kaiser Heinrich VI.«, II. 3.) ruft: O Heimat, Heimat, meiner Größe Land Und meines Falles! - Heil'ge Erde, sei Gegrüßt! -Kein Kind stürzt sehnender An seiner Mutter Brust, als ich an deinen Schoß!

Brasidas nennt im »Hannibal« Karthago »die allgemeine Mutter«, Turnu heißt Hannibal: »Herr, Fürst, Vater, Mutter, du mir Alles!«

Es sei nochmals auf das ständige Durcheinandermischen und Gleichsetzen von Frau und Mann verwiesen, was aus der Tatsache erklärlich ist, daß es für das Kind auf der oralen Stufe nur ein Geschlecht gibt. So wird es verständlich, wenn Hannibal für Turnu »Vater und Mutter« ist. Grabbes letztes Drama »Die Herm&nnschlad)t« beweist, daß auch für den Superlativ des Pessimisten das Leben nur unter Aufrechterhaltung von jeweils wechselnden Uberwertungen möglich ist. Der schwerkranke Dichter, der sein Ende herannahen sieht, flüchtet zur idealisierten Mutter: die Heimat wird verherrlicht. Es ist nicht bloß durch Krankheit bedingte Erschöpfung, die Grabbe bei der Arbeit an seinem letzten Drama ausrufen läßt: »Der Hermannschlacht erlieg ich fast. Wer kann das Ungeheure, jeden Nerv aufregende, vollenden ohne zu sterben? War' ich tot!« Und das Resultat? Neben einem für Grabbe typischen, hinterlistigen, grausamen Helden (»Die Fortsetzung des Blutbades folgt morgen« sagt Hermann) steht Grabbes Idealgestalt, das Mannweib Thusnelda, das aber hier meist in der Gestalt der Gebenden auftritt: Thusnelda bringt für 20 ooo Kämpfer Lebensmittel, behandelt ihren Sohn Thumelico gütig (vergleiche unser Motto), ist überhaupt ständig besorgt, ob man genug zu essen hat: Varus:.... Ich bin satt. Thusnelda (zum Gesinde): Seid ihr es auch? Das Gesinde: Ja. Thusnelda (mißtrauisch): Lügt nicht. Eßt noch. Das Gesinde: Wir können nicht mehr. 266

Dabei werden Hermanns Gefährten mit geradezu bösartigem, in einem Nationaldrama sonderbar anmutendem Hohn überschüttet: Hermann: Deutschland! Einige in seinem Heere: Er spridit oft davon. Wo liegt das Deutschland eigentlich? Einer: Bei Engern, wie ich glaube, oder irgendwo im kölnischen Sauerlande. Zweiter: Ach was, es ist chattisches Gebiet! Hermann: Und kennst du deinen Namen nicht, mein Volk? Stimmen: O ja, Herr, wir sind Marser; Cherusker wir - wir Bructerer, Teucterer. Hermann: Schlagen wir jetzt und immer nur gemeinsam zu, und die verschiedenen Namen schaden nicht. (Für sich:) Ich muß mit geringeren, aber näheren Mitteln wirken. (Laut): Grüttemeier, deine beiden schwarzen Ochsen - denkst du noch an sie? Grüttemeier (Tränen in den Augen): Jawohl, mein Vater empfahl sie mir im Sterben. Hermann: Eine Manipel stürmte in dein Haus, schlachtete, briet und fraß sie und gab dir nichts ab! Grüttemeier: Abgeben? Was von dem Fraß übrigblieb, traten sie mit den Füßen oder schmissen's an die Wand. Ich hätte auch nichts davon essen mögen. Viele Deutsche: Wie dem, ging's uns! Eggius (sehr laut): Rom! Hermann (noch lauter): Alle übrigen von den Römern gestohlenen und liederlich verschwelgten Gottesgaben: Linsen, Kohl, Erbsen und große Bohnen! Widersteht, auf daß ihre Fäuste nicht zum zweitenmal in eure Töpfe greifen!

Vermerkt man noch, daß am Schluß Hermann ausruft: »Ach! wüßte das Palatium, daß diese sonst so tapferen Leute nur ein paar Meilen weit sehen und lieber in der Nähe äßen und tränken, so würd' es bei der Nachricht meines Sieges nicht so erbeben ...«, dann kann nicht bestritten werden, daß Grabbes Einstellung zu seiner idealisierten Mutterimago ebenso ambivalent war, wie zur realen Mutter. Und wenn diese Behauptung noch eines Beweises bedarf, so sprechen Gothlands Worte (VI. i.) eine nicht mißzuverstehende Sprache: Oh, laßt mich aus der düstren Gegenwart entfliehen, Und nur noch einmal laßt mich sie begrüßen, Die selige Vergangenheit! 267

Dort taucht, umkränzt mit Regenbogen, Der Kindheit Insel aus den blauen Wogen! Wie sich's in mir hinübersehnt! Idi seh die Flur, wo ich als Knabe spielte, Wo ich mich kindlich glücklich fühlte. Ich seh das väterliche Haus! Allein vergebens Streck ich die Arme zu dir aus, Du Tempe meines Lebens! So steht der Wandrer an dem Felsgestade, An dem er Schiffbruch litt, - blickt voll Verlangen Zum fernen Eilande, wo goldne Gärten prangen! Er blickt und blickt - die Pfade sind verschlossen, Ein Meer ist zwischen ihm und jenseits ausgegossen! Wohlbekannte Worte hör ich klingen, Die, gleich verwehten Abendglockentönen, Aus weiter Fern' herüberschwimmen! Gott! Es sind der Mutter heil'ge Warnungsstimmen. Mutter, Mutter! Lebtest du, wie würdest du die Hände ringen Über mich, Den unglückseligsten von allen Söhnen! Als ich noch an deiner Seite Wallte durch des Lebens Weite, Fiel ich nicht, und brach der Sturm auch los Ich flüchtete zum Mutterschoß! Hinweg, vorüber, zieh vorüber, Du Kindheitsland! Mein Äug' wird trüb und trüber! Vorbei ist ja vorbei! Kindheit und Lieb' zu ihr ist Kinderei! Wer schneidet wohl mehr Fratzen, Wen seh' ich mehr einander beißen und zerkratzen, Zanken und greinen, Als diese Kinder, die uns selig scheinen! Wer kriegt mehr Prügel auf die Hinterbacken Als diese Kinder! Die frechste Lügnerin Ist die Erinnerung! Kindheit fahr hin Samt deinen Kindern, welche sich bekacken!

X. Grabbes Ahnen unbewußter Zusammenhänge Jekels hat vor zwei Jahrzehnten als erster auf die bedeutsame, seither anerkannte Tatsache aufmerksam gemacht, daß Dichter 268

häufig eine Gestalt nach den divergierenden Tendenzen im Psychischen aufteilen und wie im Traume die einzelnen Strebungen als Einzelpersonen repräsentieren. Erst deren Zusammenfassung ergibt das Mosaik der Gesamtpersönlichkeit. So sind etwa Lady und Lord Macbeth, Jago und Othello eine Person. Grabbe verwendet diese Aufspaltungstechnik in hohem Maße und ahnt die innere Zusammengehörigkeit der Teilpersonen.*4 So sind z.B. Berdoa und Theodor von Gothland eine Einheit. Der Konflikt im »Herzog Theodor von Gothland* sieht im ersten Augenblick wie ein törichtes Mißverständnis aus: der Held schenkt den Einflüsterungen seines Feindes Berdoa Glauben, der ihm eingibt, sein jüngerer Bruder sei vom Kanzler, dem dritten Bruder, ermordet worden. Daraus ergibt sich nun der tragische Konflikt.85 In Wirklichkeit ahnte Grabbe offenbar die unbewußte Ursache dieses Irrtums, denn er läßt, nachdem Gothland ausruft: »Ich war nur das Beil, das Schicksal war der Mörder«, Berdoa sagen: Tor! Eure Dummheit ist eu'r Schicksal. Eure Erbärmlichkeit ist eu'r Verhängnis! Wer hieß dich, als idi didi zum Brudermord Verführte, meinen Worten glauben? Wußtest du Denn nicht, daß idi dein Todfeind war? Der blöd'ste Tölpel hätte da Verdadit Gesdiöpft, allein der Herzog Gothland Sdiöpfte keinen, weil Er keinen schöpfen wollte! Gothland:

Weil idi keinen Schöpfen wollte? - Wenn das wäre, wenn ich den Geringsten Argwohn hätte fassen können, Ich aber hält* ihn absichtlich

84

Es kommt in Grabbes Dramen wiederholt vor, daß sich zwei Gegner, nachdem sie einander im Zweikampf verwundet, schluchzend in die Arme fallen: so die Brüder Gothland, so die beiden Männer in »NAnnette und Marie«. Auch dies beweist die Einheit der »aufgespaltenen« Personen. 85 Dieser »Irrtum« wurde Grabbe übel angekreidet. So sagt z. B. Gottschall: »Eine tragische Dialektik von dem großen Wurf der griechischen Tragödie ... nicht zu verkennen; schade nur, daß ein unentschuldbarer Irrtum, ein unleugbarer Schwachsinn hier das tragische Fatum herbeibeschwören.« 269

Nicht fassen wollen, Ja, dann durchwühle unermeßliches Verderben meine Seele! Berdoa:

Höre denn, Und unermeßliches Verderben wühle dir Durch deine Seele - Manfred war Jählings am Schlagflusse verreckt. Wahrscheinlich hatte er beim Abendschmaus Zu viel gefressen und es nicht Verdauen können - ungeheuer war Dein Schmerz um ihn; - so traf ich dich, mit großer Bestürzung, aber mit noch größ'rer Freude Vernahmst du, daß er erschlagen sei: Die Rache für den toten Bruder War dir ein schmeichelnder, verlockender Gedanke! Gothland: Satan! Deute meine Gedanken nicht ins Schlimme! Berdoa: Zwar war Friedrich, An welchem du die Rache nehmen mußtest, Dein Bruder auch; doch das hielt dich nicht ab, Denn er war ja der weniger geliebte! Du gingst vielmehr sorgfältig allem, was Dir Aufschluß geben konnte, aus Dem Wege ... Gothland: Wenn Wenn unter diesen Lügen Wahres wäre - wenn Wenn - wenn Berdoa: ... und schlugst Ihn mit Vergnügen tot!

Nieten ist die Bedeutung dieser Szene aufgefallen und man kann als Analytiker seinen Worten nur beipflichten, wenn er sagt: »Die bösen Wünsche haben Gothland von Anfang an geleitet und alles andere Gebaren stellt sich als bewußt-unbewußter Selbstbetrug dar; in den labyrinthischen Irrgängen dieser Psychologie spielt Berdoa mehr und mehr die Rolle des Unterbewußtseins im Doppel-Idi Gothlands. Mir scheint diese Szene (V. 3.) eine geniale Vorwegnahme moderner Psychoanalyse, ein einleuchtendes Zeugnis für den dämonischen Tiefsinn des jungen Grabbe« (»Grabbe und Schopenhauer«). Eine andere, nicht minder bedeutsame Szene ist in »Nannette 270

und Marie* zu finden, die am Hochzeitstage von Nannette und Leonardo spielt: Nannette: Da liegt mein väterlidies Haus! Leonardo: Weshalb Wirst du dabei so trübe? Nannette: Idi bin dort Nur eine Fremde! Leonardo: Traure nidit, daß du Des Lebens Blütenzeit betrittst! Nannette: Adi, daß Man mit der Kindheit sie bezahlen muß! - Verzeih mir, wenn idi midi in deinen Armen So sdimerzlidi dran erinnere - Idi fürdite, Man fühlt sogar im Himmel Heimweh nadi Der Erde.

In der Sprache der Analyse ausgedrückt: die Frau muß auf ihre ödipusbeziehung zum Vater verzichten, um beim Manne glücklich zu sein. Häufig verwendet Grabbe Wortanspielungen zur Andeutung unbewußter Vorgänge. So etwa, wenn er im »Aschenbrödel« die verwandelte Katze von der Au sprechen läßt, wobei die ängstliche Ratte ein fressendes »Miau« heraushört (siehe S. 341). Oder wenn Grabbe in »Kaiser Heinrich VI.« in einer Situation, in welcher die Stadt Bardewick die Rache des von ihr treulos verlassenen Heinrich des Löwen fürchtet, den Ratsherrn Hagener die untergehende Sonne mit einer Löwenmähne vergleichen und den Bürgermeister Rudiich erschreckt fragen läßt: »Wie kommt Ihr auf Löwenmähnen?« Ferner sei auf Grabbes Herausarbeitung des doppelten Sohn-Vater-Konflikts im »Gothland* und die Bedeutung der Vergeltung und des unbewußten Schuld- und Strafbedürfnisses des Helden verwiesen. Ebenso erstaunlich ist eine Antwort Arbogas auf die Frage Gothlands (IV. i.), was den Helden vom Mörder unterscheide: »Die Anzahl der Erschlagenen. Wer wen'ge totschlägt, ist ein Mörder, wer viele totschlägt, ist ein Held.« Das heißt, wer seinem Überich nur einen Mord abringen kann, ist kein Held. Was der Durchschnittsmensch am Helden unbewußt bewundert, ist die Angstüberwindung, d. h. das scheinbar schuldgefühlsfreie Übertreten der Über-Ich-Gebote, unter denen die anderen seufzen. 271

Einmal nennt Grabbe das Wort unbewußt direkt: Im »Aschenbrödel* nimmt der König die Hand der Geliebten und läßt sie sein Herz fühlen. Dann heißt es bei Grabbe: »Olympia (läßt die Hand unbewußt da ruhen): Es klopft - ja - ja - sehr - stark.« XI. Der orale Pessimist und seine Varianten Setzt man sich mit einem oral fixierten oder regredierten Pessimisten in der Analyse auseinander, dann bekommt man regelmäßig die Schopenhauerschen Rationalisierungen M zu hören. Etwa Modifikationen der bekannten Stelle aus »Die Welt als Wille und Vorstellung«: Dieser Welt, dem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, weldie nur dadurdi bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer, und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntnis die Fähigkeit, Sdimerz zu empfinden, wächst, weldie daher im Mensdien ihren höchsten Grad erreidit, und einen um so höheren, je intelligenter er ist, - dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglidien andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist sdireiend.

Die Frage der Patienten, ob sie bei ihrer düsteren Schilderung der realen Verhältnisse etwas übertreiben, kann man nicht ohne weiteres verneinen. Die Welt, in der wir leben, ist ein Gemengsei von »brutalster« Aggression und konzentriertestem Haß, welche beide Äußerungen des Thanatos vom Menschen, gegen den sie gerichtet sind, subjektiv als »Niedertracht und Gemeinheit« empfunden werden, wobei lediglich die Quantität dieser einzelnen Ingredienzien — bei einem relativ konstanten Mischungsverhältnis — jeweils wechselt. Demgegenüber erscheint die Beimengung des Eros quantitativ gering. Auch kann man etwa einem Menschen, der den Satz Bertrand Russeis als Realität darstellt: »Die Menschen tun das Gute, so weit man sie zwingt, es zu tun, und das Schlechte, soweit man nicht die Macht hat, sie daran zu hindern« - die Richtigkeit seiner Beobachtung, mit der Einschränkung des Uber-Ichs, nicht bestreiten. M

Aus Platzmangel kann hier auf die psydiologisdien Parallelen zwisdien Grabbe, Sdiopenhauer und Nietzsche nicht eingegangen werden. Grisebach nennt Grabbes Werke »Kunst gewordene Philosophie Sdiopenhauers«. 272

Die Lebenstechnik der praktisch Gesunden besteht also im Übersehen und Nicht-tragisch-Nehmen. Grabbes Satz: Der Mensch erklärt das Gute sich hinein, Wenn er die Weltgeschichte liest, - weil er Zu feig ist, ihre grause Wahrheit kühn Sich selber zu gestehen -

hat seine Richtigkeit. Somit kommt es auf den Standpunkt des Beschauers an. Grabbe sieht z. B. in der Sonne die Kraft, die die Krokodilseier ausbrütet (siehe S. 363), während einem ändern an ihr die lebensspendende Wärme zuerst auffällt. Audi ist die Fähigkeit, jeweils wechselnden Fiktionen37 nachzuhängen, wobei die jeweilige Fiktion libidinös überbesetzt wird, deren Zusammenklappen aber nach einiger Trauerarbeit das Aufrichten der nächsten, deren Schicksal wieder im voraus gewiß ist, nicht verhindern darf, ein Stigma der Normalität. Endlich - und das ist das Entscheidende ist eine biologisch fundierte Tendenz des Triebes, nach Befriedigung zu verlangen. Wir empfinden z. B. Hunger, Sexualwünsche und Schlafbedürfnis, unabhängig davon, ob die Erfüllung dieser Triebe einen »Sinn« hat oder nicht. Der orale Pessimist ist also nicht ganz im Recht, wenn er sein subjektiv und psychologisch begründbares Sich-unglücklich-Fühlen mit realen Verhältnissen begründet. Grob ausgedrückt, könnte man, ein altes Wort variierend, sagen, nicht er hat den Pessimismus, sondern der Pessimismus hat ihn. Mag nun Grabbe minutiös beobachten, wenn er die Welt »ein mittelmäßiges Lustspiel« nennt, »welches ein unbärtiger, gelbschnäbeliger Engel, der noch in der Prima sitzt, während der Schulferien zusammengesdimiert hat«, und an anderer Stelle das Herz »für eine in das unrechte Loch gelaufene Billardkugel« halten -; wer gesund, das heißt: arbeits-, liebes- und fiktionsfähig ist (ich halte das letzte Glied dieser Trias für uner87

Unter Fiktion ist die Fähigkeit des Gesunden gemeint, mit der Zeit wechselnde Objekte (Personen, Dinge, Interessen, Ideen usw.) mit großen Libidoquantitäten zu besetzen, unabhängig von der Wertschätzung der Anderen und trotz der wiederholt gemachten Erfahrung, daß es sich nicht um ständige Libidopositionen handelt, daß also diese hochbewerteten Objekte mit der Zeit im subjektiven Empfinden verblassen. - Der Unterschied zwischen »Fiktionsfähigkeit« und Sublimierung bleibt einer eigenen Untersuchung vorbehalten.

läßlich), wird trotz allen Lebenstragödien bestehen können. Gerade die »Fiktionsfähigkeit« ist beim oralen Pessimisten herabgesetzt. »Arbeits-, liebes- und fiktionsfähig«: das heißt aber relativ neurosefrei sein, also die Prägenitalität und den Ödipuskomplex in großen Zügen wenigstens überwunden haben. Das hat der orale Pessimist nicht zustande gebracht und hier ist der springende Punkt. Das Sonderbare ist nun, daß der orale Pessimismus sich mit keinem der bekannten Krankheitsbilder deckt, daß wir darunter schizoide, zykloide und auf den ersten Blick als hysteriform imponierende Menschen finden. Bei allen diesen Pessimisten liegt ein Scheitern an der präödipalen Mutterbindung vor. Orales Mißtrauen, Haß, Neid, Eßstörungen, Sich-Beklagen, den anderen Ins-Unrecht-Setzen, Sichunglücklich-Fühlen dominieren. Die Angst vor dem Gefressenwerden kommt meist in der gemilderten Form der Angst vor dem Verhungern, resp. Fellatiowünschen zum Ausdruck, wobei unbewußte Phantasien resp. Wünsche, betreffend das Abbeißen des Penis durch die Frau, zu konstatieren sind. Vielfach hat der Penis noch Brustbedeutung. Die unbewußte Technik dieser Menschen liegt darin, daß sie mit grandioser Geschicklichkeit ihre selbstgewollten Niederlagen und Enttäuschungen organisieren, wobei sie aus unbewußtem Strafbedürfnis gar nicht mehr der Erfüllung ihrer Wünsche nachjagen, sondern der Enttäuschung,*8 an die sie masochistisch-genießend fixiert sind und die für sie die einzige Form des Auslebens ihrer prägenitalen Wünsche und - Aggressionen darstellt. Dabei ergibt sich der typische Circulus vitiosus, da sie aus jeder Enttäuschung die unbewußte Berechtigung zu weiteren Aggressionen ableiten. Der orale Pessimismus ist wie ein neurotisches Symptom aufgebaut und stellt unter anderem einen narzißtischen Schutzmechanismus des Ichs dar, der dem schwer lädierten Allmachtswahn einen Unterschlupf bietet. 58

Anderseits hat man bei Unkenntnis dieses Tatbestandes bei den oralen Pessimisten den Eindruck, es handle sidi im Gegenteil um Optimisten, da sidi diese Menschen von ihren unbewußten Wünsdien durch keine üble Erfahrung abbringen lassen und ihnen immer wieder nadijagen. Es handelt sidi, neben der zutiefst infolge der eigenen Allmadu nidit völlig aufgegebenen Hoffnung, geliebt zu werden, um die besprochene Technik des Pessimisten, den Anderen ins Unredit zu setzen. Würde sidi der Pessimist durdi die Realität »belehren« lassen, könnte er seinen neurotischen Medianismus nidit mit der gleidien unbewußten Lust abhaspeln lassen.

Und der Ausweg für den oralen Pessimisten nach erfolgreicher Analyse?" Die gütige, mütterliche Frau, von der der Patient geliebt wird, die - nach analytischer Lösung der Ängste - nicht auffressen und gefährden, sondern in überströmender, nie versagender Güte Liebe gibt, gibt und nochmals gibt. Und wenn auch der paradiesische Zustand, der Grabbes Olympia im »Aschenbrödel* vorschwebte: Mir wird, als kehrten alte Zeiten wieder Als hört' ich zaubervolle Wiegenlieder, Als lag' ich an der Mutter Brust Und atmete des Kindes Lust. nicht erreichbar ist (wie bei keinem Menschen), ein Stück Lust 40 bleibt auch dem früheren oralen Pessimisten nicht versagt.

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Ohne Analyse ist m. E. der »orale« Pessimist unheilbar. Selbst wenn er - ein an sidi unwahrscheinlicher Glücksfall - dem einzigen, für ihn passenden Typus der »gütigen Frau« begegnete, er würde auch in ihr das bösartige, »fressende« Weib sehen und die neurotisdie Mutterbeziehung wiederholen. 40 Audi kann erst die erfolgreiche, lange fortgesetzte Analyse die anderen oralen Störungen der oral Fixierten oder Regredierten beseitigen. - In einem Falle eines oralen Pessimisten (eines hodibegabten Lyrikers), der in einem bestimmten Zeitpunkt seiner Neurose an einer völligen Produktionshemmung litt - dem »Auftrieb von Sehnsucht« (ipsissima verba) stand ein infernalisAer Mutterhaß entgegen, der alles unterband und höchstens zu literarischen Blasphemien und Koprolalien reichte -, entsprach die Vorliebe für obszöne Worte einem »Verdrecken« des Lockrufs der Mutter. Vgl. dazu E. Bergler, Über obszöne Worte (im Erscheinen). - In anderen Fällen sind es ganz unwahrscheinliche Störungen, die bei den Oralen in Betracht kommen, z. B. Ejakulationsunvermögen (siehe die Arbeit des Verf. »Über einige noch nicht beschriebene Spezialformen der Ejakulationsstörung«) oder - Pseudodebilität (siehe des Verf. »Zur Problematik der Pseudodebilität«. Int. Ztschr. f. Psa. 1932 resp. 1934). Natürlich ist nicht der »orale Pessimismus« an diesen Symptomen schuldtragend, ist er doch selbst nur eine Äußerungsform der Neurose der oral fixierten oder regredierten Patienten.

Literatur über Grabbe

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z8. Nieten O., Grabbe und Schopenhauer. Im Grabbe-Buch. 29. Nieten O., Ch. D. Grabbe, sein Leben und seine Werke. Dortmund 1908. Verlag Ruchfuß. 30. Nieten O., Grabbe und Immermann. Im Grabbe-Buch. 31. Perger A., System der dramatischen Technik mit besonderer Untersuchung von Grabbes Drama. Berlin 1900. Duncker-Verlag. 32. Piper C. A., Beiträge zum Studium Grabbes, München 1898. Haushalter-Verlag. 33. Ploch A., Grabbes Stellung in der deutschen Literatur. Leipzig 1905. Verlag Scheffer. 34. Wukadinowic S., Grabbes Lebensbild. In »Grabbes Werke«. Verlag Bong & Co. 35. Zattnert P., Grabbes Leben. In »Grabbes Werke«. Ausg. d. Bibliograph. Instituts. Herausg. von Franz und Zäunen. 36. Ziegler K., Grabbes Leben und Charakter. Verl. Hoffmann und Campe. Hamburg 1855.

Quellennachweise

LEO KAPLAN: Zur Psychologie des Tragischen. In: Imago i, 1912, S. 132157. ISIDOR SADGER: Von der Pathographie zur Psychographie. In: Imago i, 1912,8. ij8-i7j. HANNS SACHS: Die Motivgestaltung bei Schnitzler. In: Imago 2, 1913, S. 302-318. OTTO RANK: Der Doppelgänger. In: Imago 3, 1914, S. 97-164. THEODOR REIK: Künstlerisches Schaffen und Witzarbeit. In: Imago ij, 1929, S. 200-231. EDMUND BERGLER: Zur Problematik des »oralen« Pessimisten. Demonstriert an Christian Dietrich Grabbe. In: Imago 20, 1934, S. 330-376.

Dem Herausgeber und Jem Verlag ist es trotz eingehender Bemühungen nicht gelungen, in allen Fällen die Inhaber der Urheberrechte zu ermitteln. Sie sind freundlich gebeten, sieb gegebenenfalls mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

Die Zeitschrift »Imago« ist seit 1969 in einem Kraus-Reprint (Nendeln/ Liechtenstein) wieder allgemein zugänglich. 278

Bibliographie

Vorbemerkung Die folgende dreiteilige Auswahlbibliographie soll vor allem weiterführende Lektüre ermöglichen und erleichtern. Sie führt deshalb in Teil A weitere Aufsätze aus der >Imago< zum Thema Literatur auf, bringt in Teil B eine Auswahl aus dem weiteren Schaffen der in diesem Band vertretenen Autoren und führt in Teil C wichtige Titel der nahezu unübersehbaren Literatur zur Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften auf, neben einigen Standardwerken zu Geschichte und Bedeutung der Psychoanalyse. Ein Hinweis auf die wichtigsten bibliographischen Erschließungsmittel für unser Thema darf an dieser Stelle nicht fehlen. Da ist vor allem A. Grinsteins monumentales Unternehmen: The Index of Psychoanalytic Writings, New York 1956-1973, das mit mehreren Ergänzungsbänden 13 Bände umfaßt. Für einen sehr viel engeren Geltungsbereich immer noch nützlich ist: Norman Kiell, Psychoanalysis, Psychology and Literature, A Bibliography. Madison 1963. In dem von Johannes Cremerius herausgegebenen Band: Neurose und Genialität. Psychoanalytische Biographien. Frankfurt/Main 1971 findet sich auf S. 275—289 ein Verzeichnis der internationalen psychoanalytisdi-biographischen Publikation von 1907 bis 1960. Außerdem sei auf die umfangreichen bibliographischen Anhänge bei Groeben, Literaturpsychologie, Beutin, Literatur und Psychoanalyse, Urban, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft und Wolff, Psychoanalytische Literaturkritik hingewiesen. Sie an Vollständigkeit zu übertreffen, war nicht die Absicht der folgenden Zusammenstellung.

279

A. Aufsätze zur Literatur aus der »Imago* (ohne Rezensionen und Miszellen) Bergler, Edmund: Zur Problematik des »oralen« Pessimisten. Demonstriert an Christian Dietrich Grabbe. In: 20, 1934, S. 330-376. Bergmann, Gustav: Zur analytischen Theorie literarischer Wertmaßstäbe (mit einer Bemerkung zur Grundlagendiskussion). In: 21 (1935), S. 498504. Blüher, Hans: »Niels Lyhne« von J. P. Jakobsen und das Problem der Bisexualität. In: i, 1912, S. 386-400. Brill, A. A.: Über Dichtung und orale Befriedigung. In: 19, 1933, S. 145167. Deutsch, Helene: Ein Frauenschicksal - George Sand. In: 14, 1928, S. 334357· - Don Quichote und Donquijotismus. In: 20, 1934, S. 444-449. Freud, Sigmund: Das Motiv der Kästchenwahl. In: 2, 1913, S. 257-266. - Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit. In: 4, 1916, 8.317-336. - Eine Kindheitserinnerung aus »Dichtung und Wahrheit«. In: 5, 1917, S-49-J7- Das Unheimliche. In: 5, 1919, S. 297-324. Graber, Gustav Hans: Die schwarze Spinne. In: n, 1925, S. 254-334. - Psychoanalytische »Archäologie« Gotthelfs. In: 18, 1932, S. 277-282. Harnik, J.: Psychoanalytisches aus und über Goethes »Wahlverwandtschaften«. In: i, 1912, S. 507—518. Heimann, Johanna: Die Heilung der Elisabeth Browning in ihren Sonetten. In: 2i, 1935, S. 227-254. Hermann, Imre: Benvenuto Cellinis dichterische Periode. In: 10, 1924, 5.418-423. - Die Regression zum zeichnerischen Ausdruck bei Goethe. In: 10, 1924, 5.424-430. Hitschmann, Eduard: Zum Werden des Romandichters. In: i, 1912, S. 49 bis 55. - Ein Dichter und sein Vater. In: 4, 1916, S. 337-345. - Gottfried Keller. Psychoanalytische Behauptungen und Vermutungen über sein Wesen und Werk. In: 4,1916, S. 223-247 und 274-316. - Zum Tagträumen der Dichter. In: 9, 1923, S. 499-502. - Zur Psychoanalyse des Misanthropen von Moliere. In: 14,1928,5.88-99. - Von, um und über Hamsun. In: 14, 1928, S. 358-363. - Psychoanalytisches zur Persönlichkeit Goethes. In: 18, 1932, S. 42-66. Jekels, Ludwig: Shakespeares »Macbeth«. In: 5, 1917, S. 170-195. - Zur Psychologie der Komödie. In: 12, 1926, S. 328-335. - Das Problem der doppelten Motivgestaltung. In: 19, 1933. S. 17-26. Kaiser, Hellmuth: Kleists »Prinz von Homburg«. In: 16, 1930, S. 119-137. 280

- Franz Kafkas Inferno. Eine psychologische Deutung seiner Strafphantasie. In: 17, 1931, S. 41-103, Kaplan, Leo: Zur Psychologie des Tragischen. In: i, 1912, S. 132-157. - Der tragische Held und der Verbrecher. In: 4, 1915, S. 96-124. Klüglein, Heinrich: Über die Romane Ina Seidels. In: 12, 1926, S. 490-499. Kolnai, Aurel: Gontscharows »Oblomow«. In: 9, 1923, S. 485-494. Landquist, John: Das künstlerische Symbol. In: 6, 1920, S. 297-322. Lorenz, Emil Franz: Die Geschichte des Bergmanns von Falun, vornehmlich bei E. T. A. Hoffmann, Richard Wagner und Hugo von Hofmannsthal. In: 3,1914, S. 250-301. - ödipus auf Kolonos. In: 4, 1915, S. 22-40. Mac Curdy, John T.: Die Allmacht der Gedanken und die Mutterleibsphantasie in den Mythen von Hephästos und einem Roman von Bulwer Lytton. In: 3, 1914, S. 382—400. Mack, Ruth Jane: Ein Traum aus einem japanischen Roman des elften Jahrhunderts. In: 14, 1928, S. 147-148. Muschg, Walter: Dichtung als archaisches Erbe. In: 19, 1933, S. 99-112. Ossipow, N.: Über Leo Tolstois Seelenleiden. In: 9, 1923, S. 495-498. Pf ister, Oskar: Die Entstehung der künstlerischen Inspiration. In: 2, 1913, S. 481-512. Protze, H.: Der Baum als totemistisches Symbol in der Dichtung. In: 5, 1917,8.58-62. Rank, Otto: Der Sinn der Griselda-Fabel. In: i, 1912, S. 34-48. - Die Nacktheit in Sage und Dichtung. In: 2, 1913, S. 267-301 und 409 bis 446. - Der Doppelgänger. In: 3, 1914, S. 97-164. - Das »Schauspiel« in »Hamlet«. In: 4, 1915, S. 41-51. - Homer. Psychologische Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Volksepos. In: 5,1917, S. 133-169 und 5,1919, S. 37*~393· - Die Don Juan-Gestalt. Ein Beitrag zum Verständnis der sozialen Funktion der Dichtkunst. In: 8, 1922, S. 142-196. Reik, Theodor: Die »Allmacht der Gedanken« bei Arthur Schnitzler. In: 2, 1913.5.319-335. - Künstlerisches Schaffen und Witzarbeit. In: 15, 1929, S. 200-231. — Warum verließ Goethe Friederike? Eine psychoanalytische Monographie. In: 15,1929, S. 400-537. Robitsek, Alfred: Bemerkungen zu einem Gedicht Liliencrons. In: n, 1925, S- 3J 2 ~3J3· Sachs, Hanns: Carl Spitteler. In: 2, 1913, S. 73-77. - Die Motivgestaltung bei Schnitzler. In: 2,1913, S. 302-318. - Homers jüngster Enkel. In: 3, 1914, S. 80-84. - Das Thema »Tod«. In: 3, 1914, S. 456-461. - Schillers Geisterseher. In: 4, 1915, S. 69-95 unZukunft einer Illusion^ In: Imago 14, 1928, S. 185-198. Die Couvade und die Psychogenese der Vergeltungsfurcht. In: Imago 3, 1914,5.409-455. Dogma und Zwangsidee. Eine psychoanalytische Studie zur Entwicklung der Religion. In: Imago 13, 1927, S. 247-382 (auch als gesonderte Veröffentlichung Wien/Leipzig 1927). Der eigene und der fremde Gott. Zur Psychoanalyse der religiösen Entwicklung. Wien/Leipzig/Zürich 1923. Flaubert und seine >Versuche des Heiligen Antonius I 8i Anm. 169 - Beichte des Teufels 125, 178 Anm. 165 - Flegeljahre 176 - Hesperus 116, 138 - Dr. Katzenbergers Badereise r i j - Memoiren des Satans 178 Anm. 165 - Siebenkäs 115, 116 - Titan 115, 116, 117 - Die unsichtbare Loge 116 Jekels, Ludwig 223 Anm. 2, 227 Anm. y, 242 Anm. 14, 257, 265 Anm. 33, 268 Jensen, Wilhelm 4, 8, 13 - Gradiva 4, 7 Jerome, Jerome K. 133 Anm. 27 Jones, Ernest 2, 6 Anm. 7 u. 9, 28, 68 - Das Problem des Hamlet und der Ödipus-Komplex y Jung, Carl Gustav i, 2, 3, 7, 20, 24, 36 Anm. y, 38, 66, 6

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Kafka, Franz 32 Kahane, Max 2 Kaiser, Hellmuth 32 Kalckreuth, Wolf von 125 Anm. 20 Kaplan, Leo 25, 27, 30, 33 - Grundzüge der Psychoanalyse 25 Kerner, Justinus - Reiseschatten 120 Anm. 10 Kettembeil, Georg Ferdinand 222, 243 Anm. 17, 146 Klein, Melanie 237 Kleinpaul, Rudolf 185 Anm. 180 Kleist, Heinrich von 12, 14, 32, 136, 166 Anm. 128 - Amphytrion 166 Anm. 128 - Penthesilea 99 - Über das Marionettentheater 166 Anm. 128 Klinke, O. 114 Anm. 6, 137 Krafft-Ebing, Richard von 26 Kraus, Karl 201, 220 Krauß, F. S. 152 Anm. 70, 165 Anm. 124 Kretschmer, Ernst 248 Anm. 21 Kris, Ernst 7, 15, 16, 18, 31 Kubin, Alfred 127 Anm. 24 Kühnau, Richard - Schlesische Sagen 47 Anm. 14 Kuh, Emil 75, 76, 79, 83 Kulke, Eduard 72, 73, 78 Kurtz, Hermann i J3 Annr. 73 Lähr, Hans 6y Laforgue, Rene1 31 Laube, Heinrich 74 Lecoque, Charles - Girofte-Girofla 121 Anm. 12 Lenau, Nikolaus 71, 143, 144, 172 Anm. 157 - Anna ii2f. Lenz, Jakob Michael Reinhold 136 Anm. 28 Leonardo da Vinci 13, 20, 21 Lindau, Paul 144 Anm. 45 - Der Andere 122 Anm. 14 - Die Brüder 177 Anm. 161 Lipiner, Siegfried 182 Anm. 171 Lipps, Theodor y8f., 61, 202, Liszt, Franz 220 Löwenfeld, L. 139 Anm. 33

Lombroso, Cesare ίο, 17, 64 - Genio e follia 10 Lucka, Emil 178 Anm. 164 Ludwig, Otto 35 Luther, Martin 153 Anm. 73 Maeterlinck, Maurice - Princesse Maleine 152 Anm. 71 - Vom Tode 186 Anm. 185 Mahn, Paul 139 Anm. 33 Mann, Thomas 136 Maupassant, Guy de 125, 139^., 143, 176, 179 - L'Angelus 176 - Le Horla i22f., 140 - Lui i23f., 137 Anm. 30, 140, 141 - Pierre et Jean 176 - Solitude 140 - Sur 1'eau 139 Maupassant, ΗβΓνέ 139 Anm. 34 Maurier, George du - Trilby in Anm. 14 Maximilian, Kaiser 153 Anm. 73 Meng, Heinrich 25 Anm. 52 Menzel, W. 168 Anm. 142 u. 143 u. 144 Mereschkowskij, Dimitri 129 Anm. 25, 147 Anm. 55, 148 Anm. 56 u. 57, 149, 180 Anm. 169, 187 Anm. 186 Messerschmidt, Franz Xaver 151". Meyer, Conrad Ferdinand 4, 12, 14, 15, 16 - Die Hochzeit des M nchs 16 - Die Richterin 16, 2ο Meyer, E. H. 151 Anm. 64 Meyer, Henriette 255 Mickiewicz, Adam - Totenfeier 182 Anm. 171 Mitscherlich, Alexander 16, 17 Anm. 34 M bius, Paul J. 10, u, 64, 68 MoellenhofF, Fritz 26 Moeller van den Br ck, Arthur 129 Anm. 25 M rike, Eduard - Der Schatten 113 Moliere 225 Moreau, Jacques-Joseph 10, 17 - La psychologic morbide 10

Morel, Benedict Augustin ίο, 64 - ΤΓβίιέ des dege"ne"r^scences 10 M ller von der Leppe, Hans 112 Anm. 5 Musset, Alfred de 104, 107^, 126 Anm. 22, 128, i44f., 176 - La nuit de d£cembre I24f. - Confession d'un enfant de sifecle 144 Napoleon I. 31, 87, 88, 265 Anm. 33 Negelein, C. 151 Anm. 62, 153, 155 Anm. 77, 160, 161, 163, 164 Anm. 114, 165, 168, 184 Anm. 179, 185 Nestroy, Johann Nepomuk 81, 83 - Der F rber und sein Zwillingsbruder i2i Anm. 12 Niederland, William G. 16 Nieten, Otto 256, 270 Nietzsche, Friedrich 10, 37, 125, 150, 20l, 208, 220, 22l, 224, 272 Anm. 36 - Der Fall Wagner 201 Nin, Ana'is 28 Nordau, Max 9 Anm. 14, 10, 17 - Entartung 10 Novalis 120 Anm. 10 Nunberg, Hermann 257 Nunberg, Hermann/Federn, Paul i Anm. i u. 2, 12 Anm. 18 u. 19 u. 20 u. 22, 14 Anm. 26 u. 27 u. 28, 26, 29 Anm. 62 u. 63 Oberndorf, Clarence P. 248 Anm. 22 Olbrich, K. 165 Anm. 124 Ovid 169 Pabel, Inge 25 Anm. 52 Papst, G. W. 27 - Geheimnisse einer Seele 27 Pausanias 162, 169 Pfeiffer, Sigmund 241 Pfister, Oskar 7, 12 Plato 98, i j 2 Anm. 71, 228 Plautus - Menaechmi 121 Anm. 12 Plinius 168 Anm. 140

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Ploch, A. 263 Anm. 32 Plutarch 153, 168 Poe, Edgar Allan 1178., 140,143, 147, 148, 176, 180 Anm. 169 - Berenice 139 - Shadow 127 Anm. 24 - The tell-tale Heart 139 - William Wilson i27ff., 139, 142 Anm. 38, ij5, 178 Politzer, Heinz 32 Poritzky, J. E. - Die Brüder 176 Anm. 161 - Eines Nachts 12 y Pradel, A. 151, 153 Anm. 73, 154, 155, iy6, 162 Preiß, M. 171 Anm. i j 4 Proklus 1 68 Propst, H. 138 Anm. 31, 139 Putnam, James J. 2 Radestock, H. 1 60 Anm. 93? Anm. 176 Rado, Sandor 6, 237 Rahmer, S. 122 Anm. 15, 138 Anm. 3 1 Raimund, Ferdinand n8f., i4jff., 176 Anm. 1 60, 179 - Der Alpenkönig und der Menschenfeind i8f., 146 - Der Bauer als Millionär 147 Anm. J3 - Der Verschwender 119 Rank, Otto i, 2, 3, 4f., 6, 8, 14, 18, 19, 20, 23, 27, 28ff., 104 - Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Geisteswissenschaften (mit Hanns Sachs) 6, 8 - Der Doppelgänger 27, 29, 30 - Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage 19, 29, 30 - Der Künstler 1 8 - Kunst und Künstler y - Die Lohengrinsage j. - Der Mythus von der Geburt des Helden 5 - Das Trauma der Geburt 28 Rehsener, F. 156 Anm. 81 Reich, Wilhelm 24 Reik, Theodor 5, 17, 24, 27, 29 298

- Arthur Schnitzler als Psycholog 3° - Geständniszwang und Strafbedürfnis 38 - Das Ritual 30 Reinick, Robert 153 Anm. 73 Reitler, Rudolf 2 Resnais, Alain - Letztes Jahr in Marienbad 16 Reznicek, F. von 199 Ribot, Theodule 126 Riklin, Franz j - Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen y Roazen, Paul 26, 28 Anm. 60 Rocholz, H. 151, 152, ij4, 156, 162, 163 Anm. 107 Rohde, Erwin 153 Anm. 73, 160, 185 Anm. 180 Roheim, Geza j Röscher, W. H. 162 Rousseau, Jean Jacques 10, 31 Russell, Bertrand 272 Sachs, Hanns j, 6, 7, 8, 15, 18, 26fT., 29, 30, 85, 193 Anm. i, 212 - Freud, Master and Friend 26 Sadger, Isidor 2, 5, 12, 13, 14, 15, 16, 20, 25f., 27, 29, 30, j j Anm. 2i, 64, 144, i4j, ij8, 172 Anm. iy6, 178 Anm. 165 - Die Lehre von den Geschlechtsverirrungen 26 Salina, Francesco 27 Anm. $7 Sand, George 31, 144 Schapler, Julius 157 Schaukai, Richard von 137 Anm. 29 Schiller, Friedrich von - Lied von der Glocke 38 Schlegel, Friedrich 136 Schliemann, Heinrich 16 Schmideberg, M. 237 Schmidt, Bernhard 151 Anm. 64 Schneider, J. B. 177 Anm. 162 Schneider, F. J. i i j Anm. 8, 116, Schnitzler, Arthur 27, 30, 8yff. - Anatol-Zyklus 93 - Anfang vom Ende 91 - Der einsame Weg 103

-

Die Frau mit dem Dolche 93 Die Fremde 92 Die griechische T nzerin 97 Der gr ne Kakadu 93, 95 Die Hirtenfl te 100 Der junge Medardus 86, 88, 89, 99, loo, 103 - Lebendige Stunden 97 - Die letzten Masken 91, ιοί - Liebelei 90, 91, 94 - Der M rder 91, 97, 100 - Professor Bernhardt 86, 89 - Der Ruf des Lebens 91, 92, 93, 97 - Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg 94 - Der Schleier der Beatrice 92, 97 - Sterben 92 - Das Tagebuch der Redegonda 90 - Der tapfere Cassian 93 - Der Tod des Junggesellen ιοί, 103 - Der tote Gabriel 100 - Der Weg ins Freie 86, 88, 91, 92, 94, ιοί - Zum gro en Wurstel goff. - Zwischenspiel 90, 91, 97 Schopenhauer, Arthur 10, 224, 272 - Die Welt als Wille und Vorstellung 29, 272 Schubert, Gotthilf Heinrich 137 Anm. 29 - Symbolik 137 Anm. 29 Schumann, Robert 10 Segaloff, Tim 147 Anm. 54 Shakespeare, William 13, 81, 188, 228, 248 - Comedy of the Errors 121 Anm. 12

- Hamlet 4, 68, 81, 99, 202 Shelley, Percy Bysshe 141 Siebert, W. 121 Anm. 11 Simrock, Karl 157 Silberer, Herbert 163 Anm. 107 Sokrates 98, 228 Sollier, Paul 140 Sonnenthal, Adolf 201 Sophokles - K nig dipus 4, 8ο

Spencer, Herbert 161 Anm. 100, 167 Anm. 134, 184 Spindler, Carl 145 Spitteler, Carl 7f. - Imago 7, 8 - Meine fr hesten Erlebnisse 8 Stekel, Wilhelm 2, 3, 6, 12, 17, 18, 19, 20, 22, 69 Anm. 9, 157 - Dichtung und Neurose 17, 33 Anm. 2 Stevenson, Robert Louis 113 - The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde 113, 116 Anm. 9, 143 Anm. 38 Storfer, Albert Josef 6 Stratz, Rudolph - Die t richte Jungfrau 152 Anm. 7.1 Strindberg, August 122 Anm. 15, 136 Anm. 28, 187 - Am offenen Meer 122 Anm. ι j - Inferno 122 Anm. 15, 152 Anm. 71 Stumpf, C. 33 Anm. ι Swinburne, Charles Algernon 10 Talleyrand 31, 227 Anm. 7 Tasso - Das befreite Jerusalem 86 Th ny, Eduard 199 Tieck, Ludwig 120 Anm. 10 Tolstoj, Leo N. 180 Anm. 169 - Anna Karenina 181 Anm. 169 Turgeniew, Iwan 187 Anm. 186 Uechtritz, Fr. von 79 Urban, Bernd 18 Anm. 39, 20 Anm. 44, 47 Villiers de L'Isle-Adam, JeanMarie de 136 Anm. 28 - Das zweite Gesicht 152 Anm. 68 - Vera 176 Visscher, H. 183 Anm. 174, 187 Volkelt, Johannes 202, 203, 219 Vorberg, Gaston 139, 141 Vo , Emilie 77 Waelder, Robert 7 Wagner, Richard 10, 40, 45, 46, 47, 67 299

- Mitteilungen an meine Freunde 45 - Parsifal 200 - Tannhäuser 33, 4off. - Tristan und Isolde 92 Walzel, Oskar 154 Anm. 76, 158 Warnek, J. 159, 167 Weber, Carl Maria von 213 Weber, Karl Julius - Demokritos 165 Anm. 123 Wedekind, Frank - Der Gefangene 125 Weygandt, Wilhelm 67 Wieland, Christoph Martin - Die Abderiten 153 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von - Staat und Gesellschaf t 36 Anm. 6 Wilbrandt, Adolf von - Der Meister von Palmyra 179 Anm. 167 Wilde, Oscar 188 - Das Bildnis des Dorian Gray

f., 163 Anm. 107, i7iff., 178, . - Der junge Fischer 157 Williams, Thomas 1 66 Anm. 126 Wilson, Thomas Woodrow 21, 22 Winterstein, Alfred 225, 252 Anm. 26 Wittels, Fritz 2, 60 Anm. 32, 62 Anm. 35, 63 Anm. 37, 183 Wolff, Reinhard 31 Wulff, H. 237, 238 Anm. 13 Wundt, Wilhelm 184 Wuttke, M. 150 Anm. 59, 152 Anm. 68, 163 Anm. 108, 164 Anm. 113 u. 117, 165 Anm. 118 u. 119 u. 123 u. 124, 167 Anm. 132 Zaunert, P. 263 Anm. 32 Ziegler, Karl 224, 227, 228, 229, 231, 232, 238, 239,

240,

250,

255,

256, 258 Anm. 29, 259 Zola, Emile 139, 201

Sachregister Aberglaube 170, 183 Abfuhr, psychische 210 Abnormität, psychische 21, 64 Abulie 21 Abwehrform 173 Ästhetik 6, 30, 188, 202 Affekt 9, 37 Affektabfuhr 24, 195, 212 Affektenergie 195, 212 Aggression 23,214,231,247,258 Anm. 29, 259, 260, 272, 274 Alkoholismus 31, 230, 236, *37ff. Allmacht der Gedanken 183 Allmachtsidee 31, 227, 242!?. Allmachtswahn, infantiler 222 Alteration de la personnalit^ 144 Ambivalenz 100,155,226 American Imago 7 Amnesie 121 Analität 225 Asexualität 139 Assoziation 61 3OO

Belastung 64, 70 Bewußtsein 99, 195, 197 Bewußtseinsarbeit 193, 203 Bewußtseinsinstanz 203, 205 Bewußtseinspsychologie 219 Biographie 70 Biographik, psychoanalytische 13 Bruderkomplex 176 Charakterologie 6 Christentum Degeneration 10 Deg£ne*r£scence 64 Delirium tremens 138 Dementia praecox 65, 67 Depression 213 Determination 85 Dichter 17, 19, 23, 35, 45, 63, 64, 66, 67, 68, 86, 96, 105, 136, 193, 198, 212, 2 1 3 , 2 l 6

Dichterbiographie, psychoanalytische 227 Dichterpsychologie 13 Dichtung 45, 70, 192, 193, 194, i?5> 196, 198,221, 247 Disposition, hereditäre 144 Dissoziation 63 Dissoziierung 62 Doppelgänger 104$. Doppelbewußtsein 121, 122 Doppelgängerwahn 122 Drama 25, 34^, 40, 41, 45, 51, 58, 63, 79, 83, 88, 197 Egoismus 172 Einbildungskraft 7$ Endlust 195 Entartung 65 Anm. 2, 70 Entstellung 23, 47, 87 Entwicklung, sexuelle 69 Epilepsie 10, 147 Eros 272 Erotik 41, 44, $3, 77 Erotik, orale 226 Ethik 6 Ethnologie 6 Ethnopsychologie 5, 30 Exhibitionismus 244 Anm. 18 Fiktion 273 Anm. 37 Fiktion, autarkische 223 Form 194, 195, 196, 213, 214 Formarbeit 219 Formqualität 16 Geisteswissenschaften 4, j, 8, 9, 24, 28, 29 Gelegenheitspoesie 197 Genie i o, 21, 64, 69, 70, 71 Geschlechtsleben 69 Geschlechtstrieb 98 Geschlechtsverkehr 78 Gesundheit 20 Gewissen 5 5 Grübelzwang 21 Halluzination 62, 126, 137, 140 Haß 99ff. Heidentum 45

Held 59 Held, tragischer 60

Hemmungsaufwand 192,206,211 Homosexualität 175, 225, 248, 264 Humor u 8, 221 Hypnose 82 Ich 53,57,59,109,112,117,120, i2i, 137, 138, 149, 173, 176, 179, 1 8 5 , 188, 192, 200,

224

211, 214,

222,

Ichbesetzung, narzißtische 212 Ichideal 178 Ichkomplex 149 Idealismus, transzendentaler 117 Identifizierung 208, 215, 225, 237 Illusion 62 Imago (Zeitschrift) i, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 12, 13, 14, 15, 18, 20, 22, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33 Impotenz 27,31,81,157,251,257 Individualpsyche 25, 60 Infantiles 71 Infantilismus 247 Inhalt 196 Instinkt 98 Internationale Psychoanalytische Vereinigung 2, 3 Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse 3 Introjektion, orale 248 Inzest 70 Irresein, manisch depress. 65 Irrsinn 10 Jahrbuch der Psychoanalyse 3 Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen 3 Kastrationsangst 248 Kastrationskomplex 255 Kathartische Methode 8 Kinotechnik 109 Komisches 188, 209 Komplex 85, 157 Kompromißbildung, psychische 18 Konversion 7 Krankheit 20 Kreativität 20 Kreativitätsforschung, psychoanalytische 20 Künstler 8, 9, 11, 16, 18, 19, 23, 63» 193, *95 301

Künstler-Biographie 12 Künstler-Psychologie 6, 8y Künstlertypologie 13 Kulturfortschritt 9, 211 Kulturgebilde 9 Kulturkritik 10 Kultur-Mensch 40, 41 Kunst 9, 18, 63, 68 Kunst, tragische 58 Kunstgenuß 58 Kunstwerk 19, 20, 23, 4$, 58, 92, 191, 192, 195, 200, 208, 213 Leiden 59, 60 Libido 43, 180 Liebe 47, 48, 52, j5, 75, 98, 99^. Liebesentzug 245 Liebesleben 69, 70, 77 Liebestod 44 Linguistik 6 Literaturbetrachtung, psychoanalytische 9 Literaturkritik 8y Logorrhoe, konsekutive 237 Lues 230 Lustentbindung 19 j Lustgewinn 192, 194, 207, 209, 2 1 1 , 212, 222,

224

Lustgewinn 192, 194, 207, 209, Lyrik 197 Märchen 4 Märchenforschung 6 Magie 153 Medizin 4 Melancholie 145 Mimus, religiöser 216 Motiv 87, 88, 89, 92, 96 Motivuntersuchung 27 Mutter, phallische 223, 248 Mutterbindung, präödipale 31, 226, 228,, 274 Mutterimago 223, 267 Mutterkomplex 171 My then Forschung 6 Mythologie 5, 29 Mythos 4, 9, 18 Namensmagie i y 5 Namensphobie i y y 302

Narziß i joß. Narzißmus 179, 181, 184, i8y, 186, 187, 212, 213, 224, 225 Nervenheilkunde 85 Neurose 8, 10, 17, 18, 19, 20, 21, 78, 84, 207 Neurotik 136, 187 Neurotiker 8, 9, 16, 17, 18, 19, 20, 2i, 75, 78, 223 Nihilismus 262 Objektbesetzung 223 Ödipus-Komplex 68, 25 y f., Anm. 28, 2y9, 274 Onanie 2y6f. Oralität 31, 227, 230, 23 iff. Orgasmus 242 Pädagogik 6 Paralyse 66, 71, 137, 139, 247 Anm. 2i Paranoia 122 Anm. l y , i7y, 176 Parzenmythos 1 70 Pathograph 10, n, 14, 64 Pathographie 9, 10, n, 12, 13, 14, l y , 20, 64, 6y, 70,71 Pessimismus (analer) 223 Anm. 3 Pessimismus (oraler) 222ff. Pessimist (analer) 31 Pessimist (oraler) 22 iff. Phantasie 23, 24, 41, 43, y4, 60, 61, 63, 70, 7y, 82, 96, 189, 192, I9y, 196, 216 Phantasiebild 47 Phantasiebildung 19 Phantasietätigkeit, krankhafte 122 Philosophie 6 Phobic 1 3 Prägenitalität 2y8ff., 274 Primärprozeß 1 8 Produktionshemmung 31, 27 y Anm. 40 Produktivität, literarische 31 Projektion i7y Psyche y8, 62 Psychiatrie 4 Psychographie l y , 64, 71 Psychologe 189, 190 Psychologie 4, 69, 82 Psychologie, analytische 20

Psychologische Mittwoch-Gesellschaft 1 , 4 , 1 1 , 1 3 , 1 5 , 2 6 , 2 7 , 2 9 Psychoneurologie 76 Psycho-Neurose 9 Psychoneurotiker 80, 84 Psycho-Pathographie 15, 16 Psychose 10, 67 Recht 6, 9 Regression 18, 226 Regression, kontrollierte 18 Regression, orale 31, 236 Reim 194 Religion 9,63,215,217,220 Religionspsychologie 5, 30 Religionswissenschaft 6 Romantik 115 Sadismus 83 Satire 197 Satyrspiel 216, 217 Schaffen, künstlerisches 4, 85, i88ff. Schaffensprozeß, künstlerischer 14, 18, 30 Schatten in, 112 Anm. 21, i5off., 175,184, 185, 188 Schauspieler 218 Schizophrenie 247 Anm. 21 SchÖpfungsakt 85 Schöpfungsarbeit, dichterische 4 Schriften zur angewandten Seelenkunde 5 Schriftsteller 31 Schuldgefühl 193, 194, 211, 212, 213, 257f. Seele 159, 160, 161, 162, 185 Seelenanalyse 100 Seelenkunde 9, 69, 75 Seelenleben 9, 85, 99, 192 Sekundäre Bearbeitung 8, 22, 23 Selbstliebe 170, 180 Selbstmord 179fT. Sexualität 8, 42, 46, 47, 48 Sexualität, prägenitale 252!!. Sexualleben 47, 199 Sexualobjekt 48 Sexualsymbolik 40 Sexualtrieb 40 Sinnlichkeit 41, 42

Sittlichkeit 79 Spaltung des Ich 116, 149 Spiegel 117, 118, 119, 163*?. Spiegelbild 106, 108, u o, in, 120, i2i, 137, 150, 153, i63ff., 174, 183,188 Spiegelphantasie 122 Spiegelphobie 120 Strarbedürfnis 247, 271 Sprache 9 Sublimierung 18, 47, 273 Anm. 37 Symptom, neurotisches 19, 223 Tabes 230, 251 Anm. 25 Tabu 158, 160, 166, 184, 215 Tagesreste 22 Tagtraum 23, 24, 190, 191, 192, 193, 194,221 Tagträumer 195 Teufel 178 Tod 43,46,49,158,171,185,218 Todesfurcht 179 Todesvorstellung 155, 170, 187 Todeswunsch 84, 100, 177 Träumer 18 Tragik 57,58,59,118 Tragisches 33 Tragödie 33, 58, 87, 197, 216, 217 Traum 7, 8, 18, 19, 22f., 23, 25, 34f., 44, 56, 63, 79, 196 Traumarbeit 18,22,34 Traumbild 196 Traumforschung 4 Traumgedanke, latenter 8, 22, 23 Trauminhalt, manifester 8, 22, 23 Traumleben 9 Traumsymbol 83 Traumtechnik 105 Trieb 18, 19, 40, 41, 42, 43, 49, 52,60, 98, 205 Triebkonstruktion, orale 237 Triebregung 210, 211, 212 Triebziel, unbewußtes 195 Über-Idi 223, 225, 237, 245, 258 Anm. 29, 271 Unbewußte 9, 16, 22, 40, 60, 69, 70, 71, 80, 99, TOO, 196, 197, 2O2,

2O3,

2O4,

221, 224

Unsterblichkeitsglauben

185, 186 303

Urchristentum 8 Urethralerotik 238 Urgeschichte 109 Urhorde 215 Urszene i 5 Vatermord 215 Verbrecher 60 Verdichtung 23 Verdrängtes 99 Verdrängung 8 Vererbung 37 Verfolgungswahn 136 Vergeltung 60 Verlegung nach oben 39 Verlockungsprämie 23, 24, 194, 213, 214 Verschiebung 23, 195, 260 Verwechslungskomödie 121 Vision 51, 56, 57, 60, 61, 62, 126 Vorlust 23, 24, 194, 195 Wahn ii 8, 129 Wahnideen 137 Wahnsinn 40, 64, 67, in, 17$

304

Wahnsystem, paranoides 136 Wahrnehmung 6z Widerstand 8 Wiederkehr des Verdrängten 175 Wiener Psychoanalytische Vereinigung I, 12, 26, 28

Witz 23, i88ff. Witzarbeit 30, i88fi. Wort 2i7ff. Wunsch 33, 40 Wunschabwehr 188 Wunscherfüllung 8, 22, 67, 192, 216 Wunschregung 195, 204 Zensur 8, 22, 23, 34, 37, 39, 43, 49, 51, 52, 58,60, 61, 203 Zentralblatt für Psychoanalyse 3 Zynismus 31, 227, 258 Anm. 29 Zwangsneurose 76, 77, 189, 223 Anm. 3 Zwangsneurotiker 223 Zwangstypus 21 Zwangsvorstellung 137