Prozess - Religion - Gott: Whiteheads Religionsphilosophie im Kontext seiner Prozessmetaphysik 9783495823651, 9783495489604


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Table of contents :
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Inhalt
Vorwort
Godehard Brüntrup/Ludwig Jaskolla/Tobias Müller: Prozess, Religion, Gott. Whiteheads Religionsphilosophie im Kontext seiner Prozessmetaphysik: Eine kurze Einleitung
Literatur
Siglen
Regine Kather: Die Immanenz von Spontaneität und ihre transzendente Quelle
1. Einleitung
2. Ein Rückgriff auf die Philosophie Spinozas: Einzelwesen als causa sui
3. Organismen als Akteure
3. Stufen der Selbsterschaffung
4. Kreativität, causa sui und die Funktion Gottes für das Werden der Welt
Literatur
Bernhard Dörr: Mensch – Religion – Gott: Whiteheads Beitrag zur Zivilisierung der Menschheit
1. Situations- und Problemanalyse
2. Grundzüge der Whitehead’schen Anthropologie und Zivilisationstheorie
3. Grundzüge des Whitehead’schen Religions- und Gottesverständnisses
4. Allgemeine Verortung des Gottesbegriffs in dem metaphysisch-kosmologischen Kategorienschema
5. Der bi-polare Gott – Grundsätzliche Bemerkungen zum Verhältnis beider »Naturen«
5.1 Gottes uranfängliche Aktivität: Unbegrenztes begriffliches Entwerfen (der Sphäre) reiner Möglichkeiten
5.2 Wachstum und Werden Gottes im Weltbezug: Gottes bewahrende und rettende »Folgenatur«
a) Die »objektive Unsterblichkeit« zeitlicher »wirklicher Ereignisse« bzw. »wirklicher Ereigniseinheiten« in Gott
b) Bilder für die Transformation der wirklichen Welt in Gott: Gott als zärtlicher, geduldiger und richtender Retter der Welt
6. Whiteheads Gottes- und Religionsbegriff als praktikables Korrektiv für fehlgeleitete Gottes-, Religions-, Zivilisations- und Menschenverständnisse
7. Folgerungen für die aktuelle Situation und Debattenlage
Literatur
Reto Luzius Fetz: Ein Gott ohne Gewalt
Whiteheads Entwicklungstheorie von Religion
Von Gott dem Feind zu Gott the Companion
God the companion in Whiteheads Metaphysik
Über Whitehead hinaus
Literatur
Tobias Müller: Gott im Prozess
1. Der Gottesbegriff Whiteheads als Gegenstand der Whitehead-Forschung
2. Die Relevanz von Whiteheads Methode der deskriptiven Verallgemeinerung für die Reichweite seines metaphysischen Gottesbegriffs
3. Die Einführung des Gottesbegriffs in Whiteheads »Science and the Modern World«
4. Die Weiterentwicklung des Gottesbegriffs in »Religion in the Making«
5. Grundzüge des Gottesbegriffs in »Process and Reality«
6. Charakteristische Merkmale der göttlichen Kokreszenz und die bleibende Andersheit Gottes
7. Der Status des Gottesbegriffs als eines Grenzbegriffs
8. Zusammenfassung und Ausblick: Das Verhältnis von metaphysischem Gottesbegriff zu Religion und Theologie
Literatur
Helmut Maaßen: Fußnoten zu Platon? Gott in den Systemen Whiteheads und Platons
1. Gott im System Platons
1.1 Hintergrund des platonischen Gottesdenkens
1.2 Die Charakterisierung der Gottesvorstellung
1.3 Die nicht-aristotelische Gottesvorstellung bei Platon: Gott (Θεός) oder Götter (Θεοί)
1.4 Der Demiurg im Timaios
1.4 Anmerkung zum Neoplatonismus, Pseudo-Dionysius Areopagita
2. Gott im System Whiteheads
2.1 Gottes Urnatur (primordial nature)
2.2 Gottes Folgenatur (consequent nature)
3. Fazit
Literatur
Spyridon A. Koutroufinis: Die Zeitlichkeit des werdenden Gottes: Whiteheads Folgenatur Gottes und Bergsons lebendige Ewigkeit
1. Die weltliche Zeitlichkeit und ihre Angewiesenheit auf Gott in der Whiteheadschen Prozessphilosophie
1.1. Atomizität und Kontinuität
1.2. Die Begriffe Epoché und duration
1.3. Makrophysikalische Zeit
2. Die Zeitlichkeit des werdenden Gottes: lebendige Ewigkeit
3. Ist die Beziehung der lebendigen Ewigkeit zur Welt eine panentheistische?
Literatur
Klaus Müller: Philosophische Theologie als Machtkritik
1. Denkbewegungen von weit her und weit nach vorne
2. Tangentialpunkt zwischen Whitehead und Platon
3. Whiteheads Gott
Literatur
Godehard Brüntrup: Prozesstheologie und Panentheismus
1. Renaissance des Panentheismus?
2. Einheit-in-Differenz-Panentheismus
3. Doppelter Gott
4. Bi-direktionaler Panentheismus
4.1 Modal schwacher bi-direktionaler Panentheismus
4.2 Modal starker bi-direktionaler Panentheismus
5. Zusammenfassung
Literatur
Michael Schramm: Gibt es empirische Evidenz für »Gott«?
1. Intro: Das Problem der empirischen Evidenz für »Gott«
2. Kosmologische Hintergründe
2.1 Physikalische Kosmologie
2.2 Metaphysische Kosmologie
3. Evidenz No. 1: Der logisch geordnete Möglichkeitenraum. Zur »Urnatur« Gottes
3.1 Die evolutive Wirklichkeit und der Raum von »Möglichkeiten«
3.2 Das Kontinuum von Potenzialen
3.3 Die Logik der Potenziale als Teil der Realität des Universums. Zum Beispiel: »moralischer Realismus«
3.4 Die wirk-liche Anziehungskraft. Evidenz für die »Urnatur Gottes«
4. Evidenz No. 2: Die Erfahrung der »Heiligkeit« der »Details für das Ganze«. Zur »Folgenatur Gottes«
5. Outro: Theologie reloaded
Literatur
Valerian Mendonca: Die Komplementarität von Polarität und Pleroma im Prozess-Panentheismus
1. Einleitung
2. Panentheismus
3. Teilhards pleromatische Gott-Welt-Beziehung
4. Whiteheads bipolares Gott-Welt-Verhältnis
5. Die Komplementarität von Teilhards Pleroma und Whiteheads Polarität
Teilhards tripersonaler Ansatz anstelle von Whiteheads Bipolarität zwischen Gott und Welt
Whiteheads systemorientierter Ansatz anstelle von Teilhards Pleroma des komplexen Ganzen
Ein Aktivitätsfeld- Ansatz zur Deutung des Gott-Welt-Verhältnisses
6. Teilhard und Whitehead als Vorreiter eines intersubjektiven Prozesspanentheismus
7. Schluss
Literatur
Autoren und Herausgeber
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Prozess - Religion - Gott: Whiteheads Religionsphilosophie im Kontext seiner Prozessmetaphysik
 9783495823651, 9783495489604

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Whitehead Studien Whitehead Studies

5

Godehard Brüntrup Ludwig Jaskolla Tobias Müller (Hg.)

Prozess – Religion – Gott Whiteheads Religionsphilosophie im Kontext seiner Prozessmetaphysik

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823651

.

B

Godehard Brüntrup, Ludwig Jaskolla, Tobias Müller (Hg.) Prozess – Religion – Gott

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Whitehead Studien Whitehead Studies

5

Herausgegeben von Godehard Brüntrup (München) Christoph Kann (Düsseldorf) Franz Riffert (Salzburg)

https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Godehard Brüntrup, Ludwig Jaskolla, Tobias Müller (Hg.)

Prozess – Religion – Gott Whiteheads Religionsphilosophie im Kontext seiner Prozessmetaphysik

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Godehard Brüntrup, Ludwig Jaskolla, Tobias Müller (Hg.) Process – Religion – God Whitehead’s philosophy of religion in the context of his process metaphysics In his philosophical cosmology, Alfred North Whitehead offers a conceptual framework by which reality can be understood primarily in terms of its processuality. Such a processual conception of reality consequently has effects on how we think of religion and the God-worldrelationship. This volume aims to contribute to a systematic reconstruction of Whitehead’s theory and philosophy of religion and at the same time to show how its potentials can be made fruitful for the current debate.

The editors: Godehard Brüntrup is professor of metaphysics, philosophy of language and philosophy of mind at the Munich School of Philosophy. Ludwig Jaskolla is Head of Communication and Media at Munich School of Philosophy. Tobias Müller, Dr. phil., studied philosophy, theology, physics, education and religious studies in Mainz, Marburg and Frankfurt/M. Lecturer for philosophy of nature and religion at the Munich School of Philosophy.

https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Godehard Brüntrup, Ludwig Jaskolla, Tobias Müller (Hg.) Prozess – Religion – Gott Whiteheads Religionsphilosophie im Kontext seiner Prozessmetaphysik Alfred North Whitehead bietet in seiner philosophischen Kosmologie einen Deutungsrahmen, mit dem Wirklichkeit primär von ihrer Prozesshaftigkeit begriffen werden kann. Eine solche prozesshafte Konzeption der Wirklichkeit hat folgerichtig auch Auswirkungen darauf, wie Religion und damit zusammenhängend das Gott-Welt-Verhältnis gedacht wird. Der Band möchte einen Beitrag zu einer systematischen Rekonstruktion von Whiteheads Religionstheorie und -philosophie leisten und zugleich zeigen, wie ihr Potential für die aktuelle Debatte fruchtbar gemacht werden kann.

Die Herausgeber: Godehard Brüntrup ist Professor für Metaphysik, Philosophie der Sprache und des Geistes an der Hochschule für Philosophie München. Ludwig Jaskolla ist Abteilungsleiter Kommunikation und Medien an der Hochschule für Philosophie München. Tobias Müller, Dr. phil., Studium der Philosophie, Theologie, Physik, Pädagogik und Religionswissenschaft in Mainz, Marburg und Frankfurt/M. Dozent für Natur- und Religionsphilosophie an der Hochschule für Philosophie München.

https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48960-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82365-1

https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Prozess, Religion, Gott. Whiteheads Religionsphilosophie im Kontext seiner Prozessmetaphysik: Eine kurze Einleitung . . . .

11

Godehard Brüntrup / Ludwig Jaskolla / Tobias Müller Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

Die Immanenz von Spontaneität und ihre transzendente Quelle. Die Funktion von Whiteheads Gottesbegriff für den Prozess der Evolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Regine Kather Mensch – Religion – Gott: Whiteheads Beitrag zur Zivilisierung der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

Bernhard Dörr Ein Gott ohne Gewalt. Zur Aktualität von Whiteheads Religionsphilosophie . . . . . .

92

Reto Luzius Fetz Gott im Prozess. Begründung, Entwicklung und Status des Gottesbegriffs in Whiteheads Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

Tobias Müller

7 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Inhalt

Fußnoten zu Platon? Gott in den Systemen Whiteheads und Platons . . . . . . . . .

142

Helmut Maaßen Die Zeitlichkeit des werdenden Gottes: Whiteheads Folgenatur Gottes und Bergsons lebendige Ewigkeit . . . . . . . . . . . .

163

Spyridon A. Koutroufinis Philosophische Theologie als Machtkritik Whiteheads Gottesgedanken als Einholung biblischer Intuitionen

184

Klaus Müller Prozesstheologie und Panentheismus

. . . . . . . . . . . . . 206

Godehard Brüntrup Gibt es empirische Evidenz für »Gott«? Eine Spurensuche in der Tradition Alfred North Whiteheads . .

229

Michael Schramm Die Komplementarität von Polarität und Pleroma im Prozess-Panentheismus. Die Metaphysik der Gott-Welt-Beziehung bei Whitehead und Teilhard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Valerian Mendonca Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

285

Vorwort

Nach Alfred North Whitehead muss die Wirklichkeit primär von ihrer Prozesshaftigkeit her begriffen werden. Dies veranlasste Whitehead zu der Konzeption einer umfassenden philosophischen Kosmologie, mit deren Hilfe sich alle Bereiche der Erfahrung deuten lassen. Wenn mit einer solchen Kosmologie die allgemeinsten Grundbestimmungen der Wirklichkeit erfasst werden sollen, dann hat dies natürlich auch Auswirkungen auf die Weise, wie man Religion und Gott denken kann. Dieser Band setzt sich daher das Ziel, nicht nur die Bedeutung, Stellung und Funktion von Religion und Gottesbegriff in Whiteheads Philosophie zu rekonstruieren, es soll auch darum gehen, die Relevanz dieser Konzepte für die aktuelle Debatte auszuloten und systematisch weiterzuführen. Als Grundlage für diesen Band diente eine Konferenz, die im Januar 2017 in Kooperation mit der Deutschen Whitehead Gesellschaft in München durchgeführt wurde. Für die finanzielle Unterstützung sind wir der Hochschule für Philosophie München, pro philosophia e. V. und der NoMaNi-Stiftung zu Dank verpflichtet. Die genannte Konferenz und dieser Band sind Teil des Projektes »Analytic Theology and the Nature of God«. Für die großzügige Projektunterstützung danken wir der John Templeton Foundation; dem Alber Verlag danken wir für die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm und Korbinian Friedl für das Korrekturlesen. Die Herausgeber

München, im Februar 2020

9 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozess, Religion, Gott. Whiteheads Religionsphilosophie im Kontext seiner Prozessmetaphysik: Eine kurze Einleitung Godehard Brüntrup / Ludwig Jaskolla / Tobias Müller

Alfred North Whitehead (1861–1947) gilt im englischsprachigen Raum als bedeutender Erneuerer der Naturphilosophie und Metaphysik, und auch in Deutschland nimmt die Beschäftigung mit seiner Philosophie immer mehr zu. Hierzulande ist er vor allem als Autor der »Principia Mathematica« bekannt, die er zusammen mit seinem Schüler Bertrand Russell verfasste. Whitehead begann zwar als Physiker und Mathematiker, aber seine Interessen richteten sich im Laufe der Zeit immer stärker auf naturphilosophische und metaphysische Fragen, so dass er in Abkehr von der Substanzmetaphysik eine prozessorientierte philosophische Kosmologie konzipierte, deren Anspruch es ist, der naturwissenschaftlichen Erfahrung ebenso Rechnung zu tragen wie der ästhetischen, religiösen und ethischen. Zur Gewinnung dieses kosmologischen Ideenschemas gelangt man durch die Methode der »deskriptiven Verallgemeinerung«, in der von einer konkreten Erfahrung ausgegangen und versucht wird, die allgemeinen metaphysischen Prinzipien zu eruieren, die darin enthalten sind. Diese Verallgemeinerung ist aber nicht mit unkritischer Phantasterei zu verwechseln. Die erhobenen Prinzipien und Kategorien haben sich wiederum an neuer Erfahrung zu bewähren. Tun sie das nicht, muss das Ideenschema erweitert oder gegebenenfalls korrigiert werden. Das Ziel ist eine approximative Annäherung an die die Wirklichkeit beschreibenden Prinzipien und Kategorien. Durch die spezifische Methode der Einzelwissenschaften ist eine Ausklammerung anderer, in den Einzelwissenschaften nicht thematisierter Aspekte der Wirklichkeit, bedingt. Diese Aspekte können durch die »deskriptive Verallgemeinerung« nachvollziehbar thematisiert werden. Besonders herauszuheben gilt es, dass eine solche Metaphysik prinzipiell alle Erfahrungsbereiche und immer wieder neue Erfahrung berücksichtigen möchte, also empirische Erkenntnisse einbezieht und somit revidierbar bleibt. Die so gewonnenen Aussagen 11 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Godehard Brüntrup / Ludwig Jaskolla / Tobias Müller

haben im Gegensatz zur klassischen Metaphysik keinen apodiktischen Status, sind prinzipiell korrigierbar und müssen sich immer wieder an neuer Erfahrung bewähren. Diese philosophische Kosmologie übernimmt somit die traditionell der Metaphysik zugeschriebene Aufgabe, allgemeinste Prinzipien zu formulieren, und verbürgt durch ihre Methode zugleich die Dialogfähigkeit der Philosophie mit anderen Wissenschaftsdisziplinen. Dabei bietet sich diese philosophische Kosmologie durch ihre charakteristischen Grundmerkmale in mehrfacher Weise für eine philosophische Religionstheorie und eine Betrachtung des GottWelt-Verhältnisses an: 1.

2.

3.

4.

Whitehead versucht vor dem Hintergrund seiner Kosmologie und des Prozessgedankens die Entstehungsbedingungen der Religion und deren Angewiesenheit auf den kulturellen Kontext zu rekonstruieren, wodurch schon ein strukturelles Moment der Religion auf die Notwendigkeit eines Dialogs mit dem modernen Denken inklusive der Ergebnisse der Naturwissenschaften hinweist. Die Prozessphilosophie bestimmt den Status und das Verhältnis der jeweiligen Einzelwissenschaften, wodurch einerseits naturwissenschaftliche Verabsolutierungen, die Religion als ein zu überwindendes Relikt ansehen, kritisiert werden und andererseits sich auf der Basis seiner philosophischen Kosmologie die Möglichkeit ergibt, Naturwissenschaft und Religion – nach Whitehead die beiden treibenden Kräfte der Gesellschaft – in ein vernünftiges Verhältnis zu setzen. Whiteheads Kosmologie erweist sich durch ihre Methode der »deskriptiven Verallgemeinerung« selbst als dynamischer Bezugsrahmen, insofern es um die allgemeinsten Bestimmungen der Welt geht, wobei durch den Anspruch und die Methode der Kosmologie der Bezug zu anderen Erfahrungsgebieten gesichert wird. Eine auf diesen Bezugsrahmen bezogene Religionstheorie ist dadurch von vornherein immer schon erfahrungsbezogen. Die Prozessphilosophie bietet zudem einen metaphysischen Gottesbegriff, der sich organisch in die Analyse der Prozesshaftigkeit der Wirklichkeit einfügt und der zudem – als metaphysisches Minimalkonzept der prozesshaften Weltbezogenheit Gottes – theologisch aufgegriffen und weiterbestimmt werden kann.

12 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozess, Religion, Gott

Diese Überlegungen deuten an, dass Whiteheads Grundüberzeugung, die Wirklichkeit primär von ihrer Prozesshaftigkeit zu begreifen, auch Auswirkungen auf die theoretische Verfasstheit von Weltdeutungen hat: So ist nicht nur die Wirklichkeit in einem Prozess begriffen, auch ihre Deutungen müssen in einem gewissen Sinn prozesshaft sein, insofern für deren Beschreibung sprachliche Ausdrücke verwendet werden müssen, die einer bestimmten kulturellen Sphäre angehören, und so einem bestimmten Erkenntnis- und Entwicklungsstand entsprechen. Dies muss sich dann aber auch in der theoretischen Konzeption von Religion und Gott widerspiegeln, was sich kurz wie folgt skizzieren lässt. 1 Nach Whitehead ist Religion als Institution von ihrer Struktur her auf Dialog mit dem jeweiligen Erkenntnistand angelegt. Dazu ist es sinnvoll, sich in Erinnerung zu rufen, was nach Whitehead die Aufgabe der Religion ist: Religion in ihrer höchsten Form hat die Aufgabe, im Individuum ein Wert- und Weltbewusstsein zu schaffen, das sich zunächst auf das Individuum selbst und dann auf die ganze Welt bezieht. Um diese Weltinterpretation kohärent durchführen zu können, muss die Religion ein System von allgemeinen Aussagen definieren, deren Einsicht sich aus tiefen religiösen Erfahrungen speist. 2 Aus dieser Perspektive bestimmt sich auch der Status der religiösen Dogmen: Sie sind Versuche, die in der religiösen Erfahrung enthüllten Wahrheiten präzise zu formulieren. Damit haben religiöse Dogmen strukturell einen ähnlichen Status wie die Sätze der Physik, die nach Whitehead als Versuche anzusehen sind, die in der Sinneswahrnehmung gegebenen Wahrheiten zu formulieren. 3 Der Versuch, diese Wahrheiten zu formulieren, ist auf dem Gebiet der Religion viel stärker an eine bestimmte kulturell geprägte Denksphäre gebunden als es in der Physik der Fall ist. Mit anderen Worten: Die Formulierung von Überzeugungen vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern benutzt schon in der jeweiligen kulturellen Umwelt vertraute sprachliche Formen. Die Endgültigkeit eines Dogmas zu akzeptieren hieße demnach auch, seine Denksphäre als letztgültig anzuerkennen. 4 Dies schließt zunächst nicht aus, dass man in einem Dogma Vgl. für folgende Ausführungen genauer T. Müller, Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A. N. Whiteheads, Paderborn 2009. 2 Vgl. Whitehead, Religion in the Making (Im Folgenden wird die deutsche Ausgabe RMd, die englische RM abgekürzt): RMd, 47, RM, 58. 3 Vgl. RMd, 47, RM, 58. 4 Vgl. RMd, 97, RM, 130. 1

13 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Godehard Brüntrup / Ludwig Jaskolla / Tobias Müller

einen wahren Kern einer religiösen Erfahrung zum Ausdruck gebracht hat. Allerdings sollte man sich bewusst sein, dass die zur Formulierung verwendeten Begriffe einem bestimmten Kontext entnommen sind und der Status der Begriffe für weitere Bestimmungen bleibt offen. Demnach gilt, dass der Fortschritt der Wahrheit, sei sie religiös oder wissenschaftlich, in der Weiterbestimmung der verwendeten Begriffe zu sehen ist. Dies bedeutet zum einen Kritik an zu abstrakten Begriffen, die sich zu sehr von der Erfahrung entfernt haben. Zum anderem die Entwicklung neuer und adäquaterer Vorstellungen, die zu einer angemesseneren Darstellung des Dogmas führen können. 5 Dies ist eben auch einer der Gründe, warum es einen Entwicklungsprozess der Religion gibt, was sich in zwei Aspekten niederschlägt: 1. Religion muss, wenn sie die Gehalte der religiösen Erfahrung in Dogmen ausdrücken will, auf kulturell bedingte Formen und Begriffe zurückgreifen, deren Bedeutung im Lauf der Zeit wandelbar ist. Verändern sich die Formen und Bedeutungen der Begriffe, dann ist es Aufgabe der Religion, sich in den nun zur Verfügung stehenden Begriffen auszudrücken. Man könnte diesen Prozess als fortlaufende Rationalisierung bezeichnen, der gleichzeitig als Motor zur eventuellen Weiterentwicklung der Religion dient. Verweigert sich Religion dieser Aufgabe, dann ist sie für die jeweilige Zeit nicht mehr verständlich und verliert damit letztlich an Bedeutung. 2. Religiöse Aussagen werden unter Berücksichtigung eines bestimmten Erfahrungshorizonts formuliert. Treten nun neue Erfahrungen auf – beispielsweise aus anderen religiösen Traditionen oder aus dem Bereich der Naturwissenschaften –, die für religiöse Aussagen direkt oder indirekt relevant sind, dann sollten diese bei einer Reformulierung berücksichtigt werden. Aufgabe einer Religion, die rationalen Standards entsprechen möchte, ist es dann, den Inhalt eines Dogmas seiner jeweiligen Zeit angemessen zum Ausdruck kommen zu lassen, was dann aber wiederum nichts anderes heißt, als den Inhalt innerhalb einer neuen Denksphäre zu reformulieren. Anders ausgedrückt: Sofern philosophische oder theologische Überlegungen innerhalb einer religiösen Tradition 5

RMd, 98/99, RM, 131.

14 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozess, Religion, Gott

als reflexives Moment zur Modifikation der religiösen Begriffe unter heutigen Verstehensbedingungen beitragen, geht es angesichts neuer Erfahrungen und Erkenntnisse um neue Formulierungen bestimmter Einsichten. Der Dialog mit den empirischen Wissenschaften und der interreligiöse Dialog sind so schon vorgezeichnet. Mit Whiteheads Kosmologie ist auch ein metaphysischer Gottesbegriff verbunden, ohne den sein System nicht kohärent zu denken ist und der ebenfalls für die aktuellen Debatten interessant sein könnte, wird mit ihm doch eine Grundlage für Gottes prozesshafte Weltbezogenheit geboten. Um den Status des Gottesbegriffs kurz zu skizzieren, ist die metaphysische Situation zu beschreiben, in der er von Whitehead eingeführt worden ist. »Gott« kommt metaphysisch dann ins Spiel, wenn für die metaphysische Beschreibung der Welt Eigenschaften angenommen werden müssen, die prinzipiell nicht mehr durch Funktionen innerhalb der Welt erklärt werden können. 6 Somit kommt Gott durch die metaphysische Analyse der Welt in den Blick, und diese Analyse thematisiert die göttlichen Eigenschaften nur insofern, als diese in der metaphysischen Grundsituation der die Welt konstituierenden Prozesse eine Rolle spielen. Dabei hat der Gottesbegriff bei Whitehead zumindest auf einer operationalen Ebene den Status eines Grenzbegriffs. Ähnlich wie schon in »Science and the Modern World« hat Gott auch in »Process and Reality« die Funktion, die Möglichkeiten, die jeder »actual entity« in ihrem Werdeprozess zur Verfügung stehen, zu begrenzen, da es sonst nicht einsichtig wäre, wie trotz der vielen Möglichkeiten eine gewisse Konstanz im Weltverlauf gewährleistet werden kann. Gott spannt somit einen Rahmen von Möglichkeiten auf. Allerdings sieht Whitehead Gottes Funktion hinsichtlich der Welt nicht nur in der Begrenzung, sondern in einer gleichzeitigen Bewertung der möglichen Bestimmtheiten. Diese zusätzliche Zuschreibung wird dadurch legitimiert, dass die Tendenz der Welt, immer neuere und komplexere Formen zu verwirklichen, dadurch erreicht werden kann, dass Gott zu mehr Komplexität und Harmonie »überredet«, wobei das spontane Moment in der Wirklichkeit bewahrt wird. Gott »lockt« gewissermaßen die Welt zu tieferer Erfahrung, ohne ihr die Freiheit zu nehmen.

Zur Einführung des Gottesgedankens und sein Status als Grenzbegriff bei Whitehead vgl. Müller 2009, a. a. O., 117–260.

6

15 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Godehard Brüntrup / Ludwig Jaskolla / Tobias Müller

Was bedeutet diese Analyse für das Gotteskonzept? Analog zu den weltlichen Entitäten führt die metaphysische Analyse hinsichtlich des Gotteskonzepts zu einer Bipolarität Gottes, durch die er mit der Welt verbunden ist: 7 Während sein »mentaler Pol«, der »Urnatur« (primordial nature) genannt wird, alle möglichen Formen als Potentiale für die Welt enthält und diese für den Konstitutionsprozess der weltlichen Entitäten als mögliche zu realisierende Formen gerade so abstimmt, dass die Verwirklichung dieser Formen zu größtmöglicher Erfahrungstiefe bei gleichzeitiger größtmöglicher Sozialverträglichkeit führen würde, nimmt Gott die weltlichen Entitäten durch seine Folgenatur (consequent nature), die sein »physischer Pol« ist, in seinen eigenen Prozess auf, sobald diese vollständig bestimmt und so in der Welt vergangen sind. Es gibt also nicht nur eine organische Verwobenheit der weltlichen Entitäten untereinander, eine solche findet sich – wenn man den Grundannahmen der metaphysischen Analyse Whiteheads folgt – notwendig auch zwischen Gott und Welt. 8 Diese Auffassungen Whiteheads hinsichtlich der Religionstheorie und des Gott-Welt-Verhältnisses bieten also zahlreiche Anknüpfungspunkte für die aktuelle Debatte, deuten aber auch auf eine der Religion innewohnende Spannung hin: In der Religion wird ein überzeitliches Wertbewusstsein angestrebt, in dem auch eine unvergängliche (aber trotzdem im Prozess begriffene) Dimension der Wirklichkeit (z. B. »Gott«) thematisiert wird, wobei aber die Erkenntnisse immer nur in kontextrelativen Termini und Metaphern ausgedrückt werden können und dadurch prinzipiell revidierbar bleiben. Diese Kontextbezogenheit eröffnet aber auch den aktuellen religionsphilosophischen Debatten die Möglichkeit, das Verhältnis von Gesellschaft bzw. Kultur und Religion anhand der strukturellen Verwiesenheit der religiösen Erkenntnisansprüche auf eine bestimmte kulturelle Sphäre neu zu bedenken.

Es muss hier schon kurz darauf hingewiesen werden, dass die bipolare Struktur analog ist, womit auch schon innerhalb von Whiteheads Ansatz eine bleibende Andersartigkeit im Vergleich zu den weltlichen Prozessen bleibt. Vgl. Müller 2009, 154– 156. 8 Es bleibt auch hier darauf hinzuweisen, dass dies keine Austauschbarkeit von Gott und Welt nach sich zieht und dass beide einen unterschiedlichen ontologischen Status haben. Ferner nimmt Gott die »actual entities« auch in besonderer Weise in sich auf und verbindet diese mit seinem eigenen Prozess. 7

16 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozess, Religion, Gott

Während die Rezeption der Whiteheadschen Philosophie im deutschsprachigen Raum bislang vorwiegend in naturphilosophischen Debatten stattfand, ist die explizite Aufarbeitung und Rezeption seiner Religionstheorie und -philosophie, die beispielsweise die oben skizzierte strukturelle Spannung, das Verhältnis von Religion und metaphysischer Beschreibungsebene oder das Potential für die aktuelle Debatte berücksichtigen, immer noch ein Desiderat, das mit diesem Band adressiert werden soll. Für dieses Unterfangen sollen vor allem folgende Fragen leitend sein: Welchen Status hat eine genuin religiöse Betrachtung von Gott und Welt? Wie verhalten sich metaphysische Beschreibung und Religion zueinander? Lässt sich das Phänomen der Religion adäquat in prozessmetaphysischen Kategorien fassen? Wie lässt sich in Whiteheads Ansatz das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion sinnvoll denken? Welche systematischen Funktionen hat der Gottesbegriff in dem System Whiteheads? Können die Funktionen des Gottesbegriffs auf die Welt übertragen werden, wie das einige Whiteheadinterpreten wie beispielsweise Donald Sherburne vorgeschlagen haben? Welche Entwicklung durchläuft die metaphysische Gotteskonzeption in Whiteheads späten Werken? Wo ergeben sich fruchtbare Anschlussmöglichkeiten an die aktuellen Debatten? Somit soll der Band nicht nur dazu dienen, Aspekte und Probleme innerhalb der Whitehead-Forschung zu thematisieren, die bislang noch nicht die nötige Aufmerksamkeit erhalten haben. Darüber hinaus soll auch ausgelotet werden, inwiefern sich die Prozessphilosophie für die aktuellen religionsphilosophischen Debatten als fruchtbare und längst noch nicht ausgeschöpfte Ressource erweisen könnte.

Literatur Müller, Tobias (2009). Gott – Welt – Kreativität: Eine Analyse der Philosophie A. N. Whiteheads. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Whitehead, Alfred North (1926). Religion in the Making. Cambridge: Cambridge University Press.

17 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Siglen

Bei den deutschen Übersetzungen wird in der Abkürzung ein kleines »d« hinzugefügt. AI/Ald CN/CNd ESP FR/FRd MT/MTd PR/PRd

RM/RMd SMW/SMWd

T

PNK

Adventures of Ideas, New York (1933). Dt.: Abenteuer der Ideen, Frankfurt (1971). The Concept of Nature, Cambridge (1920). Dt.: Der Begriff der Natur,Weinheim(1990). Essaysin Scienceand Philosophy, NewYork (1947). The Function of Reason, Princeton (1929). Dt.: Die Funktion der Vernunft, Stuttgart(1974). Modes of Thought, New York (1938). Dt.: Denkweisen, Frankfurt (2002). Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected Edition. Ed. by David R. Griffin and Donald W. Sherburne, New York (1971). Dt.: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie (1987). Religion in the Making, Cambridge, zweite, neugesetzte Auflage (1927).Dt.: Wieentsteht Religion?,Frankfurt am Main(1985). Science and the Modern World, Cambridge, zweite, neugesetzte Auflage (1927). Dt.: Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt (1984). Time, in: A. H. Johnson [Hrsg.], The Interpretation of science, Indianapolis / New York (1961), S. 240–247. Auch vorhanden in: Edgar Sheffield Brightman [Hrsg.], Proceedings of the Sixt InternationalCongressofPhilosophy,NewYork/London(1927), S. 59–64. An Enquiry Concerning the Principles of Natural Knowledge (1919),New York2007.

18 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Die Immanenz von Spontaneität und ihre transzendente Quelle Die Funktion von Whiteheads Gottesbegriff für den Prozess der Evolution. Regine Kather 1.

Einleitung

Bis weit ins 19. Jh. ging man davon aus, dass alle Formen in der Natur mit einem Schlag gleichzeitig ins Dasein getreten sind. Doch seit der Entdeckung der Evolution der Lebensformen und sogar des gesamten Universums ist diese Vorstellung unhaltbar geworden. Die entscheidende Frage lautet daher: Wie ist es möglich, dass in der Natur qualitativ neue Formen entstehen? Lassen sich alle Prozesse des Werdens letztlich durch eine, wenngleich unüberschaubare Verkettung von Wirkursachen erklären? Ist also die Unberechenbarkeit von Ereignissen wie bei chaotischen Systemen, Erdbeben oder thermodynamischen Prozessen lediglich auf unser Unwissen aufgrund der Komplexität kausaler Interaktionen zurückzuführen? Entstehen Ereignisse demnach nur durch die Verbindung von Naturgesetzen mit der zufälligen Konstellation einmaliger Randbedingungen? Sind also Organismen nur das Produkt der Umweltbedingungen? Zumindest die Quantentheorie kennt noch einen anderen Grund für die Indeterminiertheit von Ereignissen: Nicht unser Unwissen, sondern die Interaktion von Beobachter und Beobachtetem im Experiment und die Verschränkung von Ereignissen führen dazu, dass sich nur noch ein Spielraum von Wahrscheinlichkeiten angeben lässt. Wegen der objektivierenden Methode der Naturwissenschaften bleibt jedoch eine Form der Verursachung prinzipiell unberücksichtigt: die Dimension von Spontaneität und Freiheit, die mit einem Moment von Subjektivität oder Innerlichkeit verbunden ist und neben der Fähigkeit zu einem kausal nicht ableitbaren Neubeginn, einem Initium im buchstäblichen Sinn des Wortes, dem Geschehen aufgrund qualifizierter Perzeptionen, von Strebungen und Urteilsakten Richtung, Bedeutung und Ziel verleiht. Vor dem Hintergrund der cartesischen Trennung von Körper 19 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Regine Kather

und Geist wurde Subjektivität an das Ich-Bewusstsein gebunden, während körperliche Funktionen naturwissenschaftlich erklärt wurden; im Rahmen reduktionistischer Programme in Soziobiologie und Neurophysiologie erschien schließlich sogar die Fähigkeit zu Wahl und Urteil als unwirksames Epiphänomen, Freiheit mithin als Illusion. Doch ist diese Erklärung angesichts der Bandbreite der Formen von Innerlichkeit, die sich im Laufe einer Jahrmillionen währenden Evolution entwickelt hat, tatsächlich plausibel? Mit der Differenzierung des Begriffs der Ursache stellen sich daher mehrere Fragen: Welche Bedeutung kommt dem Moment von Subjektivität für das Werden von Organismen und das Entstehung neuer Formen zu? Gibt es möglicherweise schon in anorganischen Prozessen Vorformen kausaler Indeterminiertheit? Ist der Seinsgrund des Universums, der alles Werden ermöglicht, nicht nur, wie viele Theologen und Naturwissenschaftler denken, der Grund objektivierbarer und mathematischformal darstellbarer Naturgesetze, sondern auch von Subjektivität und damit von Bedeutung, Freiheit, Wert und Zielgeleitetheit, die zumindest im Verhalten höherer Lebensformen beobachtbar sind und die wir unmittelbar von uns selbst kennen? Betrachten wir unter dieser Fragestellung den Zusammenhang von Evolution und Gottesbegriff bei Whitehead.

2.

Ein Rückgriff auf die Philosophie Spinozas: Einzelwesen als causa sui

Für Whitehead kann die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit nicht durch eine einzige Methode erfasst werden. Es bedarf einer zwar erfahrungsgestützten, gleichwohl jedoch spekulativen Erweiterung der Begrifflichkeit, um eine integrative Sicht der Wirklichkeit zu entwickeln. 1 Um die für die Wirklichkeit konstitutiven Entitäten zu charakterisieren, greift Whitehead sowohl in seinem 1925 verfassten Werk Science and the Modern World wie in seinem 1929 vollendeten Hauptwerk Process and Reality explizit auf Spinozas Begriff der causa sui zurück: »Auf diese Weise erfüllt ein wirkliches Einzelwesen Spinozas Begriff der Substanz: es ist causa sui.« 2 1 2

Vgl. Kather 1998; Kather 2010; Kather 2012, 114–144. PRd, 406; – auch: PRd, 38: »Die organistische Philosophie steht Spinozas Denk-

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Die Immanenz von Spontaneität und ihre transzendente Quelle

Spinoza selbst beginnt seine ›Ethik‹ mit folgender Definition: »Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesenheit die Existenz in sich schließt, oder das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.« 3 Im Begriff der causa sui ist demnach ihr Sein eingeschlossen; im Unterschied zu endlichen Entitäten könnte sie also nicht überhaupt nicht oder nur dem Wesen nach existieren. Als Ursache ihrer selbst existiert sie unabhängig von jeder Form äußerer Verursachung mit innerer Notwendigkeit. In diesem Sinne ist sie frei, sich in Übereinstimmung mit ihrem Wesen zum Ausdruck zu bringen. Freiheit versteht Spinoza somit gerade nicht im Sinne der Willensfreiheit eines höchsten Wesens, sondern als Freiheit, sich in seinem Sein zum Ausdruck zu bringen. Obwohl Spinoza die causa sui als Substanz bestimmt, gilt sie ihm nicht als ruhendes Sein, sondern als schöpferische Dynamik, die allerdings keiner zeitlichen Veränderung unterliegt. Ihr Sein ist ihre Wirksamkeit. 4 Diese Dynamik, durch die zahllose endliche Entitäten entstehen, ist daher nicht kausalmechanisch zu erklären; aus demselben Grund wird die causa sui von endlichen Entitäten ihrerseits nicht rückwirkend kausal beeinflusst. 5 Die vielen endlichen Dinge sind bestimmte und begrenzte Modifikationen der einen Substanz bzw. ihrer Attribute und als solche zwar von ihr unterschieden, jedoch nicht vollständig von ihr getrennt. Als unerschöpfliche Wirkungsmacht 6 ist die causa sui natura naturans; endliche Entitäten dagegen, die nie in der Lage sind, sich uneingeschränkt zum Ausdruck zu bringen, sind natura naturata. 7 schema sehr nahe. Allerdings unterscheidet sie sich dadurch von ihm, daß sie die Subjekt-Prädikat-Formen des Denkens verläßt, soweit sie auf der Voraussetzung beruhen, diese Form sei eine direkte Verkörperung der elementarsten Kennzeichnung des Tatsächlichen.« – Vgl. Kather 1994. 3 Spinoza 1976, 3 – Vgl. Hadot 1971. 4 Spinoza 1976, I Def.7: »Das Ding soll frei heißen, das nur kraft der Notwendigkeit seiner Natur existiert, und allein durch sich selbst zum Handeln (ad agendum) bestimmt wird; notwendig dagegen, oder besser gezwungen, das Ding, das von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu existieren und zu wirken (ad operandum).« 5 Spinoza 1976, I Def.3: Die Bestimmung der causa sui hängt aufs engste mit der Bestimmung der Substanz zusammen als »dasjenige, was in sich ist und durch sich begriffen wird, das heißt das, dessen Begriff, um gebildet werden zu können, den Begriff eines anderen Dinges nicht bedarf.« 6 Spinoza 1976, I LS 11, Anm. 7 Spinoza 1976, I LS 29, Anm.: Wir haben »unter naturender Natur das zu verstehen …, was in sich ist und durch sich begriffen wird, oder solche Attribute der Substanz, die ewige und unendliche Wesenheit ausdrücken. … Unter genaturter Na-

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Schöpferische Ursache aller endlichen Entitäten ist die causa sui nicht in einem die Natur transzendierenden Sinne, obwohl sie auch nicht, wie ein pantheistisches Missverständnis nahelegt, völlig in ihr aufgeht. Es handelt sich vielmehr um einen Panentheismus: für Spinoza ist alles, was ist, in Gott. 8 Die causa sui ist die »inbleibende« 9 oder immanente Ursache endlicher Entitäten, die gleichwohl äußerer, zeitlicher Ursachen bedürfen, um existieren zu können. 10 Endliche Entitäten befinden sich in gewisse Weise im Fadenkreuz zweier Formen von Ursache: Als natura naturata sind sie den kausalen Wirkungen anderer Entitäten ausgesetzt und werden unter deren Einfluss irgendwann zugrunde gehen; 11 insofern sie jedoch gleichzeitig ein begrenzter Ausdruck der causa sui sind, beinhaltet ihr Wesen die Kraft, die sie zum Streben nach Selbsterhaltung befähigt (conatur) 12. »Denn obwohl jedes von ihnen (den Einzeldingen, R. K.) von einem anderen Einzelding bestimmt wird, auf gewisse Weise zu existieren, so folgt doch die Kraft, mit der jedes in der Existenz beharrt, aus der ewigen Notwendigkeit der Natur Gottes.« 13 Etwas ist daher umso wirklicher, je mehr Wirkungsvermögen es hat. 14 Alles Streben zielt daher letztlich auf die höchstmögliche Partizipation an der causa sui selbst. Was Leibniz ausführen wird, bahnt sich bei Spinoza an: Die Ordnung der natura naturata untersteht den Gesetzen der Mechanik, während die natura naturans als schöpferischer Seinsgrund der Dinge deren eigentliche Wirklichkeit ausmacht und der empirischen Betur dagegen verstehe ich alles, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden von Gottes Attributen folgt, das heißt, die gesamten Modi der Attribute Gottes, sofern sie als Dinge betrachtet werden, die in Gott sind, und die ohne Gott weder sein noch begriffen werden können.« Im Unterschied zur causa sui sind bei den endlichen Entitäten Essenz und Existenz voneinander verschieden. Die Essenz schließt die konkrete, zeitlich begrenzte Existenz nicht notwendig in sich. 8 Spinoza 1976, I LS 15, Anm.: »Alles … ist in Gott, und alles, was geschieht, geschieht allein durch die Gesetze der unendlichen Natur Gottes, und folgt aus der Notwendigkeit seiner Wesenheit.« 9 Spinoza 1976, I LS 18. 10 Spinoza 1976, I LS 17, Anm.; I LS 24, 25. 11 Spinoza 1976, II LS 30: Die zeitliche Existenz unterliegt dem Werdegang der Natur, der sich in einer unabschließbaren Verkettung von Ursachen und Wirkungen ausdrückt. Die Reihenfolge in der Existenz gibt nur Aufschluss über äußerliche Bestimmungen und Verhältnisse, aus denen keine Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge zu gewinnen ist. 12 Spinoza 1976, III LS 7. 13 Spinoza 1976, II LS 45. 14 Spinoza 1976, I LS 11, Anm.

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obachtung verborgen bleibt. 15 Das 20. Jahrhundert leitet nicht zuletzt durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften selbst eine neue Epoche des Verhältnisses von Natur und Geist ein, das eine Überwindung der Trennung von objektiven Aussagen über die Welt ohne Reflexion auf das erkennende Bewusstsein einerseits und nur für die menschliche Subjektivität gültigen Erkenntnissen der Geisteswissenschaften andererseits fordert. Insofern verwendet auch Whitehead den Begriff der causa sui nicht exakt im Sinne Spinozas, sondern transformiert ihn in Verbindung mit einem neuen Kontext. 16 Während in der Tradition von Descartes und Newton Substanzen als in sich bestehende Seiende ohne wesentlichen Bezug zu anderem und Körper als im Raum lokalisierbar erscheinen, 17 gelten in der Quantenphysik die kleinsten materiellen Einheiten nicht mehr als unwandelbar und undurchdringlich. 18 Es handelt sich um dynamische Elemente, die entstehen und vergehen können, so dass sich Bewegung nicht auf Ortsbewegung beschränken lässt. 19 Indem der klassische Begriff der Materie obsolet wird, eröffnet sich auch der Raum für eine Neuinterpretation des Verhältnisses von Materie und immaterieller Form. Außerdem muss das Werden des gesamten Formenreichtums der Natur erklärt werden. 20 Doch nicht nur in Physik und Biologie, auch in der Lebenswelt bietet sich, so argumentiert Whitehead, ein Bild, das der Interpretation der Seienden als abgesonderter Substanzen widerspricht. Biologische Prozesse ebenso wie quaVgl. Kather 2003, 54–62. SMWd, 167; 170 f. 17 Vgl. PRd, 110: »Das ›Besondere‹ wird nur als sein individuelles Selbst, ohne notwendige Relevanz für irgendein anderes Besonderes gefaßt. Es entspricht Descartes’ Definition der Substanz. »Unter Substanz können wir uns ein Ding vorstellen, das so existiert, daß es zu seiner Existenz kein anderes Ding bedarf.« Dies ist eine richtige Ableitung von Aristoteles’ Definition: Eine erste Substanz »ist die, die weder von einem Subjekt ausgesagt wird, noch in einem Subjekt ist.« … Genau diese Seite der Philosophie des siebzehnten Jahrhunderts wird hier preisgegeben.« 18 Whitehead 1934, 30 f.: »Matter has been identified with energy and energy is sheer activity; the passive substratum composed of self-identical enduring bits of matter has been abandoned. … in the modern concept the group of agitations which we term matter is fused into its environment. There is no possibility of a detached, self-contained local existence. The environment enters into the nature of each thing.« 19 Vgl. Kather 1992 zur Bedeutung des Begriffs der causa sui für das Problem der Selbstorganisation. – Zum Problem der Kausalität vgl. Sachsse 1987b, 65–84. 20 PRd, 406: »Das Universum [ist] ein kreatives Fortschreiten ins Neue. Die Alternative zu dieser Lehre ist ein statisches, morphologisches Universum.« – Vgl. auch SMWd, 122 ff.; 130 und FRd, insb. Kap. 1. 15 16

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lifizierte Perzeptionen verbinden Organismen mit ihrer Umwelt und sind konstitutiv für deren psycho-physische Entwicklung – ein Gedanke, der durch die moderne Epigenetik noch einmal eine bislang ungeahnte Aktualität erhält. 21 Im Unterschied zu Spinoza ist Whiteheads Ausgangspunkt daher nicht mehr die Frage, wie sich die Vielfalt endlicher Entitäten von einem letzten Seinsgrund herleiten lässt, sondern wie sich die indeterminierte und unabgeschlossene Genese endlicher Formen vollzieht. Dadurch gewinnt das Werden der Formen einen Primat vor deren Sein. Wie, so lautet die entscheidende Frage, kann man erklären, dass sich im Strom des Werdens überhaupt diskrete Entitäten bilden? Aufgrund dieser Problemstellung gilt es eine neue Lösung für das fundamentale Problem von Einheit und Vielheit zu entwickeln, die die Klippen von Monismus wie Dualismus umgeht.

3.

Organismen als Akteure

Da anorganische wie organische Formen, wie Whitehead betont, eine Geschichte haben, muss es eine der Natur innewohnende Dynamik geben, die den Aufbau komplexerer Formen ermöglicht. Nicht das schiere Überdauern, sondern die Steigerung der Intensität des Erlebens ist eines der bemerkenswerten Merkmale der Evolution. Organismen können daher, so Whitehead, nicht nur Produkte der Umweltbedingungen und damit durch Passivität gekennzeichnet sein. Es muss, so der Schluss, schon in den kleinsten Elementen der Wirklichkeit, aus denen sich alle komplexeren Entitäten bilden, eine rein physikalisch nicht zu erklärende Eigendynamik geben. Wirkliche Einzelwesen, so definiert Whitehead, »sind komplexe und ineinandergreifende Erfahrungströpfchen.« 22 Sowohl die Möglichkeit zur Bildung abgegrenzter Entitäten wie die zu Relationen zwischen ihnen beruht für Whitehead auf Erfassungen, auf Prehensionen. Die Interaktion zwischen Entitäten hat nicht nur eine objektivierbare Dimension, sondern beinhaltet auch die Möglichkeit zu qualifizierten Perzeptionen und spontaner Eigenaktivität, die dem Prozess eine Richtung verleihen.

21 22

Vgl. Kegel 2015; Bauer 2008. PRd, 58.

24 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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Doch Whitehead deduziert nicht, wie Spinoza, die endlichen Entitäten aus einem universalen Prinzip; anders als dieser will er keinen Monismus, sondern einen Pluralismus wirklicher Einzelwesen begründen. In diesem Sinne bestimmt er sein Verhältnis zu Spinozas Monismus mit folgenden Worten: Die organistische Philosophie steht Spinozas Denkschema sehr nahe. Allerdings … werden Spinozas ›Modi‹ nun zu den schieren Wirklichkeiten, so daß uns ihre Analyse, auch wenn sie das Verständnis fördert, nicht zur Entdeckung eines höheren Realitätsgrades führt. Die Kohärenz, nach der das System strebt, liegt in der Einsicht, daß der Prozeß, oder die Konkretisierung jedes wirklichen Einzelwesens, die anderen wirklichen Einzelwesen als seine Bestandteile enthält. Auf diese Weise erklärt sich die offensichtliche Solidarität der Welt. 23

Anders als bei Spinoza sind die wirklichen Einzelwesen im eigentlichen Sinn real, so dass sie nicht um der Seinserhaltung willen nach der Partizipation an einer höheren, göttlichen Ordnung streben. Dennoch greift Whitehead auf Spinozas Konzept der Selbstverursachung, der causa sui zurück, um deren Realitätsgehalt und Eigendynamik begreiflich zu machen. Das wirkliche Einzelwesen ist bestimmt durch eine aus den äußeren Bedingungen unableitbare Kraft, 24 die es zur Selbsterschaffung befähigt. Es ist zumindest bis zu einem gewissen Grad »natura naturans« 25. Causa sui sein bedeutet demnach, dass das Werden einer Entität nicht nur auf allgemeinen Gesetzen in Verbindung mit der einmaligen Konstellation von Randbedingungen beruht, sondern auch auf deren Eigenaktivität. Sie ist ihre Wirksamkeit und keine Substanz, der auch Wirksamkeit zu eigen wäre. Dem entspricht das ontologische Prinzip, das besagt: »wo kein wirkliches Einzelwesen, da auch kein Grund.« 26 Die Einzelwesen sind wirklich, insofern sie der Grund ihres Seins und ihres Soseins sind. Obwohl sich die Einzelwesen nach ihrer Bedeutung und ihrer Funktion im Gesamtzusammenhang unterscheiden – Gott ist ebenso ein wirkliches Einzelwesen wie ein Atom – gilt für jedes Einzelwesen das ontologische Prinzip.27

23 24 25 26 27

PRd, 38. Vgl. PRd, 124; SMWd, 125 ff. PRd, 184. PRd, 58. Vgl. PRd, 175.

25 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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Wirkliche Einzelwesen als die konkretesten Elemente der Wirklichkeit müssen derart in ihre Umgebung eingebettet sein, dass sie sich aufgrund der Beziehung zu ihr bilden können. Die wirklichen Einzelwesen sind, so besagt es das Prinzip der universellen Relativität, »aufgrund ihres gegenseitigen Erfassens miteinander verbunden.« 28 Indem im Akt des Erfassens Daten von anderen Entitäten aufgenommen werden, entsteht ein Relationsgefüge der vielen Einzelwesen untereinander. Der Begriff der Prehension drückt daher die subjektive Weise des Erfassens und das Erfassen eines Objekts gleichzeitig aus. Aufgrund seiner Prehensionen ist jede Entität eine einzigartige Synthese von Daten und stellt seinerseits wiederum ein ganz bestimmtes Potential für das Werden anderer Seiender dar. Im Akt des Erfassens ist es Subjekt, im Erfasstwerden durch andere Entitäten Objekt. 29 Innere Relationen, die die spezifische Gestalteinheit eines Seienden ausmachen und äußere Relationen, die die Verbundenheit mit anderen Seienden beinhalten, sind konstitutiv für jede Entität. Der bloße Akt des Erfassens von Daten reicht allerdings noch nicht aus, um die Besonderheit des werdenden Einzelwesens zu erklären. Die Informationen können nicht beliebig addiert werden, wenn eine kohärente Gestaltganzheit das Ziel des Werdens ist; ebenso wenig können alle Informationen unterschiedslos aufgenommen werden. Eine Gerichtetheit oder ein »Vektor-Charakter« 30 kennzeichnet die besondere Weise, in der die Informationen aufgenommen und zu einer kohärenten, funktionsfähigen Einheit synthetisiert werden. Die spezifische Prägung der erfassten Informationen, die Art und Weise ihrer Synthese, beruht auf der subjektiven Form. Durch sie wird in jedem Augenblick in der auf die sich bildende Einheit hereinstürzenden Informationsflut eine Auswahl getroffen. Erfassungen sind daher »Entscheidungen« 31, die allerdings in den meisten Fällen bewusstloser Vollzug sind. Daher will Whitehead dieses Wort in dem ursprünglichen Sinne von Abschneiden (de-cision) verstanden wissen. Whitehead unterscheidet positive und negative Erfassungen, je nachdem, ob etwas mit der sich bildenden Einheit verträglich ist oder nicht. Durch Auswahl und Ausscheidung von Informationen mit HilPRd, 60. – Der Begriff der Prehension kann (vgl. PRd, 414 f.) in enger Analogie zu Leibniz’ Begriff der Perzeption wie zur Informationstheorie verstanden werden. 29 PRd, 65: »Es liegt also in der Natur eines ›Seienden‹, daß es ein Potential für jedes ›Werdende‹ ist. Dies ist das Prinzip der Relativität.« 30 PRd, 59; – auch: PRd, 423 f.; 436. 31 PRd, 97. 28

26 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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fe der subjektiven Form konstituiert sich das wirkliche Einzelwesen. Die subjektive Form bestimmt, welche Informationen integriert und welche ausgeschieden werden. Sie verleiht dem Prozess eine Richtung auf die Herausbildung einer kohärenten Gestalt. Die »subjektive Form beruht auf dem subjektiven Ziel einer weitergehenden Integration, um die ›Erfüllung‹ des vervollständigten Subjekts zu erreichen.« 32 Subjektive Formen sind nicht nur die physikalischen oder biologischen Bedingungen, die für das Funktionieren eines Systems notwendig sind, sondern beinhalten auch Gefühle, Wertungen, Zwecksetzungen, Zuneigung, Abneigung und Bewusstsein, mithin Subjektivität. 33 Dass Entitäten entstehen, ist somit kein wertneutrales Faktum; zu sein oder nicht zu sein sind nicht gleichwertig. Das Ziel hat für die sich selbst erschaffende Entität eine Bedeutung und es zu erreichen beinhaltet Erfüllung. Causa sui sein bedeutet demnach, dass »ein Einzelwesen … wirklich [ist], wenn es für sich selbst Bedeutung hat. Daraus folgt, daß ein wirkliches Einzelwesen mit Bezug auf seine eigene Bestimmung wirkt.« 34 Die Charakterisierung des Erfassens als Akt der Entscheidung beinhaltet, dass Fakten nicht notwendig so sein müssen, wie sie sind. 35 Erst die Auswahl zwischen verschiedenen Daten grenzt den Spielraum an Möglichkeiten zugunsten einer Alternative ein, die dann verwirklicht wird. Durch Selektion und Integration erwirkt das werdende Einzelwesen mit seiner eigenen Bestimmtheit auch eine bestimmte Bindung an jede »Einzelheit des Universums« 36. Nur durch die Ausrichtung auf eine in sich zusammenhängende Gestaltganzheit gewinnt der Prozess der Selbsterschaffung ungeachtet wechselnder äußerer Bedingungen eine gewisse Stetigkeit. Das Ziel ist dann erreicht, wenn ein Seiendes den höchstmöglichen Grad an Kohärenz erreicht. Der Übergang von Inkohärenz zu Kohärenz ist somit ein zielgerichteter Prozess. 37

PRd, 59; auch: PRd, 144; 186–189; 424–426; 516. Vgl. PRd, 67. 34 PRd, 69. 35 Die Bestimmung des wirklichen Einzelwesens vollzieht sich, indem genau eine von mehreren Alternativen des zeitlosen Gegenstandes real wird. Dieser »behält … die Botschaft von Alternativen, die das wirkliche Einzelwesen vermieden hat.« (PRd, 280). 36 PRd, 94; – auch: PRd, 101. 37 Vgl. PRd, 70. – Zur Problematik von Stabilität und Kohärenz vgl. FRd, 18 f. 32 33

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Damit zeichnen sich unterschiedliche Weisen von Ursache zu sprechen für die Konkretisierung eines wirklichen Einzelwesens ab: Wirkursache sind die Daten der bereits gewordenen Welt; doch Kausalursachen, zufällige Ereignisse oder statistische Wahrscheinlichkeit können die Tendenz zu kohärenten Formen nicht erklären. Erst die Ausrichtung auf Mögliches und der spontane Akt der Integration verleihen dem Prozess der Selbsterschaffung ein Telos, mithin Ziel und Bedeutung. Das Streben nach der Erfüllung dessen, was aufgrund der Potentiale, der subjektiven Form und der Eigendynamik möglich ist, treibt den Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit voran, an dessen Ende eine neue Entität entsteht. Die Ziele werden daher nicht von außen an die sich erschaffenden Seienden herangetragen, sondern sind der Dynamik der Selbsterschaffung immanent. Der Prozess der Selbsterschaffung ist daher nur möglich durch das Ineinandergreifen von Wirk- und Zweckursachen. Nach dieser Darstellung kommt der Übergang von einem wirklichen Einzelwesen zum anderen in der Wirkverursachung zum Ausdruck; und die Zweckverursachung drückt den inneren Prozeß aus, durch welchen das wirkliche Einzelwesen es selbst wird. Zu unterscheiden sind das Werden des Datums, das in der Vergangenheit der Welt zu finden ist, und das Werden des unmittelbaren Selbst aus dem Datum heraus. Dieses Werden ist der unmittelbare Prozeß. Ein wirkliches Einzelwesen ist zugleich das Produkt der wirkenden Vergangenheit und, mit Spinozas Ausdruck, causa sui. 38

Die Unterscheidung von Wirk- und Zweckursache beinhaltet mit der Unterscheidung von Ursache und Grund auch eine Modifikation des Bewegungsbegriffs: Ursache beschreibt den Aspekt einer Bewegung, der sich auf die Determination durch äußere Einwirkungen zurückführen und sich als Kausalgesetzlichkeit im Sinne Kants beschreiben lässt: Danach muss »alle Veränderung eine Ursache haben; … in dem letzteren (Satz) enthält … der Begriff einer Ursache so offenbar den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel.« 39 Alle Geschehnisse in PRd, 282; – vgl. auch: PRd, 406. Whitehead nähert sich durch die Verbindung von causa sui mit Zweckursache der griechischen Konzeption, wonach Natur durch Selbstbewegung gekennzeichnet ist. Wesentlicher Unterschied zum griechischen Naturbegriff ist, dass Whitehead das Werden nicht nur als Entfaltung bestimmter Formen ansieht, sondern, und dies markiert noch einmal den Einsatzpunkt der naturphilosophischen Frage am Beginn des 20. Jhdts., die Bildung stabiler, dauernder Formen allererst erklären muss. 39 Kant 1974, KrV B5. 38

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der Natur gelten als kausal determiniert und folgen aus vorangehenden Ereignissen. Prinzipiell wäre es möglich, aus dem Zustand eines Systems zu einer bestimmten Zeit die zukünftige Bewegung zu berechnen. Das Entstehen qualitativ neuer Entitäten ist unter diesen Prämissen ausgeschlossen. Im Unterschied zur Ursache beinhaltet der Grund dagegen eine Dynamik, die sich nicht aus äußeren Bedingungen herleiten lässt und von keiner Vorbedingung abhängt. Erst durch ein Moment der Unbedingtheit im buchstäblichen Sinn kann etwas qualitativ Neues entstehen. Da der Grund kein Glied mehr in einer Kette von Wirkungen ist, ist die Beziehung des Grundes zu dem Entstehenden nicht wie bei Ursache und Wirkung symmetrisch. Der Grund ermöglicht eine neue Kette von Wirkungen, die auf ihn selbst nicht kausal zurückwirken. Das, was entsteht, ist folglich auch nicht in die zeitliche Abfolge von Ereignissen einzuordnen. Es entsteht, mit Platon gesprochen, ›plötzlich‹. 40 Grund und Ursache beinhalten somit zwei unterschiedliche Formen von Bewegung im Prozess der Konstitution eines wirklichen Einzelwesens. Im Prozess der Selbsterschaffung entsteht durch den Rückgriff auf die Daten der Umgebung aus den vielen, inkohärenten und zerstreuten Informationen ein Geschöpf, das sich von anderen durch seine eigentümliche innere Bestimmtheit und seine Relationen zu anderem unterscheidet. Es entsteht eine qualitativ neue Einheit; es bildet sich »ein Einzelwesen und nicht als eine bloße Ansammlung von Teilen oder Zusätzen.« 41 Der Rückgriff auf Spinozas Begriff der causa sui ermöglicht es Whitehead demnach, die spontane Selbstorganisation von Entitäten zu denken, mithin eine Dynamik, die heterogene Impulse zu einer kohärenten Einheit verschmilzt. Mit Hilfe des Begriffs der causa sui kann somit das Entstehen des Neuen gedacht werden. Strukturbildung setzt nicht nur eine gewisse kausale Indeterminiertheit der einzelnen Prozesse voraus, sondern vor allem eine kausal unbedingte Eigendynamik des sich bildenden Einzelwesens. Diese baut zwar auf die kausal wirkende Umwelt auf, ist aber nicht aus ihr ableitbar. Auf die kausal wirkenden Reize und Impulse erfolgt eine selbsttätige Reaktion der vielen sich selbst erschaffenden Einheiten.

40 41

Vgl. Beierwaltes 1966/67. SMWd, 90.

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Die These der organistischen Philosophie lautet, daß man bei der Bestimmung der Bestandteile einer Konkretisierung (concrescence) … die Sphäre der Wirkursachen beliebig weit ausdehnen kann, jenseits dieser Bestandteile aber immer die endgültige Reaktion der sich selbst erschaffenden Einheit des Universums verbleibt. Diese endgültige Reaktion vervollständigt den sich selbst erschaffenden Akt, indem sie den Bestimmungen der Wirkursachen den entscheidenden Stempel kreativer Emphase (the decisive stamp of creative emphasis) aufdrückt. Jedes Ereignis (occasion) zeigt sein eigenes Maß an kreativer Emphase im Verhältnis zu seinem Maß an subjektiver Intensität. 42

Da am Prozess der Selbsterschaffung kausale Einflüsse und der spontane Akt des Erfassens beteiligt sind, ist die werdende Entität bipolar, physisch und geistig. Der physische Pol eines Einzelwesens erfasst die vorgegebenen, kausal wirkenden Informationen, während der geistige Pol das Moment der Selbstverursachung beinhaltet. Geistiger und physischer Pol sind – wie bei Leibniz – in jedem Prozess und damit auf allen Ebenen der Komplexität verschränkt. Da schon die einfachsten Entitäten ein Moment von Selbstverursachung, von Bedeutsamkeit und Zielgeleitetheit haben, gibt es keinen Übergang von gänzlich geistloser Materie zu geistbegabten Entitäten. Es gibt lediglich unterschiedliche Grade und Formen von Spontaneität. Jedes Einzelwesen ist bipolar – und doch variiert die Gewichtung der beiden Pole von den einfachsten Einzelwesen, von Elektronen, Protonen oder Molekülen bis zum Menschen und zu Gott. Physisches und Geistiges werden in ihrer Unterschiedenheit als Komponenten eines Prozesses begriffen. Damit gelingt es Whitehead, die »Gabelung der Natur« 43 und mit ihr den Dualismus von Materie und Geist ebenso wie einen Reduktionismus des Geistes auf die Materie auf allen Ebenen des Seins zu überwinden. Die Möglichkeiten zur Verknüpfung kausal wirkender Impulse werden allerdings nicht von den werdenden Entitäten frei konstruiert; ebenso wenig sind sie ein Spiel zufälliger Verkettungen oder kausaler Rückkoppelungsmechanismen. Für Whitehead gibt es einige Grundmuster, die zeitlos invariant als reine Möglichkeiten oder zeitlose Gegenstände (eternal objects) vorhanden sind. Sie bilden die Grundmuster des Werdens in der Welt, die anders als Platons Ideen

PRd, 105; – auch: PRd, 175. – Vgl. Falkner & Falkner 2010. PRd, 524. – Vgl. zu der weitreichenden Problematik insb. für die Anthropologie: Spät 2012; Knaup 2012.

42 43

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Die Immanenz von Spontaneität und ihre transzendente Quelle

allerdings erst durch die Integration in ein bestimmtes Einzelwesen Wirklichkeit gewinnen. Die zeitlosen Gegenstände werden von endlichen Seienden im Prozess der Selbsterschaffung ergriffen und integriert. Dadurch sind nie alle Möglichkeiten, die es gibt, gleichzeitig verwirklicht; und da sie in einen konkreten Prozess der Selbsterschaffung eingefügt werden müssen, um wirklich werden zu können, können nur die zeitlosen Gegenstände ausgewählt werden, die zu diesen Rahmenbedingungen passen. Jedes wirkliche Einzelwesen fasst die zeitlosen Formen derart zusammen, dass es ihnen eine bestimmte Relevanz in Hinblick auf sein eigenes Werden unter konkreten historischen Rahmenbedingungen erteilt. 44 Der Akt des Erfassens richtet sich auf andere wirkliche Einzelwesen und zugleich auf zeitlose Gegenstände als »reine Potentiale des Universums«: 45 Die Relevanz eines zeitlosen Gegenstandes in seiner Rolle als Anreiz ist eine den Daten innewohnende Tatsache. In diesem Sinne bildet der zeitlose Gegenstand ein Konstituens für den ›objektiven Anreiz‹. Aber die Zulassung oder Abweisung von der Realität des begrifflichen Empfindens ist die schöpferische Entscheidung des wirklichen Ereignisses. In diesem Sinne ist ein wirkliches Ereignis causa sui. 46

Das Entstehen des Neuen beinhaltet somit nicht nur Indeterminiertheit, Wahrscheinlichkeit und Zufälligkeit, sondern auch Freiheit. Freiheit wird in diesem Kontext nicht auf ihren anthropomorphen Sinn beschränkt und nicht als Wahl- oder gar Willensfreiheit verstanden. Freiheit im Prozess der Selbsterschaffung beinhaltet eine gewisse Freiheit von kausaler Determination und damit die Freiheit zur Selbsterschaffung einer Entität. Die Reaktion auf einen Reiz ist nicht vollständig determiniert; mit dem Akt des Erfassens als einem PRd, 111: Es entsteht kein Aggregat, sondern eine neue in sich strukturierte Einheit: »Eine Rolle der zeitlosen Gegenstände besteht darin, daß sie diejenigen Elemente sind, die ausdrücken, wie jedes wirkliche Einzelwesen durch seine Synthese anderer wirklicher Einzelwesen konstituiert wird und wie sich dieses wirkliche Einzelwesen aus der primären, gegebenen Phase zu seiner eigenen, individuellen, wirklichen Existenz entwickelt.« Damit legt Whitehead den Finger auf einen bis heute in der Evolutionstheorie nicht völlig aufgeklärten Punkt: Es handelt sich um die Frage, wie es zur Auswahl von nur relativ wenigen biologischen Formen unter einer Vielzahl von rein physikalisch möglichen kommt. 45 PRd, 280; – auch: SMWd, 185 f. 46 PRd, 171. – Vgl. auch: 203: »Ein Organismus (ist) ›lebendig‹, wenn seine Reaktionen in gewissem Maß durch keine Tradition rein physischer Vererbung erklärbar sind.« 44

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Akt der Selektion werden Alternativen ausgeschlossen. Erst dadurch erwirkt eine Entität ihre eigene Bestimmtheit. Causa sui zu sein bedeutet, daß der Konkretisierungsprozeß seine eigene Grundlage für die Entscheidung über die qualitative Ausstattung der Empfindungen ist. Er ist schließlich verantwortlich für die Entscheidung, durch welche irgendein Anreiz für das Empfinden Wirksamkeit erlangen kann. Die dem Universum inhärente Freiheit beruht auf diesem Element der Selbst-Verursachung. 47

Wie fundamental der Rückgriff auf Spinozas Begriff der causa sui ist, zeigt sich daran, dass Whitehead ihn nicht nur explizit mit dem der Freiheit in Verbindung bringt, sondern Freiheit und Determination zu den Fundamentalkategorien zählt, die auf alle Seinsbereiche anwendbar sind.

3.

Stufen der Selbsterschaffung

Indem das werdende Einzelwesen vergangene und zeitlose Möglichkeiten zu einer neuen Einheit zusammenschließt, unterscheidet es sich vom Gewesenen und treibt den Prozess der Welt voran. Die Vergangenheit ist das Entschiedene, die Zukunft das Unentschiedene. Die Gegenwart ist der Akt des Entscheidens zwischen verschiedenen Alternativen. Da sich mit dem Auftreten jeder neuen Lebensform auch die Rahmenbedingungen verändern, sind diese einmalig und unwiederholbar. Dadurch entstehen nicht nur neue Fakten; mit ihnen verändert sich der Spielraum an Möglichkeiten und welche zeitlosen Gegenstände integriert werden können. Der Prozess des Werdens ist irreversibel. Die Theorie des Erfassens erklärt daher auch, wie sich aus den einfachsten wirklichen Einzelwesen zunehmend komplexere Formen bis hin zu sich ihrer selbst bewussten Lebewesen bilden: Durch gegenseitiges Erfassen sind die Einzelwesen untereinander verbunden und bilden immer komplexere Zusammenschlüsse. Organische Formen etwa sind aus einfachen Gesellschaften von Molekülen und Atomen aufgebaut, die in einen neuen Zusammenhang integriert werden. »Daher ist ein Molekül eine untergeordnete Gesellschaft in der strukturierten Gesellschaft, die wir als die ›lebende Zelle‹ bezeich47

PRd, 175.

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nen.« 48 Nur weil also die ergriffenen Daten ihrerseits bereits einen bestimmten Grad der Organisation aufweisen, gibt es nicht nur immer neue Formen, sondern auch eine Evolution psycho-physischer Komplexität. Komplexere Formen sind nur möglich, weil sie auf schon vorhandenen Formen aufbauen. Ohne determinierende Faktoren als Potentiale künftigen Werdens gäbe es daher keine Steigerung von Komplexität. Da sich alle Einzelwesen durch Prehensionen konstituieren, ihnen also ein Moment der Selbsterschaffung innewohnt, gibt es zwischen Belebtem und Unbelebtem, den Bereichen von Biologie und Physik, keinen Dualismus. Dennoch vollzieht sich der Akt des Erfassens in Abhängigkeit von der Komplexität der Organismen in unterschiedlicher Weise. Trotz der Kontinuität in Hinblick auf die Grundelemente gibt es durch deren Zusammenschluss zu einer neuen Ganzheit zugleich diskrete, diskontinuierliche Übergänge zwischen Seinsbereichen mit strukturell unterschiedlicher Komplexität. 49 Ein einziges neues Element, das integriert wird, impliziert ein qualitativ neues Zusammenspiel aller anderen Elemente. Der Akt des Erfassens kann sich vom bloß reaktiven Aufnehmen und Weiterleiten, wie es bei anorganischen Formen die Regel ist, bis zum seiner selbst bewussten Erkennen und Urteilen steigern. Da jede Entität aufgrund der subjektiven Form und der Gegebenheiten eine einzigartige Synthese von Daten und Möglichkeiten vollzieht, verkörpert »jedes wirkliche Einzelwesen … etwas Individuelles.« 50 Alle organismischen Entitäten sind, mit Jonas gesprochen, selbstzentrierte Individuen. 51 Auf ihrer Selbstzentriertheit beruht ihre Freiheit, die ebenfalls verschiedene Grade der Komplexität durchläuft: Was auf der materiellen Ebene bloße Indeterminiertheit ist, verändert sich bei lebenden Organismen aufgrund qualifizierter Perzeptionen zu ersten Formen der Wahl zwischen Alternativen. Dadurch wächst der Spielraum für ihre Eigenaktivität. Erst bei höheren Lebewesen entsteht jedoch die Freiheit, aufgrund der Empfindung der eigenen Bedürfnisse zwischen Alternativen zu wählen. Und erst beim Menschen tritt die Möglichkeit bewusster SelbstreflePRd, 194; – vgl. auch: PRd, 195. – Vgl. Fetz 2010. Vgl. PRd, 193–196; vgl. auch: PRd, 416: »Ein wirkliches Einzelwesen ist nicht bloß eines; es ist auch definitiv komplex. Aber definitiv komplex sein bedeutet, auf eindeutige Weise verschiedene, abgegrenzte Elemente einzuschließen.« 50 PRd, 175. 51 Jonas 1992, 20. 48 49

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xion und Selbstbestimmung auf den Plan. Mit der wachsenden »schöpferischen Freiheit« 52 nimmt allerdings auch die Möglichkeit des Irrtums und damit des Scheiterns zu. Sie beruht darauf, dass Wahrnehmungen zunehmend interpretiert werden und ihnen eine Bedeutung beigelegt wird. Organismen sind daher nicht nur Produkte ihrer Umwelt, sondern selbst Akteure im Evolutionsgeschehen, das sie auf ihre Weise mitbestimmen. Ein Moment der Freiheit von kausaler Bedingtheit ist die Voraussetzung, dem Geschehen aufgrund von Eigenaktivität und Präferenzen eine Richtung zu geben und damit aufgrund eines wie auch immer rudimentären Moments von Subjektivität Ziele in den Lauf der Dinge einzubringen. Je komplexer ein Organismus ist, desto stärker tritt über das reine Beharren hinaus daher auch das Streben nach Erlebnisintensität und damit nach Bewusstheit auf. Nicht nur das schiere Überleben, sondern Intensität und Bewusstheit erscheinen als Wert. Evolution ist daher, wie Whitehead in Die Funktion der Vernunft darlegt, auch eine des Bewusstseins.

4.

Kreativität, causa sui und die Funktion Gottes für das Werden der Welt

Obwohl Whitehead mit Hilfe seiner Interpretation des Begriffs der causa sui einen realen Pluralismus vieler Seiender wie deren Verbundenheit denken kann, braucht er ein allem Geschehen zugrundeliegendes Substrat. »Kreativität liegt allen Formen elementar zugrunde, kann nicht durch Formen erklärt werden und bleibt immer durch ihre Geschöpfe bedingt.« 53 Etwas gänzlich Unbestimmtes, das keinerlei Eigenschaften hat, liegt allen konkreten Prozessen zugrunde. Whitehead bestimmt Kreativität als »Kategorie des Elementaren« oder als »Universalie der Universalien« 54. Sie ist in gewisser Weise mit der platonischen Materie oder dem modernen Konzept reiner Energie vergleichbar; allerdings verkehrt Whitehead das, was Platon mit der Urmaterie meinte, nahezu in sein Gegenteil, indem er Kreativität als

PRd, 314. PRd, 61; – auch: 80: Kreativität »kann nicht charakterisiert werden, da alle Eigenschaften spezieller sind als sie. Aber Kreativität wird immer unter Bedingungen vorgefunden und als bedingt beschrieben.« 54 PRd, 61 f. 52 53

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reine Wirksamkeit oder Aktivität versteht. 55 Diese allen diskreten Ereignissen zugrundeliegende Energie ist in gewisser Weise das Medium, das den einzelnen Entitäten ihre Selbsterschaffung ermöglicht: Jede einzelne Aktivität ist nichts als die Weise, wie die allgemeine Aktivität durch die geltenden Bedingungen individualisiert wird. … Die allgemeine Aktivität ist kein Einzelwesen im Sinne von Ereignissen oder zeitlosen Gegenständen. Sie ist eine allgemeine metaphysische Eigenschaft, die allen Ereignissen zugrundeliegt, wobei sie für jedes Ereignis eine besondere Form annimmt. 56

Whitehead vergleicht die Kreativität in ihrer Funktion auch mit Spinozas Substanz. Doch anders als bei Spinoza ist die Kreativität nur die bloße Energie zur Selbstbestimmung, die die endlichen Entitäten selbst vollziehen. »Jedes Geschehnis ist ein individueller Sachverhalt, der aus einer Individualisierung der zugrundeliegenden Aktivität hervorgeht. Aber Individualisierung ist nicht substantielle Unabhängigkeit.« 57 Insofern ist Kreativität »keine äußere Instanz mit ihren eigenen jenseitigen Zielen.« 58 Kreativität ist, da sie die Bildung diskreter, voneinander unterschiedener Seiender ermöglicht, »das Prinzip des Neuen« 59. In der Bewertung der Kreativität als des der Bestimmung Bedürftigen drückt sich demnach die Umkehrung des Realitätsbegriffs gegenüber Spinoza aus. 60 Entgegen dem Satz ›Omnis determinatio est negatio‹, der einen Realitätsverlust durch Begrenzung

Vgl. PRd, 79 f. SMWd, 206 f.; – dort auch: »Sie ist mit nichts vergleichbar: so ist sie Spinozas eine unendliche Substanz. Ihre Attribute bilden ihre Eigenschaft der Individualisierung zu einer Vielheit von Modi und zu der Sphäre von zeitlosen Gegenständen, die in diesen Modi verschiedenartig synthetisiert werden. Daher sind die zeitlose Möglichkeit und die modale Differenzierung zu einer individuellen Vielheit die Attribute der einen Substanz. Tatsächlich ist jedes allgemeine Element der metaphysischen Situation ein Attribut der substantiellen Aktivität.« 57 SMWd, 88; – dort auch: »Was die Analogie zu Spinoza angeht, so entspricht die eine Substanz bei ihm in meiner Philosophie der einen zugrundeliegenden Aktivität der Realisierung, die sich in einer ineinandergreifenden Pluralität von Modi individualisiert. Die konkrete Tatsache ist also ein Prozeß. Ihre primäre Analyse zielt auf die zugrundeliegende Aktivität des Erfassens sowie auf die realisierten erfassenden Geschehnisse.« 58 PRd, 406. 59 PRd, 62. 60 PRd, 163: »Spinoza stützt seine Philosophie auf die monistische Substanz, von der die wirklichen Ereignisse untergeordnete Modi sind. Die organistische Philosophie kehrt diesen Standpunkt um.« 55 56

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bedeutet, sind bei Whitehead erst die bestimmten Seienden im vollen Sinne wirklich. »Daher«, so Whitehead, »ist die organistische Philosophie pluralistisch, im Gegensatz zu Spinozas Monismus; und sie ist eine Lehre von der Erfahrung, die Wirklichkeiten erfaßt.« 61 Durch das Moment der Selbstverursachung gewinnt der Akt der Selbsterschaffung eine zeitliche Ausrichtung über das gegenwärtig Vorhandene hinaus auf eine Zukunft, die bisher nur möglich ist und nicht kausal auf das werdende Einzelwesen einwirken kann und die nicht nur die Folge vorangehender Wirkungen ist. Vergangenheit und Zukunft sind daher asymmetrisch zueinander: Während die erfassten Informationen aus abgeschlossenen Prozessen herrühren und damit kausal wirksam sind, ist die Zukunft nur insofern real, als sie die Ziele des Prozesses enthält. In der Gegenwart wiederum vollzieht sich »die Unmittelbarkeit des teleologischen Prozesses« 62, durch den die Zukunft wirklich wird. Die Gegenwart beinhaltet den Übergang von der Wiederholung (re-enaction), die der schieren Selbsterhaltung dient, zur Antizipation aufgrund der im Akt des Erfassens aufgenommenen neuen Impulse. Dadurch überschreitet sich ein Organismus auf eine nicht vollständig durch die Vergangenheit determinierte Zukunft. Während bei anorganischen Systemen die Antizipation lediglich der Systemerhaltung dient, insofern keine neuen Impulse integriert werden, kommt bei belebten Wesen über die Anpassung an die Umwelt noch das Streben hinzu, sich die Umwelt aufgrund eigener Bedürfnisse auszuwählen und sie sogar umzuformen. Die unzähligen einzelnen Akte der Selbsterschaffung summieren sich zu einer Gesamttendenz, die dem Werden des Universums eine Richtung verleiht. Für die zeitliche Struktur des Prozesses der Selbsterschaffung gilt daher, »daß jeder Vorgang als eine in die Vergangenheit zurückblickende Wirkung entsteht und als eine in die Zukunft vorausschauende Ursache endet. Zwischen diesen beiden Polen entfaltet sich die Teleologie des Universums.« 63 (Herv. R. K.) Auch die Genese und Entfaltung des gesamten Universums lässt sich aufgrund der Eigendynamik zahlloser Entitäten nicht ohne die Kategorie von Zweck, Ziel, Bedeutung, Wert und Sinn verstehen. Doch trotz der Tendenz zu wachsender psycho-physischer Komplexität, an der die Organismen aktiv beteiligt sind, ist das Universum 61 62 63

PRd, 151. PRd, 396. AId, 352.

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aufgrund der Dynamik der Selbstverursachung und des mit ihr verbundenen Spielraums an Möglichkeiten nie ein in sich geschlossenes System. Mit dem Eintritt jedes neuen Einzelwesens verwandelt sich der gesamte Ereignishorizont auf indeterminierte Weise. Obwohl es eine Tendenz zu wachsender psycho-physischer Komplexität gibt, handelt es sich nicht um eine mit innerer Notwendigkeit verlaufende Form der Teleologie, wie sie exemplarisch Hegel noch im 19. Jh. konzipierte. Wenn jedoch alles Werden ein Telos beinhaltet, dann stellt sich unweigerlich die Frage nach Ursprung und Ziel des ganzen Universums. Den Schlussstein von Whiteheads philosophischer Kosmologie bildet daher die Frage nach Gott. 64 Die Entwicklung des Universums ist nur, so Whitehead, möglich durch die Kreativität als formloser Dynamik und durch eine Sphäre reiner Möglichkeiten, in der alles angelegt ist, was grundsätzlich realisiert werden könnte. »In der Urnatur Gottes erlangt die Kreativität ihren uranfänglichen Charakter.« 65 Auch die zeitlosen Gegenstände gehören zum Seinsgrund des Universums, der Urnatur Gottes. Die Gottheit, so Whitehead, ist »das Prinzip der Konkretion« 66. Sie ist nicht als ein die Welt überschreitendes, zeitlos in sich ruhendes Prinzip gedacht, das die Welt einmal hervorgebracht hat und sie entweder vollständig bestimmt wie ein Uhrwerk oder sie gleichgültig nach Art eines unbewegten Bewegers ihrem Schicksal überlässt. Sie ist die schöpferische, kreative Dynamik, die das Werden in der Welt initiiert. Ihr verdankt sich das Moment der Selbstursächlichkeit in den actual entities, ein Moment der Unbedingtheit und der Spontaneität, das sich nicht aus kausalen Bedingungen und internen Rückkoppelungen erklären lässt. Doch als abstrakte Fülle aller Möglichkeiten ist die Urnatur Gottes selbst unvollkommen. Ihr mangelt es an Konkretheit und Wirklichkeit. Die Sphäre der Möglichkeiten darf daher nicht nur über der Welt thronen; sie muss in die Endlichkeit und Partikularität eingehen, sich in gewisser Weise verkörpern, inkarnieren. 67 Eine umfassende Interpretation bietet: Müller 2008. – Zur Berührung mit wie zur Differenz zu dem platonisch-neuplatonischen Verständnis des Absoluten vgl. Uehlein 1992. – Zu den prozesstheologischen Implikationen vgl. Fetz 1990 und zu den weiteren Strömungen der Prozesstheologie insb. Faber 2008. 65 PRd, 614. 66 PRd, 615. 67 PRd, 614: »Als uranfänglich betrachtet, ist er (Gott, R. K.) die unbegrenzte begriffliche Realisierung des absoluten Reichtums an Potentialitäten. Unter diesem Aspekt 64

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Nicht nur die Organsimen sind daher in ihrem Prozess der Selbsterschaffung auf Gott angewiesen. Dieser ist seinerseits auf die Aktivität der Einzelwesen angewiesen, um eine physisch-konkrete Dimension zu gewinnen. Indem die werdenden Einzelwesen zeitlose Gegenstände ergreifen und im Prozess der Selbsterschaffung integrieren, vollzieht sich gleichzeitig mit ihrem Werden das Werden Gottes. Unter dieser Perspektive ist auch Gott selbst, so Whitehead, wie alle Entitäten bipolar, physisch und geistig zugleich. Doch das Werden der Welt vollzieht sich nicht nach einem determinierten Plan, da den Einzelwesen die Fähigkeit zukommt, Möglichkeiten zu ergreifen oder aus dem Prozess auszuschließen. Sie wirken aktiv am Prozess des Werdens der Welt und dessen konkretem Verlauf mit. In gewisser Weise bietet Gott nur Möglichkeiten an; aber es liegt an den Seienden selbst, sie zu ergreifen oder zu verwerfen. Gott ist also nicht allmächtig in dem Sinne, dass er jeden Prozess mehr oder weniger vermittelt bestimmen würde. Er ist allumfassend nur insofern, als er die Möglichkeiten zu allem enthält, was werden könnte. Er »ist Anreiz für das Empfinden, der zeitlose Drang des Begehrens …, der Gegenstand der Begierde.« 68 Damit knüpft Whitehead nicht nur an Aristoteles’ unbewegten Beweger an, der bewegt, weil er schön und gut ist und damit als begehrenswert erscheint, sondern vor allem auch an den Aspekt der Liebe, der zuerst bei Platon in den Dialogen Symposion und Phaidros als Eros beschrieben wurde 69 und auch im Christentum zusätzlich zur sich frei verschenkenden Liebe, der Agape, seine Bedeutung behalten hat. Auch in einer weiteren Hinsicht kommt Whitehead bei der Bestimmung des Verhältnisses von Welt und Gott in eine gewisse Nähe zu Platons Timaios: In ihm wird das Wirken Gottes als ›besonnene Überredung‹ 70 beschrieben. Das göttliche Element will überzeugen, es lockt und schafft Anreize, indem es Sehnsucht und Begehren weckt. Nicht durch unerbittist er nicht vor, sondern mit aller Schöpfung. Aber als uranfänglich ist er so weit von ›höchster Realität‹ entfernt, daß es ihm in dieser Abstraktion ›an Wirklichkeit mangelt‹ – und das in zweierlei Hinsicht. Seine Empfindungen sind nur begrifflich, so daß es ihnen an der Fülle der Wirklichkeit fehlt. Zweitens kommt es in den subjektiven Formen begrifflicher Empfindungen nur dann zu Bewußtsein, wenn eine komplexe Integration mit physischen Empfindungen stattfindet.« 68 PRd, 615. 69 Plotin 1956–1967 wird daran anknüpfen, insb. in Enn. III, 8: Die Natur, die Betrachtung und das Eine, und in Enn. I,6: Über das Schöne. 70 Vgl. Platon, Tim. 47 e – 48 a.

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liche Gesetze noch durch moralische Sanktionen, sondern durch das Erwecken von Einsicht und Liebe wird der Weltprozess trotz aller kausal und richtungslos wirkenden Kräfte auf ein Ziel ausgerichtet. Auch die Prozesstheologie, so Whitehead, legt das Schwergewicht weder auf den herrschenden Kaiser, noch auf den erbarmungslosen Moralisten oder den unbewegten Beweger. Sie hält fest an den zarten Elementen der Welt, die langsam und in aller Stille durch Liebe wirken; und sie findet ihren Zweck in der gegenwärtigen Unmittelbarkeit eines Reichs, das nicht von dieser Welt ist. Liebe herrscht weder, noch ist sie unbewegt; auch ist sie ein wenig nachlässig gegenüber der Moral. Sie blickt nicht in die Zukunft; denn sie findet ihre eigene Belohnung in der unmittelbaren Gegenwart. 71

Auch für die philosophische Tradition, die Gott als universale Form der Bewusstheit und als schöpferische Dynamik gedacht hatte, konnte Gott nicht zum Gegenstand der Erkenntnis werden, dem der Erkennende von außen gegenüber steht. Als Grund allen Seins ist er prinzipiell nicht objektivierbar, ist er doch das, was jedes Seiende trägt; er kann lediglich in einem partizipatorischen Akt, einer Art unio mystica, berührt werden. Gott, so hatte vor allem Nikolaus von Kues im 15. Jh. betont, überschreitet folglich den Gegensatz von Subjekt und Objekt, er ist supra opposita, jenseits des Zusammenfalls der Gegensätze. 72 Schon in seiner Urnatur ermöglicht Gott daher nicht nur eine objektivierbare Dingwelt und die sie beherrschenden Naturgesetze; er begründet, so betont Whitehead zu Recht, auch die Möglichkeit von Entitäten, die selbst über eine schöpferische Dynamik und qualifizierte Perzeptionen und damit über Subjektivität verfügen. Aufgrund des Prozesses der Selbsterschaffung haben alle Organismen einen gewissen Anteil an der göttlichen Urnatur, so dass auch sie nicht vollständig objektivierbar sind. Mit der Immanenz Gottes kommen daher auch die Fähigkeit zu qualifizierten Perzeptionen, das Streben nach und das Erleben von Erfüllung, Bedeutung und Ziel in die Welt. Diese rudimentäre Form der Subjektivität wird ab einer gewissen Komplexität zu Empfindungen, Gefühlen und Selbstbewussheit. Gott ist daher nicht nur ein Gott der Physiker, sondern

PRd, 613. Vgl. Zum Vergleich des Relationsbegriffs bei Cusanus und Whitehead: Kather 2010.

71 72

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auch der Gott lebendiger Organismen mit unterschiedlichen Graden von Subjektivität. Whiteheads Gott ist daher kein abstraktes Prinzip, das teilnahmslos über der Welt thront; er lässt sich schon in seiner Urnatur nicht ohne Subjektivität, mithin die Perspektive der ersten Person verstehen. »Die begrifflichen Empfindungen, aus denen seine Urnatur zusammengesetzt ist, belegen mit ihren subjektiven Formen die wechselseitige Sensibilität und die subjektive Einheit des subjektiven Ziels.« 73 Doch erst durch den Prozess der Selbsterschaffung der endlichen Entitäten gewinnt er selbst lebendigen Anteil am Werden der Welt. Wie alle Organismen ist auch er zu intentionalen Akten und Empfindungen fähig und tritt so in eine Beziehung zu den Organismen. Er sorgt sich um die Welt nicht nur durch die Erzeugung notwendiger Bedingungen für die Entwicklung physisch immer komplexerer Formen. Ein solcher Gott wäre mit einem Universum unvereinbar, bei dem schon die einzelnen Entitäten durch qualifizierte Perzeptionen, Gefühle und Ziele, Werte, ethische und ästhetische Qualitäten bewegt werden. Der Gott Whiteheads ist ein fürsorglicher, teilnehmender, mitfühlender, sich dem Endlichen zuwendender Gott. 74 Zumindest das Christentum hat diesen Aspekt Gottes in Form der Gestalt Christi als der zweiten Person der trinitarischen Struktur gedacht. Christus gilt als Einheit von Gott und Mensch, der sich deshalb liebend endlichen Kreaturen zuwenden und leidend an ihrer Not Anteil nehmen kann. Anders als Gott Vater ist Christus, in Whiteheads Terminologie gesprochen, bipolar, physisch und geistig zugleich. Während jedoch die christliche Theologie die Inkarnation Christi als einmaliges Geschehen und als Zeitenwende interpretiert, vollzieht sie sich bei Whitehead als immerwährender Prozess. Darin kommt er dem Mahayana-Buddhismus und der Figur des Avalokiteshvara, des Bodhisattva des universellen Mitgefühls nahe, der sich immer wieder inkarniert, um den leidenden Kreaturen zu helfen. Auch dem Hinduismus und den Sikhs ist die Idee der Inkarnation des höchsten Prinzips in unterschiedlichen Formen nicht fremd. VerPRd, 614. PRd, 626: »Was in der Welt getan wird, verwandelt sich in eine Realität des Himmels, und die Realität des Himmels geht wieder über in die Welt. Aufgrund dieser Wechselbeziehung geht die Liebe der Welt in die Liebe des Himmels über und flutet wieder zurück in die Welt. In diesem Sinne ist Gott der große Begleiter – der Leidensgefährte, der versteht.«

73 74

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schiedenen Religionen ist somit der Gedanke der Bipolarität des höchsten Wesens, insofern es sich in Raum und Zeit manifestiert, vertraut. Allerdings will Whitehead keine Erlösungslehre entwickeln, sondern die innerweltliche Evolution von Formen erklären, die keine dieser Religionen zum Thema hat. Die Macht Gottes beruht für Whitehead darauf, dass er allein in der Lage ist, aus dem souveränen Wissen des Tatsächlichen und der Schau des Möglichen das Neue zu komponieren, das, in sich selbst sinnbestimmt, zugleich den ganzen Prozess des Werdens fördert. »Die subjektiven Formen sind Wertungen, die die relative Relevanz zeitloser Gegenstände für jedes Ereignis der Wirklichkeit bestimmen.« 75 Gott verleiht dem Geschehen eine Richtung, ohne es jedoch zu determinieren und so seines Freiheitsspielraums zu berauben. Er ist auf nicht-determinierende Weise der Seinsgrund allen Werdens. Nur weil die Einzelwesen ein Moment der Eigenaktivität und UnBedingtheit haben, lassen sich auf der menschlichen Ebene Freiheit und Verantwortung, aber auch Verfehlung und Schuld denken – ein Gedanke, den Hans Jonas in seinem Werk Der Gottesbegriff nach Auschwitz ausgeführt hat. Gott allein hat jedoch das Gute eines jeden und das des Ganzen zugleich im Blick. Er ist in gewisser Weise der Garant dafür, dass die vielen einzelnen, oft antagonistischen und disparaten Prozesse allmählich immer mehr zu einem kontrastreichen, aber kohärenten Ganzen zusammenwachsen. Insofern zielt auch dieser Prozess, wie bei den endlichen Entitäten, auf wachsende Kohärenz. Indem aus Gegensätzen Kontraste werden, verlieren sie ihre destruktive Energie und werden zum Ausgangspunkt für das weitere Zusammenwachsen der Welt und der Steigerung von Komplexität und Bewusstheit und damit auch der Evolution des Sinnes für Moral und Ethik. 76 Indem sich Widersprüche und Antagonismen immer wieder in ein größeres Ganzes einfügen, wird das Einzelne, so sagt Whitehead, ›gerettet‹. Die Welt kann im ursprünglichen Sinne des Wortes ›heil‹ werden, indem sie nun ihrerseits in die Gottheit aufgenommen wird, in diese hineinwächst. Die Gottheit erweist sich darin immer mehr als das alles umfassende Sein. Geduld ist für Whitehead dabei das herausragende Merkmal Gottes, der die Freiheit der einzelnen Seienden zulässt mitsamt ihren widerstrebenden und begrenzten Impulse, und 75 76

PRd, 614. Vgl. zu dieser Debatte neuerdings: Sumser 2016.

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doch nie damit aufhört, sie auf das größere Ganze hin zu ordnen, das er selbst ist. 77 Wie alle Entitäten strebt auch Gott nach Erfüllung; auch er wirkt auf ein Ziel hin. 78 Da das Werden der Welt auf die Eigendynamik der einzelnen Seienden angewiesen ist, die die Sphäre abstrakter Möglichkeiten immer wieder integrieren und auf diese Weise Neues hervorbringen, wird Gott selbst in seiner Urnatur von diesem Prozess affiziert. In gewisser Weise erleidet Gott das, was in der Welt geschieht, durch seine physische Natur mit. Er empfindet die Wirkungen dessen, was in der Welt geschieht. Doch indem Gott am Werden der Welt partizipiert, gewinnt auch er selbst eine neue Dimension. Nur durch die Partizipation am Prozess des Werdens gewinnt er eine Form, die nicht nur abstrakte Möglichkeiten, sondern auch konkrete, einzelne Seiende umschließt. Obwohl Gott Ursprung und Ziel des Universums ist, ist seine Urnatur nicht mit seiner Folgenatur identisch: Gott ist nicht nur uranfänglich, sondern auch folgerichtig. Er ist Anfang und Ende. Er ist nicht in dem Sinne Anfang, allen Elementen vorauszuliegen. Er ist die vorausgesetzte Wirklichkeit der begrifflichen Operationen und befindet sich im Einklang des Werdens mit jedem anderen kreativen Akt. Aufgrund der Relativität aller Dinge erfolgt daher eine Reaktion der Welt auf Gott. Die Vervollständigung der Natur Gottes zu einer Fülle des physischen Empfindens leitet sich von der Objektivierung der Welt in Gott her. Er hat teil an der wirklichen Welt jeder neuen Schöpfung; und das sich konkretisierende Geschöpf wird in Gott als ein neues Element der göttlichen Objektivierung dieser wirklichen Welt objektiviert. Gottes Erfassen jedes Geschöpfs wird geleitet von dem subjektiven Ziel und ausgestattet mit der subjektiven Form, die sich voll und ganz von seiner allumfassenden PRd, 618: »Die Folgenatur Gottes ist sein Urteil über die Welt. Er rettet die Welt, so wie sie in die Unmittelbarkeit seines eigenen Lebens übergeht. Es ist das Urteil von einer Zartheit, die nichts verliert, was gerettet werden kann. Es ist auch das Urteil von einer Weisheit, die alles verwendet, was in der zeitlichen Welt bloß Trümmer ist. Ein anderes Bild … um seine Folgenatur zu verstehen, ist das seiner unendlichen Geduld.« 78 PRd, 617 f.: »Die Weisheit des subjektiven Ziels erfaßt jede Wirklichkeit als das, was sie in einem so vollkommenen System sein kann – ihre Leiden, ihre Sorgen, ihre Niederlagen, ihre Triumphe, ihre Unmittelbarkeiten der Freude –, wo sie durch die Richtigkeit des Empfindens in die Harmonie universellen Empfindens verwoben ist. … Die Revolten des zerstörerischen Übels, die immer eigennützig sind, werden in ihre Trivialität als bloß individuelle Tatsachen abgewiesen; und doch wird das Gute, zu dem sie trotz allem an individueller Freude, individuellem Leid und an Einführung der erforderlichen Kontraste führten, durch seine Relation zu dem vollendeten Ganzen gerettet.« 77

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uranfänglichen Wertung herleiten. Gottes begriffliche Natur ist aufgrund ihrer endgültigen Vollständigkeit unveränderlich. Aber seine abgeleitete Natur folgt konsequent aus dem kreativen Fortschreiten der Welt. … Die Folgenatur Gottes ist bewußt; und sie ist die Realisierung der wirklichen Welt in der Einheit seiner Natur und durch die Transformation seiner Weisheit. 79

Mit dem Werden der Welt vollzieht sich somit eine Evolution von Bewusstheit und der Individualisierung aller Entitäten, die in der allumfassenden Bewusstheit von Gottes Folgenatur kulminiert, der das Einzelne und das Ganze zugleich gegenwärtig ist. »Gott entwickelt sich in seinem Vervollständigungsprozeß aus begrifflicher Erfahrung, wobei dieser Prozeß durch folgerichtige, physische Erfahrung angeregt wird, die ihre Wurzel in der zeitlichen Welt hat.« 80 Auch in Hinblick auf das Ineinander von Dauer und Werden sind Welt und Gott aufeinander verwiesen. Genau diese Verschränkung ist die Grundlage der Evolution des Universums. 81 Den allmählichen Fortschritt in Richtung auf ihr Telos verdankt die zeitliche Welt ihrer Erneuerungsfähigkeit, die sich wiederum dem uranfänglichen Streben verdankt, das die Grundlage aller Ordnung ist. 82 In gewisser Weise lässt sich der Prozess nur als eine coincidentia oppositorum beschreiben, indem in einer Hinsicht Gott als beständig und die Welt als fließend erscheint, in anderer Hinsicht Gott als fließend und die Welt als beständig; dasselbe gilt für die Begriffspaare von Einheit und Vielheit und die Charakterisierung von Wirklichkeit, der Bestimmung von Immanenz und Transzendenz und der Antwort auf die Frage, ob Gott die Welt oder die Welt Gott erschafft. Whitehead begreift Gott und Welt als dynamisch interagierende Pole, die sich gegenseitig zu höherer Komplexität, zu wachsender Integration des Verschiedenen vorantreiben. Lediglich der Ausgangspunkt des Werdens liegt bei Gott auf dem begrifflichen, in der Welt beim physischen Pol. »Gott und die Welt sind die im Kontrast stehenden Gegensätze, PRd, 616. PRd, 617. 81 PRd, 620: »Die Folgenatur Gottes ist die fließende Welt, die durch ihre objektive Unsterblichkeit in Gott ›immerwährend‹ wird. Auch verlangt die objektive Unsterblichkeit wirklicher Ereignisse die uranfängliche Beständigkeit Gottes, durch welche das kreative Fortschreiten sich selbst immer wieder herstellt, ausgestattet mit dem anfänglichen subjektiven Ziel, das von der Relevanz Gottes für die evolvierende Welt abgeleitet ist.« 82 Vgl. PRd, 620 f. 79 80

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mit deren Hilfe die Kreativität ihre höchste Aufgabe erfüllt, die getrennte Vielheit, mit ihren im Gegensatz stehenden Verschiedenheiten, in die sich konkretisierende Einheit umzuwandeln, deren Verschiedenheit Kontraste bilden.« 83 Kontraste bedürfen einander, sie sind wechselseitig aufeinander angewiesen. »Gott und Welt stehen in dieser entgegengesetzten Abhängigkeit zueinander. Gott ist die unendliche Grundlage aller Geistestätigkeit, die Einheit der Vision, die nach physischer Vielheit strebt. Die Welt ist die Vielheit des Endlichen, von Wirklichkeiten, die nach vollkommener Einheit streben.« 84 Dass es in der Welt mithin Einheit in der Vielheit geben kann und damit auch den Aufbau komplexerer Formen, verdankt sich somit der Kreativität als der Urnatur Gottes, die damit, wie bereits erwähnt, zum Prinzip des Neuen wird: Gott und die Welt bewegen sich bezüglich ihres Prozesses in jeder Hinsicht entgegengesetzt zueinander. Gott ist uranfänglich eins, namentlich ist er die uranfängliche Einheit der Relevanz vieler potentieller Formen; im Prozess erlangt er eine folgerichtige Vielheit, die der uranfängliche Charakter in seine eigene Einheit aufnimmt. Die Welt ist uranfänglich vieles, namentlich besteht sie aus den vielen wirklichen Ereignissen in ihrer physischen Endlichkeit; im Prozeß erreicht sie eine folgerichtige Einheit, die ein neues Ereignis ist und in die Vielheit des uranfänglichen Charakters aufgenommen wird. 85

Freiheit und Notwendigkeit, Einheit und Vielheit, Unvollkommenheit und Vollkommenheit, Leid und Freude gehören untrennbar zur schöpferischen Dynamik des Universums. Dabei handelt es sich nicht um einen dialektischen Umschlag im Sinne Hegels. Alles ist zugleich Mittel und Ziel in einer Bewegung, wobei, um das letzte Ziel der Schöpfung, die Existenz individueller Typen des Für-Sich-Seins, zu erreichen, es deren harmonischer Abstimmung bedarf. Vermutlich nicht zufällig erinnert dieser Gedanke an Leibniz’ Extremalprinzip, die größtmögliche Vielfalt bei größtmöglicher Einheit zu realisieren, wobei jede Entität einzigartig ist. Allerdings geht Leibniz von einem statischen Universum aus, insofern keine neuen Formen entstehen. 86 PRd, 621. PRd, 622. 85 PRd, 623. 86 PRd, 625: »Daher ist die Folgenatur Gottes aus einer Vielheit von Elementen mit individueller Selbst-Realisierung zusammengesetzt. Sie ist genauso eine Vielheit wie eine Einheit; und sie ist ebenso eine unmittelbare Tatsache wie ein rastloses Fortschreiten über sich selbst hinaus.« 83 84

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Die Immanenz von Spontaneität und ihre transzendente Quelle

Einerseits ist die Welt in Gott, andererseits ist Gott ein Moment des Werdens in der Welt. »Jede Wirklichkeit in der zeitlichen Welt wird in Gottes Natur aufgenommen. Das entsprechende Element in der Natur Gottes ist nicht zeitliche Wirklichkeit, sondern die Umwandlung dieser zeitlichen Wirklichkeit in eine lebendige, allgegenwärtige Tatsache.« 87 Durch die Aufnahme in die Folgenatur Gottes ist das Gewordene nicht mehr nur vergangen, sondern bleibt zeitlos-allgegenwärtig. 88 Eros, so kann man diesen Gedanken in traditionelle Begrifflichkeit übersetzen, als Begehren nach Gott, und Agape, als sich Verschenken Gottes, greifen ineinander und führen zu einer Bewegung aufeinander zu. Damit eignet der Kraft der Liebe wie bei Platon, Spinoza und noch Max Scheler über die interpersonalmenschliche Ebene hinaus eine kosmische Dimension. Dass der Prozess des Werdens auch Gott selbst zumindest in Gestalt seiner zweiten Person tangiert und verändert, ist wiederum zumindest dem christlichen Denken nicht völlig fremd. Die Frage, warum Gott sich in Christus inkarniert habe, wurde keineswegs nur durch eine Urschuld erklärt. Zumindest einige Denker, unter ihnen die Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen, waren der Auffassung, dass die Schöpfung und der Mensch selbst unvollendet seien. Der Mensch müsse also erst Mensch im vollen Sinne werden. Das Eingehen Gottes in die Welt, seine Verendlichung in Christus, sei eine »felix culpa«, geschuldet den noch ausstehenden Möglichkeiten. Whitehead selbst bestimmt das letzte Ziel des Werdens, das Immerwährende, die Versöhnung von Beständigkeit und Fluss, als »Vergottung der Welt« 89. Damit ist allerdings kein Stillstand, kein Ende des Prozesses, kein Ende der Geschichte des Werdens gemeint. »Weder Gott noch die Welt erreichen statische Vervollständigung. … Beide … bilden füreinander das Instrument des Neuen.« 90 Für Whitehead ist ein sinnlich-sichtbares Zeichen der immer wieder neu erfolgenden Integration einzelner, disparater Elemente in einen umfassenderen Zusammenhang die Schönheit der Welt. Diese beruht nicht nur auf dem subjektiven Empfinden ausgelöst durch den Gleichklang der Vermögen im Sinne Kants, sondern ist Ausdruck der

PRd, 625. Es gibt vier kreative Phasen, in denen das Universum seine Wirklichkeit vervollständigt: Vgl. PRd, 626. 89 PRd, 622. 90 PRd, 622 f. 87 88

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objektiven Dynamik und Strukturiertheit des Weltprozesses. In diesem Sinne war auch für Plotin Harmonie kein bloß äußerliches Maß, sondern die Kraft, die die Vielheit zu einer inneren Einheit zusammenfügt. Nicht zufällig sind bei Whitehead daher die Anklänge an die platonische Trias von Wahrheit, Schönheit und Gutheit. Lediglich den Terminus der Gutheit ersetzt er durch den der Güte, der eine aktive Zuwendung Gottes, mithin ein subjektiv-personales Moment beinhaltet. Die Kraft Gottes, die sich in der Fähigkeit zur Selbsterschaffung, dem Moment der causa sui auf allen Ebenen manifestiert, erwirkt auch auf der Ebene des ganzen Universums ein immer wieder neues Zusammenspiel heterogener Elemente. Auf diese Weise wird immer wieder Harmonie, verstanden als Einheit in der Vielheit, erzeugt. 91 Zusammenfassend kann man sagen, dass Whiteheads metaphysische Kosmologie den Versuch darstellt, das Universum in der Vielfalt seiner Formen als evolvierend zu denken. Evolution ist dabei von Anfang an ein Geschehen, in dem auf allen Ebenen der Komplexität materielle und immaterielle Faktoren in je unterschiedlicher Gewichtung zusammenwirken. Dadurch können sich nicht nur die materiellen Formen, sondern auch die immateriellen, geistigen zu immer höherer Komplexität entwickeln. Damit es jedoch überhaupt den Prozess des Werdens geben kann, bedarf es einer unerschöpflichen Wirkungsmacht, die die Fülle alles Möglichen umfasst, die den Prozess der Welt initiiert und ihm ein Ziel gibt, wobei sie selbst erst durch diesen Prozess Konkretheit und Fülle erlangt. Gott ist für Whitehead eine Art Medium, in und mit dem sich alles Werden vollzieht und der ihm eine Richtung verleiht. Whitehead denkt zwar nicht im Sinne der mittelalterlichen Tradition eine transzendente, die Welt überschreitende und vom Werden der Welt erlösende Gottheit, aber er thematisiert die Dimension Gottes, die im christlichen Sinne die zweite Person ist, die an der Welt teilnimmt und dadurch in indeterminierte, historische Prozesse involviert ist, die eine Einheit physischer und geistiger Momente ist, die mitleidet und auf Kohärenz hinwirkt. PRd, 618: »Gottes Rolle liegt nicht in der Bekämpfung produktiver Kraft mit produktiver Kraft, von destruktiver Kraft mit destruktiver Kraft; sie besteht in der geduldigen Ausübung der überwältigenden Rationalität seiner begrifflichen Harmonisierung. Er schafft die Welt nicht, er rettet sie; oder, genauer: Er ist der Poet der Welt, leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Vision von der Wahrheit, Schönheit und Güte.«

91

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Die Immanenz von Spontaneität und ihre transzendente Quelle

In diesem Sinne kann man Whiteheads Verschränkung von Gott und Welt mit guten Gründen als einen modifizierten Panentheismus bezeichnen, der, anders als der Giordano Brunos oder Spinozas, nicht nur die Dynamik des Werdens vorhandener Formen begreift, sondern das indeterminierte, von keinem göttlichen Plan bestimmte Werden ebendieser Formen selbst. Dieser modifizierte Panentheismus unterscheidet sich insofern von den Positionen, die auf die Erlösung von der Welt zielen und damit auch Unsterblichkeit denken können, also insbesondere von denjenigen, die von Plotin bis zu Cusanus reichen. Auch für sie ist Gott nicht nur der transzendente Ursprung, sondern zugleich in seiner Geistigkeit als seinserhaltende Kraft und damit als creatio continua immanent; doch das Ziel dieser Dynamik liegt jenseits allen Werdens und überschreitet damit jede Form der Geschichtlichkeit. Seit Spinoza hat sich jedoch eine Inversion der Teleologie vollzogen: Indem das Werden endlicher Formen in seiner eigenständigen Bedeutung in den Blick rückte, vollzog sich eine Aufwertung der Welt. Unter dieser Perspektive ist Gott jedoch nun nur noch, wie bei Spinoza, Bruno und Whitehead, das umgreifende und die immanenten Formen durchdringende Prinzip, nicht mehr ein vom Werden erlösendes Prinzip. Während bereits Bruno und, wie wir sahen, auch Spinoza, davon ausgingen, dass in der Materie selbst eine schöpferische, selbstursächliche Kraft gegenwärtig ist, die sich der Immanenz des göttlichen Prinzips in allem Endlichen verdankt und diesem seine Eigenständigkeit ermöglicht, verwandelt Whitehead diesen Gedanken nun dahingehend, dass sich dadurch die Formen nicht nur entfalten, sondern sich erst konstituieren. Damit aber verändert sich auch die Immanenz Gottes derart, dass er nicht mehr mit sich zeitlos identisch bleiben kann, sondern seinerseits am Prozess des Werdens Anteil gewinnt, sich also die Art der Immanenz mit der Genese der Formen verändert und damit wiederum der Weltprozess selbst. Whitehead gehört damit im 20. Jh. zu der Gruppe von Denkern, die, wie Henri Bergson, Max Scheler, Teilhard de Chardin und Hans Jonas, aus der Evolutionstheorie und der modernen Kosmologie die Konsequenzen gezogen haben, dass auch theologische Konzepte revidiert werden müssen. Anders jedoch als bei Teilhard de Chardin, der die Evolution in eine genuin christlich-katholische Kosmologie integriert, tritt bei Whitehead trotz der Teleologie des Universums kein endgültiger Endzustand, der mit dem Ende der Zeit und des Werdens einhergehen würde, in den Blick.

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Regine Kather

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Mensch – Religion – Gott: Whiteheads Beitrag zur Zivilisierung der Menschheit Bernhard Dörr

1.

Situations- und Problemanalyse

Zahlreiche und vielfältige Perspektiven bieten die zeitgenössischen Debatten über den Status und die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft dar. Nachdem offenkundig auch der sogenannte moderne oder besser spätmoderne Mensch die Religion noch nicht gänzlich ad acta gelegt hat, wiederholt sogar von spirituellen oder religiösen Neuaufbrüchen die Rede war, der Zahn der Technisierung und Säkularisierung also noch nicht alle sogenannten Religionsrestbestände zermalmen und überflüssig machen konnte, darf davon ausgegangen werden, dass religiöse Überzeugungen und Praxen nach wie vor erhebliches Gewicht besitzen für die Selbst- und Weltdeutung moderner, zivilisierter Menschen. Dies einmal konzediert, stellt sich dennoch die Frage: Inwiefern sollte Religion – über den privaten Kontingenzbewältigungs- und Sinndeutungsbedarf hinaus –, eine Rolle im öffentlichen, gesellschaftlichen Leben spielen? Hatte sich nicht insbesondere im westeuropäisch-amerikanischen Kulturkreis die Trennung von Staat und Religion bzw. Kirchen als Errungenschaft auf dem Wege zur Befriedung der Gesellschaften und Nationen bewährt? Und bieten aktuell nicht gerade diejenigen Staaten, die stark religiös geprägte Staatsgebilde und Gesellschaftsstrukturen aufweisen, ein eher abschreckendes Beispiel für die öffentliche Wirksamkeit von Religion? Ganz zu schweigen von fundamentalistischen, teils auch extremistischen religiösen Gruppierungen, die als Parallel- oder Gegengesellschaften keinerlei Bindung zu den Gesellschaften, in denen sie leben, herstellen können bzw. wollen? Die um eine konstruktive Vermittlung bemühten akademischen Positionen in Philosophie und Soziologie sprechen der Religion unter anderem eine gesellschaftlich dienende Rolle als Sinn- und Motivationsquelle für den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu (Jürgen 50 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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Habermas) 1 oder auch eine gesellschaftlich relevante Rolle als Praxisform der Selbstüberschreitung, die sich konkret auf andere Menschen oder das Ganze einer Gesellschaft/der Welt hinzubeziehen vermag (Hans Joas) 2. Bezüglich der Verhältnisbestimmung von Religion und Gesellschaft verdient zudem die profunde kultursoziologische Analyse von Andreas Reckwitz 3 Beachtung, dem zufolge wir es in der Spätmoderne mit einer »Gesellschaft der Singularitäten« mit wirkmächtigen Beund Entwertungsmechanismen und Attraktivitätsmärkten zu tun haben, die dazu führen, dass eine hyperkulturell-ausgerichtete, neue akademische Mittelschicht das gesellschaftlich-leitende Ideal darstellt, dem gegenüber die alte Mittelschicht und die (neue) Unterschicht ökonomisch und insbesondere kulturell ins Hintertreffen geraten (sind). 4 Für diese spätmoderne Gesellschaft der Singularitäten gilt das Motto: »Creativity is the new currency«, eine auf Attraktivität und anerkennende (Be-) Wertungen zielende schöpferische Haltung 5, vor deren Hintergrund auch Religionen, Kirchen und religiöse Gemeinschaften in einen Attraktivitätswettbewerb eintreten (müssen), der zum Entstehen und Wachstum auch religiöser Neogemeinschaften führen kann, die wiederum den etablierten Religionen, Kirchen und religiösen Gemeinschaften den Rang abzulaufen drohen. Gleichzeitig ist den genannten religiösen Neogemeinschaften eine Tendenz zur »Selbstsingularisierung« in Abgrenzung zu möglichen Konkurrenten eigentümlich, welche den jeweiligen Mitgliedern die indirekte Gewinnung eigener Singularität bzw. eigenen Wertes durch die »Einordnung in das exzeptionelle Kollektiv« vorgibt. 6 Vgl. Habermas 2005, 137. »Religiöse Überlieferungen besitzen für moralische Intuitionen, insbesondere im Hinblick auf sensible Formen eines humanen Zusammenlebens, eine besondere Artikulationskraft.« (Ebd.) Habermas’ Forderung, dass bei der Übersetzungsarbeit religiöser Überzeugungen in die »öffentlichen Kommunikationskreisläufe« sowohl die religiösen als auch die nicht-religiösen Bürger/innen in die Pflicht zu nehmen seien, deutet darauf hin, dass bereits auf wechselseitiges Verstehen zielende kommunikative Prozeduren dem gesellschaftlichen Zusammenhalt förderlich sein können. (Vgl. ebd.) – Vgl. auch Habermas 2001, 20–25; und Habermas 2008, 29 f. 2 Vgl. Joas 1999, 10–36 u. (kritisch gegenüber Habermas) 291, sowie Joas 2004, 17– 31. 3 Vgl. Reckwitz 2017, 10–25. 4 Vgl. Reckwitz 2017, 102–110 u. 273–370. 5 Vgl. Reckwitz 2017, 114–119. 6 Vgl. Reckwitz 2017, 409–413. 1

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Da Reckwitz zufolge sowohl Individuen als auch Objekte, Gemeinschaften, Praxen etc. in der Spätmoderne fortwährend Be- und Entwertungsprozessen unterliegen, somit sich auf allen Ebenen des individuellen und des gesellschaftlichen (Zusammen-) Lebens Aufund Abstiegsszenarien einstellen können, sind für die Agenda der Bedenkung des Verhältnisses von Gesellschaft und Religion – welche Aufgabe in diesem Beitrag wegen der gebotenen Kürze lediglich inchoativ durchgeführt werden kann –, empirisch-gesättigte, philosophisch-anthropologische Überlegungen einerseits und andererseits sozial-philosophische, kultur- und zivilisationstheoretische Überlegungen miteinzubeziehen. Vor diesem in groben Zügen angedeuteten Hintergrund könnte der Versuch der Rekonstruktion sowohl des Whitehead’schen Religions- als auch des Whitehead’schen Gottesbegriffes, welche im Zentrum der folgenden Erörterungen stehen soll, möglicherweise einen hilfreichen Debattenbeitrag leisten. Für Whitehead ganz typisch kann man indessen weder den Religions- noch den Gottesbegriff einfach so isolieren und rekonstruieren, ohne sich nicht zugleich einige andere zentrale Begriffe seines prozessmetaphysischen Denkens mit »einzukaufen«. In diesem Beitrag sollen deshalb, wie angedeutet, wenigstens die Konturen seines diesbezüglich relevanten anthropologischen Grundverständnisses sowie seines Verständnisses der Zivilisation bzw. der Zivilisierung der Menschheit dargelegt und bedacht werden, ohne welche das Whitehead’sche Religions- und Gottesverständnis nur unzureichend in den Blick genommen wäre.

2.

Grundzüge der Whitehead’schen Anthropologie und Zivilisationstheorie

Da es bekanntermaßen Whiteheads spekulativ-philosophisches Ansinnen ist, ein umfassendes allgemeines Ideen-Schema zu erarbeiten, mittels dessen jedes Element der menschlichen Erfahrung interpretiert werden kann und in das neben den ästhetischen auch moralische, religiöse und naturwissenschaftliche Erfahrungen Eingang finden sollen 7, ist Whiteheads Grundverständnis des Menschen not-

7

Vgl. PR, xii u. 3–17, bes. 3.

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wendigerweise im Rahmen dieses philosophischen Programmes zu entfalten. 8 Whiteheads metaphysisch fundierte Kosmologie behält dabei die Lebens- und Erfahrungspraxis des Menschen, dessen Alltagsontologie bzw. Lebenswelt, als grundlegenden Referenz- und Ausgangspunkt des Philosophierens stets im Blick. 9 Denn das erarbeitete prozessmetaphysische Ideen- bzw. Kategorienschema muss fortwährend seine interpretatorische Adäquatheit erweisen, d. h. sich in Bezug auf die Interpretation der Ideen und Probleme bewähren, die in der »komplexen Textur zivilisierten Denkens« 10 aufbrechen. Darin tritt unverkennbar ein pragmatischer Grundzug seines Philosophierens zutage. 11 In dieser ständigen wechselweisen Bezugnahme auf lebensweltliche Erfahrungen, deren Destillat der sogenannte »common sense« darstellt, und einer fundierenden und zusammenführenden metaphysischen Erklärungsebene, ähnelt die Grundanlage seines Philosophierens derjenigen John Lockes, der nicht von ungefähr als eine der philosophischen Gewährspersonen seiner prozessmetaphysisch fundierten Kosmologie benannt wird. 12 Da dogmatische Letztgültigkeit bezüglich der formulierten Kategorien und der vorgenommenen Interpretationen Whitehead ein Gräuel ist, bleibt seine revidierbare Metaphysik fortwährend offen für etwaige Modifizierungen, welche die fortschreitende menschliche Erfahrung einfordert. 13 Versucht man eine systematische Zusammenfassung der von Whitehead an verschiedenen Orten vorgetragenen anthropologischen Charakterisierungen vorzunehmen, dann kann gesagt werden, dass Whitehead den Menschen als kosmisch-zivilisatorisch-kontextuiertes, selbstbewusstes, rationales, kreativ-freies, sprach- und handlungsfähiges Lebewesen deutet, das über praktische und theoVgl. PR, 89–92. Vgl. PR, 13: »Metaphysics is nothing but the description of the generalities which apply to all the details of practice.« – Vgl. dazu auch ESP, 72–74, bes. 74: In dem späten Vortrag »Immortality«, den Whitehead am 22. 04. 1941 an der Harvard Divinity School gehalten hatte, verweist er auf die für philosophische Überlegungen grundlegende Bezugsebene des »common sense«, welche weder von der Logik noch von den Spezialwissenschaften zu einer obsoleten Größe degradiert werden dürfte. 10 Vgl. PR, xi. 11 Vgl. PR, 8 f. 12 Vgl. PR, xi u. 54–57. 13 Vgl. PR, 8 f. u. 17. 8 9

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retische Vernunft verfügt. Das den menschlichen Erfahrungsereignissen innewohnende, hohe Maß an sogenannter »begrifflicher Originalität und Neuheit« 14 befähigt den Menschen Whitehead zufolge dazu, sich im Ganzen des kosmisch-biotisch-zivilisatorischen Ereigniszusammenhanges leidlich zu orientieren, aktiv und (wert-)schöpferisch auf die jeweiligen Umwelt- und Mitweltverhältnisse einzuwirken und auf diese Weise nicht einfach nur zu überleben, sondern ein gutes und genussvolles Leben führen zu können. 15 Die prozessmetaphysisch grundlegende »Einbettung« einer einzelnen »wirklichen Ereigniseinheit« (»actual entity«) in ihre konkrete Umgebung bzw. Umwelt, aus der sie mittels ihrer jeweils eigenen, neuen Perspektive als eine neue organismische Synthese ihrer »wirklichen Welt« (»actual world«) hervorgeht 16, spiegelt sich in dem anthropologischen Grundverständnis Whiteheads wider. Dabei ist zu beachten, dass Whitehead nicht atomistisch-fixiert ist, sondern den Verknüpfungen seiner elementaren Erfahrungseinheiten den gleichen Realitätsgehalt zumisst wie diesen selbst. 17 Das rational-kreative Lebewesen Mensch wird von Whitehead vor diesem Hintergrund im Hinblick auf die Veränderungsprozesse, denen der Mensch unterliegt und die er mitgestaltet, nicht nur als in die Sequenz der Zeitekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft »eingespannt« gedacht, sondern auch als körper-leibliche »So-

Vgl. PR, 107–109 u. 266–280. Vgl. FR, 4 u. 8. 16 Vgl. PR, 28. 17 Vgl. PR, 22. – Whitehead hebt zwar in den (ebd.) seine Tafel der Existenzkategorien erläuternden Sätzen hervor, dass die beiden Existenzkategorien der »actual entity« und der »eternal objects« »mit einer gewissen unüberbietbaren Letztgültigkeit« (»with a certain extreme finality«) unter ihresgleichen hervorragten und die übrigen Existenzkategorien einen »gewissen dazwischenliegenden Charakter« (»certain intermediate charakter«) besäßen, dennoch deuten sowohl die Ausführungen Whiteheads zum Konkreszenzprozess einer »wirklichen Ereigniseinheit«, in denen er die »wirkliche Welt« einer sich selbst konstituierenden »wirklichen Ereigniseinheit« als einen »Nexus« bezeichnet, als auch Whiteheads Darlegungen zur Aufnahme aller raumzeitlichen Entitäten in Gottes »Folgenatur« hinein, darauf hin, dass ein Einzelereignis nicht unabhängig von seinem Kontext gedacht werden kann, weshalb auch diesem nexualen oder sozietalen »Hintergrund« eine gleichrangige Realität im Sinne von: Es handelt sich um ein »Geworden-Seiendes«, das in neue Konkreszenzprozesse Eingang findet, zuzuerkennen ist. – Siehe auch die Überlegungen zu dem Begriff der »personalen Identität« bzw. zu dem Verhältnis von »zeitlicher« und »unsterblicher Personalität« in Whiteheads Vortrag »Immortality«, in: ESP, 66–69. 14 15

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zietät« 18, für welche die nicht nur sinnliche Wahrnehmung der Außenwelt die emotionale Basis bewusst-rationaler Welterfahrung und Weltgestaltung darstellt. 19 Salopp formuliert könnte man sagen: Der Mensch lebt bei Whitehead grundlegend eben nicht vom Denken allein, sondern von dem basalen Bezug zwischen sogenannten »physischen« und »geistigen« Erfahrungen. Deshalb führt er auch den Begriff einer »subjektiven Erfahrungsform« 20 ein, welcher die jeweilige Erfahrungsintensität elementarer Erfahrungseinheiten kennzeichnet, die immer als kontextuierte vorzustellen sind. Mit anderen Worten: Der Mensch darf in Analogie zu den elementaren Erfahrungseinheiten, die ihn konstituieren, als ein (freilich nicht in psychiatrischem Sinne) »bipolares« Lebewesen bezeichnet werden, das sich in einer konkreten Um- und Mitwelt, die er »gegenwärtig« wahrnimmt und schöpferisch mitgestaltet, auf Zukunft hin entwirft. Wenn man die genannten Konturen der Whitehead’schen Anthropologie betrachtet, ist es nicht überraschend, dass Whitehead zwischen dem Grad der menschlichen Rationalität und dem Entwicklungsgrad einer Zivilisation eine unmittelbare Beziehung herstellt. Je adäquater die jeweiligen Angehörigen einer Zivilisation ihre Um- und Mitwelt wahrnehmen, deuten und ausgestalten, desto höher entwickelt ist die »Kunst des Lebens« und damit die Entwicklungsstufe einer Zivilisation. 21 Dabei finden in Whiteheads Zivilisationsbegriff keineswegs nur technologische (»Technologies«) oder ökonomische Neuerungen Berücksichtigung, sondern vielmehr auch zur Bewältigung und Gestaltung des Lebens dienliche »Verhaltensmuster« (»Patterns of Behaviour«), »emotionale Erlebnismuster« (»Patterns of Emotion«) und »Überzeugungsschemata« (»Patterns of Belief«). 22 Die genannten

Whitehead differenziert zwar begrifflich nicht zwischen Körper und Leib, aber der englische Begriff des »body« beinhaltet beide inhaltlichen Momente. Vgl. PR, 62–65. 19 Die sogenannte »non-sensuous perception« wird von Whitehead wiederholt hervorgehoben, um der (zeitgenössischen) Fixiertheit auf sinnliche, insbesondere visuelle Wahrnehmung, und der damit einhergehenden Reduktion des Wahrnehmungsverständnisses entgegenzuwirken. Vgl. PR, 339. 20 Vgl. Whitehead 1929, 85–89. 21 Vgl. AI, 24 f. u. 277. 22 Vgl. AI, 171. 18

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vier Muster bzw. Schemata üben Whitehead zufolge einen wechselseitigen Einfluss auf einander aus. 23 Letztere zwei, die »emotionalen Erlebnismuster« und die Grundüberzeugungen einer Zivilisation, empfiehlt Whitehead der Religion als deren primäre Aufgabe an. Denn Emotion(en) und Überzeugung(en), und dies schließt religiöse Überzeugung(en) mit ein, sind seines Erachtens die Hauptfaktoren der Beeinflussung menschlichen Verhaltens. 24 Zur näheren Bestimmung dessen, was eine Zivilisation qualitativ kennzeichnet, führt Whitehead weiterhin die fünf folgenden Qualitäten ins Feld: »Wahrheit«, »Schönheit«, »Abenteuer«, »Kunst« und »Frieden«, die gemäß der kosmologischen Einbettung von Zivilisation bzw. zivilisierenden Prozessen ebenfalls einander wechselseitig beeinflussen. 25 Eine Gesellschaft, ein Staat bzw. eine Zivilisation kann nur dann als zivilisiert bezeichnet werden, wenn deren Glieder dieser fünf Qualitäten teilhaftig werden können. 26 Vor diesem Hintergrund kann man von zwei Aspekten des Whitehead’schen Zivilisationsbegriffes sprechen, die wiederum in Wechselwirkung zueinander stehen: dem oben genannten empirisch-soziologischen, und dem mittels der fünf Qualitäten definierten axiologisch-idealen-philosophischen. Dabei umschreibt der axiologisch-ideale philosophische Aspekt den zeitlos wertvollen Leithorizont aller zivilisatorischen Prozesse, welcher den technologischen und ökonomischen Entwicklungen, den Verhaltens-, Erlebnis- und Deutungsmustern der Menschheit ihre Ausrichtung verleiht. Einige Erläuterungen zu den laut Whitehead fünf wesentlichen Qualitäten einer Zivilisation: Wahrheit und Schönheit bedingen einander, Wahrheit stehe im Dienste der Schönheit, wie auch umgekehrt die Schönheit im Dienste der Wahrheit, wobei Whitehead der Schönheit die Priorität gegenüber der Wahrheit zuerkennt. Im zivilisatorischen Kontext besagt Wahrheit, dass die Wahrnehmenden/ Deutenden/Handelnden es mit »realen Sozietäten«, d. h. mit realen Gegenständen und lebenden Individuen von Dauer zu tun haben; Schönheit, dass das individuelle Gewicht der jeweiligen Komponen23 24 25 26

Vgl. AI, 171. Vgl. AI, 171. Vgl. AI, 274. Vgl. AI, 285.

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ten eines sozietalen Ereigniszusammenhanges adäquat zur Geltung kommen kann. 27 Die Qualität des Abenteuers trifft dann zu, wenn innerhalb einer Zivilisation das Schöpfen aus »den eigenen schöpferischen Originalitätsquellen« (noch) möglich ist, d. h. das Abenteuer der Erschließung gedanklicher Neuheit für gegenwärtige Handlungen einen inspirierenden Horizont der (Wert-)Neuheit eröffnet, indem zunächst im Denkabenteuer Dinge und Vorgänge antizipiert werden, die bislang noch nicht realisiert worden waren. 28 Das Abenteuer schöpferischen Denkens und Imaginierens kann zur Ablösung althergebrachter Zivilisationstypen führen. 29 Solange indessen, wie angedeutet, die Dynamik eines Volkes bzw. eines Zivilisationstypus einen denkerischen Kontrast zwischen dem Gewesenen und dem, was hätte sein können bzw. sein könnte, zu generieren imstande ist, wird jenes Volk bzw. jener Zivilisationstypus, weil Neuheit eröffnend, Bestand haben. 30 Den Beitrag der Kunst für die Wertschöpfungskette einer Zivilisation erblickt Whitehead in dem spezifischen, vor-bildlichen Verhältnis der Details eines Kunstwerkes zu dem Ganzen desselben: Wenn die Details ihre Eigenständigkeit bewahren und doch integral zu einem Ganzen gehören, dann begegne der Mensch einem großen, bedeutenden Kunstwerk, das die Erscheinung der Unsterblichkeit, d. h. Bedeutsamkeit für alle künftigen Zeiten, in sich trage. 31 Mit der Zivilisationsqualität Frieden umschreibt Whitehead eine »zuverlässige Geistesqualität«, deren Eigenart es ist, vertrauensvoll eine feinsinnige, schöne Wirkkraft (»fine action«) im kosmisch-biotisch-zivilisatorischen Ereigniszusammenhang eingeborgen zu wissen. 32 Ein so verstandener Frieden vervollständigt als »Harmonie der Harmonien« den Zivilisationsbegriff. Frieden bindet die vier anderen Wesensqualitäten einer Zivilisation: Wahrheit, Schönheit, Abenteuer und Kunst, zusammen, da jene Qualität vor dem Hintergrund der Vgl. AI, 295. – Diesbezüglich kann das Whitehead’sche Begriffspaar von »Realität« und »Erscheinung« angeführt werden, dem gemäß »essentielle Wahrheit« in der »Übereinstimmung von Erscheinung und Realität« besteht. Vgl. dazu AI, 293. 28 Vgl. AI, 278 f. 29 Vgl. AI, 278 f. 30 Vgl. AI, 279. 31 Vgl. AI, 282. – Dissonanzen steigern Whitehead zufolge das Ganze, wenn sie der Verdeutlichung der das Ganze konstituierenden Details bzw. »Individualitäten« dienen. (Vgl. ebd.) 32 Vgl. AI, 274. 27

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finalen Transformation und Synthese der raum-zeitlichen Realitäten in Gottes Folgenatur eine wertzentrierte metaphysische Einsicht in das Telos der Wirklichkeit-als-ganzer freilegt, der zufolge einzelne Individuen sich liebevoll und selbstlos in den Dienst der Menschheit bzw. des Ganzen zu stellen vermögen. 33 Mit der Haltung des Friedens können nach Whitehead die Potentialitäten geliebter Objekte und menschlicher Personen intensiv erlebt und als Anspruch an das eigene Handeln wahrgenommen werden, dahingehend, dass die geliebten Objekte und menschlichen Personen sich in einem entsprechend zu gestaltenden »freundlichen Universum« wiederfinden sollen, in welchem die Realisierung ihrer Potentialitäten eine reale Möglichkeit darstellt. 34 Da es in Whiteheads prozessual interpretiertem Universum keinerlei Stillstand gibt, ist auch in Bezug auf Zivilisationen bzw. Völker, Gesellschaften und Staaten die statische Erhaltung eines einmal erreichten Entwicklungsstandes unmöglich. »Fortschritt« (»advance«) oder »Niedergang« (»decadence«) sind infolge dessen aus Whiteheads Sicht die einzigen Optionen für die Menschheit. 35 Obgleich es sich bei den genannten begrifflichen Bestimmungen dessen, was den Kern von Zivilisation kennzeichnet, lediglich um eine tentative Approximation handeln kann, zielt Whitehead zufolge der Zivilisationsprozess im Rahmen der »Teleologie des Universums« auf die Hervorbringung harmonischer (Wert-)Vollkommenheiten, 36 zu deren Erlangung die Kunst (»art«), die (Natur-) Wissenschaft, Technik, Ökonomie, Philosophie und auch die Religion ihre je spezifischen Beiträge leisten sollen. Die Erlangung von Schönheit, (Zweck-) Freiheit, Lebensfreude und Frieden jenseits der vielfältig erfahrbaren Mühen, Leiden und Gewalttaten wird als leitendes, individuell-sozietales Wertideal gesetzt, das die Erlebnis- und Handlungsmuster der einzelnen wie auch der Zivilisationen bzw. der Zivilisation-als-ganzer ausrichten soll. Wie in jedem endlichen Einzelereignis die Synthese des Idealen mit Vgl. AI, 285 u. 288–290. – Whitehead kann das Spüren des Friedens auch mittels des begrifflichen Gegensatzpaares von »Jugend« und »Tragödie« als Einheit derselben beschreiben. Vgl. AI, 295 f. D. h., dass auch die »gescheiterten«, aber dennoch wertvollen, weil wertgeleiteten, raum-zeitlichen Realitäten in Gottes Folgenatur hineintransformiert, bewahrt und vollendet werden. 34 Vgl. AI, 289. 35 Vgl. AI, 274. 36 Vgl. AI, 270. 33

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dem Realen geschieht, so zeichnen sich die Höhepunkte der Zivilisation(en) durch ein hohes Realisierungsmaß eines bestimmten, komplexen »Vollkommenheitstypus« aus, welcher Variationen im Detail zulässt. 37 Zivilisationen können also mit anderen Worten auf der Höhe der Zeit bleiben, solange sie erfrischende neue (Wert-)Erfahrungen im Rahmen der etablierten Erlebnis-, Deutungs- und Handlungsperspektiven zu erschließen vermögen. 38 Welche Rolle spielt nun genauerhin die Religion in Whiteheads prozessmetaphysisch-fundierter Kosmologie?

3.

Grundzüge des Whitehead’schen Religions- und Gottesverständnisses

Grundsätzlich gilt für Whiteheads Zugriff auf den Religionsbegriff bzw. auf konkrete Religionen, dass die Philosophie Religion vorfindet und sie modifiziert. 39 Mit dieser methodischen Maxime erkennt er dem philosophischen Denken die Deutungshoheit auch über die Religion zu, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe der konkreten Religionen mit deren teilweise massiv negativen Auswirkungen für Gläubige und ganze Völker vor Augen hat. Einem Abgleiten von Religion(en) in Hysterie, Fanatismus und Gewaltanwendung vermag seines Erachtens allein eine vernünftig reflektierte und begründete religiöse Praxis zu wehren, weshalb Whitehead auch das Phänomen Religion konsequent dem spekulativ-imaginativ gewonnenen allgemeinen Ideen-Schema zu- und in dieses einordnet. 40 Analog zum Entwicklungsgrad einer Zivilisation spiegelt sich der Entwicklungsgrad einer Religion in dem Grad der Rationalität, die in dieser Zivilisation vorherrscht, wider. Gleichzeitig steht der Entwicklungsgrad einer Zivilisation auch in Wechselwirkung mit der Möglichkeit der Ausbildung rationaler Religion. 41 Damit die Stufe rationaler Religion entstehen konnte, war es Whitehead

37 38 39 40 41

Vgl. AI, 277. Vgl. AI, 277. Vgl. PR, 15. Vgl. PR, 15 f. Vgl. RM, 9 u. 22.

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zufolge nötig, dass die Menschen infolge ihrer Reisetätigkeit und dadurch erweiterter Erfahrungsinhalte ein Bewusstsein für die Weltals-ganze ausbildeten. Whitehead deutet vernunftgeleitete Religion als Ergebnis der Etablierung eines Weltbewusstseins. 42 Entsprechend rekonstruiert Whitehead mit Blick auf die Religionsgeschichte die vier Faktoren bzw. Stadien der Religion: Ritual, Emotion, (mythische) Glaubensüberzeugung (belief) und rationale Religion. In Übereinstimmung mit seinem prozessmetaphysischen Ideen-Schema ist die höchste mögliche Stufe eine vernünftig reflektierte Religion, die über die Orientierung an den Interessen der eigenen Religionsgemeinschaft oder des eigenen Stammes bzw. Volkes hinaus das Ganze der Welt in den Blick zu nehmen vermag. 43 Dieses Ganze der Welt bzw. der Wirklichkeit bedarf der Würdigung durch den einzelnen Menschen, wenn dessen Würde, d. h. dessen individuelle Denk- und Handlungsfreiheit, ernst genommen und anerkannt werden soll. Und genau dies verlangt Whitehead von einer Religion. Auch die Religion darf der schöpferischen Selbstbestimmung und Lebensgestaltung des Menschen nicht im Wege stehen, sondern muss diese vielmehr mit den ihr eigenen Lehrinhalten und Praxen befördern. 44 Denn die Religion sollte den Menschen zum lebensdienlichen und (auch moralisch) guten Handeln befähigen, das für Whitehead in dem Übersetzungsvorgang allgemeiner Ideen in partikulare Denk- und Handlungszusammenhänge besteht. Whitehead fordert deshalb für die Lehraussagen einer Religion, dass diese als »System allgemeiner Wahrheiten« einen maßgeblichen Einfluss auf die individuelle Persönlichkeits- und Charakterbildung ausüben. 45 Einerseits konfrontiert die rationale Entwicklungsstufe der Religion den einzelnen Menschen mit seinem »Solitärsein«, seinem »Alleinsein«, d. h. mit seinem Selbstand, seinem Selbst-Bewusstsein, seiner Endlichkeit, seiner Bestimmungsoffenheit und Freiheit (zur Selbstbestimmung), und ist Religion das, was der Mensch aus seinem »Solitärsein« macht. 46 Andererseits geht dem Menschen, wenn er die Erfahrungsgehalte seines »inneren« Lebens betrachtet und reflektiert, auf, dass er selbst als wert- und würdevolles Individuum in das

42 43 44 45 46

Vgl. RM, 28 f. Vgl. RM, 30–33. Vgl. RM, 48–50 u. 68 u. PR, 338–341. Vgl. RM, 5. Vgl. RM, 48.

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Ganze der geordneten und wertvollen Weltwirklichkeit hineingestellt ist und sich in diesem Ganzen angemessen zu verhalten hat. Whiteheads Religionsbegriff beinhaltet also neben dem »Solitärsein« die sogenannte »Welt-Loyalität«. 47 Religion ist für ihn folglich »Solitärsein in Gemeinschaft«. 48 Der Kerngehalt einer rationalen Religion erschießt sich Whitehead zufolge in der inneren, bewussten Erfahrung der Gleichzeitigkeit dreier miteinander verbundener Begriffe, die der einzelne Mensch in seinem Selbstbewusstsein zu entdecken bzw. zu entwickeln vermag. Bei diesen Begriffen handelt es sich, wie bereits angedeutet, um den »Wert eines Individuums für sich selbst«; den »Wert der verschiedenen Individuen füreinander«; und den »Wert der objektiven Welt« bzw. der Welt-als-ganzer, die als Gemeinschaft verstanden wird, dergestalt, dass sie sich einerseits von den einzelnen Individuen herleitet, andererseits als notwendiger Existenzrahmen der Individuen fungiert. 49 Es fällt auf, dass für Whitehead der Kerngehalt einer rationalen religiösen Erfahrung nicht in einer wenn auch noch so allgemeinen Gotteserfahrung besteht, schon gar nicht in der Erfahrung eines strikt transzendenten Schöpfergottes. 50 Der Wertbegriff, der nahelegt, dass der kosmisch-biotisch-zivilisatorische Ereigniszusammenhang eine einzige Wertschöpfungskette darstellt, signalisiert, dass Whitehead bei der Erarbeitung seines Religionsbegriffs, ohne die Ereignishaftigkeit des Weltgeschehens abzublenden, insbesondere das »Bleibende« in dem Charakter und dem Wesen der Dinge und Lebewesen, deren Werthaltigkeit, zu konturieren sucht, da ohne dieses »Bleibende« auch keine prozessuale Veränderung stattfinden könne. 51 Aus dem Gespür für und die Einsicht in dieses Bleibende, das die Ordnung und Harmonie des Weltganzen sichert, vermag der Mensch nach Whitehead eine »Richtigkeit« der Dinge, Lebewesen und Lebenssituationen zu erschließen, einen »beständigen Charakter«, welcher der Ordnung und Harmonie der Weltereignisse zugrundeliegt. 52 Vgl. RM, 49. Vgl. RM, 76. 49 Vgl. RM, 48 f. 50 Vgl. RM, 50 u. 50 f. 51 Vgl. RM, 142–145. 52 Vgl. RM, 30, 56, 110 u. 128. – Whitehead zufolge stellt das Wissen über den allgemeinen Charakter der Dinge, das teils unthematisch bzw. implizit ist, d. h. nicht 47 48

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Die Einsicht in den genannten beständigen Charakter und die Richtigkeit der Dinge ist einerseits Voraussetzung für ein moralisch qualifiziertes Handeln des Menschen, andererseits Ansatzpunkt für weitergehende Reflexionen, die nach dem Grund dieser Wertordnung fragen. 53 Diese Frage stellt gleichsam das vermittelnde »Scharnier« dar, an dem sich die Anbindung und Einbettung der Analyse des Kerngehaltes vernünftiger religiöser Erfahrung in Whiteheads prozessmetaphysische Analyse der Gesamtwirklichkeit vollzieht. Denn die Wert-Ordnung der Welt lässt, so Whitehead, auf einen beständigen Wert-Ordner schließen: Die Ordnung der Welt ist kein Zufall. Es gibt nichts, das wirklich sein könnte ohne ein gewisses Maß an Ordnung. Die religiöse Einsicht erfasst diese Wahrheit: Dass die Ordnung der Welt, die Tiefe der Realität der Welt, der Wert der Welt als ganzer und in ihren Teilen, die Schönheit der Welt, die Lebensfreude, der Friede im Leben, die Meisterung von Übel, alle mit einander verbunden sind – nicht zufällig, sondern aufgrund dieser Wahrheit: dass das Universum eine Kreativität mit unendlicher Freiheit darbietet, und ein Reich der Formen mit unendlichen Möglichkeiten; aber dass diese Kreativität und diese Formen zusammen nicht imstande sind, Wirklichkeitsgehalt zu erlangen ohne die vervollständigte ideale Harmonie, welche Gott ist. 54

Die formativen Elemente des Universums, d. h. des Ganzen der Wirklichkeit, sind folglich – RM zufolge – »das unerschöpfliche Reich abstrakter Formen«, die »Kreativität« mit ihrem ständig sich verändernden Charakter, der je neu von den jeweiligen Geschöpfen bestimmt wird, und »Gott, dessen wertender und ordnender Weisheit sich jegliche raum-zeitliche Ordnung verdankt«. 55 Ohne den mittels eines kosmologisch-teleologischen Argumentes erschlossenen Gottesbegriff wäre Whitehead zufolge die Wirklichkeit-als-ganze nicht hinreichend bestimmt und verstehbar. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass Whitehead mit seinem Religionsverständnis der Intention seines prozessmetaphysischen Programmes treu bleibt, das bestrebt ist, die Totalität menschlicher Erfahrungen zu rekonstruieren und zu interpretieren. Dazu vollständig bzw. adäquat auf den Begriff gebracht werden kann, die letztgültige religiöse Evidenz bzw. Berufungsinstanz dar. (Vgl. ebd. S. 56.) 53 Vgl. RM, 134–142. 54 RM, 105 f. (Übersetzung von B. D.) 55 Vgl. RM, 144 f.

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gehört für ihn wesentlich auch die inhaltliche Bestimmung von Religion, deren zentrale Werterfahrungsebenen die denkerische Erschließung eines Wert- bzw. Ordnungsgrundes »Gott« gestatten. Der Mensch soll demnach in die Weite der Wirklichkeit hineingeführt werden und sich nicht in sich selbst oder in eine sektiererische Gruppe zurückziehen, sondern mit seiner Lebensführung auf das Ganze der Wirklichkeit hin geöffnet sein. Gelingt dies, wird dadurch die Hintanstellung eigener Interessen zugunsten der Verwirklichung der Einheit der Wirklichkeit, darin eingeschlossen: der Einheit der Menschheit, möglich. Whitehead zufolge sollte das soziale Ideal der Religion darin bestehen, eine gemeinsame Basis für die Einheit der Zivilisation bereitzustellen. 56 Der kritische Maßstab der Philosophie wird von Whitehead insofern zur Geltung gebracht, als auch Religionen (nicht nur die Wissenschaften) und deren Lehrsätze sich an der prozessmetaphysisch rekonstruierten Essenz des Universums auszurichten haben. Eine vernunftgeleitete philosophische Theologie hat Whitehead zufolge die Aufgabe, ein rationales Verständnis der Entstehung und Entwicklung von Zivilisation und der Fragilität, Zartheit und Zärtlichkeit des Lebens selbst darzubieten, das sich immer wieder gewaltsamen Einwirkungen ausgesetzt sieht. Zu seinen Lebzeiten ist die Theologie nach Whiteheads Erachten an dieser Aufgabe weitgehend gescheitert. 57 Im Folgenden sollen vor dem Hintergrund des von Whitehead formulierten Desiderates einige grundlegende Aspekte der Whitehead’schen philosophischen Theologie, d. h. von dessen Gottesverständnis, wie es sich in reifer Gestalt in »Process and Reality« entfaltet findet, dargelegt werden:

4.

Allgemeine Verortung des Gottesbegriffs in dem metaphysisch-kosmologischen Kategorienschema

Auf der Linie der angestrebten Säkularisierung von Gottes Funktionen im kosmischen Prozess 58 versucht Whitehead in seinem opus magnum »Process and Reality« (PR), Gott im Rahmen des spekula56 57 58

Vgl. AI, 172. Vgl. AI, 170. Vgl. PR, 206.

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tiv-eruierten kosmologischen Ideenschemas konsequent als Hauptexemplifizierung der metaphysischen Prinzipien zu denken. 59 Einem Verständnis Gottes als »Deus ex machina« wird dadurch auf prinzipieller Ebene jegliche Grundlage entzogen. Die von Whitehead vorgenommene Säkularisierung des Gottesverständnisses steht im Dienste einer »Diesseitigung« Gottes, d. h. der Akzentuierung von dessen Welt-Immanenz. 60 Gott wird in PR ontologisch mittels der Existenzkategorie »actual entity« (»wirkliche Ereigniseinheit«) gedeutet 61, d. h. er besitzt denselben Realitätsgrad wie raum-zeitliche »wirkliche Ereigniseinheiten« und ist somit im Vergleich mit diesen nicht in herausragender bzw. höherer Weise real, wie das Whiteheads Einschätzung zufolge in dem Christentum und dem Islam der Fall sei. 62 Der Gottesbegriff wird in dem Kategorienschema von PR – anders als in »Religion in the Making« (RM) mit Gott als einem den Schöpfungsprozess formierenden Element – nicht eigens oder gar an exponierter Stelle aufgeführt. 63 Vielmehr wird Gott als zwar in bestimmter Hinsicht grundlegender, zugleich aber erfahrbarer Bestandteil der Gesamtwirklichkeit im Rahmen von diese Gesamtwirklichkeit deutenden metaphysischen Prinzipien und Ideen gedacht. Nur ein diesen allenthalben geltenden metaphysischen Prinzipien und Ideen »unterliegender« Gott kann – der Whitehead’schen Forderung eines welt- und damit erfahrungsimmanenten Gottes gemäß – überhaupt von dem Menschen wahrgenommen, erfahren und bedacht werden. Wirkliche Ereigniseinheiten sind – in Übereinstimmung mit Whiteheads kosmologischem Ideal eines Genus von Grundelementen des Kosmos – die »letzten realen Dinge, aus denen die Welt sich aufbaut«, »Erfahrungstropfen« von organismisch-komplexer »Gestalt«, die aufgrund der Art ihrer Selbstkonstitution interdependente elementare Erfahrungskonzentrierungen des Universums darstellen. 64 Wirkliche Ereigniseinheiten unterscheiden sich voneinander lediglich

Vgl. PR, 343: »In the first place, God is not to be treated as an exception to all metaphysical principles, invoked to save their collapse. He is their chief exemplification.« 60 Vgl. RM, 59 f. 61 Vgl. PR, 7 u. 31. 62 Vgl. PR, 342 f. 63 Vgl. PR, 20–28. 64 Vgl. PR, 18. 59

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hinsichtlich ihrer Relevanzgrade und Funktionen, unterliegen ansonsten aber, wie erwähnt, denselben metaphysischen Prinzipien. Als eine solche wirkliche Ereigniseinheit erschafft bzw. determiniert Gott sich selbst, befindet sich mit anderen Worten als (uranfängliches) Geschöpf der Kreativität in einem bipolar aufgespannten Konkreszenz- bzw. (Selbst-)Werdensprozess, der allerdings im Gegensatz zu raum-zeitlichen wirklichen Ereigniseinheiten kein (zeitliches) Ende und Vergehen mit sich bringt, sondern als fortwährendes In-Konkreszenz-Sein vorzustellen ist. Aus diesem Grunde wird Gott von Whitehead weder als »wirkliches Ereignis« (»actual occasion«) noch als »Sozietät« (»society«) gedeutet. 65 Gott imitiert also strenggenommen, wie alle mikrokosmisch-elementaren »Geschöpfe« (»creatures«), in seiner selbst-kreativen Geschöpflichkeit die »Selbst-Kreativität der makrokosmischen Welt«, welche (Selbst-Kreativität) sich der alle Geschöpflichkeit transzendierenden »ultimate reality creativity« verdankt. 66 Da Whiteheads Gottesverständnis unlösbar in seine metaphysische Grundsicht hineingebunden ist, bestimmen sich die Grundfunktionen Gottes auch von dessen darin angelegtem Verhältnis zur Welt her. So ist Gott die »Begründung der Ordnung« (»foundation of order«) im Prozessfluss der Welt, und darin zugleich permanenter »Ansporn« zur selbst-kreativen Ausprägung von Neuheit(en), d. h. neuen empfindungsintensiveren Ordnungstypen. 67 Gott ist demzufolge Garant der »Stabilität der metaphysischen Situation« und wesentliches Element der kosmologischen Welterfahrung, Weltbeschreibung und Weltdeutung. 68 Denn ohne Gott gäbe es keine Ordnung und keine Neuheit im kosmischen Prozess. 69 Gottes »Ziel« für die Welt ist die »Empfindungsintensivierung« der elementaren Erfahrungsprozesse, die eine Empfindungsintensivierung und Bereicherung seiner eigenen Erfahrung zur Konsequenz hat. 70 Dieses Ziel verfolgt er durch das lockend-überzeugenwollende »Eingreifen« (»intervention«) in Vgl. PR, 88. – Denn Gott ist weder zeitlich noch eine Ereigniskette, vielmehr beständig im Prozess des Werdens begriffen. 66 Vgl. PR, 85. 67 Vgl. PR, 88. 68 Vgl. PR, 40. – Vgl. dazu auch Whiteheads Aussage in ebd. 247, in welcher er Gott, da Quelle der Neuheit, als wesentliche Voraussetzung seines kosmologischen Systems ausweist. 69 Vgl. PR, 40. 70 Vgl. PR, 88. 65

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die Welt-Prozesse mittels »anfänglicher subjektiver Ziele« (»initial subjective aims«), die er als Ausgangspunkt jedes »Konkreszenzprozesses« diesem bereitstellt. Deshalb kann Whitehead Gott auch als »Konkretionsprinzip« (»principle of concretion«) jedes wirklichen Ereignisses bzw. jeder wirklichen Ereigniseinheit bezeichnen, wobei der Leithorizont des anfänglichen subjektiven Ziels gleichwohl keine determinierende Wirksamkeit besitzt, sondern vielmehr von den (sich selbst-determinierenden) wirklichen Ereignissen bzw. wirklichen Ereigniseinheiten modifiziert werden kann. 71 Gottes Natur ist ähnlich derjenigen raum-zeitlicher wirklicher Ereigniseinheiten dreifach gegliedert in eine »uranfängliche begriffliche Natur« (»primordial conceptual nature«), eine »physische« »Folgenatur« (»consequent nature«) und eine sogenannte »superjektive Natur«. 72 Die Differenzierung der Wirklichkeit Gottes in drei Aktivitätsaspekte ist bei Whitehead lediglich gedanklich-abstrahierender Natur und Gott vor diesem gedanklichen Hintergrund – in Übereinstimmung mit Whiteheads metaphysisch-kosmologischen Grundkategorien – als kontrastreiche Einheit vorzustellen, in der »physische« und »geistige Fühlungen« eine harmonische Integration erfahren. Im Unterschied zu raum-zeitlichen wirklichen Ereigniseinheiten hebt der Konkreszenzprozess Gottes nicht beim »physischen«, sondern beim »geistigen« (Erfahrungs-) Pol an. 73 Obgleich Gottes »Erfüllung« aufgrund des beständigen In-Konkreszenz-Seins eine unabgeschlossene Offenheit aufweist, kann Gott – in Anlehnung an den Cartesischen Terminus – als makroskopische res vera, d. h. als »Tatsache« objektiver Realität bzw. als real existent und deshalb prinzipiell-erfahrbare Größe bezeichnet werden. 74

Vgl. PR, 244 f. Vgl. PR, 350 f. – Soll die Bipolarität jedes Erfahrungsaktes gewahrt bleiben, dann muss der Aspekt der Superjektivität Gottes der »Folgenatur« Gottes zugerechnet werden und bringt dann die wirkursächlich-vektorielle Einwirkung des jeweiligen Werdensstandes der Totalität Gottes auf nachfolgende raum-zeitliche »wirkliche Ereigniseinheiten« zum Ausdruck. 73 Vgl. PR, 224, 345 u. 348. 74 Vgl. PR, 167. – Hier ist zwar nicht explizit von Gott die Rede, aber die genannte Stelle muss sich zwingend auf Gott und dessen welteinende (makroskopische) Funktion hin beziehen lassen. 71 72

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5.

Der bi-polare Gott – Grundsätzliche Bemerkungen zum Verhältnis beider »Naturen«

Im Rahmen der Whitehead’schen Grundsicht des kosmischen (Selbst-) Schöpfungsprozesses ist die Behandlung des Verhältnisses der beiden Naturen Gottes untrennbar verwoben mit der Erörterung des Gott-Welt- bzw. Welt-Gott-Verhältnisses. Die uranfängliche, nicht-zeitliche, begriffliche Natur Gottes darf im Grunde genommen nicht als von Gottes Folgenatur isolierte und ab-solute Wirklichkeit vorgestellt werden, sondern jene ist vielmehr als integraler Bestandteil der »Gesamtwirklichkeit« Gott(es) und darin zugleich des Schöpfungsprozesses zu verstehen. Bei der getrennten, aufeinander folgenden Behandlung beider, eine Einheit bildender Naturen handelt es sich in erster Linie um den reflexiven Nachvollzug einer in Whiteheads Augen kosmologisch-notwendigen, gedanklichen Differenzierung 75, welche die bipolar bestimmte Pluriformität des Gott-Welt-Verhältnisses begrifflich fassen will, ohne die integrale Bezogenheit beider Naturen Gottes in Frage gestellt wissen zu wollen. Des weiteren ist es von Whiteheads allgemein-erfahrungsbezogenem, von der Lebenswirklichkeit (»practice«) 76 ausgehendem Grundansatz her offensichtlich für ihn eher geboten, zunächst Gottes (begründende) Bedeutsamkeit als kosmischer Ordnungsfaktor in Bezug auf zeitliche Konkreszenzprozesse eingehend zu erörtern, 77 bevor, angeregt durch historisch-vorausgegangene natürlich- bzw. philosophisch-theologische Denkbemühungen und nicht zuletzt durch spezifisch religiöse Gotteserfahrungen, 78 Gottes einend-bewahrende Folgenatur und, damit verbunden, die Bedeutsamkeit der Welt für Gottes »Vervollkommnungsprozess« zur Sprache gebracht wird. 79 Vor diesem Hintergrund ist m. E. die Rede von zwei getrennt zu denkenden, tatsächlich aber »stets« aufeinander bezogenen AktiviVgl. PR, 344, wo er von einer »distinction of reason«, d. h. einer gedanklichen Unterscheidung, spricht. 76 Vgl. PR, 14. 77 Vgl. PR, 344, an welcher Stelle Whitehead offen darlegt, dass er sich bislang nahezu ausschließlich mit Gottes »uranfänglicher Natur«, der »primary action of God on the world« (ebd. S. 345), auseinandergesetzt habe. 78 Vgl. das sich durchhaltende methodische Procedere Whiteheads in: SMW, RM, PR und AI. 79 Vgl. PR, 344–351. 75

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tätsaspekten in dem einen Gott bzw. in der einen Natur Gottes zu bevorzugen.

5.1 Gottes uranfängliche Aktivität: Unbegrenztes begriffliches Entwerfen (der Sphäre) reiner Möglichkeiten Die wie angedeutet in negativer metaphysischer »Beschreibung«, als gedankliches Subtraktionsprodukt des »Umgangs« Gottes mit der Welt und dessen Erfahrbarkeit in der Welt, bestimmte uranfängliche Natur Gottes ist nach Whitehead als »Quelle der Ordnung« des kosmischen Schöpfungsprozesses die von raum-zeitlichen Prozessen ungehinderte und von daher »uneingeschränkte begriffliche Realisierung der absoluten Möglichkeitssphäre« (»unlimited conceptual realization of the absolute wealth of possibility«) 80, welche die Vielzahl aller (einzelnen) »ewigen Objekte« (»eternal objects«) in einen unendlich vielfältigen »konzeptuellen« Entwurfszusammenhang »überführt«, so dass jede »reine Möglichkeit« darin von Gott in den Blick genommen (»envisagement«) 81, aus- bzw. vorgedacht ist. Dieser, von Gott uranfänglich synthetisierte Entwurfszusammenhang reiner Möglichkeiten ist durchaus als Kontinuum reiner Möglichkeiten aufzufassen, das erst in Bezug auf neue, real-kontextuierte Konkreszenzprozesse und der diesbezüglich erfolgenden Darbietung einzelner anfänglicher subjektiver Ziele eine »dissoziierende« Konkretion erfährt, welche freilich die uranfänglich-kontinuierliche Möglichkeitssphäre nicht unterbricht: 82 »The primordial created fact is the unconditioned conceptual valuation of the entire multiplicity of eternal objects. This is the primordial nature of God«. 83 Gott weist in seiner synthetisierenden uranfänglichen Fühlungs-Aktivität den (»außerhalb« dieser Wertungsaktivität) disjunktiv gedachten ewigen Objekten eine gestufte Wertrelevanz zu (»graduation of the relevance of eternal objects«), die hinsichtlich der zeitlichen Realisierung derselben in den zeitlichen Einzelprozessen maßgebend wirksam ist. »Erst« aufgrund dieser non-temporalen Wertungsaktivität 80 81 82 83

PR, 31. PR, 33 f. Vgl. PR, 31 f. PR, 31.

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Gottes, die Whiteheads elementarem kosmologischen »Grundimpuls« »many-one« Folge leistet, und der dadurch (selbst-) kreativ hergestellten »Zusammenheit« (»togetherness«) aller ewigen Objekte erlangen diese ewig-unveränderliche, ontologische Relevanz für sämtliche zeitlichen Syntheseprozesse wirklicher Ereignisse bzw. wirklicher Ereigniseinheiten. Whitehead kann den uranfänglichen Wertungen Gottes deshalb auch »objektive Unsterblichkeit« prädizieren. 84 Der uranfängliche Aspekt der »Selbst-Kreation« Gottes geht demnach einher mit der Kreation eines Ideen-Kosmos, dessen wertgestufte Geordnetheit die ewig-gültige Grundlage für die zeitlichen Welt-Einungs- und Welt-(be-)wertungsprozesse wirklicher Ereignisse bzw. Ereigniseinheiten bildet. 85 Anders als der »Demiourgos« in Platons »Timaios« »findet« der Whitehead’sche Gott den IdeenKosmos jedoch nicht als bereits feststehenden, sondern vielmehr die ewigen Objekte als noch zu ordnende und bewertende vor. Whiteheads ontologisches Prinzip, das jegliche Wirkursächlichkeit des Datenmaterials zeitlicher Selbstkonstitutionsprozesse an (vergangene) Wirklichkeiten (»actualities«) bindet, macht die Zuordnung der Sphäre reiner Möglichkeiten bzw. der »allgemeinen Potentialität des Universums« (»general potentiality of the universe«) an die sich selbst-konstituierende Wirklichkeit Gott(es) zu einer Denknotwendigkeit, da sonst die ewigen Objekte keinen ontologisch-realen »Ort« und infolgedessen keine Wirksamkeit besäßen in Hinsicht auf das Erfasst-werden-Können durch wirkliche Ereignisse bzw. wirkliche Ereigniseinheiten. 86 Es kann Whitehead zufolge nur eine solche »nicht-abgeleitete Wirklichkeit« (»non-derivative actuality«), nämlich Gott, geben, welche an der »Basis aller Dinge« steht und zum uranfänglichen »Grund« (»reason«) aller zeitlichen Einzelprozesse wird. 87 Gottes uranfängliche Natur wird – in Gegenüberstellung zur Folgenatur – in PR als »frei, vollständig, uranfänglich, ewig, defizient an Wirklichkeit und unbewusst« charakterisiert. 88 Die genannten Epitheta erklären sich wechselseitig, wobei die ersten vier (primär) Vgl. PR, 32: »Thus God has objective immortality in respect to his primordial nature and his consequent nature«. (Kursivdruck von B. D.) 85 Vgl. PR, 343 f. 86 Vgl. PR, 19 u. 24. 87 Vgl. PR, 31, 225 u. 349 88 Vgl. PR, 345. 84

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Gott »allein mit sich selbst«, die letzten beiden Gott in seiner Beziehung zum Welt-Prozess beschreiben. Gottes Freiheit gründet in der Unbeschränktheit seiner non-temporalen, uranfänglichen begrifflichen Wertungsaktivität durch den konkreten (raum-zeitlichen) Weltverlauf. In dieser seiner unbeschränkt entwerfenden Wertungsaktivität wird Gott laut Whitehead darüber hinaus weder von »Liebe«/Zuneigung, noch von »Hass«/Abneigung gegenüber dem konkreten Weltprozess geleitet. Gottes (Be-) Wertungen respektive »subjektive Fühlungsformen« sind demzufolge souveräne Setzungen Gottes. 89 Vollständigkeit darf die uranfängliche Natur beanspruchen, weil restlos alle ewigen Objekte in einen Wertungs- und Entwurfszusammenhang reiner Möglichkeiten gebracht wurden. 90 Uranfänglichkeit, die (primär) metaphysisch aufzufassen ist und den permanenten »Anfangspunkt« der Konkreszenzprozesse kennzeichnet, kommt Gottes non-temporaler begrifflicher Wertungs-Aktivität in Bezug auf die metaphysisch-uranfängliche »Charakterisierung« und »Konditionierung« der »ultimate reality« »Kreativität« zu, welche (»Charakterisierung«) zugleich die festliegende Grundlage aller zeitlichen Konkreszenz-Prozesse darstellt. D. h., dass mit dem Epitheton »uranfänglich« derjenige Aspekt eines Konkreszenzprozesses bezeichnet wird, der stets prinzipiell der »Anfangspunkt« der selbst-kreativen Synthetisierungen des Universums ist. Gottes Uranfänglichkeit besitzt aufgrund ihrer untrennbaren Verwobenheit mit dem kosmischen Prozess Bedeutsamkeit auch für den (metaphysischen) »Anfangspunkt« und das (zeitliche) Anfangsstadium jedes raum-zeitlichen Einzelprozesses. Ewig und unveränderlich stehen Gottes begriffliche Wertungen fest, sind deshalb auch für alle raum-zeitlichen Ereignisse – freilich nicht-determinierende – Ziel-Potentiale sowie (strukturierende) »Determinanten der Abgegrenztheit« (»determinants of definiteness«) von deren Selbstkonstitutions-Prozessen. 91 Defizienz an Wirklichkeit und mangelndes Bewusstsein schreibt Whitehead im Rahmen seines metaphysischen Denksystems Gott zu, weil Wirklichkeit per definitionem bipolar strukturiert ist, Gottes uranfänglichem begrifflichem Aktivitätsaspekt allein, ohne die Inte89 90 91

Vgl. PR, 344. Vgl. PR, 40, 44 u. 164. Vgl. PR, 291.

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gration mit physischen Fühlungen, somit nicht eignen kann. Ebenso wenig Bewusstsein, das aus »intellektuellen Fühlungen« erwächst, und zu dem ebenfalls physische Fühlungen unverzichtbar sind. Wegen dieser Unvollkommenheit der uranfänglichen begrifflichen Natur Gottes befindet Gott sich – wenngleich er ewig Gott ist, und nicht erst wird –, wie jede (andere) wirkliche Ereigniseinheit in einem »Vervollkommnungsprozess« (»process of completion«) 92, in welchem er den (uranfänglichen) Mangel an Wirklichkeit zu kompensieren und Bewusstsein zu erlangen sucht. Begrifflich-entwerfende Vollständigkeit und Fülle geht in Gottes uranfänglicher Seite mit Defizienzerscheinungen einher, die (beide zusammen: Fülle und Defizienzen) – unter Voraussetzung der Kreativität – ewige (begründende) Moventia des kosmischen Schöpfungsprozesses sind. 93 Der bereits für diesen uranfänglichen (Konkreszenz-) Aspekt geltende Welt-Bezug 94 – wenn auch, wie bereits ausgeführt, von einer Welt-Konditioniertheit Gottes nicht gesprochen werden kann –, besteht darin, dass die subjektiven Fühlungsformen Gottes die ewigen Objekte zu »Fühlungslockungen« für die zeitlichen Konkreszenzprozesse machen, welche für alle »realisierbaren Grundbedingungen« (»realizable basic conditions«) lockend-erstrebenswerten Charakter besitzen. 95 So ist Gott in seiner uranfänglichen WertungsAktivität »Lockung für Fühlung« (»lure for feeling«), »ewiger Drang des Verlangens« (»eternal urge of desire«) der zeitlichen Selbstkonstitutionsprozesse und konstituiert so den Ursprung von deren subjektiven Ziel(en). 96 Die (uranfängliche) Wertungs-Aktivität Gottes ist folglich in Whiteheads Metaphysik von vornherein auf eine metaphysisch-prästabilierende Entwurfs-Ordnung zeitlicher Prozesse bezogen, die deren Geordnetheit und »kreatives Fortschreiten zur Neuheit« strukturell organisiert. Infolge ihrer Nicht-Zeitlichkeit bzw. Uranfänglichkeit ist die Realisierung aller denkbaren Möglichkeiten nicht vor, sondern vielmehr »mit aller Schöpfung« und allen Geschöpfen zu denken, 97 und stellt – darin wird der Welt-Bezug und die Immanenz auch der sog. Vgl. PR, 345. Vgl. PR, 349–351. 94 Vgl. PR, 345, an welcher Stelle Whitehead von Gottes »primärer Handlung an der Welt« spricht (»primary action on the world«). 95 Vgl. PR, 87 f. 96 Vgl. PR, 344. 97 Vgl. PR, 343: »In this aspect, he is not before all creation, but with all creation.« 92 93

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begrifflichen Natur Gottes deutlich –, das anfängliche subjektive Ziel (en) eines jeden Konkreszenzprozesses bereit. Gott steht somit nicht in zeitlichem Sinne am Anfang des gesamten Schöpfungsprozesses und stößt ihn als absoluter Impulsgeber für alle (nachfolgenden) Zeiten an – wie der Deismus dies denkt –, sondern er ist »im Anfang« eines jeden Geschöpfs und in diesem Sinne mit jedem Geschöpf, indem er diesem dessen bestmögliche Perspektive des Welt-Ganzen, des selbst-kreativ zu einenden Universums, anbietet, die zu realisieren die größtmögliche Fühlungsintensität zur Folge hätte.

5.2 Wachstum und Werden Gottes im Weltbezug: Gottes bewahrende und rettende »Folgenatur« Die Schöpfung erlangt die Versöhnung von Beständigkeit und Fluss, wenn sie ihr abschließendes Ziel erreicht hat, welches das Immerwährendsein ist – die Apotheose der Welt. 98

Erneut sei zu Beginn dieses Unterpunktes darauf hingewiesen, dass Whiteheads Gottesverständnis nur im Rahmen seiner kosmologischen Grundsicht, seines Verständnisses eines prozessual sich selbst erschaffenden Universums, sinnvoll und angemessen entfaltet werden kann. a)

Die »objektive Unsterblichkeit« zeitlicher »wirklicher Ereignisse« bzw. »wirklicher Ereigniseinheiten« in Gott

Das religiöse Grundproblem, auf das Whitehead im Rahmen seines philosophischen Systems eine Antwort zu geben versucht, lautet sinngemäß: Wie kann der Übergang von alter (raum-zeitlicher) Ordnung in Neuheit hinein so gedacht werden, dass damit kein Verlust der Vergangenheit, des vergangenen Wirklichen, in der (neuen) Gegenwart verbunden ist und darüber hinaus zugleich etwas Neues mit erhöhter Fühlungsintensität und »Lebensfrische« (»freshness of living«) entsteht? 99 Die allgemeinen, nicht an bestimmte institutionalisierte Religionen gebundenen, religiösen und moralischen Intuitionen der Menschheit, die Whitehead als für seine Denkversuche PR, 348: »Creation achieves the reconciliation of permanence and flux when it has reached its final term which is everlastingness – the Apotheosis of the World.« 99 Vgl. PR, 338 f. 98

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maßgeblich ins Feld führt 100, geben sich mit einer »objektiven Unsterblichkeit«, welche auf das »In-einer-anderen (-zeitlichen) Ereigniseinheit-(Gegenwärtig-)Sein« 101 beschränkt bleibt, nicht zufrieden, weil mit jener immer »eliminierende« und »abstrahierende Entscheidungsprozesse« verbunden sind, sondern verlangen nach einer »unverkürzten« Lebendigkeit und »Unmittelbarkeit« (vergangener) wirklicher Ereigniseinheiten, in der es keinen Verlust infolge von Unstimmigkeiten und geordnete Neuheit gibt. Diese Anforderungen kann nur Gottes Folgenatur erfüllen, kraft derer Gott jedes Geschöpf in sich hinein erfasst. 102 Wegen der Relativität aller kosmischen Ereignisse erfolgt eine »Reaktion der Welt auf Gott«, die in Gottes Folgenatur »eingesammelt« und empfunden wird. 103 Die – freilich nicht ungefiltert-empfundene – Reaktion der Welt auf die von Gott bereitgestellten und (kontinuierlich) angebotenen Leithorizonte des Werdens stellen eine Vervollständigung der Natur Gottes dergestalt dar, dass dem uranfänglichen Mangel an Wirklichkeit und der Absenz von (Welt-)Bewusstsein die (je partielle) »Fülle physischer Fühlung« zu deren asymptotischer (weil nie abgeschlossener) Kompensation zugeführt wird. 104 Die Folgenatur Gottes folgt also zum einen (immanent-göttlich) der uranfänglichen Wertungsaktivität Gottes, ohne welche die »Erfassung« der Reaktion der Welt undenkbar wäre, und zum andern der »Objektivierung« und »Repräsentierung« der (vergangenen) zeitlichen wirklichen Ereigniseinheiten in Gott, von denen jene Folgenatur sich ableitet. Gottes Folgenatur hat ihren (unverzichtbaren) Ursprung in dieser physischen Welt-Erfahrung, in welcher die raum-zeitlichen Ereignisse in dem Perspektive-Rahmen der all-inklusiven uranfänglichen Wertungen empfunden werden. 105 In der Folgenatur gibt es keinen (Intensitäts-) Verlust infolge von »Behinderungen« (»obstruction«), wird die Welt in einer »Einheit der Unmittelbarkeit« (»unison of immediacy«) empfunden, welcher Whitehead die »Zeitstufe« der »Immerwährendheit« zuordnet. »Immerwährendheit« besagt in Bezug auf die (zeitlichen) EinzelVgl. PR, 343. Das Grundproblem der organismischen Philosophie Whiteheads. Vgl. dazu: Whitehead (1929), 232 f. 102 Vgl. PR, 350 f. 103 Vgl. PR, 345. 104 Vgl. PR, 345. 105 Vgl. PR, 345. 100 101

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ereignisse die Kombination von kreativem Fortschritt mit der Beibehaltung von wechselseitiger Unmittelbarkeit über das Vergehen der sich selbst-konstitutierenden wirklichen Ereigniseinheiten hinaus. 106 Dabei wird den uranfänglichen Begriffen Gottes die (jeweilige) physische Welt-Fühlung »aufgewoben«, wodurch volle Wirklichkeit und Bewusstsein evoziert werden. 107 Jede wirkliche Ereigniseinheit ist auf diese Weise – in Entsprechung zum »ontologischen Prinzip« –, ein Potential für das Werden bzw. den (immerwährenden) Konkreszenzprozess Gottes. »Beständigkeit« und »Fließen« bzw. »Fluss«, eines der (metaphysischen) Gegensatzpaare, das die »Natur der Dinge« ausmacht, erfahren in der Immerwährendheit der Folgenatur Gottes eine kontrastreiche Integration, insofern als Gottes nach Fließen trachtende Beständigkeit und das nach Beständigkeit trachtende Fließen der Welt dort zum Zwecke der eigenen Vervollkommnung eine immerwährende Synthese erfahren. 108 Vervollkommnung Gottes und Vervollkommnung der Welt greifen in der Bestimmtheit und Offenheit der göttlichen Folgenatur ineinander. Im kontrastierenden Gegenüber zur Charakteristik der uranfänglichen Seite Gottes schreibt Whitehead der Folgenatur die Eigenschaften »bestimmt, unvollständig, folgend, immerwährend, voll wirklich und bewusst« zu. 109 Bestimmtheit ist eine Eigenschaft der »Erfüllungen« wirklicher Ereigniseinheiten, die im Zuge ihrer Konkreszenz zu jedem Erfahrungs-Element ihres Werdens-Prozesses ein bestimmtes, d. h. entschiedenes, (Erfahrungs-) Verhältnis in Hinsicht auf die beigemessene Relevanz (des betreffenden Elementes) innerhalb der subjektiven Einheit der Fühlung hergestellt haben. 110 Unvollständigkeit eignet der Folgenatur, weil sie trotz stetiger Erfüllung (en) aufgrund des kreativen Fortschritts des Universums offen ist auf künftige Welt-Erfassungen und somit (zunehmende) Vervollkommnung(en) Gottes. Das Epitheton »folgend« bezieht sich auf die Vervollständigung der Natur Gottes infolge der Erfahrung der Welt-Prozesse. In dem Terminus »folgend«/»Folgenatur« kommt die Angewiesenheit GotVgl. PR, 345. Vgl. PR, 345. 108 Vgl. PR, 346. 109 Vgl. PR, 345. 110 Dabei kann es sich auch um »negative Erfassungen« mit den ihnen entsprechenden »subjektiven (Fühlungs-) Formen« handeln. Vgl. dazu PR, 41. 106 107

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tes auf die Selbst-Kreativität der Welt-Prozesse für dessen (eigene) Selbst-Konstitution schlagend zum Ausdruck. 111 Immerwährendheit spricht Whitehead (raum-zeitlichen) wirklichen Ereigniseinheiten in Gottes Folgenatur zu, welche, als gerettete und bewahrte, in nie endender Konkreszenz-Einheit mit allen vergangenen und nach ihnen vergehenden wirklichen Ereigniseinheiten stehen. Immerwährendheit ist zwischen der Non-Temporalität bzw. Ewigkeit des uranfänglichen Aktivitäts-Aspektes Gottes und der Temporalität der (raum-) zeitlichen wirklichen Ereigniseinheiten als Zeit- bzw. Existenzform »hypostatischer« Wesensart anzusiedeln, welche (Zeitform) göttliche und weltliche Zeitlichkeit epochen-ineinanderfügend synthetisiert, ohne dass deren Eigenarten eine Beschneidung erführen. 112 Immerwährendheit ist aus diesem Grunde auch die Zeitform des »Königreichs des Himmels«, das den jeweiligen neuen Konkreszenzprozessen als (potentielle) Erfahrungs-Tatsache nahekommt. 113 b)

Bilder für die Transformation der wirklichen Welt in Gott: Gott als zärtlicher, geduldiger und richtender Retter der Welt

Den untrennbaren Zusammenhang von uranfänglichem und FolgeAspekt in der Natur Gottes belegt das »operative Wachstum« der Folgenatur, das ohne die Vorgabe des subjektiven Ziel(en)s und der subjektiven Fühlungs-Formen nicht möglich wäre. 114 Denn maßgebend für die physische Erfassung der Welt-Prozesse ist Gottes uranfängliche »Vision von Wahrheit, Schönheit und Gutheit«, in deren Rahmen eine jede erfasste (zeitliche) wirkliche Ereigniseinheit das ist, was sie sein kann. 115 Die Gottes »Totalität« kennzeichnende »Harmonie des universalen Empfindens« ereignet sich qua Integrierung der uranfänglichen und der Folgenatur Gottes nach Maßgabe der uranfänglichen Wertungs-Weisheit Gottes. 116 Folglich ist Gottes bewahrende Aktivität, da auf die einen universalen Zusammenhang Vgl. PR, 105. In der Tat kann man m. E. davon ausgehen – zumal wenn man einschlägige Textpassagen aus AI hinzuzieht –, dass Whitehead Gott als gleichsam hypostatisch mit den (raum-zeitlichen) Welt-Prozessen geeinte »Wirklichkeit« gedacht hat. Vgl. dazu: ebd., S. 168–170. 113 Vgl. PR, 345 f. u. 350 f. 114 Vgl. PR, 12 u. 346. 115 Vgl. PR, 345 u. 347. 116 Vgl. PR, 346 u. 350 f. 111 112

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herstellende all-inklusive Wertung bezogen, darauf ausgerichtet, zum Zwecke der eigenen Vervollständigung all das zu retten und zu bewahren, was in Entsprechung zu seiner Wertungs-Aktivität steht, deren Hauptcharakteristik entschiedene »Gutheit« ist. Diese wertentschiedene Gutheit und die sich aus dieser speisende »Richtigkeit des Empfindens« (»rightness of feeling«) sind das Kriterium und die »Eingangspforte« für die »Aufnahme« (»reception«) und die gegebenenfalls erfolgende »Verbesserung« (»reformation«) in Gottes Folgenatur 117, der demgemäß ebenfalls Gutheit eignet. Dabei wird auch das durch Gegenreaktionen zu Bösem bzw. Übel hervorgerufene Gute bewahrt, da Gott bemüht ist, selbst geringste Fragmente der Verwirklichung seiner Ziel-Vorgaben zu retten. 118 Eines der drei Bilder – Whitehead beharrt darauf, dass es sich im Rahmen seiner philosophisch-theologischen Denkversuche um Bilder (»image«) handelt –, in die Whitehead dieses Wachstum der (Folge-) Natur Gottes kleidet, ist das Bild der »zärtlichen Fürsorge«, demzufolge nichts irgendwie Wertvolles der zeitlichen Erfahrungskonzentrationen verloren gehen möge. 119 Im Übergang der Welt in Gottes Unmittelbarkeit hinein ereignet sich zugleich – das zweite Bild – ein »Urteil« bzw. das Gericht über die betreffenden Ereignisse, das sich durch »Zärtlichkeit« und »Geduld« auszeichnet 120 und in dem die »Freiheit« der Welt-Prozesse respektiert wird. 121 »Rettung« impliziert also »zärtliches Urteil«, d. h. die Transformation und »Verbesserung« der Welt-Prozesse nach Maßgabe der all-inklusiven konzeptuellen »Vision Gottes«, welche die Einzelperspektiven der jeweiligen wirklichen Ereigniseinheiten dieser all-inklusiven Perspektive einstellt. Diese Bewahrung und Rettung grenzt Whitehead nicht auf tierliche oder menschliche Ereignisse ein, sie ist auch für Ereignisse nicht-lebender Sozietäten gegeben. Infolge des Eingehens der fließenden wirklichen Ereignisse in Gottes Folgenatur erfahren jene ebenso wie Gott eine Vervollständigung bzw. Vollendung aufgrund der endgültigen Einbettung in den kosmisch-universalen Ereigniszusammenhang. 122 M. a. W. werden die Wert-Schöpfungen der zeitVgl. PR, 348 f. Vgl. PR, 346: »… – the image under which this operative growth of God’s nature is best conceived, is that of a tender care that nothing be lost.« 119 Vgl. PR, 346. 120 Vgl. PR, 346. 121 Vgl. PR, 350 f. 122 Vgl. PR, 347. 117 118

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lichen wirklichen Ereigniseinheiten nach ihren Wert-Möglichkeiten bemessen, denen sie in ihren Selbst-Werdens-Prozessen mehr oder weniger entsprochen haben. Das erfordert eine »exakte« Wert-Bemessungsgrundlage, welche in dem von Gott bereitgestellten anfänglichen subjektiven Ziel (vor-) gegeben ist. Bei zeitlichen Geschöpfen, die andauernde Ereigniszusammenhänge darstellen, ereignet sich das Gericht Gottes entlang der einzelnen wirklichen Ereigniseinheiten und bemisst sich sein Ausgang danach, inwieweit die jeweiligen »Selbst-Transformationen« (»transformation of Itself« 123) eine Realisierung der konzeptuell-bereitgestellten Potentiale bewerkstelligten. Die verwandelnde Rezeption in Gott hinein fußt auf jener zeitlichen Selbst-Transformation, die in geläuterter Gestalt zu immerwährender Unmittelbarkeit in Gottes Folgenatur gelangt. 124 Ob Gott als Erlöser oder als unheilbringende Gottheit erfahren wird, hängt also in hohem Maße von der transformierenden Eigenkreativität eines Ereigniszusammenhangs ab. 125 Die »zärtliche Geduld« (»tender patience«) Gottes – das dritte von Whitehead benutzte Bild – bezieht sich einerseits auf dessen »Er-warten«, was die freien, sich-selbst konstituierenden wirklichen Ereigniseinheiten aus seinen Leit- bzw. Vor-Bildern (= anfängliche subjektive Ziele) in ihrer die wirkliche Welt synthetisierenden Konkreszenz »machen«, inwieweit also jene diese zu realisieren imstande sind, andererseits auf die zärtlich-geduldige Vervollkommnung der zeitlichen Verwirklichungs-Insuffizienzen qua Vervollkommnung seiner eigenen Natur. 126 Gottes Geduld gründet in der geduldigen Wirksamkeit der »überwältigenden Rationalität« und Überzeugungskraft 127 seiner »begrifflichen Harmonisierung«, welche die Freiheit der Selbst-Verursachung nicht beschneidet, sondern vielmehr (ziel-vorgebend) freisetzt und die Resultate der Selbst-Verwirklichungen wirklicher Ereigniseinheiten in unvoreingenommener, gerechter Weise (»impartially«) in die Unmittelbarkeit Gottes hineinnimmt. Die Vervollständigung zeitlicher wirklicher Ereigniseinheiten durch das Eingehen in Gottes Unmittelbarkeit führt zu einer immer-

123 124 125 126 127

Vgl. PR, 351. Vgl. PR, 350 f. Vgl. PR, 351. Vgl. PR, 346. Vgl. AI, 296.

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währenden Einheit derselben mit ihrem »transformierten Selbst« (»transformed selves«), d. h., dass kraft der »Läuterung« (»purged«) in die Übereinstimmung mit der ewigen, begrifflichen Ordnung hinein und der damit erfolgenden endgültigen Ausrichtung nach Gottes absoluter Weisheit der raum-zeitliche Wert-Gehalt wirklicher Ereigniseinheiten immerwährend gleichsam als Spurenelement »erhalten« bleibt, mit anderen Worten: raum-zeitliche und immerwährende Vollendungsgestalt also irreduzibel miteinander geeint sind. 128 Erst in der vollkommen abgestimmten Erfassungs-Einheit der Welt-Prozesse, der göttlichen Folgenatur, erlangen wirkliche Ereigniseinheiten (je für sich) den (je) »individuellen Typ der Selbst-Existenz« (»individual types of self-existence«), gewinnen sie also ihre vollkommene »Selbst-Erlangung« (»self attainment«) bzw. SelbstVerwirklichung. 129 In dieser Selbst-Erlangung geht Whitehead zufolge den einzelnen wirklichen Ereigniseinheiten aufgrund des Hineingenommen-Werdens in die (göttliche) Harmonie der universalen Fühlung der eigene »Wert über sich selbst hinaus« (»worth beyond itself«) auf und findet als intensiv erlebtes Element der eigenen Vervollkommnung Eingang in deren Vollendungsgestalt. 130 Wirkliche Ereigniseinheiten sind demnach sowohl – hinsichtlich ihrer »Multiplizität« – »Zwecke an sich« als auch – hinsichtlich ihres Geeint-Seins – »Mittel« zur Vervollkommnung der Folgenatur Gottes. 131 In dieser impliziert ist die Versöhnung aller die Natur der Dinge kennzeichnenden »Gegensätze« 132 (zu »Kontrasten«), d. h. auch die (jeweilige) Transformation aller leid- und schmerzvollen Erfahrungen in ein »Element des Triumphes«, insofern als deren subjektive Fühlungsformen in der all-inkludierenden, kontrastreich-harmonisierenden Unmittelbarkeit Gottes eine Bereicherung infolge der Zumessung ihres endgültigen Stellenwertes im Ganzen des Schöpfungsprozesses erfahren. 133 Auf diesen Sachverhalt der (subjektiverfahrbaren) Transformation des Leid- und Schmerzvollen lässt sich nach Whitehead der verbreitete Gedanke der »Erlösung durch Leiden hindurch« (»redemption through suffering«) beziehen 134, so dass von 128 129 130 131 132 133 134

Vgl. PR, 347. Vgl. PR, 349 f. Vgl. PR, 350. Vgl. PR, 349 f. Vgl. PR, 349 f. Vgl. PR, 349 f. Vgl. PR, 350.

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Whitehead neben dem (religiösen) Bild Gottes als eines Richters auch noch das des Erlösers in Nutzung genommen wird für die Charakterisierung der rettenden und bewahrenden Folge-Aktivität Gottes. Das von Whitehead eingeführte Moment der Erlösung beinhaltet bemerkenswerterweise die subjektive Erfahrbarkeit der erlösenden Ein-stellung in das Ganze des Schöpfungsprozesses seitens der vollendeten wirklichen Ereigniseinheiten. 135 In diesem beständig wachsenden Übergang in Gottes Natur hinein, welcher die »letzte Phase in der Natur der Dinge« darstellt, erfährt der Schöpfungsprozess sein »endgültiges Ziel« (»final end of creation«) 136, ereignet sich letztlich eine »Apotheose der Welt« in die Immerwährendheit hinein nach Maßgabe der absoluten, uranfänglichen Weisheit Gottes. 137 Die Apotheose der Welt bezeichnet die bei Eintritt in die Unmittelbarkeit des göttlichen Lebens erfolgende »Verwandlung« (»transmutation«) der zeitlichen (Einzel-) Wirklichkeit(en) in eine »lebende, immergegenwärtige Tatsache« (»living ever-present fact«), die in der stetigen, Ein- und Vielheit, kreativen Fortschritt und Geordnetheit integrierenden Unmittelbarkeit Gottes nicht (mehr) vergehen kann. 138 Gottes Folgenatur eignet in diesem Sinne objektive Unsterblichkeit, da alle in ihr synthetisierten wirklichen Ereigniseinheiten in deren relational-vollendeter Selbst-Erlangungs-Gestalt zu Daten-Material für neue Konkreszenzprozesse werden können. 139 »Einheit« und »Vielheit« 140 zugleich qualifizieren in verschiedenen Hinsichten Gottes Folgenatur: Einerseits eint Gott die Vielzahl der Einzelprozesse (je neu) im Rahmen seiner unmittelbaren, universalen Harmonie der Fühlung, andererseits erlangen die einzelnen wirklichen Ereigniseinheiten darin zugleich ihre (multiple) Vollendungsgestalt und be- bzw. erhalten in der immerwährenden Unmittelbarkeit der Selbst-Konstitution Gottes ihren spezifischen Wert. Die (geeinten, zahlreichen) Repräsentationen der zeitlichen Wirk-

Vgl. PR, 350. Vgl. PR, 349 f. 137 Vgl. PR, 346. 138 Vgl. PR, 346. 139 Vgl. PR, 350 f. – Whitehead ordnet diesen Sachverhalt der »vierten kreativen Phase des Universums« zu, in der sich s. E. die »schöpferische Aktion« des Universums vervollständigt. 140 Vgl. PR, 341, wo auch die anderen sogenannten »idealen Gegensätze« genannt werden. 135 136

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lichkeiten bilden die Folgenatur Gottes, deren Wachstum sich aus der Evoluierung des Universums speist. 141 Die Repräsentierung der organismisch verfassten wirklichen Ereigniseinheiten in der göttlichen Folgenatur kann Whitehead auch als die Grundlage für die philosophische Wahrheitsfindung, als »Wahrheit selbst«, bezeichnen. Philosophische Wahrheitsfindung ereignet sich demnach in Erfahrungsbezügen, wobei die Objektivierung der Welt-Prozesse in Gottes Folgenatur maßgebliche Grundlage für Reflexionsprozesse ist. 142

6.

Whiteheads Gottes- und Religionsbegriff als praktikables Korrektiv für fehlgeleitete Gottes-, Religions-, Zivilisationsund Menschenverständnisse

Mit Bezug auf den aktuellen Streit um die Religion und um Gott 143 wird man zunächst anmerken dürfen, dass Whiteheads Religionsbegriff als pragmatisch-axiologische Bestimmung des Kerngehaltes religiöser Erfahrung überhaupt einen praktisch-philosophischen Akzent besitzt, ohne indessen den Anspruch auf philosophisch-begründete Allgemeinheit preisgeben zu wollen. Das von ihm eingeführte Begriffspaar »Solitärsein« und »Weltloyalität« eröffnet einen Antwortraum auf die den Menschen umtreibende Frage nach Sinn und Bedeutung des eigenen Lebens, des Lebens überhaupt sowie der Wirklichkeit-als-ganzer. Denn der Mensch muss sein Leben führen, und die Sinnkriterien für die eigene Lebenspraxis und Lebenswelt muss er sich selbst innerhalb des kosmisch-biotisch-zivilisatorischen Gesamtkontextes, in dem er steht, erschließen, will er die prinzipielle Möglichkeit zur Selbstbestimmung und Handlungsgestaltung nicht desavouieren. 144 Zwischen der Konzentration Whiteheads auf die Lehraussagen der Religionen und Whiteheads pragmatisch-axiologischer Bestimmung von Religion besteht lediglich äußerlich betrachtet ein unüberVgl. PR, 12. Vgl. PR, 12. 143 Vgl. Wendel 2018 u. Nitsche 2017. 144 Vgl. Joas 1999, der die Entstehung der Werte Selbstbildungs- und Selbsttranszendenzerfahrungen zuordnet, ohne wie Whitehead ein Wertrealist sein zu wollen. – Vgl. dazu auch Taylor 1989, dessen identitätsphilosophisch grundiertes Wertdenken im Unterschied zu Joas eher als pragmatisch-wertrealistisch bezeichnet werden kann. 141 142

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windbarer Hiatus, der sich überwinden lässt, wenn man die von Whitehead geforderte pragmatische Fruchtbarkeit religiöser (Lehr-) Aussagen, mithin den engen Zusammenhang zwischen praktischer und theoretischer Vernunft, 145 angemessen berücksichtigt. Insofern religiöse (Lehr-) Aussagen lebensgestaltungsrelevant sind, ist bei Whitehead zumindest ein mittelbarer Bezug der theoretischen Erkenntnisebene zur Lebenspraxis gegeben. 146 Vor diesem Hintergrund wird man von einer Realitätshaltigkeit von Religion/Religiosität bzw. religiöser Aussagen bei Whitehead sprechen dürfen, ohne damit zu insinuieren, dass die inhaltlichen Bestimmungsmerkmale von Religion/Religiosität oder Gottes wie raum-zeitliche Gegenstände aufgewiesen werden könnten. Die von Whitehead erarbeiteten Reflexionsbegriffe »Religion« und »Gott« lassen sich gerade nicht Eins-zu-Eins in der raum-zeitlichen Realität aufzeigen, gleichwohl sind sie zentrale, erfahrungsgesättigte Interpretamente der menschlichen Selbst- und Weltdeutung, und infolgedessen realitätshaltig. Die vermeintliche Kritik, dass Whitehead wie andere Denker nach ihm auch den epistemischen Status von Religiosität mit demjenigen des Bewusstseins gleichsetze, kann dadurch entkräftet werden, dass Whitehead bei seiner »Analysis fidei quae« den Bewusstseinsinhalt explizit religiöser Menschen zu explorieren versucht, und nicht das Bewusstsein des Menschen an sich. Freilich darf diesbezüglich kritisch angemerkt werden, dass Whitehead die Deutungsoffenheit der drei im Bewusstsein zugleich vorhandenen Wertebenen stärker hätte akzentuieren dürfen, dahingehend, dass ein nicht explizit religiöser Mensch, bei dem diese drei Wertebenen bzw. Wertüberzeugungen vorhanden sind, nicht per se als religiöser oder gar gottgläubiger Mensch bezeichnet werden dürfte. Allerdings war dieser gedankliche Zusatz für Whitehead vor dem Hintergrund seines spezifisch religionischen 147 Zugriffes nicht naheliegend. Mit anderen Worten, es kann keine Rede davon sein, dass Whitehead eine natürliche Konstante »Religion« bzw. »Religiosität«

Vgl. FR, passim. Vgl. FR, 43. 147 Mit dem Terminus des »Religionischen« wird die Bezugnahme auf konkret existierende Religionen, deren Lehraussagen und Praktiken bezeichnet, im Unterschied zu dem Begriff der »Religiosität«, der – vor dem Hintergrund der individuellen Sinnfrage – auf die religiöse Haltung des/der einzelnen referiert. 145 146

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im Menschen verankert wissen wollte, so dass ein Mensch, der diese Konstante nicht in Anspruch nähme, sein genuines Wesen verfehlte. Des Weiteren ist, wie angedeutet, kritisch anzumerken, dass Whiteheads Analysis fidei quae, die Erarbeitung der drei Wertebenen im menschlichen Selbstbewusstsein, nicht zwangsläufig zu dem Schluss auf einen Gott(esbegriff) führt. Denkbar wäre auch der Abschluss dieses interpretatorischen Gedankenganges in Gestalt eines nicht-theistischen Ordnungsprinzips. Auch diesbezüglich wäre eine philosophische Deutungsoffenheit einzufordern. Whitehead hat hingegen mit guten Gründen den »theistischen Pfad« beschritten, was nicht zuletzt von der Gesamtanlage seines Prozessdenkens herrührt. In diesem Zusammenhang darf auf das Spezifikum der Whitehead’schen metaphysisch-fundierten, philosophischen Kosmologie aufmerksam gemacht werden, welche mit dem Begriff des Universums eine All-Einheitsperspektive darbietet, innerhalb derer Gott und Welt mit einander interagieren, d. h. einander wechselseitig transzendent und immanent sind. Dem berechtigten Anliegen einer sogenannten negativen Theologie trägt Whiteheads philosophische Kosmologie prinzipiell insofern Rechnung, als Whitehead durch die begriffliche Einführung der Differenz zwischen Sein/Realität und Werden/Wirklichkeit, welche für alle wirklichen Ereigniseinheiten, also auch für Gott in seiner Weltbezogenheit, gilt, die prinzipielle Uneinholbarkeit und Ineffabilität der Wirklichkeitsinnenperspektive einer jeden elementaren Erfahrungseinheit anlegt, was mit Bezug auf Gott besagt, dass dieser, weil er niemals vergeht, sondern ewig (Wirklichkeit) wird, für raum-zeitliche Ereignisse bzw. Sozietäten niemals gänzlich erfassund deutbar ist. Auch für die Debatte um die Begriffe »Temporalismus« und »Eternalismus« könnte ein Rückgriff auf Whiteheads differenzierte prozessphilosophische Sicht auf Gottes bipolare Wirklichkeit sich als weiterführend erweisen. Auf die interessanten Parallelen zwischen dem sogenannten »Offenen Theismus« und prozessmetaphysisch inspirierten Gotteskonzeptionen kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. In werkchronologischer Hinsicht lässt sich sagen, dass Whitehead die Linien, die er in RM angedeutet hat, in seinem opus magnum »Process and Reality« auszieht. Die Entfaltung eines ordnungsermöglichenden, zärtlich sorgenden und rettenden Gottes verdeutlicht noch einmal den in Whiteheads Gottdenken seit »Religion in 82 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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the Making« durchgehaltenen Gedanken der Immanenz Gottes, d. h. dessen Beziehung zu den raum-zeitlichen Geschöpfen, welche schließlich in die Folgenatur Gottes eingeborgen werden und mittels Gottes superjektiver Wirkung als verheißungsvoll-realer Möglichkeitshorizont erneut gegenwärtig sind für die (nachfolgenden) raum-zeitlichen Prozesse. 148 Die Zurückhaltung, die Whitehead dem Gedanken der Bewahrung und Rettung endlicher Sozietäten in RM angedeihen lässt, ist in PR nicht mehr anzutreffen. Diesbezüglich hat Whitehead seinen eigenen Anspruch eingelöst, auch religiöse Erfahrungen in seine metaphysisch fundierte Kosmologie aufzunehmen. Whiteheads differenziertes prozessphilosophisches Religionsund Gottesverständnis vermag den heutigen religions-, kultur- und zivilisations- sowie politisch-philosophischen Diskursen eine Vielzahl anregender Denkimpulse zu verleihen, die hier nur kurz angerissen werden können. Denn Whitehead bietet einen reflektierten Religions- und Gottesbegriff an, welche, weil sie zurückgebunden sind an allgemeinmenschlich zugängliche Wert-Erfahrungen (in) der Wirklichkeit-als-ganzer, eine vorzügliche denkerische Dialog- bzw. Vermittlungsebene eröffnen, die Gemeinsamkeiten in den Blick zu nehmen und als Handlungshorizonte zu etablieren erlaubt. Bereits Whiteheads Religionsbegriff, der den Wert des Individuums bzw. der Individuen für einander mit dem Wert der Welt-alsganzer definitorisch verbindet, schafft mit den beiden inhaltlichen Bestimmungen des »Solitär-Seins« und der »Welt-Loyalität« einen denkerischen Rahmen für die individuelle Selbst- und Weltdeutung des Menschen, welche diesen über sich hinausweist und in die Wirklichkeit-als-ganze hineinstellt: in die Herkunftsfamilie, in die jeweilige Gesellschaft und den jeweiligen Staat, in die Staaten- und Völkergemeinschaft, letztlich in den kosmisch-biotischen Ereigniszusammenhang hinein. Selb-Stand und Welt-Stand gehen Hand in Hand. Ein philosophisch-theologisches Gott-Denken, das den Akzent auf die persuasive, ordnungs- und damit lebensermöglichende Wirkung Gottes, dessen zärtliche (Für-) Sorge und Rettung all dessen, was bewahrenswert ist, legt, ein Gott-Denken, das in enger Verzahnung mit der Ausformulierung menschlich-zivilisatorischer WerteStandards Lebewesen, Menschen, Gesellschaften, Staaten, Zivilisa148

Vgl. PR, 350 f.

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tionen zugleich im Plural und als zivilisatorisch-universale Einheit zu konturieren gestattet, sprengt alle lebens- und gemeinschaftsnegierenden Partikularismen und (Kollektiv-) Egoismen auf und vermag auf diese Weise Wege zu einem friedvollen, erfahrungs- und herausforderungsgesättigten Leben-in-Gemeinschaft aufzuzeigen, das idealiter allen zugute kommen soll. Darüber hinaus kann Whiteheads Gottdenken als theistische Kriteriologie für die Triftigkeit jeglichen Gottdenkens innerhalb der verfassten (Welt-) Religionen fungieren, dergestalt, dass deren konkrete Ausdrucksgestalten nicht in Widerspruch zu dem von Whitehead rational erhobenen Gottesbegriff geraten dürften. 149 Die Bedenkung des von Whitehead formulierten, philosophischtheologischen Desiderates, ein rationales Verständnis der Entstehung und Entwicklung von Zivilisationen und der Fragilität des Lebens zu erarbeiten, darf an dieser Stelle, bis zu der hoffentlich die von Whitehead angebotenen übergreifenden Denk- und Werte-Standards sichtbar geworden sind, abgebrochen und der weiteren philosophischtheologischen Reflexion überlassen werden, durchaus mit der Absicht, dass auf der Grundlage von Whiteheads philosophischer Rekonstruktionsarbeit sowie der jeweiligen konkret-religionischen Kontextuiertheit eine Pluralität an Theologien auch des Lebens, der Zivilisation, der Religion etc. entstehen möge, deren jede einzelne um die grundlegenden Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Bestimmungen weiß.

7.

Folgerungen für die aktuelle Situation und Debattenlage

Vor dem Hintergrund der eingangs grob skizzierten aktuellen Situation und Debattenlage wird man das Whitehead’sche Religions- und 149 An die kriteriologische Funktion des Whitehead’schen Religions- und Gottdenkens wären auch die auf Pluralität hinzielenden Überlegungen Charles Taylors zu Ort und Funktion von Religion in einem säkularen Zeitalter anschlussfähig. Besonders mit dem Gedanken einer Komplementarität der »Intellektuellen Abrückungserzählung« (»Intellectual Deviation story«, abgekürzt: »ID«), d. h. der Erzählung von der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Religion, und dem »Reform-Meister-Narrativ« (»Reform Master Narrative«, abgekürzt: »RMN«) westkirchlichen Ursprungs, welches letztere ordungsstiftend-disziplinierende Momente einschließt, deutet Taylor die auch künftig gegebene, potentielle Relevanz von Religion für die Selbst- und Weltdeutung des Menschen an. Vgl. Taylor 2007, 773–776.

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Gottesverständnis, das in enger Verbindung mit einem philosophisch erarbeiteten Gesamtverständnis der Wirklichkeit-als-ganzer eine rationale Klärung und Rechtfertigung religiöser Erfahrung beinhaltet, als hilfreiches Modell für den lebensdienlichen Umgang mit der Andersartigkeit von konkreten Religionen, Kulturen und Menschen bezeichnen dürfen. Religion trägt nach Whitehead zur Anerkenntnis des wertvollen Selbstandes bei; Religion motiviert, den Wert und die Würde auch anderer Menschen und raum-zeitlicher Geschöpfe zu respektieren, die in gleicher Weise nach Selb- und Welt-Stand, nach Selbst- und Weltdeutung ringen. Und Religion stellt den Menschen in das Ganze des kosmischbiotisch-zivilisatorischen Ereigniszusammenhanges hinein, so dass einerseits die Einheit der Menschheit, deren Erlangung andererseits aber nicht um den Preis des Zwanges, der Gewalt und Unterdrückung, als normative Bestimmung menschlichen Verhaltens in den Blick rücken kann. Eigenstand und Selbstüberschreitung auf den anderen und das andere hin bilden infolge der prinzipiellen, gestuften Einbettung der Einzellebewesen/Menschen in größere Ereigniszusammenhänge keinen Widerspruch, sondern die konstitutive Grundspannung bzw. Spannweite, innerhalb derer sich das Leben als Prozess zu vollziehen hat. Infolge dieser prinzipiellen Relationalität aller Lebensprozesse bietet Whiteheads anthropologisches und zivilisatorisches Grundverständnis eine Vielzahl von Ansatzpunkten, um einer »Gesellschaft der Singularitäten« entgegenzusteuern. Versteht man »Solitär-Sein« als Gütesiegel menschlicher Reflexions- und Handlungsmächtigkeit, von welchem das In-das-Ganze-der-Wirklichkeit-hineingestellt-Sein, die sogenannte »Welt-Loyalität«, nicht abgelöst werden kann, sondern vielmehr als untrennbar mit jenem verbunden gedacht werden muss, dann ergibt sich daraus eine handlungsleitende Achtung vor den und Verantwortung für die Realisierung der Potentialitäten anderer, die infolge dessen nicht einfach als niederzuhaltende oder zu verdrängende Konkurrenten angesehen werden dürfen. 150

150 Vgl. Nussbaum 2018 u. Sen 2009, die beide – im Rahmen ihres auch gemeinsam ausgearbeiteten »capability-approach« – auf die Rahmenbedingungen für die reale Möglichkeit zur Entfaltung der individuellen Fähigkeiten reflektieren. Martha C. Nussbaum betont in ihrer Publikation den angstmindernden, gemeinschaftsstiftenden Impetus einer hoffnungsgegründeten Lebenspraxis. (Vgl. ebd., S. 197–245.)

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Whiteheads philosophisch-kosmologisch-zivilisationstheoretische Impulse regen zu einer schöpferisch-verantwortungsvollen Haltung des Gelten- und Lebenlassens, d. h. der Sensibilität sowohl in Bezug auf den eigenen Lebensdrang, die eigene Lebensfreude als auch in Bezug auf diejenige anderer, an; sie regen ferner dazu an, in dialogisch-reziproker Kommunikation mit anderen eigene Möglichkeiten so zu realisieren, dass die Möglichkeiten anderer nicht grundlegend negiert bzw. beschnitten werden. Aufrichtiges Überzeugenwollen kann im Gegensatz zu Gewaltanwendung eine segensreiche, zusammenführende Wirkung entfalten. Die Schöpfung der Welt – d. h. der Welt mit einer zivilisierten Ordnung – bedeutet den Sieg der Überzeugung über die Gewalt. 151

Diesbezüglich wäre die Spannweite zwischen Selbstzumutung und Selbstbegrenzung auf den verschiedenen bedachten sozietalen Ebenen fortwährend konstruktiv so auszuloten, dass die angedeutete Schieflage zuungunsten (der Potentialitäten) anderer nicht eintritt. Dies würde beispielsweise bedingen, dass die Triftigkeit sogenannter entwicklungspolitischer Maßnahmen, die zur Förderung von Bildung, Kultur, Infrastruktur, Wirtschaft etc. in einem anderen Land beitragen sollen, daran zu bemessen wäre, inwieweit jene nicht nur eigenen Interessen des wirtschaftlichen Wachstums und der Prosperitätssteigerung dienen, sondern auf selbsttranszendierende Weise das Ziel verfolgen, die Potentialitäten anderer Länder und Kulturen bzw. die Potentialitäten von deren Bewohnerinnen so zu wecken und zu fördern, dass diese auf nachhaltige Weise ein gutes Leben zu führen imstande sind. 152 Dieses gute Leben gipfelt Whitehead zufolge in der Lebensqualität des Friedens, welche die Akzeptanz und 151 Vgl. AI, 25. (Übersetzung von B. D.) – Vgl. dazu auch Sen 2006, der sich kritisch gegen einen zu eng gefassten Zivilisationsbegriff wendet, welcher einzelnen Menschen oder Gruppen ein exklusiv-zugespitztes Identitätsverständnis zu verordnen und infolgedessen zu gewaltsamen Konflikten beizutragen droht. (Vgl. ebd., S. 40– 58.) 152 Vgl. Sedlacek 2011, 323: »This book also tries to be an antithesis to the prevailing wanna-be value-free, zero-moral, positivistic, and descriptive-looking economics. There are many more normative elements in economics than we are ready to admit and to work with. There is much more in terms of values and normativeness in economics than there is in value-freeness and positivistic-descriptiveness.« – Vgl. auch Göpel 2016, die mit ihrem ideen-, normen-, prinzipien- und wertegeleiteten neuen ökonomischen Paradigma nachhaltig wirksame Veränderungen des »sozio-technischen Systems« zu initiieren beabsichtigt. (Vgl. ebd., S. 1–10, 119–147 u. 149–168.)

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den Respekt vor den Potentialitäten und zivilisatorischen Leistungen anderer beinhaltet. 153 Im Anschluss an das von Whitehead über Religion Referierte: Religion als praktisch-konkrete Realisierung allgemeiner philosophischer Einsichten 154, käme einer solchen friedvollen, von Akzeptanz geprägten Haltung der Charakter einer zukunftssensiblen Fühlungs- bzw. Handlungsfolgeabschätzung zu. 155 Sogenannte »primitive Lebensformen« auf Stammesebene dürften vor diesem Hintergrund, auch wenn sie über keine explizit-umfassende (philosophische) Kosmologie verfügen, nur dann als unzivilisiert bewertet werden, wenn sie den Willen zu einem versöhnlichen und friedlichen Miteinander mit nichtstammeszugehörigen Fremden gänzlich vermissen ließen, d. h. in der Begegnung mit anderen Lebensformen dem Innen-Außen-, Freund-Feind-Schema dauerhaft nicht entkämen. 156 Des weiteren müsste über die Restituierung von Land, das ursprünglich indigenen Völkern »gehörte«, auch wenn diese in der Regel keine justitiablen Rechtstitel nachweisen konnten und können, neu nachgedacht werden, da die Lebenskultur dieser Völker mit dem von ihnen bewohnten Land unlösbar verbunden ist. Als Beispiele seien die australischen Aborigines, aber auch die in Chile beheimateten Mapuche genannt, deren Anliegen Papst Franziskus bei seinem jüngsten Chilebesuch bekräftigt hat. Angeregt durch Whiteheads sowohl empirisch-soziologische als auch zentrale philosophisch-ideale Konturierung des Zivilisationsbegriffes könnte ein vierfaltiger Zivilisationsbegriff formuliert werden, der folgende inhaltliche Aspekte beinhaltet: (1) ideal-normative Gehalte (der/einer Zivilisation); (2) die Welt-Zivilisation-als-ganze 153 Vgl. dazu exemplarisch Göpel 2016, 63–67, die ebd. darlegt, auf welche Weise der chilenische Entwicklungsökonom Manfred Max-Neef als in die Praxis eintauchender »Barfußökonom« im Kontakt mit den ärmsten Bevölkerungsgruppen erlernen konnte, welche die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse sind. Max-Neef nennt in seiner Matrix folgende menschliche Grundbedürfnisse: Überleben (»Subsistence«), Schutz, Gefühle (»Affection«), Verstehen, Partizipation, Muße, Schöpferisch-Gestalten (»Creation«), Identität und Freiheit, welche er in Hinblick auf Sein (»Being«), Haben (»Having«), Tun (»Doing«) und Interagieren (»Interacting«) näherhin entfaltet. (Vgl. ebd., S. 64 f.) 154 Vgl. PR, 15. 155 Vgl. PR, 27. 156 Vgl. Schefold 2017, 77–81 u.100–106, wo Schefold die staatlichen Bemühungen in Indonesien erwähnt, den Friedensschluss zwischen zu Feindseligkeiten neigenden Stämmen zu fördern.

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in ihrer pluralen Verfasstheit; (3) partikulare Realisierungsgestalten der ideal-normativen Gehalte (in einzelnen Zivilisationen); (4) diachrone bzw. synchrone, real-existierende Zivilisationen. 157 Es sei unumwunden konzediert, dass die intensionale Bestimmung dessen, was Zivilisation inhaltlich kennzeichnet, leichter durchzuführen ist, als die extensionale bzw. referentielle. Festzuhalten ist indessen, dass sich die Attribuierung zivilisierten Verhaltens auf den unterschiedlichen sozietalen Ebenen nach den inhaltlich erarbeiten, zumal den philosophisch-idealen, Gehalten des Zivilisationsbegriffes zu richten hat. Technologischer Fortschritt, der nicht aus dem Bestreben nach und im Dienste von Wahrheit, Schönheit, Abenteuer, Kunst und Frieden erwächst und steht, stellt im Whitehead’schen Sinne nicht per se eine Garantie für zivilisatorischen Fortschritt dar. Die pragmatische Dynamik, die sich aus dieser Typisierung ableiten ließe, verliefe weg von dem »empirischen« Plural (4) hin zu dem an (1) ausgerichteten empirischen Singular (2). In Hinblick auf den Themenkreis »Religion(en)« wäre es Whiteheads Ausführungen zufolge Aufgabe der konkret-verfassten Religionen und der jeweiligen, diese explizit reflektierenden Theologien, menschheitlich-integrierend zu wirken und keine strikten Abgrenzungen zwischen »Innen« und »Außen«, »Wir« und »Ihr« vorzunehmen. Dies schlösse die Achtung Anders- und Nichtglaubender grundlegend mit ein, nicht zuletzt deshalb, weil diesen die unhintergehbare Würde und der unhintergehbare Wert des menschlichen Ringens um Selb- und Welt-Stand, Selbst- und Weltdeutung zuzuerkennen wäre. Dass Whiteheads Prozessphilosophie eine geeignete denkerische Dialog- und Vermittlungsebene für die unterschiedlichen Religionen und Zivilisationen dieser Welt bietet, lässt sich an einer Vielzahl einschlägiger Publikationen nachvollziehen. 158 Möglicherweise könnte mit dieser menschheitlich-inklusiven, Gemeinschaft ermöglichenden Haltung dem Abgleiten gerade junger Menschen, die auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens leicht beeinflussbar sind, in den militantreligiösen Extremismus wirkungsvoller entgegengewirkt werden. 159 Es wäre ein Fehlschluss, Whitehead infolge seines axiologischen, möglichkeitsorientierten Menschen-, Zivilisations-, Religions- und Vgl. Schröder 2005, 13–32. Vgl. z. B. Cobb 2012, passim. 159 Vgl. Reckwitz 2017, 423–428 u. bes. 429–442, wo er Sondierungen zu einem Weg aus der »Krise des Allgemeinen« vornimmt. 157 158

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Gottesverständnisses als weltfremden Träumer zu betrachten. 160 Whitehead weiß um die schmerzlichen Rückschritte und Fehltritte in der zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit. 161 Als umso wichtiger erscheint ihm vor diesem Hintergrund die zivilisierende Aufgabe der Philosophie, welche er darin erkennt, Wirklichkeit nicht einfach »abnickend« oder resignierend hinzunehmen, sondern umfassend zu deuten und schöpferisch zu gestalten. Aufrichtigkeit und Authentizität erfordern es, für die angedeuteten zivilisatorischen Qualitäten und Werte mit dem eigenen Leben, der eigenen Lebensführung einzutreten. Auch wenn selbstverständlich ein(e) isolierte(r) einzelne(r) nur schwerlich zivilisiert leben kann, so ist doch die Strahlkraft eines individuellen Lebens, das auf proexistent- oder symbolisch-praktische Weise den Qualitäten und Werten einer friedvollen Zivilisation Ausdruck verleiht, nicht zu unterschätzen. Dies versuchen dieser Tage unter anderen der mittlerweile in die Schweiz emigrierte russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski und die schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg. 162 Dies lebte und verkörperte in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Jesuitenpater Alfred Delp. Er geriet aufgrund seiner Nähe zum Kreisauer Kreis nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 in die Fänge der Gestapo und wurde am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee am Fleischerhaken hingerichtet. Ich bin überzeugt davon, dass Alfred North Whitehead, der nur zwei Jahre nach Delp eines natürlichen Todes starb, so er ihn (persönlich) gekannt hätte, dessen SelbstEinsatz und schöpferisch-segensreicher Lebenseinstellung ein hohes Maß an Wertschätzung entgegengebracht hätte. Pater Delps persönliche Reflexionen nach der Verurteilung zum Tode verdeutlichen exemplarisch, wozu ein religiöser, auf die Gesell-

160 Dagegen sprechen u. a. auch Whiteheads genaue und feinsinnige Beobachtungen des geistigen, politischen, wirtschaftlichen etc. Weltgeschehens, nachzuvollziehen unter anderem an seinen Überlegungen zur Lösung des Palästinakonfliktes aus dem März 1937: vgl. ESP, 44–59, bes. 56–59. »The hope of statesmen should be to elicit notions of mutual service and of the interweaving of habits so that the diversity of populations should issue in the fulfillment of the varied subconscious claims on life. (…) War can protect; it cannot create. Indeed, war adds to the brutality that frustrates creation. The protection of war should be the last resort in the slow progress of mankind towards its far-off ideals.« (Ebd., S. 58 f.) 161 Vgl. AI, passim. 162 Vgl. Pawlenski (2016) u. Thunberg (2019).

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schaft und die Welt hinbezogener Mensch auch angesichts zutiefst existenzbedrohender, gewalttätiger Mächte imstande ist: Auf jeden Fall muss ich mich innerlich gehörig loslassen und mich hergeben. Es ist Zeit der Aussaat, nicht der Ernte. Gott sät; einmal wird er auch wieder ernten. Um das eine will ich mich mühen: wenigstens als fruchtbares und gesundes Saatkorn in die Erde fallen. Und in des Herrgotts Hand. Und mich gegen den Schmerz und die Wehmut wehren, die mich manchmal anfallen wollen. Wenn der Herrgott diesen Weg will, – und alles Sichtbare deutet darauf hin – dann muss ich ihn freiwillig, und ohne Erbitterung gehen. Es sollen andere einmal besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind. (…) Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte, ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war, hat sein Leben einen Sinn gehabt. (…) Und so will ich zum Schluss tun, was ich so oft tat mit meinen gefesselten Händen und was ich tun werde, immer lieber und mehr, solange ich noch atmen darf: segnen. 163

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163

Delp (1984), S. 110–112: Aus den Reflexionen nach der Verurteilung, 11. 1. 1945.

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Ein Gott ohne Gewalt Zur Aktualität von Whiteheads Religionsphilosophie Reto Luzius Fetz

Wir leben in einer Zeit, in der Religion sich von ihrer hässlichsten Seite zeigt. Ich brauche die islamistischen Bewegungen nicht zu nennen, die im Namen Allahs Andersgläubige brutal töten, Terroranschläge verüben, Minderheiten zu vernichten versuchen und uralte Kulturgüter anderer Religionen blindwütig zerstören. Religion ist so zum Inbegriff des Pervertierten, Bösen und einer Barbarei geworden, die wir nicht mehr für möglich gehalten hätten. Auf einer ganz anderen Ebene erhält eine Sicht, die Religion mit Gewalt verbindet, von Seiten der Religionswissenschaft Unterstützung. Insbesondere den monotheistischen Religionen wird aufgrund ihres absoluten Geltungsanspruchs ein grundsätzliches Gewaltpotenzial zugeschrieben. Der Eine Gott ist ein eifernder Gott, der keine Nebenbuhler duldet, sondern fremde Götter und ihre Kulte verdammt, entsprechend zwischen Freund und Feind unterscheidet und zu einem Vernichtungskampf gegen Andersgläubige aufruft. So kann man es nicht nur im Koran, sondern auch im Alten Testament lesen. Gewalttätige Gläubige berufen sich auf einen Gott der Gewalt. Inwiefern der Eine Gott des Monotheismus wirklich ein gewalttätiger Gott ist, oder seine Gläubigen ihn fälschlich dazu machen 1, ist eine schwierige Frage, die vor allem der Ägyptologe Jan Assmann ins Rollen gebracht hat und die in den letzten Jahren kontrovers diskutiert wurde. 2 Liest man vor diesem Hintergrund Whiteheads Schriften zur Religion, so fällt sofort auf, dass Whitehead diese Seite von Religion keineswegs leugnet, sondern sie vielmehr mit aller Deutlichkeit herausstreicht. Er widersetzt sich vehement der uncritical association of religion with goodness, der »unkritischen Assoziation der Religion Vgl. RM, 26; RMd, 31. Die Seitenzahlen zu RM beziehen sich auf die Ausgabe Cambridge: University Press 1927. 2 Vgl. Schieder 2014. 1

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Ein Gott ohne Gewalt

mit etwas Gutem«, die durch die Fakten schlicht widerlegt werde. Wir sollten nicht von der Idee besessen sein, dass Religion notwendigerweise etwas Gutes sei. Das wäre, schreibt er, eine gefährliche Täuschung, a dangerous delusion. Religion könne im Gegenteil etwas sehr Schlechtes sein 3. Man fühlt sich geradezu in unsere Zeit versetzt, wenn Whitehead von der Religion sagt, sie könne the last refuge of human savagery, die »letzte Zuflucht menschlicher Grausamkeit« 4 sein. Wenn Whitehead so schonungslos und unverblümt die negative Seite von Religion herausstellt, so bleibt er allerdings nicht bei ihr stehen. Sie dient ihm vielmehr als Kontrastfolie für das positive Bild von Religion. Und die negative beziehungsweise positive Wertung von Religion hängt nun letztlich genau davon ab, ob der Gott der Religion ein Gott der Gewalt ist, die zerstörerisch werden kann, oder ob er ein Ideal ist, das ganz anders wirkt, nämlich durch das, was Whitehead persuasion, Überzeugungskraft nennt. Damit ist die Thematik umrissen, der ich in diesem Beitrag nachgehen möchte. Ich habe mir eine Doppelaufgabe gestellt. Zum einen möchte ich klären, wie Whitehead die Religion sowohl negativ als auch positiv werten kann, und welche Rolle dabei die Verbindung von Religion mit Macht und Gewalt beziehungsweise die Überwindung eines solchen Typus von Religion spielt. Zum anderen möchte ich Whiteheads Ausführungen zur Religion auf ihren Aktualitätswert hin befragen und zu eruieren versuchen, inwieweit seine Gedanken, obwohl im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts niedergeschrieben, auch heute noch relevant sind.

Whiteheads Entwicklungstheorie von Religion Stecken wir zunächst den Rahmen ab, in dem sich Whiteheads Aussagen bewegen. Whitehead qualifiziert Religion nicht in einem absoluten Sinn als »gut« oder »schlecht«, sondern relativ zu einem Entwicklungsstand, sei es der Menschheit, sei es des Individuums. Die Religion wird als »gut« bewertet, wenn sie mit der allgemeinen Entwicklung Schritt hält oder ihr sogar noch vorangeht, womit sie als Fortschrittsfaktor oder als Bildungsprinzip wirken kann. Für White3 4

Vgl. RM, 7; RMd, 16 RM, 26; RMd, 31.

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head vermag die Religion tatsächlich die Rolle eines Hauptinstruments für den Fortschritt zu spielen, und sie hat es in der Vergangenheit auch getan. 5 Als »schlecht« muss hingegen die Religion gelten, wenn sie hinter der allgemeinen Entwicklung zurückbleibt und diese hemmt; sie kann so zu einer destruktiven Kraft werden, die in die Barbarei zurückführt. Von daher versteht sich Whiteheads wiederholt ausgesprochene Forderung, die Religion zu reinigen und sie von ihren barbarischen Elementen zu säubern. 6 Whiteheads Entwicklungstheorie von Religion steht so im Rahmen seiner Zivilisationstheorie, die als Wertmaßstab fungiert. Er hat diese vor allem im Schlussteil von Adventures of Ideas ausführlich dargelegt. Religion wird hier im umfassenden Panorama einer Kulturtheorie verortet, die zunächst vom Basiswert des Wahren ausgeht, der in der Wissenschaft zu seiner vollen Form findet. In der umgreifenden Erfahrung des Schönen gründet die Kunst als eine zweite, breiter angelegte Kulturform. Die Religion wird nun in Weiterführung der Moral zur Grundlage und zum Sinnesfundament der Regeln und Ideale einer Gesellschaft. Durch die Religion erhebt sich die Person über ihre individuellen Bedürfnisse und verankert sich in einem Absoluten. Die Religion hat so am Ende wesentlichen Anteil an jener »Harmonie der Harmonien«, durch die der Einzelne über alle glücklichen und tragischen Lebensmomente hinaus jene Erfüllung und Ruhe findet, die Whitehead als »Frieden« bezeichnet. 7 Was nun die inhaltliche Wertung von Religion angeht, so wird sie wie schon angedeutet durch ein Gegensatzpaar bestimmt, das sich im Lauf der Religionsgeschichte immer stärker ausdifferenziert. Auf allgemeine Formeln gebracht ist es der Gegensatz von Macht (power) und Überzeugung (persuasion), von brutaler physischer Kraft und ideeller Anziehung, von Destruktion und aufbauender Liebe. Dieses Gegensatzpaar konkretisiert sich sowohl im Gottesbild als auch in den Vgl. RM, 26; RMd, 31. Vgl. RM, 7, 26, 44 f.; RMd, 16, 30, 45; PR, 342 f.; PRd, 611 f.; AI, 218 f.; AId, 321 f. 7 Vgl. AI, 309–381; AId, 423–512; bes. AI, 341, 353, 373, 381; AId, 462, 476, 511 f. – Whiteheads Einfügung der Religion in eine umfassende Zivilisationstheorie, in der sie ihre barbarischen Elemente abstoßen soll, läuft manchmal Gefahr, das Eigene der Religion selbst auszumerzen. Wenn Whitehead vorschlägt, das letzte Buch der Bibel, die Geheime Offenbarung des Johannes, durch die von Thukydides stilisierte Rede des Perikles auf die Gefallenen von Athen als zivilisatorisches Ideal zu ersetzen (AI, 218 f.; AId, 321 f.), bedeutet das offensichtlich einen Bruch mit der genuin religiösen Intention dieses Buches, mit dem sich ein Christ nicht abfinden kann. 5 6

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Ein Gott ohne Gewalt

Auswirkungen von Religion. Gott kann ein Gott der Gewalt oder der Liebe sein, seine Anhänger können sich als fanatische Gewalttäter oder Zeugen wahrer Hingabe zeigen. Whitehead hat damit die gleichen extrem divergierenden Phänomene im Auge, die auch für uns Heutige das widersprüchliche Bild von Religion bestimmen. Eine diesen Rahmen füllende Entwicklungstheorie von Religion hat Whitehead nun in Religion in the Making vorgelegt. Der Titel der deutschen Übersetzung, »Wie entsteht Religion?«, trifft Whiteheads Anliegen nur zur Hälfte. Es geht ihm nämlich nicht bloß darum, wie Religion entstanden ist, weil Religion für Whitehead immer noch im Werden, d. h. in the making, ist. Worauf es Whitehead letztlich ankommt, ist nicht, eine Entstehungsgeschichte von Religion zu schreiben, sondern ihre unverzichtbare Funktion auch und gerade in der modernen Zivilisation nachzuweisen. Whiteheads Entwicklungstheorie von Religion präsentiert sich als eine Stadientheorie, die die Religion drei Stadien durchlaufen lässt. Die Beschreibung dieser drei Stadien hat unterschiedlichen Charakter, sodass nicht immer evident ist, womit man es eigentlich zu tun hat. Wer sich in der Diskussion von Stadien- oder Stufentheorien auskennt, weiß, dass dies ein generelles Problem ist, das insbesondere bei den Stufentheorien der Erkenntnis- und Moralentwicklung von Piaget und Kohlberg kontrovers diskutiert wurde. Handelt es sich bei einer Stufentheorie um eine deskriptive Theorie, die aufgrund empirischer Befunde beschreibt, wie in einem bestimmten Bereich die Entwicklung tatsächlich verläuft, so dass man genau genommen nur von früheren oder späteren Stadien sprechen dürfte? Oder handelt es sich um eine präskriptive Theorie, die normativ festlegt, wie die Entwicklung erfolgen soll, in dem sie die späteren Stufen als die höheren bewertet und sie so als Entwicklungsziele ausgibt? Liegt vielleicht sogar eine Vermischung beider vor, die auf unstatthafte Weise aus der Beschreibung tatsächlicher Entwicklungsverläufe auf deren normative Geltung schließt und so einen naturalistischen Fehlschluss begeht? Es ist hier nicht der Ort, die diesbezügliche Diskussion um Piaget und Kohlberg aufzurollen, in denen beiden Autoren zumindest am Anfang nicht ganz zu Unrecht ein solcher Fehlschluss vorgeworfen werden konnte. Die Diskussion endete mit einer sauberen Lösung, nämlich mit der von Habermas vorgeschlagenen sogenannten Komplementaritätsthese. Ihr zufolge handelt es sich bei anspruchsvollen Stufentheorien um komplexe Theoriegebilde, bei denen man methodisch strikt zwischen zwei komplementären Theo95 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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rieteilen unterscheiden muss, nämlich dem deskriptiven, empirischen Teil und dem normativen, logischen oder philosophischen Teil, wobei beide Teile im Idealfall über eine Metatheorie miteinander zu verbinden sind. 8 Betrachten wir nun mit einem solchermaßen geschärften Blick Whiteheads zentrale Aussage. Sie lautet: (Religion) runs through three stages, if it evolves to its final satisfaction. It is the transition from God the void to God the enemy, and from God the enemy to God the companion. 9 »(Religion) durchläuft, wenn sie sich bis zu ihrer abschließenden Erfüllung entwickelt, drei Phasen. Sie ist der Übergang von Gott, der Leere, zu Gott, dem Feind, und von Gott, dem Feind, zu Gott, dem Gefährten.« 10

Was dem Whitehead-Kenner hier sofort auffällt, ist der Terminus final satisfaction, der die abschließende dritte Phase kennzeichnet. Final satisfaction ist ein Ausdruck aus Whiteheads ureigenster Metaphysik, der die Erfüllung benennt, die den Prozess der Selbstwerdung einer actual entity abschließt, weil hier ihrem Drang zur Selbstverwirklichung »Genüge getan« ist. Er bezeichnet also den terminus ad quem der ganzen Entwicklung im Sinne der Zielursache, die ihr Ziel erreicht hat. Daraus geht schon hervor, dass die so beschriebene dritte Phase eine idealtypische und damit normative Bedeutung hat. Erreicht wird sie, wenn überhaupt, nur von wenigen. Das geht auch aus ihrer inhaltlichen Beschreibung hervor. In ihr findet der religiöse Mensch von Gott dem Feind zu Gott the companion. Wiederum haben wir es mit einem typisch Whitehead’schen Terminus zu tun, ja mit dem eigentlichen Zentralbegriff seiner Religionsphilosophie. Auch er bezeichnet ein Ideal, weswegen Whitehead an anderer Stelle vom ideal companion 11 und am Schluss von Process and Reality vom great companion 12 spricht. Die dritte und letzte Phase der Religionsentwicklung im Sinne Whiteheads ist also eindeutig jene, die seinem Ideal von Religion entspricht, die das darstellt, was Religion im besten Fall sein kann, aber in der Regel nicht ist und damit normative Geltung hat. Ganz anders die zweite Phase, wo Gott the enemy ist, der potenzielle Feind, den es

Vgl. Fetz 1990, 102–111. RM, 6. 10 RMd, 15. 11 Vgl. RM, 139; RMd, 115. 12 Vgl. PR, 351; PRd, 626. 8 9

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zu versöhnen gilt. Das ist für Whitehead die häufigste Form von Religion, die wir religions- und individualgeschichtlich in unzähligen Varianten vorfinden, womit sie empirisch fundiert ist. Die zweite Phase hat also einen deskriptiven Charakter, im Unterschied zum präskriptiven Charakter der dritten Phase. Diesen Unterschied gilt es im Auge zu behalten, wenn wir die Validität von Whiteheads Aussagen kritisch überprüfen wollen. Denn für die zweite Phase gelten entsprechend andere Kriterien als für die dritte. Bei der zweiten Phase muss sich die historische oder individualgeschichtliche Beschreibung dieser Durchschnittform von Religion als zutreffend erweisen, bei der dritten Phase das evozierte Ideal sich als stimmig ausweisen.

Von Gott dem Feind zu Gott the Companion Zur ersten Phase, zu Gott, der Leere, erfahren wir bei Whitehead nicht viel mehr, als dass wir es hier mit einem Prinzip zu tun haben, das hinsichtlich seiner Werthaftigkeit unbestimmt bleibt. 13 Mit der zweiten und dritten Phase hingegen, d. h. mit Gott dem Feind und Gott dem Gefährten, stoßen wir auf die konkrete Ausdifferenzierung von Religion im vorhin beschriebenen negativen und positiven Sinn. Betrachten wir diese beiden Phasen und den Übergang näher. Whitehead untersucht die Entstehungsgeschichte von Religion unter zwei Aspekten. Der erste besteht in einer Analyse der Faktoren, die nacheinander auftreten und die Religion bestimmen. Whitehead unterscheidet deren vier: Ritual, Gefühl (emotion), Glaube (belief) und Rationalisierung. 14 Damit verbunden ist der zweite Aspekt, die wechselnde Sozialform von Religion. Religion ist in ihren frühen Erscheinungsformen etwas Sozietäres, sozial Eingebettetes, am Ende jedoch etwas Solitäres, das das Individuum als Individuum betrifft. Greifen wir aus dem vielfältigen Belegmaterial die allgemeinen Punkte heraus. Das Ritual als der älteste Faktor geht bis in die graue Vorzeit der Religion zurück und lässt sich schon bei Tieren beobachten. Rituale sind habituell eingespielte Verhaltensweisen, die keine direkte Relevanz mehr für das Überleben haben, aber die Bedeutung von Hand-

13 14

Vgl. RM, 48; RMd, 49. Vgl. RM, 8; RMd, 16.

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lungen hervorheben und sie mit einem Gefühl verbinden. Emotionen können durch Rituale eigens stimuliert und immer mehr differenziert werden. Rituale sind grundsätzlich soziale Phänomene, die sich am Anfang auf der Ebene des Stammes abspielen. 15 Um sie zu erklären, wird der Mythos als die anfängliche Form der Rationalität eingeführt. Mit ihm tritt nach Ritual und Gefühl der Glaube als dritter Faktor der Religion auf. Der Glaube bildet insofern ein neues Bildungsprinzip im Aufstieg der Menschheit, als er eine Vorstellungskraft erzeugt, die die Grenzen des unmittelbar Gegebenen übersteigt. Begriffe entstehen, die eine Welt jenseits der Sinneserfahrung evozieren. Solche Glaubensvorstellungen sind jedoch wesentlich die Sache eines Kollektivs und damit sozial bedingt. 16 Mit dem Aufkommen des vierten Faktors, der Rationalisierung, fängt eine neue Epoche der Religionsgeschichte an. Die Religion hört nun auf, ein wesentlich soziales Phänomen zu sein, und nimmt individualistische Züge an. Wir treten damit laut Whitehead in die »Endphase« der Religion ein, die, wie er schreibt, »die Note des Solitärseins« 17 einführt. Whitehead lässt diese »moderne« Epoche der rationalen Religion schon sehr früh beginnen, nämlich vor rund sechstausend Jahren. Ihr wichtigstes Zeugnis ist die Bibel, genauer das Alte Testament, wo wir bei den Propheten und in den Weisheitsbüchern ein Streben nach allgemeinen ethischen Prinzipien und religiösen Einsichten finden, die sich über die Vorschriften und Bräuche einer Stammesreligion erheben. »An Liebe habe ich Wohlgefallen und nicht an Schlachtopfern, und an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern« 18, lässt der von Whitehead zitierte Prophet Hosea Gott sagen. Damit wird eine rationale Kritik am Tradierten zugelassen. Rationale Religion lässt sich darum für Whitehead definieren als eine Religion, die ihre Glaubensvorstellungen und Rituale kritisch zu reorganisieren vermag, mit dem Ziel, daraus eine kohärente Lebensordnung herzuleiten, sowohl hinsichtlich des Denkens als auch der Lebensführung. 19 Kritik am Überkommenen hat zur Folge, dass man sich aus der selbstverständlichen Einbindung in eine Gemeinschaft löst. Deshalb

15 16 17 18 19

Vgl. RM, 10–13; RMd, 18–20. Vgl. RM, 13–17; RMd, 20–24. RM, 18; RMd, 14. RM, 25; RMd, 30. Vgl. RM, 20; RMd, 16.

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ist die Geschichte der rationalen Religion voll von Beispielen, bei denen Einzelne aus der gewohnten Sozialstruktur ausbrechen und sowohl im geographischen wie im geistigen Sinn neue Räume aufsuchen. Mit dem Reisen bildet sich ein überregionales Bewusstsein aus; ein Weltbewusstsein entsteht. Mit dem Weltbewusstsein verlagert sich auch die Frage, was gut und richtig ist. Sie nimmt nun eine prinzipielle Form an, statt sich wie bisher mit dem zu begnügen, was gewohnheitsmäßig in den Grenzen eines Stammes oder Volkes galt. Rationale Religion hat entsprechend das Universum zu ihrem Korrelat. 20 Sie erhebt sich über alle kollektiven Gefühle, die die elementare Tatsache außer Acht lassen, dass der Mensch letztlich in diesem Universum mit sich allein ist, nur auf sich gestellt. 21 Damit ist das angesprochen, was nach Whitehead das »Herz« des zu sich gekommenen religiösen Bewusstseins ausmacht: das Solitärsein. 22 Im Solitärsein hat die rationale Religion ihren Ursprung. 23 In der Stunde der Entscheidung sind alle großen religiösen Gestalten allein: Prometheus, der an den Felsen gekettet ist, Mohammed, der in der Wüste grübelt, Buddha, der in seine Meditation versenkt ist, Christus am Kreuz. 24 Die genuine religiöse Beziehung ist solus cum solo. 25 Religion ist darum für Whitehead »das, was das Individuum aus seinem eigenen Solitärsein macht« 26. Das ist zwar nicht Whiteheads einzige allgemeine Beschreibung von Religion. Er fasst Religion auch als »die Kraft des Glaubens, der die Innerlichkeit reinigt«, und als »die Kunst und Theorie des inneren menschlichen Lebens« im Hinblick auf das, was in der Wirklichkeit beständig ist. 27 Aber diese beiden anderen Definitionen haben nicht das gleiche Gewicht, werden nicht so oft vorgetragen und bringen nicht auf die gleiche Weise den genuin Whitehead’schen Einstieg in die Religionsproblematik zum Ausdruck. Das zeigt sich auch darin, dass Whitehead nur den Einstieg über das Solitärsein in Process and Reality weiter verfolgt. Und nur weil White-

20 21 22 23 24 25 26 27

Vgl. RM, 28 ff.; RMd, 32 ff. Vgl. RM, 6; RMd, 15. Vgl. RM, 9; RMd, 17. Vgl. RM, 48; RMd, 47. Vgl. RM, 9; RMd, 18. Vgl. ESP, 65. RM, 6, 37, 48; RMd, 15, 39, 47. RM, 47; RMd, 47.

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head die Religiösität ganz zentral im Solitärsein begründet sieht, kann er emphatisch behaupten, wer nie solitär sei, sei nie religiös. 28 Was bedeutet nun das Solitärsein? Man wird es nicht mit dem Einsamkeitsgefühl des modernen Menschen gleichsetzen dürfen, obwohl auch das mitschwingt. Für Whitehead resultiert das Solitärsein aus der Universalität des rationalen religiösen Bewusstseins, das nicht mehr auf einen Stamm oder ein Volk beschränkt ist. Universalität beruht auf der Ablösung von der unmittelbaren Umwelt, um etwas Vernünftiges und Beständiges zu finden, das über Ort und Zeit steht. 29 Das solitäre Bewusstsein geht vom Selbstwertgefühl aus, weitet sich aber zum Begriff einer Welt von Werten, die einander intensivieren oder sich wechselseitig zerstören. Damit stellt sich ihm die Frage nach seinem eigenen Weg und dem Wert, der sein Leben zur Erfüllung bringt. Ein solcher Wert kann nur gefunden werden, wenn es dem solitären Bewusstsein gelingt, seinen individuellen Anspruch mit den Bedingungen des objektiven Universums zu verschmelzen. Authentische universelle Religion ist darum nach einer tiefgründigen Whitehead’schen Formel »Welt-Loyalität« 30. Dieser Übergang von den sozial bedingten Religionsformen zum Solitärsein der rationalen Religion geht nun mit einem fundamentalen Wandel des Gottesbildes und damit der religiösen Einstellung einher. Der Gott eines Stammes oder Volkes ist ein Kriegsherr, der seine Gläubigen beschützt und zum Sieg führt. Er darf nicht gereizt werden, um nicht mit Vernichtung zu drohen, sondern muss immer wieder versöhnt werden. Eine solche Religion ist, wie Whitehead treffend sagt, ein »Zweig der Diplomatie« 31. Die rationale Religion hingegen, die in einem Weltbewusstsein gründet, löst sich von solchen Bindungen an einen Stammes- oder Volksgott, um nach einem Gott zu fragen, der für alle gleich gut und gerecht ist. Der Begriff der Güte Gottes tritt damit an die Stelle seines despotischen Willens. Es geht nicht mehr darum, diesen Willen zu erforschen, damit man vor Unheil bewahrt bleibt, sondern man versucht, seine Güte zu erkennen, um zu sein wie er. Aus dem Feind, den man beschwichtigt, wird der Gefährte, den man nachahmt. 32 Das ist nun genau der Übergang

28 29 30 31 32

Vgl. RM, 7; RMd, 15 f. Vgl. RM, 37; RMd, 39. RM, 49; RMd, 48. RM, 30; RMd, 33. Vgl. RM, 30; RMd, 34.

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von der zweiten zur dritten und letzten Religionsphase, von Gott dem Feind zu Gott dem Gefährten. Whitehead illustriert diesen Wandel hauptsächlich anhand der Bibel. Im Alten Testament preisen die Psalmen die Macht Gottes, des »Herrn der Heerscharen«, der sicher ein gütiger und gerechter Gott ist, aber auch die Feinde Israels zerschmettert und zu seinem Fußschemel macht. In solchen Psalmen lebt laut Whitehead eine barbarische Gotteskonzeption weiter, nämlich die Gleichsetzung Gottes mit einem glorreichen Tyrannen der damaligen östlichen Reiche, der seine Macht nach seinem Gutdünken ausübt. »Ich fürchte«, schreibt Whitehead, »dass sogar die Erde selbst nicht die Gebeine all derer aufnehmen könnte, die geschlachtet wurden, weil Menschen von der Anziehungskraft (einer solchen Konzeption) berauscht waren.« (…) »Die Verherrlichung der Macht (Gottes) hat mehr Herzen gebrochen als geheilt.« 33 Die entscheidende Abkehr von einer solchen Konzeption kommt für Whitehead mit Jesus. Die Metapher für Gott ist nicht mehr der Herrscher, sondern der Vater. Sein Reich ist nicht von dieser Welt, aber inmitten von uns. 34 Jesus triumphiert in seinem Leben nicht mit der Gewalt, die andere überwältigt. Seine Macht liegt in der Gewaltlosigkeit. Sie wirkt mit der Überzeugungskraft eines höchsten Ideals. Dieses Maß, das Jesus gesetzt hat, ist laut Whitehead der einzige Grund, der es rechtfertigt, die Weltgeschichte in eine Zeit vor und eine Zeit nach Christus aufzuspalten. 35 Was Jesus gelehrt hat, kommt am reinsten im Evangelium und in den Briefen des Johannes zum Ausdruck. Auf ihn geht der Satz zurück, »Gott ist Liebe« 36. Aber aufs Ganze gesehen wurde laut Whitehead aus dem Evangelium der Liebe ein Evangelium der Furcht. Schon im Alten Testament heißt es in einem der Sprüche, die Furcht des Herrn sei der Anfang der Weisheit. Für Paulus wird der Herr bei seiner Wiederkunft Vergeltung an den Nichtgläubigen üben und sie dem ewigen Verderben übergeben. Die Folge war, dass die Christenheit sich entgegen der Frohbotschaft aus zutiefst verängstigten Völkern zusammensetzte. 37

33 34 35 36 37

RM, 44 f.; RMd, 44 f. Vgl. RM, 60 f.; RMd, 56. Vgl. RM, 47; RMd, 46. RM, 61; RMd, 57. Vgl. RM, 63; RMd, 58 f.

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Von hier aus macht Whitehead den Sprung in die Gegenwart. Seine Diagnose lautet: »Die moderne Welt hat Gott verloren und sucht ihn.« Dagegen kennt er nur ein einziges Rezept: »Will die moderne Welt zu Gott finden, dann muss sie ihn durch Liebe und nicht durch Angst finden, mit der Hilfe von Johannes und nicht von Paulus.« 38 Ich werde noch darauf zurückkommen, warum meines Erachtens Whitehead richtig sieht, wenn er intuitiv eine Nähe zwischen seiner Gottesauffassung und dem Johannesevangelium herstellt. Bisher sind wir den Ausführungen Whiteheads in Religion in the Making gefolgt, wo er sich für seine Deutung der Religionsgeschichte hauptsächlich auf die Bibel beruft. In Process and Reality 39 fasst Whitehead allgemein die Denktraditionen zusammen, die zum klassischen Gottesbegriff geführt haben. Er unterscheidet deren drei: Gott wurde nach dem Bild eines herrschenden Kaisers gedacht, oder mit den Propheten des Alten Testaments und mit Kant als eine Personifizierung moralischer Energie aufgefasst, oder mit Aristoteles als ein philosophisches Prinzip im Sinne des unbewegten Bewegers konzipiert. Aber der galiläische, jesuanische Ursprung des Christentums, mit der Liebe als Zentralmotiv, legt eine andere Gottesauffassung nahe, welche quer zu diesen drei Auffassungen steht. Denn – wie Whitehead mit feiner Ironie sagt: »Liebe herrscht weder, noch ist sie unbewegt; auch ist sie ein wenig nachlässig gegenüber der Moral« 40. Sieben Jahre nach dem Erscheinen von Religion in the Making, 1933, greift Whitehead im Religionskapitel von Adventures of Ideas das Thema wieder auf, diesmal aber in einer philosophischen und theologischen Perspektive. Das Kapitel trägt den Titel The New Reformation, und entsprechend legt hier Whitehead dar, wie sich seiner Meinung nach vor allem die protestantischen Kirchen wieder reformieren sollten. Zu diesem Zweck geht er auf die Ideen zurück, die die Kirchengeschichte geprägt haben. Wir finden hier in einer geistesgeschichtlichen Perspektive die gleichen Antagonismen wie in Religion in the Making wieder. Primärer Bezugspunkt ist Platon. Ihm, dem »weisesten der Menschen«, wird die Einsicht zugeschrieben, dass die göttliche persuasion, die Überzeugungskraft also, mit der Gott wirkt, das eigentliche Fundament der Weltordnung sei, und nicht das Spiel blinder Natur38 39 40

RM, 62, 64; RMd, 58 f. Vgl. PR, 342 f.; PRd, 611 f. PR, 343; PRd, 612.

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kräfte. Laut Whitehead ist das eine der größten intellektuellen Entdeckungen der Religionsgeschichte. Sie hat bis heute ihre Anziehung bewahrt und ist das eigentliche Motiv, das die Religion stimuliert. Ihr steht als Alternative die früher und immer noch vorherrschende Lehre gegenüber, dass Gott eine mit der Gewalt des Donners niederfahrende Kraft sei, die sich alles unterwirft. Metaphysisch sublimiert, ergibt sich daraus die Vorstellung des allmächtigen Gottes als der höchsten Instanz, der über die ihm untergeordnete Welt herrscht. 41 Das Christentum hat sein Vorbild im Leben Jesu, das für es die Offenbarung Gottes und seines Wirkens ist. Die Botschaft Jesu sind Friede, Liebe, Sympathie, gewaltlose Hingabe an den Willen des Vaters, die bis in den Tod geht und darin ihre höchste Vollendung findet. Für Whitehead kann kein Zweifel bestehen, dass Jesus damit durch die Tat vorgelebt hat, was Platon auf der Ebene der Theorie erahnte. 42 Die theologische Umsetzung dessen, was Christus gelebt hatte, ist für Whitehead eine andere Sache. Die Schulen von Alexandrien und Antiochien übernahmen von Platon seine schwächste Seite, nämlich seine Herabsetzung der Welt zu einer bloßen Nachahmung Gottes. Sie vermochten es nicht, Platons Intuition eines durch Persuasion wirkenden Gottes in eine Theologie umzusetzen. Stattdessen griffen sie auf die barbarische Konzeption eines Gottes zurück, der zur Welt in der gleichen Beziehung steht wie ein ägyptischer oder mesopotamischer König zu seinen Untertanen. Schon in Process and Reality hatte Whitehead herausgestellt, wie die lateinischen Theologen des Westens Gott die Attribute gaben, welche exklusiv den römischen Kaisern gehörten. 43 Die Gott zugeschriebene Allmacht hatte zur Folge, dass Gott die Verantwortung für alles Geschehen in der Welt zugeschrieben wurde. Humes Dialogues Concerning Natural Religion kritisieren unwiderleglich eine solche Gottesauffassung. 44 Eine Gottesvorstellung, welche Gott mit Gewalt assoziiert, kann laut Whitehead in einem aufgeklärten modernen Bewusstsein nur einen Abwehrinstinkt auslösen. Eine solche Rede von Gott steht im Widerspruch zur Psychologie moderner Zivilisation. 45 Aufgabe einer philosophischen Theologie muss es deshalb sein, den Aufstieg der

41 42 43 44 45

Vgl. AI, 205, 213; AId, 306, 315 f. Vgl. AI, 214; AId, 316. Vgl. PR, 342; PRd, 611 f. Vgl. AI, 217; AId, 320. Vgl. SMW, 237; SMWd, 221.

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Zivilisation rational zu durchdringen und die feineren und zarteren Momente des Lebens in eine Welt zu integrieren, welche oberflächlich betrachtet nur den sinnlosen Zusammenprall blinder Triebkräfte kennt. 46 Das verlangt eine Reinigung der Religion von ihren barbarischen Elementen. Es darf nicht sein, dass eine Religion barbarischer ist als die Zivilisation, in der sie sich vorfindet. 47 Sie müsste im Gegenteil das Element menschlicher Kultur sein, das sich stetig verfeinert und emporentwickelt. 48

God the companion in Whiteheads Metaphysik Religion geht für Whitehead unweigerlich mit einer Metaphysik zusammen, die im Rahmen einer umfassenden Wirklichkeitstheorie der Religion ein Sinnesfundament zu geben und die religiösen Glaubensvorstellungen kritisch zu rechtfertigen vermag. 49 Whitehead hat selbst nicht nur eine solche Metaphysik konzipiert, sondern in sie auch seine eigenen religiösen Überzeugungen eingearbeitet, insbesondere in den letzten beiden Teilen von Religion in the Making und im Schlussteil von Process and Reality. Die Bedeutung, die Whitehead seiner religionsphilosophischen Bestimmung von Gott als companion beimisst, zeigt sich nun gerade darin, dass er sie in diesem metaphysischen Kontext ihrer endgültigen Auslegung zuführt. Whiteheads metaphysische Interpretation von God the companion muss darum auch den Abschluss unserer Bemühungen bilden, Whiteheads Gott als jemanden zu verstehen, der uns nicht mit der Macht eines potentiellen Feindes, sondern mit der verstehenden Liebe eines Freundes begegnet. Das Verhältnis von Gott und Welt muss laut Whitehead so gedacht werden, dass damit nicht die allgemeinen metaphysischen Prinzipien außer Kraft gesetzt werden, sondern vielmehr ihre höchste Anwendung finden. 50 Wie Whitehead Gott denkt, müsste folglich in genauer Entsprechung zu seiner Metaphysik dargelegt werden. Aber es ist hier nicht der Ort, umfassend auf Whiteheads Metaphysik ein-

46 47 48 49 50

Vgl. AI, 218; AId, 321. Vgl. AI, 220; AId, 323. Vgl. SMW, 238; SMWd, 222 f. Vgl. RM, 71–73; RMd, 65–67. Vgl. PR, 343; PRd, 613.

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zugehen. Wir müssen uns darauf beschränken, seine Auffassung von God the companion in seine Konzeption Gottes einzuordnen und die Tiefendimensionen zu eruieren, die sie dadurch gewinnt. Whiteheads wichtigste Differenzierung der vielfältigen Aspekte Gottes ist die Unterscheidung seiner zwei »Naturen«, der primordial und der consequent nature. Bringen wir diese Unterscheidung auf die kürzest möglichen Formeln. In seiner primordial nature, welche der Schöpfung vorangeht und sie ermöglicht, ist Gott das Reich der ewigen Ideen, der eternal objects, in dem die Weltordnung sowohl im Ganzen wie im einzelnen in ihrer Harmonie idealiter vorgebildet ist. In seiner consequent nature hingegen, welche aus der Schöpfung hervorgeht, ist Gott der aktive Partner der Welt, der sie gemäß seinen idealen Vorgaben realiter in sich aufnimmt. Entsprechend seiner primordialen beziehungsweise konsequenten Natur ist nun Gott auch auf unterschiedliche Weise der Gefährte seiner Geschöpfe. 51 In seiner primordial nature hält Gott das Ideal einer jeden Kreatur bereit, das diese als das Ziel ihrer Selbstwerdung, als ihr subjective aim übernimmt. Insofern das Werden der Kreatur nur dank dieser idealen Beziehung zu Gott möglich ist, ist Gott nicht bloß vor aller Schöpfung, sondern mit einem jeden Geschöpf. 52 Darin ist es begründet, dass er Gefährte sein kann. Sein Mitgehen ermöglicht der Kreatur eine ideale Vision ihrer selbst. »Er ist der Spiegel, der jedem Geschöpf seine eigene (mögliche) Größe enthüllt.« 53 Achten wir darauf, dass es hier, entgegen der traditionellen Attribution, nicht um die Größe Gottes, sondern um die mögliche Größe der Kreatur geht. Wenn Whitehead Gott nicht bloß companion nennt, sondern ihn als the ideal companion charakterisiert, so ist das zunächst so zu verstehen, dass uns mit Gott das immer wieder neu zu entdeckende Ideal unseres Selbstseins mitgegeben ist. Das gilt für Whitehead auch in den Situationen des Leidens, in denen Gott uns die Einsicht in Werte

Whiteheads Konzeption Gottes ist insofern originell, als sie sich jenseits des seit dem späten Scheler bemühten Gegensatzes von »seiendem« und »werdendem« Gott situiert: als primordial »ist« Gott schon immer – wenn auch nur auf eine potenzielle Weise –, als consequent »wird« er. Vgl. PR, 348; PRd, 621 f. Von der klassischen thomistischen Schöpfungmetaphysik unterscheidet sich die Whiteheadsche dadurch, dass nicht nur die Kreatur in einer realen, konstutiven Beziehung zu Gott steht, sondern ebenso auch Gott zu seiner Kreatur. 52 Vgl. PR, 343; PRd, 614. 53 RM, 139; RMd, 115. 51

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verschafft, die daraus hervorgehen können. 54 So kann Whitehead sagen: »Gott ist in der Welt die nie endende Vision des Weges, der zu den tieferen Realitäten führt.« 55 Diese Vision Gottes umfasst jede Art von Werthaftigkeit. In ihm ist das Reich der idealen Formen vollständig vorgedacht. Jeder Schöpfungsakt in der Welt ist in seinen Möglichkeiten bedingt durch die Teilhabe an diesen idealen Vorgaben, die einer Kreatur ihren jeweiligen Wert verleiht. Die Welt lebt davon, dass dieses Reich der Werte in ihr konkrete Gestalt annimmt. Weil diese Werte nur nach und nach verwirklicht werden können, ist das Universum ein Prozess von geordneter Form. 56 Gottes Schöpfungsmacht ist damit keine »Macht« im üblichen Sinn. Sie ist die Macht eines Ideals, das durch seine überwältigende Schönheit und Größe wirkt. Gott ist der Inbegriff des Erstrebenswerten, der gleichzeitig jeder partikulären Form von Selbstverwirklichung ihre besondere Ausrichtung geben kann. Im Konstitutionsprozess eines Wesens, wie Whitehead ihn denkt, kommt das dadurch zum Ausdruck, dass die actual entities in der ersten Phase ihrer Konkretion von Gott ihr subjective aim, ihr subjektives Ziel erlangen, das gleichzeitig ihr lure for feeling ist, ihr Antrieb zur entsprechenden Aneignung des Vorgegebenen. 57 Damit löst Whitehead metaphysisch sein religionsphilosophisches Desiderat eines Schöpfungsverständnisses ein, das Gott keine real wirkende Kausalursache mehr sein lässt, sondern ihm allein die Anziehungskraft einer Zielursache zuschreibt. Das macht Whitehead vollends deutlich, indem er zustimmend die aristotelische Lehre von Gott als dem unbewegten Beweger zitiert, der gerade dadurch bewegend und doch unbewegt sein kann, weil er wie etwas Erstrebtes bewegt. 58 Whitehead unterlässt es jedoch, zu der von ihm zitierten Aristotelespassage den Kernsatz hinzuzufügen, in dem Aristoteles ganz im Sinne Whiteheads seinen Ausführungen die ansprechendste Form gegeben hat: Gott »bewegt als ein Geliebtes«, kinei os erómenon. 59 Damit ist schon gesagt, dass Whiteheads Konzeption so originell nicht ist und nicht nur von Platon intuitiv vorweggenommen wurde, 54 55 56 57 58 59

Vgl. RM, 139; RMd, 115. RM, 142; RMd, 117. Vgl. RM, 138–142; RMd, 114–117. Vgl. PR, 344; PRd, 614 f. Vgl. PR, 344; PRd, 615. Aristoteles, Metaphysik, Buch XII, Kap. 7 1072 b 3.

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wie Whitehead selbst es sieht, sondern auch bei Aristoteles ihr metaphysisches Vorbild hat. Gottes consequent nature ist die Objektivierung der Welt in Gott, die dadurch entsteht, dass Gott jedes Geschöpf als verwirklichtes prehendiert in sich aufnimmt. Whiteheads allgemeine Lehre von der objective immortality, vom Weiterbestehen einer actual entity in den nachfolgenden entities, findet hier ihre Vollendung. 60 Sie löst das Problem, das für Whitehead wie kein anderes die Religion beschäftigt, nämlich die Frage, ob und wie die Vergänglichkeit der zeitlichen Wesen, insbesondere der Menschen, die wir lieben, in ein zeitloses Sein hinübergerettet werden kann. 61 Das Vergängliche erneuernd zu bewahren, das war schon in Religion in the Making das, was Whitehead Gott als dem »idealen Gefährten« zuwies: He is the ideal companion who transmutes what has been lost into a living fact within his own nature. »Er ist der ideale Gefährte, welcher das Verlorene zu einer lebendigen Wirklichkeit innerhalb seiner eigenen Natur umwandelt« 62. Gott prehendiert die Kreatur nach Maßgabe ihres idealen Selbstseins, wie es in der primordial nature Gottes vorgedacht ist und im subjective aim von der Kreatur angeeignet wurde. 63 So ist Gott biblisch gesprochen Anfang und Ende. Er übernimmt die Kreatur so, wie sie im besten Sinn sein kann und aus ihren Bemühungen um ihr authentisches Selbstsein hervorgegangen ist – mit all ihren Leiden, Enttäuschungen, Fehlschlägen und Erfolgen, die dazu gehörten. Was die Kreatur aus selbstischen Motiven Schlechtes getan hat, wird als vergangen ausgeschieden, das Gute aber in einer neuen Form der Ganzheit bewahrt. Dieses Vergehenlassen und Aufbewahren ist das Gericht Gottes über die Welt. Gott tritt dabei nicht den Kräften der Zerstörung mit eigener zerstörerischer Kraft entgegen, sondern führt die Welt gemäß seiner Vision des Wahren, Schönen und Guten durch das Ausscheiden des Bösen ihrer höchstmöglichen Vollendung zu. Das beste Bild dafür ist das einer zärtlichen Sorge, die nichts verloren gehen lässt. Gottes consequent nature entspricht so dem Königreich der Himmel. 64

60 61 62 63 64

Vgl. PR, 351; PRd, 626 f. Vgl. PR, 340; PRd, 609. RM, 139; RMd, 115. Vgl. PR, 345; PRd, 617 f. Vgl. PR, 345; PRd, 617 f.

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Aber der Schöpfungsprozess endet nicht mit der Verwirklichung von Gottes consequent nature. Gott und die Geschöpfe bleiben weiter aufeinander bezogen. Gottes Wirklichkeit flutet wieder in die Welt zurück, so dass jedes Einzelwesen unmittelbar an ihr teilnehmen kann. Denn laut dem Evangelium ist das Himmelreich mitten unter uns. Das Wirken Gottes aus seiner verwirklichten Natur heraus ist seine Liebe zur Welt. Sie ist die besondere Vorsehung für jedes einzelne Wesen, entsprechend der Weisheit Gottes, die sich nach dem in der primordial nature vorgegebenen Ideal dieses Wesens richtet. So ist die Schöpfung ein mehrphasiges Geschehen. Was in der Welt getan wurde, wird umgewandelt in Gott, und was in Gott aufbewahrt ist, geht wieder in die Welt ein. Aus der Liebe in der Welt wird die Liebe im Himmel, und aus dieser eine erneuerte Liebe in der Welt. Gott und die Kreatur sind so wechselseitig in einer Liebesgemeinschaft aufeinander bezogen, die die ganze Existenz der Kreatur in ihrem Auf und Ab einschließt. Das gibt nun der Formel von God the companion ihren letzten Sinn. Er ist der Gefährte von einmaliger Größe, der jederzeit in Freud und Leid verstehend und mitfühlend zur Seite steht, the great companion – the fellow-sufferer who understands. 65

Über Whitehead hinaus In einem Schlussteil möchte ich nun den Kreis unserer Überlegungen über Whitehead hinaus erweitern, und zwar sowohl ad intra wie ad extra, nach innen wie nach außen. Nach innen möchte ich die Frage stellen, wo, d. h. in welchen religiösen Schriften der homo religiosus eine Glaubenform findet, welche der Whiteheads’chen Religionsund Gottesauffassung am ehesten entspricht, ihr am nächsten kommt. Nach außen möchte ich das Problem aufwerfen, ob nicht auch der »religiös unmusikalische« Mensch in Situationen kommen kann, wo einzig Whiteheads God the companion sich als die Lösung existenzieller Aporien anbietet. Beginnen wir mit der Frage nach der Glaubenform mit der größtmöglichen Affinität zur Whiteheadschen Religionskonzeption. Die Antwort hat Whitehead selbst vorgegeben, wenn er in einem schon zitierten Text erklärt, der moderne Mensch könne Gott nur 65

Vgl. PR, 351; PRd, 626.

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auf dem Weg der Liebe und nicht auf dem der Angst wiederfinden, indem er dem Johannesevangelium folge. Whitehead sieht meines Erachtens intuitiv richtig, wenn er bei Johannes eine besondere Nähe zu seiner eigenen Religionsauffassung vermutet. Einige wenige Hinweise sollen das verdeutlichen. Im Johannesevangelium wird die Freundschaft zwischen Gott und Mensch in den Vordergrund gerückt, die an die Stelle einer Unterordnung, eines knechtischen Verhältnisses tritt. »Ich nenne Euch nicht mehr Knechte, (…) ich nenne Euch Freunde« 66, sagt Jesus zu seinen Jüngern. Glaube vollzieht sich als eine wechselseitige Liebesgemeinschaft. Wenn Whitehead den Menschen Gott und Gott den Menschen prehendieren lässt, so betont auch Johannes ausdrücklich die wechselseitige Immanenz von Gott und Mensch. Diese ist in der Liebe begründet, wie die wohl wichtigste Schriftstelle ausführt: »Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.« 67 Wenn Jesus bei Johannes für den Glauben zum Vorbild wird, so gerade aufgrund der Wechselseitigkeit dieses Einwohnens: »Glaubst Du nicht (Philippus), dass ich im Vater bin und der Vater in mir ist?« 68 Durch den Glauben an Jesus können aber auch seine Jünger zu einem solchen wechselseitigen Einwohnen kommen: »Wer bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott und er in Gott.« 69 Die johanneische Mystik der Liebesgemeinschaft, der koinonia, ist damit wohl jene Form reziproken Aufeinanderbezogenseins, die Whiteheads Idealform von Religion unmittelbar entspricht, auch wenn wir das hier nicht weiter verfolgen können. Die nächste Frage wäre dann, ob und inwieweit sich eine solche Auffassung der Gottesbeziehung in der Theologiegeschichte durchsetzen konnte. Whitehead interpretiert den alttestamentlichen Spruch, wonach die Gottesfurcht der Anfang der Weisheit sei, als Ausdruck einer Angstreligion. Aber gerade hier wäre anzumerken, dass die christliche Theologie diesen Spruch dadurch im Sinne Whiteheads umgebogen hat, dass sie vom timor servilis den timor filialis unterschieden hat. Nicht wie ein Knecht seinen Herrn fürchtet, sondern wie ein Sohn sich sorgt, er könne dem geliebten Vater nicht gerecht werden, so soll die Gottesfurcht des von seiner unterwürfigen 66 67 68 69

Joh. 15, 15. I Joh. 4, 16. Joh. 14,10. I Joh. 4,15

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Angst erlösten Christen sein. 70 Und wenn der wohl bedeutsamste mittelalterliche Theologe, nämlich Thomas von Aquin, die caritas, die Liebe zu Gott nach dem aristotelischen Modell der Freundschaft deutet, so entscheidet er sich grundsätzlich für ein vertrautes, ja intimes Verhältnis zwischen Mensch und Gott. 71 Kommen wir nun zur möglichen Funktion von Whiteheads Gott bei jenen, die sich selbst als »religiös unmusikalisch« bezeichnen. Das soziale Pendant zu Gott als ideal companion kann man bei Mead und in der Folge auch bei Habermas finden, nämlich im Begriff einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Diese Idee einer idealen Gemeinschaft ohne Gott hat Mead wohl unter dem Einfluss Whiteheads entwickelt, und wir finden bei Mead auch die gleiche Argumentationsfigur wieder, nur dass diese nun nicht zu Gott führt. Dennoch, so meine ich, besteht bei der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine Lücke, welche allein der als ideal companion gedachte Gott füllen kann. Meads Hauptwerk Mind, Self, and Society wurde 1934 veröffentlicht, geht aber auf eine Vorlesungsnachschrift von 1927 zurück. Ein Jahr zuvor, 1926, waren von Whitehead Science and the Modern World und Religion in the Making erschienen. Dass Mead Whitehead gelesen haben muss, zeigt sich nun darin, dass in Meads Text zweimal der Whitehead’sche Neologismus prehend auftaucht, und zwar in seinem genuinen Sinn, nun aber übertragen auf die Sozialwelt des sich entwickelnden Selbst. Dieses Selbst prehendiert in seiner Struktur von seinem jeweiligen Standpunkt aus die Verhaltensmuster seiner Umgebung, um so durch einen Reflexionsakt zum Selbstbewusstsein zu gelangen. 72 Wie kommt nun Mead dazu, dem voll entwickelten Selbst die ideale Kommunikationsgemeinschaft zuzuordnen? Der Ausgangspunkt ist wie bei Whitehead das Solitärwerden des Einzelnen, der nicht mehr unkritisch die vorgegebenen Normen seiner Umwelt übernehmen will, sondern sich an höheren Prinzipien orientiert. Wird er deswegen von seiner Gemeinschaft abgelehnt oder aus ihr ausgestoßen, so bleibt ihm nur der innere Appell an eine weitere und höhere Gemeinschaft, deren Stimme mehr zählt als die seiner Umwelt. Das ist die Gemeinschaft einer universellen Vernunft. Der 70 71 72

Vgl. etwa Thomas von Aquin, Summa theologiae, IIa-IIae, q. 7, a. 1. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, IIa-IIae, q. 23, a. 1. Vgl. Mead 1934, 201, 320.

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Ein Gott ohne Gewalt

isolierte Einzelne versteht sich nun als Dialogpartner eines »universellen Diskurses« und damit als Mitglied einer »idealen Kommunikationsgemeinschaft«, welche alle Vernunftwesen einschließt. 73 Meads Argumentationsfigur ist also im Prinzip die gleiche wie bei Whitehead. Das Solitärsein ist existenziell allein nicht zu bewältigen, es ruft nach einem Partner: nach Gott als dem ideal companion bei Whitehead, nach der »idealen Kommunikationsgemeinschaft« bei Mead. Beide sind etwas Ideales, haben aber einen unterschiedlichen Realitätsstatus. Für den Gläubigen ist der mitgehende Gott das ens realissimum, für Mead ist die ideale Kommunikationsgemeinschaft weitgehend ein ens rationis, ein gedankliches Konstrukt, auch wenn darin die »Weisen« aller Zeiten eingeschlossen sind. Mead erwägt sogar den Gedanken, dass das Selbst, wenn es einmal ausgebildet sei, fortan als ein absolut solitäres Selbst existieren könne, weil es dann immer noch sich selbst als Gesprächspartner habe. »So we can conceive of an absolutely solitary self, (…) but who still has himself as a companion, and is able to think and to converse with himself.« 74 Wir haben hier die gleiche Wortwahl wie bei Whitehead: solitary self, companion, aber aus dem companion als einem realen alter ego ist die Verdoppelung der einen und gleichen Person in einem rein intrasubjektiven Dialog geworden. Die Frage ist, ob solche gedanklichen Beziehungen zu einem Anderen ein tragfähiges Fundament für die Anfechtungen des Solitärseins abgeben können, oder ob dazu nicht eine reale Beziehung zu einem realen Wesen gefordert ist, wie die religiöse Antwort sie kennt. Es gibt nun Befunde, welche nahelegen, dass zumindest in Extremsituationen allein die religiöse Antwort genügen kann. Schon Whitehead hat darauf hingewiesen, dass jene Menschen, die aus einer tiefsten ethischen Überzeugung heraus im Namen einer universellen Vernunft gegen eine als unmoralisch empfundene Gesellschaft aufstanden, in der Regel religiöse Menschen waren. 75 Auch für Mead sind es die großen religiösen Gestalten, die am entschiedensten die Grenzen einer engen Lebensgemeinschaft aufgebrochen haben. 76 Kohlberg, in Fragen der Moralentwicklung die bedeutsamste Autorität des letzten Jahrhunderts, konnte zeigen, dass die höchste mora73 74 75 76

Vgl. Mead 1934, 167 f., 199, 202. Mead 1934, 140. Vgl. RM, 28–33; RMd, 33–36; AI, 205; AId, 306. Vgl. Mead 1934, 216 f.

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Reto Luzius Fetz

lische Entwicklungsstufe, auf der sich eine prinzipienorientierte Ethik mit einer universellen Solidarität verbindet, und dies mit der Bereitschaft, dafür notfalls das eigene Leben einzusetzen, unweigerlich metaethische Fragen aufwirft. Es sind Fragen wie »Warum überhaupt moralisch sein?«, die für Kohlberg bei aller Autonomie des Moralischen letztlich nur religiös beantwortet werden können. Denn allein die religiöse Beziehung zu einem überzeitlichen Wirklichkeitsgrund kann erklären, warum moralisches Handeln in einer Welt der Ungerechtigkeit, des Leidens, des in Kauf genommenen eigenen Untergangs dennoch sinnvoll ist. 77 Wenn es also wirklich darauf ankommt, genügt nicht ein imaginärer idealer Kommunikationspartner, sondern allein ein realer Beistand, der als ideal companion empfundene Gott. Dazu kommt ein Weiteres. Es gibt im Projekt einer universellen Solidargemeinschaft eine Aporie, welche als erste die Vertreter der Frankfurter Schule mit aller Schärfe in den Blick gerückt haben. Die universelle Solidargemeinschaft mag ein Ideal für die Gegenwart und Zukunft sein, sie schließt als solches die heute und morgen Lebenden ein, aber wer davon definitiv ausgeschlossen ist, sind die Toten der Vergangenheit. Darüber hilft keine Geschichtsutopie hinweg. Horkheimer schreibt: »Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen. (…) Was den Menschen, die untergegangen sind, geschehen ist, heilt keine Zukunft mehr.« 78 Als Ausweg aus dieser Aporie ist der Begriff der anamnetischen Solidarität entwickelt worden. Das ist eine Solidarität, welche die Toten nicht vergisst, sondern in der Anamnese, in der Erinnerung ihrer eingedenk bleibt. 79 Gedenkstätten haben diesen anamnetischen Sinn. Aber auch sie können mit der Zeit das Bewusstsein der Lebenden gleichgültig lassen, und auch die sich Erinnernden sterben eines Tages aus. Damit eine anamnetische Solidarität Bestand hat, wäre ein überzeitlicher Erinnerungsort gefordert, d. h. ein Gedächtnis, das selbst über der Vergänglichkeit steht. Liest man vor diesem Hintergrund die Sätze wieder, wo Whitehead von Gott the companion spricht, so erkennt man sofort, dass Vgl. Kohlberg 1981, 311–372, bes. 344 f. Zit. nach Peukert 1978, 305 f. aus unveröffentlichten Briefen Horkheimers an Benjamin. 79 Vgl. Peukert, 1978, 308–310. 77 78

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Ein Gott ohne Gewalt

Whitehead hier genau die Frage nach der Möglichkeit einer überzeitlichen anamnetischen Solidarität einer positiven Lösung zuführt. Das kommt nicht von ungefähr. Whitehead, dem alle Zeitgenossen eine echte Religiosität zugeschrieben haben, hat in der Religion die Antwort auf die wohl schmerzlichste Erfahrung seines Lebens gesucht, den Tod seines jüngeren Sohnes Eric, der im ersten Weltkrieg als Kampfflieger fiel. Diesen Verlust hat Whitehead offenbar nie verwunden. 80 Daran hat man wohl zu denken, wenn man bei Whitehead auf einen Satz wie den folgenden stößt: The world (…) is haunted by terror at the loss of the past, with its familiarities and its loved ones 81. Diesem Terror des Vergangenheitsverlustes begegnet nun Whitehead damit, dass er auf Gott als den idealen Gefährten rekurriert. Die Parallelität zwischen der zitierten und der folgenden Aussage ist unübersehbar: He is the ideal companion who transmutes what has been lost into a living fact within his own nature. 82 Darum ist Gott am Ende von Process and Reality auch the great companion, der im Leid verstehend mitgeht – the fellow-sufferer who understands. 83 Und der ganze letzte Abschnitt von Process and Reality handelt dann nur noch von der durch Gott bewirkten Umwandlung und Erneuerung der vergänglichen Kreaturen – which perish and yet live for evermore. 84 Damit komme ich zum Schluss. Wird der Entwurf einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, die auch die anamnetische Solidarität miteinschließt, radikal zu Ende gedacht, so ruft er unweigerlich nach einem überzeitlichen Sinnesfundament. Dieses vermögen sich die zeitlichen Träger der angestrebten Kommunikation und Solidarität nicht selbst zu geben. Allein ein im Sinne Whiteheads als ideal companion gedachter Gott vermag wirklich die damit verbundenen Erwartungen zu erfüllen. Natürlich kann daraus kein Gottesbeweis abgeleitet werden, wie denn überhaupt Whitehead einen solchen für unmöglich hält. 85 An Gott als ideal companion kann man nur glauben und auf ihn hoffen, wenn man mit Whitehead der Überzeugung ist, dass er unseren tiefsten moralischen und religiösen Intuitionen ent-

80 81 82 83 84 85

Vgl. das Zeugnis von Bertrand Russell, Russel 1956, 96. PR, 340; PRd, 608. RM, 139; RMd, 115. PR, 351; PRd, 626. PR, 351; PRd, 626. Vgl. PR, 343; PRd, 613.

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Reto Luzius Fetz

spricht, und dass seine Annahme nicht widersinnig ist. 86 Whiteheads Religionsphilosophie hat jedenfalls ihre Anziehungskraft nicht verloren, und sein Plädoyer für einen Gott ohne Gewalt ist heute aktueller denn je.

Literatur Fetz, Reto Luzius (1990). »Das Psychologismusproblem bei Piaget und Kohlberg. Metatheoretische Überlegungen«. In: Schorr, Angela; Wehner, Ernst G. (Hg.). Psychologiegeschichte heute. Göttingen. 102–111. Kohlberg, Lawrence (1981). The Philosophy of Moral Development. Essays on Moral Development, vol I. San Francisco: Harper & Row. Mead, George Herbert (1934). Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist. Works of George Herbert Mead, vol. 1. Chicago and London: The University of Chicago Press. Peukert, Helmut (1978). Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Russell, Bertrand (1956). Portraits from Memory and other Essays. London: George Allen & Unwin. Schieder, Rolf (Hg.) (2014). Die Gewalt des Einen Gottes. Die MonotheismusDebatte zwischen Jan Assmann, Micha Brumlik, Rolf Schieder, Peter Sloterdijk und anderen. Berlin: Berlin University Press.

86

Vgl. PR, 343; PRd, 613.

114 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Gott im Prozess Begründung, Entwicklung und Status des Gottesbegriffs in Whiteheads Philosophie Tobias Müller

1.

Der Gottesbegriff Whiteheads als Gegenstand der Whitehead-Forschung

Die philosophische Kosmologie A. N. Whiteheads beinhaltet auch einen Gottesbegriff, der in verschiedenen Werken Whiteheads modifiziert und entfaltet wird, bis er in der differenziertesten metaphysischen Beschreibung in »Process and Reality« seine endgültige Form erlangt. Der Status dieses Gottesbegriffs ist in der Whitehead-Forschung in verschiedener Hinsicht umstritten: Während einige Interpreten das konkrete Konzept des Gottesbegriffs im Spätwerk mit Urund Folgenatur auf biographische Einflüsse Whiteheads zurückführen und ihm somit die metaphysische Begründbarkeit absprechen, halten andere den Gottesbegriff zudem für inkonsistent und wieder andere schlichtweg für überflüssig. Es soll in diesem Beitrag gezeigt werden, dass alle diese Vorbehalte und Einwände sachlich nicht stichhaltig sind, da es sich bei dem Gotteskonzept in Whiteheads Werken um einen metaphysischen und nicht um einen genuin religiös motivierten Gottesbegriff handelt, der methodisch begründet eingeführt wird und somit einen notwendigen metaphysischen Bestandteil seines Systems darstellt, auch wenn der Gottesbegriff notwendigerweise einen besonderen Status besitzt und im Laufe von Whiteheads Werkgeschichte aufgrund der Entwicklung der metaphysischen Analyse der Welt weiter differenziert worden ist. Um dies zu belegen, wird zunächst die Ausgangssituation näher untersucht, in der Whitehead zum ersten Mal einen Gottesbegriff einführt. Diese Untersuchung wird darüber Aufschluss geben, wie und mit welcher Begründung der Gottesbegriff in Whiteheads Werk eingeführt wird, wobei die Grundintention der Methode in Whiteheads Philosophie – die »deskriptive Verallgemeinerung« – berücksichtigt werden wird. Anschließend soll kurz die werkimmanente Entwicklung des 115 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Tobias Müller

Gottesbegriffs nachgezeichnet werden, um im Anschluss daran die Besonderheiten des Gottesbegriffs zu diskutieren. Abschließen möchte ich mit einem kurzen Blick auf das Verhältnis von metaphysischem Gottesbegriff zu einer religiösen und theologischen Perspektive.

2.

Die Relevanz von Whiteheads Methode der deskriptiven Verallgemeinerung für die Reichweite seines metaphysischen Gottesbegriffs

Die Hauptaufgabe einer spekulativen Philosophie besteht nach Whitehead darin, ein Ideenschema zu entwerfen, welches Kategorien und Prinzipien enthält, mit denen die Wirklichkeit gedeutet werden kann. Zur Gewinnung dieses Ideenschemas gelangt man durch die Methode der »deskriptiven Verallgemeinerung«, in der von einer konkreten Erfahrung ausgegangen und dann versucht wird, die allgemeinen metaphysischen Prinzipien, die darin enthalten sind, zu eruieren. Diese Verallgemeinerung ist aber nicht mit unkritischer Phantasterei zu verwechseln. Die erhobenen Prinzipien und Kategorien haben sich wiederum an neuer Erfahrung zu bewähren. Tun sie das nicht, muss das Ideenschema erweitert oder gegebenenfalls korrigiert werden. Wir haben es hier mit einem Versuch der approximativen Annäherung an die die Wirklichkeit beschreibenden Prinzipien und Kategorien zu tun, die prinzipiell nicht durch ein deduktives Verfahren erreicht werden kann. Demnach können nur solche Aspekte der Wirklichkeit in der Prozessphilosophie als philosophischer Kosmologie überhaupt thematisiert werden, die einen strukturellen metaphysischen Faktor in der Welt darstellen. Dies ist keine willkürliche Beschränkung der metaphysischen Perspektive, sondern wird durch die deskriptive Verallgemeinerung als Methode der Prozessphilosophie vorgegeben. Diese methodische Verankerung der metaphysischen Beschreibung hat nun aber auch Auswirkungen auf die Reichweite der metaphysischen Beschreibung Gottes innerhalb des Whitehead’schen Systems. Durch den Fokus der Whitehead’schen Kosmologie als eines Versuchs, die grundlegende metaphysische Situation der Entitäten innerhalb der Welt zu beschreiben, kommt Gott nur insofern in den Blick, als er metaphysische Funktionen ausübt, die durch die Verwendung der »deskriptiven Verallgemeinerung« beschrieben werden können. Andere Möglichkeiten der Beschreibung Gottes werden in diesem Ansatz aus methodischen Gründen nicht thematisiert. 116 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Gott im Prozess

Whiteheads Ziel ist somit eine philosophische Kosmologie, welche die metaphysischen Strukturen eruieren möchte und deren mögliche Fragestellungen und Antworten sich nur im Kontext der deskriptiven Verallgemeinerung sinnvoll verorten lassen. Dies schließt weitere philosophische oder theologische Reflexionen über Gott, die über den Kontext von Whiteheads Methode hinausgehen, nicht aus. Sie kommen aber durch die Fragestellung und die Methode innerhalb der Prozessphilosophie nicht in den Blick.

3.

Die Einführung des Gottesbegriffs in Whiteheads »Science and the Modern World«

Um den Status des Gottesbegriffs inklusive seiner Begründbarkeit in Whiteheads Metaphysik zu bestimmen, ist es wichtig, die Analyse der metaphysischen Ausgangssituation genauer zu betrachten, in der der Gottesbegriff zum ersten Mal eingeführt wird. Zu diesem Zweck ist das metaphysische Grundanliegen Whiteheads ins Gedächtnis zu rufen: Die Wirklichkeit muss primär von ihrer Prozesshaftigkeit erfasst werden. Dabei geht es Whitehead aber gerade darum, beiden Momenten der Wirklichkeit – Fluss und Kontinuität – in seiner Metaphysik zu ihrem Recht zu verhelfen. Dies ergibt sich schon daraus, dass eben nicht nur die Entstehung von Neuheit im Kosmos erklärt werden muss, sondern dabei auch die Kontinuität bestimmter Qualitäten. Whiteheads Substanzkritik führt letztlich zu einer philosophischen Kosmologie, in der die letzten Einheiten der Wirklichkeit, die er in seiner späteren Metaphysik aktuale Entitäten (»actual entities«) nennt, finite Prozesse sind, die wesentliche Beziehungen zueinander haben und nicht nur externe Relationen aufweisen. Die ganze Wirklichkeit besteht also Whitehead zufolge aus einem Geflecht von Prozessen, und diese sind die letzten Fakten der Wirklichkeit. Sie sind in ihrer jeweiligen Genese wesentlich mit anderen, unmittelbar vergangenen Prozessen verbunden. Der Einfluss dieser vergangenen Prozesse determiniert die neu entstehenden Prozesse aber nicht vollständig. Vielmehr verfügen diese über eine gewisse Spontaneität, die sich auf ihre Selbstbestimmung bezieht, so dass sich ihr konkreter Bestimmungsprozess zwischen verschiedenen möglichen Bestimmungen vollzieht: Eine aktuale Entität hat somit durch ihre Spontaneität immer einen gewissen Spielraum, wie sie die kausalen 117 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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Einflüsse aus ihrer unmittelbaren Umwelt zu einer neuen Synthese verarbeitet. Genau diese Analyse des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit ist auch der metaphysische Kontext, in dem Whitehead den Gottesbegriff begründet einführt. Werkgeschichtlich nimmt Whitehead diesen Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit in »Science and the Modern World« zum ersten Mal in den Blick, da hier die Natur selbst im Gegensatz zu dem früheren Werk »Concept of Nature« modal, also als auf Möglichkeiten ausgerichtet, aufgefasst wird. Damit taucht auch die metaphysische Frage auf, warum die Welt bei aller Spontaneität der weltlichen Prozesse auch eine Kontinuität aufweist. Könnten die weltlichen Prozesse irgendeine abstrakte Möglichkeit realisieren, würde das letztlich auch zu einer sprunghaften und chaotischen Welt führen. Aus diesem Grund führt Whitehead Gott als limitierendes Prinzip in seine Metaphysik ein, dessen Funktion es ist, das Spektrum der Möglichkeiten für die weltlichen Prozesse zu beschränken, um einen kontinuierlichen Verlauf der Welt zu garantieren. 1 Die Begrenzung der Möglichkeiten für den Weltverlauf kann nicht durch ein rein immanentes Prinzip erklärt werden, und da diese Begrenzung für alle Prozesse notwendig ist, ergibt sich daraus die kosmologische Dimension des Gottesbegriffs. Das heißt, die Prozesse können sich innerhalb eines bestimmten Rahmens von Möglichkeiten selbst bestimmen, wobei der Rahmen von Gott durch die Limitation der Möglichkeiten vorgegeben wird. Damit sieht Whitehead die metaphysischen Rahmenbedingungen für eine Balance zwischen Prozesshaftigkeit und Neuheit einerseits und Kontinuität andererseits gegeben. Nach Whitehead sei es zu bezweifeln, dass eine Metaphysik in der Bestimmung Gottes ist viel weiter kommen kann. Warum sollte dies prinzipiell der Fall sein? Einen Hinweis liefert eine Aussage Whiteheads zum Status des Gottesbegriffs: »God is the ultimate limitation, and his existence is the ultimate irrationality.« 2 »Irrational« ist seine Existenz deshalb, weil für sie keine Gründe mehr angegeben werden können, oder anders formuliert: Es kann keine logisch stringente Ableitung aus allgemeineren Prämissen gegeben werden. Vielmehr ist es gerade umgekehrt, dass seine Natur als Limitation der

1 2

Vgl. SMWd, 203, SMW, 174. SMWd, 208, SMW, 178.

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Gott im Prozess

Möglichkeiten der Grund für alle Rationalität ist. Wir kommen damit an die Grenze der Rationalität, und deshalb kann man den Gottesbegriff als einen Grenzbegriff bezeichnen. 3 Was zeichnet nun den Status des Gottesbegriffs als eines Grenzbegriffes aus? Zum einen ist er für die metaphysische Beschreibung der Welt notwendig; ihm wird eine Funktion zugeschrieben, die nicht von einem Teil der Welt ausgeübt werden kann. Zum anderen kann er nicht in derselben Weise wie weltliche Prozesse beschrieben werden, weil er nur indirekt durch seine metaphysischen Funktionen für die Welt in den Blick kommt. Dies bedeutet logisch, dass diese Zuschreibungen in einem gewissen Sinn kontingent sind, denn sie hängen zunächst von dem Fortschritt der metaphysischen Beschreibung der Welt ab. Jede Bestimmung Gottes, die über die metaphysische Charakterisierung hinausgeht, muss sich aus religiöser Erfahrung oder einer darauf aufbauenden Interpretation der Wirklichkeit speisen, wie Whitehead in »Science and the Modern World« festhält: »Was darüber hinaus von Gott erkannt werden kann, muß im Bereich der einzelnen Erfahrungen gesucht werden und beruht daher auf einer empirischen Basis [sprich: religiöser Erfahrung, T. M.].« 4

Umgekehrt müssen diese religiösen Charakterisierungen aber mit den metaphysischen Grundkonzepten kompatibel sein, wenigstens dann, wenn die religiöse Perspektive Rationalität beansprucht. Dieses Verhältnis von Religion und Metaphysik und seine Relevanz für weitere Charakterisierungen des Gottesbegriffs ist Gegenstand von Whiteheads »Religion in the Making«.

4.

Die Weiterentwicklung des Gottesbegriffs in »Religion in the Making«

In seiner Schrift »Religion in the Making« von 1926 geht Whitehead hinsichtlich des Gottesbegriffs über die von ihm in »Science and the Modern World« erarbeitete Position hinaus. Die Hauptmodifikation hat man wohl darin zu sehen, dass Gott nun nicht mehr nur als Prinzip, sondern selbst als eine Art Entität begriffen wird. Im Folgenden Whitehead bezeichnet den Gottesbegriff zwar nicht als Grenzbegriff, er hat ihn aber auf einer operationalen Ebene auch Zeit seines Lebens als einen solchen behandelt. 4 SMWd, 208, SMW, 178. 3

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wird zu untersuchen sein, in welcher Hinsicht dieser Gottesbegriff eine Erweiterung darstellt. Ähnlich wie in »Science and the Modern World« setzt in »Religion in the Making« die Argumentation wiederum bei der metaphysischen Analyse der Konstitution der weltlichen Prozesse an. Dabei scheint »Religion in the Making« so angelegt zu sein, dass Gott zunächst aus einer rein metaphysischen Perspektive behandelt wird. Somit sollen die Aussagen, die im dritten Kapitel des Werkes über Gott gemacht werden, allein aus den allgemeinen metaphysischen Prinzipien begründet werden. Was darüber hinaus noch über Gott ausgesagt wird, liegt nicht mehr im Bereich der reinen Metaphysik, wie Whitehead ja schon zuvor in »Science and the Modern World« festgehalten hat. Umgekehrt haben aber die metaphysischen Prinzipien – wie oben bereits angedeutet – eine mögliche Relevanz für Religion, denn nach Whitehead können bezüglich der Religion vier Stufen ausfindig gemacht werden, die eine Entwicklungslogik beschreiben: Ritual, Gefühl, Glaube und Rationalisierung. Wenn man nun »Religion in the Making« als Beitrag zu einer philosophischen Religionstheorie auffasst, dann scheint es Whiteheads Absicht gewesen zu sein, zunächst die metaphysischen Prinzipien, soweit sie gefordert sind, inklusive eines Gottesbegriffs darzustellen, um dann wiederum einen Beitrag zur Rationalisierung der Religionen zu leisten. 5 Whitehead geht dabei im vierten Kapitel seines Werkes so vor, dass er zu zeigen versucht, dass wesentliche religiöse Aussagen mit den im dritten Kapitel erarbeiteten metaphysischen Annahmen kompatibel sind, wodurch eine bestimmte Grundrationalität verbürgt wird. Sofern es die metaphysische Darstellung Gottes betrifft, fasst Whitehead Gott ähnlich wie in »Science and the Modern World« als Prinzip der Limitation auf. Gott ist somit eines der drei Grundelemente, die im Prozess jeder Entität anwesend sind: »1. Die Kreativität, aufgrund derer die wirkliche Welt ihren Charakter des zeitlichen Übergangs ins Neue hat. 2. Die Sphäre der ideellen Entitäten oder Formen, die an sich selbst nicht wirklich sind, die aber nach irgendeinem Verhältnis der Relevanz in allem Wirklichen exemplifiziert werden. 3. Das wirkliche, aber nicht zeitliche Einzelwesen, durch welches die Unbestimmtheit bloßer Kreativität in eine bestimmte Freiheit umgewan-

5

Vgl. hierzu Ford 2000, 68 f.

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Gott im Prozess

delt wird. Dieses nicht-zeitliche wirkliche Einzelwesen ist das, was die Menschen Gott nennen – der höchste Gott rationaler Religion.« 6

Während die Kreativität, also der fortwährende Übergang zu neuen Entitäten im Kosmos, zeitlich ist, weil sie konkretisiert sich nur in den zeitlichen Entitäten, kann sie aber nicht selbst als eine aktuale Entität aufgefasst werden, was ihre Wandelbarkeit verbietet. Die ideellen Formen, das heißt die möglichen Bestimmungen der aktualen Entitäten, die in späteren Werken »eternal objects« genannt werden, sind nicht-aktual und nicht-zeitlich, während Gott nicht-zeitlich und aktual sein muss. Wie kommt Whitehead aber dazu, Gott nicht nur als Prinzip, sondern auch als aktuale Entität aufzufassen? Die Antwort ergibt sich durch eine apagogische Argumentation im Kontext der beiden grundlegenden ontologischen Kategorien der Wirklichkeitsanalyse, die Whitehead in »Religion in the Making« anwendet. Denn gibt es nur Formen und aktuale Entitäten, dann muss auch die limitierende Entität selbst in eine der beiden Kategorien einzuordnen sein. Und da diese mehr als nur eine in die Wirklichkeit einfließende Form ist, bleibt nur noch die Kategorie der aktualen Entität übrig. Mit anderen Worten: Wäre Gott zusätzlich zu seiner Nicht-Zeitlichkeit auch noch nicht-aktual, wäre er nicht von den ideellen Formen unterscheidbar, und dann wäre ungeklärt, wie Gott die Funktion der Limitation der ideellen Formen für die zeitlichen Prozesse leisten könnte. Zusammenfassend lässt sich für die metaphysische Beschreibung Gottes in »Religion in the Making« sagen, dass Gott eine nicht-zeitliche aktuale Entität ist, die als formatives Element jedem Geschehnis innewohnt und als Prinzip der Limitation der ideellen Formen fungiert. Weitere Bestimmungen können Gott nur mit Bezug zu religiösen Erfahrungen zugeschrieben werden. Da es in »Religion in the Making« eben auch um die Grundstruktur und um die Entwicklungslogik von Religion geht, verwundert es nicht, dass Whitehead in diesem Werk versucht, das Gotteskonzept weiter zu konkretisieren, wobei er eine Bestimmung findet, die ihm zufolge in allen religiösen Traditionen vorkommt. Demnach ist Gott auch als ein Ordnen der Werte für die Welt aufzufassen, wobei diese ordnende Funktion in den diversen religiösen Richtungen sehr unterschiedlich vorgestellt wird. 7 RMd, 70, RM, 90. Whitehead klassifiziert drei grundlegende Richtungen: 1. Das ostasiatische Konzept einer unpersönlichen Ordnung, 2. das semitische Konzept einer bestimmten persön-

6 7

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Auch wenn diese Erweiterung ein Schritt zu dem weiter differenzierten Gotteskonzept in »Process and Reality« ist, fehlt auch dem religiös erweiterten Gotteskonzept in »Religion in the Making« der zeitliche Bezug Gottes, der sich später in »Process and Reality« in den zwei Naturen Gottes ausdrückt. Dieses Fehlen lässt sich daran erkennen, dass Whitehead explizit von einer essentiellen Unvollständigkeit der Welt spricht, da in ihr das Entstehen und Vergehen von Prozessen nie abgeschlossen sein könne. Im Gegensatz dazu findet man aber keine Unterscheidung von vollständigen und unvollständigen Aspekten in der Natur Gottes, die aber in dem Gotteskonzept von »Process and Reality« zum Ausdruck kommt. 8

5.

Grundzüge des Gottesbegriffs in »Process and Reality«

Die modale Verfasstheit der Wirklichkeit, also der konkrete Übergang von Möglichkeit zu Wirklichkeit, wird in der metaphysischen Beschreibung von »Process and Reality« detaillierter entfaltet. Da Whitehead in diesem Werk seine ausgefeilte Metaphysik präsentiert, werden dort auch Gott aufgrund der erweiterten metaphysischen Analyse der Welt weitere Funktionen zugeschrieben. Um diese angemessen zu erläutern, gehe ich kurz auf die metaphysische Situation ein, die eine solche Zuschreibung ermöglicht. Wie schon erwähnt, ist Whiteheads Philosophie zutiefst geprägt von der Kritik an einer Substanzdefinition, nach der die Wirklichkeit konstituierenden Einheiten keine wesentlichen Verbindungen untereinander haben können. Whitehead zufolge hat man aber vielmehr die Wirklichkeit von ihrer Prozesshaftigkeit und von ihrer wesentlichen Interdependenz her zu verstehen, die es ihm zufolge dann ermöglichen, Neuheit, Werden und Spontaneität zu denken. Demzufolge ist die konkrete Struktur der aktualen Entitäten zu bestimmen. Alle Wirklichkeit ist in ihrem Werden durch zwei Einflüsse bestimmt: 1. Die aktuale Entität wird durch den kausalen Einfluss der Umwelt, aus der sie hervorgeht, mit bestimmt. Dabei nennt Whitehead lichen individuellen Entität, die vollständig von der Welt getrennt ist, und 3. das pantheistische Konzept, wonach die wirkliche Welt eine Phase der göttlichen Entität darstellt. Whitehead setzt sein eigenes Konzept von allen dreien kritisch ab, weil diese das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz Gottes einseitig thematisieren. 8 Von Gott wird in »Religion in the Making« als die »eine systematische, vollendete Tatsache« gesprochen (vgl. RMd, 115, RM, 155).

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Gott im Prozess

die Seite der aktualen Entität, durch die der kausale Einfluss zum Tragen kommt, »physischer Pol« (»physical pole«). Durch ihn erfasst eine aktuale Entität ihre Umwelt, indem hier die wesentlichen und internen Beziehungen zu den vergangenen aktualen Entitäten ausgebildet werden. Diese wesentlichen Beziehungen werden von Whitehead »Prehensionen« (»prehensions«) genannt, und durch sie fließt die Umwelt perspektivisch in den Werdeprozess (die sogenannte Konkreszenz) einer jeden aktualen Entität ein. 2. Keine aktuale Entität geht aber in der wirkkausalen Bestimmung auf, denn sie ist in ihrer Struktur auch final ausgerichtet und besitzt ja – wie oben bereits angedeutet – eine gewisse Spontaneität bzw. Freiheit, sich selbst zu bestimmen. Das heißt, dass sich Wirklichkeit immer zwischen Kausalität und spontaner Finalität bestimmt. In der finalen Seite einer aktualen Entität steht dieser somit immer eine ganze Hierarchie von möglichen Bestimmungen (»eternal objects«) zur Verfügung. Die Seite der aktualen Entität, durch welche sie sich auf die ihr zugehörigen Möglichkeiten bezieht, wird »begrifflicher Pol« (»mental pole«) genannt. Damit bestimmt sich jede aktuale Entität mit einer gewissen Eigenaktivität in der Spannung zwischen Vergangenheit und möglicher Zukunft zu einer vollständig bestimmten Prozesseinheit, die neuen Prozessen dann wieder als »kausales Material« zur Verfügung steht. Durch die Bipolarität zusammen mit einer Innerlichkeit, die Whitehead »Subjektivität« nennt und die als Fähigkeit angesehen wird, die kausalen Einflüsse der unmittelbaren Vergangenheit in einer neuen Synthese zu verarbeiten, entsteht eine differenzierte monistische Konzeption auf der ontologischen Ebene. Bei dieser Wirklichkeitsanalyse ist es wichtig zu beachten, dass Makro-Objekte wie Lebewesen, aber auch schon Atome, keine einzelnen aktualen Entitäten sind, sondern sich aus einer hierarchisch geordneten Vielzahl von ständig entstehenden und vergehenden aktualen Entitäten konstituieren. 9 Um die Kohärenz seines philosophischen Systems zu erhöhen, erweitert Whitehead in metaphysischer Perspektive auch die Beschreibung seines Gottesbegriffs: Nun wird auch Gott in analoger Weise als bipolare aktuale Entität angesehen. Gottes »mentaler Pol«, Eine solche Serie von aktualen Entitäten nennt Whitehead allgemein »Nexus«. Dieser differenziert sich – je nach Komplexität und Kontinuität in der Zeit – in verschiedene Formen sogenannter Gesellschaften.

9

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der »Urnatur« (»primordial nature«) genannt wird, ist der ontologische »Ort« der möglichen Formen und Bestimmungen (»eternal objects«) als Potentiale für die Welt. Diese werden im göttlichen Prozess für den Konstitutionsprozess der jeweiligen weltlichen Entitäten gerade so abstimmt, dass die Verwirklichung dieser Formen zu größtmöglicher Erfahrungstiefe bei gleichzeitiger größtmöglicher Sozialverträglichkeit führen würde. Gleichzeitig nimmt Gott die weltlichen Entitäten durch seine »Folgenatur« (»consequent nature«), wie sein »physischer Pol« bezeichnet wird, in seinen eigenen Prozess auf, sobald diese vollständig bestimmt und so in der Welt vergangen sind. 10 Es gibt also nicht nur eine organische Verwobenheit der weltlichen Entitäten untereinander, eine solche findet sich – wenn man den Grundannahmen der metaphysischen Analyse Whiteheads folgt – konsequenterweise auch zwischen Gott und Welt. 11 Damit sind auch die Erweiterungen, die Whitehead im Vergleich zu dem bereits erweiterten Gotteskonzept von »Religion in the Making« vornimmt, gekennzeichnet: In »Religion in the Making« ist das Reich der Möglichkeiten selbst noch kein ontologischer Aspekt Gottes, und Gott wird zudem auch noch keine rezeptive Seite zugeschrieben. Diese ist aufgrund der prozesshaften Dynamik des Gott-WeltVerhältnisses Whitehead zufolge nun aber konzeptionell nur folgerichtig. Auch Gott ist in gewisser Weise als prozesshaft zu begreifen, auch wenn dies nicht heißt, dass Gott erst Gott werden müsste. Vielmehr drückt sich in der Prozesshaftigkeit Gottes seine Weltbezogenheit, sein Sein für die Welt aus. Um die Begründung für diese metaphysische Erweiterung des Gotteskonzepts zu verstehen, wenden wir uns zunächst den Funktionen Gottes für die Welt zu, da diese ja gemäß seinem Status als Grenzbegriff die Instanz sind, durch die wir Gott weitere metaphysische Bestimmungen zuschreiben können. Ähnlich wie schon in »Science and the Modern World« hat Gott auch in »Process and Reality« die Funktion, die Möglichkeiten, die jeder aktualen Entität in ihrem Werdeprozess zur Verfügung stehen, zu begrenzen, um den kontinuierlichen Weltverlauf zu garantieren. Gott spannt somit Ein entscheidender Unterschied von Gott zu den »weltlichen« aktualen Entitäten liegt beispielsweise darin, dass der göttliche Prozess nicht vergehen kann. 11 Es bleibt auch hier darauf hinzuweisen, dass dies keine Austauschbarkeit von Gott und Welt nach sich zieht und dass beide einen unterschiedlichen ontologischen Status haben. Ferner nimmt Gott die weltlichen aktualen Entitäten auch in besonderer Weise in sich auf und verbindet diese mit seinem eigenen Prozess. 10

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Gott im Prozess

einen Rahmen von Möglichkeiten auf. Allerdings sieht Whitehead Gottes Funktion hinsichtlich der Welt – ähnlich wie in »Religion in the Making« – nicht nur in der Begrenzung, sondern auch einer gleichzeitigen Bewertung der möglichen Formen für die aktualen Entitäten, wobei der Unterschied zu dem Konzept in »Religion in the Making« darin besteht, dass diese Bestimmung der Bewertung nun nicht religiös, sondern metaphysisch begründet wird. Diese zusätzliche Zuschreibung wird in »Process and Reality« dadurch legitimiert, dass die Tendenz der Welt, immer neuere und komplexere Formen zu verwirklichen, nur dadurch erreicht werden kann, dass Gott zu mehr Komplexität und Harmonie »überredet«, indem er die Möglichkeiten für die weltlichen aktualen Entitäten in einer gewerteten Hierarchie anbietet und diese zu harmonischeren Formen lockt, wobei das spontane Moment in der Wirklichkeit bewahrt wird, weil es nicht im Ermessen Gottes liegt, welche Form letztlich verwirklicht wird. Ein weiterer Grund, warum auch Gott im Prozess gedacht wird, ist die konsequente Anwendung des Prinzips der universalen Relativität. Dieses Prinzip besagt, dass jede Entität in ihrem Werdeprozess mit anderen Entitäten verbunden ist und dass sie selbst wieder anderen Entitäten in deren Werdeprozessen zur Verfügung steht. Die wechselseitige Bezogenheit aller Entitäten kommt hier zum Ausdruck. Diese konsequente Anwendung des Prinzips der universalen Relativität führt konsequenterweise auch dazu, dass auch Gott eine im Whitehead’schen Sinne »physische« Seite haben muss, so dass er nicht nur »eternal objects« als mögliche Bestimmungen für die Welt bereithält und auf die jeweilige Situation abstimmt, sondern dass auch die Welt Gott in gewisser Weise affiziert. Zum anderen lässt sich mit der Einführung dieses Prinzips ein weiteres metaphysisches Problem lösen. Um die besten Realisierungsmöglichkeiten einer jeden aktualen Entität ihrer Situation gemäß genau abzustimmen, ist es für Gott notwendig, den jeweiligen Ist-Stand der Welt zu berücksichtigen, und dies geht nur, wenn er eine Seite aufweist, die durch den zeitlichen Verlauf der Welt affiziert wird. Eine rein nicht-zeitliche Konkreszenz Gottes hat mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass sie unabhängig von der Welt ist und somit nicht geeignet sein kann, auf die Welt und ihre metaphysischen Bedürfnisse einzugehen. Damit kann aber begründet die in der Sekundärliteratur zu Whitehead angeführte These zurückgewiesen werden, die Einführung einer rezeptiven Seite Gottes habe allein biographische Gründe. Whitehead habe demzufolge die konzeptionelle Erweiterung der 125 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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Folgenatur Gottes nur deshalb vorgenommen, weil er den Verlust seines Sohnes Eric, der im März 1918 im Ersten Weltkrieg gefallen, nicht habe verschmerzen können. Dadurch veranlasst, habe er ein metaphysisches Konzept entwickelt, das über den Verlust hinwegtrösten sollte, weil in der Folgenatur die weltlichen Prozesse und die mit ihnen realisierten Werte in Gott selbst aufgehoben werden. 12 Diese Bewahrung der bereits verwirklichten Werte und Erfahrungen wird zwar durch die Folgenatur auch geleistet, aber die vorangegangenen Ausführungen sollten gezeigt haben, dass sich diese konzeptionelle Erweiterung durch die konsequente Anwendung der metaphysischen Grundprinzipien als folgerichtig erwiesen hat.

6.

Charakteristische Merkmale der göttlichen Kokreszenz und die bleibende Andersheit Gottes

In diesem Abschnitt soll kurz noch einmal auf die charakteristischen Merkmale der göttlichen Konkreszenz eingegangen werden, wodurch dann auch der einzigartige Status der göttlichen Entität einsichtig wird und so Missverständnissen vorgebeugt werden kann. Dass Gott wie alle anderen aktualen Entitäten als etwas Dynamisches aufzufassen ist, besagt noch nicht, dass er seinem Wesen nach veränderlich wäre. Die Natur Gottes, also das, was sein Gottsein ausmacht, ist unveränderlich, denn ganz gleich, was in der Welt geschieht, erfüllt die göttliche Konkreszenz für die Welt immer dieselben ontologischen Funktionen. Die Urnatur wertet die reinen Möglichkeiten in Abhängigkeit von der konkreten Situation der neu entstehenden aktualen Entitäten, während die Folgenatur diese nach dem Abschluss ihres Werdeprozesses aufnimmt und vollendet. Dabei fügen beide Aktivitäten der Natur Gottes nichts Wesentliches hinzu, denn Gottes Urnatur ist aufgrund ihrer endgültigen Vollständigkeit in dem Sinn unveränderlich, dass ihr keine neuen Möglichkeiten hinzugefügt werden können. 13 Gott ist auch nicht auf einen bestimmten Verlauf der Welt angewiesen. Die rezeptive Seite Gottes besagt nicht, Vgl. z. B. Lowe 1991, 271: »Whitehead’s doctrine of immortality in God gives permanent meaning to the tragedy of his son’s death. In all probability it was part of his motive for writing it, but that doesn’t warrant our dismissing.« 13 Die Urnatur ist in dem Sinn dynamisch (und somit in einem sehr allgemeinen Sinn veränderlich), dass in ihr die Abstimmung und Hierarchisierung der Möglichkeiten auf die aktuelle weltliche Situation der aktualen Entität geleistet wird. 12

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Gott im Prozess

dass Gott die weltlichen aktualen Entitäten für seinen eigenen Prozess in irgendeiner Weise instrumentalisieren müsse. Gottes eigenes Wesen ist nach Whitehead unabhängig von den Erfahrungen der weltlichen Prozesse. Somit müssen auch alle Interpretationen zurückgewiesen werden, die behaupten, dass ein solcher Gott im Werden erst zu Gott werden müsse und dass Gott deshalb veränderlich sei. Wichtig scheint die Unterscheidung von »Werden« und »Veränderlichkeit«, die zwar in der Umgangssprache meist nicht beachtet wird, die man aber mit Hilfe der Whitehead’schen Terminologie deutlich machen kann. In der Konkreszenz einer endlichen aktualen Entität kommt es nicht zu deren Veränderung, denn dazu müsste es ein Substrat geben, das dem Prozess zugrunde liegt. Vielmehr handelt es sich um ihren Konstitutionsprozess, in dem sie erst das wird, was sie später wirklich ist. Auf einer makrokosmischen Ebene, in der die »Zusammenschlüsse« von aktualen Entitäten die komplexen und dauerhaften »Dinge« konstituieren, kann es Veränderung geben, da die sie konstituierenden aktualen Entitäten entstehen und vergehen und somit in Wechselwirkung mit der Umwelt auch die prägenden Formelemente verändert werden können. Auf der mikrokosmischen Ebene der Konkreszenz selbst gibt es aber nur ein Werden. Es lassen sich weitere Unterschiede zwischen der göttlichen Entität und den zeitlichen Entitäten der Welt ausfindig machen, auf die hier noch einmal explizit hingewiesen werden soll. Dabei geht es primär nicht um die erkenntnistheoretische Stellung des Whitehead’schen Gottesbegriffs, also den Status der Aussagen, die über Gott gemacht werden, sondern um die offensichtliche Andersheit der göttlichen Entität, wie sie von Whitehead selbst beschrieben wird. Neben den Überlegungen zum grenzbegrifflichen Status des Gottesbegriffs besitzen bereits diese metaphysischen Unterschiede eine Relevanz für die Lösung gewisser Probleme bezüglich der Kohärenz des Whitehead’schen Systems, da sie schon zeigen, dass der Versuch, Gott ausschließlich wie die weltlichen aktualen Entitäten zu denken – inklusive der Anwendung aller metaphysischen Kategorien und Prinzipien – nicht gelingt bzw. auch nicht gelingen kann. Obwohl die Konzeption der Bipolarität Gottes analog zur Bipolarität aller anderen aktualen Entitäten gedacht ist, ergeben sich doch folgende Differenzen:

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(1) Während eine weltliche aktuale Entität in ihrem mentalen Pol nur eine bestimmte Auswahl an Möglichkeiten in Form von ewigen Gegenständen erfasst, ist die Urnatur Gottes unbeschränkt, das heißt, sie ist der Inbegriff aller möglichen Formen. (2) Auch die Folgenatur Gottes als sein physischer Pol weist erhebliche Unterschiede zu den physischen Polen der weltlichen aktualen Entitäten auf, die sich aufgrund der Besonderheit der Urnatur ergeben: Aufgrund der beschränkten Anzahl von Möglichkeiten, die eine aktuale Entität in ihrem mentalen Pol empfindet, ist es ihr nur möglich, die vergangenen aktualen Entitäten perspektivisch, also durch Ausschluss bestimmter Elemente zu prehendieren. Dies ist deswegen notwendig, weil die Bestimmtheit ihres Seins von der Realisierung eines bestimmten »eternal object« abhängt, womit die Art und Weise, wie die unmittelbare Vergangenheit als das kausale Material verarbeitet werden soll, festgelegt ist. Um also konkret und somit bestimmt zu werden, ist der Ausschluss von möglichen anderen »kausalen Faktoren« erforderlich. Da aber Gottes Urnatur keine negativen Prehensionen beinhaltet, kann Gott die vergangenen aktualen Entitäten ohne Beschränkung in seine Folgenatur aufnehmen. Braucht die weltliche aktuale Entität wesentlich den perspektivischen Bezug zu ihrer Umwelt, um das zu werden, was sie später in ihrer Bestimmtheit ausmacht, so scheint das gerade auf Gott nicht zutreffen zu können, woraus zunächst geschlussfolgert werden darf, dass Gott durch die Aufnahme der weltlichen aktualen Entitäten nicht in der gleichen Weise Bestimmtheit erfährt, sondern seine Bestimmheit für den Weltprozess immer schon vorausgesetzt werden muss. Wenn Gott aber gerade auf die perspektivische Beschränkung nicht angewiesen ist, um das zu werden, was er wesentlich ist, dann hat die Aufnahme der weltlichen aktualen Entitäten in die Folgenatur Gottes eine etwas andere Bedeutung. Die Konstitution einer unverwechselbaren Identität kann nicht in gleicher Weise für die göttliche Entität gelten, denn diese ist immer schon identifizierbar als genau diese Entität, die zumindest strukturell in immer der gleichen Weise in der Welt wirksam ist. Die göttliche Entität ist immer schon die göttliche Entität, ganz gleich, welche konkreten weltlichen aktualen Entitäten sie in sich aufnimmt. Diese Feststellung verletzt auch nicht das Prinzip der Relativität, nach dem die gesamte Wirklichkeit miteinander wesentlich verbunden ist. 128 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Gott im Prozess

»Wesentlich« kann hier so allgemein aufgefasst werden, dass durch Prehensionen alle Konkreszenzen (inklusive der göttlichen) in der Gegenwart verbunden sind. Ob es nicht doch wesentliche Unterschiede in der Funktion der Prehensionen bei Gott und den aktualen Geschehnissen geben kann, ist damit nicht gesagt. (3) Darüber hinaus ist ein weiterer wesentlicher Unterschied in der göttlichen Konkreszenz festzustellen. Während die Subjektivität einer weltlichen aktualen Entität nach Vollendung ihres Werdeprozesses erlischt und dieser damit vollendet ist, geht der göttliche Prozess immer weiter. Es ist also im Falle Gottes von einer nie endenden Subjektivität auszugehen. (4) Einen weiteren Unterschied kann man in der Funktion des jeweiligen »subjektiven Ziels« sehen. Das »subjektive Ziel« bei einer weltlichen aktualen Entität fungiert als Leitidee in der Konkreszenz, indem es den Prozess sozusagen final orientiert. Das »subjektive Ziel« ist somit konstitutiv für die Konkreszenz einer jeden aktualen Entität in der Welt. Anders verhält es sich mit dem »subjektiven Ziel« Gottes. Es kann nur indirekt, hinsichtlich der Funktion Gottes, für die Welt bestimmt werden und hat für die göttliche Konkreszenz selbst keine konstitutive Bedeutung. 14 Damit hat es eine ganz andere Qualität als die »subjektiven Ziele« der weltlichen aktualen Entitäten, die ja konstitutiv für das sind, was diese als Resultat ihrer Konkreszenz einmal werden. Die göttliche Entität wird aber gerade so gedacht, dass sie schon immer durch ihre Funktionen für die Welt eine Identität hat, also nicht erst Gott werden muss. Insofern müssen die physischen Prehensionen Gottes für seine Konkreszenz eine etwas andere Funktion haben als zur Identitätsstiftung beizutragen. Dies sind wesentliche Unterschiede zwischen den weltlichen aktualen Entitäten und der göttlichen Entität, die von Whitehead selbst mehr oder weniger explizit beschrieben und wie sie auch von der zugrundegelegten metaphysischen Konzeption gefordert werden, wenn diese konsistent sein soll. Im Sinne dieser bleibenden Andersheit Gottes ist Whiteheads berühmtes Diktum zu verstehen, dass Gott nicht als eine Ausnahme Vgl. dazu die Stelle, in der sich Whitehead zum »subjektiven Ziel« Gottes äußert: PRd, 205, PR, 105.

14

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von allen metaphysischen Prinzipien behandelt werden darf, die eingeführt wurde, um deren Zusammenbruch vorzubeugen, sondern dass er ihre wichtigste Exemplifikation sei. 15 Dies besagt demnach nicht, dass Gott exakt so wie die weltlichen aktualen Entitäten beschrieben werden kann, sondern dass die erarbeiteten Begriffe und Prinzipien, soweit das möglich und für die Kohärenz des Gesamtsystems erforderlich ist, auch auf Gott angewendet werden sollen. Das bedeutet, dass man diese Vorgabe auch so lesen kann, dass Gott nicht als die Ausnahme aller metaphysischen Prinzipien anzusehen ist. Der Versuch, die Begriffe und Prinzipien, soweit es geht und sofern es der genetische Kontext zulässt, auch auf Gott anzuwenden, resultiert aus der methodischen Vorannahme, Gott, ausgehend von der metaphysischen Grundanalyse der Wirklichkeit, primär über seine Funktionen für die Welt zu charakterisieren. Damit kann begründet gezeigt werden, dass Gott einen Platz in der metaphysischen Beschreibung der Welt hat und sich so durch metaphysische Minimalbestimmungen begrifflich fassen lässt. 16 Das würde sich Whiteheads Diktum eher gegen eine Konzeption wenden, die Whitehead in »Religion in the Making« das »semitische Konzept« nennt und in der Gott von der Welt völlig separiert gedacht wird, so dass man über ihn nicht mehr als seine einmalige Schöpfertätigkeit in der »creatio ex nihilo« wissen kann. Eine solche Konzeption läuft dann immer Gefahr, dass weitere Aussagen über Gott willkürlich sind, da die behauptete metaphysische Nicht-Eingebundenheit Gottes in den konkreten Weltprozess zu einer metaphysischen Nicht-Beschreibbarkeit Gottes führt.

7.

Der Status des Gottesbegriffs als eines Grenzbegriffs

Die beschriebene »bleibende Andersheit« Gottes ist nicht nur den konkreten metaphysischen Grundannahmen in Whiteheads Metaphysik geschuldet, sie ist vielmehr grundsätzlicher im erkenntnisPRd, 613, PR, 343. Dies hat Whitehead indirekt in dem Gespräch mit A. H. Johnson bestätigt, als er sagte, dass es ihm um die allgemeine metaphysische Beschreibung der Welt gehe, in der ein metaphysischer Gottesbegriff auch seinen Platz hat. So berichtet Johnson: »In any case, he was not primarily interested in God. Rather, he ›just brought God in to show He belonged.‹ But God does belong, and hence Whitehead opposes those humanists who would ›save‹ religion by eliminating essential features.« Vgl. Johnson 1983, 4.

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Gott im Prozess

theoretischen Status des Gottesbegriffs als eines Grenzbegriffs verankert. Whitehead hat bei der Konzeption seines Gottesbegriffs, auch in der werkgeschichtlichen Modifikation, diesen Status auf operationaler Ebene immer berücksichtigt, indem er die metaphysischen Eigenschaften Gott indirekt zuschreibt, weil diese Zuschreibung von der metaphysischen Analyse der Welt abhängig ist. Da Whitehead nie eine theoretische Grundlegung dieser grenzbegrifflichen Bestimmung Gottes vorgelegt hat, hat sich in der Whitehead-Rezeption die Auffassung etabliert, dass Gott als eine aktuale Entität aufzufassen sei, für die exakt dieselben metaphysischen Prinzipien gelten müsse wie für die weltlichen aktualen Entitäten. Dies hat nicht nur den Nachteil, dass die oben beschriebene »bleibende Andersheit« Gottes nicht adäquat begriffen werden kann; es führte zudem zu der Auffassung, dass das Gotteskonzept in »Process and Reality« inkonsistent sei. Im Gegensatz dazu soll nachfolgend gezeigt werden, dass es sich bei dem Gottesbegriff in Whiteheads Philosophie um einen Grenzbegriff handelt. 17 Dieser Status hat zum einen Konsequenzen für vermeintliche metaphysische Probleme des Gottesbegriffs, zum anderen eröffnet er als metaphysischer Grenzbegriff auch der Theologie neue Rezeptionsmöglichkeiten. Auf beide Aspekte wird später noch eingegangen. Zuvor soll aber der allgemeine Status von Grenzbegriffen dargelegt werden. Wenn hier der Terminus »Grenzbegriff« verwendet wird, dann ist damit nicht gemeint, dass der Gottesbegriff nur ein »Randbegriff« sei oder Gott keine ontologische Priorität habe. Vielmehr zielt der Terminus darauf ab, dass wir erkenntnistheoretisch immer nur indirekt Zugriff auf das haben, was wir metaphysisch z. B. das Absolute oder Gott nennen. Da uns Gott nicht unmittelbar gegeben ist wie beispielsweise Objekte unserer sinnlichen Wahrnehmung müssen die Aussagen über Gott anders gewonnen werden und haben daher einen anderen Status. Dies gilt theologisch auch dann, wenn man sich auf Offenbarung beruft, da diese nach wie vor auslegungsbedürftig ist. Um die grenzbegriffliche Struktur des Gottesbegriffs für die Analyse der Whitehead’schen Metaphysik fruchtbar zu machen, sollen hier zunächst einige Überlegungen Philip Claytons skizziert werden, der charakteristische Merkmale echter Grenzbegriffe heraus17

Vgl. für eine detaillierte Analyse Müller 2009, 235–260.

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gearbeitet hat. Clayton untersucht das Thema »Grenzbegriffe« im Kontext des Legimitierungsversuch des Gottesgedankens hinsichtlich der kantischen theoretischen Philosophie. 18 Aufgrund der Zweistämmigkeit der Erkenntnis bei Kant kann der Gottesgedanke wegen der fehlenden sinnlichen Erfahrung nie Gegenstand unserer Erkenntnis werden. Der Gottesgedanke bleibt in der theoretischen Philosophie immer eine regulative Idee, das heißt, ein Gedanke, der von der Vernunft zwar notwendig gedacht werden muss, aber eben auch nur gedacht werden kann. Er hat also einen regulativen und keinen konstitutiven Status. Wegen des fehlenden Erfahrungsbezugs kann Gott nach Kant weder bewiesen noch widerlegt werden und hat keinen Erklärungswert für unsere Erkenntnis. Nun kann aber nach Clayton die Unterscheidung von »regulativ« und »konstitutiv« bei Kant nicht immer klar gezogen werden. Gerade bei der Betrachtung des Gottesgedankens fußt die kantische Lösung, Gott als regulatives Ideal zu klassifizieren, auf der Schlussfolgerung der transzendentalen Dialektik. Dort verwirft Kant den konstitutiven Gebrauch des Gottesgedankens, weil es verschiedene Konzeptionen des Unbedingten gibt, was nach Kant nicht sein dürfte. Clayton fragt nun zurück, ob man nicht anhand dieses Gedankens einen Schritt über Kant hinaus tun könne. Wäre es denkbar, Grenzbegriffe einzuführen, die zunächst als Implikate unserer Erkenntnispraxis auftreten und deren Erklärungswert nicht mehr deduziert werden kann? Es wird also auf ein Konzept abgezielt, in dem diese Postulate als Grenzbegriffe anzusehen sind, die zwar nicht deduktiv abzuleiten sind, die aber als Teil allgemeiner Theorien durchaus einen Erklärungswert besitzen können und insofern konstitutiv sind. Als Beispiel einer solchen allgemeinen Theorie kann man religiöse Systeme anführen, die dieser Definition zufolge Grenzbegriffe (z. B. in Form eines Begriffs von »Gott« oder einer anderen transzendenten Instanz) beinhalten und diese mit inhaltlichen Charakterisierungen versehen. Diese inhaltlichen Erklärungen haben aber dann gerade einen Erklärungswert für den Ausgangsbereich: Auf die Frage, warum überhaupt etwas existiert und nicht vielmehr nichts, kann als mögliche Antwort ein Schöpfergott ins Feld geführt werden. Durch inhaltliche Charakterisierungen wird dann in der Regel auch ein Modell entworfen, wie dieser Schöpfergott dann schöpferisch tätig ist. Wegen der fehlenden deduktiven Ableitbarkeit dieser meta18

Clayton 1996.

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physischen Theorien, in denen Grenzbegriffe eine entscheidende Rolle spielen, bezeichnet Clayton sie als »metaphysische Hypothesen«. 19 Metaphysische Hypothesen können nicht direkt abgeleitet werden, und deshalb kann ihre Beurteilung nur noch indirekt vollzogen werden: »Konkretere Hypothesen [solche, die dem Gedanken des Grenzbegriffs einen konkreten Inhalt verleihen, T. M.] bedürfen keiner Ableitung aus einer allgemeinsten Kategorie wie der des Absoluten, sondern werden zu Beginn nur unter der Bedingung postuliert, daß sie mit den Grenzbegriffen der menschlichen Reflexion konsistent sind (Standardbedingungen wie theoretische Konsistenz und empirische Adäquatheit müssen ebenfalls Anwendung finden).« 20

Daraus folgt, dass die inhaltliche Charakterisierung der metaphysischen Hypothesen auf verschiedene Weisen erfolgen kann, solange all diese Charakterisierungen sich eben als kompatibel mit den Grenzbegriffen herausstellen. Das bedeutet hinsichtlich der Konzeption eines Gottesbegriffs, dass es verschiedene miteinander konkurrierende Gottesmodelle geben kann und gibt, bei denen nicht ausgeschlossen ist, dass sie einen ähnlichen Erklärungswert besitzen. 21 Diese Pluralität spricht nicht gegen den Versuch, Gott inhaltliche Bestimmungen zu geben, es wird dadurch auch nicht der Wahrheitsanspruch aufgegeben. 22 Sie ist aber deutlicher Hinweis darauf, dass die Wahrheit solcher Zuschreibungen nicht unmittelbar »abgelesen« werden kann, was an unserer endlichen Perspektive und der Art und Weise, wie wir zu solchen Zuschreibungen kommen, liegt. Speziell für den Dialog zwischen Naturwissenschaften und Religion bedeutet dies, dass es verschiedene solcher metaphysischen Hypothesen geben kann, dass man also Gott als Schöpfer unterschiedlich konzipieren kann. Diese konkreten Modelle können dann nur indirekt beurteilt werden, indem man sie z. B. als kohärent mit Einsichten aus anderen Bereichen erweisen kann. Claytons Überlegungen skizzieren den Status eines Grenzbegriffs. Um die Leistungsfähigkeit von Grenzbegriffen besser beurteilen zu können, sollen hier noch einige begriffslogische BemerkunClayton 1996, 337. Clayton 1996, 339. 21 Vgl. Clayton 1996, 339. 22 Es spricht lediglich gegen Positionen, die glauben, ihre Perspektive sei die erschöpfende und einzig mögliche. 19 20

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gen zu ihrer Struktur gemacht werden, die auf Einsichten von Hermann Schrödter beruhen. 23 Grenzbegriffe treten immer dann auf, wenn es um Bestimmungen geht, die dem thematisierten Gesprächsbereich als Ganzem zukommen. Sie setzen so einen schon bestimmten und strukturierten Gesprächsbereich voraus, der dann auf einen anderen Bereich hin begrifflich überschritten wird. Das bedeutet, dass ein konstitutives Merkmal eines thematischen Ausgangsbereichs (z. B. »Welt«) aufgrund einer Fragestellung negiert und auf einen weiteren (inhaltlich weniger bestimmten) Bereich hin (z. B. das Absolute als das Nicht-Kontingente) überschritten wird. Grenzbegriffliche Bestimmung ist also immer relational und vermittelt somit zwei Gesprächskreise, die in einer inhaltlichen Beziehung stehen, die aber keine gemeinsamen Teilmengen besitzen. Im Bereich der Metaphysik wird hinsichtlich des Gottesgedankens erkannt, dass bestimmte Eigenschaften prinzipiell nicht mehr aus der Welt erklärt werden können. Damit wird (durch eine intensionallogische Negation) der Ausgangsbereich auf einen anderen Bereich hin, der traditionellerweise Gott, das Absolute usw. genannt wurde, überschritten und auf diesen bezogen. Wie kann nun ein Grenzbegriff inhaltlich charakterisiert werden? Seine inhaltliche Charakterisierung kann einem Grenzbegriff nur dadurch zukommen, dass seine inhaltlichen Bestimmungen eine gewisse Relevanz für den Ausgangsbereich aufweisen. Diese Struktur des Grenzbegriffs führt also zu folgenden Besonderheiten: Der Grenzbegriff ist inhaltlich nicht direkt aus dem Ausgangsbereich zu deduzieren und zu charakterisieren. Dadurch sind seine inhaltlichen Charakterisierungen kontingent. Dies bedeutet, dass er nicht denselben Prinzipien unterliegt wie Phänomene des Ausgangsbereichs. Aufgrund seiner Struktur qualifiziert der Grenzbegriff den gesamten Ausgangsbereich neu, fügt diesem also neue inhaltliche Bestimmungen hinzu. Im Falle des Gottesbegriffs wäre eine solche Bestimmung beispielsweise der Schöpfergedanke, der dann den Ausgangskontext (Welt) eben neu qualifiziert (als Schöpfung). Gemäß den von Clayton vorgetragenen Gedanken lassen sich nun verschiedene Modelle entwerfen, wie Gott als Schöpfer zu denken ist. Weiterhin scheint es dann möglich, diese Modelle zumindest indirekt (z. B. durch das Kriterium der Kohärenz) zu beurteilen. Ein Modell, das z. B. die Entwicklung der Natur durch

23

Vgl. Schrödter 2015, 182 f.

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Gott im Prozess

eine Art Evolution abstritte, wäre dann mit anderen fundamentalen und gut begründeten Annahmen nicht vereinbar. Als ein allgemeines Beispiel für einen Grenzbegriff, das vielen vertraut sein wird, kann man hier die physikalische Kosmologie anführen. Denn ist die »eigentliche« Physik (auch in ihren theoretischen Überlegungen) letztlich gebunden an die experimentelle Bestätigung, so setzen die physikalisch-kosmologischen Theorien die physikalische Bestimmtheit des Universums samt allen durch Experimente überprüfbaren Gesetzmäßigkeiten prinzipiell voraus. Der grenzbegriffliche Bereich, auf den hin der Ausgangsbereich in einer physikalischen Kosmologie überschritten wird, ist dadurch charakterisiert, dass es in ihm zwar physikalische Gesetzmäßigkeiten gibt, aber nach Erklärungen für Bestimmtheiten gesucht wird, die im Ausgangsbereich nur vorausgesetzt werden können (z. B. die Bestimmtheit der physikalischen Konstanten, die Ausdehnung des Universums, die Verteilung der Materie innerhalb des Universums, das Vorhandensein und die Verteilung der Hintergrundstrahlung usw.) und die ihrerseits nicht mehr im physikalisch üblichen Sinne experimentell überprüfbar sind. Deshalb ist der grenzbegriffliche Bereich hier auch inhaltlich weniger bestimmt, weil das Kriterium der experimentellen Überprüfbarkeit nicht in demselben Sinne gegeben ist und gegeben sein kann, wie dies in der »eigentlichen« Physik vorausgesetzt wird. Vielmehr ist es so, dass der grenzbegriffliche Kontext Annahmen enthält, die diese Phänomene im Ausgangsbereich physikalisch erklären sollen. Die inhaltliche Charakterisierung solcher Theorien kommt also aus der Relevanz für den Ausgangsbereich. Da diese Art der Charakterisierung kontingent ist, gibt es auch eine große Anzahl kosmologischer Theorien. Gemeinsam ist den grenzbegrifflichen Charakterisierungen also, dass sie systematisch nur dann in den Blick kommen, wenn der ursprüngliche Gesprächsbereich aus prinzipiellen Gründen intensional negiert und somit überschritten wird. Das bedeutet, die grenzbegrifflichen Konzepte können nicht direkt aus der zugrundeliegenden Theorie deduktiv abgeleitet werden, haben aber dennoch einen Erklärungswert und unterliegen nicht im strengen Sinne den gleichen Prinzipien des Ausgangsbereichs. In diesem Sinn kann auch Whiteheads Gottesbegriff als Grenzbegriff klassifiziert werden, denn Gott kommt in der Whitehead’schen Metaphysik nur in den Blick, insofern er einen Erklärungswert für den Konstitutionsprozess der weltlichen aktualen 135 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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Entitäten hat und seine von ihm ausgeübten metaphysischen Funktionen nicht durch die weltlichen aktualen Entitäten erklärt werden können. Die Limitation und die Bewertung der Möglichkeiten für die weltlichen aktualen Entitäten können nicht selbst von weltlichen aktualen Entitäten geleistet werden. Aufgrund der Struktur des Grenzbegriffs ist die weitere inhaltliche Qualifizierung Gottes nur durch einen Bezug auf den Ausgangsbereich durchführbar. Die dort gewonnenen Konzepte und Prinzipien wie die Bipolarität können nun auch analog Gott zugesprochen werden, um das Gesamtsystem kohärenter zu machen. Hilft diese Einsicht, um interne Probleme der Philosophie Whiteheads zu lösen? Anders formuliert: Was bedeutet der Status als Grenzbegriff hinsichtlich einer vermeintlichen Inkohärenz des Gottesbegriffs, die schon seit vielen Jahren in der Whitehead-Forschung diskutiert wird? Ein fundamentales Problem der Inkohärenz schien darin zu bestehen, dass Gott als immerwährender Prozess prehendierbar gedacht werden muss, weil er den weltlichen aktualen Entitäten die für sie abgestimmten Möglichkeiten (»initial aims« bzw. »subjective aims«) anbietet. Dies setzt voraus, dass die weltlichen aktualen Entitäten Gott durch Prehensionen erfassen können. Für alle weltlichen Prozesse gilt aber, dass sie erst dann prehendiert werden können, wenn ihre Subjektivität erloschen ist, weil nur dadurch gewährleistet werden kann, dass die Zenon’schen Paradoxien in einer Zeittheorie umgangen werden können. Die dort auftauchenden Widersprüche entstehen nach Whitehead in Theorien der Zeit, die eine unendliche Teilbarkeit der Zeit in immer kleinere Zeiteinheiten behaupten, was Whitehead dazu veranlasste, eine Theorie der epochalen Zeit für seine Metaphysik zu entwickeln, deren Grundlage die aktualen Entitäten als diskrete Zeiteinheiten darstellen, die nur noch mathematisch, nicht aber ontologisch weiter zerteilt werden können. 24 Dies hat aber auch Implikationen für die Prehendierbarkeit einer aktualen Entität während ihrer Konkreszenz. Denn um etwas zu prehendieren, das heißt, es als Datum in die eigene Konkreszenz aufzunehmen, muss es konkret bestimmt sein. Wäre nun aber die Konkreszenz ontologisch unterteilbar in abgeschlossene Subakte, die ihrerseits wieder Vgl. Klose 2002, vor allem die S. 212–222, in denen Klose Whiteheads Argumentation nachzeichnet und dem Einfluss der Quantentheorie auf die Konzeption der epochalen Theorie der Zeit nachgeht.

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Gott im Prozess

zeitlich ausgedehnt sein müssten, so könnte man dem Zenon’schen Paradoxon des Pfeiles nicht entgehen, nach dem die unendliche Teilbarkeit der Zeit in eine absolute Bewegungslosigkeit führen würde. Das bedeutet, dass der Werdeprozess erst prehendierbar sein darf, wenn er abgeschlossen ist. Da Gott aber als der nie vergehende Prozess in der Whitehead’schen Metaphysik konzipiert worden ist, scheint es, als würde er damit auch als prinzipiell nicht prehendierbar gedacht. In der Prozessphilosophie und -theologie wurden zahlreiche Versuche unternommen, dieses Problem zu lösen. So fasst Charles Hartshorne Gott als »personal ordered society« auf, in der es eine Abfolge von göttlichen Prozessen gibt, die alle abgeschlossen und somit prehendierbar sind. Marjorie Suchocki entwickelt aufgrund der »reversal of the poles« ein Konzept der »primordial satisfaction« und Lewis Ford versucht dem Problem dadurch zu entkommen, dass er Gott als »future creativity«, die gar nicht prehendierbar zu sein braucht, begreift. 25 Alle diese Konzepte versuchen, diese Inkohärenz zu beseitigen, handeln sich aber neue konzeptionelle Probleme ein, weil Gott dann in anderen Bereichen als metaphysische Ausnahme angesehen werden muss. 26 Heißt dies, dass, solange das Problem der Prehendierbarkeit nicht gelöst ist, der Gottesbegriff metaphysisch und theologisch unbrauchbar ist? Dies hätte für eine an Whitehead orientierte Religionsphilosophie und Theologie gravierende Auswirkungen. Es ist aber gar nicht notwendig, dieses Problem innerhalb der Whitehead’schen Metaphysik mit zusätzlichen metaphysischen Prämissen zu lösen, denn das würde voraussetzen, dass Gott wie eine andere weltliche aktuale Entität betrachtet werden und er deshalb jedes metaphysische Prinzip in derselben Weise erfüllen müsste. Dies würde aber der Einsicht, dass Gott aus methodischen Gründen ein metaphysischer Grenzbegriff ist, widersprechen. Die Argumentation muss gewissermaßen andersherum laufen: Man kann Gott weitere metaphysische Bestimmungen (wie z. B. die Bipolarität) zuschreiben, solange dadurch das metaphysische System kohärenter wird. Umgekehrt muss nicht das metaphysische System geändert werden, wenn Gott nicht alle metaphysischen Prinzipien erfüllt, die für die weltlichen aktualen Entitäten gelten. Auch wenn Whitehead dieses Problem in »Process 25 26

Vgl. Hartshorne 1948, 30 f.; Suchoki 1975, 240 f.; Ford 2000, 242 f. Vgl. Müller 2009, 209–234.

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Tobias Müller

and Reality« nie explizit behandelt hat, gibt es gute Gründe zu behaupten, dass er Gott auf einer operativen Ebene als einen Grenzbegriff angesehen hat. Das metaphysische Gotteskonzept beinhaltet – wie oben gezeigt – schon notwendig die metaphysische »bleibende Andersheit« Gottes, ohne dass dadurch seine wesentliche Bezogenheit auf die Welt und die dadurch grundsätzlich erreichbare und logisch kontingente Beschreibbarkeit geleugnet werden müsste. Als Indiz für diese Andersheit kann man die »reversal of the poles« anführen, die besagt, dass die Konkreszenzen der weltlichen aktualen Entitäten und die Gottes strukturell entgegengesetzt verlaufen. Deshalb muss Gott auch nicht erst eine Einheit werden – im Gegensatz zu den weltlichen aktualen Entitäten –, sondern er ist immer schon eine Einheit, aus der heraus er seine Funktionen für den Kosmos erfüllt. Da Whitehead in »Process and Reality« von einer Bipolarität aller Wirklichkeit ausgeht, muss die Einheit Gottes von seiner Urnatur (»primordial nature«) ausgehen, die dann eine »UrErfüllung« (»primordial satisfaction«) suggeriert. Dies wirft dann aber systemimmanent die Frage auf, warum die göttliche Konkreszenz immer weiter voranschreitet, wenn doch ihre Erfüllung immer schon erreicht ist, wohingegen bei allen weltlichen aktualen Entitäten ihre Erfahrungsfähigkeit erlischt, sobald ihre Erfüllung erreicht ist. Dies bedeutet für die inhaltliche Charakterisierung des metaphysischen Gottesbegriffs: Man kann und soll versuchen, die Kohärenz des metaphysischen Systems weiter voranzutreiben. Dies geht aber nur bis zu einem gewissen Grad. Darüber hinaus lässt sich mit diesen Versuchen keine größere Kohärenz mehr erreichen, sondern man handelt sich immer größere Inkohärenzen ein. 27

8.

Zusammenfassung und Ausblick: Das Verhältnis von metaphysischem Gottesbegriff zu Religion und Theologie

Die vorangegangene Analyse sollte deutlich gemacht haben, dass es sich bei dem Gottesbegriff in Whiteheads Philosophie um einen metaphysischen Gottesbegriff handelt, der als Grenzbegriff aufzufassen ist und der durch die metaphysische Analyse der Welt und deren methodische Grundlegung – die deskriptive Verallgemeinerung – begründet in den Blick kommt. Aus dem oben Gesagtem wird aber auch 27

Vgl. dazu Müller 2009, 209–235.

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Gott im Prozess

deutlich, dass die metaphysische Beschreibung eine bestimmte Perspektive darstellt: Sie beschreibt die allgemeinsten Grundbestimmungen der Wirklichkeit. Diese kann für andere Zwecke und in anderen Kontexten aber durch andere Erfahrungen und Interpretationen ergänzt werden. Metaphysische Bestimmungen schließen also andere, spezifischere Bestimmungen zunächst nicht aus, solange diese den metaphysischen Bestimmungen nicht widersprechen. Wenn es nun nach Whitehead auch für die Religion – zumindest in ihrer rationalen Form – möglich ist, ihre Erfahrungen mit anderen Erkenntnissen zu einem kohärenten System auszuarbeiten, besitzen die Whitehead’sche Metaphysik und ihr Gottesbegriff auch für diese Religionsform, sofern sie nach intellektueller Rechtfertigung strebt, eine Relevanz. Denn die Religion geht auf dieser Stufe zwar von besonderen (religiösen) Ereignissen aus, die nach Whitehead in »Augenblicken höchster Einsicht« 28 gemacht werden können, sie muss aber den universalen Gehalt dieser Erfahrungen in ihren Dogmen darstellen. Hierfür ist Religion auf eine theologische Reflexion angewiesen, die diese Interpretation systematisch und methodisch vollzieht. Damit wird auch eine philosophische Kosmologie relevant, denn zur Formulierung von Dogmen werden Begriffe benutzt, die aber einer bestimmten Denksphäre entlehnt sind und im Laufe der Zeit einem Bedeutungswandel unterliegen. Um also die Sinnhaftigkeit und Rationalität religiöser Aussagen aufzuzeigen, muss die rationale Religion Whitehead zufolge im Rückgriff auf Metaphysik den Bedeutungsgehalt der verwendeten Begriffe darlegen. Beispiele hierfür sind für Whitehead die Begriffe »wirklich«, »Individualität«, »Entität«, »persönlich« und »unpersönlich« 29. Dabei gilt es zu untersuchen, ob diese Begriffe in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich verwendet oder ob sie überhaupt in einem eindeutigen Sinn gebraucht werden. Diese kritische Überprüfung der verwendeten Begriffe ist deshalb eine Aufgabe der Metaphysik, weil durch diese nach Whitehead ein Ideenschema bereitgestellt werden soll, mit dem die gesamte Wirklichkeit beschrieben werden kann. 30 Insofern müsste die Religion entweder auf diese Kategorien und Ideen bei der Bildung von Dogmen zurückgreifen oder zumindest zeigen, in welcher Weise ihre Begriffe kompatibel mit den Grunderfahrungen und 28 29 30

RMd, 27, RM, 32. RMd, 61, RM, 78. Vgl. RMd, 65, RM, 84.

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Tobias Müller

somit mit dem daraus gewonnenen Ideenschema sind. Religiöse Inhalte, die diesen Grunderfahrungen widersprechen, entbehren somit einer gewissen Grundrationalität. Aus diesem Grund scheint die Whitehead’sche Kosmologie samt ihrem Gottesbegriff für die Theologie eben deshalb interessant, weil sie als grundlegendes Kategorienschema die metaphysischen Grundbestimmungen der Wirklichkeit unter Berücksichtigung aller Erfahrungsgebiete beschreiben möchte. Damit bietet sie sich als ein konzeptioneller Bezugspunkt für die von einer heutigen Theologie geforderten Vermittlungsversuche mit dem modernen Denken (z. B. im Dialog mit den Naturwissenschaften) an. Besonders die auf strikten Dualismen beruhenden Aporien des gegenwärtigen Denkens können mit Whiteheads philosophischer Kosmologie vermieden werden, denn diese bietet einen metaphysischen Ansatz, mit dem die strikte Trennung von Materie und Geist sowie von Natur und Gott überwunden werden kann, ohne dass eine der beiden Instanzen auf die andere reduzierbar wäre. Das differenzierte Verhältnis von Gott und Natur jenseits reiner Identität und absoluter Verschiedenheit ermöglicht es beispielsweise, sowohl Gottes schöpferisches Wirken als auch die Freiheit der Welt zu denken und konstruktiv aufeinander zu beziehen. Somit bietet sich die Prozessphilosophie für eine moderne Religionsphilosophie und Theologie als längst noch nicht ausgeschöpfte Ressource an.

Literatur Clayton, Philip (1996). Das Gottesproblem. Band 1: Gott und Unendlichkeit in der neuzeitlichen Philosophie. Paderborn u. a.: Schöningh. Ford, Lewis S. (2000). Transforming Process Theism. Albany: SUNY Press. Hartshorne, Charles (1948). The Divine Relativity. New Haven: Yale University Press. Johnson, A. H. (1983). »Some Conversations with Whitehead Concerning God and Creativity«. In: Ford, Lewis S.; Kline, George L. (Hg.): Explorations in Whitehead’s Philosophy. New York: Fordham University Press: 3–13. Klose, Joachim (2002). Die Struktur der Zeit in der Philosophie Alfred North Whiteheads. Freiburg, München: Alber. Lowe, Victor (1990). Alfred North Whitehead. A Man and His Work. Volume II: 1910–1947. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press. Müller, Tobias (2009). Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A. N. Whiteheads. Paderborn: Schöningh.

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Gott im Prozess Schrödter, Hermann (2016). »Naturwissenschaft als Erzählung? Grenzbegriffe als logischer Ort neomythischer Vernunft und ihrer Kritik«. In: Georg-Zöller, C.; Bäumer, F.-J.; Menges, T.; Novian, M. (Hg.). Mythos und Neomythos: Signaturen des Zeitgeistes. Paderborn: Schöningh: 179–192. Suchocki, Marjorie (1975). »The Metaphysical Ground of the Whiteheadian God«. In: Process Studies 5 (4): 237–246.

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Fußnoten zu Platon? Gott in den Systemen Whiteheads und Platons Helmut Maaßen

1.

Gott im System Platons

1.1 Hintergrund des platonischen Gottesdenkens Weiterhin würde es viel zu weit führen, über die Inkonsequenz Platons zu sprechen, der im Timaios behauptet, der Schöpfer dieser Welt könne nicht angegeben werden, in seinen Büchern über die Gesetze aber meint er, eine Untersuchung über das göttliche Wesen dürfte man überhaupt nicht anstellen. Wenn er die Gottheit aber als völlig körperlos verstanden haben will – asomatos, wie die Griechen sagen –, so kann man sich eine solche Beschaffenheit nicht vorstellen: denn die Gottheit muß dann zwangsläufig ohne Empfindung, aber auch ohne Vernunft und ohne Lust sein, Eigenschaften, die wir alle mit dem Begriff »göttliche Wesen« verbinden. Derselbe Platon sagt im Timaios und in den Nomoi, daß die Welt, der Himmel, die Gestirne, die Erde und die Seelen, ebenso auch diejenigen Götter, die wir mit den Bräuchen unserer Vorfahren übernommen haben, Gottheiten seien. Das aber ist offensichtlich an sich schon falsch und steht außerdem untereinander in einem heftigen Widerspruch. 1

Es bleibt zu fragen, was an dieser Beschreibung durch Cicero in De Natura Deorum einer kritischen Prüfung standhalten kann. Immerhin hat er die erste lateinische Übersetzung des Timaios angefertigt und damit die intensive Beschäftigung mit diesem Werk in der Forschung vom frühen Mittelalter an wesentlich gefördert. Platon greift wie selbstverständlich Gott und Götter des griechischen Pantheons auf. Zeus, Athene, Eros, Gaia etc. Die Tradition der Götter und Göttergestalten wird aufgenommen und in bestimmter Weise interpretiert. 2 Die Götter des platonischen Pantheon sind Cicero 1996, S. X (Buch I, 30). François 1957, 280: »A notre avis, la pluralité des dieux était pour les Grecs une notion si peu contestable et, de plus, le mot θεός était si communément employé au singulier avec une valeur collective que, même dans les dialogues, où il lui a donné un

1 2

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Fußnoten zu Platon?

durch und durch anthropomorph. Damit stehen sie in Spannung zu deren Funktion bzw. Bezeichnung als Himmelkörper. Dazu später mehr.

1.2 Die Charakterisierung der Gottesvorstellung Was kann man über die Götter sagen? Nach welchen Kriterien soll man verfahren? Platon fordert höchste Zurückhaltung für jeden Versuch das Wesen der Götter zu bestimmen: Hermogenes: Diese Erklärungen scheinen mir zu genügen, Sokrates. Könnten wir nun aber nicht auch mit den Namen der Götter so verfahren, wie du es vorhin mit dem des Zeus getan hast, und untersuchen, mit welcher Richtigkeit ihre Namen gesetzt sind? Sokrates: Ja, beim Zeus, Hermogenes: wenn wir die Einsicht besäßen, könnten wir das sogar auf eine besonders schöne Art tun, indem wir sagen, daß wir über die Götter nichts wissen, weder über sie selbst noch über die Namen, mit denen sie sich selbst benennen; denn es ist doch klar, daß sie sich selbst die richtigen Namen geben. Eine zweite Art von Richtigkeit ergibt sich ferner aus der Regel, wie wir zu beten pflegen, daß wir sie nämlich so anrufen, wie und wonach sie selber angerufen werden möchten, da wir ja nichts anderes wissen. Denn das ist, meine ich, eine gute Regel. Wenn Du einverstanden bist, wollen wir die Prüfung jetzt so anstellen, als hätten wir den Göttern zuerst die Versicherung abgegeben, daß sich diese nicht auf sie beziehen soll – denn zu einer solchen Untersuchung halten wir uns nicht für fähig –, sondern nur auf die Menschen: von welcher Meinung sie nämlich ausgegangen seien, als sie den Göttern die Namen gaben […]. 3

Und im Philebos heißt es: Was die Götternamen betrifft, Protarchos, so hatte ich von jeher nicht bloß eine Scheu, wie sie Menschen sonst haben, sondern eine, die ärger ist als die größte Angst. Auch die Aphrodite will ich jetzt so anrufen, wie es ihr lieb ist. 4

Im Timaios spricht Platon nachdrücklich davon, dass die Rede über den Kosmos nur als ἔικως μύθος und ἔικως λόγος synonym 5 ersens très particulier, Platon n’a pas cru devoir, par souci de logique, se détacher d’une tradition bien vivante.« 3 Platon 1974, Kratylos, 400–401. Die Übersetzungen der Platon-Zitate entstammen der Werkausgabe durch Gigon (siehe Literaturverzeichnis). 4 Platon 1974, Philebos, 12b–c. 5 Dies hat B. Witte in seinem Aufsatz »Der Eikos Logos in Platos Timaios« (Witte, 1964) gezeigt.

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Helmut Maaßen

folgen kann, eine andere Redeweise wäre unserer menschlichen Natur unangemessen. 6 Auch davon später mehr. 7 Im Phaedrus wird eine Definition Gottes versucht, die mit der Mahnung endet: […] ohne einen Gott zu sehen und zu erkennen, bilden wir ihn uns als ein unsterbliches Lebewesen, das zwar eine Seele, doch auch einen Leib hat, bei dem diese aber für alle Zeit zusammengefügt sind. Mag sich das nun so verhalten, wie es dem Gotte gefällt [ἀλλὰ ταῦτα μὲν δή, ὅπῃ τῷ θεῷ φίλον], und so sei auch davon geredet. 8

Der Vorsicht eingedenk, die Platon anmahnt, stellt er sich der Frage nach dem Verhältnis von Kosmologie und den anthropomorphen Göttern und deren Moral. Wenn die Kosmologie mit natürlichen Erklärungen zunimmt und die Moralität der tradierten Götter in Frage gestellt wird, schlägt zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. die Geburtsstunde des Atheismus. Platon ist weit entfernt von einer Kritik an tradierten Gottesvorstellungen wie etwa der des Xenophanes: Vgl. Platon 1974, Timaios, 29d 1. An dieser Stelle sollen nicht die methodischen Probleme erörtert werden, die sich aus der Struktur des Dialogs ergeben, nämlich »den Sachgehalt der Erzählung und insbesondere ihre rationalen Motive aus einer Erzählweise herauszulesen, die eigentümlich locker, inkohärent und anspielungsvoll wie ein Märchen ist« (Gadamer 1974, 8). 7 »Unter diesen Voraussetzungen aber muß diese Welt mit aller Notwendigkeit das Abbild einer anderen Welt sein. Es ist aber von größter Wichtigkeit, bei jeglichem von seinem natürlichen Anfang auszugehen. Wir müssen also nun, wenn wir vom Abbild und von seinem Vorbild reden wollen, folgende genaue Bestimmung treffen: die Worte müssen den Gegenständen, die sie erklären wollen, auch verwandt sein; handeln sie also vom Bleibenden und Festen und von dem, was sich durch die Einsicht erhellen läßt, da sollen es auch bleibende und unumstößliche Worte sein – soweit es möglich ist und soweit es logischen Erörterungen überhaupt zukommt, unwiderlegbar und unüberwindlich zu sein, darf man es da an nichts fehlen lassen –, die Worte dagegen über das, was jenem nachgebildet ist, die müssen, indem dies selbst ja nur ein Bild ist, wahrscheinlich sein und jenen Gegenständen entsprechen. Denn wie zum Werden das Sein, so verhält sich zum Glauben die Wahrheit. Sollte ich mich nun also, lieber Sokrates, in vielem und über manches, über Götter und über die Entstehung des Alls, nicht imstande zeigen, erschöpfende und vollständige Auskunft zu geben, dermaßen, daß meine Aussagen in sich übereinstimmen und peinlich genau sind, so wundere dich nicht. Wenn ich dir nun aber doch eine Darstellung biete, die an Wahrscheinlichkeit hinter keiner anderen zurückbleibt, so wollen wir damit zufrieden sein und daran denken, daß ich, der Sprechende, und ihr, meine Kritiker, nur Menschen sind und daß es also in Ordnung ist, wenn wir über diese Gegenstände die Erzählung hinnehmen, die wahrscheinlich klingt, und darüber hinaus nicht noch etwas anderes suchen.« (Platon 1974, Timaios, 29c–d). 8 Platon 1974, Phaidros, 246b–d. 6

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Fußnoten zu Platon?

Alles haben Homer und Hesiod auf die Götter geschoben, was bei den Menschen schimpflich und tadelnswert ist: Diebstahl, Ehebrechen und Betrug. 9

Mitnichten sind die Götter so, wie z. B. Xenophanes behauptet. Dieser Kurzschluß, aus der fehlerhaften Beschreibung vermeintlich göttlicher Eigenschaften auf deren Nichtexistenz zu schließen, wird von Platon scharf zurückgewiesen: Der Athener: Von den Göttern zunächst, mein Bester, behaupten diese Leute, ihr Dasein beruhe auf der Kunst und nicht auf der Natur, nämlich auf irgendwelchen Gesetzen, und es gebe an jedem Ort wieder andere Götter, je nachdem diejenigen, welche jeweils die Gesetze erlassen, unter sich übereingekommen sind; ebenso sei auch das Schöne nach der Natur ein Anderes als dasjenige nach dem Gesetz und von diesem verschieden; das Gerechte aber werde überhaupt nicht durch die Natur bestimmt, sondern die Menschen stritten sich dauernd darüber und nähmen auch immer wieder Abänderungen an den Satzungen vor; die Gültigkeit der einzelnen und jeweiligen Abänderungen beruhe dann aber, wenn sie jeweils vorgenommen werde, auf der Kunst und auf den Gesetzen und durchaus nicht irgendwie auf der Natur. Dies alles, meine Freunde, gilt bei den jungen Menschen als die Lehre der weisen Männer, die in gewöhnlicher Rede und in Gedichten Behauptung aufstellen, es sei immer das am gerechtesten, was einer mit Gewalt durchsetzen könne; daher kommt es, daß die jungen Leute auf gottlose Handlungen verfallen, da es ja keine Götter von der Beschaffenheit gebe, wie man sie sich nach der Vorschrift des Gesetzes zu denken hat, und daher kommen auch die Aufstände, nämlich durch den Hang nach einem Leben, das auf dem Recht der Natur beruht, das aber in Wahrheit darin besteht, so zu leben, daß man über die anderen herrscht, statt daß die einen den anderen nach dem Gesetz untertänig sind. 10

Der Staat schützt überbrachte Formen der Religion und bekämpft den Atheismus. Die Dichter werden eben nicht nur wegen des doppelten Abbildungscharakters ihrer Werke aus der Polis verbannt, sondern auch deshalb, weil sie unzutreffende Geschichten über die Unmoral der Götter verbreitet haben, von Homer angefangen. Der Staat hat deshalb als Aufgabe, die wahre Religiosität zu schützen und den Atheismus zu verbannen, und das ›Unantastbare nicht anzutasten‹ (μὴ κινεῖν τὰ ἀκίνητα) 11 oder das Heilige dem

Xenophanes 1983, fr 11. Platon 1974, Nomoi X, 890a. 11 Platon 1974, Nomoi III, 684e 1; VIII, 843a 1; XI, 913b 9. 9

10

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menschlichen Maßstab zu unterwerfen, weil Gott das Maß aller Dinge ist (πάντων χρημάτων μέτρον). 12 Wie aber sollen sich die Menschen verhalten? Tragen sie Verantwortung für ihr Tun oder liegt dies ganz allein bei den Göttern? Wie handeln die Götter, welche Eigenschaften sind ihnen zu eigen? Platon spricht wohl als erster von der Theologie (θεολογία). 13 Mit aller Vorsicht lässt sich von Gott sagen: So, wie der Gott ist, so muß man ihn auch allezeit darstellen, ob man ihn nun in einem Epos, in lyrischen Gedichten oder in einer Tragödie auftreten läßt. »Ja, das muß man.« Gott ist aber doch in Wirklichkeit gut und muß auch so dargestellt werden? »Ganz gewiß.« Und etwas Gutes ist doch nie schädlich, nicht wahr? »Ich glaube nicht.« Und was nicht schädlich ist, richtet auch keinen Schaden an? »Auf keinen Fall.« Und was nicht schadet, tut auch nichts Schlechtes? »Auch das nicht.« Was aber nichts Schlechtes tut, das kann auch nicht Ursache von etwas Schlechtem sein? »Natürlich nicht!« Wie aber: ist das Gute förderlich? »Ja.« Und Ursache von Wohlergehen? »Ja.« So ist also das Gute nicht Ursache von allen Dingen. Es ist wohl Ursache von dem, was sich gut verhält; an dem Schlechten aber ist es unschuldig. »Ja, durchaus«, sagte er. Dann ist also auch der Gott, sagte ich, wenn anders er gut ist, nicht Ursache von allen Dingen, wie die Menge behauptet. Nur an wenigem, was die Menschen betrifft, ist er schuld, an vielem dagegen unschuldig; denn des Guten, das wir haben, ist viel weniger als des Schlechten. Die Ursache für das Gute dürfen wir niemand anderem zuschreiben; für das Schlechte aber müssen wir irgendwelche anderen Ursachen suchen, nicht aber den Gott. 14

12 13 14

Platon 1974, Nomoi IV, 716c. Platon 1974, Politeia II, 379a. Platon 1974, Politeia II, 379a–c.

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Fußnoten zu Platon?

Nicht nur sind die Götter gut, sondern sie sind auch nicht für alles in der Wirklichkeit verantwortlich. Gegenteilige Behauptungen müssen bekämpft werden: Daß aber ein Gott, der doch gut ist, für irgend jemanden der Urheber von Schlechtem sei – da muß man mit allen Mitteln dagegen kämpfen, daß das niemand in seiner Stadt äußert, wenn diese wohl verwaltet sein soll, und daß es auch niemand zu hören bekommt, weder jung noch alt, weder in gebundener noch in ungebundener Sprache; denn sagte das jemand, so wäre es sündhaft, wäre uns auch nicht zuträglich und stünde im Widerspruch zu sich selbst. 15

Und weiter: Der Gott ist also ganz einfach und wahr in Wort und Tat. Er verwandelt sich nicht und täuscht auch nicht andere, weder durch Trugbilder, noch durch Worte, noch indem er ihnen Zeichen schickt, weder im Wachen noch im Traume. »Das glaube auch ich, belehrt durch deine Worte«, sagte er. Du bist also damit einverstanden, fuhr ich fort, daß dies die zweite Richtigkeit ist, wie man über die Götter reden und sie darstellen soll: daß sie selbst keine Gaukler sind, die sich verwandeln, noch daß sie uns durch Unwahrheiten in Wort und Tat irreführen? »Ich bin damit einverstanden.« 16

Wenn der Mensch mithin in der Gefahr steht Unrecht zu tun, woran kann er sich orientieren, wie soll er handeln? Die Götter, mit Nous und Seele, sind das Maß aller Dinge (πάντων χρημάτων μέτρον), es gilt so zu handeln, dass es ihnen gefällt. Dazu bedürfen wir nicht nur der Gerechtigkeit, uns durch Gott vermittelt, sondern auch der Besonnenheit (σωφροσύνη): Der Athener: »Welches Verhalten ist nun also dem Gott lieb [θεοφιλής] und steht in seiner Nachfolge? Es gibt nur ein einziges, und dieses hat auch ein einziges altes Wort für sich, daß nämlich dem Ähnlichen, wenn es Maß hält, das Ähnliche befreundet sein wird, während sich das Maßlose weder mit seinesgleichen noch mit dem Maßvollen befreunden kann. Der Gott dürfte also für uns das Maß aller Dinge sein, und das im höchsten Grade, viel mehr noch als etwa ein Mensch, wie behauptet wird; wer also mit einem Wesen dieser Art befreundet werden will, der muß notwendig, soweit es ihm möglich ist, auch zu einem solchen werden [ὁμοίωσις θεῷ]; nach diesem Satz ist also der Besonnene [σωφροσύνη] unter uns dem Gotte be15 16

Platon 1974, Politeia II, 380b. Platon 1974, Politeia II, 382e–383a.

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freundet, da er ihm ja ähnlich ist, der Unbesonnen dagegen ist ihm unähnlich und von ihm verschieden und ungerecht, und mit allem übrigen verhält es sich ebenso nach dem selben Grundsatz. […]« 17

Als unabdingbare Voraussetzung wahrer Religiosität bezeichnet Platon die Frömmigkeit. Ohne sie können keine Handlungen, mögen sie auch noch so sorgfältig in ihrem rituellen Ablauf praktiziert werden, wirklich wahre Religiosität bewirken. Alle diese Handlungen bleiben äußerlich und damit wirkungslos. So wollen wir denn zur Einsicht kommen, daß aus dem Gesagten die folgende Regel hervorgeht, die ich für die schönste und wahrste von allen halte: es ist für den guten Menschen zu einem glückseligen Leben am schönsten und besten und förderlichsten, wenn er Opfer darbringt und den Göttern immer wieder mit gebeten und Weihgeschenken naht und mit jedweder Art von Gottesdienst [θεράπεια θεῶν], wie sich dies in vorzüglichem Maße gebührt, während für den Schlechten das Gegenteil gilt. Denn in seiner Seele ungereinigt ist der Schlechte, rein hingegen der Gute, und es ist nicht recht, wenn aus der Hand eines Befleckten ein guter Mensch oder ein Gott je Geschenke annimmt; vergeblich ist also für die Unfrommen das große Bemühen um die Götter; für alle Frommen hingegen ist es mehr als alles andere am Platz. 18

Was für den Gottesdienst gilt, trifft auch für die moralische Praxis zu: auch bezüglich der Gerechtigkeit gilt es zwischen innen und außen zu unterscheiden, nur die innere Einstellung kann zu authentischer Gerechtigkeit führen. 19 Platon 1974, Nomoi IV, 716d. Platon 1974, Nomoi IV, 716d. Eine Erinnerung im Lutherjahr 2017 mag hier erlaubt sein: die grundlegende Unterscheidung von Innen und Außen in ihrer Bedeutung für Glauben und Handel in seiner Freiheitsschrift: De libertate christiana (1521). 19 »In Wirklichkeit war aber die Gerechtigkeit, wie sich zeigte, zwar etwas Derartiges, doch nicht in Bezug auf das äußere Handeln der Teile des Menschen, sondern auf das innere, bei dem es wirklich um ihn selbst und um seine Sache geht. Er erlaubt nämlich keinem Teile in sich, Fremdartiges zu tun, noch daß die Teile seiner Seele vielgeschäftig aufeinander übergreifen; vielmehr hat er sein Hauswesen wohl bestellt, ist über sich selbst Herr geworden und hat Ordnung in sich geschaffen; er ist sich selber Freund geworden und hat jene drei Teile in ein harmonisches Verhältnis gebracht, ganz wie die drei Hauptsaiten eines Instrumentes, die tiefste, die höchste und die mittlere, und was sonst noch etwa dazwischen liegt. Alles das hat er in Einklang gebracht und ist aus vielen Teilen ganz und gar einer geworden, besonnen und ausgeglichen, und danach richtet sich denn nun auch sein Handeln, ob er sich nun mit dem Gelderwerb oder mit der Pflege seines Leibes beschäftigt, ob mit öffentlichen Dingen oder mit Privatgeschäften: bei alledem betrachtet und bezeichnet er dasjenige Handeln als gerecht und schön, das diese Haltung wahrt und mit bewirken hilft, und 17 18

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Fußnoten zu Platon?

1.3 Die nicht-aristotelische Gottesvorstellung bei Platon: Gott (Θεός) oder Götter (Θεοί) Stephen Menn vertritt in seinem Buch Plato on God as Nous die These, Gott und Nous seien identisch. Der Münchener Michael Bordt nimmt diese These auf und interpretiert sie dahin weitergehend, dass Nous identisch mit dem Guten sei. Nach Menn ist Gott bei Plato ein metaphysisches Prinzip, Gott, der Demiurg, nous und eidos sind eins. Daraus folgert Bordt: »Wenn die Rede von Gott dann sinnvoll ist, wenn man unter Gott – philosophisch gesprochen – das letzte Prinzip der Wirklichkeit versteht, und die philosophische Untersuchung des letzten Prinzips der Wirklichkeit zu dem Ergebnis kommt, daß das letzte Prinzip der Wirklichkeit das Gute ist, dann kann Gott nicht von dem Guten unterschieden sein.« 20 Mit Gerd van Riel teile ich die Auffassung, daß dies eine an Aristoteles orientierte Interpretation ist, die den Texten Platons nicht gerecht wird, 21 wie in meiner kurzen Analyse deutlich geworden sein sollte. 22 Die Götter sind nicht allmächtig, Formen und das Gute existieren neben ihnen und μοῖρα oder εἱμαρμένη sind Kräfte, denen die Götter, auch der Demiurg im Timaios, unterworfen sind. Die Macht des Schicksals wird ungefragt angenommen, z. B. im Timaios: […] nahm er so viele Seelen, wie Gestirne waren, und teilte jedem von diesen eine zu; eine jede setzte er gleichsam auf ein Fahrzeug, zeigte ihr die Natur des Alls und verkündete ihnen die Gesetze, die vom Schicksal bestimmt sind [νόμους τε τοὺς εἱμαρμένους εἶπεν αὐταῖς]: daß die erste Entstehung für sie alle ein und dieselbe sein sollte, damit keine durch ihn benachteiligt würde; daß sie dann, wenn sie auf die Werkzeuge der Zeit gesetzt seien, die einer jeden zukommen, zu dem Lebewesen werden sollten, das am besten die Götter zu verehren wisse. 23

als Weisheit bezeichnet er das Wissen, das dieses Handeln leitet, als ungerecht dagegen jenes Handeln, das diese Haltung aufhebt, und als Unwissenheit diejenige Meinung, die wiederum dieses Handeln leitet.« (Platon 1974, Politeia IV, 443c–444a). 20 Bordt 2006, 161–162. 21 Vgl. van Riel 2013, 77–94. 22 Zur komplexen Übersetzung und Interpretation von Nomoi X, 897b: der Intellekt ist θεῖον ὀρθῶς θεοῖς, macht Gott heilig, vgl. van Riel 2013, 92 f. 23 Platon 1974, Timaios, 41e.

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Und in den Nomoi heißt es: Es verändern sich also alle Wesen, die einer Seele teilhaftig sind, wobei sie den Grund zu dieser Veränderung in sich selber tragen. Und indem sie sich ändern, begeben sie sich im Sinne der vorbestimmten Ordnung und des Gesetzes an ihren Platz [κατὰ τὴν τῆς εἱμαρμένης τάξιν καὶ νόμον] […]. 24

Selbst bei Krankheiten ist sie wirksam: Dasselbe gilt nun auch für die Entstehung der Krankheiten; wenn man sie vor der Zeit, die vom Schicksal bestimmt ist [ἣν ὅταν τις παρὰ τὴν εἱμαρμένην τοῦ χρόνου φθείρῃ φαρμακείαις], mit Hilfe von Heilmitteln unterdrückt, so können leicht aus kleinen Krankheiten große und zugleich aus wenigen viele werden. 25

Als letztes Dokument, den anthropomorphen Charakter der Götter zu erweisen, sei darauf hingewiesen, dass Platon ihnen ausdrücklich Fürsorge gegenüber den kleinsten Teilen der Wirklichkeit zuspricht. Die Götter kümmern sich um uns: Also lautet der richtende Spruch der olympischen Götter, du Knabe und Jüngling, der du wähnst, daß sich die Götter nicht um dich kümmern: wer schlechter wird, der wandert zu den schlechteren Seelen, wer dagegen besser wird, zu den besseren, und im Leben und in jedem Sterben muß er das leiden oder tun, was Gleichgesinnte von Gleichgesinnten nach Gebühr zu erwarten haben. Um diesen Rechtsgrundsatz wirst weder du noch sonst jemand herumkommen, und keiner wird sich rühmen können, er sei stärker gewesen als die Götter; denn als sie ihn aufstellten, gaben sie ihm den Vorrang vor allen anderen, und wir müssen aufs sorgfältigste Rücksicht auf ihn nehmen; denn nie wirst du dich seinem Walten entziehen können. Magst du auch noch so klein sein und dich in die Tiefe der Erde verkriechen oder noch so groß werden und dich zum Himmel emporschwingen, du mußt doch die verdiente Strafe der Götter erleiden, ob du hier auf der Erde bleibst oder ob du in das Reich des Hades gekommen oder an einen noch grausameren Ort versetzt worden bist. Und dasselbe soll dir auch für jene anderen gesagt sein, die du sahst, wie sie aus kleineren Verhältnissen durch ihre Frevel und derartige Schandtaten groß wurden und damit nach deiner Meinung aus unglücklichen Menschen zu glücklichen geworden sind, worauf du dann in ihrem Ergehen wie in einem Spiegel die Gleichgültigkeit der Götter allem gegenüber erkannt zu haben glaubtest, weil du nicht weißt, was für einen Beitrag zum Ganze diese Menschen leisten. Wie kannst du dir aber einbilden, du verwegenster aller Menschen, du 24 25

Platon 1974, Nomoi, X, 904c. Platon 1974, Timaios, 89c.

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Fußnoten zu Platon?

brauchtest davon nichts zu wissen? Denn ohne diese Kenntnis kann sich niemand ein richtiges Bild machen und sich auch keine Rechenschaft geben über das, was ein glückliches und was ein unglückliches Leben ausmacht. Wenn dich nun Kleinias und unser ganzer Rat der Alten hier davon überzeugen kann, daß du gar nichts weißt, was du da über die Götter redest, dann mag sich wohl Gott deiner gütig annehmen; bedarfst du aber noch einer weiteren Belehrung, so höre uns zu, wenn du auch nur ein wenig Verstand hast, was wir hier unserem dritten Gegner noch zu sagen haben. Denn daß es Götter gibt und daß sie sich um uns Menschen kümmern, das haben wir nun doch gar nicht schlecht bewiesen, wie ich wohl sagen darf; daß sich aber Götter von den Ungerechten beeinflussen lassen, indem sie ihre Geschenke annehmen, diesen Satz dürfen wir niemandem zugeben, sondern müssen ihn auf jede Weise und mit aller Kraft widerlegen. 26

1.4 Der Demiurg im Timaios Um die sich den Sinnen zeigende Weltordnung zu erklären, erzählt Sokrates einen Mythos (Platon gebraucht die Ausdrücke als ἔικὼς λόγος und ἔικὼς μύθος synonym 27). Dieser beginnt mit der für notwendig gehaltenen Unterscheidung zwischen dem Immer-Seienden, das keine Entstehung hat, und dem Werdenden, das niemals ist. 28 Ersteres ist erfaßbar durch Denken (νόησις) und vernünftige Rede (λόγος) das Werdende wird dagegen durch doxa (δόξα) erfaßt, mithin vermutet, und durch unvernünftige Wahrnehmung (μετ᾽ αἰσθήσεως ἀλόγου). Alles Entstehende wird notwendig von einem Urheber hervorgerufen. 29 Der Demiurg, der im nachfolgenden Satz zum ersten Mal im Timaios erwähnt wird, blickt auf das, was sich gleichbleibend verhält. Dadurch bewirkt er mittels Form (ιδέα) und Kraft (δύναμις) notwendig etwas Schönes. Hätte er auf ein gewordenes Vorbild geschaut; hätte er notwendig etwas Nicht-Schönes gewirkt. 30 Der Urheber der Welt wird neben Demiurgos auch Poet (ποιητής) und Vater (πατήρ) genannt. Der Demiurg wird jedenfalls an keiner Stelle als Schöpfer vorgestellt; er ist vielmehr der, der Vorgeordnetes neu und zum Guten

26 27 28 29 30

Platon 1974, Nomoi, X, 904e–905d. Vgl. Witte 1964. Vgl. Platon 1974, Timaios, 27d 5–28a r. Vgl. Platon 1974, Timaios, 28a 2–7. Ausführlich wird dies in Timaios 51 begründet. Vgl. Platon 1974, Timaios, 28a 7–28b 2.

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hin ordnet. Dies wird mit Recht von Gadamer 31 gegen Interpreten wie Taylor 32 festgehalten! Der Demiurg wurde zwar schon in Timaios 28c 3 als »Hersteller und Vater« bezeichnet, der auch »will« (βουλεύει), aber dies wird nicht als Grund oder Motivation für die Herstellung der Welt beschrieben. Es heißt schlicht, weil er ›gut‹ ist, kenne er kein eifersüchtiges Zurückhalten (φθόνος). 33 Wie geschieht nun das eigentliche Schaffen der sichtbaren Welt? Die vier Elemente, Feuer, Erde, Wasser und Luft, zunächst »ungeordnet«, sind in gewisser Weise vorgeordnet, nämlich durch die Schüttelbewegung und die Gesetzlichkeit des Raumes. Der Demiurg »läßt sich die im Gröbsten vorgeordneten Elemente für die eigentliche Weltfabrikation liefern« 34, er wird deshalb auch der Zusammenstellende (συνιστάς) genannt 35; seine Aufgabe ist vergleichbar mit der eines Komponisten. Der Beste kann nicht anders, als das Schönste zu machen: »Der Gott wollte nämlich, daß, wenn möglich, alles gut, aber nicht minderwertig sei; er nahm deshalb alles, was sichtbar war […] und brachte es aus der Unordnung zur Ordnung, weil er meinte, daß die Ordnung auf jeden Fall besser sei als die Unordnung. Es war aber und ist jetzt noch dem Besten nicht erlaubt, etwas anderes zu schaffen als nur das Schönste« 36. Ein so geschaffenes Ganzes wird mit Vernunft immer schöner sein als ohne Vernunft. Die Vernunft ihrerseits kann aber nicht getrennt von einer Seele irgendeinem zukommen: »So darf man also nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit [ἔικὼς λόγος] die Behauptung aufstellen, daß diese Welt durch die Vorsehung [πρόVgl. Gadamer 1974, 11, 22, 26 passim. Vgl. etwa Taylor 1926, 441: »Thus, in the scheme of Timaeus, we see that the ›efficient cause‹ of the world is thought of definitely as a ›personal‹ God, and this ›creator‹ or ›maker‹ is, strictly speaking, the only God, in our sense of the word, the dialogue recognizes.« Vgl. Taylor 1926, 444: »Timaeus knows of no external limitation imposed on God’s will by conditions independent of God himself. The ›maker’s‹ goodness is the whole and complete explanation of the very existence of the natural world. This should justify us in saying that the ›Demiurge‹ really is thought of as a Creator in the full sense of the word.« 33 Vgl. Platon 1974, Timaios, 29e. Damit stellt sich Platon gegen die seit Homer verbreitete Auffassung vom Neid der Götter, der besonders bei Herodot und in den Tragödien betont wird. 34 Gadamer 1974, 23. Vgl. dazu auch Scheffel 1976, Kap. IV (»Der Raum-Begriff im Timaios«), 55–81. 35 Vgl. Platon 1974, Timaios, 29e 1. 36 Platon 1974, Timaios, 30a 1–8. 31 32

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Fußnoten zu Platon?

νοια] des Gottes als ein wahrhaft beseeltes und vernünftiges Wesen [ζῷον ἔμψυχον] entstanden ist.« 37 Das »ewige« Vorbild, auf das der Demiurg schaute, als er die Welt »schuf«, ist das »Denk-Lebewesen« (νοητὸν ζῷον). Weil Gott den Kosmos nach diesem einen Denk-Kosmos schuf, gibt es auch nur einen Kosmos. 38 Aus Timaios 38b 6–38c 6, welche die Schlüsselpassage für das Verhältnis von Zeit und Kosmos enthält, schließt Scheffel mit Recht: »Wenn Platon in dieser Weise betont, daß der Kosmos die ganze Zeit hindurch existiert, so will er mit den Partizipien ›entstanden‹, ›seiend‹, ›werdend‹ die zeitliche Verfaßtheit des Kosmos ausdrücken: Der Kosmos hat die Strukturen (είδη) der Zeit. Kosmos ist, ›solange‹ Zeit ist.« 39 Das Chaos hat als das unzeitliche Material zu gelten, aus dem der Demiurg den Kosmos schafft. Neben die zwei ontologischen Grundbegriffe der Ideensphäre und der Abbilder, des ewig Seienden und des Werdenden, tritt als dritter die Chora, der Raum: das Worin (ὑποδχή der einzelnen Erscheinungen, gleichsam die Amme alles Werdens 40 (alle drei ontologischen Grundbegriffe werden später genauer zueinander in Beziehung gesetzt; 41 sie werden unter anderem in Timaios 28b–c ἀρχαί genannt). Der Demiurg ist in seinem Schaffen von dreierlei abhängig: dem Ideenkosmos (der mit θυχή versehen ist) 42, der Chora und dem nahezu ungeordneten Chaos (vgl. dazu oben). Für unseren Zusammenhang bleibt wichtig festzuhalten, dass der Formungsakt (σύσταςις) des Demiurgen das überzeitliche Denk-Lebewesen (νοητὸν ζῷον), den Ideenkosmos, abbildet – und damit muss es, weil es Leben hat, auch eine Seele haben. 43 Damit wird dem Ideenkosmos Bewegung und Leben zugesprochen, die These der Bewegungslosigkeit der Ideen aufgegeben.

Platon 1974, Timaios, 30b 7–30c 1. Vgl. Platon 1974, Timaios, 30d – 31a. 39 Scheffel 1976, 51. 40 Vgl. Platon 1974, Timaios, 49a 6 ff. 41 Vgl. Platon 1974, Timaios, 50b 5–50e 1. 42 Vgl. dazu Gadamer 1974, 11, mit Verweis auf Platon, Sophistes, 249a 4. 43 Vgl. zur Stelle die überzeugenden Ausführungen von Scheffel 1976, 112. Dort verweist er als weiteren Beleg auf Platon, Phaidros, 105d 3. Scheffel analysiert in diesem Zusammenhang Platon, Sophistes, 248e 6–249b 1 und kommt zu dem Schluss: »Zum ersten Mal in den Dialogen wird die These von der Bewegungslosigkeit der Ideen aufgegeben.« (Scheffel 1976, 114.) 37 38

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Weil die Tätigkeit des Demiurgen mehrmals mit dem Wirken des νοῦς 44 identifiziert wird, kann man folglich auch für ihn eine Seele annehmen. 45 Aber auch das, was der Demiurg erzeugt, ist beseelt (ζῷον ἔμψυχον, siehe oben): es ist der »sich selbst genügende und in jeder Hinsicht vollkommene Gott« 46, ein Lebewesen, das alle sterblichen und unsterblichen Lebewesen in sich enthält 47. »Denn bei der Entstehung dieser Welt wirkten Notwendigkeit [ἀνάγκη] und Vernunft [νοῦς] gemeinsam miteinander; dabei hatte aber die Vernunft die Oberhand über die Notwendigkeit, denn es gelang ihr, die Notwendigkeit, durch Überreden [πείθειν] zu bestimmen, bei dem Werden der Dinge das meiste zum Besten zu führen«. 48 Platon kann das auch so ausdrücken, dass zwei Ursachen-Formen (δύ αίτιας) dem Wirklichen zugrunde liegen, das Notwendige und das Göttliche. 49

1.4 Anmerkung zum Neoplatonismus, Pseudo-Dionysius Areopagita Die göttliche Ekstasis (Ἔστι δὲ καὶ ἐκστατικὸς ὁ θεῖος ἔρως) beschreibt Dionysius so: Um der Wahrheit willen müssen wir auch dieses zu sagen wagen, daß in der Tat selbst der Urheber des Universums durch seine edle und gute Liebe zum Universum wegen des Übermaßes der dem Eros eignenden Güte in den auf alles Seiende sich erstreckenden Vorhersehungsakten aus sich heraustritt, gleichsam von Güte, Agape und Eros überwältigt und aus dem über allem liegenden, allem Enthobenen heraus in entrückender überwesenhafter Kraft, ohne aus sich herauszugehen, nach unten in alle Dinge heruntergezogen wird. 50

Τολμητέον δὲ καὶ τοῦτο ὑπὲρ ἀληθείας εἰπεῖν, ὅτι καὶ αὐτὸς ὁ πάντων αἴτιος τῷ καλῷ καὶ ἀγαθῷ τῶν πάντων ἔρωτι δι’ ὑπερβολὴν τῆς ἐρωτικῆς ἀγαθότητος ἔξω ἑαυτοῦ γίνεται ταῖς εἰς τὰ ὄνVgl. Platon 1974, Timaios, 36d 7, 39e 7–9. Vgl. zu dieser Argumentation: Scheffel 1976, 110. 46 Platon 1974, Timaios, 68e 4; vgl. auch: 92c 6–9; 34b 8: der Kosmos wird ausdrücklich als Gott bezeichnet. 47 Platon 1974, Timaios, 30c–d. 48 Platon 1974, Timaios, 48a 1–7. 49 Platon 1974, Timaios, 68e 6–7. 50 Pseudo-Dionysius 1988, 52 (DN 712a–712b); vgl. auch Beierwaltes 1998, 74, Anm. 93. vgl. auch: Pseudo-Dionysius 1988, 36–39 (DN 91). 44 45

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Fußnoten zu Platon?

τα πάντα προνοίαις καὶ οἷον ἀγαθότητι καὶ ἀγαπήσει καὶ ἔρωτι θέλγεται καὶ ἐκ τοῦ ὑπὲρ πάντα καὶ πάντων ἐξῃρημένου πρὸς τὸ ἐν πᾶσι κατάγεται κατ’ ἐκστατικὴν ὑπερούσιον δύναμιν ἀνεκφοίτητον ἑαυτοῦ. Für Dionysius ist es unbedingt notwendig, dass der unbewegte Beweger in bestimmter Weise sich bewegen muss, ansonsten würde der Schöpfungsakt unverständlich. Man muß aber gestatten, daß die Bewegungen Gottes, des Unbewegten, in der Darstellung auf Gott gemäße Weise gepriesen werden. Man muß die gerade Veränderung als Unbeugsamkeit, als unwandelbaren Ausgang der Wirksamkeiten sowie als Entstehen des Weltalls aus ihm selbst begreifen […] 51 Ἀλλὰ καὶ κινήσεις θεοῦ τοῦ ἀκινήτου θεοπρεπῶς τῷ λόγῳ συγχωρητέον ὑμνῆσαι. Καὶ τὸ μὲν εὐθὺ τὸ ἀκλινὲς νοητέον καὶ τὴν ἀπαρέγκλιτον πρόοδον τῶν ἐνεργειῶν καὶ τὴν ἐξ αὐτοῦ τῶν ὅλων γένεσιν. 52

2.

Gott im System Whiteheads

Nicht von ungefähr verweist Whitehead in der Einleitung von Prozeß und Realität auf seine Nähe zu Taylors Plato-Interpretation 53, hatte dieser seinerseits doch die enge Beziehung früher whiteheadscher Termini mit denen des Timaios herausgestellt: »Es gibt eine fast vollständige Äquivalenz zwischen der Analyse im Timaios und der Whiteheads in seinem Principles of Natural Knowledge und Concept of Nature. Whiteheads ›Objekte‹ haben genau den formalen Charakter wie die ideai; seine Darstellung des ›Eingehens von Objekten in Ereignisse‹ entspricht nahezu wörtlich dem, wie im Timaios über die Bestimmung der unterschiedlichen Regionen des ›Aufnehmenden‹ durch den ›Eintritt‹ und ›Austritt‹ der Formen berichtet wird … Wenn man sich vorstellt, wie ›Bewegung‹ mit ›Ereignisse‹, aber ohne ›Objekte‹ wäre, erhielten wir genau den Zustand, den Timaios dem

Pseudo-Dionysius 1988, 91 (DN 916c–916d); vgl. auch: 36–39 (DN 91). Pseudo-Dionysius 1988, 91 (DN 916c–916d). 53 Der Timaios-Kommentar Taylors erschien erst nach der Drucklegung von Prozeß und Realität (1929; vgl. dazu Whiteheads Anmerkung: PR, XIV bzw. PRd, 25 f.); wohl aber war sein Platon-Buch Plato. The Man and His Work mit einem längeren Kommentar zum Timaios bereits 1926 erschienen. 51 52

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›Aufnehmenden‹ zuschreibt, bevor Gott ihm Ordnung und Struktur gab.« 54 Diese Auffassung kann in bestimmter Hinsicht kritisiert werden, wie es besonders Cornford in seinem Timaios-Kommentar getan hat. Er stellt fest: Es ist wahr, daß Professor Whitehead stark von Jowett’s Übersetzung beeinflußt wurde und daß seine eternal objects definitiv eine Ähnlichkeit zu Plato’s ewigen Formen habe. Aber es gibt wesentlich mehr Platon in den Abenteuern der Ideen als Whitehead im Timaeus. 55

Dass, wie Taylor behauptet, die Formen in Ereignisse eingehen, widerspricht eindeutig dem Text im Timaios 52a: Da dem aber so ist, müssen wir zugeben, daß es eine erste Wesensart gibt, die sich immer gleich verhält, ohne Werden und ohne Vergehen; sie nimmt weder irgendwoher ein anderes in sich auf, noch geht sie selbst irgendwohin in ein anderes ein; sie ist unsichtbar und auch sonst auf keine Weise wahrzunehmen, das also, dessen Betrachtung dem einsichtigen Denken vorbehalten ist. ὁμολογητέον ἓν μὲν εἶναι τὸ κατὰ ταὐτὰ εἶδος ἔχον, ἀγέννητον καὶ ἀνώλεθρον, οὔτε εἰς ἑαυτὸ εἰσδεχόμενον ἄλλο ἄλλοθεν οὔτε αὐτὸ εἰς ἄλλο ποι ἰόν, ἀόρατον δὲ καὶ ἄλλως ἀναίσθητον, τοῦτο ὃ δὴ νόησις εἴληχεν ἐπισκοπεῖν: 56

Cornford-Übersetzung: 57 This being so, we must agree that there is, first, the unchanging Form, ungenerated and indestructible, which neither receives anything else into itself from elsewhere nor itself enters into anything else anywhere, invisible and otherwise imperceptible; that, in fact, which thinking has for its object.

»There is an almost absolute equivalence of Timaeus’ analysis with that of Whitehead in his Principles of Natural Knowledge, and Concept of Nature. Whitehead’s ›objects‹ have exactly the formal character of the ἰδέαι; his account of the ›ingredience of objects into events‹ corresponds almost verbally with that given by Timaeus of the determination of various regions of the ›receptacle‹ by the ›ingress‹ and ›egress‹ of the impresses of the forms … If we try to picture ›passage‹ as it would be if there were only ›events‹ und no ›objects‹ ingredient in them, we get precisely the sort of account Timaeus gives of the condition of the ›receptacle‹ before God introduced order and structure into it.« (Taylor 1926, 456). 55 Cornford 1937, IX/X, übers. H. M. 56 Platon 1974, Timaios, 52a. 57 Vgl. Cornford 1937. 54

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Es ist also ein Fehler, wenn Taylor ›event‹ im Sinne Whiteheads mit γιγνόμενον gleichsetzt. 58 Dennoch lässt sich die von Taylor beschriebene Analogie von Platons Timaios und Whiteheads frühem Werk auch auf Whiteheads späteres (Haupt-)Werk Prozeß und Realität übertragen, allerdings nicht umgekehrt, wie Cornford mit Recht bemerkt. Whiteheads Sprachgebrauch von Gottes bipolarer Natur weist einige Ungenauigkeiten auf, von denen sich die meisten ohne größere Schwierigkeiten lösen lassen. So spricht Whitehead zum Beispiel von Gott als »non-temporal actual entity« 59, während sich aber eine aktuale Entität durch ihre Zeitlichkeit auszeichnet 60; ähnlich verhält es sich mit der Bezeichnung Gottes als »primordial actual entity«. Bei jedem der Termini wird der Eindruck erweckt, als handle es sich um jeweilig unabhängige Entitäten. Whitehead hat diese Ausdrucksweise selber für unglücklich erklärt. 61 Er meint den zeitlosen (non-temporal) Aspekt der aktualen Entität Gott, wenn er von ihm als »non-temporal actual entity« spricht. Auch im Ausdruck »primordial actual entity« hätte er genauer von der Urnatur der aktualen Entität Gott sprechen müssen. Auch »conceptual actuality« muss verstanden werden als der begriffliche Aspekt der Wirklichkeit Gottes. Gott – wie jede aktuale Entität – muss verstanden werden als ein sich selbst konstituierendes Wesen, dessen Einheit letztlich durch einen selbstschöpferischen Akt geschieht. Dieser Akt geschieht wesentlich durch »Empfindungen« (feelings) 62. Alle Teile einer aktualen Entität sind Mittel der Selbstkonstituierung.

2.1 Gottes Urnatur (primordial nature) Gottes Urnatur ordnet die Anzahl der zeitlosen Objekte nach ihrer Wertigkeit. Er schafft sie nicht selber, sondern er ordnet sie, wie eine mathematische Funktion Zahlen einer bestimmten Zahlenmenge zuordnet. Kreativität, Vieles, Eines (The Category of the Ultimate) werden durch jede aktuale Entität exemplifiziert und verkörpert. Die Vgl. Cornford 1937, X. PR, 46; PRd, 103. 60 PR, 248; PRd, 454. 61 Vgl. dazu Whiteheads handschriftliche Anmerkungen in: Johnson 1962, 214 und 218. 62 PR, 40; PRd, 92 f. 58 59

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Selbstkreativität Gottes drängt gleichsam über sich hinaus und schafft damit das Initialgefühl für etwas Neues, etwas außerhalb seiner selbst. Wenn Gott einmal das ›anfängliche Ziel‹ (initial aim) ermöglicht hat, beginnt die Selbstkonstituierung der aktualen Entitäten, und Gott hat hinsichtlich der Selbstverursachung keinen weiteren Einfluss mehr auf diese aktuale Entität (wohl aber durch seine Folgenatur 63). Die Aktivität Gottes beinhaltet, dass Gott sich verändert, sowohl seine Urnatur wie auch seine Folgenatur. Gott stellt eine Reihe von Entscheidungen dar, die er im Laufe seiner selbstkonstituierenden Akte vollzogen hat. Gott ist bezüglich seiner Urnatur außerhalb der Zeit. 64 Anders als alle anderen aktualen Entitäten gibt er sich sein »initial aim« selber, ist auch in dieser Hinsicht selbstschöpferisch.

2.2 Gottes Folgenatur (consequent nature) Gott ist, wie jede aktuale Entität, nicht nur uranfänglich, sondern auch folgerichtig. 65 Die ›physische Seite‹ Gottes sichert die Einheit der Welt. Gottes Folgenatur ist eine Denknotwendigkeit 66, um sich den abschließenden Gegensätzen der Kosmologie stellen zu können: »… Freude und Leid, Gut und Böse, Getrenntheit und Verbundenheit – das heißt die Vielen in Einem –, Fluß und Dauer, Größe und Trivialität, Freiheit und Notwendigkeit, Gott und die Welt«. 67

Weil sich diese Gegensatzpaare in höchster Direktheit der Anschauung darstellen (bis auf das letzte), gilt es, sie als Ausdruck metaphysischer Prinzipien zu verstehen: also weder als »Schein« zu entlarven, hinwegzuerklären, noch als irrelevant darzustellen: 68 Daher muß das Universum so gedacht werden, daß es seine eigene Vielfalt von Gegensätzen aktiv zum Ausdruck bringt – seine eigene Freiheit und seine eigene Notwendigkeit, seine eigene Vielheit und seine eigene Einheit, Vgl. dazu den nächsten Abschnitt. Vgl. PR, 32; PRd, 80 f. 65 Vgl. PR, 345; PRd, 616. 66 »Wir müssen leidenschaftslos untersuchen, welche Denknotwendigkeiten die hier entwickelten metaphysischen Prinzipien in diesen Punkten für die Natur Gottes mit sich bringen. Beweisen läßt sich dabei nichts.« (PR, 343; PRd, 613). 67 PR, 341; PRd, 610. 68 Vgl. RM, 149; RMd, 115 f. und PR, 349 f.; PRd, 624–626. 63 64

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seine eigene Unvollkommenheit und seine eigene Vollkommenheit. All diese Gegensätze sind Elemente in der ›Natur‹ der Dinge und lassen sich nicht wegdenken. Der Begriff ›Gottes‹ ist die Weise, in der wir diese unglaubliche Tatsache verstehen; daß doch ist, was nicht sein kann. 69

In Gottes Folgenatur »kommt es weder zu Verlusten noch zu Vereitelungen. Die Welt wird in einem Einklang der Unmittelbarkeit empfunden« 70. Obwohl Gottes Folgenatur auch sein Urteil über die Welt ist, rettet er doch, was gerettet werden kann. 71 Das Reich der »eternal objects« enthält alle möglichen Formen, die in einen Prozeß der Konkreszenz eingehen können 72; sie werden in Gottes primordialer Natur geschaut und damit strukturiert. Die Schöpfung selber, in bestimmter Hinsicht das Werk Gottes (die gegenseitige Abhängigkeit von Gott und Kosmos hinsichtlich ihres Werdens wird später dargestellt) »erreicht die Versöhnung von Dauer und Fluß, wenn sie bei ihrem letzten Ziel angelangt ist, dem des Immerwährenden – der Vergottung der Welt«. 73 Der so beschriebene vergöttlichte Kosmos gleicht erstaunlich dem irdischen Kosmos des Timaios, der vom Demiurgen durch ›Ordnen‹ und ›Konstruieren‹ zu diesem All (πᾶν τόδε) gemacht wurde, »ein lebendiges Wesen, das alle einzelnen Lebewesen, sterbliche und unsterbliche, in sich einschließt« 74; Das, was der Demiurg erzeugt, ist der »sich selbst genügende […] und in jeder Hinsicht vollkommene […] Gott« 75. Die viel zitierte Stelle aus Prozeß und Realität, dass Gott der Poet der Welt ist, der die Welt durch seine Einsicht in das Wahre, Schöne und Gute leitet (leading), hat eine direkte Parallele zum Timaios, einschließlich Whiteheads handschriftlichen Anmerkungen zum Begriff »leading«. In seinem Handexemplar der Macmillan-Ausgabe von Prozeß und Realität hat er »leading« gestrichen und am Rand durch »persuading« und »swaying« ersetzt 76, eine exakte Entsprechung zum griePR, 350; PRd, 624 f. PR, 346; PRd, 61 f. 71 Dass dies nicht bedeuten muss, dass Gott sich zum Leid als indifferent erweist, habe ich in meinem Aufsatz »Gottes Beziehung zum Guten und Bösen in Whiteheads relationaler Wertethik« (Maaßen 1990), zu zeigen versucht. 72 Vgl. PR, 32; PRd, 81 f. 73 PR, 348; PRd, 622. 74 Platon 1974, Timaios, 69b 9. 75 Platon 1974, Timaios, 68e 3–4; auch in 34b 8 wird das vom Demiurgen Geschaffene ausdrücklich θεός genannt. 76 Dies wird auch in den editorischen Anmerkungen in der von Griffin und Sher69 70

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chischen πείθειν, mit dem der platonische Demiurg die ἀνάνκη formt bzw. beeinflusst. 77 Zusammenfassend lässt sich für Whiteheads Gottesbegriff im Vergleich zum platonischen Demiurgen festhalten:

3.

Fazit

(1) Wie bei Platon gibt es bei Whitehead die Chora (bei Whitehead das extensive Kontinuum). (2) Wie bei Platon gibt es »neben« Gott das Reich der Ideen, das allerdings bei Whitehead entmythologisiert, das heißt entseelt wird. (3) Wie bei Platon ist Gott für die Creatio auf »Materie« angewiesen, um Wirklichkeit zu schaffen. Diese wird allerdings weder als »Vorher« noch als ungeordnet verstanden, sondern sie ist mit Gott in einem untrennbaren Wechselverhältnis verknüpft. »Es ist genauso wahr zu sagen, dass Gott die Welt schafft, wie zu behaupten, dass die Welt Gott erschafft«. 78 Anders gesagt, Gott ist nicht vor, sondern mit aller Schöpfung. 79 (4) Das aber setzt voraus, wie oben beschrieben, dass auch der Demiurg »entmythologisiert« wird. Es gibt kein viertes Prinzip neben und unabhängig von Ideen (kosmos), Welt und Chora, sondern nur diese eine aktuale Entität Gott, die eine enge Verflechtung beider darstellt; ist sie doch eine aktuale Entität, ein Teil der Wirklichkeit, zwar verschieden 80, in wesentlichen Hinsichten aber wie jede andere. Der Demiurg selber kann mit Whiteheads Gott als aktualer Entität nicht gleichgesetzt werden; er verbirgt sich, gewissermaßen »entmythologisiert«, in Whiteheads Kategorien des Letzt-Entscheidenden (Category of the Ultimate), in den aktualen Entitäten, das heißt der Welt als ganzer und im Reich der eternal objects. (5) Wie schon bei Platon für den griechischen Pantheon beobachtet, bei Dionysius für den christlichen, trinitarischen Gott, eignet burne herausgegebenen korrigierten Ausgabe von Process and Reality (London: Macmillan 1979) festgehalten. 77 Vgl. dazu oben und Gadamer 1974, 30. 78 PR, 348; PRd, 621. 79 Vgl. PR, 343; PRd, 614. 80 Zur Unterscheidung von Gott als aktualer Entität und den anderen aktualen Entitäten vgl. meine Ausführungen oben.

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ihnen Fürsorge für, Kümmern um die gesamte Wirklichkeit, also auch für jeden Menschen. Whitehead steht also ganz in der platonischen Tradition, wenn er von Gott als dem fellow-sufferer spricht. (6) Die nur bedingte Macht des Demiurgen, der die Götter in ihrer Vielfalt in eine andere Richtung weist als die aristotelische Bestimmung des Seins und Gottes mittels eines Homer-Zitates: Das Seiende aber mag nicht schlecht beherrscht sein. »Nichts Gutes ist Vielherrschaft: einer soll Herr sein.« τὰ δὲ ὄντα οὐ βούλεται πολιτεύεσθαι κακῶς. »οὐκ ἀγαθὸν πολυκοιρανίη: εἷς κοίρανος ἔστω.« 81

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Die Zeitlichkeit des werdenden Gottes: Whiteheads Folgenatur Gottes und Bergsons lebendige Ewigkeit Spyridon A. Koutroufinis

Platons Timaios berichtet von der Erschaffung der Zeit durch den göttlichen Gestalter der Welt, den Demiurgen: [S]o sann er darauf, ein bewegliches Abbild der Ewigkeit (αἰών, Äon) zu gestalten. 1

Im Folgenden werde ich auf der Basis der Prozessphilosophien von Henri Bergson und Alfred North Whitehead einen Weg der Befreiung dieses Gedankens von dem Vorurteil einer zeitlosen, unwandelbaren, in sich erstarrten Ewigkeit skizzieren, dem Platon – im Gegensatz zur Vorsokratik und griechischen Dichtung – zu erliegen scheint.

1.

Die weltliche Zeitlichkeit und ihre Angewiesenheit auf Gott in der Whiteheadschen Prozessphilosophie

In der Metaphysik Whiteheads kann die zeitliche Ordnung des physischen Werdens ohne die Rolle Gottes nicht verstanden werden. Dies gilt insbesondere für die makrokosmische zeitliche Kontinuität des Kosmos, die mit der Aufeinanderfolge der unteilbaren weltlichen Prozesse zusammenhängt.

1.1. Atomizität und Kontinuität Whitehead, der seine Bewunderung für Platon und seine Nähe zu ihm offen bekundet, betont an vielen Stellen seines Werkes die Unteilbarkeit aller ›actual entities‹, wie er die elementaren Prozesse der Wirklichkeit nennt, die einen weltlichen und einen göttlichen Anteil haben. Jede weltliche ›concrescence‹ – wie er das Werden einer ›actual 1

Platon 1972, Timaios, 37 d.

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entity‹ bezeichnet – ist eine bipolare Einheit, die einen physischen und einen mentalen Pol aufweist. 2 Letzterer steuert ihr Werden. Von eminenter Bedeutung ist jedoch an dieser Stelle, dass die ›concrescence‹ eine ›Zelle‹ (cell) mit atomarer Einheit ist. 3 Die Atomizität der weltlichen ›actual entities‹ besteht in erster Linie in der Unteilbarkeit ihres Werdens und nicht in der mikrokosmischen raumzeitlichen Ausdehnung, die oft undifferenziert und fälschlicherweise allen weltlichen ›actual entities‹ zugewiesen wird. Für die Whitehead’sche Metaphysik ist der Atomismus fundamentaler als die Kontinuität. 4 Das teilbare extensive Kontinuum kann ausschließlich bezüglich seiner raumzeitlichen Ausdehnung, d. h. bar jeder Prozessualität und Materialität, aufgefasst werden, wenn es von den physisch manifestierten ›actual entities‹ abstrahiert wird. 5 Kurz: Whitehead entwirft eine relationale Raumzeittheorie und weist jede Vorstellung eines an sich seienden, leeren und absoluten Raumzeit-Kontinuums zurück. Das extensive Kontinuum der vierdimensionalen Raumzeit der klassischen Physik ist Resultat der gesamten materiellen Prozessualität unseres Kosmos. Die kontinuierliche Ausdehnung des Kosmos entsteht durch das Werden der atomaren Prozesse.

1.2. Die Begriffe Epoché und duration Whitehead betont, dass jede weltliche ›actual entity‹ als ein Ganzes entsteht und nicht als eine zeitliche Sukzession. Die Phasen der ›concrescence‹ sind nur logische und keine zeitlichen Phasen. 6 Denn die Vgl. PR, 239. Vgl. PR, 219, 227. Die Teilbarkeit bezieht sich nur auf die raumzeitliche Ausdehnung der Gesamtheit der Objekte, die aus den weltlichen ›actual entities‹ bestehen (vgl. PR, 227). 4 Dies geht aus folgender Stelle eindeutig hervor: »[T]he metaphysical truth is atomism. The creatures are atomic« (PR, 35). Mit dieser Vorstellung des metaphysischen Primats der Atomizität der elementaren Wirklichkeiten vor der Kontinuität korrespondiert die Verknüpfung von Kontinuität und Potentialität: »Continuity concerns what is potential; whereas actuality is incurably atomic« (PR, 61). 5 »[S]pace-time cannot in reality be considered as a self-subsistent entity. It is an abstraction, and its explanation requires reference to that from which it has been extracted. Space-time is the specification of certain general characters of events and their mutual ordering« (SMW, 82). 6 »This genetic passage from phase to phase is not in physical time […] the genetic process is not the temporal succession […] Each phase in the genetic process presup2 3

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zeitliche Ordnung der makrophysikalischen Realität entsteht erst durch die Verhältnisse der weltlichen ›actual entities‹ zueinander. Das Werden der ›concrescence‹-Prozesse beschreibt Whitehead mit dem Begriff ›epoch‹, den ich als ›Epoché‹ übersetze. Von ›Epoché‹ ist hier die Rede im Sinne des antiken Skeptizismus, nach dem dieser Begriff ›Anhalten‹ bzw. ›Innehalten‹ bedeutet. Dies entspricht Whiteheads Verwendung dieses Ausdrucks, wenn er sagt, dass »[a] duration […] is an epoch, i. e., an arrest«. 7 Die Vorstellung der Epoché folgt aus seinem Verständnis des Werdens jeder ›actual entity‹ als ein unteilbares Stück, in dem kein zeitliches Nacheinander von separaten Momenten herrscht. Das Resultat dieser Überlegungen ist, dass jeder weltliche ›concrescence‹-Prozess in einem Stück entsteht; er ist ein »quantum in solido«. 8 Aus der Perspektive eines externen Beobachters sind zwar weltliche ›actual entities‹ zeitlich ausgedehnt, von innen gesehen aber, ist ihr Werden nicht ausgedehnt – denn es enthält keine früheren und späteren Phasen. 9 Die Epoché ist also in diesem Sinne zeitlos, als dass sie keine Art von Fluss darstellt. 10 Hiermit beweist Whitehead eine genuine Nähe zur platonischen Vorstellung der Unteilbarkeit des Werdens, wie sie im Dialog Parmenides entfaltet wird. 11

poses the entire quantum, and so does each feeling in each phase. […] The problem dominating the concrescence is the actualization of the quantum in solido« (PR, 283; erste Hervorhebung von S. K.). 7 SMW, 157. 8 PR, 283. 9 Vgl. PR, 69. Für eine ausführlichere Diskussion der Whiteheadschen Argumentation vgl. Jung 1980, 68–75. 10 Whitehead sagt eindeutig, dass der mentale Pol, der in der ›concrescence‹ entsteht, zeitlos ist: »Every actual entity is ›in time‹ so far as its physical pole is concerned, and is ›out of time‹ so far as its mental pole is concerned« (PR, 248). 11 Vgl. Platon 1990, Parmenides, 155 e4–157 a2. Vom besonderen Interesse ist diese Stelle: »[D]ieses wunderbare Wesen, das Plötzliche, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe als außer aller Zeit seiend, und in ihm und aus ihm schlägt das Bewegte um zur Ruhe und das Ruhende um zur Bewegung […] Auch das Eins also, wenn es ruht und auch sich bewegt, muss von einem zum anderen umschlagen; denn nur so kann es beides tun. Schlägt es aber um, so schlägt es plötzlich um, so dass, indem es umschlägt, es in gar keiner Zeit ist […] Verhält es sich nun etwa ebenso auch mit den anderen Akten des Umschlagens, wenn es aus dem Sein in das Vergehen umschlägt oder aus dem Nicht-Sein in das Werden […]?« (Platon 1990, Parmenides, 156 d7–157 a2, Hervorhebungen und Übersetzung von S. K.).

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Was jedoch Whitehead in Process and Reality ›duration‹ nennt, ist eine zeitliche Extension, 12 d. h. ein abstraktes Kontinuum. Als abstrahierte Extension ist die ›duration‹, aus der Perspektive eines externen Beobachters, und nur aus dieser, beliebig teilbar, da sie ein nicht infinitesimal kleines Zeitquantum besetzt. Diese Betrachtung entspringt allerdings dem sogenannten ›morphologischen‹ Zugang zur Problematik des Werdens, der die raumzeitliche Ausdehnung der weltlichen Prozesse aus einer externen Perspektive betrachtet. Für den ›genetischen‹ Zugang dagegen, der die Unteilbarkeit des Werdens aus der inneren Perspektive des Prozesses betont, ist die ›duration‹ ein unteilbares Zeitquantum, ein Zeitatom. 13 Der genetischen Analyse ist die Idee der physikalischen Zeit fremd, weil »the genetic process is not the temporal succession«. 14 Zusammenfasend könnte man sagen, dass die ›duration‹ die Außenseite der Epoché ist. Sie ist die Art und Weise der Epoché einer weltlichen Entität, in der raumzeitlichen Welt zu erscheinen. 15 Aus diesem Grund kann die ›duration‹ eines Prozesses von diesem Prozess abstrahiert und als ein Bereich des raumzeitlichen Kontinuums betrachtet werden. Die Vorstellung der Unteilbarkeit des Werdens bringt die organische Philosophie ins Zentrum der Quanten-Ontologie unserer Zeit. Die bekannten Physiker Roger Penrose und John Archibald Wheeler behaupten die Ungültigkeit der Zeit-Konzeption bei Quantenprozessen, die sie als unteilbare »Elementarphänomene« verstehen. 16 Mit der Vorstellung der Epoché befindet sich Whitehead auch in Überein-

Vgl. PR, 77. Vgl. SMW, 170. Siehe auch folgende Stelle von Process and Reality: »The actual entity is the enjoyment of a certain quantum of physical time« (PR, 283). 14 PR, 283. 15 Vgl. SMW, 158, 169 f. 16 Mit dem Begriff ›Elementarphänomen‹ sagt eigentlich Wheeler nichts anderes, als dass ein Quantenprozess nicht nur bezüglich seiner Quantität unteilbar ist – die Erkenntnis mit der Planck und Einstein die Quantentheorie begründeten – sondern auch bezüglich seiner Qualität, wenn darunter die konkrete Formierung seines Werdens zu verstehen ist: »Eine der zentralen Eigenschaften der Quantenphänomene, woran man sieht, dass es sich um einen nicht weiter reduzierbaren Entstehungsvorgang handelt, ist die Unberührbarkeit. […] [W]ir (können) z. B. nicht sagen, was das Photon auf seinem langen Weg vom Eintrittspunkt bis zum Detektor eigentlich treibt. […] Damit zeigt sich das ›Innen‹ eines Phänomens als gänzlich unberührbar« (Wheeler 1984, 214; vgl. auch: Wheeler 1984, 205 & 210). Auch Penroses Ideen gehen in eine ähnliche Richtung (vgl. Penrose 1995, 488–492). 12 13

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stimmung mit Werner Heisenberg, der den Kollaps der Wellenfunktion als einen nicht-zeitlichen Prozess sieht. 17 Whiteheads deutliche Nähe zu quantentheoretischen Vorstellungen bedeutet jedenfalls nicht, dass die epochale Zeittheorie aus der Quantenphysik folgt, obwohl sie in Science and the Modern World mit diesem Fachgebiet in Zusammenhang gebracht wird. 18 Sie stützt sich vielmehr auf mathematisch-logischen bzw. psychologischen Überlegungen, die von Zenon von Elea bzw. William James ausgehen, und ist demnach nicht empirischen Ursprungs. 19 Whitehead sieht vielmehr in seiner epochalen Zeittheorie das Fundament der Quantentheorie: The epochal theory of time is the foundation of the theory of atomic organisms, and of the modern physical quantum-theory. 20

1.3. Makrophysikalische Zeit Während der epochalen Dauer einer weltlichen ›actual entity‹ konkretisiert sich das Muster ihrer Manifestation bzw. Erscheinung. Die Existenzweise sehr einfacher mikrophysikalischer Entitäten, wie Quarks, Photonen, Elektronen u. a., die Whitehead unter den nicht nur Elementarteilchen umfassenden Begriff des ›enduring object‹ subsummiert, besteht in der Wiederholung des Erscheinungsmusters ihrer Aktualisierung: Sie sind also Serien der einfachsten ›actual entities‹. 21 Die absolute Mehrzahl der Aufeinanderfolgen von ›conVgl. Heisenberg 1930, 20; Malin 2004, 77, 80. Vgl. SMW, 169 ff. 19 Vgl. PR, 68. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Platon in Parmenides seine Konzeption des ›ἐξαίφνης‹ (exaifnes), des Plötzlichen (Platon 1990, 155 e4– 157 a2), ohne die geringste Ahnung von Quantenphänomenen zu haben, entfaltet (s. Fußnote 11). Auf der Basis rein logischer Überlegungen gelangt er ebenfalls zur Vorstellung der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Werdens. Die auffällige argumentative Nähe der beiden Denker – trotz offensichtlicher Unterschiede referieren beide auf die eleatische Logik, um die Zeitlosigkeit von Übergängen des Werdens zu beweisen – unterstreicht, angesichts ihrer sehr verschiedenen Erfahrungshintergründe, die Unabhängigkeit ihrer Frage und ihrer Methode von dem empirischen Stand der jeweiligen Epoche. 20 T, 63 f. 21 Dies geht aus folgender Stelle des Quantentheorie-Kapitels von Science and the Modern World hervor: »Thus realisation proceeds viâ a succession of epochal durations […] The vibratory organic deformation is in fact the reiteration of the pattern. 17 18

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crescence‹-Prozessen ist anorganischer und mikrokosmischer Natur, sie besteht in einer astronomisch schnellen Wiederholung aufeinander folgender ›durations‹ und macht die Materialität des Kosmos aus. Die an verschiedenen Beobachtern gebundenen makrophysikalischen Zeitreihen entstehen als Abstraktionen aus den von diesen Beobachtern wahrgenommenen ›durations‹ : Time is sheer succession of epochal duration. But the entities which succeed each other in this account are durations. 22

Die Problematik der Zeit ist also unlösbar mit dem Begriff der Sukzession verbunden.

abstrakte Zeit t ‚durations‘ mikrokosmischer ‚actual entities‘ Fig. 1: Die Aufeinanderfolge mikrokosmischer ›durations‹ bringt die abstrakte physikalische Zeit hervor.

Der Grund für die Entstehung sukzessiver Ordnungen in der Natur lässt sich nicht aus der Atomizität der weltlichen Prozesse gewinnen, da die Epoché eines solchen Prozesses keinerlei zeitliche Sukzession aufweisen kann. Die zeitliche Ordnung der Welt wäre somit ein Rätsel, wenn die Wirklichkeit auf die weltlichen Prozesse begrenzt wäre. Die Aufeinanderfolge der Erscheinungen verlangt danach, das Augenmerk von der inneren Struktur der weltlichen ›concrescence‹-Prozesse auf einen universalen Ordner zu verlagern. Diese Rolle übernimmt in der Whiteheadschen Metaphysik die einzige göttliche ›actual entity‹. 23 Bedenkt man, dass die Initialzündung der weltlichen One complete period defines the duration required for the complete pattern. Thus the (enduring object) is realised atomically in a succession of durations, each duration to be measured from one maximum to another.« (SMW, 169 f., Einfügung von S. K.). Da der von Whitehead in Science and the Modern World verwendete Begriff des ›Primaten‹ sich in seiner Bedeutung mit dem des ›enduring object‹ deckt, habe ich zwecks der Einheitlichkeit der verwendeten Begriffe jenen durch diesen ersetzt. 22 SMW, 158; Hervorhebung von S. K. 23 Whitehead unterstreicht an vielen Stellen seiner Werke die Rolle Gottes als Koordinator und Ordner der Welt, die wie folgt zusammengefasst werden kann: »Apart

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Prozesse von den ›anfänglichen Zielen‹ (initial aims) gestiftet wird, die sie von Gott empfangen, 24 so ist es evident, den Grund der Ausrichtung der weltlichen ›actual entities‹ nach der Ordnung der abstrakten physikalischen Zeit im göttlichen Bewusstsein zu suchen. Dies stellt uns vor die Frage, ob die bisher entfalteten Überlegungen über das epochale Wesen der ›durations‹ auch die ›concrescence‹ des göttlichen Prozesses betreffen.

2.

Die Zeitlichkeit des werdenden Gottes: lebendige Ewigkeit

Whitehead unterstreicht an vielen Stellen seiner Werke die Rolle Gottes als Koordinator und Ordner der Welt. Gott sorgt aber nicht nur für die Erhaltung der Welt, sondern auch für die Erneuerung der Zwecksetzungen, die in ihr offenbart werden. 25 Die sogenannte ›consequent nature‹ oder Folgenatur Gottes ergänzt seine ›primordial nature‹ oder Urnatur, die aus der Unmenge ideeller Formen besteht, die Gott den weltlichen Prozessen als Möglichkeiten ihrer Verwirklichung zur Verfügung stellt. Die Folgenatur Gottes ist ein ›immerwährender‹ (everlasting) Prozess, dessen Werden unlösbar an seiner Partizipation an den weltlichen Prozessen gebunden ist. 26 Die ›concrescence‹ der Folgenatur kommt also nie zum Abschluss, 27 so dass Gott sich nie als raumzeitliches Datum manifestiert und folglich nicht vergehen kann. Gott ist ein immerwährender Prozess.

from God, the remaining formative elements would fail in their functions. There would be no creatures, since, apart from harmonious order, the perceptive fusion would be a confusion neutralizing achieved feeling […] The ordering entity is a necessary element in the metaphysical situation presented by the actual world« (RM, 104, Hervorhebung von S. K.). 24 »God is the principle of concretion; namely, he is that actual entity from which each temporal concrescence receives that initial aim from which its self-causation starts« (PR, S. 244). Vgl. auch: PR, 224, 347, 67, 108; Johnson 1983, 41; Sherburne 1961, 41– 46; Christian 1967, 315. 25 »Apart from God, there could be no relevant novelty. Whatever arises in actual entities from God’s decision arises first conceptually, and is transmuted into the physical world« (PR, 164). 26 Vgl. PR, 345. 27 Vgl. PR, 31, 345.

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Whitehead zufolge ist nur die Folgenatur Gottes bewusst, während seine Urnatur rein begrifflich und nicht bewusst ist. 28 Da die Koordination der weltlichen Prozesse nur von einem universalen Bewusstsein zu bewältigen ist, kann nur Gottes Folgenatur die weltlichen Prozesse durch die Schöpfung geeigneter ›initial aims‹ auf eine Weise anregen, die für die Entstehung und Entwicklung stabiler raumzeitlicher Ordnungen förderlich ist. Da der Begriff der Zeit ohne irgendeine Erfahrung von Zeitlichkeit leer ist, muss der Folgenatur Gottes eine ihr eigentümliche Zeitlichkeit zukommen. Dem Begriff der Zeitlichkeit kommt allerdings eine viel umfassendere Bedeutung als dem der Zeit zu. Jeder Gedanke über die Zeitlichkeit des werdenden Gottes muss davon ausgehen, dass das Werden seiner Folgenatur keine Teilbarkeit zulässt. Denn, wie jeder ›actual entity‹, kommt auch Gott die Unteilbarkeit eines final hervorgebrachten Selbstvollzugs zu. Die Unteilbarkeit des Werdens einer weltlichen ›concrescence‹ ist mit ihrer epochal-atomaren Entstehung gegeben. Whitehead verbindet zeitliche Atomizität ausschließlich mit raumzeitlicher Endlichkeit, da er die epochale Zeittheorie auf ›actual occasions‹ bezieht, wie er ausschließlich die weltlichen und folglich endlichen ›actual entities‹ bezeichnet, 29 die sich mit der Vollendung ihrer ›concrescence‹ als raumzeitlich abgeschlossene Daten manifestieren. 30 Gott, der eine ›actual entity‹ aber keine ›actual occasion‹ ist, kommt also keine epochal-atomare ›concrescence‹ zu. Auch wenn sein Werden unteilbar ist, 31 sollte es nicht als ›Epoché‹ bezeichnet werden, weil dieser Begriff auf Atomizität verweist. Gott kann aber nicht als ein ›Atom‹ beschrieben werden, weil dieser Begriff in der abendländischen Kulturgeschichte auf Seiende referiert, die in jeder Hinsicht endlich, folglich auch Vgl. PR, 345. »The terminus actual occasion will always exclude God from its scope« (PR, 88). 30 Die enge Beziehung zwischen ›actual occasions‹ und epochaler Zeittheorie geht aus folgender Stelle hervor: »There is a becoming of continuity, but no continuity of becoming. The actual occasions are the creatures which become, and they constitute a continuously extensive world. In other words, extensiveness becomes, but becoming is not itself extensive« (PR, 35). Aus dem direkt darauf folgenden Text geht mittelbar hervor, dass der Atomismus nicht auf Gott anwendbar ist: »Thus the ultimate metaphysical truth is atomism. The creatures are atomic« (PR, 35). Gott ist eben keine ›creature‹. Er kann nicht einmal als Geschöpf der Kreativität, dem höchsten metaphysischen Prinzip Whiteheads (vgl. PR, 21), charakterisiert werden, wenn er nicht auf seine ›primordial nature‹ (Urnatur) reduziert wird. 31 Vgl. Edwards 1975, 196. 28 29

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raumzeitlich begrenzt sind. Raumzeitliche Begrenztheit setzt aber eine Metrik voraus. Gott wird aber in der Whiteheadschen Metaphysik als ein unendliches Wesen gedacht, das, im Gegensatz zu den weltlichen Prozessen, unter anderem, weder einer Metrik unterliegt noch Anfang und Ende zeitlicher Art aufweist. Es ist also sinnvoll, in jeder von Whitehead inspirierten Prozessontologie den Begriff der Unteilbarkeit umfassender als den der Atomizität zu konzipieren, um nicht die problematische Vorstellung eines unendlichen Atoms zu evozieren. Die Unteilbarkeit der immerwährenden göttlichen ›concrescence‹ muss also mit einer anders bestimmten Art von Zeitlichkeit korrespondieren. Die Aussage »God is fluent« 32 deutet schon eine bestimmte Richtung an, die durch die Vorstellung, dass es im göttlichen Leben eine Sukzession von Elementen gibt, bestätigt wird. 33 Besondere Beachtung verdient, dass es sich dabei um eine besondere Art von Sukzession handelt, denn »succession does not mean the loss of immediate unison« (ebenda). Alles jemals durch die Partizipation Gottes an den weltlichen Prozessen in seine Folgenatur Aufgenommene ist dem göttlichen Bewusstsein unmittelbar gegeben. Es ist Gott mit einer Nähe präsent, der nicht der Beigeschmack der zeitlichen Distanz und des unwiderruflichen Verlustes wesentlich anhaftet, wie dies bei menschlichen Erinnerungsakten der Fall ist. Welche Form von Zeitlichkeit ist einem solchen Prozess eigen, wenn ihm weder die teilbare abstrakte makrophysikalische Zeit der Aufeinanderfolge von ›durations‹, noch die Epoché eines Zeitatoms zukommt? Gottes Folgenatur kann m. E. Zeitlichkeit im Sinne der von Henri Bergson eingeführten Konzeption der Dauer – der ›durée‹ – zugesprochen werden, die nicht mit der Whiteheadschen Konzeption der ›duration‹ gleichgesetzt werden sollte. Die ›duration‹ ist die Außenseite der ›durée‹ ; sie ist ihre zeitliche Extension in der abstrakten physikalischen Zeit. Die Hauptader des philosophischen Schaffens Bergsons ist der intuitive Zugang zum Zeiterleben. Die Dauer ist die eigentliche, die reine Zeit, die nicht von den Erlebensprozessen des menschlichen Subjekts abstrahiert werden kann, die keine vierte Dimension einer physikalischen Raumzeit ist. Bergson versteht sie als den beständigen 32 33

PR, 348. Vgl. PR, 350.

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Strom der Kreation von Erlebensqualitäten, wie er in seinem ersten Werk Zeit und Freiheit (1888) ausführt: Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Sukzession unserer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich […], indem es sich ihrer erinnert, nicht neben den aktuellen Zustand wie einen Punkt neben einen anderen Punkt stellt, sondern dass es sie mit ihm organisiert, wie es geschieht, wenn wir uns die Töne einer Melodie, die sozusagen miteinander verschmelzen, ins Gedächtnis rufen. Könnte man nicht sagen, dass, wenn diese Töne auch aufeinander folgen, wir sie dennoch ineinander apperzipieren […]? […] Die Sukzession läßt sich also […] wie eine gegenseitige Durchdringung, eine Solidarität, eine intime Organisation von Elementen begreifen, deren jedes das Ganze vertritt […] Kurz, die reine Dauer könnte sehr wohl nur eine Sukzession qualitativer Veränderungen sein, die miteinander verschmelzend, sich durchdringen, keine präzisen Umrisse besitzen, nicht die Tendenz haben, sich im Verhältnis zueinander zu exteriorisieren, und mit der Zahl nicht die geringste Verwandtschaft aufweisen: Es wäre das die reine Heterogenität. 34

Bergson führt den Begriff der ›durée‹ als die fundamentalste Kategorie des menschlichen Bewusstseins ein. Das zentralste Merkmal der ›durée‹ ist, dass ihre Inhalte, d. h. unsere Erlebensakte, keine aneinander angrenzenden mentalen Ereignisse sind. Vielmehr durchdringen sie sich gegenseitig. Bedeutender ist jedoch, dass ihre zeitliche Durchdringbarkeit ihre Qualitäten formt und, was noch wichtiger ist, permanent umformt, da immer wieder neue Akte aus dem gewesenen Erlebensstrom hervorgehen. Die ›durée‹ zeichnet sich also durch ›qualitative Mannigfaltigkeit‹ aus. 35 Die Erlebensakte bestimmen ihre Qualität durch ihre Relationen zueinander. Die zwischen ihnen herrschenden Relationen können, der metaphysischen Tradition folgend, als ›interne Relationen‹ bezeichnet werden. Der internen Relationalität der Erlebnisse verdankt die ›durée‹ ihr essentiellstes Merkmal: ihre heterogene Kontinuität. Bergsons Beschreibung des Bewusstseins als ›reine Heterogenität‹ (s. letztes Zitat) zielt darauf, unseren Bewusstseinsstrom als einen spontanen Prozess darzustellen, der sein Bergson 1994, 77 f., 80, Hervorhebungen von S. K. Diese Konzeption der Dauer, der Bergson sein Leben lang treu blieb, weitete er in den beiden auf Zeit und Freiheit folgenden Werken Materie und Gedächtnis und Schöpferische Entwicklung zu seiner wesentlichsten ontologischen Kategorie aus, indem er der Evolution der Lebewesen und aller Materie ›durée‹ und somit eine, wie auch immer geartete, psychische Innerlichkeit zusprach, was die Prozessphilosophien insgesamt auszeichnet. 35 Vgl. Bergson 1994, 81. 34

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eigenes Wesen bestimmt – genauer: permanent neubestimmt. Der Strom unserer Erlebens- und Denkakte ist ein Selbstvollzug, eine kontinuierlich ihr eigenes Wesen transformierende Entität, die sich selbst zu diesem Zweck spontan fortsetzt. Die ›durée‹ entfaltet sich als eine aus prinzipiellen Gründen nicht vorhersehbare Neuheit, da die Vorhersehbarkeit einer Entwicklung notwendig an der Invarianz des Wesens der zugrundeliegenden Entität gebunden ist. Die ›durée‹ kreiert aber ihr eigenes Wesen erst während sie sich selbst vollzieht. Von Bergson ausgehend kann Invarianz des Wesens nur solchen Kontinua zugewiesen werden, deren Dynamik von einem invarianten, wenn auch noch so komplexen Formalismus, Algorithmus oder Programm beschreibbar ist. Dies trifft z. B. für die Modelle selbstorganisierter und deterministisch-chaotischer Systeme zu, die in der Physik und Theoretischen Biologie anzutreffen sind. 36 Auch wenn ihr raumzeitliches Verhalten noch so heterogen aussehen mag, stellt es lediglich den Ausdruck einer verborgenen Homogenität dar. 37 Homogene Kontinuität ist somit ein Synonym für Wesenskonstanz. Dagegen kann die ›durée‹ nicht in Begriffen von Größe und Quantität ausgedruckt werden, da diese eine Metrik voraussetzen, die ihrerseits homogene Kontinuität benötigt. Obwohl der Begriff der ›durée‹ ursprünglich nur auf die Beschreibung menschlicher Erfahrung abzielt, kongruiert er auffällig mit Whiteheads Verständnis der ›actual entity‹ als ein sich selbst bestimmendes Werden, das zu einem höheren oder niedrigeren Grade unvorhersehbare Neuheit entfaltet. Diese Nähe wird deutlicher in den späteren Werken Bergsons, in denen er seinen Kernbegriff zu seiner zentralsten ontologischen Kategorie erweitert. In Materie und Gedächtnis (1896) führt er eine radikal neue Sicht der Materie ein, die ihm erlaubt, das Geist-Materie-Problem neu zu stellen. Seine intuitive Einsicht, dass es zwischen der Materie und den mit ihr interagierenden Feldern einen kontinuierlichen Übergang gibt, führt ihn auf der Basis komplexer Überlegungen zum Resultat, dass die Materie aus Schwingungen besteht. 38 Davon ausgehend vermutet er, dass alle materiellen Elemente eine Frequenz besitzen, so dass ihre Evolutionäre Algorithmen bilden hierzu keine Ausnahme, da sie auf einer höheren Ebene festgelegt sind. 37 Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Theorie der Selbstorganisation vgl.: Koutroufinis 2019, 122–277. Koutroufinis 1996, 13–49; Koutroufinis 2014, 100–117; Koutroufinis, Holste 2007, 120–128. 38 Vgl. Bergson 1991, 194–208. 36

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Schwingung einen gewissen Betrag an Zeit in Anspruch nimmt. Bergson spricht von der »Dauer der materiellen Welt« 39 und weist elementaren physischen Entitäten eine besonders kurzlebige ›durée‹ zu, 40 womit er ihnen konsequenterweise eine primitive mentale Aktivität zuweist. 41 Bergsons Revision des Geist-Materie-Problems besteht in der Einführung eines sehr breiten Spektrums von Erfahrungsakten, das alle Grade von Komplexität aufweist: von höchst komplexen Bewusstseinsprozessen bis zu protomentalen materiellen Prozessen, die wegen ihrer geringen Kreativität fast homogen sind und praktisch die Form ihrer Vorgänger wiederholen. In seinem Essay Einführung in die Metaphysik wird die metaphysische Erweiterung der ›durée‹ besonders deutlich auf den Punkt gebracht: [D]ie Intuition unserer Dauer […] [bringt uns] in unmittelbaren Kontakt mit einer Kontinuität andersartiger Dauern, die wir nach unten oder nach oben im Sinne einer nachlassenden oder steigenden Spannung nachzuerleben versuchen: […] Im ersten Fall verlieren wir uns in einer sich immer mehr zerstreuenden Dauer, deren Herzschläge, weit schneller als die unsrigen, unsere einfache Empfindung zerteilen und die Qualität in Quantität auflösen: an der Grenze stände die reine Homogenität, die reine Wiederholung (répétition) […] In der anderen Richtung fortschreitend, gehen wir zu einer immer mehr sich anspannenden und verintensivierenden Dauer über, an deren Grenze die Ewigkeit (éternité) stünde. Aber nicht mehr die begriffliche Ewigkeit, die eine Ewigkeit des Todes ist, sondern die Ewigkeit des Lebens. Eine lebendige und infolgedessen bewegliche Ewigkeit (éternité vivante), in der unsere eigene Dauer sich wiederfinden würde […] und die gleichsam eine höchste Verdichtung einer jeden Dauer (concrétion de toute

Bergson 1991, 248. Vgl. Bergson 1991, 207. 41 Dies geht eindeutig aus folgenden Stellen hervor: »Die Bewegung, welche die Mechanik untersucht, ist nur eine Abstraktion oder ein Symbol, ein allgemeiner Maßstab, ein gemeinschaftlicher Nenner, mit dessen Hilfe man die wirklichen Bewegungen untereinander vergleichen kann; an und für sich betrachtet sind aber diese Bewegungen Unteilbarkeiten, die Dauer in Anspruch nehmen, ein Vorher und ein Nachher voraussetzen und die sukzessiven Momente der Zeit zusammenbinden durch einen Faden von variabler Qualität, welcher nicht ohne eine Analogie mit der Kontinuität unseres eigenen Bewußtseins sein kann« (Bergson 1991, 201). »Es bleibt also nur eine mögliche Hypothese: daß die konkrete Bewegung, die imstande ist, wie das Bewußtsein ihre Vergangenheit in ihre Gegenwart zu verlängern […] schon etwas vom Bewußtsein, schon etwas von der Empfindung ist. Sie ist die Empfindung selbst, nur verdünnt und auf eine unendlich viel größere Anzahl von Augenblicken verteilt« (Bergson 1991, 247). 39 40

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›durée‹) ist, wie die Materialität ihre Auflösung und Zerstreuung bedeutet. 42

Die Idee der lebendigen Ewigkeit wird schon in Materie und Gedächtnis vorweggenommen: [W]ürde nicht die ganze Weltgeschichte für ein gespannteres Bewußtsein als das unsrige ist, ein Bewußtsein, das der Entwicklung der Menschheit beiwohnen könnte, indem es sie sozusagen in große Phasen zusammenzöge, in einer sehr kurzen Zeitspanne enthalten sein? 43

Jede ›durée‹ ist eine heterogene und daher eine nicht-metrisierbare Extension. Folglich kann ein externer Beobachter nicht behaupten, dass sie aus früheren und späteren Teilen besteht. Eine weltliche ›durée‹ kann zwar von Außen gewaltsam unterbrochen, aber nicht geteilt werden. Sie ist ein sich selbst vollziehender Fluss, eine Fülle, die als eine unteilbare Einheit, als ein Individuum (In-dividuum), wächst. Teilbar wird sie erst, wenn sie ihre schöpferische Kraft verliert und sich von selbst in andere ›durées‹ teilt. 44 Bergson bezeichnet sie als ein heterogenes Kontinuum der ›reinen Sukzession‹, der succession pure 45. Diese Bezeichnung widerspiegelt natürlich auch – und vor allem – die Seinsordnung der gespanntesten und kreativsten ›durée‹, der lebendigen Ewigkeit. Diese Vorstellung von Sukzession harmoniert m. E. mit Whiteheads Vorstellung der Folgenatur Gottes. Ausgehend von der ›succession pure‹ der höchsten ›durée‹ ist es geradezu evident, dass »succession does not mean loss of immediate unison« (s. oben). Gottes immerwährende Subjektivität erfasst alle weltlichen Bergson 1993a, 210, Einfügung und erste und dritte Hervorhebung von S. K. Diese Vorstellung des Kontinuums einer Unmenge von Ebenen verschiedener Spannung der ›durée‹ wurde schon in Materie und Gedächtnis antizipiert: »[W]ir ahnen in der Natur Aufeinanderfolgen, welche viel schneller sind als die unserer inneren Zustände. Wie soll man sie begreifen, und welcher Art ist diese Dauer, deren Umfang alle Einbildungskraft übersteigt? Sie ist nicht unsere Dauer, gewiß nicht, aber sie ist ebensowenig jene unpersönlich homogene Dauer, welche, für alle und jeden gleich, gleichgültig und leer außerharb des Dauernden abläuft. […] In Wirklichkeit gibt es keinen durchgehenden Rhythmus der Dauer; man kann sich sehr verschiedene Rhythmen vorstellen, langsamere oder schnellere, welche jeweils dem Grad der Spannung oder Entspannung der Bewußtseine entsprechen und ihnen dadurch ihren Platz in der Reihe der Wesen anweisen« (Bergson 1991, 205 f., Hervorhebungen von S. K.). 43 Bergson 1991, 206, Hervorhebungen von S. K. 44 Diesbezüglich ist folgende Stelle besonders aufschlussreich: »[W]enn es irgendwo mit der Teilung aufhört, so hört da auch die Teilbarkeit auf« (Bergson 1991, 205). 45 Bergson 1994, 62, 78. 42

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Fakten seit Anbeginn des Kosmos in einem einzigen Akt seiner kontinuierlich anwachsenden unteilbaren Gegenwart, 46 seiner göttlichen ›durée‹, der jedes Erleben von Verlust und Vergangen-Sein völlig fremd ist. Das geht aus dem letzten Zitat eindeutig hervor: Die lebendige Ewigkeit kann »der Entwicklung der Menschheit beiwohnen«, weil sie »ein gespannteres Bewußtsein als das unsrige ist«, so dass in ihr die ganze Weltgeschichte enthalten ist. Dank der überall wirkenden ›durée‹ der Folgenatur Gottes werden längst vergangene, raumzeitlich zerstreute, und vermeintlich vergessene Prozesse vollständig aufbewahrt, um in neuen Zwecksetzungen integriert zu werden. Die göttliche ›durée‹ dient als höchste Bewahrerin der Vergangenheit, als allumfassendes Gedächtnis des Universums, weil sie an allen Prozessen partizipiert.

3.

Ist die Beziehung der lebendigen Ewigkeit zur Welt eine panentheistische?

Whiteheads Vorstellung der Beziehung zwischen Gott und den weltlichen Prozessen wird bekanntlich als Panentheismus bezeichnet. Dies wirft die Frage auf, ob das Verhältnis der lebendigen Ewigkeit zu den weltlichen durées ebenfalls ein panentheistisches ist. Die Beziehung zwischen der höchsten Ebene der ›durée‹ und all den anderen wird im bekanntesten Werk Bergsons Schöpferische Entwicklung von zwei Metaphern wiedergegeben: Denken wir uns einen Behälter voll hochgespannten Dampfes und hin und wieder Spalten in der Gefäßwandung, durch welche der Dampf in Wolken entweicht. Dann verdichtet sich der in die Luft geschleuderte Dampf fast vollständig zu niederfallenden Wassertröpfchen, und diese Verdichtung und dieser Fall stellen den bloßen Verlust von etwas dar, eine bloße Unterbrechung, ein Defizit. Ein schwacher Teil jedoch der Dampfwolke beharrt unverdichtet, einige Augenblicke lang; und dieser macht eine Anstrengung, die fallenden Tröpfchen wieder emporzuheben. Jedoch ist, was er erreicht, höchstens eine Verzögerung ihres Falles. So mögen einem ungeheuren Behälter von Leben unablässig Wolken entfahren, deren jede, niederfallend, eine Welt ist. Und die Entwicklung der Lebewesen innerhalb dieser Welt würde verkörpern, was noch von der ursprünglichen Bewegung des Wurfes und von jenem Impuls beharrt, der sich im umgekehrten Sinn der MateriaEinige Whitehead-Interpreten betonen die Kontinuität der Folgenatur Gottes: Christian 1967, 408; Edwards 1975, 196–199.

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lität auswirkt. Doch ketten wir uns nicht zu fest an dies Gleichnis. Es kann uns von der Welt nur ein abgeblaßtes, ja fälschendes Bild geben; denn der Spalt, die Dampfwolke, das Hochheben der Tröpfchen sind mit Notwendigkeit determiniert, während die Schöpfung einer Welt freie Tat ist und während das Leben innerhalb der materiellen Welt Teil an dieser Freiheit hat. […] [W]enn ich die Welt, worin ich lebe, betrachte, so erkenne ich die automatische und streng determinierte Entwicklung ihres wohl verknüpften Ganzen als entwerdendes Handeln, die unvorhergesehenen Formen dagegen, die das Leben in ihr umreißt, Formen, die sich selber in unvorhergesehenen Bewegungen fortsetzen, als werdendes Handeln. 47

An einer anderen Stelle heißt es: Sind unsere Analysen richtig, dann ist es das Bewußtsein, oder besser Überbewußtsein (supraconscience), das am Ursprung des Lebens steht. Bewußtsein oder Überbewußtsein ist die Rakete, deren erloschene Schlacken als Materie niederfallen. Bewußtsein ist auch, was von der Rakete selbst, die Schlacken durchdringend und sie zu Organismen aufglühend, fortexistiert. 48

Der ungeheure ›Behälter von Leben‹, aus dem die schöpferische Energie entweicht, ist die höchste Ebene der ›durée‹, die lebendige Ewigkeit. Sie ist frei von jeglicher Notwendigkeit. Über die Lebendigkeit des Urquells erfahren wir: Gott […] hat nichts Abgeschlossenes. Unaufhörliches Leben ist er, ist Tat, ist Freiheit. 49

Die aus dem Überbewusstsein herausströmende Potenz entwird einerseits ›niederfallend‹ zur Materialität, die aus Ebenen niedriger Spannung der ›durée‹ besteht. Indem aber die ›fallende‹ Materie von der schöpferischen Energie durchdrungen wird, die sie wieder ›emporzuheben‹ versucht, wird sie, andererseits, zum biologischen Dasein. Die schöpferische Potenz strebt danach, dieses zu den gespannteren Ebenen der ›durée‹ psychologischer und spiritueller Prozessualität zu heben.

Bergson, 1967, 266 f., Hervorhebungen von S. K. Bergson, 1967, 278, Hervorhebungen von S. K. 49 Bergson, 1967, 267. Von Gott ist in Schöpferische Entwicklung nur an dieser einen Stelle die Rede. Bergson redet in fast allen seinen Werken nur sehr zögerlich von ›Gott‹, weil er, wie er in seinem Spätwerk Die beiden Quellen der Moral und der Religion schreibt, sich vom abstrakten, unpersönlichen ›Gott‹ der Philosophen distanzieren will (vgl. Bergson 1992, 180). 47 48

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Spyridon A. Koutroufinis Durées verschiedener Spannung Lebendige Ewigkeit

mikrokosmische Materialität abstrakte Zeit der Physik des Makrokosmos t Entwerden der schöpferischen Potenz

Fig. 2: Aus der lebendigen Ewigkeit entstehen ›durées‹ niedrigerer Spannung.

Überall im Kosmos lässt sich ein Entwerden der kreativen Potenz beobachten, das Bergson im Sinne des eben beschriebenen Falles begreift. Die physisch manifeste Energie, die im Kontinuum der Ebenen der ›durées‹ eine niedrige Position einnimmt, zerfällt schließlich zur Entropie. 50 Der tendenzielle Gegenpol der lebendigen Ewigkeit ist jedoch nicht die Entropie, sondern der von allen Seienden und Prozessen leere Raum. Das wird verständlich, wenn man als letzte Grenze der Entspannung nicht die sehr kurzlebigen ›durées‹ materieller Prozesse sieht, sondern infinitesimal kurze ›durées‹, die dem dt der Physik entsprechen. Denn die abstrakte Vorstellung unendlich kurzer Zeitlängen verträgt sich besser mit der ebenfalls abstrakten Idee des Vakuums als mit irgendeiner Form wirklicher Materialität oder Energie. Die Entstehung von Entropie und absoluter Leere stellt ein Entwerden von Energien dar, deren Ursprung wir »in einem außerräumlichen Prozeß suchen« müssen, 51 d. h. in der von jeder Verräumlichung freien lebendigen Ewigkeit. 52 Vgl. Bergson 1967, 262–265. Bergson 1967, 264. 52 Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der die Produktion von Entropie bei allen physischen Ereignissen besagt, hat für Bergson vor allem metaphysisches Gewicht: Er ist »das metaphysischste aller Gesetze der Physik« (Bergson 1967, 263). Der bekannte Bergson-Interpret Lawrence Howe sagt zu Bergsons Verständnis von Entropie: »Bergson correlated the tendency of matter toward homogeneity with the 50 51

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Daneben findet aber ein gleichermaßen universeller Kampf der Kreativität mit der in Richtung zunehmender Trägheit fallenden Materie statt, der ein Versuch der Rückkehr zum Ursprung ist. Dieser Prozess ist »im entgegengesetzten Sinn der physikalischen Prozesse gerichtet und füglich […] ein immaterieller«. 53 Er ist das Resultat der Präsenz der lebendigen Ewigkeit in den von ihr entfernten Ebenen weltlicher Prozessualität: die ›Dampfwolke‹, die eine Anstrengung macht, »die fallenden Tröpfchen wieder emporzuheben« (s. oben). Nun kann in mehreren Schritten die Frage diskutiert werden, ob das Verhältnis der lebendigen Ewigkeit zu den weltlichen ›durées‹ ein panentheistisches ist oder nicht. Als erstes wäre klarzustellen, dass Bergson genauso wenig einen Pantheismus vertritt wie Whitehead. Obwohl er einen kontinuierlichen Übergang vom göttlichen Prozess zu den weltlichen ›durées‹ bis hin zur Ebene mikrokosmischer Materialität vermutet, relativiert er nirgendwo in seinen Schriften den Wesensunterschied zwischen der von jeder Notwendigkeit freien lebendigen Ewigkeit und den weltlichen ›durées‹, deren Kreativität und Spontaneität mit wachsender Tiefe dahinschwindet. 54 Eine weitere essentielle Ähnlichkeit zum Gottesbild Whiteheads geht aus den Werken Bergsons mittelbar hervor: Der göttliche Prozess zeichnet sich nicht durch Allwissenheit aus. Die lebendige Ewigkeit kann nicht die Zukunft der Welt kennen, da diese aufgrund der (wenn auch begrenzten) Autonomie der weltlichen ›durées‹ offen ist. Außerdem schließt die oben zitierte Vorstellung, dass die aus dem göttlichen Prozess ausströmende kreative Potenz den Fall der Materie nur verzögern, aber nicht umkehren kann, 55 die Idee der Allmacht Gottes aus. Wie der panentheistisch denkende Theologe Philip Clayton sagt, können, im Gegensatz zu den traditionellen bzw. externalistischen Theologien, aus deren Sicht Gott von außerhalb der Welt in diese interveniert, internalistisch orientierte Theologen nicht Gott die increase of entropy; the extension of matter ›appears only as a tension which is interrupted‹« (Howe 1993, 48 f., letzte Hervorhebung von S. K.). 53 Bergson 1967, 265. 54 Jacques Maritain wirft Bergson vor, dass seine Metaphysik keine deutliche Trennung zwischen Gott und Welt zulässt. Bergson betont in einem Brief von 1912 an Joseph de Tonquédec, der Bergson Monismus vorwirft, dass Gott die Quelle aller ›durées‹ ist, die eine geringere Spannung als er aufweisen, und daher getrennt und unabhängig von der Welt existiert (vgl. May 1970, 638). 55 Vgl. Bergson 1967, 266.

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Attribute der Allmacht und Allwissenheit zuschreiben, da aus ihrer Perspektive die göttliche Kreativität von innerhalb der Welt agiert. 56 Denn nur ein Gott der nicht über absolute Macht und vollständiges Wissen verfügt, kann ein inniges dialogisches Verhältnis zu den endlichen Wesen der Welt eingehen, das auf Überzeugung basiert. 57 In den Worten von Hans Jonas: »Etwas hat er andern Akteuren zu tun gelassen und hat damit seine Sorge von ihnen abhängig gemacht«. 58 Die für den panentheistischen Internalismus angemessene Metapher ist, Clayton zufolge, dass die Welt der Leib Gottes ist 59 – ein Bild, in dessen Sinne es möglich ist, die Metaphern Bergsons zu interpretieren. Der lebendigen Ewigkeit darf jedoch keineswegs die Allgüte des christlichen Gottes abgesprochen werden. Folgende Stelle aus dem letzten großen Werk Bergsons Die beiden Quellen der Moral und der Religion vermitteln diese neutestamentarische Botschaft: Wesen sind ins Dasein gerufen worden, die bestimmt waren zu lieben und geliebt zu werden, da die schöpferische Energie als Liebe definiert werden muß. Diese von Gott, der jene Energie selber ist, verschiedenen Wesen konnten nur in einem Weltall entstehen, und deshalb mußte auch das Weltall entstehen. 60

Bergsons Gleichsetzung der schöpferischen Energie Gottes mit Liebe korrespondiert mit Whiteheads Verständnis der göttlichen Aktion als besondere Vorsehung für besondere Ereignisse 61 und verträgt sich gut mit dessen Bild eines mit seiner Fürsorge und Verlockung die Welt rettenden Gottes, der für sie »the great companion – the fellow-sufferer who understands« ist. 62 Die Identifizierung von schöpferischer Energie und Gottes Liebe bedeutet aber auch, dass der Bergsonsche Gott in allen aus ihm entstammenden Wesen mit Sorge anwesend ist. Diese Identifizierung bewahrt uns davor, die oben angeführte Metapher des Dampfbehälters mit »Spalten in der Gefäßwandung« dahingehend zu missverstehen, dass die Entstehung der

56 57 58 59 60 61 62

Vgl. Clayton 2001, 209. Vgl. Clayton 2001, 211. Jonas 1987, 31 f. Vgl. Clayton 2001, 212. Bergson 1992, 199 f. Vgl. auch: May 1970, 642. PR, 351. PR, 351.

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Die Zeitlichkeit des werdenden Gottes

zeitlichen Welt ein von der lebendigen Ewigkeit nicht vorgesehener Unfall ist. Eine weitere wesentliche Gemeinsamkeit der lebendigen Ewigkeit mit der panentheistisch gedachten Folgenatur Gottes ist, dass beide als universelles Gedächtnis fungieren. Dank der Partizipation des Whiteheadschen Gottes an allen vergänglichen Prozessen und seiner immerwährenden ›concrescence‹ bewahrt alles Gewesene die Unmittelbarkeit der direkten Präsenz in Gott. Dasselbe gilt auch für die göttliche ›durée‹, denn es entspricht der Natur jeder ›durée‹ ein Gedächtnis zu sein, das all seine Erlebnisse vollständig bewahrt. 63 Nach diesen Ausführungen kann kein Zweifel bestehen, dass Bergsons Gottesbild eine große Nähe zu Whiteheads Panentheismus aufweist. Um aber endgültig beurteilen zu können, ob das Verhältnis der lebendigen Ewigkeit zur Welt ein panentheistisches ist, müsste klar sein, ob die Bergson’sche Welt, die mit Gott nicht zusammenfällt, in Gott enthalten ist. Denn eine conditio sine qua non, die jedes panentheistische Gottesbild erfüllen muss, ist, dass Gott die Welt enthält. Um dies aber mit Sicherheit dem Bergson’schen Gottesbild zusprechen zu können, müsste die Vorstellung der Ausströmung der schöpferischen Liebe Gottes mit einer konkreten Theorie der wesensbildenden Teilhabe ergänzt werden, wie Whiteheads Theorie der ›prehensions‹ eine ist. Das Fehlen einer solchen Theorie der Partizipation Gottes an der weltlichen Prozessualität und umgekehrt könnte einer der Gründe für Bergsons pessimistisch anmutende Haltung in Bezug auf den Ausgang des Weltprozesses sein. Ein in seine grundsätzlich optimistische Philosophie sich nicht fügen wollender Pessimismus klingt an, wenn er in seiner Dampfbehälter-Metapher behauptet, dass die heißen Dampfwolken den Fall der erkalteten Materie nur verzögern, aber nicht umkehren können. Die Möglichkeit der Rückkehr zum Urquell ist aber die essentielle Botschaft der Weltreligionen. Abschließend möchte ich betonen, dass Bergson und Whitehead der Idee der Ewigkeit die Lebendigkeit zurückgeben, die ihr vorsokratische Denker und griechische Dichter zusprachen, indem sie ›Äon‹ als Leben verstanden. Aus der Perspektive der beiden Prozessdenker ist die quantifizierte teilbare Zeit unserer wissenschaftlichen Abstraktionen – frei nach Platon und Bergson gesprochen – das bewegliche Schattenbild der lebendigen Ewigkeit. Dies zeigt Bergson im Aufsatz »Die Wahrnehmung der Veränderung« (Bergson 1993b, 149–179).

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Spyridon A. Koutroufinis

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Philosophische Theologie als Machtkritik Whiteheads Gottesgedanken als Einholung biblischer Intuitionen Klaus Müller

1.

Denkbewegungen von weit her und weit nach vorne

Es ist beeindruckend zu sehen, wie in der avancierten Physik der Gegenwart Motive vital sind, die die okzidentale Philosophie bereits in ihrer Gründungsphase umtreiben: Schon Vorsokratiker haben sich Gedanken über Rückführung des Vielfältigen auf eine letzte Einheit gemacht. Die heutige Frage nach Möglichkeiten und Grenzen einer Einheit der Physik oder die Suche nach der Weltformel, der Great Unifiying Theory 1 – kurz GUT –, und den diese nochmals überbietenden Stringtheorien (oder M-Theorie) folgen noch immer dieser Intuition: Stringtheorien bzw. M-Theorie (M von »Membran«) verbinden GUTs mit der Gravitation, anders gesagt: Es geht dabei um eine Zusammenführung des Standardmodells der Teilchenphysik mit der allgemeinen Relativitätstheorie. 2 Man könnte zwischen jenen Anfängen damals und repräsentativen Positionen von heute – also symbolisch gesagt zwischen Thales und der Stringtheorie – philosophisch gesehen eine Menge von Zwischengliedern benennen: von Parmenides/Heraklit über Plotin und natürlich Spinoza, spektakulär dann Hegel, nach ihm zumindest Alfred North Whiteheads Process Philosophy, die einzige vollständig ausgearbeitete Metaphysik des 20. Jahrhunderts 3, Willard Van Orman Quines wirkmächtigen Naturalismus 4 und selbst Edward O. Wilson mit seiner soziobiologischen Konzeption einer Einheit allen Wissens. 5 Die GUTs führen bereits vorausliegende Zwischenstufen Elektrizität, Magnetismus, Schwache Kraft und Starke Kraft zusammen. 2 Die avancierteste Form, die M-Theorie, dient der Vereinigung von fünf voneinander unterscheidbaren Varianten von Stringtheorien. – Vgl. dazu einführend Davies 2008, 138–152. – Vgl. auch Kiefer 2008. 3 Vgl. dazu unten Abschnitt 3. 4 Vgl. Quine 1980. – Vgl. dazu auch Müller 2006a, 80–81. – Müller 2008, 801–811. 5 Vgl. Wilson 1998. 1

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Philosophische Theologie als Machtkritik

Die verblüffendsten Konvergenzen bestehen wohl zwischen dem, was heute in der physikalischen Kosmologie etwa über die Supersymmetrie der Stringtheorie und über den so genannten Strukturenrealismus gesagt wird, und der Weise, wie Hegel im Anschluss an Platons Timaios Wirklichkeit als Ganzes aus Einzeldingen und Ordnung in Gestalt eines von dynamischen Proportionen durchherrschten Zusammenhangs von Formen beschreibt. 6 Diese kosmologische Form von Einheitsdenken nun aber hat so etwas wie ein kongeniales Gegenstück in dem ausgeprägten, ungeheuer komplexen Strang religionsphilosophischen und genuin theologischen Einheitsdenkens, in dessen Zentrum die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Welt steht – und ob denn dieses Verhältnis im Letzten nicht als intensive Einheit beider zu bestimmen sei oder zumindest so, dass die Unterscheidung ihrerseits nochmals von einer Hyper-Einheit umgriffen werde, die ihrerseits Gott selbst zuzurechnen wäre. Dieses Segment religiös-philosophischen Denkens ist in der schulmäßigen Theologie derart unterbelichtet und unterschätzt, dass diese buchstäblich kalt erwischt wurde, als der Ägyptologe J. Assmann 1997/98 eine Debatte über das Verhältnis von Monotheismus und Kosmotheismus – man könnte auch sagen: Monismus – lostrat 7, die bis heute zum Fokus einer kulturkritischen Auseinandersetzung über erkenntnistheoretische, moralische und ästhetische Implikationen der großen Weltreligionen wurde und die die Theologien so schnell nicht wieder los sein werden. 8 Der Strom dieses Denkens versteht sich ausdrücklich als eine philosophisch-theologische Great Unifying Theory. 9 Er lässt sich von der Spätantike an über viele Zwischenstationen bis in theologische Konzepte des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart hinein 10 nachzeichnen als Ausdruck eines theismuskritischen Bewusstseins oder anders: der Einsicht, dass, wenn Gott Gott ist, die personalen Prädikate, mit denen gewöhnlich von ihm geredet wird, nicht ausreichend sind und gerade das theologische Ernstnehmen der Welt in einer Bestimmung des Verhältnisses von Absolutem und Endlichen mehr verlangt, als der

Vgl. Hegel 1969, 355. – Vgl. dazu auch Müller 2008, 848–851. Vgl. Assmann 1998; Assmann 2003. 8 Vgl. Dazu Müller 2005a, 47–84. – Weiterführend und vertiefend vgl. Müller 2006b, 15–46. 9 Vgl. Sloterdijk 1999, 468. 10 Vgl. Cooper 2006. 6 7

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klassisch-traditionelle theologische Begriff der Schöpfung zu leisten vermag. Im Gegenüber zu Theorievorschlägen gegenwärtiger Kosmologie springt einem die Hilflosigkeit des traditionellen Schöpfungsmodells buchstäblich in die Augen: Die Stringtheorie 11, der es darum zu tun ist, die Relativitätstheorie und die Quantenphysik zu einer »Theorie von allem« zusammenzuführen, kommt mittlerweile zu dem Ergebnis, dass ihr Ansatz nicht nur zu einer Lösung führt, die eben das uns vertraute Universum beschreibt, sondern zu 10500 Lösungen, von denen jede ein anderes Universum beschreibt – was unterm Strich so viel bedeutet wie, dass alles existiert, was die Naturgesetze zulassen, z. B. ein Universum mit ganz anderer Schwerkraft oder eines mit Rad fahrenden Einhörnern oder Ähnlichem. In dieser Sicht existiert ein Meer von Welten, ein Multiversum ganz verschiedener Kosmen, unter denen aber genauso einige einander bis aufs Haar gleichen können: Jedes Universum – so ein Experimentalphysiker – sei wie eine Blase in einem Topf mit kochendem Wasser vorzustellen und werde wie diese aus dem heißen Wasser aus dem Feld der den ganzen Raum erfüllenden Energie hervorgetrieben. 12 Zunächst vermag die Multiversums-Theorie viele Beobachtungen der extraterrestrischen Physik zu erklären, die unter Annahme eines einzigen Universums ein Rätsel bleiben oder durch die Annahme eines intervenierenden Schöpfergottes aufgelöst werden müssen – freilich um den Preis, dann auch sagen zu müssen, was es denn bedeutet, angesichts auch nur eines Universums und seiner unsere Imaginationskraft sprengenden Dimensionen von einem personalen Schöpfer zu sprechen, ohne hinsichtlich dessen Personalität bereits im Ansatz in die pure Äquivokation zu geraten, also in eine Sprache, von deren Ausdrücken wir nicht mehr wissen, was sie bedeuten. Würde eine physikalische GUT stabil formulierbar und erhärtete sich die Multiversum-Hypothese weiter, dann erblickte die Form des Theologietreibens, wie etwa Giordano Bruno sie repräsentiert, darin eine Selbstkundgabe des Absoluten, das unsere Erkenntnisgrenzen zu sehr überschreitet, als dass es einfach und zureichend mit personalen Kategorien erfasst würde – auch sie noch wären in dem vom IV. Laterankonzil 1215 formulierten Bewusstsein zu gebrauchen, dass jede Zur Einführung vgl. etwa Greene 2000. – Vgl. auch Hürter & Rauner 2008. – Zur wissenschaftstheoretischen Debatte um die Stringtheorie vgl. Dawid 2008, 395–416. 12 Vgl. Hürter & Rauner 2008, 42. 11

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Philosophische Theologie als Machtkritik

noch so große Ähnlichkeit zwischen Gott und Geschöpf von einer umso größeren Unähnlichkeit durchherrscht werde. 13 Dann wäre aber gleichwohl eine Brücke geschlagen zwischen dem »Und Gott sah, dass es gut war« der Genesis und der GUT zeitgenössischer Kosmologie. Eines scheint mir daraus offenkundig: Der physikalisch wie philosophisch-theologisch ambitionierte Gedanke der All-Einheit könnte ein Diskursplateau sein, auf dem sich Naturwissenschaften und Theologie voraussetzungsfreier treffen können als anderswo.

2.

Tangentialpunkt zwischen Whitehead und Platon

Für dieses soeben avisierte Kommunikationsprojekt gibt es eine Idee, die bis heute durch philosophische und theologische Denkfiguren geistert, ohne je zu einer stabilen Beheimatung gekommen zu sein: das philosophische Theorem der Weltseele. Es geht auf Platon zurück 14, taucht an mehreren Stellen seiner Dialoge auf 15, die nicht konsistent auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können, wie sich der Gedanke der Weltseele als solcher auch nicht bruchlos in das metaphysische Gesamtkonzept Platons einfügen will. A. N. Whitehead führt das darauf zurück, dass Platon – seiner Ansicht nach »[…] der größte aller Metaphysiker und der schwächste Systematiker« 16 – mit zunehmendem Alter in einer fundamentalen Frage der Kosmologie schwankte und darum zu ihrer Beantwortung zwischen zwei Alternativen längere Zeit hin- und hersprang, bevor er sich für eine von beiden entschied. Nur wenn man sich diese systematische Wurzel des Weltseele-Theorems klar macht, kann man auch seine philosophische Relevanz erfassen. Es geht im Kern um die letztlich wissenschaftstheoretische Frage, ob die Naturgesetze den Dingen (von außen) auferlegt sind oder ob sie in den Dingen selbst kraft deren Bezogenheit aufeinander walten. Die erste Option geht logischerweise mit dem Gedanken einer die Gesetze auferlegenden Instanz, also dem eines den Dingen transzendenten Gottes einher, die zweite Option artikuliert sich im Gedanken einer Weltseele, die für das All Vgl. Denzinger-Schönmetzer 1973, Nr. 806. Zur Einführung vgl. Bordt 2007; vgl. auch Schlette 1993. 15 Vgl. Dombrowski 1990, 81–86. Dombrowski bietet auf S. 82 ein vollständigeres Verzeichnis der Belege als einschlägige Lexika und nennt Philebos, Politikos, Timaios, Nomoi und eine möglicherweise meist vernachlässigte Stelle in der Politeia (462 C–D). 16 AId, 315. 13 14

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im Makrobereich in Gestalt einer Immanenz des Göttlichen eben jene Rolle spielt wie die Seele im Menschen: Platon gibt uns in seinem Timaios ein frühes Beispiel für dieses Schwanken zwischen den beiden entgegengesetzten Auffassungen vom Charakter der Naturgesetze, der Immanenz und der Auferlegtheit. In seiner Kosmologie tritt zuerst ein schattenhafter und ungreifbarer Demiurg [Schöpfer; K. M.] auf, der dem Bau der Welt seinen Plan auferlegt. Danach aber betrachtet er die Aktionen und Reaktionen zwischen ihren fundamentalen Bestandteilen als hinreichende und erschöpfende Erklärung für das Werden der Welt: ›Nichts ging von ihr aus, nichts trat in sie ein; es gab nichts als sie selbst‹. 17

Folgt man den schwierigen Überlegungen Platons in Timaios 34a–37c und Nomoi X 896d–899d (den zentralen Texten für die Weltseele), dann wird man der Sache nach sagen müssen: Weil Platon hier eine Vorordnung des Demiurgen vor der von ihm geschaffenen Weltseele (Timaios) bzw. eine Orientierung der Weltseele an dem mit dem Demiurgen äquivalenten Nous (Geist/Intellekt) bei der Leitung der Welt (Nomoi) annimmt, aber eben zugleich durch sie ein Innewohnen des Göttlichen in der Welt artikuliert, ist Platons Position als eine Variante von Panentheismus zu bezeichnen. 18 Was Whitehead daran so sehr fasziniert, dass er innerhalb seiner eigenen philosophischen Theologie in seinem Opus magnum Prozess und Realität 19 darauf zurückkommt, ist für ihn die mit anderen Stellen des platonischen Werkes (z. B. Sophistes 247d–e) 20 exakt zusammengehende Implikation dieses Immanenzgedankens des Weltseeletheorems, dass das göttliche Element in der Welt als eine überredende, nicht aber als eine Zwang ausübende Macht zu betrachten ist. […] Die damals wie heute mit Platons Auffassung konkurrierende Lehre sieht entweder in einer Vielzahl von Göttern oder aber in einem einzigen Gott das fundamentale Agens des Zwangs, der es blitzen und donnern lässt. Durch metaphysische Sublimation wird diese Lehre von Gott als oberster Instanz des Zwangs in die Vorstellung verwandelt, dass Gott als das oberste Seiende in unbeschränkter Allmacht über die in ihrem Sein abgeleitete Welt verfügt. 21

AId, 250. Vgl. dazu C. Hartshorne & W. L. Reese 2000, 38–57. Hartshorne und Reese sprechen im Fall Platons von »Quasi-Panentheism«. 19 PRd 20 Vgl. dazu AId, 248–250. 21 AId, 315–316. 17 18

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Philosophische Theologie als Machtkritik

»Überredende Macht« meint in diesem Zusammenhang, dass die Geordnetheit der Dinge der Welt nicht durch externe Intervention zustande kommt, sondern dadurch, dass die Seienden sich nach wohlbestimmten Gesetzen wechselseitig bestimmen, anlocken und sozusagen werbend einander erfassen. Die theologische Brisanz dieser Platonischen Intuition und ihre Aktualität resultieren für Whitehead nun (bereits zu seiner Zeit, d. h. in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts) daraus, dass er in Platons theoretischer Ahnung nichts Geringeres erblickt als eine Vorzeichnung des christlichen Bildes von dem Gott, dessen Spezifikum ausmacht, seine Leitikonen im Kind von Bethlehem, dem Nazarener Wanderprediger der Liebe und im Geschehen von Golgotha zu finden, kurz: in einem Gottesbild, das völlig frei gehalten ist von der Semantik und der Ikonographie der Macht und des Zwangs. Das anschließende theologische Ringen um eine Metaphysik des wahren Gottes sieht Whitehead sich niederschlagen in den Debatten der beiden großen theologischen Denkmuster der frühen Kirche, wie sie in Antiochien und Alexandrien entfaltet wurden. Deren Vertreter kommen für ihn tatsächlich in systematischer Hinsicht (was, wie bereits erwähnt Platons Schwäche war!) über Platon hinaus, indem sie den Immanenzgedanken ontologisch stärker zu fassen vermögen als nur in Form eines platonischen Abbildgedankens. Am Entschiedensten verdichtet sich das in den christologischen und trinitätstheologischen Debatten: Wird in ersteren die Gegenwart Gottes im Menschen Jesus herausgearbeitet, so in Letzteren die Lehre einer innergöttlichen reziproken Immanenz und – fokussiert im Fragen nach dem Heiligen Geist – die allgemeine Immanenz Gottes in der Welt. 22 Allerdings blieben diese Theologen, so Whitehead, unbeschadet ihrer bahnbrechenden Leistung sozusagen auf halbem Weg stehen, weil sie ihre Einsicht in die Realität der Immanenz letztlich nur auf den internen Bereich ihres Gottesbegriffs anwandten, aber nicht wirklich auf Gottes Verhältnis zur Welt. In Bezug auf diese blieb es im Grunde bei der alten, etwa mesopotamischen und ägyptischen Ikone des Machtgottes und Zwingherrn – mit den fatalen Folgen eines Hiats zwischen Gott und Welt sowie den Konsequenzen, die aus einer Allmacht Gottes für die Theodizeeproblematik folgen. 23

22 23

Vgl. AId, 315–319. Vgl. AId, 319–321.

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Teilt man diese Sicht Whiteheads in etwa, dann kann man nur betrauern, welche theologischen Potentiale für eine im buchstäblichen Sinn radikal christlich-philosophische Theologie dadurch verspielt wurden, dass die anfänglichen Intuitionen einer Konvergenz oder Koinzidenz der Weltseele mit dem Heiligen Geist, wie sie bei den Kirchenvätern Cyrill, Eusebius und Theodoret auftauchten, 24 rasch wieder von der Agenda verschwanden: 25 In den ersten christlichen Jahrhunderten hat sich flächendeckend Aristoteles’ philosophischer Gottesbegriff der Noesis noeseos (Denken des Denkens) aus seiner Metaphysik Buch XII durchgesetzt, das Inbild des transzendenten Bestimmungsprinzips schlechthin. Der Gedanke der Weltseele wurde im Zuge der Abweisung des stoischen Immanentismus des Geistes, der als Pantheismus verstanden wurde, weitestgehend zum Verschwinden gebracht. 26 Einer jedoch geht auch hier einen Sonderweg, wenn auch (fast wie Platon) keinen, der systematisch gesehen ganz durchsichtig wäre – Origenes: Er hält an der Weltseele fest, ohne sie freilich auch nur von Ferne mit dem Heiligen Geist in Verbindung zu bringen. In seinem systematischen Hauptwerk Peri archon (Über die Prinzipien) II, 1,3 nimmt er das Theorem auf, um die göttliche Leitung der Welt zu erläutern: Obgleich also die Weltordnung im Ganzen in verschiedene Amtsbereiche gegliedert ist, darf man doch nicht glauben, sie sei unharmonisch und widersprüchlich. Wie unser Leib einer ist, aber aus vielen Gliedern zusammengefügt (vgl. 1 Kor 12, 12) und von einer Seele zusammengehalten wird, so muß man, meine ich, auch das Weltganze gleichsam als ein ungeheuer großes Lebewesen ansehen, das wie von einer Seele von Gottes Kraft und Planung beherrscht wird. Das wird, meine ich, auch in den heiligen Schriften angedeutet, wenn es bei dem Propheten heißt (Jer 23, 24): ›Bin ich es nicht, der Himmel und Erde füllt? Spricht der Herr‹ und wiederum (Jes 66, 1): ›Der Himmel ist mein Thron, die Erde der Schemel meiner Füße.‹ Ferner, wenn der Erlöser sagt (vgl. Matth 5, 34 f.), man solle nicht schwören, ›weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel‹. Schließlich, wenn Paulus in der Rede vor den Athenern sagt (Apg 17, 28): ›In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.‹ Denn inwiefern leben wir, bewegen wir uns und sind wir in Gott außer darum, dass er mit seiner Kraft die Welt umfaßt und zusammenhält? Und inwiefern ist der Himmel Gottes Thron und die Erde seiner Füße Schemel, 24 25 26

Vgl. Dombrowski 1990, 83. Vgl. dazu auch Schlette 1993, 112–123. Vgl. Dombrowski 1990, 82.

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wie der Erlöser selbst sagt, es sei denn darum, dass im Himmel wie auf Erden seine Kraft alles erfüllt, wie er es auch sagt (Jer 23, 24): ›Bin ich es nicht, der Himmel und Erde füllt? Spricht der Herr.‹ Daß also Gott, der Vater des Alls, die ganze Welt mit der Fülle seiner Kraft erfüllt und zusammenhält, wird nach diesen Ausführungen, glaube ich, jeder leicht zugeben. 27

Ausweislich des hier erfolgenden intensiven Versuchs einer biblischen Legitimation lag Origenes viel daran, das Weltseele-Theorem festhalten zu können. Dombrowski ist der Ansicht, dass er dieses auch notwendig brauchte, um die intendierte Synthese antiker und christlicher Weisheit gewinnen zu können, aber genauso auch, um die Gedanken der Gottessorge für die einzelnen Geschöpfe wie denjenigen einer wirklichen Einheit des Universums zur Geltung zu bringen. 28 Doch um den Heiligen Geist macht er dabei einen großen Bogen – ich halte es darum für keinen Zufall, dass er am Ende des vorstehenden Zitats den die Welt mit seiner Kraft erfüllenden und zusammenhaltenden Gott eigens als »Vater des Alls« apostrophiert und dass er an anderen Stellen die Weltseele ganz eng mit dem λóγος zusammenrückt: Und wenn wir es wagen dürfen, hierin etwas Weitergehendes zu sagen, so ist vielleicht die Seele Gottes als sein eingeborener Sohn zu verstehen. Denn wie die Seele dem ganzen Körper eingefügt ist und alles bewegt, lenkt und in Tätigkeit setzt, so hängt auch der eingeborene Sohn, welcher sein Wort und seine Weisheit ist, mit jeder Kraft Gottes zusammen und ist in sie eingefügt. Es ist vielleicht ein Hinweis auf dieses Geheimnis, wenn Gott in der Schrift als Körper bezeichnet oder beschrieben wird. 29

Auch wenn das Wirken des Logos natürlich immer ein geisterfülltes, pneumatisches ist, bleibt die explizite Pneumatologie, deren erstes Zeugnis in einer systematischen Entfaltung gerade auf Origenes zurückgeht 30, aus diesem Kontext ausgeschlossen. Der philosophische Grund 31 dafür dürfte in der Ausbildung des Eigenprofils dieser früh-

Origenes 1976, 289. Vgl. Dombrowski 1990, 83. 29 Origenes 1976, II 8,5; vgl. auch II, 11, 6. – Erhellendes dazu findet sich bei Hengstermann 2008. 30 Vgl. Dünzl 2000, 367–377. 31 Als theologischer Grund kommt wohl die Abwehr des so genannten Sabellianismus hinzu, für den die Trinität nicht drei Personen in Gott bilden, sondern es sich nur um drei Erscheinungsweisen des einen Gottes handelt. Vgl. dazu Ziebritzki 1994, 261. 27 28

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christlichen Pneumatologie gegenüber der Drei-Hypostasen-Lehre Plotins zu suchen sein: Die Plotinische Triade »Das Eine (Hen) – Geist/Intellekt (Nous) – (Welt-)Seele«

kongruiert nicht mit der trinitarischen Trias »Gott – Logos – Pneuma«

bei Origenes: Beide Reihen stehen zueinander gleichsam im Verhältnis der Verschiebung um eine Stufe: Während das »Hen« Plotins jenseits von Sein und Denken steht, bildet bei Origenes Gott als Spitze des Seins das Pendant zum Plotinischen Νous, der Logos korrespondiert mit der Plotinischen (Welt-)Seele, das Pneuma ist eine Realität sui generis. Ziebritzki macht diese Inkongruenz daran fest, dass »Seele« bei Plotin und »Pneuma« bei Origenes völlig differenten Problemfelder zugehören: die Seele habe für die Vermittlung von intelligibler und sinnlicher Welt aufzukommen, das Pneuma für die Heiligung der rationalen Kreaturen, indem durch Teilhabe an ihm (Kraft der Taufe) eine Teilhabe am Sohne und durch diese wiederum eine Teilhabe am Vater ermöglicht werde. 32 Das mag alles zutreffen – aber die Bedeutung von Origenes’ Peri archon II, 1,3 und der anderen Weltseele-Belege bleibt damit systematisch gesehen ungeklärt. (Ziebritzki übergeht sie darum auch kommentarlos.) Dombrowski, der mit Emphase an Origenes’ Rezeption des Weltseele-Theorems erinnert, kritisiert F. Solmsen, den er als seinen Gewährsmann für die Dipolarität des transzendent-immanenten (Demiurg und Weltseele) Gottesgedankens Platons heranzieht, für die Behauptung, nach Origenes habe niemand mehr diesen Gedanken aufgegriffen, denn Ch. Hartshorne, der Whitehead-Schüler und Großmeister des Panentheismus im 20. Jahrhundert, habe eben dies getan. 33 Letzteres ist richtig, überspringt aber seinerseits, dass es lange zuvor, gleichsam in der Mitte zwischen Origenes und Hartshorne, eine durchaus nennenswerte Rezeption des Weltseeletheorems inklusive deren Analogisierung mit dem Heiligen Geist gab – und in besonderer Weise herausragend die diesbezüglich einschlägige Positionierung Peter Abaelards 34 – aber das ist ein anderes Thema, das an dieser Stelle nicht zu verhandeln ist. 32 33 34

Vgl. Ziebritzki 1994, 262–266. Vgl. Dombrowski 1990, 84. Vgl. Kobusch 2006, 45 nennt zwar die Rezeptionen der Weltseele im 12. Jahrhun-

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Nimmt man all die eben verzeichneten Spuren simultan in Blick, so lässt sich unschwer erkennen, dass sie sich um einen gemeinsamen Fokus herum sortieren: den Gedanken der All-Einheit in meist expliziter kritischer Absetzung vom Theismus mit seinem personalen und transzendenten Schöpfergott. Neben Spuren bei Lessing, Jacobi, Herder und Goethe wird das besonders bei Schelling greifbar, bei dem sich das Motiv nicht nur in der der Weltseele-Schrift folgenden Identitätsphilosophie, sondern auch noch in dem zahrzehntelangen religionsphilosophischen Ringen angefangen von etwa 1806 bis in die späten 20er Jahre und das sie bestimmende (Fragment gebliebene) Weltalter-Projekt hinein durchgehalten hat 35. Erst nachher trat es vor anderen Kategorien zurück, mit denen Schelling sein ambitioniertes Programm eines erneuerten Monotheismus, der Gott als »zugleich persönlich und alles« 36 zu denken vermöchte, voranzutreiben suchte. Schon 1929 hat J. Jost treffend bilanziert: Wenn die Weltseele die hohe Bedeutung, die ihr in der Naturphilosophie zuerkannt wird, in der fortschreitenden Entwicklung Schellings auch allmählich verliert, die Richtigkeit ihrer Annahme für das Weltall hat der Philosoph niemals preisgegeben. Sie ist Schelling stets ein Mittel gewesen, seinen Monismus aufrecht zu erhalten und sein Lehrgebäude lückenlos darzustellen; darin liegt die tiefste Bedeutung der Weltseele in der Schellingschen Philosophie. 37

Anders gewendet: Seit Jacobis Spinoza-Büchlein fungiert die Weltseele als Chiffre der Theismuskritik und eines All-Einheits-Gedankens im Sinn einer Alternative zu dem mit dem (Mono-)Theismus verbundenen Differenzdenken. Im weiteren Gang der Philosophie blieb das Motiv noch eine Weile in vorwiegend monistisch-naturphilosophischen Kontexten präsent, um dann im grellen Licht des Siegeszuges empiristischer Disziplinen und der ihnen kongruenten Philosophen nahezu gänzlich zu verblassen. Insofern ist durchaus plausibel, dass dort, wo das in dem Motiv ventilierte Sachanliegen eines Defizits des traditionellen

dert, namentlich diejenigen der Schule von Chartres, erwähnt aber mit keinem Wort Abaelard, obwohl er sich wenige Zeilen zuvor auf ihn beruft als einen, der sich für die Vernünftigkeit der christlichen Logoslehre und Trinitätstheologie auf vor- und außerchristliche Philosophien stützt. 35 Vgl. Müller 2005a, 246–247. 36 So eine glückliche Formulierung von Strasser 2002, 191. 37 Jost 1929, 53–54.

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Theismus im Horizont der philosophischen Gottesfrage dennoch weiter wahrgenommen wird, die vom Weltseele-Motiv verbürgte monistische Erinnerungsarbeit sozusagen wieder an ihr (mehr oder weniger heimliches) Pendant überging: den Heiligen Geist. Nicht Theologen, sondern Philosophen, die im größeren Teil ihres Œuvres theologisch eher zurückhaltend waren, bezeugen genau dies. Zuerst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts – wie schon kurz angesprochen – Whitehead. Er gehört zu den Wenigen, die klar erkannt haben, dass es in der Ausfaltung der Trinitätstheologie beim Gedanken des Heiligen Geistes nicht um eine über die Christologie hinausgehende Profilierung des Personbegriffs geht, sondern – eher in einer Art korrigierender Ausmittelung des theistischen Bildes eines personalen Gottes gegenüber der Welt – um die gleichzeitige Einwohnung Gottes in der Welt. Die Theologen der frühen Kirche, schreibt er, entschieden sich neben der christologischen Zweinaturenlehre auch […] für eine irgendwie geartete Immanenz Gottes in der Welt im allgemeinen, nämlich in der Lehre über die dritte Person der Trinität. 38

Knapp ein halbes Jahrhundert später kam Dieter Henrich im Rahmen seiner ausgreifenden Studien zum Problemkreis von Subjektivität und Selbstbewusstsein 39 zu exakt derselben Auffassung der Trinitätslehre und speziell der Pneumatologie 40. Letztere erfüllt für ihn die Rolle einer Art institutionalisierten Mystik, die in Spannung zum theistischen Gedanken der Differenz von Gott und Welt im Horizont der innergöttlichen Einheit der Personen 41 die intime Zusammengehörigkeit von Schöpfer und Schöpfung und im Letzten eine interndifferenzierte (modern gesprochen: panentheistische) All-Einheit zur Geltung bringt. Daraus erklärt sich auch, warum die Metaphern zur theologischen Beschreibung der Erfahrung des Geistes in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht-personalen Charakters sind. J. Moltmann etwa nennt neben den personalen Metaphern »Herr-MutterRichter« die formativen Metaphern »Energie-Raum-Gestalt«, die Bewegungsmetaphern »Sturmwind-Feuer-Liebe« und die mystischen AId, 318. – Im evangelikalen Kontext gibt es Versuche, mit einer Korrektur Whiteheads durch den idealistischen Personalismus und vice versa so etwas wie eine KoInhärenz von Pneuma und menschlichem Geist denkbar zu machen. Vgl. Dorrien 2006, 3–31. 39 Vgl. dazu als Übersicht Müller 2005b, 149–165. 40 Vgl. Henrich 1979, 612–620; Henrich 1982, 99–124, hier 118–119. 41 Vgl. dazu auch Hegel 1958, §§ 565–570. 38

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Metaphern »Licht-Wasser-Fruchtbarkeit«. 42 Nur so wird die Immanenz des Göttlichen christlich fassbar, denn – wie F. Wagner treffend formulierte – erst Geist ist […] die logische Struktur des Jetzt-im-Andernsein-bei-sich-selber-sein, die im Christusgeschehen ihren Grund und Ursprung hat. 43

Wolfhart Pannenberg denkt in strukturell ähnliche Richtung, wenn er den modernen physikalischen Begriff des »Feldes« aufgreift, um in seiner Pneumatologie den Heiligen Geist als einen ursprünglichen Dynamismus zu beschreiben, der im Gang des Schöpfungsgeschehens seine Bestimmung im Sinn einer buchstäblich zu nehmenden In-Formation durch den »λογος« qua zweiter trinitarischer Person erhalte 44. Das führt dazu, dass Pannenberg gerade wegen seiner feldtheoretischen Pneumatologie – entgegen seiner ausdrücklichen Erklärung – gemeinsam mit Jürgen Moltmann von manchen Autoren dem »panentheistic turn« 45 zeitgenössischer Theologie zugerechnet wird. 46 Für dieses Zirkulieren einer Art monistischen Stromkreises zwischen Weltseele-Theorem und Pneumatologie spricht im Übrigen auch, dass Stimmen ganz unterschiedlicher Provenienz in der Frage aktueller Aneignungen der jeweiligen Theorieressourcen auf exakt dieselben Indizien der Vergegenwärtigung stoßen. Moltmann 47 von theologischer, deutlich pneumatologisch zugespitzter Warte wie Dombrowski 48 aus der Perspektive des Weltseele-Gedankens verweisen dazu auf die Gaia-Theorie von James Lovelock 49, deren Vorform schon Mitte des 19. Jahrhunderts durch Gustav Theodor Fechner konzipiert wurde 50 und deren bislang jüngste Variante von Tim Flannery stammt. 51 Diese Theorie fasst die Erde in ihrer Ganzheit als ein Moltmann 1991, 282–298. – Zur Rede vom heiligen Geist als »Heiliger Atmosphäre«, die auch diesem Feld der apersonalen Semantik zugehört vgl. Hailer 2004, 165–183. 43 Wagner 1976, 151–179, vgl. 170–171. 44 Vgl. Pannenberg 1991, 132–133. – Zu Pannenbergs feldtheoretischer Pneumatologie vgl. insgesamt S. 96–138. 45 Brierley 2004, 1–15. 46 Vgl. Cooper 2006, 259–281. 47 Vgl. Moltmann 1993, 420–438. 48 Vgl. Dombrowski 1990, 87–93. 49 Vgl. Lovelock 1988. 50 Vgl. Fechner 1848. 51 Vgl. Flannery 2011. 42

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Lebewesen auf, genauer: als einen sich selbst regulierenden Organismus, der sich z. B. durch klimatische Veränderungen und die durch sie erzeugten Unwetterkatastrophen für seine Misshandlung durch die Menschen rächt. Lovelock ist erklärter Agnostiker, der – entgegen etwelchen Mystifizierungen oder esoterischen Tendenzen – mit dem Etikett »Gaia« die Rückkopplungsstruktur des Planeten Erde gegen die Vorstellung von einer zu unterwerfenden Macht der Natur zur Geltung bringt und eben dazu auf der Basis chemischer und biologischer Prozesse das Gesamt unserer Bio- und Atmosphäre als einen lebenden und damit beseelten Organismus beschreibt. 52 Kein anderer als Origenes hat auch diesen Gedanken im Kern vorweggenommen, als er in einer seiner Ezechiel-Homilien sagte: […] latissimam Scripturae silvam recensens coarctor ad suspicandum quia animalis sit ›terra‹, quam cernimus [Die Durchsicht des äußerst umfangreichen Materials der Schrift nötigt mich zu der Annahme, dass die sichtbare Welt beseelt ist] 53,

um dann wenige Absätze später auf der Folie eines Gewebes biblischer Redeweisen von »Erde« expressis verbis auch noch das »Gaia«-Motiv hinzuzufügen, dass »igitur ›terra‹ mater nostra est« (»also ›die Erde‹ unsere Mutter ist«) 54, und zwar diejenige, die »vere mater nostra est« (wahrhaft unsere Mutter ist«) 55 im Vergleich zu derjenigen Mutter und dem Vater, deren Eizelle und Samen wir entstammen – eine Wendung im Übrigen, die viel später wörtlich in einem Brief des Malers Egon Schiele aus dem Jahr 1911 wiederbegegnet – ein Künstler, der im poetischen Wort wie in vielen seiner Bilder unter dem Vorzeichen des zu seiner Zeit herrschenden Monismus um die Einheit von Natur und Religion gerungen hat. 56 Es ist m. E. sehr zum Schaden der Theologie und ihrer Verständigungskraft auf dem Forum der Religionskritik, dass die gegenwärtige Pneumatologie mit Ausnahme Moltmanns und Pannenbergs diese Zusammenhänge so gut wie nicht zur Kenntnis nimmt. In der zeitgenössischen Medienphilosophie finden sich im Übrigen zudem Verknüpfungen zwischen der Gaia-These und einer medial konstituierten, weltumspannenden Noosphäre. Vgl. dazu Müller 1999, 379–401. 53 Origenes, In Ezech. Hom. 4,1. (GCS Orig. 8, 359), übers. von meinem ehemaligen Mitarbeiter Christian Hengstermann, dem ich auch den Hinweis auf diese und andere einschlägige Origenes-Stellen sowie wichtige Literatur zum Thema verdanke. 54 Origenes, In Ezech. Hom. 4, 1 (GCS Orig. 8, 362) (Anm. 53). 55 Origenes, In Ezech. Hom. 4, 1 (GCS Orig. 8, 362) (Anm. 53). 56 Vgl. dazu Pereña 2011, 110–126. Hier 114. 52

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3.

Whiteheads Gott

Auf dieser ganzen Folie, die in ihrer Tiefenschicht vom Gedanken der All-Einheit und damit theologisch von den Intuitionen des Panentheismus imprägniert ist, lässt sich dann auch ganz gut nachvollziehen, dass Whiteheads Gottesbegriff keineswegs so exotisch ist und den okzidentalen Traditionen quersteht, wie das auf den ersten Blick wirken mag. Was versteht er unter »Gott«? 57 Weil die in Einzeldingen sich vollendenden Konkretionsprozesse notwendig auf Ziele zulaufen, ohne diese selbst setzen zu können, brauchen diese Prozesse ein Justierungsprinzip – und dieses nennt Whitehead »Gott«. Ich wähle diese den »quinque viae« des Aquinaten nahe Formulierung nicht zufällig, sondern um gleich hier zu signalisieren, dass diese Etikettierung oder Identifizierung in sich nach einer eigenen Rechtfertigung verlangt. Die Aristoteles-Nähe des Whitehead’schen Gottesgedankens liegt auf der Hand und wird von Whitehead selbst auch ausdrücklich gemacht: 58 Wie bei diesem handelt es sich um eine aus der metaphysischen Weltbeschreibung notwendig resultierende Instanz. Whiteheads Gott-Rede ist eine notwendige Konsequenz seiner Kosmologie (und das macht auch zentral die Nähe zum Aquinaten aus, auf die ich vorausgehend schon angespielt hatte). Nicht, dass dabei eine unmittelbare Erfahrung eine Rolle spielte – die Gott-Rede bewegt sich auf der Ebene der kosmologischen Interpretation der Erfahrung. Aber ohne das, worauf dieser Gedanke zielt, ist für Whitehead weder so etwas wie Ordnung noch in Folge davon so etwas wie Neues in der Welt denkbar. Kreativität als das bloße Bewegtsein des Universums, das sozusagen das Grundsubstrat bildet, muss mit der Potentialität als dem Reich der Formen des überhaupt Möglichen zusammengeschlossen werden, damit konkretes Wirkliches zustande kommt. Genau diesen Zusammenschluss bewirkt Gott als der Integrator von Kreativität und Potentialität. 59 Mit Blick auf das überhaupt Mögliche spricht Whitehead von einer »Urnatur« 60 Gottes, im Blick auf das je wirklich

57 58 59 60

Vgl. dazu auch die luzide Nachzeichnung bei Hartshorne 1951, 515–559. Vgl. SMWd, 203. Vgl. dazu auch Faber 2003, § 27. PRd, 80.

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Gewordene von Gottes »Folgenatur« 61, Letzteres in dem Sinn, dass natürlich auch dieser ganz und gar in die Konkretionsprozesse als ihr Telos eingelassene Gott erst in der Realisation dieser Prozesse er selbst wird. Allerdings darf dieser Gott in keiner Weise pantheistisch verstanden werden. Wirklich können in Whiteheads Konzept nur Einzelwesen sein, folglich gilt das auch für einen Gott, der wirklich sein soll. Wie jedes andere Einzelwesen macht seine Wirklichkeit ein kreativer Übergangsprozess von vielem zu Neuem aus. Was ihn von den anderen Einzelwesen unterscheidet, ist, dass er nicht wie diese aus anderem und in anderes vergeht, sondern, dass er immer schon aus sich wird und zu sich übergeht, d. h. er hat »keine Vergangenheit« 62 – wie Whitehead selbst sagt –, die er nicht schon selbst wäre, und dementsprechend auch keine von sich selbst verschiedene Zukunft. Das schließt freilich ein, dass Gott nicht aus wirklichen Einzelwesen werden kann, sondern nur aus dem Gesamt der zeitlosen Gegenstände, also den Formen und ihm selbst, sofern diese zeitlosen Gegenstände nur mit Bezug auf ein wirkliches Einzelwesen sind: Die ›Urnatur‹ Gottes ist die Konkretisierung einer Einheit begrifflicher Empfindungen, zu deren Daten auch alle zeitlosen Gegenstände gehören. 63

Die zeitlosen Gegenstände sind darum gleichursprünglich mit Gott und Gott mit ihnen. Sie hängen von ihm ab wie er von ihnen. Inhaltlich gewendet heißt das: Die Wirklichkeit Gottes ist der Inbegriff des überhaupt ontologisch Möglichen. Nicht alles, was möglich ist, geht auch gleichzeitig zusammen. Es gibt Nicht-Kompossibles. Als Inbegriff alles Möglichen umfasst Gott auch die möglichen Welten, die nicht zusammenpassen oder nicht auseinander hervorgehen können. Nur die zeitliche Realisierung des Möglichen in Prozessform, also in Gestalt von Werden und Vergehen, ermöglicht eine nicht-widersprüchliche Wirklichkeit, wobei das je Wirkliche das ihm Folgende normativ dirigiert. Mögliches gibt es nur als Mögliches von Wirklichem. Insofern kann auch Gott als Inbegriff des Möglichen nur wirkliches Einzelwesen sein, wenn er immer schon in Beziehung zu wirklichen Einzelwesen steht, und diese wiederum sind ja nichts anderes als die Realisation von Einigem, was als möglich und kompos61 62 63

PRd, 80. PRd, 174. PRd, 174.

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sibel in ihm beschlossen liegt. Daraus folgt, dass Gott und irgendeine Welt notwendig zusammengehören – welche Welt auch immer dies näherhin ist. Und daraus wiederum folgt, dass Gott in der je realen Welt erfasst werden kann, wie er umgekehrt von dieser realen Welt nicht unberührt, ja von ihr in seinem innersten Wesen bestimmt ist – und das Ganze natürlich prozessual gedacht, also so, dass Gott umso mehr der wird, der er ist, als Welten in Realität treten, die in ihm als kompossible beschlossen liegen. Vor diesem Hintergrund kann Whitehead gegen Ende von Process and Reality beinahe so etwas wie ein prozessphilosophisches Credo formulieren: Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott beständig ist und die Welt fließend, wie zu behaupten, daß die Welt beständig ist und Gott fließend. Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott eins ist und die Welt vieles, wie zu behaupten, daß die Welt eins ist und Gott vieles. Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott im Vergleich mit der Welt höchst wirklich ist, wie zu behaupten, daß die Welt im Vergleich mit Gott höchst wirklich ist. Es ist genauso wahr zu sagen, daß die Welt Gott immanent ist, wie zu behaupten, daß Gott der Welt immanent ist. Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott die Welt transzendiert, wie zu behaupten, daß die Welt Gott transzendiert. Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott die Welt erschafft, wie zu behaupten, daß die Welt Gott erschafft. 64

Aus Whiteheads Ansatz folgt das in der Tat – und zwar einfach deswegen, weil im Prozess-Paradigma das Verursachende vom Verursachten nicht unberührt oder unaffiziert bleiben kann: das Verursachte wirkt als es selbst auf das Verursachende zurück und zieht es so in eine Geschichte mit sich hinein, die ja von ihrer Ursprungslogik her eine Geschichte mit sich selbst ist. R. Faber resümiert treffend: Die Welt gewinnt schöpferische Gestalt und Rettung in dem Gott, der sich ereignet, indem er die Welt sich als Möglichkeit schenkt und sie als Wirklichkeit aufnimmt […]. 65

Lässt man sich für einen Augenblick nicht von dem Gegensatz beirren, in den sich dieses Resümee zu der eingespielten dogmatischen Gott-Rede setzt, dann gewinnt an eigenartiger Tiefenschärfe, was Whitehead auf den letzten Seiten von Process and Reality neben 64 65

PRd, 621. Faber 2003, 26.

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dem erläuterten philosophischen Grund als spezifisch religiöses Motiv für seine radikale Neubegründung der Metaphysik und der ihr zugehörigen philosophischen Theologie ins Feld führt: Er gibt sich nämlich überzeugt, mit seinem Konzept für die theistische Philosophie wieder etwas zugänglich zu machen, was die Hauptrichtungen der westlichen Gottrede verdrängt hätten, nämlich die aus den jüdisch-christlichen Traditionen stammende Idee eines sich in Liebe der Welt zuwendenden, ja sich für die Welt bis zum Letzten verausgabenden, nachgerade an sie verlierenden Gottes. Den dominanten okzidentalen theologischen Paradigmata wirft er vor, das zu treiben, was später Carl Schmitt »politische Theologie« genannt hat, also Gott als caesarische Herrscherfigur zu denken, oder – in Orientierung an den alttestamentlichen Propheten – als personifizierte Moralinstanz oder – aristotelisch gewendet – als philosophisches Grundprinzip. Dem hält er entgegen: Es gibt jedoch im galiläischen Ursprung des Christentums noch eine andere Anregung, die zu keinem der drei Hauptstränge des Denkens so richtig paßt. Sie legt das Schwergewicht weder auf den herrschenden Kaiser, noch auf den erbarmungslosen Moralisten oder den unbewegten Beweger. Sie hält fest an den zarten Elementen der Welt, die langsam und in aller Stille durch Liebe wirken; und sie findet ihren Zweck in der gegenwärtigen Unmittelbarkeit eines Reichs, das nicht von dieser Welt ist. Liebe herrscht weder, noch ist sie unbewegt; auch ist sie ein wenig nachlässig gegenüber der Moral. Sie blickt nicht in die Zukunft; denn sie findet ihre eigene Befriedigung in der unmittelbaren Gegenwart. 66

Whitehead zögert auch nicht, diesen Gott, der in einem unablässigen Prozess der Vervollständigung seiner selbst das prinzipiell seinsmäßig Mögliche auf konsistente Weise in eine vollständige Einheit führt, als – so wörtlich – »große(n) Begleiter« 67 zu bezeichnen, als – nochmals wörtlich – »Mitleidende(n), der versteht.« 68 In Korrespondenz zu diesem ersichtlich biblisch inspirierten Gottesgedanken lassen sich dann auch unschwer Kerntheoreme der jesuanischen Verkündigung einholen, so die Präsenz des Reiches Gottes mitten unter den Menschen – in Anspielung auf Lk 17,21 – oder dass, was auf Erden getan werde, sich in eine Realität des Himmels verwandle und diese wiederum in Welt übergehe – unüberhörbar Reminiszenzen an 66 67 68

PRd, 612–613. PRd, 626. PRd, 626.

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die präsentischen Eschatologien etwa aus Mt 25, dem Gerichtsgleichnis vom mit Brot gesättigten Hungernden und im Gefängnis besuchten Häftling, die in Wirklichkeit der endzeitliche Richter, also Jesus, waren, oder durchgehend im Johannesevangelium. 69 Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Das sind nicht altersbedingte Anwandlungen des greisen Herrn Whitehead, sondern entspricht der Form nach genau dem, was die Pointe der Gründungsschrift der modernen Religionsphilosophie ausmacht: die Einholung religiöser Gehalte in einen Horizont vernunftgemäßer Rechtfertigung. Bei dem Werk handelt es sich um Kants Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793, in der sich unter anderem – zumindest im Umriss – eine philosophische Erbsündenlehre, eine philosophische Christologie, eine philosophische Ekklesiologie und eine philosophische Sakramentenlehre ausmachen lassen. Außer Zweifel steht, dass Whitehead in den Schlusspassagen seines Hauptwerkes an ein äußerst prekäres Problem rührt, das die philosophische Theologie wie die theologische Gott-Rede gleichermaßen tangiert. Es ist ja kein Geheimnis, wie schwer sich etwa die christliche Dogmatik und die Fundamentaltheologie tun, den jüdisch-christlichen Theismus einschließlich des Trinitätsgedankens mit philosophischen Gottesbegriffen zu vermitteln. Das Problem bei Whitehead ist nur: Unbeschadet der religionsphilosophischen Relevanz seiner Abschlussgedanken bleibt sein philosophischer Gottesbegriff bis nahe an den Rand des Assoziativen unterbestimmt und beschränkt sich im Grunde auf die immer neu variierte Durchführung des Gedankens, dass Gott so gedacht werden müsse, wie er ihn denkt, weil nur auf diese Weise die Einheit alles Wirklichen in seiner Prozessualität gedacht und garantiert werden könne. Über das Sein dieses Gottes selbst ist aus Whiteheads Überlegungen nichts mehr zu erfahren, ebenso wenig über sein Wirken. Selbst das quälende Theodizee-Problem droht gleichsam in den alle Inkonsistenzen und Widersprüche aufhebenden Weltprozessen zu verschwinden, deren ontologische Substanz ja unverlierbar in Gott gesammelt bleibt: Gottes Rolle liegt nicht in der Bekämpfung produktiver Kraft mit produktiver Kraft, von destruktiver Kraft mit destruktiver Kraft; sie besteht in der geduldigen Ausübung der überwältigenden Rationalität seiner begrifflichen Harmonisierung. Er schafft die Welt nicht, er rettet sie; oder, genauer: Er ist

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der Poet der Welt, leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Einsicht in das Wahre, Schöne und Gute. 70

Was überhaupt in den Wirklichkeitsprozess einbezogen ist, gilt eo ipso als gerechtfertigt, gerettet, erlöst – oder wie immer man dafür sagen will. Dass unbeschadet der unabweislichen Stärke im Ansatz diese harmonistische Konsequenz der Whitehead’schen Metaphysik und speziell die Theodizee-Problematik in der weiteren Diskussion bis in die unmittelbare Gegenwart eine zentrale Rolle spielen, lässt sich unschwer nachvollziehen und gehört auch zu den Herausforderungen schlechthin der mittlerweile elaborierten Prozesstheologien. Der jüngste deutschsprachige Beitrag in dieser Frage stammt von Andreas Reitinger. In seiner Dissertation Theodizee prozesstheologisch gedacht. Gott, Welt und Leid im Paradigma eines panentheistischen Konzepts – angenommen im Dezember 2016 in Münster – vermag er zu zeigen, wie sich in Fortschreibung von Gedanken Marjorie Herwitt Suchockis ein bis in die Individualeschatologie reichendes Denken der letzten Dinge auch auf den Schultern Whiteheads entwickeln lässt. Dass diese Überlegungen dann in verblüffende Nähe zu Robert Spaemanns Letzten Gottesbeweis nach Nietzsche 71 aus den Ressourcen des grammatischen Tempus des Futurum exactum führen, mag als treffliches Indiz dafür fungieren, dass sich philosophisch relevante Gedanken jenseits der Kategorien von rechts und links, von progressiv und konservativ, von prä- oder postmodern selbst ihre Wege suchen.

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205 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozesstheologie und Panentheismus Godehard Brüntrup

1.

Renaissance des Panentheismus?

Whiteheads philosophische Theologie, die er am Ende von »Prozess und Realität« skizziert, wird oft als »panentheistisch« klassifiziert. Das war gelegentlich ein Grund dafür, die Orthodoxie der Prozesstheologie anzuzweifeln. Nun ist die Prozesstheologie zunächst eine philosophische Theologie, die keinem bestimmten religiösen Bekenntnis verpflichtet ist. In der Religionsphilosophie hat der Begriff »Panentheismus« in der Gegenwart an Bedeutung gewonnen. Obwohl seine modernen Wurzeln eigentlich im deutschen Idealismus liegen, gibt es in der angelsächsischen religionsphilosophischen Literatur geradezu eine Renaissance des Panentheismus. Natürlich gibt es hier Verbindungslinien. Der amerikanische Philosoph Philip Clayton, einer der herausragenden Vertreter des zeitgenössischen Panentheismus, ist vom Gedankengut des deutschen Idealismus, insbesondere der Philosophie Schellings, beeinflusst. Bei Schelling findet man in der Tat sehr einflussreiche Gedanken, die bis heute panentheistische Denker prägen. In folgendem Zitat entwickelt Schelling den Gedanken des Panentheismus vom Freiheitsbegriff her: »Sagen, Gott halte seine Allmacht zurück, damit der Mensch handeln könne, oder er lasse die Freiheit zu, erklärt nichts: zöge Gott seine Macht einen Augenblick zurück, so hörte der Mensch auf zu seyn. Gibt es gegen diese Argumentation einen andern Ausweg, als den Menschen mit seiner Freiheit, da sie im Gegensatz der Allmacht undenkbar ist, in das göttliche Wesen selbst zu retten, zu sagen, daß der Mensch nicht außer Gott, sondern in Gott sey, und daß seine Thätigkeit selbst mit zum Leben Gottes gehöre?« 1

Dass die menschliche Freiheit nicht im Gegensatz zur göttlichen Freiheit gedacht werden kann, berührt unmittelbar das moderne Freiheitsverständnis. Der alles wissende und alles bestimmende Gott des 1

Schelling 1856–1861, 339.

206 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozesstheologie und Panentheismus

klassischen Theismus wird als eine Bedrohung menschlicher Freiheit gesehen. Ein Gott, der nicht mehr »von außen« in die Welt eingreift, ist zudem mit der Autonomie des naturwissenschaftlichen Denkens besser vereinbar als ein in die Naturgesetze eingreifender Gott. Aus diesem Grunde vermag ein Gottesbegriff, der Gott nicht als eine in die Welt wirkursächlich eingreifende Instanz begreift, auch das Theodizee-Problem besser zu entschärfen. Ein Gott, der aus metaphysischen Gründen, aus seinem Wesen heraus, Raum gibt für kreatürliche Freiheit und damit eine grundsätzlich begrenzte eigene Freiheit hat, kann nicht mehr für alles, das sich im Kosmos ereignet, verantwortlich gemacht werden. Für die aktuelle Attraktivität des Panentheismus sind daher vor allem folgende drei Gründe auszumachen: •





Menschliche Freiheit im Sinne einer Wahlfreiheit aus einer Mehrzahl offener Alternativen ist mit dem klassischen Gottesbild nicht zu vereinbaren. Der klassische interventionistische Gott, der wirkursächlich in die Weltgeschichte direkt eingreift, ist schwer mit dem Stand des naturwissenschaftlichen Wissens in Einklang zu bringen. Der klassische Theismus spitzt das Theodizeeproblem derart zu, dass er angesichts der humanen Katastrophen des 20. Jahrhunderts entscheidend an Überzeugungskraft verlieren musste.

Der geistesgeschichtliche Ort des Panentheismus ist systematisch auch dort zu vermuten, wo man einerseits den theoretischen Anspruch und die Eleganz eines Monismus im Sinne von Spinoza gesichert wissen, andererseits aber nicht dem Pantheismus verfallen will. Die Beziehung zwischen Gott und Welt soll einerseits nicht dualistisch gedacht werden, aber andererseits auch nicht in Identität aufgelöst werden. Die Schwierigkeit dieses Unterfangens liegt unmittelbar auf der Hand. Die beiden Extrema von starkem Dualismus einerseits und Identitäts-Monismus andererseits sind vollkommen klar und vielleicht gerade deshalb auch suspekt, wenn es darum geht, eine Theorie des Absoluten zu entwickeln. Der Zwischenbereich zwischen diesen begrifflich klaren Positionen ist attraktiv, aber verleitet auch dazu, theoretische Schärfe zugunsten eingängiger Metaphern zu opfern. Die Vertreter der analytischen Religionsphilosophie tun sich mit diesem Zwischenbereich besonders schwer, da sie in ihren Ontologien meist nur über relativ arme Kategoriensysteme verfügen, zu denen beispielsweise »Element und Menge« sowie »Teil und Ganzes« 207 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Godehard Brüntrup

gehören. Wenn man zum Beispiel das Gott-Welt-Verhältnis nach dem Modell von Teil und Ganzem panentheistisch verstehen will, die Welt also als einen Teil Gottes betrachtet, dann gerät man schnell an die Grenzen einer verdinglichenden Gottesvorstellung, in der Gott als das größte Einzelding begriffen wird, das alle anderen Einzeldinge als Teile in sich einschließt. Das »en« in »Pan-en-theismus« darf auch nicht als ein räumliches Innen verstanden werden. Auch wenn man einen metaphysischen Raum und eine metaphysische Zeit innerhalb Gottes annimmt, sodass dann der physische Raum und die physische Zeit innerhalb dieser göttlichen Attribute existieren, verfällt man leicht einem simplifizierenden Denken im Schema der Lokalisierung eines räumlich Kleineren in einem Größeren. Die traditionelle philosophische Theologie hat solche verdinglichenden Konkretisierungen Gottes kritisch gesehen. Die klassische Sicht etwa, nach der Gott das Sein selbst, das »ipsum esse per se subsistens«, sei, unterliegt nicht derselben verdinglichenden Vorstellung, dass Gott ein Einzelding sei, an dem bestimmte Teile ausgemacht werden könnten. Die platonische Idee der Teilhabe ist da bereits vielversprechender, da sie mit der Logik von Teil und Ganzem nicht einzufangen ist, auch nicht mit der Vorstellung räumlichen Enthaltenseins. Aber damit sind wir bereits mitten in der Diskussion des Panentheismus. Philip Clayton hat – all diese Schwierigkeiten zunächst umgehend – alle Positionen, die zwischen den beschriebenen Extrema liegen, als panentheistisch klassifiziert. Das ist einerseits verlockend, macht die Bedeutung des Begriffs aber auch unscharf. Er legt folgende Klassifikation vor: 2 (1) Gott erschuf die Welt als eine eigene Substanz. Sie ist getrennt von Gott in Natur und Wesen. Gott aber ist in ihr gegenwärtig. (2) Gott ist auf eine ursprüngliche Weise der Welt immanent. (3) Gott bringt die Welt zu Gott selbst. (4) Die Welt ist in einem näher zu bestimmenden Sinne »in« Gott. (5) Die Gott-Welt-Beziehung ist analog zu der Beziehung zwischen Geist und Körper zu verstehen. (6) Gott und Welt sind bi-direktional korreliert. (7) Es gibt nur eine Gott-Welt-Substanz: Spinozas »deus sive natura«.

2

Vgl. Clayton 2004.

208 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozesstheologie und Panentheismus

Als im generellen Sinne panentheistisch fasst er die Positionen 2 bis 6 auf. Es ist aber auf den ersten Blick sichtbar, dass es sich bei diesen fünf Positionen um sehr verschiedene Grundideen handelt. Dass Gott und Welt bi-direktional korreliert sind (6), dass also Gott auf die Welt und die Welt auf Gott Einfluss nimmt, ist eine starke These, die jedenfalls nicht prima facie in der Grundidee des Panentheismus enthalten ist. Bi-direktionale Korrelation unterminiert die Zeitlosigkeit und Unveränderlichkeit Gottes. Manche Panentheisten werden sich nicht auf eine bi-direktionale Gott-Welt-Beziehung verpflichtet fühlen. Auf der anderen Seite ist die zweite These, also die der Immanenz Gottes in der Welt, so allgemein, dass man diese These auch im Rahmen eines klassischen Theismus normalerweise nicht bestreiten würde. Selbst Thomas von Aquin behauptet, dass Gott in allen Dingen sei. 3 Diese These allein reicht also nicht, um den Panentheismus vom klassischen Theismus abzusetzen. Die vierte These scheint hingegen geradezu die Definition des Panentheismus zu sein. Aber nicht einmal sie wird von großen Vertretern des klassischen Theismus völlig abgelehnt, wie man wiederum am Beispiel des Thomas von Aquin zeigen kann. Klassisch ist die bereits erwähnte Passage in der Summa Theologiae, in der er davon spricht, dass Gott als Handelnder in allen Dingen ist, um dann – unmittelbar danach – auch zu argumentieren, dass alle Dinge in Gott sind, in dem Maße wie sie in ihm enthalten sind. 4 Aber was meint er hier genau? Ist das wiederum nur metaphorisches Sprechen, das sich eine genauere systematische Darlegung gar nicht als Aufgabe übertragen lassen will? Die systematische Schwierigkeit ist, dass es zwischen den Extrema (1) und (7) eigentlich keinen logischen Raum zu geben scheint. Wenn Panentheismus einen »mittleren Weg« zwischen Theismus und Pantheismus finden will, dann kann das nicht gelingen, denn es gibt kein Mittleres zwischen den Propositionen »Gott ist nicht identisch mit der Welt« und »Gott ist identisch mit der Welt«. Wie kann man also eine Definition des Panentheismus gewinnen, die begrifflich

Thomas von Aquin. S. Theol. Iª q. 8 a. 1. »Respondeo dicendum quod Deus est in omnibus rebus, non quidem sicut pars essentiae, vel sicut accidens, sed sicut agens adest ei in quod agit. … Tamen, per quandam similitudinem corporalium, dicuntur omnia esse in Deo, inquantum continentur ab ipso.« (S. Theol. Iª q. 8 a. 1 co. / Iª q. 8 a. 1 ad 2).

3 4

209 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Godehard Brüntrup

schärfer ist als die anfangs erwähnte generische Auflistung von Clayton? Nils Gregersen hat mit seiner Systematik diese Frage wohl am überzeugendsten beantwortet. 5 Auf seinen Unterscheidungen aufbauend, sie aber in wichtigen Hinsichten verändernd, soll im Folgenden versucht werden, den Panentheismus Whiteheads und der Prozesstheologie am Ende durch Abgrenzung genauer zu bestimmen. Die primäre Unterscheidung ist, dass es vor allem zwei sehr unterschiedliche Thesen sind, die oft mit der Position des Panentheismus verbunden werden. Man kann auch von den zwei Kernintuitionen des Panentheismus sprechen, die allerdings keineswegs immer zusammen auftreten müssen, da sie begrifflich voneinander unabhängig sind: Kernintuition 1: Die Welt ist in Gott. Aber: Die Beziehung zwischen Gott und Welt ist weder mit verdinglichenden räumlichen Metaphern noch mit den abstrakten Mitteln der Standardlogik oder Mengentheorie adäquat zu beschreiben. Gott und Welt sind auf solche Weise zugleich getrennt und vereint, dass man von einer »Einheit in Differenz« sprechen muss, die eventuell nur dialektisch zu erläutern ist. Kernintuition 2: Die Beziehung zwischen Gott und Welt darf nicht als einseitige Relation gedacht werden, sondern als Wechselwirkung. Wenn Gott keine reale Beziehung zur Welt hat und die Welt nicht real auf Gott einwirkt, lässt die Beziehung sich nicht als gegenseitiges und wechselwirkendes Freiheitsgeschehen begreifen. Man sieht unmittelbar, dass diese beiden Thesen begrifflich voneinander unabhängig sind, obwohl sie nicht selten in panentheistischen Entwürfen beide zusammen vertreten werden. Die erste Intuition zieht sich durch die ganze Geschichte der westlichen Theologie, die sich vom aristotelischen Rationalismus absetzt und eine die reine Verstandeslogik überbietende Form des Denkens anstrebt. Ihr Hauptanliegen ist es, eine verdinglichende Gottesvorstellung zu vermeiden. Gott ist nicht eine Entität, die neben dem Kosmos als anderer Entität existiert, weil Gott dann nicht mehr das Absolute sein kann. Das »en« in »Pan-en-theismus« bezeichnet hier die Stellung des Einzeldings im Gesamt des Absoluten. Viele Denker des Neuplatonismus und auch 5

Vgl. Gregersen 2004.

210 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozesstheologie und Panentheismus

Theologen mit einer Affinität zur Mystik sind in diese Traditionslinie einzuordnen. Die zweite Kernintuition speist sich aus einer anderen Quelle. Hier geht es darum, das Verhältnis von Gott und Welt so zu charakterisieren, dass Gott nicht die allesbestimmende und damit alles determinierende Entität ist. Das »en« in »Pan-en-theismus« bezeichnet hier, dass Gott als Beziehungswesen gedacht werden soll. Gott geht reale und interne (ihn selbst betreffende) Beziehungen mit der Welt ein. In diesem Sinne ist die Welt »in« Gott. Die auf Whitehead zurückgehende Prozesstheologie ist ein klarer Vertreter dieser Konzeption. Dazu gehören aber – wie noch zu zeigen sein wird – auch andere Ansätze, die Gott nicht als unveränderliche und von der Welt nicht tangierte Substanz auffassen wollen. Für Gregersen scheint der zweite Kerngedanke eine notwendige Bedingung für das Vorliegen einer panentheistischen Position zu sein. Damit ist zwar begriffliche Schärfe gewonnen, aber die Engführung ist nicht überzeugend. Es ist kein überzeugender systematischer Grund dafür vorhanden, panentheistische Positionen auf eine bi-direktionale Gott-Welt-Relation festzulegen. Durch diese Eingrenzung wird die Bedeutung des »en« allein vom Begriff der internen Relation her verstanden. Es ist aber nicht klar, warum es nicht auch panentheistische Positionen geben soll, die das »en« ganz anders bestimmen, beispielsweise durch die bereits erwähnte platonische Idee der Teilhabe. Die Welt ist »in« Gott, weil Gott das »ipsum esse per se subsistens«, das Sein selbst ist, und alles, was nicht Gott ist, in dem Maße existiert, wie es am göttlichen Sein teilhat. Die Ausbuchstabierung dieser Teilhaberelation ist natürlich ein größeres metaphysisches Unterfangen, das keineswegs auf simple anschauliche Lösungen reduziert werden darf und das bekanntlich auch in Schwierigkeiten mit der Standardlogik und Mengentheorie gerät. Aber es handelt sich ohne Zweifel um einen panentheistischen Gedanken. Richtig hat Gregersen jedoch konstatiert, dass die folgenden beiden Thesen für die Bestimmung der verschiedenen Varianten des Panentheismus maßgeblich sind: (I)

Gott enthält die Welt. Die Welt ist in Gott. Aber die Welt ist nicht Gott. (II) Die Beziehung zwischen Gott und Welt ist wechselseitig.

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Godehard Brüntrup

Im Folgenden wird eine von Gregersen in relevanten Punkten abweichende Kombinatorik entwickelt, die grundsätzlich drei Theorietypen des Panentheismus unterscheidet. • • •

Panentheismus, der nur (I) behauptet. Panentheismus, der sowohl (I) als auch (II) sowie creatio ex nihilo behauptet. Panentheismus, der sowohl (I) als auch (II) sowie die Ablehnung der creatio ex nihilo behauptet.

Es lässt sich nicht vermeiden, an dieser Stelle eine eigene Terminologie einzuführen, um die drei Positionen präzise zu bezeichnen: • • •

Die erste Form, die nur (I) annimmt, soll als »Einheit-in-Differenz Panentheismus« klassifiziert werden. Die zweite Form (I + II mit creatio ex nihilo) wird »modal schwacher bi-direktionaler Panentheismus« genannt. Die dritte Form (I + II ohne creatio ex nihilo) wird als »modal starker bi-direktionaler Panentheismus« klassifiziert.

Alle drei sollen im Folgenden kurz beschrieben werden, um dann am Ende die Position Whiteheads klar identifizieren zu können.

2.

Einheit-in-Differenz-Panentheismus

Hier wird nur die erste Kernintuition verteidigt, also: (I)

Gott enthält die Welt. Die Welt ist in Gott. Aber die Welt ist nicht Gott.

Der Ausgangspunkt ist hier nicht selten die Idee der Unendlichkeit. Gott als Gegensatz des Endlichen wird als unendlich bestimmt. In den idealistischen Theorien des Absoluten wurde dies aber gerade nicht als dem Endlichen entgegengesetzte Unendlichkeit aufgefasst, sondern die Unendlichkeit nimmt das Endliche in (!) sich auf. Damit ist unmittelbar ein gedanklicher Weg zum Panentheismus aufgetan. Man kann es auch anders ausdrücken: Das Absolute ist ohne jede Begrenzung, es ist daher unendlich. Wenn Endlichkeit das Unendliche begrenzte, wäre es selbst endlich. Also muss das wahrhaft Un212 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozesstheologie und Panentheismus

endliche das Endliche umfassen und einschließen. Wenn aber Gott und Welt als verschieden gedacht werden sollen, so muss es in der Einheit Gottes eine Differenz geben. Das eine Absolute ist in sich so differenziert, dass die Schöpfung in ihm gedacht werden kann, ohne mit ihm identifiziert zu werden. Der Gedanke ist von provokanter Einfachheit. Wäre Gott wirklich völlig von der Welt verschieden, und wäre die Welt völlig außerhalb Gottes, dann wäre Gott plus die Welt mehr als nur Gott allein. Das Absolute wäre dann nicht Gott, sondern die höhere Einheit, das Umfassende von Gott und Welt. Gott als Absolutes gedacht kann nicht nur eine, wenn auch ausgezeichnete, Entität unter anderen sein. Wenn man in der Theorie des Absoluten eine Mereologie uneingeschränkter Zusammensetzung zulässt, dann hat man nun sofort ein höherstufiges Ganzes, das aus Gott und Welt zusammengesetzt ist. Wenn wir diese höhere Einheit »das Eine« nennen, so ergibt sich die den Gottesgedanken einschränkende Konsequenz, dass die Realität als Ganze, das Eine, mehr ist als nur Gott, so dass Gott also in diesem Sinne endlich oder begrenzt ist. Das Absolute ist ohne jede Begrenzung. Deshalb nimmt es das Endliche, das Begrenzte, in sich auf. Wenn wir dieses Absolute aber »Gott« nennen, so scheint uns der klare Gottesbegriff des klassischen Theismus abhanden zu kommen, da die scharfe Grenzziehung zur Welt aufgelöst ist. Muss man den Gottesbegriff also nicht doch in der traditionellen Weise als besonderes Seiendes entwickeln? Oder können beide Gottesbegriffe nebeneinander bestehen? Damit ist man nun bei dem für viele panentheistische Positionen typischen dialektischen Gedanken angelangt, gemäß dessen Gott alle begrifflichen Unterscheidungen und ontologischen Dualismen übersteigt. Nahezu alle Formen des Panentheismus nehmen diesen Gedanken des Übersteigens der Gegensätze, der »coincidentia oppositorum« in sich auf. Selbst in der später genauer zu bestimmenden, auf Whitehead aufbauenden Prozesstheologie spricht man oft von einer »dualen Transzendenz« Gottes. Damit ist gemeint, dass Gott in Gegensatzpaaren wie »unveränderlich – veränderlich«, »überzeitlich – zeitlich«, »unendlich – endlich« so zu denken ist, dass er den ganzen Kontrast in sich aufnimmt. Der klassische Theismus verortet Gott bei diesen Begriffskontrasten immer klar auf einer Seite. An dieser Stelle ist ein Unterschied zwischen klassischem Theismus und Panentheismus auszumachen, dessen Tragweite kaum zu überschätzen ist. Weil sich für diese Art des dialektischen Denkens bisher wenig geeignete 213 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Godehard Brüntrup

logische Werkzeuge in der analytischen Philosophie vorfinden, tut man sich hier besonders schwer, dieses Grundanliegen des Panentheismus zu begreifen. Es besteht allerdings andererseits die Gefahr, dass panentheistische Denker und Denkerinnen vorschnell zu dem Schluss gelangen, in der Gottesfrage die Logik hinter sich lassen zu müssen. Hier entstanden mystizistische Entwürfe, die Gott nicht nur jenseits aller begrifflichen Bestimmungen, sondern auch jenseits des Seins verorten wollen. Auch wenn in diesen Ansätzen ein wahrer Kern steckt (die Unerkennbarkeit des Wesens Gottes durch den Menschen), so tun sie der philosophischen Theologie jedoch keinen Gefallen, da diese ohne die Anstrengung des Begriffs in aller gebotenen Schärfe den Status der Wissenschaft verliert. Eine zentrale Aufgabe des Einheit-in-Differenz-Panentheismus besteht also darin, Gott auf solche Weise zu bestimmen, dass er einerseits eine Einheit hat, andererseits alle Differenzierungen in sich aufnimmt. Dazu wurde der bereits erwähnte Gedanke herangezogen, dass Gott das »Sein selbst« sei und damit alle konkreten Seienden an ihm Anteil hätten, in einem spezifischen Sinne sogar »in« ihm existierten. Dass alles Seiende am »Sein selbst« teilhat, bedeutet, dass alle Seienden in diesem Sinne in Gott sind. Gott selbst ist dann kein Seiendes. Manche Panentheisten teilen die Heidegger’sche Kritik an der Ontotheologie und lehnen damit jede verdinglichende Vorstellung von Gott ab. Die Ontologie als Lehre von den allgemeinsten Strukturen der Seienden betrachtet Gott als das höchste Seiende. Sie ist damit »seinsvergessen«, da sie das »Sein selbst« nicht thematisiert. Sich davon absetzend wollen diese Panentheisten Gott als das »Sein selbst« bestimmen, bzw. das Sein Gottes als das »Sein selbst« bestimmen. 6 Es steht jenseits von Endlichkeit und Unendlichkeit, nimmt diesen Kontrast in sich auf. Anstatt zu sagen, dass Gott das »Sein selbst« ist, kann man auch sagen, dass Gott die Seinsmächtigkeit in allem ist. Diese Denktradition muss sich jedoch nicht auf Heidegger berufen. Im Gegenteil: Bei Heidegger findet man den Gedanken, dass Gott das »Sein selbst« sei, nicht. Hingegen findet man den Gedanken, Diese Konzeption wird detailliert in der 2. Hälfte des 1. Bandes der »Systematic Theology« von Paul Tillich entwickelt, also in den Abschnitten »Being and the Question of God« und »The Reality of God« (Tillich 1951). Ein prominenter Vertreter einer derartigen Position in der Gegenwart ist Lorenz B. Puntel, etwa in seinem »Sein und Gott« (Puntel 2010), in dem Puntel die Heidegger’sche Kritik an Thomas von Aquin zurückweist (67–145).

6

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Prozesstheologie und Panentheismus

dass Gott das »ipsum esse per se subsistens« sei, aber schon bei Thomas von Aquin 7. In diesem Sinne war also auch der klassische Theismus nicht »seinsvergessen« und enthielt gewisse panentheistische Ideen. Thomas buchstabiert es allerdings nicht genau aus, in welchem Sinne genau die Welt »in« Gott ist. Aber man kann durchaus argumentieren, dass die Welt in dem Sinne »in« Gott ist wie ein einzelnes Seiendes am »Sein selbst« teilhat. Wir haben bereits gesehen, dass die Beziehung von Teil und Ganzem hier nicht geeignet ist, weil Gott nicht als ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes gedacht werden kann. Es gab andere Vorschläge, das »en« zu bestimmen. Man kann etwa auf die Idee eines metaphysischen Raumes und einer metaphysischen Zeit in Gott zurückgreifen. Die Nützlichkeit der Vorstellung, dass die physische Zeit und der physische Raum metaphysisch in der göttlichen Zeit und im göttlichen Raum verortet wären, hängt vollständig davon ab, ob man die Idee des »in« hier wirklich mit Inhalt füllen kann. 8 Bestimmen wir beispielsweise den Raum in Gott, also den metaphysischen Raum: Er ist die metaphysische Bedingung der Möglichkeit für jeden konkreten Raum. In diesem Sinne ist dann der physische Raum im metaphysischen Raum. Was soll aber heißen, dass etwas im metaphysischen Raum verortet ist? Ist dies im Sinne der Elementschaftsbeziehung der Mengentheorie zu denken? Oder kollabiert die Vorstellung eines metaphysischen »in« dann doch wieder in die platonische Idee der Teilhabe? Dies ist die zentrale theoretische Frage des Einheit-in-Differenz-Panentheismus. Man kann natürlich das »en« in »Panentheismus« auch auf ganz andere Weise inhaltlich bestimmen, wenn man eine bi-direktionale Wechselwirkung zwischen Gott und Welt annimmt. In der Prozesstheologie nimmt Gott jede raumzeitliche Entität durch Erfahrung in sich auf. In diesem Sinne ist alles »in« Gott. Diese Fragen sind aber erst weiter unten zu behandeln, wenn wir die beiden weiteren Begriffe des Panentheismus darlegen. An dieser Stelle haben wir aber nichts anderes als die Intuition, dass die Wirklichkeit Gottes das umgreifende unendliche Absolute ist. Die geschaffene Welt kann Gott also nicht gegenüberstehen, sondern muss irgendwie in Gott aufgehoben sein. Das ist die Kernintuition des Einheit-in-Differenz-Panentheismus. Ihre Klärung bleibt die vornehmliche Aufgabe, da die ganze Konzep»Deus sit ipsum esse subsistens.« (S. Theol. Iª q. 4 a. 2). Mullins greift in seinem Aufsatz »The Difficulty with Demarcating Panentheism« auf diese alte Idee Newtons zurück (Mullins 2016, 325–346).

7 8

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Godehard Brüntrup

tion in sich widersprüchlich zu sein scheint, weil Gott sowohl die Welt umgreift als auch ihr gegenübersteht.

3.

Doppelter Gott

Die Schwierigkeit liegt in einer Verdoppelung des Gottesbegriffes. Zum einen bezieht sich der Ausdruck »Gott« auf das, was der Schöpfung als Schöpfer gegenübersteht (Gott-1). Zum anderen ist mit Gott aber auch das umgreifende Ganze gemeint: das Absolute, das auch die Schöpfung in sich enthält (Gott-2). Man kann diesen Gedanken auch in modaler Begrifflichkeit ausdrücken: Gott ist einmal die notwendige Dimension des Seins, die von der kontingenten Dimension abgesetzt ist (Gott-1), zum anderen ist er das Sein im Ganzen, das die notwendige und die kontingente Seinsdimension umfasst (Gott-2). Einmal ist Gott das höchste, vollkommene und notwendige Seiende (Gott-1), zum anderen ist Gott kein Seiendes oder eine Seinsdimension, sondern das »Sein selbst« (Gott-2). Der Panentheismus könnte nun die Rede von Gott-1 einfach fallen lassen und sich nur auf Gott-2 konzentrieren. Aber das gelingt nicht überzeugend, denn der Gott-2 ist gerade bestimmt als der Gott-1, der die geschaffene Welt in sich aufgenommen hat oder ihr in sich Raum bietet. Man wird den Gott, der als Gegenüber der Welt gedacht ist, auch im Panentheismus nicht los, denn Gott und Welt sollen nicht unterschiedslos ineinander aufgehen. Der Lösungsvorschlag der panentheistischen Tradition ist hier der bereits angesprochene integrative Denkweg. Gott ist sowohl Gott-1 als auch Gott-2. Aber nicht in dem Sinne, dass nun ein Gott3 eingeführt werden soll, sondern in dem Sinne, dass die Spannung von Gott-1 und Gott-2 in einem dialektischen Sinne aufgehoben wird. Diese Vorstellung einer Gegensätze aufhebenden dialektischen Einheit durchzieht die ganze Geschichte von philosophischen Systemen, die heute oft dem Panentheismus zugerechnet werden. Es lässt sich eine Linie von Proklos über Pseudo-Dionysios, Meister Eckhart, Cusanus, Böhme, Schleiermacher bis zu Hegel und Schelling ziehen, sogar Whitehead formuliert die Gott-Welt-Beziehung am Ende von »Prozess und Realität« bekanntlich in kontrastierenden Antithesen. 9 Dieser geschichtlichen Entwicklung nachzugehen würde den Rahmen

9

PR, 348.

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Prozesstheologie und Panentheismus

dieses Textes bei weitem sprengen. John Cooper hat dies in seiner umfangreichen Geschichte des Panentheismus ausführlich getan. 10 In dieser Tradition wurde dann behauptet, dass Gott auf eine Weise, die ein gegenständliches Denken übersteigt, sowohl ein Seiendes (Gott-1) wie auch das »Sein selbst« ist (Gott-2). Es ist nun bemerkenswert, dass ein ähnlicher Gedanke sich bei Eleonore Stump findet, die man zu Recht als eine moderne Hauptvertreterin des klassischen thomistischen Theismus ansieht. Unter dem provokanten Titel »Quantenmetaphysik« entwickelt sie einen Gedanken, der so aufschlussreich ist, dass er hier ausführlich wiedergegeben werden soll: »What kind of thing is it which has to be understood both as a wave and as a particle? We do not know. That is, we do not know the quid est of light. At the ultimate foundation of all reality, things get weird, we might say. The ultimate foundation of physical reality includes light, and quantum physics, which is our best attempt at understanding the kind of thing light is, requires alternately attributing to light incompatible characteristics. Analogously, we can ask: What kind of thing is it which can be both esse and id quod est? We do not know. The idea of simplicity is that at the ultimate metaphysical foundation of reality is something that has to be understood as also as id quod est. We do not know what kind of thing this is either. And this conclusion is precisely what we should expect from Aquinas’s insistence that we do not know the quid est of God.« 11

So wie die moderne Physik untereinander unverträgliche Beschreibungen einer einzigen Realität macht, so sind auch die Beschreibungen Gottes nicht vollständig miteinander in Einklang zu bringen. Das ist aber dann kein Problem, wenn die wahre Natur Gottes dem menschlichen Verstand verborgen ist. Wir haben also die Beschreibung von Gott-1 (id quod est) und Gott-2 (esse), die in Gott selbst in einer höheren Einheit aufgehoben sind. Diese höhere Einheit können wir aber mit unserer Erkenntnisfähigkeit nicht erreichen. Damit befindet sich Stump sehr nahe an der Traditionslinie des Panentheismus, die dadurch motiviert war, Gott nicht auf ein bloßes Seiendes (id quod est) zu reduzieren. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Grenzlinie zwischen klassischem Theismus und Panentheismus nicht scharf zu ziehen ist, wenn man sich konkrete Positionen anschaut. Grundanliegen des 10 11

Vgl. Cooper 2006. Davies & Stump 2012, 140 f.

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Panentheismus wurden bereits in die hoch entwickelten Formen des klassischen Theismus aufgenommen. Auch die prozessphilosophische Variante des Panentheismus löst das Problem des doppelten Gottes offensiv, indem eine doppelte Natur Gottes angenommen wird: Gott ist einmal der unveränderliche, ewige Urgrund. Andererseits ist Gott auch derjenige, der die Ereignisse der Welt in sich aufnimmt und sich so verändert, weil er interne Relationen zur Welt eingeht, also Beziehungen, die ihn selbst verändern. Auch hier findet sich also der Gedanke, dass Gott alle Dualitäten transzendiert. Mit dem Gedanken der internen Relationen, in denen Gott steht, ist nun auch der Übergang zu denjenigen Positionen hergestellt, die auch (II) behaupten: Die Beziehung zwischen Gott und Welt ist wechselseitig. Die Welt steht in einer Wechselwirkung mit Gott. Das klassische thomistische Modell des Theismus geht davon aus, dass Gott sich in keiner realen Relation zur Welt befindet, nur die Welt ist auf Gott bezogen. 12 Wäre Gott real auf die Welt bezogen, so wäre er gleichsam in seiner Unveränderlichkeit kontaminiert durch die Bezogenheit auf Kontingentes, denn diese Beziehung änderte sich ja mit den Veränderungen der kontingenten Welt. Der Preis, Gott als eine in diesem Sinne radikal nur in sich stehende Substanz zu begreifen, ist hoch. Die Beziehungen zur Welt, insbesondere die liebende Zuwendung zur Welt bleiben ihm äußerlich. Zugespitzt in christlicher Theologie bedeutet dies, dass Christus in seiner göttlichen Natur keine reale Beziehung zu seiner irdischen Mutter oder sonst irgendeinem Menschen hatte. Bi-direktionale Panentheisten glauben, dass eine solche Trennung von Gott und Welt mittels des Gedankens einer innigen Beziehung von Gott und Welt (die Welt ist in Gott) überwunden werden muss. Obwohl also der Gedanke der Bidirektionalität in der Gott-Welt Beziehung nicht notwendig ist für jede Art des Panentheismus, so liegt er doch gleichsam im Fluchtpunkt der panentheistischen Denkbewegung. Wie oben dargelegt unterscheiden wir zwei Formen des bi-direktionalen Panentheismus, die im Folgenden separat dargestellt werden.

12

S. Theol. Iª q. 28 a. 1 ad 3.

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Prozesstheologie und Panentheismus

4.

Bi-direktionaler Panentheismus

4.1 Modal schwacher bi-direktionaler Panentheismus Es werden folgende drei Thesen verteidigt: (1) Gott enthält die Welt. Die Welt ist in Gott. Aber die Welt ist nicht Gott. (2) Die Beziehung zwischen Gott und Welt ist wechselseitig. (3) Die Welt wurde ex nihilo erschaffen. Gegenüber der bisher dargestellten Position kommt also die Idee einer nicht-notwendigen, aber realen gegenseitigen Einflussnahme von Gott und Welt hinzu. Die mangelnde Notwendigkeit dieser gegenseitigen Beziehung wird dadurch ausgedrückt, dass Gott die Welt frei aus dem Nichts erschaffen hat. Gott hat also kein notwendig existierendes Gegenüber, er ist nicht notwendig auf die Welt bezogen und wird daher auch nicht notwendig von ihr beeinflusst. Die philosophische Grundintuition der bi-direktionalen Panentheismen ist die Ablehnung der Vorstellung Gottes als der in sich ruhenden und von allem anderen völlig unberührten Substanz. Gott ist nicht der unbewegte Beweger, sondern wird von der Schöpfung affiziert und bewegt. Solche Gedankengänge sind in der zeitgenössischen Theologie verbreitet. Ein besonders eindrücklicher Vertreter dieser Strömung ist Jürgen Moltmann. In seiner Gotteslehre »Trinität und Reich Gottes« spricht er davon, dass durch den Bezug auf panentheistische Gedanken die Beziehung der Welt zu Gott als »Einwohnung« begriffen werden soll. 13 Gott schafft in sich einen »Raum« für die Schöpfung, indem er sich und seinen Einflussbereich zurückzieht. Durch die Schöpfung macht sich Gott zeitlich und involviert sich in Zeitlichkeit. Er zieht seine Ewigkeit zurück, um der Zeitlichkeit einen Ort zu geben. Der Akt der Schöpfung setzt eine freiwillige Selbstbegrenzung Gottes voraus. Es ist also nicht so, dass Gott beispielsweise von Ewigkeit her einen metaphysischen Raum in sich trüge, in dem nun der physische Raum realisiert würde als eine Realisation von vielen möglichen konkreten Räumen, ohne dass Gott sich in irgendeiner Weise einschränken müsste. Vielmehr muss Gott sich als alles bestimmende Wirklichkeit so kontrahieren und zurücknehmen, dass ein Freiheitsraum entsteht, den er nicht mehr kontrolliert. Was 13

Moltmann 1980, 35.

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in diesem Freiheitsraum geschieht, kann Gott auch nicht aus einer zeitlosen Perspektive anschauen. Gott holt mit dem Eröffnen dieses Freiheitsraumes die Zeitlichkeit und Kontingenz in sich selbst hinein, er lässt sich damit von den Entscheidungen der endlichen Kreaturen in einem – wenn auch sehr beschränktem – Maße verändern. Er lässt die Zeitlichkeit in seiner Ewigkeit existieren. Theologisch spricht man hier von »Kenosis«: Selbstentleerung oder Selbsterniedrigung Gottes. Dass dies ein durch und durch panentheistischer Gedanke ist, ist unmittelbar einsichtig. Im Sinne von Schelling wird die Freiheit des Menschen in Gott hineingerettet, weil außerhalb des unendlichen Gottes gar nichts existieren kann. Es gibt keine Seinsdimension, die außerhalb des Absoluten existiert. Nur indem das Absolute in sich eine Dimension des Endlichen zulässt, kann das Endliche überhaupt existieren. Aber damit ist das Endliche in Gott angekommen. Gott ist nicht mehr die unveränderliche aristotelische Substanz. Die Schöpfung ist nicht eine Wendung Gottes nach außen, sondern eine innere Selbsterniedrigung. Dass Gott überhaupt eine solche endliche Freiheitsdimension in sich ermöglicht, liegt in der Metaphysik oder Natur der Liebe begründet. Liebe will sich mitteilen und Erwiderung erfahren. Wenn die Antwort des Geschöpfes auf den Schöpfergott aber wirklich Liebe sein soll, dann kann sie nur aus radikaler Freiheit heraus erfolgen. Wenn Gott die alles bestimmende Wirklichkeit wäre, dann würde er auch bestimmen, wer ihn »liebt« und wer ihn nicht »liebt«. Aber eine derart fremdbestimmte Beziehung kann niemals Liebe sein. Dass die Reziprozität der Liebe in Freiheit wurzeln muss, ist der systematische Hauptgrund für die Einführung einer bi-direktionalen Beziehung zwischen Gott und Kreatur. Es wird hier aber sogleich ein Problem sichtbar. Wenn die Schöpfung in einem einzigen zeitlosen Akt aus dem Nichts geschaffen wurde, wie ist dann noch eine ontologische Eigenständigkeit der Schöpfung möglich? Die totale Hervorbringung der Schöpfung über ihre gesamte zeitliche Ausdehnung aus einem einzigen zeitlosen schöpferischen Akt determiniert alle Ereignisse, die sich innerhalb dieser zeitlichen Erstreckung ereignen. Eine wirklich eigenständige Tätigkeit der Schöpfung ist nicht möglich. Aber ein solcher Eigenstand ist eine Bedingung von Freiheit und damit eine Bedingung von Liebe. Die einfachste Lösung dieses Problems bestünde darin, den Gedanken der creatio ex nihilo einfach aufzugeben. Diese radikalere Version des bi-direktionalen Panentheismus ist die Position der Prozesstheologie, 220 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozesstheologie und Panentheismus

die weiter unten dargestellt werden soll. Die Position des modal schwachen bi-direktionalen Panentheismus will daran festhalten, dass Gott die Welt frei aus dem Nichts geschaffen hat. So schreibt Moltmann: »Die innertrinitarische Liebe ist also Liebe zum Gleichen, nicht zum Wesens-anderen. Sie ist notwendige, nicht freie Liebe. Geht diese Liebe aus sich heraus, dann ist sie nicht mehr nur zeugende und gebärende, sondern auch schöpferische, nicht mehr nur wesensnotwendige, sondern auch freie Liebe.« 14

Gott hat nach Moltmann seine eigene trinitarische Natur nicht frei gewählt, sondern sie folgt notwendig aus seinem Wesen. Die Schöpfung aber ist frei gewählt, sie folgt nicht notwendig aus Gottes Wesen. Ob sich dieser Gedanke ganz konsequent durchhalten lässt, ist fraglich. Wenn wirklich die Liebe zu Gottes Wesen gehört und die Liebe wesentlich auf ein Gegenüber bezogen ist, dann folgt die Schöpfung in diesem Sinne aus dem Wesen Gottes. Moltmann ist sich dieser Problematik durchaus bewusst. Er will aber an der traditionellen Vorstellung einer Erschaffung aus dem Nichts festhalten und die Konsequenz vermeiden, dass Gott nur ein vorgegebenes chaotisches Material formt. Auch Clayton vertritt eine Form des Panentheismus, die eine creatio ex nihilo explizit behauptet. Clayton begründet dies ebenfalls trinitätstheologisch. Die göttliche Essenz kann auch vor der Schöpfung und unabhängig von ihr Liebe sein, weil es im trinitarisch gedachten Gott vorgängig zur Schöpfung bereits interpersonale Beziehungen gibt. 15 Die Existenz der Schöpfung verdankt sich allein der freien Selbstbegrenzung Gottes. Ist diese jedoch einmal erfolgt, dann hat Gott einen Teil der Kontrolle aus der Hand gegeben, er hat einen echten Raum kreatürlicher Freiheit eröffnet. Dieser Freiraum verdankt seine Existenz Gott, weil er nur in Gott existieren kann, aber er wird nicht vollkommen von Gott bestimmt, sondern kann umgekehrt sogar Einfluss auf Gott nehmen. Hier knüpft Moltmann an Whiteheads Idee an, dass Gott in die Welt nicht wirkursächlich eingreift, sondern nur im Modus der Liebe die Welt zu beeinflussen sucht. 16 Das ganze kenotische Konzept der Erschaffung durch Selbstbegrenzung kann vielleicht sogar als creatio ex Deo oder sogar als Ebd. 74. Clayton 2018, 174. 16 Ebd. S. 214, Fussnote 19. Moltmann zitiert die Passage in PR 343: »loves neither rules, nor is it unmoved«. 14 15

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creatio ex negatione Dei bezeichnet werden. Das »Nichts« ist die frei gewählte Abwesenheit Gottes. Wobei die problematische Substantivierung »das Nichts« nicht besagen soll, dass es sich dabei um einen Gegenstand, einen leeren Behälter, handele. Es handelt sich rein negativ um den Rückzug der allesbestimmenden Wirklichkeit Gottes. Die kreatürliche Freiheit, die sich in diesem von Gott ermöglichten Bereich entfaltet, wirkt dann auf Gott zurück. Es handelt sich aus genau diesem Grund um einen bi-direktionalen Panentheismus. Es ist ein modal schwacher bi-direktionaler Panentheismus, weil Gott nicht notwendigerweise in einer solchen Beziehung steht. Dass Gott in einer solchen Beziehung steht ist das Resultat seiner freien Selbstbegrenzung.

4.2 Modal starker bi-direktionaler Panentheismus Es werden folgende drei Thesen verteidigt: (1) Gott enthält die Welt. Die Welt ist in Gott. Aber die Welt ist nicht Gott. (2) Die Beziehung zwischen Gott und Welt ist wechselseitig. (3) Die Welt wurde nicht ex nihilo erschaffen. Der modal starke bi-direktionale Panentheismus wurde am deutlichsten in der Prozesstheologie vertreten. Die meisten Prozesstheologen bezeichnen sich als Panentheisten. Charles Hartshorne definiert Panentheismus folgendermaßen: »Panentheism is an appropriate term for the view that deity is in some real aspect distinguishable from and independent of any and all relative items, and yet, taken as an actual whole, includes all relative items.« 17

Dafür lässt sich in direktem Bezug auf die Metaphysik Whiteheads argumentieren: Gott muss alles einschließen, das wertvoll ist (value achievement). Die Welt ist wertvoll, enthält Wertvolles. Also wäre die Welt plus Gott wertvoller als Gott allein. Also muss Gott alles Wertvolle der Welt in sich einschließen. Ähnlich wie schon bei der schwachen Variante des bi-direktionalen Panentheismus wird auch in der Prozesstheologie argumentiert, 17

Hartshorne 1948, 89.

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Prozesstheologie und Panentheismus

dass in der Gott-Welt-Beziehung niemals alle bestimmende Kraft auf nur einer Seite, der Seite Gottes, verortet werden kann. Denn dann wäre keine Freiheit und damit auch keine Liebe mehr möglich. Man kann daher die prozesstheologische Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Welt gut durch das Beispiel zwischenmenschlicher Beziehungen, vor allem der Liebe, verdeutlichen. Liebe ist eine gegenseitige Aktivität von zwei menschlichen Personen. Würde nur einer der beiden im letzten die ganze Liebesbeziehung komplett bestimmen, dann wäre eine freiheitlich-personale Beziehung nicht mehr möglich. Liebe setzt ein gewisses Maß an von außen unkontrollierter Freiheit und an Selbststand auf beiden Seiten voraus. Wenn ein Mensch nun Gott liebt, so gilt mutatis mutandis dieselbe Grundeinsicht. Die Liebe zwischen diesem Menschen und Gott kann nicht allein durch Gott bestimmt und in Gott begründet sein. Die Antwort des klassischen Theismus auf dieses Problem war die These, dass die Gottesliebe dieses Menschen sowohl in ihm als auch in Gott begründet sei. Thomas von Aquin argumentiert, dass ein und derselbe Effekt gleichzeitig sowohl von Gott als auch von einem endlichen Akteur hervorgebracht werden kann. 18 Aber was soll das bedeuten? Es kann im klassischen Konzept nicht bedeuten, dass Gott nur teilweise der bestimmende Grund für die menschliche Gottesliebe ist. Dann wäre Gott nicht mehr die allesbestimmende Wirklichkeit. Der Effekt muss von Gott vollständig hervorgebracht werden, es muss also eine echte kausale Überdetermination vorliegen. Manchmal hört man in diesem Zusammenhang Metaphern wie: Der Klang der Flöte kann sowohl der Flötenspielerin wie auch der Flöte zugesprochen werden. So kann auch menschliche Gottesliebe zugleich der menschlichen Person und Gott zugeschrieben werden. Aber diese Metapher unterstützt eher die prozesstheologische These, nicht die klassische Sicht, die sie verteidigen sollte. Denn beide, Flötenspielerin und Flöte sind notwendig, um den Klang hervorzubringen. So sind aus der Sicht der Prozesstheologie auch beide, Gott und Welt, verantwortlich für die kreativen Akte in der Welt. Sind damit Gott und Geschöpf ebenbürtig? Wird durch diese Gedanken nicht die Priorität Gottes unterminiert? Auch in der Prozesstheologie existiert nur Gott notwendig, jede andere Entität ist hingegen kontingent, sie könnte auch nicht existieren. Allerdings 18

Thomas von Aquin. ScG, III, q. 70.

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existiert notwendig irgendetwas, auf das sich Gott bezieht. Für den klassischen Theismus existiert nur Gott notwendig, während alles andere aus der Existenz Gottes heraus begründet wird. Das »Eine« hat einen metaphysisch grundlegenderen Status als »die Vielen«. Whitehead hatte jedoch argumentiert, dass Einheit und Vielheit interdependent definiert seien: Jeder Term setzt den anderen voraus, keiner ist ursprünglicher als der andere 19. Hier liegt eine der tiefsten Wurzeln der Differenz zwischen Prozesstheismus und klassischem Theismus. Die prozessphilosophische Realität ist fundamental und unhintergehbar »sozial«. Auch Gott existiert daher nur in einer »sozialen« Bezogenheit auf anderes. Gott steht daher wesenhaft in einer realen Beziehung zu einer Welt. Während der Gott des klassischen Theismus absolut ist, ist der Gott der bi-direktional panentheistischen Prozessphilosophie relativ, weil er durch die freien Handlungen der Geschöpfe in seinem Wissen beeinflusst wird. Daraus folgt, dass nicht jede Wahrheit über Gott mit Notwendigkeit gilt, wie das der klassische Theismus behauptet. Gott existiert zwar notwendig und viele Aussagen über ihn sind notwendig wahr (zum Beispiel, dass er moralisch gut ist), aber Gottes Wissen um die kontingenten freien Handlungen der Geschöpfe ist selbst kontingent. In Gottes Natur müssen daher zwei Aspekte unterschieden werden: In seiner Urnatur (primordial nature) ist Gott unveränderlich und notwendig, in seiner Folgenatur (consequent nature) verändert sich Gott durch seine reale Bezogenheit auf die Welt. Von hierher ist nun der prozesstheologische Panentheismus verständlich zu machen. Die Art dieser Beziehung ist der Grund, warum man von einem Panentheismus sprechen kann. Im Rahmen der Konzeption Whiteheads folgt nämlich, dass Gott in seiner »consequent nature« jedes andere Ereignis wahrnimmt und damit in sich aufnimmt. Da jede solche Erfahrung aber eine interne Relation darstellt, geht alles, was »außerhalb« von Gott existiert wesentlich in ihn ein. Die Welt ist in diesem Sinne in Gott. Interne Relationen garantieren, dass die Schöpfung Gott nicht äußerlich bleibt, sondern sie ihn in seiner Folgenatur bestimmt. Das »en« im Panentheismus der Prozesstheologie ist also ganz unabhängig von allen räumlichen Metaphern zu bestimmen, die man bei Moltmann noch vorfand. Das »in« ist ein Bestimmen der Folgenatur Gottes. Während der Gott der klassischen Substanzmetaphysik in keiner realen Beziehung zur Welt stand, ist der Gott der Prozesstheologie die19

PR, 21.

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Prozesstheologie und Panentheismus

jenige Entität, die mit allen anderen Entitäten in einer internen Relation steht. Gott ist die maximal in Beziehung stehende Entität. Es liegt also ein bi-direktionaler Panentheismus vor, der diese Beziehung mit metaphysischer Notwendigkeit ausstattet. Obwohl also die Beziehungen, in denen eine Entität steht, wesentlich in sie eingehen, ist aber dennoch kein Ereignis vollständig von außen determiniert. Die Beziehungen zu anderen Entitäten zerstören nicht die schöpferische Eigenständigkeit, die Kreativität. Dieses wechselseitige Geben und Nehmen ist ein Grundzug der relationalen Prozessontologie. Gott ist keine Ausnahme von diesem metaphysischen Prinzip. Der Gott der klassischen Metaphysik gibt alles, empfängt aber nichts. Ein Gott, der als aristotelische Substanz gedacht wird, ist vollkommen in sich ruhend und selbstständig. Der Gott des klassischen westlichen Theismus ist nicht wesentlich auf die Welt bezogen. Der Gott der Prozesstheologie ist hingegen, zumindest in ihrer modal starken Form, wesentlich auf ein Gegenüber bezogen, das er schöpferisch gestaltet. Damit ist nicht gemeint, dass die Existenz Gottes in irgendeiner Weise von der Welt abhinge. Alle Individuen außerhalb Gottes sind ja kontingent, Gott allein existiert notwendig. Vielmehr ist damit gemeint, dass Gott seinem Wesen nach schöpferisch ist. Die Idee eines Gottes, der nicht schöpferisch aktiv ist, widerspricht den metaphysischen Grundsätzen der Prozesstheologie. Gott steht wie jede Entität in internen Beziehungen zu anderen Entitäten. Es folgt aus den metaphysischen Prinzipien, dass Gott ein Gegenüber hat. Gott ist die höchste Exemplifikation der metaphysischen Prinzipien. Der Gedanke einer creatio ex nihilo wird daher in dieser reinen und modal starken Form der Prozesstheologie abgelehnt. Diese Ablehnung der Erschaffung aus dem reinen Nichts kann auch noch auf andere Weise begründet werden: Wenn Gottes Wirkungsweise die »Lockung« anderer Freiheit ist, dann kann er nur wirken, wenn da irgendetwas ist, das auf seinen Ruf hören kann. Brächte er etwas aus dem Nichts hervor, so wäre die göttliche Macht in diesem Moment überwältigend und alles bestimmend. Der Gott der Liebe, der nie zwingt, braucht daher irgendeine Form des Gegenübers, das er einladen, locken kann. Dieses Gegenüber mag das völlig unbestimmte Chaos im Sinne von Genesis oder reine Potentialität sein, so dass jegliche konkrete Bestimmung eines Seienden erst im Zusammenspiel mit Gott entsteht. Man könnte dann sagen, dass alle Entitäten eine konkrete Bestimmtheit oder Form nur annehmen können durch 225 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

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eine Einwirkung Gottes auf dieses vorgegebene Gegenüber. Das Gegenüber ist dann nichts konkret Geformtes. Aber dieses Gegenüber ist eben nicht nichts. Ist ein derart bezogener Gott noch perfekt im Sinne des traditionellen Theismus? Aus der Sicht klassischer Theisten verliert der Gott der Prozesstheologie anscheinend seine Vollkommenheit. Diese Analyse bestreiten Prozesstheologen. In der traditionellen Logik der Perfektion wird Gott also monopolar beschrieben. Es werden duale Kontrastierungen wie »Eines – Viele«, »Dauer – Veränderung«, »Aktivität – Passivität« eingeführt, wobei Gott immer genau ein Element dieser Begriffspaare zugeschrieben wird. Nach Auffassung der reinen Prozesstheologie soll Gott aber Exzellenz auf beiden Seiten dieser Kontraste zugesprochen werden. Zum Beispiel ist Gott nicht nur überzeitlich, sondern das zeitlichste Wesen, weil er absolut alle kontingenten zeitlichen Veränderungen in sich aufnimmt. Ein Gott, der nicht mitfühlen kann, weil er sich von der Welt nicht affizieren lässt, ist aus der Sicht der Prozesstheologie weniger perfekt als einer, der sich von der Welt betreffen lässt. Seine diesbezügliche Perfektion besteht dann darin, das am meisten mitfühlende Wesen zu sein. Gott ist also in seiner Urnatur einerseits der »unbewegte Beweger«, in seiner Folgenatur aber der »am meisten bewegte (mitfühlende) Beweger«. Beides macht seine Vollkommenheit aus. Prozessphilosophisch gesehen ist also auch die Struktur der Perfektion bipolar. Hier knüpften Whitehead und Hartshorne an die lange Tradition des Panentheismus an, Gegensatzpaare zu übersteigen und sie nicht nach einer Seite hin aufzulösen. Dieses »dialektische« Beschreiben des Absoluten hatten wir weiter oben schon bei der Darstellung des Einheitin-Differenz Panentheismus beschrieben.

5.

Zusammenfassung

Insgesamt müssen also drei Hauptformen des Panentheismus unterschieden werden. Ihr innerer systematischer Zusammenhang ist vor allem durch die Akzeptanz der Intuition (I) gegeben. Sie lautete: »Gott enthält die Welt. Die Welt ist in Gott. Aber die Welt ist nicht Gott.« Wir hatten aber gesehen, dass diese Intuition zu vage ist, um die panentheistische Position von einigen Formen des klassischen Theismus abzugrenzen. Zumindest in metaphorischer Sprechweise erlauben auch klassische Theisten die Behauptung, dass die Welt in 226 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Prozesstheologie und Panentheismus

Gott sei. Klarer abzugrenzen ist der Panentheismus, wenn man nur die Positionen betrachtet, die eine bi-direktionale Wechselwirkung zwischen Gott und Welt annehmen. Diese Positionen haben eine schärfere definitorische Grenze, weil sie einen panentheistisch verstandenen Einfluss der Schöpfung auf einen veränderlichen Gott annehmen: Gott ist intern auf die Welt bezogen. Die Welt geht daher in Gott ein. Die Weise, wie diese Beziehung gedacht wird, unterscheidet sich allerdings erheblich bei den schwachen und starken bi-direktionalen Varianten des Panentheismus. Insgesamt ist daher der allgemeine und nicht genauer spezifizierte Begriff des Panentheismus wohl zu ungenau, um von großem theoretischem Nutzen zu sein. Er deckt einfach eine zu große Bandbreite sehr verschiedener Positionen ab. Würde man beispielsweise die Position der Prozesstheologie nach Whitehead einfach nur als eine panentheistische Theologie beschreiben, so wäre damit nur wenig gesagt. Gerade weil die prozesstheologische Position innerlich stimmig und folgerichtig ein System zu Ende denkt, täte man ihr Unrecht, ordnete man sie nur einem derart vagen Begriff unter. Es wäre daher anzustreben, Positionen in der philosophischen Gotteslehre nicht einfach nur plakativ als panentheistisch zu qualifizieren, sondern besser eine feingliedrigere Taxonomie zu verwenden. Ansonsten sind Missverständnisse vorprogrammiert. Die hier angestellten Analysen verstehen sich als einen Beitrag zu einem solchen präzisieren Sprachgebrauch. Die klassische Prozesstheologie sollte als ein modal starker bi-direktionaler Panentheismus begriffen werden.

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Gibt es empirische Evidenz für »Gott«? Eine Spurensuche in der Tradition Alfred North Whiteheads Michael Schramm

Niemand von uns hat die Wahrheit in der Tasche. Vielmehr müssen wir sie mühsam suchen. Und in dieser Suche nach der Wahrheit bleiben all unsere Bemühungen hypothetische Vermutungen. Der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper hat die Situation bekanntlich in die Formel gebracht: »Wir wissen nicht, sondern wir raten.« 1 Der Prozess der Wahrheitssuche ist polydimensionaler Natur. Er weist empirische und spekulative Aspekte auf. Die beiden Dimensionen kann man nicht trennen (jedenfalls nicht, wenn man vernünftig bleiben will). So ist es auf der einen Seite nicht möglich, nur empirisch vorgehen zu wollen, da mit einem bloßen Protokoll empirischer Tatsachen noch nichts erklärt ist; vielmehr bedarf es spekulativer Hypothesen (kühner Vermutungen) zur Frage, wie die Wirklichkeit funktioniert. Es hat aber auf der anderen Seite auch keinen Sinn, in einem »luftleeren Raum« oder »über allen Wassern schwebend« nur zu spekulieren, weil man sonst den Bezug zur Wirklichkeit verliert und lediglich haltlose Luftschlösser fabriziert. Diesen Zusammenhang zwischen Empirie und Spekulation hat Alfred North Whitehead in seinem Bild vom »Flug« der Erkenntnisgewinnung formuliert: »Our datum is the actual world, including ourselves […]. The true method of discovery is like the flight of an aeroplane. It starts from the ground of particular observation; it makes a flight in the thin air of imaginative generalization; and it again lands for renewed observation rendered acute by rational interpretation.« 2 Ausgangspunkt sind empirische Erfahrungen. Sie bilden den konkreten Boden (»the ground of particular observation«), von dem der »Flug« auszugehen hat. Der »Flug« selbst Popper 2005, 266*. [Ein Asteriskus * zeigt an, dass ich eine Hervorhebung vorgenommen habe.] Und Popper fährt fort: »Und unser Raten ist geleitet von dem unwissenschaftlichen [nicht naturwissenschaftlichen; Anm. M. S.], metaphysischen […] Glauben, daß es Gesetzmäßigkeiten gibt, die wir entschleiern, entdecken können.« (Popper 2005, 266) 2 PR, 4 f. 1

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Michael Schramm

besteht dann in der Entwicklung einer spekulativen Vermutung (»imaginative generalization«; »rational interpretation«), die rational zu erklären sucht, wie die empirisch erfahrenen Dinge funktionieren könnten. Dabei darf man es aber nicht bewenden lassen; vielmehr muss man dann überprüfen, ob die spekulative Hypothese der empirischen Basis adäquat ist und als Ausgangspunkt für den weiteren Weg der Entdeckung (»discovery«) der Wahrheit mittels geschärfter Beobachtungen oder Erfahrungen (»renewed observation«) dienen kann. Der Anfang und das (natürlich nur zwischenzeitliche) »Ende« der »spekulativen Philosophie« ist also die Empirie.

1.

Intro: Das Problem der empirischen Evidenz für »Gott«

Die Verwiesenheit der spekulativen Philosophie auf den Ausgangspunkt der empirischen Evidenz betrifft nun auch die Frage nach Gott. Die Gottesfrage schwebt keineswegs in einem von der Empirie entlasteten Raum, der der mühsamen Wahrheitssuche enthoben und gegen kritische Rückfragen immunisierbar wäre. 3 Es ist daher nicht erstaunlich, dass genau diese Frage nach der empirischen Evidenz für die (oder überhaupt eine) Gotteshypothese von Kritikern des Theismus in den Mittelpunkt gerückt wird. So erklärt etwa der Projektleiter des »neuen Atheismus«, Richard Dawkins, kurz und bündig: »In the case of God, there is not a tiny shred of evidence for the existence of any kind of God.« 4 Dieselbe Einschätzung drückt der Biologe Stephen Jay Gould in scherzhafter Form aus, Genau eine solche Vorstellung aber hat die supranaturalistisch orientierte Theologie der Tradition gehegt und gepflegt. Diese Prämisse der traditionellen Theologie, wir hätten über eine »übernatürliche Offenbarung« wenigstens bei diesen Fragen doch festen Gewissheitsboden unter den Füßen, wird hier nicht geteilt. Aus dem Raum der Prozesstheologie hat David R. Griffin (Griffin 1991, 7) hierzu treffend erklärt: »[T]he method of theology is not formally different from that of constructive philosophical and scientific thinking. Biblically based ideas are not assumed to be products of infallible revelation, but are treated as hypotheses to be tested.« Näher zu diesem Punkt: Schramm 2012; Schramm 2016. 4 Richard Dawkins (April 7th, 2008). Abgerufen von: http://www.youtube.com/ watch?v=of-8Q3HySjE, ab Minute 44:39. Von daher bezweifelt er, »that religion is a proper field, in which one might claim expertise« (Dawkins 2007, 37). Die (systematische) Theologie sei überhaupt kein Wissensgebiet: »I have yet to see any good reason to suppose that theology (as opposed to biblical history, literature, etc.) is a subject at all.« (Dawkins 2007, 80) 3

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wenn er angemerkt, dass es nur die Theologie fertig bringe, selbst die »Exobiologie« (die Erforschung außerirdischen Lebens) darin zu übertreffen, sich mit einem »großen Thema ohne (realen) Gegenstand« zu beschäftigen. 5 Aber auch bedeutende Philosophen wie etwa John R. Searle markieren genau diesen Punkt: »The point, however, is that it is a very ambitious hypothesis that God exists. And there is very little reason to suppose that it’s true. What a rational person, I think, has to do is to say: Well, there isn’t enough evidence to support such an adventurous hypothesis. So, we have very serious doubts about it.« 6 Es reicht argumentativ nicht aus, diesbezüglich darauf zu verweisen, dass ein Skeptiker ja auch nicht beweisen könne, dass Gott nicht existiere. Denn ohne irgendeine Art von empirischer Evidenz ginge die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines Gottes gegen Null. 7 In diesem Sinn handelt es sich in der Tat um eine Existenzfrage des Theismus, sich dem Problem der empirischen Evidenz für »Gott« offen zu stellen. Mein Paper ist ein Beitrag zu dieser Herausforderung.

2.

Kosmologische Hintergründe

Wenn man das zitierte Bild Whiteheads vom »Flug« der Metaphysik heranzieht, kann man sagen, dass auch sein denkerischer Lebensweg der Entwicklung einer ausgearbeiteten Kosmologie diese Metapher abbildet. So wie der Flug zunächst vom (halbwegs) festen Boden empirischer Beobachtungen oder Erfahrungen auszugehen hat, so hatte auch Whiteheads Forschungsarbeit von Anfang an einen stark empirischen Haftpunkt. Denn obwohl er Mathematik studiert hatte und später dann auch (im engeren Sinn) mathematische Werke verfasst hat, stand die Physik – damals gehörte die Physik noch zur Mathematik und wurde »angewandte Mathematik« genannt – doch von AnGould 1992, 225, spricht von der »exobiology, that great subject without a subject matter (only theology may exceed us in this)«. 6 Searle, John R. (2005), Arguments for Agnosticism? Abgerufen von: https://www. closertotruth.com/series/arguments-agnosticism#video-3633 (Long Interview), ab 00:55 Min. 7 In demselben Interview verweist Searle kurz zuvor darauf, dass er natürlich nicht beweisen könne, dass im Zimmer keine unsichtbaren Tiere herumlaufen. Da es aber nicht das geringste Anzeichen von Evidenz für solche unsichtbaren Tiere gibt, kann man die Wahrscheinlichkeit (mehr oder minder) mit Null ansetzen. 5

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fang an mit im Fokus seines Interesses. In Cambridge wurde er laut Bertrand Russell immer als »angewandter Mathematiker«, also als Physiker betrachtet. 8 Auch die beiden folgenden Anstellungen in London besaßen als Denomination die »angewandte Mathematik«, also Physik.

2.1 Physikalische Kosmologie Die stürmischen Entwicklungen der naturwissenschaftlichen Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es dann auch, die die empirische Basis seines späteren metaphysischen »Fluges« bildeten. Denn neben der Evolutionstheorie 9 spielten vor allem die umwälzenden Herausforderungen durch die Relativitätstheorie(n) und die Quantenphysik eine zentrale Rolle. (a) Was die Relativitätstheorie(n) anbelangt 10, so hat Whitehead das Bahnbrechende in Einsteins Theorie der Relativität von Zeit und Raum stets hervorgehoben. Allerdings hat er es zugleich als »zweifelhafte Philosophie« angesehen, dass Einstein trotz seines Relativitätsdenkens dann doch wieder eine absolute Größe zugrunde legte, nämlich die absolute Konstanz der Vakuum-Lichtgeschwindigkeit. Demgegenüber sah Whitehead in seinem eigenen »Principle of Relativity« Raum, Zeit und auch die Lichtgeschwindigkeit als »derivative« Größen an, die (im Sinne seines späteren »ontologischen Prinzips«) erst von den »events« oder »actual occasions« generiert würden. 11 (b) Noch größere Bedeutung aber hatten vermutlich die Erkenntnisse der Quantenphysik, die Whiteheads Konzept der »actual Vgl. Russell 1959, 43, fn. 1. Zu bestimmten Aspekten von Darwins Evolutionstheorie hat sich Whitehead teilweise auch kritisch geäußert (etwa in »The Function of Reason«), sich zugleich aber als »unverbesserlichen Evolutionisten« bezeichnet: »I am, as you see, a thoroughgoing evolutionist.« (Whitehead, in: Price 2001, 341) 10 Sehr hilfreich hierzu: Holl 2003. 11 »[T]ime and space express relations between events. […]« (PNK, 61) Die ontologisch primären »events« spannen erst Zeit und Raum auf (vgl. PR, 69). Entsprechend hat Whitehead auch die Naturgesetze und Naturkonstanten (wie etwa die Lichtgeschwindigkeit) als derivative »habits« der elementaren Ereignisse aufgefasst: »People make the mistake of talking about ›natural laws‹. There are no natural laws. There are only temporary habits of nature.« (Whitehead, in: Price 2001, 363) Die ›Gesetze‹ der Natur sind in Wahrheit »widerspread habits of nature« (MT, 154). 8 9

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entities« maßgeblich beeinflusst haben. Bereits in Science and the Modern World (1925) widmet Whitehead ein ganzes (allerdings kurzes) Kapitel der »Quantentheorie«, in dem er sowohl die prozessuale Natur (Stichwort: »Energie«) als auch den gequantelten (»atomaren« oder »in-dividuellen«) Charakter der Elementarereignisse betont. 12 In Process and Reality bindet er dann seine Metaphysik der »actual entities« explizit an die Elementarteilchen der Quantenphysik zurück: »This epoch is characterized by electronic and protonic actual entities, and by yet more ultimate actual entities which can be dimly discerned in the quanta of energy.« 13 Die Welt besteht nicht aus (der klassischen) »Materie«, nicht aus den »Billardkugeln« Newtons 14, sondern aus elementaren (Energie-) Prozessen.

2.2 Metaphysische Kosmologie Whitehead ließ es aber bei der reinen Physik nicht bewenden, sondern erschuf eine Metaphysik, die nicht nur die physikalische Seite des Universums, sondern den gesamten Kosmos, also auch die zumindest im Menschen zutage tretende mentale Dimension philosophisch zu beschreiben suchte. (1) »Creativity«. So wie die Relativitätstheorie – man denke an Einsteins berühmte Gleichung, nach der Masse nur ein Äquivalent der Energie ist (E = mc2) – und die Quantenphysik die Energie als Grundstoff des Universums betrachten 15, so bezeichnet Whiteheads Metaphysik den ultimativen Grundcharakter der Welt mit dem – vermutlich von ihm selbst geprägten 16 – Begriff der »creativity«: »In all philosophic theory there is an ultimate […]. In the philosophy of organism this ultimate is termed ›creativity‹« 17. Der metaphysische »Mehrwert«, der Whiteheads »creativity« von der Energie der Physik unterscheidet, ist in seiner spekulativen Vermutung zu sehen, dass sich alle Dinge der Welt nicht nur durch eine grundlegende Aktivi-

Vgl. SMW, 130, 135. PR, 91. 14 »God in the Beginning form’d Matter in solid, massy, hard, impenetrable, moveable Particles« (Newton 1730, 375 [Book III]). 15 Vgl. Heisenberg 2011, 102. 16 Vgl. Kristeller 1983, 105; Ford 1987, 179; Meyer 2005, 2. 17 PR, 7; vgl. PR, 21, 31. 12 13

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tät 18 auszeichnen, sondern eine Art von subjektiver Erfahrungsqualität besitzen: »Whitehead enlarged the notion of ›energy‹ to ›creativity.‹ Because each unit is an occasion of experience, we could also, with Hartshorne, say that the stuff of which all things are composed is ›creative experience.‹« 19 Ein wirklich »kreativer« Charakter kann dem evolutiven Kosmos aber nur dann bescheinigt werden, wenn er gewisse Grade an Freiheit, an Freiheitspotenzialen in den Erfahrungen der Subjekte nicht ausschließt. 20 Von der Sache her läuft diese metaphysische These auf das hinaus, was heute als »Panpsychismus« bezeichnet wird. 21 (2) »Panpsychism« (»pan«: alles; »psych«: Geist) 22. Entscheidend für die Entwicklung einer »panpsychistischen« Philosophie war Whiteheads Zuwendung zur »Metaphysik« in seiner dritten Schaffensperiode. Hatte er es in seiner zweiten, der »naturphilosophischen« Phase 23 noch von sich gewiesen, eine »metaphysical synthesis of existence« 24 zu entwickeln, so nahm er nun entschlossen das Projekt einer metaphysischen Kosmologie in Angriff, deren methodische Basis gerade darin bestand, von einem umfassenden Verständnis empirischer Evidenz auszugehen. So erklärt er nun: »The chief danger to philosophy is narrowness in the selection of evidence.« 25 Eine metaphysische Philosophie dürfe ihr Evidenzmaterial gerade nicht – wie das etwa die Naturwissenschaften tun (was einzelwissenschaftlich auch völlig in Ordnung ist) – auf verobjektivierbare Kausalmechanismen (wie etwa die »natural selection« oder die Gravitationswirkungen) beschränken 26, sondern habe für ihre »metaphysical description« Vgl. auch: PR, 31. Griffin 2004, 86. 20 Charles Hartshorne hat die (natürlich immer begrenzte) Freiheit der »Geschöpfe« des Universums als zentral für die ultimative Kategorie der »Kreativität« benannt: »I think that you have to say: to have creatures at all is to have free creatures. […] I think that […] you have to define a creature as a form of freedom […]. That’s what Whitehead means by ›creativity‹ as the ultimate category. It is precisely what he means.« (Conversation with Charles Hartshorne, Part 1 [1983]; Abgerufen von: https://www. youtube.com/watch?v=R7-g9XnL8Rg; ab 31:33 Min.) 21 »Whitehead […] was not happy with that label« (Lowe 1990, 270) und hat das Wort auch nicht verwendet. Gleichwohl ist Whitehead der konzeptionell wohl bedeutendste aller »Panpsychisten«. 22 Zum Panpsychismus jetzt auch: Brüntrup & Jaskolla 2016. 23 Vgl. CN, vii: »natural philosophy« 24 CN, 5. 25 PR, 337. 26 »Science can find no individual enjoyment in Nature: science can find no aim in 18 19

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das gesamte Evidenzmaterial zu berücksichtigen, welches nun auch die vielfältigen menschlichen Erfahrungen – die ja Teil des zu erklärenden Kosmos oder der evolvierenden Natur sind – umfasst: »[I]t must be one of the motives of a complete cosmology to construct a system of ideas which brings the aesthetic, moral, and religious interests into relation with those concepts of the world which have their origin in natural science.« 27 Das Problem bestand nun darin zu klären, wie die Welt funktionieren muss, um die vor allem in den menschlichen Erfahrungen manifest werdenden Tatsachen von »Geist« (»mind«) oder »Bewusstsein« evolutionär hervorbringen zu können. 28 Der Biologe Charles Birch hat als Whiteheadian das zentrale Argument für einen »Panpsychismus« folgendermaßen ausformuliert: »Why aren’t we zombies? I think the answer lies in the nature of the building blocks of organisms. If science acknowledges human experience at all, it must ask from what it has evolved. If it is acknowledged that it has evolved from animal experience, the question is pushed further back. At some point, does experience, mentality, or subjectivity emerge from entities that are totally lacking in these properties, entities that are simply objects for other subjects? If the basic constituents of the physical world are purely material, then the answer must be yes. But to believe this is to affirm a miracle. Unless you believe in miracles, you would expect mindless atoms to evolve into zombies. But this does not seem to happen.« 29 Der »Panpsychismus« folgert daraus nun, dass die »building blocks of organisms«, die »Materie« unseres Universums also, schon ein »proto-mentales« Potenzial enthalten muss, damit im Verlauf der Evolution dann irgendwann Bewusstsein produziert werden kann. 30 Denn von nichts kommt nichts. Nature: science can find no creativity in Nature; it finds mere rules of succession. These negations are true of natural science. They are inherent in its methodology. The reason for this blindness of physical science lies in the fact that such science only deals with half the evidence provided by human experience. It divides the seamless coat – or, to change the metaphor into a happier form, it examines the coat, which is superficial, and neglects the body which is fundamental.« (MT, 154.) 27 PR, xii; vgl. PR, 13. 28 Mit Nagel (Nagel 2012, 25) formuliert: »The aim would be to offer a plausible picture of how we fit into the world.« 29 Birch 2008, 253. 30 Obgleich Colin McGinn selbst kein (wirklicher) Panpsychist ist, bestätigt er doch diese Schlussfolgerung: »[T]he weak version [of panpsychism] merely says that mat-

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Im Zuge solcher Überlegungen hat nun Whitehead seine gesamte »Philosophie des Organismus« auf der Grundlage einer »Bipolarität« aller Dinge konstruiert: »Each actuality is essentially bipolar, physical and mental.« 31 Falls es nun jedoch zutrifft, dass alle Dinge nicht nur einen »physischen Pol« (Vergangenheitspol), sondern auch einen »mentalen Pol« (Zukunfts- oder Möglichkeitenpol) besitzen, dann besteht die Welt eben nicht aus toten »Billardkugeln«, nicht aus »leerer« Materie 32, sondern aus »Erfahrungströpfchen«: »The final facts are, all alike, actual entities; and these actual entities are drops of experience« 33. Besitzen alle Dinge zumindest rudimentäre Formen von »Mentalität« oder »subjektiver« Erfahrung 34, dann kommt ihnen auch – mal nur rudimentär (wie etwa im Fall eines Elementarteilchens), mal manifest (wie im Fall des Menschen) – die Fähigkeit zur »Entscheidung« (»decision«) oder zur »Auswahl« (»choice«) zwischen Alternativen zu. Genau dies ist für den Physiker Freeman J. Dyson der Grund, schon auf dem Mikrolevel der Wirklichkeit das Vorhandensein von »mind« als wahrscheinlich zu erachten. Auf die Frage, wieso ein Ereignis auf (sub)atomarer Ebene so etwas wie »mind« haben sollte, antwortete er in einem Interview: »[I]t seems to make choices. […] [T]he fact is that you have an atom of Uranium. It sits there on the table and then tomorrow it’s gone. It’s decayed into Thorium plus an Alpha Particle. But nobody can predict whether or not that’s going to happen today or tomorrow. It may take a billion years. So that the atom seems to have a freedom to choose. That’s something which characterizes quantum processes that they seem to just occur spontaneously – we call that spontaneous decay. So it’s spontaneous – that to my mind implies that the thing makes a choice. […] This freedom that the individual atom seems to have ter has some properties or other, to be labeled ›protomental,‹ that account for the emergence of consciousness from brains. But of course that is true! It is just a way of saying that consciousness cannot arise by magic; it must have some basis in matter. […] Of course matter must have the potential to produce consciousness, since it does it all the time.« (McGinn 1999, 99) 31 PR, 108. 32 Vgl. PR 29. 33 PR, 18. 34 Man muss hier allerdings organisationale Differenzen beachten und zwischen bloßen »Aggregaten« – wie etwa einem Stein – und »zusammengesetzten« oder »strukturierten Individuen« (»compound individuals«) – wie etwa einem Menschen mit zentralem Nervensystem – unterscheiden. Zu dieser Differenz vgl. klassisch Hartshorne 1967.

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seems to me a sort of indication of some rudimentary form of mind.« 35 Auch Whitehead gehört zu denjenigen, die auf der Ebene der elementaren Quantenereignisse nicht von einem bloß zufälligen Indeterminismus ausgehen, sondern von einer »Entscheidung« – so rudimentär sie auch ausfallen mögen. Whitehead verwendet meist das Wort »decision«: »The word ›decision‹ does not here imply conscious judgment […]. But ›decision‹ […] constitutes the very meaning of actuality.« 36 Dabei weist jede »Entscheidung«, die meist kein Bewusstsein impliziert, jedoch immer eine (proto)mentale Dimension aufweist, einen unverzichtbaren Bezug zu einem Raum von Möglichkeiten auf: »›Actuality‹ is the decision amid ›potentiality.‹« 37 Und genau an dieser Stelle – der ontologischen Notwendigkeit, der empirischen Erfahrung von Möglichkeiten prozessmetaphysisch Rechnung zu tragen, sah sich Whitehead »gezwungen«, seinen Begriff von »Gott« einzuführen. Der metaphysische Gottesbegriff ist in Whiteheads Kosmologie unverzichtbar, um die vermutlich zentrale Erfahrungsevidenz abbilden zu können: die Erfahrung des Prozesses.

3.

Evidenz No. 1: Der logisch geordnete Möglichkeitenraum. Zur »Urnatur« Gottes

Wie der Physiker Freeman Dyson in einer bereits zitierten Stelle erklärt hat, ist »Materie« in der Quantenphysik ein aktiver Akteur, der ständig zwischen verschiedenen Möglichkeiten auswählt.

3.1 Die evolutive Wirklichkeit und der Raum von »Möglichkeiten« Selbst wenn man mit dem atheistischen Physiker Lawrence M. Krauss von einem schöpferlosen »Universum aus Nichts« ausgeht, Robert Wright interviews Freeman Dyson, Complete Interview. Abgerufen von: http://origins.meaningoflife.tv/video.php?speaker=dyson&topic=complete (ab 13:09 Min.) Vgl. auch Dyson 2004, 297: »Matter in quantum mechanics is not an inert substance but an active agent, constantly making choices between alternative possibilities according to probabilistic laws. Every quantum experiment forces nature to make choices. It appears that mind, as manifested by the capacity to make choices, is to some extent inherent in every electron.« 36 PR, 43. 37 PR, 43. 35

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so bleibt auch hier das Potenzielle die Möglichkeitsbedingung eines solchen Universums: »[T]here must have been the potential for existence« 38, the »potential for creation« 39. In einem evolutiven Universum liefern sowohl die moderne Physik als auch die Alltagserfahrung hinreichende Evidenz für die Existenz eines »Raumes« von Möglichkeiten. Whitehead erklärt hierzu: »The notion of potentiality is fundamental for the understanding of existence, as soon as the notion of process is admitted.« 40

3.2 Das Kontinuum von Potenzialen Es ist nun aber metaphysisch und dann auch theologisch entscheidend, wie man die Ontologie dieser Möglichkeiten genauer konzeptionalisiert. Und meines Erachtens muss man hier sowohl aus philosophischen Gründen als auch aufgrund der Evidenz, wie Möglichkeiten erfahren werden, mit Peirce und Hartshorne von einem »primordial continuum of indefinite potentiality« 41 und nicht mit Whitehead von einem Netzwerk distinkter »Eternal Objects […] or Forms of Definiteness« 42 ausgehen. 43 Theologisch gewendet bedeutet Krauss 2013, 174. Krauss 2013, xxv. 40 MT, 99; vgl. auch MT, 71. 41 Hartshorne 1971, 20*. 42 PR, 22*. 43 Nehmen wir zur Veranschaulichung auf einem Zahlenstrahl die Zahl 3,17628 im Unterschied etwa zur 3,17629. Was genau ist 3,17628? Etwas genauer könnte das sein: 3,176280, 3,176281 oder auch 3,1762801 usw. Jede Zahl kann immer wieder, also unendlich oft geteilt werden. Charles S. Peirce definiert daher: »we define a continuum as that every part of which can be divided into any multitude of parts whatsoever« (Peirce 1931–1935, 3.569). Ein Kontinuum involviert unendliche Teilbarkeit: »A true continuum is something whose possibilities of determination no multitude of individuals can exhaust. Thus, no collection of points placed upon a truly continuous line can fill the line so as to leave no room for others« (Peirce 1931–1935, 6.170; vgl. Peirce 1931–1935, 1.165). Entscheidend ist hier also, dass ein Kontinuum nicht einfach aus einer Unendlichkeit von »Individuen« besteht, sondern dass es hier überhaupt keine definiten »In-dividuen« gibt (vgl. Robson 2008, 49, fn. 16). Anders formuliert: es existieren keine »A-tome« in einem Kontinuum (vgl. Creel 1986, 36). »[C]ontinuity is the absence of ultimate parts in that which is divisible« (Peirce 1931–1935, 6.173). Wenn sich Whitehead nun seine »eternal objects« als ein Netzwerk distinkter »Eternal Objects […] or Forms of Definiteness« oder relationierte »A-tome« vorstellt, dann würde Peirce sagen, dass im abstrakten Kontinuum der Möglichkeiten jedes dieser definiten »A-tome« nochmals unendlich oft geteilt werden kann, es also im abstrak38 39

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dies: Der Gott der Prozesstheologie kann um die Möglichkeiten der Zukunft nicht genau wissen; er kennt nur »indeterminate possibilities for worlds, nothing more« 44. Gott weiß das Wirkliche als definites Wirkliches, aber das Mögliche nur als Mögliches, »and this means as more or less indefinite.« 45 (Anm.: Im Gegensatz dazu wurde Peirces »Synechismus«, der auch die konkrete Wirklichkeit unseres Universums als kontinuierlich auffasste, durch die Quantenphysik widerlegt, während Whiteheads »Atomismus« diese Erkenntnis bereits berücksichtigte. 46)

3.3 Die Logik der Potenziale als Teil der Realität des Universums. Zum Beispiel: »moralischer Realismus« Falls es – wie in 2.2 (2) erörtert – tatsächlich eine »panpsychische« (Proto)»Mentalität« in allen Dingen bis hinunter zu den elementarsten Bausteinen des Universums gibt, dann »wählen« oder »entscheiden« also alle Dinge in der Natur – genau genommen: nicht alle Dinge, sondern nur die »compound individuals« – mittels ihres »mentalen Pols« zwischen Möglichkeiten. Die sich an dieser Stelle daher anschließende Frage lautet: Sind sämtliche Möglichkeiten »gleich-gültig« oder besitzt der Raum der Möglichkeiten, die den Dingen der Welt im Prinzip zur Auswahl stehen, eine objektive Struktur, eine Ordnung? Whitehead bejaht diese

ten Raum der Möglichkeiten keine »Forms of Definiteness« geben könne: »That which is possible is in so far general and, as general, it ceases to be individual. […]. [B]eing a potential aggregate only, it does not contain any individuals at all.« (Peirce 1931–1935, 6.185*) Dieses Konzept der abstrakten Möglichkeiten als eines Kontinuums hat sich dann auch Charles Hartshorne zu eigen gemacht und von einem »primordial continuum of indefinite potentiality« (Hartshorne 1971, 20) gesprochen. 44 Hartshorne 1970, 127; vgl. Hartshorne 1970, 59. Bevor Johann Sebastian Bach die »Hohe Messe in h-Moll« (BWV 232) tatsächlich komponierte, kannte auch Gott das diese Messe beschließende Dona nobis pacem selbst der theoretischen (abstrakten) Möglichkeit nach nicht (genau), so wie er auch Penny Lane von den Beatles vor 1967 nicht schon »im Kopf« hatte. Was zudem klar ist: »The [concrete; M. S.] sound does not exist until it is heard.« (Cobb 2008, 26) 45 Charles Hartshorne in einem Brief, zitiert nach Creel 2008, 40*. 46 »There is a prevalent misconception«, that is »the classic notion« of »a continuity of becoming«. »Recently physical science has abandoned this notion. […] Thus the ultimate metaphysical truth is atomism. The creatures are atomic.« (PR, S. 35)

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Frage, formuliert aber die Begründung dafür meist mit Worten, die sich m. E. zu sehr einer anthropomorphen Theologie annähern. 47 Deswegen möchte ich einen Umweg über völlig a-theistische Denker vornehmen. Ich beginne mit einem Zitat des Psychologen Stephen Pinker: »There is a logic to morality. […] I think this might also tie to a notion that philosophers bat around which they call moral realism, that there may be a sense in which some moral statements aren’t just figments or artifacts […], but are part of the reality of the universe even if you can’t touch them and weigh them – in the same way that some mathematicians subscribe to mathematical realism […]. It’s conceivable that moral truths have something of that status that we discover them […] Which may be why in all moral systems you have something like the golden rule […].« 48 Pinker drückt sich vorsichtig aus: »there may be«, »it’s conceivable«. Aber inwiefern könnte die moralische Dimension tatsächlich »part of the reality of the universe« sein. Zunächst: genau dies wird von vielen zeitgenössischen Philosophen oder Wissenschaftler bestritten. Ich denke aber, dass sich mit Thomas Nagel gute Gründe für einen zunächst »prozeduralen moralischen Realismus« anführen lassen, die sich dann mit den Prozessphilosophien von Whitehead und Hartshorne metaphysisch »erden« lassen. In seinem Buch »The View from Nowhere« thematisiert Thomas Nagel das Problem, wie wir eine möglichst objektive und daher wahre (re) Sichtweise auf die Dinge bekommen könnten. »This book is about a single problem: how to combine the perspective of a particular person inside the world with an objective view of that same world […]. It is a problem that faces every creature with the impulse and the capacity to transcend its particular point of view and to conceive of the world as a whole.« 49 Ein einfaches naturwissenschaftliches Beispiel Whitehead spricht etwa von einer »unconditioned conceptual valuation of the entire multiplicity of eternal objects« (PR, 31*) in der »Urnatur« Gottes, einer »complete valuation« (PR, 31), einem »divine ordering« (PR, 31), einer »primordial valuation of pure potentials« (PR, 40) oder einer »order in the relevance of eternal objects«, die nur »by reason of this primordial actuality« (PR, 344) gegeben sei. Doch wie auch Nagel erklärt, kann etwas nicht dadurch unmoralisch werden, dass Gott es verbietet (oder wertet). (Vgl. Nagel 1987, 67 f.) Whitehead hat das auch nicht gemeint, aber seine Ausdrucksweise ist hier missverständlich. 48 Das von Robert Wright geführte Video mit Stephen Pinker kann man hier anschauen: http://origins.meaningoflife.tv/video.php?speaker=pinker&topic=complete. Dort auch ein Transkript des Interviews. 49 Nagel 1986, 3*. 47

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hierzu: von unserem partikulären Alltagsblickwinkel sieht zunächst alles so aus, als ob sich die Sonne um die Erde drehe; ein objektiverer Blickwinkel (etwa aus dem Weltall) jedoch zeigt, dass es umgekehrt ist. Das Verfahren, zu größerer Objektivität zu kommen, besteht also darin, den Blick zu weiten und so die Enge des nur subjektiven Standpunkts zu »transzendieren«. Genau dieses Verfahren hatte auch bereits Adam Smith in Sachen Moral vorgeschlagen: um moralische Probleme fair entscheiden zu können, müsse der nur subjektive Blick in Richtung eines alles objektiv sehenden »Beobachters« geweitet werden: »We endeavour to examine our own conduct as we imagine any other fair and impartial spectator would examine it […] placing ourselves in his situation« 50. Auf dieser Linie argumentiert auch Nagel zugunsten einer unbeliebigen Objektivitätslogik: »What really happens in the pursuit of objectivity is that a certain element of oneself, the impersonal or objective self, which can escape from the specific contingencies of one’s creaturely point of view, is allowed to predominate.« 51 Nagels »impersonal or objective self« hat dieselbe Funktion in der Ethik wie Smiths »impartial spectator«: »The basis of morality is a belief that good and harm to particular people (or animals) is good or bad not just from their point of view, but from a more general point of view, which every thinking person can understand.« 52 Es handelt sich einfach um das (unerreichbare) Ziel eines objektiven (= unparteilichen) Standpunkts: »Objectivity is the central problem of ethics. Not just in theory, but in life.« 53 Nagel zufolge ist diese Logik der Unparteilichkeit – die Logik des »View from Nowhere« – nun objektiv real, denn wir können es uns nicht aussuchen, der Wirklichkeit irgendeine andere ethische Logik aufzuzwängen, die uns vielleicht lieber wäre – genau wie wir das bei der Logik der Mathematik nicht können 54, was ja auch bei Pinker erwähnt wird. Und deswegen vertritt Nagel den philosophischen Standpunkt eines Smith 2009, 133. Nagel 1986, 9*. 52 Nagel 1987, 67. Vgl. Nagel 1986, 186 f.: »[E]thics […] requires a detachment from particular perspectives and transcendence of one’s time and place.« Dieser »general point of view« oder diese simulierte »Transzendenz« ist Thomas Nagels »View from Nowhere« – »from nowhere«, weil es für den Atheisten Nagel keinen wirklichen Gott gibt, der das Universum von »somewhere above« betrachten könnte. 53 Nagel 1986, 138. 54 Vgl. Putnam 1979, 238: »[I]t seems that we’re not free to impose any mathematics or any logic we want.« This »isn’t something we can just make up or decide.« 50 51

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»moralischen« oder »normativen Realismus«: »Normative realism is the view […] that there are reasons for action, that we have to discover them«. 55 Die Logik der modernen Ethik – die Logik des »impartial spectator« (Adam Smith) oder des »View from Nowhere« (Thomas Nagel) – ist ontologisch objektiv. Das ist die Grundthese des »moralischen Realismus«. Nun lässt sich der »prozedurale moralische Realismus« bei Smith oder Nagel dadurch vertiefen, dass man mit Whitehead und Hartshorne einen objektiven Maßstab für die Wahrheit von moralischen Aussagen vorstellt. Diesen objektiven Maßstab benennt die metaphysische Hypothese einer »social structure of existence«. Vor allem Hartshorne präsentiert eine »social conception of the universe« 56, die er mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet, so etwa »societism« 57 oder »surrelativism« 58. »The logical core of surrelativism […] is a theory of ›external‹ and ›internal‹ relatedness«. 59 Externe und interne Bezogenheit prägt dabei nicht nur die menschliche Natur, sondern faktisch die Natur allen Lebens im Universum: »Human nature is the supreme instance of nature in general, as known to us […]. Human nature is social through and through. All our thought is some sort of conversation or dialogue or social transaction […]. Now, further, not simply man, but all life whatsoever, has social structure. […] All organisms on the multicellular level are associations of cells. There is scarcely a line between societies and individuals formed by societies which reach a sufficient grade of integration. Cells themselves are associations of similar molecules and atoms. It becomes a question of how broadly one wishes to use terms where one says that the social begins, if indeed it ever begins, in the ascending scale of emergence. And the higher one goes in the scale the more obviously do the social aspects assume a primary role.« 60 In der metaphysischen Analyse erschließt sich die Wirklichkeit als solche ihrer tiefsten Natur nach als empirisch »sozial« strukturiert: »[T]he social structure of existence is no mere appearance of something more ultimate, but an aspect of reality itself or as such.« 61 In Bezug auf die Wirklichkeit des 55 56 57 58 59 60 61

Nagel 1986, 139. Hartshorne 1971, 29*. Hartshorne 1964, 24. Hartshorne 1964, ix. 21; Hartshorne 1971, 25. Hartshorne 1964, xii. Hartshorne 1964, 27. Hartshorne 1967, 105. Vgl. auch Hartshorne 1984, 45.

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Gibt es empirische Evidenz für »Gott«?

Universums erschließt die metaphysische Beschreibung also eine »solidarity of life« 62 oder eine »social solidarity« 63. Das von Smith und Nagel beschriebene Objektivitätsverfahren versucht eine in der Konzeption Hartshornes (und auch Whiteheads) metaphysisch erkannte Tatsache abzubilden, nämlich die »social structure of existence« des wirklichen Universums. So wie in der Objektivitätslogik des »prozeduralen moralischen Realismus« eine größere Wirklichkeitsnähe durch eine Ausweitung des Blickwinkels erreicht wird, so wird in einer Metaphysik, die von der »social structure of existence« ausgeht, eine größere Wirklichkeitstiefe durch eine Ausweitung der Beziehungsintensität erreicht – während am anderen Ende ein Null an Beziehungen einem Null an Wirklichkeit oder Wirklichkeitstiefe gleichkommt: »null value only in the case of ›nonentity‹« 64. Das methodische Verfahren hat also ein metaphysisches Fundament. 65 Die »moral truth« hängt also an der »metaphysical truth« der »social structure of existence« des wirklichen Universums. Die »logic to morality« (Pinker) gründet in der »logic to actuality« (vgl. Whitehead & Hartshorne).

3.4 Die wirk-liche Anziehungskraft. Evidenz für die »Urnatur Gottes« Wir machen nicht nur die Erfahrung der Tatsache von (objektiv) »richtig« & »falsch«, »besser & schlechter« usw., sondern wir erfahren auch eine gewisse (nicht zwingende), aber doch wirk-liche »Anziehungskraft« des Richtige(re)n, des Besseren, des Wahren, des Schönen usw. An dieser Stelle stellt sich eine Frage: »Wie läßt sich die Anziehungskraft der Moral verstehen, die wir alle fühlen?« 66 Denn zumindest in unseren besseren Momenten erfahren wir am Beispiel herausragender Persönlichkeiten (wie zum Beispiel Martin Hartshorne 1964, 56. Hartshorne 1971, 108. 64 Hartshorne 1964, 28. 65 Nagel hatte in seinem Buch geschrieben: »Perhaps a richer metaphysic of morals could be devised, but I don’t know what it would be.« (Nagel 1986, 139) Die Prozessphilosophien Whiteheads und Hartshornes liefern m. E. genau diesen metaphysischen Haftpunkt, der dem von Nagel postulierten Objektivitätsverfahren eine Basis in der Struktur der Wirklichkeit gibt. 66 Dworkin 2011/2014, 35. 62 63

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Luther King) ein Streben nach Gerechtigkeit oder erleben wir die Anziehungskraft, die vom Ideal der Gerechtigkeit ausgeht – und die den Eigennutzinteressen (eines »Homo Oeconomicus«) sogar entgegengesetzt sein kann. Auf diese Erfahrung einer »Anziehungskraft« rekurriert Whitehead mit seinem Begriff des (göttlichen) »Eros«: »But we have to ask whether nature does not contain within itself a tendency to be in tune, an Eros urging towards perfection.« 67 Es handelt sich um die Erfahrung einer Wirk-lichkeit, die Whitehead als das »Göttliche« des Universums und – vielleicht etwas unvorsichtig – auch als »Gott« bzw. die »Primordial Nature of God« bezeichnet hat: Der Ausdruck »›deity‹ expresses the lure [dt. »Anziehungskraft«] of the ideal which is the potentiality beyond immediate fact.« 68 Die Effektivität dieser »Anziehungskraft« liefert für Whitehead empirische Evidenz für eine »göttliche« Dimension des Universums, die die Ideale erst wirksam (anziehend) werden lässt: »There are experiences of ideals – of ideals entertained, of ideals aimed at, of ideals achieved, of ideals defaced. This is the experience of the deity of the universe. […] The universe is thus understood as including a source of ideals. The effective aspect of this source is deity as immanent in the present experience.« 69 Dieser »attraktive« göttliche »Eros« des Universums erscheint dann in Whiteheads mehr technischer Begrifflichkeit als die »Primordial Nature of God, here also termed the Eros of the Universe« 70. Nach dem »ontologischen Prinzip«, von dem Whitehead zutiefst überzeugt war 71, kann der Ursprung einer so als wirk-lich erfahrenen Anziehungskraft nur eine Wirklichkeit sein, die man als »primordial mind« Gottes und damit als »Seele« des Universums identifizieren kann: »Everything must be somewhere; and here ›somewhere‹ means ›some actual entity‹. Accordingly the general potentiality of the universe must be somewhere […]. This ›somewhere‹ is the non-temporal actual entity […] the primordial mind of God.« 72 Man muss die Objektivität dieser »erotisch« wirk-enden »Anziehungskraft« nicht unAI, 251. MT, 101. 69 MT, 103. 70 AI, 253. 71 »According to the ontological principle there is nothing which floats into the world from nowhere. Everything in the actual world is referable to some actual entity.« (PR, 244) 72 PR, 46. 67 68

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Gibt es empirische Evidenz für »Gott«?

bedingt »Gott« nennen. Eine Fehlbenennung ist das aber sicher auch nicht. Hier nun also meine These zur Evidenz No. 1 für »Gott«: Es gibt m. E. hinreichend Erfahrungsevidenz, dass das Universums eine objektive »Anziehungskraft« von idealen – inhaltlich: kognitiven, moralischen oder ästhetischen – Möglichkeiten enthält, die in unserer Erfahrung als »Drang« wirk-lich wird und die Whitehead als das »Göttliche« oder der »Eros« des Universums – technischer als »primordial nature« Gottes – bezeichnet.

4.

Evidenz No. 2: Die Erfahrung der »Heiligkeit« der »Details für das Ganze«. Zur »Folgenatur Gottes«

Gleich anschließend hier nun auch meine These zur Evidenz No. 2 für »Gott«: Die empirische Erfahrungsevidenz für das, was Whitehead als »consequent nature« Gottes bezeichnet, besteht in der intuitiven Empfindung der »Heiligkeit« aller Geschehnisse des Universums in dem Sinne, dass sich hier, im Prozess unseres Universums, entscheidet, was wirklich wird und was nicht. Diese »Heiligkeit« der »Details für das Ganze« unseres Universums kann man metaphorisch als die Heiligkeit des »Körpers Gottes« bezeichnen.

Im Einzelnen: Auch für die »Folgenatur« »Gottes« gibt es (mindestens) einen konzeptionellen Grund sowie eine (gewisse) Erfahrungsevidenz: Den konzeptionellen Grund hat Michael Welker sehr schön auf den Punkt gebracht: »Gott in seiner ersten Natur wäre ohne die wirkliche Welt ein Gespenst.« 73 Ohne einen konkreten physischen Pol bliebe Gott ein abstraktes »Nichts« – und damit würden sich auch die Möglichkeiten sowie die Anziehungskraft der Möglichkeiten in »Nichts« auflösen. Deswegen hat Whitehead in seinem »finalen« Gotteskonzept (ab 1927) bekanntlich eine »consequent nature« »Gottes« eingeführt: »But, as primordial, so far is he from ›eminent reality,‹ that in this abstraction he is ›deficiently actual‹ […]. But God, as well as being primordial, is also consequent.« 74 In Bezug auf eine Erfahrungsevidenz der »Folgenatur« gibt es bei Whitehead möglicherweise nur einen einzigen Textbeleg: »[O]ur

73 74

Welker 1984, 268. PR, 343–345.

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sense of the value of the details for the totality dawns upon our consciousness. This is the intuition of holiness, the intuition of the sacred, which is at the foundation of all religion. In every advancing civilization this sense of sacredness has found vigorous expression.« 75 Worin besteht inhaltlich diese Intuition der »Heiligkeit« oder »Geweihtheit« aller Dinge – genauer: der »Details für das Ganze«? Und inwiefern kann man diese Intuition der »Heiligkeit« als eine Erfahrung der »Folgenatur« Gottes betrachten? Es gibt eine Stelle in dem Film Contact (USA 1997; Regie: Robert Zemeckis), die diese Erfahrung der »Heiligkeit« der »Details für das Ganze« gut zum Ausdruck bringt: »I had an experience. I can’t prove it. I can’t even explain it. All I can tell you is that everything I know as a human being, everything I am, tells me that it was real. I was given something wonderful. Something that changed me. A vision of the universe that made it overwhelmingly clear just how tiny and insignificant and at the same time how rare and precious we all are. A vision that tells us we belong to something greater than ourselves, that we’re not, that none of us is alone. I wish I could share it. I wish everyone, if only for a moment, could feel that sense of awe, and humility and hope. That continues to be my wish.« (ab 02:09:16) Das sich anschließende Problem betrifft die Frage, wieso man diese Intuition der »Heiligkeit« als eine Erfahrung der »Folgenatur« Gottes betrachten sollte. Whitehead hat diese Frage nicht explizit beantwortet. Aber ich denke, er hätte ungefähr Folgendes gesagt: Alles, was im Universum geschieht, ist unverrechenbar wichtig – das Gute wie das Schlechte. Was hier geschieht, ist die einzige Wirklichkeit (»actuality«), die es gibt. Alles entscheidet sich hier, im Prozess des Universums. Diese Wirklichkeit ist daher unersetzbar – sie ist »heilig«. Und da sie zudem ein großes Ganzes ist (»we belong to something greater than ourselves«), ein zusammenhängendes Netzwerk der gesamten zeitlichen Wirklichkeiten (oder aller »cosmic epochs«), kann man dieses »heilige« Ganze mit Whitehead als »göttlich« bezeichnen, als den heiligen »Körper« Gottes, der in Whiteheads technischer Begrifflichkeit der »Folgenatur« entspricht.

75

MT, 120.

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Gibt es empirische Evidenz für »Gott«?

5.

Outro: Theologie reloaded

Whiteheads »Gott«, für den er empirische Evidenz gesehen hat und den er aus Gründen der systematischen Vollständigkeit in der metaphysischen Beschreibung des universalen Prozesses in seine »Philosophy of Organism« eingebaut hat 76, ist nicht identisch mit dem traditionellen Gott des supranaturalistischen Theismus: »[T]he concept of God […] is not the God of the learned tradition of Christian Theology, nor is it the diffused God of the Hindu Buddhistic tradition. The concept lies somewhere between the two.« 77 Ich glaube zwar, dass Whiteheads Gott den wirklich zentralen Kern der religiösen Botschaft des Christentums, nämlich das Gott die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,8: »ὁ Θεὸς ἀγάπη ἐστίν«), besser trifft als die supranaturalistische Tradition der traditionellen christlichen Theologie und insofern von einer christlichen Theologie, die einen theologischen Fortschritt zulässt, auch befürwortet werden kann. Letztlich entscheidend aber ist, welcher Gott wahrscheinlicher ist, für welchen Gott also empirische Evidenz vorhanden ist – und für welchen Gott nicht. 78 Und hier hat der »Gott« Whiteheads m. E. die besten Karten. 79 Zu seinem bipolaren Gotteskonzept erklärte Whitehead (zit. nach Hocking 1961, 515): »I should never have included it, if it had not been strictly required for descriptive completeness. You must set all your essentials into the foundation. It’s no use putting up a set of terms, and then remarking, ›Oh, by the by, I believe there’s a God.‹« 77 ESP, 69. Ähnlich hat auch Karl Rahner erklärt: »Die einen sagen: »Es gibt keinen Gott!«, die anderen versichern, es gebe ihn. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich […] in der Mitte.« Hiervon berichtet Keller 2010, 43. 78 Es gibt allerdings ein Merkmal des Whitehead’schen Gottes, für den m. E. keine empirische Evidenz spricht, und das ist Whiteheads Vorstellung von der »everlastingness«. Whitehead hat den Begriff der »objective immortality« zunächst nur rein »weltlich« verwendet (vgl. Ford 2000, 344, fn. 20). Doch das hat ihm offensichtlich nicht genügt: »But objective immortality within the temporal world does not solve the problem set by the penetration of the finer religious intuition. ›Everlastingness‹ has been lost; and ›everlastingness‹ is the content of that vision upon which the finer religions are built – the ›many‹ absorbed everlastingly in the final unity.« (PR, 347.) Formulierungen wie diese signalisieren m. E. deutlich: Whitehead will, dass die religiöse Vision der »everlastingness« zutrifft. Der Wunsch ist der Vater des Gedankens, dass das »ultimative Übel« der zeitlichen Welt – das »ständige Vergehen« – nicht »schon alles sein« möge: »The ultimate evil in the temporal world […] lies in the fact that the past fades, that time is a ›perpetual perishing.‹« Objectification involves elimination. […] But there is no reason, of any ultimate metaphysical generality, why this should be the whole story.« (PR, 340.) Und deswegen hat Whitehead am Ende von Process and Reality bekanntlich – in lyrischen Worten – eine »Versöhnung« von 76

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»objective immortality« und »everlastingness« im einzigen »non-temporal actual entity« (PR 46), nämlich Gott, vorgesehen: In »his consequent nature […] there is no loss, no obstruction. […] God […] loses nothing that can be saved. […] The consequent nature of God is the fluent world become ›everlasting‹ by its objective immortality in God.« (PR, 345–347; vgl. PR, 350 f.) Ich glaube nun nicht, dass dieser Wunsch Whiteheads nur auf den Tod seines Sohnes Eric zurückzuführen ist (obwohl dieser Tod seinen Wunsch vermutlich noch bestärkt hat). Vielmehr gab es – obgleich Whitehead ja lange Jahre seines Lebens agnostisch oder sogar atheistisch eingestellt war – stets einen Wunsch, religiös zu sein: »Whitehead’s son North […] once said to me that there was something a little odd about his father’s agnosticism. […] It was as if he wanted to be religious, and was being defiantly atheistic.« (Lowe 1982, 142*) Man kann auch in seinen früheren Schriften, also noch vor der expliziten Einführung eines Gottesbegriffs, durchaus Spuren seiner Suche nach einer Möglichkeit, eine »objektive Unsterblichkeit« im Sinne der »everlastingness« metaphysisch vorsehen zu können, finden. Eine diesbezüglich sehr aufschlussreiche Passage gibt es etwa in Whiteheads früherem Werk »The Concept of Nature« aus dem Jahr 1920 (zu dieser Passage vgl. auch Clarke 1983, 255 ff.). Whitehead spekuliert hier über ein (nur) »gedachtes Wesen« oder »vorgestelltes Wesen« oder »erfundenes Wesen« (»imaginary being«), das aber insofern deutlich erkennbar die Züge der späteren »Folgenatur« Gottes aus »Process and Reality« trägt, als in seinem »Gedächtnis« das Vergangene gegenwärtig ist: »We can imagine a being whose awareness, conceived as his private possession, suffers no transition […] [W]e can imagine that mind in the operation of sense-awareness might be free from any character of passage […] [T]he mere fact of memory is an escape from transience. In memory the past is present. […] Our own present has its antecedents and its consequents, and for the imaginary being all nature has its antecedent and its consequent durations. Thus the only difference in this respect between us and the imaginary being is that for him all nature shares in the immediacy of our present duration.« (Peirce 1931–1935, 67–69.) Mein Problem damit: Ich sehe keine Erfahrungsevidenz für die Behauptung, dass Gott tatsächlich die »objektive Unsterblichkeit« in der zeitlichen Welt über ein ewiges präsentes Gedächtnis in »everlastingness« verwandelt. Gleichwohl kann es wohlgemerkt durchaus sogar eine »subjektive Unsterblichkeit« geben – Nahtoderfahrungen (wie etwa diejenige von Pam Reynolds) könnten empirische Evidenz hierfür bereitstellen. Aber diese »subjektive Unsterblichkeit« hinge nicht direkt an Gott, sondern wäre ein Aspekt, wie die Welt als solche funktioniert. Eine lesenswerte, wenn auch anders ausgerichtete theologische Aufarbeitung des Unsterblichkeitsproblems bei Müller 2009, 269 ff. 79 Insofern stimme ich Victor Lowe völlig zu: »My personal opinion, as a sceptic about religion, is that if God exists, He is the sort of being Whitehead imagined« (Lowe 1990, 271)

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Die Komplementarität von Polarität und Pleroma im Prozess-Panentheismus Die Metaphysik der Gott-Welt-Beziehung bei Whitehead und Teilhard Valerian Mendonca 1.

Einleitung 1

Der englisch-amerikanische Mathematiker und Philosoph Alfred North Whitehead (1861–1947) und der französische Paläontologe, Philosoph und Theologe Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955), zwei prominente Denker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, haben dynamische und innovative metaphysische Sichtweisen der Beziehung zwischen Gott und Welt entwickelt. Während Whitehead als der größte Systematiker im Bereich der Prozessmetaphysik gilt, trägt auch Teilhards Metaphysik aus meiner Sicht zumindest implizite Züge des modernen Prozessdenkens. Beide stimmen darin überein, dass sie der inneren Dynamik der Natur eine zentrale Rolle zuschreiben, wobei sie die Wirklichkeit, das Verhältnis von Geist und Materie, von Gott und Welt nicht-dualistisch denken. Der Hauptunterschied zwischen ihnen besteht darin, wie sie jeweils den kosmischen Prozess seiner Struktur nach auffassen. Teilhard geht in Der Mensch im Kosmos von einem teleologischen und theistischen Standpunkt aus: der Prozess der kosmischen Evolution im Allgemeinen, der auch ein Prozess der göttlichen Evolution ist, und die Evolution der Noosphäre 2 im Besonderen, verläuft zielgerichtet auf die ›Einheit in Verschiedenheit‹ im Omega-Punkt 3 Prof. Henning Tegtmeyer vom Hoger Instituut voor Wijsbegeerte war so freundlich, diesen Artikel ins Deutsche zu übersetzen. Ich schulde ihm auch aufrichtigen Dank für wertvolle Hinweise bei der Überarbeitung des Textes. 2 Noosphäre heißt bei Teilhard die Reflexionssphäre der bewussten Einheit der Seelen, eine neue Ebene des Denkens, die aus dem Leben, der Biosphäre, und der unbelebten, anorganischen Materie, der Litosphäre, emergiert. Vgl. Teilhard de Chardin 1959, 14 (Anm. 1), 182. 3 Nach Teilhard ist der Omega-Punkt der Punkt höchster Konvergenz von Welt und Gott, in dem die Noosphäre sich aufs Intensivste in einer ›hyperpersonalen‹ Struktur 1

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Valerian Mendonca

des auferstandenen Christus hin, auf die Vollendung jeglichen Bewusstseins im ›Pleroma‹ des höchsten Bewusstseins. Whitehead dagegen hebt in Prozess und Realität 4 die Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Natur bei der Entstehung einer komplex strukturierten ›Gesellschaft‹ hervor, die sich selbst in Gestalt von ›wirklichen Ereignissen‹ konstituiert, die ihm zufolge ›die letzten realen Dinge, aus denen die Welt zusammengesetzt ist‹ sind. Obwohl er betont, dass »das Wachstum einer komplexen strukturierten Gesellschaft [wirklicher Ereignisse] als Beispiel für den allgemeinen Zweck, der die Natur durchzieht« 5 dienen kann, sieht Whitehead »keine Konvergenz des Kosmos insgesamt und keine letzte Vollendung der Geschichte«. 6 Anders als bei Teilhard ist der kosmische Prozess bei Whitehead a-teleologisch und unendlich; Gott und Welt stehen zueinander in der ›Polarität‹ einer dialektischen Spannung. Ohne Zweifel unterscheiden sich auch die philosophischen Hintergründe der Auffassungen beider Denker im Hinblick auf das GottWelt-Verhältnis: Teilhard möchte Wissenschaft und christlichen Glauben miteinander versöhnen und zu diesem Zweck die aristotelisch-thomistische Metaphysik revidieren oder ganz hinter sich lassen, 7 während Whitehead eher die Begriffe der platonischen Metaphysik revidiert, um so eine Philosophie des Organischen zu entwickeln. 8 Ungeachtet dessen möchte ich die These verteidigen, dass eine Revision und Kombination dieser beiden Sichtweisen des GottWelt-Verhältnisses helfen kann, eine panentheistische Metaphysik der Intersubjektivität von Gott und Welt zu entwickeln.

2.

Panentheismus

Panentheismus heißt so viel wie Alles-in-Gott. 9 John Cobb, ein Prozessphilosoph und Theologe der Gegenwart, definiert Panentheismus

vereinigt. Vgl. Teilhard de Chardin 1981, 56, 276–281; Vgl. Teilhard de Chardin 1959, 19. 4 PRd, 57. 5 PRd, 196. 6 Barbour 1969, 158. 7 Vgl. Speaight 1967, 155, 271–272. 8 Vgl. Lowe 1962, 26–27, 366; Vgl. PRd, 91–92, 168. 9 Cooper 2006, 26–27.

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Die Komplementarität von Polarität und Pleroma im Prozess-Panentheismus

als »die Lehre, dass alles in Gott ist«. 10 Der Terminus Panentheismus wurde von dem deutschen Philosophen Karl Krause (1781–1832) in seiner Allingottlehre geprägt. Als Zeitgenosse Schellings und Hegels benötigte Krause diesen Ausdruck, um seine eigene Position sowohl vom traditionellen Theismus als auch vom Pantheismus abzugrenzen. 11 Bekannter wurde der Begriff aber erst im 20. Jahrhundert durch die Arbeiten Charles Hartshornes, eines Prozessphilosophen, der damit eine ganz bestimmte Möglichkeit benennen wollte, philosophische Theologie zu betreiben, 12 ausgehend von dem Gedanken, dass »alles in Gottes Sein enthalten ist, der seinerseits aber nicht einfach das Ganze aller wirklichen Dinge ist«. 13 Auf diese Weise präsentiert sich der Panentheismus als Mittelweg zwischen den beiden Extremen des klassischen Theismus (der lehrt, dass Gott zwar in der Welt ist, die Welt aber nicht in Gott) und des Pantheismus (der lehrt, dass Gott identisch mit der Welt als ganzer, die Welt als ganze also Gott ist). Auf diese Weise sucht der Panentheismus nach einer ausgewogenen Sicht auf die Immanenz und Transzendenz Gottes, und zwar dadurch, dass er wie der klassische Theismus die Einheit und Identität Gottes mit sich selbst lehrt, gleichzeitig aber wie der Pantheismus die intime Verbundenheit Gottes mit dem Universum betont. Es kann daher nicht überraschen, dass Michael W. Brierley, ein Experte für Panentheismus in der britischen Theologie des 20. Jahrhunderts, von einer ›stillen panentheistischen Revolution‹ in der philosophischen Theologie spricht und ausführt, dass die Diskussion um den Panentheismus gegenüber dem klassischen Theismus die Prioritäten vollständig verändert und dadurch dessen Fundamente und Struktur infrage gestellt hat. 14 Das Oxford Dictionary of the Christian Church definiert Panentheismus als die Überzeugung, dass »das Sein Gottes das gesamte Universum umschließt und durchdringt, so dass dessen Teile allesamt in ihm existieren, dass aber seine Existenz (anders als im Pantheismus) das Universum übersteigt und sich keineswegs in letzterem erschöpft«. 15 Mit anderen Worten, obwohl die Welt ontologisch in Gott ist, sind Gott und die Welt ontologisch (sowohl dem Sein als auch 10 11 12 13 14 15

Clayton, Peacocke 2004, xix. Cooper 2006, 121. Gregersen 2004, 31. Hartshorne 1948, 89. Vgl. Brierley 2004, 1–2, 4. Livingstone & Cross 2009, 1221.

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dem Wesen nach) distinkte Entitäten, und das Sein Gottes übersteigt das der Welt. In seinem Three Varieties of Panentheism liefert Niels Henrick Gregersen eine zweiteilige generische Definition des Begriffs Panentheismus: 1.

Gott enthält in sich die Welt, ist aber mehr als die Welt. Demnach ist die Welt (in gewissem Sinne) »in Gott«. Indem die Welt »in Gott« enthalten ist, verdankt sie Gott nicht allein ihre Existenz, sondern kehrt auch zu Gott zurück, behält aber alle Eigenschaften eines Geschöpfs. Deshalb sind die Beziehungen zwischen Gott und der Welt (in gewissem Sinne) bilateral. 16

2.

Gregersens Definition verdeutlicht, dass notwendigerweise eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Gott und der Welt besteht. Allerdings weist er selbst darauf hin, dass es schwierig ist, den genauen Sinn der Qualifikation »in gewissem Sinne« 17 zu erläutern, und zwar sowohl im Hinblick auf das Sein der Welt in Gott als auch im Hinblick auf die Wechselbeziehung zwischen Gott und Welt. Selbstverständlich wurde auch der Panentheismus, wie andere revolutionäre Ideen auch, keineswegs einhellig begrüßt. Wie etwa Joseph Bracken, ein Prozessphilosoph und katholischer Theologe, ausführt, ist trotz der unmittelbaren Eingängigkeit des Panentheismus, d. h. der Idee, dass die Schöpfung gewissermaßen in Gott existiert, keineswegs klar, wie genau das zu verstehen ist. 18 Die Frage nach der genauen Bedeutung des en in Panentheismus hat eine heftige Debatte ausgelöst. Das kleine Wörtchen »in« ist der Dreh- und Angelpunkt. Anders gesagt, die Aussage, dass Gott das Universum »enthält«, ist nicht viel mehr als die wörtliche Wiederholung der Formel »alles in Gott«. Zudem ist Gregersen der Meinung, dass der Begriff des Panentheismus nicht eindeutig ist, da es so viele Panentheismen geben könnte, wie es Weisen gibt, das Sein der Welt in Gott auszulegen. 19 Die Frage ist also: In welchem Sinne existiert das Universum in Gott? Eine weitere Schwierigkeit für ein angemessenes Verständnis des Panentheismus, also des Seins der Welt »in« Gott, ergibt sich, 16 17 18 19

Gregersen 2004, 22. Gregersen 2004, 22. Vgl. Bracken 2004, 211–212. Gregersen 2004,19.

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wenn man sich Gott und die Welt als statische ›Entitäten‹ vorstellt. Ich bin davon überzeugt, dass der Panentheismus dynamisch gedacht werden muss, nämlich im Sinne einer Aktivität in einem Milieu gemeinschaftlicher Verbundenheit und Relationalität, und nicht in statischen Begriffen von Selbstgenügsamkeit und Subsistenz. Im Folgenden werde ich versuchen, diesen Grundgedanken, nämlich das dynamische »In« in Teilhards und Whiteheads Panentheismus, weiter auszulegen, und zwar im Hinblick auf eine Metaphysik der Intersubjektivität. Zunächst werde ich dabei Teilhards und Whiteheads unterschiedliche Sichtweisen der Gott-Welt-Beziehung getrennt ausleuchten und die Unterschiede benennen, nicht ohne die Grenzen beider Ansätze zu verdeutlichen. Dann werde ich zu umreißen versuchen, wie beide Ansätze so modifiziert werden können, dass sie sich in einen umfassenden intersubjektiven Prozesspanentheismus integrieren lassen.

3.

Teilhards pleromatische Gott-Welt-Beziehung

Für Teilhard ist Gott sicherlich nicht identisch mit der sich entwickelnden Welt oder dem kosmischen Prozess; vielmehr ist das christozentrische Universum ein Aspekt Gottes. Wie H. James Birx in seinem Aufsatz Teilhard and Evolution ausführt, ist Teilhard davon überzeugt, dass Gott eine eigene personale Existenz zukommt und dass er daher nicht in seiner Schöpfung enthalten sein kann; Gott ist zugleich unendlich immanent und unendlich transzendent. 20 Deswegen sehe ich mich berechtigt, Teilhard tatsächlich als Panentheisten anzusehen. Obwohl er selbst diesen Terminus niemals verwendet hat, handeln seine Schriften durchgehend von einer wechselseitigen Interaktion zwischen Gott und der Welt. In seinem Essay Mon Univers unterstreicht Teilhard, dass Gott und die Welt im Hinblick auf ihre Vervollkommnung wechselseitig voneinander abhängig sind. 21 Ian G. Barbour, einer der ersten, die Teilhard und Whitehead in den 1960ern verglichen haben, notiert in seinem Aufsatz Teilhard’s Process Metaphysics, dass Teilhard den klassischen Theismus dafür kritisiert, dass er die Welt »nutzlos« und »ontologisch überflüssig« für

20 21

Vgl. Birx 1982, 163. Vgl. Teilhard de Chardin 1965a, 272.

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das Sein Gottes erscheinen lässt. 22 In Abgrenzung vom »Paternalismus« des klassischen Ansatzes kann Teilhard in seinem Essay L’Étoffe de l’Univers das Verhältnis von Gott und Welt als eines der »wechselseitigen Vervollkommnung des Einen und des Vielen« bezeichnen. 23 In vielen Texten spricht er von der »Erfüllung Gottes«, die »erst in der Vereinigung an ihr Ziel kommt«. 24 Teilhards Panentheismus entspringt seiner Trinitätstheologie. 25 Demnach ist das »Sein der Welt in Gott« notwendigerweise ein Sein im dreieinigen Gott. In seinem Buch Panentheism – The Other God of the Philosophers bemerkt John Cooper, dass Teilhards Ontologie der ›Vielen im Einen‹ seine »Metaphysik der Vereinigung« 26 widerspiegelt, da gelte: »Sein heißt Vereinigen«. 27 Das heißt eben auch, dass Teilhard den Begriff der Schöpfung im Sinne der klassischen Theologie ablehnt und die traditionelle Vorstellung vom Schöpfungsakt als Vorstellung von einem katastrophalen »göttlichen Willkürakt« bezeichnet. Tiefgründig notiert er über seine Theorie einer ›Metaphysik der Vereinigung‹ in seinem Essay Comment Je Vois: Das Sein ist in gewisser Weise die Frucht der Selbstreflexion Gottes, nicht mehr in Gott, sondern außerhalb seiner, das Pleroma (wie der Heilige Paulus es genannt hätte) – das heißt, die Realität des teilhabenden Seins durch Anordnung und Totalisierung – kommt zustande als ein Echo oder eine symmetrische Ergänzung der Trinitarisierung. Es schließt gewissermaßen eine Lücke; es passt. […] Schöpfen heißt Vereinigen. 28

Anders gesagt, die Schöpfung ist für Teilhard ein Vorgang, in dem Gott innerhalb der Trinität ›Raum lässt‹ für die Einheit dessen, was er das Viele nennt. Wie wir später sehen werden, muss man den Ausdruck ›Raum‹ hier als Metapher verstehen und darf nicht annehmen, dass Gott seinem Wesen nach räumlich verfasst ist. Ferner meint Vgl. Barbour 1969, 151. »Une complétion fonctionnelle de l’Un et du Multiple«. Teilhard de Chardin 1963, 405. 24 Vgl. Teilhard de Chardin 1962, 45; Vgl. Teilhard de Chardin 1965b, 60, 228. 25 Vgl. Teilhard de Chardin 1969, 185–186, 208 (Anm.), 214 (Anm.). 26 Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 208–215. 27 Cooper 2006, 161. 28 »Fruit, en quelque manière, d’une Réflexion de Dieu, non plus en Lui, mais en dehors de Lui, la Plérômisation (comme eût dit saint Paul) – c’est-à-dire la réalisation de l’être participé par arrangement et totalisation – apparaît comme une sorte de réplique ou de symétrique à la Trinitisation. Elle vient combler un vide, en quelque façon. […] Créer, c’est unir«. (Teilhard de Chardin 1973, 210–211) 22 23

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Teilhard, dass die Einheit in der Vielheit in und durch Gott zuwege gebracht wird. Teilhard erläutert das so, dass Gott im Prozess der Trinitarisierung, in dem er sich mit sich selbst vereint, zugleich die Entstehung eines Gegensätzlichen stimuliert, und zwar am Gegenpol zu sich, den Teilhard als das Viele bezeichnet: Die selbständige Einheit am Pol des Seins: und als notwendige Folge umgibt es an der Peripherie das Viele – das reine Viele (mit Betonung des ›rein‹), bzw. das der Schöpfung zugängliche nihil, das nichts ist, das aber dennoch, durch die passive Potenz, geordnet (will sagen: vereint) werden zu können, eine Seinsmöglichkeit ist. 29

Teilhard bemerkt auch, dass Gott als selbständige Einheit sich unausweichlich in das Viele hineinbegibt, um es sich so einzuverleiben. 30 Deshalb ist Teilhards Schöpfungsbegriff wesentlich der Begriff einer ›Schöpfung durch Evolution‹ als eines langsam auf sein Ziel zusteuernden Vorgangs, 31 der gegenwärtig noch andauert 32 und den Gott durch das vollzieht, was Teilhard »schöpferische Vereinigung« nennt. In seinem Essay Mon Univers erläutert Teilhard seine Theorie so: Schöpferische Vereinigung ist der Gedanke einer Theorie, die folgenden Satz akzeptiert: In der gegenwärtigen Phase der kosmischen Evolution (der einzigen, die uns bekannt ist), geschieht alles, als würde das Eine durch die schrittweise Vereinigung des Vielen vollbracht – und als wäre das Eine desto vollkommener, je vollkommener es im Zentrum einer großen Vielheit steht. 33

In ihren Ausführungen zu Teilhards »schöpferischer Vereinigung« bemerkt Gloria Schaab, dass nach Teilhard »Gott kontinuierlich schöpferisch tätig ist durch eben den Prozess, den Gott selbst der Schöpfung eingebaut hat«. 34 Ergänzend hebt Ursula M. King ein panentheistisches Element in Teilhards Theorie der »schöpferischen Ver»L’Unité self-subsistante, au pôle de l’être ; et nécessairement, par suite, tout autour, à la périphérie, le Multiple : le Multiple pur (entendons bien), ou »Néant créable«, qui n’est rien, – et qui cependant, par virtualité passive d’arrangement (c’est-àdire d’union), est une possibilité«. (Teilhard de Chardin 1973, 209) 30 Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 211. 31 Vgl. Barbour 1969, 157. 32 Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 211. 33 »L’Union créatrice est la théorie qui admet que, dans la phase évolutive actuelle du Cosmos (seule connue de nous), tout se passe comme si l’Un se formait par unifications successives du Multiple, – et comme s’il était d’autant plus parfait qu’il centralise sous lui plus parfaitement un plus vaste Multiple«. (Teilhard de Chardin 1965b, 73) 34 Schaab 2010, 138. 29

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einigung« hervor, wenn sie schreibt, dass »das Viele Eines werden kann, nicht etwa durch Verschmelzung und Verlust der Identität, sondern vielmehr durch eine höhere Form von Vereinigung, welche die individuellen Elemente fördert, indem es sie fundamental vereinigt«. 35 In seinem Essay Le Buisson Ardent nennt Teilhard das kosmische Wechselspiel des Vielen mit dem Einen »die Diaphanie des Göttlichen im Herzen eines glühenden Universums, […] die göttliche Strahlung aus den Tiefen der flammenden Materie«. 36 Das heißt aber nicht, dass das Eine aus dem Vielen zusammengesetzt wäre. Teilhard macht das sehr deutlich, wenn er in Mon Univers schreibt, dass »schöpferische Vereinigung nicht die Gegensätze verschmilzt, die sie zusammenbringt. […] Sie bewahrt sie – sie vollendet sie sogar«. 37 Daher ist auch die Verwirklichung des Seins im Prozess der schöpferischen Vereinigung, eine Vereinigung des Vielen im Einen, nach Teilhard das Pleroma des Seienden im Omega-Punkt, 38 an dem Gott und die Welt schließlich eine organische Einheit bilden – eben das Pleroma. 39 In seinem Essay Comment Je Crois schlägt Teilhard den Gedanken eines Zusammenwachsens von Christus und dem Universum vor und vertritt einen »Pantheismus der Differenziertheit«. 40 Dadurch vermeidet er sowohl eine Identifikation von Gott und Welt im Prozess der Evolution als auch die Absorption der Schöpfung in Gott im Omega-Punkt. 41 Von Anfang an widersteht Teilhard konsequent einer pantheistischen Deutung seiner Weltanschauung. Vor allem betont er, dass er sich keine Evolution hin zum Geist vorstellen kann, die nicht in der Entwicklung einer allerhöchsten Person kulminiert. Daher kann der Kosmos im Allgemeinen, insbesondere aber das menschliche, personale Bewusstsein, nicht als Ergebnis eines evolutionären Prozesses mit irgendetwas vereint werden; sie müssen in irgendjemand ihre Vollendung finden. Wenn also der Eine (d. h. Gott) Person ist, dann wäre es aus Teilhards Sicht eine Illusion anzunehKing 2010, 16. »La Diaphanie du Divin au cœur d’un Univers ardent. – Le Divin rayonnant des profondeurs d’une Matière en feu«. (Teilhard de Chardin 1976, 22) 37 »L’Union créatrice ne fond pas entre eux les termes qu’elle groupe […] Elle les conserve : elle les achève même«. (Teilhard de Chardin 1965b, 74) 38 Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 209, 211. 39 Vgl. Teilhard de Chardin 1965b, 114. 40 Vgl. Teilhard de Chardin 1969, 149. 41 Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 200. 35 36

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men, dass das Viele nach Abschluss des gesamten Evolutionsprozesses im Einen aufgelöst und von diesem in finaler Konvergenz im Omega absorbiert werden könnte wie Salzkörner im Ozean. Zumindest für die menschliche Person, so schließt er, für das je einzelne Zentrum von Wahrnehmungen und Liebe also, »wird ihre je besondere Auflösung eine vertiefte Vereinigung sein. Für die menschliche Monade bedeutet die Verschmelzung mit dem Universum Hyper-Personalisierung«. 42 Zudem betont er, dass die Liebe wesentlich ist, z. B. in Comment Je Vois, wo er schreibt, dass nur die Liebe auf zentrische Weise alle Individuen zugleich im ultimativ personalisierenden Omega-Punkt vereinen kann. 43 Teilhard nennt dies wie gesagt einen christlichen »Pantheismus der Differenziertheit«. 44 Und natürlich kann wahre Liebe nur die Liebe zwischen Personen sein. So kommt es, dass Teilhard zufolge in der finalen Konvergenz im Omega das Viele seiner personalen Identitäten in einer differenzierten Einheit bewahrt und zugleich eintaucht in die vollkommen personale Beziehung der liebenden Einheit mit dem Einen. Barbour fasst Teilhards diesbezüglichen Punkt zusammen, indem er ausführt, dass »die höchste Wirklichkeit weder eine undifferenzierte Einheit noch eine unpersönliche Struktur, sondern eine allerhöchste Person ist«. 45 Eben wegen dieses Pantheismus der Differenziertheit, des Pleroma des Gott-ist-ganz-injedermann muss Teilhard meiner Ansicht nach als Panentheist angesehen werden. In gewissem Sinne ist der Gedanke der differenzierten Einheit des Vielen im Einen Ausdruck eines soteriologischen Panentheismus. Indem ich den Terminus ›soteriologischer Panentheismus‹ von Gregersen übernehme, 46 deute ich an, dass Teilhards Gott-ist-ganz-injedermann eine eschatologische Hoffnung ausdrückt. 47 Obwohl nämlich nach Teilhard Gottes Beziehung zur evolutionären Welt der Schöpfung organisch ist, 48 indem die Welt materiell verfasst und in»Sa manière à lui, de dissoudre, c’est d’unifier plus loin encore. Se fondre dans l’Univers pour la monade humaine, c’est être super-personnalisée«. (Teilhard de Chardin 1969, 137–138) 43 Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 202. 44 Vgl. Teilhard de Chardin 1963, 234. 45 Barbour 1969, 147. 46 Gregersen 2004, 21. 47 Vgl. 1 Kor. 15:28. 48 Barbour 1969, 157. 42

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karnatorisch an die kosmische Geschichte gebunden bleibt, 49 kann sie durch Gottes erlösenden Gnadenakt der Auferstehung ganz in differenzierter Einheit in Gott aufgehen, aber erst in der letzten Vollendung des »kosmischen Christus« im Omega-Punkt. 50 Abschließend lässt sich also sagen, dass der noch andauernde evolutionäre Prozess hin zum »vollen Pleroma«, 51 in dem die verkörperte Immanenz des transzendenten Gottes das Werden der Welt als einen zeitlichen Prozess steuert, anzeigt, dass die Welt zwar in Gott ist, aber noch nicht.

4.

Whiteheads bipolares Gott-Welt-Verhältnis

Die bekannteste Gestalt des Panentheismus, der bipolare Panentheismus oder bipolare Theismus, 52 der im Rahmen der Prozessmetaphysik entwickelt wurde, ist inspiriert durch das Verständnis des GottWelt-Verhältnisses bei Whitehead. Obwohl auch er den Ausdruck Panentheismus nicht verwendet, kann es keinen Zweifel daran geben, dass Whiteheads Gotteslehre die Notwendigkeit einer wechselseitigen Abhängigkeit von Gott und Welt aufzeigen soll. 53 Wie schon erwähnt, war es denn auch Whiteheads Schüler Charles Hartshorne, 54 der den Begriff des Panentheismus in Fortführung der Prozessphilosophie seines Lehrers bekannt gemacht hat, 55 und zwar im Rahmen einer durch und durch sozialen Fassung des Gottesbegriffs. 56 Seitdem verfügen wir über einen ›bipolaren Prozesstheismus‹ oder ›Prozesspantheismus‹, in dem die Gotteslehre panentheistisch ausformuliert wird. 57 In Prozess und Realität unterscheidet Whitehead selbst scharf zwischen Gott und der Welt und bezeichnet diese Unterscheidung als Bipolarität: »Gott und die Welt sind die im Kontrast stehenden Gegensätze«, und »Gott und Welt stehen einander gegenüber«. 58 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Teilhard de Chardin 1962, 46. Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 218. Cooper 2006, 160. Clayton 2004, 82. Vgl. Gregersen 2004, 22. Vgl. Cooper 2006, 177, 183. Vgl. Clayton, Peacocke 2004, xi. Vgl. Gregersen 2004, 32. Vgl. Gregersen 2004, 21–22. PRd, 621, 622.

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Dennoch sind alle Dinge »in« Gott, und er ist »in« allen Dingen: Es »verkörpert jedes zeitliche Ereignis Gott und wird in Gott verkörpert«. 59 Gregersen führt aus, dass die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Gott und Welt notwendig ist, da die Welt ebenso zu Gottes Sein beiträgt wie Gott zum Sein der Welt. 60 Diese Sichtweise wird von Whitehead selbst uneingeschränkt bestätigt: Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott beständig ist und die Welt fließend, wie zu behaupten, daß die Welt beständig ist und Gott fließend. Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott eins ist und die Welt vieles, wie zu behaupten, daß die Welt eins ist und Gott vieles. […] Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott die Welt transzendiert, wie zu behaupten, daß die Welt Gott transzendiert. Es ist genauso wahr zu sagen, daß Gott die Welt erschafft, wie zu behaupten, daß die Welt Gott erschafft. 61

Diese Gedanken resümierend betont Gregersen, dass »Gott und die Welt koexistieren und einander wechselseitig bestimmen«. 62 Dessen ungeachtet verdeutlicht Whitehead in Religion in the Making, dass die Welt ohne Gott nicht existieren könnte; trotzdem aber sei Gott nicht die Welt, sondern dasjenige, was die Welt zusammenhält. 63 Der Schlüssel zum Verständnis der Beziehung Gottes zur Welt liegt aber in Whiteheads bipolarem Gottesbegriff. Whitehead sagt sehr deutlich, dass »Gott […] ebenso ein wirkliches Einzelwesen« ist, 64 wenngleich ein besonderes. Er fügt hinzu, dass »die Natur Gottes, analog zu der aller wirklichen Einzelwesen, bipolar« ist. 65 Mit anderen Worten, Gottes Bipolarität verhält sich analog zur Bipolarität endlicher wirklicher Einzelwesen. 66 Daher hängt die Bipolarität zwischen Gott und der Welt wesentlich mit der Bipolarität der zwei Naturen des einen Gottes zusammen. 67 Dieser Punkt erhellt zugleich die

PRd, 622. Vgl. Gregersen 2004, 22. 61 PRd, 621. 62 Gregersen 2004, 23. 63 Vgl. RM, 158–159. 64 PRd, 58. 65 PRd, 616. 66 Whitehead sagt: »ein wirkliches Einzelwesen [ist] immer bipolar, hat seinen physischen und seinen geistigen Pol; und selbst die physische Welt läßt sich nur angemessen verstehen, wenn man ihre andere Seite mit einbezieht, den Komplex von geistigen Vorgängen«. Vgl. PRd, 438. 67 Bracken 2014a, 5. 59 60

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Transzendenz und Immanenz Gottes im kosmischen Schöpfungsprozess. In Teil V von Prozess und Realität schreibt Whitehead: Daher ist die Natur Gottes, analog zu der aller wirklichen Einzelwesen, bipolar. Er hat eine uranfängliche und eine folgerichtige Natur. Die Folgenatur Gottes ist bewußt; und sie ist die Realisierung der wirklichen Welt in der Einheit seiner Natur und durch die Transformation seiner Weisheit. Die Urnatur ist begrifflich, die Folgenatur ist das Verweben von Gottes physischen Empfindungen auf der Grundlage seiner uranfänglichen Begriffe. 68

Mit anderen Worten, Gottes Urnatur schließt alle idealen Möglichkeiten ein, welche von den wirklichen Ereignissen kontinuierlich aufgenommen werden (auf diese Weise ist Gott in der Welt). 69 Seine Folgenatur »prehendiert« das gesamte Universum wirklicher Ereignisse und deren gesamte Vergangenheit (so dass die Welt in dieser Hinsicht in Gott ist). 70 Des Weiteren gibt es, wie Bracken erläutert, in Gott sowohl eine zeitlose Anschauung der Welt »zeitloser Gegenstände«, abstrakter Formen der Existenz und Aktivität aller zeitlichen wirklichen Einzelwesen in ihren dynamischen Wechselbeziehungen, als auch eine Prehension aller Ereignisse im Universum von Augenblick zu Augenblick. 71 Dennoch sind Gott und die Welt die polaren Gegensätze des kosmischen Prozesses, und was sie miteinander verknüpft, was sie zusammenhält, sind, wie Whitehead sie nennt, die »metaphysischen Gegebenen«, die »Kreativität« und das »extensive Kontinuum«. Nach Whitehead erfüllt »die Kreativität ihre höchste Aufgabe […], die getrennte Vielheit, mit ihren im Gegensatz stehenden Verschiedenheiten, in die sich konkretisierende Einheit umzuwandeln, deren Verschiedenheiten Kontraste bilden«. 72 Es ist aber klar, dass Kreativität für Whitehead, qua metaphysische Gegebenheit, selbst kein wirkliches Einzelwesen, sondern eher ein Prinzip der Aktivität ist. Whitehead setzt Kreativität als »bloß Gegebenes« oder »nackte Tatsache«. 73 Sie ist zugleich das notwendige Prinzip oder Gesetz der allgemeinen Beschreibung der Existenz Gottes und aller zeitlichen wirklichen Einzelwesen. Whitehead versichert, dass »Gott die uranfängliche Instanz 68 69 70 71 72 73

PRd, 616. Vgl. PRd, 614. Vgl. PRd, 616. Vgl. Bracken 2014a, 5. PRd, 621. PRd, 96.

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dieser Kreativität ist und deshalb auch die uranfängliche Bedingung, die ihre Aktion bestimmt«. 74 In Abenteuer der Ideen nennt Whitehead die Kreativität auch »einen tätigen Faktor, der der ursprüngliche Grund für das Ereignis der Erfahrung« ist. 75 In einem Kommentar zu dieser Passage sagt André Cloots, dass Whitehead Kreativität »nicht bloß als eine, sondern als die transzendente Tätigkeit denkt, welche das Ganze der Wirklichkeit durchdringt und das, was ist, transzendiert, dennoch aber vom Seienden getragen wird und so zu immer neuem Werden führt«. 76 Zusammen mit der Kreativität verbindet das extensive Kontinuum – eine weitere metaphysische Gegebenheit bei Whitehead und ein weiteres metaphysisches Prinzip – Gott und die endliche Welt. Nach Whitehead ist das extensive Kontinuum ein relationaler Komplex, der »der ganzen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Welt« unterliegt. 77 Es ist ein Komplex von Entitäten, »die durch die vielfältigen verwandten Beziehungen des Ganzen zum Teil, des Überlappens, aus dem sich gemeinsame Teile ergeben, der Berührung und andere, die sich von diesen primären Beziehungen herleiten, vereinigt werden«. 78 Im Zuge seiner Deutung von Kreativität und extensivem Kontinuum als zwei unterscheidbaren, aber untrennbaren Aspekten des Urgrundes des organischen Universums führt Jorge Luis Nobo aus, dass »dieser Grund, sofern er das Wodurch alles Werdens ist, ›Kreativität‹ genannt wird, sofern er aber das Worin jeder wirklichen, mit allem verbundenen Existenz ist, heißt er ›Extension‹« 79 Im Kontext der Gott-Welt-Beziehung können Kreativität und extensives Kontinuum demnach einerseits als »Lebensprinzipien des Grundes sowohl des göttlichen Seins und aller endlichen wirklichen Einzelwesen«, andererseits aber als »notwendige Bedingungen dynamischer Wechselbeziehungen« 80 zwischen den wirklichen Einzelwesen im Ganzen des organischen Universums verstanden werden. Abschließend können wir sagen, dass Whiteheads bipolarer Panentheismus nicht einfach das Sein der Welt in Gott lehrt, sondern PRd, 411. Creativity is a »factor of activity which is the reason for the origin of that occasion of experience.« AI, 179. 76 Cloots 2001, 42. 77 PRd, 138. 78 PRd, 138. 79 Nobo 1986, 256. 80 Bracken 1995, 16. 74 75

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vielmehr die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Gott und Welt. Einerseits hängt die Welt von Gott ab, weil er, indem er allem Form und Gestalt gibt, zugleich der Weltschöpfer ist. 81 Als ursprüngliche Lockung des Gefühls bietet er der Welt eine Hierarchie möglicher Formen an. Eine davon wird von jedem wirklichen Einzelwesen als seine subjektive Form ausgewählt. Die erreichte Form ist so die Frucht einer gemeinsamen Anstrengung. Andererseits hängt Gott von der Welt ab, weil Gottes wirkliche physische Erfahrung 82 auf Interaktionen mit zeitlichen wirklichen Einzelwesen angewiesen ist. Whitehead bekräftigt diesen Gedanken, indem er sagt: »Einer Seite von Gottes Natur liegt seine begriffliche Erfahrung zugrunde. […] Die andere Seite entsteht zusammen mit physischer Erfahrung, die sich von der zeitlichen Welt herleitet, und wird dann mit der uranfänglichen Seite integriert«. 83 Er stellt auch klar, dass »Gott […] sich in seinem Vervollständigungsprozess aus begrifflicher Erfahrung [entwickelt], wobei dieser Prozess durch folgerichtige, physische Erfahrung angeregt wird, die ihre Wurzel in der zeitlichen Welt hat«. 84 Trotz Gottes Abhängigkeit von der Welt bewahrt der bipolare Panentheismus aber sowohl die wesentlich ewige Natur Gottes als auch die wesentlich zeitliche Natur des Prozesses der Gott-Welt-Beziehung. Philip Clayton schreibt dazu in seinem Aufsatz Panentheism in Metaphysical and Scientific Perspective, dass der bipolare Panentheismus auf eine dialektische Spannung hinausläuft: »weder Einheit noch Verschiedenheit, sondern Einheit-in-Verschiedenheit. Die Welt ist weder ununterscheidbar von Gott noch (vollkommen) ontologisch getrennt von Gott«. 85 Daraus ziehe ich die Schlussfolgerung, dass der bipolare Panentheismus auf den Gedanken eines ewigen und niemals endenden Prozesses Gottes und der Welt hinausläuft, ohne Konvergenz und ohne Vollendung der Geschichte; die Welt ist zugleich immer und niemals ›in‹ Gott.

Vgl. Gregersen 2004, 31. Gottes ›physische Erfahrung‹ der Welt darf nicht als ›physisch‹ im gewöhnlichen Sinn aufgefasst werden; bei Whitehead ist ›physische Erfahrung‹ oder ›physische Prehension‹ vielmehr Gottes Prehension vergangener und gegenwärtiger wirklicher Einzelwesen in der zeitlichen Welt. 83 PRd, 616. 84 PRd, 617. 85 Clayton 2004, 82. 81 82

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Die Komplementarität von Polarität und Pleroma im Prozess-Panentheismus

5.

Die Komplementarität von Teilhards Pleroma und Whiteheads Polarität

Aus obiger Skizze geht klar hervor, dass Teilhards Pleroma und Whiteheads Polarität stark divergierende Konzeptionen des Panentheismus sind. Dennoch haben beide ohne Zweifel enorm zu einem besseren Verständnis des Gott-Welt-Verhältnisses beigetragen. Man darf auch nicht unterschlagen, dass es neben den Unterschieden auch überraschende Gemeinsamkeiten dieser zwei Sichtweisen des Verhältnisses von Gott und Welt gibt. Erstens weisen beide entschieden jeden Dualismus in der Wirklichkeitsdeutung zurück und vertreten die Auffassung, dass Gott und die Welt eine gemeinsame Wirklichkeit konstituieren, wie wir gesehen haben: Teilhards Pleroma als das gegliederte Ganze der kosmischen Wirklichkeit und Whiteheads Polarität als die untrennbar miteinander verbundenen gegensätzlichen Pole des einen kosmischen Prozesses. Zweitens stimmen sie in dem Anspruch überein, die Gott-WeltBeziehung in beiden Richtungen auszuleuchten. 86 Während Teilhard diesbezüglich von einer »wechselseitigen Vervollkommnung des Einen und des Vielen« spricht, 87 schreibt Whitehead, dass sie »füreinander das Instrument des Neuen« bilden. 88 Drittens sehen wir auch eine Ähnlichkeit zwischen Teilhard und Whitehead, was ihrer beider Deutungen der Dialektik zwischen der inneren Dynamik Gottes und dem dynamischen Gott-Welt-Verhältnis betrifft. Anders ausgedrückt, die dialektische Dynamik in Gott weitet sich gewissermaßen auf das Gott-Welt-Verhältnis aus. Bei Teilhard etwa findet die Dialektik der ›Metaphysik der Einheit‹ (d. h. der Vielheit, die in Einheit übergeht), die in der Trinitarisierung des tripersonalen Gottes wirksam ist, ihren »Widerhall« in Gottes schöpferischer Beziehung zur Welt (als schöpferische Einheit), nämlich als Vereinigung des Vielen im Einen. 89 Auch bei Whitehead spiegelt sich die dialektische Bipolarität der Urnatur und der Folgenatur Gottes in der Bipolarität von Gott und Welt. 90 Tatsächlich ist demnach jedes »wirkliche Einzelwesen immer bipolar, hat seinen physischen und Vgl. Gregersen 2004, 22. »Une complétion fonctionnelle de l’Un et du Multiple«. Teilhard de Chardin 1963, 405. 88 PRd, 623. 89 Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 210–211. 90 Vgl. PRd, 616. 86 87

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seinen geistigen Pol«; 91 Gott ist, wie wir gesehen haben, als wirkliches Einzelwesen (sui generis) ebenfalls bipolar. Daher muss die Bipolarität von Gott und Welt als Erweiterung der Bipolarität innerhalb jener ursprünglichen wirklichen Einzelwesen gesehen werden, die wir Gott nennen. Viertens sehen sowohl Teilhard als auch Whitehead Schöpfung als einen kontinuierlichen Prozess, was wichtige Implikationen für Gottes Beziehung zur Welt hat. Teilhard schlägt in seinem Essay Le Milieu Mystique vor, die Schöpfung oder kreative Vereinigung nicht als einen in sich abgeschlossenen Akt, sondern als einen noch immer fortdauernden Prozess anzusehen: »Die Schöpfung hat niemals aufgehört … sie dauert noch an«. 92 Während Whitehead einerseits Teilhards Konzeption einer fortdauernden Schöpfung teilt, geht er andererseits einen Schritt weiter als dieser und weist die Idee einer creatio ex nihilo explizit zurück. Für Whitehead sind Gott und die Welt ewig. Deswegen »steht Gott in einer notwendigen Beziehung zu einer notwendig schon existierenden Welt«. 93 Dennoch beharrt Whitehead darauf, dass Gott der ontologische Primat gegenüber der Welt insofern zukommt, als er das primäre wirkliche Einzelwesen ist. 94 Gott ist der Grund sowohl der Ordnung als auch der Neuheit jedes neuen Ereignisses, obwohl die Entscheidung zu existieren von dem Einzelwesen selbst gefällt wird. Ungeachtet dieser Ähnlichkeiten sind die Unterschiede zwischen Teilhards und Whiteheads Sichtweisen auf das Gott-Welt-Verhältnis ohne Zweifel enorm, was zur Folge hat, dass sie zunächst sogar unvereinbar zu sein scheinen. Teilweise haben diese Unterschiede meiner Ansicht nach mit Stil und Methode ihres metaphysischen Denkens zu tun. So weist Barbour in seinem Aufsatz Teilhard’s Process Metaphysics darauf hin, dass Teilhard bei der Darstellung des Gott-Welt-Verhältnisses häufig mit anschaulichen Analogien und poetischen Bildern arbeitet, während Whitehead sorgfältig definierte abstrakte Begriffe verwendet. 95 Daneben kann man aber auch sagen, dass Teilhard das Gott-Welt-Verhältnis vorrangig theologisch betrachtet, während Whitehead es von einem strikt philosophischen Standpunkt PRd, 438. »La Création n’a jamais cessé. […] Elle dure encore«. Teilhard de Chardin 1965a, 149. 93 Gregersen 2004, 31. 94 Vgl. PRd, 613–614. 95 Vgl. Barbour 1969, S. 137. 91 92

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aus bedenkt. Teilhard reagiert dabei auf, macht aber zugleich Gebrauch von, Entwicklungen der Evolutionsbiologie seiner Zeit, um so die moderne Wissenschaft mit dem katholischen Glauben zu versöhnen. Um dieses Ziel zu erreichen, konzentriert er sich auf die Einheit des kosmischen Prozesses als ganzen, wobei er von einer Eschatologie der teleologischen Ausrichtung dieses Prozesses auf den auferstandenen Christus hin ausgeht. 96 Im Gegensatz dazu ist es Whiteheads vornehmstes Ziel, wissenschaftsphilosophisch betrachtet, 97 sich ganz bewusst von einem materialistischen Determinismus zu befreien, wie ihn der vorherrschende ›wissenschaftliche Materialismus‹ seiner Zeit vertritt. 98 Whitehead unterzieht den wissenschaftlichen Materialismus einer radikalen Kritik, 99 indem er ihm vorwirft, auf dem Niveau des frühmodernen wissenschaftlichen Denkens stehengeblieben zu sein, dem Wirklichkeit als aus Materiebausteinen zusammengesetzt gilt, die einfach irgendwie in Raum und Zeit lokalisiert sind 100 und zueinander in bloß äußerlichen Beziehungen stehen. 101 Deshalb betont er in seinem metaphysischen Ansatz im Allgemeinen und in seiner Theologie im Besonderen den Gedanken des »kreativen Fortschreitens ins Neue« 102 als das jeder Wirklichkeit inhärente Hauptmerkmal. Zudem hebt er die Rolle von Vielfalt, Vielheit und Kontinuität für die kosmische Wirklichkeit hervor, die aus »wirklichen Einzelwesen« besteht, die wiederum durch »wirkliche Ereignisse« konstituiert werden. 103 Dessen ungeachtet erkennt er einen allgemeinen, aber a-teleologischen Zweck der Welt an, wenn er zugesteht, dass »das Wachstum einer komplexen strukturierten Gesellschaft als Beispiel für den allgemeinen Zweck, der die Natur durch-

Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 196–203. Vgl. Lowe 1962, 12. 98 Bracken 2010, 164. 99 Vgl. Cloots 2001, 41. 100 Vgl. SMW, 52. 101 Vgl. Bracken 2010, 164. 102 Vgl. PRd, 74, 407, 622. 103 Wenn er manchmal sagt, dass ›wirkliche Einzelwesen‹ ›wirkliche Ereignisse‹ sind, betont Whitehead, dass es sich um »Vorgänge, Vorkommnisse oder Ereignisse handelt anstatt um substantielle Entitäten, die unverändert die Zeit überdauern«. Dessen ungeachtet vertritt er die Auffassung, dass es nur aktuale Einzelwesen gibt, wobei es mit Gott ein besonderes wirkliches Einzelwesen gibt, das sich von den wirklichen Ereignissen unterscheidet, weil es unvergänglich ist. (Vgl. Cobb 2008, 15–16; Vgl. PRd, 57, 63) 96 97

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zieht«, dienen kann. 104 Anders als Teilhard erwartet er aber keine Konvergenz des Kosmos insgesamt und keine abschließende Vollendung der Geschichte. 105 Als Randnotiz lässt sich noch hinzufügen, dass beide Denker stark von Bergson beeinflusst waren, 106 aber verschiedene Wege gewählt haben, um dessen Gedanken metaphysisch weiterzudenken. Allerdings ist weder der eine noch der andere Ansatz ein wasserdichtes panentheistisches System. Was Teilhard angeht, so denkt er – aus dem Bestreben heraus, die Individualität bewusster Geschöpfe zu bewahren und dabei eine Substanz- oder besser Monadenmetaphysik 107 bzw. zumindest eine entsprechende Terminologie zu verwenden – das Sein der Welt in Gott als raumzeitliche Existenz einer Ansammlung gleichwertiger ›Bewusstseinskörner‹ 108 (entweder als Menschheit oder vielleicht als materielle Schöpfung insgesamt) in einem Pleroma, welches aus meiner Sicht als eine Art Behälter gedacht werden muss. Obendrein läuft Teilhards Verständnis der Trinität, die dem geschaffenen Universum ›Raum lässt‹, Gefahr, Gott räumlich aufzufassen, wie ich oben bereits angedeutet habe. Zudem gesteht Teilhard in der letzten Vollendung des Kosmos im Omega-Punkt, die er in Comment Je Vois detailliert beschreibt, 109 allein dem menschlichen Bewusstsein in der Noosphäre Individualität zu, 110 bleibt aber, wie Bracken beobachtet, vage mit Bezug auf die nicht-menschliche Welt. 111 Eine der Hauptschwächen bei Whitehead ist es, im Rahmen seines bipolaren Theismus die dialektische Natur des Verhältnisses nicht genügend auszuarbeiten, wie Clayton betont. 112 Er hätte ohne Abstriche an der Zweiheit der zwei Pole in Gott ein drittes Moment (oder Element) hinzufügen können, um die Beziehung zwischen ihnen dynamischer zu gestalten. Ob es nun um die zwei gegensätzlichen Pole in der Natur Gottes geht oder um Gott und die Welt als die zwei PRd, 196. Vgl. Barbour 1969, 158. 106 Vgl. PRd, 23. 651; Vgl. Lowe 1962, 257; Vgl. Teilhard de Chardin 1959, 22; Vgl. Cuénot 1965, 35. 107 Vgl. Teilhard de Chardin 1969, 137. 108 Vgl. Teilhard de Chardin 1969, 155–159. 109 Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 200–203. 110 Vgl. Teilhard de Chardin 1981, 181–185. 111 Vgl. Bracken 2010, 165. 112 Vgl. Clayton 2004, 82–83. 104 105

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gegensätzlichen Pole der kosmischen Wirklichkeit, es gibt bei Whitehead keinen Raum für eine Synthese, welche aus der dialektischen Spannung herausführt. Es ist aber, wie Lewis S. Ford argumentiert, interessant zu sehen, dass Whitehead dort, wo er den dreifaltigen Charakter der wirklichen Einzelwesen erörtert, dies auch auf den dreifaltigen Charakter der Urnatur des wirklichen Einzelwesens, d. h. auf Gott bezieht. 113 So entwirft Whitehead im zweiten Kapitel von Teil II: Diskussionen und Anwendungen von Prozess und Realität die dreifaltige Natur Gottes als ›Urnatur‹, ›Folgenatur‹ und ›superjektiv‹. 114 In Teil V: Abschließende Interpretation versucht er dagegen nicht, die superjektive Natur Gottes weiter zu erkunden, die »die Eigenschaft des pragmatischen Werts seiner spezifischen Erfüllung [hat], die die transzendente Kreativität in den verschiedenen zeitlichen Beispielen qualifiziert«. 115 Leider zieht er es vor, bei der Bipolarität von Urnatur und Folgenatur Gottes zu bleiben, ohne systematisch auf ein drittes Element zurückzugreifen, welches die Beziehung zwischen beiden vermitteln könnte. Als Folge davon bleiben Gott und die Welt für immer Gegensätze. Auch Whiteheads Begriff der Kreativität, mit dem wir uns schon oben auseinandergesetzt haben, wurde von verschiedenen Seiten aus angegriffen, aber auch unterschiedlich interpretiert, wie Cloots ausführt. 116 So argumentiert Bracken in seinem Aufsatz Panentheism from A Trinitarian Perspective, dass Whitehead, indem er Kreativität und extensives Kontinuum als »metaphysische Gegebene« annimmt, aus denen Gott und die Welt schöpferische Impulse für Neues empfangen, Gefahr läuft, Gott zu einem ebensolchen ›Geschöpf‹ der Kreativität zu machen wie alles andere. Bracken meint, dass Whitehead es versäumt hat, Kreativität in Gott »als Ko-Konstituens der göttlichen Natur, als ontologischen Grund für Gottes eigene Existenz« zu verankern. 117 Er selbst schlägt daher vor, Kreativität »primär in Gott« anzusiedeln. »Mit anderen Worten, sie ist in erster Linie die göttliche Natur, das, wodurch Gott als personales Wesen existiert, und erst in zweiter Linie das Prinzip der Existenz der Welt endlicher wirklicher Ereignisse«. 118 Man kann Bracken jedoch entgegenhalten, dass 113 114 115 116 117 118

Vgl. Ford 2000, 46–48. Vgl. PRd, 174. PRd, 174. Vgl. Cloots 2001, 36–37, 39. Bracken 1995, 17. Bracken 1995, 15.

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Whitehead Kreativität keineswegs unter den Kategorien der Existenz subsumiert, 119 sondern es schlicht als »metaphysisch Gegebenes« unter der Kategorie des Elementaren aufführt. Ferner kann man mit Victor Lowe argumentieren, dass Kreativität nicht als eine Kraft verstanden werden darf, die unabhängig von ihren tatsächlichen Verkörperungen existieren könnte, sondern als »ewige Aktivität, als zugrunde liegende Verwirklichungsenergie« gedacht werden muss. 120 Cloots weist ferner darauf hin, dass Kreativität nach Whitehead ein sowohl deskriptiver als auch explanatorischer Begriff ist, wenn er im Zusammenhang mit Fragen einer »Metaphysik des Werdens« gebraucht wird: »Beharren und Erneuerung, das ›Dass‹ des Werdens, aber auch sein ›Was‹, seine Absolutheit, aber auch seine Relationalität«. 121 Ungeachtet der Grenzen ihres jeweiligen Ansatzes verfügen also, wie unsere Diskussion gezeigt hat, sowohl Teilhard als auch Whitehead über wertvolle Einsichten in die Gott-Welt-Beziehung. Dennoch bedürfen beide Ansätze der Revision. Ich schlage vor, durch eine Kombination beider Ansätze zu einem ausgewogenen Panentheismus zu gelangen. Im folgenden Abschnitt werde ich daher eine Revision von Teilhards und Whiteheads Metaphysik unter drei Leitgedanken skizzieren: (1) Teilhards tripersonaler Ansatz kann die bloße Polarität bei Whitehead ersetzen. (2) Whiteheads systemorientierter Ansatz ist Teilhards Pleroma-Gedanken überlegen. (3) Ein Aktivitätsfeld-Ansatz kann dazu dienen, sowohl Teilhards als auch Whiteheads Deutung des Gott-Welt-Verhältnisses aufzuklären.

Teilhards tripersonaler Ansatz anstelle von Whiteheads Bipolarität zwischen Gott und Welt Wir haben gesehen, dass Teilhard lehrt, dass Gott nicht bloß personal, sondern tripersonal ist. 122 Aus seiner Sicht ist Gott kein individuelles Einzelwesen, das in einer ewigen Beziehung zur Welt stünde (wie bei Whitehead), sondern eher eine Gemeinschaft aufeinander bezogener Erfahrungssubjekte, welche innerhalb ihrer eigenen Existenz und 119 120 121 122

Vgl. Ford 2000, 245. Lowe 1962, 36. Cloots 2001, 50. Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 210–211.

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Aktivität »Raum« für die Entstehung des geschaffenen Universums lassen. 123 Man muss vielleicht nicht wiederholen, dass die Raummetapher hier nicht impliziert, dass es einen räumlichen Zusammenhang zwischen Gott und der Welt oder umgekehrt gäbe. Wie Gregersen bemerkt, beruht der »Raum des Schöpfers nicht auf dem geschaffenen Raum-Zeit-Kontinuum; vielmehr ist die raumzeitliche Existenz der Welt ermöglicht durch und enthalten in Gottes unvorstellbarer ›Raumhaftigkeit‹«. 124 Mit anderen Worten, der tripersonale Gott und die geschaffene Welt haben aufgrund eines göttlichen Ratschlusses dieselbe Struktur des Pleroma. 125 Im Lichte dieser Deutung stellt sich Teilhards panentheistische Ontologie des ›Vielen im Einen‹ 126 gegenüber der dialektischen Beziehung von Gott und Welt bei Whitehead als überlegene Lösung des Problems dar, Gott und die Welt zueinander in Beziehung zu setzen. Erst so kann man sagen, dass die geschaffene Welt in Gott existiert und zugleich als endliche tätige Entität von Gott verschieden ist. 127 Auch können wir im Lichte von Teilhards Gedanken einer synthetisierenden Dynamik der Relationalität der drei Personen Gottes (was einschließt, dass Gott innerhalb seiner Trinität »Raum« lässt für die Einheit der Welt in ihrer Vielheit), die Spannung besser verstehen, die zwischen der Urnatur und der Folgenatur Gottes besteht: Wenn man Gott relational versteht, ›geht seine Folgenatur hervor‹ aus seinem Verhältnis zur Welt, indem er jedes endliche wirkliche Einzelwesen in der zeitlichen Welt erfasst. In der Komplexität dieser Beziehung unterscheidet sich Gott gewissermaßen von sich selbst und transzendiert seiner Urnatur nach die Welt.

Whiteheads systemorientierter Ansatz anstelle von Teilhards Pleroma des komplexen Ganzen Ein Rückgriff auf Whiteheads Begriff der Gesellschaft kann dagegen helfen, Teilhards Verständnis des kosmischen Prozesses hin zum Pleroma zu vertiefen. Whitehead versteht unter Gesellschaften, die er

123 124 125 126 127

Mendonca 2015, 755. Gregersen 2004, 20. Vgl. Teilhard de Chardin 1973, 210–211. Cooper 2006, 161. Vgl. Bracken 2010, 166.

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als Vielheiten dynamisch miteinander vernetzter wirklicher Ereignisse definiert, 128 »dauerhafte Gegenstände«, die ein »gemeinsames Formelement« kennzeichnet. 129 Ferner schreibt er unmissverständlich: »In der organistischen Philosophie gilt nicht die ›Substanz‹ als dauerhaft, sondern die ›Form‹. Formen unterliegen sich ändernden Relationen; wirkliche Einzelwesen ›vergehen stetig‹, wenn man sie unter dem Aspekt der Subjektivität betrachtet; aber objektiv sind sie unsterblich«. 130 Dessen ungeachtet assoziiert er den Begriff des ›gemeinsamen Formelements‹ als des wesentlichen Merkmals von Gesellschaften mit dem aristotelischen Begriff der ›substantiellen Form‹. 131 Allerdings hat Whitehead den Begriff der Gesellschaft nicht hinreichend deutlich entwickelt, ungeachtet seiner Kennzeichnung von Gesellschaften als Umgebung. 132 In seinem kürzlich erschienenen Buch The World in the Trinity: Open-Ended Systems in Science and Religion entwickelt Bracken eine systemorientierte Spielart des Panentheismus, wobei er Whiteheads Begriff der Gesellschaft revidiert. 133 Bei Bracken besteht die kosmische Wirklichkeit aus Systemen, die auf verschiedenen Niveaus des allumfassenden Systems des göttlichen Lebens angesiedelt sind. Er führt aus, dass Gott weder eine transzendente individuelle Entität außerhalb der Welt ist (wie in der klassischen Metaphysik) noch einfach das notwendige Einheitsprinzip des kosmischen Prozesses (wie in Whiteheads Kosmologie), sondern vielmehr das allumfassende System eines ganz besonderen Prozesses innerhalb einer Welt, die aus hierarchisch geordneten Systemen oder Prozessen besteht. 134 Nun kann Teilhards dreieiniger Gott in einem solchen systemorientierten Ansatz als fortlaufender Prozess oder als ein System verstanden werden, innerhalb dessen die drei göttlichen Personen Subprozesse oder Subsysteme sind, die eine göttliche Gemeinschaft bzw. ein System oder einen Prozess höchster Stufe bilden. Im Lichte eines solchen Prozessverständnisses kann die Analogie des Seins von Gott und Geschöpfen in der klassischen Metaphysik in eine Analogie des

128 129 130 131 132 133 134

Cobb 2008, 28–29. Vgl. PRd, 84, 86. PRd, 76. PRd, 84. Vgl. PRd, 178. Vgl. Bracken 2014b, 46–47. Vgl. Bracken 2014b, 76.

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Werdens von Gott und Geschöpfen transformiert werden. 135 Zudem kann man, wie schon Whitehead in Prozess und Realität es tut, behaupten, dass der Gottesbegriff nicht von den Kategorien des metaphysischen Systems ausgenommen ist, sondern vielmehr deren vornehmste Exemplifikation ist. 136 Als ganz besonderer Prozess ist die göttliche Gemeinschaft ihrer Natur nach nicht vor allem eine Entität, sondern eine Aktivität. Gott muss vor allem als primäre ewige Aktivität verstanden werden und erst dann als Entität. Die primäre Aktivität der Trinität als göttlicher Gemeinschaft ist es, Einheit aus Vielheit zu schaffen. 137 In ähnlicher Weise argumentiert Gregersen für einen kommunikativen und systemorientierten Zugang zum GottWelt-Verhältnis. Er schlägt vor, die drei trinitarischen Personen aufzufassen als »strukturierte Formen innergöttlicher Aktivität, die sich in die geschaffene Welt hinein ausweiten«, im Zuge einer göttlichen Kommunikation, die »nicht hierarchisch von Gott abwärts zur Menschheit geordnet ist, sondern […] ›heterarchisch organisiert‹« ist. 138 Ferner erläutert Bracken, dass im Rahmen seines systemorientierten Paradigmas des Einen und des Vielen »das Eine nicht als Entität höherer Stufe verstanden werden darf wie im klassischen Paradigma, sondern als synthetisierende Aktivität, die das empirisch Viele in einer fortschreitend komplexeren und weiterreichenden Synthese miteinander verbindet«. 139

Ein Aktivitätsfeld- Ansatz zur Deutung des Gott-Welt-Verhältnisses Zudem führt Bracken in seinem Aufsatz Teilhard, Whitehead and a Metaphysics of Intersubjectivity aus, dass der Begriff des Aktivitätsfelds 140 uns helfen kann, Whiteheads Konzept der strukturierten Gesellschaft mit Teilhards Konzeption der Noosphäre zu verbinden, um so das Gott-Welt-Verhältnis zu erläutern. In einem früheren Werk, The One in the Many: A Contemporary Reconstruction of the GodWorld Relationship, stellt Bracken klar, dass der Begriff des Feldes zwar der Quantenphysik entstammt, hier aber eher in einem philoso135 136 137 138 139 140

Vgl. Bracken 2014b, 87. Vgl. PRd, 613. Vgl. Bracken 2014b, 87. Gregersen 2013, 411. Bracken 2009, 180. Vgl. Bracken 2010, 168.

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phischen und nicht in einem strikt physikalischen Sinn verwendet wird. Er fügt erläuternd hinzu, dass der Begriff des Feldes, »richtig verstanden, in vielen Hinsichten dem klassischen Begriff der Substanz als dem zugrundeliegenden Kontinuitäts- oder Beharrlichkeitsprinzips der philosophischen Kosmologie entspricht«. 141 Der philosophische Begriff des Aktivitätsfeldes bezeichnet jedoch unbestreitbar seinem Wesen nach Relationen, und demnach sind es Relationen, die das Entstehen von Entitäten ermöglichen und diese als Erfahrungssubjekte in einem übergreifenden Nexus zueinander in Beziehung setzen. Bracken führt weiter aus, dass Felder überlappen und sich überlagern können, ohne dadurch ihre individuelle Identität als unterschiedliche Aktivitätsfelder einzubüßen. 142 Zudem verändern sich Aktivitätsfelder mit der Zeit, da sie ja bestimmt sind durch ihre Beziehungen zueinander. Ich werde diesen komplexen Gedanken im Folgenden nicht eingehender diskutieren, da das jenseits der Zielsetzung der vorliegenden Studie ist; es genüge der Hinweis, dass es Bracken um eine Ersetzung des klassischen Substanzbegriffs durch den Begriff des Tätigkeitsfeldes zu tun ist. 143 Ich denke allerdings durchaus, dass Brackens Begriff des Aktivitätsfeldes uns helfen kann, sowohl Whiteheads Begriff der Gesellschaft als auch Teilhards Begriff der Noosphäre besser zu verstehen. Im Rahmen eines Aktivitätsfeld-Ansatzes können Whiteheads Gesellschaften, die »dauerhaften Gegenstände« innerhalb einer durch den Nexus wirklicher Einzelwesen selbstkonstituierten sozialen Ordnung, 144 nicht mehr als Aggregate wirklicher Ereignisse mit einem gemeinsamen Formelement verstanden werden, sondern besser als Aktivitätsfelder für die sie konstituierenden wirklichen Ereignisse. In Prozess und Realität bekräftigt Whitehead, wie wir gesehen haben, dass Gesellschaften ›Umgebung‹ sind, deren ›Schichten sozialer Ordnung‹ durch die wirklichen Einzelwesen geformt werden: Daher ist eine Gesellschaft für jedes ihrer Elemente eine Umgebung mit einem Ordnungselement darin, und sie besteht aufgrund der genetischen Relationen zwischen ihren eigenen Elementen fort. Ein solches Ordnungselement ist die in der Gesellschaft vorherrschende Ordnung. […] So gelangen wir zu dem Prinzip, daß jede Gesellschaft einen sozialen Hintergrund 141 142 143 144

Vgl. Bracken 2001, 11 (Anm. 22). Vgl. Bracken 2014b, 47–48. Vgl. Bracken 2010, 168. Vgl. PRd, 84.

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braucht, von dem sie selbst einen Teil bildet. Hinsichtlich irgendeiner gegebenen Gesellschaft muß die Welt von wirklichen Einzelwesen als ein Hintergrund in Schichten sozialer Ordnung aufgefaßt werden, wobei die abgrenzenden Charakteristika weiter und allgemeiner werden, je mehr wir den Hintergrund erweitern. 145

Dennoch kann eine Gesellschaft in Whiteheads Sinn kein sich selbst erhaltendes Aggregat wirklicher Einzelwesen sein, die einfach nur durch ein gemeinsames Formelement verbunden werden wie in einer mathematischen Ordnung. 146 Ein bloßes Aggregat wirklicher Einzelwesen kann nicht dafür sorgen, dass eine Gesellschaft ein ›dauerhafter Gegenstand‹ im Sinne einer ›personalen Ordnung‹ ist, in der »die genetischen Beziehungen zwischen ihren Gliedern diese ›seriell‹ ordnen«. 147 Daher schlägt Bracken vor, Gesellschaften bzw. Umgebungen aus Schichten sozialer Ordnung als strukturierte Aktivitätsfelder für die sie konstituierenden wirklichen Einzelwesen zu verstehen. »Denn wenn man Gesellschaften am besten als Felder versteht«, so erläutert Bracken, »dann passen sie sehr gut in eine Theorie, der zufolge die absolute Realität als allumfassendes Energiefeld verstanden wird. Whiteheads Gesellschaften sind dann einfach weitere Spezifikationen des einen, allumfassenden primären Feldes«. 148 In diesem Zusammenhang hat es guten Sinn zu sagen, dass wirkliche, momentane Ereignisse zustande kommen und dann wieder vergehen, während ein Feld als Umwelt oder »Raum« für das Wechselspiel wirklicher Einzelwesen nicht entsteht und vergeht mit jeder neuen Generation wirklicher Einzelwesen. Mit anderen Worten, was nach Bracken als fortdauernde Wirklichkeitsstruktur bleibt, sind Felder, die »fortdauern als der Kontext, aus dem heraus jede neue Generation von Entitäten entsteht und zu dem jede Generation ihre eigene, sehr bescheidene Modifikation des Musters beisteuert, das sie von ihren Vorfahren geerbt hat«. 149 Auf diese Weise können Whiteheads Gesellschaften, insbesondere solche ›beharrlichen Objekte‹ mit einer ›personalen Ordnung‹, nicht bloß als Systeme im Sinne des vorigen Abschnitts, sondern als strukturierte Systeme von Aktivitätsfeldern verstanden werden, in denen »das Muster oder gemeinsame Formelement, das 145 146 147 148 149

PRd, 178–179. Vgl. PRd, 177. PRd, 85. Bracken 2001, 147. Bracken 2001, 148.

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von einer Generation wirklicher Einzelwesen zur nächsten weitergegeben wird, sozusagen der Struktur der Gesellschaft (Gesellschaften) eingeprägt ist, zu der sie alle gehören«. 150 Überdies wird die Rolle des Formelements als des Organisationsprinzips der Gesellschaft im Rahmen eines Aktivitätsfeld-Ansatzes von der kollektiven Aktivität aller sie konstituierenden wirklichen Ereignisse übernommen, die als aktive Erfahrungssubjekte harmonisch interagieren. Whitehead selbst hebt dies hervor, wenn er sagt: »Daher können die Elemente in einer Gesellschaft nur aufgrund der Gesetze existieren, die die Gesellschaff beherrschen, und die Gesetze kommen nur wegen der ähnlichen Eigenschaften der Elemente in der Gesellschaft auf«. 151 Eine Whitehead’sche einfache Gesellschaft entsteht als Aktivitätsfeld fortdauernd aus dem Wechselspiel der sie konstituierenden wirklichen Einzelwesen, der Erfahrungssubjekte, mit dem gemeinsamen Formelement. Dagegen kann eine Whitehead’sche strukturierte Gesellschaft, z. B. eine lebendige Zelle, d. h. eine Gesellschaft, die untergeordnete Gesellschaften, z. B. Moleküle, und einen Nexus bestimmter Muster strukturierter wechselseitiger Relationen umfasst, 152 am besten als ein System überlappender Aktivitätsfelder verstanden werden. Schließlich kann das Ganze der Wirklichkeit als ein System »zunehmend komplexerer, hierarchisch geordneter« 153 Mengen strukturierter Tätigkeitsfelder verstanden werden, in dem Gott (die Urnatur wirklicher Einzelwesen) und die Welt (endlicher wirklicher Ereignisse) als wirkliche Einzelwesen mit unterschiedlichen Komplexitätsgraden verstanden werden, die miteinander als Erfahrungssubjekte in kreativen, dynamischen Interaktionen verbunden sind. Ich denke auch, dass Whitehead mit einem so revidierten Begriff der Gesellschaft als eines strukturierten Aktivitätsfeldes von Erfahrungssubjekten Teilhard helfen kann, dem Pantheismus zu entgehen und ein echter Panentheist zu sein. In seinen frühen Essays arbeitet Teilhard mit dem Begriff des »göttlichen Milieus«, eines Milieus universaler Gegenwart, das überall zugleich und gleichermaßen existiert, um so das Gott-Welt-Verhältnis zu erhellen. Er beschreibt das göttliche Milieu als ein »komplexes Element, das aus vergöttlichtem ge150 151 152 153

Bracken 2004, 214. PRd, 179. Vgl. PRd, 195. Bracken 2004, 215.

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schöpftem Seiendem besteht und in dem im Lauf der Zeit die unsterbliche Destillation des Universums nach und nach vollzogen wird. Wir können es nicht wirklich Gott nennen: es ist sein Reich. Noch können wir sagen, dass es existiert: es befindet sich im Prozess des Werdens«. 154 Teilhard bestimmt das Wesen des Milieus als kosmische, kreative Energie, in der sich die zahllosen vorübergehenden Aktivitäten, aus denen das Universum besteht, mit einem zentralen organischen Energiestrom vereinen, der jedem individuellen menschlichen Bewusstsein immanent ist. Ursula King bemerkt zu Teilhards Begriff des göttlichen Milieus, dass »die göttliche Gegenwart in der Welt dieses geheimnisvolle ›Milieu‹ ist, welches wie eine ›Atmosphäre‹ durch alle Schichten des Universums strahlt, durch Materie, Leben und menschliche Erfahrung. Wir sind versenkt in dieses Milieu, es kann unser gesamtes Sein durchdringen und es transformieren, wenn wir das nur zulassen«. 155 Das göttliche Milieu ist der Prozess der Vergöttlichung der gesamten Wirklichkeit, der Erfahrung und Tätigkeit. Wenn wir aber das göttliche Milieu als ein System strukturierter Aktivitätsfelder begreifen, dann hat es einen guten Sinn, es als Umwelt zu verstehen, in der das Göttliche als Urnatur, trinitarische Gesellschaft und die geschaffene Welt endlicher strukturierter Gesellschaften sich überlagern, ohne dabei ihre Identität und Existenz einzubüßen. Überdies kann man im Rahmen einer Aktivitätsfeld-Interpretation des göttlichen Milieus auch Teilhards Konzeption der Evolution der Noosphäre als den Zusammenfluss eines Kollektivbewusstseins gut erläutern. Teilhard hat den Terminus Noosphäre geprägt, um eine geistige Sphäre zu kennzeichnen, in welcher die Vermenschlichung oder die fortschreitende psychosoziale Evolution gefördert werden. Julian Huxley bemerkt aber zu Recht, dass Teilhard den Terminus nicht explizit definiert. 156 Teilhard beschreibt die Noosphäre als »denkende Schicht«, als »das natürliche Zusammenfließen aller Körner von Gedanken«, die ein geschlossenes und zentriertes, einheitliches System bildet, in dem »jedes Element für sich dasselbe sieht, fühlt, ersehnt und leidet wie alle anderen zusammen«. 157 Teilhards eschato154 »Il est un Élément complexe, fait de créature divinisée, où se rassemble peu à peu, au cours du temps, l’Extrait immortel de l’Univers. Il ne s’appelle pas précisément Dieu, mais son Règne. Il n’est pas : il devient«. (Teilhard de Chardin 1965a, 156) 155 King 2010, 21. 156 Vgl. Teilhard de Chardin 1959, 13. 157 Teilhard de Chardin 1981, 183, 245, 258, 266.

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logische Hoffnung ist, dass die Noosphäre, die Bewusstseinsgemeinschaft, im Omega auf eine hyper-personale Einheit hin konvergiert. Teilhard gibt dieser Hoffnung in lebhaften Bildern Ausdruck: Wie ein beständiges Ausströmen lösen sich rings um uns, eine um die andere, »die Seelen« los und tragen ihre unmittelbare Bewusstseinslast nach oben. Eine um die andere: und doch nicht vereinzelt. Denn für jede von ihnen gibt es infolge der Natur von Omega nur einen möglichen Punkt endgültigen Emportauchens. Er wird deutlich werden, wenn die Noosphäre mit ihrer persönlichkeitsbildenden Kraft der Synthese […] in kollektivem Zusammenwirken, ihren Konvergenzpunkt erreicht – am »Ende der Welt«. 158

Das obige Zitat erhellt, dass Teilhard einerseits auf einen Bewusstseinszusammenfluss setzt, während er andererseits die Seelen als distinkte (›eine nach der anderen‹), aber im Göttlichen vereinte Entitäten denkt, um sich so vom Pantheismus abzugrenzen, was zugleich zu implizieren scheint, dass er die Einheit der Noosphäre abschwächen muss. Der Begriff des göttlichen Milieus bezeichnet aber ein umfassendes System strukturierter Aktivitätsfelder, das es ermöglicht, die konvergente Evolution der Noosphäre als Bewusstseinseinheit sich überlagernder Erfahrungssubjekte zu denken, ohne die Einheit der Noosphäre tatsächlich abzuschwächen oder die Identität des individuellen Bewusstseins preiszugeben. Wie Ursula King betont, kann ›Milieu‹ sowohl als Feld oder Umgebung als auch als »zentraler Punkt, als Zentrum, in dem alle Wirklichkeit zusammenkommt, aufeinanderstößt und konvergiert«, verstanden werden. 159 Bracken führt weiter aus, dass ein Milieu oder Aktivitätsfeld eine soziale Wirklichkeit ist, die hervorgebracht und kontinuierlich erhalten wird durch die wechselseitige Aktivität ihrer konstituierenden Teile oder Mitglieder. 160 Whiteheads Begriff hierarchisch geordneter Systeme kann überdies helfen, das göttliche Milieu als ontologische Relation der hierarchisch geordneten, sich überlagernden Aktivitätsfelder zu verstehen. Auf diese Weise wird nicht allein die Noosphäre, sondern das Ganze der Schöpfung als eines komplexen Systems geschaffener Aktivitätsfelder eingeordnet in dasjenige System von Aktivitätsfeldern, das dem Göttlichen eigen ist, dem trinitarischen Gott. Im Zusammenhang damit schlägt Bracken vor, Teilhards Begriff des göttlichen 158 159 160

Teilhard de Chardin 1981, 281. King 2010, 21. Vgl. Bracken 2014a, 7.

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Die Komplementarität von Polarität und Pleroma im Prozess-Panentheismus

Milieus als System strukturierter Aktivitätsfelder aufzufassen, »zunächst im Hinblick auf die dynamische Beziehung der drei göttlichen Personen und dann, durch die freie Entscheidung ebendieser göttlichen Personen, im Hinblick auf den Seinsgrund oder die lebendige Quelle der Aktivitäten in der Schöpfung«. 161 Abschließend lässt sich sagen, dass das Ziel der kosmischen Evolution nicht nur die Erschaffung der Noosphäre als Zusammenfluss aller Menschen qua bewusster Personen in Abtrennung von ihrer körperlichen Matrix ist, 162 sondern, in paulinischen Termini, die gesamte Schöpfung umfasst, 163 die als Aktivitätsfeld in den kosmischen Christus als Glieder seines mystischen Körpers aufgenommen wird.

6.

Teilhard und Whitehead als Vorreiter eines intersubjektiven Prozesspanentheismus

Schließlich lässt sich aus dem Prozesspanentheismus, wie er sich aus einer prozessorientierten Lesart Teilhards und Whiteheads und aus einem revidierten Verständnis von Gott und Welt gewinnen lässt, auch eine metaphysische Theorie der Intersubjektivität ableiten. Ein metaphysischer Begriff universaler Intersubjektivität impliziert, wie Bracken erläutert, vor allem eine Balance zwischen Vielheit und Einheit, zwischen den vielen Erfahrungssubjekten und den höherstufigen Ordnungen der Existenz und Aktivität, welche die Subjekte durch die dynamische Interaktion von »Teilhabe und Wechselseitigkeit« erreichen. 164 Mit anderen Worten: Gott und die Schöpfung werden in einer Metaphysik der Intersubjektivität als Erfahrungssubjekte in einer dynamischen Beziehung der Wechselseitigkeit und nicht als in sich ruhende Denkgegenstände verstanden. 165 Der metaphysische Begriff universaler Intersubjektivität ist jedoch kosmisch und nicht bloß interpersonal zu verstehen. Es geht um ein neues Verständnis des Einen und des Vielen auf verschiedenen Ebenen von Existenz und Aktivität in der kosmischen Realität als ganzer. In seinem Buch Subjectivity, Objectivity, and Intersubjectivi-

161 162 163 164 165

Bracken 2014a, 7. Vgl. Teilhard de Chardin 1981, 295–301. Vgl. Röm 8:22. Bracken 2001, 31; Vgl. Bracken 2010, 164. Vgl. Bracken 2001, 26.

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ty: A New Paradigm for Religion and Science notiert Bracken, dass Intersubjektivität sowohl der Ausgangspunkt als auch das Ziel der Auflösung der Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität ist, des Vielen und des Einen, auf allen Ebenen von Existenz und Aktivität«. 166 In Prozess und Realität kommt Whitehead selbst dem Begriff intersubjektiver Relationalität sehr nahe, wenn er die ihrem Wesen nach relationale Existenzkategorie der Prehension (oder erfassten Information) einführt. 167 Cobb erklärt die Bedeutung dieses Terminus, indem er ausführt, dass »die Prehension das Prehendierte nicht verändert, aber das Subjekt der Prehension wird zu dem, wozu es wird, durch seine Prehensionen«. 168 So spricht Whitehead auch davon, dass jedes Geschöpf durch die Folgenatur Gottes prehendiert wird. 169 Indem er diesen Begriff auf das Gott-Welt-Verhältnis bezieht, kann Bracken sagen, dass Gott und die Welt als Erfahrungssubjekte ihre Beziehung zueinander internalisieren, und zwar »durch wechselseitige ›Prehension‹, wodurch sie eine Vereinigung miteinander bewirken, die tiefer ist, als es die Einheit eines einfachen Aggregats räumlich benachbarter Dinge jemals sein könnte«. 170 Darüber hinaus ist Intersubjektivität Christian de Quincey zufolge dem stärksten Sinn des Begriffs nach ein »Prozess der Kokreativität, bei dem Beziehung ontologisch primär ist. Alle individuierten Subjekte ko-emergieren, oder entstehen gemeinsam, als Effekt eines holistischen Beziehungs›felds‹«. 171 Dies bedeutet, dass die Subjektivität einer Entität von der Subjektivität aller anderen Entitäten abhängt, mit denen erstere in einem Beziehungsnexus steht. Ferner haben wir auch in den revidierten Ansätzen Teilhards und Whiteheads gesehen, dass der metaphysische Begriff der Intersubjektivität schon enthalten ist im Begriff einer ontologischen Wechselbeziehung strukturierter Tätigkeitsfelder zwischen den relationalen Entitäten der kosmischen Wirklichkeit – der Wechselbeziehung des Göttlichen mit der Welt (der Menschen und der Natur) – den Erfahrungssubjekten. Daraus folgt, dass letztlich jede Entität von allen anderen Entitäten abhängt und dass Entitäten geschaffen werden oder vielmehr sich

166 167 168 169 170 171

Bracken 2009, S. 4–5. Vgl. PRd, 63. Cobb 2008, 31. Vgl. PRd, 616. Bracken 2004, 217. de Quincey 2000, 138–139.

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Die Komplementarität von Polarität und Pleroma im Prozess-Panentheismus

selbst erschaffen in eben diesem Prozess 172 eines Wirbels von Beziehungen, der sich gründet im Wirbelwind des dreieinen relationalen Gottes.

7.

Schluss

Abschließend können wir sagen, dass eine Verbindung von Teilhards Pleroma und Whiteheads Polarität mit einem systemorientierten Zugang zum Gott-Welt-Verhältnis, bei dem das Verhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen in Schichten von Aktivitätsfeldern geordnet ist, die Formulierung eines intersubjektiven Prozesspanentheismus möglich macht. Im Rahmen dieses Ansatzes werden die Teile oder Mitglieder, also Teilhards Bewusstseinskollektiv oder Whiteheads Gesellschaften, als gestufte und hierarchisch geordnete Aktivitätsfelder und nicht als in sich geschlossene, selbstgenügsame Entitäten betrachtet. 173 Wie man an jeder institutionell verfassten Gemeinschaft oder Gesellschaft sehen kann, entstehen stabile Systeme durch die fortwährenden dynamischen Wechselbeziehungen zwischen ihren Konstituenten oder Mitgliedern. Die intersubjektive Konzeption von Teilhards Pleroma und Whiteheads bipolarem GottWelt-Verhältnis als ›strukturierten Systemen‹ lässt Subsysteme zu, die in sich überlagernden Schichten miteinander verbunden sind. Schließlich müssen wir ausdrücklich anerkennen, dass Teilhards pleromatischer Ansatz und Whiteheads bipolarer Ansatz nicht einfach miteinander verschmolzen und ihre Systeme nicht einfach miteinander versöhnt werden können (auf wessen Kosten auch immer), dass aber ihre Einsichten weiterentwickelt und vertieft werden können, dass sie einander helfen und gemeinsam dazu beitragen können, ein kohärentes Verständnis des Gott-Welt-Verhältnisses zu erarbeiten.

172 173

Lowe 1962, 40. Mendonca 2015, 761–762.

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Autoren und Herausgeber

Godehard Brüntrup SJ, Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie und Theologie in München, Frankfurt a. M., Bielefeld und Berlin. Professor für Metaphysik, Philosophie des Geistes und Sprachphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Veröffentlichungen (Auswahl): The Rationality of Theism (gemeinsam hrsg. mit R. K. Tacelli), Dordrecht 1999. Panpsychism: Contemporary Perspectives (gemeinsam hrsg. mit L. Jaskolla), Oxford 2016. Philosophie des Geistes, Stuttgart 2018. Bernhard Dörr, Dr. theol., Studium der Theologie, Philosophie und Altphilologie in Frankfurt. 2008 Promotion in Katholischer Theologie. Dozent an der Goethe-Universität Frankfurt und der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Veröffentlichungen (Auswahl): Realität im Prozess. A. N. Whiteheads Philosophie im Dialog mit den Wissenschaften (gemeinsam hrsg. mit T. Müller), Paderborn 2011. Reto Luzius Fetz, Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie in Freiburg (Schweiz). Bis zu seiner Emeritierung Professor für Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Veröffentlichungen (Auswahl): Whitehead: Prozessdenken und Substanzmetaphysik, Freiburg / München 1981. Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten« (gemeinsam hrsg. mit S. Ullrich), Hamburg 2008. Whitehead – Cassirer – Piaget. Unterwegs zu einem neuen Denken (gemeinsam hrsg. mit B. Seidenfuß / S. Ullrich), Freiburg / München 2010. Ludwig Jaskolla, Dr. phil., Studium der Philosophie in München. Abteilungsleiter Kommunikation und Medien an der Hochschule für Philosophie München. Veröffentlichungen (Auswahl): Panpsychism: 285 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Autoren und Herausgeber

Contemporary Perspectives (gemeinsam hrsg. mit G. Brüntrup), Oxford 2016. Regine Kather, Prof. Dr. phil., Studium der Philosophie, Physik und Religionswissenschaften in Freiburg im Breisgau, Basel und Paris. Professorin für Philosophie an der Universität Freiburg. Veröffentlichungen (Auswahl): Ordnungen der Wirklichkeit, Würzburg 1998. Was ist Leben?, Darmstadt 2003. Person, Darmstadt 2007. Spyridon Koutroufinis, Dr. phil. habil., Studium des Maschinenbaus und der theoretischen Physik in Berlin. Promotion in Wissenschaftsphilosophie. Privatdozent für Philosophie an der TU Berlin. Veröffentlichungen (Auswahl): Selbstorganisation ohne Selbst, Berlin 1996. Prozesse des Lebendigen (Hrsg.), Freiburg 2007. Life and Process. Towards a New Biophilosophy (Hrsg.), Berlin / Boston 2014. Helmut Maaßen, Dr. phil., Studium der Theologie und Philosophie in Münster, Tübingen und New York. Lehrbeauftragter für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Veröffentlichungen (Auswahl): Gott, das Gute und das Böse in der Philosophie A. N. Whiteheads, Frankfurt a. M. 1987. Prozeß, Gefühl und Raum-Zeit. Materialien zu Whiteheads »Prozeß und Realität« (gemeinsam hrsg. mit M. Hampe), Frankfurt a. M. 1991. A. N. Whitehead’s Thought through a New Prism (gemeinsam hrsg. mit A. Berve), Cambridge 2017. Valerian Mendonca SJ, Dr. phil., Studium der Katholischen Theologie und Philosophie, Assistant Professor am Loyola College der Universität von Madras in Chennai und Gastwissenschaftler am Center for Process Studies, Claremont School of Theology, Kalifornien, USA. Veröffentlichungen (Auswahl): »A Metaphysics of Intersubjectivity for an Integral Ecology: The Relevance of Teilhard and Whitehead for the Vision of Laudato Sí.« Asian Horizons 2015 / 4, S. 748–762. Klaus Müller, Prof. Dr. theol., Dr. phil. habil., Studium der katholischen Theologie und Philosophie in Regensburg, Rom, München und Freiburg. Professor für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie. Veröffentlichungen (Auswahl): Gott erkennen. Das Abenteuer der Gottesbeweise, Regensburg 2001. Endlich unsterblich. Zwi286 https://doi.org/10.5771/9783495823651 .

Autoren und Herausgeber

schen Körperkult und Cyberworld, Kevelaer 2011. In der Endlosschleife von Vernunft und Glaube. Einmal mehr Athen versus Jerusalem (via Jena und Oxford), Münster 2012. Tobias Müller, Dr. phil. habil., Studium der Philosophie, Theologie, Pädagogik und Physik in Mainz, Marburg und Frankfurt a. M. Dozent für Natur- und Religionsphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Veröffentlichungen (Auswahl): Gott – Welt – Kreativität. Eine Analyse der Philosophie A. N. Whiteheads, Paderborn 2009. Post- Physikalismus (gemeinsam hrsg. mit M. Knaup / P. Spät), Freiburg / München, 2011. Realität im Prozess. A. N. Whiteheads Philosophie im Dialog mit den Wissenschaften (gemeinsam hrsg. mit B. Dörr), Paderborn 2011. Michael Schramm, Prof. Dr. theol., Studium der katholischen Theologie, der Germanistik und der Volkswirtschaft in Würzburg und an der FernUni Hagen. Professor für katholische Theologie und Wirtschaftsethik an der Universität Hohenheim. Veröffentlichungen (Auswahl): Prozeßtheologie und Bioethik. Reproduktionsmedizin und Gentechnik im Lichte der Philosophie A. N. Whiteheads, Freiburg (Schweiz) / Freiburg (Br.) / Wien 1991. Ökonomische Moralkulturen. Die Ethik differenter Interessen und der plurale Kapitalismus, Marburg 2008. Absolute Poverty and Global Justice. Empirical Data – Moral Theories – Initiatives (gemeinsam hrsg. Mit E. Mack / S. Klasen / T. Pogge), London 2009.

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