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German Pages 216 Year 2014
Maren Bienert Protestantische Selbstverortung
Troeltsch-Studien Neue Folge
Herausgegeben von Reiner Anselm, Jörg Dierken, Friedrich Wilhelm Graf und Georg Pfleiderer
Band 5
Maren Bienert
Protestantische Selbstverortung Die Rezensionen Ernst Troeltschs
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-036213-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036256-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038566-3 ISSN 1866-9638 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Bei dieser Arbeit handelt es sich um meine Dissertation, die im Wintersemester 2013/14 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen unter dem Titel „Reorganisationsversuche. Ernst Troeltschs Rezensionen als Medium protestantischer Selbstverortung“ angenommen wurde. Die Arbeit wurde für den Druck geringfügig überarbeitet. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Martin Laube, der mich bereits während meines Studiums für die Systematische Theologie begeistert hat. Er hat das Werden dieser Arbeit auf eine Weise begleitet, die ich mir nicht anders hätte wünschen können. Die großzügige Förderung, die ich als Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl über viele, für mich sehr wertvolle Jahre genießen durfte, war stets von einer Atmosphäre geprägt, in der stockende Gedanken wieder ins Rollen geraten konnten und das Arbeiten große Freude gemacht hat. Frau Professorin Dr. Christine Axt-Piscalar sei sehr herzlich für die Erstellung des Zweitgutachtens gedankt. Ihr verdanke ich nicht nur einige sehr hilfreiche Rückmeldungen, sondern auch – ebenso wie Herrn Professor Dr. Jan Hermelink und meinem Doktorvater Professor Dr. Martin Laube – eine höchst anregende Disputation. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Reiner Anselm, der mit großem und freundlichem Interesse das Entstehen dieser Arbeit begleitet und mich mit sehr wichtigen Anregungen unterstützt hat. Den Herausgebern der Reihe, Herrn Professor Dr. Reiner Anselm, Herrn Professor Dr. Jörg Dierken, Herrn Professor Dr. Friedrich Wilhelm Graf und Herrn Professor Dr. Georg Pfleiderer danke ich für die Aufnahme meines Buches in die Troeltsch-Studien, Neue Folge. Herrn Dr. Stefan Pautler bin ich sehr dankbar für die sachkundige Erstellung der Satzvorlage. Ihm und den Mitarbeitern des Verlags De Gruyter danke ich für die angenehme Kommunikation sowie den reibungslosen und kompetent betreuten Ablauf der Drucklegung. Für die mühsame Arbeit des Korrekturlesens und viele anregende Gespräche danke ich herzlich Frau Elisabeth Gebhardt, Frau Hiltrud Stärk-Lemaire und Herrn Dr. Christian Witt. Frau stud. phil. Christin Menking hat mich sehr zuverlässig bei der Vorbereitung der Drucklegung unterstützt. Meinen Eltern, Marie-Luise und Dr. Franz-Peter Hardetert, meinem Mann Dr. David Bienert und unseren Kindern Mirek Aaron und Mischa Rebekka ist dieses Buch in großer Liebe gewidmet. Oberelsungen, am 7. Juli 2014
Maren Bienert
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Siglen und Abkürzungen
IX 1
1
Einleitung: Programmatisches im Medium der Rezension
2 2.1 2.2
Kant-Figurationen in den Rezensionen 13 16 Kant als (Prä-)Figurator des Neuprotestantismus Kant als verhängnisvoller „Postulaten- und Bedürfnistheologe“ 22 24 Kant als nicht „der Philosoph des Protestantismus“ 28 Kant als Denker der bleibenden Dualitäten Kant als nur ein Vertreter der Aufklärung beziehungsweise des 18. Jahrhunderts 30 Kant als defizitär angesichts geisteswissenschaftlicher Ansprüche 33 36 Kant als (anregender) Fundus ungelöster Probleme 38 Kant als Einladung zu „approximative[r] Metaphysik“
2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 3 3.1
3.1.1
3.1.2 3.1.2.1 3.1.2.2 3.1.2.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.2.1
Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung 43 „Der unausrottbare Glaube an eine letzte und tiefste Einheit“ – Zum Thema Metaphysik in den Rezensionen Ernst Troeltschs 43 Eine exemplarische Rezension: Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie 50 60 Diskursfronten Metaphysik 61 Geist 69 Geltung 77 Apriori „Theologische Reorganisationsversuche“ – Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus 92 Eine exemplarische Rezension: Reinhold Seeberg: Die Theologie des Johannes Duns Scotus 92 103 Diskursfronten Protestantismus 103 Konfession
VIII 3.2.2.2 3.2.2.3 3.3
3.3.1
3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 4
Inhaltsverzeichnis
„Erlebnis“, „Erfahrung“ und „Wirklichkeiten des religiösen Lebens“ 129 Jesus 141 „Die Eigenthümlichkeit der geistig-historischen Welt“ – Das Ringen um die „historisch-ethischen Wissenschaften“ als Geistes- oder Kulturwissenschaften 155 Eine exemplarische Rezension: Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert. Aus Anlaß von Erich Becher: Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Untersuchungen zur Theorie und Einteilung der Realwissenschaften 155 Diskursfronten Wissenschaft 163 Idealismus – Rationalismus – Materialismus – Relativismus 163 Geschichtsphilosophie und „Entwickelung“ 173 Schluss: Religion als das bestimmt Unbestimmte und das unbestimmt Bestimmte 185
191 Literaturverzeichnis 1 Schriften Ernst Troeltschs: Rezensionen 191 2 Schriften Ernst Troeltschs: Monographien, Aufsätze 3 Materialien zu Ernst Troeltsch 197 4 Sekundärliteratur 197 Personenregister
203
197
Siglen und Abkürzungen Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe KGA 1
KGA 2
KGA 4
KGA 5
KGA 6
KGA 8
KGA 13
KGA 16
Ernst Troeltsch: Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie (1888–1902), hrsg. von Christian Albrecht in Zusammenarbeit mit Björn Biester, Lars Emersleben und Dirk Schmid, Berlin, New York 2009 Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken (1894–1900), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Dina Brandt, Berlin, New York 2007 Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken (1901–1914), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Gabriele von Bassermann-Jordan, Berlin, New York 2004 Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin, New York 1998 Schriften zur Religionswissenschaft und Ethik (1903–1912), Teilband 1, Teilband 2: Das Historische in Kants Religionsphilosophie (1904), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Katja Thörner, Berlin, New York 2014 Ernst Troeltsch: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hrsg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin, New York 2001 Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken (1915–1923), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Diana Feßl, Harald Haury und Alexander Seelos, Berlin, New York 2010 Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (1922) (In zwei Teilbänden: 16/1–2), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Matthias Schloßberger, Berlin, New York 2008
Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften GS I GS II
Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912 Ernst Troeltsch: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913
X GS IV
Siglen und Abkürzungen
Ernst Troeltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1925
Troeltsch-Studien TS 1
TS 3 TS 9
TS 10 TS 11 TS 12 TS N. F. 1 TS N. F. 2
Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte, hrsg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 1982, 2. Aufl. 1985 Protestantismus und Neuzeit, hrsg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 1984 Arie L. Molendijk: Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik, Gütersloh 1996 Friedemann Voigt: „Die Tragödie des Reiches Gottes“? Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmels, Gütersloh 1998 Ernst Troeltschs „Historismus“, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 2000 Ernst Troeltsch in Nachrufen, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf unter Mitarbeit von Christian Nees, Gütersloh 2002 „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 2006 Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung, hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf und Friedemann Voigt, Berlin, New York 2010
1 Einleitung: Programmatisches im Medium der Rezension „[D]er Wechsel der Terminologie, die schwankenden Combinationen, die immer neuen Anläufe und Zurechtlegungen, die Lösung alter und die Knüpfung neuer Beziehungen zwischen den festgehaltenen Gedankenelementen, kurz das ganze Hinundher, das in dem reichen Gedankengute eines bedeutenden [. . .] Mannes selbstverständlich ist und das er selbst in den reifen Publikationen zu verdecken sucht, alles das offenbart sich mit einer grausamen Deutlichkeit dem verwirrten 1 Leser.“ Nach der Lektüre von über 1300 Buchbesprechungen, die Ernst Troeltsch im Laufe seines Lebens verfasst hat, könnte diese Einschätzung ohne Weiteres als ein Fazit zu Stehen kommen. Aber: Der Satz stammt aus Troeltschs eigener Feder, ist auf Friedrich Schleiermacher gemünzt und mündet in eine Feststellung, die – auf Troeltsch übertragen – zugleich auf die Spur des Anliegens dieser Arbeit setzt: „Es ist eben Schleiermacher gegangen, wie allen, die sich mit dem Denken 2 tiefer eingelassen haben.“ Ernst Troeltschs umfangreiche Rezensionstätigkeit lädt unmittelbar zur Beschäftigung und Auseinandersetzung ein. Dieses beinahe intuitive Interesse mag auch dem beachtlichen Umfang oder der breiten Platzierung dieser Rezensionen in zahlreichen hochangesehenen Publikationsorganen seiner Zeit geschuldet 3 sein . Es ergibt sich jedoch darüber hinaus aus den Spezifika des Troeltsch’schen
1 Ernst Troeltsch: [Rez.] Eugen Huber: Die Entwickelung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, Leipzig 1901 (Studien zur Geschichte der Theologie und Kirche, Band 8, Heft 3), in: Göttingische gelehrte Anzeigen 166 (1904), S. 159–163, jetzt in: KGA 4, S. 326–330, hier S. 327. 2 Ebd. 3 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Vorwort, in: KGA 4, S. V–VII, hier S. V. Die Rezensionen liegen – seit 2010 sämtlich – in kritischer Edition als Teil der „Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe“ vor als Band 2: Rezensionen und Kritiken (1894–1900), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Dina Brandt, Berlin, New York 2007; Band 4: Rezensionen und Kritiken (1901–1914), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Gabriele von BassermannJordan, Berlin, New York 2004 und Band 13: Rezensionen und Kritiken (1915–1923), hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Diana Feßl, Harald Haury und Alexander Seelos, Berlin, New York 2010. Lediglich eine einzige Rezension wurde aus editorischen Gründen aus den Rezensionsbänden ausgegliedert und erscheint in KGA 10. Es handelt sich dabei um die Besprechung von Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, erschienen 1903 als „Moderne Geschichtsphilosophie“ in der „Theologischen Rundschau“ (von Troeltsch redigiert und in GS II veröffentlicht). Vgl. hierzu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4, S. 1–70, hier S. 70.
2
1 Einleitung: Programmatisches im Medium der Rezension
Denkens und Arbeitens, das sich als hoch komplex, sehr diskursiv und oftmals 4 als eigentümlich unabgeschlossen darstellt. Rezensionen als eigenständige akademische Textgattung sind weitgehend 5 unbeachtet und unerforscht. Diese als ausschlaggebendes Material in den Mittel6 punkt einer Arbeit zu stellen, mag eine ungewöhnliche Entscheidung darstellen , die sich jedoch – gerade im Fall Ernst Troeltsch – recht verheißungsvoll anlässt. 4 Vgl. dazu Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (Beiträge zur historischen Theologie, Band 99), Tübingen 1997, S. 8: „Troeltschs Werk besitzt viele Gesichter, je nachdem welches seiner vielen Arbeits- und Interessengebiete man in den Vordergrund stellt. [. . .] Troeltsch ist immer auch ein ‚Rezeptionsgenie‘ gewesen und hat unzählig viele fremde Ansätze und Konzeptionen eigenständig zu integrieren versucht.“ 5 Eine Monographie über die Rezensionen eines Autors liegt im Bereich der protestantischen Theologie m. W. nicht vor, überhaupt finden sich äußerst selten explizite oder ausführlichere Berücksichtigungen der Rezensionstätigkeit eines Theologen. Vgl. für eine solche (wenn auch knappe) Beachtung des gegenseitigen Rezensierens Paul Tillichs und Emanuel Hirschs in den Jahren 1922–1927 bei A. James Reimer: The Emanuel Hirsch and Paul Tillich Debate. A Study in the Political Ramifications of Theology (Toronto Studies in Theology, Volume 42), Lewiston, Queenston 1989, S. 5–48. Vgl. auch Hartmut Kramer-Mills: Wilhelminische Moderne und das fremde Christentum. Zur Wirkungsgeschichte von Friedrich Naumanns „Briefe über Religion“ (Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, Band 18), Neukirchen-Vluyn 1997, der in seiner Studie zahlreiche Rezensionen auswertet. Für die Rezensionen anderer Theologen vgl. die Herausgabe zentraler Rezensionen Bultmanns: Rudolf Bultmann: Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, hrsg. von Matthias Dreher, Klaus W. Müller, Tübingen 2002. Rudolf Bultmann hat zeitlebens „über 250 Rezensionen, Forschungsberichte und Repliken“ (S. XI) verfasst, 97 davon finden sich im genannten Band abgedruckt. Im Vergleich zu Troeltsch war Bultmann in seiner Rezensionstätigkeit sehr viel stärker auf fachinterne, d. h. auf neutestamentliche Publikationen konzentriert. 6 Dies gilt umso mehr, als durchaus heftige Kritik am Stil der zeitgenössischen Rezensionen geübt wird: „Die Normalform der gegenwärtigen Rezension ist die Verlogenheit. Den Rezensenten geht es um nichts. Jedenfalls nicht um irgendeine Sache – wenn man von dem billigen Erwerb eines Buches absieht – oder um irgendeine Wahrheit. Also denken sie statt an den Text, an den Autor des zu beurteilenden Buches. Ist er ein geschätzter Kollege, so daß man ihn nicht kränken darf? (Als läge in der Unterstellung, fachliche Kritik würde persönlich genommen, nicht die heftigste Kränkung für einen Wissenschaftler.) Ist er ein bemitleidenswerter Kollege (,er hat Familie und keinen Lehrstuhl’), den man schonen muß? (Als sei Wissenschaft eine Einrichtung der Sozialfürsorge.) Ist er ein gefürchteter Kollege, der mir schaden kann? (Als sei in dieser fetten Republik jemals ein Rezensent verhungert.) Die Früchte solchen Geistes sehen dann so aus, daß an die öde Beschreibung der Neuerscheinung ein gedankenschwaches und bestenfalls laues Urteil im Zwar-Aber-Standard (‚Zwar konnte nicht immer . . . Vorbehalt . . . nicht unbedenklich . . . aber doch insgesamt . . . Fortschritt . . . nächste Arbeit . . .‘) angeklebt wird. Kein deutliches Wort, kein am gelesenen (?) Text entfalteter Widerspruch, kein über das vorgelegte Erzeugnis hinausführendes Räsonnement.“ Diese Einschätzung brachte den Rechtshistoriker Dieter Simon dazu, ein neues Publikationsorgan, das „Rechthistorische Journal“, zu gründen, auch, um „einen Beitrag zur Hebung der Rezensionskultur [zu] liefern“; Dieter Simon: Ansätze, in: Rechtshistorisches Journal 10 (1991), S. 1–4, hier S. 1. Darauf nehmen auch Bezug: Peter Schöttler, Michael Wildt: Warum
1 Einleitung: Programmatisches im Medium der Rezension
3
Neben den allgemeinen Reizen, die eine Auswertung von Rezensionen mit sich bringt, nämlich die Einblicke in Lektüreeindrücke, Diskursteilnahme und Selbstverortung, verbindet sich für das Unternehmen einer eingehenden Analyse der Rezensionen Troeltschs noch weitergehend der Versuch, ein Entgegenkommen dieser Gattung für eine Analyse seiner Interessen aufzuzeigen. Neben dem schon oben angedeuteten Materialreichtum und der Tatsache, dass Troeltsch 7 von 1894 bis zu seinem Lebensende, also nahezu über die gesamte Zeitspanne seiner akademischen Tätigkeit, rezensierte, gibt es mehrere Gründe, die dieses Vorhaben aussichtsreich erscheinen lassen: Zunächst, so lässt sich ganz grundständig beobachten, legt die beachtliche Anzahl der Rezensionen nahe, dass Troeltsch das Rezensieren selbst als 8 hochgradig gewinnbringend für sein Arbeiten angesehen haben muss. Sodann sind die Rezensionen als besondere literarische Gattung akademischer Textproduktion in zweifacher Hinsicht nicht zu unterschätzen: Zum einen waren sie für Troeltsch nicht nur Mittel zum Zweck (beispielsweise zur Vorbereitung eigener systematisch angelegter Arbeiten oder zur Erweiterung der 9 eigenen Bibliothek ), vielmehr wurden ihm die Rezensionen zu einer wissenschaftspolitischen und akademischen Plattform, die ihm Diskurspartizipation dieses Buch? Ein Plädoyer für Rezensionen, in: dies. (Hrsg.): Bücher ohne Verfallsdatum, Hamburg 1998, S. 9–16, hier S. 12 f. Dieses Urteil muss freilich in seiner Härte nicht geteilt werden und eindrucksvolle Gegenbeispiele sind bei der Hand. Für die protestantische Theologie sei beispielsweise genannt: Martin Ohst: Evangelische Mittelalterdarstellungen, in: Theologische Rundschau 75 (2010), S. 201–215. Es geht dieser Arbeit nicht darum, den Verfall einer akademischen Textgattung herauszuarbeiten, sondern vielmehr den Dynamiken und Debatten nachzugehen, die von den Rezensionen Troeltschs eindrücklich dokumentiert werden. Allerdings macht das harsche Urteil Simons doch darauf aufmerksam, welch großes Potential für eine akademische Debattenkultur von einer an inhaltlichen Auseinandersetzungen ausgerichteten Rezensionskultur ausgehen kann – sonst wäre eine solch massiv vorgetragene Verfallstheorie grundlos. 7 Ernst Troeltschs erste Rezension hatte das Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik (3. Aufl. 1893) von Lipsius zum Gegenstand und erschien 1894 in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“, jetzt in: KGA 2, S. 31–52. 8 Dies findet in einer Äußerung Troeltschs 1922 seinen Ausdruck: „Ich bespreche nur Bücher, die mit meiner jeweiligen Arbeit zusammentreffen.“ Ernst Troeltsch: Erwiderung, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 46 (1922), S. 570, jetzt in: KGA 13, S. 621–623, hier S. 622. Dass Troeltsch sich die Bücher für seine Besprechungen aussuchen konnte, war freilich nicht von vornherein der Fall. Allerdings spricht vieles dafür, dass sich Troeltsch beispielsweise gegenüber der „Theologischen Literaturzeitung“, aber auch den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ und Martin Rade für „Die christliche Welt“ Bücher gezielt und erfolgreich zur Rezension erbat, vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), hier S. 14, S. 26 und S. 28. 9 Neben solchen Motiven wird auch ein „harter finanzieller Aspekt“ eine Rolle gespielt haben: Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: ebd., hier S. 7; vgl. ebd., S. 5 f. zu Troeltschs Umgang mit seinen Rezensionsexemplaren und dem von Troeltsch mehrfach betonten Zusammenhang
4
1 Einleitung: Programmatisches im Medium der Rezension
und -produktion im breiten Stil ermöglichten. Zum anderen sind die Rezensionen auch für die Troeltsch rezipierende Nachwelt keineswegs nur von nostalgischem Interesse: Die Rezensionen enthalten programmatisch höchst Aufschlussreiches und kommen dabei, qua Gattung, den Eigenarten des Denkers Ernst Troeltsch 10 entgegen. Er selbst konstatierte: „Monologe sind nichts für mich.“ Es ist bezeichnend, dass viele einschlägige Troeltsch-Monographien nicht auf die – zumindest punktuelle – Berücksichtigung der Rezensionen verzichten, und dort 11 für die jeweiligen Fragestellungen sehr Aussagekräftiges finden . Drittens wird jede Deutung, die die Rezensionen Troeltschs als ‚uneigentliche‘ wissenschaftliche Textgattung begreifen will, dadurch ins Unrecht gesetzt, dass bei rechtem Hinsehen viele Aufsätze und Monographien Troeltschs – zugespitzt gesagt – rezensionsartig verfasst sind und andersherum viele seiner Rezensionen in Umfang und Argumentationsdichte den Aufsätzen Troeltschs in 12 nichts nachstehen. Die Besonderheit und die Stärke der Rezensionen liegen darin, dass das Gesamt der Rezensionen gattungsbedingt in fruchtbarer Spannung zu Troeltschs systematisch angelegten Werken steht, die oftmals möglicherweise der Sogwirkung nur einer Facette des Denkens erliegen.
zwischen einer geplanten Rezension zu Nathusius und den statt dieser entstandenen Soziallehren. Troeltschs Privatbibliothek enthält zahlreiche von ihm rezensierte Werke, vgl. ebd., S. 6, sowie: Sabine Wagner: Die Privatbibliothek von Ernst Troeltsch, in: Mitteilungen der Ernst-TroeltschGesellschaft 12 (1999), S. 33–68. 10 Brief Ernst Troeltschs an Heinrich Rickert, 15.5.1922, zitiert nach Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), S. 4. In seinem Aufsatz über Troeltschs Abgrenzung vom theologischen Programm Ritschls bzw. dem Ritschlianismus macht auch Christophe Chalamet zahlreiche Rezensionen Troeltschs für seine Untersuchung fruchtbar. In der Einleitung des Aufsatzes hält er fest: „It thus seems useful to read Troeltsch’s conversational pieces and his reviews and review articles carefully, since there we see him engaged in the kind of dialogical thought process he favored.“ Christophe Chalamet: Ernst Troeltsch’s Break from Ritschl and his School, Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 19 (2012), S. 34–71, hier S. 36. 11 Vgl. exemplarisch Friedemann Voigt: „Die Tragödie des Reiches Gottes?“. Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmels (TS 10), Gütersloh 1998; Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (Beiträge zur ökumenischen Theologie, Band 18), München, Paderborn, Wien 1978 sowie Klaus Tanner: Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung, Stuttgart u. a. 1993. 12 Bezeichnend ist beispielsweise der Umstand, dass die von Hans Baron im vierten Band der Gesammelten Schriften Troeltschs aufgenommenen Texte „Besprechung fremder Werke zur Geistesgeschichte und ihrer Methodik“ (S. XXVII f.) auch ein Werk enthält, die im strengen Sinne keine Rezension ist, aber im Gegenüber zu Felix Rachfahl sowie in Allianz mit Max Weber verfasst ist: Ernst Troeltsch: Die Kulturbedeutung des Calvinismus (1910), seine Reaktion auf Felix Rachfahls Kritik gegen ihn und Max Weber, in: KGA 8, S. 143–181; vgl. zur Debatte Rachfahl – Weber – Troeltsch: Trutz Rendtorff: Einleitung, in: ebd., S. 31–46.
1 Einleitung: Programmatisches im Medium der Rezension
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Alle Versuche, Troeltschs Denken auf die eine oder andere eindimensionale positionelle Monokultur herunterzubrechen, erweisen sich – bekanntlich – als unbefriedigend. Gerade aufgrund dieses Befundes scheint die Auswertung der Besprechungen Troeltschs besonders reizvoll, denn seine Rezensionen sind einerseits stark den vielfältigen Diskursen und den diese exemplarisch repräsentierenden Werken zugewandt und dadurch sind einseitige Zuspitzungen gleichsam durch die Gattung entlastet. Es erweist sich als geradezu charakteristisch für Troeltsch, dass er seine Positionen in intensiver Auseinandersetzung mit den 13 Konzeptionen seiner akademischen Zeitgenossen profiliert. 14 Andererseits stellen die Rezensionen als „Intellektualosmosen“ nicht nur Orte der dokumentierten Rezeption, sondern ebenso der Produktivität dar. Nimmt man die vielen von Troeltsch eingenommenen Positionen und unterschiedlichen Nuancen seiner Wertungen als Zeugnisse skrupulösen, komplexen und diskursbezogenen Denkens ernst, erweisen sich die Rezensionen als Fundgrube äußerst interessanter Beobachtungen. Der diskursive Stil Ernst Troeltschs findet in der Gattung „Rezension“ ein Pendant. Wie genau Troeltsch einerseits die Tektonik von Debatten berücksichtigte und wie intensiv andererseits sein Rezensieren und die Genese und Entwicklung eigener Positionen ineinandergriffen, lässt sich auch daran ablesen, dass Troeltsch einige Werke in kurzer Zeit mehrfach besprach, die Besprechungen jedoch niemals gleichlautend sind, sondern eigens 15 auf die jeweiligen Organe und Debatten zugeschnitten sind. Missfällt ihm der
13 Wie sehr das für Troeltschs Arbeit insgesamt zutrifft, lässt sich neben dem gegen Rachfahl gerichteten Aufsatz an zahlreichen Arbeiten zeigen, vgl. etwa Ernst Troeltsch: Zur Abwehr und Berichtigung gegen den Verfasser der „Religiösen Liquidation“ (1896), jetzt in: KGA 1, S. 561–574; Ernst Troeltsch: Moderner Halbmaterialismus (1897), jetzt in: KGA 1, S. 577–596; Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: ders.: GS II, S. 386–451; Ernst Troeltsch: Ernst Haeckel als Philosoph (1900), jetzt in: KGA 1, S. 769–800; Ernst Troeltsch: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 12 (1902), S. 44– 94, S. 125–178. Das zuletzt genannte Werk ist aus einer Rezensionsanfrage entstanden, vgl. dazu Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, S. 301. Reiner Anselm: Troeltsch, in: Christine Axt-Piscalar, Joachim Ringleben (Hrsg.): Denker des Christentums, Tübingen 2004, S. 208–231, hier S. 221, spricht über Troeltschs „Grundprobleme der Ethik“ als „Rezension zu Herrmanns ‚Ethik‘“. 14 Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), S. 4. 15 Troeltsch besprach mehrfach z. B. Rudolf Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (besprochen 1896 für die „Theologische Literaturzeitung“ und „Die Christliche Welt“ sowie im „Theologischen Jahresbericht“), Gustav Claß: Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des menschlichen Geistes (besprochen 1896 für „Die Christliche Welt“, 1897 für die „Theologische Literaturzeitung“ sowie im „Theologischen Jahresbericht“), Karl Robert Brotherus: Immanuel Kants Philosophie der Geschichte (besprochen 1906 für die „Theologische Literaturzeitung“ und für die „Historische Zeitschrift“), Richard Wimmer: Gesammelte Schriften (besprochen 1898 für die
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1 Einleitung: Programmatisches im Medium der Rezension
Zuschnitt eines Buches, das er bespricht, entwirft Troeltsch – in der Rezension – in Miniatur gerne noch einmal das Buch, das seinem Urteil nach eigentlich zu schreiben gewesen wäre. Die Rezensionen erweisen sich auch auf diese Weise als programmatisch gesättigte literarische Quellen. „Man sollte beim Studium von Troeltschs Werk nie vergessen, daß er zwar vielerlei ‚gesehen‘ hat, aber diese Einsichten terminologisch recht unterschied16 lich fassen kann.“ Dieser bei Troeltsch anzutreffenden terminologischen Varianz soll in dieser Arbeit nachgegangen werden. Dabei ist die Hypothese leitend, dass Troeltschs begriffliche Suchbewegungen weder in einem Mangel an positioneller Entscheidungsfreudigkeit begründet lagen noch intellektuelle Spielereien waren, sondern einerseits als Ausdruck der Suche nach geeigneten Instrumentarien für seine Interessen begriffen werden können sowie andererseits den unterschiedlichen Korrektur- und Positionierungsbedürfnissen Troeltschs Rechnung trugen. Wenn die Beobachtung zutrifft, dass Troeltsch in der Negation oft präziser zum Ausdruck gebracht hat, woran ihm gelegen ist, als in positiven Fassungen, erweisen sich die Rezensionen auch deshalb als bestens geeignetes Material, weil Troeltschs Abwehrreflexe und die aus ihnen folgenden Gegenprofilierungen sich an konkreten anderen Positionen unmittelbar nachvollziehen lassen. Doch auch Rezensionen, die von der Zustimmung Troeltschs geprägt sind, lohnen der Auswertung, sind doch auch gerade die Feinabstimmungen und Korrekturen im 17 Kleinen hochgradig aufschlussreich.
„Deutsche Literaturzeitung“ sowie den „Theologischen Jahresbericht“); Paul Barth: Die Philosophie der Geschichte als Soziologie (besprochen 1898 für die „Theologische Literaturzeitung“, 1916 für „Weltwirtschaftliches Archiv“); Ernst Vowinckel: Geschichte und Dogmatik (besprochen 1899 für die „Theologische Literaturzeitung“ sowie den „Theologischen Jahresbericht“); Otto Schilling: Naturrecht und Staat nach der Lehre der alten Kirche (besprochen 1915 für die „Theologische Literaturzeitung“ und die „Historische Zeitschrift“). 16 Arie L. Molendijk: Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik (TS 9), Gütersloh 1996, S. 52. Auch Lori Pearson: Ernst Troeltsch and Contemporary Discourses of Secularization, Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 19 (2012), S. 173–192, hier S. 179, hält fest: „Troeltsch [. . .] did not aim to produce definitive theories and stable definitions of categories such as religion, modernity, Protestantism, or secularity. Instead he developed, used, and reflected on such categories always in relation to pressing concerns about the present. This means that one will fail to find a single clear definition of these categories in his writings. His view and use of these categories changed, depending on the issue he was attempting to address; he strategically shaped and employed these categories in relation to the specific questions and goals of his various projects.“ Beobachtungen wie diese machen die Untersuchung der Rezensionen Troeltschs so aussichtsreich. 17 Dabei ist für diese Untersuchung nicht interessant, ob Troeltsch eine zutreffende Rekonstruktion des von ihm zu besprechenden Buches geleistet hat, würde eine solche Perspektive doch nur
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Troeltschs eigene Werke wurden ebenfalls umfassend rezensiert und auch 19 er nahm lebendig die Rezensionen anderer wahr , dennoch wird man sagen können, dass seine eigene Rezensionstätigkeit weit überdurchschnittlich umfangreich und breit angelegt war. Dies zurückzuführen auf einen „offenkundigen 20 Drang von Troeltsch, die jeweils neuesten Theorieangebote zu nutzen“ , ist hochplausibel. Ernst Troeltsch verfasste Rezensionen für ein beeindruckend breites Spektrum wissenschaftlicher Organe und Zeitungen und erschloss so seine Gedanken zu zahlreichen Werken unterschiedlichster Provenienz einem wiederum weiten 21 Kreis von Lesern. Die meisten der Rezensionen, die Troeltsch verfasste, wurden in der „Theo22 logischen Literaturzeitung“ veröffentlicht. Die insgesamt 123 Besprechungen wurden von Troeltsch sehr kontinuierlich über die gesamte Spanne seines akademischen Wirkens dort publiziert. Ebenfalls zahlreiche, nämlich 41 Rezensionen wurden in der „Historischen Zeitschrift“ veröffentlicht und zwar besonders nach 23 der Jahrhundertwende. Mit 30 bzw. 23 Besprechungen sind auch die „Deutzwei Lesarten – Troeltschs und die der Verfasserin dieser Arbeit – nebeneinander stellen, womit nicht viel gewonnen wäre. 18 Vgl. hierzu exemplarisch Friedrich Wilhelm Graf, Christian Nees: Verzeichnis der Rezensionen und Kritiken zu Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme und anderen geschichtsphilosophischen Texten, in: TS 11, S. 285–298. 19 Exemplarisch hierfür ist die Einleitung seines Teiles des Theologischen Jahresberichts 1896: „An erster Stelle seien wenigstens in den Titeln die allgemein philosophischen Werke des Jahres angeführt, die dem Ref., soweit überhaupt, meist nur aus Recensionen anderer Zeitschriften bekannt geworden sind.“ Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre, in: Theologischer Jahresbericht 15 (1896), S. 376–425, jetzt in: KGA 2, S. 80–163, hier S. 82. 20 So urteilt allgemein über Troeltsch Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (wie Anm. 4), S. 9. 21 Einen interessanten Fall stellen solche Rezensionen dar, in denen Troeltsch auf Darstellungen seiner selbst reagiert hat Dabei handelt es sich – neben den Erwiderungen – um Ernst Troeltsch: [Rez.] Theodor Kaftan: Ernst Tröltsch. Eine kritische Zeitstudie, Schleswig 1912, in: Theologische Literaturzeitung 37 (1912), Sp. 724–728, jetzt in: KGA 4, S. 646–655, sowie um Ernst Troeltsch: [Rez.] Walter Günther: Die Grundlagen der Religionsphilosophie Ernst Troeltsch’, Leipzig 1914, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), Sp. 448–450, jetzt in: KGA 13, S. 179–183, einer bei Rudolf Eucken verfassten Dissertation (vgl. Editorischer Bericht der Rezension, ebd., S. 179). 22 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), S. 8–17. Graf geht dort, S. 9, auch dem Profil des Organs nach: „Hier schrieben vorrangig viele persönliche Freunde Harnacks und die Schüler und Anhänger Albrecht Ritschls sowie seit den 1890er Jahren auch die im Streit um Ritschls Theologie sich formierenden neuen ‚freien‘ Richtungen, etwa die Vertreter eines religionsgeschichtlich-kritischen Denkstils.“ Vgl. zur Geschichte der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ Thomas Kaufmann: Die Zeitschrift für Theologie und Kirche – von ihrer Gründung bis zum Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 100 (2003), S. 466–496. 23 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), hier S. 17–19.
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sche Literaturzeitung“ und die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ durchaus gewichtig vertreten, allerdings hat Troeltsch in seinen Berliner Jahren für diese Zeitschriften keine Werke mehr besprochen. Das gilt auch für „Die christli26 che Welt“ , in der insgesamt 17 von Troeltsch verfasste Rezensionen publiziert 27 28 worden sind. Jeweils zwei Besprechungen erschienen in den „Kant-Studien“ , „Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deut29 30 schen Reiche“ , dem „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ sowie in 31 „Deutsche Politik“ . Neben den einschlägigen Fachzeitschriften war Troeltsch in seinen späteren Jahren auch als Rezensent in der „bürgerlich-liberalen Tagespres32 33 se“ begehrt: Die „Vossische Zeitung“ erhielt von Troeltsch drei Buchkritiken, 34 die „Frankfurter Zeitung“ eine. Die „Annalen für soziale Politik und Gesetzge35 36 37 bung“ , das „Archiv für Religionswissenschaft“ , „Preußische Jahrbücher“ ,
24 Vgl. dazu ebd., S. 20–23. 25 Vgl. dazu ebd., S. 23–27. 26 Vgl. dazu ebd., S. 27–29. Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 82, gibt die Auflagenhöhe der „Christlichen Welt“ im Jahr 1908 mit 5 400 an, damit handelt es sich um das auflagenstärkste Organ des „liberal-protestantischen Milieu“. 27 Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 13, S. 1–27, hier S. 3, macht im Zuge dieser Beobachtung auf eine „Verschiebung der Gewichte für die Kritiker-Präsenz des Berliner Troeltsch“ aufmerksam. 28 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), S. 29–31. 29 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 13 (wie Anm. 27), S. 2. Dort erschien auch noch eine Erwiderung Troeltschs. Siehe zu Gustav von Schmoller, der nach Übernahme der Herausgebertätigkeit der Zeitschrift seinen Namen lieh: Pauline R. Anderson: Gustav von Schmoller, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Deutsche Historiker, Band 2, Göttingen 1971, S. 39–65, zum Jahrbuch: S. 46. 30 Vgl. dazu ebd., S. 2; sowie Silke Knappenberger-Jans: Verlagspolitik und Wissenschaft. Der Verlag J. C. B. Mohr (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, Band 13), Wiesbaden 2001, S. 118 f., S. 311–320. Sie erläutert: Das „Ziel [der Herausgeber der Zeitschrift, MB] war es, die allgemeine Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung zu erforschen. Besonderen Wert legten sie dabei auf einen interdisziplinären Ansatz“ (S. 118). Das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ und „Schmollers Jahrbuch“ seien „Konkurrenzzeitschriften“ (S. 119) gewesen. 31 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 13 (wie Anm. 27), S. 2. 32 Ebd. 33 Vgl. dazu ebd. 34 Vgl. dazu ebd. 35 Vgl. dazu ebd. 36 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), S. 31. 37 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 13 (wie Anm. 27), S. 2; sowie Gangolf Hübinger, Helen Müller: Politische, konfessionelle und weltanschauliche Verlage im Kaiserreich, in: Geschichte des Deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1870–1918,
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„Weltwirtschaftliches Archiv“ ; die „Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche 39 Recht der Gegenwart“ sowie die „Zeitschrift für Praktische Theologie“ veröffentlichten jeweils eine Rezension Troeltschs. Zudem verfasste Troeltsch 1922 eine Selbstanzeige anlässlich von „Der Historismus und seine Probleme (Erstes Buch)“ für die „Grünen Hefte“ des Verlags Mohr (Paul Siebeck). Nicht zu vergessen sind die material- und umfangreichsten Besprechungen Troeltschs, 40 nämlich die vier Sammelbesprechungen für den „Theologischen Jahresbericht“ in den Jahren 1896–1899, wo Troeltsch die Neuerscheinungen des Vorjahres im 41 Bereich „Religionsphilosophie und theologische Principienlehre“ vorstellte. Ein erster Teil dieser Arbeit dient der Auswertung derjenigen Rezensionen, die sich im weitesten Sinne der Philosophie Kants widmen bzw. Troeltsch’sche Kantdeutungen beinhalten, als Folie der Rezensionenrekonstruktion. Bedingt durch den Umstand, dass Kant, auch aufgrund der Dominanz neukantianischer Philosophie, in den zeitgenössischen Arbeiten und so auch in den Rezensionen Troeltschs rege diskutiert wurde, bietet sich auf der einen Seite ein Instrument zur Erhebung der positionellen Anliegen, die Troeltsch mit Kant und der Kantdeutung verbindet, und auf der anderen Seite die Möglichkeit, dem diskursstrategischen Umgang mit einem für Troeltsch zentralen Mitbegründer und Repräsentanten der modernen Welt nachzugehen. Dabei zeigt sich: Troeltschs Kantbilder in seinen Rezensionen zeichnen sich durch hochgradige Differenziertheit aus; er hat, um es anschaulich zu sagen, mehr als einen Kant, mit dem er seine akademischen Gefechte bestreitet. Im zweiten Teil erfolgt die Rekonstruktion des Rezensenten Troeltsch unter dem Eindruck einiger ‚klassischer‘ mit dem Namen Ernst Troeltschs und der ihm gewidmeten Forschung verbundener Problemkonstellationen, die sich ebenfalls Teil 1, hrsg. von Georg Jäger in Verbindung mit Dieter Langewiesche, Wolfram Siemann, Frankfurt a. M. 2001, S. 347–405, hier S. 352: Die Preußischen Jahrbücher werden in das rechtsliberale Spektrum eingeordnet. In den „Preußischen Jahrbüchern“ erschien neben der Rezension noch eine Erwiderung Troeltschs. 38 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 13 (wie Anm. 27), S.2. 39 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), S. 31 f. 40 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 2, S. 1–27, hier S. 4–8. 41 Zur Zahl der Rezensionen in den einzelnen Organen vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 2 (wie Anm. 40), S. 1; ders.: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), S. 1; ders.: Einleitung, in: KGA 13 (wie Anm. 27), S. 1 f. In den Einleitungen der Bände sind auch die Profile der Zeitschriften und Troeltschs Kontakte zu den Herausgebern – soweit nachvollziehbar – dargestellt. Zur Geschichte der protestantisch-theologischen Zeitschriften vgl. ders.: Theologische Zeitschriften, in: Ernst Fischer, Wilhelm Haefs, York-Gothart Mix (Hrsg.): Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700–1800, München 1999, S. 356–373, der für die zahlreich erschienenen Rezensionsorgane auch die positionelle Interessen dieser Zeitschriften hervorhebt (bes. S. 357–359).
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an den Rezensionen festmachen lassen bzw. genauer: die sich auch von den Ergebnissen des ‚Kantkapitels‘ her ergeben. So besteht der zweite Teil dieser Arbeit wiederum aus drei Teilen: Zum Ersten geht es um die Auseinandersetzungen mit der denkerischen Bearbeitung der Wirklichkeit an Ernstfall Metaphysik, 42 zum Zweiten um die vielen „Reorganisationsversuche“ eines um vielerei ‚Zusammenbestehbarkeiten‘ bemühten Protestantismus, und zum Dritten um das Ringen um eine der Moderne angemessene Fassung einer wissenschaftlichen 43 Reflexionskultur „des historischen und geistigen Lebens“ . Diese drei Teile des zweiten Hauptteils sind jeweils so aufgebaut, dass sie von der ausführlichen Rekonstruktion einer exemplarischen Rezension fortschreiten zu einer vertieften Erarbeitung zentraler Diskursfronten und Debatten. Das vorangehende Kapitel „Kant-Figurationen in den Rezensionen“ steht gewissermaßen quer zu diesem folgenden Kapitel und dient im Gesamt der Arbeit als Themengenerator sowie als erste Auffächerung der konstruktiven wie dekonstruktiven Anliegen Troeltschs und deren diskursstrategischen Unterfütterungen. Diese Arbeit wird freilich auch von einem großen Interesse am Religionstheoretiker und theologischen Denker Ernst Troeltsch getragen, jedoch leuchtet es aufgrund des Zusammenhangs mit allen vorhin ausgeführten Gebieten schwerlich ein, diese Thematik isoliert zu behandeln. Der systematische Ort der Rekonstruktion des Themas Religion in den Rezensionen Troeltschs ist also ein integrativer und erfolgt durch alle Teilkapitel durchgängig, natürlich ohne die Intention, die oben angeführten Arbeitsschritte unter diese Fragestellung gänzlich zu subsumieren, denn gerade das eigentümliche Ineinander der Perspektiven macht den Gewinn der Rezensionsauswertung aus. Eine kurze Bündelung und Auswertung der religionstheoretischen Beobachtungen folgt im letzten Teil der Arbeit. Dort wird auch zu reflektieren sein, wie sich diese Arbeit angesichts der
42 Diese griffige Formel stammt aus Troeltschs erster Rezension: „Seit der Auflösung der altprotestantischen, biblicistisch-symbolischen Dogmatik steht die protestantische Theologie in dem Zeichen der Reorganisationsversuche [. . .].“ Ernst Troeltsch: [Rez.] Richard Adelbert Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 3. bedeutend umgearbeitete Aufl., Braunschweig 1893, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 156 (1894), S. 841–854, jetzt in: KGA 2, S. 31–52, hier S. 32. 43 Ernst Troeltsch: Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 46 (1922), S. 35–64, jetzt in: KGA 13, S. 567–604, hier S. 596. Die Überschrift für das Kapitel 3.3 dieser Arbeit „‚Die Eigenthümlichkeit der geistig-historischen Welt‘“ ist entnommen aus Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und principielle Theologie, in: Theologischer Jahresbericht 18 (1899), S. 531–603, jetzt in: KGA 2, S. 554–642, hier S. 592; von den „historisch-ethischen Wissenschaften“ ist bei Troeltsch in der zuvor genannten Rezension „Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert“, S. 596, die Rede.
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Rezensionen, also eines bislang nicht systematisch untersuchten Teils seines 44 Werkes, zur These vom Scheitern Troeltschs verhält . Diese Arbeit verfolgt – zusammengefasst – das Interesse einer theologischprofiltheoretischen Rekonstruktion Ernst Troeltschs im Medium seiner Rezensio45 nen. Dabei soll keine monotone Deutungsperspektive angelegt werden, sondern es geht vielmehr darum, zu erarbeiten, in welchen Debattenkontexten Troeltsch mit welchen Anliegen tätig wird und welche programmatischen Konsequenzen für sein Denken sich daraus ergeben. Dies geschieht, wie vorgestellt, zum Ersten in einer Analyse des diskursstrategischen Umgangs mit Kant, zum Zweiten in einem, sich thematisch aus der Kantanalyse ergebenden, systematisierten Durchgang durch die Problemfelder ‚Metaphysik‘, ‚Protestantismus‘ und ‚Wissenschaftstheorie‘. Dabei kommt das Medium der Rezension Troeltschs wissenschaftlichem Stil gleichsam entgegen und dokumentiert seinen hohen Reflexionsmodus sowie die ausnehmend breite wissenschaftliche Präsenz bei seinem Ansinnen, Protestantismus und Religion angemessen zu platzieren. Dass Troeltsch auch Widrigkeiten und Spannungsreiches nebeneinander stehen lassen 46 konnte , nämlich dann, wenn einlinige Antworten nicht hinreichend Komplexität abzubilden vermochten, und auf höchste Bestimmtheiten im Fall mangelnder Instrumentarien zu verzichten wusste, ist in den Rezensionen gleichsam handgreiflich dokumentiert und nicht zuletzt für das Feld der Religionstheorie von Belang. Die verschiedenen, in den Rezensionen manifesten religionstheoretischen Interessen Troeltschs konturieren eine Theoriefigur von Religion, die mit verschiedenen terminologischen und paradigmatischen Werkzeugen das Anliegen verfolgt, nicht mehr Religionstheorie als System zu betreiben, sondern um die Gebrochenheit des eigenen epistemischen Status weiß, nämlich der Intention, etwas Bestimmtes einholen zu wollen, das sich einer letzten Bestimmung gerade entzieht – eine Einsicht, die Troeltsch jedoch mitnichten zu einer Hem-
44 Zugespitzt bei Walter Bodenstein: Neige des Historismus, Gütersloh 1959, S. 207: „Troeltsch ist ein gescheiterter Theologe!“ 45 Um der Eigendynamik der Rezensionen Troeltschs Rechnung zu tragen, wird auf eine Einbeziehung seiner Aufsätze und Monographien zum Zwecke eines ‚Abgleichs‘ verzichtet. 46 Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 13 (wie Anm. 27), S. 20 f., bringt dies auf den Punkt: „Nun sind Widersprüche zwischen den Texten ein und desselben Autors bekanntermaßen typisch für die Konstellation des intellektuellen Mehrfrontenkrieges [. . .]. Bei Troeltsch kommt aber noch Grundsätzlicheres ins Spiel. Es spiegeln sich hier zwei Charakteristika seines Denkens und Schreibens: zum einen die Entschlossenheit, allen Bestrebungen zu widerstehen, die eine vielspältige Wirklichkeit simplifizierten [. . .]; zum anderen seine Neigung, die eigene Auffassung in ihrer Vielschichtigkeit nur ex negativo, aus der Ablehnung anderer Positionen, erschließen zu lassen. So gesehen ist das Aufwerfen, Hinnehmen und Aushalten von Widersprüchen geradezu eine Stärke des Denkers und Autors Troeltsch.“
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mung diesbezüglicher Reflexion, sondern im Gegenteil zu höchst produktiven denkerischen Auseinandersetzungen geführt hat.
2 Kant-Figurationen in den Rezensionen Die Debatten, die in den Rezensionen Troeltschs ausgetragen werden, machen sich nicht selten an Kant fest. Dies ist zunächst nicht weiter verwunderlich, sind schließlich die Neukantianismen als die prägende philosophische Rich1 tung des Kaiserreichs auch in den von Troeltsch rezensierten Texten präsent. Und auch das Jubiläumsjahr 1904 – der hundertste Todestag des Königsberger Philosophen – hinterlässt in der Literatur der Zeit deutliche Spuren. Bei der Lektüre der Rezensionen Troeltschs mit besonderem Augenmerk auf seine Kant-Rezeption will sich auf den ersten Blick so recht kein stimmiges Bild ergeben, vielmehr bekommt man es mit unterschiedlichsten Deutungsfacetten zu tun: Troeltsch kann verschiedene Vorzüge Kants benennen, die er an anderer Stelle zu den Schwierigkeiten des Philosophen rechnet. Kant erscheint zeitweise geradezu als moderne Lichtgestalt, an anderem Ort hingegen bloß als einer unter vielen. Auffällig sind neben einigen kontinuierlichen Deutungsfiguren wechselnde Argumentationen, die Troeltsch in unterschiedlichen Kontexten platziert. Troeltschs Kantbild zeichnet sich durch hohe Differenzierung aus, er vermag in unterschiedlichen Kontexten jeweils unterschiedliche Facetten des Königsberger Philosophen zum Einsatz zu bringen. Diesem ‚Deutungsreichtum‘ ist durch den Versuch einer Chronologisierung nicht beizukommen – Troeltsch durchläuft nicht einfach unterschiedliche Phasen der Kantrezeption. Es wird sich zeigen lassen, dass die unterschiedlichen Voten Troeltschs stattdessen auf die unterschiedlichen Debattenkontexte zurückzuführen sind, in denen er sich bewegt und dass sich daraus weniger ein unstimmiges Bild ergibt, vielmehr Troeltsch mit seinen Kantdeutungen geschickt seine eigenen – je nach Debattenkontext freilich unterschiedlich gelagerten – Anliegen ins Spiel zu bringen weiß. Je nach fachlichem Kontext bzw. je nach dem von Troeltsch konstatierten Defizit des besprochenen Textes sind es unterschiedliche Aspekte des Kantischen Denkens und durchaus auch divergierende bzw. differenzierte Bewertungen Kants, die in den Rezensionen begegnen. Dies zeugt jedoch weder 1 Vgl. Jan Rohls: Offenbarung, Vernunft und Religion (Ideengeschichte des Christentums, Band 1), Tübingen 2012, S. 706; ders.: Protestantische Theologie der Neuzeit, Band 2: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 72. Exemplarisch für die Rekonstruktion neukantianischer Philosophie sei an dieser Stelle die einschlägige Untersuchung von Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. 1993, genannt. Trutz Rendtorff: Einleitung, in: KGA 6, S. 1–49, hier S. 23–24, betont die Relevanz der Abarbeitung an den verschiedenen Spielarten des Neukantianismus für Troeltschs religions- und geschichtsphilosophische Selbstklärung bis hin zum Historismus-Band. Auch im Hinblick auf diese Selbstklärung dürfte sein umfangreiches Rezensieren für Troeltsch von großem Wert gewesen sein.
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von einer ungenauen Kantkenntnis noch von einer positionellen Indifferenz Troeltschs, sondern vielmehr von den diskursstrategischen Interessen, die jeweils in die Rezensionen einfließen. Griffig wird in den Kant-Figurationen, worauf Troeltsch selbst in der Wesens2 debatte hinwies: Bestimmung geht immer mit Gestaltung einher , oder zugespitzt mit Friedrich Wilhelm Graf: „Gegenwartsdiagnose zielt immer auf Gegenwartsge3 staltung“ . Die Kantinterpretation Troeltschs bleibt dabei insofern konsistent, als dass ihm diese durchgängig als Folie zur Gegenwartsdeutung und -gestaltung dient, ganz gleich, welche Facette am Kantischen Denken Troeltsch erwähnt, kritisiert oder ablehnt. Diese breit aufgestellte Teilnahme an Debatten, der Facettenreichtum der Korrektur- und folglich der Gestaltungsbemühungen Troeltschs kostet jedoch auch etwas: Das Ergebnis ist ein von gewisser ‚Biegsamkeit‘ geprägtes Theoriegefüge, dem eben nicht nur eine Theoriesprache eignet. Es avanciert Kant in den Rezensionen (a) als (Prä-)Figurator des Neuprotes4 5 tantismus , (b) als verhängnisvoller „Postulaten- und Bedürfnistheologe“ , (c) 6 als nicht „Der Philosoph des Protestantismus“ , (d) als Denker der bleibenden
2 Vgl. Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: GS II, S. 386–451, am prägnantesten S. 431: „Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung“. 3 Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 2, S. 1–27, hier S. 26. Hervorhebung von Verf. Erhellend ist in diesem Zusammenhang ebenfalls ein anderes wirkmächtiges Troeltsch-Diktum: „So ist das Verständnis der Gegenwart immer das letzte Ziel aller Historie.“ Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906/1911), in: KGA 8, S. 183–316, hier S. 205. 4 Es folgen exemplarische Belege: Zur Deutung der Aufklärung als den historischen Gedanken innovierende Epoche und gegen die Zulässigkeit antireligionsgeschichtlicher Reflexe unter Berufung auf Kant: Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Max Reischle: Theologie und Religionsgeschichte. Fünf Vorlesungen, gehalten auf dem Ferienkurs in Hannover im Oktober 1903, Tübingen 1904, in: Theologische Literaturzeitung 29 (1904), Sp. 613–617, jetzt in: KGA 4, S. 340–347; zur Zusammenstimmung von „Weltanschauung des Glaubens“ und „naturgesetzliche[m] Weltbild“ bei Kant sowie der bei Kant angelegten Frage nach der Symbolizität der „Glaubenserkenntnis“: Ernst Troeltsch: [Rez.] Ernst Sänger: Kants Lehre vom Glauben. Eine Preisschrift der Krugstiftung der Universität Halle-Wittenberg, Leipzig 1903, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 166 (1904), S. 929–931, jetzt in: KGA 4, S. 372–375, S. 374 f. 5 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Richard Adelbert Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 3. bedeutend umgearbeitete Aufl., Braunschweig 1893, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 156 (1894), S. 841–854, jetzt in: KGA 2, S. 31–52, hier S. 45, dort fällt auch der Begriff „Postulatentheologie“. 6 Vgl. gegen eine konfessionelle protestantische Beanspruchung Kants im Modus der Würdigung katholischer Kantrezeption: Ernst Troeltsch: [Rez.] August Friedrich Ludwig: Weihbischof Zirkel von Würzburg in seiner Stellung zur theologischen Aufklärung und zur kirchlichen Restauration. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Kirche Deutschlands um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts, Band 1, Paderborn 1904, in: Historische Zeitschrift 98 (1907), S. 402 f., jetzt in:
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Dualitäten , (e) als nur ein Vertreter der Aufklärung bzw. des 18. Jahrhunderts 8 und als Wächter gegen gedankliche Stagnation ; Kants Philosophie wird von Troeltsch weiterhin vorgestellt (f) als defizitär angesichts geisteswissenschaftli9 10 cher Ansprüche , (g) als (anregender) Fundus ungelöster Probleme und (h) als 11 Einladung zu „approximative[r] Metaphysik“ . Diese Reihenfolge suggeriert keine Chronologie innerhalb des Werkes, vielmehr lässt sich zeigen, dass Troeltsch seine sehr komplexe Sicht auf Kant für die jeweiligen Rezensionen variabel
KGA 4, S. 527–529; gegen eine naive Identifizierung Kants als „Philosoph des Protestantismus“: Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Paulsen: Kant der Philosoph des Protestantismus. [S.-A. aus den Kantstudien 4, 1], Berlin 1899, in: Deutsche Litteraturzeitung 21 (1900), Sp. 157–161, jetzt in: KGA 2, S. 675–680; Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Paulsen: Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 1898, in: Historische Zeitschrift 84 (1900), S. 497–500, jetzt in: KGA 2, S. 686–689. 7 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Bergmann: Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie, Marburg 1900, in: Theologische Literaturzeitung 26 (1901), Sp. 696–698, jetzt in: KGA 4, S. 174– 179; Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Reinhard Lipsius: Kritik der theologischen Erkenntnis, Berlin 1904, in: Deutsche Literaturzeitung 26 (1905), Sp. 206–210, jetzt in: KGA 4, S. 395–400. 8 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Gastrow: Joh. Salomo Semler in seiner Bedeutung für die Theologie mit besonderer Berücksichtigung seines Streites mit G. E. Lessing. (Von der Karl SchwarzStiftung gekrönte Preisschrift), Gießen 1905; Leopold Zscharnack: Lessing und Semler. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Rationalismus und der kritischen Theologie, Gießen 1905; Gottwalt Karo: Johann Salomo Semler in seiner Bedeutung für die Theologie, mit besonderer Berücksichtigung seines Streites mit G. E. Lessing, Berlin 1905; Heinrich Hoffmann: Die Theologie Semlers, Leipzig 1905, in: Theologische Literaturzeitung 31 (1906), Sp. 145–149, jetzt in: KGA 4, S. 455–464; Ernst Troeltsch: [Rez.] Rudolf Eucken: Beiträge zur Einführung in die Geschichte der Philosophie, 2. Aufl., Leipzig 1906, in: Historische Zeitschrift 98 (1906), S. 135 f., jetzt in: KGA 4, S. 519 f. 9 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Goldstein: Die empiristische Geschichtsauffassung David Humes mit Berücksichtigung moderner methodologischer und erkenntnistheoretischer Probleme. Eine philosophische Studie, Leipzig 1903; Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte. Erweiterter Sonderband aus Band 7 der Kantstudien, Berlin 1902, in: Historische Zeitschrift 92 (1904), S. 477–482, jetzt in: KGA 4, S. 331–336. 10 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Bergmann: Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie. Marburg 1900, in: Theologische Literaturzeitung 26 (1901), Sp. 696–698, jetzt in: KGA 4, S. 174–179, dort S. 176, findet sich der Terminus „approximative Metaphysik“; Ernst Troeltsch: [Rez.] Karl Robert Brotherus: Immanuel Kants Philosophie der Geschichte, Helsingfors 1905, in: Historische Zeitschrift, 97 (1906), S. 564–567, jetzt in: KGA 4, S. 512–516. 11 Zum Terminus s. Anm. 10. Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Samuel Eck: Aus den grossen Tagen der deutschen Philosophie, Tübingen 1901, in: Theologische Literaturzeitung 26 (1901), Sp. 667 f., jetzt in: KGA 4, S. 166 f.; Ernst Troeltsch: [Rez.] Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte, Erweiterter Sonderabdruck aus Band 7 der Kantstudien, Berlin 1902; Emil Lask: Fichtes Idealismus und die Geschichte, Tübingen 1902, in: Theologische Literaturzeitung 28 (1903), Sp. 244–251, jetzt in: KGA 4, S. 259–269.
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fruchtbar machte. So fallen auch die Bewertungen Kants bzw. die Beurteilung seiner Geltung für die Gegenwart Troeltschs in seinem Urteil höchst unterschiedlich aus – je nachdem, mit welchem Gegenüber er es in seinen Rezensionen zu tun hatte und welche eigenen Interessen er geltend machen wollte.
2.1 Kant als (Prä-)Figurator des Neuprotestantismus In seiner Besprechung von Max Reischles „Theologie und Religionsgeschichte“, sowohl das Werk als auch Troeltschs Rezension in der „Theologischen Literaturzeitung“ erschienen 1904, wird Kant an zwei kontroversen Stellen zentral. Zum einen fungiert er als eine der Ursprungsfiguren modernen, d. h. historischen, Denkens, und damit zusammenhängend wehrt Troeltsch zum anderen dem Anliegen Reischles, das Christentum vor einem historisierenden Zugriff schützen zu wollen. Der Ritschl- und Kaftanschüler Reischle verortet das Aufkommen der „geschichtsphilosophischen Religionsvergleichung [. . .] in dem Erlahmen des systematischen Interesses seit Ritschls Zeit und in dem Hereinwirken des Historizismus in die Theologie, der sich mit der ganzen Stimmung des fin de siècle über 13 unsere Kultur ausgebreitet habe.“ Troeltsch widerspricht dieser Deutung und macht „de[n] historischen Gedanken[]“ geltend, „der von dem deutschen Idealismus und der Aufklärung bereits in die Theologie getragen worden war und der dann durch Vermittelungstheologie und Orthodoxie wieder neutralisiert oder ge14 radezu aufgehoben worden ist.“ Die so konstruierte Theologiegeschichte lässt Aufklärung und Idealismus als Stifter modernen Denkens gelten, während die theologische Gegenwart als erneute Adaptionsphase dieser Gedanken vorgestellt wird. Damit zusammenstimmend zum zweiten Aspekt: Der Versuch Reischles, sich Kant, Schleiermacher, Ritschl und Frank als Gewährsmänner seiner Theo15 logiedeutung als „Offenbarungs-Wissenschaft“ zu sichern, wird von Troeltsch harsch kritisiert. Unter Verweis auf seinen Kant-Aufsatz von 1904 entfernt er Kant und mit einem Seitenhieb auf Schleiermacher aber auch diesen aus der von Reischle angeführten Liste, um so die voraufklärerische Haltung Reischles 12 Hiermit soll keineswegs die unbestreitbare Annahme unterlaufen werden, dass an Troeltschs Denken positionelle Veränderungen festgemacht werden können, vielmehr wird mit anderer, an den Rezensionen ausgerichteter Perspektive positionellen Interessen und ihrer strategischen Umsetzung nachgegangen. 13 Ernst Troeltsch: [Rez.] Max Reischle: Theologie und Religionsgeschichte (wie Anm. 4), hier S. 340 f. 14 Ebd., S. 341. 15 Ebd.
2.1 Kant als (Prä-)Figurator des Neuprotestantismus
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polemisch darlegen zu können. Die Rezension schließt wie folgt: „Dann aber stehen wir wieder wie im 18. Jahrhundert beim Streit um das Wunder, und alles 16 kann wieder von vorne beginnen.“ Die Aufklärung und explizit Kant werden von Ernst Troeltsch hier also als den historischen Gedanken erstens innovierende Größen und zweitens diesen bereits als grundsätzlich gelungen anwendend dargestellt. Die von Ernst Sänger verfasste und zur Preisschrift der Hallenser Krugstiftung gewordene Schrift „Kants Lehre vom Glauben“ (1903) rezensierte Troeltsch ebenfalls 1904 für die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“. Die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ zeichnen sich für gewöhnlich durch überdurchschnittlich umfangreiche Besprechungen aus, so dass zunächst die Kürze der von Troeltsch verfassten Rezension auffällt. Dazu kommt die über einjährige Verzögerung 17 der Einsendung der Rezension durch Troeltsch. Beides zusammengenommen spricht für ein tendenzielles Desinteresse für die Art und Weise der Bearbeitung durch Sänger. Dies deckt sich dann auch mit Troeltschs Bewertung des Werkes, das er etwas süffisant als „begriffs-statistische“ Bereicherung der „Kant18 Philologie“ einführt und in dem er mehrfach explizit auf lohnendere Lektüre zum Thema hinweist. Kantianer in dem Sinne, dass ihn auch solche, wenig problembezogenen Arbeiten zu Kant in seinen Bann hätten ziehen können, ist Troeltsch sicher nicht gewesen. Für die hier auszuwertende Fragestellung sind wiederum zwei Aspekte sehr erhellend, denn Troeltsch macht Kant, diesmal hinsichtlich des Glaubensbegriffes, gleichsam zum Präfigurator neuprotestantischer Anliegen. Erstens weist er Kant als Denker der ‚Zusammenbestehbarkeit‘ aus, indem er herausarbeitet, dass Kant „bei aller prinzipiellen Trennung des objektiven naturgesetzlichen Wissens und des subjektiven praktischen Glaubens [. . .] doch immer die Einheit der Vernunft insofern im Auge [hat], als er dem subjektiven Glauben doch immer auf ihn hinweisende Indicationen des objektiven Erkennens zur Seite giebt und als er die Gegenstände des Glaubens und die Weltanschauung des Glaubens von jeder Kollision mit dem naturgesetzlichen 19 Weltbild frei hält oder vielmehr das letztere auf das erstere stimmt.“ Der zweite von Troeltsch geltend gemachte, für den modernen Protestantismus zentrale Problemkomplex bezieht sich auf den Symbolcharakter dogmatischer Sprache bzw. auf die bei Kant grundgelegte, wenn auch nicht explizit reflexiv von ihm eingeholte „Frage, wie weit die von Kant konstruierte Glau16 Ebd., S. 347. 17 Vgl. Editorischer Bericht zu der Rezension: Ernst Troeltsch: [Rez.] Ernst Sänger: Kants Lehre vom Glauben (wie Anm. 4), hier S. 372. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 374.
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benserkenntnis in ihrer wirklichen begrifflichen und sprachlichen Gestaltung von Kant als adäquate Erkenntnis gemeint sei, oder von ihm doch nur als sym20 bolisch und inadäquat gedacht werde“ . An dieser Stelle ist bereits ein Kontinuum Troeltsch’schen Denkens, das mit seiner Kantdeutung mehrfach korreliert, erkennbar. Zwei Momente, sowohl der Geltungsbezug als auch die unvermittelte Faktizität des Glaubens sind dem modernen Glaubensbegriff zu eigen und zugleich hochgradig interpretations- und vermittlungsbedürftig. Troeltschs Bemühen, gerade diese beiden Signaturen nicht auseinanderfallen zu lassen oder gegeneinander auszuspielen, findet hier seinen Ausdruck. Der Verweis auf diese Irreduzibilität der Sicht auf den Glauben, später prominent unter der Überschrift ‚Apriorität und Psychologie‘ von Troeltsch verhandelt, wird in den Rezensionen nicht in eine Lösung der Verhältnisbestimmung überführt; vielmehr wird beharrlich eben diese Irreduzibilität präsent gehalten. Analog zu dieser Analyse wertet Troeltsch auch das Buch Paul Kalweits zu 21 „Kants Stellung zur Kirche“ 1905 aus . Auch hier verweist Troeltsch auf seinen Kant-Aufsatz, und korrigiert den Problemfokus Kalweits auf nämliches Problem: „Die Unsicherheit liegt in einem ganz anderen Punkte; sie liegt in der eigentümlichen Fassung des Apriori der praktischen Vernunft, das bald in der Analogie zur theoretischen Vernunft die psychologische Wirklichkeit in sich befasst, bald in völliger Aufhebung dieser Analogie lediglich einen Gegensatz zwischen der Vernunftwahrheit und der psychologischen Wirklichkeit sieht. [. . .] Das aber führt in die allgemeinen Probleme der Kantischen Ethik und Religionsphilosophie, 22 die Kalweit nur gestreift hat.“ Neben diesen Verknüpfungen von Kant mit den ‚modernen‘ Themen der Geschichtlichkeit und Reflexion dogmatischer Sprache tritt Troeltsch einer allzu naiven Entgegensetzung von Christentum und Aufklärung als Basis einer einfachen Säkularisierungstheorie entgegen, wenn er nicht lediglich die gegenseitige Verflochtenheit des Christentums und der Aufklärung konstatiert, sondern das Achtergewicht auf die „Christlichkeit“ der Aufklärung legt. In seiner Rezension einer Denkschrift zu Johann Caspar Lavater für die „Historische Zeitschrift“ betont Troeltsch 1904 energisch: „Die in der Aufklärung und in der Genieperiode enthaltene Christlichkeit ist stärker und wirksamer gewesen, als es die 23 gewöhnliche Meinung sich gegenwärtig hält.“ 20 Ebd., S. 375. 21 Bei dieser Rezension handelt es sich um die einzige, die Troeltsch vor dem Krieg für die Kant-Studien verfasste. 22 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Kalweit: Kants Stellung zur Kirche, Königsberg 1904, in: KantStudien 10 (1905), S. 166–170, jetzt in: KGA 4, S. 411–417, hier S. 417. 23 Ernst Troeltsch: [Rez.] Stiftung von Schnyder von Wartensee (Hrsg.): Johann Caspar Lava-
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In einem der religionsphilosophischen Literaturberichte, die Troeltsch für den „Theologischen Jahresbericht“ verfasst hat, widmet Troeltsch der Behandlung Kantscher Philosophie auffällig ausführliches und detailliertes Augenmerk. Ein Sich-Verhalten gegenüber der Kantschen Philosophie als solches sei unumgänglich und für die Gegenwart prägend: „Alle derartigen Versuche bringen es deutlich zur Empfindung, wie sehr der eigentliche Regulator in den Grundprincipien Kants liegt, die einen durch direkte Bezugnahme auf sie, die anderen durch die in die Augen springenden Unklarheiten, die sich bei völliger Ignorirung 24 oder Unkenntniss derselben ergeben.“ Besonders „mit dem steigenden Interesse an der religiösen Frage, die gegenüber den zersetzenden Wirkungen des Agnosticismus und Materialismus sich überall erhebt“, habe „auch die Kantsche 25 Philosophie eine Reihe von Studien angeregt.“ Nach der Schilderung mehrerer kantbezogener Arbeiten referiert Troeltsch einen Aufsatz des französischen 26 Philosophen Charles Renouvier . Stilistisch auffällig bei dieser Besprechung ist das Fehlen jedweder programmatischer Distinktion von Rezensent oder rezensiertem Text. Dem Umfang der zu besprechenden Literatur geschuldet, macht sich Troeltsch als Rezensent in den Literaturberichten ohnehin weniger explizit sichtbar als in Einzelrezensionen, der Besprechung des Aufsatzes von Renouvier ist jedoch eine nicht generalisierbare Begeisterung Troeltschs anzumerken. Das Referat dieses von ihm als „fesselnd[]“ bezeichneten Aufsatzes gibt Aufschluss über Troeltschs Einschätzung der denkerischen Gesamtlage und den von Kant ausgehenden Modernisierungsschub. Die von Troeltsch anhand des Aufsatzes von Renouvier dargestellte Stärke des kantischen Programms bezieht sich auf die Verknüpfung erkenntnistheoretischer Umwälzung bei gleichzeitigem Bezug derselben auf weltanschauliche Überzeugungen und ihre Reflexionsfiguren – eben nämliche Verknüpfung, die Troeltsch in vielen anderen Rezensionen durch Betonung des jeweils fehlenden Pols einfordern wird. Das Programm Kants wird hier von jedem antireligiösen Impuls freigesprochen, vielmehr als dessen Antidot vorstellig gemacht, das gegen die „aller antireligiösen Philosophie zu Grunde liegenden Dogmen von der Unendlichkeit der empirischen Welt und vom Deter27 minismus“ Wirkung entfalten soll. Die geistesgeschichtliche Kontinuität dieser ter 1741–1801. Denkschrift zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages, Zürich 1902, in: Historische Zeitschrift 93 (1904), S. 290–293, jetzt in: KGA 4, S. 348–353, hier S. 350. 24 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre, in: Theologischer Jahresbericht 16 (1897), S. 498–557, jetzt in: KGA 2, S. 213–309, hier S. 231. 25 Ebd. 26 Gemeint ist: Charles Renouvier: Doute ou croyance, in: L’année philosophique 6 (1896), S. 1–76. 27 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre (wie Anm. 24), hier S. 232.
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Gehalte reiche „von der Stoa und dem Neuplatonismus bis in die Scholastik und die moderne Philosophie, wo sie ihren theologischen und teleologischen Beisatz abgestreift und nach der optimistischen Verwerthung durch die Philosophie des 18. Jhrh.s gegenwärtig Skepsis, Agnosticismus, Pessimismus und Indifferenz 28 als ihr letztes Ergebniss folgerichtig herbeigeführt haben“ . Die gegenwärtige weltanschaulichen Früchte werden sodann geschildert: „Atheistische Mystik ist der Charakter der modernen Stegreifphilosophie, die durch Spiritismus, Theosophie und Aehnliches trotz ihrer eigentlich materialistischen Neigungen wieder 29 in decadentes Neu-Symbolistenthum hineingezogen wird.“ Dieser zeitgenössischen, letztlich in ihrer Antireligiosität krisenhaft gewordenen Situation nun wird Kant als denkerischer Wegweiser empfohlen: „Dem gegenüber ist der moralisch und logisch geforderte Ausweg für jedes strenge philosophische Denken, sich mit Kant einem Glauben zu ergeben, der genau ebenso Glaube ist wie der Determinismus und Infinitismus, der aber vor jenem den Vorzug hat, dass er nicht sich logisch in Skepsis und Selbstwiderspruch auflösen muss, sondern eine Anschauung bejaht, die logisch möglich und widerspruchsfrei ist. Sie ist das, weil sie erkenntnisstheoretisch die Relativität des an endlich-sinnliche Kategorien gebundenen Denkens anerkennt und daher von sich aus Widersprüche in ihren letzten Conceptionen zugeben darf, die der dogmatische Monismus ohne Selbstauflösung nicht zugeben kann, weil sie ferner positiv die Contingenz der persönlichen Entscheidungen des Subjectes nicht zum voraus dogmatisch verneint und in der hierdurch allein ermöglichten Anerkennung des Sittengesetzes die Grundlagen des moralischen Lebens sichert, das seinerseits die Gesetzmässigkeit der Erscheinungswelt von sich selbst aus fordern muss und daher den berechtigten Momenten des Determinismus gerecht wird. Die Personalität Gottes und des Menschen müssen gegen jene beiden Dogmen gewahrt werden als die Grundbegriffe eines Glaubens, der erst die Wirklichkeit erklärt, während 30 jener andere Glaube sich in Zweifel auflöst.“ Zahlreiche religionstheoretische Grundanliegen, exemplarisch sei die in theologischer Sprache stets betriebene Endlichkeits- und Kontingenzbefassung genannt, werden in diesem Referat von Troeltsch zum Ausdruck gebracht und aufs Engste mit Kant verknüpft. Troeltsch konstatiert in seiner ‚Väterkonstruktion‘, besonders, aber nicht ausschließlich in den frühen Rezensionen, eine besondere Nähe zu dem neohegelianischen Philosophen Rudolf Eucken. Auch andere Denker werden von Troeltsch in den Rezensionen als positionell nahstehend gewertet, jedoch lohnt
28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 232 f.
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es sich, die von Troeltsch verfassten Rezensionen zu einigen Werken Euckens 31 einer genaueren Betrachtung zu unterziehen . Kant fungiert in der Analyse der Konzeption Euckens als Vertreter des Konzepts eines ethischen Geistes, und Troeltsch rechnet es Eucken als Verdienst an, diesen mit der christlichen Ideenwelt zu verbinden. In der Verquickung dieser beiden Momente sind relevante programmatische Interessen Troeltschs erkennbar, die die Gründe für seine ‚Väterkonstruktion‘ plausibel werden lassen. Denn durch beide Elemente der Eucken’schen Konzeption erfährt der für Troeltsch zentrale Persönlichkeitsbegriff grundlegende Stabilisatoren. Der ethische Geist als für Troeltsch je nur individuell einzuholender Ort der Personalität wird nicht definitorisch sistiert, sondern von ihm – mit Eucken – neoidealistisch in Bezug auf das Christentum offengehalten als „fortschreitende[s], sich entwickelnde[s] 32 Princip[]“ . Die Rezensionen zu Eucken enthalten in dieser Stoßrichtung Spitzen Troeltschs gegen die Kantrezeption des Neukantianismus, der das Œuvre Kants lediglich auf Erkenntnisrestriktion zuspitzt: „Man sieht, es ist im Ganzen eine Reform unseres classischen Idealismus durch den ethischen Geist der kantischen Philosophie und durch die christliche Idee, wobei von der kantischen Philosophie nicht wie im Neukantianismus die skeptischen und phänomenalistischen, sondern die speculativen und ethischen Elemente fortentwickelt sind und das Christenthum im Sinne eines fortschreitenden, sich entwickelnden Prin33 cips behandelt ist [. . .].“ Wenig gravierende Differenzen markiert er lediglich hinsichtlich einer konkreten Erfassung des Religiösen, von der Eucken jedoch umgehend qua Profession entlastet wird. Die Unhintergehbarkeit der Erkenntniskritik Kants wird von Troeltsch zuweilen auf sehr polemische Weise betont. Ein letztes daraus ableitbares Anliegen, das die Modernität Kants und damit zusammenhängend des Protestantismus auszuweisen sucht, ist die Kontinuitätsbetonung von Kant und Schleiermacher. Vermittelt über eine Analyse Schleiermachers von Emil Fuchs kritisiert Troeltsch in einer Rezension aus dem Jahr 1906 die ‚vorkantische Naivität‘ des Verfassers: „In diesem Punkte ist des Verfassers eigenes Denken offenbar sehr unentwickelt; ihm macht es gar keine Schwierigkeit, aus psychologischen Daten metaphysische Realitäten als die diese Wirkungen hervorbringenden Ursachen zu erschließen. Er achtet daher gar nicht auf die Frage, ob Schleiermacher das im Ernst gewollt 31 Vgl. dazu auch Kapitel 3.1.2.1 dieser Arbeit. 32 Ernst Troeltsch: [Rez.] Rudolf Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung, Leipzig 1896, in: Theologische Literaturzeitung 21 (1896), Sp. 405–409, jetzt in: KGA 2, S. 55–63, hier S. 60. Vgl. zu ‚Entwicklung‘ 3.3.2.2 dieser Arbeit. 33 Ebd.
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haben könne, ob er Kant so mißverstanden habe, um ihn derart ‚realistisch‘ korrigieren zu wollen, ob er sich mit den erkenntnistheoretischen Prinzipien Kants 34 überhaupt auseinandergesetzt habe.“ Dass in den Augen Troeltschs auch und gerade der Aufbau der Theologie auf Kant, hier verkörpert durch die Theologie Schleiermachers, unausweichlich war, bahnt sich so seinen Ausdruck.
2.2 Kant als verhängnisvoller „Postulaten- und Bedürfnistheologe“35 Doch Kant erscheint in den Rezensionen Troeltschs nicht nur als Lichtgestalt modernen Denkens und Wegweiser neuprotestantischer Anliegen. In seiner ersten Rezension, 1894 zu der dritten Auflage der Dogmatik von Richard Adelbert Lipsius verfasst, sieht Troeltsch in Kant (und gleichsam in Lipsius) einen Vertreter hochproblematischer religionstheoretischer Positionen, der über den Weg einer „Postulaten- und Bedürfnistheologie“ zwangsläufig der eigentümlichen Struktur religiösen Erlebens niemals auf die Spur komme: „Auf dem Wege der Postulate kommt man eben immer nur zur Gottesidee als einer vom Men36 schen gezogenen Folgerung, aber nicht zu Gott als dem Urheber der Religion.“ Dieser Einwand Troeltschs ist freilich keine platte Korrektur von rechts außen, sondern konstatiert sehr nüchtern den Preis, der religionstheoretisch für eine ‚Entmetaphysierung‘ in Form der Kantschen epistemischen Beschränkung des Gottesglaubens gezahlt werden muss. Die nähere Fassung dieses Preises bei Troeltsch lässt sich wie folgt systematisieren: Erstens besteht in der Kantischen Fassung das Problem, dem Selbstverständnis religiöser Individuen nicht gerecht zu werden. Der religiöse Erlebnischarakter beinhaltet nämlich das Paradox des tätigen Betroffenseins. Zweitens wird in dieser Zuspitzung Kants die Religion jeder weiteren metaphysischen Spekulation enthoben, der Gottesgedanke folglich im Interesse des Sittengesetzes vereinnahmt. Drittens bedeutet die „Verknüpfung der Religion mit dem einzigen intelligibeln oder noumenalen Factor des See37 lenlebens, dem Sittlichen“ eine illegitime Engführung der Religion, allerdings bereits in der dieser Verknüpfung vorausgehenden Weichenstellung, die Religion
34 Ernst Troeltsch: [Rez.] Emil Fuchs: Vom Werden dreier Denker. Was wollten Fichte, Schelling und Schleiermacher in der ersten Periode ihrer Entwicklung?, Tübingen 1904, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 168 (1906), S. 682–688, jetzt in: KGA 4, S. 484–492, hier S. 488. 35 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Richard Adelbert Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik (wie Anm. 5), S. 45, dort als „Postulaten- und Bedürfnistheologie“. 36 Ebd., S. 46. 37 Ebd.
2.2 Kant als verhängnisvoller „Postulaten- und Bedürfnistheologe“
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in ihrer phänomenologischen Tatsächlichkeit eindeutig begründen zu wollen. Eine so betriebene Gotteslehre vermag schon den sehr jungen Troeltsch, von der Unableitbarkeit der Religion überzeugt und Elementen des idealistischen Denkens verhaftet, nicht zu überzeugen. Im „Theologischen Jahresbericht“ für das Jahr 1897 thematisiert Troeltsch die Debatte zwischen Lipsius und dem Berner Theologen Hermann Lüdemann um die angemessenere Deutung Kants vornehmlich hinsichtlich der gegenwärtigen Herausforderung einer Zusammenstimmung „christlich-religiösen Erkennen[s]“ und der ihm innewohnenden metaphysischen 38 Erkenntnis mit dem „philosophischen Erkennen“ . Dabei bringt er explizit seine zuvor verfasste Rezension zu Lipsius zur Sprache und verweist eingehend auf die von ihm vorgebrachte Kritik an diesem, um im Anschluss auf die programmatischen Parallelen und Unterschiede zu Lüdemann hinzuweisen. Vor dem Hintergrund dieser Zusammenstimmung, an der Lipsius und mit ihm der gesamte Neukantianismus scheitere, weist Troeltsch darauf hin, dass „der Bann 39 der Kantischen Bewusstseinsimmanenz durchbrochen“ werden müsse. Im philosophischen Debattenkontext der späten Jahre wendet sich der ‚Berliner‘ Troeltsch 1915 gegen Hermann Cohen, der Kant als Grundlage für einen „formalen ethisch-theistischen Rationalismus“ in Anspruch nimmt. Troeltsch hingegen macht gegen Cohen „die historisch-psychologischen Wirklichkeiten des religiösen Lebens“ geltend und delegitimiert dessen „Ausbau der Kantischen Religionsphilosophie“. Troeltsch streitet an dieser Stelle zwar nicht ab, dass Kant eine geeignete Grundlage für das von Cohen anvisierte Konzept darstellen könnte, hält dies jedoch für programmatisch unattraktiv: „Meinerseits kann ich diesen Ausbau der Kantischen Religionsphilosophie zum formalen ethischtheistischen Rationalismus nicht für richtig halten. Ich finde da die historischpsychologischen Wirklichkeiten des religiösen Lebens von diesem Rationalismus 40 nicht richtig verstanden und eingeschätzt [. . .].“ Ebenfalls 1915 macht Troeltsch nämliches Dilemma moderner Gotteslehre geltend. In der überwiegend begeisterten Rezension zu Fritz Münchs Werk ‚Erlebnis und Geltung‘ beschreibt er die möglichen Wege der Philosophie und kommentiert das Programm einer von aller Ontologie ‚bereinigten‘ Philosophie wie folgt: „Im letzteren Falle blieb dann aber auch die Religionsphilosophie dieses neuen Transzendentalismus, die in ihm eine so zentrale Bedeutung hat, mit 38 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und principielle Theologie, in: Theologischer Jahresbericht 17 (1898), S. 531–603, jetzt in: KGA 2, S. 366–484, hier S. 420. 39 Ebd., S. 424. 40 Ernst Troeltsch: [Rez.] Hermann Cohen: Die religiösen Bewegungen der Gegenwart. Ein Vortrag, Schriften hrsg. von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, Leipzig 1914, in: Theologische Literaturzeitung 40 (1915), Sp. 383–385, jetzt in: KGA 13, S. 39–42, hier S. 42.
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der alten Kantischen Unfruchtbarkeit geschlagen, daß die Religion eine objektiv notwendige, aber immer nur vom Subjekt aus vollzogene Ideenbildung ist, aber 41 keine Realpräsenz des Makrokosmus im Mikrokosmus.“ Dieser Einwand sowie die an Leibniz angelehnte Denkalternative dokumentiert das Interesse Troeltschs, in der Gotteslehre zu einem theistischen Grundgedanken kommen zu können und Gott gerade nicht als Reflexionsprodukt ausweisen zu müssen.
2.3 Kant als nicht „der Philosoph des Protestantismus“ Ein Gegengewicht zu einem breiten Strang protestantischer Autoren aus Theologie und Philosophie stellt Troeltsch hinsichtlich einer konfessionellen Okkupierung Kants dar. Er widerspricht mehrfach einer Vereinnahmung Kants als „Philosoph des Protestantismus“. Auch beobachtet er mit großem Interesse und größtenteils frei von Polemik die katholische Kantrezeption seiner Gegenwart. Bereits einige Jahre vor der mit dem Kantjubiläum 1904 einhergehenden Aufmerksamkeit rezensierte Troeltsch ein 1899 erschienenes Werk Friedrich Paulsens. Der Berliner Philosoph hatte inmitten kontroverstheologischer Zwiste einen programmatischen Vorstoß gewagt, und seine These zum Titel des Buches gemacht: „Kant der Philosoph des Protestantismus“. Troeltschs Rezension für die „Deutsche Literaturzeitung“ aus dem Jahr 1900 lässt deutlich werden, wie die Vorbehalte Troeltschs gegen diese Art der plakativen Vereinnahmung gelagert waren. Ganz nüchtern konstatiert er zunächst den innerchristlichen Grabenkampf, der um die Qualität des Verhältnisses von Kant und Protestantismus im Gange war. „[U]ltramontane[] Geschichtskonstruktion“, die Kant als „den Tiefpunkt der von Luther ausgehenden nominalistischen und subjekti42 vistischen Zersetzung aller Weltanschauung und Philosophie“ annehme, sei Anlass und Widerpart der protestantisch geprägten philosophischen Reaktion. Nachdem Troeltsch mit Paulsen eine theologiegeschichtliche Rekonstruktion des protestantisch-theologischen Kontinuitätskonstrukts von Luther und Kant bietet, gibt er Paulsens Argumentation in ihren Hauptzügen wieder. Die Prinzipien, die
41 Ernst Troeltsch: [Rez.] Fritz Münch: Erlebnis und Geltung. Eine systematische Untersuchung zur Transzendentalphilosophie als Weltanschauung (Kantstudien, Ergänzungshefte, Band 30), Berlin 1913, in: Theologische Literaturzeitung 40 (1915), Sp. 470–472, jetzt in: KGA 13, S. 73–76, hier S. 75 f. 42 Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Paulsen: Kant der Philosoph des Protestantismus (wie Anm. 6), S. 675. Vgl. zu Paulsens Schrift – hier unter Berücksichtigung Julius Kaftans, Karl Holls und Karl Barths – Bernd Hildebrandt: Kant als Philosoph des Protestantismus, in: Werner Zager (Hrsg.): Mut zum eigenen Denken. Immanuel Kant – neu entdeckt, Neukirchen-Vluyn 2006, S. 43–61.
2.3 Kant als nicht „der Philosoph des Protestantismus“
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Protestantismus und Kant aufs Engste miteinander verbänden, lägen im „Prinzip 43 44 der Autonomie des Denkens“ sowie im „Prinzip des Antiintellektualismus“ begründet. Troeltsch bewertet diese Konstruktion in beiden Polen als unzureichend: „Es ist eine sehr weitherzige Fassung des Protestantismus, die hierbei P. vorschwebt. Es ist aber auch eine sehr wenig schulmässige und ebenso weither45 zige Auffassung des Kantianismus, die sich ihm mit der ersteren verbindet.“ Die Identifizierung von Kant als dem Philosophen des Protestantismus wird in der von Paulsen vorgebrachten Version zwar abgelehnt, jedoch zeigt Troeltsch auch die seiner eigenen Auffassung korrespondierenden Aspekte in der These Paulsens auf: „Dass die Darstellung P.s dem wirklichen Sachverhalt entspricht, dass nur im Zusammenhang mit festen religiösen Grundüberzeugungen und, wenn das, dann nur auf dem Boden des Protestantismus moderne Kultur möglich ist, dass der Protestantismus dann aber eine durchgreifende Vereinigung mit der geschilderten Grundposition des Kantianismus eingehen muss, dass schliesslich der Kantianismus weder als Theorie der Skepsis noch als Theorie des Positivismus, sondern als schiedlich-friedliche Auseinandersetzung der positiven Wissenschaften mit einer praktisch mitbedingten, von der Erfahrung aufsteigenden Spekulation hierbei in Betracht kommen kann und nur in diesem Sinne eine dauernde Mission hat: alles das ist meines Erachtens vollkommen 46 richtig.“ Die beiden, für die Verhältnisbestimmung zentralen Größen, nämlich erstens Kant und zweitens der Protestantismus, erfahren durch Troeltsch jedoch deutlich von Paulsen abweichende Zuschreibungen. Zunächst ist es auffällig, dass im Zuge einer sprachlichen wie sachlichen Distanzierung von der These Paulsens Troeltsch auffallend oft von ‚Kantianismus‘ spricht und nicht von ‚Kant‘. Einer allzu naiven Sakralisierung Kants wird somit schon terminologisch der Riegel vorgeschoben. Zwar bemüht auch er sich um die Feststellung eines Zusammenhangs zwischen Protestantismus und der Philosophie Kants, allerdings in deutlich anderer Fassung als bei Paulsen oder der Ritschlschen Schule, auf die Troeltsch in seiner Rezension in polemischer Abgrenzung verweist. Der beide Theoriefiguren unterscheidende Aspekt nun liegt in der „historische[n] 47 Konstruktion des Zusammenhanges“ . Troeltsch ist mit dem Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kant einverstanden, als „durchgreifende Verei48 nigung“ , aber er wehrt sich gegen eine zweifache Verknüpfung. Zum einen 43 Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Paulsen: Kant der Philosoph des Protestantismus (wie Anm. 6), S. 676. 44 Ebd., S. 677. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 678. 47 Ebd. 48 Ebd.
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2 Kant-Figurationen in den Rezensionen
missfällt Troeltsch die barrierefreie Ableitung von Kant aus der Reformation bzw. die damit implizierte konzeptionelle Identität beider Größen. Doch auch den daraus gefolgerten, wiederum beinahe unvermittelten Übertrag auf die Gegenwart möchte Troeltsch deutlich anders fassen als Paulsen. Luther habe mit Kant nicht viel gemein und die Gegenwart werde mit dieser Konstruktion ebenso wenig getroffen. Zugespitzt: Der Protestantismus, dessen „durchgreifende Vereinigung“ Troeltsch konstatiert, ist ein anderer als der Protestantismus, den Paulsen und die ‚Ritschlianer‘ meinen. Die Unterscheidungsfigur von Alt- und Neuprotestan49 tismus liegt in dieser Rezension, und nicht erst in der Protestantismusschrift , bereits offen zutage und wird begrifflich als „prinzipielle Differenz zwischen 50 altem und neuem Protestantismus“ gefasst und griffig bestimmt: „Der Protestantismus, der sich mit dem Kantianismus vereinigt, ist ein moderner, der, 51 auch im Vergleich zu Luther, neue Blutzufuhr erhalten hat.“ Diese „neue Blutzufuhr“ nun ist eine in Wechselwirkung mit der modernen Geistesgeschichte zirkulierende. Das Interesse, die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge wie ihre Selbstständigkeiten gleichermaßen zu betonen, wird an einer Bewertung zu Kant deutlich: „Seine ganze Position war freilich nur auf dem Boden des Protestantismus möglich und von ihm mitbedingt, aber sie geht nicht aus ihm 52 hervor.“ Eine simple Identifizierung Kants als „Philosoph des Protestantismus“, zumal in der Fassung einer barrierefreien Kontinuitätserzählung von Luther zu Kant, ist Troeltsch zufolge weder sachlich dienlich noch historisch zutreffend. Das Verfehlen sachlicher Dienlichkeit bedeutet das von dieser Konstruktion ausgehende Unvermögen, die Krise der Gegenwart, die Troeltsch gemeinsam mit Paulsen anerkennt, zu bearbeiten, freilich deshalb, weil die von Luther zu Kant hin ausgezogenen Lösungen nicht die Fragen und Probleme der Moderne träfen. Troeltsch weist darauf hin, dass „[d]ie Motive des Kantischen Denkens dagegen [. . .] doch in erster Linie in dem autonomen Denken der Aufklärung und in dem Gegensatz, den das naturwissenschaftliche Erkennen zu den idealistisch53 religiösen Interessen herbeigeführt hatte“ , lägen. Troeltsch zeigt sich daran 49 Vgl. dazu Falk Wagner: Geht die Umformungskrise des deutschsprachigen modernen Protestantismus weiter?, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 2 (1995), S. 225–254, hier S. 226, der im Anschluss an Volker Drehsen das Aufkommen des Neologismus „Neuprotestantismus“ in das Jahr 1906 datiert, siehe dazu Volker Drehsen: [Art.] Neuprotestantismus, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 24, Berlin, New York 1994, S. 363–383, hier S. 368, nennt als Belege der „konzeptionellen Ausarbeitung des Neuprotestantismusbegriffs“ Schriften Troeltschs, die zwischen 1906 und 1913 erschienen sind. 50 Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Paulsen: Kant der Philosoph des Protestantismus (wie Anm. 6), S. 679. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd.
2.3 Kant als nicht „der Philosoph des Protestantismus“
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interessiert, die Bearbeitung der modernen Lage nicht durch Heroisierung einzelner Denker betreiben zu wollen, um nicht einer so selbstverordneten Sistierung und Verengung von Problemzuschnitt und Lösungstableau zu erliegen. Dass die naive Identifizierung der Zielsetzungen von Reformation, Kant und gegenwärtiger Geisteslage jedoch nur die eine Seite des Problems darstellt, macht Troeltsch in einem Seitenhieb auf das kirchenpolitische Tagesgeschehen ebenfalls deutlich: 54 „Insbesondere zeigt der hannöversche Ketzerprozess der letzten Tage, dass die Spitzen der protestantischen Kirchen noch heute zum echten Kant grösstentheils keine andere Stellung einzunehmen wissen als seiner Zeit die Wöllner und Genossen, und dass man in diesen Kreisen von einem Verhältniss Kants und des 55 Protestantismus, wie es P. vorschwebt, nicht die entfernteste Ahnung hat.“ Das eingangs bereits erwähnte Interesse an katholischer Theologie, das Troeltsch im Unterschied zu vielen seiner Kollegen auszeichnet, wird beispielsweise mit der 1907 publizierten Rezension zu Ludwig anschaulich. Die mit einer strengen Fassung des Narrativs von Kant als dem Philosophen des Protestantismus notwendig einhergehende Polemik gegenüber produktiver katholischer Beziehung zur kantischen Philosophie und deren Rezeption ist in Troeltschs Besprechungen katholischer Kantrezeption nirgends greifbar, vielmehr prägt 56 unprätentiöses Interesse die Rezension: „Aus dem Tagebuch Zirkels , das er als Regens des Seminars geführt hat, stellt Ludwig eine ‚Kantianisch-katholische Dogmatik‘ zusammen, die höchst interessant die strengen Grundsätze der Kantischen Religionslehre entwickelt und das ganze kirchliche Dogma und die kirchliche Institution als psychologisch-anthropologisch notwendiges Vehikel der Volksreligion, als unentbehrlichen Vorstellungsausdruck für seine Ideen, mit feinster und gewandtester Psychologie konstruiert [. . .]; die kühnsten modernen Ideen sind hier in Übereinstimmung mit der damaligen theologischen Journalli57 teratur vorausgenommen.“
54 Der hier von Troeltsch erwähnte „Ketzerprozess“ richtete sich gegen den Osnabrücker Pastor Hermann Weingart, das Verfahren endete mit der Amtsenthebung Weingarts. Ihm wurde Irrlehre bezüglich Auferstehung und Himmelfahrt Jesu vorgeworfen. Vgl. dazu den von den Herausgebern verfassten Kommentar, in: KGA 2, S. 679. 55 Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Paulsen: Kant der Philosoph des Protestantismus (wie Anm. 6), S. 679. 56 Gemeint ist Gregor Zirkel (1762–1817), Weihbischof Würzburgs. Vgl. dazu detaillierter den betreffenden Kommentar der Herausgeber, in: KGA 4, S. 527 f. 57 Ernst Troeltsch: [Rez.] August Friedrich Ludwig: Weihbischof Zirkel von Würzburg in seiner Stellung zur theologischen Aufklärung und zur kirchlichen Restauration (wie Anm. 6), S. 528.
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2 Kant-Figurationen in den Rezensionen
2.4 Kant als Denker der bleibenden Dualitäten Bei aller von Troeltsch konstatierten Fatalität vorschneller Dualismen im Bereich der Religionstheorie oder Wissenschaftsgrundlegung, und bei aller Legitimierung der Suche nach der Einheit von Wirklichkeit, nutzt Troeltsch Kant mehrfach als Anwalt des Dualistischen und Vorletzten, um einem unangemessenen wirklichkeitsreduktiven Monismus entgegenzutreten. Die Konstruktion von Einheit in der Wirklichkeit hat primär im Interesse der Wirklichkeitserfassung und -deutung und einer Kongruenzerfahrung modernen Lebens zu erfolgen, nicht im Interesse einer einwandfreien Logik des Systems. 1901 besprach Troeltsch die „Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie“ des Marburger Philosophen Julius Bergmann für theologisches Publikum in der „Theologischen Literaturzeitung“. Die Rezension ist im Urteil ausgewogen und ausnehmend unpolemisch. Troeltsch fasst das Hauptinteresse des Buches darin, den „Begriff des Seins im antimaterialistischen Sinne so festzustellen, daß von hier aus die Untersuchungen der principiellen Naturwissenschaften über das zu erschließende physikalisch-mathematische Substrat der Erfahrung ihren Sinn behalten und nur einer Umdeutung in Erscheinungen des absoluten Bewußtseins 58 bedürfen.“ Der daraus folgenden Aufwertung des Geistes tritt Troeltsch freilich nicht ablehnend gegenüber, wohl aber einer überambitionierten, die Wirklichkeit nicht hinreichend erfassenden Systematisierung, die letztlich dann doch „mehr 59 auf die naturwissenschaftliche als auf die ethisch-historische Begriffsbildung“ abzielt. In diesem Zusammenhang wird Kant zum Anwalt des ‚Vielspältigen‘: „Die Logik kann nicht mehr Einheit und Nothwendigkeit in die Wirklichkeit hineinbringen als sie gutwillig hergiebt, und, wenn sie das in Beziehung auf die gerade durch die logische Bearbeitung gefundenen Begriffe nicht weiter führen kann, so muß man bei letzten Antinomien, Irrationalitäten, Polaritäten sich beruhigen. [. . .] [G]erade hierin liegt meines Erachtens die unbefangene Größe 60 des Kantischen Denkens.“ Troeltschs Rezension des von Friedrich Reinhard Lipsius verfassten Werkes „Kritik der theologischen Erkenntnis“ (1904) fokussiert in polemischer Weise die von Lipsius vorgelegte Religionstheorie. Mit etwas anderem Zungenschlag und noch zugespitzter plädiert Troeltsch an dieser Stelle mit Kant als dem Theoretiker des Dualismus und damit der Freiheit gegen „[d]ie Tendenz der kausalnotwendigen Erklärung alles Seienden“: gegen den „Leviathan, der alles ver58 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Bergmann: Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie (wie Anm. 7), S. 176. 59 Ebd., S. 178. 60 Ebd.
2.4 Kant als Denker der bleibenden Dualitäten
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schlingt“ . Kants Dualismus dient Troeltsch hier als Garant der Denkbarkeit von Freiheit. Die Religionstheorie Lipsius’ dagegen ist rein am kausalmechanischen Paradigma ausgerichtet und kommt, so Troeltsch, einer Hinrichtung der Theologie und jeder Gotteserkenntnis gleich, allerdings nicht ohne „ganz 62 unerwartete Wiederbelebungsversuche“ im letzten Kapitel anstellen zu wollen – jedoch erfolglos, so wird man in Troeltschs Sinn ergänzen müssen. Aussagekräftig ist Troeltschs Beurteilung der von Friedrich Reinhard Lipsius betriebenen Rezeption Kants und des Kantianismus. „Von Kant wird nichts angenommen als sein Phänomenalismus, der als die Grundlehre bezeichnet wird, während die für Kants eigene Absicht entscheidenden Sätze der Unterscheidung von Psychologie und Erkenntnistheorie dahinfallen und die letztere der kausalen Psychologie mit dem besonderen Prinzip psychologischer Kausalität, dem Prinzip der schöp63 ferischen Synthese, geopfert wird.“ Das fundamentale Gewicht dieser Beobachtung findet in der von Troeltsch gezogenen Konsequenz seinen Ausdruck: „Von 64 hier aus ergibt sich nun die Kritik von selbst.“ Die von Lipsius durchgeführte unbedingte Aneignung eines Kausalmechanismus transportiert nurmehr eine 65 „rationelle Metaphysik“ . Die allzu simple Ausrichtung am naturwissenschaftlichen Schema ist in ihrer Durchführung den von Troeltsch vertretenen Anliegen der Theologie als Religionstheorie gegenläufig und in ihrer Konsequenz ruinös: „Mechanik, mechanistische Lebenslehre, Entwickelungslehre, Psychophysiologie, psychophysischer Parallelismus verhängen über den Gottesbegriff absoluten Platzmangel. [. . .] Damit ist jeder Theologie und Gotteserkenntnis das Todesurteil 66 gesprochen.“ Kant wird von Troeltsch in dieser Rezension als Gewährsmann für die durch die Unterscheidungen gewonnene Komplexitätserweiterung ins Feld geführt. Doch bleibt Troeltsch nicht dabei stehen, sondern benennt die weiterreichenden Momente zum Ende seiner Rezension in Form mehrerer Fragen: „Vielleicht spielt Irrationalität, Kontingenz und Pluralismus überhaupt im Erkennen eine viel größere Rolle [. . .]? Vielleicht hat doch insbesondere auch der Kantische Dualismus von Psychologie und normativem Apriori und mit alledem die Freiheit ihr Recht? [. . .] Und vielleicht ist die Religion ganz im Recht, wenn 67 sie immer sagt, Gott könne nicht erkannt, sondern nur geglaubt werden?“
61 Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Reinhard Lipsius: Kritik der theologischen Erkenntnis (wie Anm. 7), S. 400. 62 Ebd., S. 397. 63 Ebd., S. 396 f. 64 Ebd., S. 397. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 400.
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2 Kant-Figurationen in den Rezensionen
2.5 Kant als nur ein Vertreter der Aufklärung beziehungsweise des 18. Jahrhunderts Die bei Troeltsch zeitweise anzutreffende Ineinssetzung von Kant und Aufklärung ist eine pragmatische Figur; er betreibt damit keine auf Kant gemünzte Heroenkultur – vielmehr ist das Gegenteil oftmals der Fall. In mehreren Rezensionen betont er, wie lohnenswert die breitere und genauere Betrachtung der zu Unrecht vernachlässigten Protagonisten des 18. und 19. Jahrhunderts wäre, er wendet dies an manchen Stellen sogar in die Figur einer Überrezeption der Klassiker. Solche Gestalten der ‚zweiten und dritten Reihe‘ sind ihm vor allem Hamann, Jacobi, Bayle und Herder. Die Forderung nach einer intensiven und breiteren Erforschung der Aufklärung ist eine mehrfach in den Rezensionen begegnende Figur. Zum Ausdruck kommt damit nicht nur ein rein historiographisches Anliegen, sondern vor allem sachliche Interessen. Formal verhindert der Hinweis zur breiteren Rezeption dieser Epoche ein unproduktives Verharren bei einigen wenigen Vertretern dieser Epoche, das schlimmstenfalls in eine enggeführte Hagiographie mündet. Troeltsch zeigt sich nicht nur äußerst kundig, sondern auch dringlich interessiert an einer über Kant hinausgehenden bzw. Kant kontextualisierenden Lesart des 18. Jahrhunderts. In einer Rezension zu Rudolf Eucken schreibt Troeltsch 1907: „Überaus fesselnd ist der Aufsatz über Bayle und Kant, der den alten Wunsch verstärkt nach einer erschöpfenden Monographie über den ersteren Bahnbrecher der Aufklärung [. . .]; in keinem sind die radikalsten Gedanken des Neuen und die tiefen Eindrücke von unverlierbaren Wahrheiten des Alten so bedeutsam gemischt, so daß gerade von ihm die neue geistige Welt in ihrem Gegensatz und ihrem Zusammenhang gegenüber der 68 alten besonders lehrreich geschildert werden könnte [. . .].“ Vier Jahre zuvor hatte Troeltsch in einer Rezension zu Urban Fleisch bereits eine Überrezeption Kants und Schleiermachers geltend gemacht und auf den Mehrwert einer tiefer gehenden Erforschung Hamanns, Herders und Jacobis hingewiesen: Es „wäre eine Untersuchung von Hamann, Herder und Jacobi weit mehr zu raten. Denn bei diesen liegen die Ausgangspunkte fast aller wichtigen modernen Gedanken über diesen Gegenstand, wenn man von den ja hinreichend oft behandelten Lehren Kants und Schleiermachers absieht. Sie enthalten viel wertvolles, was 69 über die letztgenannten hinausgeht.“ 68 Ernst Troeltsch: [Rez.] Rudolf Eucken: Beiträge zur Einführung in die Geschichte der Philosophie, 2. Aufl. Leipzig 1906, in: Historische Zeitschrift 98 (1907), S. 135 f., jetzt in: KGA 4, S. 519–520, hier S. 520. 69 Ernst Troeltsch: [Rez.] Urban Fleisch: Die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen der dogmatischen Systeme von A. E. Biedermann und R. A. Lipsius kritisch dargestellt,
2.5 Kant als nur ein Vertreter der Aufklärung beziehungsweise des 18. Jahrhunderts
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Zum einen richtet sich die oft begegnende Relativierung Kants durch Historisierung gegen das Kontinuitätsparadigma, das die ‚Positiven‘ hinsichtlich der Verbindung von Reformation, Aufklärung und Gegenwart, stets mit ‚Kant‘ als Schaltstelle, zu zeichnen pflegten. Zum anderen ist Troeltsch jedoch daran interessiert, die Kantdeutung dazu nutzbar zu machen, besonders im Forum theologischer Autor- und Leserschaft einer selbst verordneten Stillstellung der theologischen Wissenschaft bei gleichzeitiger Ruhigstellung der Philosophie einen Riegel vorzuschieben. Julius Kaftan, so moniert Troeltsch 1895, konstruiere die „Entwickelungsgeschichte der Philosophie“ dergestalt, dass „als deren durch die Reformation und Kant herbeigeführtes Endziel eben jene Beschränkung der Wissenschaft auf die phänomenale Erfahrung und die weitere Beschränkung der Philosophie auf die Verknüpfung jener Data mit einem Begriff des höchsten 70 Zweckes dargestellt wird.“ Gänzlich unpolemisch, jedoch in ähnliche Richtung weisend, erfreut sich Troeltsch im „Jahresbericht“ für das Jahr 1897 ausgiebig an solchen Untersuchungen, die sich der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts in breiterer Wahrnehmung verpflichtet zeigen. Troeltsch ergänzt dort, wo ihm diese Untersuchungen noch nicht weit genug gehen, die Pointen dieses Vorgehens, indem er beispielsweise auf die Kant umgebenden denkerischen Vorlagen und wissenschaftlichen Kontexte hinweist: „Lessing’s, Semler’s, Teller’s Gedanken müssen sich sehr schnell verbreitet haben. Aus ihnen entwickelte dann Krug die Perfectibilität zum technischen Begriff. [. . .] In gleichem Sinne hat sich Kant den Begriff einer continuirlichen Entwicklung vom statutarischen Kirchenglauben 71 zum freien Vernunftglauben angeeignet.“ In der Rezension des Akademieberichtes von Adolf Harnack weist Troeltsch energisch auf die Differenzen zwischen Aufklärung und Idealismus einerseits sowie auf die in geistesgeschichtlichen Programmen stets mitlaufende gesellschaftliche Dynamik andererseits hin. Die Rezension ist stilistisch insofern auffällig, als Troeltsch sehr unverhohlen seine sehr ausführliche Besprechung dazu nutzt, eine eigene Akademiegeschichte, deutlich alternativ zu Harnack, vorzustellen. Es finden die programmatischen Differenzen und deren wissenschaftspolitischen Konsequenzen ihre Darstellung: Es „erklärt sich dann auch die Haltung der Akademie Kant gegenüber, der jene Konsequenzen bis zur vollen Verselbständigung der Einzelwissenschaften Berlin 1901, in: Deutsche Litteraturzeitung 24 (1903), Sp. 1213 f., jetzt in: KGA 4, S. 285–287, hier S. 286 f. 70 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre, in: Theologischer Jahresbericht 15 (1896), S. 376–425, jetzt in: KGA 2, S. 80–163, hier S. 91. 71 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre (wie in Anm. 38), S. 443 f.
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2 Kant-Figurationen in den Rezensionen
gegen die Philosophie und zur Aufhebung des philosophischen Dogmatismus selbst fortsetzte und dadurch der gefürchtete Zerstörer der natürlichen Theologie wurde. Ebenso erklärt sich aber auch die Haltung der Humboldt’schen Akademie, in der die neu befruchteten Einzelwissenschaften ihren Einzug hielten und Humboldt wie Schleiermacher die Konsequenzen der Kantischen Haltung gegenüber der Metaphysik zogen, indem sie die philosophische Klasse aufhoben. Eben mit diesen Argumenten wurde auch die Fernhaltung Hegel’s von der Akademie begründet. Sie vertrug nicht mehr die Tyrannei eines Systems, und der Versuch, die Gedankenwelt des deutschen Idealismus wieder zu einem rationalen, deducirbaren System zu machen, sollte im Interesse des Reichthums der Wirklichkeit und der Selbständigkeit der dem Objekt gegenüber auszubildenden Methoden verhindert werden, so berechtigt ein solcher Versuch als Angelegenheit eines einzelnen auch sein mag. Ein letzter, hier hervorzuhebender Umstand bezieht sich auf einen Unterschied zwischen Aufklärung und deutschem Idealismus, der sonst wenig beobachtet wird [. . .]. Die große Aufklärungsbewegung ist von Hause aus nicht eine wesentlich philosophische, sondern eine auf Erneuerung der Naturwissenschaften, der Socialwissenschaften und der Ethik beruhende neue Idee der Kultur, die das praktische Leben technisch, wirthschaftlich, social, ethisch und intellektuell verändern will. [. . .] [G]egen diesen Utilitarismus erhebt sich nun aber die wissenschaftliche Idee des deutschen Idealismus, der rein geistige Probleme und Interessen verfolgt und damit sowohl Vertiefung als 72 Verengung bewirkt.“ Sehr deutlich bringt Troeltsch hier gegen Harnack die spezifische Ambivalenz der Moderne zum Ausdruck. Zudem erfährt die sonst so gebräuchliche Unterscheidung ‚vor-/nachkantisch‘ durch einen Hinweis auf die oft als vorkantisch diskreditierten Metaphysiker Descartes, Locke und Leibniz eine deutliche Relativierung. Wieder wird die Geschichtskonstruktion mit Kant als der entscheidenden Schaltstelle aufgebrochen. Troeltsch bezeichnet diese Denker zwar als Metaphysiker, aber durchaus als moderne, denn „[i]hre metaphysischen Theorien sind nicht mehr die Leitmotive des ganzen Denkens, sondern Reflexe ihrer 73 Arbeit an konkreten Einzelproblemen.“ In der diesen Punkt abschließend auszuwertenden Rezension von 1916, die Troeltsch zu der Kant’schen Schrift „Worin besteht der Fortschritt zum Besseren im Menschengeschlecht?“, herausgegeben 1914 von Kullmann, verfasste, wird wiederum auf die Grundlegung zweier neuprotestantischer Facetten abgezielt, 72 Ernst Troeltsch: [Rez.] Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3 Bände, Berlin 1900, in: Historische Zeitschrift 86 (1901), S. 142–150, jetzt in: KGA 4, S. 116–127, hier S. 124 f. 73 Ebd., S. 124.
2.6 Kant als defizitär angesichts geisteswissenschaftlicher Ansprüche
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diesmal jedoch im Modus der gezielten Kontextualisierung Kants. Troeltsch nennt zum einen die Freiheitskonzeption, zum anderen „die Erfindung der Religion überhaupt“ sowie deren dynamische Verstrickung ineinander: „Die Naturverhältnisse sind nicht abzuändern, das Kapital an gutem Willen ist nicht zu vermehren, aber der Gebrauch und Zinsengewinn dieses Kapitals läßt sich steigern durch Freiheit. Der Glaube und die Freiheit erscheinen geradezu selbst als Produzenten der Geschichte [. . .]. Das bedeutet ein Wirken der Freiheit innerhalb und 74 gegen den Naturablauf und insofern etwas wie eine Entwicklung.“ Deutlich beharrt Troeltsch jedoch auf einer Kontextualisierung dieser Gedanken in das 18. Jahrhundert überhaupt und damit auf einer Relativierung Kants: „In Kants Gegenwart ist die Vernunft im Begriff, diesen Entwicklungsfortschritt mit Riesenschritten zu tun, dazu gehört ‚am meisten die Erfindung der Religion überhaupt‘ 75 [. . .].“
2.6 Kant als defizitär angesichts geisteswissenschaftlicher Ansprüche Die Bewertung Kants in wissenschaftstheoretischer Perspektive seitens Troeltsch ist ambivalent. Mit etwas anderer Stoßrichtung als die aus dem Denken Joachim Ritters hervorgegangene These von der Nachgängigkeit der Geisteswissenschaf76 ten als Kompensationskultur und doch dieser These nicht ganz unähnlich, bemüht sich Troeltsch intensiv und durchgängig um die Arbeit an der Reflexi77 onskultur des „[H]istorisch-[E]thischen“ . Sein Zugriff auf Kant geht einerseits von der Unhintergehbarkeit Kantischer Erkenntnistheorie in ihrer elementarsten Funktion, nämlich dem Ausweis des Konstruktivitätscharakters menschlichen Erkennens aus. Andererseits wird er nicht müde zu betonen, dass die eigentliche
74 Ernst Troeltsch: [Rez.] Immanuel Kant: Worin besteht der Fortschritt zum Besseren im Menschengeschlecht? Ein bisher ungedruckter und unbekannter Aufsatz Kants, hrsg. u. besprochen von Georg Kullmann, Wiesbaden 1914, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), Sp. 549–550, jetzt in: KGA 13, S. 228–230, hier S. 229. 75 Ebd. 76 Vgl. Joachim Ritter: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft (1963), in: ders.: Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 2003, S. 377–406. Vgl. dazu ferner Martin Laube: Theologie des neuzeitlichen Christentums. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs (Beiträge zur historischen Theologie, Band 139), Tübingen 2006, S. 168 f. 77 Ernst Troeltsch: Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 46 (1922), S. 35–64, jetzt in: KGA 13, S. 567–604, hier S. 596 u. ö.
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2 Kant-Figurationen in den Rezensionen
Arbeit moderner Wissenschaftstheorie für den ihn interessierenden Bereich noch aussteht: Kant habe lediglich den modernen Naturwissenschaften den Boden bereitet. Diese Problemkonstellation liegt auch dort zu Grunde, wo Troeltsch sich selbst die Verwendung von Begrifflichkeiten des modernen Kritizismus und gera78 de „nicht der eigentlichen Kantischen Lehre“ zuschreibt. Eine explizitere Qualifizierung dieses modernen Kritizismus erfolgt an keiner Stelle, ‚modern‘ wird in dieser Wendung doch auch im formalen Sinn für die aktuelle Gegenwartswissenschaft besetzt und nicht mehr den generischen Wurzeln neuprotestantischer Anliegen zugeschrieben. 79 Schon in Troeltschs erster Rezension von 1894 zeigt sich die wissenschaftstheoretische Zurückhaltung gegenüber den Versuchen, auf der Grundlage Kants zu einem befriedigenden geisteswissenschaftlichen Paradigma zu gelangen. Troeltsch vergleicht die Vorgängerauflage(n) der Lipsius’schen Dogmatik und analysiert die allen Auflagen gemeinsamen Schwierigkeiten in der Religionstheorie, wo die Frage nach einem wissenschaftlichen Zugriff auf ‚Geist‘ zwar einen Sonderfall beschreibt, aber auch besonders deutlich hervortritt. Zwar sei Lipsius von einer „bloßen Auseinanderreißung in wissenschaftliche Phänomeno80 logie und unwissenschaftliches Mysterium“ , die in den vorigen Auflagen seines Lehrbuchs begegnet seien, abgerückt. Die Folgen für die Auffassung dessen, was Religion sei, seien aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit aber keineswegs attraktiv: „In ersterer Hinsicht erschien die Religion als rein kausal verständliches Erzeug81 nis menschlicher Bedürfnisse, in letzterer als eine mystische Wirkung Gottes.“ Die nun präsentierte Lösung der „Unterscheidung einer empirisch-kausalen und 82 einer praktisch-teleologischen Betrachtungsweise“ vermöge jedoch auch nicht zu überzeugen, transportiert sie doch die nämliche Problematik im Keim noch 83 immer, stelle „nur eine sehr äußerliche Zusammenbiegung“ dar. Gegen Lipsius resümiert er: „Der Grund dieser Verhältnisbestimmung liegt in der einseitig-kausalen und mechanistischen Auffassung des wissenschaftlichen Denkens, die Lipsius mit Kant und den modernen Kantianern auch auf das geistige Leben oder die Geisteswissenschaften anwendet, insoferne dasselbe als in der Zeit verlaufende Erscheinung ebenfalls nur eine mechanisch-kausale 78 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Walter Günther: Die Grundlagen der Religionsphilosophie Ernst Troeltsch’, Leipzig 1914, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), Sp. 448–450, jetzt in: KGA 13, S. 179–183, hier S. 180. 79 Vgl. zu Lipsius auch den Abschnit 2.2 dieser Arbeit. 80 Ernst Troeltsch: [Rez.] Richard Adelbert Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik (wie Anm. 5), S. 41. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 42.
2.6 Kant als defizitär angesichts geisteswissenschaftlicher Ansprüche
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Betrachtung der zeitlichen Veränderungen der erscheinenden Seele gestatte [. . .]. In Wahrheit aber steht und fällt die Religion mit der Gewißheit darüber, daß sie sei, was sie sein will, eine durch Wechselwirkung mit der übersinnlichen Welt 84 entstandene, wenn auch mannigfach bedingte Erfahrung von dieser.“ Zehn Jahre später rezensiert Troeltsch ein Werk des dem südwestdeutschen Neukantianismus nahestehenden Philosophen Fritz Medicus für die „Historische Zeitschrift“. Auch hier hebt er auf die wenig befriedigende Wissenschaftstheorie Kants ab: „Das wichtigste hierbei ist, daß Kant für die Methode der empirischen Geschichte selbst gar nichts getan hat, sondern auf sie einfach die aus der Analyse der Naturwissenschaften gewonnenen Prinzipien einer die Details aneinander reihenden Kausalbetrachtung übertragen hat, woraus sich für die Geschichte 85 nur eine Chronik mit Versuchen kausaler Verknüpfung ergibt.“ Sehr ausführlich begründet Troeltsch die von Kant ausgehende Untermauerung der naturwissenschaftlichen Methodologie sowie deren Unbrauchbarkeit für die am geschichtlichen Denken orientierten Wissenschaften in einer Rezension von Brotherus 1906: „Mit Recht weist der Vf. immer wieder auf die auch von anderen hervorgehobenen Widersprüche hin, die in der angeblichen Zeitlosigkeit des intelligiblen Charakters sowohl gegenüber einer Lenkung der Geister zum Guten als gegenüber dem doch tatsächlich in ihn eingreifenden und von ihm beeinflußten empirischen Verlauf liegen. Hier bricht in der Tat der ganze kunstvolle Bau der Synthese des Apriorisch-Rationalen und des Empirisch-Psychologischen auseinander, der wohl für die Naturerkenntnis zweckmäßig sein mochte, der aber für eine Erkenntnistheorie der Geschichte und des geistigen Lebens so nicht ausreichend ist. Den Ausweg einer alternierenden doppelten Betrachtungsweise verwirft der Vf. m. E. mit Recht. So stünde man vor der Frage einer Um- und Fortbildung der Kantischen Erkenntnistheorie der Geschichte, die die Theorie der empirischen Geschichtserkenntnis weiter auszubauen und an sie die der philosophischen Geschichtsdeutung und Bewertung anzuknüpfen hätte, die insbesondere den Kausalitätsbegriff in einer Weise auszubilden hätte, daß er die Originalität und Spontaneität von Neuentstehungen in sich aufzunehmen und 84 Ebd., S. 43 f. 85 Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Goldstein: Die empiristische Geschichtsauffassung David Humes mit Berücksichtigung moderner methodologischer und erkenntnistheoretischer Probleme; Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte (wie Anm. 9), S. 333. Dass Troeltsch die Kantische Philosophie als untaugliche Vorlage für geschichtswissenschaftliche Ansprüche betrachtet hat, bringt auch Jörg Dierken zur Darstellung: Jörg Dierken: Individuelle Totalität. Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: TS 11, S. 243–260, hier S. 248. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Troeltsch die „Rolle der Anschauung in Kants zweistämmiger Erkenntnistheorie vernachlässigend und die systematische Bedeutung der Urteilskraft abblendend“ zu dieser Einschätzung gelange, ebd.
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2 Kant-Figurationen in den Rezensionen
die apriorisch-intelligiblen Handlungen in den psychologischen Kausalnexus 86 einzustellen vermöchte.“ Die Frage nach der geisteswissenschaftstheoretischen Brauchbarkeit Kants hängt sachlich und wissenschaftspolitisch auffallend oft, wie in der Besprechung Medicus’, mit einer weitgehenden, wenn auch nicht distanzlosen Selbstzuordnung zur südwestdeutschen Kantschule zusammen. Auch in seinen Berliner Jahren hält Troeltsch an dieser Kantdeutung fest und stimmt 1915 in eine Analyse von Fritz Münch („Erlebnis und Geltung“) ein. Nachdem er eine „durchgrei87 fende Übereinstimmung“ konstatiert, die er „im höchsten Grade [. . .] bei der 88 vorliegenden Arbeit von Münch“ sieht, macht er auf einige Probleme aufmerksam, die im Zusammenhang mit dem rezensierten Werk stehen. Dabei erweisen sich die „mechanistischen Konsequenzen d[es] Naturbegriffs, die bei Kant sehr empfindlich sind und denen er sehr unzureichend durch die Unterscheidung 89 von empirischer und noumenaler Wirklichkeit ausweicht“ als ruinös für die Etablierung eines befriedigenden geisteswissenschaftlichen Paradigmas.
2.7 Kant als (anregender) Fundus ungelöster Probleme Troeltsch nutzt viele Rezensionen, um die von Kant ausgehenden Ungereimtheiten zu analysieren, anders formuliert: Er zeigt sich als Rezensent von solchen Werken angetan, wenn sie ebendies leisten (man müsste ergänzen: wenn diese Problemkonstellationen dann auch seinen entsprechen). Diese „inneren Schwierigkeiten“ des Kantischen Denkens zielen in Troeltschs Analyse zum einen auf den oben bereits erwähnten Dualismus, der nun aber durchgängig als unfruchtbar bzw. der Wirklichkeit nicht ohne Weiteres angemessen qualifiziert wird. Zum anderen beharrt Troeltsch in den Rezensionen darauf, Kant unbedingt weiter denken zu müssen, bzw. von ihm begangene Fehler nicht zu reproduzieren. In einer Rezension eines Werkes von Medicus beklagt Troeltsch 1903 zum einen Kants „Privat-Metaphysik“, zum anderen die mangelnde „innere Verbindung“ zwischen den von Kant festgestellten Dualismen: Es gelte festzuhalten, „wie verschlungen und widerspruchsvoll hier Kant’s Denken war, und wie diese Schwankungen in inneren Schwierigkeiten der Kant’schen Transscendentalphilosophie selbst begründet sind. Von Leibnizisch-theologischen Gedanken eines vorausbestimmten, 86 Ernst Troeltsch: [Rez.] Karl Robert Brotherus: Immanuel Kants Philosophie der Geschichte (wie Anm. 10), S. 513 f. Das Werk wurde von Troeltsch ebenfalls 1906 bereits für die „Theologische Literaturzeitung“ besprochen, siehe KGA 4, S. 477–479. 87 Ernst Troeltsch: [Rez.] Fritz Münch: Erlebnis und Geltung (wie Anm. 41), S. 73. 88 Ebd. 89 Ebd., S. 74.
2.7 Kant als (anregender) Fundus ungelöster Probleme
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Causalität und Finalität vereinigenden Weltplanes herkommend hat Kant nach der Kritik d. r. V. doch nicht aufgehört, in geschichtsphilosophischen Betrachtungen von dieser Privat-Metaphysik Gebrauch zu machen [. . .]. Das Verhältniß der Geschichtsphilosophie zu der empirischen Geschichtswissenschaft selbst ist für Kant kein Problem. [. . .] In Bezug auf das Verhältniß dieser Freiheitsthat zu der psychologischen Gesetzlichkeit, zur umgebenden und tragenden Körperwelt und zu einer ontologischen Leitung des Geschehens verschwindet dagegen jetzt die theologisirende Privatmetaphysik; es gilt nun die allgemeine teleologische Theorie der Urtheilskraft, daß wie in der Natur, so auch in der Geschichte eine theoretisch nicht erkennbare, aber praktisch nothwendig zu behauptende Einheit von Freiheit und Nothwendigkeit, von Werth und Natur zu behaupten sei, so daß die Geschichtsphilosophie einen Specialfall des allgemeinen teleologischen, die Einheit von Natur und Geist praktisch bejahenden Urtheils darstellt. Unter dieser Voraussetzung läßt sich das erklärende und werthende Verfahren streng scheiden. [. . .] Zwischen beiden ist aber immer noch keine innere Verbindung, sondern nur die von der teleologischen Urtheilskraft gestiftete transscendentale Beziehung, daß das empirische Material beurtheilt wird, als sei es von der Vernunftidee beherrscht. Die späteren Schriften Kant’s, die seit seiner Religionsphilosophie wieder eine stärkere (übrigens schon auch in der der ‚Urtheilskraft‘ angedeutete) theologische Wendung nehmen, arbeiten wieder mehr mit dem 90 früheren metaphysischen Gedanken der Vorsehung oder lenkenden Natur [. . .].“ Troeltsch warnt angesichts dieser dem Denken Kants inhärenten Untauglichkeiten vor „einseitiger Verherrlichung und in modernisirender, den theologischen Anhang der Ethikotheologie beseitigender Weise die an die ‚Urtheilskraft‘ an91 gelehnte Theorie“ allein hervorzukehren. Diese Figur des ‚unfertigen‘ Kant, dessen Philosophie massive Probleme mitführt, begegnet mehrfach, so auch in einer Besprechung von Brotherus von 1906: „Die Darstellung des Verfassers ist reinlich und durchsichtig, auch sind die von ihm erhobenen Bedenken gewiß begründet, sie weisen auf einen der schwierigsten Punkte in der Kantschen 92 Lehre hin, auf die absolute Trennung des empirischen und intelligibeln Ich.“ 1901 besprach Troeltsch Julius Bergmann für die „Theologische Literaturzeitung“. Die Rezension widmet sich der von Bergmann entworfenen Erkenntnistheorie bzw. Metaphysik. Die umrissene Fragestellung sowie die hierbei gewonnenen Resultate zum „Sein“ nimmt Troeltsch zum Ausgangspunkt für mehrere 90 Ernst Troeltsch: [Rez.] Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte; Emil Lask: Fichtes Idealismus und die Geschichte (wie Anm. 11), S. 261–263. 91 Ebd., S. 263. 92 Ernst Troeltsch: [Rez.] Karl Robert Brotherus: Immanuel Kants Philosophie der Geschichte, Helsingfors 1905, in: Theologische Literaturzeitung 31 (1906), Sp. 488 f., jetzt in: KGA 4, S. 477– 479, hier S. 479.
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2 Kant-Figurationen in den Rezensionen
Selbstverortungen zum Umgang mit der Kantischen Philosophie. Immer wieder betont er die von Kant ausgehenden Schwierigkeiten und die daraus erwachsenden Herausforderungen für die gegenwärtige wissenschaftliche Kultur: „Auch scheint mir Bergmann wieder evident gezeigt zu haben, wie mit der doppeldeutigen Beschränkung Kant’s auf das menschliche Bewußtsein nicht auszukommen ist, und wie alles Denken und Forschen die Idee eines absoluten Bewußtseins implicirt. [. . .] Das aber scheint mir Bergmann auf’s lehrreichste wieder gezeigt zu haben, daß die Kantische Lehre sowohl bei der inneren wie bei der äußeren Erfahrung den Begriff des Seins unrichtig erfaßt und gerade von diesem niemals abzuschiebenden Probleme aus immer von neuem zu den Fragen der Metaphysik 93 getrieben wird“ . Kant hat, will man Troeltsch hier folgen, der Nachwelt mancherlei Unfertigkeit hinterlassen. An einer Dynamisierung gegenwärtiger Debatten interessiert, wird Kant von Troeltsch vor allem mit unerledigten Herausforderungen in Verbindung gebracht, die sich nicht im Modus einer abschließenden ‚Lösung‘ thematisieren lassen.
2.8 Kant als Einladung zu „approximative[r] Metaphysik“94 Hinsichtlich der Kantrezeption fordert Troeltsch deutlich andere Schwerpunkte als die im Gepräge des Marburger Neukantianismus vorfindlichen. Immer wieder weist er eine Zuspitzung auf Kants Erkenntnistheorie ab bzw. klagt die Berücksichtigung des metaphysischen Gehaltes und Interesses Kants ein. Dies leuchtet natürlich unmittelbar vom wissenschaftlichen Anspruch her ein, das komplexe Werk Kants nicht auf eine bestimmte Lesart der Erkenntniskritik oder auf die Erkenntniskritik überhaupt zu reduzieren, geschieht jedoch bei Troeltsch nicht nur aus diesem Motiv. Vielmehr ist das Interesse leitend, jede Totalverweigerung gegenüber der Metaphysik als unkantisch zu qualifizieren, um Kant als einen Gewährsmann für metaphysische Überlegungen überhaupt vorstellig werden zu lassen. Besonders der junge Troeltsch bringt in seinen Rezensionen zu verschiedensten Werken sein Unbehagen gegenüber antimetaphysischer Kantrezeption zur Geltung. Dies geschieht meist im Modus der begeisterten Rezeption ebensolcher Werke, die Kant nicht in einer antimetaphysischen Lesart bearbeiten.
93 Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Bergmann: Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie (wie Anm. 7), S. 176. 94 Dieser Terminus ist der Rezension von Julius Bergmann entlehnt, dort findet sich der Hinweis auf eine Metaphysik, die nach Kant nur noch eine „approximative“ sein könne, ebd., S. 176.
2.8 Kant als Einladung zu „approximative[r] Metaphysik“
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Bereits im „Theologischen Jahresbericht“ für das Jahr 1895 hebt Troeltsch die Kantdeutung des Philosophen Max Apel als „fesselnd und klar geschrieben“ hervor und stellt das Resultat seines Buchs „Kants Erkenntnistheorie und seine Stellung zur Metaphysik“ in wiedergebender Zustimmung vor: „Das Ergebniss ist, dass Kant’s Denkarbeit wohl jede dogmatische Metaphysik, aber keineswegs eine kritische, die Erfahrung verarbeitende Metaphysik unmöglich gemacht hat. Er hat selbst Metaphysik getrieben und seine Erkenntnisstheorie in metaphysischem Interesse behandelt, ist aber gerade in Bezug auf die Metaphysik wegen jener Verschlingung heterogener Denkmotive über Unsicherheiten nicht hinausgekommen. Eine unter Berücksichtigung der erkenntnisskritischen Ergebnisse die Erfahrung logisch bearbeitende Metaphysik statt der alten aus reinen Begriffen deducirenden Metaphysik ist das wahre Ergebniss der Kantschen Bemühungen, das die Neukantianer mit ihrer phänomenalistischen Deutung 95 Kant’s zu Unrecht bestreiten.“ Ebenfalls im 1896 verfassten „Jahresbericht“ pflichtet Troeltsch der Kantdeutung Rudolf Euckens bei, dessen Wahrnehmung des Kantischen Dualismus gleichzeitig metaphysisch-monistische Momente freisetze. Hier ist es besonders der ethische Aspekt des Kantischen Systems, die „That der Freiheit im Sinne 96 Kant‘“ , die gleichzeitig zwei Reiche verbürge, wie auch zu überwinden in der Lage sei. Jede neue philosophische Konzeption gewinne von einer Begründung durch diese Einsicht: „Dieses Neue muss die alte teleologisch-idealistische Grundüberzeugung vereinigen mit der Anerkennung der Thatsache, dass die empirische Weltlage eine sinnlich gebundene, dunkelverworrene, leidvolle ist und dass der Weg in das Reich des Geistes nur durch eine That der Freiheit im Sinne Kant’s führen kann. Diese Vereinigung geschieht, indem die Doppelheit der Wirklichkeit, ihre Spaltung in ein Reich der Natur und in ein Reich des Geistes, der beständige Zwiespalt und Kampf zwischen beiden und die Entstehung, Behauptung und Durchsetzung des letzteren durch die That überempirischer Freiheit eine Aufeinanderbeziehung beider Reiche und die Unterordnung der Natur unter 97 den Geist verbürgen.“ Dabei ist für Troeltsch zentral, dass dieses Bemühen um den einen Grund deutlich erschwert und nicht mehr ‚vorkantisch‘ zu haben ist: „Die Einheit der Wirklichkeit liegt hierbei freilich nicht mehr so einfach zu Tage 98 wie in den älteren Systemen, sie ist weiter hinter die Wirklichkeit verlegt [. . .].“
95 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre (wie Anm. 70), S. 124 f. 96 Ebd., S. 83. 97 Ebd. 98 Ebd.
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2 Kant-Figurationen in den Rezensionen
In nämliche Stoßrichtung weist eine weitere Rezension, früher im Jahr 1896 entstanden, zu Euckens Werk. Troeltsch würdigt die Gesamtanlage des philosophischen Programms Euckens und hebt sowohl die Einflechtung der Kantischen Ethik als auch die damit verbundene Bearbeitung der Metaphysik zustimmend hervor: „Man sieht, es ist im Ganzen eine Reform unseres classischen Idealismus durch den ethischen Geist der kantischen Philosophie und durch die christliche Idee, wobei von der kantischen Philosophie nicht wie im Neukantianismus die skeptischen und phänomenalistischen, sondern die speculativen und ethischen Elemente fortentwickelt sind und das Christenthum im Sinne eines fortschrei99 tenden, sich entwickelnden Princips behandelt ist [. . .].“ Weitere Rezensionen, konzentriert um die Jahrhundertwende entstanden, monieren entweder das Fehlen der Berücksichtigung metaphysischer Anlagen und Gehalte der Philosophie Kants oder würdigen die darauf gelenkte Aufmerksamkeit eines Autors. Zugunsten Friedrich Paulsen votiert Troeltsch 1900: „Namentlich halte ich es für ein Verdienst, daß P. die Metaphysik Kant’s, die seinen speculativen Nachfolgern nicht sympathischer war als den heutigen NeuKantianern, in ihrem Zusammenhang und ihrer Bedeutung für sein persönliches 100 Denken geschildert hat.“ Gegen Samuel Eck betont er 1901: „Bei Kant verschwindet seine Aesthetik und Teleologie sowie seine Geschichtsphilosophie vollständig, indem nur der Unterschied der an Phänomenalität, Causalität und metaphysische Skepsis ausgelieferten Wissenschaft und der moralischen Glau101 bensmetaphysik hervorgehoben wird.“ Gegen Lask macht er 1903 geltend: „Nur darf ihm gegenüber nicht vergessen werden, daß der Verf. sein Thema nach eigenem Geständniß ‚bewußt einseitig‘ d. h. mit ausschließlicher Beziehung Kant’s und Fichte’s auf die transscendentallogische Methodik und mit Ignorirung der von Kant und Fichte damit ver102 knüpften metaphysischen und Freiheitsprobleme behandelt.“ Die mit dieser Analyse verbundene Intention Troeltschs, seiner Gegenwart die Notwendigkeit metaphysischer Reflexion ins Stammbuch schreiben zu wollen, passiert in diesen Rezensionen nicht über die Figur des Antimetaphysikers Kant, den es zu korri-
99 Ernst Troeltsch: [Rez.] Rudolf Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (wie Anm. 32), S. 60. 100 Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Paulsen: Immanuel Kant (wie Anm. 6), S. 687. 101 Ernst Troeltsch: [Rez.] Samuel Eck: Aus den großen Tagen der deutschen Philosophie (wie Anm. 11), S. 167. 102 Ernst Troeltsch: [Rez.] Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte; Emil Lask: Fichtes Idealismus und die Geschichte (wie Anm. 11), S. 268 f. Vgl. zu dieser Rezension sowie zu dem Verhältnis Troeltsch – Lask auch Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 4 (wie Anm. 3), S. 61– 64.
2.8 Kant als Einladung zu „approximative[r] Metaphysik“
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gieren gelte (vgl. 2.2), sondern Kant selbst wird für die metaphysische Aufgabe als Gewährsmann dargestellt. Mit den in diesem Kapitel ausgeführten Beobachtungen sind Beispiele für Debatten vorstellig gemacht worden, in denen Troeltsch zwar kontinuierliche Interpretationsmomente an Kant anführt, diese Aspekte aber durch durchaus widersprüchliche bis gegensätzliche Bewertungen diskursstrategisch einzusetzen weiß. Er vertritt dabei einerseits Deutungen Kants, die zwar unterschiedlich, jedoch auch miteinander kompatibel sind. Andererseits begegnen darüber hinaus Kant-Figurationen, deren Nebeneinander in ein und derselben Rezension unmöglich wäre. Troeltsch bestreitet seine Rezensionen und damit akademischen Debatten – zugespitzt – folglich mit mehr als einem Kant. Das Ergebnis dieser Überlegungen wäre missverstanden, wollte man Troeltsch angesichts der 103 Intensität der Kant-Bezüge zu einem Kantianer erklären. Naheliegend ist vielmehr, Troeltschs variantenreiche, mit unterschiedlichen Problemjustierungen versehene Zugriffe auf Kant in seinen Rezensionen so aufzufassen, dass er sie differenziert als produktive Plattformen zu nutzen wusste.
103 Hans Joas hat bereits für Troeltschs Erwägungen in „Pschologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft“ (1905), jetzt in: KGA 6, S. 215–256, zeigen können, dass es – hier wendet er sich gegen die Deutung Ulrich Barths – nicht überzeugend ist, „Troeltsch [. . .] als einen Kantianer zu interpretieren“, vielmehr bleibe bei Troeltsch von Kant „eigentlich nur die Frage, aber nichts von der Antwort“. Hans Joas: Selbsttranszendenz und Wertbindung. Ernst Troeltsch als Ausgangspunkt einer modernen Religionssoziologie, in: TS N. F. 2, S. 51–64. hier S. 55.
3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung 3.1 „Der unausrottbare Glaube an eine letzte und tiefste Einheit“ – Zum Thema Metaphysik in den Rezensionen Ernst Troeltschs Dass Troeltschs Stellung zur Metaphysik ein weithin ungeklärtes Problemgebiet darstellt, dürfte unstrittig sein. Auch dass Troeltsch zeitlebens an einer grundsätzlichen Beschäftigung mit Metaphysik interessiert gewesen ist, dürfte sich eher in den Fundus allgemeinerer Beobachtungen zu Troeltsch einreihen lassen. Umstritten dabei ist allerdings die Deutung des Gewichts, die diesem Umstand in der Troeltsch-Interpretation eingeräumt wird. Relevant für eine glückende Beantwortung dieser Frage wird vermutlich unter anderem die Klärung dessen sein, ob das Aufgreifen der Metaphysikthematik von Seiten Troeltschs rein negativem Interesse geschuldet war – ‚besetzte‘ er dieses Thema lediglich, um einer aus seiner Sicht verkehrten positiven Füllung bzw. einer allzu naiven Ablehnung einer Metaphysik zu wehren? Oder überzeugen Deutungen, die konstruktive Momente, gegebenenfalls sogar systematische positive Interessen geltend machen, die Troeltschs Programm selbst als ein metaphysisch gesättigtes erkennbar werden lassen? Wird man das Fehlen eines abgeschlossenen metaphysischen Programms überhaupt als Abminderung der Relevanz der Thematik für Troeltsch interpretieren dürfen? Und wie lässt sich der immer wieder in auffällig vielen Schriften Troeltschs begegnende ‚Dreh‘ zur Frage nach metaphysischer Dimensionierung interpretieren? Anders gewendet: Möglicherweise lassen sich die Dinge doch auch anders darstellen, als dass man es bei Troeltsch mit einem genialen, im diagnostischen Zugriff unübertroffen scharfsinnigen und präzisen Denker zu tun habe, der die Antworten jedoch schuldig bleibe und dann, irritierenderweise, zeitweise oder schlussendlich auf metaphysische Deutungsmuster zurückgreife – die Metaphysik also mehr oder weniger als Notlösung bzw. das Defizitäre oder zumindest das Inkonsistente seiner Theologie interpretiert wird. Die überaus disparaten Interpretationen der Thematik Metaphysik im Werk Troeltschs sollen in einem nun folgenden Durchgang durch die Forschung Darstellung finden. Es wird sich zeigen, dass das Thema Metaphysik eine solch enorme Deutungsoffenheit bereithält, dass die anzutreffenden Forschungsbeiträge zu unterschiedlichen – man wird sogar sagen können: zu sich widersprechenden – Urteilen gelangen: Durch Bodenstein erfährt Troeltsch auf der bereits oben angedeuteten Linie
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
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eine Interpretation als „gescheiterter Theologe“ , Historiker und Ethiker (dem 2 allerdings der „letzte ethische Ernst“ abgehe), der das Ringen um ein Nebeneinanderbestehen von Idealismus und Positivismus im Modus einer sisyphosartigen 3 4 „Selbstauflösung“ betreibe und sich einer „idealistische[n] Restmetaphysik“ bediene, die diesen Umstand kaschieren soll. In Wahrheit, so Bodenstein, sei Troeltsch an den von ihm selbst diagnostizierten Problemen des Historismus und 5 der modernen Kultur aus vielerlei Gründen gescheitert. Er attestiert Troeltsch einen kontinuierlichen und konsistenten Problembestand, dessen konstruktive Bearbeitung ihm jedoch letztlich versagt geblieben sei: Dabei seien „[d]ie Selbständigkeit des Geistes und die Unableitbarkeit des Spontanen [. . .] das un6 aufgebbare Grundaxiom in Troeltschs Denken.“ Troeltsch wird von Bodenstein als brillanter Krisendiagnostiker dargestellt, „[a]ber neue Ideen zur Bemeiste7 rung der modernen Lage hat Troeltsch nicht. Es bleibt bei der Forderung [. . .]!“ Die starke Präsenz metaphysischer Gehalte in Troeltschs Denken sieht Bodenstein bereits beim frühen Troeltsch in dessen Religionsbegriff, der „trotz seiner Formel von der Präsenz des Göttlichen in der Seele letztlich mehr Metaphysik 8 als lebendiges Ergriffensein von einer verborgenen Majestät“ sei. Bodenstein 9 sieht eine Modifikation dieser Restmetaphysik in der „philosophischen Epoche“ 10 von einem „positivistisch erweichte[n] Hegel“ des frühen Troeltsch zu einer 11 „Flucht in die Monadenmetaphysik“ , ein metaphysisches Gemisch „in der Ge12 stalt einer Synthese von Leibniz und Hegel“ , den er im Zusammenhang mit dem Historismusband analysiert und in diesem Zusammenhang als einen von vier disparaten Lösungsvorschlägen präsentiere. Troeltsch verspreche sich von diesem letztlich unglücklichen Griff „das Recht der Individualität“ sowie die 13 „echte Verbindung mit dem Absoluten“, kurz: „das Ich-Erlebnis“ festzustellen. 1 Walter Bodenstein: Neige des Historismus. Ernst Troeltschs Entwicklungsgang, Gütersloh 1959, S. 207. Gegen dieses Votum optiert auch Herbert Will: Ethik als allgemeine Theorie des geistigen Lebens. Troeltschs Erlanger Lehrer Gustav Claß, in: TS 1, S. 175–202, hier S. 189. 2 Walter Bodenstein: Neige des Historismus (wie Anm. 1), S. 205. 3 Ebd., S. 192. 4 Ebd., S. 69. 5 Als universaler Lösungsvorschlag dient Bodenstein stets ein Zuschnitt des theologischen Profils, das stark an die theologische Orientierung Hirschs erinnert. Vgl. etwa ebd., S. 58 f. 6 Ebd., S. 195. 7 Ebd., S. 178. 8 Ebd., S. 33. 9 Ebd., S. 69. 10 Ebd., S. 196. 11 Ebd., S. 198. 12 Ebd., S. 170. 13 Ebd., S. 199.
3.1 Zum Thema Metaphysik in den Rezensionen Ernst Troeltschs
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In diesem Zusammenhang bilde das Rickertsche Wertsystem trotz aller Vorbehalte Troeltschs gegen das formale Denken einen unverzichtbaren Baustein, es 14 sei „der neukantianische Rest, von dem er sich nie ganz befreit hat“ , den er jedoch anders als Rickert nicht rein aus der Vernunft deduziere. Bodenstein resümiert: „Troeltsch kapituliert angesichts der Vieldeutigkeit menschlichen Le15 bens.“ Dieses Scheitern des Troeltsch’schen Systems liege nicht zuletzt in dem eigentümlichen Nebeneinander von Geschichte und Metaphysik begründet, in dem Bodenstein letztlich die Reste des christlichen Theologen Troeltsch erblicken 16 möchte . Wolfhart Pannenberg zeichnet den Weg Troeltschs von einer Dilthey nahestehenden Überordnung der geisteswissenschaftlich verstandenen Psychologie zu einer Rickert nahen „erkenntnistheoretischen Grundlegung der Religions17 theorie“ . Der späte Troeltsch habe sich dann zur Metaphysik gekehrt, die ihn nicht nur vom Neukantianismus entfernt habe, sondern auch wieder in die Nähe Diltheys habe rücken lassen, obgleich Troeltsch die Grenzen der Psychologie deutlich gesehen habe. Pannenberg streicht das schon beim frühen Troeltsch bestehende metaphysische Interesse heraus, allerdings sei dieses ein von seinen späteren Interessen qualitativ verschiedenes. Während Troeltsch in seinen frühen Jahren, Pannenberg zeigt dies an Troeltschs „Geschichte und Metaphysik“ (1898), lediglich an einer „metaphysischen Begründung der historischen 18 Erkenntnis“ im Rahmen einer „philosophische[n] Anthropologie oder Psycho19 logie und an deren Extrapolation auf die Idee eines letzten Zieles“ interessiert gewesen sei, ginge es dem späten Troeltsch „um das Verhältnis des Endlichen 20 zum Unendlichen, des Einzelnen zum Ganzen.“ Der frühe Troeltsch sei noch davon überzeugt gewesen, sich lediglich der „Geistmetaphysik“ annehmen zu müssen, während er „die Naturphilosophie sowie die Metaphysik des Absolu21 ten“ erst später in seinen Zuständigkeitsbereich aufnahm. Pannenberg begrüßt diese Wendung, zugespitzt gesprochen, als Selbstkorrektur Troeltschs insofern, als Troeltsch durch diese „‚metaphysisch‘ fundierte[] Erkenntnistheorie“ den 14 Ebd., S. 189. 15 Ebd., S. 195. 16 Vgl. ebd., S. 208 f. Christoph Schwöbel: „Die Idee des Aufbaus heißt Geschichte durch Geschichte überwinden“. Theologischer Wahrheitsanspruch und das Problem des sogenannten Historismus, in: TS 11, S. 261–284, interpretiert die Geschichtsphilosophie Troeltschs zugespitzt als theologisch orientierte Metapyhsik. 17 Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, S. 112. 18 Ebd., S. 114. 19 Ebd., S. 115. 20 Ebd. 21 Ebd.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
„Methodendualismus von Natur- und Geisteswissenschaft und die Enge seines eigenen bloß geisteswissenschaftlichen Ansatzes zur wissenschaftstheoretischen 22 Begründung der Theologie“ zu überwinden vermochte. Karl-Ernst Apfelbacher streicht das bei Troeltsch durchgängig bestehende metaphysische Programm und besonders dessen dem Mystiker Troeltsch entgegenkommende Elemente heraus. Dies geschieht zum einen durch die Betonung der partiellen Opposition zu Dilthey, Rickert und Windelband, die in der anti23 metaphysischen Haltung aller begründet liege . Zum anderen führt Apfelbacher die materialen Bestandteile von Troeltschs Metaphysik aus. Dabei sieht er eine „starke Kontinuität im philosophischen Problembewußtsein Troeltschs“, er konstatiert insgesamt eine große Kontinuität zwischen der Heidelberger und Berliner 24 Zeit in den Auffassungen Troeltschs , nimmt also, anders als Bodenstein, keine 25 26 ‚theologische‘ und ‚philosophische Epoche’‘ Troeltschs an. Im Dienst seiner These, den Typus des Mystikers auf Troeltsch selbst anzuwenden, rekonstruiert auch Apfelbacher das materiale metaphysische Programm Troeltschs als Vermittlung Hegelscher und Leibnizscher Gedanken. Das von Apfelbacher am stärksten geltend gemachte Moment für Troeltschs Interesse an der Metaphysik besteht darin aufzuzeigen, dass es „in der Religion [. . .] nicht zuletzt um ein Denkenmüssen der göttlichen Macht, sondern um ein von ihr ‚Getragenwerden‘ 27 und Ergriffenwerden“ gehe. Aus nämlichem Motiv sei – hier zitiert er aus der Vorlesungsnachschrift einer religionsphilosophischen Vorlesung Troeltschs – die Annahme, „daß der Mensch den ‚Gottesgedanken erzeugen‘“ müsse, „‚ein sehr 28 antireligiöses Ergebnis für energisch religiöse Menschen‘.“ Die in der Religiosität gleichzeitig erfahrene Unterschiedenheit von Gott und menschlicher Seele sei zudem unhintergehbar. Troeltsch strebe, Apfelbacher zufolge, nach einer Aufhebung dieses Widerspruchs in zwei Schritten. Er identifiziere, im Sinne des Neuplatonismus, Herders und Hegels die Gott denkende Bewusstseinsfunk29 tion als Selbstbewusstsein Gottes. „‚Das, wodurch wir den Gottesgedanken 22 Ebd., S. 117. 23 Vgl. Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm (Beiträge zur ökumenischen Theologie, Band 18), München, Paderborn, Wien 1978, S. 97, S. 151. 24 Ebd., S. 153. 25 Walter Bodenstein: Neige des Historismus (wie Anm. 1), S. 207: Bodenstein behauptet, Troeltsch sei durch „die Not der Zeit aus dem christlichen Glauben herausgerissen“ worden und habe „auf philosophischem Boden mit philosophischer Begründung, sich selber unbewußt, bestimmte Erkenntnisse des christlichen Glaubens zu erhalten“ gesucht. 26 Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (wie Anm. 23), S. 107. 27 Ebd., S. 151. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. ebd., S. 151 f.
3.1 Zum Thema Metaphysik in den Rezensionen Ernst Troeltschs
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hervorbringen, wäre die Tat Gottes.‘“ Zweitens lehne er jedoch die „monistische Konsequenz“ ab, dass „‚unser gesamtes Bewußtsein mit allen Greueln 31 und Fanatismen einfach die Selbstauswirkung Gottes‘“ sei, Troeltsch schalte 32 eine „‚Verwandlung‘“ dazwischen, nämlich seine Adaption der Monadologie Leibniz’. Apfelbacher datiert, gegen Bodenstein, Troeltschs erste, an Leibniz orientierte Argumentationen bereits in den Kontext seiner Auseinandersetzung mit 33 Rickert ab dem Jahr 1913. Das Fehlen einer ausgearbeiteten Metaphysik Troeltschs sucht Apfelbacher durch mehrere Faktoren plausibel zu machen: Neben theologiepolitischen Argu34 menten, die auf Konfliktvermeidung gezielt hätten , sei es die programmatische Kongruenz dieser seiner Religionsmetaphysik mit der Geschichtsphilosophie und seinem mystischen Frömmigkeitsstil gewesen, die eine Ausarbeitung einer Metaphysik verzichtbar gemacht hätten. Das „Selbstwerden der Persönlichkeit“, das im Modus der „Hingabe“, „Läuterung“ und „Umkehr“ geschehe, auf das das gesamte Programm Troeltschs ziele, sei an diesen anderen Orten hinreichend 35 von ihm expliziert worden. Drescher betont das trennende Element zwischen Rickert und Troeltsch in 36 Rickerts Verzicht auf Metaphysik . Er konstatiert eine ungleichmäßige Verhältnisbestimmung von Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und Metaphysik 37 bei gleichbleibender Grundlegung durch „Wirklichkeit des religiösen Lebens“ . Er attestiert dem frühen Troeltsch einen Übergang von Hegel zu Kant, freilich beides in kritischer Aufnahme. Hinsichtlich einer Metaphysik der Religion streicht Drescher folgendes Grundanliegen heraus: Strukturell sei es Troeltsch an dem Aufweis gelegen, dass „Religiosität immer zugleich göttliche Wirksamkeit und 38 menschliche Tat in einem“ sei. In drei Momenten werde dies konkretisiert: Erstens gehe es „um ein Zusammenkommen von Göttlichem und Menschlichem in 39 der Religion“ , zweitens um eine Berichtigung des „Exklusivitätsgedanke[ns] [. . .] 40 durch den einer mehr oder weniger großen Tiefenerschließung des Göttlichen“ , 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Ebd., S. 151. Ebd., S. 152. Ebd., es handelt sich wiederum um ein Zitat aus der Vorlesungsnachschrift. Vgl. ebd., S. 153. Vgl. ebd., S. 150. Vgl. ebd., S. 157 f. Vgl. Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, S. 265. Ebd., S. 315. Ebd., S. 332. Ebd., S. 334 f. Ebd., S. 335.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
welches schließlich, drittens, mit einem bestimmten Interesse einhergehe: „Jede Selbstgenügsamkeit des religiösen Lebens muß verändert werden in eine Zuordnung des Religiösen zur Gesamtvernunft und schließt die aus der religiösen 41 Einstellung resultierende Weltgestaltung ein.“ Georg Pfleiderer betont in seiner Troeltsch-Deutung die von Troeltsch konstatierten Gefahren, die von einer dogmatischen Theologie herrührten, die das 42 religiöse Erleben gleichsam überspringe und so zur „religiösen Metaphysik“ werde. Auch die ambivalenten Beurteilungen Hegels durch Troeltsch hebt Pfleiderer hervor und macht auf Troeltschs Einschätzung („Über historische und dogmatische Methode“ [1900]) aufmerksam, dass Hegels Weg der Metaphysik des Absoluten sich fatalerweise nur dem Philosophen erschließe und dort „die Einsicht in den Sinn der Geschichte, welche die Bedingung der Möglichkeit 43 endlicher Freiheit darstellt, exklusiv statthat.“ Troeltsch gehe es auch nicht um eine Sicherstellung der „Selbsterhaltung 44 des ‚Geistes‘“ gegen die Natur, eine solche philosophische Dienstbarmachung der Religion lehne er aufgrund des Erlebnischarakters sowie der sich im religiösen Erlebnis aufdrängenden Erfahrung der Unterschiedenheit vom Göttlichen ab. Pfleiderer weist auf das von Troeltsch anvisierte vierstufige religionsphilosophische Programm hin, dessen letzte Stufe die metaphysische Theorie der Religion darstellt, bescheinigt Troeltsch jedoch eine überwiegende Konzentrati45 on auf den Übergang vom Empirischen zum Erkenntnistheoretischen. Pfleiderer betont die Theorieimmanenz des wirklichkeitswissenschaftlichen Theologieprogramms Troeltschs. Die Hinwendung des späten Troeltsch zur Metaphysik, die mit einer möglicherweise anachronistischen aber sachlich dennoch treffenden „pauschalisierende[n] Aversion gegen den Neukantianismus“ einhergegangen sei, 46 deutet Pfleiderer nicht zuletzt als „dem Zug der Zeit entsprechend“ und interpretiert Troeltsch letztlich neben Wundt und James als einen der Protagonisten 47 der religionstheoretischen „gegenständlichen Wende“ . 48 Jörg Dierkens Rekonstruktion der Metaphysik Troeltschs zielt auf die These 41 Ebd. 42 Georg Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler (Beiträge zur historischen Theologie, Band 82), Tübingen 1992, S. 49. 43 Ebd., S. 46. 44 Ebd., S. 60. 45 Vgl. ebd., S. 64 f. 46 Ebd., S. 68. 47 Ebd., S. 72. 48 Jörg Dierken: Individuelle Totalität. Ernst Troeltschs Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht, in: TS 11, S. 243–260.
3.1 Zum Thema Metaphysik in den Rezensionen Ernst Troeltschs
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ab, dass es trotz des kontinuierlichen Ansinnens, Geschichte und Metaphysik als 49 „Parteigänger der Moderne“ in eine den Problemständen angemessene Form und Wechselwirkung zu setzen, Troeltsch nicht gelinge, eine Metaphysik zu entwickeln, die auf der Höhe dessen zu operieren vermag, was der „Historiker 50 Troeltsch“ erarbeitet habe. Der „Metaphysiker Troeltsch“ hintergehe durch sein 51 Faible für pantheistische Versenkungsvorstellungen bzw. „All-Einheitslehren“ unangemessen „die gedankliche Einholung der historistischen Individualitäts52 wahrnehmung“ , die den Historiker Troeltsch gerade auszeichne. Rohls bescheinigt dem jungen Troeltsch eine „Metaphysik der Geschichte“, 53 die eine „apriorische[] Metaphysik des Absoluten“ gleichsam ersetze . Der späte Troeltsch habe die Grenze der kantischen Erkenntnistheorie jedoch zugunsten einer Metaphysik nach der Prägung Leibniz’ und Malebranches überschritten. Hegels Spielart der idealistischen Metaphysik habe Troeltsch deshalb nicht gelegen, „da [bei Troeltsch, MB] die Teilhabe der endlichen Geister am göttlichen 54 Geist keine vollständige Gotteserkenntnis impliziert.“ Im Ausgriff auf die Analyse der Rezensionen wird sich zeigen lassen, dass die Metaphysik von vornherein, freilich in der Durchführung modifiziert, zum integralen programmatischen Bestandteil der Selbstverortung Troeltschs zählt. Die Hinwendung zur Metaphysik war für Troeltsch keineswegs eine Notlösung und deshalb in ihrer Gestalt auch wesentlich kontinuierlicher anzutreffen als zuweilen attestiert. Die Hinwendung zur Metaphysik lediglich als ‚Verzweiflungstat‘ angesichts der selbst aufgedeckten Krisen zu deuten, erscheint vor diesem Hintergrund unplausibel. Damit ist die Frage nach der Gewichtung der Beobachtung, Troeltsch habe es immer auch mit der Metaphysik zu tun gehabt, keineswegs gelöst, sondern nur umso dringlicher gestellt. Allerdings: Auch bzw. gerade aus der Analyse von Troeltschs Rezensionen heraus wird selbstverständlich kein abgeschlossenes System abgeleitet werden können, dies wäre aussichtslos und angesichts des durchaus zutreffenden Eindrucks der Unabgeschlossenheit und des bis in die Unübersichtlichkeit reichenden Perspektivenreichtums des Systems 55 Troeltschs unlauter. Vom formalen Befund der Rezensionen her gesprochen, lässt sich das von Ernst Troeltsch zeitlebens verfolgte metaphysische Grundinteresse nicht eindi49 Ebd., S. 243. 50 Ebd., S. 260. 51 Vgl. ebd., S. 259. 52 Ebd., S. 260. 53 Jan Rohls: Philosophie und Theologie in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2002, S. 522. 54 Ebd., S. 525. 55 Vgl. dazu den einschlägigen Beitrag: Friedrich Wilhelm Graf: Religion und Individualität. Bemerkungen zu einem Grundproblem der Religionstheorie Ernst Troeltschs, in: TS 3, S. 207–230.
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mensional bestimmen; dies wäre schon deshalb zu kurz gegriffen, da sich das Thema nicht nur großer chronologischer Kontinuität erfreut, sondern auch, weil Troeltsch die Thematik an unterschiedlichsten Frontstellungen und im Kontext verschiedenster wissenschaftlicher Debatten- und Personenkonstellationen platziert. Die auffallende Präsenz des Interesses an Metaphysik zieht sich innerhalb wie auch außerhalb fachtheologischer Besprechungen gleichermaßen durch. In den folgenden drei Teilen erfolgt zunächst die Analyse einer exemplarischen Besprechung zum Thema Metaphysik aus dem Jahr 1903, verfasst zu 56 einer Monographie des damaligen Berliner Privatdozenten Georg Wobbermin. Sodann werden die für das Thema Metaphysik aussagekräftigen Rezensionen insgesamt auf verschiedene Diskursfronten hin strukturiert, um einen möglichst differenzierten Zugriff auf die von Troeltsch verfolgten Interessen zu erlangen. Abschließend erfolgt eine resümierende Klärung der in den Rezensionen Troeltschs anzutreffenden Kontinuitäten und Diskontinuitäten, die für seine Auseinandersetzung mit dem Thema Metaphysik kennzeichnend sind.
3.1.1 Eine exemplarische Rezension: Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie Die ausgewählte Rezension gehört in das Zentrum der von Troeltsch in seinen Rezensionen anzutreffenden Verhandlungen des Themas Metaphysik. Das Rezensionsexemplar des Werkes von Wobbermin war Troeltsch bereits im August 1901 zugegangen. Im Jahr 1903 besprach Troeltsch, nach zwei Mahnungen der Redaktion, das 1901 veröffentlichte Buch „Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie“ für 57 die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“. Diese Zeitschrift publizierte auffallend 58 umfangreiche und ausführliche Rezensionen , was Troeltsch wertschätzend gegenüber Bousset heraushob: „Du mußt überhaupt auch ein bischen für die GGA
56 Vgl. Matthias Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt. Studien zur Geschichte der liberalen Theologie nach 1918 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 102), Berlin, New York 1999, S. 266 f. 57 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie, Berlin 1901, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 165 (1903), S. 849–856, jetzt in: KGA 4, S. 296–305, hier S. 296. 58 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, KGA 4, S. 1–70, hier S.24. Auch Troeltschs Werke wurden mehrfach in diesem Organ besprochen, vgl. ebd., S. 26.
3.1 Zum Thema Metaphysik in den Rezensionen Ernst Troeltschs
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wirken, da kann man sich doch am offensten u gründlichsten aussprechen.“ Troeltschs Rezension bildete den Schluss der Besprechungen des Werkes von Wobbermin, es waren 1902 Rezensionen von Otto Ritschl in „Die Christliche Welt“, von Friedrich Reinhard Lipsius im „Archiv für Religionswissenschaft“, sowie bereits 1901 eine Selbstanzeige Wobbermins in „Die Christliche Welt“ 60 vorausgegangen . Die nun herangezogene Rezension zu Wobbermin umfasst in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ sieben Seiten und zeichnet sich durch den konzentrierten Fokus auf konzeptionelle Fragen zur Metaphysik aus. 61 Georg Wobbermin (1869–1943) , der 1915 der Nachfolger Troeltschs auf 62 dem Heidelberger Lehrstuhl wurde , legte mit „Theologie und Metaphysik seine 63 erste größere Monographie zur Konzeption moderner Theologie vor . Der gebürtige Stettiner Wobbermin ist während seines Studiums in Berlin wesentlich von Julius Kaftan und Adolf (von) Harnack geprägt worden, beide wirkten für ihn darüber hinaus als wichtigste akademische Förderer. Während der 1890er Jahre wurde Wobbermin sowohl mit einer philosophischen als auch mit einer theologischen Arbeit in Berlin promoviert und habilitierte sich 1898 ebenda. Er verblieb in Berlin bis zu seiner Berufung nach Marburg als außerordentlicher Professor im Jahr 1906. Weitere Wechsel nach Breslau, Heidelberg (Nachfolge 59 Brief von Ernst Troeltsch an Wilhelm Bousset, 1.1.1900, Göttingen, Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek, Cod. Ms. Bousset 140, Bl. 44., zitiert nach: Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 58), S. 25. 60 Vgl. Otto Ritschl: [Rez.] Georg Wobbermin, Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie, Berlin 1901, in: Die Christliche Welt 16 (1902), S. 978, die Besprechung Ritschls erschien in der Rubrik „Verschiedenes“ neben einigen anderen Rezensionen. Die sehr knapp gehaltenen Anzeigen umfassen durchschnittlich eine halbe Spalte. Diesen sehr übersichtlichen Raum nutzt Otto Ritschl zur Hälfte dazu, eine seiner thematisch anschlussfähigen Arbeiten zu bewerben. Vgl. auch Friedrich Reinhard Lipsius: [Rez.] Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie, Berlin 1901, in: Archiv für Religionswissenschaft 5 (1902), S. 280–285; [Selbstanzeige] Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie, Berlin 1901, in: Die Christliche Welt 15 (1901), S. 804–805. 61 Matthias Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt (wie Anm. 56), S. 281, weist auf die unterschiedliche Schleiermacher-Bewertung Troeltschs und Wobbermins als Differenzmarker hin. 62 Troeltsch vertraute seine Haltung zu seinem Nachfolger in Heidelberg Wilhelm Bousset in einem Brief vom 21.12.1914 an: „Für mich als Ersatz habe ich natürlich vor allem [Rudolf] Otto gewollt. Es war ganz unmöglich. Ich weiss nicht warum. [. . .] Nun hat Wobbermin angenommen. Er ist nicht mein Geschmack, wacker und tüchtig, aber etwas philiströs.“ Erika Dinkler-von Schubert (Hrsg.): Ernst Troeltsch. Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset 1894–1914, in: Heidelberger Jahrbücher 20 (1976), S. 19–52, S. 50. 63 Vgl. Matthias Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt (wie Anm. 56), S. 266.
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Troeltsch), Göttingen und schließlich 1935 nach Berlin (Nachfolge Kaftan) folg64 ten. Wobbermin war bereits ab 1903 ein engagiertes Mitglied der Vereinigung der „Freunde der Christlichen Welt“ und unterhielt intensiven Kontakt zu Martin 65 Rade. Die Arbeiten Troeltschs und Wobbermins kreisen zur Zeit der Jahrhundertwende durchaus um vergleichbare Fragestellungen, unterscheiden sich jedoch nicht unerheblich in den Durchführungsversuchen. Schon früh und durchgängig widmete sich der systematische Theologe Wobbermin methodologischen Fragen, deren Ausgang er von einer Auseinandersetzung mit der erwachenden Religionspsychologie aus gewann. Die Religionspsychologie als „Basistheorie 66 Systematischer Theologie“ wurde von ihm vornehmlich an Schleiermacher und James profiliert, ausdrücklich mit dem Interesse verbunden, auf diesem Wege 67 die Modernitätstauglichkeit religionsreflexiver Wissenschaft sicherzustellen. Seine Gedanken in „Theologie und Metaphysik“ möchte Wobbermin laut des Vorworts verstanden wissen „als Vorarbeiten [. . .] für eine wissenschaftliche Vertretung der christlichen Weltanschauung in ihrem centralsten Punkt, dem Glauben an einen persönlichen Gott und sein Reich persönlicher Geister, vorzüglich gegenüber den heute weitverbreiteten Weltanschauungen des Materialismus, 68 Agnostizismus, Pantheismus und Panpsychismus“ . In 31 Paragraphen entwickelt Wobbermin in einem ersten Teil „Erkenntniskritische Untersuchungen über 69 den Begriff des Metaphysischen und seine Bedeutung für die Theologie“ . Der gesamte zweite Teil des Buches widmet sich in zwei Unterkapiteln dem Empiriokritizismus, der nach Wobbermin „neuesten und gegenwärtig einflußreichsten 70 philosophischen Richtung“ . Der umfangreichste dritte Teil hat „Die Grundpro71 bleme der Metaphysik und ihre Bedeutung für die Theologie“ zum Gegenstand,
64 Vgl. zur akademischen Laufbahn Wobbermins ausführlich ebd., S. 253–274. 65 Vgl. ebd., S. 270. Vgl. hierzu auch den Briefwechsel beider, herausgegeben und eingeleitet von Matthias Wolfes, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 12 (1999), S.69–183. 66 Matthias Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt (wie Anm. 56), S. 264. 67 Vgl. zum theologischen Programm Wobbermins: Ralf Geisler: Kants moralischer Gottesbeweis im protestantischen Positivismus (Göttinger theologische Arbeiten, Band 51), Göttingen 1992, bes. Kapitel III.2, S. 206–252; Georg Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft (wie Anm. 17), S. 74–103; Matthias Wolfes: Protestantische Theologie und moderne Welt (wie Anm. 56), S. 251–406. 68 Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie, Berlin 1901, S. V f. 69 Dieser umfasst §§ 2–5, vgl. ebd., S. 14–64. 70 Ebd., S. VI. 71 Dieser umfasst §§ 14–31, vgl. ebd., S.115–289.
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nach einer Klärung „Psychologische[r] Vorfragen“ wird der Hauptgedanken73 74 gang entfaltet in „Das Ich-Problem“ und „Das Kausalitätsproblem“ . Nachdem Troeltsch in seiner Besprechung das ihm vorliegende Werk als „so75 lide und tüchtige Arbeit“ gewürdigt hat, folgt nahezu umgehend der Einstieg in die sachliche Debatte mit dem Autor, was freilich von einem hohen diskursiven Anliegen zeugt. Die vorgenommene Analyse der Genese und Gegenwart des Verhältnisses von Metaphysik und Dogmatik, die gleichzeitig eine Kontextverortung 76 des zu rezensierenden Werkes darstellt, setzt bei der „unheilbaren Entzweiung“ dreier Größen ein: „der Metaphysik, der Dogmatik und der eigene freie Wege 77 gehenden modernen Weltanschauung“ . Die modernen Lösungsversuche dieses Konfliktes, von Troeltsch hier mit Kant, Schleiermacher sowie Ritschl und dessen Schule identifiziert, nehmen unterschiedliche Verhältnisbestimmungen dieser Größen vor. Während die religionsphilosophische Konzeption Kants für die Entlastung und damit gleichzeitig für eine Isolierung der Religion sorgte, indem „sie dem nichtreligiösen Erkennen überhaupt den metaphysischen Anschluß versagte und die Metaphysik der Religion lediglich in Thatsachen des sittlichen Bewußtseins enthalten, aber jedes adäquaten wissenschaftlichen Ausdrucks für 78 metaphysische Realitäten unfähig sein ließ“ , biete das Programm Schleier79 machers eine „grandiose Umarbeitung der Kantischen Religionsphilosophie“ . Diese Größe macht Troeltsch wiederum an der Religionstheorie fest: „Die Religion enthält die einzige uns zugängliche metaphysische Erkenntnis, aber als einen nur poetischer Symbolisierung fähigen und nie in begriffliche Einsicht verwandelbaren Gefühlsgehalt, wobei der weiche Bildcharakter der religiösen 80 Vorstellung eine Konformierung mit der sonstigen Welterkenntnis erlaubt.“ Durch zunächst nicht näher spezifizierte „Nachfolger“ habe jedoch eine fatale Entwicklung ihren Lauf genommen: Der „bloße Symbolcharakter der religiösen 81 Metaphysik [. . .] [wurde, MB] nicht festgehalten“ . Dieser Missstand gelte auch 82 für „Ritschl und seine Schule“ . Die Empfindung einer permanenten Konkur83 renzsituation von „nicht-religiöse[r] Metaphysik“ und religiöser Metaphysik sei 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83
Ebd., S. 121, vgl. §§ 15–17. Vgl. §§ 19–25. Vgl. §§ 26–31. Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik (wie Anm. 57), S. 296. Ebd., S. 297. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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die Folge, die – im Falle Ritschls – den Versuch der Konkurrenzentledigung durch die Figur der Offenbarung nach sich gezogen habe. Die Argumente gegen ein solches Auseinanderfallen metaphysischer Perspektiven gewinnt Troeltsch aus zwei Beobachtungen. Zum einen seien auch in der religiösen „Idee metaphy84 sische Aussagen“ inbegriffen, „die in die Betrachtung der Welt eingreifen und 85 die in dieser einen Ort verlangen, wo sie sich anfügen und einfügen können“ . Zum anderen ergebe sich aus „eine[r] wirklich streng[en] antimetaphysische[n] 86 Weltbetrachtung“ die ‚Auslieferung‘ des „Menschen an die unmittelbare Erfah87 rung“ , „ihm jeden Gedanken an eine von ihr verschiedene und sie inhaltlich 88 beherrschende Wirklichkeit unmöglich“ machend. Diese Beobachtungen stellen gleichsam den Ort dar, an dem der rezensierte Autor Wobbermin eingezeichnet wird. Diese pointierte Konstruktion des wissenschaftlichen Ortes eines Autors bzw. eines Werkes ist charakteristisch für Troeltschs Rezensionen. An der von Wobbermin versuchten Vermittlung zwischen den berechtigten 89 Anliegen der „Schleiermacher-Ritschlschen Schule“ , nämlich „die in der religiösen Erkenntnis behauptete und von der Theologie verarbeitete Metaphysik 90 in ihrer besondern religiösen, von aller Spekulation verschiedenen Art“ bei gleichzeitiger Einblendung nicht-religiöser Metaphysik, bemängelt Troeltsch eine 91 gewisse Unbestimmtheit , die den Metaphysikbegriff zu einer Art ‚Containerbegriff‘ zu werden lassen droht. Troeltsch fordert eine Unterscheidung zwischen zwei Arten metaphysischer Gedankenbildungen. Einerseits solche, „die direkt in den Begriffen der Religionswissenschaft enthalten sind und die zu Recht bestehen müssen, wenn von einer Wahrheit der Religion überhaupt die Rede sein 92 soll“ – andererseits solche, „die ohne den besondern Anschluß an die Religion selbständig und von sich aus der Bearbeitung der gesamten Breite der Erfahrung entspringen“, und „damit von sich aus und auf ihre Weise den an sich selbstän93 digen religiösen Gedanken unterstützen“ . An diese von Troeltsch eingeforderte Unterscheidung lassen sich folgende Beobachtungen knüpfen: zunächst ist es auffällig, dass der Troeltsch hier vorschwebenden ‚Religionswissenschaft‘ keine grundsätzlich metaphysikfeindliche Stoßrichtung eignet, vielmehr verbindet 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93
Ebd. Ebd., S. 297 f. Ebd., S. 298. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 299.
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Troeltsch und Wobbermin die Annahme, eine angemessene theoretische Deutung religiöser Geltungsmomente nur in Auseinandersetzung mit Metaphysik erreichen zu können. Interessant sind vielmehr die begegnenden Korrekturen, die Troeltsch zu Wobbermins diesbezüglichem Programm vorbringt. Offenkundig ist Troeltsch grundlegend daran gelegen, nicht hinter Schleiermachers Einsicht zurückzufallen, es bei religiös erschlossenen Gehalten mit Symbolhaftem zu tun zu haben. Dies stellt in Troeltschs Augen keine unüberwindbare Spannung zur Einbeziehung des Begriffes Metaphysik dar, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Troeltsch bezeichnet, Schleiermacher affirmativ zusammenfassend, diese Gehal94 te als „einzige uns zugängliche metaphysische Erkenntnis“ , die – auch dank ihres gewussten Symbolcharakters – eine „Konformierung mit der sonstigen 95 Welterkenntnis“ gestatte. Das harte Gegeneinanderlaufen von religiöser und nicht-religiöser Metaphysik, das laut Troeltsch von der Ritschlschen Theologie ausgehe, bedeute indes einen Rückfall hinter die Errungenschaften der Reli96 gionstheorie Schleiermachers. „Ritschl und seine Schule“ seien „im Ganzen 97 ohne genauere Berücksichtigung des sonstigen Welterkennens“ ausgekommen und hätten zwar „eine Zeit lang die Theologie konzentriert und aus ihrem religiösen Grundgedanken gestärkt, aber schließlich ganz natürlich von neuem 98 zu den alten Konflikten geführt“ . Die Schaltstelle dieser Entwicklung verortet Troeltsch in dem problematischen Umstand, dass das Verständnis „religiöser 99 Vorstellung“ als Symbolhaftes in die Verwendung eines Offenbarungsbegriffs umschlug, der die religiöse Vorstellung wiederum in die Sphäre der Gegenständlichkeit eintrug. Wenn Troeltsch konstatieren kann, dass das Aufkommen der 100 „alten Konflikte[]“ eine ganz ‚natürliche‘ Folge der Ritschlschen Theologie gewesen sei, bedeutet dies, dass in seinen Augen eine Theologie, die gänzlich auf Scheidung von Metaphysik aus ist bzw. sich als etwas gänzlich anderes wähnt, nur eine letztlich doch unausweichliche Problemstellung, nämlich die 101 „Schlichtung“ von unterschiedlichen Geltungsansprüchen, durch Ignorierung hinauszögert und umso drängender werden lässt. Die von Troeltsch, dem Denker der „Zusammenbestehbarkeiten“, angestrebte freilich nicht spannungsfreie Kongruenzermöglichung von religiöser und nichtreligiöser Metaphysik wird in seiner Theorie vom Welterkennen grundgelegt: 94 Ebd., S. 297. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 Ebd. 101 Ebd.
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Troeltsch zufolge enthält, wie bereits angeführt, jede religiöse Idee bereits metaphysische Annahmen in sich. Die selbstverordnete Abstinenz von jeder Metaphysik, die von der Theologie durch eine strikte Trennung beider herbeigeführt wurde, läuft folglich einem Grundbedürfnis nach Kongruenzerfahrungen zuwider, das Troeltsch zufolge eben auch und gerade für den Bereich der Religiosität statthat. Dass Troeltsch darüber hinaus so etwas wie ein metaphysisches Grundbedürfnis attestiert, ohne das sich der Mensch den ungefilterten Erfahrungen preisgeben würde, macht die von ihm angenommene grundlegende Unabdingbarkeit metaphysischer Reflexionsfiguren deutlich. Der Mensch scheint, Troeltsch 102 zufolge, doch auch so etwas wie ein „animal metaphysicum“ zu sein. Diese im Kern gegen Avenarius gerichtete Bewertung will jedoch recht verstanden sein. Sie möchte nicht mehr und nicht weniger als die Möglichkeit verbürgen, über die klassischen metaphysischen Themen wie dem Gottes- oder dem Freiheitsgedanken, also gerade reflexiv eingezeichneten Differenzfiguren, zu einer aussichtsreicheren Selbstdeutung zu gelangen. Durch die Annahme einer religiösen und einer philosophischen Metaphysik mit jeweiligen Spezifika werden dabei sogleich die der Moderne eigentümlichen ‚Reibungsmomente‘ eingebaut. Die von der Ritschlschen Theologie eingeführte Kategorie der Offenbarung lässt die Genese und Geltung religiöser Vorstellung hingegen nicht nur immun ge103 gen „sonstiges Welterkennen“ werden, sondern verhindert in der Folge die Artikulationsmöglichkeit unverträglicher Geltungsmomente überhaupt. Auf die Fragestellung hin gewendet, welche Folgerungen diese Beobachtungen für das Metaphysikverständnis Troeltschs erlauben, ist festzuhalten, dass Troeltsch in dieser Rezension der expliziten Verknüpfung von Theologie und Metaphysik Geltung einräumt, wobei er diese Beziehung vielfach dimensioniert. Troeltsch möchte, wie bereits angeführt, gegen Wobbermin differenzieren, ob man es mit „metaphysische[n] Gedanken“ zu tun habe, die religiösen Ideen 104 erwachsen , oder solchen, die einem anderen Entdeckungszusammenhang 105 entspringen . Es ist auffällig, dass Troeltsch seine Konzeption von Metaphysik vor einer Verwechslung mit vorkantischer Transzendenzfeststellung schützen möchte, indem 106 er durchgängig von „metaphysischen Gedanken“ bzw. „Gedanken an eine [. . .] 107 beherrschende Wirklichkeit“ spricht. Dies erhellt vor allem im Zusammenhang 102 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweiter Band, Erster Teilband, in: ders.: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Band 3, Zürich 1977, S. 186–221, S. 187. 103 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik (wie Anm. 57), S. 297. 104 Vgl. ebd., S. 298. 105 Vgl. ebd., S. 299. 106 Ebd., S. 298. 107 Ebd.
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mit der vorgenommen Charakterisierung Schleiermachers als dem Theologen, der „dem Denken und Handeln die Idee des Absoluten nur als Voraussetzung immanent sein ließ, dagegen im frommen Gefühl das Absolute empfinden und im symbolisierenden Phantasie-Ausdruck für diese Gefühlsgewißheit die reli108 giöse Vorstellungswelt schaffen ließ“ . Die gleich zu Beginn der Rezension 109 konstatierte „unheilbare Entzweiung“ einer zuvor einheitlichen Welterfassung macht deutlich, dass Troeltsch nicht an einer Reetablierung monistischer Systeme gelegen ist. Dennoch, so schließt Troeltsch seine Besprechung des Buches, könne die Fragestellung nach dem Verhältnis von Theologie und Metaphysik 110 „heilsam auf die Theologie wirken“ . Wenn eine bewusste Zuwendung theologischen Denkens zur Denk- und Sprachwelt der Metaphysik angestrebt ist, so fragt sich, welche Funktionen von ihr ausgehen sollen, wenn eine Differenzerfahrungen negierende Flucht in Einheitsfiguren ebenso ausgeschlossen werden soll wie eine naive und harmonistische Verkittung von Deutungsfiguren. Die Differenzierung innerhalb des Metaphysikbegriffs verdeutlicht die von Troeltsch gleich einer Selbstverständlichkeit eingebrachte These, dass religiöse Aussagen durchaus nicht kategorisch von metaphysischen geschieden werden können. In der Folge bedeutet jede metaphysikfeindliche Theologie somit die Ignorierung eines theologischen bzw. religiösen Bedürfnisses. Dennoch wohnt doch der religiösen Metaphysik auch eine gewisse Eigendynamik inne. Diese Einschätzung lässt sich auch an der kritischen Auswertung des sich stark an Avenarius abarbeitendem Wobbermins festmachen, was Troeltsch lapidar als „apologetisch[n] Löscheifer“ abtut, „der überall mit großen Löschanstalten kommt, wo irgendwo ein Philosoph sein Feu111 erwerk abbrennt oder der Brandstiftung verdächtig erscheint.“ Der zugegeben andernorts viel energischere Krisenkonstateur Troeltsch geht in dieser Rezension auffällig entspannt mit nicht- bzw. anti-religiösen Wirklichkeitserfassungskon112 zeptionen um, er bleibt dem Empiriokritizismus Richard Avenarius’ gegenüber 108 Ebd., S. 297. 109 Ebd. Hervorhebung von Verf. 110 Ebd., S. 305. Hervorhebung von Verf. 111 Ebd., S. 304 f. 112 Der Philosoph Richard Avenarius (1843–1896) gab seinem erkenntnistheoretischen Konzept den Namen ‚Empiriokritizismus‘. In seinen Hauptwerken „Kritik der reinen Erfahrung“ (2 Bände 1888–90) sowie „Der menschliche Weltbegriff“ (1891) entfaltete er einen streng an dem „zweifelsfrei Gegebenen“ (Strobl S. 468) orientierten Positivismus, der die Kategorie des „An-sich-Seins“ tilgt (vgl. ebd.) und die Erkenntnis in strenger physiologischer Abhängigkeit denkt („nervöses Centralorgan“; „System C“, ebd.). Vgl. hierzu Max Heinze: [Art.] Avenarius, Richard, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Band 46, Leipzig 1902, S. 147–149; Wolf Strobl: [Art.] Avenarius, Richard Heinrich Ludwig, in: Neue Deutsche Biographie, Band 1, Berlin 1953, S. 468.
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eigentümlich desinteressiert. Selbst zu Dilthey, den Wobbermin in seinem Werk mehrfach heranzieht, hat Troeltsch in dieser Rezension nicht viel zu sagen, er resümiert: „Jedenfalls würde die Sache [das Problem ‚Theologie und Metaphysik‘, MB] von jedermann anders angepackt werden müssen, der sich nicht die 113 Ausgangspunkte durch Avenarius und Dilthey feststellen läßt.“ Eine erneute Hinwendung zur Metaphysik, die für Troeltsch wohl zuallererst einen Deutungsgewinn für den religiösen Menschen selbst bedeutet, wird also nicht als eine von außen aufgedrängte Not bewertet, die dem religiösen Selbstbewusstsein selbst rein äußerlich bliebe. Gerade der von Troeltsch verwendete 114 Terminus vom Ende „der große[n] theologische[n] Fastenzeit“ legt nahe, dass der explizite Umgang mit denkerischen Abschlussfiguren in seinen Augen zum Eigentlichen des theologischen Geschäftes gehören. Allerdings, so zeigt sich in dieser Rezension, möchte Troeltsch dabei das Bewusstsein für den Umstand offenhalten, dass die klassische Metaphysik durch die Umbrüche der Moderne destruiert und jede moderne Metaphysik einer gründlichen Neubesinnung unterliegen muss („unheilbare Entzweiung“). Für die Spielarten religiöser Metaphysik bedeutet dies, nicht hinter die (hier von Troeltsch mit Schleiermacher verbundene) Erkenntnis zurück zu können, es bei der Explikation der religiösen Ideen immer mit Symbolen zu tun zu haben. Für die philosophischen Spielarten dürfte der moderne Anspruch bedeuten, weder den Anspruch zu erheben, ein holistisches System generieren zu können, noch eine Ontologie des Transzendenten sein zu wollen. Metaphysik steht nicht länger in einem einheitlichen Verbund mit allgemeiner Weltanschauung oder religiösen bzw. philosophischen Deutesystemen, sondern muss vielmehr immer auch reflexive Bearbeitung der modernen Umbrüche, also nicht Mittel zur Flucht vor diesen, sondern Mittel ihrer Diagnostik sein. Metaphysik bedeutet dann gerade nicht den Ausbruch aus der Moderne, sondern an dieser Stelle vielmehr eine Dynamisierung einer angemessenen gedanklichen Bearbeitung derselben – und dies sowohl in der religiösen wie in der nicht-religiösen Façon. Troeltsch funktionalisiert das metaphysische Denken in diesem Zusammenhang als den Bereich, der auf eine möglichst komplexe Bestandsaufnahme religiöser und philosophischer Ideen zielt. Die hier analysierte Besprechung steht exemplarisch für das Bestreben Troeltschs, das moderne Bewusstsein nicht wesentlicher Thematisierungspotentiale zu berauben, sondern sowohl funktionalen Konkurrenzen, unverträglichen Geltungsmomenten wie auch dem Bedürfnis nach Kongruenz und Suche nach Einheitsmomenten Rechnung zu tragen und diese unter der Überschrift ‚Metaphysik‘ thematisierbar zu machen. 113 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik (wie Anm. 57), S. 304. 114 Ebd., S. 305.
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Etwas unklar bleibt die Verhältnisbestimmung von Religion und Theologie. Dennoch kann folgende Überlegung aus der Rezension erhoben werden: Mit einem bedauernden Unterton umreißt Troeltsch gleich zu Beginn der Rezension die Assoziation, die der Buchtitel suggeriert, die Wobbermin jedoch gerade nicht ins Zentrum seiner Untersuchung rückt. Den Titel – „Theologie und Metaphysik. Das Verhältnis der Theologie zur modernen Erkenntnistheorie und Psychologie“ – wendet Troeltsch in die Begriffe „Bedeutung von Erkenntnistheorie und Psycho115 logie für das Verständnis der Religion“ , sowie das Verhältnis von „Dogmatik 116 und philosophischer Weltanschauung“ . Hier finden sich die von Troeltsch gewünschten Fragerichtungen angedeutet und mit ihnen zugleich bereits Zugänge zu seinen mit einer Metaphysik verbundenen Anliegen. Zunächst sei jedoch angemerkt, dass aus diesen synonymischen Kurzprogrammen ein knapper, aber sehr 117 prägnanter Theologiebegriff erwächst. Theologie sei „Verständnis der Religion“ . Es fragt sich nun sehr zugespitzt, ob Religion und Theologie gleichermaßen den Dingen auf ihren letzten Grund kommen wollen – wie also metaphysische Gedankenbildung, Religion und Theologie zueinander zu stehen kommen. Erste Auskünfte darüber geben die soeben umrissene Grundcharakterisierung der Theologie sowie Wendungen wie „die in der religiösen Erkenntnis behauptete 118 und von der Theologie verarbeitete Metaphysik“ , oder „in den religiösen Be119 griffen enthaltenen metaphysischen Ideen“ . Troeltsch verortet folglich bereits auf dem Gebiet der Frömmigkeit die Tatsache metaphysischer Gedankenbildung und weist der Theologie die Aufgabe zu, hier zugunsten einer Klärung und ‚Verarbeitung‘ tätig zu werden. Metaphysische Bearbeitung von Erfahrung ist somit kein ‚Expertenspiel‘ von Berufsdenkern, sondern erwächst bereits aus der Lebenswirklichkeit der Religion. Wenn Troeltsch die von Wobbermin bearbeitete Fragestellung zugleich als Impuls zur Beendigung des theologischen 120 Fastens begreift, überzeugt es nicht, diese theologische Tätigkeit lediglich als Zähmung religiöser Metaphysik zu verstehen, sondern es legt sich dann nahe, dass Troeltsch die Theologie vielmehr zur aneignenden Reflexion des in den religiösen Ideen Enthaltenen bewegen möchte. Zweitens wäre im Anschluss daran zu fragen, in welchem genaueren Verhältnis die in der Idee des Religiösen auf der einen Seite und die im sonstigen Welterkennen mitlaufenden metaphysischen Annahmen auf der anderen Seite
115 116 117 118 119 120
Ebd., S. 296. Ebd., S. 297. Ebd., S. 296. Ebd., S. 298. Hervorhebung von Verf. Ebd., S. 299. Hervorhebung von Verf. Vgl. ebd., S. 305.
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zueinander stehen, wenn es einen spezifisch religiösen bzw. theologischen Modus von Metaphysik geben soll. Es ist jedenfalls zu vermuten, dass einerseits aufgrund dieser etwas quer zueinanderstehenden Konstruktion ein eindeutiges Überbietungsverhältnis der Einheit zur Vielfalt gerade nicht ausgesagt werden soll, und das andererseits durch diese mindestens doppelte Perspektivierung bereits so etwas wie das Bewusstsein für funktionale Konkurrenzen strukturell eingezeichnet werden soll.
3.1.2 Diskursfronten Metaphysik Die Forderung nach einer Metaphysik stellt ein Kontinuum in Troeltschs Rezensionen dar. Diese Forderung wird sowohl im theologischen (Ende der „großen theologischen Fastenzeit“) als auch im philosophischen Kontext erhoben und be121 gegnet häufig als Alleinstellungsmerkmal in der Selbstdarstellung Troeltschs. Als Weggefährte in dieser Frage benennt Troeltsch vor allem Rudolf Eucken. Metaphysik dient bei Troeltsch in erster Linie der Sicherstellung der Selbständigkeit des Geistes, um daran anschließend von einer „Berührung des göttlichen 122 und menschlichen Geistes“ ausgehen zu können. An dieser Metaphysik, die 123 Troeltsch nachkantisch als „approximative“ bestimmt, hängt nicht zuletzt auch der Religionsbegriff. Hier gilt es Troeltsch, „die urwüchsige psychologische Tatsache der Religion“ auch gegen einen vorschnell diese überspringenden Idea124 lismus „mit der Macht der noch unbegriffenen Tatsache“ zu bedenken. Es 125 solle weder zu einer Beziehungslosigkeit mit dem „sonstigen Welterkennen []“ kommen, noch dürfe man verkennen, dass in der Religion selbst metaphysische Gedanken enthalten seien, „die in die Betrachtung der Welt eingreifen und die 126 in dieser einen Ort verlangen“ . Durchgängig erfolgt der Aufweis einer Reflexionsnotwendigkeit des Zusammenhangs von Metaphysik und Geschichte, die für Troeltsch schon früh zum Zentralproblem von Wissenschaft wird. 121 Vgl. etwa zur Einforderung metaphysischer Denknotwendigkeit in Bezug auf Rickert und Dilthey Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (wie Anm. 23), S.107. 122 So polemisch gegen Julius Baumann: Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Baumann: Realwissenschaftliche Begründung der Moral, des Rechtes und der Gotteslehre, Leipzig 1898, in: Die christliche Welt 43 (1898), Sp. 1026–1027, jetzt in: KGA 2, S. 498–500, hier S. 499. 123 Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Bergmann: Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie, Marburg 1900, in: Theologische Literaturzeitung 26 (1901), Sp. 696–698, jetzt in: KGA 4, S. 174– 179, hier S. 176. 124 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Natorp: Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Leipzig 1903, in: Die Christliche Welt 18 (1904), Sp. 834 f., jetzt in: KGA 4, S. 337–339, hier S. 339. 125 Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Wobbermin: Theologie und Metaphysik (wie Anm. 57), S. 297. 126 Ebd.
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Die breite Präsenz der Metaphysik-Thematik ist natürlich auch den von Troeltsch besprochenen Publikationen geschuldet, insofern in diesen selbst Metaphysik thematisiert wird. Auffällig in diesem Kontext ist, dass Troeltsch an keiner Stelle der Relevanz und Dringlichkeit einer Thematisierung von Metaphysik widerspricht, lediglich übt er Kritik an konkreten Ansätzen und Durchführungen. Wenden wir unseren Blick auf die Klärung der Frage, wie sich Troeltschs Metaphysikbegriff in den Rezensionen darstellt bzw. ob eine einheitliche Beantwortung dieser Frage überhaupt gelingt. 3.1.2.1 Geist Troeltsch rezensierte in einem Zeitraum von zwei Jahren dreimal Rudolf Euckens „Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt“ (1896) und ebenfalls dreimal Gustav Claß’ „Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des mensch127 lichen Lebens“ (1895). Diese Rezensionen sind in einem außergewöhnlichen Tonfall der Zustimmung gehalten und geben Einblick in Troeltschs Auseinandersetzung mit dem Neoidealismus der Jahrhundertwende. Auffällig für Troeltschs Umgang mit den rezensierten Werken ist der Umstand, dass er seine eigenen vorangegangenen Besprechungen nicht erkennbar als Vorlage für die späteren nutzt. Allerdings verweist er, wohl um der gebotenen Kürze einer Rezension im Rahmen des „Theologischen Jahresberichts“ abzuhelfen auf seine ausführlichere 128 Darstellung in der „Theologischen Literaturzeitung“ . Offensichtlich war ihm einerseits daran gelegen, diese beiden Werke jeweils passgenau für die Zielgruppe vorzustellen, andererseits zeugen die jeweils neuen Formulierungen und feinen Unterschiede in der Nuance von der fortwährenden Auseinandersetzung mit Eucken und Claß. 1896 bespricht Troeltsch Euckens „Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt“ (1896) in der „Theologischen Literaturzeitung“. Mehrfach betont Troeltsch die zu Eucken empfundene positionelle Nähe, die sich ihm in einem sorgfältig bedachten Idealismus, durch berechtigte „Kritik, die Erfahrungen und Forschungen 129 unseres Jahrhunderts“ korrigiert, ergibt. Der „vorschnelle Monismus und Pan-
127 Vgl. zu den Mehrfachbesprechungen sowie der Positionierung Troeltschs zu Claß und Eucken Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, KGA 2, S. 1–27, S. 20–23. Auch Herbert Will: Ethik als allgemeine Theorie des geistigen Lebens (wie Anm. 1), S. 196, erwähnt die drei Besprechungen zu Claß, geht jedoch – von einem Zitat (S. 197) abgesehen – nicht näher auf die Rezensionen ein. 128 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre, in: Theologischer Jahresbericht 16 (1897), S. 498–557, jetzt in: KGA 2, S. 213–309, hier S. 272. 129 Ernst Troeltsch: [Rez.] Rudolf Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung, Leipzig 1896, in: Theologische Literaturzeitung 21 (1896), Sp. 405–409, jetzt in: KGA 2, S. 55–63, hier S. 58.
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theismus jener construirenden, älteren Systeme“ seien aufgrund der „Wirklich131 keitsthatsache“ zweier Reiche, Natur und Freiheit, zu verabschieden. Letztlich dient dieser, hegelsch und kantisch gestimmte Idealismus einem personalistischen Interesse, dem Reich der Freiheit, das „individuelle Persönlichkeiten, ein 132 neues substantielles Dasein“ schafft. Denn auch wenn Troeltsch „die unge133 heuere[n] metaphysische[n] Schwierigkeiten“ , in die sich ein solches Konzept verstrickt, deutlich sieht, stimmt er dem Konzept aus zwei Gründen zu. Zum ersten nennt er die Evidenz der Wirklichkeit, die eben dieses beides bestätige: einerseits die in der kantischen Zwei-Reiche-Lehre eingeholte Widersprüchlichkeit und Widerständigkeit sowie andererseits „den unausrottbaren Glauben an eine 134 letzte und tiefste Einheit“ . Zum zweiten verspricht sich Troeltsch von einem reformierten Monismus, der weiß, dass die Einheit der Wirklichkeit zwar „aus den Daten der Wirklichkeit [. . .] entspringt, der aber für menschliche Intelligenz 135 nicht im vollen Umfange erwiesen werden kann“ , das „Rückgrat“, „Kraft“ 136 und „Motivation“ für den „Geistesproceß“ selbst. Diese dem menschlichen Bewusstsein eigentümliche Struktur, Momente des Kantischen und Hegelschen Idealismus vereinigend, verortet Troeltsch nun aber in expliziter Korrektur zu Eucken religions- und christentumsgeschichtlich. Anders als Eucken, der zwar der Religion eine dem „Geistesproceß“ grundlegende Funktion zuweist, dies jedoch nicht an die positiven Religionen zurückzukoppeln vermag, fordert Troeltsch die geschichtliche Verortung des aus dem Christentum hervorgegangenen „mo137 derne[n] dynamische[n] Systems“ und die daraus folgende Reflektion „ob mit ihm diese [christliche, MB] Idee gesprengt und antiquirt oder nur auf eine neue 138 Entwicklungsstufe geführt ist.“ Mit der Bemerkung, dass dies Eucken theoretisch alles bewusst sei, verliert diese Kritik jedoch ihre Spitze, und Troeltsch ist sichtlich bemüht, die Relevanz des Werkes für den theologischen Leserkreis der „Theologischen Literaturzeitung“ auszuweisen: Es sei ein „wahres Labsal für uns 139 140 Theologen“ , „echte und rechte Denkarbeit aus dem Großen und Ganzen“ , eine „für alles Große empfängliche Herausarbeitung [. . .] der Probleme, wie wir 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140
Ebd., S. 59. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 60. Ebd. Ebd. Ebd., S. 62. Ebd. Ebd., S. 63. Ebd.
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sie in unserer theologischen Angst und apologetischen Künstlichkeit fast ganz 141 verlernt haben.“ Der enorme Gestaltungswille Troeltschs und seine Unzufriedenheit mit der mehrheitlichen geistigen Landschaft seiner Gegenwart kommen deutlich zum Ausdruck, er sieht in Eucken nichts weniger als „eine beginnende 142 Reaction gegen die Zeitrichtungen“ . Im selben Jahr erfolgte die nochmalige Besprechung Euckens in der Sammelrezension für den „Theologischen Jahresbericht“ und in „Die Christliche Welt“. Letztere Besprechung erfolgt zusammen mit Claß’ „Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des menschlichen 143 Lebens“ (1895) unter der Überschrift „Neue Triebe der Spekulation“ . Auch hier betont Troeltsch das ihn überzeugende grundsätzliche Interesse an „den 144 alten philosophischen Hauptproblemen“ und wendet dies polemisch gegen solche Arbeiten, „die sich [. . .] bloß mit Erkenntnistheorie oder Experimentalpsy145 chologie“ befassen. Den kritischen Anschluss an Hegel, der beiden Autoren zu eigen sei, bewertet er positiv, beide hielten sich „nur an einen bestimmten und zwar den wertvollsten Teil seiner Philosophie, an seine Geistes- und Geschichtsphilosophie. Sie lassen seine apriorische metaphysische Konstruktion, die von der Idee Gottes aus das ganze Universum zu konstruiren unternahm, 146 [. . .] beiseite“ . „Da sie aber diese Entwicklung für sich allein betrachten und sie aus der allgemeinen metaphysischen Allgesetzlichkeit, dem Bewegungsgesetz der Idee, herauslösen, können sie zugleich den schwersten Fehler Hegels, seinen Determinismus und Optimismus vermeiden. Sie können diese Entwicklung auffassen als das, was sie ist, als einen beständigen Kampf mit der vorgefundnen Seelennatur und mit der materiellen Natur, wobei es nicht ohne Verworrenheit 147 und nicht ohne Niederlagen abgeht.“ Bezeichnend ist der Umstand, dass Troeltsch sich in dieser Rezension jeder Kritik enthält und beide Bücher abschließend allen empfiehlt, „die in der allgemeinen Skepsis und dem flachen Kulturoptimismus der Gegenwart den Sinn für die wahren und tiefsten Probleme nicht verloren haben und in einer idealistischen Welt- und Geschichtsanschauung die Vorbedingung jedes Glaubens 148 an religiöse Wahrheiten erkennen.“ Hier wird deutlich, dass Troeltsch zwar jeder Funktionalisierung bzw. philosophischer Dienstbarmachung des Religiösen 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ernst Troeltsch: Neue Triebe der Spekulation, in: Die Christliche Welt 10 (1896), Sp. 1163– 1165, jetzt in: KGA 2, S. 164–167, hier S. 164. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Ebd., S. 165. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 167.
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ablehnend gegenüber steht, jedoch darum bemüht ist, die ‚Zusammenbestehbarkeit‘ religiöser und philosophischer Deutungsfiguren auszuweisen, wie dies für Troeltsch bei dem Philosophen Eucken und seinem Erlanger Lehrer, dem Theologen Claß zu finden ist. Die Momente idealistischer Weltanschauung, die 149 Troeltsch sogar als „Vorbedingung jedes Glaubens an religiöse Wahrheiten“ bezeichnet, bestehen für Troeltsch jedoch nicht als Dienstbarmachung oder legitimen Aufhebungsforderung des Religiösen, sondern als philosophisch tiefergründige Auslotung antinaturalistisch verstandener Wirklichkeit. 150 Auch das Werk seines Erlanger Lehrers Gustav Claß rezensierte Troeltsch dreifach, die zweite Rezension erschien 1897 für die „Theologische Literaturzeitung“. Wieder betont Troeltsch das idealistische Grundinteresse Claß’ unter Betonung der Selbständigkeit des Geistes. Allerdings erfolgt diese Rezension sowohl stärker fokussiert auf die divergierenden Momente der Werke von Claß und Eucken, den Troeltsch auch in dieser, eigentlich nur Claß geltenden Rezension, am Rande mitbespricht. Dies ist insofern sehr aussagekräftig, als dass Troeltsch offensichtlich diese beiden Programme als so produktiv empfand, dass er diese, eigentlich Claß geltende Rezension nutzte, um auch Eucken nochmalig in das Bewusstsein der Leser zu rufen. Auch seine von Claß an einigen Punkten abweichende eigene Position bringt Troeltsch in dieser Besprechung explizit zur Geltung. Es liege Claß daran herauszustellen, dass und inwiefern der Empirismus und der Naturalismus einseitige und für jede Form des Idealismus ruinöse Entwicklungen in der wissenschaftlichen Landschaft seien. Eucken fasse den „geistigen 151 Entwickelungsprozeß“ eher als im Kampf gegen die Naturwirklichkeit befindlich und in ganzer Breite, Claß hingegen beschränke sich in seinem Werk auf „die Frage nach dem in seiner relativen Selbständigkeit aufgenommenen geistigen Le152 ben an und für sich“ . Bei Claß liege in der Durchführung eine Mischung jeweils spezifischer Hegel’scher, Schleiermacher’scher und Kant’scher Anliegen vor, dies jedoch bei gleichzeitigem, Gegenwartsinteressen entsprungenem „Einschlag der 153 inzwischen erfolgten erkenntnißtheoretischen und empiristischen Reaction“ , 154 die sich näherhin in einem „Verzicht auf jede apriorische Deduction“ sowie in 149 Ebd. 150 Troeltsch hatte in Erlangen in den Jahren 1884–1886 fünf Vorlesungen bei Claß (1836–1908) besucht, vgl. das Biogramm Claß’ in: KGA 2, S. 708 f. 151 Ernst Troeltsch: [Rez.] Gustav Claß: Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des menschlichen Geistes, Leipzig 1896, in: Theologische Literaturzeitung 22 (1897), Sp. 51–57, jetzt in: KGA 2, S. 171–180, hier S. 172. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 174. 154 Ebd.
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der Mischung von Phänomenologie („reale[], philosophisch präparirte[] Data“ ) und Ontologie („nothwendige metaphysische Hypothese, ohne welche die Data 156 nur ein wirrer Haufen wären“ ) niederschlage. Troeltsch resümiert an dieser Stelle: „Ich darf bereits hier hinzufügen, daß ich dieser Auffassung der Philoso157 phie freudig zustimme. Sie ist das, was wir brauchen.“ Das Programm, dem eine Distinktion von Geist („höhere Sphäre“) und Seele („natürlich-sinnliche Sphäre“) fundamental zu Grunde liegt, bezeichnet Troeltsch mit Claß als „Pneu158 matologie im Gegensatze zur bloßen Psychologie“ . Claß’ Ansatz sei bedeutsam 159 für, so Troeltsch, „uns Theologen“ hinsichtlich der virulenten Herausforderung einer Verhältnisbestimmung von Geist und Materie, obgleich die Aufgabe nicht von der Theologie in Gänze zu lösen sei, sondern nur der auf das christliche Prinzip beschränkte Bereich. Problematisch in der Claßschen Lösung sei die Nähe zu Lotze und Hegel in einer bestimmten Konsequenz deren Denkens: „Zahllose Seelen werden verbraucht, um die Verwirklichung sachlicher geistiger Inhalte darzustellen wie zahllose Blüten verbraucht werden für die Früchte des Herbstes. Das hat die Analogie der Natur für sich, aber gegen sich das Bedürfnis des Individuums, nicht die Darstellung einer Wahrheit zu sein, sondern sie selig 160 für sich zu genießen.“ Das unhintergehbar Relevante an der Untersuchung von Claß sei jedoch „die energische Behauptung der beiden zu vereinigenden 161 Positionen“ . Claß erweist sich so als ein Denker, dessen neoidealistisches Programm einer „Pneumatologie“ eine aussagekräftige ‚Plattform‘ für Troeltschs Selbstverortung bietet. Eine starke Übernahme eines Idealismus im Sinne Hegelscher Kongruenz von Religion und Philosophie bei dem qualitativen Vorrang begrifflicher Erfassung, ist von Troeltsch einerseits aufgrund der Unüberbietbarkeit religiöser Erfahrung, andererseits aufgrund der oben von ihm dargelegten Bedenken einer Tilgung des Individuellen im Absoluten keine attraktive Deutungsfigur. Allerdings lassen sich dennoch einige (spät-)idealistische Grundmomente in seiner Bearbeitung von ‚Religion‘ festhalten, die sich in den vorgestellten Rezensionen durchaus als anschlussfähig für Troeltschs eigene Programmformierung erweisen. Die dritten Besprechungen der Werke von Claß und Eucken verfasste Troeltsch für den „Theologischen Jahresbericht“ der Jahre 1896 bzw. 1897. Eu155 156 157 158 159 160 161
Ebd. Diese Wendung weist Troeltsch als Zitat von Claß aus. Ebd., S. 174. Ebd. Ebd., S. 177. Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Ebd.
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ckens Buch wird von Troeltsch als das „für die Theologie weitaus Wichtigs162 te unter“ den „allgemein philosophischen“ Veröffentlichungen vorgestellt. Troeltsch schließt seine Besprechung Euckens mit dem Appell: „Möge es von 163 den Theologen gründlich studirt werden.“ Diese besondere Brauchbarkeit des Eucken’schen Programms für die Theologie lag für Troeltsch besonders in der distinguierten Wahrnehmung gegenwärtiger Herausforderungen und Krisen, sowie in einer bestimmten Weise des Umgangs mit diesen. Das von Troeltsch 164 beipflichtend als das „schöne und gedankenreiche Buch von Class“ drittmalig 1897 besprochene Werk wird, wie auch schon zuvor, mit starker Konzentration auf die Analyse des Claß’schen Geistes im Gegenüber zur bloßen Seele verhandelt. Troeltsch betont die Konsequenz dieser Konzeption als Theorie der Persönlichkeitsgenese. „Dabei sind die Geistesinhalte wirklich und lebendig nur in Individuen und für individuelles Leben, ja erst in der Schaffung von Persönlichkeiten aus den blossen psychophysischen Individualitäten erreichen sie ihr 165 Ziel.“ Auch in den folgenden Jahren bleibt Troeltsch in seinen Rezensionen Eucken und Claß positionell eng verbunden und rückt seine eigenen Intentionen explizit in die Nähe beider. Im „Theologischen Jahresbericht“ 1898 würdigt er Euckens Aufsatz „Der innere Mensch am Ausgang des 19. Jahrhunderts“ (1897) 166 als „vortrefflich“ . Diese Beurteilung mag ihren Hauptgrund wohl darin haben, dass Eucken, wie Troeltsch selbst, darum bemüht war, die Spezifika der Moderne, oder noch genauer: der unmittelbaren Gegenwart, in einem bestimmten Zuschnitt zu erheben und sie konstruktiv zu bearbeiten. Euckens Konstruktion einer angemessenen Gegenwartsphilosophie, die „einen dualistischen, die Räthsel der äusseren Welt und die Werthe des Innenlebens nebeneinander be167 hauptenden, aber nicht vereinigenden Charakter“ trägt, lässt Troeltsch in der Sammelrezension unmittelbar in die Besprechung seines eigenen Aufsatzes 168 „Moderner Halbmaterialismus“ (1897) münden, sich selbst „Aehnliches“ bescheinigend. Weiterer Aufschluss über die Gründe der Nähe zu Eucken ergibt sich aus der nochmaligen Erwähnung desselben, ebenfalls im „Theologischen 162 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre, in: Theologischer Jahresbericht 15 (1896), S. 376–425, jetzt in: KGA 2, S. 80–163, S. 82. 163 Ebd., S. 84. 164 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre (wie Anm. 128), S. 271. 165 Ebd. 166 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und principielle Theologie, in: Theologischer Jahresbericht 17 (1898), S. 531–603, jetzt in: KGA 2, S. 366–484, hier S. 369. 167 Ebd. 168 Ebd.
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Jahresbericht“ von 1898. Bezüglich des religionsphilosophischen Aufsatzes Euckens „La relation de la philosophie au mouvement religieux du temps présent“ (1897) benennt Troeltsch mehrere ihm entgegenkommende Anliegen, die er sowohl methodisch als auch inhaltlich zu teilen angibt. Interessant ist hier die von Troeltsch nachgezeichnete Perspektivenverschiebung in der Kopplung von „Religionsphilosophie“, „moderne[r] Weltansicht“, „metaphysischen Hauptbegriffe[n] der Dogmatik“ und „psychologische[r] Analyse der Phänomene“ unter 169 der Überschrift der „Umgestaltung“ . Auch in der Hinwendung Troeltschs zur Psychologie, die natürlich auch in den Rezensionen erkennbar wird, verliert die Frage nach der Verbindung gedanklicher Erfassung von ‚Religion‘ als Metaphysik 170 und der „Analyse des Subjects“ nicht an Bedeutung. Troeltsch warnt nach171 drücklich vor „subjectivistischer Verflüchtigung“ in der wissenschaftlichen 172 Beschäftigung mit ‚Religion‘. Aber auch „abstracte[] Speculation“ schieße an der anderen Seite über das Ziel hinaus. Die von Eucken beschrittene Verlegung der „metaphysischen Fragen [. . .] von den Objecten der Religion nach dem Sub173 ject der Religion“ wird von Troeltsch als unhintergehbare Signatur moderner Religionsphilosophie präsentiert. Für das damit angestoßene Gebiet der Religionspsychologie bedeute diese Verschiebung im Zuschnitt der Eucken’schen Bearbeitung folgende Pointe: „Nur als That der Freiheit, der eigenen Bejahung religiöser Lebensinhalte im Gegensatz gegen das niedere Seelenleben und ge174 gen die blosse Ueberlieferung, kommt subjective Religiosität zu Stande.“ Die dadurch aufgeworfenen „Fragen führen tief in allgemein philosophische oder 175 metaphysische Untersuchungen hinein“ , eine Unabhängigkeit oder Verabschiedung der Metaphysik in diesem Sinne liegt demnach ausdrücklich nicht in Troeltschs Sinne. Troeltsch spricht im weiteren Verlauf der Sammelrezension, als 176 er Eucken wiederholt kurz umreißt, von einer „metaphysische[n] Psychologie“ . 1902 rezensiert Troeltsch für die „Theologische Literaturzeitung“ Euckens „Das Wesen der Religion, philosophisch betrachtet“ [1901]. Troeltsch ist bestrebt, seine Rezension als weiteren Diskurseröffner „[u]eber die genauere Fixirung der 177 Religion und des Christenthums“ anzulegen, und erhofft sich eine möglichst
169 170 171 172 173 174 175 176 177
Ebd., S. 398. Ebd. Ebd., S. 398 f. Ebd., S. 398. Ebd. Ebd., S. 399. Ebd. Ebd., S. 403. Ernst Troeltsch: [Rez.] Rudolf Eucken: Das Wesen der Religion, philosophisch betrachtet,
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
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breite Rezeption Euckens seitens der Theologen . Er betont eingangs: „Eucken’s Arbeit steht mit der meinigen in so lebhafter, in der Hauptsache übrigens völlig spontanen, Uebereinstimmung, daß eine warme Empfehlung von meiner Sei179 te selbstverständlich ist.“ Er wolle die Besprechung dazu nutzen, „das von Eucken sehr zutreffend formulirte Verhältniß zwischen philosophischer und 180 theologischer Arbeit [. . .] zu veranschaulichen.“ Eine Konkretion erfährt dieses Vorhaben durch die folgende Diskussion des von Eucken veranschlagten Religionsbegriffs, die in Würdigung und Korrektur besteht. Troeltsch steckt in dieser Rezension genauer ab, welche wissenschaftliche Perspektive seitens Philosophie und Theologie das Thema ‚Religion‘ jeweils zu verfolgen bestrebt sein sollten. Das von Eucken angestrebte Verhältnis der Fassung von Religion als universaler Religion einerseits und Religion als charakteristischer Religion andererseits kehrt Troeltsch im Eigeninteresse der Vorrangigkeit konkreter Religiosität um. 181 Nicht sei die positive Religion eine Konkretion des „allgemeinen Postulates“ , sondern gerade andersherum verhalte es sich: nur von der positiven „religiösen 182 Wirklichkeit“ ausgehend sei eine Abstraktion erlaubt. Die schon in den früheren Rezensionen gewürdigte Distinktion von Geist und Seele hebt Troeltsch auch 183 diesmal wieder hervor, um erneut die „That der Freiheit“ als das eigentlich Relevante und Anschlussfähige für die Bearbeitung der Thematik ‚Religion‘ zu 184 betonen. Hervorzuheben ist in diesem Kontext jedoch auch eine der späteren Rezensionen Troeltschs, nämlich die Besprechung von Rudolf Ottos „Das Heilige“ aus 185 dem Jahr 1918. Neben einer ausführlichen und im Urteil durchwachsenen BeLeipzig 1901, in: Theologische Literaturzeitung 27 (1902), Sp. 386 f., jetzt in: KGA 4, S. 209–212, hier S. 212. 178 Vgl. ebd. 179 Ebd., S. 209. 180 Ebd., S. 210. 181 Ebd., S. 211. 182 Ebd. 183 Ebd., S. 212. 184 Vgl. übereinstimmend zur Darstellung der Nähe Troeltschs in seinen Rezensionen zu Eucken und Claß auch Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 127), S. 20–23. Graf, ebd., S. 26, betont zudem, „daß die neoidealistische ‚Geist‘-Semantik, die Troeltsch intensiv verwendet, auf ‚Gemeinschaftsbildung‘ zielt.“ Dem ist zuzustimmen, wenn gleichzeitig betont wird, dass dies von Troeltsch nur in engster Verknüpfung mit personalistischen Problemstellungen angegangen wird, die in den Rezensionen zu Claß und Eucken besonders thematisch sind. Vgl. zu Troeltschs sozial dimensioniertem Geistbegriff auch Lori Pearson: Ernst Troeltsch and Contemporary Discourses of Secularization, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 19 (2012), S. 173–192, S. 182. 185 Ernst Troeltsch: Zur Religionsphilosophie, in: Kant-Studien 23 (1918), S. 65–76, jetzt in: KGA 13, S. 412–425.
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sprechung des Werkes wertet Troeltsch das Buch Ottos als Beleg für seine These, „daß die moderne Religionsphilosophie und Theologie im wissenschaftlichen Gedankenbau dem Spiritualismus viel näher steht als der objektiven Wort- und 186 Autoritätstheologie Luthers und als der natürlichen Religion der Aufklärung.“ Dabei geht es Troeltsch um das tiefere Verstehen seiner Gegenwart anhand der Theologie: „Diese Erkenntnis ist für die Auffassung des modernen Denkens so 187 wichtig, daß ich sie auch hier unterstreichen möchte.“ 3.1.2.2 Geltung 188 Der Umgang Troeltschs mit dem Geltungsbegriff und den mit diesem verknüpften Problemstellungen ist aus mehreren Gründen lohnend. Zum Ersten rückt Troeltschs Verhältnis besonders zum südwestdeutschen Zweig der Neukantianismen in den Blick. Zum Zweiten eröffnet Troeltsch in diesem Kontext verschiedene aufschlussreiche Überlegungen zu Metaphysik und Psychologie, und zum Dritten verspricht diese Auseinandersetzung Klärungen religionstheoretischer Art. In besonderer Dichte begegnen im Zusammenhang mit den damit verknüpften Debatten die Begründungsfragen, die Troeltsch zeitlebens umgetrieben haben: 189 z. B. das Verhältnis von Subjektivität und „Objektivität der Gottesidee“ ; der Frage nach den konkreten Aufgaben einer modernen Metaphysik und damit
186 Ebd., S. 424. 187 Ebd. 188 Der Geltungsbegriff gelangte im Kontext einiger neukantianischer Philosophien zu einer hohen theorieimmanenten Relevanz. Vgl. etwa Heinrich Hülsmann: [Art.] Gelten, Geltung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, Basel 1974, Sp. 232–235. Hülsmann ordnet den Begriff „ – semantisch gesehen – zur normativen Sprache“ (S. 232) und verortet ihn mit Schmitt philosophiegeschichtlich als Gegenbewegung zur „‚Nihilismuskrise des 19. Jh.‘“ (ebd.). Er skizziert sodann die Begriffsentwicklung bei den prominentesten Vertretern: Während bei Lotze „das unveränderliche Reich des Geltens [. . .] platonische Reminiszenzen“ (S. 233) bedeute, hebe Rickert auf die zu erbringende Unterscheidungsleistung von Form und Inhalt, aber auch von „G.[eltung], Gut und Akt“ (ebd.) ab: „Ist die G.[eltung] einerseits von einer irrealen Aseität, so haftet sie andererseits doch an einem Gut, das ein Ding oder ein Seiendes sein kann, und wird jeweils in einem Akt vollzogen.“ (Ebd.) Nietzsche eröffne die Option, „‚G.[eltung]‘ und ‚gelten‘ nicht nur normativ in logischen, ethischen und ästhetischen Zusammenhängen, sondern auch deskriptiv in physiologischem und psychologischem Kontext zu verwenden.“ (Ebd.) Scheler verwende den Begriff, um „die historische Relevanz einer Werthaltung“ (ebd.) zu fassen. Vgl. zur Wertphilosophie, besonders zu Lotze, Windelband und Rickert auch Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt a. M. 1983, S. 197–231. 189 Ernst Troeltsch: [Rez.] Heinrich Rickert: Wilhelm Windelband, Tübingen 1915, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), Sp. 469–471, jetzt in: KGA 13, S. 208–212, hier S. 212.
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zusammenhängend das Verhältnis von Theologie und Philosophie; die Unhinter190 gehbarkeit der Geschichtlichkeit positiver Religionen und ihr „Geltungswert“ . Der Geltungsbegriff begegnet in Troeltschs Rezensionen recht beständig und 191 in zahlreichen Formen: beispielsweise als „Geltungsphilosophie“ , „Höchstgel192 193 194 195 tung“ , „Geltungswert“ , „Geltungsprobleme“ , „Giltigkeitstheorie“ , „Gil196 197 198 tigkeitscharakter“ , „Geltungsprinzipien“ , „Geltungsbegriffe“ sowie „Gel199 tungsbegründung“ . Auffällig ist das Bemühen Troeltschs, ‚Geltung‘ gerade nicht religiös zu okkupieren, sondern im Gegenteil für die Integrität philosophischer wie theologischer Vernunftbeschreibung zu werben – dabei stets dem eigentümlichen vielschichtigen Versuch verschrieben, einer Vermittlung von Normativität und Geschichtlichkeit so auf die Spur zu kommen, dass weder das Individuelle herabgewürdigt oder die Gewordenheit als defizitär verstanden, noch dem Relativismus oder Antirationalismus das Wort geredet werde. Zunächst sei hier die Rezension der Ethik Theodor Härings „Das christliche Leben auf Grund des christlichen Glaubens“ erörtert. Das Werk war 1902 erschienen und Troeltsch besprach es 1904 für die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“. Troeltsch lobt die Vorzüge der Güterethik Härings ausführlich, übt jedoch u. a. Kritik an dem apologetischen Grundzug, der sich in der Bewertung der christlichen Ethik niederschlage. Während Häring dazu neige, „die alleinige 190 Ernst Troeltsch: [Rez.] August Dorner: Grundriß der Religionsphilosophie, Leipzig 1905, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 167 (1905), S. 761–772, jetzt in: KGA 4, S. 428–441, hier S. 437. 191 Ernst Troeltsch: [Rez.] Erich Heyde: Grundlegung der Wertlehre, Leipzig 1916, in: Theologische Literaturzeitung 43 (1918), Sp. 89–90, jetzt in: KGA 13, S. 376–378, hier S. 378. 192 Ernst Troeltsch: [Rez.] Theobald Ziegler: Glauben und Wissen. Rede zum Antritt des Rektorats der Kaiser-Wilhelm-Universität Strassburg, Strassburg 1899, in: Deutsche Litteraturzeitung 20 (1899), Sp. 1899–1901, jetzt in: KGA 2, S. 668–671, hier S. 670. 193 Ernst Troeltsch: [Rez.] Arthur Liebert: Der Geltungswert der Metaphysik (Philosophische Vorträge 10), Berlin 1915, in: Theologische Literaturzeitung 42 (1917), Sp. 117–118, jetzt in: KGA 13, S. 252–254, hier S. 253. 194 Ebd., S. 254. 195 Ernst Troeltsch: [Rez.] Fritz Münch: Erlebnis und Geltung. Eine systematische Untersuchung zur Transzendentalphilosophie als Weltanschauung (Kantstudien, Ergänzungshefte, Band 30), Berlin 1913, in: Theologische Literaturzeitung 40 (1915), Sp. 470–472, jetzt in: KGA 13, S. 73–76, hier S. 73. 196 Ebd., S. 75. 197 Ebd. 198 Ebd. 199 Ernst Troeltsch: [Rez.] Theodor Häring: Das christliche Leben auf Grund des christlichen Glaubens. Christliche Sittenlehre, Calw, Stuttgart 1902, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 166 (1904), S. 151–158, jetzt in: KGA 4, S. 317–325, hier S. 322.
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Wahrheit und ewige Unüberbietbarkeit dieser Ethik“ aufzeigen zu wollen, votiert Troeltsch: „[D]ie vielen apologetischen Daumenschrauben machen die Lektüre nur beschwerlich. Die schweren Grundprobleme der Ethik [. . .] sind von der 200 christlichen Ethik so wenig gelöst als von irgend einer anderen.“ Bezeichnend ist nun, dass Troeltsch durchaus die Leistung der christlichen Ethik, über deren „Christlichkeit [. . .] ausschließlich die Anerkennung des christlichen Got201 tesgedankens“ entscheide. Er hält fest, „daß mit diesem Gottesgedanken ein Begriff der Persönlichkeit erschlossen ist, der alles sonstige Drängen der Ethik auf persönlichen Wert weit überbietet, und daß ebendamit zugleich der Blick für die Realität des Bösen in einer unvergleichlichen Weise geschärft und die Kraft zur Ueberwindung dieses Bösen in unvergleichlicher Weise dargeboten 202 wird.“ Dies sei jedoch mitnichten ein Anlass, sich denkerisch zur Ruhe zu 203 setzen, schließlich seien so „neue verwickelte Probleme aufgethan“ . Die im weiteren Verlauf vorgestellte Figur der „Geltungsbegründung“ dieser Ethik bei 204 Häring, die am „Offenbarungscharakter“ Christi festgemacht wird, wird von Troeltsch nicht kritisch kommentiert. Zuvor hatte er aber bereits festgehalten, dass „die persönliche Stellungnahme zu dem christlichen Gottesglauben, die wie alle Weltanschauungsfragen und alle Entscheidungen über letzte Lebenswerte zwar der Vergleichung mit anderen Anschauungen bedarf, aber in der hierbei 205 erfolgenden Stellungsnahme schließlich undiskutabel ist.“ Die Evidenz, die sich hier umschrieben durch „Geltungsbegründung“ einstellt, ist also eine streng an jeweilige Individuen gebundene, die sich der Anempfindung entzieht. Zudem wird diese „Geltungsbegründung“ und die von ihr erzeugte Geltung letztlich von Troeltsch an eine permanente Vermittlungsbedüftigkeit zurückgewiesen. Dies geschieht, wenn er auf dem „schroff religiösen Charakter der [christlichen] Ethik“ 206 besteht, „die für andere Güter nur schwer Platz hat“ . Dies nun sei höchst folgenreich: „Denn es gehört zum Wesen der christlichen Ethik, daß sie im dauernden Weltleben der Ergänzung und der individualisierenden Anpassung 207 bedarf.“
200 Ebd., S. 319. 201 Ebd., S. 320. 202 Ebd. 203 Ebd. 204 Ebd., S. 322. 205 Ebd., S. 321. 206 Ebd., S. 323. 207 Ebd. Vgl. zu dieser Rezension über weite Strecken übereinstimmend Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 58), S. 50 f. Graf betont besonders das für die Ethik Troeltschs zentrale „‚Zurück zu Schleiermacher‘“-Votum, das auch in dieser Rezension begegnet.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
Einige Jahre später, 1915, besprach Troeltsch das Buch „Erlebnis und Geltung“ des Bauch-Schülers Fritz Münch für die „Theologische Literaturzeitung“. Die Besprechung ist von überschwänglichem Lob geprägt, mehrfach betont Troeltsch die große positionelle Nähe zu Münch. Den Grund dieser Nähe macht Troeltsch nicht zuletzt an drei gemeinsamen theoretischen Wurzeln fest, die er erstens beim südwestdeutschen Neukantianismus, genauer bei Windelband und Rickert verortet, zweitens in der „strengen Scheidung dieser Giltigkeitstheorie 208 von allem genetischen Psychologismus“ sieht und drittens an der „Betonung 209 des geschichtlichen und geschichtsphilosophischen Denkens“ festmacht. Erhellend ist die Rezension jedoch noch stärker aufgrund der von Troeltsch benannten Kritikpunkte an Münch. Auch hier führt Troeltsch eine Trias an, die vor 210 allem um die metaphysischen Implikationen der „Geltungs- und Sinnbegriffe“ kreist. Troeltsch problematisiert die Begrenzung von ‚Geltung‘ auf „erfahrungsimmanente Orientierung“ sowie die Fassung der ontologischen Reste in der „Zusammenknotung im religiösen Gedanken eines einheitlichen und allbeherr211 schenden Sinn-Apriori des Universums“ . Er plädiert stattdessen dafür, die ontologischen Problemstellungen, die sich aus den „Geltungs- und Sinnbegrif212 213 fen“ „unvermeidlich“ ergäben, zur wissenschaftlichen Aufgabe zu machen. Als philosophiegeschichtliche Vorlage seiner eigenen Projektskizze für eine künftige Ontologie wird dann die „Wiederaufnahme und Neubildung der alten Mikro214 kosmoslehre oder der Monadologie“ bemüht, mit der Begründung nur so eine 215 „Realpräsenz des Makrokosmus im Mikrokosmus“ erschwinglich zu machen. Die Unvermeidlichkeit dieses Folgezusammenhangs von Geltung und Ontologie begründet Troeltsch wie folgt. Zwar könne man „Geltungs- und Sinnbegriffe nicht 216 aus ontologischen oder seinswissenschaftlichen entwickeln“ , es sei jedoch das Gegenteil sehr wohl der Fall, „wo man doch nach der Einbefassung verschiedener Subjekte unter dieses Sinnganze, nach der Möglichkeit ihres gegenseitigen sich Verstehens und der Möglichkeit eines für sie alle geltenden Begriffszusam217 menhangs und Erfahrungsmaterials fragen muß“ . In religionstheoretischer Hinsicht ist dies von großem Belang. Denn zwei prominente (religions-)philo208 209 210 211 212 213 214 215 216 217
Ernst Troeltsch: [Rez.] Fritz Münch: Erlebnis und Geltung (wie Anm. 195), S. 73. Ebd. Ebd., S. 75. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 76. Ebd., S. 75. Ebd.
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sophische Konzeptionen – von Troeltsch hier zu Fehlverständnissen erklärt – sind damit abgewehrt: Zum einen eine vermeintlich auf Erfahrungsimmanenz beschränkte Philosophie, zwecks deren innerem Zusammenhalt die Religion 218 dann doch noch als „Zusammenknotung“ der Geltungsprinzipien für einen Konstitutions- bzw. Abschlussgedanken herhalten darf, also eine Abwälzung aller Metaphysik auf die Religion. Zum anderen eine Religionsphilosophie, die durch gänzlichen Verzicht auf Metaphysik sowohl im Philosophischen wie auch im Religiösen ausgezeichnet ist, denn diese sei „mit der alten Kantischen Unfruchtbarkeit geschlagen, dass die Religion eine objektiv notwendige, aber immer 219 nur vom Subjekt aus vollzogene Ideenbildung“ sein könne. Aus Troeltschs Betonung des unumkehrbaren Zusammenhangs von Geltung und Metaphysik geht nun zweierlei hervor. Erstens ist Troeltsch dezidiert an einer religionstheoretischen Verknüpfung objektiver wie subjektiver Dimension interessiert, die jedoch weder die, den Geltungsmomenten entspringenden, metaphysischen Regungen in die Religion einhegt, noch Objektivität und Subjektivität lediglich formal zusammenhängen lässt. Er betont stattdessen, dass „Geltungs- und Sinnbegriffe“ 220 jeder metaphysischen Theorie vorgängig seien und diese „unvermeidlich“ nach 221 sich zögen. Dabei ist durch den Terminus der „Geltungs- und Sinnbegriffe“ angedeutet, dass Troeltsch sicher keine antirationale Geltungskonzeption anvisiert, er weist zudem auf seine Übereinstimmung mit Münch, Windelband und Rickert hin, die Philosophie „als System der Apriori in seinen verschiedenen 222 theoretischen und atheoretischen Bedeutungen“ , also als eine weit angelegte Reflexionsaufgabe von Geltungs- und Begründungsfragen zu begreifen. Troeltschs Unbehagen anlässlich der Ableitung von ‚Geltung‘ aus der Metaphysik begegnet jedoch bereits zwölf Jahre zuvor in der Rezension von Emil Lasks Buch „Fichtes Idealismus und die Geschichte“ (1902 erschienen, 1903 von Troeltsch für die „Theologische Literaturzeitung“ rezensiert). Dort findet sich im Referat der Hegelkritik Lasks – das Troeltsch ohne korrigierende Bemerkungen vornimmt – das Bedauern über das ‚Umschlagen‘ der Logik Hegels, die „geradezu ihre Geltung und Möglichkeit aus metaphysischen Grundannahmen empfängt, statt bloß Analyse und Leitung des thatsächlich geübten historischen 223 Denkens zu sein“ . 218 Ebd. 219 Ebd., S. 76. 220 Ebd., S. 75. 221 Hervorhebung von Verf. 222 Ebd., S. 73. Hervorhebung von Verf. 223 Ernst Troeltsch: [Rez.] Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte, Berlin 1902; Emil Lask: Fichtes Idealismus und die Geschichte, Tübingen 1902, in: Theologische Literaturzeitung 28 (1903), Sp. 244–251, jetzt in: KGA 4, S. 259–269, hier S. 266 f.
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Wie sehr Troeltsch hingegen an einer Kompatibilität religiöser und ‚allgemein metaphysischer‘ Geltungsansprüche interessiert ist, zeigt seine Rezension zu Newton H. Marshalls „Die gegenwärtigen Richtungen der Religionsphilosophie in England und ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen“. Das Buch war 1902 erschienen und ist 1903 von Troeltsch für die „Deutsche Litteraturzeitung“ besprochen worden. Wiederum betont er die Selbständigkeit der Religion, der er 224 durch eine Konzentration auf „die konkrete Tatsache der Religion“ Rechnung 225 tragen möchte, statt „abstrakte Gottesbegriffe“ ins Zentrum zu rücken: „Es würde sich dann zeigen, dass die Religion ihre eigene selbständige Metaphysik hat, die von sich aus im tiefsten Wesen und unvertilglich dualistisch ist und insofern mit den allgemeinsten metaphysischen Endergebnissen der allgemei226 nen Erkenntnistheorie übereinkommt“ . Es sei „vergebliche Mühe [. . .], aus der Religion, die doch selbst die Urform und Keimzelle aller Metaphysik ist, die 227 Metaphysik ausscheiden zu wollen“ . Wenn Troeltsch von einer grundsätzlichen Kohärenz religiöser und nicht-religiöser Metaphysik ausgeht, aber dennoch 228 einfordert, dass „die konkrete Tatsache der Religion“ als religionsphilosophischer Ansatzpunkt gelten müsse, ist er offenbar an der Wahrnehmung einer besonderen Dynamik des Religiösen interessiert. Zum einen rückt hierdurch die Bindung an das Individuum in den Blick, zum anderen wird damit eingeholt, dass den reflexiven Ausdrücken konkrete Geltungserfahrungen vorausgehen, die zu überspringen gerade das Verkennen der Religion zur Folge hätte. Die gänzlich ablehnende Haltung gegenüber Arthur Lieberts „Der Geltungswert der Metaphysik“ erklärt sich aus Dissensen grundlegendster Art. Der Neukantianer Liebert fordere die Anerkennung der Metaphysik als ein „selbständiges 229 ‚Kulturgebiet‘“ . Troeltschs Urteil über diesen Vorschlag fällt vernichtend aus: „In Wahrheit ist das freilich so tiefsinnig, wie wenn man das Denken selber eine 230 Kategorie nennt, was jeden Sinn des Wortes ‚Kategorie‘ aufheben würde.“ Troeltsch wünscht sich, von der Begriffsschlamperei Lieberts einmal abgesehen, erstens eine Verknüpfung von Geltungsansprüchen und metaphysischer Reflexion, die nicht isoliert als eine Funktion bzw. ein Kulturgebiet in der Gesellschaft 224 Ernst Troeltsch: [Rez.] Newton H. Marshall: Die gegenwärtigen Richtungen der Religionsphilosophie in England und ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen, Berlin 1902, in: Deutsche Litteraturzeitung 24 (1903), Sp. 1017 f., jetzt in: KGA 4, S. 280–284, hier S. 283. 225 Ebd. 226 Ebd. 227 Ebd. 228 Ebd. 229 Ernst Troeltsch: [Rez.] Arthur Liebert: Der Geltungswert der Metaphysik (wie Anm. 193), S. 253. 230 Ebd., S. 254.
3.1 Zum Thema Metaphysik in den Rezensionen Ernst Troeltschs
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neben anderen irgendwie betrieben wird. Das Geltungs- und Metaphysikproblem ist für ihn vielmehr nur dann richtig angefasst, wenn es als prinzipiell, umfassend und vor allem spannungsreich wahrgenommen wird. Der Versuch Lieberts, die Metaphysik in „einem metaphysischen Triebe“ entspringen zu lassen und sie „logisch als die Kategorie der Einheit aller Widersprüche im Absoluten“ der Klärung zuzuführen und dabei auf ein „Kulturgebiet“ zu beschränken, vermag bei Troeltsch nur polemisches Entsetzen auszulösen: „Das Bisherige genügt, um erschreckend zu zeigen, ein wie bequemes scholastisches Spiel mit den Formeln des Kritizismus getrieben werden kann, insbesondere wie verführerisch die Abschiebung der Realitätsprobleme auf sog. Geltungsprobleme wirken kann, wie ahnungslos insbesondere solche Leute mit dem Religiösen umgehen, das bei 231 dieser neuen Kategorie natürlich noch mit obendrein gegeben wird.“ In diesem Schlussteil der Rezension wird noch ein weiteres deutlich: ‚Geltung‘ ist für Troeltsch zweitens fehlgedeutet, wenn konzeptionell damit einhergeht, sich aller ernsthaften Auseinandersetzungen mit den denkerischen Konsequenzen von Geltungsansprüchen entledigen zu wollen bzw. alle denkerischen Herausforderungen mit der Berufung auf „Geltung“ letztlich unbedacht verschieben zu wollen – die polemische Gegenüberstellung von ‚Realitätsproblemen‘ und ‚Geltungsproblemen‘ macht dies deutlich. Der Begriff ‚Geltung‘ im Kontext der philosophischen und theologischen Problemerschließung und -bearbeitung soll keine Entschärfung mit sich bringen, sondern eine adäquatere begriffliche Erfassung des Problemkontextes leisten. Die Kategorie der Geltung dient für Troeltsch dazu, potentiell konkurrierende Evidenzmomente artikulierbar machen zu können und dadurch einerseits keine Antimetaphysik zu befördern, andererseits aber auch nicht alles von vornherein so metaphysisch zu ‚imprägnieren‘, dass es in Begriffen festgestellt wäre. Geltungsanspruch und historische Konkretion sollen gerade nicht auseinander gehalten werden, sondern ihr unverzichtbares und spannungsreiches Ineinander die Möglichkeit der Reflexion erfahren. ‚Geltung‘ ist für Troeltsch folglich auch nicht die Alternative zu auch metaphysisch dimensionierten Geisteswissenschaften, sondern vielmehr ein Baustein gerade dieses Zuschnitts. Dieses Anliegen wird auch in Troeltschs Besprechung von Rickerts Nachruf auf Windelband deutlich. Troeltsch nutzt die Rezension des Buches Rickerts dazu, sein eigenes wissenschaftsbiographisches Verhältnis zu Windelband darzustellen. Die Geltungsphilosophie Windelbands wird in diesem Zusammenhang als tragfähiger Verbindungsversuch von Subjektivität und Objektivität hinsichtlich 232 der „Gottesidee“ vorstellig gemacht. Troeltsch schildert seine eigene Entwick231 Ebd. 232 Ernst Troeltsch: [Rez.] Heinrich Rickert: Wilhelm Windelband (wie Anm. 189), S. 212.
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lung „von der zunächst rein historisch-psychologischen, lediglich vom Subjekt 233 ausgehenden Analyse des religiösen Gedankens herkommend“ . Er habe „die 234 Frage nach der Objektivität der Gottesidee aufwerfen“ , diese jedoch „als mit Hilfe einer von außerreligiösen Daten her gebildeten Metaphysik nicht beantwortbar erklären“ müssen. Die Geltungsphilosophie Windelbandschen Zuschnitts stellt Troeltsch als spannungsreiches Unterfangen dar, das jedoch in der Gestalt Windelbands gleichzeitig eine für Troeltsch anregende Vermittlung gefunden habe: „Ich lernte damit freilich auch den Restbestand metaphysischer Probleme genau kennen, der lösbar oder unlösbar in einer solchen Geltungsphilosophie übrig bleibt, und bewunderte den feinen und vornehmen Kopf, der nicht mehr gab, als er wußte und hatte, und zwischen den Engen eines selbstgewissen Rationalismus und den Vulkanismen einer intellektuell nicht gebändigten Lebens235 unmittelbarkeit den schmalen und heiteren Weg des Philosophen bahnte.“ 236 Troeltsch würdigt Windelband als Denker, der mit „großem Wirklichkeitssinn“ ausgestattet gewesen sei. Was bei Liebert also aufgrund einer unbedarften Geltungskonzeption unglücklich auseinandergefallen war, findet bei Windelband gerade im Modus einer Geltungsphilosophie Integration. 1913 rezensiert Troeltsch für die „Theologische Literaturzeitung“ – relativ knapp – eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Absolutheitsschrift. Paul Mezgers Abhandlung, ebenfalls mit dem Titel „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ (erschienen 1912), wird von Troeltsch auf zwei 237 ihm unterstellte „Denkfehler“ hin besprochen, und natürlich nutzt er diese Rezension zur Verteidigung seiner eigenen Position. Diese Verteidigung zielt vor allem gegen die Vorwürfe Mezgers, Troeltsch mache zum einen im Verborge238 nen „die Wahrheit des Christentums“ immer schon zur Voraussetzung seiner Überlegungen und zum anderen ließe er das Bedürfnis der Christen nach „voll239 kommene[r] Befriedigung“ durch seine Religion unbefriedigt. Interessant für die Frage nach ‚Geltung‘ in diesem Zusammenhang ist Troeltschs Umgang mit dem zweiten dieser Vorwürfe.
233 Ebd. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 Ebd. Hervorhebung von Verf. 237 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Mezger: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, Band 70), Tübingen 1912, in: Theologische Literaturzeitung 38 (1913), Sp. 502, jetzt in: KGA 4, S. 728 f., hier S. 728. 238 Ebd. 239 Ebd., S. 729.
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Erstens wehrt er der Vorstellung, sich durch das Berufen auf ein „subjek240 tive[s] Befriedigungsgefühl“ der Geltungsproblematik entledigen zu können: 241 „mit dem Beweis für absolute Geltung [hat dies] nichts zu tun“ . Ein theologischer Rückzug auf religiöse Evidenzerfahrungen, der an die Stelle weltanschaulicher Kontextualisierung und Debatten um Normativität tritt, verfehlt für Troeltsch folglich die Aufgabe der christlichen Theologien, sich mit den eigenen und anderen Geltungsansprüchen auf angemessenem Problemstand auseinander zu setzen. Zweitens, und darüber hinausgehend, begegnet Troeltsch seiner Gegenwart energisch mit neuprotestantischer Diagnostik: Die „Unruhe 242 und Krisis“ des Christentums sei dem Umstand geschuldet, „daß sich eben die heutige Christenheit bei ihrer Religion gerade nicht vollkommen befriedigt füh243 le“ . Wenn die Theologie sich also nicht auf das subjektive religiöse Gefühl der Gewissheits-Befriedigung zurückzieht, sondern sich darum bemüht, argumentativ für das Geglaubte aufzukommen, bedient sie – Troeltsch zufolge – nichts anderes als eine moderne christliche Bedürfnislage selbst. Troeltsch wehrt sich gegen den Vorwurf, christlicher Frömmigkeit gleichsam künstlich ein Problem anzutragen, das bereits durch ein ‚absolutes Wahrheitsempfinden‘ geklärt sein könnte – die Herausforderung besteht für Troeltsch vielmehr darin, religiöse Evidenzerfahrungen, Geltungsansprüche und -konflikte und das Wissen um die Relativität des Christentums in weitergehende theologische und allgemeinere Reflexionsprozesse zu überführen. 3.1.2.3 Apriori Wenige Begriffe sind so unumstritten mit Troeltschs Werk verbunden wie das 244 ‚religiöse Apriori‘ und gleichzeitig sind wenige der Sache nach so umstritten.
240 Ebd. 241 Ebd. 242 Ebd. 243 Ebd. 244 Das religiöse Apriori Troeltschs wird auf recht unterschiedliche Weise aufgefasst und bewertet. Ein gewisses Unbehagen mit der Figur des religiösen Apriori ist vielen Autoren jedoch gemein. Stefan Atze: Ethik als Steigerungsform der Theologie (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 144), Berlin 2008, S. 238 f., rekonstruiert das religiöse Apriori bei Troeltsch stark im Kontext der „anderen praktischen Apriori“ (S. 238) und kritisiert vor allem, „wie denn Religion als Bildungsort individueller Persönlichkeit und als Referenzpunkt menschlicher Autonomie praktisch in die anderen Sphären der Erkenntnis (Ethik etc.) hineinvermitteln [sic!] werden soll.“ (S. 239); Falk Wagner: Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, S. 141, beklagt „Troeltschs keineswegs durch Klarheit ausgezeichnete Auffassung des religiösen Apriori“, er sieht im religiösen Apriori Troeltschs vor allem eine „antikantische Auffassung des religiösen Apriori“, die für eine „apologetische Absicherung der Selbstbehauptung
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
In einer 1918 veröffentlichten, insgesamt ablehnenden Rezension von Hermann Cohens „Der Begriff der Religion im System der Philosophie“ (1915) identifiziert Troeltsch das religiöse Apriori als einen seiner Programmbegrif245 fe. Dennoch kommt dieser in den Rezensionen insgesamt nicht statisch zur Geltung, sondern wird von Troeltsch mehrfach umgeformt bzw. in den Nuancen 246 changierend eingebracht, um berechtigte Interessen auszubalancieren oder 247 Korrekturen an rezensierten Konzeptionen pointiert anzubringen.
des religiösen Bewußtseins“ (S. 143) dienstbar gemacht werden solle. Dabei wirft er ihm einige Inkonsistenzen vor, z. B., wenn er sich dem eigentlich systemimmanent sich aufdrängenden Status des Gottesgedankens als Produkt des menschlichen Geistes zu Gunsten eines Theismus „entzieht“ (ebd.). Insgesamt bewertet er „die Troeltschsche Theorie des religiösen Apriori als unhaltbar“ (S. 146). Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch (wie Anm. 36), S. 326 betrachtet das religiöse Apriori hingegen in seiner religionsinternen Funktion mit der „Annahme, daß sich die Religion aus ihrem eigenen Apriori heraus reinigen kann“. Er begreift das religiöse Apriori in einer „doppelten Ausrichtung“: „Simul empirisch, simul rational“ (S. 328). Gerhold Becker: Neuzeitliche Subjektivität und Religiosität. Die religionsphilosophische Bedeutung von Heraufkunft und Wesen der Neuzeit im Denken von Ernst Troeltsch, Regensburg 1982, S. 314, betont, es gehe Troeltsch „nicht also um einen Existenzbeweis der Religion. Er will lediglich aufzeigen, daß die Religion, als deren Urphänomen Troeltsch die Mystik gilt, der Vernunftstruktur der Wirklichkeit nicht nur nicht entgegensteht, sondern zur notwendigen Voraussetzung ihrer Erfassung gehört“, fordert gleichzeitig, „den Gedanken des religiösen Apriori zusammen[zu]sehen mit Troeltschs Gesamtprogramm“. Kurt Leese: Recht und Grenze der natürlichen Religion, Zürich 1954, S. 150, stellt in Rechnung, das religiöse Apriori sei ein antipositivistischer Reflex Troeltschs, der so „die ‚Position des Idealismus‘ beziehen“ wolle. Er resümiert: „Die von Troeltsch im Anschluß an den kritischen oder transzendentalen Idealismus Kants entwickelte Theorie des religiösen Apriori ist ein Knäuel von Unklarheiten und Selbstwidersprüchen. Sie ist der mit untauglichen Mitteln unternommene und mißglückte Versuch, den qualitativ bestimmten Transzendenz- und Offenbarungsanspruch der Religion aufrechtzuerhalten und Religion zugleich als die Hervorbringung eines formalen, erfahrungsimmanenten Rationalen zu verstehen, das ihre Wahrheit, d. h. Gültigkeit gewährleisten soll.“ (S. 154) 245 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Hermann Cohen: Der Begriff der Religion im System der Philosophie (Philosophische Arbeiten 10), Gießen 1915, in: Theologische Literaturzeitung 43 (1918), Sp. 57–62, jetzt in: KGA 13, S. 367–375, hier S. 374. Die Aufzählung der programmatischen Begriffe lautet im Ganzen: „Selbständigkeit, Religionspsychologie und Religionsgeschichte, deduktiver und induktiver Religionsbegriff, Psychologie und religiöses Apriori, Absolutheit oder Relativität der historischen Religion“. 246 Zu nennen wären hier beispielsweise interne Motive bei Kant, aber auch – im Gesamt der Rezensionen betrachtet – von Troeltsch als berechtigt empfundene Interessen, die von Kant, Schleiermacher und Hegel ausgehen und um deren Vermittlung er bemüht ist. 247 Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch (wie Anm. 36), S. 328, Anm. 197, weist bereits auf die Bedeutung der Rezensionen in diesem Kontext hin. Er hält fest: „Troeltsch wendet sich in seinen religionsphilosophischen Rezensionen vor allem gegen eine einseitige Kritik an seiner Position. Symptomatisch sind für ihn drei Formen: Die theologische Akzentuierung des Offenba-
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In der Rezension des Schleiermacher-Buches des Theologen Eugen Huber für die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ bekundet Troeltsch zunächst etwas ironisch seine Hoffnung, „daß nach dieser exakten und erschöpfenden Arbeit so schnell keiner mehr ein Buch über Schleiermachers Religionsbegriff schreiben wird und daß damit diese allmählich unausstehlich gewordene Litteratur durch 249 ein überaus tüchtiges Werk beendet ist.“ Auf die Überlegungen Hubers reagiert Troeltsch in der Rezension zweifach korrigierend: Einerseits in Bezug auf den vermeintlichen doppelten Religionsbegriff bei Schleiermacher und andererseits hinsichtlich dessen Konzeption von Theologie und Religionswissenschaft. Dabei verhält es sich nicht so, als wolle Troeltsch die von Huber attestierten Unstimmigkeiten negieren. Vielmehr versucht Troeltsch die Motive Schleiermachers zu entschlüsseln, die hinter den von Huber bemängelten Spannungen stehen. Dies tut er mit den einführenden Bemerkungen, „[d]as möchte ich nun nicht glau250 ben. Die Sache liegt vielmehr so [. . .]“ – sprachliche Figuren, die in Troeltschs Rezensionen häufig begegnen. Dem Vorwurf Hubers, Schleiermacher gebrauche „zwei Religionsbegriffe [. . .], einen aus der rein psychologischen Beobachtung und einen aus spekulativpsychologischen Erwägungen“ und „befinde sich in völliger Unklarheit über die 251 Doppelheit dieses Religionsbegriffes“ , widerspricht Troeltsch in aller Deutlichkeit. Es sei zwar nicht unberechtigt, Schleiermachers Religionsbegriff eine gewisse Einlinigkeit abzusprechen, allerdings sei dieser Befund den komplexen und gewussten Interessen Schleiermachers geschuldet, berechtigte Momente in seiner Religionstheorie einzuholen. Er sei von „einer sehr bestimmten Fein252 fühligkeit die psychologische Erscheinung der Religion“ betreffend geleitet, 253 gleichzeitig jedoch auch „Erkenntnistheoretiker und Kantianer“ gewesen, mit dem Willen ausgestattet, „vom psychologischen Phänomen zu einer erkenntnistheoretischen Begründung der Religion in den Gesetzen des Bewußtseins
rungsgedankens (E. Schaeder), das Denken von einem philosophischen Wahrheitsverständnis her (T. Oesterreich) und die Konstruktion einer ‚Zwickmühle‘ zwischen Offenbarungsglauben und Skepsis (W. Günther).“ Diese Beobachtung verbindet sich für Drescher mit den genannten drei Rezensionen aus den Jahren 1916 bis 1918. Zu der auch von Drescher benannten Besprechung von Oesterreich s. u. 248 Gemeint ist: Ernst Troeltsch: [Rez.] Eugen Huber: Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher (Studien zur Geschichte der Theologie und Kirche, Band 8), Leipzig 1901, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 166 (1904), S. 159–163, jetzt in: KGA 4, S. 326–330. 249 Ebd., S. 327. 250 Ebd., S. 328. 251 Ebd. 252 Ebd. 253 Ebd.
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vordringen“ zu können. Huber sei bei der Thematisierung der „Schwankungen“ in der Begrifflichkeit bei Schleiermacher durchaus Bedeutsames gelun255 gen, dort „liegt der Hauptwert der Darstellung Hubers“ . Der Deutung dieser Schwankungen jedoch schließt sich Troeltsch gerade nicht an, auch wenn er der Diagnose „daß der erkenntnistheoretische Versuch Schleiermachers mißlungen 256 ist“ , nicht widerspricht – die Stärke der religionstheoretischen Durchführung Schleiermachers also in der psychologisch deskriptiven Seite sieht. Die zweite Kritik Hubers an Schleiermacher, dieser verfahre mit einem unplausiblen Konzept von Religionswissenschaft und Theologie, bremst Troeltsch noch energischer aus als die erste. In Schleiermachers Unterscheidung zwischen einer nicht-theologischen Religionswissenschaft, die methodisch nach den Maßstäben allgemeiner Ethik vorgehe und einer christlichen Theologie, die den christlichen Glauben zur praktischen Grundlage habe, sieht Troeltsch eine der zentralen Errungenschaften Schleiermachers. Beide näherten sich derselben Problematik von unterschiedlichen Voraussetzungen her: die Religionswissenschaft erforsche die Religionen auf spekulativer Grundlage, die christliche Theologie hingegen bringe das Geglaubte auf systematische Weise zu symbolischem Ausdruck. Auch hier ist das Urteil Troeltschs nicht eindimensional. Zwar deutet er Kritik an Schleiermachers Genese seiner Grundlage an, hält jedoch an einer grundsätzlichen Beleuchtung der Religionen und des Christentums von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen her fest und betont den Eigenwert der dabei zur Anwendung gebrachten methodischen und heuristischen Perspektiven. Troeltsch verbleibt in seiner Besprechung des Buches Hubers auf der Ebene der Schleiermacherdeutung, und doch bietet seine Schleiermacherkritik Anhalt für die eigene Position. So liegt die Vermutung nahe, dass er die Spannungen in Schleiermachers Theologie so sehr zu plausibilisieren sucht, weil er selbst um die Herausforderung weiß, konkurrierende Interessen zu vermitteln. Doch dürften sich die Gemeinsamkeiten mit Schleiermacher mitnichten auf diese formale Ebene beschränken lassen. Es ist auffällig, dass die von Troeltsch bei Schleiermacher zur Geltung gebrachten Problemkonstellationen seinen eigenen nicht allzu fern liegen – dies explizit zu machen ist vielleicht gar nicht nötig gewesen und würde möglicherweise den Eindruck einer offensichtlichen Eintragung der eigenen Fragen in die Theologie Schleiermachers erweckt haben. Allein die Diagnose, Schleiermacher sei mit seiner Bearbeitung der erkenntnistheoretischen
254 Ebd. 255 Ebd., S. 329. 256 Ebd.
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Seite der Religionstheorie gescheitert, zeigt hinreichend an, dass das Problem noch einer Lösung zugeführt werden muss. In einigen Rezensionen macht Troeltsch das Konzept eines Apriori geltend: Dies geschieht in der Absicht, zentrale und interessante Problemarrangements zu markieren und so das einzulösen, was von ihm besprochenen Autoren nicht geleistet haben. Dabei geht es an dieser Stelle noch nicht um eine unmittelbare selbstbezügliche Konturierung des Troeltsch’schen Konzeptes eines religiösen Apriori. Denn zunächst rückt das ‚Apriori‘ im Zusammenhang mit der Philosophie Kants in den Blick und dies jeweils auf unterschiedliche Weise. Gegenüber Ernst Sänger und dessen Untersuchung über „Kants Lehre vom 257 Glauben“ bemängelt Troeltsch das etwas blutarme Stellensammeln des Autors , der die eigentlich interessanten Aspekte seiner Fragestellung so gerade nicht in den Blick bekomme. Troeltsch mahnt in diesem Zusammenhang nicht nur zu 258 einer intensiveren Rezeption der „Kritik der Urteilskraft“ aufgrund der dort vorfindlichen umarrangierten Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen, sondern macht an derselben auch den ihn interessierenden weiterführenden Problemzuschnitt fest: Weil angesichts „der Gedanken der Urteilskraft [. . .] der ethisch-religiöse Glaube als Abschluß in die teleologische Weltbetrachtung eintritt, wird der doktrinale Glaube überflüssig und tritt an seine Stelle das apriorische Prinzip teleologischer Weltbeurteilung. [. . .] Nämlich bei aller prinzipiellen Trennung des objektiven naturgesetzlichen Wissens und des subjektiven praktischen Glaubens hat Kant doch immer die Einheit der Vernunft insofern im Auge, als er dem subjektiven Glauben doch immer auf ihn hinweisende Indicationen des objektiven Erkennens zur Seite giebt und als er die Gegenstände des Glaubens und die Weltanschauung des Glaubens von jeder Kollision mit dem naturgesetzlichen Weltbild frei hält oder vielmehr das letztere auf das erstere 259 stimmt.“ Was hier von Troeltsch als eigentlich interessant beschrieben wird, ist zunächst, dass die Kritik der Urteilskraft für die Position Kants stehe, an einer reinen Trennung von Glauben und Wissen interessiert gewesen zu sein. Von beiden könne nicht Gegenläufiges in der Form ausgehen, dass die Einheit der Vernunft in Gefahr geriete. Zwar wird von einer einfachen Zusammenfügung beider Größen nicht die Rede sein können, aber Troeltsch weist darauf hin, dass Kant bei einer einfachen Trennung von Glauben und Wissen nicht 257 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Ernst Sänger: Kants Lehre vom Glauben. Eine Preisschrift der Krugstiftung der Universität Halle-Wittenberg, Leipzig 1903, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 166 (1904), S. 929–931, jetzt in: KGA 4, S. 372–375, hier S. 374. 258 Gemeint ist: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790). 259 Ernst Troeltsch: [Rez.] Ernst Sänger: Kants Lehre vom Glauben (wie Anm. 257), S. 374. Hervorhebung von Verf.
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stehenbleibe. Bemerkenswert ist nun, dass Troeltsch entschieden betont, dass die von Kant vorgenommene einseitige Einstimmung gerade nicht vom Glauben ausgehe, der auf das ‚vernünftige‘ „naturgesetzliche Weltbild“ sich ausrichten würde, sondern die Bewegung umgekehrt angemessen beschrieben sei. Dies nun wird in mehrfacher Perspektive angedeutet: Erstens die auf den Glauben 260 „hinweisende[n] Indicationen des objektiven Erkennens“ , zweitens die Unterscheidung der „Gegenstände des Glaubens“ und der „Weltanschauung des 261 Glaubens“ , die von Kant programmatisch von einem Zusammenstoß mit dem naturwissenschaftlichen Welterkennen bewahrt wird, indem drittens eben dieses dem „objektiven Erkennen[]“ folgende Weltbild „gestimmt“ wird auf jenes des Glaubens. Diese Bewegung wird von Troeltsch überschrieben als das „apriori262 sche Prinzip teleologischer Weltbeurteilung“ , also dem Bemühen Kants einem gewissen Ineinander von Glaube und Wissen Rechnung zu tragen. Troeltsch schließt die Besprechung mit der Problemanzeige, dass Kant über den Status der „Glaubenserkenntnis“ selbst nicht eindeutig auskünftig gewesen sei, nämliche Frage jedoch implizit dadurch präsent sei, „wo er [Kant, MB] nicht auf den erkenntnistheoretisch herausgeschälten Erkenntniskern der Religion, sondern auf ihre psychologische Thatsächlichkeit trifft und zugestehen muß, daß beides 263 nicht immer völlig scharf getrennt werden kann.“ 1905 wird das Apriori bei Kant wiederum von Troeltsch als ein Korrektiv gegenüber einem Autor geltend gemacht. Die Rezension, die in den Kant-Studien erschien, hatte Paul Kalweits „Kants Stellung zur Kirche“ (1904) zum Gegen264 stand. Das Buch erfährt Troeltschs Zustimmung in den weitesten Teilen, nicht jedoch bei der Kantkritik Kalweits, die Troeltsch an anderer Stelle anzubringen für angebracht hält. Während Kalweit sich „befremdet“ zeige, „durch den Widerspruch dieser theoretischen Anerkennung und Mitarbeit an der Kirche wider das 265 persönliche Verhalten Kants gegenüber der Kirche“ , was Troeltsch wiederum für eine „bei einem so konservativ-legalen Denker wie Kant ganz begreifliche Un266 terscheidung einer exoterischen und einer esoterischen Religion“ hält, macht 267 er eine andere „Unsicherheit“ Kants geltend.
260 Ebd. 261 Ebd. 262 Ebd. 263 Ebd., S. 375. 264 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Kalweit: Kants Stellung zur Kirche, Königsberg i. Pr. 1904, in: Kant-Studien 10 (1905), S. 166–170, jetzt in: KGA 4, S. 411–417. 265 Ebd., S. 416. 266 Ebd., S. 417. 267 Ebd.
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Gegenüber der Besprechung zu Sänger hat Troeltschs Votum jedoch einen etwas anderen Zuschnitt. Nicht die Kritik der Urteilskraft rückt in den Vordergrund und auch nicht die Gegenüberstellung von naturgesetzlichem Wissen und religiösem Glauben. Gegenüber der Untersuchung Kalweits fordert Troeltsch dennoch wie auch schon ähnlich gegenüber Sänger ein, „jenes Grundproblem des Verhältnisses des Apriorischen zum Psychologischen in Kants praktischer 268 Philosophie prinzipiell“ in Angriff zu nehmen. Diese Forderung liegt nicht zuletzt in einer von Troeltsch konstatierten uneinheitlichen Bedeutung „des 269 Apriori der praktischen Vernunft“ bei Kant begründet. Denn mal werde es von Kant eingesetzt „in der Analogie zur theoretischen Vernunft die psychologische Wirklichkeit in sich befass[end], bald in völliger Aufhebung dieser Analogie lediglich einen Gegensatz zwischen der Vernunft270 wahrheit und der psychologischen Wirklichkeit s[ehend].“ Während das Apriori bei Kant von Troeltsch in der Fassung eines „apriorische[n] Prinzip[s] der teleologischen Weltbeurteilung“ also zunächst als Integrationsfigur von Glaube und Wissen ins Spiel gebracht wurde, wird hier nun das Apriori der praktischen Vernunft als schwankender Begriff mit unsicherem Inhalt vorstellig gemacht, das mal als Integrationsfigur, mal als Distinktionsfigur diene. Ebenfalls 1905, allerdings nun für die „Deutsche Litteraturzeitung“, erscheint Troeltschs Besprechung der „Kritik der theologischen Erkenntnis“ (1904) 271 des Theologen und Philosophen Friedrich Reinhard Lipsius. Troeltsch hat für das Werk nicht allzu viel übrig. Intention des Verfassers sei es, „die Illusion auf[zu]heben, als ob der Religion im gewöhnlichen Verständnis des Wortes irgend ein Erkenntniswert zukomme. [. . .] Der Kern der Religion ist verstandesmäßige Metaphysik, und ihr Erkenntniswert reicht genau so weit, wie der Erkenntniswert metaphysischer Begriffe über Weltgrund und Weltziel bei kühlster 272 objektiver Prüfung reicht.“ Die selbsternannte Analogie zu Strauß und Orientierung an Wilhelm Wundt sowie eine Verhältnisbestimmung zu Kant und Schleiermacher werden von 268 Ebd. 269 Ebd. 270 Ebd. 271 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Reinhard Lipsius: Kritik der theologischen Erkenntnis, Berlin 1904, in: Deutsche Literaturzeitung 26 (1905), Sp. 206–210, jetzt in: KGA 4, S. 395–400. Der Theologe und Philosoph Friedrich Reinhard Lipsius war der Sohn des Theologen Richard Adelbert Lipsius, vgl. Hans-Joachim Birkner: [Art.] Lipsius, Richard Adelbert, in: Neue Deutsche Biographie, Band 14, Berlin 1985, S. 676. Richard Adelbert Lipsius’ Dogmatik in dritter Auflage war Gegenstand der ersten Rezension Troeltschs: vgl. dazu Teil 2 sowie 3.2.2.2 dieser Arbeit. 272 Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Reinhard Lipsius: Kritik der theologischen Erkenntnis (wie Anm. 271), S. 395.
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Troeltsch mit dem Fazit versehen: „Damit ist jeder Theologie und Gotteserkennt273 nis das Todesurteil gesprochen.“ Dabei macht Troeltsch dieses „Todesurteil“ nicht zuletzt an der Ablehnung des Autors fest, die dieser den Bemühungen Kants und Schleiermachers entgegenbringe, „der Religion eine erkenntnistheo274 retische Selbständigkeit, ein eigenes Apriori, zu geben“ . Indem Lipsius dieses „als Gefühlstheologie bezeichnet und von der Psychologie als kausale Produkte des Gefühlslebens und der ihm bestimmten Vorstellungstätigkeit aufgelöst“ sein lasse und sich Erkenntnis lediglich vom „rein mechanistisch-kausalen Zu275 sammenhang“ verspreche, gebe es für „den Gottesbegriff absoluten Platzman276 gel“ . Troeltsch resümiert: „Die Tendenz der kausal-notwendigen Erklärung 277 alles Seienden ist hier wie sonst der Leviathan, der alles verschlingt.“ Troeltsch unterscheidet nun in dieser Rezension das bereits erwähnte religiöse Apriori bei Kant und Schleiermacher vom normativen Apriori Kants, das dieser dualistisch in freiheitsermöglichender Absicht neben der Psychologie plat278 ziere . Beide Fassungen des Apriori macht er gegen Lipsius stark, der seinerseits 279 „an der hingerichteten Theologie ganz unerwartete Wiederbelebungsversuche“ vornehme: Indem am vehement vertretenen Kausalprinzip aufgrund seines letztlich logischen Charakters „die Gewißheit einer kausalen Einheit des Universums“ angenommen werden müsse, sei im „Vertrauen auf seine Geltung“ doch noch 280 „ein[] metaphysische[r] Satz“ vorfindlich. Dies wird von Troeltsch als „ganz 281 besonders hohe[r] Grade von Inkonsequenz“ gewertet. Gegen Lipsius erhebt Troeltsch in Form zahlreicher rhetorischer Fragen zum Schluss der Rezension das Wort und ist bemüht, das Recht des Dualismus, „Irrationalität, Kontingenz 282 und Pluralismus überhaupt im Erkennen“ zu betonen. Wenn er fragt: „Und vielleicht ist die Religion ganz im Recht, wenn sie immer sagt, Gott könne nicht 283 erkannt, sondern nur geglaubt werden?“ , macht er unmissverständlich deutlich, das die Untersuchung Lipsius’ und sein Verständnis von theologischer Erkenntnis an der Religion geradewegs vorbeigehen. Das religiöse Apriori Kants und Schleiermachers wird in seiner Intention von Troeltsch als brauchbares 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283
Ebd., S. 397. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 400. Vgl. ebd., S. 397, S. 400. Ebd., S. 397. Ebd. Ebd. Ebd., S. 400. Ebd.
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Mittel gegen ein Überschlagen des kausalistischen Paradigmas auf religionstheoretische Reflexionen rekonstruiert, als erkenntnistheoretischer ‚Platzhalter‘ für den Gottesgedanken. Diesen will Troeltsch dann an späterer Stelle mithilfe des Parallelismus von Apriori und Psychologie bei Kant gerade keinerlei monistischem Ansinnen überlassen und zudem als die Art seines Erkennens nur den Glauben anerkennen. Bemerkenswert ist neben diesem Facettenreichtum, den Troeltsch bei Kant mit dem allein auf unmittelbar theologisch anschlussfähige Fassungen des Apriori verbindet, zweierlei: zum einen, dass Troeltsch anhand dieser Gedanken eines wie auch immer gefassten Apriorischen stets die ihm zentral erscheinenden Probleme festmacht, zum anderen, dass er mit der Rede vom Apriori, das er dabei bei Kant bzw. bei Kant und Schleiermacher an unterschiedliche Entdeckungszusammenhänge rückbindet, auch unterschiedliche positionelle Pointen artikuliert, die – man wird dies sagen dürfen – von seinen eigenen nicht trennscharf freigemacht sein werden. Ins Konkrete gewendet heißt dies: Weder soll einer Kollision des religiösen Weltbildes mit den Ergebnissen naturgesetzlicher Forschung das Wort geredet werden, wobei der philosophische Versuch Kants betont wird, diese Kollisionsfreiheit nicht durch Zugeständnisse ausgehend vom religiösen Weltbild zu bewerkstelligen. Noch soll die religiöse Erkenntnis bzw. der religiöse Glaube dem Kausalitätsprinzip preisgegeben werden, denn dies würde dem theistisch gefassten Gottesbezug stets den Todesstoß versetzen, und eng mit dem ersten Punkt verbunden auf die gesamte Bewusstseinstätigkeit des Menschen bezogen letztlich jede Eigendynamik geistiger Tätigkeit unartikulierbar machen. Drittens betont Troeltsch die Produktivität, die er sich von einer Untersuchung der bei Kant auch vorfindlichen Spannung zwischen Psychologischem und Apriorischem 284 verspricht, die zu unterscheiden wiederum Troeltsch einerseits als reizvoll , 285 andererseits als schwierig darstellen kann. Ein Jahr später, 1906, bespricht Troeltsch für die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ ein Werk des Historikers Kurt Breysig mit dem Titel „Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer“ (1905). Die Besprechung ist – wie in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ üblich – umfangreich: Sie umfasst im Original zehn Seiten. Der Anteil reiner Wiedergabe des Inhalts, wobei sich Troeltsch an vielen Stellen einer beißenden Ironie nicht enthalten kann, ist mit ungefähr zwei Dritteln der Rezension durchaus ausführlich, und dieser Umstand wird von Troeltsch denn auch reflektiert: „Es mag fraglich sein, ob es sich lohnt, über ein derartiges Buch soviel Worte zu verlieren, insbesondere soviel aus ihm 284 Vgl. ebd. 285 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Ernst Sänger: Kants Lehre vom Glauben (wie Anm. 257), S. 375.
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abzuschreiben. Ich glaube allerdings, daß es der Mühe wert ist, weil bei derartig leichtfertiger Behandlung des ‚Entwicklungsbegriffes‘ viele Fehler eines Verfahrens zu Tage treten, das sonst kritischer, besonnener und geschmackvoller, vor allem mit mehr Kenntnissen und Wirklichkeitssinn unternommen wird, und weil gerade die Worte Breysigs selbst in all ihrer pretiösen Ueberfeinheit diese 286 Fehler aufs naivste aussprechen.“ Troeltsch führt hier also einen geradezu paradigmatischen Fehlversuch religionsgeschichtlicher Arbeit regelrecht vor. 287 Der Begriff des Apriori, diesmal in expliziter Fassung als religiöses Apriori , findet auch diesmal im Kontext der abschließenden Kritik Troeltschs seinen Ort, wird nun aber weder von Kant noch Schleiermacher ‚abgeholt‘, was sicher einerseits damit zu tun hat, dass Troeltsch hier kein Werk zu Kant bespricht, was andererseits aber auch für eine höhere Identifikation mit dem Begriff in 288 der eigenen Programmatik spricht. Breysig versuche in seinem Buch, „die entwickelungsgeschichtliche Religi289 onsforschung auf eine neue Grundlage zu stellen“ . Troeltschs Kritik an dem Buch ist ungewöhnlich harsch: Breysig nehme gar nicht wahr, „daß er hier die eigentliche Hauptsache, das religiöse Gefühl selbst und eine innere Aufwärtsbe290 wegung in ihm, einfach voraussetzt“ , sein Vorgehen „auf dem ethnographisch291 mythographischen Gebiet“ sei „naivster Dogmatismus“ und „naivste Präokku286 Ernst Troeltsch: [Rez.] Kurt Breysig: Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer, Berlin 1905, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 168 (1906), S. 688–698, jetzt in: KGA 4, S. 493– 507, hier S. 504. 287 Vgl. ebd., S. 506 f. 288 Seit 1904, näherhin dem St. Louis-Vortrag Troeltschs, der 1905 als Aufsatz „Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft“ erschien, ist die explizite Aneignung des Begriffes des religiösen Apriori durch Troeltsch belegt; dazu sowie zum Entstehungskontext und zur Entwicklung des Begriffs bei Troeltsch vgl. Ulrich Barth: Religionsphilosophisches und geschichtsmethodologisches Apriori. Ernst Troeltschs Auseinandersetzung mit Kant, in: ders.: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, S. 359–394; zu der großen Uneinheitlichkeit der dem Troeltsch’schen Apriori folgenden Debatten Kurt Leese: Recht und Grenze der natürlichen Religion (wie Anm. 244), S. 147–148. Die Datierung wird auch von den oben ausgewerteten Rezensionen her flankiert. Darüber hinausgehend können die oben ausgewerteten Rezensionen von 1904 bis 1906 als weitere Dokumentationen der begrifflichen Suchbewegung, der Aneignung und des debattenspezifischen Einsatzes beschrieben werden. 289 Ernst Troeltsch: [Rez.] Kurt Breysig: Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer (wie Anm. 286), S. 497. Die These Breysigs ist – knapp zusammengefasst – eine Parteinahme für den Euhemerismus, vgl. S. 498, anhand des Konzepts des „‚Heilsbringers‘ oder des heroisierten Urwohltäters“, ebd., sämtliche Religionen „auf den in ihnen enthaltenen Rest des Uebertieres und Uebermenschen oder des ihnen ihre persönliche Qualität verleihenden Heilbringers“, S. 499, abzuklopfen. 290 Ebd., S. 503. 291 Ebd., S. 504.
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pation“ , er begehe eine „wunderliche petitio principii“ , es sei „das allenfalls 294 Mögliche mit dem Wirklichen verwechselt“ . Damit ist das Kernproblem des Buches aber noch gar nicht verhandelt. Troeltsch geht es vor allem um die Destruktion des von Breysig in Anschlag gebrachten Entwicklungskonzeptes und noch dringender um dessen Applikation auf die Religionsgeschichte: „Es ist eine Warnung vor einer völlig unphilosophischen Handhabung des Entwickelungsbegriffes, der ein Nest von schweren Problemen und keine einfache durchsichtige und selbstverständliche Methode ist. Insbesondere ist nun aber seine Anwendung auf die Religion vollends bedenklich, wo es an jeder religionsphilosophischen Bildung und Denkgewöhnung 295 fehlt.“ Troeltsch bringt im Laufe der Rezension bereits Kritik am biologistisch 296 konzipierten Entwicklungskonzept Breysigs vor . Das religiöse Apriori nun wird von Troeltsch eingesetzt, um entschieden zu betonen, dass der Versuch Breysigs, die Religion aus geschichtlichen Entwicklungen abzuleiten, nicht statthaft ist. Dieser wolle „mit Hilfe von allerhand primitiven Illusionen dasjenige aus tausend 297 Einzelheiten zusammenscharren [. . .], was sich überhaupt nicht ableiten läßt“ . Das religiöse Apriori soll also hier zu stehen kommen als Abwehr des Versuches die „Entstehung der Religion aus allerhand peripherischen, psychologisch ableit298 baren Illusionen der Primitiven und dann ihr Untergang auf höheren Stufen“ zu erklären. Die Religionsgeschichte jedenfalls, als Methode zwar unumgäng299 lich , vermag „immer nur als Bestätigungsmittel der einen oder der anderen 300 Lehre dienen können, aber sie niemals selbst begründen können“ . Noch griffiger: Troeltsch macht geltend, „daß die Religion selbst überhaupt nicht entsteht, 301 sondern nur ihre Formen und Ausdrucksmittel“ . Das in der „Grundkonstitu-
292 Ebd. 293 Ebd., S. 505. 294 Ebd. 295 Ebd., S. 506. Vgl. zu Troeltschs Kritik an Breysigs Entwicklungskonzept auch Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 58), S. 39. 296 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Kurt Breysig: Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer (wie Anm. 286), S. 494. 297 Ebd., S. 507. Hervorhebung von Verf. 298 Ebd. 299 Vgl. ebd. 300 Ebd. Diese Haltung Troeltschs macht auch Falk Wagner: Was ist Religion? (wie Anm. 244), S. 135, geltend: Wagner betont, dass bei Troeltsch „die Selbständigkeit der Religion und des religiösen Bewußtseins allein auf dem Feld der Religionsphilosophie oder Religionswissenschaft erwiesen werden kann.“ 301 Ernst Troeltsch: [Rez.] Kurt Breysig: Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer (wie Anm. 286), S. 506.
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tion des Geistes“ enthaltene „religiöse Verhältnis“ wird von Troeltsch den Versuchen Breysigs energisch enthoben, der glaubt, Religiosität ableiten oder der biologistisch-geschichtlichen Entwicklungslogik durchsichtig machen zu können. Durch das von ihm eingebrachte religiöse Apriori bindet Troeltsch die Religion an die Binnenlogik der Geistphilosophie, wenn er sie „aus einer inneren, in 304 spontanen Inspirationen sich vollziehenden Bewegung“ sich entwickeln lässt. So verwundert es wenig, dass Troeltsch für diesen Entwicklungsbegriff Hegel 305 bzw. in dessen Nachfolge Eucken als Anwälte bemüht. 1921 besprach Troeltsch zwei Bücher, die beide seine Theorie des religiösen Apriori zum Gegenstand haben. Dabei handelt es sich um Rudolf Köhlers „Der Begriff a priori in der modernen Religionsphilosophie“ (erschienen 1920) sowie Robert Jelkes „Das religiöse Apriori und die Aufgaben der Religionsphilosophie“ 306 (erschienen 1917). Man merkt der Besprechung einen gewissen Unmut an, der von Troeltsch vor allem am typischen, am Wahrheitserweis einer bestimmten Konfession interessierten theologischen Vorgehen und Argumentationsstil der Autoren festgemacht 307 wird. Dies bestehe im Fall Köhlers darin, „die Religion betreffenden Theorien etwas isoliert auf den Boden der Theologie hinüberzuziehen und sie dann dem hier üblichen Kreuzfeuer von ganz anderen Voraussetzungen aus auszuset308 zen.“ Bei Jelke liege diese Sachlage ähnlich und sei vor allem dem Umstand 309 geschuldet, dass dieser auf eine „konfessionelle Religion hinaus“ wolle, was 310 Troeltsch für sich geradeheraus ablehnt. Dennoch würdigt Troeltsch das Buch Köhlers als „sehr gute Wiedergabe meiner Versuche [. . .]. Er betont die Unabgeschlossenheit meiner Arbeit und die verschiedenen Wendungen, die sie von Ritschl zu Dilthey, von da zur südwestdeutschen Kantschule und von da schließlich zu einem metaphysischen 311 Abschluß genommen habe. Das alles ist richtig [. . .].“ Aus dieser Bemerkung 302 Ebd. 303 Ebd. 304 Ebd., S. 507. 305 Vgl. ebd., S. 506. 306 Ernst Troeltsch: [Rez.] Rudolf Köhler: Der Begriff a priori in der modernen Religionsphilosophie. Eine Untersuchung zur religionsphilosophischen Methode, Leipzig 1920; Robert Jelke: Das religiöse Apriori und die Aufgaben der Religionsphilosophie. Ein Beitrag zur Kritik der religionsphilosophischen Position Ernst Troeltschs, Gütersloh 1917, in: Theologische Literaturzeitung 46 (1921), Sp. 270, jetzt in: KGA 13, S. 509–511. 307 Vgl. ebd., S. 510 f. 308 Ebd., S. 510. 309 Ebd. 310 Vgl. ebd. 311 Ebd.
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wird ersichtlich, dass es Troeltsch ein Anliegen ist, die „Unabgeschlossenheit“ seiner Gedanken herauszustreichen und diese gerade nicht zugunsten eines stärker geschlossenen, mit weniger Suchbewegungen versehenen einheitlichen Systemgebäudes zu kaschieren. Das religiöse Apriori nun erfährt in dieser Besprechung eine griffige Definition durch Troeltsch. Es bezeichne „das transzendentale Element im religiösen 312 Erlebnis“ . Weitere Konkretionen oder Definitionsmomente erfährt das religiöse Apriori zwar nicht, dennoch ist auch diese konzentrierte Formel aufschlussreich. 313 Von einer Bewusstseinsfunktion oder „Grundkonstitution des Geistes“ ist an dieser Stelle nicht (mehr) die Rede, vielmehr ist folgendes beachtlich: erstens, dass Troeltsch in dieser Fassung das religiöse Erlebnismoment, also konkrete Glaubensvollzüge, in den Fokus rückt, und dass zweitens dieser konkrete Glaubensvollzug ein Moment enthalten soll, dass nicht als allgemeine Strukturtheorie, 314 sondern im Erleben ein Wahrheitsmoment inhärent sein lässt. Wenn also das leitende Interesse Troeltschs bei seiner Apriori-Figurierung in der „aus dem We315 sen der Vernunft heraus zu bewirkenden absoluten Substanzbeziehung“ liegen soll, dann in dem hier vorfindlichen Zuschnitt nur bei gleichzeitiger Wahrung des Umstands, dass Religion nicht unabhängig oder abstrahiert von den je individuellen Glaubensvollzügen zu haben ist und somit eine „Vernunftnotwendigkeit 316 [ihrer] Ideenbildung“ in Berührungslosigkeit mit diesen Vollzüge zu erheben keinen Sinn macht. Anders gewendet: Das Geltungsmoment bzw. Bewusstsein der Vernunftnotwendigkeit ist dem religiösen Erlebnis charakteristisch immer schon als eingestellt zu beschreiben. Gegenüber dem Philosophen Traugott Konstantin Oesterreich tritt Troeltsch 1916 in eine kurze, aber explizite Auseinandersetzung über seinen Begriff des religiösen Apriori. Er reagiert damit auf die Kritik Oesterreichs, wie dieser sie in seinem Buch „Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem“ (1915) geäußert hatte. 312 Ebd. 313 Ernst Troeltsch: [Rez.] Kurt Breysig: Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer (wie Anm. 286), S. 506. 314 Vgl. hiermit übereinstimmend Georg Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft (wie Anm. 42), S. 68, der das Fazit seiner Interpretation des religiösen Apriori bei Troeltsch wie folgt fasst: „Über die Wahrheit der Religion entscheidet allein der religiöse Vollzug selbst.“ 315 So Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Band 2: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 134. Ebd. beschreibt er als Ziel der Erkenntnistheorie den Beweis der „Vernunftnotwendigkeit der religiösen Ideenbildung“. So schon die Formulierung Troeltschs von der „Vernunftnotwendigkeit der religiösen Ideenbildung“ in: Ernst Troeltsch: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft (1906, 2 1909), in: GS II, S. 452–499, S. 494. 316 Ebd.
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Oesterreich schwebe eine Vermittlung streng wissenschaftlicher Metaphysik 317 mit „religiösen Zuständlichkeiten“ vor und zwar so, dass „über den Wahrheitsgehalt der religiösen Phänomene [. . .] die Anwendbarkeit des im philosophischen 318 System ausgebildeten Wahrheitsbegriffes“ richte. Nun zeigt sich Troeltsch grundsätzlich durchaus interessiert an der wissenschaftlichen Reflexion des Zu319 sammenhangs von Religion und Metaphysik , kann sich jedoch dem Zuschnitt, der Oesterreich vorschwebt, nicht recht anschließen. Dies wird schon in der Zusammenfassung des religionsphilosophischen Programms Oesterreichs deutlich: „Also kurz: die Ankündigung einer neuen Religion, die ihr intellektuelles Gerippe in der wissenschaftlichen Metaphysik hat, aber in den daran angesetzten 320 religiösen Zuständlichkeiten ihren spezifisch religiösen Charakter zeigt.“ Die positionellen Unstimmigkeiten zwischen Oesterreich und Troeltsch werden von Troeltsch an einer Stelle zunächst relativiert. Er hält fest, dass „[d]er Wahrheitsbegriff meines religiösen Apriori [. . .] von der Wertlehre des Verf. doch 321 nicht so sehr verschieden“ sei, wie es Oesterreich darstelle. Allerdings markiert Troeltsch einen Dissens hinsichtlich des „Vorstellungselement[s] der Religion, 322 das ich als Symbolismus betrachte“ . Oesterreich hingegen meine, „[n]icht Symbolismus, sondern Erkenntnis wolle das religiöse Denken, und das könne 323 nur von wirklich philosophischer Metaphysik geleistet werden“ . In diesen Bemerkungen steckt zweierlei: Zum Einen hält Troeltsch es für nicht möglich, das religiös Geglaubte in den Status einer Erkenntnis zu überführen. Wenn er gerade keinen Dissens beim Wahrheitsbegriff feststellen möchte, wird er sich Oesterreichs Beschreibung anschließen können, es bei der Religion mit etwas zu tun zu haben, was „wissenschaftlich [. . .] keinen Wahrheitsgehalt und keine 324 objektive Giltigkeit“ beansprucht. Zum anderen hält er es aber – und das ist vielleicht der interessantere Aspekt hinsichtlich der Frage nach dem religiösen Apriori – gar nicht für relevant, dies überhaupt beanspruchen zu wollen. Vielmehr dreht er gewissermaßen den epistemischen Spieß um, indem er festhält, dass wenn eine „Ansetzung der religiösen Zuständlichkeiten an eine [. . .] Me317 Ernst Troeltsch: [Rez.] Traugott Konstantin Oesterreich: Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem (Philosophische Vorträge, Band 9), Berlin 1915, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), Sp. 231–233, jetzt in: KGA 13, S. 118–121, hier S. 120. 318 Ebd., S. 118. 319 Vgl. hierzu auch Kapitel 3.1.1 dieser Arbeit. 320 Ernst Troeltsch: [Rez.] Traugott Konstantin Oesterreich: Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem (wie Anm. 317), S. 120. 321 Ebd. 322 Ebd. 323 Ebd. 324 Ebd., S. 119.
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taphysik“ gelinge, diese „gleichfalls keine strenge Wissenschaft, sondern auch 325 ihrerseits Symbolismus ist“ . Zudem sei eine solche „Ansetzung“ gerade nichts, das intensive Religiosität auszeichne, denn es sei „in diesen Fällen die grundlegende religiöse Intuition schwächer und weniger gehaltreich [. . .], als bei den spezifisch religiösen Persönlichkeiten, an welche sich die großen Religionskreise 326 angeschlossen haben.“ Troeltsch ringt um eine Möglichkeit, „von dem stets beanspruchten Reali327 tätscharakter der religiösen Vorstellung“ so zu handeln, dass damit das immer schon Vorfindlichsein eines Geltungsmoments artikuliert werden kann, jedoch gerade so, dass damit nicht die Eigenart dieses Geltungsmomentes nivelliert wäre. Das heißt, Troeltsch zeigt sich in dieser Rezension mit der Rede vom ‚religiösen Apriori‘ gerade nicht daran interessiert, die Religion als wissenschaftlich vernünftig auszuweisen oder ihr eine selbstständige Bewusstseinsfunktion zuzuweisen. Von einer primär rationalistischen Figur kann hier also nicht gesprochen werden. Weiterführend scheint doch vielmehr, dass es Troeltsch um das Zusammenkommen eines „beanspruchten Realitätscharakter[s] der religiösen Vorstellung“ mit dem „Symbolismus“ geht. Dann aber wird gesagt werden können, dass dem ‚religiösen Apriori‘ keine apologetische, sondern eine religionsinterne Funktion zukommt: einerseits um davon zu entlasten, den dem Glauben innewohnenden Geltungsanspruch an wissenschaftliche Metaphysik anschließen zu wollen, denn so würde der ‚Mehrwert‘ religiös geglaubter Gehalte stets verloren gehen. Eine Metaphysik – sei diese wissenschaftlich noch so unangreifbar – wäre vom Standpunkt des Glaubens gerade nicht austauschbar mit den Geltungsmomenten, die der christliche Glaube einzuholen vermag. Dafür spricht auch Troeltschs Einschätzung, „[d]as Christentum scheint mir heute noch trotz aller Erschütterungen und Ermattungen immer noch reicher und 328 tiefer als irgend eine rationelle Metaphysik.“ Andererseits soll dabei jedoch nicht die reflexive Arbeit am Geglaubten stillgelegt werden: Die im Glauben vorfindlichen Geltungsmomente sind für Troeltsch keine Freibriefe für religiöse oder theologische Fundamentalismen. Dies findet seinen Ausdruck darin, dass Troeltsch vehement daran festhält, die religiösen Vorstellungen als Symbolismen zu fassen.
325 Ebd., S. 120. 326 Ebd. 327 Ebd. 328 Ebd. Ähnlich ebd., S. 121: „Deshalb halte ich mich möglichst an das, was da ist. Es ist doch nicht ganz so wenig.“
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3.2 „Theologische Reorganisationsversuche“ – Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus 3.2.1 Eine exemplarische Rezension: Reinhold Seeberg: Die Theologie des Johannes Duns Scotus 329
Reinhold Seebergs (1859–1935) Untersuchung des Scholastikers Duns Scotus „Die Theologie des Johannes Duns Scotus. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung“ erschien 1900. Im Vorwort weist Seeberg das Buch als Versuch der 330 „Befestigung und Vertiefung, und auch zur Verbesserung“ seiner Dogmen331 geschichte aus. Der Berliner Systematiker Reinhold Seeberg rekonstruiert in seiner umfangreichen Monographie über Duns Scotus in sieben reich untergliederten Kapiteln dessen Theologie, primär anhand der Gotteslehre und der Anthropologie, diese vornehmlich als Hamartiologie (zweites Kapitel), sodann der Christologie (drittes Kapitel), Sakramentenlehre (viertes Kapitel), jenseitige und diesseitige Vollendungsperspektiven (fünftes Kapitel) sowie die Ethik (sechstes Kapitel). Gerahmt sind diese Kapitel von einer Darstellung „[p]hilosophische und theologische Prinzipienfragen“ betreffend (erstes Kapitel) sowie einer abschließenden dogmengeschichtlichen Würdigung des Duns (siebtes Kapitel). Insgesamt zeugt freilich bereits die ungewöhnliche Auseinandersetzung eines protestantischen Theologen mit einem Scholastiker von einem starken positionel332 len Interesse Seebergs an Duns Scotus. In einer breiteren Perspektive auf das 329 Zum baltendeutschen Systematiker Reinhold Seeberg, Ordinarius in Erlangen und Berlin, vgl. Thomas Kaufmann: Die Harnacks und die Seebergs. „Nationalprotestantische Mentalitäten“ im Spiegel zweier Theologenfamilien, in: Manfred Gailus, Hartmut Lehmann (Hrsg.): Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870–1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes, Göttingen 2005, S. 165–222. Zur breiteren theologiegeschichtlichen Kontextualisierung Seebergs vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Konservatives Kulturluthertum. Ein theologiegeschichtlicher Prospekt, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 85 (1988), S. 31–76. 330 Reinhold Seeberg: Die Theologie des Johannes Duns Scotus. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung, Leipzig 1900, Vorwort. 331 Gemeint ist: Reinhold Seeberg: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 4 Bände, Leipzig 1895– 1920. Die Einschlägigkeit Seebergs für die theologische Darstellung des Mittelalters gilt in einigen Einschätzungen auch heute noch als unübertroffen, vgl. Martin Ohst: Evangelische Mittelalterdarstellungen, Theologische Rundschau 75 (2010), S. 201–215, S. 214. 332 Schon Adolf Deißmann: Reinhold Seeberg. Ein Gedächtniswort, Stuttgart 1936, S. 24, streicht in seiner am 6.2.1936 an der Berliner Universität gehaltenen Gedächtnisansprache die außergewöhnliche Mittelalter-Expertise seines verstorbenen Kollegen heraus: „Er gehört zu den wenigen protestantischen Gelehrten, die das betende, denkende, schöpferische Mittelalter aus eigener Forschung verstanden haben, verstanden haben auch im Sinne eines sympathischen Begreifens [. . .]. Seit jenem Buch über den tiefsinnigen Denker Duns Scotus zählte er mehr und
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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dogmengeschichtliche Werk Seebergs lässt sich neben dieser Beobachtung auch der sachliche Stellenwert dieser Monographie durchaus als gewichtig bezeichnen. Das Luthertum Seebergs lässt sich – heruntergebrochen – als ein solches beschreiben, das an bestimmten Kontinuitäten zu mittelalterlichen Theologien, 333 besonders eben der des Duns Scotus, interessiert war. Die spannungsvolle 334 Selbstbezeichnung einer „modern-positiven“ Theologie wäre als bloße Abgrenzung zum Mittelalter gerade missverstanden. Denn sowohl um eine Darstellung der vielschichtigen, wenngleich nicht spannungsfreien, Verschränkung 335 Luthers mit Duns als auch um das Geltendmachen spezifischer Merkmale der scotischen Theologie, besonders voluntaristischer Elemente, zeigt sich Seeberg 336 programmatisch bemüht . Troeltsch zeigt sich in seinen Rezensionen insgesamt als ein engagierter Interessent an Protestantismusdeutungen, die der Eigentümlichkeit moderner 337 Weltanschauung Rechnung zu tragen bestrebt sind. 1902 rezensiert Troeltsch Reinhold Seebergs Monographie zu Duns Scotus. Das Thema ‚Moderne‘ durchzieht die Rezension auf besondere Weise, es dient Troeltsch nicht zuletzt als Beurteilungsmaßstab für die Qualität des rezensierten Werkes. Zugespitzt formuliert entfaltet Troeltsch anhand seiner Besprechung der Seeberg’schen Interpretation eines Theologen des Spätmittelalters ein Dilemma der modernen Theologie protestantischer Spielart überhaupt.
mehr, auch von den katholischen Fachleuten bewundert, zu den wirklichen Kennern der Scholastik, die [. . .] so oft das Schicksal tragischer Verkennungen gehabt hat.“ 333 Weiteres Interesse, nämlich an einer für einen bestimmten Duktus protestantischer Frömmigkeit gedeuteten Mystik, ist belegt durch Seebergs späte Studie: Reinhold Seeberg: Die religiösen Grundgedanken des jungen Luther und ihr Verhältnis zu dem Ockamismus und der deutschen Mystik, Berlin, Leipzig 1931. 334 Der Gebrauch dieses Schlagworts begegnet bei Seeberg ab 1900, vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Reinhold Seeberg, in: Wolf-Dieter Hauschild (Hrsg.): Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998, S. 617–675, S. 617 f., vgl. auch ders.: Konservativer Kulturlutheraner. Ein Lebensbild Reinhold Seebergs, in: ders.: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, S. 211–263, S. 211 f. Thomas Kaufmann: Die Harnacks und die Seebergs (wie Anm. 329), S. 180, datiert das Aufkommen der Formel später – er macht es an Seebergs Schrift „Die Kirche Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert“ fest. 335 Vgl. Reinhold Seeberg: Die Theologie des Johannes Duns Scotus, S. 678–687. 336 Diese Einschätzung findet sich z. B. bestätigt in der Aussage Seebergs Die Theologie des Johannes Duns Scotus, S. 684: „Der Gott Luthers ist Gewalt, Macht, Wille, That. [. . .] Es ist nun unfraglich, dass dieser Gottesbegriff zurückgreift auf die Auffassung, die Duns mit besonderer Deutlichkeit vorgetragen hat.“ 337 Die Rezension erschien 1903 in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“, ging jedoch bereits am 28.12.1902 bei der Redaktion ein; vgl. Editorischer Bericht, in: KGA 4, S. 237.
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Der systematische Aufbau der Rezension stellt sich als etwas verwickelt dar. Troeltsch bietet mehrere Systematisierungen, die er nacheinander abarbeitet: Zum Ersten die Anzeige der Schwierigkeiten, die das Abfassen der Rezension verlangsamt hätten, zum Zweiten drei Tendenzen des Buches, die sich an diesen 338 Schwierigkeiten orientieren, zum Dritten die Darstellung der „Hauptabsichten“ 339 Seebergs, zum Vierten dann eine Verhandlung des „Hauptpunkt[es]“ , den Troeltsch für die Kontroverse mit Seeberg als maßgeblich erörtert. Schwierig sei die Besprechung für ihn erstens aufgrund einer mangelnden fachlichen Expertise auf dem Gebiet der scholastischen Theologie, zweitens auf340 grund „der uneinheitlichen Conzeption des Buches“ . In diese zweite Schwierigkeit zeichnet Troeltsch nun drei Interessen Seebergs ein: Zunächst solle das Buch Ergänzung seiner Dogmengeschichte sein, sodann gebe es ein Motiv, „das 341 philosophischer, religionsphilosophischer und dogmatischer Natur“ sei und drittens bezeuge das Werk einen „Eifer des Spezialstudiums [. . .], der mit minutiöser Peinlichkeit alle Details einer versunkenen Theologie wiederzubeleben 342 strebt“ . Das erste Motiv, eine materiale Ergänzung der Dogmengeschichte, gehe mit einer bestimmten Hypothese zur Reformationsdeutung einher, die Troeltsch in ihrem Anliegen zu teilen angibt, jedoch in ihren Ausführungen bei Seeberg meint korrigieren zu müssen: Seeberg sei daran gelegen, die Reformation stärker in ihren historischen Kontexten, d. h. hier: in ihrer Kontinuität zur „ganzen 343 Umwälzung des abendländischen Geisteslebens seit dem 13. Jahrhundert“ zu begreifen. Zu diesem Behufe, so Troeltsch, hätte man jedoch anders vorgehen müssen als Seeberg, nämlich stärker auf dialektische Aspekte abzielend: „Es würde hier die eigentümlich doppelseitige Thatsache zu beleuchten gewesen sein, daß der Grundgedanke des Scotismus, der Primat des Willens, einerseits zu der Vereinzelung der Individuen und der Veräußerlichung der Gnade und Autorität geführt hat, die den ganzen Grimm der Reformatoren herausforderte, und daß andrerseits doch auch dieser Voluntarismus die Voraussetzung für die Zerbrechung aller kosmologischen Gesetze und Allgemeinbegriffe ist, in der den 344 Reformatoren der lebendige Gott deutlich geworden ist.“ Stattdessen betreibe Seeberg jedoch stärker das Anliegen einer christentumsapologetischen Studie, 338 Ernst Troeltsch: [Rez.] Reinhold Seeberg: Die Theologie des Johannes Duns Scotus. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung, Leipzig 1900, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 165 (1903), S. 97–114, jetzt in: KGA 4, S. 238–258, hier S. 251. 339 Ebd., S. 254. 340 Ebd., S. 239. 341 Ebd., S. 240. 342 Ebd., S. 240 f. 343 Ebd., S. 239. 344 Ebd.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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die um den Aufweis bemüht sei, die attraktiven Momente des Aktualismus und 345 Personalismus, ähnlich wie in der Dogmengeschichtskonzeption Harnacks , als verbindendes Anliegen von frühestem Urchristentum und reformatorischem Christentum auszuweisen. Duns Scotus stelle nun in dieser Konstruktion die „wichtigste Station“ dar, er werde „zum Vehikel einer Veranschaulichung dieser die moderne Auffassung und Würdigung des Christentums bestimmenden Ge346 gensätze.“ Das damit verbundene Urteil Troeltschs (das sich auf die von ihm als dritte ‚Tendenz‘ Seebergs aufgezeigte bezieht), dass nämlich auf diese Weise „die eigentliche Hauptfrage des Problems gar nicht zur Verhandlung“ gebracht werde, weil nämlich „[d]er Stoff des Buches [. . .] vielmehr den Verfasser bei 347 einem überwiegend historischen und der Gegenwart fern liegenden Thema“ fixiere, führt zu Troeltschs polemischer Feststellung des „Spezialstudiums“: das Buch habe „zum größten Teil den Charakter einer Stoff- und Exzerptensammlung 348 mühevollster und ermüdendster Art“ . Zunächst könnte man aus den Ausführungen Troeltschs folgern, Seeberg habe sich an der Materie einfach ‚überhoben‘: Theologiehistorisches und systematisches Interesse seien deshalb nicht zu ihrem Recht gekommen, weil sich der etwas überforderte Autor nur noch im Bereich des Philologischen aufzuhalten vermochte: „Stellenweise ist sowohl der systematische Grundgedanke als die Beziehung auf die Reformatoren ganz vergessen und wir sehen nichts als das Ringen des Verfassers mit einem übergroßen und fremdartigen, schwer 349 zu verstehenden Stoff.“ Allerdings geht die Analyse Troeltschs über eine solche Beobachtung doch noch weit hinaus. Er nutzt die Monographie Seebergs als Folie einer umgreifenden Auseinandersetzung mit einer dominanten und 350 einflussreichen zeitgenössischen Spielart lutherischer Theologie.
345 Vgl. ebd., S. 240. 346 Ebd. 347 Ebd. 348 Ebd., S. 241. 349 Ebd. 350 Zum „System Seeberg“ vgl. den späteren Brief Troeltschs an Wilhelm Bousset vom 27.7.1914: „Die Sache liegt doch so, dass den Minister erst ein Druck vom Reichskanzler her in Bewegung gesetzt hat (das vertraulich!) und dass die Berufung in die philosophische Fakultät das Einzige war, was er an Konzessionen den Liberalen zu erteilen sich in der Lage sah. Das System Seeberg ist übermächtig und kämpft gegen niemand so nachdrücklich als gegen mich.“ Erika Dinkler-von Schubert (Hrsg.): Ernst Troeltsch. Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset 1894–1914 (wie Anm. 62), S.48. Vgl. auch Thomas Kaufmann: Die Harnacks und die Seebergs. „Nationalprotestantische Mentalitäten“ (wie Anm. 329), S. 193, der in diesem Zusammenhang auch darauf hinweist, dass Seeberg und Julius Kaftan gemeinsam versuchten „Troeltschs Berufung [nach Berlin, MB] zu verhindern“, ebd.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
Das Hauptproblem, an dem diese Monographie (und damit freilich die Theologie Seebergs insgesamt) kranke, moniert Troeltsch auf nahezu redundante Weise und durch alle Darstellungsebenen hindurch: Er beklagt den bei Seeberg anzutreffenden gedanklichen Umgang mit der Moderne; jedoch keineswegs in dem Modus, Seeberg als Antimodernen darzustellen, an dem die Herausforderungen der Gegenwart banalisiert oder ignoriert abprallen würden. Vielmehr wird Seeberg sehr energisch als Moderner ausgewiesen, der – so der Vorwurf – auf unzulässige Weise stetig spezifisch Modernes in seine Untersuchung eintrage. 351 Der selbsternannte „modern-positive“ Seeberg wird in seinem Selbstverständnis von Troeltsch beim Wort genommen und für das in Anspruch genommene „modern“ auf den Prüfstein gestellt. Dass er Seeberg nur als modernen Menschen begreifen kann, macht Troeltsch explizit deutlich: „ein solcher [ein moderner Mensch, MB] ist der Verfasser trotz seiner überwiegend konservativen Theologie 352 im höchsten Grade [. . .]“ . Obgleich Troeltsch an dieser Stelle keinerlei Kriterien für diese Modernität Seebergs nennt – die in gewisser Weise natürlich allein in seiner Zeitgenossenschaft gegeben ist – wird im weiteren Verlauf doch deutlich, dass gerade in Seebergs Konkretion des Modernseins, so das Votum Troeltschs, die Dinge im Argen liegen. Am Beispiel der Mittelalterdarstellung Seebergs wird von Troeltsch gerade das Dilemma einer sich selbst als modern begreifenden Theologie im Umgang mit den modernen Herausforderungen thematisiert. Letztendlich läuft die Besprechung Troeltschs auf die Debatte hinaus, was eine ‚moderne‘ Theologie tatsächlich zu leisten habe, wie sich diese Leistungen methodisch niederschlagen und auf welchen konstitutiven Grundannahmen moderne Theologien fußen. Dies wird bereits in Troeltschs anfänglichen Auswertungen zu Seebergs Un353 tersuchung deutlich. Die „dritte Tendenz“ des Buches – das mühsame Spezialstudium – wird von Troeltsch als das Werk dominierend identifiziert und sogleich auf einen weiteren Mangel des Buches hingewiesen: Seeberg sei es trotz dieser Detailversessenheit nicht gelungen, eine echte Monographie über die Scholastik vorzulegen: „Die beständigen begeisterten Lobpreisungen der genialen und modernen Entdeckungen des Duns und die daneben dann immer eintretenden Korrekturen aus modernen philosophischen oder protestantischtheologischen Ideen machen das Bild überaus unruhig; es fehlt die Intimität mit dem Geiste der Scholastik, vor allem mit dem, was für den Scholastiker selbstver-
351 Vgl. hierzu die kurze Darstellung des rezensierten Werkes, s. o. 352 Ernst Troeltsch: [Rez.] Reinhold Seeberg: Die Theologie des Johannes Duns Scotus (wie Anm. 338), S. 241. 353 Ebd., S. 243.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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ständliche Voraussetzung war, und was seine geistige Welt von unserer, an ganz 354 andere Selbstverständlichkeiten gebundenen, Gedankenwelt unterscheidet.“ Illustrationen für dieses Urteil folgen anhand der Analysen des Willens-, Theologie- und Glaubensbegriffs, wie Seeberg sie für Duns Scotus in Anschlag bringt. Durchgängig wirft Troeltsch Seeberg vor, durch moderne Eintragungen in die Theologie Duns’ die Dinge verunklart zu haben. Das Bestreben, Duns Scotus explizit als Denker des Mittelalters und von diesen Voraussetzungen her zu analysieren, wird in der süffisanten Nachfrage Troeltschs an der Kritik, die Seeberg an Duns Scotus übt, deutlich: „Was hätte denn Duns bei seinen 355 Voraussetzungen anderes folgern können und sollen?“ Während Seeberg im Willensbegriff des Duns Scotus bereits Kantische Formalismen erblickt und an ihm kritisiert, den Willen dennoch an naturgesetzliche Gehalte zu binden, weist Troeltsch sehr bestimmt darauf hin, dass erstens die von Seeberg in Anschlag gebrachte Formalität eine die Problemstellung des Duns nicht treffende, weil 356 moderne Kategorie sei . Zweitens sei die Fassung des Voluntarismus bei Duns Scotus freilich einerseits noch dem naturrechtlichen Denken verhaftet und ihm andererseits „die supranaturale Bearbeitung des Willens durch Kirche und Gnade 357 [. . .] selbstverständliche katholische Voraussetzung“ . Die Struktur dieser Kritik wiederholt sich sowohl hinsichtlich des Theologieals auch des Glaubensbegriffes: Das Bemühen Seebergs darum, den Terminus der scientia practica mit Hilfe der Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft zu klären und sich so zu einer Affirmation des ohnehin bereits vertretenen Theologieverständnis zu verhelfen, wird von Troeltsch wiederum als Verzeichnung des Duns Scotus gewertet. Ohne zunächst auf die Überlegungen Seebergs überhaupt einzugehen, erläutert Troeltsch den Terminus der Theologie als scientia practica, wie Duns Scotus sie bietet, mit der polemischen Vorbe358 merkung: „Auch hier liegt die Sache m. E. in Wahrheit ziemlich einfach.“ In Erläuterung des Theologiekonzeptes des Duns Scotus hebt Troeltsch vor allem die noch nicht anzutreffende Distinktion von Religion und Theologie hervor: „[V]on dem feinen modernen Unterschiede zwischen Religion und Theologie ist bei diesem die Religion selbstverständlich auf supranaturale Lehr- und Sakra359 mentsmitteilung begründenden Denken gar nicht die Rede.“ Auch hinsichtlich des Glaubensbegriffs bemängelt Troeltsch die unzutreffende Deutung Seebergs, die er wiederum auf eine unzulässige Projektion neuzeitli354 355 356 357 358 359
Ebd., S. 244. Ebd. Ebd., S. 245. Ebd., S. 246. Hervorhebung von Verf. Ebd. Ebd., S. 247.
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cher Bestände in das Denken des Scholastikers zurückführt. Dem Urteil Seebergs, Duns Scotus habe in seiner Auffassung des Glaubens mit der Unterscheidung 360 von „fides acquisita“ und einem „habitus infusus“ bereits „‚Richtige[s]‘“ in Richtung einer Glaubenstheologie vorgelegt, widerspricht Troeltsch vehement. Seeberg sehe bei Duns dieses Richtige darin, „‚daß Gott den Geist auf sich selbst richtet‘“ und moniere dann, dass sich Duns mit den anschließenden Ausführun361 gen „‚wieder im Mittelalter‘“ befinde. Troeltsch kritisiert dieses Urteil harsch: „Auch hier ist das ‚Richtige‘ rein moderne Eintragung und die angebliche plötzli362 che Wendung in Wahrheit gar keine Wendung“ . Er resümiert: „Die Auftragung eines solchen, alle Fragestellungen undeutlich machenden modernen Firniß und die kürzende Wiedergabe des ganzen Hin und Her der Scotistischen Argumenta363 tion machen das Buch auf weite Strecken fast ganz unverständlich.“ Troeltschs Rezension orientiert sich zunächst an dieser von ihm aufgewiesenen Trias (Ergänzung seiner Dogmengeschichte; Christentum als aktuale Voll364 zugsmomente verkörpernde Religion; „Stoff- und Exzerptensammlung“ ). Letztlich liegen für Troeltsch in allen diesen Momenten, aber auch in der Art und Weise ihrer Verstrickung miteinander, zahlreiche Symptome einer modernen theologischen Fehljustierung. Nach diesen Erörterungen zum Primat des Willens, dem Theologie- und Glaubensbegriff, die Troeltsch als mögliche Beispiele 365 von vielen bezeichnet , resümiert er: „Man muß sich immer fragen ‚was meint Duns?‘ und ‚was meint Seeberg‘ und ‚wie kommt Seeberg dazu derartiges zu 366 dem scotistischen Text zu meinen oder aus ihm zu folgern?‘“ . Zur weiteren Besprechung des Werkes fasst Troeltsch den Fokus noch einmal etwas anders und zeichnet zwei „Hauptabsichten“ Seebergs nach, die er als „historische Einreihung des Duns in die vorangehende Entwickelung der Scho367 lastik“ auf der einen Seite, sowie als Zusammenstellung des „einheitliche[n] 368 Gedankensystem[s] des Duns“ auf der anderen Seite zusammenfasst.
360 Vgl. ebd., S. 250. Troeltsch zitiert dort Seeberg (S. 134): „Der Satz: wir glauben an Gott, weil wir an die Schrift glauben, ist überwunden; der Glaube wird dadurch bewirkt, daß Gott den Geist auf sich selbst richtet. Aber – eine Wendung und wir stehen wieder im Mittelalter. (Denn) was ist der Zweck von alle dem? Daß wir den intellektuellen Assensus zu den technischen Formeln der Theologie zu leisten vermögen.“ 361 Ebd. 362 Ebd. 363 Ebd. 364 Ebd., S. 241. 365 Ebd., S. 251. 366 Ebd. 367 Ebd. 368 Ebd., S. 252.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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Die zweite dieser Hauptabsichten findet – die gesamte Rezension betrachtet – die größte Zustimmung Troeltschs und ist deshalb an dieser Stelle von Interesse. Er bestätigt Seebergs These, den Gottesbegriff als zentrale Schaltstelle des gesamten Denkens des Duns Scotus zu werten. Seeberg gehe von der These aus, „daß die tausendfachen Verzweigungen seiner [scil. Duns, MB] Argumentationen 369 ihre Wurzel in einer großen und einfachen Conzeption haben“ ; hierin sieht Troeltsch nicht weniger als „das Verdienst und die bedeutende Leistung dieses Buches. In dieser Hinsicht ist es gewiß ein Fortschritt über die gewöhnliche, 370 Einzeldoktrinen herausgreifende protestantische Darstellung [. . .]“ . 371 Im letzten Teil der Rezension diagnostiziert Troeltsch den „Hauptpunkt“ – wohl eher seiner Auseinandersetzung mit Seeberg und weniger des Buches 372 selbst: „Es ist der Supranaturalismus des Duns [. . .]“ . Von hier aus gelangt Troeltsch dann zu einer Erörterung des Wunderbegriffs, die er in seine abschließenden Überlegungen zu Seebergs Werk münden lässt: Die Spiritualisierung als 373 „an sich ja sehr schönen [. . .] Gemeinplatz moderner Theologie“ habe Duns, so Troeltsch, freilich keineswegs in der Form im Sinn gehabt wie der dem neuprotestantischen Denken verhaftete Seeberg – vielmehr sei ihm das „Wunderprinzip“ dermaßen selbstverständlich gewesen, dass er „umso unbefangener [. . .] über 374 das Einzelwunder oder über den Beweis für den Wundercharakter“ habe nachdenken können. Doch zielt die Kritik Troeltschs nicht lediglich auf die mangelnde Unterscheidung von Moderne und Mittelalter, sondern – damit zusammenhängend – auch auf die fehlende explizite Distinktion von Protestantismus und Katholizismus. Beide Begriffspaare lässt Troeltsch implizit korrelieren, was in einer prägnanten Wesensbestimmung des Katholizismus sowie Hinweisen zum Altund Neuprotestantismus seinen Ausdruck findet: „Der Katholicismus ist eben der dualistische Supranaturalismus in seiner schärfsten und konsequentesten Ausbildung und zeigt diese Konsequenz gerade in der Knüpfung des inneren religiösen Erlebnisses an die supranaturale dingliche Gnade des Sakraments. Indem der Protestantismus die dingliche Gnade aufgab, den äußeren Supranaturalismus nur in Beziehung auf Offenbarungsgeschichte und Bibel festhielt, für das gegenwärtige religiöse Erlebnis aber ein rein inneres geistiges Wunder behauptete, hat er der Psychologisierung und Immanenzierung der Religion überhaupt Vorschub gethan. Sobald die historische Kritik den äußeren Supranaturalismus
369 370 371 372 373 374
Ebd. Ebd. Ebd., S. 254. Ebd. Ebd., S. 257; Hervorhebung von Verf. Ebd., S. 254.
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untergrub, war aus dem inneren Erlebnis ein Stück religiöser Psychologie gewor375 den [. . .].“ Hier zeigt sich Troeltsch als Theologe, der die Differenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus sowie die Unterschiedenheit von Reformation und modernem Protestantismus entschieden betont. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Troeltsch – wie oben bereits angedeutet – Seeberg aufgrund dessen mangelnder Unterscheidungsleistungen so massiv kritisiert. Die Rezension zu Seebergs Monographie über Duns Scotus ist von einer eigentümlichen Mischung aus Zustimmung und überwiegender Ablehnung geprägt. Die immer wiederkehrenden Monenda, die höchst differenziert im Kontext der aufgezeigten Gehalte von Troeltsch entwickelt werden, weisen sämtlich auf Schwächen in der Methodik Seebergs hin, die aus einer mangelnden Unterscheidung scholastischer und moderner Weltanschauung resultieren. Troeltsch legt Seeberg mehrfach zur Last, dem Denken Duns Scotus’ unzulässig moderne Problemstellungen zu unterstellen und ihn in dieser Lesart einseitig unkritisch zu rezipieren. Gleichzeitig wird jedoch auch deutlich, dass Troeltsch einigen zentralen Anliegen Seebergs sehr aufgeschlossen gegenüber steht. Das Beharren auf der Modernität Seebergs bei gleichzeitiger Distanzierung von den konkreten Deutungsfiguren, die Seeberg vornimmt, spiegelt diese Struktur. Die Elemente, 376 die auch Troeltsch als attraktiv ausweist, bestehen vor allem im Voluntarismus 377 und Personalismus sowie bestimmten dualistischen Momenten, die Seeberg an Duns Scotus identifiziert. Jedoch klagt Troeltsch immer wieder ein, diese Gehalte nicht umstandslos aus dem Denken des Scholastikers übernehmen zu können, sondern sich die Differenzen zu verdeutlichen, die das Denken Duns Scotus’ von den denkerischen Voraussetzungen des angebrochenen 20. Jahrhunderts markant scheiden. Problematisch für Troeltsch scheint dabei keineswegs die Tatsache zu sein, überhaupt an einem mittelalterlichen Denker das eigene moderne Denken profi375 Ebd., S. 257. 376 Vgl. zum Voluntarismus bei Troeltsch pointiert Klaus Tanner: Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung, Stuttgart 1993, S. 99. 377 Zu Troeltschs eng mit seinem Personalismuskonzept zusammenhängenden Ringen um die „Idee individueller Freiheit“ (S. 37) im Kontext seiner religionsgeschichtlichen Theoriebildung vgl. Friedemann Voigt: Die Idee der Persönlichkeit. Ernst Troeltsch und die „Einheit der Religionsgeschichte“, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 97 (2013), S. 27–38, besonders S. 32: „Die Unterscheidung von modernem Individualismus und christlichem Personalismus ist [. . .] die Voraussetzung, dass der protestantische Glaube gegenüber den depersonifizierenden Kräften der Moderne ein Gegengewicht bilden kann.“ Auf die potentiell korrektive Rolle des Personalismus hebt auch ab: Lori Pearson: Ernst Troeltsch and Contemporary Discourses of Secularization (wie Anm. 184), S. 185: „This personalism has the depth to resist the rationalistic logic of the modern world, and if combined with effective forms of social organization, has a role to play in modern culture.“
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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lieren zu wollen, vielmehr liegt der Mangel am Vorgehen Seebergs für Troeltsch darin, aufgrund des synthetisierenden Ansatzes und der weltanschaulich egalisierenden Tendenzen nicht nur die Gedankenwelt des Mittelalters zu verken378 nen , sondern sich gleichzeitig damit auch bestimmte Denkbestände des mittelalterlichen Theologen einzuhandeln, die sich für Troeltsch letztlich als unverträglich mit den Herausforderungen der Moderne darstellen. Troeltsch geht in seiner abschließenden Bemerkung noch einen Schritt weiter. Nachdem er bisher bereits wiederholt seine Irritation darüber kundgetan hatte, dass Seeberg einerseits die Theologie Duns Scotus’ dergestalt euphorisch zu adaptieren bereit war und dabei andererseits so wenig Verständnis des Mittelalters gezeigt habe, deutet er an, dass sich in der Art und Weise der Duns Scotus-Rezeption Seebergs geradezu eine Folie für Seebergs eigene Theologie finden lasse: „Nur von einem durch diese Erweichung und Verdunkelung des Problembestandes bestimmten modernen protestantisch-theologischen Denken aus war es daher auch möglich, in Duns eine Verbindung Schleiermacherischer religiöser Empirie, moderner alles erst wissenschaftlich legitimierender Kritik, neuprotestantischer Wertlegung auf die Geschichte statt auf den Begriff und eines diesen Consequenzen dann 379 doch sich entziehenden orthodoxen Positivismus zu sehen.“ Es ist geradezu ein absurdes Unterfangen, einer mittelalterlichen Theologie vorwerfen zu wollen, dass in ihr wesentliche Marker der Modernität des 20. Jahrhunderts unterlaufen werden, da bei ihr charakteristisch noch unproblematisch beisammen ist, was im Verlauf der Neuzeit in unheilbare Plausibilisierungsnöte geraten und auseinandergehen wird. Weil jedoch gerade der denkerisch wache und explizite Umgang mit diesen Plausibilisierungsnöten sowie eine konsequente Historisierung der vorliegenden Denkbestände für Troeltsch die Agenda einer modernen Theologie unweigerlich bestimmen, kann sein Urteil über Seeberg nicht anders ausfallen, als ihm letztlich einen angemessenen Zugriff auf die von ihm untersuchte Materie abzusprechen. Worauf es Troeltsch bei einem solchen Zugriff wesentlich ankäme, kann der Rezension entnommen werden: Gelegen ist ihm an einem konsequent historisierenden Zugang, der gleichwohl um die spezifischen Bedingungen des eigenen Standortes weiß sowie an der tiefenscharfen Erfassung der die Gegenwart prägenden und umtreibenden Problembestände, wie sie beispielsweise in der klassischen liberal-protestantischen Unterscheidung von Religion und Theologie ihren Ausdruck finden. Die der modernen protestantischen Theologie 378 Auch Friedrich Wilhelm Graf betont für die letztlich verständnislose Auseinandersetzung Seebergs mit dem Historismus dessen „gegenwartsbezogene Synthese bzw. Gesamtschau“: Friedrich Wilhelm Graf: Reinhold Seeberg (wie Anm. 334), S. 628. 379 Ebd., S. 257 f.
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zu Grundlagen gewordenen Arbeiten, wie denen von Kant und Schleiermacher, will Troeltsch als spezifisch moderne Arbeiten und somit spezifisch moderne Bearbeitungen moderner Problembestände und Krisen verstanden wissen. Sie büßen ihre Deutkraft ein, wenn sie – wie bei der von Troeltsch Seeberg unterstellten Adaption – als Verständnishilfen mittelalterlicher Theologie genutzt werden. Denn gerade durch das Hineintragen moderner Begriffe in vormoderne Konstellationen werden die spezifisch modernen weltanschaulichen und ideengeschichtlichen Konstellationen, um deren Bearbeitung es Troeltsch gerade geht, verwischt und im Falle Seebergs Zusammenbestehbarkeiten postuliert, welche die Virulenz der modernen Krise umstandslos unterlaufen: Wenn der Scholastiker Duns Scotus für die modernen Problemkonstellationen und Begriffe in Anspruch genommen werden soll, führt dies zu einer Ent- bzw. Fehlhistorisierung seiner Theologie und der – hier sehr scharf gefassten – Konsequenz, nicht nur die Gegenwart in das Mittelalter, sondern auch das Mittelalter in die Gegenwart transportiert zu haben, jedoch nicht in dem fruchtbaren Modus der gegenseitigen Profilierung, sondern gerade der entspezifizierten Vermengung, die letztlich jeden komplexeren diagnostischen und produktiven Wert einbüßt. Nicht lediglich die im Laufe der Rezension von Troeltsch aufgezeigten hochgradig nicht-modernen Denkbestände des Duns Scotus, wie z. B. die selbstverständliche und sogar charakteristische Zusammenbestehbarkeit von Wunderglauben bzw. äußerster Kirchenautorität und Voluntarismus, sondern das gesamte Denken des Duns Scotus haben – wie könnte es auch anders sein – ihren Ort im Mittelalter. Eine dies nicht streng anerkennende theologische Forschung führt – wie von Troeltsch in seinem abschließenden Fazit der Rezension angedeutet – dazu, sich der Virulenz der modernen Nicht-Zusammenbestehbarkeiten der Gegenwart in ihrer Schärfe auf diesem Wege zu entledigen. Dies steht in keinem Widerspruch dazu, dass Troeltsch in seiner Rezension mehrfach von Duns ausgehende 380 Entwicklungslinien (beispielsweise zum Nominalismus ) aufzeigt, jedoch stets darum bemüht ist, nicht angesichts von Kontinuitätsmomenten die scharfen Diskontinuitätsmomente zu ignorieren, die es beide breit ideengeschichtlich zu kontextualisieren gilt. Wenn Troeltsch die Rezension mit der Bemerkung schließt, dass es zu der Duns-Deutung Seebergs zuallererst aufgrund einer „Erweichung und Verdunkelung des Problemstandes“ des modernen Protestantismus kommen konnte, die zu einer Verbindung Duns’ mit Schleiermacher sowie mit der „moderne[n] [. . .] Kritik“ und der Betonung der konstitutiven Bedeutung von Geschichte geführt habe, letztlich Seeberg in Duns „eine[n] diesen Consequenzen dann doch sich
380 Vgl. ebd., S. 255.
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entziehenden orthodoxen Positivismus zu sehen“ vermöge, ist es von dort aus nicht mehr weit zu der Vermutung, dass dieses Fazit letztlich auch als eine Chiffre für die Theologie Seebergs insgesamt dient.
3.2.2 Diskursfronten Protestantismus Die mit dem Themenfeld ‚Protestantismus‘ verknüpften Zusammenhänge, Diskurse, Begriffe und Distinktionen sind auch und besonders in den Rezensionen Troeltschs vielfältig und gleichzeitig in dieser Vielfalt bisweilen ineinander verwoben oder auch sperrig gegeneinander. Die folgenden Darstellungen entfalten anhand besonders aufschlussreicher Begriffe die jeweiligen, von Troeltsch geltend gemachten Momente in seinen Kritiken. 3.2.2.1 Konfession 1915 besprach Troeltsch für die „Historische Zeitschrift“ eine Studie über die Heilsarmee. Dabei handelte es sich um eine Dissertation in den Staatswissen382 schaften, verfasst von Peter A. Clasen . Interessant sind daran besonders die Überlegungen, die Troeltsch in Übereinstimmung mit Clasen hinsichtlich der 383 ekklesiologischen Typologie anstellt. Troeltsch reflektiert das zu besprechende Buch anhand seiner durch die Soziallehren bekannt gewordenen Unterscheidung von Kirche und Sekte – hier nun jedoch bezogen auf eine christliche Gruppe der Gegenwart. So sei die spezifische Verfasstheit, die der Heilsarmee zu eigen 384 sei, eine Mischform aus Sekte und Orden. Er skizziert den Salutismus als Bewegung, bei dem der Übergang vom Typus ‚Sekte‘ in den der ‚Kirche‘ zu be385 obachten sei. Exemplarisch wird entfaltet, welche Übergänge mit Verstetigung und Institutionalisierung einhergehen und wie wechselwirksam dieser Wandel mit den inhaltlichen Ausrichtungen einer religiösen Gruppe zu beschreiben ist, beispielsweise „die Schwierigkeit aller asketischen Bewegungen, daß sie im Sieg 386 und Glück erlahmen“ . Troeltsch sieht angesichts dieser eingesetzten Dynamik
381 Ebd., S. 258. 382 Vgl. Biogramm zu Peter Adolf Clasen (1884–1944) in: KGA 13, S. 660 f. 383 Vgl. dazu grundlegend Arie L. Molendijk: Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik (TS 9), Gütersloh 1996. 384 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Peter A. Clasen: Der Salutismus, Jena 1913, in: Historische Zeitschrift 115 (1915), S. 327–330, jetzt in: KGA 13, S. 84–87, hier S. 85. 385 Vgl. ebd., S. 85–87. 386 Ebd., S. 86.
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„die Notwendigkeit [. . .] zur Kirche zu werden oder das Schicksal aller Orden und Sekten zu erleiden, daß sie aus Askese und Martyrium aufblühen und dann fort387 währenden Reformen und Spaltungen verfallen.“ Troeltsch macht dabei auf 388 die Analogien mit dem Urchristentum sowie dem Methodismus aufmerksam. Hinsichtlich des Ertrags der Konfessionskunde – nicht zuletzt als Beitrag für eine protestantische Selbstklärung – sind besonders die Besprechungen zweier Bücher aufschlussreich. Das von August Dorner vorgelegte „Lehrbuch der christlichen Lehrbildungen“ (1899) erfährt 1901 eine sehr kritische Aufnahme durch Troeltsch. Die Differenzen beziehen sich nicht zuletzt auf die Protestantismusdeutung Dorners. Der spekulative Überhang in Dorners Konzept, das keinerlei Interesse an Sozialgestalten und kulturellen Bedingtheiten zeigt, führt zunächst zu ganz grundsätzlicher Kritik durch Troeltsch: „Wie kann er seine Dogmengeschichte [. . .] im Ernst für 389 eine Religionsgeschichte des Christentums halten?“ Troeltsch bemängelt die Tendenz Dorners, die Unterschiede zwischen älterem und neuerem Christentum zu verwischen, indem er weitestreichende Ge390 meinsamkeiten als „Prinzip“ destilliert. Troeltsch hält dagegen: „Gerade, als ob nicht dieser Begriff des Gemeinsamen eines der schwierigsten Probleme darböte, als ob nicht der Protestantismus mit Recht das ganze katholische Kirchentum als eine ungeheure Materialisierung der Religion betrachtete und als ob nicht in anderer Hinsicht auch wieder der Protestantismus weit vom Urchris391 tentum abginge!“ Sehr interessiert daran, den inneren Spannungsreichtum des Christentums nicht zu verunklaren und aus der Dogmengeschichte nicht 392 eine ‚Wesensschrift‘ zu machen , bemängelt Troeltsch: „In der Gemeinsamkeit 393 des Prinzips gehen alle charakteristischen historischen Unterschiede unter.“ Troeltsch sieht jedoch nicht nur die Eigentümlichkeiten der ‚Christentümer‘ in den unterschiedlichen geschichtlichen Epochen und Denominationen gefährdet, sondern unterstellt der Protestantismusdeutung Dorners insgesamt einen ideologischen Zug: „Dorner will die moderne freie und rationale Theologie direct aus dem Protestantismus als Ausdruck seiner wesentlichen Tendenz ableiten, und muß zu diesem Zwecke den Begriff des ursprünglichen Protestantismus ausweiten, indem er die Dissenters in ihn aufnimmt [. . .]. So soll auf dem Umweg 387 Ebd., S. 87. 388 Vgl. ebd. 389 Ernst Troeltsch: [Rez.] August Dorner: Grundriss der Dogmengeschichte (wie Anm. 190), S. 148. 390 Vgl. etwa ebd., S. 149. 391 Ebd. 392 Vgl. ebd., S. 148. 393 Ebd., S. 151.
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über die Dissenters als genuin protestantisch erwiesen werden, was in Wahrheit eine Wirkung der allgemeinen, von Dissenters wie Protestantismus gleich 394 unabhängigen Kulturumwälzung ist.“ Dies stellt Troeltsch nicht nur aus geschichtswissenschaftlichen Gründen anders dar, er nimmt auch Anstoß an dem so entstehenden und durch Dorner weiter ausgeführten Bild des Protestantismus. Es entstehe so ein „Durcheinander [. . .], welches selbst für ein Konversationslexi395 kon zu bunt und summarisch wäre.“ Gegen ein solches, allzu vereinheitlichtes Bild des modernen Protestantismus, macht Troeltsch die Sperrigkeit des Neuprotestantismus gegen seine Ableitung aus theologischen Quellen geltend und betont stattdessen den „Einfluß der außertheologischen Wissenschaft“ auf „die 396 moderne Situation“ . Doch diese Rezension ist auch noch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet aufschlussreich: Das Buch Dorners wurde ebenfalls 1901 von Friedrich Loofs („Theologische Literaturzeitung“) und bereits 1899 von Otto Pfleiderer („Protestantische Monatshefte“) besprochen. Die Beurteilungen fielen sehr unterschiedlich aus: Während Pfleiderer Dorners Dogmengeschichte überschwänglich gelobt hatte, hatte Loofs eine kritische Position eingenommen, die sich mit Troeltschs Kritik an vielen Punkten deckt. Troeltschs Rezension war vor Erscheinen der Rezension Loofs bereits an die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ abgesendet worden, erschien jedoch später als diese. Troeltsch nutzte vor dem Erscheinen seiner Rezension in einem Brief die Gelegenheit, Loofs wissen zu lassen, „daß Sie mit Ihrem scharfen Widerspruch nicht allein stehen. [. . .] Pfleiderer hat seine 397 Parteilichkeit stark bloßgestellt.“ An Begebenheiten wie diesen wird deutlich, dass Troeltsch nicht nur selbst intensiv Rezensionen rezipiert hat, sondern dass sie für ihn ein starkes theologiepolitisches Instrument darstellten. Der Hallenser Kirchenhistoriker Friedrich Loofs rückt in diesem Zusammenhang noch ein weiteres Mal ins Zentrum. Troeltsch besprach 1903 den ersten 398 Band seiner „Symbolik oder christliche Konfessionskund“ für die „Deutsche 394 Ebd., S. 147. 395 Ebd. 396 Ebd. 397 Brief Troeltschs an Friedrich Loofs, 19.03.1901, zitiert nach: Editorischer Bericht zur Rezension, in: KGA 4, S. 141. 398 Das Werk blieb unvollendet, ein zweiter Band aus der Feder Loofs erschien nie. Vgl. dazu Claus-Dieter Osthövener: Historismus und Tradition. Zur Gelehrtenfreundschaft zwischen Friedrich Loofs und Adolf von Harnack, in: Jörg Ulrich (Hrsg.): Friedrich Loofs in Halle, Berlin, New York 2010, S. 63–119, S. 78 f., der die von Loofs retrospektiv angeführten Gründe für die Nichtvollendung seiner Symbolik wiedergibt: Diese hätten erstens darin gelegen, keinen überzeugenden Darstellungsmodus für die Rechtfertigungslehre finden zu können und zweitens darin, im Vergleich zum ersten Band für die Darstellung des Protestantismus doch einen insgesamt anderen Zuschnitt zu benötigen.
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Litteraturzeitung“. Troeltsch ist voll des Lobes: „Die theologische Wissenschaft 399 hat alle Ursache, sich zu diesem Buch zu beglückwünschen.“ Das größte Verdienst Loofs sieht Troeltsch darin, mit seinem Buch der Gattung „Symbolik“ zu einer modernen fruchtbaren Form verholfen zu haben. War die Symbolik in der Darstellung Troeltschs bislang eher statisch anmutende Konfessionsdarstellung, gelinge es Loofs, in Form der „Zusammenfassung des gegenwärtigen Lebens der christlichen Kirchen das höchste Interesse jedes Theologen 400 und Historikers“ zu erzeugen. Troeltsch nutzt die Gelegenheit, den größtteilig nicht-theologischen Lesern der „Deutschen Litteraturzeitung“ das Vorhaben einer Symbolik aus dieser Perspektive zu erhellen – in diese ‚Fortschrittsgeschichte‘ der traditionellen Symbolik hin zu Loofs bindet Troeltsch allgemeinere Erläuterungen ein, so z. B. wenn er ausführt, klassischerweise sei „die orthodoxe Dogmatik der Hauptkonfessionen auf Grund ihrer sog. Symbole, das heisst auf Grund ihrer klassischen Hauptschriften, ihrer offiziellen Bekenntnisformeln 401 und ihrer kirchenrechtlich verbindenden Lehrerklärungen dargestellt“ worden. Troeltsch wendet sich kritisch gegen den in diesem Vorhaben zu stark und zu starr gefassten Begriff des Dogmas, indem er diesen gegen die moderne Umformung der Grundlagen in Stellung bringt: „Das Dogma ist ein Derivat der Religion neben verschiedenen anderen Derivaten, und die Versuche kirchenrechtlicher Bindung des Dogmas erschöpfen nie die konkrete Wirklichkeit des religiösen 402 Lebens einer Kirche.“ Zu Ungunsten einer Symbolik, die „nur abstruse Orthodoxien vom Standpunkt konfessionellen Eifers oder parteilosen Referats“ produzierte, betont er den stark neuprotestantisch zugeschnittenen, von Loofs anvisierten „Versuch einer Zusammenfassung des gegenwärtigen Lebens der 403 christlichen Kirchen“ . Troeltsch räumt aufgrund des hohen Anspruchs an den Verfasser eines solchen Versuchs ein, es sei einfacher, „Programme einer solchen Disziplin zu schreiben, wie wir deren auch seit langer Zeit schon mehrere haben, als selbst 404 sie zu gestalten.“ Benötigt wird im Grunde das gesamte Kompetenzspektrum zeitgenössischer Theologie, von Troeltsch gefasst als „reiche historische Bildung und gute Kenntnis der Gegenwart, die Beherrschung von sehr viel Details und eine grosse Abstraktionskraft, die objektive Verknüpfung sehr verschiedener 399 Ernst Troeltsch: [Rez.] Friedrich Loofs: Symbolik oder christliche Konfessionskunde, 1. Band (Grundriss der Theologischen Wissenschaften, Band 16), Tübingen 1902, in: Deutsche Litteraturzeitung 24 (1903), jetzt in: KGA 4, S. 270–273, hier S. 272. 400 Ebd., S. 271. 401 Ebd., S. 270. 402 Ebd., S. 271. 403 Ebd. 404 Ebd.
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Wissensgebiete und eine sehr feinfühlige religiöse Psychologie, nicht zuletzt auch überhaupt eine selbständige Anschauung vom Wesen der Religion, von 405 ihren Entwickelungen und von dem Wesentlichen am Christentum.“ Die von Troeltsch vereinzelt eingestreute Kritik wird sogleich von ihm selbst abgemildert: „Freilich möchte man wünschen, die gegenwärtigen kirchlichen Gestaltungen noch klarer in ihrer Anknüpfung an die urchristlichen gestaltenden Impulse und noch lebendiger in ihrer Verbindung mit den aktuellen Problemen der Gegenwart zu sehen. Allein teils ist das nicht Sache eines Grundrisses, teils 406 liegt das ausserhalb der Geistesart und theologischen Position des Verfassers.“ Die Skizze der konkreten Inhalte des Buches fällt vergleichsweise knapp aus, es ist Troeltsch offenbar stärker daran gelegen, den programmatischen Zuschnitt dieser Symbolik würdigend skizziert zu haben. Der ausführliche Schlussteil der Besprechung dreht sich um „die Darstellung 407 des römischen Katholizismus“ . Troeltsch markiert, nachdem er festgehalten hat, er halte das vorliegende Werk Loofs für „geradezu hervorragend zuverlässig 408 und richtig“ , die Notwendigkeit einer von Loofs Darstellung abweichenden Charakterisierung des Katholizismus. Zu diesem Zweck führt Troeltsch ausführlich den Aufbau seiner eigenen Vorlesungen ein, was er mit dem Fazit beschließt, dass so „im Gnadenbegriff und in der Ethik noch manche Gesichtspunkte hervor409 treten, die eine m. E. richtigere Würdigung ermöglichen.“ Dieser Abschnitt über eine treffende Erfassung des Katholizismus dient in seiner tieferen Intention, wie im letzten Satz der Rezension zu Tage tritt, der Begründung der von Troeltsch sehr kontinuierlich entfalteten Wesensskizze des Katholizismus: So werde „man das ‚Katholische‘ vor allem in der immer gründlicheren Schaffung äusserer supranatureller Heilsgarantien sehen, die sich begreiflich genug an den ersten 410 Ertrag der urchristlichen Mission anschliesst.“ Loofs hingegen wirft Troeltsch vor, zu früh protestantische ‚Wesensmerkmale‘ einzutragen, wie er sie an Loofs 411 „etwas zu einseitig [. . .] protestantisch verstandenen Paulinismus“ festmacht. Die Gründe für eine solche Kritik dürften vor allem darin liegen, dass eine solche Reklamation den Blick auf die Sperrigkeit der verschiedenen Epochen des Christentums gegeneinander versperrt. Unangemessene Kontinuitätsfeststellungen würden dies gerade verhindern und eine Profilierung der Konfessionen im Sinne Troeltschs würde so deutlich verblasst. 405 406 407 408 409 410 411
Ebd. Ebd., S. 272. Ebd., S. 273. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Troeltschs Interesse ist darauf gerichtet, die Geschichte des Christentums als Geschichte der Umbrüche, Plausibilitätsverluste und Neuformierungen darzustellen, wohl nicht zuletzt um die von ihm als dringend empfundenen Gestaltungsaufgaben am Christentum seiner Zeit zu dynamisieren. Bemerkenswert ist, wie aufmerksam und umfangreich Troeltsch auch die ka412 tholische Theologie selbst in den Blick nimmt. Dabei sind seine Rezensionen wiederum nicht durch einlinige Interessen formiert. Troeltschs Katholizismusdeutungen sind einerseits von der Frage getragen, wie sich die konfessionellen Differenzen von zeitgenössischem Protestantismus und Katholizismus präzise fassen lassen, andererseits sind sie geprägt von Beobachtungen zur Veträglichkeit des römisch-katholischen Christentums und der Moderne. Dabei spielt die von Troeltsch durchgängig konstatierte programmatische Nähe des Katholizismus mit den Spezifika der mittelalterlichen Kultur eine zentrale Rolle. Mit der Rezension eines Buches über das thomistische Staatsverständnis betraut, macht Troeltsch 1918 in der „Theologischen Literaturzeitung“ den Graben zwischen sich und der Weltanschauung des Autors Wilhelm Müller deutlich. Der vorgestellte katholische Versuch, in der Gegenwart ohne größere Justierungen thomistisch Theologie zu treiben, wird von Troeltsch als programmatische Sackgasse gewertet. Zwar würdigt er das Buch als „sehr klare und tüchtige Ar413 beit“ . Dennoch kann das recht ausführliche Referat des Werkes nicht darüber hinwegtäuschen, dass Troeltsch an den vorstellig gemachten Gedanken des Autors nicht wirklich Begeisterung fassen kann. Sein abschließender Satz verleiht seinem Urteil über die Abständigkeit des rezensierten Unterfangens, sich an der thomistischen Staatsvorstellung ausrichten zu wollen, deutlichen Ausdruck: „Die Unterstellung unter den Seligkeitszweck, die Kontrolle durch die Kirche und die Identifikation von Naturgesetz und christlichem Sittengesetz breitet vollends 414 darüber den Geist christlicher Weltfremdheit aus“ . Der katholische Dogmatiker Johann Baptist Heinrich findet sich zweimal in den Rezensionen Troeltschs: Einmal in Form einer Besprechung des ach415 ten Bandes seiner Dogmatik im Jahr 1899, ein weiteres Mal als Rezension 412 So auch Friedrich Wilhelm Graf: Vorwort, in: KGA 4, S. V–VII, S. VI: „Die damals von manchen Kulturprotestanten verfochtene Devise ‚Catholica non leguntur‘ lehnte Troeltsch ab.“ Vgl. zu Troeltschs Besprechungen römisch-katholischer Literatur auch Graf: Einleitung (wie Anm. 58), S. 45 f. 413 Ernst Troeltsch: [Rez.] Wilhelm Müller: Der Staat in seinen Beziehungen zur sittlichen Ordnung bei Thomas von Aquin (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Band 19), Münster i. W. 1916, in: Theologische Literaturzeitung 43 (1918), Sp. 206–208, jetzt in: KGA 13, S. 407–411, hier S. 407. 414 Ebd., S. 410 f. 415 Die insgesamt zehnbändige Dogmatik, von Troeltsch als „[d]as große dogmatische Lehrbuch
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des dogmatischen Kompendiums „Lehrbuch der katholischen Dogmatik“ 1901. Beide Rezensionen erschienen in der „Theologischen Literaturzeitung“. Der achte Band der Heinrich’schen Dogmatik trägt den Titel „Von der Gnade Christi“. Troeltsch hebt in seiner Besprechung eingangs hervor, dass gemeinsam mit der Ekklesiologie das „Lehrstück von der Gnade [. . .] den wichtigsten Platz einnimmt und [. . .] zugleich der Ort der stärksten, in der heutigen katholischen 416 Theologie noch möglichen individuellen Besonderheiten ist“ . Nachdem er aus 417 dem „nüchterne[n], rein schulmäßige[n]“ Stil des Werkes die Beobachtung folgert, so werde „mittelmäßigen oder untermittelmäßigen Schulköpfen die Dog418 matik eingedrillt“ , bringt er im Modus reiner Wiedergabe des Gedankengangs 419 Heinrichs die „Dinglichkeit der Gnade“ – für Troeltsch bekanntlich Merkmal vormodernen Christentums – zur Darstellung. Zum Abschluss der Besprechung wird die nun erwartbare Positionierung Troeltschs gleichsam ersetzt: „Mir fehlt leider zu sehr das Verständniß für die Unterscheidung der Haaresbreiten, in denen die Originalität katholischer Dogmatiker zu Tage tritt, als daß ich den Ort dieser Gnadenlehre in der gegenwärtigen katholischen Dogmatik genauer be420 stimmen könnte.“ Bemängelt wird der Umstand, dass die Dogmatik Heinrichs den Leser oder sich selbst nicht über „seine eigene Stellung in der katholischen 421 Dogmengeschichte“ informiere. Das Kompendium Heinrichs, ebenfalls posthum zusammengestellt und ver422 öffentlicht , nutzt Troeltsch nun nicht nur, um den Duktus des Buches vorzustellen. Vielmehr macht er deutlich, dass auch Protestanten von der Lektüre des Werkes profitieren könnten, nämlich um vorgeführt zu bekommen, wie „kirchlicher Dogmatismus“, also typologisch Katholizismus, im Ergebnis aussieht: Das Buch „eignet [. . .] sich auch sehr gut zum Studium für protestantische Theologen, denen ein solches Studium sehr zu wünschen ist, damit sie einmal einen Begriff von der in ihr aufgesammelten relativen dogmatischen Continuität erhalten,
Heinrich-Gutberlet’s“ bezeichnet (KGA 2, S. 544), wurde von Constantin Gutberlet nach dem Tod Johann Baptist Heinrichs im Jahr 1891 fortgeführt. Vgl. Editorischer Bericht zu der Rezension, ebd., Anm. 1. 416 Ernst Troeltsch: [Rez.] Johann Baptist Heinrich: Dogmatische Theologie, 8. Band, Mainz 1897, in: Theologische Literaturzeitung 24 (1899), Sp. 464–465, jetzt in: KGA 2, S. 544–546, hier S. 544. 417 Ebd. 418 Ebd. 419 Ebd., S. 545. 420 Ebd., S. 546. 421 Ebd. 422 Der Gymnasiallehrer Philipp Huppert besorgte die Herausgabe des Buches, vgl. Editorischer Bericht zur Rezension, in: KGA 4, S. 168.
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die in vielen Hauptpunkten bis in die paulinisch-johanneischen Gedanken hineinreicht, und damit sie andererseits sich von der Trockenheit und Geistesöde überzeugen können, die das Endergebniß eines wirklich streng durchgeführten 423 kirchlichen Dogmatismus ist.“ Dass diese Merkmale für Troeltsch nun gerade eigentümlich katholisch sind, wird in seiner Würdigung des Buches deutlich, denn er bezeichnet das Buch als „die klarste und präciseste katholische Dog424 matik, die mir in die Hand gekommen ist“ . Als „ein Muster vaticanischer 425 Correctheit“ folgt es einer gegen die Moderne sich selbst immunisierenden inneren Logik: „Der thomistisch-vaticanische Charakter des Werkes verräth sich in der Ausmerzung aller Anklänge an moderne Philosopheme aus der von der Dogmatik anzuerkennenden natürlichen Theologie, in dem beständigen Recurs auf Entscheidungen des Thomas und des Vaticanums und in der völlig scrupellosen, spielend siegreichen Behandlung historischer Dinge, in denen jedesmal die päpstlichen Entscheidungen oder die sententia communis der Theologen die Wahrheit feststellt, da es ja zu solchen Entscheidungen nicht gekommen wäre, 426 wenn sie nicht wahr wären.“ Auch Vertreter reformkatholischer Programme werden von Troeltsch bespro427 chen. Allerdings: Auch ihnen allen eignet in den Augen Troeltschs ein antimoderner Zug. Im Jahr 1901 besprach Troeltsch den ersten Teil von „Der Reformkatholizismus“ des bayerischen Kommoranten Josef Müller im „Archiv für Religionswissenschaft“. Troeltsch macht das Werk gleich zu Beginn vorstellig als 428 „interessant als Beitrag zur Charakteristik des gegenwärtigen Katholizismus“ . Die Reform dieses Reformkatholizismus liege in der „Versöhnung des supranaturalen Dogmas mit der modernen Philosophie, sowie der kirchlichen Autoritäts429 moral mit der verinnerlichten modernen Ethik“ . Ganz unaufgeregt konstatiert 430 Troeltsch: „Es ist der Geist des Protestantenvereins in katholischer Fassung.“
423 Ernst Troeltsch: [Rez.] Johann Baptist Heinrich: Lehrbuch der katholischen Dogmatik, Mainz 1900, in: Theologische Literaturzeitung 26 (1901), Sp. 668 f., jetzt in: KGA 4, S. 168–170, hier S. 169. 424 Ebd. 425 Ebd. 426 Ebd. 427 Vgl. zu Troeltschs (späterem) wohl stärker zustimmenden Interesse am Reformkatholizismus auch Trutz Rendtorff: Einleitung, in: KGA 6, S. 1–49, hier S. 48–49, der für diesen Kontext auf die Relevanz Troeltschs freundschaftlicher Beziehung zu Baron Friedrich von Hügel ab 1901 hinweist. 428 Ernst Troeltsch: [Rez.] Josef Müller: Der Reformkatholizismus, 1. Theil: Die wissenschaftliche Reform, 2. Auflage, und 2. Theil: Die praktischen Reformen, Zürich 1899, in: Archiv für Religionswissenschaft 4 (1901), S. 80–83, jetzt in: KGA 4, S. 112–115, hier S. 112. 429 Ebd., S. 112 f. 430 Ebd., S. 113.
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Und doch macht Troeltsch unmissverständlich klar, wie diese Einschätzung zu verstehen ist. Nicht etwa liege im Programm Müllers etwas Protestantisches: „Vom Protestantismus, der ihm nur als Träger moderner Kulturelemente verständlich ist, und in dessen religiösem Prinzip er nur anarchische Auflehnung gegen die Autorität erkennen kann, will er nichts wissen. Seine Ideale sind durchaus 431 katholisch.“ Vielmehr verbinde den Protestantenverein und das reformkatholische Programm Müllers etwas anderes: „Nirgends handelt es sich um neue religiöse Ideen und Kräfte, um innere Wandlungen und Neubildungen, überall nur um das kühle und doktrinäre Interesse an einer wenigstens graduellen Milderung des Autoritätszwangs und einer möglichsten Aussöhnung von modernen 432 Erkenntnissen und kirchlichen Dogmen.“ Doch neben diesem polemischen 433 Seitenhieb auf den Protestantenverein betont Troeltsch das Lehrreiche des Müller’schen Buches als Einblick in den Katholizismus: Schließlich könnten die Gedanken Müllers „mit den Aeusserungen vieler anderer uns Verständnis für unter der Oberfläche arbeitende Strömungen geben, deren Wirkung bald ge434 nug noch erkennbar werden wird.“ Von einer wahren katholischen religiösen Reform seien diese Äußerungen dennoch entfernt: „Freilich zeigen sie auch, dass in diesen Kreisen im Grunde doch nur kulturelle Interessen und ethische Bedenken sich rühren, dass aber von grossen religiösen Kräften bis jetzt nichts 435 zu spüren ist.“ Im Buch Müllers werde jedoch auch deutlich, „wie allen katholisch erzogenen und empfindenden Menschen sich das Problem der Religion darstellt [. . .]: Sie können die Religion nur denken als Dogmen, Autorität, Kirche und Disziplin, welches alles aus dem profanen Wissen ergänzt und erläutert
431 Ebd. 432 Ebd. 433 Dazu Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 23 f.: „Der 1863 gegründete Deutsche Protestantenverein erwarb eine Schlüsselstellung für den Zusammenhalt der kulturprotestantischen Eliten. Er erlitt um 1890 einen erheblichen Bedeutungsverlust, blieb aber die politische Speerspitze aller kulturprotestantischen Gruppierungen, die sich unter seinem Dach 1909, ein Jahr vor Gründung der Fortschrittlichen Volkspartei, in loser Form als ‚Bund deutscher Protestanten‘ vereinigten. Kulturkämpferisch, wie er nicht nur gegenüber dem politischen Katholizismus, sondern auch gegenüber dem orthodoxen Luthertum auftrat, ist er ein zentraler Indikator für die innere bürgerliche Ideenkonkurrenz um gesellschaftliche Ordnungsentwürfe und Maximen der Lebensführung [. . .]. In den Protestantentagen, die der Deutsche Protestantenverein in der Regel alle zwei bis drei Jahre ausrichtete, schuf er ein nationales Forum von erheblicher Öffentlichkeitswirkung.“ 434 Ernst Troeltsch: [Rez.] Josef Müller: Der Reformkatholizismus (wie Anm. 428), S. 114. 435 Ebd.
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werden mag, aber seiner Unsicherheit gegenüber den Vorzug übernatürlicher 436 Untrüglichkeit besitzt.“ Troeltsch verortet in diesem, von ihm als spezifisch katholisch aufgefassten Religionsbegriff den Grund für die prinzipielle Unverträglichkeit „mit der moder437 nen Wissenschaft“ . Entschieden bringt sich Troeltsch positionell auf anderer Seite in Stellung, nämlich indem er den „von der Religionswissenschaft ausgebildete[n] Begriff der Religion“, einhergehend mit der „Methode psychologischphänomenologischer Forschung“ vorstellt und feststellt, dass die „moderne[] Wissenschaft, deren Atheismen und Pantheismen so sehr tragisch nicht zu nehmen sind, die aber für die Beobachtung und Erforschung der Religion ganz neue Grundlagen gelegt hat und daher von aller auf jenen älteren Begriffen erbauten 438 Religionswissenschaft durch eine tiefe Kluft geschieden bleibt.“ Troeltsch zeigt in seinen Ausführungen weder Bedauern über den Umstand, dass in der Gegenwart ein solcher – Katholiken wie manchen Gruppierungen von Protestanten gemeinsamer – Religionsbegriff unerschwinglich geworden ist noch weist er auf irgendwelche Ambiguitäten spezifisch moderner Wissenschaftsimpulse hin. Vielmehr betont er die von diesen ausgehenden innovativen Impulse für die Theologie. Das in sich widersprüchliche Projekt eines Reformkatholizismus thematisiert Troeltsch noch massiver in der Besprechung des Buches „Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit“, 439 verfasst vom Wiener Ordinarius Albert Ehrhard . Die Rezension erschien 1902 in „Die Christliche Welt“. Die von Ehrhard betriebene Moderne-Deutung, die den Katholizismus als eigentlichen Steigbügelhalter und Bündnispartner der modernen Kultur markiert, bezeichnet Troeltsch zunächst als „angenehme Abwechslung in der Polemik, die sonst den Protestantismus zum Erzeugnis moderner Kulturregungen und zum 440 Vater aller modernen unkirchlichen Wissenschaft macht“ . Auch die Protestantismusdeutung Ehrhards wird von Troeltsch erst einmal aus dem Kontext und Interesse des Autors plausibilisiert: „Der Protestantismus ist vielmehr hier, wie bei den meisten Reformkatholiken, mit besonderer Geringschätzung und
436 Ebd. 437 Ebd., S. 115. 438 Ebd. 439 Über Ehrhard (1862–1940) orientiert in aller Kürze Wilhelm Hengstenberg: [Art.] Ehrhard, Maria Joseph Albert, in: Neue Deutsche Biographie, Band 4, Berlin 1959, S. 357. 440 Ernst Troeltsch: Der Ehrhardsche Reformkatholizismus. Der Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der Neuzeit von Dr. Albert Ehrhard, in: Die Christliche Welt 16 (1902), Sp. 462–468, jetzt in: KGA 4, S. 194–206, hier S. 197.
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Feindseligkeit behandelt; begreiflich genug, denn nur so wird die strenge Katholizität vor den kirchlichen Gegnern und vor dem eigenen Herzen gewahrt. [. . .] Die ‚einseitige, unharmonische und leidenschaftliche‘ Betonung der an sich den modernen Zeiten allerdings entsprechenden religiösen Subjektivität stellt 441 den Protestantismus weit zurück [. . .].“ Die Reform, die von Ehrhard bezüglich 442 des Katholizismus angestrebt wird, zitiert Troeltsch als „‚los vom Mittelalter‘“ . Das Mittelalter wird von Ehrhard als zu überwindende „an schweren Mängeln 443 leidende Gestalt des Katholizismus“ ausgewiesen. In den beiden folgenden Paragraphen der Rezension nimmt Troeltsch ausführlich zu dem vorgestellten Programm Ehrhards Stellung. Dies tut er in explizitem Ausweis der jeweiligen von ihm eingenommenen Perspektive: zunächst als der „Vaterlands- und Volks444 445 freund, der Politiker und Gelehrte“ , sodann als „der Protestant“ . 446 Politisch betrachtet, so Troeltsch, „können wir nichts Besseres wünschen“ . 447 Er attestiert Ehrhard, aus „protestantisch-theologischer Litteratur viel gelernt“ zu haben, der Neuzeit und ihren Fragen verhaftet zu sein. Sogleich bringt er jedoch seine Einschätzung unmissverständlich zum Ausdruck, es bei dem Programm Ehrhards mit einer Perspektive zu tun zu haben, deren Aussicht auf Verwirklichung an das Utopische reicht: „Aber freilich einen solchen Katholizismus giebt es bis jetzt nicht, und die große Frage ist, ob es ihn jemals geben wird 448 und geben kann.“ Allerdings macht Troeltsch für diese Prognose nicht etwa widrige Umstände o. ä. geltend, sondern identifiziert mit Ehrhards Forderung das eigentliche Hindernis: „Denn, von allen Widersprüchen und Künstlichkeiten abgesehen, enthält Ehrhards Grundgedanke selbst die Unmöglichkeit seiner 449 Durchführung.“ Diese Unmöglichkeit ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit zweier Momente, die Ehrhard vorschweben. Denn einerseits solle der Katholizismus „ein unveränderliches, permanentes göttliches Wunder sein, das in der Welt [. . .]
441 Ebd., S. 197 f. Diese Struktur erinnert durchaus an zeitgenössische Entwürfe wie den höchst anregenden des katholischen kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor: Ein postsäkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009. Über die Frage, ob und wie läubige Troeltschs Beobachtungen – auch im Vergleich zu Taylor – angemessen als Säkularisierungstheorie verstanden werden können, orientiert Lori Pearson: Ernst Troeltsch and Contemporary Discourses of Secularization (wie Anm. 184). 442 Ernst Troeltsch: Der Ehrhardsche Reformkatholizismus (wie Anm. 440), S. 200. 443 Ebd., S. 199. 444 Ebd., S. 200. 445 Ebd., S. 203. 446 Ebd., S. 200. 447 Ebd. 448 Ebd., S. 201. 449 Ebd.
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der wechselnden Meinungen [. . .] eine absolut wahre Lehre hineinstellt.“ Andererseits solle eben jener Katholizismus „in seiner bis jetzt stärksten und bis heute maßgebenden mittelalterlichen Ausbildung [. . .] vergänglich, irdisch, menschlich 451 gewesen sein“ . Dem eigentlichen Problem, nämlich wie diese Gleichzeitigkeit soll gedacht werden können, gehe Ehrhard aber gerade nicht auf den Grund. Und selbst darüber, was die moderne Kultur eigentlich genauerhin ausmache, schweige sich Ehrhard aus. Die von Ehrhard genutzte Unterscheidung von ‚ewig‘ und ‚zeitgeschichtlich‘, 452 die Troeltsch ursprünglich der protestantischen Theologie zuschreibt „und die 453 auch bei diesen nur Verwirrung“ erzeuge, wertet Troeltsch als eher der Sache 454 ab- anstatt zuträglich, sie werde „den Streit verewigen“ . Aus seiner zweiten Perspektive, als Protestant, argumentiert Troeltsch etwas anders: Die Kritik an Ehrhards Katholizismusprogramm wird nun nicht hinsichtlich einer prinzipiellen Inkompatibilität des Gewollten gefasst, sondern über den in ihm zu Tage tretenden konfessionellen Typ, der für die protestantische Perspektive Troeltschs aus anderem Grunde unbefriedigend ist. „[D]er Protestant“, so Troeltsch, nämlich werde „aus religiösen Gründen die Art der Religiosität bekämpfen, die in diesem Reformprogramm steckt, mit aller Achtung gegen den 455 Gegner, aber mit voller Ablehnung seines Gedankens“ . Dieser Gedanke wird nun näherhin in zwei Aspekten entfaltet: „[E]rstlich es müsse eine absolute, objektive und greifbar geoffenbarte, in Glaubens- und Sittengesetz vorliegende und in göttlich geleiteter Institution festgelegte göttliche Wahrheit geben, und zweitens es müsse die aus Christus entsprungene religiöse Gemeinschaft eine einheitlich organisierte, göttlich und wunderbar in ihrer Einheit erhaltene, in Dogma, Gewissensleitung, Sitte, Recht und Kultur einige Institution bilden, wenn die Seele nicht das religiöse Vaterhaus verlieren und wie ein losgerissenes 456 Blatt im Winde aller Subjektivität verflattern soll.“ Troeltsch konstatiert: „Das sind große Gedanken, die wir nachempfinden können. Aber wir halten sie für 457 falsch.“ Statt den Wahrheitsbegriff institutionell anzubinden und diese Institu458 tion wiederum monistisch aufzuladen , also eine Objektivierung des Glaubens vorzunehmen, sei vom Protestantismus gerade etwas anderes gewollt. Troeltsch 450 451 452 453 454 455 456 457 458
Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 202. Ebd. Ebd. Ebd., S. 203. Ebd. Ebd. Dem Philosophen und Pädagogen Herman Nohl gegenüber fasste Troeltsch 1921 den Katho-
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bietet eine engagierte Bestimmung dessen, was den Protestantismus – hier auffallend einheitlich entworfen und von Troeltsch im ‚Wir‘ gleichsam konfessorisch 459 vorgebracht – vom Katholizismus unterscheide: „Die von Christus ausgehende Religion ist uns ein subjektives religiöses Leben, das als objektiven Grund nicht mehr bedarf als die Gewißheit der Gnade und Güte Gottes gegen den im Irrsaal des Lebens und in der Nacht der Sünde tastenden Menschen, und die von Christus ausgehende Gemeinschaft ist uns eine Gemeinde von Brüdern und Schwestern an jedem Ort, die ihren Schwerpunkt in der örtlichen Gemeinschaft 460 hat und von da nach Möglichkeit zu einem Bunde aller Christen strebt.“ Das von ihm zuvor kritisierte Auseinanderfallen des Ewigen und Zeitgeschichtlichen bringt er knapp zu folgender Auflösung: „Wir [. . .] glauben, daß wir überall, wo wir Gott in Christus nach besten Kräften suchen, ihn mitten im Zeitgeschicht461 lichen haben.“ Die religiöse Fokussierung und Behaftung des Subjekts hebt Troeltsch deutlich als Charakteristikum des Protestantismus hervor, um davon wiederum die religiösen Interessen des Katholizismus abzuheben: „[U]nd weil die Göttlichkeit, so lange sie am beweglichen Wort und Gedanken haftet, doch immer etwas Subjektives bleibt und sich nicht streng an die Kirche binden läßt, so müssen sie die Göttlichkeit der Kirche in magischen sakramentalen Kräften und Sachen suchen, die der Kirche allein eigentümlich sind und daher in letzter Linie die Göttlichkeit der Kirche und mit dieser die Göttlichkeit der Dogmen und 462 Sittengesetze beweisen.“ In dieser Deutlichkeit scheidend, resümiert Troeltsch: „Das Buch wird den frommen Protestanten kalt lassen, da er in ihm nur sehr 463 wenig findet, was er als Religion empfindet.“ Wohl um der deutlichen Entschlossenheit willen, sich gegen einen Religionsbegriff zur Wehr zur setzen, der von religiösen Wahrheiten vorbei an den religiösen Subjekten handeln will, führt Troeltsch an dieser Stelle einen ungewöhnlich einheitlichen Protestantismus vor, den er gegen ebenjenen Wahrheitsbegriff profiliert.
lizismus als die „Synthese an sich“. Postkarte Troeltschs an Herman Nohl vom 2.10.1921, zitiert nach: Editorischer Bericht, in: KGA 13, S. 521. 459 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 58), S. 46, der Troeltschs Katholizismuswertungen primär eine korrespondierende Funktion für die Protestantismusprofilierung attestiert: „Die Pointe seiner Beschreibung der römisch-katholischen Kirche [. . .] dient aber weniger der konfessionspolemischen Verortung des römisch-katholischen Kirchenkonzepts [. . .] als vielmehr dem Interesse an Stärkung der Modernitätskompatibilität des Protestantismus.“ 460 Ernst Troeltsch: Der Ehrhardsche Reformkatholizismus (wie Anm. 440), S. 203 f. 461 Ebd., S. 204. 462 Ebd. 463 Ebd., S. 206.
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Troeltsch eröffnet in dieser Rezension eine deutliche Antwort auf die Frage, wo man auf der Suche nach einem wirklich konsequenten „Los-von-Rom“- oder „Los-vom-Mittelalter“-Christentum fündig wird: beim Protestantismus. 1909 bespricht Troeltsch erneut ein Werk Ehrhards, diesmal für die „Historische Zeitschrift“. Die Rezension verhandelt neben Ehrhards Mittelalterdarstellung „Das Mittelalter und seine kirchliche Entwicklung“ auch George Tyrrells „Medievalism. A reply to Cardinal Mercier“. Letzterer war aufgrund seines ‚Modernismus‘ zunächst 1906 aus dem Jesuitenorden ausgeschlossen, des Priesteramtes 464 enthoben und schließlich 1907 exkommuniziert worden. Troeltsch nimmt auf diese Ereignisse in seiner Rezension keinerlei Bezug. Wohl aber verortet er beide von ihm besprochenen Autoren im modernistischen Kontext und spricht von 465 ihnen als „zwei guten Kennern des Katholizismus“ . Ehrhard gegenüber läuft die Besprechung auf ebenjene Kritik hinaus, die Troeltsch bereits einige Jahre zuvor geäußert hatte, die nun jedoch etwas modifiziert vorgebracht wird: Die vermeintlich einen modernen Katholizismus begründende „neue christliche Kul466 turidee, über deren Wesen und Aufgaben der Verfasser sich nicht ausspricht“ , wirft die von Troeltsch provokativ gestellte Frage auf, „wie weit die katholische Kultur an mittelalterliche Lebensformen dauernd und wesentlich gebunden ist 467 und wie weit nicht“ . 464 Vgl. Biogramm, in: KGA 4, S. 834; zum Antimodernismus insgesamt Hubert Wolf (Hrsg.): Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche, Paderborn 1998. 465 Ernst Troeltsch: [Rez.] Albert Ehrhard: Das Mittelalter und seine kirchliche Entwicklung, Mainz 1908; George Tyrrell: Medievalism. A reply to Cardinal Mercier, London 1908, in: Historische Zeitschrift 102 (1909), S. 586–590, jetzt in: KGA 4, S. 609–614, hier S. 613. Zunächst stellt Troeltsch erneut das Anliegen Ehrhards dar, Möglichkeiten zu entwerfen, den Katholizismus anschlussfähiger für die Moderne zu machen. Die Bewertung des Mittelalters spielt dabei wiederum die ausschlaggebende Rolle. Ehrhard zeige sich darum bemüht, seine Würdigung des Mittelalters gleichsam in die Verzichtbarkeit dessen zentraler Gehalte für die Gegenwart einmünden zu lassen: „Der Grundgedanke seiner Konstruktion ist, daß das Mittelalter die spezifisch kirchliche Kulturperiode Europas ist und diesen Charakter dadurch erhielt, daß die noch unentwickelte Barbarenwelt unter den Einfluß einer Kirche kam [. . .]. So entstand überhaupt erst die Idee einer vom Christentum nach allen Seiten direkt geleiteten Kultur [. . .].“ (S. 609 f.) Die so gefundene Voraussetzung der christlichen Einheitskultur, nämlich „eine der kulturellen Schwäche des Barbarentums entsprechende Gestaltung der Kirche“, verliere in den Augen Ehrhards mit der Moderne seine eigentliche Grundlage, denn „der moderne Katholik erkennt [. . .] die nur zeitgeschichtliche Bedingtheit dieser Kulturbildung, erkennt die relative Selbstständigkeit des Staates und der profanen Kultur [. . .] als berechtigte Eigentümlichkeit der Neuzeit an.“ (S. 611) Damit sei eine entscheidende Frage impliziert, die Ehrhard, wie in der zuvor dargestellten Rezension, unbearbeitet lasse, nämlich „wie eine derartige christliche Kulturidee ohne eine starke Zwangsmacht der Kirche und ohne die allgemeinen Verhältnisse des Mittelalters überhaupt möglich sein soll“ (ebd.). 466 Ebd. 467 Ebd.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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Sehr viel affirmativer bringt Troeltsch die Mittelalterdeutung Tyrrells zur 468 Darstellung. Er führt diesen als einen „der geistreichsten ‚Modernisten‘“ ein und pflichtet Tyrrell vielfach in der Rezension bei. Dies dürfte vor allem daran liegen, dass dieser – anders als Ehrhard – mit seiner Kritik am katholischen Wahrheitsbegriff ansetzt. Tyrrell sehe die mittelalterliche „universale Herrschaft 469 der Gnade in Gestalt des Zwangskirchentums“ nämlich nicht wie Ehrhard in bloß „zeitgeschichtlichen Verhältnissen“ begründet, sondern mache dafür die 470 471 „Art des dogmatischen Wahrheitsbegriffes“ verantwortlich. Tyrrells klare Analyse des mittelalterlich-kirchlichen Wahrheitsbegriffs nun vermag Troeltsch große Zustimmung zu entlocken. Das Fazit ist deutlich: „Sofern der heutige Katholizismus diesen Wahrheitsbegriff festhält, ist er heute noch ech472 tes Mittelalter“ . Charakteristisch sei hierbei, „bestimmt abgrenzbare, äußerlich aufzeigbare von der persönlichen Subjektivität der Überzeugung unabhängige 473 rein objektive Wahrheit“ für das Dogma in Anspruch nehmen zu wollen. Dies 474 sei auch die Lehre, wie sie der „heutige offizielle Katholizismus“ vertrete: „Die Seele des antimodernen Katholizismus ist sein absoluter, uniformer und objektivistischer Wahrheitsbegriff, [. . .] an dem sich sein Verhältnis zur modernen 475 Welt entscheidet.“ Mit Tyrrell betont Troeltsch: „In ein neues und d. h. ein modernes Stadium würde er erst treten, wenn er diesen Wahrheitsbegriff aufgäbe und, die Wahrheit in persönlich-subjektiver Überzeugung mit variablem dogmatischem Ausdruck erkennend, dem Papsttum nur die Bedeutung einer 476 zentralen Lehrpädagogie zuschriebe.“ Troeltsch gesteht zum Schluss der Rezension ein, dass man für zutreffende 477 Mittelalterdarstellungen „immer an katholische Literatur gewiesen“ sei. Freilich ist damit jedoch keineswegs die Deutungshoheit an die Schwesterkirche 468 Ebd., S. 612. 469 Ebd. 470 Ebd. 471 Zuvor nutzt Troeltsch diese Rezension in der „Historischen Zeitschrift“ als Gelegenheit zur Korrektur einer These aus dem vielbeachteten Werk des Historikers Heinrich von Eicken: Geschichte und System der Mittelalterlichen Weltanschauung (1887). Sowohl die Forschungsergebnisse Ehrhards als auch die Tyrrells werden angeführt, um zu belegen, dass die das Mittelalter ausmachende „Kompromiß- und Ausgleichsbildung zwischen einer noch unentwickelten barbarischen Kultur und der kirchlich geleiteten Ethik“ durchaus mit „der christlichen Idee“ vereinbar und nicht, wie von Eicken meinte, „eine ideewidrige Konzession an die Natur“ gewesen sei (ebd., S. 612). 472 Ebd., S. 613. 473 Ebd., S. 612 f. 474 Ebd., S. 613. 475 Ebd. 476 Ebd. 477 Ebd.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
überlassen. Troeltsch macht geltend, dass die Untersuchung der „Geschichte 478 der christlichen Ethik“ die Mittelalterforschung zu erweitern habe. Diese eigene Perspektive führt ihn denn auch zu einer anders gewichteten Bewertung des Mittelalters insgesamt. Da Troeltsch im Vergleich zu Ehrhard oder Tyrrell anders gelagerte konfessionspolitische Interessen mit seiner Mittelalterdeutung verbindet, betont er gegen Ehrhard die sozialgeschichtliche Bedeutung des Mittelalters, die als „eben doch die erste Verwirklichung der christlichen Ethik in 479 einem allgemeinen Kulturideal überhaupt“ gewürdigt werden wolle. Mit dieser Argumentation eingeführt, beschließt Troeltsch die Rezension mit einem Verweis 480 auf seine „‚Soziallehren der christlichen Kirchen‘“ , wie sie 1908/09 bereits als Beiträge zum mittelalterlichen Katholizismus im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik vorlagen. Dies geschieht jedoch nicht ohne die Bemerkung, von dort aus „die eigentliche Würdigung des mittelalterlichen Geistes und die Frage 481 nach seiner Fortwirkung im heutigen Katholizismus“ betreiben zu können. Beachtenswert sind Troeltschs Beiträge zu unterschiedlichen Fassungen lu482 therischer Theologie beziehungsweise zu unterschiedlichen Lutherdeutun483 gen , wie er sie in seinen Rezensionen vorstellig macht. 478 Ebd. 479 Ebd., S. 614. 480 Ebd. 481 Ebd. 482 Zu Rezensionen, die das Reformiertentum in den Blick nehmen, vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Georg Klingenburg: Das Verhältnis Calvins zu Butzer untersucht auf Grund der wirtschaftsethischen Bedeutung beider Reformatoren, Bonn 1912, in: Theologische Literaturzeitung 38 (1913), Sp. 563–565, jetzt in: KGA 4, S. 733–738. Dort begrüßt Troeltsch den Versuch des Autors, „‚die Weber-Troeltsch’sche These‘“ (S. 734) bereits auf Calvin zu beziehen und so den engen Konnex von ‚Kanzel‘ und kulturellem Fortschritt zu betonen (vgl. S. 735). Troeltsch reklamiert in dieser Besprechung auch seinen Begriff der „‚innerweltlichen Askese‘“ (S. 736) als treffend. Vgl. zur Thematisierung reformierter Theologie auch Ernst Troeltsch: [Rez.] Gustav von Schulthess-Rechberg: Die zürcherische Theologenschule im 19. Jahrhundert, Zürich 1914, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), Sp. 521, jetzt in: KGA 13, S. 219–221. Die Frage, ob diese Rezension eine Originalitätsreklamation Troeltschs des Begriffes der „innerweltlichen Askese“ gegen Max Weber bedeutet, stellt Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 58), S. 55. 483 Markante Lutherdeutungen Troeltschs liegen vor mit den Besprechungen der Lutherbücher Otto Scheels: Ernst Troeltsch: [Rez.] Otto Scheel: Martin Luther, Tübingen 1916, in: Historische Zeitschrift 118 (1917), S. 304–308, jetzt in: KGA 13, S. 335–340; [Rez.] Otto Scheel: Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation, Tübingen 1917, in: Historische Zeitschrift 124 (1921), S. 110– 116, jetzt in: KGA 13, S. 493–499. Für Troeltsch ergibt sich aus dem von Scheel bearbeiteten Verhältnis von Mittelalter und Reformation die Möglichkeit, den jungen Luther zugleich als „den normalen spätmittelalterlichen Katholiken“ aber auch dessen „bohrende Genialität eines völlig außerdurchschnittlichen Menschen“ (S. 339) differenziert zur Sprache bringen zu können. Die Besprechung des zweiten Bandes gibt Einblick in den Versuch Troeltschs, das Werden Luthers
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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Die Dogmatik des damals bereits emeritierten Dorpater Systematikers Alexander von Oettingen wurde mehrfach von Troeltsch besprochen. 1898, 1902 und 1905 rezensierte Troeltsch für die „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ die 484 dreibändige „Lutherische Dogmatik“ von Oettingens . Das Interesse Troeltschs an dieser Dogmatik fasst er selbst wie folgt: „Man darf also ein Werk von reifer Durchbildung erwarten, das den Stand der Dinge in den Kreisen des Lutheri485 schen Konfessionalismus von der besten Seite veranschaulicht.“ Von Oettingen wird in der Besprechung des ersten Bandes, der Prinzipienlehre, 1898 als „Ve486 teran des baltischen Luthertums“ eingeführt, und Troeltsch hält abschließend fest: „Die Polemik ist vornehm und die Beurteilung überall billig, die religi487 öse Grundgesinnung lebendig und beweglich, fern von zelotischem Eifer.“ Trotz dieser Würdigung liegt die von Troeltsch empfundene Unfruchtbarkeit dieser Spielart protestantischer Theologie recht offen zu Tage. Von kleineren Anmerkungen abgesehen, wie die, dass Goethe „überhaupt zum Ueberdruß oft 488 herhalten muß“ , stößt sich Troeltsch vor allem an dem Zuschnitt der Dogmatik zum Reformator zu ergründen. Um die tiefer liegenden Motive erhellen zu können, skizziert er den Ansatz bei der „religiös-psychologischen Artung Luthers“ (S. 499). Das „Gewissen“ Luthers wird ihm dabei zur zentralen Antwort darauf, „weshalb Luther Kloster und Kirche, Sakramente und Seelsorge nicht den Frieden gaben, den sie andern, auch sehr innerlichen und gewissenhaften Menschen, doch mitteilten.“ (S. 497) Troeltsch sperrt sich gegen eine zeitliche Fixierung der ‚reformatorischen Entdeckung‘ (vgl. S. 496), und meint, „daß der Kern der Entdeckung des Evangeliums eben das Zu-sich-selbst-kommen einer starken religiösen Persönlichkeit ist, und daß dieses sich in einer rein psychologisch gedachten Umformung der Bußlehre zunächst äußert.“ (S. 498) Luther, „dieser konservativste aller Revolutionäre“ (S. 499), sei nicht primär an einer „Kritik am Sakramentalismus“ (ebd.) interessiert gewesen, sondern es sei von einer „Unempfindlichkeit für die alles tragende und umschließende Metaphysik der Sakramente“ (S. 498) Luthers auszugehen, der „unmittelbare persönliche und in dieser Zuspitzung zugleich absolute Gewißheit“ (S. 497) gewollt habe. Troeltsch weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese Entwicklungslogik auch anderen Konfessionen bzw. Denominationen zugrunde liege: „Die Gegenprobe liegt zu deutlich darin, daß andere Gewissen nun wieder gerade die lutherische Heilslehre nicht beruhigt, sondern umgekehrt in die furchtbarsten prädestinatianischen und ethischen Skrupel geworfen hat. Hier liegen nicht theologische und begriffliche Gegensätze, sondern verschiedene religiöse Naturen und Begabungen vor“ (ebd.). 484 Vgl. Alexander von Oettingen: Lutherische Dogmatik, Band 1: Prinzipienlehre, München 1897; ders.: Lutherische Dogmatik, Band 2: System der christlichen Heilswahrheit. Erster Theil: Die Heilsbedingungen, München 1900; ders.: Lutherische Dogmatik, Band 2: System der christlichen Heilswahrheit. 2. Teil: Die Heilsverwirklichung, München 1902. 485 Ernst Troeltsch: [Rez.] Alexander von Oettingen: Lutherische Dogmatik, Band 1: Prinzipienlehre, München 1897, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 160 (1898), S. 827–832, jetzt in: KGA 2, S. 501–507, hier S. 501 f. 486 Ebd., S. 501. 487 Ebd., S. 507. 488 Ebd., S. 502.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
von Oettingens insgesamt: „[D]as Buch selbst ist doch mehr ein Denkmal des 489 Gegensatzes gegen die gesamte geistige Bewegung der Gegenwart.“ Das kompromisslose Festhalten am Offenbarungsstatus des in der Dogmatik Dargestellten führt in den Augen Troeltschs zu einigen methodischen Fragwürdigkeiten, die geradewegs an allen modernen Problemstellungen vorbei operieren. Diese modernen Fragestellungen finden sich erstens ausgedrückt im wissenschaftlichen Paradigma der Voraussetzungslosigkeit, zweitens in der Frage nach 490 der Möglichkeit der Konstruktion einer „Normal- und Idealreligion“ , drittens in der Frage nach der Möglichkeit eines „spezifisch dogmatischen Erkenntnisprin491 zip[s]“ sowie viertens im Umgang mit der Faktizität der Geltungsansprüche anderer Religionen. Troeltsch hält in seiner Rezension zunächst mit ironischem Unterton fest, wie der „gläubige[] Lutheraner“ eine Prinzipienlehre angehe: „Er beschäftigt sich [. . .] nicht lange mit Religion, religiöser Erkenntnis und Religionsgeschichte, wie die ihres Zieles und ihrer Ergebnisse weniger sicheren 492 493 Theologen“ . Vom „modernen Wahn der Voraussetzungslosigkeit“ frei, soll eine Dogmatik erschaffen werden, die auf diese Weise leistet, „was Religionshistoriker, Metaphysiker, Erkenntnistheoretiker und Psychologen in der Arbeit der 494 letzten Jahrhunderte ohne und gegen sie zu Tage gebracht haben.“ Eine an der modernen Religionsphilosophie ausgerichtete Auseinandersetzung mit den eigenen Voraussetzungen finde nicht nur nicht statt, sondern vielmehr werde „nur überhaupt prinzipiell das Zugeständnis der Uebernatürlichkeit des Christen495 tums als das wesentliche Moment der religiösen Gesinnung“ postuliert. Mit stichhaltiger Kritik werde ebenfalls so umgegangen als sei sie keiner Vermittlung bedürftig, die konfessionell lutherische Dogmatik zeige sich vielmehr daran interessiert diese „in Bausch und Bogen aus der Abwesenheit dieses Momentes 496 oder aus der Sünde zu erklären“ . Von Oettingens Gliederung in „physiologische Principienlehre“, „pathologische Principienlehre“ sowie „therapeutische Principienlehre“ ist das Zeugnis einer spezifischen Fassung der Wesensbestimmung, die Troeltsch schwerlich Zustimmung entlocken kann: „Das Christentum soll nämlich, indem sein Wesen zum Zweck der Ermittelung des Ausgangspunktes für die Spezialdogmatik beschrieben wird, zugleich als die Normal- und Idealreligion und eben damit 489 490 491 492 493 494 495 496
Ebd., S. 507. Ebd., S. 504. Ebd., S. 505. Ebd., S. 502. Ebd. Ebd. Ebd., S. 503. Ebd., S. 504.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
121
sollen die nicht-christlichen Religionen und Philosopheme als Trübungen der Normalreligion durch die Sünde erkannt werden. [. . .] Von Geschichte und Re497 ligion ist in dieser Entwickelungsgeschichte der Irreligion kaum die Rede.“ Im Fehlen einer komplexeren und angemessenen geschichtlichen Dimensionierung des Glaubens und des eigenen dogmatischen Treibens dürfte die größte Kritik Troeltschs an von Oettingen bestehen: „Sie entwickelt ihre Sätze frei deducierend aus dem Kerne der praktischen Heilserfahrung, kontroliert aber diese Sätze an der Bibel und an den lutherischen Bekenntnissen, da sie von diesen ihren ursprünglichen Quellen sich nicht entfernen darf, wenn sie nicht dem Nonsens verfallen will, in der Wirkung etwas zu producieren, was in der Ursa498 che gar nicht enthalten war.“ Für Troeltsch ist mit einem solchen Vorgehen aber gerade überhaupt nicht das eigentlich Dringliche benannt, sondern auf problematische Weise umgangen. Weder die Geltungsthematik, die sich bei einer Vergegenwärtigung konfessions- und religionspluraler Gegebenheiten aufdrängt, noch die für Troeltsch konstitutive Größe der Geschichtlichkeit können so thematisch werden: „Daß andere Confessionen und Religionen geradeso für sich argumentieren können und von dieser Argumentation aus eine Veränderung 499 der Religionen überhaupt unmöglich wäre, ficht den Verf. nicht an.“ Und doch bleibt Troeltsch bei seinem Resümee nicht dabei stehen, den „Veteran des 500 baltischen Luthertums“ als Antipoden jeder modernen Regung darzustellen, vielmehr betont er dessen unweigerliche Zeitgenossenschaft: „Freilich verläuft die Grenzlinie nicht reinlich zwischen dem Verfasser und der Gegenwart, sondern sie geht mitten durch die unter geteilten Einflüssen stehende Denkweise 501 des Verfassers selbst hindurch.“ Die Besprechung des ersten Teils des zweiten Bandes der Dogmatik von Oettingens erschien vier Jahre später ebenfalls in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“, es handelt sich dabei um die Entfaltung der „Heilsbedingungen“, im 502 Rahmen des „Systems der christlichen Heilswahrheit“ . Troeltschs Beurteilung verändert sich gegenüber der zuvor verfassten Rezension nur unwesentlich, allerdings ist der Ton der Rezension etwas weniger konziliant. So benennt Troeltsch in aller Deutlichkeit das ihm missfallende theologische Programm: „Das Verfahren läuft hier wie sonst auf den einfachen Satz hinaus, daß man am Praktischen
497 Ebd., S. 504 f. 498 Ebd., S. 505 f. 499 Ebd., S. 506. 500 Ebd., S. 501. 501 Ebd., S. 507. 502 Vgl. Alexander von Oettingen: Lutherische Dogmatik, Band 2: System der Heilswahrheiten. Erster Theil: Die Heilsbedingungen, München 1900.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
und Wesentlichen des Christentums nur Teil haben kann bei Anerkennung des 503 kirchlichen, in diesem Falle des spezifisch lutherischen Dogmas“ . Die übergriffige, diesem Programm innewohnende Tendenz komme darin zum Tragen, „daß, wer dieses ganz oder partiell nicht anerkennen will, damit das Recht auf 504 alle Christlichkeit verliert.“ Indem die lutherische Dogmatik von Oettingens methodisch letztlich nur eine Repristination „der alten Bibel- und Dogmen- oder Traditionsbehandlung 505 darstellt“ , werde auf sehr problematische Weise versucht, das Wesentliche des Glaubens artikulierbar zu machen. Das Zentrale und die Dogmatik Begründende stelle die „in der lutherischen Kirche herrschende Schätzung Christi und seines Werkes“ dar, „und diese Schätzung wird aus Bibel und Tradition dann 506 nur bestätigt und kontrolliert.“ Indem nun Bibel und Tradition vordergründig moderner Kritik zugänglich gemacht werde, verändere sich der herkömmliche apologetische Duktus: „Das Wunder und die Wahrheit ist nicht, wie in der alten Orthodoxie, von Anfang an auf dem Gipfel, sondern steigt in göttlicher Leitung langsam auf den Gipfel, und der Wahrheitsbesitz, der hier erreicht ist, ist dann ebenso nicht von Anfang an fertig durchschaut, sondern bedarf einer successi507 ven Herausarbeitung [. . .]“ . Eine solche geschichtliche Dimensionierung des Glaubens verdient jedoch höchstens auf den ersten Blick ihren Namen. Denn erstens kommt es durch die so verobjektiviert immunisierte Glaubensgewissheit überhaupt nicht zu einer Konfrontation mit den Herausforderungen des Historismus. Zweitens ist die entwicklungsgeschichtliche Perspektive, die von Oettingen eröffnet, „darauf beschränkt, das successive Hervortreten und Wachstum der wunderbaren Heilsgeschichte und die ebenso successive Ausgestaltung der vol508 len Heilsoffenbarung in der Dogmengeschichte zu schildern.“ Und drittens wird gesagt werden können, dass die bei von Oettingen vorherrschende unproblematisierte Identifizierung von Glaubensgewissheit und Dogma jede Vermittlungsund Reflexionsleistung neuprotestantischen Zuschnitts gerade nicht vorsieht, diese vielmehr von Haus aus ins Unrecht setzt. Troeltsch hat keinerlei Hemmungen, die von ihm rezensierte Dogmatik als „moderne protestantische Orthodoxie“ zu deklamieren und erwähnt den „Muth, mit dem sich die auf diesen Grundsätzen aufgebaute Dogmatik zu allen [. . .] 503 Ernst Troeltsch: [Rez.] Alexander von Oettingen: Lutherische Dogmatik, Band 2: System der christlichen Heilswahrheit. Erster Theil: Die Heilsbedingungen, München 1900, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 164 (1902), S. 317–323, jetzt in: KGA 4, S. 186–193, hier S. 188. 504 Ebd. 505 Ebd. 506 Ebd., S. 188 f. 507 Ebd., S. 190. 508 Ebd., S. 189 f.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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509
Voraussetzungen des Dogmas bekennt“ – was schwerlich als Kompliment zu verstehen ist. Troeltsch dürfte einiges von ihm zuvor Dargestelltes meinen, wenn 510 er zum Abschluss der Rezension auf die „zum Teil grotesken Vorstellungen“ zu sprechen kommt: „Der Verfasser gesteht rundweg zu, daß das Wunder der Menschwerdung Gottes durchaus, wenigstens in religiöser und metaphysischer Hinsicht, eine schlechthin geozentrische und anthropozentrische Weltanschau511 512 ung fordert“ , von Oettingen halte an der Engellehre fest , „[s]chließlich wird auch die altkirchliche Eschatologie mit vollem Ernste festgehalten, indem für 513 die menschliche Geschichte ein Abschluß gefordert wird“ . Anders als die katholische Kirche, die vielen darin enthaltenen augustinischen Elementen ebenso verbunden sei, verzichte von Oettingen dabei jedoch auf die „massiven rationalen Beweise[] für die Dogmen und [. . .] de[n] Nachweis der wunderbaren 514 515 Autorität der Kirche“ , sie „zaubert alles aus dem Sündengefühl hervor“ . Doch all dieses ‚Groteske‘ scheint für Troeltsch noch nicht die größte Schwierigkeit in der Konzeption von Oettingens zu treffen. Denn zwar gebe dieser sich den Anschein, seine Dogmatik auch angesichts moderner Herausforderungen verfasst zu haben, jedoch werde deutlich, „daß gerade die Auseinandersetzungen Oettingens mit der modernen Welt trotz seiner großen Belesenheit recht 516 schwach und verschwommen ist.“ Seine „Defensive beruht doch nirgends auf 517 wirklichem Studium und Verständnis der modernen Welt.“ Und so schließt die Rezension mit einer massiven Einforderung, das hochgradig beziehungsreiche Verhältnis grundlegender weltanschaulicher Elemente und religiöser Symbolwelt in den Blick zu nehmen: „Daß die moderne Welt überhaupt neue Denk- und Gefühlsmotive bringt, und daß die Situation eine ganz andere ist als für Augustin und Athanasius, will dem Verfasser wie den meisten Apologeten ebensowenig zu Sinn wie die Erwägung, daß das in den Tagen völligster Kritiklosigkeit der Historie und krausester Phantastik der Naturwissenschaft geformte Dogma sich schwerlich vor diesem Hintergrund einfach ablösen und in die Welt moderner 518 Naturwissenschaft und Geschichtskritik schwerlich einfach versetzen läßt.“
509 510 511 512 513 514 515 516 517 518
Ebd., S. 191 f. Ebd., S. 193. Ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 191 f. Ebd., S. 192. Ebd. Ebd. Hervorhebung von Verf. Ebd., S. 193. Ebd. Ebd. Die Besprechung des letzten Bandes der Dogmatik, der den Titel „Die Heilsverwirkli-
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
Dennoch ist mit Nachdruck festzuhalten, dass Troeltsch seine Besprechung gerade nicht zu eine Parodie eines wirkmächtigen Vertreters zeitgenössischen Luthertums werden lässt, sondern das bei von Oettingen Gelesene zum Anlass nimmt, eine sehr nachdenkliche Gegenwartsdiagnose zu stellen. Wie wenig sich Troeltschs und von Oettingens Erwartungen an die Theologie auf Gemeinsamkeiten berufen könnten, kommt auch darin zum Ausdruck, dass Troeltsch über die Materialdogmatik von Oettingens nichts zu sagen weiß, als diese in ihren Hauptgedanken wiederzugeben: „Zu diskutieren ist über eine solche Theorie 519 nicht.“ Auch die Beobachtung, dass „alles, was eine historisch-kritische Arbeit chung“ trägt, erschien 1905 wiederum in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“: Ernst Troeltsch: [Rez.] Alexander von Oettingen: Lutherische Dogmatik, 2. Band: System der christlichen Heilswahrheit, 2. Theil: Die Heilsverwirklichung, München 1902, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 167 (1905), S. 685–692, jetzt in: KGA 4, S. 418–427. Troeltsch lässt den positionellen Hiat, der sich zwischen von Oettingen und ihm auftut, auch in dieser Rezension sehr sichtbar werden, jedoch ohne damit seinerseits einer religiösen Übergriffigkeit verfallen zu wollen: „Man muß sich da gegenseitig nach seiner Façon selig werden lassen, was bei einem so liebenswürdigen und toleranten Mann, wie der Verfasser ist, ja auch gar nicht schwer fällt.“ (S. 426) Dennoch bedient sich Troeltsch sehr illustrer Bilder, um dem Leser die von ihm empfundene Abständigkeit des von Oetting’schen Programms vorzuführen: „Der Besitz der modernen gläubig-theologischen Methode ist gleichsam die schützende Arche, in die er den Konfessionalismus gerettet hat und in der er ruhig auf den Wassern der modernen Sündflut schaukelt, die Thüre hinter sich schließend, aber durch die Fenster nach den Stätten auslugend, wo die Wasser sich verlaufen haben könnten. Er hat eine Wolke von Zeugen mit in seine Arche aufgenommen, eine Unzahl von Exemplaren moderngläubiger Litteratur, und in dieser Gemeinschaft fühlt er sich stark genug, die bösen Zeiten zu überdauern.“ (S. 420) Es folgt eine mehrseitige Wiedergabe der Hauptgedanken des Buches. Diese bewegen sich fast gänzlich in den Bahnen der traditionellen lutherischen Lehre, „neulutherische“ (ebd.) Elemente macht Troeltsch am „vorsichtigen Anschluß an die [. . .] Lehre von der Kenose“ fest, um diese dann seinen größtenteils nicht-theologischen Lesern zu erläutern. Von Jungfrauengeburt bis Himmelfahrt, von „den zwei Naturen und ihrer Personeneinheit“ (ebd.) bis zur „stellvertretende[n] Genugtuung“ (S. 421) wird ohne neuprotestantische Umbruchsregungen die Christologie und Soteriologie entfaltet. Troeltsch anerkennt „die feineren Nerven der modernen Zeit“ (S. 422), die von Oettingen immerhin davon abhielten, das „physische Strafleiden“ (S. 421 f.) in das Zentrum zu rücken, obgleich „die krasse Straflehre [. . .] auch bei ihm wie bei vielen modernen Lutheranern verinnerlicht“ (S. 421) sei. Der Glaube sei das „innere Wunder der Gnade, aber auch dieses gebunden an objektive Träger [. . .].“ (S. 422 f.) Troeltschs Charakterisierung des altprotestantischen Luthertums begegnet im Kern bereits hier in der Beschreibung der Dogmatik von Oettingens: „So wird hier die lutherische Fortsetzung des katholischen Gnaden-, Kirchen- und Sakramentsbegriffes gegen täuferische Schwärmerei und reformierten Spiritualismus in alter Weise auseinandergesetzt.“ (S. 423) Obgleich Troeltsch auch die Eschatologie von Oettingens ausführlich zur Darstellung bringt, entbehren seine Äußerungen nicht einer ironischen Zuspitzung: „Darauf folgt die Wiederkunft Christi und das tausendjährige Reich, bei dem aber nur die ‚Thatsache einer gesegneten Endperiode der kirchlichen Entwicklung auf Erden‘ zu behaupten ist; alles andere ist unsicher.“ (S. 425, Hervorhebung von Verf.) 519 Ebd., S. 426.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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von zwei Jahrhunderten geleistet hat, [. . .] wieder ausgefegt“ sei, spricht für sich. Und doch ist damit die tieferliegende Schicht der Vorbehalte Troeltschs gegen eine solche Dogmatik noch nicht erfasst. In seinem die Rezension abschließenden Abschnitt legt er die ihn umtreibende Sorge um die moderne Bildung offen. Die Unvermittelbarkeit einer Dogmatik wie der von Oettingens mit der zeitgenössischen Bildung, die er beiden ‚Seiten‘ anlastet, führe im Ergebnis zu einer fatalen Entwicklung für Christentum und Theologie: „Aber eine ernste Seite haben solche Bücher doch, gerade wo sie, wie dieses, durch eine ungeheure Zitatenfülle den Blick auf ein ganzes Meer verwandter Litteratur öffnen. Der größte Teil unserer Bildung ist diesen Dingen fremd bis zur völligen Unkenntnis. Die religiöse Indifferenz oder auch Christentumsfeindschaft unserer Bildung glaubt sich der Kenntnisnahme von solcher Litteratur entschlagen zu dürfen. Sie treibt gerade dadurch aber in Wahrheit einen großen Teil der religiös Interessierten und Suchenden in die Arme solcher 521 Theologie, da sie bei jener kein Verständnis und keine Hilfe finden.“ Troeltschs Sorge kulminiert jedoch darin, dass eine solche ‚Orthodoxisierung‘ der theologischen und religiösen Landschaft Umbrüche in den Bildungsinstitutionen selbst nach sich ziehen würde: „Mit Hilfe demokratischer Mittel werden diese durch überlegene Ablehnung oder kalte Gleichgiltigkeit der Orthodoxie in die Arme getriebenen Massen sich der Bildungsaristokratie fühlbar machen und gläubige Schulen fordern, erst in der Volks- und Mittelschule, dann auch 522 auf den Hochschulen.“ Die abschließende Positionierung Troeltschs verleiht seiner Einschätzung Ausdruck, dass die größten Verlierer einer solchen Konstellation diejenigen wären, die gerade um die Vermittlung des Christentums mit der modernen Kultur und ihrem Bildungskanon rängen. Dass das nicht zuletzt ihn selbst beträfe, ließe sich deutlicher kaum fassen: „Wären wir freigesinnten Theologen nicht die ersten, die die Zeche zu bezahlen haben, so könnte man sagen, es geschieht ihr recht; sie hat es selbst so gewollt und alles gethan um dieses Resultat herbeizuführen. Das Problem mag sehr schwierig sein und schwieriger als wir freien Theologen es oft gedacht haben, aber durch bloße Reden von der bevorstehenden Auflösung des Christentums und absolutes Ignorieren aller 523 Religion wird es sicherlich nicht gelöst.“ Alternativ zu einer solchen Zuspitzung der Besprechungen zu von Oettingens Dogmatik wäre auch die Skizze eines dogmatischen Gegenentwurfes gewesen – 520 521 522 523
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 426 f.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
dass Troeltsch nicht zu dieser Möglichkeit gegriffen hat wird sicher nicht unwesentlich darauf zurückgeführt werden dürfen, dass ihm in einem Forum wie den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ deutlicher daran gelegen war, sein vorgängig jeder materialen Entfaltung gelegenes theologisches Grundinteresse deutlich zu machen: Die Artikulationsbedingungen des christlichen Glaubens unter den Vorzeichen der Moderne sorgsam zu durchdringen und gerade kein Dogmatikverständnis zu präsentieren, das aus dem Neben- bzw. Gegeneinanderstellen verschiedener ‚Lösungen‘ bestünde. Dem Abschied vom Christentum, den Franz Overbeck vollzog, geht Troeltsch 524 in mehreren Besprechungen von dessen Büchern nach. 1903 rezensierte Troeltsch für die „Deutsche Litteraturzeitung“ Overbecks Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (2 1903). Das Werk sei in seiner zweiten Auflage „eine 525 Invektive gegen die Theologen geworden“ . Troeltsch zeigt in seiner Anzeige des Buches keine Ambitionen, Overbecks Haltung, die wissenschaftlich betriebene Theologie setze letztlich seinen eigenen Grund ins Unrecht, zu verteidigen. 526 Er bezeichnet sie vielmehr als den „tiefen Widerspruch seines Lebens“ , die ersten Teile des Buches demgemäß als „rein persönlich, wenn auch freilich ernst 527 und erschütternd genug“ . Aufschlussreich ist Troeltschs abschließendes Votum den Stellenwert des Buches Overbecks betreffend. Er verdeutlicht, dass und warum „die Theologen von heute“ von Overbecks Nekrolog auf das Christentum nicht wirklich angefochten sein werden, „wenn ihnen die nur relative Christ528 lichkeit ihrer heutigen Religion nachgewiesen wird“ : nämlich, „weil sie das 529 Christentum als religiöse Menschen und nicht bloss als Historiker empfinden“ . Dass Troeltsch ein tiefes Zutrauen in die Tragfähigkeit des Christentums zu eigen gewesen ist, wird deutlich durch seine Einschätzung „für die Überwindung dieser Schwierigkeiten von Hause aus auf einem anderen Boden [zu] stehen als 530 Ov.[erbeck]“ – was er wiederum für „die Theologen von heute“ reklamiert. Ein Historismus, der das theologische Denken und mit ihm das Christentum vor „Schwierigkeiten“ stellt, war Troeltsch bekanntlich unausweichlich. Aber der Diagnose Overbecks, dass die moderne historische Methode der Totengräber für
524 Vgl. dazu auch das Kapitel 3.2.2.3 dieser Arbeit. 525 Ernst Troeltsch: [Rez.] Franz Overbeck: Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. 2. Aufl., Leipzig 1903, in: Deutsche Litteraturzeitung 24 (1903), Sp. 2472–2475, jetzt in: KGA 4, S. 292–295, hier S. 293. 526 Ebd. 527 Ebd. 528 Ebd., S. 294. 529 Ebd. 530 Ebd.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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die Theologie oder das Christentum sein würde, hat sich Troeltsch offensichtlich 531 ganz und gar nicht anschließen können. Eine besorgte Grundhaltung Troeltschs offenbart sich auch in einer Besprechung zweier Schriften von Adolf Jülicher und Eberhard Vischer für die „Theologische Literaturzeitung“ aus dem Jahr 1913. Nach einer höchst respektvollen Einführung Jülichers, wird mit dessen rezensierter Schrift „Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät in zeitgeschichtlichem Zusammenhange“ (1913) die Krise der Theologie beschrieben. Der Marburger Neutestamentler Adolf Jülicher hatte die von ihm wahrgenommene Krise seiner Fakultät zum Ausgangspunkt der Schrift genommen. Jülicher beklagt die für ihn nicht 532 nachvollziehbaren Umbesetzungen an der Fakultät , die u. a. zum Ausdruck bringen, dass „an Stelle einer friedlichen Vereinigung verschieden gerichteter Gelehrter ein theologischer Kampfplatz geschaffen werden sollte, auf dem die friedlichen ‚Positiven‘ durch eine schärfere und rücksichtslosere Tonart ersetzt 533 werden sollten“ . Troeltsch wiederum nimmt nun diese ‚Marburger Krise‘ zum Anlass, den Stand der Theologie zu bedenken. Obgleich Troeltsch einräumt, dass ihm als „Nicht-Preußen und der Verhältnisse im einzelnen nicht Kundigen 534 hier Zurückhaltung“ gut anstehe, zeugt der nächste Satz von einer sachlichen Übereinstimmung mit Jülicher: „Daß die Dinge so liegen und daß die freie wissenschaftliche Theologie seit Jahren einen immer schwierigeren Daseinskampf führt und namentlich des Nachwuchses sich beraubt sieht, das ist ja bekannt. Man kann heute niemand zur Habilitation raten, während der positive Nachwuchs mit allen Mitteln gezüchtet und nötigenfalls aus dem Pfarrstande ergänzt 535 wird.“ 531 Dies wird nochmals deutlich in Ernst Troeltsch: [Rez.] Franz Overbeck: Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie, Basel 1919, in: Historische Zeitschrift 122 (1920), S. 279–287, jetzt in: KGA 13, S. 471–482. Troeltsch beurteilt das Buch Overbecks, das von Bernoulli herausgegeben worden war und aus „Gedankenskizzen“ (Editorischer Bericht S. 471) Overbecks bestand, sehr kritisch: Es basiere auf „eine[r] sehr äußerliche[n] Theorie der Geschichte und auf eine[r] nicht minder äußerliche[n] Theorie der Religion“ (S. 479). Overbeck „verhöhnt überall die Theologen, aber bleibt überall in den Fragestellungen der Theologen hängen.“ (S. 480) 532 Die von Jülicher benannten Fälle erstrecken sich von 1892 bis 1912, vgl. Adolf Jülicher: Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät in zeitgeschichtlichem Zusammenhange, Tübingen 1913, S. 1. 533 Ernst Troeltsch: [Rez.] Adolf Jülicher: Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät in zeitgeschichtlichem Zusammenhange, Tübingen 1913; Eberhard Vischer: Die Zukunft der evangelisch-theologischen Fakultäten (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, Band 71), Tübingen 1913, in: Theologische Literaturzeitung 38 (1913), Sp. 401–403, jetzt in: KGA 4, S. 701–708, hier S. 703. 534 Ebd., S. 704. 535 Ebd., S. 704 f.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
Diese Krise sei jedoch nicht eine allein innertheologische, sie werde darüber hinaus auch vor dem Hintergrund der politischen Parteien unglücklich dyna536 misiert, die Theologie werde geradezu „von rechts und links her zerrieben“ . Troeltsch betont neben der von Jülicher angeführten Kritik gegen die Verstrickung der preußischen Kirchenleitung in ihrer „‚doppelten Abhängigkeit von 537 dem positiven Klüngel und der konservativen Partei‘“ auch „den Einfluß der politischen Linken auf unsere Frage, der einer wissenschaftlichen Theologie 538 ebenso ungünstig ist wie der der Konservativen.“ Denn die politische Linke habe hinsichtlich der theologischen Fakultäten „ihre Beseitigung überhaupt zum 539 offiziellen oder stillschweigenden Programm gemacht“ . Die grundsätzliche Theologiefeindlichkeit des linkspolitischen Spektrums und der Argwohn des konservativen Flügels gegenüber der liberalen Theologie wiederum führten zu einer Stärkung der ‚Positiven‘, was Troeltsch einerseits zu einer klaren Parteinahme und andererseits zu einer Warnung bewegt: „Der Sieg der Positiven über 540 uns könnte leicht zum Pyrrhussiege werden.“ Troeltsch nutzt die Rezension jedoch nicht zu einem Generalangriff auf die ‚positive‘ Fraktion, vielmehr präzisiert er seine Vorbehalte. Es sei die „Gewaltsamkeit“ der Strategien, „nicht 541 das ‚Positive‘ an sich“ , was ihn abstoße. Er beklagt vor allem die zu wenig auf Qualität ausgerichtete Nachwuchspolitik und strategische Kurzsichtigkeit. Diese Rezension lässt Troeltschs aufrichtige Sorge um die universitäre Theologie erkennen. Unmittelbar nach dem Erscheinen der Rezension Troeltschs entwickelte sich – von Jülicher ausgehend – ein kurzer Briefwechsel zwischen Jülicher und ihm, der das in der Rezension Verhandelte zum Thema machte. Troeltsch schrieb am 30. Juni 1913 an Jülicher: „Daß ich Ihnen zur Seite trat war ja nur selbstverständlich. Ausrichten werden wir freilich nichts [. . .]. Aber man muß 542 einmal die Dinge beim Namen nennen.“ Gegenüber dem in derselben Rezension verhandelten Eberhard Vischer kommt das im Theologiestudium curricular zu verankernde „Praktische“ ins 536 Ebd., S. 706. 537 Das Zitat findet sich bei Adolf Jülicher: Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät in zeitgeschichtlichem Zusammenhange, Tübingen 1913, S. 48. Troeltsch gibt die von mir angegebene Passage als wörtliches Zitat an, es gibt jedoch kleinere Abweichungen, vgl. dazu bereits die editorische Arbeit an der Rezension, S. 705 (Anm. 14). 538 Ebd., S. 706. 539 Ebd. 540 Ebd. 541 Ebd. 542 Der Briefausschnitt des Briefes, der sich im Nachlass Jülichers in der Marburger Universitätsbibliothek befindet, ist zitiert nach Editorischer Bericht zur Rezension, in: KGA 4, S. 701. Dort finden sich auch alle weiteren Informationen zum erwähnten Briefwechsel.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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Spiel. Der Baseler Ordinarius Vischer hatte in seiner Schrift „Die Zukunft der evangelisch-theologischen Fakultäten“ (1913) die Ambivalenzen einer rein theoretisch ausgerichteten Theologie aufzuzeigen versucht. Troeltsch geht mit den Ergebnissen Vischers differenziert um. Er fordert das ‚Praktische‘ an den Universitäten selbst zu platzieren, allerdings mit einer dezidiert an der modernen Gesellschaft ausgerichteten Fassung dieses „Praktischen“: „Das ‚Praktische‘, dessen wir bedürfen, liegt vor allem in der Kenntnis des heutigen realen Le543 bens, nicht in Katechetik und Homiletik u. ä.“ – was für gute Katechetik und Homiletik freilich Grundlage ist, womit jedoch zunächst einmal schlichteren 544 Theorie-Praxis-Paradigmen der Riegel gewollt vorgeschoben sein dürfte. 3.2.2.2 „Erlebnis“, „Erfahrung“ und „Wirklichkeiten des religiösen Lebens“ Die thematisch an ‚Erlebnis‘ und ‚Erfahrung‘ gebundenen Debatten werden von Troeltsch auffallend oft – jedoch nicht ausschließlich – im Kontext anti(neu)kantianischer sowie bestimmter antierfahrungstheologischer Rezensionen geführt. Die damit verbundenen Anliegen umfassen Rezensionen aus breiter Zeitspanne – hier dargestellt anhand von Besprechungen von 1894 bis 1918. Ein geradliniges, strikt an den Begriffen der ‚Erfahrung‘ bzw. des ‚Erlebens‘ hängendes Programm Troeltschs ist zunächst nicht festzumachen. Trägt man einige seiner Äußerungen aus verschiedensten Besprechungen zusammen, ergibt sich ein scheinbar disparates Bild: Er beklagt „diese Erfahrungstheologen von 545 heute“ , bezeichnet „die innere Erfahrung“ als „Pandora-Büchse der heutigen 543 Ebd., S. 708. 544 Troeltschs Wahrnehmung des Protestantismus erstreckt sich bis zur Rolle der EvangelischTheologischen Fakultäten im wissenschaftspolitischen bzw. gesamtuniversitären Kontext: Der die beiden christlichen Theologien betreffenden Analyse Theobald Zieglers schließt sich Troeltsch an: Ernst Troeltsch: [Rez.] Theobald Ziegler: Über Universitäten und Universitätsstudium. Sechs Vorträge (Aus Natur und Geisteswelt, Band 411), Leipzig 1913, in: Theologische Literaturzeitung 39 (1914), Sp. 673 f., jetzt in: KGA 4, S. 809–811. Ziegler hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die protestantischen Fakultäten eine Art dämpfende Funktion zugunsten der anderen Fakultäten einnähmen, was die katholische Theologie angehe. Denn die protestantischen Fakultäten hülfen großteilig zur Abwehr der antimodernistisch verpflichteten katholischen Angriffe auf die modernen Wissenschaftsparadigmen, indem sie „die ärgsten Stöße des Zwanges und der Reaktion gegen die freie Wissenschaft auffangen“ (S. 810). Namentlich wird dieses Verdienst freilich den liberal ausgerichteten protestantischen Fakultäten zugeschrieben. Troeltsch stimmt dieser Analyse zu, macht jedoch gleichzeitig darauf aufmerksam, dass diese Situation „freilich die konfessionelle und soziale Zerklüftung unseres Volkes besorgniserregend“ (S. 811) zu Tage führe. 545 Ernst Troeltsch: [Rez.] Gerhard Heinzelmann: Die erkenntnistheoretische Begründung der Religion. Ein Beitrag zur religionsphilosophischen Arbeit der gegenwärtigen Theologie, Basel 1915, in: Theologische Literaturzeitung 42 (1917), Sp. 148–149, jetzt in: KGA 13, S. 255–258, hier S. 256.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
546
Theologie“ , weist jedoch gleichzeitig gänzlich unpolemisch darauf hin, dass beispielweise „die Erfahrung [. . .] bei ihm [Fichte, MB] eine sehr viel größere Rol547 le, als er selber sich bewußt war“ , gespielt habe, zeigt sich überaus engagiert 548 und involviert bei der Rekonstruktion unterschiedlicher Erfahrungstheorien , lässt den Erfahrungs- bzw. Erlebnisbegriff bisweilen auch gänzlich unkommentiert und greift diesen sachlich-nüchtern und ausführlich in seinen Rekonstruk549 tionen der rezensierten Werke auf oder eignet sich den Erfahrungsbegriff in eigenen religionstheoretischen Positionierungen sogar explizit an, wenn er be550 hauptet, die Religion sei eine „Erfahrung“ der „übersinnlichen Welt“ . Dieser Befund wirft verschiedene Fragen auf: Zunächst ist grundsätzlich zu klären, ob und wenn ja welche begrifflichen Distinktionen bzw. Nuancierungen 551 (zwischen Erlebnis und Erfahrung oder auch innerhalb der Begriffe selbst ) Troeltsch vornimmt. Des weiteren ist zu ermitteln, ob der oben angezeigte disparate Befund schlicht für wechselhafte und uneinheitliche Interessen Troeltschs steht, oder ob sich aus einer genaueren Analyse nicht möglicherweise ein einheitlicheres Programm erheben lässt, als zunächst erwartet. In der ersten von Troeltsch überhaupt verfassten und 1894 in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ publizierten Buchbesprechung, seiner Rezension zu Lipsius’ „Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik“ (3 1893), beschreibt Troeltsch die allgemeine Gemengelage der evangelischen Theologie als 552 durch „Reorganisationsversuche“ geprägt, die sich bedauerlicherweise jedoch
546 Ernst Troeltsch: [Rez.] Erich Schaeder: Religion und Vernunft. Die religionsphilosophische Hauptfrage der Gegenwart (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, 21. Jahrgang, Heft 1), Gütersloh 1917, in: Theologische Literaturzeitung 43 (1918), Sp. 11–12, jetzt in: KGA 13, S. 358–360, hier S. 360. 547 Ernst Troeltsch: Eine Kulturphilosophie des bürgerlichen Liberalismus, in: Preußische Jahrbücher 165 (1916), S. 353–377, jetzt in: KGA 13, S. 137–166, hier S. 141. 548 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Max Frischeisen-Köhler: Wissenschaft und Wirklichkeit (Wissenschaft und Hypothese, Band 15), Leipzig 1912, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), Sp. 545–548, jetzt in: KGA 13, S. 222–227. 549 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] August Dorner: Die Metaphysik des Christentums [1913], 1917, KGA 13, S. 247–251, bes. S. 249 f. 550 Ernst Troeltsch: [Rez.] Richard Adelbert Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 3. bedeutend umgearbeitete Aufl., Braunschweig 1893, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 156 (1894), S. 841–854, jetzt in: KGA 2, S. 31–52, hier S. 44. 551 Vgl. hierzu grundlegend: Friedrich Kambartel: [Art.] Erfahrung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel 1972, Sp. 609–617; Konrad Cramer: [Art.] Erleben, Erlebnis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, Basel 1972, Sp. 702–711. 552 Ernst Troeltsch: [Rez.] Richard Adelbert Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik (wie Anm. 550), S. 32.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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bisher im Modus von „Compromissen zwischen einem dogmatischen Bibelglau553 ben und einer dogmatischen Naturwissenschaft“ entwickelten. Die von Troeltsch im Fortgang skizzierte Gruppe der Kant und Schleiermacher nachfolgenden Theologen sei in der Gegenwart durch „zwei charakteristisch verschiedene, aber durch die gemeinsame Grundlage eng verbundene bedeutsa554 me Ausgestaltungen“ vertreten, nämlich Albrecht Ritschl und eben Lipsius. 555 Es sei dieser „Theologengruppe“ eigentümlich, den (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnisbereich auf „die phänomenale Erfahrung“ zu begrenzen und gleichzeitig die „Selbständigkeit der eigentümlich voluntaristisch gearteten idea556 len, insbesondere der religiösen Erkenntnis“ zu vertreten und „von dieser Grundlage aus durch eine geschichtsphilosophische Abstufung der Religionen sich den Weg zur Darstellung der christlichen als der vollendeten Religion zu 557 bahnen“ . Troeltsch nutzt nun seine erste Rezension dazu, durch die Besprechung des Lipsius’schen Werkes (insbesondere durch Herausarbeitung der veränderten Anliegen der dritten Auflage), gleichsam eine Anamnese der akademischen Theologie zu geben und deutet die „Gebrechen des Autors als solche der Theologie 558 überhaupt“ . Besonderes Augenmerk richtet er auf die Plausibilität des Zusammenspiels von „Religionsphilosophie und Dogmatik, geschichtlicher Erforschung 559 der Religion und Bestimmung ihres Wahrheitsgehaltes“ . Hinsichtlich des von Lipsius in Anschlag gebrachten Religionsbegriffs pocht Troeltsch auf die in der religiösen „Erfahrung“ enthaltene und in der Religionsphilosophie einzuholende nicht der eigenen Konstruktivität verdankten Genese von Religiosität, oder anders: die Kontingenz religiösen Erlebens. Er wendet 560 sich kritisch gegen eine „Postulaten- und Bedürfnistheologie“ , mit der Begründung, „daß auch mit dieser moralistischen Ontologie nur ein aus notwendigen Bedürfnissen notwendig hervorgehendes Postulat der Gottesidee, nicht das alle Religion erst erzeugende und alle idealen Bedürfnisse erst erregende Wirken Gottes erreicht ist. Auf dem Wege der Postulate kommt man eben immer nur zur Gottesidee als einer vom Menschen gezogenen Folgerung, aber nicht zu Gott als dem Urheber der Religion. Das letztere kann wieder nur als Mysterium behauptet
553 554 555 556 557 558 559 560
Ebd. Ebd., S. 33. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Ebd. Ebd., S. 52. Ebd., S. 43. Ebd., S. 45.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
werden, d. h. aber nichts anderes als die Selbstaufhebung der ganzen Postu561 latentheorie.“ Letztlich an einem theistischen Grundgedanken haftend, hält Troeltsch demgegenüber fest: „In Wahrheit aber steht und fällt die Religion mit der Gewißheit darüber, daß sie sei, was sie sein will, eine durch Wechselwirkung mit der übersinnlichen Welt entstandene, wenn auch mannigfach bedingte Er562 fahrung von dieser.“ Für die Aufgaben der Dogmatik und Religionsphilosophie im Sinne Troeltschs heißt dies, sie müssten eine theistische Grundausrichtung zu wahren im Stande sein, ohne hinter die Ernsthaftigkeit „geschichtlicher Erforschung der Religion“ zurückzufallen. Dass dies nicht einfach eine Repristination supranaturalistischer Muster meint, liegt in der Bemerkung Troeltschs von der „Gewißheit“ der Religion, „daß sie sei, was sie sein will“. Es geht Troeltsch nicht um die Reetablierung einer verobjektivierend anempfundenen Gotteslehre, sondern vielmehr um etwas in zweierlei Hinsicht Verschiedenes: Erstens um die, auch von der theologischen Wissenschaft letztlich nicht erreichbare, jedoch von ihr zu bearbeitende Geltungsperspektive („Gewißheit“) von Religiosität. Religiöser Selbstdeutung („was sie sein will“) haftet für Troeltsch stets eine Eigendynamik an, die allen Konstruktions- bzw. Reflexionsversuchen widerständig bleibt. Zweitens – und eng damit verbunden – ist Troeltsch vehement um die intellektuelle Redlichkeit dogmatischer Arbeit bemüht, die in dem von Troeltsch aufgewiesenen Problemzuschnitt jedoch gerade nicht dadurch erreicht werden kann, dieser religiösen Eigendynamik aufgrund ihrer Sperrigkeit religionstheoretisch nicht Rechnung zu tragen und stattdessen eine an Vernunftnotwendigkeiten o. Ä. orientierte religionstheoretische Absicherung zu suchen. Wie folgenschwer ein solcher theologischer ‚Fehlgriff‘ in den Augen Troeltschs wäre, verdeutlicht er unmissverständlich: „In Wahrheit aber steht und fällt die Religion mit der 563 Gewißheit darüber, daß sie sei, was sie sein will [. . .].“ Troeltsch geht jedoch noch einen Schritt weiter und bemüht sich in Abgrenzung zu einem rein an Kant anschließenden Religionsverständnis um eine erste Klärung dessen, was denn die Religion sein will, nämlich „eine durch Wechselwirkung mit der übersinnlichen Welt entstandene, wenn auch mannig564 fach bedingte Erfahrung von dieser“ . So knapp und klärungsbedürftig dieser Satz sein mag, so kommt in ihm doch zur Geltung, dass Troeltsch einerseits an einer strengstens antimaterialistisch gefassten Religionstheorie interessiert ist und dass er diese andererseits in ihren Bedingtheiten zu explizieren sucht. Die 561 562 563 564
Ebd., S. 46. Ebd., S. 43 f. Ebd. Hervorhebung von Verf. Ebd., S. 44.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
133
Struktur der Religion, nämlich vorgestellt als der übersinnlichen Welt verdankt und als „mannigfach bedingte Erfahrung“, wird nicht als spannungsreicher Gegensatz aufgebaut. Troeltsch deutet vielmehr die unproblematische Gleichzeitigkeit beider Momente an. Auch die Termini „Wechselwirkung“ und „Erfahrung“ zielen beide auf das religionstheoretische Ineinander von Unbedingtheit und Bedingtheit, das zwar als Struktur verallgemeinert ausgesagt werden kann, dessen Wirklichkeit und somit auch Geltungsmoment jedoch immer nur am Besonderen haftet. Argumentationsfiguren solchen oder ähnlichen Zuschnitts begegnen in Troeltschs Rezensionen in weite Zeitspannen übergreifender Kontinuität: Knapp 25 Jahre nach dieser seiner ersten Rezension, nämlich 1918, besprach Troeltsch mit Hermann Cohen einen weiteren – nun jedoch philosophischen – Versuch einer Umsetzung Kantischer Religionstheorie, den er mit ähnlicher, nun noch deutlicherer theistischer Orientierung ablehnt: „Die Religion kann [in der Fassung Cohens, MB] nur ein Verhältnis zu denknotwendigen, autonom erzeugten Ideen sein. Damit ist jede Metaphysik, jede Mystik, jede reale Gemeinschaft mit 565 Gott, jeder Gedanke an Substanzialität ausgeschlossen.“ Hier findet sich gleichsam handgreiflich dokumentiert, dass für Troeltsch das religiöse Subjekt anders zu fassen sein muss denn als denkender Konstrukteur seines Gottes. Mag man zwar mit einem solchen Anschluss an Kant eine vergleichsweise ‚unverdächtige‘ Theologie forcieren und dem interdisziplinären Miteinander von Philosophie und Theologie einen gemeinsamen Boden geschaffen haben, ist für die Theologie an dieser Stelle für Troeltsch noch nicht viel gewonnen – vielmehr bereitet die Plausibilisierung von Religion in Form eines Denknotwendigkeiten geschuldeten Gottesgedankens einer tiefergründigen Erfassung von Religiosität weitreichende Probleme, wenn sie, wie von Troeltsch gefordert, theistisch zugeschnitten sein soll. Dies wird auch in einer Rezension von 1915 deutlich, die bereits zu diesem Zeitpunkt ein Werk von Cohen zum Gegenstand hat. Nochmalig moniert Troeltsch ein am Paradigma Kants ausgerichtetes Religionsverständnis: „Meinerseits kann ich diesen Ausbau der Kantischen Religionsphilosophie zum formalen ethisch566 theistischen Rationalismus nicht für richtig halten.“ Allerdings untermauert er diese Kritik nun mit einer etwas anders gewendeten Begründung. Hatte die Rezension von 1918 deutlich werden lassen, welche inhaltlichen Anliegen („reale 565 Ernst Troeltsch: [Rez.] Hermann Cohen: Der Begriff der Religion im System der Philosophie (wie Anm. 245), S. 368. 566 Ernst Troeltsch: [Rez.] Hermann Cohen: Die religiösen Bewegungen der Gegenwart. Ein Vortrag (Schriften hrsg. von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums), Leipzig 1914, in: Theologische Literaturzeitung 40 (1915), Sp. 383–385, jetzt in: KGA 13, S. 39–42, hier S. 42.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
Gemeinschaft mit Gott, jeder Gedanke an Substanzialität“) Troeltsch zu einer Ablehnung (neu-) kantianischer Gotteslehre führen, kann die Rezension von 1915 zur Klärung der Frage dienen, welcher Heuristik diese inhaltlichen Einwände entnommen sind: „Ich finde da die historisch-psychologischen Wirklichkeiten des religiösen Lebens von diesem Rationalismus nicht richtig verstanden und 567 eingeschätzt [. . .].“ Offenkundig geht es Troeltsch an dieser Stelle stärker um eine gewisse Dynamik der Religion, die im Konzept Cohens keine Berücksichtigung findet und weniger um ein religiös wie theologisch motiviertes Festhalten am Theismus. Schließlich kann er Cohens Entwurf an dieser Stelle als „formalen 568 ethisch-theistischen Rationalismus“ bezeichnen. Vielmehr muss es also um einen bestimmten Zuschnitt dieses Theismus gehen, den Troeltsch über das Motiv der „historisch-psychologischen Wirklichkeiten des religiösen Lebens“ andeutet. Troeltsch bringt deutlich zum Ausdruck, dass jede Form rationalistischer Religionserklärung dem religiösen Erleben selbst äußerlich bleibt, wenn er die569 ses von jener als „nicht richtig verstanden und eingeschätzt“ beurteilt. So liegt es nahe, dass weder die Behauptung vernünftiger Erschließbarkeit noch der Versuch, die religiöse Wirklichkeit im rein Formalen aufgehen lassen zu wollen, Troeltschs Anliegen treffen. Eine weitere, von erkenntnistheoretischen Konzentrationen rationalistischen Zuschnitts fortweisende Besprechung liegt vor in der Rezension von Urban Fleischs „Die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen der dogmatischen Systeme von A. E. Biedermann und R. A. Lipsius kritisch dargestellt,“ welches 1901 erschien und 1903 von Troeltsch rezensiert wurde. Das Werk hat seinerseits den älteren Lipsius zum Gegenstand. Die Rezension erhellt die von Troeltsch favorisierte Verhältnisbestimmung erkenntnistheoretischer Fragen in Philosophie und Theologie im Modus der Kritik an einem Urban Fleisch, Biedermann und Lipsius gleichermaßen attestierten misslichen Zuschnitt nämlicher Fragestellung. Troeltsch beharrt auf der Notwendigkeit, 570 „Psychologie und Erkenntnistheorie der Religion selbst im engeren Sinne“ zu betreiben, möchte die Theologie jedoch von dem „Problem der allgemeinen 571 Erkenntnistheorie und d[em] damit unmittelbar gegebene[n] der Metaphysik“ entlasten und dies den „Fachphilosophen, die darin doch mehr Schulung haben 567 Ebd. 568 Ebd. Hervorhebung von Verf. 569 Ebd. 570 Ernst Troeltsch: [Rez.] Urban Fleisch: Die erkenntnistheoretischen und metaphysischen Grundlagen der dogmatischen Systeme von A. E. Biedermann und R. A. Lipsius kritisch dargestellt, Berlin 1901, in: Deutsche Litteraturzeitung 24 (1903), Sp. 1213 f., jetzt in: KGA 4, S. 285–287, hier S. 286. 571 Ebd.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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572
als wir Theologen“ überlassen. Die Bearbeitung der Frage, ob die „Kirchen573 lehre mit der spekulativen Gotteserkenntnis“ zur Deckung gebracht werden könne, geht an Troeltschs Interesse einer Verhältnisbestimmung oder Verortung von ‚Religion‘ in der philosophischen und theologischen Gemengelage vorbei. So überrascht es wenig, dass Troeltsch Hegel in dieser Rezension nicht nennt, sondern zur problemgeschichtlichen Klärung der eigentlich theologischen Frage, 574 also „Psychologie und Erkenntnistheorie der Religion selbst im engeren Sinne“ andere empfiehlt, nämlich „Hamann, Herder und Jacobi [. . .]. Denn bei diesen liegen die Ausgangspunkte fast aller wichtigen modernen Gedanken über diesen Gegenstand, wenn man von den ja hinreichend oft behandelten Lehren Kants 575 und Schleiermachers absieht.“ Die hier von Troeltsch in Anschlag gebrachte Forderung, sich mit religionspsychologischen Fragen im Engeren zu befassen, zielt wie bereits in den vorherigen zur Darstellung gebrachten Kritiken darauf, Religionstheorie nicht am Individuum ‚vorbei‘ betreiben zu können. Sowohl die Nennung der an dieser Stelle geeigneten Gewährsmänner als auch die Ablehnung einer Problemfassung, die eine Stimmigkeit von „Kirchenlehre und der 576 spekulativen Gotteserkenntnis“ als Lösung anerkennen könnte, lassen erkennen, dass eine Plausibilisierung und Bearbeitung religiöser Geltungsansprüche nicht länger im rationalistischen Zuschnitt durchzuführen ist, und dass das theologische Kerngeschäft mit einer solchen Aufgabenbeschreibung gerade nicht erledigt wäre – was in der Lipsius-Rezension von Troeltsch im antirationalistisch und antiformalistisch gemeinten Begriff der ‚Erfahrung‘ seinen Ausdruck gefunden hatte. Vernichtende Kritik gegen einen bestimmten – hiervon deutlich zu unterscheidenden – Gebrauch des Erlebnisbegriffs findet sich in Troeltschs Auseinandersetzung mit folgendem theologischen Werk. 1915 besprach Troeltsch die kurze Schrift „Die Geschichtlichkeit Jesu Christi und der christliche Glaube“ (erschienen 1913) von Martin Peisker, der seit 1914 das Amt des Direktors 577 des westpreußischen Predigerseminars in Wittenburg bekleidete . Die Ablehnung, die Troeltsch diesem Buch entgegenbringt, findet ihren Ausdruck in einer Mischung aus einer resignierten reinen Wiedergabe des Programms einer 578 „‚Glaubenswissenschaft‘“ und einer polemisch-vernichtenden Darstellung der
572 573 574 575 576 577 578
Ebd. Ebd., S. 285. Ebd., S. 286. Ebd., S. 287. Ebd., S. 285. Vgl. zu Peisker Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung, in: KGA 13, S. 1–27, hier S. 12. Ernst Troeltsch: [Rez.] Martin Peisker: Die Geschichtlichkeit Jesu Christi und der christliche
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Konsequenzen der Gedanken Peiskers. Troeltsch gibt sich nicht einmal die Mühe, ihnen sachlich etwas entgegen zu halten. Dies erübrigt sich durch die düstere Zukunftsvision, in die Troeltsch seine Rezension münden lässt: „Die Trennung von Theologie und Wissenschaft scheint die einzige von den gegenwärtig so 579 viel beredeten Trennungen zu sein, die Aussicht auf Verwirklichung hat.“ Die Fatalität einer solchen Entwicklung liegt auf der Hand. Die theologische Haltung, die eine solche Diastase von Wissenschaft und Theologie in Kauf nehmen würde, wird exemplarisch an der Haltung Peiskers ‚vorgeführt‘. Bei dieser Kritik ist das ‚religiöse Erlebnis‘ zentral, eine Figur, die Troeltsch an dieser Stelle polemisierend aufnimmt: „Denn unter Zugrundelegung des Glaubens an das apostolische Christusbild als mit dem Glauben an Gott identisch und all seine Hauptzüge logisch aus dem Gottesglauben entfaltend, ist man selbstverständlich mitten im biblisch-kirchlichen Dogma, das man in diesem Falle einfach glaubt oder, wie man heute lieber sagt, ‚erlebt‘, ohne seine einstmalige Genesis selbst zum Gegenstand historischer rationaler Erforschung zu machen. [. . .] So kann das Dogma jede Geschichte korrigieren. Freilich würde das jedes Dogma [. . .] können und eben so unwiderleglich sein, wenn man sich 580 einmal entschlossen hat, es unter dem Schutz des ‚Erlebnisses‘ zu bergen.“ Dieser polemisierende Gebrauch des Erlebnisbegriffs wendet sich gleich gegen mehrere theologische Irrwege: Die Flucht vor historischer Arbeit, die Flucht vor der ernsthaften Auseinandersetzung mit ihren Ergebnissen sowie ein gravierend verfehltes Verhältnis von Religion und Theologie, das in der problematischen Identifikation von Dogma und Erlebnis seinen Ausdruck findet. Zunächst moniert Troeltsch den Versuch Peiskers, ‚Dogma‘ und ‚Geschichte‘ einfältig gegeneinander auszuspielen, so dass das Dogma letztlich an der Auseinandersetzung mit der Geschichte keinerlei Interesse findet bzw. grundsätzlich verkannt wird, dass von ‚Dogma‘ unter modernen Bedingungen stets nur unter Berücksichtigung historischer Reflexion gehandelt werden kann. Diese Forderung ist freilich gleichbedeutend mit der permanenten Relativierung von Dogmen, nur ist dies eine Konsequenz, die für Troeltsch gerade die Wissenschaftlichkeit moderner Theologie verbürgt. Dass dieser Zuschnitt theologischer Arbeit keineswegs ein Verlustgeschäft für die Theologie bedeuten muss, findet auch in dieser Rezension einen Nachhall, wenn Troeltsch die Theologie dazu auffordert, die „einstmalige Genesis [des Dogmas, MB] selbst zum Gegenstand historischer Glaube. Eine methodische Studie (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, Band 74), Tübingen 1913, in: Theologische Literaturzeitung 40 (1915), Sp. 89–91, jetzt in: KGA 13, S. 35–38, hier S. 36. 579 Ebd., S. 38. 580 Ebd., S. 36 f.
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rationaler Erforschung zu machen“ – dies wäre schwerlich plausibel, wäre für ihn nicht immer auch ein Mehrwert mit dieser Frage und den ermittelten Antworten verbunden. Eine solche religiöse wie theologische Selbstklärung an der Gewordenheit des Dogmas wird bei einem Konzept wie dem Peiskers jedoch gar nicht erst zur Möglichkeit. Die Polemik gegen die Kategorie des ‚Erlebnisses‘ richtet sich neben dieser Verkennung des Wertes historischer Arbeit gegen eine fundamentale Übergriffigkeit theologischer Interessen auf die Sphäre der Religiosität. Denn wenn Troeltsch Peiskers Dogmatik vorwirft, jegliche Dogmen, die dessen Theologie unmodifiziert zu konservieren wünscht, „unter dem Schutz des ‚Erlebnisses‘ zu bergen“, so heißt das im Umkehrschluss, dass das wahre religiöse „Erlebnis“ freilich erst dort gegeben sein kann, wo es in Deckung mit den entsprechenden Dogmen kommt. Die liberale Unterscheidung von Theologie und Religion, die nicht zuletzt den Schutz der Frömmigkeit vor unzulässigen Inanspruchnahmen durch die Theologie zum Ziel hat, wird in einem solchen Konstrukt freilich eingeebnet bzw. in ihr Gegenteil verkehrt. Schutz erfährt hier nicht länger die unverfügliche Geltungssphäre religiöser ‚Erlebnisse‘ bzw. ‚Erfahrungen‘, sondern es wird das religiöse ‚Erlebnis‘ zur Marionette einer theologischen Setzung, was in der Folge vielmehr zu einer Feststellung denn zu einer Freigabe von Religiosität führt. In ganz ähnlicher Weise begegnet diese Polemik – gegen einen hierzu analogen Einsatz des Erfahrungsbegriffs – in einer 1917 veröffentlichten Rezension eines Werkes des reformierten Neutestamentlers Gerhard Heinzelmann, der 1914 581 auf eine Stiftungsprofessur nach Basel berufen worden war. Dessen Buch „Die erkenntnistheoretische Begründung der Religion“ (1915) begegnet Troeltsch mit freundlichem Unverständnis und durchgängig ironischen Ober- und Untertönen. Troeltsch moniert Folgendes: „Unter dem Titel ‚Erfahrung‘ wird die [. . .] bejahte religiöse Ideenwelt sicher gestellt, als ob sie eine so geschlossene 582 und unzweifelhafte Tatsache bedeute wie der Baum“ , es wird also ähnlich wie gegen Peisker die übergriffige – und noch dazu epistemologisch unterkomplexe – theologisch-dogmatische Inanspruchnahme von ‚Erfahrungen‘ kritisch angegangen. Die ‚Erfahrung‘ als der „modern-positive protestantisch-positive 583 Commonsense“ , so fährt Troeltsch fort, sei in Heinzelmanns Zuschnitt die 581 Vgl. hierzu Ernst Troeltsch: [Rez.] Gerhard Heinzelmann: Die erkenntnistheoretische Begründung der Religion (wie Anm. 545), S. 255. Die Informationen zu Gerhard Heinzelmann sind dem entsprechenden Kommentar des Herausgebers (S. 255) sowie dem beigefügten Biogramm Heinzelmanns (S. 665) entnommen. 582 Ebd., S. 256. 583 Ebd., S. 257.
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Erbin von „Bibel und Inspirationslehre zugleich“, und überdies gleich „sehr viel 584 bequemer“ als diese. Maßstab für das Ingeltungsetzen dogmatischer Bestände ist also gar nicht die Erfahrung, sondern vielmehr „ein gewisser [. . .] Common 585 Sense bestimmter kirchlicher Kreise“ . Die Ablehnung eines solchen Begriffsgebrauchs von Erlebnis bzw. Erfahrung – hier von Troeltsch wechselnd und synonym gebraucht –, wie es bei Peisker und Heinzelmann begegnet, geschieht also vor allem deshalb, weil hiermit eine theologische Gruppe den Erfahrungs-/ Erlebnisbegriff okkupiert, die an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem eigentlichen religiösen Erleben/ Erfahren gerade überhaupt kein Interesse hat, sondern stattdessen dank „Erlebnis“ und „Erfahrung“ mehr oder weniger reflexionsbefreit Theologie treiben möchte. Die späteste an dieser Stelle zu betrachtende Rezension stammt aus dem Jahr 1918. Sie fügt sich in Argumentation und Duktus in die Reihe von Troeltschs Polemik gegen schlechte Erfahrungstheologien. Der konservative Theologe und 586 Cremer-Schüler Erich Schaeder, Ordinarius in Kiel, ab 1918 in Breslau , legte 1917 die Schrift „Religion und Vernunft. Die religionsphilosophische Hauptfrage der Gegenwart“ vor, von Troeltsch als „kleine pastoral-populäre Religionsphi587 losophie“ charakterisiert. Das einzig gute Haar, das Troeltsch an dem Buch lässt, bezieht sich auf „einen richtigen religiösen Instinkt“, der ihm innewohne; ansonsten attestiert er dem Verfasser „größte [. . .] Sorglosigkeit“ sowie „heillose Konfusionen“ und resümiert, „[w]issenschaftlich ist aus dem Heftchen nicht viel zu entnehmen außer dem Eindruck, wie die Probleme der großen Denker 588 für den populären Gebrauch erschreckend abgeflacht werden können [. . .]“ . 589 Schaeder selbst bezeichnet in seinem Buch Troeltsch als seinen „Vorläufer“ – eine Inanspruchnahme, die sich Troeltsch freilich nicht ohne Weiteres zu eigen macht. Auch in dieser Rezension polemisiert Troeltsch gegen Erfahrungsbzw. Erlebnistheologie – wieder ist keine inhaltliche Distinktion beider Begriffe festzustellen – am griffigsten in der Bemerkung zum Ausdruck gebracht, angesichts der Ergebnisse Schaeders es doch bitte mit der Philosophie ganz bleiben zu lassen „und sich mit der ‚Erfahrung‘ [zu] begnügen, die ja alles deckt, was man als ‚erfahren‘ bezeichnen will. Die innere Erfahrung ist nun einmal die Pandora-Büchse der heutigen Theologie. Dann gebe man sich aber auch mit ihr
584 Ebd., S. 256. 585 Ebd. 586 Vgl. zu Erich Schaeder das Biogramm in KGA 13, S. 676. 587 Ernst Troeltsch: [Rez.] Erich Schaeder: Religion und Vernunft (wie Anm. 546), S. 358. 588 Ebd., S. 360. 589 Erich Schaeder: Religion und Vernunft. Die religionsphilosophische Hauptfrage der Gegenwart (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, 21. Jg, 1. Heft), Gütersloh 1917, S. 15.
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zufrieden und versetze die Philosophie überhaupt nicht in Kontribution, auch 590 nicht in so bescheidene.“ Fraglich ist, wie Troeltsch selbst das religiöse Erleben näher bestimmt und in welches Verhältnis er das religiöse ‚Erleben‘ bzw. ‚Erfahren‘ zu den christlichtheologischen Deutungstraditionen setzt. Hinweise hierauf finden sich in einer Rezension von 1901 zu einem Werk des Marburger Philosophen Julius Bergmann. Auch hier wendet sich Troeltsch religionstheoretisch gegen einen Versuch, Religion für rationalistisch erschließbar zu halten. Zwar begrüßt er die Entwicklung, dass nach einer metaphysikfeindlichen Phase der Neukantianismen die Metaphysik wieder an Bedeutung gewinne, dennoch macht er gegenüber dem Konzept Bergmanns religionstheoretische Korrekturen geltend: „Für die Theologen kommt die Gesamttendenz des Werkes in Betracht. Sie zeigt, wie überall aus dem Neukantianismus die Metaphysik in neuer Gestalt wieder ersteht, und wie der Begriff eines absoluten, Zwecke setzenden Bewußtseins als Endbegriff sich einstellen muß [. . .]. Mehr bedürfen wir [. . .] von der Philosophie überhaupt nicht. [. . .] Nur wird Bergmann die religiösen Gedanken vermuthlich für erschlossen halten und die Religion als rationales System der Metaphysik gestalten, während ich in der Religion einen primitiven Erfahrungsinhalt behaupten möchte, der von einer Gruppe von Erfahrungen aus die übrige Wirklichkeit durch Wahrscheinlichkeitsurtheil als dieser Erfahrung entsprechend beurtheilt. Ein solches Wahrscheinlichkeitsurtheil allein kann m. E. die Irrationalitäten der logisch bearbeiteten Erfahrung überwinden und ist daher Glaube und als solcher die Seele der Reli591 gion.“ Auffällig ist zunächst, wie affirmativ Troeltsch sich in dieser Rezension den Erfahrungsbegriff zu eigen macht. Anders als in der Besprechung der Werke von Peisker, Heinzelmann oder Schaeder lässt sich dieses Vorgehen als Strategie der Begriffsbesetzung interpretieren. Damit ist ein vielschichtiges Anliegen verbunden: Die ‚Primitivität‘ des religiösen ‚Erfahrungsinhaltes‘ verdeutlicht die permanente Vorfindlichkeit bzw. grundsätzliche Vorgängigkeit solcher Erfahrungen, die als Beurteilungsmaßstäbe ganz offensichtlich Geltungserfahrungen sind. Dieser „Erfahrungsinhalt“ hat für Troeltsch weitgehende Konsequenzen für den Umgang mit allem sonstigen Welterfahren. Troeltsch wendet sich mit dieser Konzeptualisierung zum einen deutlich gegen rationalistische Abschließbarkeits- bzw. Verfügbarkeitskonzeptionen gegenüber der Religion. Zum anderen wird jedoch auch deutlich, dass Troeltsch den Erfahrungsbegriff gerade nicht gegen denkerische Bearbeitungen der Religion einführt, wenn er von einem „primitiven Erfahrungsinhalt“ in der Religion 590 Ernst Troeltsch: [Rez.] Erich Schaeder: Religion und Vernunft (wie Anm. 546), S. 360. 591 Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Bergmann: Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie (wie Anm. 123), S. 178 f.
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handelt bzw. gleichzeitig mit ihm die Kategorie des Urteils verknüpft. Offensichtlich ist hiermit keine rein empiristische Religionstheorie intendiert. Schlussendlich erhält diese Erfahrung durch ihre Geltungsdimension geradezu eine Schlüsselstellung hinsichtlich einer kongruenten Wirklichkeitsdeutung überhaupt: Denn der so umrissene religiöse Glaube allein vermöge „die Irratio592 nalitäten der logisch bearbeiteten Erfahrung [zu] überwinden“ . Allerdings verwendet Troeltsch den Erfahrungsbegriff auch nicht auf die Religion allein beschränkt. Er geht nicht von einer sauber sezierbaren Gestalt der Religion aus, sondern bettet diese in eine Vielstimmigkeit von Erfahrungen ein. Troeltsch tritt in einer Vielzahl der hier dargestellten Rezensionen unterschiedlichen Instrumentalisierungsphänomenen entgegen, die die Religion entweder als formale Abschlussfigur ihres Systems oder als Mittel zur theologischen Selbstberuhigung benutzen: Grundsätzlich wehrt sich Troeltsch einerseits gegen einen theologischen Gebrauch des Erlebnis- bzw. Erfahrungsbegriffs, wenn dieser zum Zwecke zweifelhafter Dogmenkonservierung zum Einsatz gebracht wird. Andererseits macht er sich jedoch gerade den Erfahrungs- bzw. Erlebnisbegriff da zu eigen, wo rationalistische Übergriffe auf die Religion eine Knebelung ihrer Eigendynamik zur Folge hätten. Beiden Vorgehensweisen ist gemein, dass Troeltsch sich in ihnen gegen zeitgenössische religionsbezogene Theoriefiguren zur Wehr setzt, die die Religion letztlich zu einer Berührungslosigkeit mit komplexeren Reflexionsinteressen verdammen. Dies entspricht auch seinem Urteil in einer Rezension von 1903, in der er dafür plädiert, eine „Fassung der Religion als eines irrationalen praktischreligiösen Erlebnißes“ sowie korrespondierende „begrifflich unzugängliche Erfahrungswahrheiten“ im theologischen Sprachgebrauch nur so verankern, dass damit keine Unempfindlichkeit der Religion „zur modernen Wissenschaft und praktischen Lebenshaltung“ suggeriert würde, da der Begriff sonst lediglich 593 „Palliativ“ für die moderne Krise sei. Gerade dieses Interesse an komplexerer, mit allen modernen Instrumentarien zu führender Reflexion der Religion stellt also das Zentrum der Theologie Troeltschs dar und wird von ihm in den dargestellten Rezensionen – je nach Debattenkontext und je nach ‚Berichtigungsinteresse‘ – metaphysisch, empirisch, mit theistischer Zuspitzung, antiformal, mal mehr auf die Widerständigkeit der 592 Ebd., S. 179. 593 Ernst Troeltsch: [Rez.] Otto Dreyer: Zur undogmatischen Glaubenslehre. Vorträge und Abhandlungen, Berlin 1901, in: Theologische Literaturzeitung 28 (1903), Sp. 274 f., jetzt in: KGA 4, S. 274–276, hier S. 275.
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Religion gegenüber wissenschaftlicher Einholung, mal mehr auf die wissen594 schaftliche Verpflichtung zu ihrer vernünftigen Durchdringung hin artikuliert. Natürlich stellen all diese strategischen Mittel immer auch wirkliche programmatische Interessen Troeltschs dar. Diese unterschiedlichen Nuancierungen einer doch recht konsistenten Agenda lassen sich an der Art und Weise des Umgangs mit den Begriffen ‚Erfahrung‘ und ‚Erlebnis‘ nachvollziehen, die, rein für sich betrachtet, noch nicht recht Aufschluss geben über das Programm Troeltschs – erst durch den unterschiedlichen Einsatz in den verschiedenen wissenschaftlichen Diskussionen lässt sich ihr Profil ermitteln. Theologiepolitisch stellen diese Rezensionen Versuche Troeltschs dar, der Theologie eine ihrer ureigenen und anspruchsvollsten Aufgaben in der Moderne ins Stammbuch zu schreiben: nämlich so religionstheoretisch tätig zu werden, dass weder schwärmerische ‚Sondergruppensemantik‘ noch den ganz eigenartigen religiösen Geltungscharakter unterbelichtende Ergebnisse am Ende theologischer Arbeit stehen. 3.2.2.3 Jesus Die von Troeltsch zum Themenkomplex ‚Jesus‘ verfassten Rezensionen kreisen sämtlich – mehr oder weniger explizit – um die zentrale Herausforderung, die historische Jesus-Forschung in ein produktives Verhältnis zur dogmatischen Arbeit zu setzen. Dabei insistiert Troeltsch kompromisslos auf der unbedingten Notwendigkeit der historischen Arbeit für die Theologie und sucht nach Möglichkeiten, die Vermittlung von historischer Jesusforschung und christlichem Glauben sowohl in theologisch wie auch religiös befriedigende Bahnen zu lenken. 594 Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die – leider nicht sehr ausführlichen – Bemerkungen Troeltschs zu den Arbeiten des Religionspsychologen William James, dem gegenüber er verschiedene Korrekturbedürfnisse andeutet. Seine Besprechung von James’ „The varieties of religious experience. A study in human nature“ für die „Deutsche Literaturzeitung“ beschließt Troeltsch mit dem Interesse an einem komplexeren Religionsverständnis: „Auf eine Kritik, zu der reichlicher Anlaß vorhanden wäre, muß ich aus Raumgründen verzichten. Sie würde psychologisch vor allem die Unterschätzung des Gedankens, des Willens und des Sittlichen in der Religion sowie die Vernachlässigung der Psychologie der Gemeinschaftsreligion zu bemerken haben. Erkenntnistheoretisch würde sie alle Grundprobleme des Rationalismus und Irrationalismus, des Allgemein-Begrifflichen und des Einzeln-Tatsächlichen, zu erwägen haben.“ Ernst Troeltsch: [Rez.] William James: The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature, being the Gifford Lectures on Natural Religion delivered at Edinburgh in 1901–1902, London 1902, in: Deutsche Literaturzeitung 25 (1904), Sp. 3021–3027, jetzt in: KGA 4, S. 364–371, hier S. 371. Einem früheren Werk von James macht Troeltsch hingegen im Theologischen Jahresbericht, 1897, in: KGA 2, S. 213–309, S. 266, den Vorwurf, den „lebendigen Grund“ des Glaubens nicht erfasst zu haben.
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So sieht er das von Strauß im „Leben Jesu“ Geleistete bei aller von ihm geübten Kritik als aufrichtige Durchführung der historischen Methode, während für ihn „Schleiermacher’s Construction des erlösenden Urbildes der Frömmigkeit 595 den historischen Stoff und seine Auffassung von Hause aus vergewaltigt“ . Diese Würdigung Strauß’ gegenüber Schleiermacher begegnet 1901 sowohl in der soeben zitierten Besprechung des Buches „David Friedrich Strauss“ (1899) von Samuel Eck für die „Theologische Literaturzeitung“ wie auch im selben Jahr 596 in der Rezension zu Otto Kirns „Glaube und Geschichte“ (1900) , die in der „Historischen Zeitschrift“ erschien. Dort wirft er dem Autor vor, es sich doch zu leicht zu machen, das „‚Leben Jesu‘ ein mehr philosophisches als historisches 597 Buch zu nennen“, was er als „eine sehr billige Überlegenheit“ wertet. In der Besprechung des Buches von Eck markiert er zwar als problematisch, dass das Ergebnis des „Leben Jesu“ die gute Anlage „auf die schiefe Bahn der 598 mythischen [. . .] Theorie“ geführt habe, macht jedoch deutlich, dass dieses in seinen Augen missglückte Ergebnis dennoch „ein Versuch“ gewesen sei, „die von ihm klar erkannten Consequenzen der Historie mit dem dogmatischen Interesse 599 an einer allgemeingiltigen ewigen Wahrheit [. . .] auszugleichen“ , dass Strauß also um eben jene Beziehung gerungen hat, die auch Troeltsch als dringlich zu bearbeiten ansieht. Dass Strauß Jesus letztlich doch der historischen Bearbeitung entzieht, bezeichnet Troeltsch als „künstlichen Versuch[], trotzdem der 600 Persönlichkeit Jesu eine philosophisch-dogmatische Centralstellung zu geben“ . Er betont dabei, dass man die Methode und dieses in seinen Augen verunglückte Ergebnis bei Strauß auseinanderzuhalten habe und die bei Strauß anzutreffende „erste entschlossene und unverclausulirte Anwendung der histori601 schen Methode auf die Geschichte der Entstehung des Christenthums“ sehr wohl in ihrer Konsequenz weiter betreiben könne, ohne positionell wie Strauß zu enden: „Aus dem Gegensatze der Methoden ist in Wahrheit ein Gegensatz der
595 Ernst Troeltsch: [Rez.] Samuel Eck: David Friedrich Strauss, Stuttgart 1899, in: Theologische Literaturzeitung 26 (1901), Sp. 20–23, jetzt in: KGA 4, S. 73–78, hier S. 76. Nämliche Einschätzung Schleiermachers begegnet auch in der Absolutheitsschrift. Dort wird entsprechend Strauß als bestechender Kritiker Schleiermachers dargestellt: Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/12) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen, in: KGA 5, S. 151–156. 596 Ernst Troeltsch: [Rez.] Otto Kirn: Glaube und Geschichte, Leipzig 1900, in: Historische Zeitschrift 87 (1901), S. 273–275, jetzt in: KGA 4, S. 160–163. 597 Ebd., S. 161. 598 Ernst Troeltsch: [Rez.] Samuel Eck: David Friedrich Strauss (wie Anm. 595), S. 75. 599 Ebd., S. 76. 600 Ebd., S. 75. 601 Ebd., S.74 f.
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Stellung zur Sache geworden [. . .]. Eben deshalb braucht aber auch die Anwendung der historischen Methode nicht die von Strauß gezogenen Consequenzen 602 nach sich zu ziehen.“ Leider kommt Troeltsch für diese These in der Rezension nicht weiter auf. Demgegenüber kritisiert Troeltsch massiv den von Kirn in Anschlag gebrachten Versuch, die moderne historische Arbeit zu entschärfen: „Es wird nicht erkannt, daß hier mit der modernen Historie, die ein Prinzip des Denkens über den Menschen und den Zusammenhang menschlichen Daseins ist, auch eine radikal moderne Fragestellung gegeben ist. Statt dessen wird der Fragestellung der Schein gegeben, als wäre sie eine genuin protestantisch-reformatorische, als handle es sich nur um die menschlich-historische ‚Seite‘, einer Sache, an der früher die übermenschlich-supernaturale mehr betont worden sei, als wäre das alte protestantische Problem unter dem Einfluß der aus der Aufklärung entspringenden Historie nur ‚gereift‘, als gelte es nur, die beiden Seiten durch 603 tiefere Erkenntnis zum Einklang zu bringen.“ Im Ergebnis führe dies bei Kirn fatalerweise dazu, ein protestantisches Pendant zum katholischen „‚Das Dogma 604 korrigiert die Geschichte‘“ zu schaffen: „Der Katholik hängt an dem Dogma mit denselben religiösen Gefühlen, wie der Protestant am paulinisch-johanneischen Christusbild und ist aus den gleichen Gründen überzeugt, daß an diesem Punkte die scheinbaren Ergebnisse der gewöhnlichen historischen Methoden nicht zurechtbestehen können, weil sie eine höhere, durch sich selbst sich beglaubigen605 de Wahrheit verletzen.“ Ein solch durchsichtiges, von ‚vorgestrigen‘ Kriterien geleitetes Programm, das für Troeltsch bereits angesichts des nicht erkannten 606 Prinzipiencharakters der „modernen Historie“ zum Scheitern verurteilt ist, vermag das Problem „Glaube und Geschichte“ nicht nur nicht zu lösen, sondern hat streng genommen das Problem gar nicht erst durchdrungen. Gegenüber den Lesern des geschichtswissenschaftlichen Organs, für das er die Untersuchung Kirns bespricht, wird keinerlei Bemühen Troeltschs ersichtlich, den Fachkollegen Kirn in Schutz zu nehmen. Eine Theologie, die meint, für die sie „betreffende 607 Forschung die Sistierung der gewöhnlichen historischen Methoden fordern“ zu können, vermag Troeltsch kaum zu solchen Loyalitätsgesten zu verleiten. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: „Die Auflösung, die K. gibt, hat sehr fachmäßig theologischen Charakter und ist für Historiker im Detail wenig interessant
602 603 604 605 606 607
Ebd., S. 76 f. Ernst Troeltsch: [Rez.] Otto Kirn: Glaube und Geschichte (wie Anm. 596), S. 160. Ebd., S. 162. Ebd., S. 162 f. Ebd., S. 160. Ebd., S. 162.
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[. . .]“ , die Arbeit bewege sich „von vorneherein in den gewöhnlichen theologi609 schen Halbheiten [. . .]“ . Kirn ist in den Augen Troeltschs denkbar weit davon entfernt, das Problem der wissenschaftlich aufrichtigen und religiös befriedigenden Aufeinanderbeziehung von Dogmatik und Kritik in den Griff zu bekommen. Troeltschs offensive Parteinahme für die Methode Strauß’ ist an dieser Stelle sicherlich als programmatischer Abwehrversuch zu werten, die historische Kritik, für deren rücksichtloseste Verfechtung Strauß landläufig Pate steht, als rein destruktiv für die dogmatische Arbeit darzustellen. ‚Dogmatik‘ soll – trotz der enthistorisierenden Christologie Strauß’ im Ergebnis, das jedoch vermeidbar sei – nicht als Gegenpol von ‚historischer Kritik‘ verortet werden. Zwar kann auch Troeltsch Momente des Religiösen namhaft machen, die in ein Spannungsverhältnis zu der historischen Kritik und ihren Ergebnissen führen können, ist aber energisch darum bemüht, theologische Arbeit und historisch-kritische Methode gerade nicht gegeneinander auszuspielen. Zusammengefasst: Seine Darstellung Straußens ist deshalb darauf konzentriert, erstens Methode und Ergebnis des „Leben Jesu“ streng voneinander zu unterscheiden, und zweitens Strauß die Leistung zu attestieren, überhaupt erst ein Problem in seiner Dringlichkeit gestellt zu haben, das die Theologie bislang keiner Lösung zuzuführen in der Lage war. In diese Problemkonstellation lässt sich das ambitionierte Ansinnen Troeltschs einzeichnen, das in all seinen Rezensionen, die ‚Jesus‘ zum Gegenstand haben, greifbar ist: Einerseits möchte er ausweisen, dass eine mit der Moderne verträgliche Dogmatik ohne historische Kritik nicht zu haben ist. Jesus Christus also nicht zum Gegenstand historisch-kritischer Forschung machen zu wollen oder die Ergebnisse dieser Forschung für belanglos zu erklären, gehört für Troeltsch zu einem dogmatischen Scheuklappendenken, das geradewegs auf den wissenschaftlichen Selbstmord zusteuert. Andererseits ist Troeltsch jedoch auch daran gelegen, beide Größen voneinander zu unterscheiden, um Eigendynamiken artikulierbar zu halten. So vielversprechend und unverzichtbar das Zusammenspiel von Dogmatik und historischer Kritik sein mag, kann doch ein Nutzen für die Theologie nur erzielt werden, solange nicht eine Größe von der anderen vorschnell vereinnahmt wird. ‚Jesus‘ – als Forschungsgegenstand und Bezugsgröße des Glaubens – ist der neuralgische Punkt dieses Problems historisch ausgerichteter, d. h. nach Troeltsch moderner Theologie und christlicher Frömmigkeit.
608 Ebd. 609 Ebd., S. 160. Diese Einschätzung der zeitgenössischen Theologie streicht auch Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 58), S. 47 als symptomatisch heraus.
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Deutlich wird dieses Anliegen auch in den Besprechungen zweier weiterer Bücher: Hans Martensen Larsens „Jesus und die Religionsgeschichte“ (1898) und Martin Kählers „Dogmatische Zeitfragen“ (1898). Beide werden in ihrer 610 Quintessenz von Troeltsch ähnlich bewertet: als „rhetorische Sophistik“ bzw. 611 „rhetorischen Charakter[s]“ . Larsens Buch bescheinigt Troeltsch „dogmatische 612 Präoccupation“ aufgrund des Versuches, Jesus trotzig wissenschaftlicher – hier religionsgeschichtlicher – Reflexion zu entziehen. Der Wissenschaft bediene sich Larsen in seiner Konzeption, um sie das „einzigartige Bewußtsein“ Jesu, 613 nämlich das der „‚Gottessohnschaft‘“ , ins Recht setzen zu lassen. „[D]er Glaube“ glaube dann „an die Berechtigung dieses Bewußtseins und an die [. . .] ganz 614 selbstverständliche Wunderhaftigkeit des Lebens Jesu.“ Ähnlich geht es bei der Besprechung des Buches von Martin Kähler. Diesmal zielt seine Kritik auf die Verhältnisbestimmung von Glaube und „rein historisch615 kritische[r] Wissenschaft“ . Dabei skizziert er Kählers „paradoxe[] These, daß für rein historisch-kritische Wissenschaft bei der Mangelhaftigkeit unserer Quellen Leben und Predigt Jesu überhaupt nicht sicher wieder erkennbar sei, daß dagegen das apostolische Zeugnis von dem auferstandenen, erhöhten und wiederkommenden Christus den wirklichen Christus uns völlig erschöpfend zei616 ge.“ Kähler will also einen bestimmten Glauben – nämlich einen in den Bahnen lehrmäßig fixierter Christologie – zur notwendigen Voraussetzung erklären, den er gerade gegen die historische Arbeit ausspielt: für den Glauben kann die historische Forschung nichts austragen, nichts hinzufügen, nichts wegnehmen. Dies führt in der Konsequenz freilich dazu, daß die moderne (für Troeltsch historisch-kritische) theologische Forschung in eine Beziehungslosigkeit zum christlichen Glauben gerät bzw. der Glaube so gedeutet wird, dass er per se gegen derlei Forschungsergebnisse immun ist. Entscheidend in der Deutung Kählers
610 Ernst Troeltsch: [Rez.] Martin Kähler: Dogmatische Zeitfragen. Alte und neue Ausführungen zur Wissenschaft der christlichen Lehre, Leipzig 1898, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 161 (1899), S. 942–952, jetzt in: KGA 2, S. 654–667, hier S. 659. 611 Ernst Troeltsch: [Rez.] Auguste Sabatier: Die Religion und die moderne Kultur, Freiburg i. B. 1898; Pierre Daniël Chantepie de al Saussaye: Die vergleichende Religionsforschung und der religiöse Glaube, Freiburg i. B. 1898; Hans Martensen Larsen: Jesus und die Religionsgeschichte, Freiburg i. B. 1898; Nathan Söderblom: Die Religion und die sociale Entwicklung, Freiburg i. B. 1898, in: Theologische Literaturzeitung 24 (1899), Sp. 398–400, jetzt in: KGA 2, S. 538–543, hier S. 542. 612 Ebd. 613 Ebd. 614 Ebd. 615 Ernst Troeltsch: [Rez.] Martin Kähler: Dogmatische Zeitfragen (wie Anm. 610), S. 658. 616 Ebd.
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ist die These, dass der von ihm skizzierte Glaube strikt keinerlei Beziehung zur historisch-kritischen Arbeit bedarf. Dieser These tritt Troeltsch entgegen. Er verspricht sich durch die historische Forschung – gerade an der Jesus-Überlieferung – dem ‚Originalen‘ mehr und mehr auf die Spur zu kommen und stellt Kähler gegenüber klar, „daß den neuen religiösen Gehalt des Evangeliums mit rein historischen Gesichtspunkten erfassen nicht Jesum mit den Augen des Kajaphas 617 betrachten heißen kann“ . Troeltsch stellt also den Glauben an Jesus Christus in ein produktives Wechselverhältnis mit der historischen Forschung, die Jesus zum Gegenstand hat. Wenn Troeltsch Wert darauf legt, daß die historisch-kritische Forschung zu Jesus gerade keine dem Glauben fremde bzw. ihm feindlich gesinnte Perspektive ist (nicht die „Augen des Kajaphas“), bringt das seine Haltung zum Ausdruck, der historischen Arbeit höchstgradig konstruktive Leistungen für den Glauben zuzutrauen. Das Bedürfnis, den Dingen in ihrer Geschichtlichkeit nachund auf den Grund zu gehen, wird so nachgerade als dem Glauben zugehörig ausgewiesen. Wie jedoch dies konkret geschehen kann, dass die historische Erforschung Jesu und der religiöse Glaube an ihn zur Vermittlung kommen, bleibt 618 Troeltsch der Leserschaft der Rezension schuldig. Troeltsch erbat sich das Jesus-Buch von Paul Wernle zur Rezension in der 619 „Theologischen Literaturzeitung“. Die Besprechung von 1916 spielt im Gesamt der Rezensionen, die auf christologische Fragestellungen Bezug nehmen, eine 620 exponierte Rolle. Dies liegt sowohl an ihrem Umfang als auch der Ausführlichkeit, mit der Troeltsch sich dem Thema widmet. Festzumachen ist diese Exponiertheit darüber hinaus am vorfindlichen Stil, denn Troeltsch nutzt diese Besprechung über das gewöhnlich hohe Maß hinaus gesprächsartig zum Herausarbeiten seiner eigenen Position. Allein an dieser Rezension lässt sich problemlos die Beobachtung verifizieren, dass Troeltsch in der Negation oft klarer als in der positiven Fassung seine Gedanken zum Ausdruck bringt. Gerade deshalb bietet die Rezension im hohen Maße einen Einblick in Troeltschs Überlegungen. 617 Ebd., S. 659. 618 Hilfreich an Stellen wie diesen erweist sich Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (Beiträge zur historischen Theologie, Band 99), Tübingen 1997, S. 100, der für die Eschatologie bei Troeltsch geltend macht: „Troeltsch hält den systematischen Ort der Eschatologie bewußt in der Schwebe, um sie nicht durch die Abgleichung mit ‚prinzipielleren‘ Ideen abzuwerten.“ Dieser Gedanke des taktischen ‚In-der-Schwebe-Haltens‘ überzeugt nicht nur für die Eschatologie Troeltschs. 619 Vgl. hierzu den Editorischen Bericht der Rezension, in: KGA 13, S. 95. 620 Vgl. hierzu auch Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (wie Anm. 618), S. 100 f. Claussen macht darauf aufmerksam, dass Troeltsch (mit Wernle) gegen Ritschl einerseits und einer fokussiert eschatologischen Position andererseits „Jesus in einer unauflöslichen Ambivalenz stehen läßt“ (S. 101).
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Aus der Rezension unmittelbar ersichtlich wird zunächst auch hier das Bemühen Troeltschs anhand des wissenschaftlich-dogmatischen Umgangs mit ‚Jesus Christus‘ eine gewisse unabdingbare Elastizität der Dogmatik wie auch der kritischen Forschung zu betonen und deshalb im theologischen Diskurs nicht eine der beiden Größen vorschnell zum fixen Punkt zu machen. In Troeltschs Umgang mit der Christologie wird vielmehr das Anliegen ersichtlich, ein gegenseitiges Ruhigstellen der im Spiel befindlichen Größen und widerstreitenden Impulse nicht zu befördern – nicht zuletzt, um die Unfertigkeit und offenen Flanken zeitgenössischer Christologien nicht zu verschleiern und damit die theologische Produktivität zu hemmen. Troeltsch zeigt sich von der Grundausrichtung des Jesus-Buches von Wernle angetan. Dies dürfte zunächst und ganz grundsätzlich daran liegen, dass Wernles Anliegen in einer sorgfältigen Rekonstruktion der Predigt Jesu auf Grundlage der historischen Forschung besteht und mit dem ernsthaften Interesse einhergeht, die Ergebnisse einer solchen Untersuchung in eine konstruktive Beziehung zur Theologie und den christlichen Glauben zu bringen. So kann Troeltsch das Buch würdigend als „Sammlung des Ertrages der jüngsten kritischen Arbeit und 621 religiösen Selbstbesinnung“ beschreiben, „das mitten unter der Kriegsliteratur 622 wie der Zeuge einer anderen Welt“ wirke. Über den Zuschnitt des Buches zeigt er sich erleichtert: „Es ist kein Leben Jesu. Diese Illusion ist gründlich verabschiedet; novellistisch-psychologisierende Züge finden sich nur gelegentlich. Es ist eine Darstellung der Predigt Jesu und 623 der in ihr sich aussprechenden Persönlichkeit.“ Die Leben-Jesu-Forschung, die Troeltsch hier verabschiedet sehen möchte, fällt dem Irrtum anheim, dem Leben Jesu historisch zuverlässig auf die Spur kommen zu können. Troeltsch dürfte vor allem zwei Gründe vor Augen haben, wenn er ein solches Vorhaben als „Illusion“ bezeichnet: Zum einen ist das Programm eines „Leben Jesu“ eine methodische Illusion, zum anderen ist es eine Illusion, wenn es etwas für die Vermittlung von historischer Forschung und christlichen Glauben getan zu haben vorgibt. Vielmehr ist dadurch das Auseinanderfallen beider Größen nur noch deutlicher vor Augen geführt. Über die Beschaffenheit der Predigt Jesu, die Wernle stattdessen fokussiert, bringt Troeltsch sich mit Wernle ins Gespräch: „Diese Predigt betrifft, wie ich 621 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Wernle: Jesus, Tübingen 1916, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), Sp. 54–57, jetzt in: KGA 13, S. 95–101, hier S. 96. 622 Ebd. 623 Ebd. Mit dieser Bemerkung Troeltschs ist allerdings nicht – wie sich vermuten ließe – auf das Verständnis der Predigt Jesu abgehoben, die Bultmann bzw. die dialektische Theologie später mit ‚Kerygma‘ umschreiben wird. Troeltsch bewegt sich in seinem Rekonstruktionsinteresse der Predigt Jesu noch im Kontext der Frage nach dem historischen Jesus.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
es auch seit langem darstelle, zwei Gegenstände: die Reichserwartung und die 624 wahre Gerechtigkeit, die an dem Reiche allein Anteil gewährt.“ Wernles Interpretation dieser Reichserwartungs- und Gerechtigkeitspredigt Jesu begegnet Troeltsch mit überschwänglichem Lob, inhaltliche Differenzen markiert er je625 doch gegenüber „dem Kapitel über den Messianismus.“ Troeltsch nimmt dabei Anstoß an einzelnen Aspekten der Deutung Wernles, jedoch auch an der spezifischen Problematik ihrer Zusammenfügung: „Es ist die Verbindung der historischeschatologischen Auffassung der heutigen Kritik mit der religiös-dogmatischen Herrmanns, und wird vor allem an den Ausdruck ‚Sohn Gottes‘ festgeknüpft. Sehr überzeugend ist das nicht. Schon jede Hälfte für sich allein ist hier fraglich, 626 am fraglichsten ihre Zusammenfügung.“ Die Verortung des Messianismus in dieser Gemengelage erfordere nämlich die Unterscheidung zwischen der Theologie Jesu und der Theologie der frühesten christlichen Gemeinde. Beide Größen umstandslos in Eins zu setzen, werde einem anspruchsvolleren Vermittlungsinteresse gerade nicht gerecht. „Ich habe früher hierüber ähnlich gedacht wie Wernle, kann aber dabei nicht bleiben. Man kommt über bloße Möglichkeiten nicht hinaus. In der Hauptsache hat man hier eben doch den Glauben der Urgemeinde an den Messias Jesus vor sich, und, welchen Anlaß Jesus selbst diesem 627 Glauben gegeben haben kann, ist nicht mehr zu erkennen.“ Diese auch von der historischen Forschung unhintergehbare Sachlage wird von Troeltsch nun nicht 628 aufgelöst , sondern geradezu programmatisch in dieser Spannung belassen. Die Rezension lässt also zunächst einmal deutlich werden, welchen Problemreichtum die Christologie des frühen 20. Jahrhunderts transportiert, und es 624 Ebd. 625 Ebd., S. 97. 626 Ebd., S. 98. 627 Ebd. 628 Tendenzen zur Auflösung dieser Spannung nach der einen oder der anderen Seite des Problems liegen am prominentesten bei Harnack bzw. Bultmann vor. Ersterer kann behaupten, das „Evangelium Jesu Christi ist nach Matth. 5, 1 ff. einerseits, nach Matth. 11, 5. 28 f. und Luk. 4, 18–21 anderseits zu verstehen [. . .]. Von diesem Evangelium ist das Evangelium von Jesus Christus, der gestorben und auferstanden ist [. . .], zu unterscheiden. Beide Evangelien sind in der Kirchengeschichte nebeneinander hergegangen. An unserer Stelle und im folgenden ist das erste gemeint.“ Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität gehalten von Adolf v. Harnack, hrsg. von Claus-Dieter Osthövener, 2. Aufl., Tübingen 2007, S. 15. Zweiterer fasst es wie folgt: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst.“ Rudolf Bultmann: Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., Tübingen 1984, S. 1; oder anders: „Man darf also nicht hinter das Kerygma zurückgehen [. . .].“ Ders.: Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die Theologie des Paulus, in: ders.: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Erster Band, Tübingen 1966, S. 188–213, hier S. 208.
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findet sich in Troeltschs Urteil angedeutet, welch umfassende Problembearbeitung er anvisiert. Ein Auseinanderfallen von historischer Arbeit, dogmatischer Theologie und christlichem Glauben findet sich in seiner Replik auf Wernle ebenso wenig angelegt wie deren Deckung. Seine Rezension schließt mit der Diagnose, in der Konzeption Wernles finde sich „die bekannte Spannung zwischen einem aus historisch-kritischer unabschließbarer Arbeit hervorgehenden Jesusbilde und einer darauf zu gründenden absoluten Gnaden- und Sündenverge629 bungsgewißheit, aus der ich für meine Person keinen Ausweg wüßte“ . Zwar ist diese massive Spannung bei der von Wernle angelegten Problemlösung Troeltsch zufolge ausweglos – jedoch erweist sich der bei Wernle angelegte Problemangang möglicherweise nicht als alternativlos. Überspitzt und etwas paradox anmutend lässt sich Troeltschs grundsätzliches Argument in der Rezension zunächst zusammenfassen als Forderung nach schärferer Distinktion verschiedener Größen, um die Unverträglichkeiten einer stärkeren Bearbeitung zuführen zu können, weil sie als solche sichtbar bleiben. Denn die von Troeltsch Wernle gegenüber geäußerten kritischen Kommentare zielen im Kern auf entweder mangelnde Unterscheidungsleistungen oder voreilige Zusammenfügungen, die wiederum eher in aporetische als in konvergierende Strukturen führen. Dies lässt sich nicht nur beispielsweise an der bereits oben angeführten Kritik an der mangelnden Unterscheidung von Predigt Jesu und Zeugnis der Urgemeinde festmachen, sondern macht auch alle drei resümierenden Bemerkungen Troeltschs aus: „1. Ein derart bedingungsloses Bekenntnis zur Predigt und Person Jesu hat die Schwierigkeit, daß mit dieser reinen [. . .] Innerlichkeit [. . .] die Gehalte des übrigen Kulturlebens [. . .] schwer vereinbar sind. Ich empfinde wohl Größe und Tiefe des Evangeliums, kann aber nicht meine ganze geistige Welt in ihm unter630 bringen, folglich es nicht bedingungslos bejahen.“ Die mangelnde Distinktion von einer bestimmten ins Zentrum gerückten vermeintlichen Predigt Jesu und anderen, inhaltlich ebenso bindenden Überzeugungen das ‚Kulturleben‘ betreffend, – hier als Ausblendung dieser übrigen Bindungen präsent – führt also laut Troeltsch letztlich zu einem Verlust gegenwärtiger Anschlussmöglichkeiten an ‚Jesus Christus‘. Interessanterweise berührt Troeltsch hier nicht zusätzlich das Problem der Abhängigkeit zeitgenössischer Predigt-Jesu-Rekonstruktionen von gegenwärtigen Anschauungen und Interessen, also kurz den bekannten Verstrickungen von Genese und Geltung, sondern beschränkt die Problembeschreibung auf die thematische Enge dieser Predigt bzw. des Jesus-Bildes und den Geltungsansprüchen, die dafür veranschlagt werden. Zumindest angedeutet findet sich hierin freilich die Warnung, bei allem legitimen Interesse an einer 629 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Wernle: Jesus (wie Anm. 621), hier S. 100 f. 630 Ebd., S. 99.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
wissenschaftlich und religiös ambitionierten Rekonstruktion der Predigt Jesu, nicht der Versuchung zu erliegen, hierin das ‚eigentlich‘ Christliche fassbar ge631 macht haben zu wollen. Schon dadurch, dass Troeltsch die unhintergehbare Distinktion zwischen der von Jesus Zeugnis gebenden Urgemeinde und dem mit keinem Mittel eruierbaren „Anlaß“, den „Jesus selbst diesem Glauben ge632 geben haben kann“ , erbarmungslos einfordert, bricht er mit der Phantasie, dem ‚historischen‘ als dem wahren verbindlichen Jesus jemals bruchlos auf die Spur kommen zu können und relativiert dadurch unweigerlich alle theologischen Bemühungen, die Komplexität, geschichtliche Gewachsenheit und innere Konfliktuosität des Christentums zu simplifizieren und sich auf diesem Wege der eigentlich zu bewältigenden Geltungsproblematik zu entledigen. Nicht nur hinsichtlich möglicher Konflikte zwischen jesuanischer Predigt und sonstiger – ebenso als christlich markierter – weltanschaulicher Gehalte ergeben sich für Troeltsch Probleme in Wernles Lösungsversuchen. An dieser Stelle lässt sich ein weiteres brüchiges Gefüge erahnen: Wie das Verhältnis vom ‚Jesus des Glaubens‘ zu einem wie auch gefassten ‚historischen Jesus‘ zu bestimmen ist, ist eine höchst heikle Angelegenheit, die schon im Nachvollzug des urchristlichen Zeugnisses aufscheint und die in der Gegenwart zu einer höchst dringlichen Aufgabe geworden ist. Leider bietet die Rezension Wernles keine weiterführenden Überlegungen zu diesem Problem. Auch im Blick auf die religiösen Vergemeinschaftungen ziehe die zu simple Fixierung auf den von Wernle in Geltung gehobenen Jesus und seine Predigt problematische Konsequenzen nach sich: „2. Der religiöse Gehalt der auf Wernles Bekenntnis zu Jesus begründbaren Religion ist Jesus-Religion und Nachfolge Jesu in dem Sinne, wie sie zumeist 633 von den Sekten verstanden und vertreten worden ist [. . .].“ „Das aber bedeutet nicht bloß eine starke Trennung von der kirchlich-christlichen Religion mit Trinität, Erlösungswunder und Kirche, sondern auch die sittliche Strenge und 634 zugleich geistige und kulturelle Enge der Sekten, die unerträglich ist.“
631 Ähnlich Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (wie Anm. 618), S. 291, der es – auch anhand der Wernle-Rezension – wie folgt fasst: „[D]as Verhältnis von Kultur und Religion ist nach Troeltschs Deutung der religiösen Idee Jesu ein prinzipieller Antagonismus, der sich nicht letztgültig ausgleichen läßt.“ Vgl. zu nämlicher Problemstellung auch die Debatte zwischen Troeltsch und Harnack um das ‚Wesen des Christentums‘. 632 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Wernle: Jesus (wie Anm. 621), S. 98. 633 Ebd., S. 99. 634 Ebd., S. 100.
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Dies ist im Kern erst einmal nichts anderes als eine Variation der Einsicht, 635 dass Wesensbestimmung nicht losgelöst von Gestaltungsinteressen geschieht. Konkret findet hier ein positionelles Interesse Troeltschs seinen Ausdruck: das Ringen um eine grundsätzliche Verträglichkeit theologischer Arbeit mit bestimmten (seinen eigenen) Idealformen und von ihm präferierten Realgestalten der Kirchen sowie einer produktiven Auseinandersetzung mit der Dogmengeschichte, d. h. der Geschichte und den Ergebnissen denkerischer Bearbeitung des Glaubens. Dieser Befund wäre als einfacher Harmonismus oder ‚Affirmatismus‘ missverstanden, ist wohl aber als klare theologie- und kirchenpolitische Stellungnahme zu sehen. Der liberale Theologe Ernst Troeltsch zeigt sich – hier ungewöhnlich deutlich – an den Sozialgestalten des Christentums interessiert, denen gerade keine sektenhaften Strukturen eignen. Troeltsch weist darauf hin, dass – vorausgesetzt man teilt dieses Interesse – die Jesus-Theologie Wernles der Veränderung bedarf. Er legitimiert damit keineswegs eine unlautere Methodik zum Zwecke der Erzeugung eines gewollten Ergebnisses, macht an dieser Stelle jedoch die Zusammengehörigkeit von Wesensgestaltung und Wesensbestimmung vom Moment der Wesensgestaltung her transparent. Darüber hinaus kommt hier einmal mehr das Unbehagen Troeltschs an einer Christologie zum Tragen, die sich an den hergebrachten Lehrbegriffen fixiert, ohne diese auf ihre moderne Tragfähigkeit hin zu befragen. Auch im weiteren Resümee seiner Kritik an Wernle, dem dritten Punkt, markiert Troeltsch das Bedürfnis, die im Christentum von vornherein angelegten Heterogenitäten nicht überdecken zu wollen, wenn er seinem literarischen Gegenüber vorwirft, „den Gegensatz zwischen der Jesus-Religion der Nachfolge 636 und der Gnaden- und Erlösungsreligion der Kirche“ einerseits sowie „den 637 Unterschied der Jesuspredigt und des Paulinismus“ andererseits nicht ernst zu nehmen. Dem Ergebnis mangele es in der Folge an Konsistenz: „er arbeitet sein Jesusbild in eine kirchliche Gnadenreligion hinein und stellt doch alles auf 638 den Eindruck des ‚geschichtlichen Christus‘.“ Die Besprechung des Buches von Wernle und das mit ihr betretene Gebiet der Christologie im weiten Sinne berührt nicht nur zahlreiche theologische Problembestände, sondern fordert darüber hinaus in besonderer Weise die Verhältnisbestimmung dieser Problembestände. Die Christologie stellt gleichsam 635 Vgl. hierzu Troeltschs berühmte Formel in seiner Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack über dessen Wesensschrift: „Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung“. Ernst Troeltsch: Was heißt „Wesen des Christentums“?, in: GS II, S. 386–451, hier S. 431. 636 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Wernle: Jesus (wie Anm. 621), S. 100. 637 Ebd. 638 Ebd.
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den Kristallisationspunkt dar für die grundsätzliche Ausrichtung der Theologie, die wissenschaftliche Methodik der Theologie, die Zusammenfindung mit dem „sonstigem Welterkennen“ und schließlich dem Zusammenhang von geschichtlichem Denken, historischer Forschung, christlichem Glauben und Theologie. In Wernles Buch finden sich zwar alle diese Größen berücksichtigt, Troeltsch nimmt jedoch eine andere Justierung dieser Größen vor, um seiner Vorstellung einer ertragreichen und weiterführenden Jesusforschung Ausdruck zu verleihen. Festzuhalten ist dabei zunächst die These, dass eine bestimmte Form der Fixierung auf Jesus (auch im Wissen, dass es sich dabei stets um ein Konstrukt handelt), durchaus in Konflikt mit einer gesamthistorischen Arbeit und Würdigung des Christentums geraten kann. Ein solcher Konflikt kommt dann zum Tragen, wenn aus historischer Lauterkeit Gehalte auf den Plan treten, die nicht in der Predigt Jesu bzw. im Evangelium unterzubringen, aber fraglos dem Christentum zuzurechnen sind, und es dadurch unmöglich wird, die „ganze geistige 639 Welt“ in Übereinstimmung zu bringen. Wenn Troeltsch sogar davon sprechen kann, dass „seine ganze geistige Existenz ihm [Wernles „Jesusbild“, MB] anzu640 vertrauen“ , keine Option sei, ist damit zum einen zum Ausdruck gebracht, dass religiöser Glaube trotz seiner Eigenständigkeit nicht in grundsätzlichen Widerspruch zur Wirklichkeitserschließung geraten darf, und dass der gut protestantische Vertrauensglaube in Troeltschs Theoriegebäude gerade keine kategorische Antimetaphysik darstellt bzw. in seinen Augen in der Moderne keine solche darstellen kann. Zum anderen deutet sich an dieser Stelle an, dass eine Vielheit der Jesusbilder unvermeidlich ist, es folglich unmöglich ist, das Jesusbild 641 eines anderen zu ‚übernehmen‘. Die eigene „ganze geistige Existenz“ einem Jesusbild anzuvertrauen, bedarf einer anderen Art der Evidenzerfahrung. In der ernsthaften, detailreichen und höchst interessierten Auseinanderset642 zung mit „Wernles Jesusbild“ wird jedoch auch deutlich, dass die theologischen Figurationen solcher Jesusbilder, also die Vermittlung eines religiösen Jesusglaubens und der historisch-kritischen Forschung, für Troeltsch keineswegs obsolet sind. Sie dürfen allerdings weder vorschnell als das ‚Eigentliche‘ des Christentums (in seiner religiösen oder theologischen Spielart) ausgegeben werden, noch darüber hinwegtäuschen, dass sich in ihnen möglicherweise nicht alles unterbringen lässt, was der Christentumsgeschichte und dem christlichen Glauben als wesentlich empfunden wird. Für Troeltsch ist es offenbar wichtig,
639 640 641 642
Ebd., S. 99. Ebd., S. 101. Ebd. Ebd.
3.2 Die Deutung des gegenwärtigen Protestantismus
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diesen ‚Rest‘ gerade nicht als abkömmlich zu markieren, sondern sich tunlichst um seine Integration zu bemühen. Weniger detailreich und ausführlich, im Grundton jedoch mit der Rezension zu Wernle übereinstimmend, besprach Troeltsch bereits 1898 Martin Rades „Die Religion im modernen Geistesleben“ (ebenfalls 1898 erschienen). Auffallend leitend in seiner Besprechung ist auch hier das Bemühen, das Christentum nicht zu verwechseln mit zentralen Texten seiner Entstehungsgeschichte – hier von Troeltsch anhand der Bergpredigt zur Geltung gebracht: „Die Bergpredigt ist wohl ein klassisches Musterbild religiös bestimmter Moral und sittlich bestimmter Religion, aber sie erschöpft weder den religiösen Gehalt des Christenthums noch den ganzen Umkreis der für menschliches Zusammenleben nöthigen Moralbestimmungen. Ja sie befindet sich bei ihrer eschatologischen Transscendenz 643 geradezu im Gegensatz zu wichtigen Gebieten innerweltlicher Moral [. . .].“ Dieses Urteil ist nicht zuletzt der Überzeugung geschuldet, eine zentrale Unterscheidung geltend machen zu müssen: „Eine volle Identification von Moral und Religion ist unmöglich und liegt auch thatsächlich im Christenthum nicht 644 vor.“ Bezeichnend für Troeltschs christentumstheoretische Position ist der Umstand, dass er Rades Charakterisierung des Christentums ohne ausführlichen oder zentralen Jesus-Bezug verteidigt: „Insbesondere hat er es unterlassen, für die Würdigung der Stellung und Bedeutung des Christenthums in erster Linie und ausschließlich den ‚Eindruck der Person Jesu‘ zu Grunde zu legen, sondern sich vielmehr an die Gesammterscheinung des Christenthums und an ihr Verhält645 nis zu den Gesammterscheinungen der anderen Religionen gehalten.“ Dieses 646 Vorgehen wird von ihm als „Rücksicht auf das interkonfessionelle Publicum“ gewertet und auch sachlich ins Recht gesetzt: „Die Werthung der Person Jesu für das Christenthum gilt ihm mit Recht erst als eine innerchristliche Frage, von der 647 er in diesem Zusammenhang nicht näher handelt.“ Das Christentum lässt sich für Troeltsch folglich zumindest nach außen unproblematisch ohne intensivere Bezüge zu Jesus darstellen und würdigen – von einer theologischen Debatte über 648 die „Werthung der Person Jesu für das Christenthum“ verspricht er sich für nicht-christliches Publikum zum Verständnis des Christentums keinerlei Gewinn. Für die an dieser Stelle naheliegende Frage nach Gewinn und Nutzen dieser 643 Ernst Troeltsch: [Rez.] Martin Rade: Die Religion im modernen Geistesleben, Freiburg i. B. 1898, in: Theologische Literaturzeitung 23 (1898), Sp. 570–573, jetzt in: KGA 2, S. 493–497, hier S. 496 f. 644 Ebd., S. 496. 645 Ebd., S. 494. 646 Ebd., S. 493. 647 Ebd., S. 494. 648 Ebd.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
Debatten für das Christentum und dessen Reflexionsgestalt bietet diese Rezension bedauerlicherweise keine weiterführende Klärung. Bemerkenswert ist aber, dass Troeltsch – wie in der Wernle-Rezension und nun gegen Rade – verhindern möchte, die Religion durch bestimmte theoretische Figurationen vom ‚sonstigen Welterkennen‘ isolieren zu wollen: „Es ist eben doch nur in erster Linie berechtigt, die Religion als psychologisch-historische Thatsache zu nehmen. In zweiter Linie bedeutet diese Thatsache einen Inhalt von Lebens- und Weltanschauung, der nicht ganz so unabhängig von den übrigen Lebensgebieten ist, als es die 649 Ausführungen Rade’s annehmen lassen.“ Franz Overbeck gegenüber macht Troeltsch hingegen eine andere Zuspitzung geltend. Dessen frustriertem Abgesang auf Christentum und Theologie 650 setzt er eine sehr pauschalisierte Gruppe der „Theologen von heute“ entgegen: „Gerade weil sie das Christentum als religiöse Menschen und nicht bloss als Historiker empfinden, werden sie auch ihre Christlichkeit keineswegs nur nach der Übereinstimmung mit dem historischen Bilde des Urchristentums, sondern nach Möglichkeit eines inneren Anschlusses ihrer religiösen Überzeugungen 651 an die Person Jesu bemessen.“ Angesichts dieser zugespitzten Definition der Christlichkeit der Theologen liegt offen zu Tage, dass Troeltsch mit dem massiv theologiekritischen Overbeck als Gegenüber die Bedeutung einer wie auch immer gearteten Anschlussfähigkeit an die Person Jesu als schlechterdings konstitutiv für die Christlichkeit der Anschauung vorstellt. Die interessante Frage, wie dieses Konstitutionsgefüge im Blick auf die religiöse Haltung selbst zu konkretisieren wäre, kann aufgrund der Knappheit der zitierten Formulierung leider nicht verfolgt werden. Von dieser knappen Äußerung Troeltschs ausgehend, lässt sich aber die Beobachtung festhalten, dass der Anschluss an die Person Jesu hier von Troeltsch eher einseitig gedacht wird, d. h. dass er eben rein als nachgängiger Anschluss an die religiösen Überzeugungen fungiert und nicht wechselseitig auch als religiöses Symbol verstanden wird, das seinerseits religiöse Überzeugungen zu generieren vermag. Die Rezensionen, die das Thema ‚Jesus‘ zum Gegenstand haben, sind natürlich nicht zur Ableitung einer gradlinigen bruchlosen Christologie geeignet. Das jedoch ist möglicherweise weiterführend, denn in den Rezensionen scheinen zahlreiche Motive und Probleme auf, die mit den christologischen Überlegungen und Interessen Troeltschs aufs Engste zusammenhängen und die er gerade nicht einer ‚Lösung‘ überführt – weil eine solche ‚Lösung‘ die Höhe der ihr zu649 Ebd., S. 497. 650 Ernst Troeltsch: [Rez.] Franz Overbeck: Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (wie Anm. 525), S. 294. 651 Ebd.
3.3 Das Ringen um die „historisch-ethischen Wissenschaften“
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grundeliegenden Spannungen illegitim verdecken und unterbieten würde; jede ‚Lösung‘ wäre immer unangemessen hinsichtlich der Komplexität der Probleme, die zu ‚lösen‘ für Troeltsch eben keine Lösungsoption darstellt. Vielmehr zeichnet das lebendige Gegeneinanderhalten der Spannungen gerade die Christologie Troeltschs aus.
3.3 „Die Eigenthümlichkeit der geistig-historischen Welt“ – Das Ringen um die „historisch-ethischen Wissenschaften“ als Geistes- oder Kulturwissenschaften 3.3.1 Eine exemplarische Rezension: Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert. Aus Anlaß von Erich Becher: Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Untersuchungen zur Theorie und Einteilung der Realwissenschaften Die Kontroversen, die Troeltsch über die angemessene Fassung moderner Wissenschaften in seinen Rezensionen führte, gelangten sicherlich mit „Die Revolution 652 in der Wissenschaft“ (1921) an einen Höhepunkt. Doch auch eine etwas später verfasste Besprechung, die ebenfalls in „Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ erschien, nämlich die zu Erich Bechers „Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften“ (1922), vermag 653 mit hoher Aufschlusskraft aufzuwarten. Erich Becher (1882–1929), Philosoph und Psychologe, war Schüler Benno 654 Erdmanns . Als Ordinarius in München verfasste er „Geisteswissenschaften und 652 Diese Rezension wird im Spätwerk Troeltschs kontextualisiert von Friedrich Wilhelm Graf: „Kierkegaards junge Herren“. Troeltschs Kritik der „geistigen Revolution“ im frühen zwanzigsten Jahrhundert, in: ders.: Der heilige Zeitgeist, Tübingen 2011, S. 139–160; vgl. dazu auch ders.: Einleitung (wie Anm. 577), S. 6, S. 18–20. Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik (wie Anm. 433), S. 176, macht an der Rezension die hohe zeitdiagnostische Leistung Troeltschs fest, „des Umschlags vom alten historistischen zum neuen antihistoristischen Bildungsideal“ gewahr geworden zu sein. 653 Die Rezension findet auch kurze Erwähnung bei Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 577), S. 20. Graf macht an dieser Rezension im Vergleich mit „Die Revolution in der Wissenschaft“ eine Spannung fest, die er sehr plausibel deutet und die auch hinsichtlich der Rezensionen Troeltschs insgesamt Beachtung verdient: „Nun sind Widersprüche zwischen den Texten ein und desselben Autors bekanntermaßen typisch für die Konstellation des intellektuellen Mehrfrontenkrieges, in dem sich die Kombattanten oft gezwungen sehen, zur Abwehr des einen Widersachers Positionen zu beziehen, die sie einem anderen gegenüber niemals einnehmen würden.“ 654 Vgl. Paul Luchtenberg: Erich Becher [Nekrolog], in: Kant-Studien 34 (1929), S. 275–290.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
Naturwissenschaften. Untersuchungen zur Theorie und Einteilung der Realwis655 senschaften“ , als dessen vornehmliches Ziel er „eine vergleichende Anatomie 656 der Wissenschaften, insbesondere der Realwissenschaften“ angibt. Das reich untergliederte, gut 330 Seiten starke Werk entwickelt nach einer allgemeinen 657 658 Wissenschaftstheorie eine Theorie der Realwissenschaften , die von der These ausgeht, „daß für die Gliederung der Wissenschaften drei Einteilungsgründe 659 wesentlich sind: Gegenstände, Methoden und Erkenntnisgrundlagen“ , wodurch auch die Gliederung für den Hauptteil des Buches gegeben ist. Becher formuliert in seinem Buch „mit Rücksicht auf die Kritik von Paul, Windelband, 660 Rickert u. a.“ eine Definition und Verhältnisbestimmung von Natur- und Geisteswissenschaften, deren letztere er als Oberbegriff für Psychologie und Kultur661 662 wissenschaften begreift . Das Buch schließt mit einem Metaphysik-Kapitel und dem Ergebnis: „Nach ihren Gegenständen, Methoden und Erkenntnisgrundlagen gehören Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und Metaphysik als die drei großen Abteilungen der Realwissenschaften zusammen. [. . .] [D]ie Metaphysik ist die Königin der Wissenschaften; aber diese Königin ist eine überzarte, seit langem kränkelnde Frau. Sie bedarf gar sehr der Unterstützung durch ihre gesund und kraftvoll entwickelten Schwestern, die Einzelrealwissenschaften. Möge die Königin der Wissenschaften, genährt mit der gesunden Speise der 663 Erfahrung, zu der stolzen Kraft ihrer Schwestern genesen!“ In Troeltschs Rezension zu Erich Becher rückt sowohl dessen wissenschaftstheoretisches Konzept wie auch dasjenige Heinrich Rickerts in den Fokus. Troeltsch nutzt diese beiden Folien zur Profilierung seiner eigenen Position und zwar in einer für seinen Rezensionsstil sehr typischen Weise: Sehr genau durchleuchtet er die von ihm rekonstruierten Positionen auf ihren wissenschaftlichen Standort, ihre Systematik und die dahinter stehenden Interessen, um dann, Stärken und Schwächen abwägend, seine eigenen Absichten zu entwickeln. Diese Abzweckung für das Fortkommen des eigenen Denkens hatte er in 655 In dem von Luchtenberg verfassten Nekrolog wird das Werk Bechers besonders gewürdigt: „Eine vergleichende Wissenschaftslehre entwickelte er in ‚Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften‘ [. . .], seinem umfangreichsten Werke von erstaunlicher Gründlichkeit.“ Ebd., S. 279. 656 Erich Becher: Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Untersuchungen zur Theorie und Einteilung der Realwissenschaften, München, Leipzig 1921, Vorwort. 657 Vgl. „A. Vorbereitender Teil: Zur Theorie und Einteilung der Wissenschaften“, ebd., S. XI–79. 658 Vgl. „B. Hauptteil: Zur Theorie und Einteilung der Realwissenschaften“, ebd., S. 81–328. 659 Ebd., S. 83. 660 Ebd. 661 Vgl. ebd., S. 115. 662 Vgl. „IV. Schluß. Metaphysik und Geistes- und Naturwissenschaften“, ebd., S. 318–328. 663 Ebd., S. 327 f. Im Original zum Teil gesperrt.
3.3 Das Ringen um die „historisch-ethischen Wissenschaften“
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einer „Erwiderung“ auf einen Einspruch Bechers auf seine Rezension explizit zur Intention erklärt: „Ich bespreche nur Bücher, die mit meiner jeweiligen Arbeit zusammentreffen. [. . .] Ich hoffte, mich an ihm [Erich Becher, MB] zu klären 664 [. . .].“ In der Rezension zu Bechers Buch nun geschieht dies auf besonders ausführliche und gründliche Weise: Die Rezension umfasst im Original knapp 30 Seiten. Dieser Rezension zu Erich Bechers Wissenschaftssystem folgte – wie bereits angedeutet – noch ein kleines Nachspiel: Einige Monate, nachdem Troeltsch das Werk Bechers für „Schmollers Jahrbuch“ besprochen hatte, befasste er sich erneut mit dem Münchner Philosophen. Dieser hatte sich vehement gegen Troeltschs Rezension gewehrt und entsprechende „Berichtigungen“ dieser ‚Misshandlung‘ seiner Konzeption veröffentlicht. Troeltsch verfasste daraufhin eine „Erwiderung“. Die „Berichtigungen“ Bechers und die „Erwiderung“ Troeltschs wurden in unmittelbarer Folge aufeinander im zweiten Heft des 1922-Jahrgangs 665 des Jahrbuchs abgedruckt. Troeltschs Haltung gegenüber seiner ursprünglichen Rezension blieb offenkundig unverändert: „Ich habe also nichts zu erwi666 dern.“ Dennoch ist in der Replik Troeltschs freilich mehr zu finden als bloß diese lapidare Feststellung. Schärfer als in der ursprünglich von ihm verfass667 ten Rezension kritisierte er das Buch Bechers als „Verirrung im Thema“ . In der gedrängten Dichte einer solchen Erwiderung bringt Troeltsch auch seine Gründe für dieses Urteil sehr prägnant auf den Punkt: „Er [Becher, MB] hat 668 eben zur historischen Welt nicht das leiseste innere Verhältnis.“ Die Bedeutung dieser formelhaft gefassten Behauptung ist zwar unmittelbar eingängig, lädt jedoch zu weiterer Ergründung ein, um den wissenschaftstheoretischen Grundorientierungen Troeltschs nachzugehen. Troeltsch hatte sich zuvor gegen eine angedeutete Unterstellung Bechers gewehrt, in seinem Werdegang von der Theologie zur Philosophie der Logik nicht mächtig zu sein. Mit polemischer Spitze gegen den naturwissenschaftlich versierten Philosophen Becher betont Troeltsch die ausgesprochene Tauglichkeit seines kontinuierlichen historischen und geschichtstheoretischen Denkens für das Gebiet der Logik. Diese so in An664 Ernst Troeltsch: Erwiderung, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 46 (1922), S. 570, jetzt in: KGA 13, S. 621–623, hier S. 622 f. 665 Vgl. hierzu den Editorischen Bericht zur Rezension Troeltschs, in: KGA 13, S. 567 f. Becher hatte dem Herausgeber Hermann Schumacher im Mai 1922 einen Brief geschrieben, in dem er sich über die Rezension Troeltschs ereiferte: Troeltsch habe sein Buch „mißhandelt“. 666 Ernst Troeltsch: Erwiderung (wie Anm. 664), S. 622. 667 Ebd., S. 623. 668 Ebd. Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 577), S. 20, bringt die Einstellung Troeltschs zu Becher knapp auf den Punkt: „Troeltsch hielt den Mann schlichtweg für einen positivistischen Doktrinär.“
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spruch genommene Kompetenz erweist sich als überaus aufschlussreich für die Grundthese seiner ursprünglich verfassten Rezension: dass nämlich die zeitgenössischen Bestrebungen – hier in Gestalt von Becher und Rickert –, die nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen definitorisch zu konturieren deshalb ins Leere liefen, weil sie auf unterschiedliche Weisen die von Troeltsch als zentral erachteten Momente, mit denen das historische Denken auf Engste verstrickt ist, nicht zur Geltung zu bringen vermöchten. 669 In der dieser „Erwiderung“ vorangegangenen Rezension zu Erich Bechers Wissenschaftssystem finden sich zahlreiche Hinweise auf diese zentralen Momente samt einer Skizze ihrer wissenschaftlichen Referenzsysteme. Dabei – soviel sei an dieser Stelle vorweggenommen – nimmt die von Troeltsch idealisierte Psychologie eine Schlüsselstellung ein. Troeltsch zeigt sich wenig interessiert an einer vereinheitlichenden Betitelung der nicht-naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsdeutungen, da eine solche der Sichtbarmachung und Bearbeitung der ihnen internen Vielschichtigkeit und Andersartigkeit gerade abträglich sei: Es sei, so argumentiert Troeltsch gegen Rickert, „zu betonen, daß es in der Tat eine völlige Unmöglichkeit ist, historische Gesetzeswissenschaften, historisch-konkrete Wirklichkeitserkenntnis, systematische Geisteswissenschaften und Wertsysteme auf eine gemeinsame Ebene zu stellen, bloß weil sie alle mit seelischen Vorgängen und Inhalten zu tun haben [. . .]. Das ist absolut unmöglich und es bedarf gar keines gemeinsamen Namens für sie. [. . .] Muß schon ein gemeinsamer Name sein, so würde ich sie 670 die historisch-ethischen Wissenschaften nennen [. . .]“ . Troeltschs Umgang mit der Thematik zielt folglich nicht auf das Problem der Namensfindung, sondern vielmehr auf eine erschließende Debatte dessen, was denn da eigentlich mit ‚Kultur- oder Geisteswissenschaft‘ überschrieben wird. Denn eine Namensgebung ist zum einen freilich nie nur eine Namensgebung, sondern zugleich immer auch programmatische Bestimmung und noch grundlegender wird zum anderen möglicherweise durch eine gemeinsame Überschrift eine Einheit suggeriert, die sachlich so gar nicht konstatiert werden will. Die Debatte im Modus der Namensfindung zu führen, hieße wohl, ihr eher ein vorschnelles Ersticken als abschließende Klärung zu bereiten. Die Marginalität der Nomenklatur wird von Troeltsch eingängig umrissen und seine Kritik an der Unnötigkeit eines gemeinsamen Namens geht mit unüberhörbaren Untertönen einher. Es sei sachlich nicht angemessen – in Troeltschs Worten sogar „unmöglich“ – die höchst un669 Ernst Troeltsch: Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 46 (1922), S. 35–64, jetzt in: KGA 13, S. 567–604. 670 Ebd., S. 595 f.
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terschiedlichen Gegenstände nicht-naturwissenschaftlichen Denkens mit einem vereinheitlichenden Titel zu versehen, weil dies eine Einheit suggerieren würde, die für Troeltsch aus sachlichen Überlegungen heraus gerade nicht suggeriert werden kann und sollte. Troeltsch zeigt sich also gerade an der Disparatheit des Feldes interessiert und, obgleich er selbst einen Namensvorschlag beisteuert, gerade nicht daran, dem ‚Kind‘ einen Namen zu geben – weil gar nicht klar ist, welches Kind da eigentlich benannt werden soll – oder noch zugespitzter: weil der Rezension Troeltschs folgend dieses Kind noch der Geburtshilfe harrt. „Muß 671 schon ein gemeinsamer Name sein“ – so leitet Troeltsch etwas widerwillig seinen eigenen Vorschlag ein – und das dürfte an dieser Stelle frei von Koketterie sein. Denn sein eigener Vorschlag wird von Troeltsch gleich wieder relativiert, indem er den Blick auf das ‚eigentliche‘ Geschehen lenkt, das diesem Streit über Namensgebungen zu Grunde liegt: „So [mit einem Vorschlag zur Namensgebung, MB] würde ich urteilen, wenn es sich lediglich um einen logischen Streit handelte. Aber das ist in Wahrheit gar nicht der Fall. Wie immer, wo es sich um einen sehr heftigen philosophischen Streit handelt, sind metaphysische Pro672 bleme im Hintergrund. Und das ist auch hier der Fall.“ Die metaphysischen Ausgangspositionen Bechers und Rickerts, die zu erhellen Troeltsch im Fortgang der Rezension bemüht ist, bergen die tiefliegende Inkompatibilität beider Konzeptionen und werden von Troeltsch als Ausgangspunkte für die eigene Positionierung genutzt. Diese eigene Positionierung nun legt frei, was in Troeltschs Augen das eigentliche Geschäft ‚historisch-ethischer Wissenschaften‘ zu sein hätte und angesichts welcher explizit zu reflektierender Problembestände dieses zu betreiben wäre. Denn gerade die „Gegenstände“, so urteilt Troeltsch, seien bei Rickert und 673 Becher „andere“ . Während der Naturalist Becher „nur unmittelbar sinnliche und unmittelbar psychologische Daten“ kenne, „die ihm die Metaphysik ersetzen 674 und aus denen er alles ‚Höhere‘ durch Verwickelung gewinnt“ , sei das Denken Rickerts durch die „Kantische transzendentale kopernikanische Logik“ geprägt, 675 „bei der die Gegenstände vom Denken erzeugt werden“ . Die metaphysische Dimension sei infolgedessen und vermittelt durch die weiterführenden Arbeiten von Lotze und Windelband bei Rickert hin zum Gelten als „Notwendigkeit 676 formaler Produktion“ selbst verschoben. Orientiert an einem substantiellen
671 672 673 674 675 676
Ebd., S. 596. Hervorhebung von Verf. Ebd. Ebd., S. 597. Ebd. Ebd. Ebd., S. 598.
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Gegenstandsbegriff erfolge wiederum bei Becher eine an den unterschiedlichen Substanzen orientierte Aufteilung der Wissenschaftsgattungen. Kennzeichnend für das naturalistische Paradigma, das Troeltsch dem Philosophen Becher durchgängig attestiert, gehe es in beiden Objektwelten um das Aufdecken der zu Grunde liegenden Kausalitätsbeziehungen. Die „Kulturgehalte“ würden von Becher dabei nicht als „Einbruch von Ideen, sondern abstrakt auszusondernde Seiten von verwickelten psychologischen Prozessen“ verstanden: „Individualität ist kein metaphysisches Geheimnis, sondern ein Erzeugnis der Komplikation, ein 677 Schnittpunkt von gesetzlichen Reihen“. Das gelegentliche Plädoyer Bechers für eine „Metaphysik der Ideen“ wird von Troeltsch als durchaus sympathisches, aber inkonsequentes Verlassen des eigentlichen Standpunktes gewertet: „Das 678 spricht für den Menschen, aber gegen den Systematiker.“ Auch die Prämissen Rickerts, die dieser selbst zu überdecken suche, die sich jedoch unweigerlich aus der untergründigen Anknüpfung an Lotze ergäben, rekonstruiert Troeltsch. Die Geltungslogik hinter Rickerts Wissenschaftstheorie macht Troeltsch an einer bedeutenden Modifikation der Kantischen Lehre fest. Seinem Lehrer Windelband folgend trete bei Rickert neben die Kantische einfache, an der Naturgesetzlichkeit ausgerichtete Fassung eine andere: An jedem von der Logik erzeugten Objekt werde nämlich nicht nur die naturgesetzliche, sondern auch eine zweite, derselben Erzeugungslogik verdankte Dimension kon679 statiert: Dabei handele es sich um „individualgesetzlich[e] Geschichtsdinge“ . Die aus dieser Doppelheit folgenden Rein- und Mischformen verdankten sich nun gerade nicht substantieller Unterschiedenheit, sondern „Interesse [. . .] und 680 Erkenntnisziel“ des Wissenschaftlers. Dieser Erweiterung der Kantischen Philosophie nun liegen, so Troeltsch, einige metaphysische Konstanten zu Grunde, die das Konzept Heinrich Rickerts von dem Erich Bechers fundamental unterscheiden. Troeltsch steht dieser wissenschaftstheoretischen Fassung Rickerts skeptisch gegenüber. Zwar schließe er sich ausdrücklich „den von Rickert gemeinten meta-
677 Ebd., S. 597. 678 Ebd. 679 Ebd., S. 598. Angesichts der damit angerissenen Fragestellung verweist Troeltschs auf einen von ihm verfassten Aufsatz. Damit ist etwas Typisches für den Rezensenten Troeltsch angetroffen, denn in seinen Rezensionen begegnen häufig Selbstreferenzen. In „Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert“ verweist Troeltsch implizit auf seine zuvor in „Schmollers Jahrbuch“ erschienene Besprechung „Die Revolution in der Wissenschaft“ (1921) sowie explizit auf zwei seiner Aufsätze: „Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge“ (1916) und „Der historische Entwicklungsbegriff in der modernen Geistes- und Lebensphilosophie“ (1921). 680 Ernst Troeltsch: Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert (wie Anm. 669), S. 598.
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physischen Sachverhalten“ an, könne sich jedoch nicht „zu der Rickertschen Logik der bloßen Geltungen und der doppelseitigen Gegenstandserzeugung be682 kennen“ . Die ihn mit Rickert verbindenden Interessen verortet Troeltsch in dem einzuholenden Problemhorizont: einerseits „die schlechthin ursprüngliche und 683 unbegreifliche Individualität“ zur Geltung bringen zu können und andererseits 684 eine „Hervorhebung der Schwierigkeiten im Begriff der Gegenständlichkeit“ zu leisten. In der Durchführung Rickerts überzeuge ihn jedoch weder die „transzendentallogische Verkleidung des ersteren“, noch die „transzendentallogische Lösung 685 des zweiten“ . Auch Troeltschs Beschreibung der Windelband-Rickert’schen Erweiterung der Kantischen Erkenntnistheorie lässt auf die von ihm empfundene fundamentale Untauglichkeit des geltungslogischen Umgangs mit der Geschichte schließen: Rickert und Windelband nämlich täten methodologisch nichts anderes als „der Kantischen Naturgesetzlichkeit [. . .] ein andersartiges Reich der 686 Geschichte entreißen“ zu wollen. Hiermit dürfte deutlich ausgesagt sein, dass der formallogische Zugang auf der Ebene rein logischer Betrachtung möglicherweise zu überzeugen, mit der Dynamik und den Eigenarten der Geschichte aber gerade nicht angemessen umzugehen vermag, vielmehr eine unzulässige Übertragung naturgesetzlichen 687 Denkens auf die Geschichte und das historische Denken bedeutet. Troeltsch beschließt die Rezension mit einer ausführlichen Analyse der Psychologie. Bestand sein Beitrag zu der Frage, ob Kultur- oder Geisteswissenschaften der angemessenere Übertitel seien, darin, den abträglichen, letztlich debattentilgenden Effekt dieser Fragestellung anzudemonstrieren, geht er nun etwas anders vor: Unter der feststehenden Überschrift ‚Psychologie‘ nimmt er den Entwurf einer historisch-ethischen Leitwissenschaft vor, wohlgemerkt in einem Zuschnitt, der die Psychologie als Idealdisziplin zeichnet und die mit den Troeltsch zeitgenössischen Spielarten psychologischer Forschung weniger zu tun haben dürfte. 681 Ebd., S. 599. 682 Ebd. 683 Ebd. 684 Ebd., S. 600. 685 Ebd. 686 Ebd., S. 598. Hervorhebung von Verf. 687 Vgl. ähnliche Beobachtungen zur Rickert-Kritik Troeltschs bei Andreas Cesana: Geschichte als Entwicklung? Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens, Berlin, New York 1988, S. 69–72, der v. a. anhand des Historismus-Bandes (Der Historismus und seine Probleme: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, 1922, jetzt als KGA 16) Troeltschs Auseinandersetzung mit Rickert skizziert.
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In seiner Skizze grenzt er sich deutlich von den Konzeptionen Bechers und Rickerts ab und entwirft die Psychologie als hochkomplexe Wissenschaft, mit der die zuvor verhandelten Problembereiche gleichsam eine disziplinäre Entsprechung und Bearbeitung – und gleichzeitig eine programmatische Zuspitzung – erhielten. Die Psychologie, konzentriert auf ihr Proprium, nämlich „den nur eben dem Lebenden und Seelischen eigentümlichen Gedanken einer konkreten flie688 ßenden, beständig Neues hervorbringenden Lebenseinheit“ , könnte so dafür bürgen, dass „der Gedanke des Entstehens oder Werdens oder der Entwicklung der Geistesgehalte ohne naturalistische und evolutionistische Trivialisierung in 689 Angriff genommen werden.“ Die Psychologie wird von Troeltsch als diejenige Wissenschaft entworfen, die sich für eine integrale Bearbeitung drängenster zentraler Fragestellungen eigne. Dafür bräuchte es jedoch einen „sehr viel weiteren 690 Begriff der Psychologie, als der heute üblich ist.“ Die der Psychologie wesentlichen Aufgaben bestimmt Troeltsch in personalistischer Fassung, die sich wiederum hauptsächlich an den Bedingungen der Möglichkeit von Neuem interessiert zeigt: „Sie [die Psychologie, MB] handelt von dem psychologischen Subjekt und von den in diesem Subjekt vermöge eines inneren Zusammenhanges mit einer Welt des Unbewußten oder Überbewußten stets vorhandenen Möglichkeiten des Aufquellens neuer geistiger Gehalte und 691 Werte.“ Die antinaturalistische, aber auch antilogische Stoßrichtung einer solchen Fassung der Psychologie darf zunächst als Bemühung Troeltschs gesehen werden, eine wissenschaftliche Thematisierung des „psychologischen Subjekt[s]“ nicht ohne historische Dimensionierungen geschehen zu lassen, vielmehr wird 692 die Psychologie als Vermittlerin von „Biologie und Geschichte und Ethik“ begriffen. Diese Vermittlung soll nach Troeltsch jedoch nicht methodenmonis693 tisch geleistet werden, vielmehr fordert er eine breite Methodenvarianz dieser
688 Ebd., S. 604. 689 Ebd. 690 Ebd., S. 603. 691 Ebd. 692 Ebd. 693 Vgl. dazu Gerhold Beckers Beobachtung, die dieser übrigens ebenfalls anhand einer Rezension (zu Julius Bergmann aus dem Jahr 1901) gewinnt: „Selbst auf die Gefahr hin, daß auf diesem Wege und mit einem solchen Begriff der Logik zugleich die Unmöglichkeit letzter systematischer Wirklichkeitserkenntnis gesetzt sein könnte und damit Erkennen als wissenschaftliches sich wesentlich beschränken bzw. völlig neu bestimmen müßte, hält Troeltsch an solchem logischen Pluralismus gerade um der Bedeutung des Erkennens willen fest, und wendet sich so gegen jeglichen Methodenmonismus [. . .].“ Gerhold Becker: Neuzeitliche Subjektivität und Religiosität (wie Anm. 244), S. 119.
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Psychologie ein , die eben auch die Eigendynamik von Geschichte und Ethik zu berücksichtigen hat. Auffällig ist, dass Troeltsch dieser Psychologie sehr klar umrissene materiale Bestände ins Stammbuch schreibt. In eigentümlicher Weise schiebt sich nun die Bezeichnung der ‚historisch-ethischen Wissenschaften‘ als Folie über diese von Troeltsch angeführten Bestände. Beide Attribute sind in Troeltschs Skizze der Psychologie eingezeichnet und gewinnen in ihr an Profil: Die wissenschaftstheoretische Suchbewegung Troeltschs strebt im Modus des Entwurfes einer idealtypischen Psychologie nach Möglichkeiten, geistige Tätigkeit und Spontaneität so aussagbar werden zu lassen, dass sie weder naturalistisch vergegenständlicht 695 noch formalistisch entschärft werden. Dass Troeltsch darüber hinaus von der jeweils „konkreten fließenden, bestän696 dig Neues hervorbringenden Lebenseinheit“ spricht, lässt deutlich werden, dass es ihm darum geht, gerade im Modus wissenschaftlicher Thematisierung die Unübergehbarkeit der jeweiligen Individualität zu sichern. Die Formulierungsvarianz, die hinsichtlich des „Entstehens oder Werdens oder der Entwicklung“ bzw. des „Aufquellens“ von Neuem begegnet, macht deutlich, dass ein festerer Aussagemodus für Troeltsch in dieser Frage zwar noch aussteht (und im Modus einer fixen ‚Lehre‘ auch Troeltschs Anliegen verfehlen würde), die hier gemeinten Genesen jedoch nur als geschichtlich und individuell vermittelte und zugleich historisch und individuell unableitbare Vorgänge thematisiert werden können. Das heißt zunächst, dass weder trivialhistorische noch logizistische, noch an Kausalitäten orientierte Modelle wissenschaftlich das einzuholen vermögen, woran Troeltsch interessiert ist: nämlich dem wissenschaftlich verantworteten und auf Gestaltung zielenden Umgang mit Individualität unter den Bedingungen des angebrochenen 20. Jahrhunderts.
3.3.2 Diskursfronten Wissenschaft 3.3.2.1 Idealismus – Rationalismus – Materialismus – Relativismus In dem Göttinger Philosophen Julius Baumann fand Troeltsch bereits früh eine Position, die er als Negativfolie für die Profilierung und Darstellung seines eigenen Denkens nutzen konnte. 694 Vgl. Ernst Troeltsch: Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert (wie Anm. 669), S. 603. 695 Walter Bodenstein: Neige des Historismus (wie Anm. 1), S. 197, fasst dies so: „Den Mann, der alles in Frage gestellt hat, packt ein Grauen, wenn das Spontane hinwegnivelliert wird.“ 696 Ernst Troeltsch: Die Geisteswissenschaften und der Streit um Rickert (wie Anm. 669), S. 604. Hervorhebung von Verf.
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1898 besprach er für „Die Christliche Welt“ das Buch „Realwissenschaftliche Begründung der Moral, des Rechts und der Gotteslehre“, das Baumann im selben 697 Jahr veröffentlicht hatte . Troeltsch, der an keiner Stelle die Mühe erkennbar werden lässt, sich argumentativ auf die Position Baumanns einzulassen, skizziert zunächst diejenigen denkerischen Traditionen, die Baumann bekämpfe. Dieser richte sich gegen den „Spiritualismus der Kant-Fichteschen Schule und die poetische Weltanschauung der Identitätsphilosophie. In beiden will er aber zugleich auch die subjektiven Idealisirungsversuche treffen, mit denen die historischen Religionen sich das 698 Weltbild ausschmücken.“ In den Fahrwassern von „Darwinismus“ und „mo699 derne[r] Psychologie“ versuche Baumann, die strikte Unselbständigkeit des menschlichen Geistes zu erweisen: „Das einzig Objektive ist die mathematischmechanische, meßbare anorganische Welt, zu der die organische Natur und 700 der Geist als ein [. . .] von ihr völlig bedingtes „‚Stück‘ [. . .] hinzukommt.“ Troeltschs massives Interesse, genau einer solchen Adaption naturwissenschaftlicher Paradigmen durch die Philosophie zu wehren, hat seinen zentralen Grund in der aus einer solchen Adaption folgenden Materialisierung des menschlichen Geistes: Die „Darlegungen Baumanns“ seien „charakteristisch für die Wirkung, die die Entleerung des Geistes von allen selbständigen eignen Inhalten und die überall einsetzende naturwissenschaftliche, besonders psycho-physiologische 701 Erklärung hervorbringen muß.“ Polemisch konstatiert Troeltsch abschließend die Bindung Baumanns an das seiner Philosophie zugrundeliegende Paradigma: „Fast alles das kommt von der modernen naturwissenschaftlichen Psychologie, 702 an die Baumann in fast rührender Weise glaubt.“ Drei Jahre nach dieser Rezension besprach Troeltsch erneut ein Werk Baumanns, nun allerdings für die „Deutsche Litteraturzeitung“. Das Buch „Neuchris703 tenthum und reale Religion“ war 1901 erschienen. Erneut nimmt Troeltsch
697 Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Baumann: Realwissenschaftliche Begründung der Moral, des Rechtes und der Gotteslehre (wie Anm. 122). Troeltsch verweist in der Rezension für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Position Baumanns auf seinen Artikel „Moderner Halbmaterialismus“ der 1897 ebenfalls in „Der Christlichen Welt“ erschienen war, vgl. ebd. S. 500. 698 Ebd., S. 498. 699 Ebd., S. 499. 700 Ebd. 701 Ebd., S. 500. 702 Ebd. 703 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Baumann: Neuchristenthum und reale Religion. Eine Streitschrift wider Harnack und Steudel. Nebst einem Katechismus realer Religion, Bonn 1901, in: Deutsche Litteraturzeitung 22 (1901), Sp. 1417 f., jetzt in: KGA 4, S. 157–159. Auch Troeltschs Aufsatz „Moderner Halbmaterialismus“ (1897) besteht aus der rezensionsartigen Auseinander-
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eine Wiedergabe des Gelesenen vor, bezieht nun jedoch auch ausführlich dazu Stellung. Es gehe Baumann – u. a. in expliziter Kritik an Harnacks Wesensschrift 704 – darum, ausgehend von einer „Art Halbmaterialismus“ die Vernunftreligion gleichsam anzudemonstrieren. Diese werde als „eine illusionsfreie, beweisbare 705 und daher allgemeiner Anerkennung fähige“ Religion entwickelt. Wiederum würden die Tätigkeiten des Geistes als „kleine Episoden“ an „die anorganische Körperwelt mit der Unzerstörbarkeit ihrer Substanz und der Unvermeidbarkeit 706 ihrer Energie als Hauptthatsache“ zurückgebunden. Gott, dessen Existenz aus der „Gesetzmässigkeit und Korrelation dieser Wirklichkeit“ abgeleitet wird, wird 707 zur „mathematisch-mechanischen Intelligenz“ . Noch im Modus der Rekonstruktion Baumanns deutet sich die Kritik Troeltschs an dessen Vernunftreligion an. Diesem „Halbmaterialismus“ eigne nämlich trotz aller moralischen Interessen eine ethische Blindheit, da „nach Zwecken des Ganzen [. . .] nicht gefragt 708 werden darf“ . Und gerade die Elemente, an denen Troeltsch besonderes Interesse hat, werden von Baumann ‚wegmaterialisiert‘. Zum einen dadurch, dass Baumann eine Religion konstruiert, durch die „die transzendenten Illusionen in ihrer gehirnphysiologischen Bedingtheit wie in ihrer ziellosen historischen Verän709 derlichkeit erkannt und unschädlich gemacht werden können“ , zum anderen dadurch, dass „[d]ie Phantasie, die all das hervorbringt“ disqualifiziert wird als „‚ein Ueberschuss von Nervenkraft‘, der besser auf nützliche Veranstaltungen 710 sozialer und philanthropischer Art abgelenkt wird.“ Troeltsch begegnet dieser Position vom wissenschaftlichen und vom religi711 ösen Standpunkt. Wissenschaftlich, und man darf hinzufügen: am materialistischen Paradigma selbst ausgerichtet, betrachtet, gebe es gerade keine Belege für materialistische Substrate der Religiosität: „Die Hinweise auf die Abhängigkeit des Bewusstseins von der Blutfülle des Gehirns und von Nervengiften werden so lange nicht verfangen, als B. nicht unter Einspritzung irgend welcher Gifte einen 712 Luther oder Franziskus experimentell hervorgebracht hat.“ Die Religionskritik setzung mit Julius Baumann: Ernst Troeltsch: Moderner Halbmaterialismus (1897), in: KGA 1, S. 575–596. 704 Ernst Troeltsch: [Rez.] Julius Baumann: Neuchristenthum und reale Religion (wie Anm. 703), S. 157. 705 Ebd. 706 Ebd. 707 Ebd. 708 Ebd., S. 158. 709 Ebd. 710 Ebd. 711 Vgl. ebd. 712 Ebd.
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Baumanns, die in der Rede von den „transzendenten Illusionen“ begegne, um dann materialistisch aus dem Weg geräumt zu werden, treffe überhaupt nicht: „Der religiöse Mensch aber wird sagen, dass ihm der Hinweis auf das Wunschund Triebhafte in aller Religion nicht im mindesten illusionistischen Theorien geneigt macht, da es ja das Charakteristische religiöser Empfindung sei, diese Wünsche und Triebe selbst als von Gott in der Seele gewirkt zu betrachten, da Gott ihm überhaupt nicht ein Ergebniss, sondern ein Urdatum seines geistigen 713 Lebens sei“ . Das also, was Baumann als den zu beseitigenden Missstand der Religion wertet, macht nach Troeltsch die Religion gerade aus, „da die Emp714 findung ihrer eigenen Unerklärbarkeit gerade ihr Kern und Rückgrat sei.“ In der Summe hält Troeltsch fest, dass neben den wissenschaftlichen und religi715 ösen Ausfällen das Konzept Baumanns auch im Ergebnis der ‚realen Religion’‘ nichts Attraktives anzubieten vermag: „aber darin werden beide, der religiöse und der rein wissenschaftliche Mensch, übereinstimmen, dass die ihrer seit fünfzig Jahren gewonnenen Beweisbarkeit so frohe Vernunftreligion B.s bei aller 716 moralischen Achtbarkeit doch unergründlich trivial und inhaltslos ist.“ Eine Anwältin für viele der Anliegen Troeltschs, die er gegen den Materia717 lismus Baumanns geltend macht, ist die idealistische Philosophie. In vielen Spielarten begegnet sie in den Besprechungen Troeltschs und eine Einordnung Troeltschs in die Idealismen seiner Zeit fällt nicht ganz leicht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Troeltsch – zunächst grob gesprochen – vielen Elementen der idealistischen Denktradition verbunden ist. Dennoch ergibt sich aus der Überschau der Rezensionen (oder anderer Schriften Troeltschs) keine eindeutige Möglichkeit, Troeltsch als Idealisten zu bezeichnen. Dies liegt nicht nur daran, dass Troeltsch keine solche Selbstzuweisung konsistent vornimmt, sondern fällt vor allem deshalb schwer, weil sich unüberbrückbare Spannungen zwischen den idealistischen Denkbeständen und Troeltschs Interessen konstatieren lassen bzw. von Troeltsch selbst markiert werden. Bereits 1897, anlässlich der Besprechung des Buches „Die Unsterblich718 keit im Lichte der modernen Wissenschaft“ von Otto Hartwich , findet sich Troeltschs bedingungslose Zustimmung zur Abwehr einer materialistischen Anthropologie. Zu dieser Abwehr bedient sich Troeltsch des klassischen idealisti713 Ebd. 714 Ebd., S. 159. 715 Vgl. dazu den Titel des Werks Baumanns: Neuchristenthum und reale Religion. Hervorhebung von Verf. 716 Ebd., S. 159. 717 Vgl. hierzu auch 3.1.2.1 dieser Arbeit. 718 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Otto Hartwich: Die Unsterblichkeit im Lichte der modernen Wissenschaft, Leipzig 1895, in: Die Christliche Welt 11 (1897), Sp. 283–284, jetzt in: KGA 2, S. 201 f.
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schen Interesses, dem Menschen ein eigentümliches geistiges Vermögen zuzuschreiben, das seiner bloßen Natur überlegen ist: „[R]ichtig ist jedenfalls, daß im menschlichen Seelenleben etwas Eigentümliches und in sich selbst Gehaltvolles auftritt, das über die menschliche Seelennatur sich erhebt, von dem natürlichen Zwang der physischen Selbst- und Gattungserhaltung sich befreit und von dem bloßen Gehirn sich noch deutlicher unterscheidet als das tierische Seelenle719 ben.“ In Korrektur der These Hartwichs wird die Frage nach dem Glauben an die Unsterblichkeit von Troeltsch jedoch nicht als unmittelbares Derivat aus dieser Geistigkeit des Menschen, sondern als funktional dahingehend interpretiert, mit der Endlichkeit menschlicher Existenz umgehen zu können: „Der Unsterblichkeitsglaube selbst hängt aber weniger an dieser relativen Selbständigkeit des menschlichen Geistes gegenüber Seelennatur und Instinktzwang, sondern an dem Bedürfnis, jene geistigen Inhalte in ihrer Vollendung zu erleben und in 720 ihnen nicht bloß lauter abgebrochne Anfänge zu sehen.“ Weiterführend ist Troeltschs Analyse der Konzeption Paul Natorps. 1904 721 besprach Troeltsch dessen Buch „Platos Ideenlehre“ für „Die Christliche Welt“. Troeltsch bietet in dieser Besprechung zunächst ein Panorama des zeitgenössischen Idealismus im Allgemeinen, sodann im Besonderen und in der Hauptsache eine Einschätzung des Idealismus, wie Natorp ihn vertritt. Frei von jedweder Polemik verortet Troeltsch diesen in den Kontext „der hochverdienten Marburger 722 Kant-Schule“ und skizziert das Programm Natorps als platonischen Rationa723 lismus, als „Methode des prinzipiellen Denkens“ . Sein Fokus gilt dabei vor 724 allem der religiösen Perspektive auf die konzeptionellen Erträge Natorps . Das von Troeltsch eröffnete ‚Panorama‘ der zeitgenössischen Idealismen verdeutlicht zuvor, dass unter der Überschrift ‚Idealismus‘ gegenwärtig höchst uneinheitliche Konzeption verhandelt würden: „skeptische, buddhistisch-pessimistische, 725 romantisch-ästhetische, pantheistische oder rein ethische.“ Gemeinsam sei diesen Idealismen, „gegen den Materialismus und Naturalismus des letzten halben 726 Jahrhunderts sich stark und lebhaft“ zu wehren. Allein: „Wirkliche religiöse 727 Kraft und religiöser Ernst ist darin noch nicht allzuviel zu Tage getreten.“ Auch 719 Ebd., S. 202. 720 Ebd. 721 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Natorp: Platos Ideenlehre (wie Anm. 124). 722 Ebd., S. 337. 723 Ebd. 724 Dieser Fokus verwundert freilich ohnehin nicht und wird bei Ansehen des Organs, in dem diese Rezension veröffentlicht wurde, nämlich „Die Christliche Welt“, nur noch näherliegend. 725 Ebd., S. 337. 726 Ebd. 727 Ebd.
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wenn sich dieses Urteil nicht bezogen auf das Buch Natorps findet, kann sich Troeltsch dem Idealismus Natorps – trotz dessen antimaterialistischer Grundausrichtung – nicht anschließen, denn auch ihm gelingt es nicht, die religiös interessanten und wesentlichen Momente konstruktiv thematisch werden zu lassen: „So kann auch dieser Idealismus uns willkommen sein als Aufräumung mit dem naturalistischen Wesen, das den Menschen und das Denken nur als zufälliges Erzeugnis toter und gleichgiltiger Dinge kennt oder ihn bestenfalls der Sinnenwelt unter seinen gesellschaftlichen Nutzen, unter das Bedürfnis der Existenzbehauptung, beugen läßt. Aber die psychologische Selbsttäuschung der Religion, daß sie, Hingeben und Empfangen, Gebet und Erleuchtung sei, wird 728 sich gegen ihn mit der Macht der noch unbegriffenen Tatsache behaupten.“ Diese Argumentation ist wohl nicht zuletzt dem starken theistischen Interesse Troeltschs geschuldet, die Religion nicht in Irgendetwas aufgehen zu lassen. Denn gerade in diesem Motiv liegt für Troeltsch das eigentliche Religiöse und deshalb kann ein Idealismus in der Spielart Natorps für ihn kein befriedigendes Referenzsystem sein: „Es ist gewiß nicht das Letzte in der Religion, sich bloß an die psychologische Tatsache zu halten. Aber, wer sie stark und lebendig an sich und Andern sieht, wird jedenfalls dem psychologischen Faktum vorläufig das Recht einräumen gegenüber einer es in sein Gegenteil verkehrenden Theorie der Feststellung des Wirklichen aus der Anwendung allgemeiner Begriffe auf die 729 Erfahrung.“ Und trotz dieses Votums gegenüber einer von ihm empfundenen rationalistischen Überbestimmung der Religion wird man Troeltschs Ausloten der wissenschaftsparadigmatischen Landschaft schwerlich mit dem Psychologismus oder Empirismus zu einem ihn befriedigenden Ende gekommen sehen. Das bringt schon der von Troeltsch selbst eingeräumte Vorbehalt zum Ausdruck, die Orien730 tierung am Psychologischen sei „gewiß nicht das Letzte“ . Die Betonung der Nichteinholbarkeit religiöser Erfahrung erfüllt gegenüber den rationalistisch bzw. materialistisch ausgerichteten Programmen vielmehr die Funktion der Abwehr von Fehlverständnissen: Religiosität sei weder Gegenstand noch sei Gott Begriff. Und doch wird man wiederum auch Troeltschs theologische Kritik am Idealismus bzw. Rationalismus nicht verabsolutieren dürfen. In einer Besprechung des schottischen Philosophen Alexander Campbell Fraser zeigt sich Troeltsch massiv an der Betonung der Vernünftigkeit der Welt interessiert. Die Publikation
728 Ebd., S. 339. 729 Ebd. 730 Ebd.
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„Philosophy of Theism“ , der die Gifford-Lectures Frasers zugrunde liegen, wird von Troeltsch mit Begeisterung den Lesern der „Deutschen Litteraturzeitung“ vorgestellt. Es sind mehrere Momente, die Troeltsch explizit als gedankliche Gemeinsamkeiten zwischen sich und Fraser konstatiert. In nicht untypischer Weise verweist er dabei auch auf eigene Werke, hier seinen Selbständigkeits732 Aufsatz , um das übereinstimmende Interesse kenntlich zu machen, Religion und Metaphysik zu unterscheiden und doch nicht beziehungslos auseinanderfallen zu lassen. In diesem Punkt sind die Gemeinsamkeiten jedoch noch nicht erschöpft. Fraser, der sich an Humes „Dialogues concerning natural religion“ 733 abarbeite, komme in seiner Abhandlung nicht wie Hume bei der Skepsis an. Vielmehr führten ihn seine religionsphilosophischen Studien dazu, ein „Zutrauen“ prinzipieller Art festzustellen: „In den Voraussetzungen unseres Denkens und Handelns ist ein sich stets an der Erfahrung bestätigendes Zutrauen zur Rationalität der Welt enthalten, das in sich mehr als bloss diese Vorbedingung 734 naturwissenschaftlicher und praktischer Arbeit enthält.“ Da Troeltsch ohne Anzeichen einer inhaltlichen Distanzierung diesen Gedanken Frasers aufnimmt, wird präziser deutlich, dass seine Vorbehalte gegenüber den idealistischen Konzeptionen als strikter Antirationalismus missverstanden wären. An der Rede von einem „sich stets an der Erfahrung bestätigende[n] Zutrauen zur Rationalität der Welt“ lässt sich ablesen, dass Troeltsch keinen Antirationalismus vertritt, dass sich aber gerade die Vernünftigkeit nicht auf rationalistischem Wege erheben lässt, nicht am Konkreten, der „psychologische[n] 735 Tatsache“ vorbei sinnvoll artikulierbar wäre. Auch dem Neoidealismus Claß’ gegenüber macht Troeltsch 1897 die Übernahme der Hegelschen Schwäche zum Vorwurf, es würden in Erweis der Vernunft der Geschichte, „[z]ahllose Seelen 736 [. . .] verbraucht“ . Von einer „Rationalität dieser Welt“ kann für Troeltsch offenbar nur personalistisch und je nur in individueller Konkretion gehandelt
731 Ernst Troeltsch: [Rez.] Alexander Campbell Fraser: Philosophy of Theism, Edinburgh, London 1895/1896, in: Deutsche Litteraturzeitung 18 (1897), Sp. 1921–1924, jetzt in: KGA 2, S. 209–212. 732 Gemeint ist: Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (1895/96), in: KGA 1, S. 359– 535. 733 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Alexander Campbell Fraser: Philosophy of Theism (wie Anm. 731), S. 210. 734 Ebd., S. 211. 735 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Natorp: Platos Ideenlehre (wie Anm. 124), S. 339. Übrigens macht Troeltsch auch Fraser gegenüber kritisch geltend, dass „die psychologischen Bestandtheile des Buches [. . .] geradezu dürftig“ seien. Ernst Troeltsch: [Rez.] Alexander Campbell Fraser: Philosophy of Theism (wie Anm. 731), S. 212. 736 Ernst Troeltsch: [Rez.] Gustav Claß: Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des menschlichen Geistes (wie Anm. 151), S. 180.
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werden. Näherhin so, dass die Rationalität gerade kein die konkrete Individualität überbietendes Ziel hätte, das die Personen austauschbar werden ließe oder die Individualität tilgend in ein Absolutes absorbieren würde. Dieses „Zutrauen in die Rationalität“ sei überdies, so Troeltsch, nicht als Propädeutik für wissenschaftliche oder allgemein ethische Zwecke richtig erfasst, sei mehr als nur das, eben „mehr als bloss die[] Vorbedingung naturwissenschaftlicher und prakti737 scher Arbeit“. Mit der von Troeltsch in der Aufnahme Frasers geltend gemachten Vernünftigkeit ist also etwas über Hinausgehendes gemeint als die sich bewährende Annahme, in die Welt ließen sich Gesetze einschreiben bzw. die Welt ließe sich auf Gesetzmäßigkeiten hin durchsichtig machen. Eine solche Rationalität übersteigende ‚Vernünftigkeitshypothese‘ findet hohes Interesse bei Troeltsch. Troeltsch legt größten Wert darauf, das – für ihn letztlich religiöse – Moment der Vernünftigkeitsgewissheit in seinem wissenschaftlichen Gerüst thematisch zu machen. Dies wird auch in der Bewertung des Œuvres Wilhelm Diltheys deutlich. In seiner Rezension eines Bandes der Gesammelten Schriften des damals bereits verstorbenen Berliner Philosophen rückt Troeltsch den aporetischen Zug in Diltheys Werk in den Vordergrund, keine Geltungsmomente mehr plausibel aussagen zu können: „Er selbst bezeichnete als Ergebnis von alledem die ‚Anarchie der Werte‘. Sofern er sich diesem Ergebnis dann doch wieder entziehen wollte, blieb ihm nur der Versuch, aus psychologischen Beobachtungen und Gesetzen trotz allem wieder eine Metaphysik zu destillieren, die dann freilich nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis des kulturphilosophischen oder geisteswissenschaftlichen Denkens war und ebendamit selber unter den Einfluß 738 jenes Relativismus geriet.“ Bereits in der Besprechung von Frasers Buch klingt das Interesse Troeltschs an, einer Aneignung naturalistischer Denkweisen und damit einer „inkonsequente[n] Abbrechung der schon in der naturwissenschaftlichen Arbeit selbst 739 bethätigten Prinzipien“ zu wehren. Dieses Motiv spiegelt – nun sehr viel expliziter – auch eine Besprechung für „Die Christliche Welt“ aus dem Jahr 1906 wider, die das zweibändige Werk „Das Weltgesetz des kleinsten Kraftaufwandes in den Reichen der Natur und des
737 Ernst Troeltsch: [Rez.] Alexander Campbell Fraser: Philosophy of Theism (wie Anm. 731), S. 211. 738 Ernst Troeltsch: [Rez.] Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Band 2: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Leipzig 1914, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), jetzt in: KGA 13, S. 91–94, hier S. 92. 739 Ernst Troeltsch: [Rez.] Alexander Campbell Fraser: Philosophy of Theism (wie Anm. 731), S. 212.
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Geistes“ von Gustav Portig zum Gegenstand hat. Portig versuche durch detail741 lierte Studien das Verhältnis zwischen „Naturforschung“ und der Philosophie einer neuen Bestimmung zuzuführen. Diese Verhältnisveränderung ist in der Darstellung Portigs jedoch gerade nicht bedingt durch Modifikationen innerhalb der geisteswissenschaftlichen Beschreibungsleistungen, sondern vielmehr durch grundlegende Veränderungen innerhalb der naturwissenschaftlichen Reflexionskultur. Der zentrale Gedanke Portigs, dem Troeltsch sich sehr interessiert zuwendet, liegt in der These, dass das bislang alternativlos regierende „monistisch742 mechanische Denken“ Ablösung finde durch den Rekurs auf „pluralistische 743 Gedanken in neuen Formen“ . Troeltsch nutzt in seiner Stellungnahme zu diesem Befund in der „Christlichen Welt“ zunächst die Gelegenheit, den Grund der sich bislang abzeichnenden Diastase zwischen Naturwissenschaft und Philosophie auch im eigenen Fach zu verorten: „Es war doch nur eine Art verzweifelter Selbsterhaltung, wenn die gerade in unseren Kreisen verbreitete kantisierende Theologie die phänomenale Natur der monistisch-naturalistischen Methode auslieferte und neben diesem ‚atheistischen Denken‘ sich mit einem ethischen Glau744 benstheismus einrichtete“ . Troeltsch zeichnet als Konsequenz dieser Strategie, die letztlich die Unverträglichkeit zweier Wirklichkeitserfassungen zementiert, dass dieses so behandelte „‚atheistische Denken‘ auf den Glauben irgendwie ab745 färben muß“ . Die von der Naturwissenschaft suggerierte Identität von Wissen746 747 schaftlichkeit und atheistischer , d. h. „monistisch-mechanische[r] Methodik“ könne nun von der Naturwissenschaft selbst her aufgebrochen werden. Die Begrüßung dieses Aufbruchs durch Troeltsch ist jedoch keineswegs dem Zweck geschuldet, interdisziplinäre Harmonien zu ermöglichen oder der Theologie und Philosophie einen störenden weltanschaulichen Widerpart zu nehmen. Vielmehr verspricht sich der von dem Grundgedanken Portigs angetane Troeltsch von einer solchen Wende ein paradox anmutendes Ergebnis: „[S]o wächst die Aussicht auf
740 Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Gustav Portig: Das Weltgesetz des kleinsten Kraftaufwandes in den Reichen der Natur und des Geistes, Band 1: In der Mathematik, Physik und Chemie, Stuttgart 1903, 2. Band: In der Astronomie und Biologie, Stuttgart 1904, in: Die Christliche Welt 20 (1906), Sp. 548 f., jetzt in: KGA 4, S. 472–476. Der einen entschiedenen Dualismus vertretende Dr. phil. Dr. theol. Gustav Portig (1838–1911) war Ordinarius in Hamburg und Schriftsteller, vgl. dazu das Biogramm in KGA 4, S. 829. 741 Ebd., S. 473. 742 Ebd., S. 475. 743 Ebd., S. 474. 744 Ebd., S. 475. 745 Ebd. 746 Vgl. ebd. 747 Ebd.
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eine Lösung des Zwiespaltes, die [. . .] die Möglichkeit von wirklichen Gegensätzen 748 und ihrer Ueberwindung in der Welt, wieder herstellt.“ Die von Portig als totale Absage an Idealismus und Materialismus artikulierte Kritik am Monis749 mus schränkt Troeltsch mit der vorsichtigen Bemerkung ein, er könne „Portigs 750 Kritik der bisherigen Philosophie nur sehr bedingt zustimmen“ – auch hier also eine sehr differenzierte, wenn auch wenig eindeutige Stellungnahme zum Idealismus und Troeltschs Selbstverortung zu ihm. Von der in der These Portigs steckenden Verheißung auf eine angemessene gesamtwissenschaftliche Einholung von Gegensätzen und Überwindungsmomenten – anders gewendet eben der Thematisierung der ‚Vernünftigkeitsgewissheit‘ – verspricht sich Troeltsch nicht zuletzt eine Veränderung der Theologie, die bislang von der hausgemachten Diastase gefangen genommen und gehemmt war. Dies wird deutlich darin, dass Troeltsch zwar nicht „den alten Wunderglauben und anthropomorphen 751 Theismus, aber doch das Schöpferische und Lebendige“ durch einen solchen Wandel zu einer Wiederbelebung zu kommen hofft. Das dem rationalistischen Konstitutionszugriff letztlich entzogene Moment der ‚Vernünftigkeitsgewissheit‘ wird von Troeltsch thematisch gemacht in der Bemerkung, seine Haltung gründe sich „in der Hauptsache auf dem unserer Kenntnis und Erfahrung zugänglichen 752 religiösen Leben selbst“ – die Forderung nach einer gesamtwissenschaftlichen Bearbeitung tief liegender Gegensätze und ihrer Überwindungen stellt dabei möglicherweise schon den Impuls eines charakteristisch religiösen Geltungsmoments dar. Troeltsch ringt in seinen Rezensionen folglich mit den vorfindlichen wissenschaftsparadigmatischen Modellen nach der Möglichkeit, Gleichzeitigkeiten verschiedener, teilweise spannungsvoller Momente angemessen bearbeiten zu können. Dabei dokumentiert sein differenzierter Umgang mit konkurrierenden Denktraditionen, immer wieder einzelne Elemente aufgreifend, modifizierend oder ablehnend, das engagierte Bemühen um ein geeignetes Instrumentarium. Eine eindeutige und durchgängige Selbstzuordnung zu einer dieser Traditionen oder einer bestimmten Mischung ihrer Elemente bleibt aus. Vielmehr zeigt sich eine Kontinuität sachlicher Anliegen, die sich wiederum als Negativa eindrücklich aufweisen lassen: die Abwehr einer materialistischen Vergegenständlichung des Geistes und damit Tilgung der Aussagbarkeit von Spontaneität; die Abwehr einer wiederum materialistischen Objektivierung von Religiosität und damit Til748 749 750 751 752
Ebd., Hervorhebung von Verf. Vgl. ebd., S. 473. Ebd., S. 474. Ebd., S. 475. Ebd.
3.3 Das Ringen um die „historisch-ethischen Wissenschaften“
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gung der Ausdrucksmöglichkeit des Zusammenkommens von historischer Individualität und Geltung; die Abwehr eines monistischen Weltbildes, das wirkliche Gegensätzlichkeiten und somit auch Überwindungsmomente in ihrer Tiefe nicht zu erfassen und auszudrücken vermag; die Abwehr einer idealistischen und rationalistischen Bestimmungswut, die sich das Unbestimmbare gewaltsam zu eigen macht; die Abwehr eines Relativismus, der Troeltschs nicht rationalistisch einholbare Überzeugung von der Vernünftigkeit dieser Welt gänzlich ins Unrecht 753 setzt. 3.3.2.2 Geschichtsphilosophie und „Entwickelung“ Troeltsch veröffentlichte mit 40 Rezensionen so viele wie kein anderer nicht eigentlich der Historikerzunft angehöriger Zeitgenosse in der „Historischen Zeit754 schrift“. In diesem Befund schlagen sich Troeltschs Expertise und sein Renommee auf historischem und geschichtsphilosophischem Gebiet nieder. Freilich drehen sich jedoch auch zahlreiche der in anderen Organen veröffentlichten Rezensionen im weiten Sinne um das Thema ‚Geschichte‘ – es wäre leichter, diejenigen zu benennen, auf die dies nicht zutrifft. An keinem anderen Problemfeld lassen sich Troeltschs Anliegen und sein abwägendes Ringen um angemessene Explikationen besser zur Darstellung bringen als an dem vielfach von ihm bemühten aber auch kritisierten Konzept der 755 „Entwickelung“ . Genauso intuitiv wie der Begriff einleuchtet, genauso schnell
753 Eine Analyse der Position Troeltschs zum erwachenden Pragmatismus, der erkennbar in einigen Aufsätzen Troeltschs eine interessante Plattform zur Profilierung seiner eigenen Interessen geboten hat, ist leider nicht sehr ertragreich. Dies bezieht sich zum einen auf die Besprechungen William James’, da Troeltsch von ausführlicheren Stellungnahmen zu James’ Werk absieht und den verfügbaren Raum stattdessen für eine detaillierte Wiedergabe der Gedanken James’ nutzt – was freilich als solches nicht uninteressant ist (vgl. Anm. 594). Weiterführend ist zum anderen leider auch nicht die Rezension zu Kurt Sternberg: Der Kampf zwischen Pragmatismus und Idealismus in Philosophie und Weltkrieg, Berlin 1917, in: Theologische Literaturzeitung 44 (1919), Sp. 41, jetzt in: KGA 13, S. 438 f. Dort nimmt Troeltsch lediglich die Haltung Sternbergs aufs Korn, die im Weltkrieg aufgebrochenen Feindschaften in einer Wesensbestimmung der Kriegsteilnehmer gründen zu lassen, in der die Deutschen als „kantische Idealisten“ und die „Gegner“ als „Pragmatisten“ (S. 438) verstanden werden. 754 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf: Einleitung (wie Anm. 58), S. 17 f., die Rezensionen erschienen zwischen 1901 und 1924. Zwei Besprechungen wurden postum publiziert. Ernst Troeltsch publizierte als nicht eigentlich der Historikerzunft Angehöriger jedoch nicht nur die meisten Rezensionen in der „Historischen Zeitschrift“, vielmehr trifft diese Beobachtung auf seine Beiträge in diesem Organ insgesamt zu. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Philosophisch reflektierte Kriegserfahrung. Einige Überlegungen zu Ernst Troeltschs „Kaisergeburtstagsrede“, in: TS N. F. 1, S. 231–252, hier S. 236. 755 Über die Begriffsgeschichte von ‚Entwicklung‘ orientiert ausführlich Andreas Cesana: Ge-
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entzieht er sich in seiner präzisen Bedeutung. Sein Gehalt wird von Troeltsch wiederum nicht einheitlich bestimmt, der Begriff begegnet jedoch von den frühesten bis zu den letzten von Troeltsch verfassten Besprechungen und markiert fortlaufend in unterschiedlichen Debatten Troeltschs jeweilig akzentuierte 756 Schwerpunkte oder Problemkreise. Dabei ist der Umgang mit dem Begriff der „Entwickelung“ vor allem so aufschlussreich, weil in ihm sowohl die Wirkung breiter philosophischer Traditionsströme als auch die Adaption eines wirkungsmächtigen naturphilosophischen bzw. -wissenschaftlichen Konzepts vorliegen. In den von Troeltsch verfassten „Theologischen Jahresberichten“ begegnen zahlreiche Auseinandersetzungen mit dem Entwicklungsbegriff, nicht zuletzt ist 757 den Berichten mit „Religionsgeschichte und -Entwicklung“ jeweils ein eigenes Teilkapitel zu eigen, das den theologischen Gebrauch des Entwicklungsbegriffes explizit und implizit thematisch macht. In einer Selbstanzeige von 1896 im Rahmen des „Theologischen Jahresberichts“ ordnet Troeltsch seinen Selbständigkeitsaufsatz als Beitrag zum „Begriff 758 der Entwickelung in seiner Anwendung auf die Religionsgeschichte“ ein. Seine Bestimmung des Entwicklungsbegriffes stellt er dabei „als eine wirkliche Offenbarungsentwickelung, als eine Entgegenbewegung Gottes gegen die Men759 schen“ dar. Dabei sei die „Entwickelung“ jedoch „nicht mit der der imma760 nenten Voraussetzung des Bewusstseins“ identisch, sondern vielmehr „von schichte als Entwicklung? (wie Anm. 687), S. 11–105. Zum Entwicklungsgedanken im Kontext der Theologie der Aufklärung vgl. Hans-Walter Schütte: Die Vorstellung von der Perfektibilität des Christentums im Denken der Aufklärung, in: Hans-Joachim Birkner, Dietrich Rössler (Hrsg.): Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Berlin 1968, S. 113–126. 756 Hans Dieter Kittsteiner: Zum Aufbau der europäischen Kulturgeschichte in den Stufen der Moderne, in: TS N. F. 1, S. 21–47, hier S. 25, konstatiert für „Der Historismus und seine Probleme“: „[D]er Begriff des ‚Aufbaus‘ ist an die Stelle der nicht mehr selbstverständlichen ‚Entwicklung‘ getreten.“ Hier wäre anzufragen, ob denn der Begriff „Entwicklung“ für Troeltsch jemals ein selbstverständlicher war. Gerhold Becker: Neuzeitliche Subjektivität und Religiosität (wie Anm. 244), S. 137, konstatiert, Troeltsch „will [. . .] am Entwicklungsbegriff zunächst einfach die Eigentümlichkeit der Geschichte demonstrieren, die in der umfassenden Beziehung der individuellen Sinntotalitäten untereinander besteht, und die nur mit dem konkreten Leben und seinen Bewegungen verglichen werden kann. [. . .] Als solcher Grundsachverhalt ist der Entwicklungsbegriff mehrfach interpretierbar. Im religiösen Zusammenhang läßt er sich verstehen als ‚Werdegang des göttlichen Geistes‘, im philosophischen als die ‚Herauslösung der Freiheit aus der inneren und ideellen Notwendigkeit‘ [. . .], also emanzipativ.“ 757 Vgl. etwa Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und principielle Theologie, in: Theologischer Jahresbericht 18 (1899), S. 531–603, jetzt in: KGA 2, S. 554–642, hier S. 591–616. 758 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre (wie Anm. 162), S. 97. 759 Ebd. 760 Ebd.
3.3 Das Ringen um die „historisch-ethischen Wissenschaften“
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ihr nur mitbedingt, immer nur eine Geschichte der an den Willen sich wen761 denden, aber im Geistesleben selbst sich vollziehenden Offenbarung“ . Bereits hier klingt an, dass Troeltsch an einer Adaption des Entwicklungsbegriffes als kausaler Verfügbarmachung des historischen Materials nicht interessiert ist und dass er mit seiner Verwendung des Entwicklungsbegriffs die Lebendigkeit des 762 menschlichen Geistes und nicht Gesetzmäßigkeiten des Bewusstseins zu thematisieren bestrebt ist. Im „Theologischen Jahresbericht“ 1898 räumt Troeltsch der Besprechung eines Aufsatzes von Friedrich Michael Schiele zur Erforschung 763 des Entwicklungsbegriffs in der Theologie überdurchschnittlich viel Raum ein – ein weiteres Indiz dafür, wie wichtig ihm die diesbezügliche Reflexion gewesen sein dürfte. Er skizziert, mit kleineren Korrekturen an Schiele die konkurrierenden Entwicklungskonzeptionen in der deutschen Philosophie, die namentlich mit Lessing, Semler und Kant auf der einen Seite, Herder, Schelling, Schleierma764 cher und Hegel auf der anderen Seite verbunden seien. Dem Votum Schieles, 765 die „Auflösung der Probleme des Entwicklungsbegriffes“ zugunsten Schleiermachers zu entscheiden, schließt Troeltsch sich nicht an, obwohl Schiele diese Auffassung nicht zuletzt an Troeltschs „Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegenströmungen“ (1893/94) festmachen möchte. Besonders stößt sich Troeltsch an dem Umstand, dass Schleiermachers „Auflösungsversuch in Wahrheit doch noch sehr an das rationalistische bezw. deistische Schema der Religionsphilosophie gebunden ist, wo die an sich geltende allgemeine Religionswahrheit im Christenthum eine besondere historische Introduction finden 766 sollte.“ Ebenfalls 1898, in Auseinandersetzung mit Auguste Sabatiers „Esquisse d’une philosophie de la religion d’après la psychologie et l’histoire“ (2 1897), hebt Troeltsch Sabatiers Abhandlung hervor gegenüber „den bei uns nie aussterbenden Versuchen, in die prinzipiell angenommene historisch-psychologische Methode durch irgend welche Hinterpförtchen doch wieder eine spezifisch christ767 liche d. h. supranaturalistische Methode einzuführen“ . 761 Ebd. 762 Zu dem Gedanken, dass für Troeltsch nur der Geist als Korrespondenzgröße der Entwicklung in Frage kommt, vgl. auch Andreas Cesana: Geschichte als Entwicklung? (wie Anm. 687), S. 73. 763 Gemeint ist: Friedrich Michael Schiele: Der Entwickelungsgedanke in der evangelischen Theologie bis Schleiermacher, Zeitschrift für Theologie und Kirche 7 (1897), S. 140–170. Schiele war einer der Herausgeber der RGG1 . 764 Vgl. Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und principielle Theologie (wie Anm. 166), S. 443 f. 765 Ebd., S. 445. 766 Ebd. 767 Ernst Troeltsch: [Rez.] Auguste Sabatier: Esquisse d’une philosophie de la religion d’après la psychologie et l’histoire, 2. Aufl., Paris 1897, in: Deutsche Litteraturzeitung 19 (1898), Sp. 737– 742, jetzt in: KGA 2, S. 328–333, hier S. 329.
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Troeltschs Bewertung des „‚kritischen Symbolismus‘“ Sabatiers fällt dennoch durchaus kritisch aus. Zwar würdigt Troeltsch die „rückhaltlose[] Aner769 kennung der Geltung des historischen Entwickelungsgesetzes“ und pflichtet der „Behandlung der religiösen Vorstellungen als wandelbarer Symbole für 770 religiöse Lebensinhalte“ bei. Und doch widerspricht er Sabatier in einigen zentralen Punkten, die mit der Verwendung, näherin einer Überstrapazierung des Entwicklungsbegriffes einhergehen. Zum einen markiert Troeltsch einen „Grundirrtum, das Wesen der Religion einfach aus dem religiösen Durchschnittsbewusstsein darthun zu wollen. Die religiöse Kapazität der Menschen ist so 771 unendlich verschieden [. . .]“ Zum anderen kritisiert er Sabatiers parallele Erklärungen, die Religion komme einerseits als „Ergebniss einer verwickelten Reflexion psychologisch-kausal“ zustande, andererseits sei sie „eine[r] mystische[n] 772 Wirkung Gottes in den Seelen“ verdankt. Mit ersterem liege ein „Angriff auf den Grundcharakter der Religion“ vor, mit der Kombination beider Aussagen sei „ein Widerspruch erzielt, bei dem die psychologisch-kausale d. h. die die Religion 773 auflösende Erklärung der Religion nothwendig siegreich bleiben muss“ . Auch bestreitet er, dass die Behauptung der Absolutheit des Christentums mit Hilfe des Entwicklungsbegriffs statthaft sei: „Giebt es auf der Grundlage einer rein entwickelungsgeschichtlichen Anschauung überhaupt eine strenge Konstruktion 774 absoluter Grössen?“ Des Weiteren macht Troeltsch eine Korrektur hinsichtlich der Entwicklung des Christentums geltend: „[D]ie moderne Welt [ist] für das Christenthum nicht bloss eine Modifikation des Vorstellungsausdruckes, sondern 775 geradezu eine Zufuhr neuer religiöser Motive und Ausscheidung älterer“ . Hier wird deutlich, dass Troeltsch eine Anwendung des Entwicklungsbegriffes auf das Christentum ablehnt, wenn diese eine Verkennung oder Kittung von markanten Umbrüchen nach sich zieht, oder die Religion auf unzulässige Weise abstrahiert und passlich zu machen trachtet. So sehr Troeltsch eine konsequente Anerkennung des modernen geschichtlichen Denkens fordert und zu diesem Zweck den 776 Gedanken eines „historischen Entwickelungsgesetzes“ gegen die vielfach von ihm kritisierten supranaturalistischen theologischen ‚Fluchtversuche‘ geltend 768 Ebd. 769 Ebd., S. 328. 770 Ebd., S. 331. 771 Ebd. 772 Ebd. 773 Ebd. Es folgt ein Verweis Troeltschs auf die von ihm verfasste Rezension zu Lipsius in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ von 1894, vgl. dazu auch Kapitel 2.6 dieser Arbeit. 774 Ebd., S. 332. 775 Ebd. 776 Ebd.
3.3 Das Ringen um die „historisch-ethischen Wissenschaften“
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macht, so sehr missfallen ihm doch die Mängel des Entwicklungsbegriffes, die ihn für eine Reflexion und Thematisierung der eigentlichen Dynamiken von Religion, Christentum und Religiosität letztlich untauglich sein lassen. 1898 hingegen, wiederum im Jahresbericht, zeigt sich Troeltsch überaus angetan von Euckens Auslegung des Entwicklungsbegriffes, der hier „den Kampf der tieferen Kräfte der Wirklichkeit gegen die unmittelbare Lage zum Inhalt 777 hat.“ Der Entwicklungsbegriff dient in diesem Theoriegebäude also dazu, für die Gegenwart Handlungsimpulse freizusetzen, die auf Überwindung von Spannungen zielen und gleichzeitig den geschichtlichen Fortgang als von Spannungen geprägt zu thematisieren. Zweimal bespricht Troeltsch „Die Philosophie der Geschichte als Sociologie“ (1 1897, 2 1915) von Paul Barth. Diese Mehrfachbesprechung ist deshalb besonders reizvoll, weil zwischen den beiden Rezensionen achtzehn Jahre liegen. Zudem bespricht Troeltsch das Werk für unterschiedliche Organe: 1898 die erste Auflage für die „Theologische Literaturzeitung“, 1916 die zweite Auflage für das „Weltwirtschaftliche Archiv“. Der Philosoph, Hochschul- und Moralpädagoge 778 Barth wird von Troeltsch 1898 als „bereits vortheilhaft bekannter Schüler 779 Wundt’s“ eingeführt. Wie stark Troeltsch bereits zu diesem Zeitpunkt die spannungserzeugende Präsenz des Entwicklungsparadigmas wahrnimmt, zeigt der Eingangssatz der Rezension: „Je mehr alle Wissenschaften vom menschlichen Geistesleben sich auf eine entwickelungsgeschichtliche und vergleichende Methode begründen, um so brennender wird die Frage nach den Principien der Auffassung und 780 Beurtheilung der Geschichte oder das Problem der Geschichtsphilosophie.“ Auch die theologische Befassung mit der Geschichte sei durch „die um sich 781 greifende Herrschaft dieser Methode“ vor Herausforderungen gestellt, nämlich 782 „vor die Aufgabe einer Umbildung ihrer principiellen Voraussetzungen“ . Das Buch Barths wird von Troeltsch zunächst als ein Kompendium unterschiedlicher geschichtsphilosophischer Strömungen des 19. Jahrhunderts vorstellig gemacht und in dieser Eigenschaft den überwiegend theologischen Lesern der „Theologischen Literaturzeitung“ nahegelegt: „Wir können hier eine der mächtigsten 777 Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und principielle Theologie (wie Anm. 166), S. 399. 778 Vgl. Herbert Schönebaum: [Art.] Barth, Ernst Emil Paul, in: Neue Deutsche Biographie, Band 1, Berlin 1953, S. 602. 779 Ernst Troeltsch: [Rez.] Paul Barth: Die Philosophie der Geschichte als Sociologie, 1. Teil: Einleitung und kritische Uebersicht, Leipzig 1897, in: Theologische Literaturzeitung 23 (1898), jetzt in: KGA 2, S. 349–354, hier S. 349. 780 Ebd. 781 Ebd. 782 Ebd.
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3 Ernst Troeltschs Rezensionen als Programm protestantischer Selbstverortung
Strömungen der lebendigen gegenwärtigen Wissenschaft gründlich kennen lernen, die auch uns in ihren Wirbel hineinziehen müßte, wenn wir auf die leben783 dige Wissenschaft eingehen wollen.“ Das Programm Barths wird von Troeltsch als Syntheseversuch unterschiedlicher Denktraditionen vorgestellt: „Er will die französisch-englische Sociologie mit der bei uns ausgebildeten ideologischen 784 d. h. idealistischen Geschichtsphilosophie zu einem Ganzen vereinigen“ . Diese Syntheseleistung solle vor allem für die Näherbestimmung der „Collektiveinheiten“ dienen, in denen Barth – sich von Comte und Spencer abgrenzend – nicht „einfache Fortsetzungen des Thierreiches“ sehe und deshalb „ihre Entwickelung 785 nicht in der Weise der Biologie zu erforschen“ gedenke. Hier komme nun der Idealismus ins Spiel: „Diese[r] hat nämlich die den Willen mit selbständiger Kraft beherrschenden Ideale in ihrer Entwickelung und Bedeutung erwiesen, hat den specifisch geistigen oder, wie Barth lieber sagt, Willenscharakter der 786 menschlichen Collektiveinheiten gezeigt.“ Dennoch liege mit Barths Buch ohne Zweifel eine Konzeption vor, die der modernen Soziologie im Ganzen die 787 Leitung einräume. Troeltschs Widerspruch gegen das so entstandene Programm macht sich vor allem an dessen Monismus fest, der geschichtsphilosophisch in der These Barths mündet: „So hat die Geschichte eine streng einheitliche vorwärtstreibende Kraft 788 und ein streng einheitliches Ziel.“ Der von Barth und seinen Gewährsmännern vertretene Monismus birgt für Troeltsch mehr als ein inakzeptables Moment, so dass er votiert: „[S]o möchte ich überhaupt die ganze monistische Betrachtungsweise ablehnen, die den ganzen Geschichtsprozeß auf eine treibende Kraft und 789 ein treibendes Ziel beziehen will.“ Troeltsch argumentiert in seiner Stellungnahme gegen eine solche monistische Geschichtsphilosophie primär aus religiöser bzw. theologischer Warte. Zunächst liegt ihm daran, Religiosität weder in einer psychologischen Kausalket790 te aufgehen zu lassen , noch sie dabei – und da schreibt er keineswegs bloß gegen die neue Soziologie – als ein „wenn auch noch so hoch zu schätzendes 791 Reflexionsproduct“ zu begreifen. Seinem starken theistischen Interesse entsprechend deutet Troeltsch die Alternative an: Religion als „die Berührung mit 783 784 785 786 787 788 789 790 791
Ebd., S. 350. Ebd. Ebd. Ebd., S. 351. Vgl. ebd., S. 350 f. Ebd., S. 351. Ebd., S. 352. Vgl. ebd. Ebd.
3.3 Das Ringen um die „historisch-ethischen Wissenschaften“
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einer übersinnlichen Realität“ . Der im Programm Barths verkörperte Monismus widerstrebt Troeltsch jedoch noch aus zwei anderen Gründen. Zum einen 793 widerspricht er den Implikationen des Konzeptes einer „Collektiveinheit“ aufgrund der Vorordnung dieser Kollektiveinheit vor das Individuum, zum anderen macht er geltend, dass die Vorstellung, es mit Einheiten zu tun zu haben, in den Bereich der empirischen wie theoretischen Fiktion falle. Diese beiden von Troeltsch erhobenen Bedenken werden geschichtsphilosophisch dimensioniert: „Ferner wird man gerade vom religiösen Erlebniß aus den schon an sich sehr bedenklichen Gedanken bestreiten dürfen, daß die Collektiveinheit als solche das Centrum und Ziel des Geschichtsprozesses bilde und daß alle Steigerung des 794 individuellen Lebens durch ideale Inhalte dem sich nur als Mittel einordne.“ Einem Ausspielen des Individuellen gegen das Soziale verwehrt sich Troeltsch jedoch: „Die aus der Schule Kant’s und Goethe’s stammende deutsche Philosophie sollte dagegen nicht vergessen, daß es letzte, höchste Güter des Individuums giebt, die, neben der Gemeinschaft und des Gemeingefühls stehend, einen völlig selbständigen Werth besitzen und mit diesen nur durch das Band der Wechsel795 wirkung, nicht das der Unterordnung verbunden sind.“ Das antimonistische Argument wird von Troeltsch flankiert von einem religiös gespeisten, kantisch anmutenden Dualismus: „Wer den Geschichtsproceß überwiegend religiös betrachtet, wird sich darüber nicht wundern. Denn zwischen zwei Welten stehend und aus der Natur in die Welt des Geistes und der Persönlichkeit sich emporkämpfend kann der menschliche Geschichtsproceß weder in den treibenden psychologischen Kräften noch in den Resultaten einheitlich sein, wenigstens nicht unter den irdischen Daseinsbedingungen. Die Einheit kann hier lediglich 796 eine Hoffnung sein.“ Die 1916 im „Weltwirtschaftlichen Archiv“ publizierte Rezension ist zunächst auffallend länger als die Besprechung in der „Theologischen Literatur797 zeitung“, sie umfasst im Original siebzehn Seiten. Er selbst weist nicht auf 798 seine ältere Rezension des Buches hin. Die Besprechung ist überschrieben mit „Zum Begriff und zur Methode der Soziologie“ und bietet dementsprechend 792 Ebd. 793 Ebd. 794 Ebd. 795 Ebd. 796 Ebd., S. 353. 797 Ernst Troeltsch: Zum Begriff und zur Methode der Soziologie, in: Weltwirtschaftliches Archiv 8 (1916), S. 259–276, jetzt in: KGA 13, S. 184–207. 798 Jedoch empfiehlt er den Rezensionslesern seinen Aufsatz „Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge“, besser bekannt als ‚Kaisergeburtstagsrede‘ von 1916. Diese war im selben Jahr in der „Historischen Zeitschrift“ erschienen. Vgl. ebd., S. 203.
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eine aufschlussreiche Einschätzung Troeltschs die Soziologie insgesamt betreffend. Er schlägt die Unterscheidung zweier Typen der Soziologie vor, deren eine 799 – nämlich das Selbstverständnis der Soziologie als „Generalwissenschaft“ – er rundheraus ablehnt. Die Soziologie hingegen, die sich als „Einzelwissenschaft“ bescheidet, würdigt er als sinnvolle „Hilfswissenschaft für die Geschichte und 800 für die Kulturphilosophie“ . Das Urteil Barths Buch betreffend fällt – wie auch das Programm des rezensierten Werkes selbst – in Übereinstimmung zu der im Jahr 1898 verfassten Besprechung aus, allerdings ist auffällig, dass Troeltsch nun auf jede religionsbezogene Argumentation verzichtet. Dies mag in erster Linie damit zusammenhängen, dass die Rezension nicht wie 1898 in der „Theologischen Literaturzeitung“, sondern im „Weltwirtschaftlichen Archiv“ erschien. Dass Troeltsch seinen Leserkreis beim Abfassen einer Besprechung im Blick hat, zeigt sich in diesem Fall auch darin, dass er als Beleg für seine Position einen sozialökonomischen 801 Exkurs vornimmt . In seinem Soziologieverständnis wird Barth dem abzulehnenden Typus zu802 gerechnet, die Soziologie sei für Barth „das Wesen des historischen Denkens“ selbst, Barth intendiere mit seiner Gleichsetzung von Soziologie und Geschichtswissenschaft eine Korrektur der bisherigen Konzeptionen, zumal er „insbesondere in den heutigen deutschen Historikern keine wissenschaftlichen Erklärer, 803 sondern bis jetzt nur gestaltende Künstler erblicken kann“. Troeltschs bereits aus der älteren Besprechung bekannte Ablehnung der Methode Barths findet hier ausführlichere Entfaltung. Er bringt sich gegen nahezu alle Aussagen Barths in Position: „Ich bestreite den grundlegenden Intellektualismus und Methodenmonismus; ich unterscheide eine naturwissenschaftliche 804 und eine historische Methode wie Dilthey, Windelband und Rickert ; ich unterscheide von beiden Methoden der Erforschung der Seinswirklichkeit wieder die ethische Region der Bildung momentan-spontan erzeugter Bewertungsmaßstäbe, die aus der jeweiligen Situation nachfühlbar und verständlich erwachsen, aber 799 Ebd., S. 185. 800 Ebd. Vgl. hierzu auch Friedemann Voigt: „Die Tragödie des Reiches Gottes“? Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmels (TS 10), Gütersloh 1998, S. 42 f. 801 Vgl. Ernst Troeltsch: Zum Begriff und zur Methode der Soziologie (wie Anm. 797), S. 204–206. 802 Ebd., S. 188. 803 Ebd. 804 Hiermit ist freilich nicht viel mehr gesagt, als dass Troeltsch dem monistischen Ansinnen Barths widerspricht. Die für Troeltsch charakteristische eigentümliche Position weder auf Seiten Rickerts noch auf Seiten Diltheys wird von ihm an dieser Stelle nicht zugunsten einer ‚Partei‘ entschieden, vielmehr werden beide für das Festhalten an dem unbedingten Eigenrecht nichtnaturwissenschaftlicher Erschließung der Wirklichkeit in Anspruch genommen.
3.3 Das Ringen um die „historisch-ethischen Wissenschaften“
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nicht als ihr kausal notwendiges Produkt bezeichnet und wissenschaftlich über805 haupt nicht erklärt werden können und sollen.“ Troeltsch spitzt das Vorgehen Barths nun aber auf massive Selbstwidersprüche hin zu. Er begreift das Buch Barths als Dokumentation mehrerer grober Fehler. Erstens sei ein Wissenschaftsverständnis, das sich allein für „das einzig mögliche Erfassen der Wirklichkeit 806 überhaupt“ halte, verfehlt. Zum Zweiten könne die Methode Barths, „die des Kausalitätsprinzips, d. h. der kausalen Erklärung der zeitlichen Abfolge der Vorgänge mit einer strengen Notwendigkeit des Zusammenhanges nach vorwärts 807 und rückwärts“ auf dem Gebiet des geschichtlichen Denkens nicht überzeugen. Drittens wolle Barth seinerseits etwas aufzeigen, was mit den selbstgewählten Mitteln schwerlich aufzeigbar ist: „Idealistische Ziele sollen mit naturalistischen Mitteln bewiesen werden, zu welchem Zwecke die kausale Gesamtentwicklung der Welt und der Menschheit aufgeboten werden muß: das ist der Sinn dieses 808 ‚wahren‘ Monismus.“ Viertens: Bei dem Versuch, dieses zu leisten, werde Barth nicht nur den Anforderungen geschichtswissenschaftlicher Arbeit nicht gerecht, sondern verunklare auch das von ihm in Anspruch genommene Kausalitätsprinzip: Sein Konzept sei nicht nur, „eine starke Verengung der historischen 809 Materie“ , sondern dokumentiere auch, „daß von der mechanistisch bestimm810 ten und insofern völlig klaren Kausalitätsidee nicht mehr viel übrig bleibt“ . So schleiche sich, fünftens, die Leugnung letztlich unableitbarer standortbedingter Entscheidungen ein, die durch die vermeintlich streng objektive Methode einfach übertüncht werden, wie dies in einer Wiedergabe Barths durch Troeltsch zum Ausdruck kommt: „Auch die Rechtfertigung der Geltung eines Zweckes muß der bloß subjektiven und autonomen Bejahung oder auch der momentanen Begeisterung entrückt werden. [. . .] ‚Soll ein Wert allgemein und unbedingt sein, so muß naturwissenschaftlich und – ohne Wertbeziehung – bewiesen werden, aus welchen Ursachen er unbedingt lebenschaffend oder lebenzerstörend ist‘ (ein Satz, der für mich der vollendete Widersinn ist als wertfreie Feststellung von 811 Werten).“ Sechstens vermag er – wie bereits 1898 – die wiederum monistische Ausrichtung auf „die Gesellschaft“ nicht zu teilen: „Aber diese Konstituierung des Gegenstandes der Geschichte hat mit der Wirklichkeit der Geschichte und der unermeßlichen Mannigfaltigkeit ihrer möglichen Themastellungen nichts
805 806 807 808 809 810 811
Ebd., S. 203. Ebd., S. 188. Bei der Aufzählung handelt es sich um meinen Systematisierungsversuch. Ebd., S. 190. Ebd., S. 194. Ebd., S. 195. Ebd., S. 194. Ebd., S. 191.
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zu tun. Diese kennt Gesellschaften, aber nicht ‚die Gesellschaft‘; und sie wird 812 überdies auch auf die Gesellschaften sich nicht beschränken.“ Er beklagt: 813 „Aus dem Plural wird der Singular.“ Dies hat, siebtens, eine das Individuum in seinem Eigenwert überspringende Dynamik zur Folge. Damit ist jedoch eines der zentralen Anliegen Troeltschs überhaupt verfehlt. Er moniert: „Barth [. . .] geht auf den Begriff des Individuellen in der Geschichte gar nicht ein, vermutlich weil er darin ein der Kausalität sich entziehendes Wunder sieht, das für die Wissenschaft nicht in Betracht kommt. Aber dieses Wunder besteht tatsächlich, und ein Begriff von ‚Wissenschaft‘, der für es keinen Platz hat, muß in der Wurzel 814 falsch oder einseitig angelegt sein.“ Aufschlussreich ist jedoch auch die von Troeltsch an Barth angebrachte Kritik des verwendeten Entwicklungsbegriffes: „Barth kommt im Grunde über das allgemeinste Gesetz der Entwicklung des Sozial-Willens zu intellektueller Selbständigkeit und zu ethischer Befreiung von äußeren Autoritäten bei gleichzeitiger Festhaltung einer systematischen Gemeinschaft, also im ganzen zum Liberalismus, nicht hinaus. Er glaubt diese Entwicklungstendenz als tatsächlich herrschendes Gesetz bewiesen zu haben [. . .]. Freilich ist auch dieses letztere 815 kaum ein Naturgesetz, sondern mehr eine teleologische Fortschrittsformel“ . Diese Kritik findet sich vertieft in Troeltschs Nachweis einer Begriffslogik des Entwicklungsbegriffes, die er bei Barth nicht hinreichend erkannt sieht: „Allein da doch auch nach Barth die Ergebnisse der Wertsteigerung und schöpferischen 816 Synthese psychologisch-kausal als logisch notwendige Folge der Antezedentien zu verstehen sind, so ist entweder das Schöpferische und Aktive darin gleich Null und nur eine Illusion der auf das Momentane beschränkten Aufmerksamkeit oder es ist eine wirkliche Autonomie und Schöpfung des Wertes, der dann eben nicht kausal erklärbar, sondern nur psychologisch verstehbar und nachfühlbar ist als eine ihr Wesentliches gerade im Momentanen besit817 zende Schöpfung.“ Troeltsch zeigt sich, gerade im Unterschied zu Barth, als 818 Geschichtsphilosoph am Momentanen und dessen Dynamik interessiert , auch um tiefenscharf die Dimension der Ethik in den Blick zu bekommen und nicht 812 Ebd., S. 202. 813 Ebd., S. 197. 814 Ebd., S. 200. 815 Ebd., S. 197. 816 Der Begriff der ‚schöpferischen Synthese‘ geht auf Barths Lehrer Wilhelm Wundt zurück und findet auch Aneignung durch Troeltsch, vgl. dazu im Kontext der Absolutheitsschrift Trutz Rendtorff: Einleitung, in: KGA 5, S. 1–50, S. 44. 817 Ernst Troeltsch: Zum Begriff und zur Methode der Soziologie (wie Anm. 797), S. 193. 818 Polemisch bringt Troeltsch dies Barth gegenüber zum Ausdruck, wenn er ihn folgendermaßen wiedergibt: „Das Wertvolle ist vielmehr das Dauerhafte und Mächtig-Wirksame, und daran, daß
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wie Barth, das Seiende in das Gesollte umkippen zu lassen. Wiederum wird dieser Effekt an dem von Barth in Anspruch genommenen Entwicklungskonzept festgemacht: „Es ist die Neigung des Evolutionismus, die Seinswirklichkeit ohne weiteres in Wertwirklichkeit umzuwandeln und die tatsächliche Veränderungsfolge als stufenweise Vorbereitung zugleich des Zieles zu behaupten. Es ist 819 der Umschlag der Kausalität in Finalität, des Seienden in das Seinsollende“ . Der Schluss der Besprechung mündet in die Skizze eines Zuschnitts geschichtlicher Veränderung, die Troeltsch alternativ zu dem Programm Barths entwirft. Troeltsch hält fest, dass es sich um „spontane und momentane Idealsetzung und um deren Begrenzung durch die in der überkommenen Situation liegenden, 820 mehr oder minder elastischen Möglichkeiten“ handle. Dies widerspreche dem Charakter der Wissenschaft, wie sie Barth entwirft. Troeltsch ist aber ganz offensichtlich daran gelegen, durch Thematisierung des Spontanen bzw. Momentanen Handlungsimpulse und -potentiale freizulegen, die mit dem Paradigma eines kausalistischen Entwicklungsbegriff möglicherweise einfach erstickt würden. So weist er auf die Notwendigkeit der nicht-kausalistisch fassbaren Begriffe „mo821 mentaner und spontaner Zwecksetzung“ hin, „ohne die aber ein praktisches 822 Handeln und Gestalten unmöglich ist.“
etwas dauert, kann man seinen Wert ermessen (eine für die Dummheit und Bosheit sehr erfreuliche Sachlage).“ Ebd., S. 191. 819 Ebd., S. 203. 820 Ebd., S. 207. 821 Ebd. 822 Ebd.
4 Schluss: Religion als das bestimmt Unbestimmte und das unbestimmt Bestimmte Seine Rezensionen erweisen Troeltsch als Denker, der Momente vieler Theoriefiguren als berechtigt wahrnehmen konnte, ohne dabei auch nur annähernd einem positionellen Relativismus zu verfallen. Vielmehr kann Troeltsch als ein Denker der Komplementarität gelten, dem das eigene Theoriegebäude nicht in 1 Inkohärenzen oder Inkonsistenzen zerfällt , der jedoch durch eine gewisse terminologische Flexibilität seine Theoriesprache bis ins Anstrengende biegsam macht. Dass sich Troeltsch theoriesprachlich als polyglott erweist, ist der Preis, den er dafür gezahlt hat, ebendiese Komplementarität zu erreichen und die positionellen Einlinigkeiten samt den mit ihnen einhergehenden Sehschwächen zu umgehen. Troeltsch hat bei den von ihm zu rezensierenden Werken weder jemals ein ihn gänzlich überzeugendes Programm vorgefunden noch hat er seinerseits mit abschließenden Lösungen aufgewartet. Mit Resignation, Relativismus oder Orientierungsmangel hat dies jedoch nichts zu tun. Troeltsch hat weder das Probleme Ventilieren zum Selbstzweck erhoben noch waren seine stetigen Suchbewegungen destruktiv motiviert. Troeltsch hat die verschiedensten Theorieund Deutungszusammenhänge, die ihm zu nicht unerheblichen Teilen durch seine Rezensionstätigkeit eröffnet worden sind, stets daraufhin geprüft, welche terminologischen oder konzeptionellen Anleihen sich als vielversprechend für sein Denken erweisen. Die Auseinandersetzungen, die Troeltschs Rezensionen dokumentieren, verhalfen ihm zu einer Vergrößerung der methodischen und konzeptionellen Instrumentarien, bedeuteten aber damit zugleich die Vergrößerung der zu bewältigenden Herausforderungen und Probleme. Ein Eklektizismus, der blind Terminologie oder Gedanken aus ihren Kontexten reißt, war Troeltsch ebenso fremd wie ein statisches Theoriegefüge, an dem die zu rezensierenden Bücher nur hätten geprüft werden müssen. Dass Troeltsch dabei „zentrale Grund2 fragen“ umgetrieben haben, steht außer Frage und doch lassen auch diese sich
1 Ähnlich urteilt Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (Beiträge zur historischen Theologie, Band 99), Tübingen 1997, S. 9: Es „besteht die Gefahr, Troeltschs Werk aufzulösen in eine bloße Summe von untereinander nicht verbundenen Rezeptionsfäden. Demgegenüber muß darauf hingewiesen werden, daß es für Troeltsch zentrale Grundfragen gegeben hat, die seinem Denken trotz aller systematischen Unebenheiten eine gewisse Geschlossenheit geben.“ 2 Ebd.
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nicht katalogartig fixieren. Denn natürlich bleiben die Fragen von den in den zu rezensierenden Büchern vorfindlichen Antwortmöglichkeiten nicht unberührt. Dies vorausgesetzt lassen sich einige Interessen Troeltschs zusammenfassen, die in den Rezensionen mal im Modus der kritischen Anfrage, mal im Modus des thetischen Gegenentwurfs ihren Ausdruck finden. Troeltsch hat sich in seinen Rezensionen zeitlebens als Anwalt einer Spielart des protestantischen Christentums präsentiert, die nicht nur stark die denkerischen Probleme der Moderne empfindet, sondern sich diesen Problemen auch stellen will. Diese Konfrontationen muten in den Rezensionen nun jedoch keineswegs wie ein ‚Gang zum Schafott‘ an, sondern scheinen doch auf eigentümliche Weise stets von der Gewissheit getragen, dass diese denkerischen Auseinandersetzungen sich lohnen und von ihnen ein konstruktives Potential ausgeht. 3 Die „Reorganisationsversuche“ , die Troeltsch der protestantischen Theologie in seinen Rezensionen angedeihen lässt, sind nicht zuletzt von der Überzeugung motiviert, dass Geltung und Individualität keine unverträglichen Momente 4 sind : Geltung gibt es nicht ohne individuelle Konkretionen und Individualität ist andererseits nicht sinnvoll thematisierbar ohne Bindungsdimension. Das Ringen um eben diese Gleichzeitigkeit – die sich durch vielerlei Bezüge auf je unterschiedliche Weise hindurchdeklinieren lässt – ist dabei für Troeltsch wiederum keine denkerische Spielerei auf höchstem Niveau, sondern dient der Artikulation einer grundlegenden protestantischen Einsicht. Bei aller Varianz der terminologischen Einflechtungen wird folglich gesagt werden können, dass Troeltsch von einer Präsenz des Absoluten, das auf Vernünftiges hinwirkt, so zu handeln bestrebt war, dass die Unübergehbarkeit des je 5 Individuellen und Konkreten dabei konstitutiv ist. Die Fassung dieses protestantischen Grundanliegens erfährt bei Troeltsch dabei einen theistischen Zuschnitt, 3 Ernst Troeltsch: [Rez.] Richard Adelbert Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 3. bedeutend umgearbeitete Aufl., Braunschweig 1893, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 156 (1894), S. 841–854, jetzt in: KGA 2, S. 31–52, hier S. 32. 4 Georg Pfleiderer: Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler (Beiträge zur historischen Theologie, Band 82), Tübingen 1992, S. 67, fasst diese Struktur als „Formulierung des empirischen Wesens der Religion. Je mehr Troeltsch das geltungstheoretische Problem als Problem des Aufscheinens des Vernünftig-Notwendigen im Phänomenalen faßt, desto mehr wird das Phänomenale selbst zum Irrational-Tatsächlichen, das zum Realisationsfeld der Vernunft im kontingenten Augenblick der unableitbaren ‚schöpferische[n] Tat‘ wird.“ 5 Dies als „Metaphysik des Personalismus“ (Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologie als Kulturwissenschaft des Historismus, in: Peter Neuner, Gunther Wenz [Hrsg.]: Theologen des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2002, S. 53–69, hier S. 66); der Terminus findet sich bereits bei Ernst Troeltsch: Das Wesen des modernen Geistes (1907), GS IV, S. 297–338, hier S. 330) zu bezeichnen, ist durchaus plausibel. Allerdings geht die Religion, genauer: der christliche Glaube
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in dem Gott der menschlichen Reflexion keineswegs entrissen wird, aber gerade 6 kein Produkt dieser Reflexion sein soll. Troeltsch brachte größte Anstrengungen auf, Religion nicht in irgendetwas aufgehen zu lassen. Vielmehr ist für Troeltsch ein Umgang mit Religion kennzeichnend, der sie mal unbestimmt bestimmt oder sehr bestimmt unbestimmt sein lässt. Troeltsch erweist sich als Religionsphilosoph, der darum wusste, dass die Epoche der Definier- und Fixierversuche der Religion hinter ihm lag. Noch einmal: Das hat für Troeltsch gerade keine Reflexionslähmung zur Folge, sondern gerade das Gegenteil: Reflexionsdynamisierung. Oft wird, wenn auch mit ganz unterschiedlicher Intention und Wertung dieses Umstandes, das Unabgeschlossene der Arbeiten Troeltschs thematisiert: Angedeutete Absichten, unabgeschlossene Werke, das Vorliegende sei eher Vorarbeit als systematisch Vollständiges, es ereigne sich ein Abschied von der Theo7 logie, Flucht in die Metaphysik oder Mystik. Diese Beobachtungen sind vorfindlich als nüchterne Konstatierungen, aufrichtiges Bedauern oder Generalkritik. Die These vom letztendlich an seinen Aufgaben gescheiterten Troeltsch ist 8 eine Spielart dieses Monendums. Mit Hilfe der Rezensionen Troeltschs nun für Troeltsch gerade nicht in einer Vehikelfunktion für den Personalismus auf, ohne in Abrede stellen zu wollen, dass er für Troeltsch durchaus diese Leistung erbringt. Dies gilt es beachten, wenn Graf: Ernst Troeltsch. Theologie als Kulturwissenschaft des Historismus (wie Anm. 5), S. 66, schreibt: „Die Persönlichkeit Gottes ist hier gleichsam der symbolische Repräsentant der unaufhebbaren Individualität des Menschen.“ Das tiefe – religiöse – Zutrauen Troeltschs fasst Graf: ebd., S. 68: „Den christlichen Glauben verstand er als die entscheidende Kraftquelle, um mitten im relativistischen Wirrwarr der Moderne humane Individualität zu wahren.“ Man wird hinzufügen dürfen: Den christlichen Glauben verstand Troeltsch ebenso als Legitimationsgrund für tief bohrende Reflexionsforderungen an die Zeitgenossen der Moderne, die sich durch leichtfertige Immunisierungs- oder Fluchtreflexe dieser Reflexion verweigerten. 6 Troeltschs Zurückhaltung hinsichtlich der systematischen Konstruktion einer Gotteslehre spricht für den zentralen Status derselben für ihn. So schreibt er 1916 in seiner Rezension eines seine Theologie thematisierenden Buches von Walter Günther: „Am meisten Zustimmung äußert er zu meiner Metaphysik des Gottesbegriffes, über die ich bisher am wenigsten zu sagen gewagt habe.“ Vgl. Ernst Troeltsch: [Rez.] Walter Günther: Die Grundlagen der Religionsphilosophie Ernst Troeltsch’, Leipzig 1914, in: Theologische Literaturzeitung 41 (1916), Sp. 448–450, jetzt in: KGA 13, S. 179–183, hier S. 181. 7 Dazu bezeichnend Hendrikus Berkhof: 200 Jahre Theologie. Ein Reisebericht, NeukirchenVluyn 1985, S. 159: „Auch für Troeltsch kam die Zeit, da er keine Möglichkeit mehr sah, sich am Ast des Wertdenkens aus dem Treibsand des Historismus emporzuziehen. [. . .] Gegen einen uferlosen Relativismus versucht er sich in einer panentheistischen Metaphysik zu schützen“. Ebd., S. 161: „Die Geschichte, die anfangs für Troeltsch die Erschließung des letzten Weltgeheimnisses versprach, stellt sich jetzt als ein letzter Vorhang heraus.“ 8 So in aller Deutlichkeit Walter Bodenstein: Neige des Historismus, Gütersloh 1959, S. 207: „Troeltsch ist ein gescheiterter Theologe!“
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einen apologetischen Versuch dergestalt anzugehen, synthetisch doch ein System Troeltschs identifizieren zu wollen und zu können, wäre doppelt unaufrichtig. Zum einen, weil das Vorgeben, dies zu können, am literarischen Material vorbei urteilen würde. Zum anderen, weil das Vorgeben, dies zu wollen, einem Theologieverständnis anhängen würde, das am Fall Troeltschs das ‚fertige‘ System der Komplexität der Probleme vorziehen würde. Möglicherweise lohnt sich folgender Gedankengang: So trivial es auf den ersten Blick anmutet, sei einmal 9 angenommen, dass ein jedes auf dieser Welt seinen Preis hat. In diesem Bild gesprochen liegt der Preis, den Ernst Troeltsch für die Erfassung, Präsentation und ruhelose Reflexion des Denkens seiner Zeit gezahlt hat u. a. darin, seiner Nachwelt keine ‚Lösungen‘ in großem Stile hinterlassen zu haben: keine systematische Religionsphilosophie, keine umfangreiche Dogmatik, keine fertige Geschichtsphilosophie. Diese Tatsache lässt sich übrigens auch mit dem Hinweis auf seinen frühzeitigen Tod, einem letztlich ahistorischen Argument, nicht parieren. Deshalb nicht, weil das Fehlen eines Systems Troeltschs programmatisch ist und kein ‚Unfall‘. Dieses ahistorische Spiel einmal mitgespielt: Wer wollte denn ernsthaft behaupten, dass Troeltsch, hätte er 20 Jahre länger gelebt, eine fertige Dogmatik, Geschichtsphilosophie und Religionstheorie vorgelegt hätte? Für das weitere lebhafte Absorbieren zeitgenössischer Literatur, das Einarbeiten neuer Impulse, das Umarbeiten des eigenen Konzeptes, die Suche nach überzeugenderen Deutungsfiguren spricht erheblich mehr. Der Preis, den Troeltsch für seinen weit überdurchschnittlich breit angelegten wissenschaftlichen Horizont gezahlt hat, war nicht zuletzt seine unein10 heitliche Theoriesprache. Auch die Strategie des ‚In-der-Schwebe-Haltens‘ ist zeitweise äußerst herausfordernd. Und doch: Eine ‚Lösung‘ wäre gegenüber den Problemtableaus, die er zu zeichnen wusste, in den allermeisten Fällen ein Komplexitätsverlust – und das wiederum wäre ein Preis, den Troeltsch offensichtlich zu zahlen eben nicht bereit gewesen ist. Die Faszination, die von diesem Denken ausgeht, das in den Rezensionen einen unvergleichlichen Niederschlag gefunden hat, besteht gerade darin, es in Troeltsch mit einem Theologen zu tun zu haben, der in einem denkerisch nicht erzeugbaren tiefen Vertrauen auf eine Rationalität der Welt sich doch mit keiner Antwort oder Lösung zufrieden geben konnte, die das ihr zugrundeliegende Problem unzulässig kaschiert hätte. Dass eine solche Art der Theologie viel kostet, 9 Vgl. Nicholas Boyle: Who are we now? Christian Humanism and the Global Market from Hegel to Heaney, Edinburgh 2000. 10 Vgl. dazu Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie (wie Anm. 1), S. 100.
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liegt offen zu Tage, und doch liegt sie von einem ‚Scheitern‘ gleich welcher Art weit entfernt.
Literaturverzeichnis 1 Schriften Ernst Troeltschs: Rezensionen –: [Rez.] Richard Adelbert Lipsius: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen Dogmatik, 3. bedeutend umgearbeitete Aufl., Braunschweig 1893, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 156 (1894), S. 841–854, jetzt in: KGA 2, S. 31–52. –: [Rez.] Rudolf Eucken: Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung, Leipzig 1896, in: Theologische Literaturzeitung 21 (1896), Sp. 405–409, jetzt in: KGA 2, S. 55–63. –: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre, in: Theologischer Jahresbericht 15 (1896), S. 376–425, jetzt in: KGA 2, S. 80–163. –: Neue Triebe der Spekulation, in: Die Christliche Welt 10 (1896), Sp. 1163–1165, jetzt in: KGA 2, S. 164–167. –: [Rez.] Gustav Claß: Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des menschlichen Geistes, Leipzig 1896, in: Theologische Literaturzeitung 22 (1897), Sp. 51–57, jetzt in: KGA 2, S. 171–180. –: [Rez.] Otto Hartwich: Die Unsterblichkeit im Lichte der modernen Wissenschaft, Leipzig 1895, in: Die Christliche Welt 11 (1897), Sp. 283–284, jetzt in: KGA 2, S. 201–202. –: [Rez.] Alexander Campbell Fraser: Philosophy of Theism, Edinburgh, London 1895/ 1896, in: Deutsche Litteraturzeitung 18 (1897), Sp. 1921–1924, jetzt in: KGA 2, S. 209–212. –: Ernst Troeltsch: Religionsphilosophie und theologische Principienlehre, in: Theologischer Jahresbericht 16 (1897), S. 498–557, jetzt in: KGA 2, S. 213–309. –: [Rez.] Auguste Sabatier: Esquisse d’une philosophie de la religion d’après la psychologie et l’histoire, 2. Aufl., Paris 1897, in: Deutsche Litteraturzeitung 19 (1898), Sp. 737–742, jetzt in: KGA 2, S. 328–333. –: [Rez.] Paul Barth: Die Philosophie der Geschichte als Sociologie, 1. Teil: Einleitung und kritische Uebersicht, Leipzig 1897, in: Theologische Literaturzeitung 23 (1898), Sp. 398–401, jetzt in: KGA 2, S. 349–354. –: Religionsphilosophie und principielle Theologie, in: Theologischer Jahresbericht 17 (1898), S. 531–603, jetzt in: KGA 2, S. 366–484. –: [Rez.] Martin Rade: Die Religion im modernen Geistesleben, Freiburg i. B. 1898, in: Theologische Literaturzeitung 23 (1898), Sp. 570–573, jetzt in: KGA 2, S. 493–497. –: [Rez.] Julius Baumann: Realwissenschaftliche Begründung der Moral, des Rechtes und der Gotteslehre, Leipzig 1898, in: Die christliche Welt 43 (1898), Sp. 1026–1027, jetzt in: KGA 2, S. 498–500. –: [Rez.] Alexander von Oettingen: Lutherische Dogmatik, Band 1: Prinzipienlehre, München 1897, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 160 (1898), S. 827–832, jetzt in: KGA 2, S. 501–507. –: [Rez.] Auguste Sabatier: Die Religion und die moderne Kultur, Freiburg i. B. 1898; Pierre Daniël Chantepie de al Saussaye: Die vergleichende Religionsforschung und der religiöse Glaube, Freiburg i. B. 1898; Hans Martensen Larsen: Jesus und die Religionsgeschichte, Freiburg i. B. 1898; Nathan Söderblom: Die Religion und die sociale Entwicklung, Freiburg i. B. 1898, in: Theologische Literaturzeitung 24 (1899), Sp. 398–400, jetzt in: KGA 2, S. 538–543. –: [Rez.] Johann Baptist Heinrich: Dogmatische Theologie, Band 8, Mainz 1897, in: Theologische Literaturzeitung 24 (1899), Sp. 464–465, jetzt in: KGA 2, S. 544–546.
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2 Schriften Ernst Troeltschs: Monographien, Aufsätze
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2 Schriften Ernst Troeltschs: Monographien, Aufsätze –: Die Selbständigkeit der Religion (1895/96), in: KGA 1, S. 359–535. –: Zur Abwehr und Berichtigung gegen den Verfasser der „Religiösen Liquidation“ (1896), in: KGA 1, S. 561–574. –: Moderner Halbmaterialismus (1897), in: KGA 1, S. 575–596. –: Ernst Haeckel als Philosoph (1900), in: KGA 1, S. 769–800. –: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/12) mit den Thesen von 1901 und den handschriftlichen Zusätzen (= KGA 5). –: Grundprobleme der Ethik. Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik, in: ZThK 12 (1902), S. 44– 94, S. 125–178. –: Was heißt „Wesen des Christentums“? (1903), in: GS II, S. 386–451. –: Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft. Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die heutige Religionswissenschaft (1905), in: KGA 6, S. 215–256. –: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906/1911), in: KGA 8, S. 183–316. –: Wesen der Religion und der Religionswissenschaft (1906/1909), in: GS II, S. 452–499. –: Das Wesen des modernen Geistes (1907), in: GS IV, S. 297–338. –: Die Kulturbedeutung des Calvinismus (1910), in: KGA 8, S. 143–181. –: Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge. Rede zur Feier des Geburtstages seiner Majestät des Kaisers und Königs, Berlin 1916. –: Der historische Entwicklungsbegriff in der modernen Geistes- und Lebensphilosophie (1921), in: KGA 16, S. 804–888.
3 Materialien zu Ernst Troeltsch Dinkler-von Schubert, Erika (Hrsg.): Ernst Troeltsch. Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset 1894–1914, in: Heidelberger Jahrbücher 20 (1976), S. 19–52. Graf, Friedrich Wilhelm, Nees, Christian: Verzeichnis der Rezensionen und Kritiken zu Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme und anderen geschichtsphilosophischen Texten, in: TS 11, S. 285–298. Wagner, Sabine: Die Privatbibliothek von Ernst Troeltsch, in: Mitteilungen der Ernst-TroeltschGesellschaft 12 (1999), S. 33–68.
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Personenregister Anderson, Pauline R. 8 Anselm, Reiner 5 Apel, Max 39 Apfelbacher, Karl-Ernst 4, 46 f., 60 Athanasius 123 Atze, Stefan 77 Augustinus, Aurelius 123 Avenarius, Richard 56–58 Axt-Piscalar, Christine 5 Baron, Hans 4 Barth, Karl 24 Barth, Paul 6, 177 f., 180–183 Barth, Ulrich 41, 86 Bassermann-Jordan, Gabriele von 1 Bauch, Bruno 72 Baumann, Julius 60, 163–166 Bayle, Pierre 30 Becher, Erich 155–163 Becker, Gerhold 78, 162, 174 Bergmann, Julius 15, 28, 37 f., 60, 139, 162 Berkhof, Hendrikus 187 Bernoulli, Carl Albrecht 127 Biedermann, Alois Emanuel 134 Birkner, Hans-Joachim 83, 174 Bodenstein, Walter 11, 43–46, 163, 187 Bousset, Wilhelm 50 f., 95 Boyle, Nicholas 188 Brandt, Dina 1 Breysig, Kurt 85–89 Brotherus, Karl Robert 5, 15, 35–37 Bultmann, Rudolf 2, 147 f. Calvin, Johannes 118 Cesana, Andreas 161, 173, 175 Chalamet, Christophe 4 Chantepie de al Saussaye, Pierre Daniël 145 Clasen, Peter Adolf 103 Claß, Gustav 5, 61, 63–66, 68, 169 Claussen, Johann Hinrich 2, 7, 146, 150, 185, 188 Cohen, Hermann 23, 78, 133
Comte, Auguste 178 Cramer, Konrad 130 Cremer, August Hermann 138 Deißmann, Adolf 92 Descartes, René 32 Dierken, Jörg 35, 48 Dilthey, Wilhelm 45 f., 58, 60, 88, 170, 180 Dinkler-von Schubert, Erika 51, 95 Dorner, August 70, 104 f., 130 Dreher, Matthias 2 Drehsen, Volker 26 Drescher, Hans-Georg 5, 47, 78 f. Dreyer, Otto 140 Duns Scotus, Johannes 92 f., 95–102 Eck, Samuel 15, 40, 142 Ehrhard, Albert 112–114, 116–118 Eicken, Heinrich von 117 Erdmann, Benno 155 Eucken, Rudolf 5, 7, 15, 20 f., 30, 39 f., 60 f., 63–68, 88, 177 Feßl, Diana 1 Fichte, Johann Gottlieb 40, 130 Fischer, Ernst 9 Fleisch, Urban 30, 134 Frank, Franz Hermann Reinhold 16 Franziskus von Assisi 165 Fraser, Alexander Campbell 168–170 Frischeisen-Köhler, Max 130 Fuchs, Emil 21 f. Gailus, Manfred 92 Gastrow, Paul 15 Geisler, Ralf 52 Goethe, Johann Wolfgang von 179 Goldstein, Julius 35 Graf, Friedrich Wilhelm 1, 3–5, 7–9, 11, 14, 40, 49–51, 61, 68, 71, 87, 92 f., 101, 108, 115, 118, 135, 144, 155, 157, 173, 186 f. Günther, Walter 7, 34, 79, 187
204
Personenregister
Gutberlet, Constantin 109 Haefs, Wilhelm 9 Häring, Theodor 70 f. Hamann, Johann Georg 30, 135 Harnack, Adolf von 7, 31 f., 51, 95, 148, 151, 165 Hartwich, Otto 166 f. Haury, Harald 1 Hauschild, Wolf-Dieter 93 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 32, 44, 46–49, 63–65, 73, 78, 135, 169, 175 Heinrich, Johann Baptist 108–110 Heinze, Max 57 Heinzelmann, Gerhard 129, 137–139 Hengstenberg, Wilhelm 112 Herder, Johann Gottfried 30, 135, 175 Herrmann, Wilhelm 5, 148 Heyde, Erich 70 Hildebrandt, Bernd 24 Hirsch, Emanuel 2, 44 Hoffmann, Heinrich 15 Holl, Karl 24 Huber, Eugen 1, 79 f. Hübinger, Gangolf 8, 111, 155 Hügel, Friedrich von 110 Hülsmann, Heinrich 69 Humboldt, Wilhelm von 32 Hume, David 169 Huppert, Philipp 109 Jacobi, Friedrich Heinrich 30, 135 Jäger, Georg 9 James, William 48, 52, 141, 173 Jelke, Robert 88 Jesus von Nazareth 141–155 Joas, Hans 41 Jülicher, Adolf 127 f. Kähler, Martin 145 f. Kaftan, Julius 16, 24, 31, 51 f., 95 Kaftan, Theodor 7 Kalweit, Paul 18, 82 f. Kambartel, Friedrich 130 Kant, Immanuel 9, 11, 13–41, 47, 53, 64, 78, 81–86, 102, 131–133, 159– 161, 175, 179
Karo, Gottwalt 15 Kaufmann, Thomas 7, 92 f., 95 Kirn, Otto 142–144 Kittsteiner, Hans Dieter 174 Klingenburg, Georg 118 Knappenberger-Jans, Silke 8 Köhler, Rudolf 88 Köhnke, Klaus Christian 13 Kramer-Mills, Hartmut 2 Kullmann, Georg 32 Langewiesche, Dieter 9 Larsen, Hans Martensen 145 Lask, Emil 15, 40, 73 Laube, Martin 33 Lavater, Johann Caspar 18 Leese, Kurt 78, 86 Lehmann, Hartmut 92 Leibniz, Gottfried Wilhelm 24, 32, 36, 44, 46, 49 Lessing, Gotthold Ephraim 31, 175 Liebert, Arthur 70, 74–76 Lipsius, Friedrich Reinhard 15, 28 f., 51, 83 f. Lipsius, Richard Adelbert 3, 10, 14, 22 f., 34, 83, 130 f., 134 f., 176, 186 Locke, John 32 Loofs, Friedrich 105–107 Lotze, Hermann 65, 69, 159 f. Luchtenberg, Paul 155 f. Ludwig, August Friedrich 14, 27 Lüdemann, Hermann 23 Luther, Martin 24, 26, 93, 118 f., 165 Malebranche, Nicolas 49 Marshall, Newton H. 74 Medicus, Fritz 15, 35–37, 40, 73 Mezger, Paul 76 Mix, York-Gothart 9 Molendijk, Arie L. 6, 103 Müller, Helen 8 Müller, Josef 110 f. Müller, Klaus W. 2 Müller, Wilhelm 108 Münch, Fritz 23 f., 36, 70, 72 Nathusius, Martin von 4
Personenregister
Natorp, Paul 60, 167–169 Nees, Christian 7 Neuner, Peter 186 Nietzsche, Friedrich 69 Nohl, Herman 114 f. Oesterreich, Traugott Konstantin 79, 89 f. Oettingen, Alexander von 119–125 Ohst, Martin 3, 92 Osthövener, Claus-Dieter 105, 148 Otto, Rudolf 51, 68 Overbeck, Franz 126 f., 154 Pannenberg, Wolfhart 45 Paul, Hermann 156 Paulsen, Friedrich 15, 24–27, 40 Pearson, Lori 6, 68, 100, 113 Peisker, Martin 135–139 Pfleiderer, Georg 48, 52, 89, 186 Pfleiderer, Otto 105 Portig, Gustav 171 f. Rachfahl, Felix 4 f. Rade, Martin 3, 52, 153 f. Reimer, A. James 2 Reischle, Max 14, 16 Rendtorff, Trutz 4, 13, 110, 182 Renouvier, Charles 19 Rickert, Heinrich 1, 4, 45–47, 60, 69, 72, 75, 156, 158–162, 180 Ringleben, Joachim 5 Ritschl, Albrecht 7, 16, 25, 53–56, 88, 146 Ritschl, Otto 51 Ritter, Joachim 33 Rössler, Dietrich 174 Rohls, Jan 13, 49, 89 Sabatier, Auguste 145, 175 f. Sänger, Ernst 14, 17, 81, 85 Schaeder, Erich 79, 130, 138 f. Scheel, Otto 118 Scheler, Max 69 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 175 Schiele, Friedrich Michael 175 Schilling, Otto 6
205
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 1, 16, 21, 30, 32, 51–55, 57 f., 64, 71, 78–80, 83 f., 86, 102, 131, 142, 175 Schmoller, Gustav von 8 Schnädelbach, Herbert 69 Schönebaum, Herbert 177 Schöttler, Peter 2 Schopenhauer, Arthur 56 Schütte, Hans-Walter 174 Schulthess-Rechberg, Gustav von 118 Schumacher, Hermann 157 Schwöbel, Christoph 45 Seeberg, Reinhold 92–103 Seelos, Alexander 1 Semler, Johann Salomo 31, 175 Siemann, Wolfram 9 Simon, Dieter 2 Spencer, Herbert 178 Sternberg, Kurt 173 Strauß, David Friedrich 83, 142, 144 Strobl, Wolf 57 Tanner, Klaus 4, 100 Taylor, Charles 113 Teller, Wilhelm Abraham 31 Tillich, Paul 2 Tyrrell, George 116–118 Ulrich, Jörg 105 Vischer, Eberhard 127 f. Voigt, Friedemann 4, 100, 180 Vowinckel, Ernst 6 Wagner, Falk 26, 77, 87 Wagner, Sabine 4 Weber, Max 4, 118 Wehler, Hans-Ulrich 8 Weingart, Hermann 27 Wenz, Gunther 186 Wernle, Paul 146–154 Wildt, Michael 2 Will, Herbert 44, 61 Wimmer, Richard 5 Windelband, Wilhelm 46, 69, 72, 75 f., 156, 160 f., 180 Wobbermin, Georg 50–60
206
Personenregister
Wöllner, Johann Christoph von 27 Wolf, Hubert 116 Wolfes, Matthias 50–52 Wundt, Wilhelm 48, 83, 177, 182
Zager, Werner 24 Ziegler, Theobald 70, 129 Zirkel, Gregor 27 Zscharnack, Leopold 15