175 94 104MB
German Pages 412 Year 1987
Linguistische Arbeiten
188
Herausgegeben von Hans Altmann, Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner
Thomas Birkmann
Präteritopräsentia Morphologische Entwicklungen einer Sonderklasse in den altgermanischen Sprachen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Birkmann, Thomas : Präteritopräsentia : morpholog. Entwicklung e. Sonderklasse in d. altgerman. Sprachen /Thomas Birkmann. -Tübingen : Niemeyer, 1987. (Linguistische Arbeiten ; 188) NE: GT ISBN 3-484-30188-0
ISSN 0344-6727
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt.
VDFWDRT
Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Vergleichende Germanische Philologie und Skandinavistik in den Jahren von 1981 bis 1986. Sie wurde angeregt und betreut von Prof. Dr. Otmar WERNER, Universität Freiburg i.Br.; ihm sei an dieser Stelle für seine fachliche Beratung und seine Bereitschaft, mit mir über die anliegenden Probleme zu diskutieren, besonders herzlich gedankt. Zahlreiche Anregungen erhielt ich auch auf der Sechsten Arbeitstagung der Skandinavisten des deutschen Sprachgebiets in Bonn 1983, wo ich die vorliegende Arbeit als Projekt vorstellte; namentlich möchte ich mich bedanken bei Hans FIX für seine Tips und Ratschläge und bei Andrea VAN ARKEL für das wertvolle Material aus Mädruvallabok, das sie mir zur Verfügung gestellt (und erläutert) hat. Ohne diese Hilfe hätte ich das Altisländisch-Kapitel nicht schreiben können. Dank schließlich allen Freiburgern, die mir in vielen Gesprächen fachlich und moralisch geholfen haben: Heinz KLINGENBERG, Klaus-Christian KÜSPERT, Ute HEMPEN u.v.a. Besonderen Dank schulde ich schließlich meinem Bruder Peter BIRKMANN, Heidi FISCHER und Susanne SPECKENBACH, die die Qual auf sich genommen haben, die Korrektur ganz oder teilweise zu lesen. Von Prof. James E. CATHEY bekam ich zahlreiche Anmerkungen, Korrekturen und Anregungen, die im Text nicht intner angegeben sind. Für alle Fehler, die die Arbeit trotzdem noch enthält, trage selbstverständlich ich allein die volle Verantwortung.
Thomas Birkmann
VI
Auxiliaria, d.h. verba, welche sehr gebraucht werden und statt ihrer bedeutung abstracte begriffe
häufig
lebendigen
annehmen, tra-
gen gewöhnlich solche Unregelmäßigkeiten an sich, Jakob GRIMM in:
1. Band der Deutschen Gram-
matik, Göttingen 1 8 2 2 , S. 851.
VII
INHALT
VORWORT
V
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
XV
1
0. NEUERE ANSÄTZE ZUR THEORETISCHEN MORPHOLOGIE UND ZUM MDRPHOLOGISCHEN WANDEL
O. O
Vorbemerkungen
O.1
Willi MAYERTHALER: "Morphologische Natürlichkeit" (1981)
0.2
Wolfgang Ulrich WURZEL: "Flexionsmorphologie und Natürlichkeit" (1984):
0.3
9
9 10 21
Elke RONNEBERGER-SIBOLD: "Sprachverwendung - Sprachsystem: Ökonomie und Wandel" (1980):
0.4
33
Skizze eines Modells des morphologischen Wandels und seine Anwendung auf das Problem der Präteritopräsentia
45
0.4.1 Modell
45
0.4.2 Anwendung:
53
O.4.2.1 Die Formen im Sg.Präs.Ind.
53
0.4.2.2 Der Vokalwechsel zwischen Sg.Präs.Ind. und Pl.Präs.Ind.
55
O.4.2.3 Die Endungen im Pl.Präs.Ind.
58
0.4.2.4 Die Formen des Präteritum
59
1. FORMENBESTAND UND IDG. GRUNDLAGEN DER ALTGERMANISCHEN PPÄTERITOPRSSENTIA
61
1.O 1.1
Vorbemerkungen Die urgerm. Präteritopräsentia und das idg. Perfekt
61 62
1.2
Die urgerm. Präteritopräsentia
66
1.2.1 *witan
66
1.2.2 *munan
68
1.2.3 *(ga )dursan
69
1.2.4 *kunnan
70
VIII 1.2.5
*dugan
71
1.2.6
*magan/mugan
72
1.2.7
*aigan
74
1.2.8
*ogan
78
1.2.9
got.
1.2.10
Durban
80
1.2.11
got. binah und ganah
81
1.2.12
*imnatt
82
1.2.13
*motan
83
1.2.14
*skulan
84
1.3
Zusantnenfassung und Bewertung
85
la-is
2. GOTISCH
79
91
2.1
Der Bestand im Gotischen
91
2.2
Vokalalternation Sg.Präs.Ind. - Pl.Präs.Ind.
92
2.3
Flexionsparadigmen
94
2.3.1
Präsens Indikativ
95
2.3.2
Präsens Konjunktiv
95
2.3.3
Präteritum Indikativ
96
2.3.4
Präteritum Konjunktiv
96
2.3.5
Bewertung der Flexionseigenschaften
96
2.4
Die belegten Formen im Gotischen
99
2.4.1
wUan
99
2.4.2
lais
101
2.4.3
*aigan
102
2.4.4
daug
104
2.4.5
kunnan
1O4
2.4.6
gadaursan
107
2.4.7
*pauvban
1O8
2.4.8
*munan und gamunan
108
2.4.8.1
*munan
108
2.4.8.2 gamunan
109
2.4.8.3 *munan 'zu tun gedenken, vrollen'
109
2.4.9
*skulan
111
2.4.10
ganah/binah
111
2.4.10.1 btna/z 2.4.10.2 ganah 2.4.11 mag-arc
111 112 112
IX
2.4.12 2.4.13 2.4.14 2.5
*gamotan *ogan wiljan Zusammenfassung
3. URNORDISCH
114 115 116 118 121
3.0
Vorbemerkungen
121
3.1
Schildbuckel von Thorsberg
121
3.2 3.3
Ortband von Vi Stein von Myklebostad
122 123
3.4
Spange von Fonnas
123
3.5
Stein von Reistad
125
3.6
Hobel von Vi
126
3.7
Zusammenfassung
127
4. ALTHOCHDEUTSCH
128
4.0 4.1 4.2 4.2.1
Vorbemerkungen Der Bestand im Althochdeutschen Flexionsparadigmen Präsens Indikativ
12 8 129 130 131
4.2.2
Präsens Konjunktiv
4.2.3 4.2.4 4.2.5
Präteritum Indikativ Präteritum Konjunktiv Infinitive
134 135 135
4.2.6
Partizipien
136
4.3 4.3.1 4.3.2
Die belegten Formen im Althochdeutschen wizzan eigan
136 136 139
4.3.3
*dugan
141
4.3.4
unnan
142
4.3.5
kunnan
144
4.3.6
thurfan
146
4.3.7
gidurran
147
4.3.8
skulan
148
4.3.9
ginah
152
4.3.10
magan/mugan
153
4.3.11
*muozan
155
4.3.12
wellen
157
4.4
Zusammenfassung
161
134
ALTSÄCHSISCH 5.0 5.1 5.2
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6 5.3.7 5.3.8 5.3.9 5.3.10 5.3.11 5.3.12 5.4
Vorbemerkungen Der Bestand im Altsächsischen Flexionsparadigmen Präsens Indikativ Präsens Konjunktiv Präteritum Indikativ Prateri turn Konjunktiv Die belegten Formen im Altsächsischen witan egan *dugan *cunnan *giunnan und *afunnan *thurban *durran *skulan *munan und *famunan *mugan motan willian Die Entwicklung zum Mittelniederdeutschen
MITTELHOCHDEUTSCH
6.0
6.1 6.2
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4 6.3 6.4 6.5
6.5.0 6.5.1 6.5.2
Vorbemerkungen Der Bestand im Mittelhochdeutschen Flexionsparadigmen in normalisierter Form Wechsel im Stammsilbenvokalismus beim mhd. Verb Präsens Indikativ Präsens Konjunktiv Präteritum Indikativ und Konjunktiv Die Umlaute im System der Präteritopräsentia Zum Stammsilbenvokalismus im Pl. Präs. Ind. und Prät. Die Formen der mhd. Präteritopräsentia und ihre Entwicklung zum Neuhochdeutschen Vorbemerkungen wizzen eigen
163 163 164 164 165 166 166 167 167 167 168 169 170 173 173 174 174 177 178 181 182 185 188 188 189 190 191 192 192 193 194 199 203 203 203 205
XI
6.5.3
tugen/tügen
205
6.5.4
gunnen/günnen
2O6
6.5.5
kunnen/künnen
2O7
6.5.6
turnen/türren
2O8
6.5.7
dürfen/dürfen
6.5.8
suln/süln
211
6.5.9
mugen/mügen
215
6.5.10
müezen
215
6.5.11
wellen/wollen
216
6.6
Zusammenfassung
218
und bedürfen/bedürfen
7. ALTISIÄNDISCH
2O9
221
7.0 7.1 7.2
Vorbemerkungen Der Bestand im Altisländischen Flexionsparadigmen in normalisierter Form
221 223 224
7.2.1
Präsens Indikativ
225
7.2.1.1
Die Endungen
225
7.2.1.2
Vokalwechsel Sg.Präs.Ind. - Pl.Präs.Ind.
229
7.2.1.3 Vokalalternationen im aisl. Verbalsystem 7.2.2 Präsens Konjunktiv
231 232
7.2.3
Präter i turn Indikativ
234
7.2.4
Präteritum Konjunktiv
237
7.2.5
Infinitive
238
7.3
munu und muna
243
7.4
*knega
249
7.5
vilja
251
7.6
Zusaimenfassung
252
8. FÄKÖISCH
256
8.0 8.1 8.2 8.3
Vorbemerkungen Der Bestand im heutigen Färöisch Flexionsparadigmen Entwicklungen im fär. Verbsystem seit der an. Zeit
256 257 258 259
8.4
Entwicklungen bei den fär.
8.4.1
eiga
263
8.4.2
knäva
265
8.4.3
törva/tarva
266
8.4.4
unna
267
Prät.präs. seit der an. Zeit 262
XII 8.4.5
munna
268
8.4.6
skula
272
8.4.7
kunna
274
8.4.8
vita
275
8.4.9
mega
276
8.4.10
vilja
278
8.5
Zusammenfassung
280
9. ALTNORrfEGISCH
282
9.0
Vorbemerkungen
282
9.1
Der Bestand im Altnorwegischen
282
9.2
Die Flexionsklasse der Prät.präs. und Entwicklungen im anorw. Verbsystem
283
9.3
Die einzelnen anorw. Präteritopräsentia
284
9.3.1
vita
284
9.3.2
aeiga
284
9.3.3
kunna
285
9.3.4
unna
285
9.3.5
frurfa
286
9.3.6
skulu
286
9.3.7
munu
287
9.3.8
mega
288
9.3.9
vilja
289
9.4
Zusanmenfassung und Skizze der Entwicklungen zum Neunorwegischen
29O
10. ALTSCHWEDISCH
292
10.0
Vorbemerkungen
292
10.1
Der Bestand im Altschwedischen
293
10.2
Flexionsparadigmen in normalisierter Form
293
10.2.1
Die 3.Pl.Präs.Ind. der Präteritopräsentia
295
10.2.2
Allgemeine Entwicklungstendenzen des schwedischen Verbsystems 296
10.3
Die einzelnen aschw. Präteritopräsentia
297
10.3.1
vita
297
10.3.2
ägha
298
10.3.3
kunna
3O1
10.3.4
unna
3O2
10.3.5 10.3.6
frorva mona
303 304
XIII
10.3.7
munu
305
10.3.8
skulu
3O7
10.3.9
magha
309
10.3.10
vilia
312
10.4
Die Präteritopräsentia im Altgutnischen
313
10.5
Zusammenfassung
316
11. ALTDSNISCH
319
01.O
Vorbemerkungen
319
11.1
Der Bestand im Altdänischen
319
11.2
Die wichtigsten Unterschiede zwischen dem Altdänischen und dem Altschwedischen
320
11.3
Die 3.Pl.Präs.Ind. der Präteritopräsentia
321
11.4
Die einzelnen adän. Präteritopräsentia
322
11.4.1
wita
322
11.4.2
egha
324
11.4.3
kunna
325
11.4.4
unna
325
11.4.5
muna/mona
326
11.4.6 11.4.7
munu/monu mughu/mogha und die Infinitive der ndän. Modalverben
326 328
11.4.8
skulu
33O
11.4.9
thorfa
332
11.4.10
wilia
334
11.5
Zusammenfassung
335
12. ALTFRIESISCH
337
13. ALTENGLISCH und MITTELENGLISCH
342
14.
349
ZUSAMMENFASSUNG UND BEWERTUNG
04.O
Vorbemerkungen
349
14.1
Die Flexionsklasse(n)
349
14.1.1
Die Ausgangslage im Urgerm. und die frühesten Veränderungen
349
14.1.2
Die Entwicklungen zu den neugerm. Sprachen
351
14.2
Typen morphologischen Wandels
363
14.2.1
Vereinfachungen auf der Ebene der Artikulation
363
14.2.2
Entwicklungen im Sinne der Systemangemessenheit
364
14.2.2.1 Ausbreitung überstabiler Marker 364 14.2.2.2 Änderungen der systemdefinierenden Struktureigenschaften 365
XIV
14.2.3
Entwicklungen im Sinne der Flexionsklassenstabilität
366
14.2.3.1 Aussterben von Lexemen 366 14.2.3.2 Flexionsklassenwechsel durch Regularisierung (Änderung des morphologischen Typus) 367 14.2.3.3 Aufbau morphologischer Irregularität 14.2.4 Formenzusammenf all 14.2.4.1 munu/muna 14.2.4.2 Germ. *durzan und *$urban 14.3
368 37O 370 371
Modalverben - Vollverben: die einzelsprachlichen Systeme
374
14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4
Neuhochdeutsch Neuniederländisch Neuenglisch Neuisländisch
374 375 376 377
14.3.5 14.3.6
Färöisch Norwegisch
378 379
14.3.7
Schwedisch
38O
14.3.8 14.4
Dänisch Schlußbemerkungen
381 382
BIBLIOGRAPHIE
XV
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS:
Adän. Aengl. Afries. Agutn. Ahd. Ai. Air. Aisl. Aksl, An. Anorw. Apers. Apreuss. Arm. As. Aschw. Aw. Awn. Bait. Dt. Fär. Franz. GDG
Altdänisch Altenglisch Altfriesisch Altgutnisch Althochdeutsch Altindisch Altirisch Altisländisch Altkirchenslavisch Altnordisch Altnorwegisch Altpersisch Altpreussisch Armenisch Altsächsisch Altschwedisch Avestisch Altwestnordisch Baltisch Deutsch Färöisch Französisch Grundzüge einer deutschen Grammatik. Berlin 1981. Germ. Germanisch Gl. Glossen Got. Gotisch Gr. Griechisch Heth. Hethitisch Idg. Indogermanisch Ind. Indikativ Inf. Infinitiv Kelt. Keltisch Konj. Konjunktiv Lat. Lateinisch Lit. Litauisch Mdt. Mitteldeutsch Mhd. Mittelhochdeutsch Mndt. Mittelniederdeutsch MV Modalverb Nddt. Niederdeutsch Ndl. Niederländisch Nhd. Neuhochdeutsch Nisl. Neuisländisch Num. Numerus Nschw. Neuschwedisch Obdt. Oberdeutsch Part. Partizip Perf. Perfekt Pers. Person Pl. Plural Präs. Präsens Prät.präs. Präteritopräsentia Sg. Singular Sp. Spalte Urn. Urnordisch W Vollverb
Eddalieder und Skaldik in Kap. 3.6: Akv Alvm Am Fj Fm Ghv Grm HH HHv Hrbl Hym Lids Öd Sg Skm Vkv Vsp
Atlaquiäa in grcenlenzca Alvissmäl Atlamäl in groenlenzco Fjplsvinnsmal Fäfnismäl Gudrünarhv9t Grimnismäl Helgaquida Hundingsbana I Helgaquida Hiorvardzsonar Härbardzliod Hymisquida Lidsmannaflokkr (11. Jhd.) Oddrünargrätr Sigurdarquida in scamma For Scirnis Vglundasquida
EINLEITUNG
Diese Arbeit beschäftigt sich mit einer Gruppe von Verben, die in den historischen Graimiatiken oft als eine der Restklassen oder als Randproblem dargestellt werden: mit den (sogenannten) Präteritopräsentia (= Prat.präs.). Eine umfassende Darstellung der morphologischen Entwicklungen, die diese Gruppe in den germanischen Sprachen durchlaufen hat, fehlt bisher und soll in dieser Arbeit für einen Teil der altgermanischen Sprachen von den Anfängen der Überlieferung bis ins 15./16. Jhd. hinein geleistet werden. Eine vollständige Behandlung aller germanischer Sprachen - so wünschenswert sie wäre - würde zu umfangreich und hätte außerdem die sprachliche Kompetenz des Verfassers überschritten. So beschränken wir uns auf die folgenden Sprachen bzw. Sprachstufen: Gotisch, Urnordisch, Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch, Altsächsisch und Mittelniederdeutsch, Altisländisch (bis zur Gudbrandsbiblia), Altnorwegisch (bis ins 14. Jhd.), Altschwedisch (bis zur Gustav-Vasa-Bibel), Altdänisch (bis zu den Bibelübersetzungen) und Färöisch. Es fehlen also vor allan die Entwicklungen im Englischen, Friesischen, Niederländischen und Afrikaans; eine knappe Behandlung der wichtigsten Formen der Prat.präs. im Afries. und Aengl. erfolgt in Kap. 12 + 13, und eine umfassende Bewertung der Entwicklungen im Rahmen der in Kap. 0 entworfenen Theorie wird in Kap. 14 auch die nur knapp behandelten Sprachen berücksichtigen. In den Kapiteln 2 - 1 1 werden für die oben aufgeführten Sprachen sämtliche belegten Formen und Entwicklun-
Beispiele dafür lassen sich in jeder beliebigen historischen Grammatik f i n den; vgl. etwa die Kapital-Einteilung in SIEVERS/BRUNNER 1942: I II III IV
Die Endungen der Verba im allgemeinen Die starken Verba Die schwachen Verba Kleinere Gruppen 1. Verba präteritopräsentia 2. Verba auf -mi
Hier entsteht der Eindruck, es handle sich um eine kleine, unbedeutende Sondergruppe; zuzustimmen ist dagegen Aussagen wie z.B. bei KERN/ZUTT 1977:63, die Prat.präs. gehörten zu den Verben, "die eine abweichende Entwicklung durchlaufen haben, wegen ihrer Bedeutung im Sprachsystem aber nicht als bloße Ausnahmen abgetan werden d ü r f e n . " .
gen diskutiert, was wohl sinnvoller ist als eine oberflächliche Behandlung sämtlicher germanischer Sprachen. Wie eingangs erwähnt, stellen die Prät.präs. in den germ. Sprachen eine Sondergruppe innerhalb des Verbsystems dar; der (nicht ganz glücklich gewählte) Name 'Präteritopräsentia' soll die Herkunft dieser Gruppe und die formale Übereinstimmung ihres Präsens mit den Formen des Präteritums der starken Verben zum Ausdruck bringen. "Wir haben also einen Verbtypus vor uns, der im Präs. Formen hat, die einem starken Prät. entsprechen, während das Prät. nach dem Muster der schwachen Verben gebildet wird. Man spricht deshalb von Präteritopräsentia. " KERN/ZUTT 1977:62. Im Prinzip definieren alle historischen Grammatiken so oder in ähnlicher Weise die Prät.präs.; meist kcmmt es dabei zu einer Vermischung von synchronen und diachronen Kriterien, was bereits von STUTTERHEIM 1966 und SOETEMAN 1967 kritisiert wurde, vgl. etwa BRAUNE/EBBINGHAUS 1966:116: "Die Präterito-Präsentia sind primäre Verba, welche Form und Flexion eines starken Präteritums aber Präsensbedeutung haben. Das ihnen zugrundeliegende Präsens ist verlorengegangen. Nach ihren Ablauterscheinungen lassen sich diese Verba auf die Klassen der starken Verba ... verteilen. Sie bilden großenteils mit Hilfe eines Dentals ein neues Präteritum, das wie die schwachen Präterita flektiert wird."
Das Musterbeispiel, an dem diese Entwicklung meistens demonstriert wird, ist nhd. wissen: Zu einer erschließbaren Verbalwurzel idg. *ueid- mit der Bedeutung "sehen1 lauten die regulären (?) Präteritum- (d.h. Perfekt-) Stämme *uoid-/uid- mit der Bedeutung "ich habe gesehen1; anschließend erfolgte Bedeutungswandel: 'ich habe gesehen" wird zu "ich weiß1 (deutlich etwa in lat. vidi zu videre "sehen"). Die zu diesen Präsens-Bedeutungen gehörenden präteritalen Formen (eigentlich Perfektformen) werden dann im Germ, uminterpretiert als Präs.-Formen - got. wait ist die genaue lautgesetzliche Entsprechung von idg. *uoid~. Im Germ, wird dann noch ein neues Prät. gebildet, das wie das der schwachen Verben flektiert. Ausführlich behandelt werden die idg. Grundlagen der germ. Prät.präs. in Kapitel 1. Hier sei schon darauf hingewiesen, daß der Ausdruck 'Perfektopräsentien", der z.B. von MOSSE 1956 vorgezogen wird, andeuten soll, daß es sich eigentlich um idg. Perfektformen handelt, die bei den Prät.präs. im Germ, fortgeführt werden. Hier muß natürlich gefragt werden, ob Verben eigentlich Präsensbedeutung haben können, oder ob nicht vielmehr die Bedeutung 'Präsens 1 erst aus dem morpho-semantischen Kontrast zwischen der Kategorie Präsens und allen anderen Tempuskategorien des jeweiligen Verbparadigmas besteht.
In synchroner Sicht kann jedenfalls festgehalten werden: Die Prät.präs. verhalten sich ursprünglich in ihren Präs.-Formen wie die Prät.-Formen der starken Verben, und zwar: (1) in bezug auf die Vokalalternation im Stairmsilbenvokal zwischen Sg.Präs. Ind. und Pl.Präs.Ind.; Beispiel got. kann - kunnum wie rann - runnum. (2) in bezug auf die Pers./Num.-Endungen; Beispiel got. 0 - t - 0 - u m - u p un wie die starken Verben im Got. In der Bildungsweise und in den Flexionsformen des Prät. verhalten sich die Prät.präs. dagegen wie die bindevokallosen schwachen Verben; Beispiel got. gadauvsta, mahta wie bauhta 'kaufte', pahta 'dachte1. Auf diese Flexionseigenschaften, auf morphologische Kriterien also, bezieht sich die Bezeichnung 'Präteritopräsentia' für die Gruppe. Sie mag in Hinblick darauf durchaus ihre Berechtigung haben und wird deshalb in dieser Arbeit beibehalten; ob man damit allerdings das Wesentliche erfaßt, wird zu diskutieren sein. Die Sonderstellung der Gruppe dokumentiert sich also zunächst einmal in ihren Flexionsformen; die Prät.präs. sind eine Gruppe von morphologisch irregulären Verben, deren Entstehung mehr oder weniger überzeugend zu erklären ist, vgl. Kap. 1. Das Hauptinteresse dieser Arbeit liegt jedoch auf der Darstellung und eventuell Erklärung der Entwicklungen, die sich innerhalb der altgermanischen Sprachen vollziehen - im Rahmen eines Sprachwandelmodells, das in Kapitel 0 vorgeschlagen wird. Insgesamt handelt es sich bei den Prät.präs. um eine Gruppe von 15-16 Lexemen, die in den verschiedenen altgerm. Sprachen recht unterschiedlich belegt sind. Der vollständige Bestand findet sich in keiner der Sprachen; die größte Zahl der Vertreter weist noch das Got. auf. Als generelle Entwicklung kann man feststellen, daß sich die Zahl der Gruppenmitglieder im Laufe der Sprachgeschichte verringert, daß zu den neugerm. Sprachen hin überall und inrner wieder einzelne Prät.präs. aussterben bzw. durch andere, regulärere Verben in ihrer Funktion ersetzt werden oder in ihren Formen an das reguläre Verbalsystem angeglichen werden. Diesen Vorgang erklären zu wollen, könnte trivial erscheinen: wenn man davon ausgeht, daß die Sprecher einer Sprache nach Regelvereinfachung trachten, dann ist zu erwarten, daß Irregularitäten sukzessive beseitigt werden. In diesem Falle müßte man dann aber erklären,
Es gibt einige wenige Ausnahmen, bei denen die Präs.-Formen der P r ä t . p r ä s . keine formale Entsprechung im Prät. der starken Verben finden, etwa got. mag - magwn oder aih - aigum.
warum bei einigen Vertretern der Gruppe Irregularitäten erhalten bleiben, warum sogar manchmal durch morphologischen Wandel neue Irregularität aufgebaut wird. Ist das reiner Zufall, oder welche Ratio könnte sich dahinter verbergen? In allen neugerm. Sprachen - nicht etwa nur im Isl., das als konservative Sprache (in morphologischer Hinsicht) bekannt ist - haben sich einzelne Vertreter der Prät.präs. als irreguläre Verben erhalten. In den neusprachlichen Grammatiken werden sie allerdings zumeist nicht als Prät.präs. geführt (das wäre auch, z.B. im Schwedischen, gar nicht sinnvoll), sondern als "Hilfsverben", "modal auxiliaries" etc.; hier dienen also nicht mehr morphologische, sondern syntaktische/semantische Eigenschaften als Abgrenzungskriterien. Die Unterschiede zwischen den Mcdalverbsystemen der neugerm. Sprachen sind selbst 4 bei enger Verwandschaft erstaunlich groß, gemeinsam ist ihnen aber in lexikalischer Hinsicht, daß ihre Mitglieder sich mehr oder weniger vollständig aus ehemaligen Prät.präs. rekrutieren. Vereinfacht gesagt: aus den altgerm. Prät. präs. (einer morphologischen Sondergruppe) wird in den neugerm. Sprachen die Gruppe der Modalverben (eine syntaktisch/semantische Sondergruppe). Dabei ist es notwendig und sinnvoll, zwischen Modalverben im eigentlichen Sinn, sozusagen dem "harten Kern", und einem weiteren Kreis von Verben, die modalverbähnliche Eigenschaften und Funktion haben, zu unterscheiden. Am Beispiel des Nhd. demonstriert heißt das, daß können, sollen, dürfen, mögen, wollen, müssen und eventuell brauchen das nhd. Modalverbsystem bilden; davon abzugrenzen ist eine andere Gruppe mit ähnlichen syntaktischen Eigenschaften, zu denen man unter anderem versuchen, vermögen, verstehen, wissen, anfangen, aufhören, gehen (er geht schlafen), kommen (komnst du mich besuchen), bleiben (er bleibt sitzen) rechnen könnte. Natürlich müßte man dabei weitere Untergruppen bilden. Jedenfalls ist es erforderlich, mehrere und verschiedene Kriterien anzuwenden, wenn man die Gruppe der Modalverben von den anderen Verben im Nhd. abgrenzen will: (1) Die nhd. Modalverben zeigen Reste der präteritopräsentischen Flexion; (a) mit Ausnahme von sollen weisen sie einen Vokalwechsel zwischen Sg.Präs. Ind. und Pl.Präs.Ind. auf; (b) in der 1./3.Sg.Präs.Ind. haben sie die Endung -0, die anderen Verben dagegen -e (das aber oft schwinden kann) in der 1.Sg., Vgl. dazu vor allem HAMMERICH I960. Ein Teil dieser Verben denotiert eher Aktionsarten als Modalität und ist dadurch auszugrenzen. Die syntaktischen Eigenschaften stimmen aber mit denjenigen der Modalverben überein.
bzw. -t in der 3.Sg. Diese norphologischen Eigenschaften hat sonst nur noch das Verb wissen, das aufgrund der Kriterien (2) und (3) ausgegrenzt werden kann. Wenn man brauchen zu den nhd. Modalverben rechnen will, wie es z.B. WURZEL 1984 tut, kann man auf die umgangssprachliche und dialektale Variante er brauch hinweisen. "In bestimmten Dialekten und Umgangssprachen des Deutschen bilden alle Modalverben einschließlich brauchen eine Konjugationsklasse, die u.a. dadurch gekennzeichnet ist, daß die ihr zugehörigen Wörter in der 3.PS.Sg.Präs.Ind. kein t-Flexiv haben: er muß, er brauch." WURZEL 1984:117
Es fehlt natürlich bei brauchen die Vokaialternation zwischen Sg.Präs.Ind. und Pl.Präs.Ind. - doch die fehlt ja auch bei sollen, dem niemand deshalb den Modalverbstatus absprechen würde. Das subjektive Modalverb werden steht in morphologischer Hinsicht außerhalb der Gruppe. (2) Die nhd. Modalverben werden ohne zu konstruiert; sie stehen mit reinem Infinitiv. Sie teilen diese Eigenschaft aber mit einer Reihe von anderen Verben, vgl. oben gehen, kommen, bleiben; auch werden verhält sich in dieser Hinsicht ganz wie die Modalverben. Ferner tendiert brauchen dazu, sich syntaktisch wie die Modalverben zu verhalten, vgl. das brauchst du nicht tun neben dem normgerechten das brauchst du nicht zu tun. (3) In semantischer Hinsicht ist den Modalverben gemeinsam, daß sie "das modale Verhältnis zwischen dem Repräsentanten des Subjekts und dem Verbalgeschehen charakterisieren ... aber auch eine Stellungsnahme des Sprechers ausdrücken können" (GDG 1981:536), bzw. sie bringen "das Verhältnis des Sprechers zur Aussage und das der Aussage zur Realität bzw. zur Realisierung eines Gegebenen zum Ausdruck" (LEWANDCWSKI 1985:688). Sie teilen diese Eigenschaft mit einer Reihe von anderen Verben. Aufgrund der Punkte (1) bis (3) erhält man das Mcdalverbsystem des Nhd.; ob man brauchen dazuzählen soll oder nicht, ist letztendlich eine reine Definitionssache. Die Frage soll hier offenbleiben. Ähnlich problematisch ist die Abgrenzung der Modalverben in den anderen neugerm. Sprachen: Im Nisl., der einzigen Sprache, in der die Bezeichnung 'Prät.präs.' noch ihre volle Berechtigung hat, sind kunna, skulu, munu, mega, eiga (in der Bedeutung 'sollen') in morphologischer Hinsicht gekennzeichnet "Subjektives Modalverb" vs. "Objektives Modalverb" entspricht in anderen Terminologien dem Gegensatz "Modalverben im subjektiven Gebrauch" vs. "Modalverben im objektiven Gebrauch" (so DUDEN 1 9 7 3 : 6 8 f f ) , "epistemisch" vs. "deontisch" (vor allem in der englischsprachigen Literatur) oder "inferentiell" vs. "nicht-inferentiell" (so z . B . SALTVEIT 1 9 7 9 ) .
durch ihre präteritopräsentischen Flexionseigenschaften (nrunu zeigt aber keinen Vokalwechsel zwischen Sg.Präs.Ind. und Pl.Präs.Ind.) und fungieren als Modalverben. Bei purfa könnte der Modalverb-Status in Zweifel gezogen werden. Die gleichen Flexionseigenschaften weisen aber auch vita, unna, muna, eiga (in der Bedeutung 'haben') auf, die eindeutig nicht zu den Modalverben zu zählen sind. Innerhalb der Nisl. Modalverben wird ein Teil mit reinem Inf., ohne ab konstruiert (skulu, munu, mega) , ein anderer Teil steht mit ab + Inf. (kunna, eiga, purfa). Ohne ab wird auch vilja konstruiert, das eindeutig Modalverb ist, aber in seiner Flexion nicht mit den Prät.präs. übereinstimmt. Das starke Verb geta ist ebenso eindeutig Modalverb, steht aber in einer eigenartigen Konstruktion mit dem Supinum. Soll man das schwache Verb &tla + ab + Inf. zu den nisl. Modalverben zählen oder nicht? Diese großen Schwierigkeiten sollen hier nur angedeutet werden. Oder nehmen wir das Nengl.: Hier sind can, may, will, shall, must in morphologischer Hinsicht charakterisiert durch das Fehlen der Endung -s in der 3.Sg.Präs.Ind. und durch das Fehlen zahlreicher Kategorien, z.B. des Inf.? in syntaktischer Hinsicht durch die Konstruktion mit reinem Inf. ohne to. soll man need(s ), ought to, to have to, to be able to etc. zu den Modalverben des Nengl. rechnen oder nicht? Bei need und ought zeigen morphologische und syntaktische Varianten der Umgangssprache, daß sie als Modalverben empfunden werden: need wird endungslos verwendet und ohne to; bei ought, das immer endungslos ist, kann ebenfalls das to fehlen (wenn auch selten), vgl. etwa bei Shakespeare: "You ought not walk upon a labouring day without the sign of your profession." (Julius Caesar, 1. Akt, 1. Szene). Wie gesagt, man könnte in allen neugerm. Sprachen auf ähnliche Abgrenzungsschwierigkeiten hinweisen. Es kann nicht die Aufgabe dieser Arbeit sein, eine eindeutige Definition von 'Modalverb1 aufzustellen, die für alle Sprachen haltbar wäre - eine Aufgabe, die vielleicht unlösbar ist. Wir werden hier wie folgt verfahren: unter 'Modalverben' verstehen wir die nhd. Verben sollen, können, dürfen, mögen, wol'' deutungen ' s o l l e n ' , "können", ' d ü r f e n ' , B u s s e n ' . In den Fällen, in denen durch die Polysemie/Mehrdeutigkeit der nhd. Modalverben Unklarheiten bestehen könnten, verwenden wir zur Präzisierung englische Notationen wie ' a b i l i t y ' , 'possibility 1 etc. In den anderen germ.
Allerdings nur in Sätzen wie hann parf nyjan penna-, eindeutig als Modalverb fungiert purfa in Sätzen wie eg parf au' tala vio kennarann oder Svo parf ekki endilega a5 vera.
Sprachen bezeichnen wir diejenigen Verben als Modalverben, die die gleichen (oder annähernd gleichen) Bedeutungen zum Ausdruck bringen wie die nhd. MV. In diesem Sinne fungiert z.B. zu aisl. eiga in dem Satz a ek par fyrir at sja (Egils saga, Kap. 55) als Modalverb.
Cben wurde schon gesagt, daß in allen germ. Sprachen die Tendenz besteht, die Gruppe der Prät.präs. durch morphologischen und semantischen Wandel in eine Gruppe von Modalverben zu überführen. Dieser Gedanke ist keinesfalls neu, er wurde in der Literatur schon öfter mehr oder minder deutlich ausgesprochen: KÜHN 1939:135 weist bereits darauf hin, HAMMERICH 1960:48f stellt fest, daß einige der Prät.präs. im Got. die Neigung hätten, "abstrakt oder sogar einem Hilfsverb ähnlich zu werden, besonders mag ' k a n n ' , skal 'soll, wird (Futurum ausdrückend)'. ( . . . ) Der Bestand der Präterito-präsentia ändert sich schon in der alten Zeit beträchtlich; wichtig ist, daß sich das Verb 'wollen' oft der präteritopräsentischen Gruppe nähert; hierbei hat aber wohl die Funktion eine größere Rolle gespielt als die Form des Verbs 'wollen 1 . Allmählich entsteht nämlich in den neueren germanischen Sprachen aus der morphologisch charakterisierten alten Gruppe der Präterito-präsentien durch Ausscheidung und Aufnahme die neue Gruppe der Modalverben, die dreifach - sowohl morphologisch als syntaktisch als semantisch - charakterisiert ist."
KERN/ZUTT 1977:63 konstatieren am Ende ihres kurzen Kapitels über die Prät. präs.: "Insgesamt stellen die Präteritopräsentien eine komplizierte Sonderform dar. Morphologisch interessant daran ist, daß es einer kleinen Gruppe, die ein deutliches Gewicht in der S p r a c h v e r w e n d u n g besitzt, nicht n u r gelingt, sich a l s Sonderform zu erhalten und dem allgemeinen Vereinheitlichungsstreben zu entziehen, sondern darüber hinaus sich als eigenständige Gruppe auch funktional konsolidiert (Modalverben) und evtl. sogar verändernde Wirkungen auf das übrige Verbsystem ausübt."
Die Entwicklungen bei den Prät.präs. dienen WURZEL 1984 als ein Beleg für seine Theorie, wann eine Flexionsklasse stabil ist und wann nicht. Nach WURZEL ist eine Flexionsklasse dann stabil, wenn deren Mitglieder gemeinsame außermorphologische (phonologische oder syntaktisch/semantische) Eigenschaften aufweisen. Für die Prät.präs. garantiert die Eigenschaft 'Modalverb' die Stabilität der Gruppe: Q
" Da diese Verben ihre spezifische perfektive Bedeutungskomponente schon im Vorgennanischen verloren hatten, verfügen sie im Germanischen über keine einheitliche semantische Eigenschaft mehr.
8
Eine ausführliche Besprechung von WURZEL 1984 findet sich in 0.2
Wie besonders deutlich die Verhältnisse im Gotischen zeigen, hatte ursprünglich nur der kleinere Teil dieser Verben eine modale Bedeutung. Den fünf Modalverben gi-dars ' w a g e ' , bi-*nah 'kann, m u ß ' , skal 'soll· 1 und parf 'bedarf, habe nötig' [im Druck wurde vratl. mag 'kann' ausgelassen - Th.B.] stehen elf nichtmodale Verben wie u.a. aih ' h a b e ' , man ' m e i n e ' , kann 'weiß, kenne 1 und og 'fürchte' gegegenüber. Auf Grund verschiedener, mehr oder weniger zufälliger Sprachveränderungen (Verlust von Verben, Bedeutungsverschiebungen) hat sich verglichen damit die Situation im Mittelhochdeutschen ziemlich verändert. Hier gibt es nur noch die drei nichtmodalen Präteritopräsentien gunnen/günnen 'gönnen, erlauben', tugen/tügen 'helfen, nützen' und wizzen 'wissen' neben sechs Verben mit modaler Semantik, .vgl. dürfen/ dürfen "brauchen, ( b e - ) d ü r f e n ' , kunnen/künnen 'können, verstehen 1 , mugen/mügen 'können', müezen 'sollen, müssen, können, mögen, d ü r f e n ' , suln/süln 'müssen, sollen' und turren/türren ' w a g e n ' . Entsprechend setzt bald die außermorphologische Motivierung der Flexionsklasse der Präteritopräsentia durch die semantische Eigenschaft 'Modalverb' ein. Das zeigen Flexionsklassenübertritte in beide Richtungen. Nichtmodalverben verlassen die Klasse der Präteritopräsentien,und Modalverben treten in diese Klasse ein. Das soll anhand eines besonders auffälligen Kennzeichens der Präteritopräsentien, der t-losen 3.PS.Sg.Präs.Ind., belegt werden, vgl. er kann vs. er sag-t: Schon vom 13. Jahrhundert an werden die t-losen Formen der nichtmodalen Präteritopräsentien tugen und gunnen durch t-Formen ersetzt, vgl. er touo > er toug-et und er gan > er gan(e)t (> gönn-t). Andererseits schließt sich das modale Verb wellen 'wollen', das nicht zu den Präteritopräsentien gehörte und über eine eigene Flexion des Musters ich wil-e, du wil-e, er wil-e} wir wellen usw. verfügte, den Präteritopräsentien an, vgl. er wile > er wil wie er kan. In verschiedenen deutschen Dialekten und Umgangssprachen ist dann auch das letzte verbleibende Modalverb brauchen in diese Klasse übergetreten, vgl. er brauch für er brauoh-t. Die gegenseitige Zuordnung der außermorphologischen Eigenschaft 'Modalverb' und der Flexionsklasse ohne /t/ in der 3.PS.Sg.Präs.Ind. ('Präteritopräsentien 1 ) wird nur noch durch das Verb wissen mit der Form er weiß durchbrochen!" WURZEL 1984:149
Im Wesentlichen ist das die Auffassung, die auch in dieser Arbeit vertreten wird. Differenzen gegenüber WURZEL ergeben sich in der unterschiedlichen Beurteilung der Bedeutung von Frequenzkriterien für den morphologischen Wandel, vgl. 0.2 und besonders 0.4. Im Hauptteil der Arbeit (Kap. 2-11) wird der Versuch unternommen, für den gewählten Zeitraum und die gewählten Sprachen wirklich alle Entwicklungen, die bei den Prät.präs. eingetreten sind, in den Blick zu nehmen und im Rahmen der in 0.4 entwickelten Hypothesen zu bewerten. Nicht unterschlagen werden können und dürfen dabei die Entwicklungen, die nicht so recht zu den oben angeführten Behauptungen passen wollen, etwa die Bewahrung von wissen als Prät. präs. bzw. irregulärem Verb· in fast allen Sprachen (nicht jedoch im Nengl.!), das Überleben von nicht-modalen Prät.präs. im Nisl. oder die Beseitigung der Vokalalternation zwischen Sg. und Pl.Präs.Ind. bei nhd. sollen. Trotz dieser Gegenbeispiele kann aber die tendenzielle Gültigkeit der Thesen gezeiqt vrerden.
9 NEUERE ANSÄTZE ZUR THEORETISCHEN MORPHOLOGIE UND ZUM MORPHOLOGISCHEN WANDEL
0.0
Vorbemerkungen:
Wir werden in diesem Kapitel einige größere Arbeiten vorstellen und besprechen, die in letzter Zeit erschienen sind und sich mit der Theorie des morphologischen Wandels befassen. Auf die ältere Literatur (mit dem 188O erstmalig erschienenen und immer noch aktuellen "Prinzipien der Sprachgeschichte" von Hermann PAUL) und auf die Irrwege der Generativen Historischen Morphologie (z.B. KING 1969) soll hier nicht eingegangen werden, da erstere zum wissenschaftlichen Allgemeingut gehören und als bekannt vorausgesetzt werden können; die generativen Arbeiten sind dagegen aus der derzeitigen Diskussion weitgehend verschwunden; es wird auf sie selbst von ihren Verfassern nur noch mit merklicher Zurückhaltung und mit Revisionen Bezug genommen (etwa in WURZEL 1984:101 und 143 2 ). Nun sind gerade seit Beginn der achziger Jahre eine Reihe von Arbeiten erschienen, die aufgrund neuer Ansätze bemüht sind, der Morphologie wieder den "ihr in der Gratmatikforschung gebührenden Platz zukommen zu lassen" (WURZEL 1984:11). Für das gestiegene Interesse an Historischer Morphologie ist auch FISIAK 198O ein sichtbarer Ausdruck. Die theoretische Neuorientierung ist teils charakterisiert durch die Übertragung des ursprünglich in der Phonologie entwickelten Natürlichkeitskonzepts auf die Morphologie (so MAYERTHALER 1981 und WURZEL 1984), teils durch die Einbeziehung des Aspekts der Sprachverwendung und der Sprachökonomie (so RONNEBERGER-SIBOLD 198O; vgl. auch WERNER 1984a, b). Das sind auch die Arbeiten, die hier besprochen werden sollen.
"Die generativ-morphologischen Arbeiten waren dadurch gekennzeichnet, daß sie morphologische Gegebenheiten auf der Basis von Konzepten der generativen Phonologie, teilweise auch der generativen Syntax, zu behandeln und zu erklären suchten. Es erscheint heute verständlich, daß auf diese Weise die Spezifik morphologischer Strukturbildung, d.h. die (relative) Eigengesetzlichkeit der Morphologie innerhalb des Sprachsystems nicht hinreichend erfaßt werden konnte." "Aus diesem Grunde ist auch die Behandlung der neuhochdeutschen 0-Plurale in WURZEL (197Oa) unangemessen.".
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MAYERTHALER und WURZEL geht es um die Regulär!täten, die sich in der Entwicklung morphologischer Systeme aufzeigen lassen; die Irregularitäten bleiben weitgehend außerhalb ihrer Betrachtung. Dagegen versucht RONNEBERGERSIBOLD 198O, die verschiedenen Typen morphologischen Wandels in einem übergreifenden Modell zu bewerten, in dem neben den Regular!täten auch die Irregularitäten (oder das, was allgemein als solche bezeichnet wird) ihren Platz finden. Ein besonders kontroverser Punkt in der derzeitigen Diskussion ist die Frage, ob die Frequenz (systematische oder Gebrauchsfrequenz) für den morphologischen Wandel eine Rolle spielt. MAYERTHALER leugnet dies vehement, WURZEL schweigt weitgehend zu diesem Thema, bei RONNEBERGER-SIBOLD ist es eines der grundlegenden Axiome; in dieser Arbeit wird die Frequenz als Erklärungsprinzip eine wichtige Rolle spielen. Unter diesen Gesichtspunkten sollen in diesem Kapitel die einzelnen Werke besprochen werden; Seitenzahlen als Zitatnachweis beziehen sich dabei jeweils auf das in der Überschrift angegebene Buch, also in 0.1 auf MAYERTHALER 1981, in 0.2 auf WURZEL 1984 und in O.3 auf RONNEBERGER-SIBOLD 1980. 0.1
Willi MAYERTHALER: "Morphologische Natürlichkeit" (1981): "Nicht alle morphologischen Strukturen sind in natürlichen Sprachen gleichermaßen verbreitet, nicht alle morphologischen Prozesse und Strukturen werden von Kindern zur selben Zeit erworben, nicht alle morphologischen Strukturen werden vom Sprachwandel gleichermaßen affiziert, nicht alle morphologischen Prozesse und Strukturen werden von Sprachstörungen gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen, nicht alle morphologischen Strukturen sind gleichermaßen leicht dekodierbar. Beobachtungen dieser Art sind seit langem bekannt, unklar bzw. kontrovers ist jedoch ihre Deutung." (2)
Diese Feststellungen stellen den Ausgangspunkt für MAYERTHALER dar; mit seinem Buch möchte er einen "systematischen Beitrag zur Explikation von 'Natürlichkeit' bzw. 'Unmarkiertheit' leisten" ( 1 ) . Natürlichkeit ist sein zentraler Begriff, wie schon aus dem Titel des Buches hervorgeht. Als 'natürlich1 bezeichnet MAYERTHALER einen morphologischen Prozeß, wenn er mit einer der obigen Feststellungen übereinstimmt, d.h. in natürlichen Sprachen weit verbreitet,
gegenüber Sprachwandel relativ resistent ist oder durch Sprachwandel
häufig entsteht, und wenn er im Spracherwerb relativ früh erworben wird. Natürlichkeit ist immer ein relatives Phänomen: 'ein Prozeß ist natürlich' bedeutet: 'ein Prozeß X ist relativ natürlicher als ein Prozeß Y 1 . Der Begriff 'Natürlichkeit' kann dann dem der 'Markiertheit1 zugeordnet werden,
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indem man eine maximal natürliche Struktur als maximal unmarkiert, und eine unnatürliche Struktur als markiert bezeichnet (2). Markiertheit und Natürlichkeit bilden dabei eine Skala von maximal bis minimal natürlich bzw. markiert. Als heuristische Quellen für die Bestimmung von Natürlichkeitswerten dienen MAYERTHALER die folgenden Punkte ( 4 f ) : 1l) (2) (3) (4) (5) (6) (7). (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14)
Spracherwerb Ammensprache/baby talk Perzeptionstests Fehlerlinguistik Sprachstörungen Sprachwandel Pidgin- und Kreolsprachen Sprachtypologie Frequenzkriterien Richtung von Analogien Irregularitäten Richtung von Neutralisationen Art der Symbolisierung/Kodierung Zugangseigenschaften (Accessibility)
Hier werden Frequenzkriterien zwar als heuristisches Mittel genannt, später jedoch von MAYERTHALER ausdrücklich verworfen. Die Liste beinhaltet synchrone und diachrone Kriterien; man kann MAYERTHALER nur zustimmen, wenn er meint: "Zugleich glauben wir nicht an die Möglichkeit einer synchronischen Sprachwissenschaft in dem Sinne, daß es möglich sei, eine adäquate Grammatik unter Ausklammerung der Zeitdimension zu schreiben. Was sich im Sprachwandel durchsetzt, muß erworben worden und dermaßen auch psychisch real sein; Eine wohlverstandene historische Linguistik konstituiert insofern einen besseren Zugriff auf psychische Realität als weite Teile der sich als aktueller und effizienter verstehenden Psycholinguistik." (5)
Idealiter weisen alle der oben aufgelisteten Quellen in die gleiche Richtung, was die Markiertheit zweier oder mehr zu vergleichender Prozesse oder Strukturen betrifft: Ein weniger markierter Prozeß m wird normalerweise vor den markierteren m erworben, m wird in der Kindersprache zu vermeiden getrachtet, m wird leichter dekodiert als m, m verursacht leichter Fehler als m, m wird von Aphatikern leichter verloren als m, bei Sprachwandel und analogischem Ausgleich gewinnt meist m, bei Pidginierung wird vorzugsweise m abgebaut, m ist sprachtypologisch weiter verbreitet als m usw. Für den Sprachwandel bzw. morphologischen Wandel gilt somit: morphologischer Wandel ist dann natürlich, wenn durch ihn Markiertheit abgebaut wird. Markiertheitswerte spiegeln die Komplexitätsgrade morphologischer Strukturen und Operationen, sind dabei aber nicht innergrammatisch zu interpretieren, sondern entsprechen unbewußten Tewertungsprozeduren der Sprecher,
12
besitzen also psychische Realität ( 9 ) . Das Prädikat 'merkmallos' bzw. 'merkmalhaft' macht eine Aussage über innergranmatische Zusammenhänge, 'markiert' bzw.
'unmarkiert1 sind dagegen Evaluationsprädikate. Funktion der Morphologie ist es, morphologische Kategorien durch morpho-
logische Operationen auf ihre Oberflächenrealisierungen/Symbolisierungen/Kodierungen abzubilden. Davon ausgehend unterscheidet MAYERTHALER drei verschiedene Type11 von Markiertheit: (1) Semantische Kategorienmarkiertheit, die angibt, wie stark eine Kategorie inhaltlich markiert ist;
ergibt sem-Werte.
(2) Kodierungs- bzw. Symbolisierungsmarkiertheit; gibt an, wie stark markiert eine einzelsprachliche Kodierung (d.h. der Ausdruck) ist und wird festgelegt als sym-Werte. (3) Abgeleitete Markiertheit für kodierte/symbolisierte Kategorien; hierfür werden aufgrund eines morphologischen Markiertheitskalküls (MMK) m-Werte berechnet in Abhängigkeit von sem- und sym-Werten. Ein Inhalt-Ausdruck-Verhältnis wird also durch die m-Werte charakterisiert (10f). Die semantische Kategorienmarkiertheit, bzw. der sem-Wert gibt an, inwieweit eine morphologische Kategorie prototypische Sprechereigenschaften spiegelt (13). Prototypische Sprechereigenschaften rekurrieren auf biologischneurologische Gegebenheiten des Sprechers und auf die Pragmatik der (als ideal vorzustellenden) Sprechsituation: "Der (prototypische) Sprecher präsupponiert sich mit seinen Eigenschaften (darunter auch solche, die er sich nur selbst zuschreibt), insbesondere versteht er sich als Person; qua Person steht er an der Spitze der Belebtheitshierarchie und selbstredend ist er "human 1 . Der Sprecher koinzidiert mit der ersten Person und da er normalerweise nicht im Chorus spricht, kommt ihm die Kategorie 'Singular' zu. Der Sprecher lebt in der realen Welt ([+ Indikativ]) und ist zumindest in europäisch geprägten Gesellschaften männlich ([+ maskulin]), - oder anders gesagt: - Ein weiblicher Sprecher ist in unseren Sozietäten zwar möglich [sie!], aber nicht prototypisch bzw. semantisch markiert. Der Sprecher macht sich auch ein positives Bild von sich bzw. er ist [ + positiv] und affirmativ! Schließlich sind für die Sprecherwahrnehmung manche Entitäten leichter zugänglich (perzep.) als andere (perzep.)." (13)
Eine weitere Auswahl: der prototypische Sprecher geht aufrecht, was einen Selektionsvorteil darstellt; folglich ist [vertikal] semantisch weniger markiert als [horizontal]; er hat die Augen im Kopf und nicht etwa in den Zehen,
also ist [oben] weniger markiert als [unten]; er ist Rechtshänder;
also ist [rechts] weniger markiert als [links]; usw. Aus diesen und weiteren "intuitiv folgerbaren" Gegebenheiten leitet MAYERTHALER "letztlich problemlos" (15) Markierungsbeziehungen wie die folgenden ab, die universell gültig sind:
13 - sem
= "Subjekt ist semantisch weniger markiert als Objekt"
< - sem - sem < - sem
- sem
Die jeweils erste, semantisch weniger markierte Kategorie nennt MAYERTHALER Basiskategorie. Sie soll dann auch in den Sprachen weniger markiert symbolisiert werden als die andere (n) Kategorie (n) . Die Symbolisierungsmarkiertheit gibt an, wie eine Kategorie symbolisiert wird. Eine Symbolisierung ist optimal bzw. maximal natürlich, wenn sie "konstruktionell ikonisch, uniform und transparent ist, andernfalls mehr oder minder unnatürlich." (22). Einwirkungen der Phonologie sollen dabei ausgeschlossen sein, es geht nur um die Morphologie als autonomes, geschlossenes System. Das Prinzip des konstruktionellen Ikonismus ist "eines der konstituiven Züge jeglicher Morphologieorganisation." (23), und hat eine starke und eine schwache Ausprägung: die starke Ausprägung besagt, daß eine semantisch unmarkierte Kategorie merkmallos symbolisiert werden sollte und eine markierte Kategorie merkmalhaft. Die schwache Ausprägung besagt, daß die markierte Kategorie relativ merkmalhafter symbolisiert werden sollte als die semantisch unmarkierte Kategorie. Das Verhältnis von lat. longus zu longior spiegelt für MAYEKTHALER die starke Ausprägung, das von longior zu longissimus die schwache Ausprägung des konstruktioneilen Ikonismus. Innerhalb der merkmalhaften Kodierung lassen sich verschiedene Untertypen feststellen, so daß sich die folgenden Symbolisierungstypen unterscheiden lassen (24) : Symbolisierung merkmallos (engl. PI.
merkmalhaft
buffalo)
additiv merkmalhaft segmental-additiv (boy - s) merkmalhaft (long -
)
modulatorisch merkmalhaft (feet )
modulatorisch-additiv (arab. alläti )
merkmalhaft ( long - issimus)
14
Eine Symbolisierung ist dann: (1) maximal ikonisch - wenn konstruktioneller Ikonismus vorliegt und der Typus segmental-additiv, (2) minimal ikonisch - wenn der modulatorische Typus vorliegt, (3) nicht-ikonisch - wenn kein konstruktioneller Ikonismus vorliegt, (4) kontraikonisch - falls sich die Asymmetrie der semantischen Markiertheitswerte auf eine inverse Asymmetrie der Symbolisierung abbildet, "Das Prinzip des k(onstruktionellen) Ik(onismus) begründet, weshalb in natürlichen Sprachen sem-Kategorien vorzugsweise merkmalhafter kodiert werden als Basiskategorien. Intuitiver Hintergrund: Was semantisch "mehr" ist, soll auch konstruktioneil "mehr" sein." ( 2 5 ) .
Es drängt sich natürlich die Frage auf, wieso ein Fall wie engl. Sg. foot Pi. feet minimal ikonisch sein soll. Uniforme Symbolisierung bedeutet, daß ein Paradigma nach dem Prinzip One function - one form1 organisiert sein sollte, daß also keine Allomorphe auftreten sollen. Ein Inhalt sollte immer den gleichen Ausdruck haben. Transparenz liegt schließlich vor, wenn ein Paradigma sich "durch monofunktionale Operationen konstituiert bzw. nur monofunktionale Flexive/Derivative aufweist" (35). Die gleichen Ausdrücke sollen deshalb immer für dieselben Inhalte stehen. Eine ideale Morphologie wäre nach MAYERTHALER also in strengagglutinierenden Sprachen realisiert; daß es zur Ausbildung solcher Systeme nur selten kommt, liegt an dem Eingreifen der Phonologie in die morphologische Symbolisierung, an dem Natürlichkeitskonflikt zwischen Phonologie und Morphologie (der realiter wohl kaum die einzige Ursache ist). Für die Problemstellung dieser Arbeit interessant ist das optimale Verbparadigma, das MAYERTHALER aufstellt (38); es sollte im Präs.Ind. folgendes Aussehen haben (zum Vergleich geben wir auch die tatsächlich auftretenden Formen in einigen germ. Sprachen): l.Sg. 2.Sg. 3.Sg. l .Pl. 2.P1. 3.Pl.
Stamm Stamm Stamm Stamm Stamm Stamm
+ XI + X2 + X' l + X'2
nhd .
aisl .
nengl .
got .
geb-e gib-st gib-t geb-en geb-t geb-en
kern
come some come-s come come come
bair-a bair-is baiv-ip baiv-am baiv-ip bair-and
kem-T kem-T kom-um kom—ip kom-a
So ganz stimmen die Formen ja wohl nicht mit der Theorie überein. Bei der 1. vs. 3.Sg. + Pl. ist bereits berücksichtigt, daß hier "Markiertheitsumkehrung" (s. unten im Text) eintritt.
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Formen, die diesem Master entsprechen, erhalten kleine sym-Werte; abweichende Formen erhalten entsprechend höhere sym-Werte. Schlecht im Sinne der Symbolisierungsmarkiertheit sind Allomorphie, Suppletion, Erscheinungen wie Deponentia und auch die Prät.präs. Aber solche die Theorie störende Erscheinungen interessieren MAYEKTHALER nicht besonders. Für die Suppletion erkennt er an, daß sie möglicherweise funktional sein könnte, geht diesem Punkt aber nicht weiter nach. Zu den Prät.präs. meint er: "Deponentia und Präteritopräsentia sind von ihrer Kodierung her gesehen eine "morphologische Katastrophe". Daß ihre Entstehung durch einen speziellen Typ semantischen Wandels wohlbegründet ist, wird durch die obigen Festlegungen nicht in Abrede gestellt. Man vgl. aber, daß in der Geschichte aller Sprachen Deponentia und Präteritopräsentia Schwundtendenzen aufweisen bzw. vollständig verloren gehen." (39)
Wir hoffen, in dieser Arbeit diese und ähnliche Vorstellungen korrigieren zu können und zu differenzierteren Aussagen über die Prät.präs. zu kommen, was bei einer anderen theoretischen Grundlage durchaus möglich ist. Nach der Bestimmung der sem- und sym-Werte kann man für jede beliebige Form deren m-Wert berechnen. Im einfachsten Fall koinzidieren sem- und symWert, dann ist der m-Wert gleich dem sym-Wert (41). Für MAYERTHALER ist dies der "Normalfall" (40). Er kommt dann zu folgenden beiden Theoremen der Markiertheitstheorie: (1) m ->· m (2) m : m -> m die sich wie folgt umschreiben lassen: (1) Morphologischer Wandel verläuft immer von mehr Markiertheit zu weniger Markiertheit, stellt also einen Abbau von Markiertheit dar. (2) Konkurrieren zwei Formen miteinander, von denen die eine einen höheren m-Wert als die andere hat, so setzt sich die Form mit dem niedrigeren mWert, die natürlichere also, durch (41). Wenn sem- und sym-Werte nicht koinzidieren, d.h. die Kodierung nicht ikonisch ist, dann konfligieren sie (43). Eine Störungsquelle des konstruktionellen Ikonismus kann auch die Phonologie sein, wenn etwa durch phonologischen Wandel Endungen schwinden; Einflüsse von Pragmatik, Syntax und Semantik können ebenfalls den konstruktioneilen Ikonismus stören (ohne daß MAYEKTHALER dafür Beispiele gäbe), und auch innermorphologische Konflikte können auftreten, wenn etwa in einer Sprache Pers./Num. irtmer in einer Endung gleichzeitig realisiert werden und dann in der 3.P1. die S.Pers. eigentlich merkmallos, der Pl. jedoch merkmalhaft kodiert sein sollte (45).
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Schließlich postuliert MAYERTHALER noch ein Phänomen, das er "Markiertheitsumkehrung'1 nennt, und das inmer dann wirksam wird, wenn ein markierter Kontext vorliegt. Markiertheitswerte sind also kontextsensitiv, die Morphologie ist damit nicht mehr autonom (48). Ein Beispiel (49f): im Lat. sollte bei Ausgleich der beiden Formen Nom.Sg. *las - Nbm.Pl. laves (Differenzierung durch Rhotazismus) eigentlich *las - *lases resultieren, da der Sg. weniger markiert ist als der Pl. Aufgrund der römischen Mythologie kommt das Wort aber fast nur im Pl. vor, und diese Eigenschaft bildet einen markierten Kontext. Dieser bewirkt Markiertheitsumkehrung, der Sg. ist dann markierter als der Pl., und das ergibt beim Ausgleich die Formen Zar - lares (man könnte bei diesem Beispiel auch einfach sagen, daß die Frequenz eine Rolle spielt). Zu einer Kritik dieses Konzepts vgl. WURZEL 1984:25f: "Die etwas vage formulierte Festlegung, daß der markierte Kontext einer Markiertheitsumkehrung in einem kausalen Zusammenhang mit den Kategorien/ Formen stehen muß, zwischen denen sich die Markiertheitsumkehrung abspielt, bedarf natürlich der Präzisierung. Bei MAYERTHALER fehlt eine solche Einschränkung des Konzepts der Markiertheitsumkehrung ganz. Damit ist Markiertheitsumkehrung in jedem Kontext zugelassen, der - gleichgültig, in Hinsicht worauf - markiert ist, was für eine sehr große Anzahl von Kontexten z u t r i f f t . Deshalb ist MAYERTHALERs Konzept der Markiertheitsumkehrung zu weit, verliert an intuitiver Plausibilität und erscheint letztendlich als ein rein technischer Trick zur Beseitigung störender Markiertheit."
Sein Konzept der Markiertheit bzw. der morphologischen Natürlichkeit faßt MAYERTHALER in den Sätzen zusanmen: "Morphologische Markiertheit/Unnatürlichkeit ist Perzeptionskomplexität" "Prototypische Sprecherkategorien...sind dann insgesamt perzeptiv 'leicht' ..., wenn sie morphologisch gut 'verpackt1 sind..., andernfalls nicht." (62) Ausschlaggebend ist für MAYERTHALER also die Perzeption; die Sprachproduktion bzw. aus ihr resultierende Gesichtspunkte spielen (anders als bei der phonologischen Natürlichkeit) bei der Bewertung morphologischer Strukturen kaum eine Rolle. Über die Natürlichkeit morphologischer Einheiten (das sind Formative (Morpheme) und Wörter) entscheidet also in erster Linie die Perzeption. Segmentale Formative sind für die Perzeption günstig und deshalb natürlicher als nicht-segmentale (103), Infixe sind perzeptiv komplexer als Prä- und Suffixe und deshalb hochgradig markiert und unnatürlich. Neben solchen innermorphologischen Gegebenheiten spielen auch andere Parameter eine Rolle, etwa der Wortstellungstyp der jeweiligen Sprache und die Phonologie: So treten in SVÖ-Sprachen vorzugsweise Präfixe und in SOV-Sprachen vorzugsweise Suffixe auf, bzw. sie sind in diesen Sprachen natürlicher. Es ist dies einer der wenigen Punkte, bei denen ein Einfluß des jeweiligen
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Sprachsystems auf die ansonsten (für MAYEKTHALER) universell gültigen Natürlichkeitskriterien vorgesehen ist. Ansonsten gilt für Wörter, was oben schon für die Syrnbolisierungstypen galt: Ein Wort ist maximal natürlich, wenn es nach den Prinzipien "konstruktioneller Ikonismus - Uniformität - Transparenz" aufgebaut ist,
andernfalls
mehr oder weniger unnatürlich. Natürlicher morphologischer Wandel zielt auf natürliche Formen/Wörter (107). Ein weiterer Teilaspekt, den MAYERTHALER untersucht, ist die Natürlichkeit morphologischer Prozesse, worunter er jede Operation versteht, "welche eine morphologische Kodierungsfunktion erfüllt oder automatisches Resultat einer morphologischen Kodierung darstellt." (108). Insgesamt lassen sich folgende (synchrone) morphologische Prozesse unterscheiden: morphologische Prozesse
paradigmatische
syntagmatische + additive
analogische
- additive
+ segmental
- segmental
Affigierung
Reduplikation
modulativ
0-Prozesse
substitutive
subtraktive Kontamination
modulativ-additiv (nach MAYERTHALER, 111)
Ein paradigmatischer Prozeß liegt vor, wenn als Basis ein Paradigma oder Teile eines Paradigmas explizit involviert sind, also etwa bei der Bildung des Komparativs besser zu gut; hierunter fallen also alle Suppletivformen. In einer Anmerkung hierzu meint MAYERTHALER: "Der Frage, weshalb Sprachen in ihrer Suppletionssensitivität so drastisch variieren, kann hier nicht weiter nachgegangen werden; vgl. hierzu die einschlägigen, meist idg. Arbeiten über Suppletionsentstehung." ( 1 8 2 ) .
Bei den nichtadditiven syntagmatischen Prozessen unterscheidet MAYERTHALER modulatorische Prozesse (z.B. qualitativer Ablaut, Unlaut, Akzentveränderungen) , 0-Prozesse (z.B. im Engl.: Verbum (to ) look -* Substantiv look), subtraktive Prozesse (z.B. Kurzwortbildungen wie Bus und Abkürzungen wie SA) und Kontamination (wie z.B. in smog aus smoke + fog). Bei den additiven Prozessen sind unter modulatorisch-additiven Prozessen u.a. alle Sorten von Expressivgemination und Längung irgendwelcher Segmente
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mit morphologischer Kodierungsfunktion erfaßt (z.B. quantitativer Ablaut beim Verb). Jeder morphologische Prozeß hat sein spezifisches ikonisches Funktionspotential, d.h. er ist für die Kodierung spezifischer semantischer Kategorien mehr oder weniger geeignet (112): Praktisch kein Funktionspotential haben 0-Prozesse (wenn sie auftreten, handelt es sich vermutlich um "morpho4 logische Unfälle"), Kontaminationen und subtraktive Prozesse (in der Flexion stellen auch sie "morphologische Unfälle" dar ( 1 1 3 ) ) . Ein geringes Funktionspotential haben modulatorische Prozesse; sie verweisen wie additive Prozesse auf markierte Kategorien, doch nicht in optimaler Weise. Ihre Entstehung verdanken sie hauptsächlich der Morphologisierung ehemals phonologischer Prozesse. Reduplikative Prozesse sind geeignet, "Intensiv-Bildungen" zu kodieren, worunter Plural(ität), Abundanz, Iterativa, Habituativa, Frequentativa, Kontinuativa, Distributiva, Augmentativa, Intensiva und Emphase zu rechnen sind (116). Das weiteste Funktionspotential haben affigierende Prozesse: sie kodieren semantisch markierte Kategorien jeder Art. Segmental-additive Prozesse sind somit aufgrund ihrer größeren Transparenz allen anderen Prozeßtypen überlegen. Als natürlich ist ein Prozeßtyp anzusehen, wenn er innerhalb seines ikonischen Funktionspotentials angewandt wird, andernfalls mehr oder weniger sem-unnatürlich und damit semantisch markiert (12O). Fungiert der Prozeß innerhalb seines ikonischen Funktionspotentials, und erzeugt er gleichzeitig einen durchsichtigen Output, dann ist er semantisch maximal unmarkiert. Die Symbolisierung einer semantisch markierten Kategorie ist
(1) unmarkiert,
wenn der Prozeß additiv ist, (2) maximal unmarkiert, wenn er segmental-additiv ist, (3) markiert, wenn der Prozeß nicht-additiv ist, kiert, wenn er subtraktiv ist (121).
(4) maximal mar-
Dann gilt für die Natürlichkeit morphologischer Prozesse zusammenfassend: Ein morphologischer Prozeß ist maximal natürlich, wenn er innerhalb seines ikonischen Funktionspotentials operiert, und wenn er konstruktionell durchsichtige Formen erzeugt. Konkret bedeutet das, daß die meisten morphologischen Kategorien außer den Basiskategorien mit Hilfe von segmental-additiven Prozessen gebildet werden sollten. Innermorphologischer Wandel zielt auf möglichst große Prozeßnatürlichkeit, d.h. er strebt agglutinierende Strukturen an.
Subtraktive Prozesse dienen 1) zur Bildung pejorativer Eigennamen, 2) zur Bildung hypochoristischer Rufnamen.
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Die Produktivität eines morphologischen Prozesses ist nicht gleichzusetzen mit seiner Natürlichkeit. Hier spielen weitere Faktoren eine Rolle: Inputund Regelbeschränkungen sowie die sprachspezifische Normalität bzw. Systemangemessenheit (132). Sie stellen eine Behinderung der unbeschränkten Ausbreitung natürlicher Prozesse dar, z.B. infolge lexikalischer Blockierung (MAYERTHALER gibt das nicht unbedingt treffende Beispiel *Stehler, das nicht bildbar sei, da bereits Lieb existiert). Weitere Behinderungen können sich ergeben aufgrund des - inmer vorhandenen - Natürlichkeitskonflikts zwischen Phonologie und Morphologie. Wenn ein Prozeß produktiv ist, dann ist er auch regulär (136). MAYERTHALER wendet sich damit gegen die weitverbreitete Auffassung, 'Regularität' sei aus der Vorkommenshäufigkeit eines Prozesses herzuleiten. Er spricht numerischen Argumenten und besonders Frequenzkriterien jeglichen explanativen Wert ab. Frequenz kann allenfalls als relativ oft zutreffende Daumenregel für die Bestimmung morphologischen Wandels in Frage kommen (137), aber auch das nur, weil sie für MAYERTHALER ein Epiphänomen der Natürlichkeit ist. Es gilt also nicht die Beziehung: was relativ frequent ist,
ist dadurch natür-
lich, sondern: die Natürlichkeit eines Prozesses bedingt seine hohe Frequenz. Wir erlauben uns darauf hinzuweisen, daß iMAYERTHALER die Markiertheitswerte ursprünglich auch aufgrund von Frequenzkriterien (Punkt 9 der Liste auf S. 11 oben) gewonnen hat. Wenn wir MAYERTHALERs Ansatz und die daraus resultierende Theorie zusammenfassend werten, dann kommen wir zu folgender Beurteilung: Es ist
sicher
ein Verdienst dieses Buches, daß gezeigt wird, daß Natürlichkeitskriterien eine Rolle für die Morphologie oder für gewisse Arten von morphologischem Wandel spielen können. Viele der Beispiele MAYERTHALERs dokumentieren das in überzeugender Weise.
Falsch ist aber in unseren Augen die Absolutheit,
Andere Beispiele MAYERTHALERs fordern allerdings Protest geradezu heraus: Konfrontiert mit dem Problem, daß in zahlreichen Sprachen die Kodierungen mit dem Modell einfach nicht übereinstimmen, äußert sich MAYERTHALER zum Paradigma des Ind.Präs, von aisl. skiota ( 1 4 3 f ) . Er stuft es als übermarkiert bzw. als "ziemlich pathologisch" ein, was verständlich ist, wenn man es mit MAYERTHALERs optimalem Verbparadigma vergleicht. Nach der Theorie können übermarkierte Paradigmen nicht stabil sein, man sollte also einen Abbau von Markiertheit erwarten. Nach MAYERTHALER ist dies auch tatsächlich erfolgt ( ! ) , wie ein Blick auf das Paradigma von nisl. bjodb. zeigen soll. Wir stellen hier die beiden Paradigmen nebeneinander, die auch MAYERTHALER miteinander vergleicht (wobei der Wechsel von skjota zu bjoda. rätselhaft bleibt}.:
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mit der MAYERTHALER ausschließlich Natürlichkeitskriterien als Erklärung für morphologischen Wandel darstellt. Die völlig Ablehnung von Frequenzkriterien ist bedenklich, da man auf sie zur Ermittlung von Markiertheitswerten rekurrieren muß. Vor allem aber fehlt in MAYERTHALERs Theorie fast vollständig eine Berücksichtigung (und Analyse) der Charakteristika individueller Sprachsysteme. Es erscheint uns unmöglich und unglaubhaft, daß der gleiche Wandel für eine Sprache wie etwa das Engl. und das Isl. gleich "gut" bzw. normal sein soll. Eine modulatorische Pl.-Bildung etwa ist im Engl. eine markierte Ausnahme, im Isl. hat sie einen weit höheren Mörmalitätsgrad. Solche Punkte berücksichtigt MAYERTHALER nicht, es sei denn in dem Konzept der Markiertheitsumkehrung, das dann allerdings wirklich zum Deus ex machina würde. Kein Interesse hat und keine Erklärungsmöglichkeit bietet MAYERTHALER für die Irregularitäten morphologischer Systeme, die jede Sprache aufweist; aisl.
nisl.
sky t skytr skytr skiötom skiötep skiota
eg bycf pu bydwc harm byduv viaT bjödum pid^bjodid pe-ir bjoda
MAYERTHALER kommentiert dann diese Paradigmen wie folgt: "Zwar ist die 1. Pers. auch im mod. Isl. endungslos, aber das stellt im Gegensatz zum Aisl. keine Problematik mehr dar, da die 1. Person durch das Pronomen eg 'ich' kodiert wird. Analoges gilt für den Zusammenfall der Verbalendungen in der 2. und 3. Sing, und für den Synkretismus zwischen der 3. Plur. und dem Infinitiv: Auch hier kodiert das ( n e u ) i s l . Personalpronomen den jeweiligen Kontrast eindeutig." ( 1 4 4 ) . Das soll wohl heißen: im Gegensatz zum Aisl. sind im Nisi, die Pers./Num.-Endungen beim Verb nicht mehr relevant, da deren Funktion von Personalpronomina übernommen wurde. Es entsteht dann der Eindruck, als hätte das Aisl. noch keine Personalpronomina gekannt oder sie weniger verwendet, was natürlich ein völlig abwegiger Gedanke ist. Hier wird also ein Problem durch bewußte Irreführung des Lesers unter den Tisch gekehrt. MAYERTHALER fährt dann fort: "Trotzdem sind auch Paradigmen des obigen Typs noch nicht optimal (da doppelstämmig, also nicht uniform: Die Doppelstämmigkeit wurde wohl bewahrt, da sie durch Morphologisierung funktional wurde bzw. die Opposition 'Sind. : P l u r . 1 koenkodiert), aber immerhin wesentlich natürlicher als die entsprechenden aisl. Paradigmen." ( 1 4 4 ) . Wieso das Paradigma im Nisl. natürlicher als das des Aisl. sein soll, wird wohl MAYERTHALERs Geheimnis bleiben; lediglich die 2./3.Sg. sind phonologisch natürlicher geworden, in morphologischer Hinsicht hat sich doch nichts geändert. Die Doppelstämmigkeit (= der Vokalwechsel —y- vs. -JO-) stellt im Nisl. wie im Aisl. eine (redundante) Markierung der Kategorie 'Numerus 1 dar, das ist richtig; von MAYERTHALER verschwiegen werden allerdings die sehr häufigen Vokalalternationen vom Typ vid fÖTwn - pid farid - peif fara, wo die Verhältnisse noch etwas komplizierter liegen.
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das wird deutlich an seiner Fußnote zum Suppletivwesen, die oben referiert wurde. Prinzipien wie Differenzierung im Paradigma und Funktionalität von Redundanz, durchaus morphologische Prinzipien, kennt MAYERTHALER nicht, oder er erkennt sie nicht an. Sein Ansatz ist daher zu einseitig ausgerichtet. Die Ergebnisse, die er postuliert, lassen sich in keiner natürlichen Sprache als vollständig verwirklicht nachweisen - besonders krass zeigt sich dies in der Vertnorphologie -, was sicher nicht nur am destruktiven Einfluß der Phonologie liegen kann. Viele seiner prototypischen Sprechereigenschaften sind in ihrer Relevanz für die Morphologie aller Sprachen zumindest als fraglich einzustufen, gleiches gilt für die Überbewertung segmental-additiver Prozesse. Als Theorie morphologischen Wandels halten wir MAYERTHALERs Modell für korrektur- und erweiterungsbedürftig, für die Problemstellung dieser Arbeit liefert es allenfalls Erklärungsansätze, wie in O.4 ausgeführt werden wird. 0.2
Wolfgang Ulrich WURZEL: "Flexionsmorphologie und Natürlichkeit" (1984):
Wie MAYERTHALER so ordnet auch WURZEL seine Arbeit in den Kontext der natürlichen Morphologie ein. Im Gegensatz zu MAYERTHALER geht es ihm aber um "Eigenschaften und Entwicklungstendenzen von Flexionssystemen, die sich mit dem Stichwort 'systembezogene morphologische Natürlichkeit1 umschreiben lassen, d.h. solche flexionsmorphologischen Erscheinungen, die - wiewohl durch universelle Prinzipien determiniert - ihre konkrete Ausprägung auf Grund von einzelsprachlichen Struktureigenschaften erfahren." (1O). WURZEL akzeptiert die Tendenz zur Herausbildung ikonisch aufgebauter Paradigmen, die MAYERTHALER postuliert hatte, als grundlegend; neben dem Prinzip der Natürlichkeit sieht WURZEL aber noch das Prinzip der Normalität, das einen entscheidenden Einfluß bei der Veränderung von Flexionsparadigmen ausübt. Mit diesem Begriff kommt WURZEL zur Berücksichtigung der Individualität des jeweiligen Sprach- bzw. Flexionssystems und damit zu einer differenzierteren Betrachtungsweise und Interpretation als MAYERTHALER. Bei MAYERTHALER hat jede grammatische Kategorie einen semantischen Markiertheitswert, der universell gültig sein soll. Diesem wird dann ein Symbolisierungswert zugeschrieben, der Aussagen über die Art der formalen Kodierung der grammatischen Kategorie ermöglicht. So betrachtet wäre ein Paradigma mit der Endung -0 im Nom.Sg. und -s im Gen.Sg. ebenso natürlich wie ein Paradigma, das -r im Nom.Sg. und -av im Gen.Sg. aufweist. Um die Bewertung solcher verschiedener Paradigmen im Rahmen eines individuellen Sprachsystems
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geht es dagegen WURZEL. Anders ausgedrückt: Welche Flexionsklassen finden sich innerhalb eines Sprachsystems, und wie verhalten sie sich bei morphologischem Wandel? Welche Flexionsklasse behält bei einem Ausgleich die Oberhand und erweist sich somit als bevorzugt durch die Sprecher, als normaler? Das ist die zentrale Fragestellung WURZELs. Er erweitert dadurch M&YERTHALERs Konzept der morphologischen Natürlichkeit und bezieht die beiden Konzepte Natürlichkeit und Normalität folgendermaßen aufeinander: "Unter bestimmten, noch näher zu explizierenden Bedingungen tendiert ein Flexionssystem zum Abbau nichtfunktionaler formaler Distinktionen, zu Vereinheitlichung und Systematisierung, ähnlich wie es zu ikonisch aufgebauten Paradigmen tendiert. Der Unterschied zwischen beiden Erscheinungen besteht dabei darin, daß ohne Bezug auf das einzelsprachliche System festgestellt werden kann, ob eine Flexionsform stark, schwach oder kontraikonisch ist, daß aber die Normalität einer Flexionsklasse immer nur bezogen auf das jeweilige Flexionssystem bestimmt werden kann. Aus diesem Grunde wollen wir im Rahmen eines umfassenden Konzepts der morphologischen Natürlichkeit, das mit den allgemeinen Prinzipien der Markiertheitstheorie voll vereinbar ist, zwischen systemunabhängiger und systembezogener Natürlichkeit unterscheiden. Die systemunabhängige Natürlichkeit entspricht der morphologischen Natürlichkeit im Sinne MAYERTHALERs, die systembezogene Natürlichkeit umfaßt den Bereich, den wir bisher mit 'einzelsprachlicher Normalität 1 umschrieben haben." (78)
Auslöser für sprachlichen Wandel ist der "latente Natürlichkeitskonflikt zwischen der Phonologie und der Morphologie" (33), der nicht im Sinne einer einheitlichen Optimierung lösbar ist. Phonologischer Wandel strebt nach phonologischer Natürlichkeit, nach einer Optimierung der Artikulation und Perzeption. Fast immer führt er dadurch zugleich zum Aufbau von morphologischer Markiertheit. Morphologischer Wandel hat dagegen immer das Ziel, Markiertheit abzubauen, eine optimale Symbolisierung herzustellen (3O); er produziert allerdings Belastungen für die Artikulation und Perzeption. Aus diesem Konflikt resultiert eine permanente Sprachveränderung. WURZEL ist deutlich bemüht, jede seiner Behauptungen durch Beispiele zu belegen, was einen großen Vorzug dieses Buches ausmacht. Leider unterlaufen ihm dabei einige, z.T. ganz unerklärliche Fehler, die den Wert seiner Beispiele etwas herabsetzen. Wir konkretisieren diesen Vorwurf an zwei Exempeln: (1) Bei der Definition des "morphologischen Wortes" bezeichnet WURZEL dieses zu Recht als "grammatische Einheit, deren Konstituenten nicht einzeln flektiert werden." ( 3 6 ) . Die wenigen Ausnahmen, die sich dagegen finden lassen, tendieren im Laufe der Sprachgeschichte zum Abbau. Wir stimmen damit völlig überein, nicht aber mit dem folgenden Satz: "So wurden früher die Substantive mit Schlußartikel nicht nur im Isländischen, sondern auch in allen anderen neugermanischen Sprachen doppelt flektiert, vgl. aschw. hund-f-in, skip-it - Gen.Sg. hund-s-in-s, skip-s-in-s."
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Ziel dieser Sprachveränderung, soweit sie morphologisch motiviert ist, ist das Erreichen der größtmöglichen systembezogenen Natürlichkeit. Für diese sieht WURZEL im wesentlichen zwei Erscheinungsformen, die er als Flexionsklassenstabilität und als Systemangemessenheit bezeichnet. Eine Flexionsklasse wird konstituiert durch eine Gruppe von Wörtern, die jede morphologische Kategorie in formal einheitlicher Weise symbolisieren und deren Gesamtheit der Flexionsformen sich von denen aller anderen Wortgruppen formal unterscheidet (66). Kurz: Wörter, die gleich flektieren, bilden eine Flexionsklasse. Die einzelnen Flexionsformen, deren Gesamtheit das Paradigma darstellt, werden gebildet durch Flexionsregeln, die auf der Grundform des jeweiligen Wortes oder dessen Stamm operieren (51). Dabei unterscheidet WURZEL drei Grundtypen von Flexionsregeln: additive, modifikatorische und subtraktive (52). Durch eine additive Regel wird die Ausgabeform gegenüber der Eingabeform um ein oder mehrere Segmente vermehrt
(Agglutina-
tion) . Modifikatorische Regeln verändern die phonologische Substanz der Ausgabeform, gegenüber der Eingabeform qualitativ, man erhält dadurch morphologische Alternationen (wie z.B. Unlaut oder Ablaut). Subtraktive Regeln schließlich sind Tilgungsregeln, die die phonologische Substanz der Ausgabeform gegenüber der Eingabeform um ein oder mehrere Segmente vermindern. Die drei Regeltypen sind z.T. auch miteinander konbinierbar, bei Sg. Wolf - Pl. Wölfe etwa additiv + modifikatorisch. Wörter, die zur Bildung ihrer Formen die gleiche Regelgruppe anwenden, gehören zu einer Flexionsklasse. "Die Ge( 3 6 ) . Diese Behauptung ist natürlich völlig daneben geraten; selbst wenn man aufgrund des aschw. Beispiels für "neugermanisch" "altgermanisch" liest, wird der Satz nicht besser: das Phänomen t r i t t nur im Nordgerm, auf. Dieser Satz ist allerdings für den Argumentationszusammenhang nicht relevant, man mag sich allenfalls daran stören. Von der Tendenz her falsch ist allerdings die unmittelbar anschließende Behauptung, weil sie eine falsche Conclusio vortäuscht: "Heute werden in allen skandinavischen Sprachen die bestimmten Formen der Substantive genau wie die unbestimmten Formen nur am Wortende flektiert" ( 3 6 ) , was für das Isl. und das F ä r . , die immerhin zu den skand. Sprachen zählen, einfach nicht stimmt. Hier wird dem Leser (unabsichtlich?) eine falsche Konsequenz a u f g e d r ä n g t , völlig überflüssigerweise, denn das Beispiel ist eigentlich schon geeignet, cum grano salis WURZELs Behauptung zu belegen. (2) Den Konflikt zwischen Phonologie und Morphologie belegt WURZEL anhand des Wandels urgerm. *dmpani F: > u r n . *drupan > aschw. drupa (spät-)aschw. drupar > ( f r ü h - ) n s c h w . drupa > nschw. drupar ( 3 1 ) . Eine solche Abfolge - so schön sie klingt und aussieht - ist weitgehend hypothetisch und in den Texten so nicht nachzuweisen. Die Verhältnisse d i f ferieren in den verschiedenen Dialekten sehr s t a r k , worauf man jedenfalls hinweisen müßte. Auch ist der Abbau der Kasusflexion für diese Erscheinung keineswegs irrelevant und d ü r f t e daher in der D a r s t e l l u n g gerade nicht vernachlässigt werden.
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samtheit der Flexionsparadigmen einer Sprache, d.h. die Zusammenfassung der Flexionsformen aller Flexionsklassen, bildet das Flexionssystem der Sprache"
(69). Die durch Regeln eingeführten grammatischen Morpheme, d.h. die gemeinsamen bzw. unterschiedlichen Eigenschaften der Paradigmen bezeichnet WURZEL als Marker. Marker gehören keinem universell vorgegebenen Inventar an, sondern sind strikt einzelsprachlich (71). Die Zuordnung eines Markers zu einem Wort einer Flexionsklasse (um eine bestimnte Kategorie zu symbolisieren) könnte daher den Eindruck der Zufälligkeit erwecken. Das ist vermutlich auch der Hauptgrund dafür, daß Flexionsklassen bisher fast nur in deskriptiven Grammatiken behandelt wurden und kaum von theoretisch orientierten Arbeiten. Es ist WURZELs Verdienst, diese Problematik unter ihren theoretischen Gesichtspunkten zu durchleuchten. Er geht aus von der einfachen Beobachtung, daß in den meisten Sprachen mehrere Flexionsklassen miteinander konkurrieren, sich z.T. überschneiden, wobei im Laufe der Sprachgeschichte festzustellen ist, daß sich eine Flexionsklasse auf Kosten einer anderen ausdehnen kann, bzw.
daß Mitglieder einer Flexionsklasse in eine andere übertreten. Hier wäre
als Beispiel der Übertritt des and. Prät.präs. tugan zu den mhd. schwachen Verben zu nennen. Solche und zahlreiche andere Beispiele zeigen klar, daß miteinander konkurrierende Flexionsklassen sich in ihrem Normalitätsgrad unterscheiden können (73), wodurch es möglich wird, zahlreiche morphologische Wandlungen zu erklären oder vorherzusagen. Dafür muß allerdings zunächst bestiirmt werden, "welche allgemeinen Eigenschaften des einzelsprachlichen Flexionssystems der Normalität von Flexionsklassen zugrunde liegen, oder, anders ausgedrückt, durch welche Faktoren die Normalität von Flexionsklassen innerhalb eines gegebenen Systems determiniert ist." (74). Diejenigen Eigenschaften, die ein einzelsprachliches Flexionssystem typologisch charakterisieren, bezeichnet WURZEL als systemdefinierende Struktureigenschaften
(82). Sie werden bestimmt durch die folgenden Hauptparameter,
aus denen jedes einzelsprachliche System eine Auswahl trifft: (a) ein Inventar an Kategoriengefügen und ihnen zugeordnete Kategorien; (b) das Auftreten von Grundformflexion bzw. Stammflexion; (c) die separate vs. kombinierte Symbolisierung von Kategorien unterschiedlicher Kategoriengefüge; (d) die Anzahl und Ausprägung der formalen Distinktionen unter den Flexionsformen eines Paradigmas; (e) die auftretenden Markertypen bezogen auf die beteiligten Kategoriengefüge;
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(f) das Vorhandensein vs. Nichtvorhandensein von Flexionsklassen. Die einzelsprachlichen Flexionssysteme weisen dabei im allgemeinen eine Mischung von unterschiedlichen Struktureigenschaften auf; sie sind nicht konsequent in dem Sinne, daß Eigenschaften ausschließlich vorkommen würden, sondern es konkurrieren verschiedene Strukturzüge: So wird bei den nhd. starken Verben das Prät. durch Ablaut symbolisiert, bei den schwachen Verben durch Dentalsuffix; das Paradigma von and. tag weist im Sg. fünf Kasus auf, im Pl. dagegen nur vier. Die konkurrierenden Struktureigenschaften sind allerdings nicht ausbalanciert, sie stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern eine der möglichen Varianten dominiert im System. Diese bestimmen dann auch dessen weitere Entwicklung entscheidend. Welche der miteinander konkurrierenden Strukturvarianten die systemdefinierenden Struktureigenschaften realisieren, muß für jedes einzelsprachliche System festgestellt werden. Anders als etwa MAYERTHALERs konstruktioneller Ikonismus sind die systemdefinierenden Struktureigenschaften nicht universell vorgegeben, sondern charakterisieren einen jeweils einmaligen Sprachzustand, der sich aufgrund eines historischen Entwicklungsprozesses herausgebildet hat. Daß WURZEL dies so klar sieht und thematisiert, stellt einen entscheidenden Vorteil seines Modells gegenüber dem von MAYERTHALER dar. Für die Ermittlung der systemdefinierenden Struktureigenschaften ist entscheidend: " ( I ) die Anzahl und relative Größe der Flexionsklassen, in denen eine Struktureigenschaft realisiert ist ( d . h . also die Zahl der Paradigmen, in denen die Struktureigenschaft überhaupt auftritt); (II) das Ausmaß, in dem in diesen Fällen eine Struktureigenschaft realisiert ist ( d . h . also die Zahl der Formen, in denen die Struktureigenschaft a u f t r i t t ) . " (86)
Wir vermissen hier als Kriterium neben der Zahl der Formen deren Gebrauchsfrequenz, die für unsere Untersuchung eine große Rolle spielen wird. MAYERTHALER lehnt Frequenzkriterien pauschal und kategorisch ab, bei WURZEL spielen sie keine Rolle bzw. sind durch Nichtnennung ausgeschlossen. Das hängt damit zusammen, daß WURZELs Konzept der Systemangemessenheit nur Formen zueinander in Beziehung setzt, im innermorphologischen Bereich verbleibt: "Die Systemangemessenheit ist der Übereinstimmungsgrad eines Paradigmas (und damit einer Flexionsklasse), eines Teilparadigmas, einer Flexionsform oder eines morphologischen Markers mit den systemdefinierenden Struktureigenschaften einer Sprache. Die systemdefinierenden Struktureigenschaften bilden also das Klassifikationsraster, die Systemangemessenheit stellt den Meßwert dar. Die Systemangemessenheit unterscheidet sich vom konstruktionellen Ikonismus nicht nur durch ihre einzelsprach-
26 liehe Bedingtheit, sondern auch noch in einer anderen wesentlichen Hinsicht: Während der konstruktionelle Ikonismus die Bewertung einer Semantik-Form-Relation ist, stellt die Systemangemessenheit die Bewertung einer Form-Form-Relation dar, d.h. sie ist rein innermorphologisch zu fassen." (86f)
Im Sinne der Systemangemessenheit tendieren morphologische Systeme zur Einheitlichkeit und zum Abbau von nichtfunktionalen Distinktionen durch die Weiterverbreitung von innerhalb des Systems dominierenden Struktureigenschaften. Sie stellt somit das Gegengewicht zu der typologischen Zersplitterung dar, die sich durch die Einwirkung phonologischer und syntaktischer Faktoren auf die Morphologie ergibt. Da die systemdefinierenden Struktureigenschaften gegen morphologischen Wandel resistent sind, wirken sie systemerhaltend (89). Ihre Veränderung ist irtmer phonologisch und/oder syntaktisch, d.h. außermorphologisch bedingt (109). So bewirkt z.B. der phonologisch bedingte Reduktionsprozeß der ahd. Endsilben zu /e/, daß die ahd. schwachen Maskulina vom Typ Nom.Sg. bot-o - Gen.Sg. boten - Nom.Pl. bot-on ihre systemdefinierende Struktureigenschaft Stammflexion verlieren und im Mhd. zur Grundformflexion übergegangen sind (Nom.Sg. böte Gen.Sg. bote-n - Nom.Pl. bote-n). Die urgerm. Struktureigenschaft Nan. ^ Akk. (vgl. got. Nom.Sg. fisks - Akk.Sg. fisk) wurde im Westgerm, zur Struktureigenschaft Nom. = Akk. durch den Schwund des -s im Nom.Sg. (ahd. Nom.Sg./ Akk.Sg. fisk). Als systemdefinierend er/reist sich diese (neue) Struktureigenschaft, wenn auch im Pl. dieser Nomina der Akk. an den Nom. angeglichen wird, also morphologischer Wandel eintritt (westgerm. Nom.Pl. *taga - Akk.Pl. *tagun > ahd. Nom.Pl. taga - Akk.Pl. taga). Es lassen sich also zwei unterschiedlich bedingte Etappen feststellen: " ( I ) Der Wechsel der systemdefinierenden Struktureigenschaften oder anders ausgedrückt - der qualitative Wechsel der übergreifenden morphologischen Systemeigenschaften ist außermorphologisch bedingt. (II) Die weitere Verbreitung und eventuelle völlige Durchsetzung der systemdefinierenden Struktureigenschaften, ihre quantitative Anhäufung im System, ist morphologisch bedingt." (109)
WURZEL gelingt es im Folgenden auch zu zeigen, daß die Systemangemessenheit Vorrang besitzt vor der systemunabhängigen Natürlichkeit (d.h. etwa dem konstruktioneilen Ikonismus); aus einer Reihe von Beispielen kann nur der Schluß gezogen werden, "daß sich die systemunabhängige Natürlichkeit immer nur mit Die urgerm. Form lautet natürlich *fisk-az, vorausgesetzt wird.
so daß die Synkope des —a—
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der Systemangemessenheit verwirklichen kann, niemals jedoch gegen sie." (112). Lediglich in den Fällen, in denen die Systemangemessenheit keine Rolle spielt, kann sich die systemunabhängige Natürlichkeit durchsetzen. Der zweite Bereich, in dem nach WURZEL sich die systembezogene Natürlichkeit dokumentiert, ist neben der Systemangemessenheit die FlexionsklassenStabilität. Dieser Punkt ist für unseren Untersuchungsgegenstand noch relevanter als der vorangehende, da er erklärt, warum sich bestiitrtte Markertypen gegenüber konkurrierenden durchsetzen. Während die Ausgleichstendenzen, die durch das Kriterium der Systemangemessenheit motiviert sind, das Flexionssystem zu vereinheitlichen trachten, ist es das Ziel der durch die Klassenstabilität bedingten Ausgleichstendenzen, die Flexionsklassen unabhängig zu motivieren. Das bedeutet, daß die morphologischen Eigenschaften von Wörtern durch unabhängige außermorphologische Eigenschaften dieser Wörter beeinflußt sind (117). Solche außermorphologische Eigenschaften können phonologische oder semantisch-syntaktische Eigenschaften sein. Für die Relevanz phonalogischer Charakteristika mag die schwed. Substantivflexion dienen, wo fast alle Wörter auf -a im Sg. ihren Pl. auf -or> bilden; ein Beispiel für die setnantisch-syntaktischen Charakteristika sind die nhd. Modalverben mit ihrer spezifischen Bedeutung und Syntax und mit ihrer präteritopräsentischen Flexion. Bei ihnen würde die Flexionsklassenstabilität erklären, wieso die Sonderflexion erhalten bleibt und auch den Grund dafür liefern, wieso andere Modalverben sich diesem Flexionsmuster anpassen. Problematisch bleibt dennoch für WURZEL die Frage, warum gerade dieser Typ von Sonderflexion mit der semantisch-syntaktischen Eigenschaft 'Modalverb1 verbunden wird; dazu unten ausführlicher. Sind keine außermorphologischen Eigenschaften vorhanden, an denen man die morphologischen Eigenschaften der Wörter festmachen könnte, dann bleibt immerhin noch die Möglichkeit, die einzelnen Flexionsformen eines Wortes aufeinander zu beziehen; man nähert sich damit dem WP-Konzept (word-and-paradigm). Beispielsweise haben alle deutschen Substantive mit dem Pl.-Flexiv -er einen Gen.Sg. auf -s. WURZEL spricht in diesem Zusammenhang von der implikativen Struktur der Flexionsparadigmen (118) und definiert: "Wörter, deren Paradigmen die gleiche implikative Struktur haben, bilden einheitliche Flexionsklassen bzw. Teilflexionsklassen. In diesem Sinne konstituieren die Implikationen überhaupt erst die Flexionsklassen." (118).
Erst durch solche Implikationen wird eine natürliche Sprache überhaupt funktionsfähig, da die Alternative (suppletive Paradigmen bei allen Wörtern) einen zu hohen Lernaufwand darstellen würde. Man erhält damit neben den oben aufgeführten sechs Hauptparametern, die die Grundlage für die systemdefinierenden Struktureigenschaften darstellen, einen weiteren siebten:
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(g) die Ausprägung derjenigen Paradigraenstrukturbedingungen, deren Ausgangspunkt morphologische Eigenschaften der Wörter (abgeleitete Flexionsformen) sind. (122). Natürlich können außermorphologisch und morphologisch basierte Merkmale beliebig miteinander kombiniert erscheinen: endungslose Maskulina, die ihren Pl. auf -en bilden (Typ: Mensch, Schmerz), bilden ihren Gen.Sg. auf -en oder -es; die Verteilung, die sich im Laufe der Sprachgeschichte eingestellt hat, ist so, daß diejenigen Substantiva, denen das Merkmal 'belebt' zukommt, ihren Gen.Sg. auf -en bilden (des Menschen), die unbelebten auf -es. In ähnlicher Weise wie die systemdefinierenden Struktureigenschaften miteinander konkurrieren können, gilt dies auch für die Paradigmenstrukturbedingungen, wie aus dem gerade zitierten Beispiel der endungslosen Maskulina abzuleiten ist. Auch hier gibt es einzelne Paradigmenstrukturbedingungen, die von den Sprechern offenbar als normaler eingestuft werden als die anderen; diese nennt WURZEL dominierende Paradigmenstrukturbedingungen (125). Bei konkurrierenden Flexionsklassen (also etwa starke vs. schwache Verben im Dt.) ist jeweils diejenige normaler, die quantitativ, d.h. nach der Anzahl der ihr zugehörigen Wörter, überwiegt (127) (also im Dt. die schwachen Verben). Das gilt auch für die kleineren Subklassen: Wenn man (wie WURZEL es tut) brauchen zu den nhd. Modalverben rechnet, dann gibt es sechs Modalverben mit 0-Endung in der 3.Sg.Präs.Ind. und eines, das diese Kategorie mit der Endung -t bildet (er brauch-t). Folglich stellen sich umgangssprachlich und dialektal Varianten wie er brauch ein, ganz im Sinne der Paradigmenstrukturbedingungen. Sind zwei Flexionsklassen etwa gleich stark in bezug auf ihre Mitgliederzahl, dann stellen sich Schwankungen in beide Richtungen ein, wie das Beispiel der ahd. Substantive auf -a zeigt (128). Miteinander konkurrierende Flexionsklassen bezeichnet WURZEL als Komplementärklassen und konstatiert folgende Hierarchie bezüglich der Determiniertheitsgrade für die Zugehörigkeit eines Wortes zu einer bestimmten Flexionsklasse: "- Hat eine Flexionsklasse keine Komplementärklasse, dann ist die Zugehörigkeit eines Wortes mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften zu dieser Flexionsklasse eindeutig bestimmt. - Hat eine Flexionsklasse eine Komplementärklasse/Komplementärklassen mit schwächerer Belegung, dann ist die Zugehörigkeit eines Wortes mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften zu dieser Flexionsklasse wahrscheinlich. - Hat eine Flexionsklasse eine Komplementärklasse mit etwa gleichstarker Belegung, dann ist die Zugehörigkeit eines Wortes mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften zu dieser Flexionsklasse zufällig.
29 - Hat eine Flexionsklasse eine Komplementärklasse/Komplementärklassen mit stärkerer Belegung, dann ist die Zugehörigkeit eines Wortes mit den entsprechenden außermorphologischen Eigenschaften zu dieser Flexionsklasse unwahrscheinlich." (129)
Trifft einer der beiden ersten Fälle zu, so liegt eine stabile Flexionsklasse vor; im dritten Fall spricht WURZEL von stabilitätsneutralen Flexionsklassen; im vierten Fall handelt es sich um instabile Flexionsklassen. Stabile Flexionsklassen werden ständig durch Neuwörter und Übertritte aus anderen Klassen erweitert, während instabile Flexionsklassen ständig Mitglieder verlieren durch Übertritte in die stabilen Komplementärklassen. Bei stabilitätsneutralen Flexionsklassen sind die Schwankungen unsystematisch und nicht prädizierbar. Wie schon bei der Systemangemessenheit spielt hier also für WURZEL nur die relative Belegung eine Rolle, die Gebrauchsfrequenz der einzelnen Wörter hält er für nicht relevant. Das ist einer der Punkte, die an seinem Konzept Kritik hervorrufen. Es gibt neben Übertritten von einer Flexionsklasse in eine andere auch Fälle, in denen ein bestimmter Marker übertragen wird, Fälle von Semi-Regularisierung also, ohne daß ein Klassenübertritt erfolgt. "Es handelt sich dabei immer um Marker stabiler Klassen, die gleichzeitig noch in weiteren (stabilen oder instabilen) Klassen vorkamen und deshalb über einen höheren Stabilitätsgrad verfügen als die Flexion der jeweiligen Klasse insgesamt." (139). In diesem Fall spricht WURZEL von überstabilen Markern. Beispiele dafür sind der schwed. Gen.-Marker -s oder der aisl. Dat.Pl.-Marker -um. Instabile Flexionsklassen in Flexionssystemen entstehen immer dann, "wenn phonologische und/oder semantisch-syntaktische Eigenschaften von Lexikoneinheiten verlorengehen, die bisher die Grundlage für die Flexionsklassenzuweisung darstellten." (148). Eines der Beispiele, die WURZEL in diesem Zusammenhang nennt, ist die Herausbildung der instabilen Flexionsklasse der Prät.präs. im Germ.; Auslöser dafür war die Interpretation der ehemaligen Vergangenheitsformen (?) als Präsensformen wegen der präsentischen Bedeutung dieser Formen. Zu WURZELs Beurteilung der weiteren Entwicklung dieser Gruppe vgl. das Zitat in unserem Einleitungskapitel oben. Eine neue Stabilität kann sich einstellen, indem auf bisher nicht genutzte phonologische bzw. semantisch-syntaktische Eigenschaften Bezug genommen wird, etwa im Falle der Prät.präs. auf das Merkmal 'Modalverb1. Der Gedanke liegt nahe, Klassenstabilität und Produktivität gleichzusetzen, weil sie die gleichen Konsequenzen mit sich bringen. WURZEL stellt aber fest,
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daß die Produktivität stabiler Flexionsklassen inner bezogen ist auf außermorphologische Eigenschaften (154). So ist der s-Pl. im Nhd. zwar produktiv, aber nur für die Wörter, die auf einen anderen Vokal als -e auslauten. Der s-Pl. im Engl. betrifft nur Substantive, nicht auch die Adjektive oder Pronomina. Stabile Flexionsklassen können ihre Produktivität aber auch verlieren, wenn sie den systemdefinierenden Struktureigenschaften der gegebenen Sprache nicht mehr entsprechen. Beispiele dafür wären die germ. r-Stämme, die im Aisl. und Ahd. stabile Klassen ohne Komplementärklassen bilden, im Mhd. N
aber in andere Deklinationsklassen übergetreten sind. "Produktivität läßt sich also - grob gesagt - als Uberschneidungsbereich von Klassenstabilität und Systemangemessenheit fassen. Wenn eine Flexionsklasse systemangemessen und stabil ist,
dann ist sie auch produktiv." (159). In Konfliktfallen domi-
niert letztlich immer die Systemangemessenheit. Beispiele hierfür sind im Aschw. der Gen.-Marker -s, der immer produktiver wird, und dagegen der Dat. Pl.-Marker -im/-om, der seine Produktivität verliert, da sich die systemdefinierenden Struktureigenschaften des Schwed. gewandelt haben, nachdem das Subjekt sowie das direkte und indirekte Objekt nicht mehr durch Flexive, sondern durch Satzgliedstellung und gramatische Wörter symbolisiert werden (160). Folgendes Schaubild faßt WURZELs Modell der morphologischen Theorie zusammen (173): Flexionsmorphologische Fakten: Paradigmen, Flexionsformen, Marker, Flexionsklassen miteinander konkurrierende allgemeine StruktureigenSchäften
J
systemdefinierende Struktureigenschaften Systemangemessenheit morphologischer Erscheinungen
miteinander konkurrierende Paradigmenstrukturbedingungen (Flexionsklassen)
l
dominierende Paradigmenstrukturbedingungen (Über-)Stabilität von Markern l
Stabilität von Flexionsklassen l
Produktivität von Flexionsklassen und Markern
WURZEL erkennt somit insgesamt fünf Prinzipien der morphologischen Strukturbildung, die dann in den einzelsprachlichen Systemen unterschiedlich wirksam sind:
31
" ( I ) das Prinzip der typologischen Einheitlichkeit und Systematik morphologischer Systeme; (II)
das Prinzip des implikativen Aufbaus morphologischer Strukturen;
(III) das Prinzip der strikten Koppelung morphologischer Klassen an außermorphologische Eigenschaften (außermorphologische Klassen); (IV) das Prinzip der formalen Widerspiegelung 'inhaltlicher' Identitäten und Distinktionen; (V) das Prinzip der formalen Widerspiegelung 'inhaltlicher' Markierungsverhältnisse ." (174f)
Das Prinzip (I) bewirkt das Phänomen, das WURZEL als Systemangemessenheit bezeichnet. Es bewirkt Einheitlichkeit im System und verursacht den Abbau von nichtsystemangemessenen Erscheinungen. Die Prinzipien (II) und (III) bewirken gemeinsam die Klassenstabilität. Prinzip (II) bevorzugt bestimmte, in der Sprache vorhandene Paradigmen und bewirkt die Umgestaltung unikaler (z.B. suppletiver) Paradigmen nach deren Muster. Prinzip (III) liefert die Motivierung für solche Umbildungen, indem es den unterschiedlichen Status von stabilen und instabilen Flexionsklassen bewirkt. Es verursacht den Abbau von instabilen Flexionsklassen zugunsten der stabilen. Das Prinzip (IV) entspricht MAYERTHALERs Stichwörtern 'Uniformität' und "Transparenz1. Es bewirkt in erster Linie die Ausbreitung von überstabilen Markern, daneben kann es auch in suppletiven Paradigmen den Abbau von morphologisch unsystematischen Alternationen bedingen. Es ist aber eindeutig den Prinzipien (I) - (III) untergeordnet, die einzelsprachlichen Gesetzmäßigkeiten dominieren über die systemunabhängige Natürlichkeit, wie sich an zahlreichen Beispielen zeigen läßt. Das Prinzip (V) entspricht MAYERTHALERs konstruktionellem Ikonismus und bewirkt, daß inhaltlich unmarkierte Kategorien merkmallos und inhaltlich markierte Kategorien merkmalhaft oder merkmalhafter symbolisiert werden. Auch hier gelingt es WURZEL 'überzeugend zu zeigen, daß die Prinzipien (I) (III)
übergeordnet sind und sich im Zweifelsfalle auf Kosten des Ikonismus
durchsetzen. Keines der Prinzipien hat ausschließlich für die Morphologie Geltung (185). Sämtliche gelten auch für die Syntax, ein Teil auch für die Phonologie, das Prinzip (II) vermutlich auch für die Semantik. Die entscheidende Bedeutung haben sie aber für die Flexionsmorphologie. Ein einzelsprachliches Flexionssystem ist um so natürlicher, in je stärkerem Maße es nach diesen fünf Prinzipien aufgebaut ist. "Den Prinzipien ins-
32 Q
gesamt zuwiderlaufende morphologische Veränderungen gibt es nicht." (188). Die Prinzipien machen bestirtmte Veränderungen wahrscheinlich und legen fest, in welcher Richtung sie verlaufen, wenn sie eintreten. Allerdings wird ihre Wirksamkeit durch eine ganze Reihe von Faktoren eingeschränkt, und WURZEL ist realistisch genug, das einzuräumen. Solche Faktoren können außermorphologische sein oder auch außersprachliche. Unter die außersprachlichen Faktoren fallen solche Phänomene wie Sprach- und Dialektmischungen, Entlehnungen, Normierungen usw.; zu den außermorphologischen rechnen in erster Linie die Phonologie und die Syntax, und die haben ihre eigenen Natürlichkeitsprinzipien, die oft mit denen der Morphologie konfligieren. Vor allem durch das Wirken der Phonologie und Neuerungen in ihrem Bereich entstehen unnatürliche Flexionssysteme; die Phonologie agiert selbständig, während die Morphologie nur reagiert, indem sie sich an die neugeschaffenen Verhältnisse anpaßt und versucht, das Bestmögliche daraus zu machen. "Der unterschiedliche Stellenwert, den phonologische und morphologische Veränderungen für das Sprachsystem haben, erklärt sich aus der unterschiedlichen Position von Phonologie und Morphologie innerhalb des Sprachsystems. Die Phonologie ist im Sprachsystem durch ihre 'Randlage' charakterisiert. Sie bildet (wie die Semantik) eine der Verbindungsstellen des Sprachsystems nach außen hin. Insofern ist sie unmittelbar an außergrammatische (d.h. außerhalb des Sprachsystems liegende) Faktoren gebunden, nämlich an die Artikulations- und Perzeptionsorgane, deren Effekt aufgrund ihres Aufbaus und ihrer Funktionsweise nicht in einheitlichem Sinne optimierbar ist. Laute wandeln sich notwendigerweise auf Grund der Bindung der Phonologie an die Artikulations- und Perzeptionsorgane, ebenso wie sich notwendigerweise Bedeutungen auf Grund der Bindung der Semantik an das Denken und die außersprachliche Realität wandeln. Verglichen damit ist die Morphologie durch ihre "innere Lage 1 im Sprachsystem zwischen Phonologie einerseits und Syntax und Semantik andererseits charakterisiert. Sie ist demzufolge nicht unmittelbar an außergrammatische (außerhalb des Sprachsystems liegende) Faktoren gebunden. Die Morphologie bildet ähnlich wie die Syntax eine Vermittlungsund Umkodierungsinstanz zwischen Semantik und Phonologie, zwischen Bedeutungs- und Lautstrukturen. Es gibt keine durch außergrammatische Faktoren unmittelbar bedingten morphologischen Veränderungen. Deshalb ist die Morphologie konservativ und wird nur vermittelt über andere Komponenten des Sprachsystems verändert. Aus diesem Grunde hat die Fremddetermination für die Morphologie eine so große Bedeutung." (194)
Die strenge Suppletion fällt dabei wohl unter den Tisch.
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0.3 Elke RONNEBERGER-SIBOLD: "Sprachverwendung - Sprachsystem: Ökonomie und Wandel" (198O): Im Rahmen ihres Modells der Sprachökononie, das von einigen Arbeiten WERNERs (z.B. 1977) beeinflußt ist, behandelt RONNEBERGER-SIBOLD unter anderem mor9 phologischen Wandel. Dabei versucht sie, eine Fülle von relevanten Faktoren in ihr Modell aufzunehmen; als entscheidenden Faktor, die "eigentlich treibende Kraft" (1) des Sprachwandels sieht sie den Sprachgebrauch an. Sprachökonomie wirkt nicht nur in solch trivialen Fällen wie der Kürzung von Omnibus zu Bus, sondern hat einen wesentlich umfassenderen Wirkungsbereich: "Der Sprecher will ja z.B. nicht nur kurze, sondern auch leicht artikulierbare Äußerungen hervorbringen. Ferner muß er seine Äußerungen nicht nur artikulieren, sondern auch planen; innerhalb der Planung aber gibt es wieder verschiedene, einander widersprechende Bedürfnisse. Schließlich muß er ein Inventar von Einheiten erwerben und aufrecht erhalten, das natürlich möglichst klein sein soll. Dieses Interesse deckt sich mit einigen Bedürfnissen der Planung und Artikulation, anderen widerstrebt es. Der Hörer schließlich hat das Bedürfnis nach möglichst eindeutigen sprachlichen Einheiten, aber auch bei ihm widersprechen dem oft die Bedürfnisse nach einem kleinen Inventar oder nach Kürze der zu dekodierenden Äußerungen." (2)
Diese und weitere Bedürfnisse sind zu berücksichtigen bei der Entscheidung, wie ökonomisch eine bestimmte Ausdrucksweise ist. Sprachgeschichte und Sprachwandel ist als ein Pendeln zwischen den verschiedenen Bedürfnissen zu betrachten, die außerdem von äußeren Faktoren wie z.B. Veränderung der relativen Häufigkeiten, der Gebrauchsfrequenz, beeinflußt werden. RONNEBERGER-SIBOLDs Modell ist performanzbezogen, oder besser: ein Modell das Kompetenz und Performanz in gleicher Weise berücksichtigt. Sprachwandel hat seinen Ursprung in Veränderungen der Sprachverwendung, die dann auf das Sprachsystem zurückwirken. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu den oben besprochenen Ansätzen von MAYERTHALER, für den die Dichotomie Kompetenz - Performanz irrelevant ist, und WURZEL, der in erster Linie ein Kompetenzmodell entwickelt. Die Tradition, auf die RONNEBERGER-SIBOLD sich dabei beruft, umfaßt Namen wie PAUL, JESPERSEN, BALLY, MEILLET, JAKOBSON, MARTINET, COSERIU und ANDERSEN (4). Nicht das Bedürfnis nach einem geschlossenen, symmetrischen System, das für den Strukturalismus entscheidend war und auch bei WURZEL 1984 eine große Rolle spielt, ist die Ursache des Sprachwandels, "sondern das Bedürfnis der Sprachbenutzer nach optimaler Kommunikation, VerEs ist doch erstaunlich, daß weder MAYERTHALER noch WURZEL zu den Ergebnissen von RONNEBERGER-SIBOLD Stellung beziehen, sie unerwähnt lassen.
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ständigung mit minimalem Kraftaufwand." (8). Die beiden entscheidenden Fragen, die zur Erklärung eines konkreten sprachlichen Wandels beantwortet werden müssen, sind nach RONNEBERGER-SIBOLD (34) : (1) Welches Performanzbedürfnis ist durch den Wandel auf Kosten welches anderen begünstigt worden? (2) Warum war dieser Wandel in der gegebenen historischen Situation besonders günstig? Für die Beantwortung dieser Fragen ist es zunächst erforderlich, sich einen Überblick über die verschiedenen morphologischen Verfahren (bei MAYERTHALER 1981: morphologische Prozesse) zu verschaffen und dann deren Vorund Nachteile für die Performanz zu diskutieren. RDNNEBERGER-SIBOLD spricht allerdings nicht von morphologischen Verfahren, sondern von morphosyntaktischen? sie berücksichtigt also nicht nur Flexion und damit zusammenhängende Phänomene, sondern versucht alle Ausdrucksverfahren für grammatische Kategorien zu klassifizieren, was seit W.v.HUMBOLDT ein zentrales Anliegen der Morphologie ist. Sie unterscheidet zunächst ganz im traditionellen Sinne zwischen synthetischen und analytischen Verfahren, die weiter zu unterteilen sind in das flektierende, das agglutinierende, das isolierende und das kombinierende Verfahren. Beim isolierenden Verfahren entspricht jedes Wort genau einem Morphem. 'Wort' definiert sie als "eine Folge von Morphen, die zwei Bedingungen erfüllt: Die Morphe dürfen sich erstens nicht ohne Bedeutungsveränderung pernutieren und zweitens nicht durch den Einschub anderer Morphe (außer einem begrenzten Inventar von Infixen) trennen lassen." (47). Innerhalb des isolierenden Verfahrens gibt es zwei Untertypen: das explizit isolierende und das implizit isolierende Verfahren. Beim explizit isolierenden Verfahren werden auch relationale Kategorien durch eigene Wörter ausgedrückt:
A
B
C
Morpheme
A'
B1
C1
Wörter
Beim implizit isolierenden Verfahren werden relationale Kategorien durch die Reihenfolge der eigentlich bedeutungstragenden Wörter im Satz ausgedrückt:
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Morpheme Reihenfolge A 1 , C'
C1
Wörter
Beide Verfahren wären in einem Satz wie Paul -introduces Peter· to Mary angewendet: welche NP als Subjekt bzw. direktes Objekt fungiert, geht aus der Konstituentenfolge hervor (implizit isolierend), die Funktion des indirekten Objekts dagegen durch die Präposition (explizit isolierend). Beim agglutinierenden Verfahren werden mehrere Morphe zu einem Wort zusammengefaßt. Zusätzlich gelten die beiden Kriterien: eindeutige Segmentierbarkeit und Abwesenheit von nicht phonologisch determinierten Allomorphen. Auch beim flektierenden Verfahren enthält ein Wort mehrere Morphe, doch können hier in jedem Morph gleichzeitig mehrere Morpheme realisiert sein. Innerhalb des flektierenden Verfahrens kann man unterscheiden zwischen Endungsflexion: -em in schönem enthält {Dat.} + {Sg.} + {Mask.} oder (Neutr.); Stammflexion: Väter enthält {Vater} + {Pl.}; und Suppletion bin vs. war. Das kombinierende Verfahren, das in traditionellen Typologien nicht vorgesehen ist, könnte man auch als grammatische Idiomatik bezeichnen (56). So wird z.B. {Passiv} im Dt. durch die Kombination werd- + Part.Perf. ausgedrückt und ist nur in dieser Kombination für den Hörer dekodierbar. Der Sprecher kodiert hier also ein Morphem in zwei Morphe, aus denen der Hörer wieder ein Morphem dekodiert. Die Symmetrie zwischen Sprecher und Hörer ist das Hauptkriterium für das kombinierende Verfahren. Kongruenzerscheinungen fallen deshalb nicht darunter, da der Sprecher hier zweimal dasselbe Morphem in getrennten Morphen ausdrückt und gleichzeitig eine Relation zwischen diesen beiden Morphen, während der Hörer nur beiden Morphen zusammen zweimal dasselbe Morphem entnehmen kann und zusätzlich eine gewisse Relation zwischen den Stämmen, zu denen die Morphe gehören (64). Auch rechnen solche Fälle nicht zum kombinierenden Verfahren, die RONNEBERGER-SIBOLD als "isolierendes Verfahren mit ambigen Elementen" (58f) bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist die Bildung des nhd. Futurs: der Sprecher drückt zwei verschiedene Morpheme {Futur} + {kommen} mit zwei getrennten Morphen aus (/werd-/ + /komm-/), während der Hörer nur beiden Morphen zusammen die zwei verschiedenen Morpheme entnehmen kann. Durch Sprachwandel kann jedes der verschiedenen Verfahren in ein anderes überführt werden; es tritt typologischer Wandel ein. Ferner entstehen im
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Laufe der Sprachgeschichte neue Kategorien, die nach unterschiedlichen Verfahren gebildet werden. Hierbei scheinen gewisse Gesetzmäßigkeiten aufzutreten, die von der Sprachwissenschaft seit A. SCHLEICHER in der Form von Gesetzen zu fassen versucht wurden. RONNEBERGER-SIBOLD warnt vor dem impliziten Determinismus solcher Theorien, der sich auch bei VENNEMANN 1972 und 1974 noch nachweisen läßt. Sprachwandel ist nach ihr nie vollständig prädikabel, da man nie wissen kann, welche Bedürfnisse der Sprecher sich auf Kosten welcher anderer durchsetzen werden. Daher gibt es eigentlich auch keine "Ausnahmen" in der Sprachgeschichte, "sondern immer nur Ausnahmen in bezug auf eine bestimmte Tendenz, die einem oder mehreren Bedürfnissen entspricht." (131). Dadurch wird die Vorhersagbarkeit von Sprachwandel zumindest stark eingeschränkt. Zunächst muß geklärt werden, was die verschiedenen Bedürfnisse der Sprachbenutzer beim Sprechen und Hören sind, und wieweit die verschiedenen morphosyntaktischen Ausdrucksverfahren diesen Bedürfnissen entsprechen. Darüber handelt RDNNEBERGER-SIBOLD im Kapitel über die "Vor- und Nachteile der verschiedenen morphosyntaktischen Verfahren bei der Performanz" (134ff). Zwischen Sprecher und Hörer wird zunächst strikt getrennt. Beim Sprecher läßt sich bei dem sehr komplexen Vorgang der Umsetzung eines Inhalts in einen Ausdruck eine Ebene der Artikulation von den verschiedenen Planungsebenen unterscheiden: "Planung ist eine rein psychische Tätigkeit, Artikulation ist eine psychisch-physische Tätigkeit, ein Umsetzen von Lautvorstellungen in Bewegungen der Sprechorgane. Dabei wird eine Folge von diskreten Zeichen in ein kontinuierliches Zeichen umgewandelt ( . . . ) . Bei der Produktion von kontinuierlichen Zeichen aber bestehen andere Möglichkeiten zur Reduktion des Aufwands als bei diskreten Zeichen - daher der große Gegensatz zwischen den Bedürfnissen der Planungsebenen und denen der Artikulationsebene, dem wir noch im einzelnen nachgehen werden." (134f)
Innerhalb der Planungsebenen lassen sich unterscheiden: die semantische Planung, die morphosyntaktische Planung und die phonalogische Planung, über die semantische Planung, bei der eine komplexe Inhaltseinheit, ein "Gedanke", in kleinere Inhaltseinheiten, u.a. die relationalen und nicht-relationalen Morpheme, zerlegt wird, ist bisher wenig bekannt; sie wird daher von RONNEBERGERSIBOLD als gegeben betrachtet. Zur morphosyntaktischen Planung gehört dann die Auswahl und Anordnung der Nbrphe zum Ausdruck eines oder der Morpheme. Die phonologische Planung faßt dann die Morphe zu größeren Einheiten zusammen: "Morphe zu Vförtern, Wörter zu Sprechtakten, Sprechtakte zu Sätzen, und diese Einheiten müssen mit Intonationsanweisungen versehen werden." (136).
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Das heißt zusammengefaßt: Aus "Gedanken" werden durch die semantische Planung Morphane, aus diesen durch die morphosyntaktische Planung Morphe, aus diesen durch die phonologische Planung eine "fertige Lautvorstellung", und daraus durch die Artikulation das Endprodukt des Lautkontinuums. Auf diesen Ebenen liegen die verschiedenen Vor- und Nachteile der morphosyntaktischen Verfahren. Das flektierende Verfahren kann als optimal in bezug auf die Artikulation angesehen werden; schon seine Entstehung, die meist auf dem Wege über Artikulationserleichterungen läuft, deutet darauf hin. Eine Form wie franz. vendrai erfordert deutlich weniger Aufwand als das ihr zugrunde liegende vulgärlat. venire habeo. Bezahlen muß man diesen Vorteil allerdings mit einem großen Morphinventar. Flektierende Sprachen sind im allgemeinen schwer zu erlernen durch ihren großen Formenreichtum, oft findet man als zusätzliche Komplikation Stammflexion und fast immer eine ausgeprägte Allomorphik, die lexikalisch oder durch die Wortart determiniert sein kann. In seltenen Fällen (etwa bei der nhd. Adjektivflexion) kann sogar die Syntax die Allomorphik determinieren. Diesen eindeutigen Nachteil großer Inventare bezeichnet MARTINET 1973:165 als "Belastung des Gedächtnisses", WERNER 1977:280 als "Belastung der Kompetenz". Für die Performanz liegen die Nachteile auf der Ebene der morphosyntaktischen Planung. Der Sprecher muß mehrere Morpheme zu einem sogenannten Portmanteaumorphem bündeln und dann noch die richtige Auswahl aus den verschiedenen Allomorphen treffen. "Die Entscheidung zwischen den Allomorphen zu jedem Portmanteaumorphem dient nun nicht mehr der bloßen Rekodierung' der schon vorhandenen Information, sondern durch sie wird Redundanz produziert. Denn diese Auswahl wird nicht, wie bei einfacher Rekodierung, durch die zu kodierenden Zeichen selbst determiniert, sondern durch andere Zeichen innerhalb derselben Nachricht. Beim deutschen Substantiv z.B. wird in die beiden Allomorphe /-3r/ und /-3/ dieselbe morphologische Information kodiert, nämlich ' P l . 1 , hinzu aber kommt notwendig eine Information über den Deklinationstyp des Substantivs, also eine lexikalische Information, die sich aber eigentlich erübrigt, da das Substantiv ja selbst genannt wird." (142)
Im Hinblick auf unsere Arbeit besonders interessant sind die Überlegungen von RONNEBERGER-SIBOLD zum Suppletivwesen, da die Prät.präs. oft in ihren Formen zwischen Flexion und Suppletion stehen. Als Suppletivformen sind nach WERNER 1977 alle die Formen anzusprechen, die synchron nicht oder nur Unter "Rekodierung" versteht RONNEBERGER-SIBOLD im Anschluß an MILLER 1967 ein Verfahren, "bei dem Einheiten der einen Ebene zu Gruppen zusammengefaßt und als ganze Gruppen durch Einheiten der anderen Ebene ersetzt werden." ( 1 6 7 ) .
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um den Preis einer exzessiven Allonorphik nach generellen phonologisch-morphologischen Regeln voneinander ableitbar sind (144). Es ist eine empirische Tatsache, daß Allomorphik bei den seltenen oder nicht besonders häufigen Wörtern eher zum Abbau tendiert, während höchstfrequente Wörter eher zur Allcmorphbildung oder zur Suppletion neigen. Im Falle der Prät.präs. stehen neben verschiedenen Num.-Stammallomorphen im Präs, meist spezielle Endungsallomorphe. MANCZAK 1966 und WERNER 1977 weisen darauf hin, daß die größere Differenziertheit der Suppletivformen einen Vorteil für den Hörer darstellt, ein Plus an Redundanz. Für den Sprecher bieten Suppletivformen den Vorteil, bei hochfrequenten Wörtern sehr viel an Information in einen kurzen Ausdruck "verpacken" zu können, ein Vorteil für die phonologische Planung. Nachteile entstehen auf der Ebene der morphosyntaktischen Planung, denn Allonorphik und Suppletivformen vergrößern das Inventar der zu speichernden Formen. Das ist der Grund, warum Suppletivformen nur bei den wenigen, höchstfrequenten Wortformen ökonomisch sind. Nach WERNER 1977 entsteht Suppletion immer wieder, meist durch Lautwandel, wird aber im Gegensatz zu anderen Irregularitäten nicht durch das Wirken der Analogie beseitigt. Es ist feststellbar, daß in manchen Fällen, in denen mehrere Varianten zur Auswahl stehen, gerade die Suppletivform selektiert wird und somit quasi "angestrebt" wird, also keineswegs "unerwünscht" (so VENNEMANN 1972) ist. Das agglutinierende Verfahren ist für die morphosyntaktische Planung optimal; zwischen Morphemen und Morphen besteht eine 1:1-Zuordnung. Nachteile entstehen auf der Artikulationsebene, da die Sprechkette länger ist als beim flektierenden Verfahren. Ferner treten häufig Reduktions- und Assimilationsprozesse auf, die auf der Ebene der phonologischen Planung berücksichtigt werden müssen. Das explizit isolierende Verfahren bietet den Vorteil, daß hier die Bündelung von Morphen zu Wörtern entfällt; Nachteile hat es auf der Ebene der Artikulation, da jedes Morphem seinen eigenen Wortakzent erhält, und da ferner regelmäßige kombinatorische Artikulationserleichterungen zwischen Wörtern nicht in dem Maße möglich sind wie innerhalb eines Wortes (beim agglutinierenden Verfahren also). Einen Vorteil der analytischen gegenüber den synthetischen Verfahren stellt auch die Koimutierbarkeit der verwendeten Elemente dar, durch die zusätzliche Information, z.B. Ibpikalisierung, übertragen werden kann. Isolierende Konstruktionen zum Zwecke der Topikalisierung gibt es selbst in ansonsten synthetischen Sprachen, vgl. den Satz er· singt ja gut} aber tanzen tut er miserabel (156). Daß diese Möglichkeit nur beschränkt eingesetzt wird, und in den meisten Sprachen die Wortstellung
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mehr oder weniger fest ist, liegt v.a. an den Dekodierungsstrategien des Hörers, ferner an einem gewissen Streben des Sprechers nach Konsistenz der Konstituentenfolge. Das implizit isolierende Verfahren bringt eine Reduktion des Inventars mit sich; gleichzeitig ist die von ihm hervorgebrachte Lautkette verhältnismäßig kurz, was eine Entlastung der Artikulationsebene bedeutet (158). So erspart z.B. die Inversion bei der nhd. Satzfrage die Partikel (wie etwa im Lat. num) zur Fragesatz-Markierung. Ein Nachteil dieses Verfahrens ist die Unmöglichkeit der Topikalisierung mit Hilfe der Satzstellung; als Kcnpensationsmöglichkeit entstehen 'cleft sentences' (C'est le...qui; It is...who), die auf der Planungs- und Artikulationsebene aufwendig sind. "Für den Vorteil auf allen Performanzebenen im häufigen Normalfall (Aussagesatz ohne Topikalisierung) wird eine Belastung aller Performanzebenen in den weniger häufigen Fällen (Topikalisierung, Frage) in Kauf genommen. Der Ausgleich erfolgt also nicht bei der einzelnen Äußerung, sondern erst, im Rahmen einer größeren Menge von Äußerungen, die als repräsentativ für die relativen Häufigkeiten von 'normalen' Sätzen und Sätzen mit Topikalisierung durch Umschreibung bzw. umschriebenen Fragesätzen betrachtet werden können." (162)
Beim kombinierenden Verfahren wird wie bei der Flexion von der 1:1-Zuordnung von Morphen und Marphemen abgewichen. Im Gegensatz zum flektierenden werden beim kombinierenden Verfahren weniger Morphe als ^torpheme benötigt. Bei beiden ist dadurch die direkte Zuordnung unmöglich, was eine Belastung der Planungsebene darstellt. Seine Entstehung und Ausbreitung verdankt das kombinierende Verfahren nach RQNNEBERGER-SIBOLD der Entstehung neuer analytischer Formen, also z.B. der Ersetzung einer durch Flexion gebildeten Konstruktion durch eine analytische. Wenn hierbei nicht völlig neue Einheiten geschaffen werden sollen, dann muß aus mehreren vorhandenen Ausdruckseinheiten zusammen eine neue gebildet werden, wodurch allerdings neben anderen Nachteilen eine komplizierte Sprechtaktstruktur der Lautkette in Kauf genommen werden muß. Auch beim Dekodierungsprozeß des Hörers lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden, die allerdings noch mehr als die beim Sprecher als Abstraktionen aufzufassen sind: 1) die phonologische Ebene; hier erfolgt die Identifikation der Morphe und gegebenenfalls der Wörter. 2) die morphologischsemantische Ebene; hier erfolgt die Zuordnung der semantischen Entsprechungen zu diesen Morphen bzw. Wörtern. 3) die syntaktische Ebene; hier werden die Wörter zu größeren syntaktischen Einheiten zusammengefaßt und diese Einheiten dann semantisch interpretiert (167). Aufgabe des Hörers ist es,
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nacheinander geäußerte Phone zu Morphen, diese zu Wörtern usw. zusammenzusetzen, bis er zu dem "Gedanken" gelangt, den der Sprecher ihm übermitteln wollte. Je weniger Rekodierschritte er dabei zur Dekodierung der Äußerung benötigt, desto vorteilhafter sind die verschiedenen Verfahren dabei für ihn. Aber auch für den Hörer hat jedes Verfahren auch Nachteile: Das implizit isolierende Verfahren mit seiner festen Konstituentenfolge ermöglicht es, größere Einheiten auf einmal zu rekodieren, da sich die Zugehörigkeit einer kleineren Einheit zu einer größeren leicht vorhersagen läßt: hat eine Sprache nur die Struktur S-V-O, dann kann der Hörer jede Folge NPV-NP sofort als S-V-O = 'Satz1 rekodieren (168). Bei anderen Verfahren müssen relationale Morpheme durch eigene Morphe ausgedrückt werden. Für den Hörer bedeutet das einen erhöhten Aufwand auf der phonologisehen und morphologischen Ebene, vor allem beim Ausdruck von Relationen durch Kongruenz, "da hier zunächst mehrere Morpheme identifiziert und dann auch noch verglichen werden müssen, ehe die entsprechenden Wörter zu größeren Einheiten zusammengeordnet und rekodiert werden können." (169). Nachteile bietet das implizit isolierende Verfahren auch für den Hörer bei der Topikalisierung, dennoch ist es für ihn das vorteilhafteste Verfahren; das läßt sich auch daran ersehen, daß auch in Sprachen mit eigenen Morphen für relationale Morpheme oft die Wortstellung fest ist, z.B. in der nhd. Nominalphrase. Diese Redundanz ist ganz im Sinne des Hörers. Beim explizit isolierenden Verfahren sind für den Hörer immerhin die Morphemgrenzen klar zu erkennen, die phonologische Dekodierung ist daher erleichtert. Die größere Freiheit des Sprechers in der Stellung der grammatischen Morphe (im Vergleich zum synthetischen Verfahren) stellt für den Hörer aber einen Nachteil bei der syntaktischen Dekodierung dar (171). Für das kombinierende Verfahren gilt im Prinzip dasselbe: Vorteilen auf der phonologischen Ebene durch eine geringere Zahl an Morphen, die zur Auswahl stehen, stehen große Nachteile auf der syntaktischen Ebene gegenüber, da mehrere Morphe zu einem Morphem rekodiert werden müssen (171) . Beim agglutinierenden Verfahren hat der Hörer gegenüber dem explizit isolierenden Verfahren Vorteile bei der syntaktischen Dekodierung, da hier die Stellung der granmatischen Morphe fest ist. Nachteile treten bei der phonologischen Dekodierung auf, durch Assimilationen innerhalb des Wortes (172). Beim flektierenden Verfahren (und speziell bei Suppletion) gibt es meist mehr Redundanz als beim agglutinierenden Verfahren, was die phonologische Dekodierung für den Hörer vergleichsweise einfach macht. Die Erkennung der Morphe ist hier relativ leicht, Nachteile entstehen dafür bei der weiteren
41
Dekodierung in Morpheme, da bei diesem Verfahren keine 1:1-Zuordnung gegeben
ist. Alle diese Performanzbedürfnisse und einige weitere versucht RCNNEBERGERSIBOLD dann zueinander in Beziehung zu setzen; es ergibt sich dabei ein auf den ersten Blick verwirrendes Bild, da jedes Bedürfnis mit jedem anderen direkt oder indirekt in Beziehung steht. Sie gelangt zu folgender Gesamtdarstellung (2O5, vgl. nächste Seite) , wobei —>· eine Implikation bezeichnet, >
eine Ausschließung und
eine Konjunktion. Hier sind keine absoluten Aus-
sagen gemeint, sondern graduell gestufte; z.B. besagt 'kleines Phoneminventar —> 'Kleines Morphinventar': Je kleiner das Phoneminventar wird, desto kleiner wird, ceteris paribus, das Morphinventar.
Drei zentrale Komplexe von Bedürfnissen lassen sich dabei herausarbeiten: (1) Das Bedürfnis des Hörers nach Eindeutigkeit (der Phone, der Morpheme, der Konstituenten); (2) das Bedürfnis nach kleinen Inventaren (Merkmal-, Phonem-, Morpheminventar); (3) das Bedürfnis nach Kürze (der Morphe, der Morphketten, der Morphemketten). Dazu könnt als vierter Komplex noch das Bedürfnis der Sprachbenutzer nach Analogie oder besser: nach analogem Handeln. Sowohl beim Sprecher als auch beim Hörer besteht auf der Ebene der Artikulation bzw. der phonologischen Dekcdierung ein Bedürfnis nach niedriger Phonemkomplexität und nach einem kleinen (phonetischen) Merkmalinventar. Aus beiden Bedürfnissen resultiert ein kleines Phoneminventar als Sprecher- und Hörerbedürfnis
(1; in der umseitigen Skizze). Ferner haben sowohl Sprecher
als auch Hörer auf diesen Ebenen das Bedürfnis nach kurzen Morphen und kurzen Morphketten. Dieses Bedürfnis kommt zusanmen mit dem nach einem kleinen Phoneminventar dem Bedürfnis von Sprecher und Hörer nach einem kleinen Morphinventar entgegen (2) . Soweit verlaufen Hörer- und Sprecherinteressen parallel; wird ihnen aber in hohem Maße nachgegeben, so resultieren daraus Konflikte mit anderen Bedürfnissen auf anderen Ebenen: Auf Seiten des Hörers besteht ein Bedürfnis nach Eindeutigkeit der Phone auf der Ebene der phonologischen Dekodierung, nach Eindeutigkeit der Morphe auf der Ebene der morphologisch-semantischen Dekodierung und nach Eindeutigkeit der größeren Konstituenten auf der Ebene der syntaktisch-semantischen Dekodierung. Für den Sprecher besteht auf der Ebene der syntaktischen Planung das Bedürfnis nach einer 1:1-Zuordnung von Morph und Morphem, das im Widerspruch steht zum Bedürfnis nach Kürze auf der Ebene der Artikulation. Beide Bedürfnisse sind nicht gleichzeitig optimierbar ( 3 ) . Wird dem Bedürfnis nach 1:1-Zuordnung entsprochen (durch agglutinierendes Verfahren), so resultiert daraus zugleich ein rela-
42 Gesamtdarstellung -C
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4.3.tiv kleines Itorphinventar (verglichen mit dem flektierenden Verfahren) ( 4 ) . Ein kleines Itorphinvenatr kann der Sprecher aber auch durch Homophonie der Morphe erreichen, und dann entsteht ein Konflikt zum Bedürfnis des Hörers nach Eindeutigkeit der Morphe (5). Gleiches gilt für den Hörer auf den Ebenen der phonologischen bzw. morphologisch-semantischen Dekodierung: 1:1-Zuordnung schließt kurze Morphketten aus ( 6 ) , bei einem kleinen Morphinventar kann die Eindeutigkeit der Msrphe verloren gehen (7). Der Sprecher hat ferner auf der Ebene der Artikulation das Bedürfnis nach leicht artikulierbaren Phonemfolgen; Assimilationen sind eine Folgeerscheinung dieses Bedürfnisses. Für den Hörer resultiert daraus eine Belastung, da die Eindeutigkeit der Phone nicht mehr gegeben ist.
Die Bedürfnisse
1
"leicht artikulierbare Phonemfolgen', 'kurze Morphe , 'kleines Phoneminventar' und "Eindeutigkeit der Phone und Morphe1 sind nie gleichzeitig realisierbar, es wird immer eines von ihnen auf Kosten von anderen verletzt werden (8).
Das Bedürfnis von Sprecher und Hörer nach Analogie, besser: nach analogem Handeln, läßt sich in verschiedenen Teilbedürfnissen nachweisen. Es besteht ganz allgemein darin, in vergleichbaren Situationen vergleichbar handeln zu wollen, und ist so die Ursache für das bereits genannte Bedürfnis nach 1:1Zuordnung von Morphen und Morphemen. Eine andere Ausprägung des Analogiebedürfnisses bei Sprecher und Hörer ist das nach einer festen Konstituentenfolge, die wiederum eine Begleiterscheinung des implizit isolierenden Verfahrens ist bzw. dieses begünstigt (9). Es bringt ferner kurze Morphketten mit sich und kommt damit Bedürfnissen des Sprechers und Hörers entgegen (10). Analogie ist auch die Ursache für das Bedürfnis nach möglichst wenig phonologischer Rekodierung: das gleiche Morph sollte immer auf ein und dieselbe Weise artikuliert werden. Hier kann sich natürlich ein Konflikt mit dem Bedürfnis nach leicht artikulierbaren Phonemfolgen einstellen ( 1 1 ) . Für den Sonderfall der Tonikalisierung gelten v/eitere Zusammenhänge, die durch gestrichelte Linien in der Gesamtdarstellung angedeutet sind. Es ist hier aus Platzgründen nicht möglich, sämtliche Konsequenzen all dieser Zusammenhänge darzustellen; wir müssen den Leser auf das Buch von KQNNEBERGER-SIBOLD verweisen, wo dies (zumindest teilweise) geleistet wird. Klar dürfte aber geworden sein, wie komplex das Beziehungsgefüge zwischen den verschiedenen Performanzbedürfnissen ist,
und daß sie sich niemals gleich-
zeitig optimieren lassen. Das ist auch der Grund dafür, warum Sprachen sich ständig wandeln. Da es kein absolutes Optimum gibt, da kein Sprachsystem alle Bedürfnisse gleich-
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zeitig befriedigen kann, gibt es kein ideales "Endziel" für eine Sprache; die Sprecher sind zwar bemüht, die Gesamtbelastung so gering wie möglich zu halten, aber für partikulare Optimierungen, für Vorteile in einem Teilbereich, bezahlen sie mit Nachteilen in einem anderen Teilbereich. Wenn dieser Nachteil zu groß wird, müssen sie darauf reagieren, bis ein neues Optimum sich eingestellt hat. Dies ist die eine Ursache für Sprachwandel. Eine zweite ergibt sich aus der Tatsache, daß auch ein relatives Optimum jeweils nur für eine bestimmte historische Situation gilt. Wenn sich z.B. die Vorkommenshäufigkeiten einzelner sprachlicher Elemente ändern, so müssen die Sprecher ihr System an diese Veränderungen anpassen. Das bedeutet also, daß außersprachliche Gegebenheiten Konsequenzen für das Sprachsystem mit sich bringen. "Unter der großen Zahl der möglichen Lösungen für das Balancespiel der Performanzbedürfnisse wird durch Vorkommenshäufigkeiten keine Auswahl getroffen, wohl aber unter den vielen Möglichkeiten, jede einzelne Lösung im System zu realisieren." (229)
Die dritte, nach RONNEBERGER-SIBOLD wichtigste Ursache für Veränderungen des Sprachsystems ist Sprachmischung, die von geringfügigen Kontaktphänomenen (lexikalische Entlehnungen) bis zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen gehen kann. Je intensiver der Kontakt und je unterschiedlicher die betroffenen Sprachen sind, desto größer sind auch die Auswirkungen auf das Sprachsystem. Lautliche Veränderungen treten ein aufgrund der Tatsache, daß Erwachsene weniger befähigt sind als Kinder, Laute und Lautkombinationen nachzuahmen bzw. zu erkennen, die in ihrer Muttersprache nicht vorkommen. Morphologische und syntaktische Veränderungen treten ein, weil Erwachsene viel stärker als Kinder die Bedürfnisse bevorzugen, die auf analoges Handeln gerichtet sind, z.B. 1:1-Zuordnung von Morphen und Morphemen oder Einheitlichkeit der Konstituentenfolge. Eine Konsequenz ist u.a. der Abbau von komplexer Allomorphik. Das Motiv der Sprachbenutzer für die Veränderung ihres Sprachsystems läßt sich somit wie folgt zusarntienfassen: "Es ist das Streben nach einem Sprachsystem, das eine unter den gegebenen Umständen optimale Verteilung der Belastungen auf die verschiedenen Performanzbedürfnisse herbeiführt. Dieses Streben aber ist genau das, was wir unter Sprachökonomie verstehen. Die jeweils gegebenen Umstände, an denen sie sich orientiert, setzen sich zusammen aus dem Sprachsystem, den außersprachlichen Gegebenheiten, vor allem der Differenzierung der Sprachgemeinschaft nach sozialen, dialektalen usw. Gesichtspunkten, gegebenenfalls den vorhandenen anderen Sprachsystemen und den relativen Häufigkeiten der Sprachelemente. Die optimale Verteilung unter diesen Umständen ist die, bei der die gewünschte Kommunikationsabsicht mit dem kleinstmöglichen Aufwand an psychischer und physischer Kraft erreicht wird, der zu diesem Zweck benötigt wird." ( 2 3 6 ) .
45
Das Vorhandensein mehrerer gleichwertiger Lösungen ist nicht ausgeschlossen; deshalb sollte nan besser nicht von der, sondern von einer optimalen Verteilung im Sinne eines relativen Optimums sprechen. FöNNEBERGER-SIBQLDs Theorie "der Sprachökonomie erweist sich somit als umfassendes Konzept sprachlichen Wandels auf allen Ebenen, das weit über das hinausgeht, was man bisher meist unter Sprachökonomie verstand (Kürzung im Ausdruck, Vereinfachung der Sprache). Sprachökonomie ist ein übergreifendes Prinzip, das andere Erklärungsmodelle nicht ausschließt, sondern integriert; sie stellt gewissermaßen eine Rahmentheorie für viele andere dar. Eine allerdings nur vermeintliche Schwäche des Modells liegt in der Unfähigkeit, im konkreten Einzelfall mit Notwendigkeit zutreffende Voraussagen zu machen. Dem ist zu entgegnen, daß Sprache und Sprachwandel ein Phänomen der dritten Art im Sinne von KELLER 1982, 1983 ist, genauer "die unbeabsichtigte Konsequenz individueller (intentionaler) kommunikativer Handlungen" (KELLER 1983:66). Eine Sprachwandeltheorie kann deshalb in den meisten Fällen nur diagnostische, nicht prognostische, Zielsetzungen haben.
Als theoretische Grundlage für die Problemstellung dieser Arbeit, als Modell morphologischen Wandels also, erscheint ein integriertes Modell am besten geeignet zu sein, das sowohl sprachökonomische Gesichtspunkte als auch solche der systembezogenen Natürlichkeit im Sinne von WURZEL 1984 berücksichtigt. Wir warden versuchen, dieses Modell und seine Anwendung auf das Problem der Prät.präs. im folgenden Unterkapitel zu skizzieren. 0.4
Skizze eines Modells des morphologischen Wandels und seine Anwendung auf das Problem der Präteritopräsentia:
0.4.1 Modell: Das Modell der Sprachökonomie, wie RQNNEBERGER-SIBOLD es entwickelt, sieht die Ursache für sprachlichen Wandel in erster Linie in Bedürfnissen der Performanz. WURZELs Modell der systembezogenen Natürlichkeit ist dagegen ein reines Kompetenzmodell, mit dem weniger das "Warum?" eines sprachlichen Wandels als vielmehr das "Wie?" erklärt werden kann. WURZEL behandelt die Morphologie als autonome Sprachebene, PONNEBERGER-SIBOLD operiert dagegen mit sprachlichen Ausdrucksverfahren, die traditionellerweise den Ebenen der Phono logie, Morphologie und Syntax zugeordnet werden worden. Beide Modelle weisen Schwächen auf, die z.T. schon angesprochen wurden: Die Sprachökonomie ermöglicht Aussagen darüber, warum ein bestimmtes Verfahren für ein Sprachsystem in einer bestimmten historischen Situation vorteilhaft bzw. ökonomisch ist. In einem konkreten Einzelfall kann z.B. konstatiert werden, daß hier
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die Vorteile des flektierenden Verfahrens dessen Nachteile überwiegen sollten (etwa bei hochfrequenten Einheiten); wenn ein Wandel eintritt, dann wird er wahrscheinlich flektierende Formen produzieren. Wie diese Formen aber konkret aussehen werden, ob sie nach dem Muster anderer im Sprachsystem vorhandenen Formen gebildet werden, oder ob ein neues Muster entsteht, dafür
lie-
fert das Modell der Sprachökonomie keinen Anhaltspunkt. Die Sprachökoncmie postuliert: wenig frequente Einheiten sollten möglichst einheitlich gebildet werden, damit wenig Rekodierungsschritte erforderlich sind; sie sagt nicht direkt, woher das Muster für diese einheitliehe Bildungsweise kommt. Dies sind aber genau die Bereiche, in denen nach WURZEL die systembezogene Natürlichkeit wirksam wird. An diesem Modell wurde oben kritisiert, daß Frequenzkriterien angeblich keine Rolle spielen sollen; das Modell ist zu eng, insofern es nur die Ebene der Flexionsmorphologie berücksichtigt und die anderen morphologisch/syntaktischen Verfahren ausschließt. Eine Synthese der beiden Modelle könnte ein adäquates Modell für morphologischen Wandel ergeben; wenn man so will, handelt es sich um eine Erweiterung jedes der beiden Modelle um das jeweils andere. Dieses Modell soll zunächst nur Erklärungen liefern für die Problemstellung dieser Arbeit: Die Entwicklung der Gruppe der Prät.präs. Das Ziel kann dabei nur sein, Erscheinungen verständlich zu machen, die im Rahmen anderer Modelle unverständlich bleiben müssen. Adäquatheit eines Modells bedeutet für uns seine Anwendbarkeit auf eine bestimmte Materialmenge. Es geht also nicht darum, hier ein Modell vorzulegen, das alle Bereiche sprachlichen Wandels zu erklären vermag; selbst für den Teilbereich des morphologischen Wandels könnte es sich als ergänzungsbedürftig erweisen. Das t r i f f t aber - soweit wir sehen - auf alle Sprachwandelmodelie zu.
Die Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz, verstanden als Sprachsystem und Sprachverwendung, ist sicher notwendig und berechtigt. Sprechen dient in erster Linie der Kommunikation; in der Performanz realisiert der Sprachbenutzer seine konkrete Kommunikationsabsicht. Er bedient sich dabei z.T. der Mittel, die ihm vom Sprachsystem zur Verfügung gestellt sind, er ist aber auch dazu in der Lage, eine Auswahl unter verschiedenen Varianten zu treffen und gegebenenfalls auch Neuerungen zu produzieren. In der Performanz entstehen dadurch ständig Varianten, auf allen sprachlichen Ebenen, von der Phonologie bis zur Stilistik. Auslöser für die Entstehung von Varianten können dabei sehr verschiedene Motive sein: Selbstdarstellung des Sprechers, sprachliche Umgebung, Lücken im Sprachsystem, Erleichterung der Artikulation, Generalisierung, um nur einige wenige zu nennen. Man kann allenfalls versuchen, hierbei auftretende Typen zu erfassen, die Motive im Einzelfall entziehen sich der Untersuchung. Jedes Sprachwandelmode11 muß sich daher auf gewisse Abstraktionen beschränken, die wiederum abhängen vom
47 zu untersuchenden Material. Wir interessieren uns hier in relativ engem Sinn dafür, wie Inhaltseinheiten ausgedrückt werden und welche Interaktionen zwischen den verschiedenen Ebenen (traditionell: Phonologie, Morphologie, Syntax) dabei eintreten.
Es ist nach RONNEBERGER-SIBOLD davon auszugehen, daß die Sprachbenutzer bei jedem einzelnen Kcmnunikationsvorgang versuchen, ihre Konraunikationsabsicht mit einem Minimum an Aufwand zu erreichen. Die Belastungen der verschiedenen Performanzbedürfnisse sollen möglichst gering sein. Als Performanzbedürfnisse akzeptieren wir hier die Punkte, die RQNNEBERGER-SIBOLD 198O herausgearbeitet hat, obwohl sie im Einzelnen sicher einer detaillierteren Diskussion bedürften. Das Sprachsystem ist dann das relative Optimum dieser Performanzbedürfnisse, oder vielleicht besser das Produkt der Akkumulation von Performanzakten. Das Sprachsystem begründet aber auf der anderen Seite direkt die Performanz, indem es 1) eine N o r m a l liefert, anhand derer in der Performanz entstandene Neuerungen bewertet werden können, 2) den Weg der Neuerungen mehr oder weniger direkt beeinflußt und 3) den Rahmen abgibt, innerhalb dessen Sprachveränderung wirksam werden kann. Daß in der Performanz ständig neue Varianten entstehen, bedeutet nämlich noch keinen Sprachwandel; der ist erst dann eingetreten, wenn die neue Form ins Sprachsystem aufgenommen wurde und somit in einem beschreibbaren Kontext den Status der Obligatorik bekommen hat. Es kann dadurch eine ältere Form ersetzt werden; es ist aber genausogut möglich, daß eine ältere und eine jüngere Form als Varianten ins System eingehen, u . U . mit "stilistischer Wertung", von denen dann eine obligatorisch gewählt werden muß ( z . B . nhd. käme und würde kommen] .
Wir übernehmen ebenfalls das von RONNEBERGER-SIBOID 198O vorgeschlagene Performanzniodell mit den verschiedenen Ebenen der Sprachproduktion: der Sprecher möchte einen "Gedanken" an den Hörer übermitteln; dafür ist es zunächst erforderlich, diesen "Gedanken" auf der Ebene der semantischen Planung in eine Reihe von Inhaltseinheiten zu zerlegen, die man vielleicht besser als Sememe bezeichnen sollte (bei RDNNEBERGER-SIBOID: Morpheme). Den Inhaltseinheiten werden auf der Ebene der morphosyntaktischen Planung abstrakte Ausdruckseinheiten, Morphe, zugeordnet, die dann durch die phonologische Planung in "fertige Lautvorstellungen" und diese wiederum auf der Ebene der Artikulation in eine konkrete Lautkette umgesetzt werden. Auf jeder der hier unterschiedenen Ebenen findet eine Rückkoppelung mit dem Sprachsystem statt, das die Norm darstellt; es sind aber auch Verstösse gegen diese Norm möglich, die dann unter Umständen zum Sprachwandel
11
"Norm" ist hier und im Folgenden nicht streng im Sinne von COSERIU, z . B . 1974:46ff verwendet, sondern neutraler bzw. umgangssprachlicher.
48 führen können. Uns interessiert hier besonders die Ebene der morphosyntaktischen Planung, da diese Arbeit sich mit morphologischem Wandel beschäftigt. Hier legt das Sprachsystem z.B. fest, wie ein Semem/Morphem zu realisieren ist, bzw. welche Varianten dafür zur Verfügung stehen, und außerdem, ob ein Semem/Morphem fakultativ - wie etwa beim implizit isolierenden Verfahren - oder obligatorisch als Morph auf der Ausdrucksebene erscheinen muß.
Bei der Kodierung von Sememen in MDrphe gibt es verschiedene Möglichkeiten; RCNNEBEPGER-SIBOLD unterscheidet die vier hauptsächlichen Verfahren Isolation, Kombination, Flexion und Agglutination und diskutiert deren verschiedene Vor- und Nachteile. Auch mit diesem Punkt stimmen wir prinzipiell überein, halten allerdings eine genauere Differenzierung der morphosyntaktischen Verfahren für erforderlich. Das Sprachsystem legt fest, welches Verfahren in einem konkreten Fall Anwendung findet, oder zwischen welchen Verfahren gegebenenfalls Wahlfreiheit besteht (flektierendes Verfahren beim Konj. II, kombinierendes beim Konj. III); es stellt ein relatives Optimum in dieser Hinsicht dar. Eine Veränderung der Performanzbedingungen, worunter v.a. Frequenzkriterien zu beachten sind, bewirkt in den meisten Fällen eine größere oder kleinere Belastung eines der Performanzbedürfnisse auf Kosten der anderen. Dies wird zu Veränderungen in der Sprachverwendung führen, bis sich ein neues relatives Optimum eingestellt hat. Durch die Veränderungen im Einzelnen wandelt sich auch das Sprachsystem; spätestens mit dem Obligatorisch-Werden von bisher fakultativen Varianten ist Sprachwandel abgeschlossen. RONNEBERGER-SIBOLD 198O unterscheidet ferner bei den Inhaltseinheiten zwischen lexikalischen, relationalen und grammatischen Morphemen (in unserer Terminologie: Sememen). Eine exakte Definition der Begriffe soll hier nicht erfolgen, sicher ist aber, daß jedes Sprachsystem für jedes Semem festlegt, ob und wie es in Morpheme kodiert zu werden hat. Allgemein läßt sich wohl sagen, daß lexikalische Sememe weitgehend fakultativ sind, wohingegen relationale und grammatische Sememe stark zur Obligatorik tendieren. Der Gegensatz 'fakultativ' - 'obligatorisch 1 wird gesteuert und ist abhängig vom jeweiligen Sprachsystem. Wird ein relationales oder grammatisches Semem in einem bestimmten Sprachsystem obligatorisch durch eines der morphosyntaktischen Verfahren zum Ausdruck gebracht, dann liegt eine grammatische Kategorie vor. Diese Definition der grammatischen Kategorie deckt sich mit der Terminologie in WURZEL 1984; die grammatischen Sememe bezeichnet WURZEL als "grammatische Basiskonzepte" und stellt im folgenden fest: "Grammatische Basiskonzepte bilden ( . . . ) in einer gegebenen Sprache grammatische Kategorien, wenn sie über entsprechende formale, also morphologische oder syntaktische Korrelate verfügen." ( 6 3 ) . Unsere Definition weicht im Grunde nur geringfügig von der WURZELs ab: Grammatische Basiskonzepte bzw. Sememe bilden in einer gegebenen Sprache grammatische Kategorien, wenn sie unter bestimmten Umständen obli-
49 gatorisch durch eines der morphosyntaktischen Verfahren zum Ausdruck gebracht werden müssen. Eine grammatische Kategorie bezeichnen wir als morphologische Kategorie, wenn sie durch eines der Verfahren: Agglutination, Flexion oder Kombination zum Ausdruck gebracht wird. Für jede Sprache ist somit gesondert zu bestimmen, welche grammatischen Kategorien bzw. morphologische Kategorien sie aufweist, und wie diese in ihr realisiert werden. Sowohl die Kategorien als auch deren Realisierung können sich durch Sprachwandel verändern; solche Erscheinungen zu erklären, ist die Aufgabe der Sprachwandelmodelle, die sich mit morphologischem Wandel beschäftigen.
Eine Systematisierung der in diesem Zusammenhang auftretenden Erscheinungen gibt WERNER 1984b:538ff; er zeigt darüber hinaus, wie diese Erscheinungen im Rahmen des ökoncmie-Modells zu erklären sind. WERNER versteht die Morphologie als denjenigen Teilbereich der Syntax (bzw. Ntorphosyntax), "bei dem die Zeichen (lybrphe) in besonderer Weise im Ausdruck verknüpft und zunehmend komprimiert, aus der segmentierten zeitlichen Folge zur Gleichzeitigkeit hin verschoben werden." (541). Ursache dafür ist eine hohe Gebrauchsfrequenz der Zeichen, die semantische oder phonologische Verschmelzungen verursacht. "Der Sprecher braucht hier nicht mehr in der parole selbst die Syntagraen zu konstruieren; er findet in der langue die fertigen Kombinationen vor. Damit schafft die Ökonomie aus der Syntax Morphologie." (541f)
Zugleich resultiert daraus eine Verkomplizierung, eine Belastung der Kompetenz, unter önständen auch eine Verminderung der Leistungsfähigkeit beim Verstellen, wodurch eine Gegenreaktion erforderlich werden kann. Diesen Dauerkonflikt sieht WERNER als den eigentlichen Motor morphologischen Wandels an: "So ergibt sich ein ständiges Koppeln/Komprimieren und Entkoppeln/Expandieren, ein Auf- und Abbau von Flexion. ( . . . ) Grundlegend sind die wechselnden Gebrauchsfrequenzen, die zu Änderungen im System führen." (542)
Soweit die Grundgedanken der Sprachökonomie, wie wir sie verstanden wissen wollen. Sie postuliert ein sich inner wieder neu einstellendes Kräftespiel zwischen verschiedenen Faktoren, von denen die wichtigsten das vorgegebene Sprachsystem und die relativen Häufigkeiten der Sprachelemente sind. Ebenfalls eine Rolle spielen außersprachliche Faktoren wie Sprach- und Dialektmischungen, soziale Gesichtspunkte, Normierungen etc., worauf unten noch
12
Daß dabei u . U . innerhalb des Sprachsystems verschiedene Verfahren zur Auswahl stehen können, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.
50
eingegangen werden wird. Folgendes Schaubild soll das Kräftespiel veranschaulichen:
Außersprachliche Faktoren ^Sprachmischungen e ^Frequenz j ^^^
Performanz
^
/S
Vor- und Nacht °il° der verschiede Verfahren
^ ^\^w
^^
Kompetenz des Einzelsprechers
f*.
Sprachsystem
Von hier aus wollen wir uns dem engeren Bereich des morphologischen Wandels genauer zuwenden: Das Prinzip der Sprachökonomie postuliert eine Abhängigkeit zwischen morphosyntaktischem Verfahren und der Gebrauchsfrequenz; die Ursache für sprachlichen Wandel liegt in der Performanz, wo ständig Varianten erzeugt werden. Eine inner wieder zu beobachtende Erscheinung etwa sind Erleichterungen auf der Ebene der Artikulation, phonologische Vereinfachungen. Sie bewirken oft eine Komprimierung und damit größere Kompliziertheit auf der Ebene der morphosyntaktischen Planung, indem mehr oder weniger irreguläre Formen entstehen. Ob diese zunächst als Varianten entstandenen irregulären Formen vorteilhaft sind oder nicht, ob sie ins Sprachsystem aufgenommen werden oder nicht, hängt in erster Linie von der Frequenz der betroffenen Einheiten ab. Bei hochfrequenten Einheiten tendiert man dazu, Irregularitäten zu bewahren; bei niedrigfrequenten werden sie dagegen meist schnell wieder beseitigt. Tritt der Wandel ein, so kann man in traditionellem Sinn von morphologischem Wandel infolge von Lautwandel sprechen. Wir bevorzugen die Formulierung: in diesen Fällen liegt phonologisch bedingter morphologischer Wandel vor. Dies ist die eine wichtige Ursache morphologischen Wandels; die zweite Ursache wird traditionellerweise als Analogie bezeichnet. Hierbei handelt es sich um morphologisch bedingten morphologischen Wandel. Auch hierbei ersetzt, wie beim phonologisch bedingten morphologischen Wandel, eine neue Variante eine ältere. Die dabei auftretenden Prozesse, die Abhängigkeiten,
51
die eine Form gegenüber einer anderen als bevorzugt erscheinen lassen, sind hierbei aber andere. Die Arbeiten von MAYERTHALER 1981 und WURZEL 1984 versuchen, die hier wirkenden Prinzipien herauszuarbeiten. MAYERTHALERs Prinzip der morphologischen Natürlichkeit ist allerdings allenfalls peripher wirksam. Sinnvoller erscheint ein Modell, das WURZELs Prinzipien mit denen der Sprachökonomie kombiniert: Wenn eine Form A-. durch eine andere Form A-, ersetzt werden soll bzw. ersetzt wird, so ergeben sich dabei zwei Gesichtspunkte: (1) Nach welchem Verfahren wird die neue Form A2 gebildet? (2) Welche phonologische Gestalt erhält die neue Form A- bzw. welche morphologischen Marker im Sinne WURZELs werden zur Bildung der neuen Form verwendet? Auf die erste Frage gibt die Sprachökonomie eine adäquate Antwort, in dem Sinne, wie oben dargelegt wurde: es besteht ein Zusammenhang zwischen dem morphologischen Verfahren, nach dem die neue Form A~ gebildet wird und der Gebrauchsfrequenz dieser Form. Was die Geschichte der germ. Sprachen betrifft, so handelt es sich hierbei meistens um das Entstehen von einfacher gebildeten, reguläreren Formen bei einer Abnahme der Gebrauchsfrequenz; kompliziertere bzw. nach dem flektierenden Verfahren gebildete Formen werden durch einfachere ersetzt, die stärker nach dem agglutinierenden Verfahren gebildet sind oder nach dem isolierenden bzw. kombinierenden. Beispiele dafür sind Übertritte von starken Verben in die Gruppe der schwachen Verben oder die Ersetzung des synthetischen Konj. durch analytische Bildungen. Es kann auch überflüssige Redundanz abgebaut werden, wie etwa beim Ausgleich zwischen Sg. Prät.Ind. und Pl.Prät.Ind. bei den starken Verben. Es gibt aber durchaus auch den in der Literatur bisher wenig beachteten Fall, daß durch morphologischen Wandel, der n i c h t phonologisch bedingt ist, kompliziertere Formen entstehen, daß vom agglutinierenden Verfahren zum flektierenden gewechselt wird. Dieser Fall tritt natürlich nur bei den höchstfrequenten Einheiten ein; es werden in dieser Arbeit einige Fälle aufgezeigt werden (u.a. kann man den Wandel um. *mag - *magum > aisl. ma - megwrt dazu rechnen). Für die Beantwortung der zweiten Frage nach der phonologischen Gestalt der neuen Form liefert WURZELs Modell der systemabhängigen Natürlichkeit, wie es in O.2 dargestellt wurde, eine adäquate Antwort. Hierbei spielen innermorphologische Faktoren die entscheidende Rolle; WURZEL 1984 nennt als wichtigste die Systemangemessenheit und die Flexionsklassenstabilität (per definitionem werden in der Flexionsklassenstabilität außermorphologische Kriterien mitberücksichtigt, vgl. 0.2). Sie werden immer dann wirksam, wenn morphologisch bedingter morphologischer Wandel eintritt, unabhängig
52
davon, ob zugleich eine Änderung des morphosyntaktischen Verfahrens erfolgt oder nicht. Wir können somit das oben gegebene Schema ausbauen: Außersprachliche Faktoren
^Normierungen\
(Frequenz)
Kompetenz des Einzelsprechers
Performanz
\f Sprachsystem
Vor- und Nachteile der verschiedenen Verfahren isolierendes V.
imme rmo rphol. Faktoren
außermorphol. Faktoren
kombinierendes V.
Systemangemessenheit
Phonologie
agglutinierendes V. Flektierendes V.
FlexionsklassenStabilität
Syntax Semantik
Nachzutragen bleibt noch der Einfluß von außersprachlichen Faktoren wie Normierungen und Sprachmischungen etc., der von keinem Autor ernsthaft geleugnet wird. Während Normierungen zur Bewahrung morphologischer Strukturen beitragen, bewirken Sprachmischungen so gut wie immer tiefgreifende Veränderungen großer Teile des gesamten Sprachsystems und der Kompetenz des einzelnen Sprechers. Für den Sprachwandel kann die Bedeutung solcher außersprachlicher Faktoren gar nicht hoch genug veranschlagt werden. "Die entscheidenden Gründe, warum einmal mehr in Richtung Flexion, Komprimierung, Differenzierung und einmal mehr in Richtung Isolation, Expandieren, Uniformierung gegangen wird, die dürften allerdings mehr in äußeren, soziolinguistisch faßbaren Faktoren liegen: Eine kleine, weitgehend isolierte, sozial homogene Sprechergemeinschaft (wie auf Island) ist bereit, eine Akkumulation von Komprimierung und Komplikation länger anwachsen zu lassen als eine große Sprachgemeinschaft mit einer reichen Binnengliederung an regionalen, sozialen und stilistischen Sprachformen und mit intensiven Sprachkontakten (wie in England). Im einen Idealfall hören und benutzen die Sprecher immer nur die eine Sprachform,· sie bekräftigen und festigen sich gegenseitig. Im anderen Fall hört und benutzt man Unterschiedliches; die Wahlmöglichkeiten erlauben es, immer wieder nach morphologisch einfacheren, analogisierten Varianten zu greifen auch wenn diese weniger komprimiert sind - ohne zu sehr dem Konformitätsdruck ausgesetzt zu sein. Beim Erwerb von fremden Sprachen/-varianten
53 und Mehrsprachigkeit treten immer Pidginierungseffekte ein, zu denen vor allem der Abbau von Flexion gehört." WERNER 1984b:543f.
0.4.2 Anwendung: Wir wollen nun zum Schluß dieses Kapitels versuchen, anhand der vorgestellten Modelle ein Phänomen wie das der Prät.präs. und deren sprachgeschichtliche Entwicklung zu bewerten. Das Ergebnis spricht in überzeugender Weise für eine Kombination aus Sprachökonornie und systembezogener Natürlichkeit, wie sie gerade skizziert wurde. Nahezu alle Erscheinungen im Bereich der Prät.präs. lassen sich anhand dieses Modells, wie wir meinen, befriedigend erklären; es läßt sich zeigen, daß die flexionsmorphologischen Besonderheiten der Prät.präs. keinesfalls die "morphologische Katastrophe" darstellen, als die sie aus der Sicht von MAYERTHALER 1981 erscheinen könnten. Die Erklärung hat auszugehen von folgenden Punkten: (1) Die Prät.präs. stellen im Urgerm. und noch in den altgerm. Einzelsprachen in morphologischer Hinsicht eine eigene, wohldefinierte Gruppe dar, eine eigene Flexionsklasse im Sinne von WURZEL 1984 (die allerdings auch inhomogene Eigenschaften aufweist, vgl. z.B. 1.2). (2) Ihre flexionsmorphologischen Eigenschaften sind aus der Sicht des Gesamtverbalsystems als irregulär zu bezeichnen. Ihre Formen sind in hohem Maße nach dem flektierenden Verfahren gebildet, einige davon sind nahe den Status von Suppletivformen. (3) Ein Teil der Prät.präs. fungiert schon im Got. als Modalverben; durch morphologisch-syntaktischen und semantischen Wandel wird dieses Merkmal im Laufe der Sprachgeschichte inner wichtiger für die Gruppe bzw. Flexionsklasse. (4) Als Modalverben gehören die Prät.präs. zu den hoch- bis höchstfrequenten Verben/Einheiten im Sinne von RONNEBERGER-SIBOLD 1980 (Belege dafür in den folgenden Kapiteln). 0.4.2.1 Die Formen im Sg.Präs.Ind.: Aufgrund ihrer Entstehung aus idg. Perfektformen und der phonologischen Entwicklung der Endsilben haben die Prät.präs. in den altgerm. Sprachen in der 1.-3.Sg.Präs.Ind. die Endungen 0 - t - 0, d.h. die resultierende Morphkette ist sehr kurz, die verschiedenen lexikalischen und grammatischen Morpheme werden in einem Minimum an lautlicher Substanz gebündelt. Das trifft für alle neugerm. Sprachen immer noch zu, vgl.:
54
nhd. nschw. nengl. nisi.
l.Sg. will, kann, soll, darf, mag, muß, weiß l . S g . will, kan, ska, ma, vet, (mäste) l . S g . will, , shall, may, must l.Sg. vil, kann, skal, foarf, ma, veit, a, ann, man, mun.
Alle diese Formen sind einsilbig, sie bestehen nur aus einem Morph. In nisl. als Extremfall sind in einem Morph, das nur aus einem einzigen Phonem besteht, die Morpheme {1./3.Pers.} + {Sg.} + {Präs.} + {eiga] gleichzeitig realisiert. Die Sprachökonomie postuliert, daß ein solches Verfahren, das eine große Belastung für die Kompetenz darstellt, nur im Falle von hochfrequenten Einheiten günstig ist. Die niedriger frequenten Einheiten sollten nach anderen Verfahren gebildet werden, d.h. im Falle der niedrigfrequenten Prät. präs. sollte morphologischer Wandel eintreten. Genau dieser Vorgang läßt sich an zahlreichen Beispielen zeigen, vgl. etwa ahd. toua vs. nhd. taug-e, ahd. gan vs. nhd. gönn-e, aschw. a vs. nschw. äg-er\ Ungekehrt sollte bei hochfrequenten Einheiten Kürzung im Ausdruck eintreten, falls diese zunächst nach anderen Verfahren gebildet sein sollten; auch hierfür lassen sich Beispiele finden, etwa got. wiljau vs. ahd. wili > wil oder got. gamot/*mot vs. ahd. *gamuoz/muoz.
Kürzung im Ausdruck
ohne Änderung des Verfahrens zeigen auch nschw. skall > ska oder auch agutn. al aus skal. Natürlich läßt sich dieses Phänomen auch in MAYERTHALERs Theorie der systemunabhängigen Natürlichkeit erklären: 'Präs.' und 'Sg.' sind semantisch weniger markiert als 'Prät. 1 und 'Pl.', deshalb sollten diese Formen auch symbolisch weniger markiert sein. MAYEKTHALER bietet aber keinerlei Erklärung dafür, warum einzelne Prät.präs. diese Art der Symbolisierung bewahren (nhd.
kann, nschw. ska), andere diese Symbolisierung durch eine andere er-
setzen (nhd. tauge, nschw. ägev). Sprachökonomie und Flexionsklassenstabilität liefern in unseren Augen eine adäquate Erklärung dieser Erscheinungen, wie unten noch ausführlich erläutert wird. Als erster Punkt kann festgehalten werden: die auf lautgesetzlichem Wege entstandenen Formen des Sg.Präs.Ind. der Prät.präs. sind bei hoher Frequenz dieser Verben (und Formen) ökonomisch. Die Sprachökonomie liefert das Argument dafür, warum diese irregulären Formen bei den hochfrequenten Prät.präs. nicht beseitigt werden bzw. nicht durch reguläre Formen (*ioh könne - du kannst - er kannt) ersetzt werden, und sie erklärt die Fälle, bei denen eine Ersetzung stattfindet (aus der niedrigen Frequenz dieser Formen). 13
Im Got. ist nur das Kompositum gamotan als Vollverb mit niedriger Frequenz belegt, im Ahd. dagegen nur das einfache, kürzere muozan, das als Modalverb hochfrequent ist.
55
Auch WURZELs Prinzip der Flexionsklassenstabilität liefert eine Erklärung für diese Erscheinung: das Prinzip besagt, daß eine Flexionsklasse u.a. dann stabil ist
(d.h. nicht zu morphologischem Wandel neigt), wenn sie aus-
sermorphologisch motiviert ist.
Im Falle der Prät.präs. wäre die außermor-
phologische Motivierung durch die semantische Eigenschaft 'Modalverb' gegeben (so WURZEL 1984:149 ganz explizit für die 3.Sg.Präs.Ind. der nhd. Prät. präs.). Nicht-Modalverben verlassen die Klasse, und Modalverben werden dem Muster der Klasse angepaßt. Diese Tendenz, die Klasse der Prät.präs. ausschließlich auf solche Verben zu beschränken, die als Modalverben fungieren, postulieren wir als Tendenz für alle germ. Sprachen. Wie diese Entwicklung vor sich geht, wird in den folgenden Empirie-Kapiteln gezeigt. Das Prinzip der Flexionsklassenstabilität erklärt auch, warum ein relativ niedrigfrequentes Modalverb wie nhd. mögen seine präteritopräsentische Flexion beibehält; für die Sprachökonomie allein wäre dieser Fall problematisch. Das Prinzip erklärt jedoch nicht, warum diese Gruppe/Flexionsklasse ausgerechnet so aussieht, wie sie aussieht (also etwa 0-Endungen in der 1./ 3.Sg.Präs.Ind. favorisiert, zu anderen Eigenschaften vgl. unten). Diese Erklärung liefert dagegen, wie eben dargestellt, die Sprachökonomie. Daß innerhalb des Präs.-Paradigmas die (frequentere) 1./3.Sg. im Gegensatz zur (selteneren) 2.Sg. endungslos sind, liegt natürlich an lautgesetzlichen Entwicklungen; morphologischer Wandel tritt nur in der 2.Sg. (etwa im Dt. die Ersetzung von -t durch -st) ein, ganz im Sinne der Sprachökonomie. Allerdings muß dann zweierlei nachgewiesen werden: (1) Daß die Verben, bei denen Irregularität bzw. die präteritopräsentische Flexion bewahrt bleibt, eine hohe bis sehr hohe Gebrauchsfrequenz haben. (2) Daß die Formen des Sg.Präs.Ind. (speziell die der 1./3.Sg.) eine höhere Frequenz aufweisen als die des Pl.Präs.Ind. oder des Prät. (und daß die 2.Sg. weniger frequent als die 1./3.Sg. ist).
O.4.2.2 Der Vokalwechsel zwischen Sg.Präs.Ind. und Pl.Präs.Ind.: Oben wurden die Prät.präs. als einheitliche Flexionsklasse im Sinne WURZELs bezeichnet. Das ist aber wahrscheinlich nur teilweise korrekt (auch WURZEL 1984:149 ist in diesem Punkt nicht genügend präzis): eine Flexionsklasse ist eine Gruppe von Wörtern, die alle ihre morphologischen Kategorien in formal einheitlicher Weise symbolisieren, und deren Gesamtheit der Flexions-
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formen sich von denen aller anderen Wortgruppen formal unterscheidet (WURZEL 1984:66). Dieses Kriterium erfüllen die Prät.präs. im Got. beispielsweise in bezug auf ihre Endungen. Die Kategorie 'Pl.' wird jedoch nicht in formal einheitlicher Weise symbolisiert, da ein Teil der got. Prät.präs. einen Wechsel des Stammsilbenvokals zwischen Sg. und Pl. aufweisen (Typ: kann kunmm), ein anderer Teil jedoch nicht (Typ: og - ogum). Haben wir hier noch eine Flexionsklasse oder schon zwei? Wenn zwei Flexionsklassen vorlägen, dann müßte eine davon stabil, die andere instabil sein. Das Prinzip der Systemangemessenheit würde es dann nahelegen, daß die Gruppe ohne Vokalwechsel sich durchsetzt, da der Vokalwechsel 1) redundant ist und 2) nicht zum System der anderen Verben im Präs. paßt. Dieser Vorgang tritt aber offensichtlich nicht ein. Das Prinzip der Flexionsklassenstabilität würde die Gruppe mit Vokalwechsel als stabil erweisen, wenn sie etwa durch die Eigenschaft 'Modalverb' außermorphologisch zu motivieren wäre. Tatsächlich gehören fast alle got. Prät.präs., die als Modalverben fungieren, zu der Gruppe mit Vokalwechsel (Ausnahme magan) bzw. fast alle got. Prät.präs. ohne Vokalwechsel sind Vollverben (aigan 'haben', ogan 'fürchten', gamotan "Raum haben'; Ausnahme magan 'können, vermögen'). Die weitere Entwicklung zeigt, daß die Verben der zweiten Gruppe ohne Vokalwechsel entweder aussterben (ogan),. oder sich der Gruppe mit Vokalwechsel anschließen (got. mag - magum vs. aisl. ma - megian, and. mag - mugum) oder eine modale Bedeutung
u n d Vokalwechsel erhalten (got. aih - aigwn 'haben' vs. aisl.
-
eigum 'haben' + 'müssen'; got. gamot - gamotum 'Raum haben" vs. mhd. muoz - müezen 'sollen, müssen etc.'). Der einzige Problemfall (nicht nur in dieser Hinsicht) ist nhd. sollen. Wenn wir aber weiter fragen, warum gerade dieses Merkmal des Vokalwechsels erhalten bleibt, gegen das Prinzip der Systemangemessenheit, warum es sogar durch morphologischen Wandel ausgebaut wird, so bleibt dem Modell der systemabhängigen Natürlichkeit nur die Feststellung, daß eben schon von Anfang an die meisten Prät.präs. mit Vokalwechsel als Modalverben fungieren konnten. Eine befriedigende Erklärung ist das natürlich nicht. Die bietet allerdings das Modell der Sprachökonomie: es postuliert, daß für höchstfrequente Einheiten das flektierende Verfahren günstig ist,
daß eine ausge-
prägte Allomorphik hier in Kauf genommen wird, mit dem Extrem, daß höchstfrequente Einheiten zur Suppletion neigen. Sie bringen dann zwar als Nachteil eine Belastung der Kompetenz mit sich durch die Vergrößerung des Allomorphinventars; dieser Nachteil wird aber durch die Vorteile wieder wettgemacht. Vorteile bieten solche Formen dem Sprecher auf der Ebene der phono-
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logischen Planung, er kann sehr viel Information in einen kurzen Ausdruck "verpacken". Der wesentliche Vorteil liegt aber vermutlich auf Seiten des Hörers: durch die größere Differenzierung der Formen im Paradigma entsteht für den Hörer ein Plus an Redundanz und dies ist gerade bei den höchstfrequenten, oft unbetonten Einheiten wünschenswert bzw. erforderlich. In diesem Sinne sind Formen wie nisi, a - eigum, nhd. kann - können, die durch keine synchronen Regeln voneinander ableitbar sind, zu bewerten. Zu zeigen wäre abermals, daß die Prät.präs. zu den hoch- bis höchstfrequenten Verben gehören und zweitens, daß bei ihnen die Präs.-Formen (mit ihrer größeren Differenzierung im Paradigma) frequenter sind als die Formen des Prät. (mit geringerer Differenzierung). Ein anderer Fall liegt vor, wenn in einem Sprachsystem morphologische Kategorien verloren gehen bzw. mit anderen Verfahren als denen der Flexion zum Ausdruck gebracht werden. Dies ist eingetreten bei der Pers./Num.-Flexion im Engl., Schw., Dän., Norw. In diesem Fall wird das Prinzip der Systemangenessenheit bewirken - eventuell mit zeitlicher Verzögerung -, daß auch bei den hochfrequenten Verben die Opposition verlorengeht, konkret: daß auch die Prät.präs. eine Einheitsform ausbilden. Ganz im Sinne der Sprachökonomie (und MAYEKTHALERs Natürlichkeitskriterien) setzen sich dabei die frequenteren und kürzeren Sg.-Formen gegenüber den längeren Pl.-Formen durch, wie die Entwicklung im Nschw. und Nengl. klar zeigt. Dabei wirkt das Prinzip der Kürze (etwa im Engl.) so stark, daß nicht einmal ein überstabiler Marker wie -s '3.Sg.Präs.' auf die Prät.präs./Modalverben übertragen wird, vgl. nengl. he/she/it may/ean/must/will/shall.
Selbst das Verbum
'sein', das in allen germ. Sprachen das höchstfrequente Verb ist,
macht
hier in den kontinentalskand. Sprachen keine Ausnahme; die Besonderheiten im Engl. (am - ave - is) könnte die Sprachökonomie eventuell mit der Verwendung als Hilfsverb zur Bildung der Verlaufsform (am/is/are going, was/ were going) begründen; andernfalls könnte man auch mit der Systemangemessenheit argumentieren: in den kontinentalskand. Sprachen ist die Pers./Num.Flexion beim Verbum restlos aufgegeben, also auch bei der Kopula; im Engl. sind dagegen Reste der Pers./Num.-Flexion bewahrt (in der 3.Sg.Präs.), deshalb widerspricht eine suppletive Pers./Num.-Markierung beim höchstfrequenten Verb auch nicht dem Prinzip der Systemangemessenheit.
58
0.4.2.3 Die Endungen im Pl.Präs.Ind.: Die von Gesamtverbalsystem her gesehen irregulären Endungen der Prät.präs. sind im Pl.Präs.Ind. (wie im Sg.) diachron betrachtet das Ergebnis semantischen Wandels (Perfektformen fungieren als Präsensformen) und der phonologischen Entwicklung der Endsilben. Sie tragen als Marker ihren Teil dazu bei, die Gruppe der Prät.präs. als eigene Flexionsklasse zu konstituieren. Von Interesse ist ihre Entwicklung im Laufe der Geschichte der germ. Sprachen. Im Dt. und Ndl. fallen sie aufgrund von phonologischen Entwicklungen (Zusammenfall aller Endsilbenvokale) mit den Endungen der anderen Verben zusammen; Kriterien der systemabhängigen Natürlichkeit spielen dabei keine erkennbare Rolle. In sprachökoncmischer Sicht bringt diese Entwicklung den Vorteil mit sich, daß dadurch das Allomorphinventar verkleinert wird; die für den Hörer wünschenswerte Redundanz bleibt erhalten, da die Formen durch Endung und Wechsel des Stammsilbenvokals immer noch kräftige Unterschiede zu denen des Sg. aufweisen. Die Homophonie in der 1. und 3.P1. im Dt.
ist
durch das obligatorisch gewordene Subjekt zu disambiguieren und außerdem ein allgemein durchgeführtes Merkmal des nhd. Verbalsystems. MAYERTHALER 1981 würde in dieser Entwicklung einen Abbau von Markiertheit sehen, ein Durchsetzen des Prinzips der uniformen Symbolisierung (one function - one form). Komplizierter verläuft die Entwicklung in den nordgerm. Sprachen: Als Endung der 1. und 2.P1. haben sich bei allen Verben schon in an. Zeit sowohl im Westnord, (-um, -id] als auch im Ostnord, (-om, -in] überstabile Marker im Sinne von WURZEL 1984 durchgesetzt. Auch hier ist wie im Dt. eine Verkleinerung des Allomorphinventars bzw. uniforme Symbolisierung als Resultat zu konstatieren. Anders dagegen verläuft die Entwicklung in der 3. Pl.: hier konkurrieren lange Zeit die Endungen -a und -u, die "normale" Endung der starken und schwachen Verben mit der (aus synchroner Sicht) irregulären der Prät.präs. MAYERTHALERs Prinzip der uniformen Symbolisierung würde verlangen, daß -u bei allen Verben durch -a ersetzt wird; das gleiche Ergebnis würde auch das Prinzip der Systemangemessenheit fordern, da im An. bei allen anderen Verben der Inf. (auf -a) mit der S.Pl.Präs. homophon ist. Aus sprachökonomischer Sicht sind die beiden Endungen als gleichwertig zu beurteilen, eine Form *skula wäre genau so günstig wie die Form skulu, wenn nicht sogar günstiger durch die Verminderung des Allonorphinventars. Es läßt sich aber zeigen, daß hier das Prinzip der Flexionsklassenstabilität einen deutlichen Einfluß ausübt: die irreguläre Endung -u ist im Aisl. am
59
stabilsten bei den Prät.präs., die ausschließlich als Modalverben fungieren, bei munu und skulu (vgl. 7.2.1.1); die Ersetzung durch -a setzt sich am frühesten und so gut wie vollständig durch bei den reinen Vollverben unna und vita; Schwankungen finden sich bei den Prät.präs., die sowohl Vollverbals auch Modalverbfunktion haben können, bei eigat kunna, mega, purfa. Zum Nisl. hin entsteht dann folgende Verteilung: die nur als Modalverben fungierenden munu und skulu behalten die Endung -u, alle anderen erhalten -a. Ganz ähnlich verläuft die Entwicklung im Aschw. (vgl. 10.2.1). Mit der Aufgabe der Pers./Num.-Opposition im Dän., Schw. und Norw. bilden auch die Prät.präs. eine Einheitsform aus; dieser Vorgang wurde bereits oben mit dem Prinzip der Systemangemessenheit begründet. Gleiches gilt natürlich auch für die Entstehung des Einheitsplurals im Fär. und für die Entwicklung im Engl., was hier nur angedeutet und unten ausgeführt werden soll.
0.4.2.4 Die Fornen des Prät.: Die Formen des Prät. bei den Prät.präs. waren im Urgerm. relativ reguläre Bildungen. Im Got. beispielsweise entspricht der Endungssatz im Ind. und Konj. genau dem der schwachen Verben; der Staintisilbenvokal des Prät.
ist
fast inmer identisch mit dem des Pl.Präs.Ind. und Präs.Konj.; lediglich bei mahta vs. magum tritt Vokallängung ein und bei *ga-t *binauhta vs. *ga-3 *binugum lautgesetzliche Brechung von -u- zu -o-, Die Bildungsweise des Prät. bei den Prät.präs. steht in Einklang mit MAYERTHAIiERs Natürlichkeitsprinzipien: 'Prät.' ist semantisch "mehr" als 'Präs.' und wird deshalb auch merkmalhafter symbolisiert - mit Hilfe eines Dentalsuffixes. Die Sprachökonomie würde dagegen mit der Gebrauchsfrequenz argumentieren: die Formen des Prät. werden nach dem agglutinierenden Prinzip gebildet, da sie weniger frequent als die des Präs.Ind. sind. Durch phonologischen Wandel entstandene Irregularität bei wissa und *gamossa wird folglich auch in vielen Sprachen beseitigt, vgl. got. gamösta, ahd. wista/westa, muosta neben wissa/wessa, muosa, aengl., afries. moste, aschw., adän. viste neben visse. WURZELs Prinzipien der systemabhängigen Natürlichkeit könnten hierbei ebenfalls eine Rolle gespielt haben: irreguläre Bildungsweisen des Prät. (v.a. aufgrund von Assimilationserscheinungen entstanden) sind im Ahd. oder Aengl. eine Seltenheit; sie werden deshalb durch morphologischen Wandel in diesen Sprachen beseitigt. Im Aisl. finden sich dagegen eine ganze Reihe von irregulären Bildungen sowohl bei den Prät.präs. als auch außerhalb der Gruppe (vgl. die Prät. vissa zu vita, kunna zu kunna3
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matta zu mega, atta zu eiga} unna zu unna, aber auch olla zu valda, prapa zu preyja, sbtta zu stfkja, ovta zu yvkja, potta zu pykkja etc.); hier ist es natürlicher als z.B. im And., daß Irregularität erhalten bleibt. Im Aschw., Man. zeigt sich das Prinzip der Flexionsklassenstabilität als wirksam: das Vollverb vita wird im Prät. regularisiert (visse > viste), bei den Modalverben dagegen wird durch Erleichterungen auf der Ebene der Artikulation morphologische Irregularität geschaffen und bewahrt (skulde > skulle, vilde > ville, adän. künde > kunne, monde > manne). Völlig an die schwachen Verben angepaßt werden hier auch die Vollverben äga: atte > ägde und unna: unne, unte > unnade.
61 FOPMENBESTAND UND IDG. GRUNDLAGEN DER ALTGERMANISCHEN PRSTERITOPRSSENTIA
1.O
Vorbemerkungen:
Nach dieser kursorischen Sichtung der Entwicklungen und der Darstellung des theoretischen Rahmens, innerhalb dessen man sie am plausibelsten erklären kann, soll nun im folgenden im Detail untersucht werden, wie sich die Gruppe der Prät.präs. in den verschiedenen germ. Sprachen entwickelt hat, welche Ausgangslage man beim Einsetzen der Überlieferung vorfindet, und welche Veränderungen im Laufe der Sprachgeschichte eingetreten sind. Es wird dabei ausschließlich auf die synthetisch gebildeten Formen der Prät.präs. eingegangen. Die Herausbildung von analytischen Tempora und Modi zu beschreiben und zu diskutieren, würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen. Gegenstand der Untersuchung soll also nur die Flexionsmorphologie der Prät.präs. sein. Für jede Einzelsprache und für jede Sprachstufe sind dabei im Sinne der in 0.4 entwickelten Thesen folgende Fragestellungen von besonderer Bedeutung: (1) Welche Stellung im Rahmen des jeweiligen Sprachsystems nehmen die Prät. präs. ein? (2) Welche flexionsmorphologischen Besonderheiten bzw. Irregularitäten aus der Sicht des einzelsprachlichen Verbsystems weisen sie auf? (3) Bilden die Prät.präs. im jeweiligen Sprachsystem eine eigene und einheitliche Flexionsklasse im Sinne von WURZEL 1984? (4) Welche Varianten liegen vor bzw. können auf, und wie läßt sich deren Aufkommen erklären? (5) Welche morphologischen Wandlungen sind eingetreten bzw. treten ein? (6) Mit welchen außermorphologischen Eigenschaften (Semantik, Frequenz) ist die Gruppe der Prät.präs. ausgestattet und wie verändern sich diese im Zusammenhang mit dem morphologischen Wandel? Wo immer das möglich ist, sollen Frequenzangaben die in O.4 entwickelten Thesen unterstützen. Natürlich muß man bei der Beurteilung von Frequenzen sehr vorsichtig sein, da es sich immer nur um Stichproben handeln kann: ein religiöser Text hat selbstverständlich einen ganz anderen Wortschatz als ein Gesetzestext, und beide unterscheiden sich in charakteristischer Weise von Zeitungstexten oder der mündlichen Kommunikation. Selbst sprecherindividuelle Besonderheiten finden in der Wortwahl und in Vorlieben für bestimmte
62 Konstruktionen etc. ihre hauptsächliche Ausbildung. Man sollte sich also daher hüten (und unsere Intention geht nicht so w e i t ) , die Frequenzverhältnisse der got. Bibelübersetzung etwa mit denen einer aisl. Saga oder eines aschw. Gesetzestextes direkt zu vergleichen. Trotz aller Bedenken und Einschränkungen haben Angaben zur Frequenz dennoch einen gewissen Wert: wenn beispielsweise im Got. jedes Verb durchschnittlich viermal belegt ist, dann sollte es erlaubt sein, ein Verb mit über 1OO Belegen als hochfrequent zu bezeichnen, ein Verb mit zwei Belegen dagegen als niedrigfrequent. Wenn 85 Belege des Präs.Ind. 22 Belegen des Prät.Ind. oder 12 Belegen des Präs.Konj. gegenüberstehen, dann darf man wohl mit Recht behaupten, daß die Formen des Präs, frequenter sind als die des Prät. , und daß die Formen des Ind. frequenter als die des Konj. sind (vgl. got. magan). In diesem Sinne können Frequenzangaben dann ein wertvolles Hilfsmittel bei der Beurteilung sprachlicher Veränderungen darstellen und zur Bestätigung von Hypothesen beitragen.
1.1
Die urgerm. Präteritopräsentia und das idg. Perfekt:
Ziel dieses Kapitels ist es, den Maximalbestand der Prät.präs. in den altgerm. Sprachen darzustellen. Jedes Lexem wird in einem eigenen Unterkapitel behandelt. Zunächst erfolgt eine Auflistung der wichtigsten (belegten) Formen in den verschiedenen Sprachen; hierbei werden allerdings keine vollständigen Paradigmen gegeben, sondern lediglich die Leitformen: Sg.Präs.Ind., Pl.Präs.Ind. und Sg.Prät.Ind. sowie die am häufigsten belegte(n) Bedeutung(en), Wir werden diese Formen - wo es nötig erscheint - kurz erläutern und dann versuchen, aufgrund der Belege die zugrundeliegenden urgerm. Stammformen im Sg.Präs.Ind. und Pl.Präs.Ind. zu erschließen. In den meisten Fällen wird dies ohne weiteres möglich und nicht kontrovers sein; wo Problemfälle vorliegen (wie etwa bei mag an und aigari), werden die verschiedenen Ansätze ausführlich diskutiert und eigene Lösungen vorgeschlagen. Wesentlich problematischer ist in den meisten Fällen die weitere Rekonstruktion zum Idg. hin. Am ausführlichsten hat sich mit diesem Thema MEID 1971 beschäftigt; seine Ergebnisse werden wir referieren. Im übrigen wurden die einschlägigen etymologischen Wörterbücher herangezogen, zitiert werden in der Regel die Angaben bei POKORNY 1959 und SEEBOLD 1970. Besonders wichtig erscheint dabei die Frage, aufgrund welcher Gegebenheiten aus der idg. Wurzel mit ihrer erschließbaren Bedeutung das germ. Prät.präs. entstehen konnte. Es wird sich zeigen, daß ganz verschiedene Voraussetzungen für die einzelnen Lexeme angenommen werden müssen und ebenso auch verschiedenes Alter. Das Musterbeispiel witan, das in den historischen Grammatiken so gerne zitiert wird als typisch für die Entstehung der Prät.präs. aus einer der Bedeutungen des idg. Perfekts, kann leider nur auf wenige der übrigen Prät.präs. ohne Weiteres übertragen werden.
63
F r die inhaltliche Herleitung mu jedes germ. Pr t.pr s. einzeln betrachtet werden, wie es unten erfolgt. Dabei mu die urspr ngliche Funktion des idg. Perfekt zugrundegelegt (bzw. erschlossen) werden, und nicht etwa die Funktion, die es in den historischen Sprachen angenommen hat. Der Tempus-Unterschied zwischen Pr s.und P e r f . , bzw. die Beziehung zur Vergangenheit, die das Perf. in den idg. Einzelsprachen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) hat, beruht auf einer sekund ren Entwicklung, die in den Einzelsprachen zu verschiedenen Ergebnissen gef hrt hat. Zu den angesprochenen Ausnahmen geh ren z.B. die gr. Intensiva (βέβρυχε (bebruahe) 'er br l l t ' ) , gr. οϋδα (οΊάα} , lat. memi-ni und die germ. Pr t.pr s. Sie v.a. zeigen, da das idg. Perf. urspr nglich der pr sentischen Zeitstufe angeh rte, ein Pr s. war. "Der Unterschied von dem "Pr senssystem" der hist. Zeit bestand nicht im Tempus, sondern in der Handlungsart: das -mi— Verbum dr ckte Handlung, das -α-Verbum einen Zustand aus." (SZEMERENYI 1980:310).
Zumindest einige der Pr t.pr s. lassen sich direkt auf ein solches Zustandsperfekt zur ckf hren, wie unten gezeigt wird. Einzelsprachlich wird aus dem Zustandsperfekt meist zun chst ein Resultativperfekt, d.h. es bezeichnet statt eines Zustands am Subjekt dann auch eine Handlung, die in der Vergangenheit einsetzte und am Objekt bis in die Gegenwart fortdauert. Diese Entwicklung, die z . B . im Gr. erst nachhomerisch stattfindet, l t sich an folgenden gr. Beispielen verdeutlichen: πέπραγε (peprage) 'er befindet sich (weil er sich dorthin begeben h a t ) ' , oder τέθνηκε (tethneke} 'er ist tot', nat rlich auch o ca (oida) 'ich wei ' und μέμονα (memona) 'ich gedenke 1 spiegeln die urspr ngliche Bedeutung des Zustandsperfekts; δέδωκε (dedoke) 'er hat gegeben' oder τέταχε (tetache) 'er hat geordnet 1 sind dagegen Resultativperfekte. Noch sp ter (gr. im 3. Jhd. v. C h r . , nach SZEMERENYI 1980:275) entwickelt sich dieses Perfekt dann zu einem narrativen Tempus, wof r etwa πέφευγε (pepheuge) 'er floh' ein Beispiel w re. "Da das Perfektum so leicht in ein Narrativum bergeht, ist die Abnutzung der Perfektformen sehr gro und sie m ssen immer wieder ersetzt werden. Dadurch erkl rt sich die gro e Anzahl von Neuerungen auf diesem Gebiet des Verbalsystems. Im klassischen Latein ist das noch immer nicht ganz aufgekl rte -υΐ-Perfekt von h chster Bedeutung, im Griechischen breitet sich das -fe-Perfekt immer weiter aus, im Germanischen steht schon am Anfang das noch immer dunkle schwache Pr teritum fertig da." SZEMERENYI 1980:275.
Im Germ, bildet sich wie in den anderen Sprachen ein Tempussystem heraus, In formaler Hinsicht bestand also urspr nglich keine grammatikalische/paradigmatische Opposition, sondern die unterschiedlichen Endungen und Ablautstufen w ren der Ebene der Wortbildung zuzuordnen, die allerdings durch semantische Eigenschaften motiviert sind; ungef hr vergleichbar in den altgerm. Sprachen w re der Gegensatz zwischen starken Verben und kausativen Jan—Verben: so wie dort nicht zu jedem starken Verb ein Kausativum gebildet werden konnte, war es im Idg. nur bei einigen Wurzel m glich, Pr s.- und Perf.-Formen zu bilden.
64
der Aktionsartenunterschied wird dann nicht mehr in der Wurzel und durch Reduplikation, sondern durch Suffixe ausgedrückt (z.B. -
-Verben). Dabei
könnte bei den starken Verben die gleiche Entwicklung wie im Gr. eingetreten sein, das Zustandsperfekt sich über ein Resultativperfekt zum Tempus entwickelt haben. Dann konnte auch zu Präs.-Wurzeln, die ursprünglich kein Perf. neben sich hatten, ein Prät. gebildet werden. Aus diesen beiden Entwicklungen resultiert das germ, starke Prät. Einige Verben - eben die Prät.präs. haben diese Entwicklung nicht mitgemacht; in ihnen ist (z.T.) die ursprüngliche Bedeutung des Zustandperfekt bewahrt, das innerhalb eines Tempussystems ein Präs. war. Darüber hinaus wird sich im Weiteren zeigen, daß ein Teil der Prät.präs. nicht auf ein aktives Zustandsperfekt zurückgeht, sondern eher auf ein Mediopassiv. Um zu ihnen ein Prät. zu bilden, mußte geneuert werden: entweder sie übernahmen die Bildungsweise der schwachen Verben, oder das schwache Prät. wurde zuerst bei ihnen gebildet und dann auf die abgeleiteten "schwachen" Verben übertragen. Die Aussage ist also völlig falsch, bei den Prät.präs. sei ein ursprüngliches Präs, verlorengegangen; allenfalls kann man konstatieren, daß zu den Prät.präs. ein ursprüngliches Handlungspräsens (wie im Präs, der starken Verben) nicht belegt ist,2 und die Verschiebung P e r f . (Zustand) -> Tempus (Vergangenheit) ausgeblieben ist.
Formal und als Gruppe lassen sich die germ. Prät.präs. natürlich aus dem idg. Perf. herleiten; das gilt für die Ablautstufen wie für+ die Personalendungen. In formaler Hinsicht hatte das idg. Perf. nach SZEMERENYI 198O:269ff folgende charakteristischen Merkmale: (1) einen besonderen Endungssatz; (2) Reduplikation; (3) Abtönungsstufe (o-Stufe) im Sg.Aktiv, Nullstufe in den übrigen Formen. Die Merkmale (1) und (3) sind bei den germ. Prät.präs. wie bei den starken Verben im Prät. erhalten; (2) fehlt allerdings bei den Prät.präs. vollständig, einzelsprachlich sind Reste der Reduplikation nur im Got. im Prät. der starken Verben der 7. Ablautreihe bewahrt.
Der Endungssatz läßt sich nach RIX 1976:240 wie folgt ansetzen:
Das ist eine ganz normale, eigentlich selbstverständliche Erscheinung, wenn man beachtet, daß es sich hier um ein Problem der Wortbildung (vgl. Anm. 1) handelt.
65
idg.
1.Sg. 2.Sg. 3.Sg. 1.P1. 2.Pi. 3.Pi.
-H' e ~*^2 e -e -me -(t)e -ep/-p
gr.
Couev
ai.
veda vettha veda vidma vida viduv
got.
wait waist wait witum witup witun
Die einzelsprachlichen Formen ergeben sich zum größten Teil aus den g r . , ai. bzw. gem. Lautgesetzen. Für Neuerungen anfällig ist v.a. die 2 . S g . ; hier hat das Gr. nur in der Form ofoSa (oistha < *uoid-ta, vgl. RIX 1976: 96) die ursprüngliche Endung, sonst aber als 2 . S g . P e r f . die Endung -äs durchgeführt (RIX 1 9 7 6 : 2 5 6 ) . Auch das Westgerm. hat hier geneuert und bei den starken Verben die Endung -i (vermutlich aus dem Aorist) ins Perf.-Paradigma übernommen. Anfällig ist ferner die 3 . P L , wo ebenfalls im Gr. und Germ, geneuert wurde. Auch hier wurde im Germ, die Endung aus dem Aorist ins Perf.-(Prät.-)Paradigma übernommen: in der 3.PL wurde aus der Sekundärendung -nt des Aorist lautgesetzlich germ. -un. In der,2.PL ist der Ansatz der ursprünglichen Perf.-Endung umstritten (SZEMERENYI 1980:226), der Vokal der Endung muß jedenfalls im Germ, von der 1./3.P1. her übertragen sein.
Die Tatsache, daß nur bei den Prät.präs. in allen germ. Sprachen in der 2.Sg. die Endung *-tha > -t bewahrt ist, während im Westgerm. bei den starken Verben die Aorist-Endung eintrat, scheint darauf hinzudeuten, daß die Prät.präs. als Gruppe eine ältere Schicht repräsentieren als das Prät. der starken Verben. Ein weiteres Argument für hohes Alter sind der Primärberührungseffekt d/t + t_> -st- (via -t t-) > -ss-, z . B . in got. waist < *waiss, wissa und gamosta < *gamossa, ahd. muosa (vgl. z . B . KRAUSE 1968:125f), den das Germ, mit dem Kelt, und Lat. teilt; die anderen idg. Sprachen zeigen hier -st- ( z . B . gr. oistha), also nicht die Weiterentwicklung zu -ss-.
Eine ältere Bildungsweise zeigen die Prät.präs. gegenüber den starken Verben auch in der Erhaltung der ursprünglichen Schwundstufe im Pl.Präs. der Prät. präs. (z.B. got. munum, skulwn), wo im Pl.Prät. der starken Verben der 4. Ablautreihe geneuert wurde (got. benm, nemum) . Letztere Tatsache kann am einfachsten damit erklärt werden, daß die Prät.präs. bereits zu dem Zeitpunkt, als die Neuerungen bei den starken Verben eintraten, als Präs, fungierten und empfunden wurden. Man erhält dann - rein theoretisch - folgende Reihenfolge, die in 1.2 genauer erläutert und diskutiert wird: (1) Herausbildung der Gruppe der Prät.präs.; (2) Herausbildung eines schwachen Prät. zumindest bei den Prät.präs.; (3) dabei oder danach Primärberührungseffekt; (4) Systematisierung der Ablautreihen zur Ternpusbildung beim starken Verb; in der 2.Sg.Prät. findet in Westgerm. die ehemalige Aoristform Verwendung, sonst tritt dagegen die Perfektendung ein.
66 Die Herausbildung der Gruppe der Prät.präs. wäre damit zeitlich in eine Periode einzuordnen, die man am besten als Vorgerm, bezeichnet; datierbar nach VAN COETSEM vor und in der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausend. Man kann ferner spekulieren, inwieweit die Prät. präs. die Ursache oder das Muster für die Entstehung eines schwachen Prät. waren; die Vermutung liegt nahe, doch dürfte sie sich schwerlich beweisen lassen. Freilich vereinfacht diese Darstellung stark; sicher sind nur einzelne Vertreter der Prät.präs. zu einem so frühen Zeitpunkt anzusetzen, andere werden im Laufe der Sprachgeschichte dazugekommen sein, ein Prozeß, der vielleicht bis in die einzelsprachliche Periode hineinreicht (an. kna, got. lais?). Auch wenn viele Fragen offen bleiben müssen, soll doch im folgenden der Versuch unternommen werden, die Entwicklung der einzelnen Lexeme zu Prät.präs. aufzuzeigen und ihre erschließbaren urgerm. Formen darzustellen. Eine Zusammenfassung und Bewertung in 1.2 schließt sich daran an.
1.2
Die urgerm. Präteritopräsentia:
1.2.1 *witan: Sprache
Sg. Präs. Ind.
Pl. Präs. Ind.
Prät.
Bedeutun
got. aisl. ^norw. aschw . adän. aengl. afries. ahd. äs.
Wait veit
witun vitu vitu vito wito witon witon wizzun witun
wissa
"wissen 1 'wissen' 'wissen' 'wissen' 'wissen' 'wissen' 'wissen' 'wissen' 'wissen.
vaeit vet wet wat wet weiz wet
vissa vissa visse/viste wisse/wiste wisse/wiste wiste wissa/wista wissa
Die Formen der germ. Einzelsprachen ergeben eindeutig als Rekonstrukt für das Urgerm. *wait-/wit-; im Prät. ist die lautgesetzliche Form *wissa aus *wid-tdurch Primärberührungseffekt (vgl. z.B. KRAUSE 1968:125f) in fast allen Einzelsprachen vertreten, in einigen (v.a. erst in späterer Zeit belegten) finden sich daneben Formen mit analogisch restituiertem Dentalsuffix. Im Afries. hat sich diese Neuerung vollständig durchgesetzt, wie auch im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte im Dt., Ndl., Schw., Norw., Dan., Far. In allen altgerm. Sprachen hat witan die Bedeutung 'wissen1, die so gut wie unverändert in den heutigen germ. Sprachen erscheint. Im Engl. wurde witan durch to know ^rsstzt. Ähnlich eindeutig ist der Befund in den idg. Einzelsprachen: genaue Entsprechungen der germ. Form *wait sind ai. veda, Perf. zum Präs, vidäti 'wissen' (dam germ. Pl. entspricht die 1.P1. vidma) ·, aw. vaeba 'ich weiß', gr. (oida)
'ich weiß' (Pl. Cöuev (idmen) 'wir wissen 1 ). Weitere Entsprechungen,
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allerdings mit verschiedenen Umbildungen, bieten aksl. vede "ich weiß", arm. gitem 'ich weiß', lat. videre 'sehen' sowie Belege im Air. und Bait. Es handelt sich also um eine sehr weit verbreitete Wurzel, deren Form problemlos als *ueid-/uoid-/uid-
'sehen1 rekonstruiert werden kann (vgl. POKORNY 1959:
1125ff, SEEBOLD 197O:543f, MEID 1971:19). Zugrunde liegt wohl die aoristische Wurzel *uid- erblicken. In morphologischer Hinsicht interessant ist die Tatsache, daß das gut belegte **uoida/uoideH„ stets ohne Reduplikation gebildet ist, auch im Gr. und Ai., wo das Perfekt sonst inner Reduplikation zeigt. Zwei Interpretationsmöglichkeiten bieten sich an: entweder hat *uoida schon früh seine Reduplikation aufgegeben (und durch die Kürzung im Ausdruck Irregularität aufgebaut; wegen seiner hohen Frequenz?) oder es stellt einen Archaismus dar, der die Durchführung des Prinzips 'Reduplikation' nicht mitgemacht hat. MEID 1971:2O läßt die Frage o f f e n , RIX 1976:221 spricht vom einzigen " f ü r die j.dg. Grundsprache gesicherten Perf.-Stamm ohne Reduplikation", SZEMERENYI 1980:272 meint dagegen: "Als eine, wohl die einzige, spätidg. oder doch gemeinidg. Ausnahme muß das Perfekt *woida 'ich weiß 1 gelten, das aus *wewoida durch Assimilation z u *wowoida u n d dann w e g e n d e r H ä u f i g k e i t zu der Vereinfachung zu *Woida führte." (Hervorhebung durch Th.B.)
Die Bedeutungsentwicklung des Perfekts von 'sehen': 'ich habe gesehen' zu 'ich weiß' ist so einleuchtend, daß sie immer wieder als .Musterbeispiel für die Entstehung der Gruppe der Prät.präs. angeführt wird. Die Bedeutung von *uoida zeigt damit eine der ursprünglichen Funktionen des idg. Perfekts, die Bezeichnung eines aus einer vergangenen Handlung resultierenden Zustands am Subjekt in der Gegenwart (Zustandsperfekt), vgl. 1.0. "Da *woida zu *wid- 'sehen 1 gehört, ist das "Wissen" hier das Resultat des "Gesehen-habens" und zugleich und hauptsächlich der Zustand am Subjekt, der sich daraus ergibt. Der einmalige (und vergängliche) Akt des Gesehenhabens erhält in seiner Transformation zum Wissen Dauer. Daß eine Transformation der Handlungsqualität hier vorliegt (Aktion ->· resultierender Zustand), sollte man sich klar vor Augen halten, um einen besseren Blick dann für solche Fälle zu haben, wo dies nicht so ist. Die Transformation bewirkt letzten Endes eine Verselbständigung der neuen "Bedeutung" , die nun Eigenqualität erhält und die von der Etymologie her gezogenen Grenzen überschreiten kann. "Wissen" ist nur solange ausschließlich das "Gesehen-haben", als der synchrone Bezug zu *wid- "sehen" nicht gelockert ist." MEID 1971:19.
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1.2.2 *munan: Sprache
got. aisl. anorw. aengl. s.
Sg.Pr s.Ind.
man man (man/man man -
Pl.Pr s.Ind.
Pr t.
Bedeutung
munun munu manu/munu munon -
munda munda mynda) munde far^munsta
'meinen, glauben' 'sich erinnern 1 'werden' 1 gedenken 1 1 verleugnen 1
Auch bei *munan sind die urgerm. Formen *man-/mun- problemlos aus den germ. Einzelsprachen zu erschlie en. Als Bedeutung kann man "denken, gedenken1 ansetzen, die weitere Bedeutungsentwicklung in den Einzelsprachen ist dann unproblematisch (zum An./Aisl. vgl. 7.3). Als idg. Grundlage setzt man eine Wurzel *men-/mon-/mn- mit der Bedeutung 'geistig aktiv sein o.a. 1 an (POKORNY 1959:276f, SEEBOLD 1970:346). Bedeutungsm ig wie formal am n chsten stehen den germ. Formen lat. memini 'ich 'erinnere mich, erw hne' und gr. μέμονα, Pl. μέμαμεν (memona, memamen < *memn-) 'habe im Sinn, gedenke, strebe". Andere Bildungen zu dieser Wurzel finden O sich im Ai. (manyate 'denkt'), Aw. (mainyeite 'denkt") Lit. menu, 'gedenken' und Air. (do-moiniur 'glaube, meine"). Die Wurzel ist also wie *ueid- sehr gut belegt, was f r ihr hohes Alter spricht. MEID 1971:21f nimmt an, da beim Perfekt von *men- keine zugrundeliegende Vergangenheitsbedeutung anzusetzen ist, sondern eine intensiv-iterative Bedeutung, f r die die Reduplikation der formsymbolische Ausdruck gewesen ist. In gewisser Weise stellt lat. memini eine verbl ffende Parallele zu den germ. Pr t.pr s. dar; es geh rt wie novl, aonsueV'L und odi, auch ooepi zu den Perfecta praesentia, d.h. defektiven Verben; sie haben nur den Perf.-Stamm, der als Pr s, fungiert, und von dem ein Pr t. und Futur sowie der Konj. gebildet werden k nnen, aber kein Perf. und Part.Perf. Eine Form wie memini dr ckt f r MEID 1971 in ihrer Bedeutung 'erinnere mich, bin eingedenk' eher ein wiederholtes Zur ckrufen in die Erinnerung, ein 'Sich-bewu t-machen' aus als ein 'ich habe gedacht und denke j e t z t ' .
Diese zweite Funktion des idg. Perfekts neben dem Zustandsperfekt d rfte allgemein anerkannt sein, vgl. SZEMERENYI 1980:275: "Neben dem Zustand dr ckt das Perfekt auch elementare Handlungen aus_wie 'er schreit', 'br llt 1 , ' d u f t e t ' , 'ist voller Freude' (κέκραγε, βέβρυχε, δδωδε, γέγηθε), die nicht aus dem 'resultierenden Zustand 1 abgeleitet werden k nnen, dagegen sehr gut als Intensive verst ndlich sind."
F r das Fehlen der Reduplikation im Germ, gibt es zwei m gliche Erkl rungen: (1) Die Reduplikation war urspr nglich vorhanden, wurde aber im Urgerm. aufgegeben, da sie in der neuen Opposition 'Pr sens' vs. 'Pr teritum1 im Pr s. funktionslos geworden war oder (2) "man war von Anfang an im Germ. (bzw.
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dessen idg. Basis) unredupliziert, weil das iterative Moment weniger empfunden und/oder weil o-Stufe an sich schon iterativ-intensive Aktionsart ausdrücken bzw. das durative Moment betonen konnte." MEID 1971:22. 1.2.3
*(ga)durzan:
Sprache
Sg.Präs.Ind. Pl.Präs.Ind.
Prät.
Bedeutung
got. aengl. afries. äs. ahd.
gadars dear dup/dop dar gitap
gadaupsta dopste dopsta gitopsta
'wagen' 'wagen 1 'wagen, dürfen 1 'wagen' 'wagen 1
gadaursun duppon gituppun
an. nur poz>a 'wagen' schwaches Verb.
Die Formen der germ. Einzelsprachen lassen problemlos *dars-/durz- erschließen. Das Aengl. zeigt die lautgesetzliche Entwicklung im Anglofries. von -a- zu -OB- und die sich im Aengl. anschließende Brechung zu -ea— vor -r+K. Die afries. Formen sind lautgesetzlich nicht zu erklären; wahrscheinlich ist hier der Stammsilbenvokal von thupa, thopa ' d ü r f e n 1 übertragen worden, die beiden Verben dura und thupa fallen später zusammen (wie in anderen Sprachen auch) . Die Alternation -s- : -?.-, durch grammatischen Wechsel entstanden, wurde verschieden beseitigt: im Got. wurde -PS- verallgemeinert, in den anderen Sprachen entwickelte sich -TZ- lautgesetzlich zu -pp—t das dann in den Sg. übernommen und im Auslaut zu -p vereinfacht wurde.
Allen Einzelsprachen ist die Bedeutung 'wagen' gemeinsam, eine (fast) allgemeine Tendenz ist die spätere Vermischung der Formen von got. gadaursan und paupban, vgl. die Bedeutung von afries. dur 'wagen, dürfen 1 . Als idg. Wurzel wird allgemein *dheps-/dhops-/dhps- 'wagen, kühn sein1, älter 'angreifen, losgehen' angesetzt (POKORNY 1959°:295, SEEBOLD 1970:147), belegt im Ai. (dhrsnöti "ist dreist, mutig, wagt'; Perfekt dadharsa), Gr. ( (tharseo) |wbin mutig'), Lat. (infestus < *tnferstus 'feindlich') und ev. im Lit. mit -er s > -res (dpfsu 'wagen'). Die ursprüngliche Bedeutung des Perfekts war vrohl die eines wiederholten Angreifens (und Sich-zurückziehens), also liegt auch hier wie bei *men- eher ein Iterativperfekt denn ein Zustandsperfekt (etwa: 'ich habe Mut gefaßt1 -* 'ich traue mich') vor. Im Germ, hat *dupzan eine etwas abstraktere Bedeutung angenommen, sie "ist gegenwärtigzuständlich, ohne daß man sie auf einen vorausgegangenen Akt zurückführen könnte. Bezeichnend ist im Got. die Stelle 2. Kor. 11,21, wo zuständliches gadaps und ingressives anananpjan, beide = gr. (tolnan) kontrastieren: in pcormei Tvelvas anananpeijy.. .gadars jäh ik 'für was sich einer stark macht, dafür bin auch ich stark'." MEID 1971:23. Zur fehlenden Reduplikation im Germ. vgl. 1.2.2. •
»/
-
.
70 1.2.4 *kunnan: Prät.
Bcueutung
kunnun
kunpa
kann kann
kunnu
kann
kunno kunno cunnon kunnon
kunna kunna kunne/kunde kunne/kunde cüde küthe oonsta konda/konsta
'wissen, 'kennen, 'kennen, 1 können , 'kennen, 'kennen, 'können, "kennen, 'kennen,
Sprache
Sg.Präs.Ind. Pl.Präs.Ind.
got. aisl. anorw. aschw. adän.
kann
aengl. afries. äs.
can kan can
ahd.
kann
kann
kunnu
ounnun kunnun
kennen 1 können 1 können ' kennen' können' verstehen 1 kennen' wissen" vermögen '
Aufgrund der einzelsprachlichen Belege lassen sich die urgerm. Formen als *kann-/kunn- 'kennen, erkennen, verstehen1 angeben. Umstritten ist die Herlei tung dieser Formen aus dem Idg.: POKORNY 1959:376 stellt zu *kunnan ai. janccni "ich weiß 1 , air. -