Prosa in Frankreich: Studien zum Roman im 19. und 20. Jahrhunder [Reprint 2021 ed.] 9783112575284, 9783112575277


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German Pages 306 [314] Year 1979

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Prosa in Frankreich: Studien zum Roman im 19. und 20. Jahrhunder [Reprint 2021 ed.]
 9783112575284, 9783112575277

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Manfred Naumann

Prosa in Frankreich

Literatur und Gesells(haft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Manfred Naumann

Prosa in Frankreich Studien %um Roman im 19. und 20. Jahrhundert

Akademie-Verlag • Berlin 1978

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1978 Lizenznummer: 202 • 100/178/78 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 5145 Bestellnummer: 753 446 4 (2150/64) • LSV 8057 Printed in GDR DDR 1 0 , - M

Inhalt

Vorbemerkung

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Wege zu Stendhals „Rot und Schwärz"

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Der junge Henri Beyle René, Obermann, Adolphe Entdeckung des „siècle de la révolution" „Literarisches Gewissen" und Literaturverhältnisse . . . . Funktionen des Romans Julien Sorel

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Balzac und „Die armen Verwandten" Leser und „Balzac-Effekt" „Vetter Pons" und „Tante Lisbeth" Typus und Personenwiederkehr Sieg des Realismus

105 117 126 136 150

Realismus und „L'art-pour-l'art" „Kapitän Fracasse" „Madame Bovary" „Renée Mauperin"

150 158 174 193

Versuch über Proust Frühe „nouveaux romans" : Selbstaufhebung Romanhelden

11 21 38 56 69 82

des

Nathalie Sarraute und Alain Robbe-Grillet Michel Butor Leistung und Grenzen

bürgerlichen 235 239 247 262

Anmerkungen

271

Personenregister

303

Vorbemerkung

Von einem Buch über französische Prosa-Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts, in dem Hugo und Zola, Rolland und Gide, Sartre und Camus, Malraux und Aragon nicht vertreten sind, wird niemand eine Geschichte des französischen Romans oder gar eine Theorie dieses Romans erwarten. Trotzdem wird, wie ich hoffe, deutlich werden, daß es den Aufsätzen nicht an einem inneren Zusammen^ hang mangelt. Als Hinweis auf ihre konzeptionelle Verklammerung sei Werner Krauss aus dem Jahre 1950 zitiert: „Welche Chance bleibt dem Individuum zur Behauptung in der ihm entfremdeten Gesellschaft? Das ist die Fragestellung, auf die sich der bürgerliche Roman als die ästhetische Lang- und Grundform der modernen Bewußtseinsbildung zuspitzt. Der Roman war auf dem Trümmerfeld der alten Gattungen als die stillose Gattung schlechthin, das heißt als die Gattung, die keine Gattung mehr war, erwachsen - wo dem Helden keine gefestigte Form des gesellschaftlichen Bestehens belassen wurde, sondern nur die entmenschte Interessenverflechtung als einziger Schauplatz aller Erfüllung zurückblieb." 1 Ins Licht gerückt werden sollen in den folgenden Studien die Antworten, die einige repräsentative Romane unter den Bedingungen, die Hegel im Bild der „zur Prosa geordneten Wirklichkeit" 2 umschrieb, auf die Frage nach den Chancen individueller Selbstbehauptung geben. Das ist in einem zweifachen Sinne zu verstehen: einmal in bezug auf das schreibende Individuum, das in der schriftstellerischen Arbeit die Chance für seine Selbstbehauptung wahrzunehmen sucht und dabei den Widerspruch, auf dem der Roman als „moderne bürgerliche Epopoe" beruht, an sich selbst erleidet; zum andern in bezug auf die Ergebnisse seiner Arbeit, die, über alle subjektiven Zielstellungen hinweg, immer auch auf das Allgemeinere verweisen, das für die hier betrachteten Romane in ihrer Gesamtheit konstitutiv ist - auf die Polarität zwischen den „Individuen mit 7

ihren subjektiven Zwecken" und der „bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit". 3 Dieser Widerspruch bezeichnet den inneren Konnex zwischen den hier zur Diskussion gestellten Romanen und damit das Kontinuum, von dem sich die Werke in ihrer Einzigartigkeit, in dem Neuansatz und dem Gegenentwurf abheben, den jedes von ihnen in bezug auf die ihm vorausgegangenen darstellt. Wir werden sehen, daß der „Held", d. h. das Strukturelement, in dem die „subjektiven Zwecke" gesetzt sind, in dem Maße an Bedeutung verliert, in dem die Illusionen über die Möglichkeiten individueller Selbstverwirklichung in einer entfremdeten Gesellschaft schwinden. Der „nouveau roman", in dem die Entmachtung des Helden zum Abschluß kommt, erscheint in dieser Perspektive nicht als Verirrung, sondern als die ästhetische Konsequenz einer Bewußtseinsbildung, die den Verlust jeglicher Illusion über die Chance des Individuums im Endstadium des Kapitalismus zum Inhalt hat. Claude Simon, einer der bedeutendsten Repräsentanten der Richtung, bekannte kürzlich, daß es „Negationen" seien, die die „neuen Romanciers" miteinander verbänden. 4 Im „neuen Roman" negiert sich der bürgerliche Roman mit der klassischen Fragestellung, die ihm seit den Zeiten Stendhals und Balzacs zugrunde liegt, in der Tat selbst. Es entbehrt daher nicht einer inneren Logik, wenn die Untersuchungen, die in diesem Buch von Stendhal ausgehend unternommen werden, mit einem Kapitel über die Selbstaufgabe des Helden im „nouveau roman" schließen. Das Problem der damit in Frankreich auf die Tagesordnung der Literatur gesetzten „Negation der Negation" dagegen bleibt genauso außerhalb der Betrachtung wie die Romane, in denen seit etlichen Jahrzehnten mit wechselndem Erfolg Vorschläge für seine Lösung unterbreitet werden. Es müßte im Zusammenhang mit der Geschichte der vor allem von Aragon geführten Diskussion über die Möglichkeiten einer Literaturproduktion, die von der Realität einer sozialistischen Perspektive der französischen Gesellschaft ausgeht, abgehandelt werden; damit dürften neue Voraussetzungen auch dafür geschaffen sein, daß die Negation der dem „alten Roman" zugrunde liegenden Fragestellung in deren „Aufhebung" umschlagen kann. Auf einen weiteren maßgeblichen konzeptionellen Gesichtspunkt verweist Brecht: „Die Beschreibung der sich ständig verändernden Welt erfordert immer neue Mittel der Darstellung. Die neuen Mittel der Darstellung muß man nach ihrem Erfolg dem jeweiligen Objekt gegenüber beurteilen, nicht an sich, losgelöst von ihrem Objekt, durch 8

den Vergleich mit alten Mitteln. Man muß die Literatur nicht von der Literatur aus beurteilen, sondern von der Welt aus, zum Beispiel von dem Stück Welt aus, das sie behandelt."5 Diese Sätze waren an die Adresse von Georg Lukäcs gerichtet, dessen Buch Balzac und der französische Realismus die erste umfassende marxistische Analyse des bürgerlich-kritischen Realismus des 19. Jahrhunderts in Frankreich darstellte. Letztlich fußen alle späteren Bemühungen um den Gegenstand auf der von Lukäcs geschaffenen Grundlage. Wenn in den folgenden Ausführungen trotzdem des öfteren gegen Lukäcs polemisiert wird, dann deshalb, weil sein Realismus-Konzept es unmöglich macht, die tatsächliche Komplexität und Widersprüchlichkeit der literarischen Prozesse zu erfassen, in denen die französischen Romane des 19. und 20. Jahrhunderts stehen. Im Grunde ließ Lukäcs nur Balzac gelten; schon Stendhal hatte keine ganz reine Weste mehr, ein „romantischer Punkt" verunzierte sein sonst sauberes realistisches Gewand - seit Flaubert aber ging es abwärts, Zola war schon ganz unten, und was danach kam, wurde kaum noch wahrgenommen. Eine solche enge Auffassung vom „Erbe" hat sich als wenig brauchbar erwiesen. Statt die nachfolgende Literatur an einem aus Balzac destillierten Realismusmodell zu messen und die Treue zu dieser Tradition zum Kriterium des „richtigen" Lesens und Schreibens zu machen, wird in den hier vorgelegten Studien versucht, die jeweils neuen literarischen Lösungen zu verdeutlichen, die der Roman für die Probleme fand, die sich ihm im Fortgang der Geschichte stellten. Die Realismusfrage wird dabei historisch-konkret an Ort und Stelle behandelt, d. h. nicht von einem Modell realistischen Schreibens, sondern von der Welt aus, in der geschrieben und das Geschriebene gelesen wurde. Die „sich ständig verändernde Welt" nämlich, auf die Brecht anspielt, verändert nicht nur die Schreibweisen, sondern auch die Leseweisen. Soweit die in diesem Band vereinigten Studien schon an anderer Stelle publiziert worden waren, mußten sie sich daher bei der Vorbereitung des Buches eine kritische Durchsicht gefallen lassen, die oft nicht mehr als Rohmaterial von ihnen übrigließ. Vor allem flössen in die Umschrift und Ergänzungen die im Laufe der Arbeit immer deutlicher hervortretenden konzeptionellen Überlegungen ein, von denen soeben die Rede war. Forschungsberichte allerdings strebte der Verfasser nicht an, und auch in der Aufstellung bibliographischer Listen sah er seine Aufgabe nicht. Der mit der Entstehungsgeschichte dieses Buches notwendig verbundene Ver9

zieht auf systematische Anwendung von theoretischen und methodologischen Konzepten, wie sie etwa in dem Buch Gesellschaft Literatur - Lesen entwickelt worden sind 7 , wird von dem Verfasser keinesfalls nur als Nachteil empfunden. Abgesehen davon, daß dieser Verzicht ihre sporadische und implizite Erprobung ja keinesfalls ausschloß, gestattete der Wechsel des Blickpunkts, den Kontakt mit den Werken enger zu knüpfen und dem Besonderen gerechter zu werden, auf das jedes von ihnen Anspruch erhebt. D e r Umgang mit konkreten Werken kann darüber hinaus als Korrektiv jener Gefahr wirken, der gerade theoretisch Interessierte nur allzu oft erliegen: über der Beschäftigung mit der Theorie der Literatur und mit Literatur über die Literaturtheorie die Literatur zu vergessen. Für wertvolle Hinweise möchte ich mich herzlich bei Rita Schober und Winfried Schröder bedanken. Mein Dank gilt auch Eike Middell, der mich vor Jahren zu diesem Unternehmen in besonderer Weise ermutigt hat, und nicht zuletzt Ursula Zwerschke, in deren Händen die technische Redaktion des Bandes lag. Berlin, Juli 1977

Manfred Naumann

„Gewöhnlich ist der Gang im 19. Jahrhundert so W e n n ein Mensch, der Macht hat und v o n Adel ist, auf einen Mann v o n Herz stößt, tötet er ihn, weist ihn aus, kerkert ihn ein oder demütigt ihn dermaßen, daß der andere die Dummheit begeht, v o r Schmerz zu sterben." Stendhal, Rot und Schwarz

Wege zu Stendhals „Rot und Schwarz " Der junge Henri Bej/e Ende 1802 schrieb Henri Beyle, der sich später Stendhal nannte: „Mir scheint, man muß sich seinem 'siècle' entziehen und sich zum Bürger desjenigen Jahrhunderts machen, das für die Hervorbringungen des Genies am günstigsten war. Dieses 'siècle' ist wahrscheinlich das der großen Männer, also muß man Zeitgenosse Corneilles werden." 1 Kurz danach lesen w i r : „Ich muß mich ganz aus meinem 'siècle' her~ ausziehen und annehmen, ich lebte unter den Augen der großen Männer des Jahrhunderts Ludwigs XIV. Immer für das 20. Jahrhundert arbeiten." 2 Und wiederum wenige Zeit später: „Man muß die Laster des 'siècle' erkennen und sich auf die entgegengesetzten Fehler werfen. Ich werde mich weit entfernt von meinem 'siècle' glauben und trotzdem ihm ganz nahe sein, einen so großen Einfluß hat das auf uns, was wir jeden Tag sehen." 3 Diese Bemerkungen notierte Stendhal als Neunzehnjähriger. Ihre Tragweite wird erst offenbar, wenn man sie mit der Apotheose vergleicht, die noch zwölf Jahre zuvor Beaumarchais seinem „siècle" hatte zuteil werden lassen: „Ich kenne kein 'siècle, in dem ich lieber geboren w ä r e ; keine Nation, der ich lieber angehören würde. Ganz abgesehen von den liebenswerten Eigenschaften der französischen Gesellschaft, sehe ich bei uns seit zwanzig oder dreißig

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„Gewöhnlich ist der Gang im 19. Jahrhundert so W e n n ein Mensch, der Macht hat und v o n Adel ist, auf einen Mann v o n Herz stößt, tötet er ihn, weist ihn aus, kerkert ihn ein oder demütigt ihn dermaßen, daß der andere die Dummheit begeht, v o r Schmerz zu sterben." Stendhal, Rot und Schwarz

Wege zu Stendhals „Rot und Schwarz " Der junge Henri Bej/e Ende 1802 schrieb Henri Beyle, der sich später Stendhal nannte: „Mir scheint, man muß sich seinem 'siècle' entziehen und sich zum Bürger desjenigen Jahrhunderts machen, das für die Hervorbringungen des Genies am günstigsten war. Dieses 'siècle' ist wahrscheinlich das der großen Männer, also muß man Zeitgenosse Corneilles werden." 1 Kurz danach lesen w i r : „Ich muß mich ganz aus meinem 'siècle' her~ ausziehen und annehmen, ich lebte unter den Augen der großen Männer des Jahrhunderts Ludwigs XIV. Immer für das 20. Jahrhundert arbeiten." 2 Und wiederum wenige Zeit später: „Man muß die Laster des 'siècle' erkennen und sich auf die entgegengesetzten Fehler werfen. Ich werde mich weit entfernt von meinem 'siècle' glauben und trotzdem ihm ganz nahe sein, einen so großen Einfluß hat das auf uns, was wir jeden Tag sehen." 3 Diese Bemerkungen notierte Stendhal als Neunzehnjähriger. Ihre Tragweite wird erst offenbar, wenn man sie mit der Apotheose vergleicht, die noch zwölf Jahre zuvor Beaumarchais seinem „siècle" hatte zuteil werden lassen: „Ich kenne kein 'siècle, in dem ich lieber geboren w ä r e ; keine Nation, der ich lieber angehören würde. Ganz abgesehen von den liebenswerten Eigenschaften der französischen Gesellschaft, sehe ich bei uns seit zwanzig oder dreißig

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Jahren einen kühnen Wettstreit, ein allgemeines Verlangen nach Bereicherung unserer Gedanken durch nützliche Forschungen und Erfüllung des allgemeinen Glücksverlangens. - Man nennt das vergangene 'siècle' ein glänzendes Jahrhundert der Literatur; aber was bedeutet schon unter allen nützlichen Gegenständen die Literatur? Eine edle Unterhaltung des Geistes! Man wird dagegen unser 'siècle' dereinst ein Jahrhundert der Vertiefung der Wissenschaften und der Philosophie, einer Fülle von Entdeckungen, voller Kraft und Bewußtheit nennen können! Für den Geist der Nation ist offenbar eine glückliche Wendung gekommen: ein helles und weithin strahlendes Licht läßt jeden erkennen, daß alles besser werden kann. Man sorgt sich, man spart keine Anstrengung, man macht Entdeckungen und greift verändernd ins Leben ein . . ."4 Für Beaumarchais verbindet sich mit dem Wort „siècle" die Bedeutung, die es in der Aufklärung angenommen hatte. 5 Das „siècle philosophique", in dem er lebt, ist für ihn Höhepunkt der bisherigen Menschheitsgeschichte. Es ist nicht nur berufen, „lumière" in alle Bereiche der menschlichen Praxis und des menschlichen Denkens zu bringen, sondern es ist dieser Berufung auch schon weitestgehend gerecht geworden. Diesem „siècle" anzugehören, erfüllt Beaumarchais mit Stolz und Genugtuung. In der Haltung Beaumarchais' kommt auf konzentrierte Weise ein Geschichtsbewußtsein zum Ausdruck, dessen Herausbildung als eine der größten Errungenschaften der Aufklärung bezeichnet werden muß. Es beruhte auf der Erkenntnis, daß die Geschichte ein von der Menschheit selbst produzierter Prozeß ist, der durch alle Rückschläge und Schwankungen hindurch die Gesellschaft und das Individuum zu immer größerer Vollkommenheit führt. Die Gültigkeit des Fortschrittsgesetzes schien durch die wissenschaftlichen, denkerischen und zivilisatorischen Errungenschaften des „siècle philosophique" belegt, durch die unaufhaltsame Ausbreitung der „lumières" im Bewußtsein der Menschen. Für das geschichtliche Selbstbewußtsein der Aufklärer waren die Beseitigung der feudalistischen Gesellschaftsformation, die restlose Liquidierung des christlich-theologischen Weltbilds und der darauf beruhenden Denk- und Empfindungsgewohnheiten nur noch eine Frage der Zeit. Die Widersprüche und Konflikte zwischen den Menschen und im Innern der Menschen wurden im Sinne der Herbeiführung des „Glücks" als grundsätzlich aufhebbar und lösbar betrachtet 6 und vor dem Hintergrund einer Weltsicht wahrgenommen, die die Gewißheit einschloß, die mensch12

liehen Angelegenheiten seien zum Wohle aller und jedes einzelnen zu regeln. Das trifft auch für Rousseau zu, der schon die sozialen und individuellen Antagonismen antizipierte, die das Wirken der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten in der als ideal gesetzten neuen Gesellschaft bestimmen werden. Seine Kritik an der Geschichte und an der Zivilisation widerspricht nicht im Grundsätzlichen dem prometheischen Verhältnis, das die Aufklärung zur Geschichte knüpfte. Der nach ihm zwischen „Geschichte" und „Natur" klaffende Abgrund kann durch willentliche Anstrengung des Menschen überwunden werden. Die Natur selbst hat den Menschen mit einer in seinem „cœur" verwahrten „conscience" ausgestattet, die durch die korrupte Gesellschaft zwar verschüttet, aber nicht vernichtet wurde; durch Erziehung und Selbsterziehung kann sie wieder freigelegt werden. Der innerlich erneuerte Mensch ist zum Träger einer nach dem Contrat social neu organisierten Gesellschaft berufen, in der der Widerspruch zwischen den Möglichkeiten der menschlichen Natur und der geschichtlichen Existenzweise des Menschen aufgehoben ist. Der so vergesellschaftete Mensch ist in die Natur zurückgekehrt, aus der ihn die Geschichte trieb, damit ist aber die Geschichte, die dem Menschen entfremdet war, der Natur des Menschen wieder angeeignet. Der Bruch mit der enzyklopädischen Linie der Aufklärung und die pessimistische Verdüsterung des Rousseauschen Bewußtseins in den späteren Lebensjahren ändern nichts daran, daß seine in ihren wesentlichsten Teilen 1762 fertig ausgearbeitete Lehre die Antinomien zwischen Individuum und Gesellschaft zwar radikaler formulierte, deren Aufhebbarkeit aber nicht grundsätzlich in Zweifel zog. Die Solidarität mit der sich nach dem Gesetz der „perfectibilité" verändernden Welt und mit der zur Selbstbefreiung fähigen „Natur des Menschen" war das einheitliche Thema, das der Vielfalt der aufgeklärten Standpunkte zugrunde lag. Von der theoretischen Höhe des „siècle philosophique" aus war die feudalabsolutistisch geschichtliche Basis, über die es sich erhob, mit einem Blick zu umfassen. Deutliche Linien unterschieden die Institutionen, die abzuschaffen waren, von denen, die zu errichten „raison" und „sensibilité", Vernunft und Sinnlichkeit, gleichermaßen geboten. Die im Namen der Vernunft geführte logische Argumentation für die Möglichkeit und Notwendigkeit individueller und gesellschaftlicher Emanzipation, der pathetische Appell an das „sentiment", an die Empfindungsfähigkeit der „âme sensible", der Nachweis einer möglichen Übereinstim13

mung von „privatem" und „öffentlichem" Interesse, von „Natur" und „Humanität", von theoretischem Wissen und politischer Praxis vermittelten den literarischen Schaffensprozessen Wirkungsziele, die den Bedürfnissen eines Publikums entsprachen, das sich vom „esprit philosophique" der in Massen produzierten Aufklärungsliteratur belehren, rühren und unterhalten zu lassen bereit war. Herausgebildet hatte sich eine „opinion publique", die das Gesamtinteresse jener gesellschaftlichen, im „Tiers-Etat" konzentrierten Kräfte verwaltete, die sich, unter Ausschluß der privilegierten Stände, 1789 als „nation" konstituieren werden. Durch ihren Anteil an der Formierung des nationalen Bewußtseins, das sich als Repräsentant des Menschheitsfortschritts verstand, war dem Schreiben und Lesen ein gesellschaftlicher Sinn, eine die geschichtliche Bewegung vorantreibende Funktion vermittelt. 7 Im Bewußtsein der aufgeklärten „écrivains" herrschte Übereinstimmung von literarischem Wollen und den in der Aufklärungsphilosophie objektiv gesetzten Idealen und Normen, nach deren Verwirklichung das „siècle" drängte. Eine Auflehnung gegen die bestehende Gesellschaftsformation war verbunden mit dem konstruktiven Glauben an eine neue, bessere, mit der Vorstellung eines idealen Gemeinwesens, das Freiheit, Gerechtigkeit und Glück garantieren würde. Der „écrivain" fühlte sich als Sachwalter der geschichtlichen Perspektive der Menschheit. Dank dieser Gewißheit fand die Frage nach dem Sinn seiner Tätigkeit eine eindeutige Antwort. Einem solchen „siècle" eine Hymne zu singen - wie Beaumarchais es 1790 tat und wie vor ihm schon unzählige andere es getan hatten - fiel leicht. Zwölf Jahre später jedoch wünschte sich der junge Henri Beyle in einem anderen als seinem „siècle" zu leben. Dieser Stimmungsumschwung kündigt im Verhältnis von Literatur und Gesellschaft eine Wende an, deren Folgen noch heute spürbar sind. Der Sturz der Jakobinerherrschaft 1794 hatte die heroische Etappe der bürgerlichen Revolution in Frankreich beendet. Der Übergang vom „siècle des lumières", in welchem die Bourgeoisie sich im Bündnis mit den anderen antifeudalistischen Kräften der französischen Gesellschaft politisch formiert hatte, zur Herrschaft der Bourgeoisie über die Gesellschaft war eingeleitet. Schon wenige Jahre realer Existenz der durch die Revolution geschaffenen neuen gesellschaftlichen Verhältnisse hatten offenbar genügt, um begabten jungen Leuten, die - wie Beyle - noch in den Ideen der Aufklärung herangewachsen waren, fühlbar zu machen, daß eine Zäsur das neue „siècle" vom alten trennte. Die Männer, die im Direktorium die Macht übernommen hatten,

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bezeichnete Stendhal später als „Dreckseelen" (âmes de boue), die nur „ihren kleinlichen Egoismus und ihre Interessen" gesehen hätten, in deren Augen die revolutionären Tugenden bloßer „Schwindel" gewesen seien.8 Beim Lesen solcher Bemerkungen erinnert man sich der Ausführungen von Marx und Engels in der Heiligen Familie: „Nach dem Sturz Robespierres beginnt die p o l i t i s c h e Aufklärung, die sich selbst hatte ü b e r b i e t e n wollen, die ü b e r s c h w e n g l i c h gewesen war, erst, sich p r o s a i s c h zu verwirklichen. Unter der Regierung des D i r e k t o r i u m s bricht die b ü r g e r l i c h e Ges e l l s c h a f t . . . in gewaltigen Lebensströmungen hervor, Sturm und Drang nach kommerziellen Unternehmungen, Bereicherungssucht, Taumel des neuen bürgerlichen Lebens, dessen erster Lebensgenuß noch keck, leichtsinnig, frivol, berauschend ist; w i r k l i c h e Aufklärung des französischen G r u n d und B o d e n s , dessen feudale Gliederung der Hammer der Revolution zerschlagen hatte und welchen nun die erste Fieberhitze der vielen neuen Eigentümer einer allseitigen Kultur unterwirft; erste Bewegungen der freigewordenen Industrie - das sind einige von den Lebenszeichen der neuentstandenen bürgerlichen Gesellschaft. Die b ü r g e r l i c h e Gesells c h a f t wird p o s i t i v repräsentiert durch die B o u r g e o i s i e . Die Bourgeoisie beginnt also ihr Regiment."9 An einer berühmten Stelle des Anti-Diihring faßte Engels die ideologischen Veränderungen, die sich nach dem Sturz Robespierres herauszubilden begannen, in dem Satz zusammen: „Kurzum, verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer, erwiesen sich die durch den 'Sieg der Vernunft' hergestellten gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen als bitter enttäuschende Zerrbilder." 10 Die Unlust des jungen Beyle, in dem neuen „siècle" zu leben, artikuliert eine solche Enttäuschung in einer noch vagen Form. Glaubt man seinen späteren Erinnerungen - und es besteht kein Grund, das nicht zu tun - , war Henri Beyle als Kind ein begeisterter Anhänger der Revolution. Diese Haltung verdankte er wahrscheinlich einem Haßgefühl. Von Anfang an standen Trennungswände zwischen ihm und seiner Grenobler Umwelt. Die Atmosphäre war nach dem Tode seiner von ihm innig geliebten Mutter (1790) muffig bis zur Unerträglichkeit. Sein Großvater mütterlicherseits, der voltairianisch denkende Henri Gagnon, die spanisch-stolze Großtante Elisabeth, der lebensfrohe Onkel Romain waren die einzigen Familienmitglieder, die für das geistig überlegene, selbstbewußte und 15

sensible Kind Verständnis aufbrachten. Vater Chérubin Beyle, dem hohen Ämterbürgertum angehörend und zur „noblesse de robe" tendierend, ein angesehener, konservativ gesinnter Bürger der Stadt, versuchte, gemeinsam mit der bigotten Großtante Séraphie den Sohn nach seinem Ebenbild zu formen. Er stieß auf den Widerstand eines Kindes, das zu keinem Kompromiß bereit war. Die Lage wurde unerträglich, als man den despotischen Abbé Railiane als Hauslehrer anstellte. Von nun an herrschte zwischen Vater und Sohn eine Art Kriegszustand, der nie wieder beigelegt wurde. „Ich bin am 23. Januar 1783", schrieb Stendhal, „zu Grenoble in einer Familie geboren, die nach dem Adel strebte, das heißt, man spottete nicht über die zur Aufrechterhaltung der privilegierten Stände notwendigen Vorurteile. Die katholische Religion wurde im Hause verehrt als unentbehrliche Stütze des Thrones."11 Schon im Alter von vier Jahren will er gegen den Geist protestiert haben, der in seinem Elternhaus herrschte: „Aus dieser Zeit datiert mein Grauen vor der Religion, das meine Vernunft nur mit größter Mühe auf ein richtiges Maß hat eindämmen können. Fast zur gleichen Zeit erwachte meine erste kindlich-instinktive, damals fanatische Liebe zur Republik." 12 In Grenoble begannen die revolutionären Ereignissel788 damit, daß sich dasVolkgegen zwei Regimenter, die eine Zusammenrottung Unzufriedener zerstreuen wollten, mit Dachziegeln zur Wehr setzte. Henri beobachtete die Szene vom Fenster aus; man zog ihn weg, weil man fürchtete, „die Kraft des Volkes" werde ihn zu sehr beeindrucken: „Aber ich war schon damals entgegengesetzter Meinung." 13 1793 hörte der Zehnjährige von der Hinrichtung Ludwigs XVI.: „Ich wurde von einer so lebhaften Freude ergriffen, wie ich sie in meinem Leben selten empfunden habe." 14 Ein ebensolches Vergnügen bereitete ihm die Guillotinierung zweier Priester auf dem Platz „Grenette" in seiner Heimatstadt. 15 Mit Genugtuung nahm der Sohn zur Kenntnis, daß sein Vater in die Liste der Feinde der Republik eingetragen wurde. 16 Zum Entsetzen seines Vaters besuchte das Kind heimlich eine Sitzung des Jakobinerklubs. 17 Man verbot ihm, sich den „bataillons d'espérance", einer republikanischen Jugendorganisation, anzuschließen. Henri fabrizierte eigenhändig ein Schreiben, in dem der Großvater Gagnon aufgefordert wird, seinen Enkel anzumelden ; es trägt, in der noch kindlichen Handschrift Henris, die Unterschrift Gardons, des Kommandanten des „bataillon". 18 Wenn er von einem Sieg der revolutionären Armeen hörte, durchwanderte er zum Leidwesen seiner Verwandten, triumphierend 16

die Trikolore schwingend, das elterliche Haus. 19 Während der B e lagerung Lyons, 1793, nahm er gegen seinen Vater Partei für die Revolutionsarmee. E r empfand dabei „die lebhaftesten Aufwallungen der Liebe zum Vaterland und des Hasses gegen seine Feinde, die A r i s t o k r a t e n . . . und die Priester." 20 E r delektierte sich an den Berichten über die Siege der Revolutionsarmee bei Lodi und Arcole, und sein „cœur de citoyen" blutete bei der Niederlage von Novi. 2 1 Wurde er seiner aufsässigen Meinungen wegen gezüchtigt, fühlte er sich als „martyr de la patrie". „Vivre libre ou mourir", schrieb er 1837, sei in diesen Jahren die Maxime seines Denkens gewesen. 22 Manches Kindheitserlebnis mag in der Erinnerung eine hypertrophe Gestalt angenommen haben; immerhin ließ sich der „Märtyrer des Vaterlandes" einmal zu einem Anschlag auf den in Grenoble gepflanzten „Baum der Brüderlichkeit" hinreißen. 23 An seiner prinzipiellen uDereinstimmung mit der Revolution jedoch kann es keinen Zweifel geben: „Meine Verwandten wollten", schrieb er 1835, „wie heutzutage die Könige, daß die Religion mich in Unterwürfigkeit erhielt, aber ich trachtete nur nach der Revolte." 2 4 Seine antireligiöse und antimonarchische Einstellung wurde noch weiter befestigt, als er 1796 in die „Ecole Centrale" seiner Heimatstadt eintrat. E r hatte dort ausgezeichnete, im Geiste der Republik und der Aufklärung wirkende Lehrer. 2 5 Durch Gattel lernte er die „Logique" Condillacs kennen; Louis-Joseph Ray führte ihn anhand von Dubos in die Kunstgeschichte ein; Dubois-Fontanelle vermittelte ihm eine solide humanistisch-literarische Bildung; der „Jakobiner" Louis-Gabriel Gros, bei dem er Mathematik lernte, beeindruckte ihn so sehr, daß er ihn dreißig Jahre später in he rouge et le noir (Rot und Schwarz) erwähnte und ihm unter dem Namen Gauthier in Luden Leuwen ein literarisches Denkmal setzte. Auf die in der „Ecole Centrale" genossene republikanische Erziehung war Stendhal zeit seines Lebens stolz: „Die Jesuiten", schrieb er 1824, „haben es übernommen, die Jugend Frankreichs zu bilden, aber was wird man mit Menschen machen, die Schüler der 'Ecoles Centrales' der Republik 1792 bis 1800 gewesen sind?" 2 6 Viele der Leitmotive, die später Stendhals Denken und Fühlen konstant bestimmen werden, sind in der Grenobler Zeit schon angelegt: sein unversöhnlicher H a ß auf den Typ einer Bürgerlichkeit, wie ihn der Vater verkörperte; seine Sympathie für die Revolution von 1789 bis 1794; seine Abneigung gegen jede Form von Religiosität und Spiritualismus; seine Vorliebe für die sensualistisch-materialisti2 Naumann

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sehe Denkweise der Aufklärung; vor allem aber sein unbedingter Wille, die Selbständigkeit seines Denkens gegenüber allen Anfechtungen durch ein übermächtiges Milieu zu behaupten. Der inmitten der Grenobler familiären Verhältnisse weitgehend auf sich selbst gestellte Henri Beyle nahm jede Gelegenheit wahr, sich in der Unabhängigkeit seines Denkens zu bestärken. Das wichtigste Mittel dazu war die Kraft seiner Imagination. Alles, was jenseits der Mauern seines Elternhauses lag und die Lebensform zu negieren schien, die man dort praktizierte, nahm unter dem Druck der familiären Atmosphäre in den Augen des phantasiebegabten Jünglings eine idealisierte Gestalt an. Hinter der Impertinenz seines Auftretens verbargen sich Träume von einem glückserfüllten Dasein, Verlangen nach Liebe und Freundschaft, Sehnsucht nach etwas, von dem er wußte, daß es im häuslichen Gefängnis nie erreichbar sein werde. Die Träume wurden durch Lektüre genährt. Die Liste der von ihm während seiner Grenobler Zeit gelesenen Bücher ist erstaunlich umfangreich.27 Sie reicht von Homer und Plutarch, Dante und Ariost über Shakespeare, Corneille, Racine bis zu den Autoren des 18. Jahrhunderts: „ . . . i c h hatte unheimlich viel gelesen; ich las leidenschaftlich gern, ein neues, mir unbekanntes Buch tröstete mich über alles hinweg."28 Vor allem die Lektüre von Rousseaus Nouvelle Heloise (Neue Heloise) versetzte ihn „in einen Taumel von Glück und Leidenschaft, den man unmöglich beschreiben kann"29. Dank solchem Zuspruch hatte die Bemühung, sich vom häuslichen Milieu nicht absorbieren zu lassen, Erfolg. Gerade das Vertrauen jedoch, das er seiner Traumwelt entgegenbrachte, beschwor Konflikte schwerwiegender Art herauf. Von den Bildern seiner Vorstellung bezaubert, richtete er voller Erwartungen seinen Blick nach außen, wo er das Glück zu finden hoffte, das ihm innerhalb der Familie versagt blieb. Da die Ansichten, die er sich von der Welt und den Menschen bildete, exaltiert waren, mußten sie Enttäuschungen zur Folge haben, sobald sie mit der Realität konfrontiert wurden. Die erste dieser Enttäuschungen erlebte Stendhal bei dem schon erwähnten Besuch des Jakobinerklubs. „Mich erfüllten die Helden der römischen Geschichte, ich sah mich schon eines Tages als ein Camillus oder Cincinnatus oder als beide zugleich."30 Mit Bestürzung mußte er feststellen, daß die versammelten Jakobiner keine Römer waren, sondern weder besonders heldenhaft aussehende noch besonders mitreißend sprechende Franzosen: „Ich fand diese Leute, die ich gern geliebt hätte, furchtbar gewöhnlich."31 18

Der Eintritt in die „Ecole Centrale" bedeutete für Stendhal einen ersten Schritt hin zu der so heiß herbeigesehnten Freiheit vom häuslichen Zwang; er war überzeugt, seelenverwandte Freunde zu finden. Auch hier war die Enttäuschung groß: „Ich fand, daß die 'réalité' weit hinter den 'folles images de mon imagination' zurückblieb . . . Alles an dieser so ersehnten Freiheit, die ich endlich erlangt hatte, setzte mich in Erstaunen. Doch der Reiz, den ich darin fand, war nicht der, den ich mir erträumt hatte; an Stelle der so heiteren, so liebenswerten, so edlen Gefährten, die ich mir vorgestellt hatte, fand ich nur sehr egoistische Lümmel." 3 2 D a s Ziel, auf das alle seine Träume gerichtet waren, hieß Paris, die Hauptstadt der Revolution, das Paradies, in dem sich alle Wünsche erfüllen würden. Schon als er dreizehn Jahre alt war, stand für ihn fest: „ D a s höchste Glück sah ich darin, mit hundert Louisdor Rente in Paris zu leben und Bücher zu schreiben." 33 Die Pforten des Paradieses taten sich für ihn 1799 auf. Sein Vater hatte ihm die E r laubnis zur Aufnahme eines Studiums an der „Ecole Polytechnique" gegeben. Die Laufbahn eines hochqualifizierten Technikers lag vor ihm. Stendhal jedoch präsentierte der Hauptstadt eine ganz andere Forderung. Einen bürgerlichen Beruf strebte er nicht an; er vermied, die Technische Hochschule auch nur zu betreten. E r wollte höher hinaus: Bücher schreiben, ein zweiter Molière werden, Ruhm erlangen, gesellschaftliche Erfolge haben, Frauen erobern. Mit dieser Erwartung hielt der noch nicht Siebzehnjährige am 10. November 1799 seinen Einzug in die Hauptstadt. Einen T a g zuvor hatte der General Bonaparte als erster Konsul die Macht über die französische Republik übernommen. Die „folles images" seiner „imagination" spielten ihm erneut einen Streich. Die Pariser „réalité" sah ganz anders aus, als er erwartet hatte. 34 Schon daß es in der Hauptstadt keine Berge gab, setzte den Dauphineser in Erstaunen. Mit noch größerem Schmerz mußte er konstatieren, daß sich zu ihm weder ein „cœur aimé" noch ein „cœur ami" gesellte. Im Salon der Darus, seiner Verwandten, die unter Napoleon eine große Karriere machen werden, spielte der Provinzler nicht die erhoffte Rolle. 3 5 * Anstatt Komödien zu schreiben, mußte er sich von Pierre Daru, der dem linkischen Vetter eine Stelle als Schreiber im Kriegsministerium beschafft hatte, vorwerfen *

Ziffern, die auf Sachanmerkungen hinweisen, werden durch einen Stern gekennzeichnet.

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lassen, daß er noch nicht einmal die französische Orthographie beherrschte und „cela" mit „11" schrieb.-"'6 Die Enttäuschung, die ihm! Paris bereitete, steigerte sich bis zum „Ekel". 37 Ernüchtert legte er sich die Frage vor: „Paris - weiter ist das also nichts?" 38 Und noch etwas anderes, Schwerwiegenderes fragte er sich: „Wo ist denn nun das Glück auf Erden? . . . Gibt es überhaupt ein Glück auf Erden?" 3 9 Wenige Monate später, im Mai 1800, war aller Kummer vergessen. Protegiert von Pierre Daru, durfte er der unter Führung Napoleons stehenden französischen Armee folgen, die sich anschickte, Norditalien zurückzuerobern. Einst in Grenoble hatte Henri die „schönen Dragonerregimenter", die nach Italien zogen, „mit den Augen verschlungen" und um der romanesken Abenteuer willen beneidet, die sie zu bestehen haben würden. 40 Die Gestalt Bonapartes war schon in Grenoble vor ihm aufgetaucht; in dem heroischen Leben des Generals hatte er eine Bürgschaft für die eigene grandiose Zukunft erblickt. 41 Diesem Helden durfte er nun dienen. „Ich war närrisch vor F r e u d e . . . " In Mailand war er „völlig trunken, toll vor Glück und Freude". Das Glück, das er genoß, kam ihm „himmlisch" vor. 42 Dank der Beziehungen der Darus wurde er schnell zum Unterleutnant befördert. Eine glänzende militärische Karriere lag vor ihm. Bald aber verlangte auch in Italien die „réalité" ihr Recht. In den napoleonischen Soldaten hatte er Wesen gesehen, die mit „Gefühlen heroischer Freundschaft" erfüllt seien; sie entpuppten sich aber vor seinen Augen als „erbitterte und boshafte Egoisten". 43 Beim Übergang über den Sankt-Bernhard erhielt er seine Feuertaufe; wiederum konnte er nicht umhin, sich die ernüchternde Frage vorzulegen: „Was! Weiter ist das nichts?" 44 Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, sich mit den Helden Ariosts zu identifizieren; wenige Monate genügten, um ihn den Soldatenberuf als „ein grobes Handwerk" empfinden zu lassen.45 Unter diesem Eindruck faßte er sogar den Plan, ein Stück mit dem Titel „La soldatomanie ou La manie du militaire" zu schreiben.46 Später wird Italien für ihn das Land der Zuflucht werden; Eindrücke von seinem ersten Aufenthalt blieben ewig in seinem Gedächtnis haften. Cimarosas Oper II matrimonio segreto (Die heimliche Ehe), die er zum ersten Mal am 1. Juni 1800 in Ivrea hörte, oder die schöne Mailänderin Angela Pietragrua wird er nie wieder vergessen können. Doch die Augenblicke eines „bonheur parfait" 47 , die er während seines ersten Italienaufenthalts genießen durfte, waren selten, und das Soldatenhandwerk verleidete ihm das Land. „Ich war der Ausschweifungen meiner Kameraden 20

müde", erinnerte er sich später, „und fand nichts süßer, als in Paris zu leben . . .'"58 Im Dezember 1801 beantragte er, sich auf seinen schlechten Gesundheitszustand berufend, einen Urlaub. Er wurde ihm bewilligt. Im April 1802 traf er wieder in der Hauptstadt ein; zehn Wochen später nahm der Unterleutnant seinen Abschied. Der erste Versuch, eine selbständige Lebenspraxis zu begründen, war gescheitert. Vor den Konventionen seines Elternhauses hatte sich der Jüngling in eine heroisch-revolutionäre Gesinnung geflüchtet, deren Grundtendenz auf die freie Verwirklichung der Persönlichkeit innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung gerichtet war, von der er annahm, sie habe die Hindernisse beseitigt, die sich in Grenoble dagegen auftürmten. Der außerhalb der Grenobler Mauern liegenden Welt wurde zugemutet, diesem Ideal zu entsprechen. Der Zusammenprall der idealen inneren Welt mit der „réalité" führte zu einer ganzen Kette von Enttäuschungen, die sich in von „dégoût", „mélancolie" „ennui", „désarroi", „horreur" gekennzeichneten Stimmungen entluden und im Endeffekt eine Umbewertung des „siede" bewirkten, dem Stendhal mit so großen Erwartungen bei seinem Ausbruch aus Grenoble (1799) entgegengegangen war. Der Wunsch drei Jahre später, sich seinem Jahrhundert zu entziehen, war die Folge davon.

René, Obermann, Adolphe Wenn der neunzehnjährige Stendhal mit seinem „siècle" haderte, so ging es um mehr als um persönliche Marotten. Die Begabung dieses Jünglings bezeugte sich zuerst in der Fähigkeit, unter Widersprüchen von gewissermaßen geschichtlichem Ausmaß leiden zu können. Vieles an ihm erinnert an jenen für die Jahrhundertwende charakteristischen, von Hegel definierten Typ des „Jünglings", dessen Dilemma in der Unvereinbarkeit seiner Subjektivität mit der objektiv vorhandenen Welt besteht. In der dadurch hervorgerufenen krankhaften Stimmung der Hypochondrie, so beschreibt Hegel die Lage, „will der Mensch seine Subjektivität nicht aufgeben, vermag den Widerwillen gegen die Wirklichkeit nicht zu überwinden und befindet sich eben dadurch in dem Zustande relativer Unfähigkeit, die leicht zu einer wirklichen Unfähigkeit wird. Will daher der Mensch nicht untergehen, so muß er die Welt als eine selbständige, im wesentlichen f e r t i g e anerkennen . . ,"49 21

Georg Lukäcs hat in seinem Werk Der junge Hegel darauf hingewiesen, daß Hegel in diesen Sätzen einen Widerspruch seines persönlichen Lebens in der Frankfurter Periode formulierte, damit zugleich aber auch einen wichtigen objektiven Widerspruch seiner Zeit getroffen hatte: „Es handelt sich um die Stellungnahme der großen deutschen Humanisten zur bürgerlichen Gesellschaft, die in der Französischen Revolution und in der industriellen Revolution in England zum Siege gelangt ist, die aber gleichzeitig ihre abschreckenden, kulturfeindlichen, prosaischen Seiten mit einer ganz anderen Deutlichkeit zu enthüllen beginnt als zur Zeit der heroischen Illusionen vor und während der Französischen Revolution. Es entsteht nun für die bedeutenden bürgerlichen Humanisten Deutschlands die komplizierte und widerspruchsvolle Notwendigkeit, diese bürgerliche Gesellschaft sowohl anzuerkennen, sie als notwendige und allein mögliche, als fortschrittliche Wirklichkeit zu bejahen, wie ihre Widersprüche offen und kritisch aufzudecken und auszusprechen, vor der Unmenschlichkeit, die mit ihrem Wesen verbunden ist, nicht apologetisch zu kapitulieren." 50 Dem ist hinzuzufügen, daß diese Problematik nicht nur für Deutschland, sondern auch für England, Frankreich und darüber hinaus für alle Länder galt, in denen sich der Kapitalismus durchzusetzen begann. Der Widerspruch wurde, durch national-geschichtliche Bedingungen in seiner Intensität graduiert und ungleichzeitig, zu einer europäischen Erscheinung. Die Versuche, mit dem Widerspruch gedanklich fertig zu werden, führten zur Ausbildung von Ideologien und Literaturen unterschiedlichen (klassisch-humanistischen, romantischen, utopisch-sozialistischen, kritisch-realistischen, re-. volutionär-demokratischen) Typs, die, wie verschieden auch ihre Motive, Funktionen und Folgen waren und wie unterschiedlich sie der objektiven Widersprüchlichkeit des gesellschaftlichen Prozesses auch gerecht wurden, doch miteinander wenigstens durch ein Merkmal verbunden sind: durch die Weigerung, sich mit der herausbildenden kapitalistischen Gesellschaft auf liberalistische Weise zu versöhnen, d. h. den progressiven Charakter des Kapitalismus gegenüber den von ihm zugleich produzierten sozialen Widersprüchen zu verabsolutieren. Der „liberale Jüngling" hinterließ infolge seiner problemlosen Haltung der kapitalistischen Gesellschaft gegenüber keine tieferen literaturhistorischen Spuren. Der andere von Hegel apostrophierte Typ des „Jünglings" dagegen befand sich in einer Problematik von weltge22.

schichtlichem Belang. Die von Hegel an ihn herangetragene Forderung, die Welt als eine fertige anzuerkennen, war nicht als Aufruf zur apologetischen Anpassung gemeint. Die Hegelsche „Versöhnung" mit der geschichtlichen Welt hat komplizierte Aspekte. Gemäß seiner dialektisch-idealistischen Geschichtskonzeption faßt Hegel die Geschichte des Weltgeistes als eine gesetzmäßige Abfolge von Stufen auf, von denen jede - vom Ursprung und von den Bedingungen ihrer Entstehung aus gesehen - berechtigt ist. Gleichzeitig aber wachsen auf jeder Stufe die Bedingungen für das Entstehen der nächsthöheren Stufe; von hier aus relativiert sich deren Berechtigung. Jede Stufe trägt demnach ein konservatives und ein Moment in sich, das dank der Teleologie des Prozesses darüber hinausweist und demzufolge als ein revolutionäres begriffen werden kann. Das konservative Element fordert die Anerkennung jeder Entwicklungsstufe als „notwendig", das revolutionäre Element fordert die Anerkennung der Tatsache, daß jede Stufe im Lichte der sich in ihrem Schöße ausbildenden nächsthöheren Phase die Qualität der Notwendigkeit und damit der Vernünftigkeit einbüßt und also wert ist unterzugehen. Die von Hegel geforderte „Versöhnung" des Menschen mit der geschichtlichen Wirklichkeit zielt theoretisch auf die bewußte Eingliederung der „Subjektivität" in diese Dialektik der objektiven Entwicklung. Angewendet auf die im Gefolge der Französischen Revolution entstandene gesellschaftliche Wirklichkeit würde das idealerweise bedeuten: Anerkennung der Notwendigkeit ihrer Existenz im Gesamtzusammenhang des geschichtlichen Prozesses (antifeudalistische Grundhaltung) bei gleichzeitiger Anerkennung der Notwendigkeit ihres späteren Untergangs und des Übertritts der Menschheit in ein höheres Entwicklungsstadium. Die Problematik für den „Jüngling", der nicht auf den Liberalismus einschwenken wollte, bestand darin, die Welt als „fertig" und „nicht-fertig" zugleich zu begreifen. Die geschichtlich notwendige „Versöhnung" mit der kapitalistischen Epoche als der neuen Stufe war mit dem Problem konfrontiert, wie diese neue Epoche zu überschreiten sei. Da die neue Ära als Zerrbild der Verheißungen des „siècle des lumières" schon wahrgenommen werden konnte, andererseits die neue weltgeschichtliche Kraft - das Proletariat - als geschichtlich bewußt handelnde Klasse noch nicht vorhanden war, ergab sich für den „Jüngling" ein Widerspruch, der einen breiten Spielraum für ideologische Reaktionen und Kompensationen bot. Die Lösungsversuche liegen auf einer Skala, die von der einfachen Negation der bestehenden Welt über die dialektisch-idealisti23

sehe Erfassung ihrer Widersprüchlichkeit bis ins Vorfeld ihrer geschichtlichen Aufhebung reichen. Beim Versuch einer begrifflichen Abbildung dieser ideologischen Prozesse sieht sich die Geschichtsschreibung großen Schwierigkeiten gegenüber. Ihre Projektion auf eine Skala, deren Grade von der einfachen bis zur komplexen Erfassung der geschichtlichen Epoche reichen, ist zwar für ihre Bewertung unumgänglich und vermag den Trend von der Illusion und Desillusion zur theoretischen und praktischen Bewältigung der gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus zu verdeutlichen. Sie gibt die Realität aber insofern nur unvollkommen wieder, als sie ein zeitliches Nacheinander der verschiedenen Lösungsversuche insinuiert. Das aber war nur zum Teil der Fall. In der Mehrzahl handelt es sich um Entwicklungen, die zeitlich parallel verlaufen, wechselseitig aufeinander reagieren und durch viele Berührungspunkte und Überschneidungen miteinander verbunden sind. Das gilt auch für die „klassischen", die geschichtliche Tiefe der Epoche ideell auslotenden Problemlösungen, für die im Bereich der Philosophie Hegels Phänomenologie, in der Literatur Goethes Faust als bedeutendste Objektivationen stehen. Erst recht trifft das für diejenigen, die in der Literaturgeschichte mit „romantisch" bezeichnet werden, zu. Man tut daher gut, bei der Verwendung des Begriffs „Romantik" Vorsicht walten zu lassen. Die romantische Literaturbewegung breitete sich in den einzelnen Nationen und Ländern in unterschiedlicher Gestalt, in unterschiedlicher geschichtlicher Funktion, mit unterschiedlichen Gegnern und Folgen aus. Auch innerhalb der nationalen Literaturprozesse traten unter dem Fahnenwort „Romantik" literarische, ideologische und politische Strömungen sehr verschiedenen Charakters auf. Vor allem ist zu vermeiden, den Begriff „Romantik" und seine französische Entsprechung „romantisme" zu identifizieren mit dem, was sich - im Nachklang zu einer berühmten Bemerkung Goethes - im Deutschen nur allzu schnell damit verbindet. Sowohl innerhalb des „romantisme" als auch innerhalb der „Romantik" gab es Strömungen, die in der Tat die Symptome des „Schwachen", des „Kränklichen", des „Kranken" zeigen, mit denen nach Eckermanns' Bericht Goethe einmal das „Romantische" gleichgesetzt haben soll. 51 Doch selbst in Deutschland eröffnete die Romantik, wie Werner Krauss es formulierte, zwei entgegengesetzte Wege: „. . . auf der einen Seite die quietistische Anpassung an alles Gegebene, auf der anderen das politische Rebellentum, der Weg von I m m e r m a n n 24

zu H e i n e , von der H e i d e l b e r g e r R o m a n t i k zum J u n g e n D e u t s c h l a n d." 5 2 Erst recht trifft das für die französische Romantik zu, deren Spannweite so breit ist, daß in der neuesten marxistischen französischen Literaturgeschichte mit gutem Grund der Singular „romantisme" durch den Plural „romantismes" ersetzt worden ist. Der Verfasser führt dazu aus: „Man ist 1800, 1830, 1850 weder auf gleiche Weise noch aus gleichen Gründen romantisch; es macht einen Unterschied aus, ob man aus der Aristokratie oder aus der Bourgeoisie stammt, ob man als wesentliche Erfahrung die Revolution von 1789, die Juli-Revolution oder die Juni-Tage 1848 gehabt hat." 5 3 Unter dem Begriff „romantisme" sind Bewegungen subsumiert, die subjektivistische Fluchtreaktionen, idealistische Rückgriffe auf Ideologien der vorkapitalistischen Ära, passivistische Anpassungshaltungen, aber auch utopische und humanitäre Anklagen, plebejisch-rebellisches Aufbegehren und demokratisch-revolutionäre Kampfbereitschaft gleichermaßen umfassen. Versteht man den Begriff so, dann hat Istvän Söter recht, wenn er sagt: „ D i e Romantik drückt das Bewußtsein einer Epoche aus, in der die Bourgeoisie schon ihren eigenen Klassenkampf durchgeführt hatte." 5,5 In der literarischästhetischen Sphäre drückte sich das Bewußtsein der neuen Epoche vor allem in der Absage an die klassisch-ästhetischen Doktrinen aus, die zumindest in Frankreich die „alte" Epoche beherrscht hatten. Darin wird man sich auf französisch-romantischer Seite im Laufe der zwanziger Jahre einig. Doch ist die romantische Bewegung weit mehr als die Etablierung einer neuen ästhetischen Doktrin; das zeigt sich darin, daß in ihr - abgesehen von der (ebenfalls nur relativen) Konformität in ästhetischen Fragen - verschiedene und widerspruchsvolle Interessen ausgetragen werden, hinter denen sich wiederum sozial differenzierte Haltungen zur bürgerlich-kapitalistischen Wirklichkeit verbergen. Weder die deutsche noch die französische und englische und schon gar nicht die europäische Romantik in ihrer Gesamtheit können als „krankhafte" Abweichung von einem angeblichen Hauptweg der Literaturgeschichte, als bloße reaktionäre, irrationalistische und subjektivistische Reaktion auf die „Gesundheit" der europäischen Aufklärung oder der deutschen Klassik abgetan werden. Pierre Barberis hat recht, wenn er bemerkt, daß die Romantik weder von ein paar kranken Gehirnen noch von ein paar ehrgeizigen Cliquen oder überhitzten Gemütern erfunden worden ist: „Man versteht den 'romantisme', die 'romantismes' nur, wenn man ihre tiefen Motivationen wiederfindet, und das sind historische Motivationen, die aus gesell25

schaftlichen Beziehungen hervorgegangen sind, aus der Verinnerlichung ihrer Erfahrung und ihres Ausdrucks."55 "Während in Deutschland, wo die bürgerliche Revolution noch ausstand, der innere Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft sich vor allem als gedanklich-theoretisches Problem stellte, wurde er in Frankreich nach 1794 ein Moment der gesellschaftlichen Praxis. Das Bewußtsein, von ihm betroffen zu sein, wurde in der „heroischen" Napoleon-Ära zeitweilig zurückgedrängt; nach 1815, nach 1830 und nach 1848 jedoch schob es sich mit um so größerer Wucht wieder in den Vordergrund. Die „Hypochondrie", die dadurch ausgelöst wurde, stellt nicht d i e romantische Reaktion auf die sich durchsetzende kapitalistische Wirklichkeit dar, sondern e i n e romantische Reaktion unter anderen. Wenn wir sie in unserem Zusammenhang hervorheben, dann nicht nur deshalb, weil auch der junge Henri Beyle zeitweilig von diesem Leiden befallen war, sondern vor allem, weil die Überwindung dieses Leidens den Weg markiert, der zur Entdeckung einer neuen Möglichkeit des Schreibens führte: des kritischrealistischen Schreibens, das von der Anerkennung der Welt als einer „fertigen" und einer romantischen, idealistisch-humanistischen oder sozialistisch-utopischen Lösung der ihr zugrunde liegenden Widersprüche gleich weit entfernt ist. Daß die Position des bloß hypochondrischen „Jünglings" bei allem Verständnis für seine tragische Lage letztlich nur literarische Entwürfe mit begrenzter geschichtlicher Reichweite gestattete, zeigte sich zum ersten Mal 1802 in dem Roman René von Alphonse de Chateaubriand. Obwohl dieses Werk noch in der Tradition des klassischen französischen Prosastils steht, hat man es nicht zu Unrecht einen „nouveau roman" genannt; 56 es steht am Beginn der langen Reihe von Romanen, in denen über das Dilemma jener Jünglinge berichtet wird, die am „mal du siècle" litten, wie man in Frankreich später die „Hypochondrie" bezeichnen wird. Chateaubriand hatte zu den revolutionären Ereignissen nach 1792 einen oppositionellen Standpunkt eingenommen und war emigriert. Nachdem Napoleon zum Ersten Konsul ernannt worden war, hielt er die Zeit für gekommen, seine Bereitschaft zur Versöhnung mit den neuen politischen Verhältnissen kundzutun. Der Text von René, der in diesen Jahren geschrieben wird, ist deshalb von besonderem Interesse, weil der Titelheld nicht nur die Leiden seiner Hypochondrie vorträgt, sondern der Verfasser ihm zugleich auch einen Ausweg weist, der auf einen Kompromiß mit der bestehenden Welt zielt. 26

In dem autobiographischen Bericht, den Chateaubriand seine Titelfigur geben läßt, erscheint als das „grand siècle" der Franzosen die Epoche Ludwigs XIV., allerdings nicht, wie bei Voltaire, ihrer literarischen Errungenschaften wegen, sondern auf Grund der damals noch gültigen Wertordnung: „Von der Höhe des Genies, vom Respekt für die Religion, von der Strenge der Sitten war plötzlich alles zur Leichtigkeit des Witzes, zur Gottlosigkeit, zur Korruption hinabgesunken" 5 ', erinnert sich der aus einem adligen Haus stammende René; der alle Familienangehörigen bis auf eine Schwester schon in den jungen Jahren verloren hat. Das für ihn unbegreifliche Verhalten dieser einzigen Verwandten - da sie eine inzestuöse Neigung zu ihrem Bruder gefaßt hat, verläßt sie ihn ohne Angabe von Gründen - bestärkt René in dem Gefühl, in seinem Heimatland völlig isoliert zu sein. Eine Zeitlang versucht er, sich dem „Niveau der Gesellschaft" anzupassen. Doch vergeblich: „Immer mehr abgestoßen von den Dingen und den Menschen", zieht er sich in die Einsamkeit zurück. Aber auch hier lassen sich „die Glut seines Verlangens", die Sehnsucht nach einem „unbekannten Gut", nach einem „objet", an das er seine Seele binden könnte, nicht besänftigen. In der Erinnerung stellt er fest: „Es fehlte mir etwas, um den inneren Abgrund meiner Existenz auszufüllen." Seine „Kraftlosigkeit", sein „Abscheu vor dem Leben", sein „Überdruß" an allem werden ihm unerträglich ; er denkt an Selbstmord. Der „Untergang" des Jünglings, der sich dem „Niveau der Gesellschaft" nicht anpassen wollte oder konnte, scheint bevorzustehen. „Ist es denn mein Fehler, wenn ich überall auf Grenzen stoße, wenn das, was ein Ende hat, keinen Wert für mich'hat?" 5 8 Der Leser ist bereit, diese Frage zu verneinen und den Antagonismus zwischen dem Impuls zur Selbstverwirklichung und den Grenzen, die ihr gezogen sind, als tragisches, objektiv bedingtes Verhängnis zu werten. Gleich dem Schicksal Werthers müßte dem Untergang Renés in diesem Fall eine epochengeschichtliche Symbolkraft zugebilligt werden. In der Tat lebt in dem Widerspruch zwischen subjektivem Anspruch und objektiver Unerfüllbarkeit ein Motiv weiter, das seine Herkunft aus der Sturm-und-Drang-Periode der deutschen und aus der rousseauistisch geprägten Strömung der französischen Aufklärung nicht verleugnen kann. Doch ist dies kein Indiz für die Existenz eines „préromantisme" im 18. Jahrhundert; es verhält sich vielmehr genau umgekehrt: Der „romantisme" griff in einigen seiner Erscheinungsweisen auf dieses Motiv zurück, weil die Revolution die Forde27

tung, die es enthielt, nicht verwirklicht hatte. D a der im „siècle des lumières" unaufhebbare Widerspruch zwischen individueller Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Beschränkung aktuell geblieben war, konnte die durch ihn bezeichnete Problematik eines der kontinuierlichen Momente bilden, die die vorrevolutionäre bürgerliche Freiheitsideologie mit dem nachrevolutionären „romantisme" verbinden. Wenn zu dieser Zeit das Unfertige der bürgerlichen Gesellschaft es erlaubte, eine solche - ihren geschichtlichen Horizont überschreitende - Fragestellung noch aufzuwerfen, so zeigte sich in den Antworten darauf zugleich aber auch schon die Zäsur, die die Revolution in der Entwicklung der bürgerlichen Ideologie gesetzt hatte. D a nämlich die Weigerung aur Versöhnung mit der bestehenden gesellschaftlichen Realität sich nach der Revolution von 1789 nicht mehr auf eine gesellschaftliche Alternative zu ihr stützen konnte - vor der Revolution war dies die bürgerliche Gesellschaft - , trennte sich das Motiv der individuellen Emanzipation von seinem einstigen gesellschaftlichen Inhalt und verlor damit seine revolutionäre Sprengkraft. D e r einstige antagonistische gesellschaftliche Konflikt, der zum Beispiel im persönlichen Schicksal Werthers ausgetragen wird (im Untergang des Titelhelden wird er auf die Höhe eines poetischen Symbols für eine politische Forderung gebracht), reduzierte sich auf einen Gegensatz, der in der Verstimmung eines Ichs angesichts der Unzulänglichkeiten der Realität verbleibt. D i e Subjektivität, die René kultiviert, beginnt schon leer zu werden. E r ist zwar noch Opponent der neuen Realität, zugleich aber schon ihr Produkt. D e r Widerspruch zur Welt ist nicht mehr antagonistisch, daher auch nicht mehr tödlich. René leidet zwar unter den Grenzen, die für ihn abgesteckt sind; aber er richtet sich in seinem Leiden ein. D i e Idee des Selbstmordes streift ihn nur; René lebt weiter; rückblickend erzählt er uns von seinen Leiden und Unglücksfällen. Schon diese von Chateaubriand gewählte autobiographische Erzählweise, durch die einstige Leiden als überstanden erscheinen, verrät, daß die Konflikte Renés - verglichen mit denen, an denen Werther und auch Julie und Saint-Preux in Rousseaus Nouvelle Héloïse zerschellt waren - sich als harmlos darstellen. D i e Anerkennung der Welt als einer „fertigen" lag näher, als René es subjektiv wahrhaben will. Dieser Eindruck verstärkt sich beim Lesen seiner Beichte; er lebt nämlich nicht nur weiter, sondern er lebt sogar auf eine besondere Art getröstet weiter. Auf seine Frage, ob es denn sein Fehler sei, wenn er überall auf Grenzen stoße, gibt ihm seine Schwester eine

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Antwort, die ihn im Grunde erfreuen mußte. Davon könne keine Rede sein, führt sie aus: „Die Erde bietet dir nichts, was deiner würdig wäre." 59 Auch Chactas, dem er seine Lebensgeschichte erzählt, ist dieser Meinung: „Wenn du mehr als andere an den Dingen des Lebens leidest, darfst du nicht darüber erstaunt sein; eine große Seele muß mehr Schmerzen in sich bergen als eine kleine." 60 Das Bewußtsein, wenigstens „eine große Seele" zu sein, schafft nicht nur Trost, sondern auch Genuß: „Ich fand sogar eine Art unerwarteter Befriedigung in der Fülle meines Kummers; denn ich bemerkte mit einer geheimen Bewegung der Freude, daß der Schmerz kein Gefühl ist, das sich aufbraucht wie das Vergnügen." 61 Der Genuß des Schmerzes macht ihm das verfehlte Leben auf unverhoffte Weise wieder erträglich: „Ich hatte keine Lust mehr zu sterben, seit ich wirklich unglücklich war. Mein Kummer war eine Beschäftigung geworden, die jeden Augenblick meines Lebens ausfüllte . . ," 62 Wer aus dem Trübsinn solche Genüsse zieht, hat kein Bedürfnis, den Widerspruch zur „bestehenden Welt" unter der Gefahr des Untergangs auszufechten. Das Leiden an sich selbst macht das entleerte Dasein wieder interessant. Die Weigerung, die Gegebenheiten zu bejahen, geht mit der quietistischen Anpassung an die Grenzen einher, die durch die Gegebenheiten gesetzt sind: René wird Opfer der geschichtlichen Welt, der er sich hypochondrisch hatte verschließen wollen. Am Schluß der Geschichte, die er von seinem Innenleben entwirft, muß sich René eine Kritik gefallen lassen, die den Sinn seiner soeben erbrachten sprachlichen Leistung auf ziemlich grobe Weise in Frage stellt. Einer seiner beiden Zuhörer hält es für angebracht, ihm eine Strafpredigt zu halten: „Nichts an dieser Geschichte verdient das Mitleid, das man Ihnen hier entgegenbringt. Ich sehe einen Jüngling, der von Hirngespinsten besessen ist, dem alles mißfällt und der sich den Lasten der Gesellschaft entzogen hat, um sich unnützen Träumereien hinzugeben. Man ist kein höherer Mensch, Monsieur, weil man die Welt in einem widerwärtigen Licht sieht; man haßt die Menschen und das Leben nur, weil man nicht weit genug sieht. Dehnen Sie Ihren Blick etwas weiter aus, und Sie werden bald überzeugt sein, daß alle Übel, über die Sie sich beklagen, bloße Nichtigkeiten sind . . . Wer immer auch Kräfte erhalten hat, muß sie dem Dienst seiner Mitmenschen widmen." Auch Chactas stimmt dieser Strafpredigt zu : „Ja, du mußt auf dieses ungewöhnliche Leben, das nur Kümmernisse bereitet^ verzichten ; nur auf den üblichen Wegen (auf den 'voies communes') liegt das Glück." 63 29

Im Unterschied zu René, der diesen Aufforderungen nicht folgt, war Chateaubriand, als er diese Figur schuf, gerade dabei, die „voies communes" zu beschreiten. Nicht zu Unrecht hat man den Schluß des Romans als taktische Maßnahme gedeutet, die bezweckte, die neuen politischen Machthaber vom guten Willen des Emigranten zur Mitarbeit zu überzeugen.64 Um seine Distanz zur Haltung seiner Romanfigur zu unterstreichen, empfahl Chateaubriand in einer seiner späteren Schriften, das Werk auf folgende Weise zu lesen: „Der Autor bekämpft darin außerdem die eigenartige Verschrobenheit der jungen Leute des 'siècle', die Verschrobenheit, die direkt zum Selbstmord führt. J.-J. Rousseau führte bei uns als erster diese so verderblichen und sündhaften Hirngespinste ein. Indem er sich von den Menschen trennte, indem er sich seinen Träumen überließ, hat er eine Menge junger Leute glauben lassen, daß es schön sei, sich auf diese Weise in die Vagheit des Lebens zu stürzen- Der 'Werther' hat seitdem diesen Giftkeim noch wachsen lassen. Der A u t o r . . . hat diese neue Art von Laster entlarven und die unheilvollen Folgen einer übertriebenen Liebe zur Einsamkeit zeichnen wollen."65 Die „voies communes", die Chateaubriand hier den „Jünglingen" zu gehen empfiehlt, werden ihn nach dem Sturz Napoleons auf die Seite der Restauration führen. Sein Roman jedoch hatte für die Zeitgenossen einen Sinn, der der Wirkungsabsicht, die der Verfasser ihm zugrunde gelegt hatte, widersprach. Sie empfanden den Weltschmerz Renés als eine Bestätigung für ihre Erfahrung, daß die große Revolution die „beste aller möglichen Welten" nicht gebracht hatte. Welche subjektiven Motivationen Chateaubriand dem Text auch unterlegt haben mochte - in René war nicht nur die Verärgerung eines emigrierten Aristokraten über den Sieg der Bourgeoisie eingeschrieben; René trug einen allgemeineren, durch die Revolution produzierten geschichtlichen Widerspruch ins gesellschaftliche Bewußtsein. Zwei Jahre nach René veröffentlichte Etienne Pivert de Sénancour den Obermann (1804). In dem weitgehend autobiographischen Werk, eine Art Tagebuch in Briefform, berichtet der Titelheld von Seelenzuständen, die denen Renés in vielem ähnlich sind; mit dem Unterschied allerdings, daß Sénancour die gesellschaftlichen Ursachen für die individuelle Problematik seines Titelhelden wesentlich tiefer erfaßt als Chateaubriand. Die durch die kapitalistischen Produktionsund Austauschverhältnisse herbeigeführte Versachlichung der gesellschaftlichen Beziehungen wird - obwohl zu dieser Zeit noch relativ unentwickelt - schon auf eine Weise empfunden, die in gewisser 30

Hinsicht bis heute paradigmatisch geblieben ist: „Ich befragte mein Wesen, ich betrachtete alles, was mich umgab; ich fragte die Menschen, ob sie wie ich fühlten; ich fragte die Dinge, ob sie meinen Neigungen entsprächen; und ich sah, daß es weder zwischen mir und der Gesellschaft, noch zwischen meinen Bedürfnissen und den Dingen, die die Gesellschaft gemacht hat, eine Übereinstimmung gab."66 Die Objektwelt hat sich gegenüber dem Subjekt zu einer fremden Macht veräußerlicht - ein Vorgang, der zugleich auch die Verinnerlichung der Subjektwelt einleitet. Im Unterschied zu den späteren Entwicklungen, als dieser Sachverhalt so normal werden sollte, daß er kein Erstaunen mehr auslöste, erlebt Obermann die Erfahrung noch als Problem: „Ich wollte endlich wissen, ob meine Existenz nicht in di'e Ordnung der Menschen paßt oder ob die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung (l'ordre social actuel) sich von der ewigen Harmonie entfernt.. ."67 Die Antwort, die er darauf findet, ist nicht überraschend : Im „ordre social actuel" herrscht eine „universelle Zwangsläufigkeit", eine blinde „Notwendigkeit", die Obermann als „tiefe Finsternis", als „Nichts" empfindet68 oder auch als „Traum", der ihm bezeugt, daß „la vie positive" keinen Zusammenhang, keinen Sinn und kein Ziel hat;69 er kann daher auch gegen „alle Objekte des positiven Lebens" nur „Gleichgültigkeit" aufbringen.70 Gegenüber dieser fremden Außenwelt verselbständigt sich die subjektive „Innenwelt", die „vie intérieure" zu einem absoluten Wert: „ . . . das wirkliche Leben des Menschen ist in ihm selbst.. ." 71 Die Dichotomie zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Ich und den anderen ist damit perfekt. In diesem Zustand stehen der von der realen Objektwelt abgesonderten und daher leeren Innerlichkeit mannigfache Wege für eine Kompensation offen: in die von Menschenhand noch nicht befleckte „Natur", in die unkontrolliert bleibende Welt des „Gefühls" oder der chimärischen „Träumerei", in die Mystik und Religion und schließlich auch in die „reine" Kunst als dem autonom gesetzten Reich der Imagination und Phantasie. Alle diese und noch andere Wege werden von den folgenden „romantischen" Generationen ausgeschritten werden. Bei Sénancour, der noch bis 1846 lebte, endete die Suche nach einem Ausweg in einer spiritualistisch-okkulten Metaphysik. Ein anderer zeitgenössischer Romanheld, Benjamin Constants Adolphe (geschrieben 1806), hatte in seiner Jugend nur einen einzigen Wunsch: „Ich verlangte damals nur danach, mich jenen ursprünglichen und ungestümen Eindrücken hinzugeben, die die Seele aus der 31

gewöhnlichen Sphäre hinauswerfen und ihr Verachtung für alle Objekte einflößen, die sie umgeben." 72 Sein Wesen war von einem „heißen Wunsch nach Unabhängigkeit" beherrscht, von einer „großen Unlust über die Bindungen", die er eingehen mußte, von einem „Bedürfnis nach Sensibilität", das keine Befriedigung fand und ihn demzufolge von „allen Objekten" absonderte, die seine Neugierde erweckt hatten. 73 Bald fühlte er sich nur wohl, wenn er allein war. Er brachte den Mut auf, die für ihn vorgesehene gesellschaftliche Karriere auszuschlagen und eine unkonventionelle Bindung mit der Frau einzugehen, die ihn liebte. Der Versuch, gegen die gesellschaftlichen Konventionen eine Insel des privaten Glücks zu behaupten, mißlang jedoch. Der Konflikt zwischen seiner Liebe und der geltenden Moral wird zugunsten der letzteren entschieden. Bedrängt von den allmächtigen Repräsentanten der „Gesellschaft", verließ Adolphe Ellenore, und diese starb an ihrem Kummer. Resigniert und zugleich seine jugendlichen Ausbruchsversuche rechfertigend, stellt er in dem Bericht, den er dem Leser von seinem früheren Leben gibt, fest: „ . . . man braucht Zeit, um sich an die Menschengattung zu gewöhnen, wie da-s Interesse, die Heuchelei, die Eitelkeit, die Angst sie gemacht haben. Das Erstaunen der ersten Jugend beim Anblick einer so unnatürlichen und künstlich bearbeiteten Gesellschaft kündet eher von einem natürlichen Herzen als von einem schlechten Charakter. Diese Gesellschaft hat im übrigen nichts davon zu befürchten. Sie drückt so schwer auf uns, ihr stiller Einfluß ist so mächtig, daß sie uns schließlich doch nach dem allgemeinen Muster formt." 74 Benjamin Constant, den nach 1815 die „voies communes" ins Lager der Liberalen führten, fügte dem autobiographischen Ich-Bericht seiner Titelfigur Texte hinzu, in denen der fingierte Finder der Aufzeichnungen Adolphes und der fingierte Verleger des Manuskripts in einen Streit darüber geraten, ob es tatsächlich - wie Adolphe meint die „Gesellschaft" war, die ihn leiden machte und schuldig werden ließ, oder ob der Bericht nicht vielmehr nur den schwachen Charakter des Individuums Adolphe offenbare. Der Finder meint: „Das Unglück Ellenores beweist, daß auch das leidenschaftlichste Gefühl vergebens gegen die Ordnung der Dinge kämpft. Die Gesellschaft ist zu mächtig, sie vervielfältigt sich unter zu vielen Formen, sie mengt zu viel Bitterkeit in eine Liebe, die sie nicht sanktioniert h a t . . ." 75 Der Verleger ist anderer Meinung: „Die Umstände bedeuten sehr wenig, der Charakter ist alles; es ist fruchtlos, mit den Gegenständen und den äußeren Gegebenhei32

ten zu brechen; man sollte mit sich selbst brechen." 7 6 Ähnlich wie Chateaubriand den Stab über seinen Helden brach, verfuhr Constant mit seiner Titelfigur. D e r Verleger hat den Roman nur unter schwerwiegenden Bedenken veröffentlicht: „ . . . ich hasse diese Eitelkeit, die sich mit sich selbst beschäftigt, indem sie das Unglück beschreibt, das sie angerichtet hat, die, indem sie sich selbst beschreibt, den Anspruch erhebt, beklagt zu werden, und die, unzerstörbar inmitten von Ruinen umherschweifend, sich selbst analysiert, anstatt zu bereuen." 7 7 Diese Kritik hat zweifellos einen rationellen K e r n ; davon wird noch zu sprechen sein. Sie besagt aber zugleich, daß für Chateaubriand und Constant die Negation der nachrevolutionären Welt nicht prinzipieller Natur war. Obwohl nach dem Sturz Napoleons in entgegengesetzten politischen Lagern tätig, bejaht jeder von beiden auf seine Weise die neue gesellschaftliche Realität. Bs handelt sich um den Widerspruch innerhalb der herrschenden Klasse zwischen einer Fraktion, für die die Welt unter der Restauration, und für eine andere, für die die Welt unter dem Bürgerkönigtum nach der JuliRevolution 1830 „fertig" war. In der Kritik ihrer Figuren kündigt sich ihre spätere „Versöhnung" im Sinne einer prinzipiellen Affirmation der kapitalistischen Gesellschaft schon an. Was ein „Jüngling" empfand, der auch mit der Welt Louis-Pbilippes nicht „fertig" wurde, hat 1836 Alfred de Musset in dem Roman La

confession d'un enfant du siècle (Die Bekenntnisse eines Kindes

des

Jahrhunderts) geschildert. D e r Ich-Erzähler namens Octave läßt darin die Erinnerung an die Zeit nach dem Sturz Napoleons wachwerden und schreibt: „Drei Elemente also teilten das Leben, das sich damals den jungen Leuten anbot: hinter ihnen eine für immer zerstörte Vergangenheit, die sich auf ihren Ruinen noch bewegte mit all den Fossilien der absolutistischen Epochen; vor ihnen die Morgenröte eines unermeßlichen Horizontes, die ersten Schimmer der Zukunft; und zwischen diesen beiden Welten ein Etwas, das dem Ozean vergleichbar ist, der den alten Kontinent von dem jungen amerikanischen trennt, irgend etwas Vages und Fließendes . . . : 'le siècle présent', das die Vergangenheit von der Zukunft trennt, das weder das eine noch das andere ist und das zugleich beidem gleicht, und wo man nicht weiß, wenn man einen Schritt tut, ob man auf einer Saat oder ob man auf Trümmern geht.. ." 7 8 D i e literarischen Biographien Renés, Obermanns, Adolphes und ihrer vielen Leidensgenossen bis hin zu der Octaves verdeutlichen, daß Untergang und Bejahung nicht sosehr ein Entweder-Oder be3

Naumann

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zeichnen, sondern eher den Radius für tendenzielle Verhaltensmöglichkeiten gegenüber einem „siècle présent", das als irreversibel und inakzeptabel zugleich empfunden wird. Von der geschichtlichen Realität geht ein Zwang zur Versöhnung aus, der permanent durch eine gegenläufige Bewegung durchkreuzt wird, die ihre Impulse teils aus der heroisch aufgeladenen Erinnerung an eine andersgeartete Vergangenheit, teils aus der vage bleibenden Hoffnung auf eine andersgeartete Zukunft empfängt. D i e Konflikte mit dem „ordre social actuel" rufen Gesten der Flucht und der Rebellion, des Trotzes und der Anpassung, nonkonformistische und affirmative Stimmungen, Akte der Aggression gegen die gesellschaftliche Moral und quietistische Unterwerfung unter ihre Spielregeln gleichermaßen hervor. Ihr Unwille, sich der bestehenden Welt anzupassen, und die Erfolglosigkeit ihrer Suche nach einer anderen, ihr Verharren in der bloßen Negation einer Positivität gegenüber, die sich durch eine solche Form ihrer Negierung zwar manchmal provoziert, aber nie in ihrer Substanz in Frage gestellt fühlt, drängt die „enfants du siècle" in die Position einer manchmal tragisch empfundenen, manchmal genußvoll erlebten Vereinzelung, in eine Position des Schwankens zwischen nostalgischer Beschwörung der Vergangenheit und utopischer „rêverie" von zukünftigem Glück. Auf diese Weise demonstrieren sie den für diese Form des „romantisme" charakteristischen Persönlichkeitsstatus, der durch „das Verhausen der subjektiven Innerlichkeit in sich" gekennzeichnet ist, einen Zustand, in dem „die Subjektivität in ihrem geistigen Insichsein und unendlicher Wichtigkeit" wird, 7 9 Insofern repräsentieren die am „mal du siècle" leidenden Figuren die durch die bürgerlichen „Menschenrechte" proklamierte „Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade". 8 0 Indem sie sich in ihrem Inneren gegen die Gesellschaft verschanzen, machen sie zugleich ein durch dieselbe Gesellschaft sanktioniertes Recht geltend : „ . . . das Recht des b e s c h r ä n k t e n , auf sich beschränkten Individuums" auf Absonderung. 81 Indem sie dieses Recht wahrnehmen, bejahen sie das „siècle présent", das sie subjektiv negieren. Das antibürgerliche Auftreten dieser Helden ist ein Zeichen ihres bürgerlichen Status: Sie richten ihre Welt im Namen der Illusionen, die sie von ihr haben. Was sie literarisch auszeichnet, ist der Umstand, daß sie als solche von der bürgerlichen Gesellschaft produzierte Romanhelden noch nicht „fertig" sind. Sie empfinden ihr monadenhaftes Dasein noch als Mangel, und gerade in dem Bewußtsein, daß ihnen etwas fehlt, stellen sie das Recht, das sie genießen, in Frage. Das „mal du siècle",

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an dem sie leiden, ist ein Symptom dafür, daß sie den Status der Beschränktheit noch nicht als „natürlich", die bürgerliche Gesellschaft noch nicht als „Natur" und die Beschreibung dieser Natur noch nicht als die Aufgabe der Kunst empfinden. Was sie literarisch auszeichnet, ist ihr Mangel an „Naturalismus". Als „widernatürlich" konnte dieser Mangel nur von Zeitgenossen empfunden werden, die die Wahrnehmung des Rechts auf Beschränktheit durch das Individuum für „natürlich" und daher für ein Indiz seiner „Gesundheit" hielten. Wenn die „romantischen" Romane, deren Protagonisten selbstanalytische Bilder von sich entwerfen, dem Sog zur liberalistischen Versöhnung und zur Anerkennung des „siècle présent" als „Natur" widerstehen können, so bedeutet das jedoch nicht, daß damit die Möglichkeiten für die Selbstbehauptung des künstlerischen Subjekts unter den neuen kapitalistischen Produktionsbedingungen schon erschöpft gewesen seien. Es handelt sich bei diesen Romanen um hervorragende Beispiele von Produktionen, „in welcher das hervorbringende Subjekt nur sich selber zu sehen gibt" 82 . Das durch den Wegfall der ständischen Gesellschaftsgliederung beschleunigte „Freiwerden der Subjektivität ihrer inneren Zufälligkeit nach" 83 äußert sich hier in der Form einer selbstanalytischen Aktivität; die durch den Widerspruch zwischen subjektivem Anspruch und den objektiven Grenzen der Ich-Verwirklichung erzwungen wird. Im Gegensatz zur Aufklärungszeit aber, in der über seine Lösungsmöglichkeit noch heroische Illusionen bestanden, vermag die Erfahrung dieses Widerspruchs nur noch Impulse für ein Selbstmitleid freizusetzen, das die erhofften Einblicke in die tieferen Strukturen des Ichs nicht freigibt, sondern eher verbaut. Beim Versuch nämlich, die „profondeur de l'âme" zu ergründen und sich in ihrem inneren Wesen zu erkennen, stoßen die Protagonisten immer sehr bald auf Grund. Das Bemühen, sich in die tieferen Regionen des „Innenlebens" zu begeben, wird permanent durch gleich unter der Oberfläche liegende Stimmungen blokkiert, die sich in den stereotypen Kundgaben des„ennui", des „dégoût", der „mélancolie", der „tristesse", der „solitude" usw. äußern und den Texten eine Eindeutigkeit vermitteln, die das Interesse an ihnen bald erschöpft. Dazu kommt ein Ärgernis, das schon den Verleger des Adolphe irritierte: Die Geschwätzigkeit, mit der die „enfants du siècle" über ihr Unglücklichsein plaudern, legt den Verdacht auf eine Eitelkeit nahe, der die Bereitschaft des Lesers, mit den Helden zu trauern, auf die Dauer hemmt. 3«

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Im 18. Jahrhundert waren der in die Memoirenform eingekleidete Ich-Roman und der Briefroman noch die Mittel gewesen, die Wahrheit des romanesken Geschehens zu behaupten gegenüber dem Vorwurf der Lüge, den die ästhetischen Gegner des Romans im Namen des empirischen Geschehens erhoben.84 Memoiren- und Briefstil hatten die Funktion, das Erzählen von Geschichten in einer Zeit zu legitimieren, in der die Aufklärung sich der Gattung bemächtigte, um sie in ihren Dienst zu stellen: Der Eindruck des authentischen Dokuments, den diese Erzählstrategie beim Leser erweckt, soll die Überzeugungskraft der Fiktion im Sinne der mit der Aufklärung verbundenen Wirkungsabsicht erhöhen. Schon deshalb ist es falsch, die Verwendung des Ich-Mediums mit einer subjektivistischen Erzählweise gleichzusetzen. Erzählermedien sind Techniken, die sehr verschiedenen Funktionen dienen können; ihre Beurteilung kann nur im Zusammenhang mit den von seinen Wirklichkeitsbeziehungen abhängigen Intentionen des Autor-Ichs und aus der Ganzheit des Werkes erfolgen. Wenn wir von hier aus nach der Funktion fragen, die die Memoiren-Strategie nach dem Wegfall der Aufklärungsfunktion wahrnehmen konnte, dann zeigt sich, daß sie zwar dem Autor-Ich zum Mittel der Selbstanalyse der freigesetzten Subjektivität werden konnte, daß sie aber nicht zuließ, den Raum, der sich dem AutorIch durch das „Freiwerden der Subjektivität" nach dem totalen Zusammenbruch der ständischen Abhängigkeitsverhältnisse anbot, in seiner Gesamtheit abzuschreiten. Da die klassischen Stilregeln nicht mehr galten oder zumindest anfingen, ihre Geltung zu verlieren, waren für das Autor-Ich alle Hindernisse beseitigt, den Roman als „ein freies Instrument" zu gebrauchen, „das er nach Maßgabe seiner subjektiven Geschicklichkeit in bezug auf jeden Inhalt, welcher Art er auch sei, gleichmäßig handhaben kann". 85 Indem der „Selbstanalytiker" dieses Recht nur für sich selbst wahrnahm, nutzte er die Freiheit, die dem Autor-Ich nun eingeräumt war, nur in begrenztem Umfang. Was unreflektiert bleibt, ist der Sachverhalt, daß durch das „Freiwerden der Subjektivität" ein breiterer Spielraum auch der Fremdanalyse geboten war, daß die freigesetzte künstlerische Subjektivität sich nicht nur im Ausdruck ihrer eigenen Problematik realisieren konnte, sondern auch in der Behauptung des Anspruchs, das Geheimnis der anderen zu kennen, und in der Wahrnehmung des Rechts, dieses Geheimnis zu verraten; ein breiterer Spielraum für das, was Hegel „die subjektive Kunstnachahmung des „Vorhandenen" nannte: die absichtliche Annäherung nämlich an die Zufälligkeit 36

des unmittelbaren, für sich genommen unschönen und prosaischen Daseins" 86 . Durch die Scheu, sich diesem Dasein zu nähern, bleibt die Chance, den schon immer vorhandenen Spielraum des Romans noch weiter zu vergrößern, ungenutzt. Indem der Selbstanalytiker auf das dem Romanautor schon seit langem zustehende Recht verzichtet, sich die „zur Prosa gewordene Wirklichkeit" zum Objekt zu machen, verzichtet er auch darauf, sich ihr gegenüber als freies Subjekt zu setzen. Er „verhaust" sich in sich selbst, anstatt sich „frei für sich" in Beziehung auf das Vorhandene zu bewegen. Von dieser Position aus konnte der Durchbruch zu einer neuen Erzählweise nicht erzielt, die Souveränität nicht aufgebracht werden, die dazu gehörte, sich des Mediums eines „Er" zu bedienen, über den die selbstherrliche Autorität des Autor-Ichs waltet. So beschnitt die freigesetzte Subjektivität des Autor-Ichs selbst den hinzugewonnenen Spielraum fur ihre Betätigung, sie reduzierte ihre Produktivität und bewies auch damit, daß sie nicht auf dem Niveau des „siècle présent" stand, in welchem sich die Entfaltung kapitalistischer Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen - auch die literarischen - unterordnete. Erst die Wahrnehmung des bürgerlichen Rechts, sich als richterliche, autoritäre und allwissende Instanz der Gesellschaft zu betätigen, erst die Inanspruchnahme der bürgerlichen Freiheit auch in der künstlerischen Produktion, wie illusionär diese Zielstellungen auch sein mochten, schufen Voraussetzungen für die Erfindung und Entwicklung neuer Weisen der literarischen Wirklichkeitsaneignung und -Wertung, neuer literarischer Formen, Mittel und Methoden zur Formierung literarischer Werke. Schon in den zwanziger Jahren waren die Selbstanalytiker daher nicht mehr die literarische Avantgarde. Es waren Stendhal und Balzac, die innerhalb der Grenzen des „siècle présent" die Chancen des Romans am adäquatesten und produktivsten nutzten: durch einen neuen Typus der Gattung, den wir den „kritisch-realistischen" Roman nennen. In Erinnerung an die Bemerkungen, die wir in der Einleitung zu diesem Buch über dais Realismus-Problem gemacht haben, bedeutet „kritischer Realismus" für uns zunächst nichts anderes als eine Schreibweise, die im Unterschied zum Realismus der Aufklärung und der deutschen Klassik die bestehende Wirklichkeit kritisiert, ohne ihr das Ideal einer anderen entgegensetzen zu können, die aber im Unterschied zum späteren „positivistischen" und „naturalistischen" Realismus noch von der Illusion inspiriert ist, die antagonisti37

sehen Widersprüche in der bestehenden Wirklichkeit würden nicht zu einer totalen Unterwerfung der menschlichen Beziehungen und des Menschen unter das Gesetz der kapitalistischen Verdinglichung und Entfremdung mit seinen, dehumanisierenden Folgen führen. Dieses utopische, teils an eine heroisierte Vergangenheit, teils an eine vage Zukunftshoffnung gekettete Element verbindet den kritischen Realismus zugleich mit den Literaturbewegungen der Romantik, wobei er sich aber insofern von diesen distanziert, als er sowohl den Rückzug ins Subjektive und Gesellschaftlich-Unverbindliche, die Flucht ins Jenseits oder ins Geschichtlich-Zurückliegende als auch den Vorstoß ins Humanitär-Utopische als unzeitgemäße und unrealistische Lösungen des Konflikts verwirft. Der „kritisch-realistische" Jüngling stellte sich (realistisch) der Wirklichkeit, ohne sie (liberalistisch) zu billigen; er verweigerte sich ihr (kritisch), ohne sie (romantisch) zu verwerfen. Genaueres über ihn kann nur die konkrete historische Untersuchung in Erfahrung bringen.

Entdeckung des 55siècle de la révolution" 1802 hatte Henri Beyle das Verlangen artikuliert, sich der „kalten Gefühllosigkeit" jener zu entziehen, die in seinen Augen die „âmes de boue", die „tartufes du siècle" waren, die die „gegenwärtige Gesellschaftsordnung", den „ordre actuel de la société" repräsentierten, der ihn nicht nur „erstaunte", sondern „schockierte", weil er dem „idealen Modell einer bestmöglichen Gesellschaft", das er sich gebildet hatte, so sehr widersprach.87 1827, genau fünfundzwanzig Jahre später, erschien der erste Roman, in dem Stendhal einen „état actuel de la société" in Szene setzte, in Armance, dem ersten bedeutenden Werk der neuen, mit den Namen Stendhal und Balzac verbundenen literarischen Avantgarde. Zwei Jahre später, 1829, veröffentlichte Balzac Le dernier Chouan (Die Chouans), den ersten seiner Romane, die er später unter dem Titel La comédie humaine (Die menschliche Komödie) zusammenfassen wird. 1830 erschien Le rouge et le noir (Rot und Schwarz). Der Weg Stendhals vom „mal du siècle" zum Produzenten eines Typs von Roman, der „die Strenge des Wirklichen des Lebens", die „âpreté du réel de la vie" enthielt,88 ist von der Stendhal-Forschung der letzten Jahrzehnte unter den verschiedensten Aspekten durch38

leuchtet worden. So unterschiedlich dabei auch die Akzente gesetzt wurden - die Tendenz zu einer Revision des Stendhal-Bildes, das im Kreis der „stendhaliens" lange Zeit vorherrschend war und durch die bürgerlich-individualistische Rezeptionsweise in vulgarisierter Gestalt tausendfach kolportiert wurde, ist unverkennbar. In der Einleitung zu einer der Arbeiten, die für den neuen Trend repräsentativ sind, wird unverhohlen zugegeben, daß die Stendhal-Kritik zu lange der Verführung erlegen war, das Individuum Henri Beyle als monadenhaftes Wesen zu betrachten und die historischen Bezüge in den Anmerkungsapparat zu verbannen: „Man hat Stendhal zu lange in seine Lektüre und in seine persönlichen Abenteuer eingeschlossen." 89 Wahrscheinlich liegt hier eine der Ursachen dafür, d a ß man in Stendhal immer wieder einen - ausschließlich in seine persönlichen Angelegenheiten verstrickten - Individualisten sehen konnte, einen Ich-Menschen, der seine Gleichgültigkeit dem gesellschaftlichen Geschehengegenüber bis zumZynismus getrieben, einen unverbesserlichen Egoisten, der mit der Leichtfertigkeit des Dilettanten über alles Mögliche geplaudert habe, ohne sich innerlich für etwas anderes als sich selbst und seine Liebschaften zu engagieren. Dieses StendhalBild ist inzwischen gründlich zerstört worden. Man muß schon einer bestimmten Ideologie der' gegenwärtigen „westlichen Zivilisation" so verfallen sein und von dem Gegenstand, über den man spricht, so vage Vorstellungen haben wie Carl Baumann, um, Stendhal fortwährend mit der Romanfigur Julien gleichsetzend und sie beide unter dem Zwang der ideologischen Aktualisierung gleichermaßen mißverstehend, zu folgendem Urteil kommen zu können: „Stendhal denkt sich Julien als eine Art von 'Übermensch', der durch keinen inneren moralischen Codex gebunden i s t . . . Mit unheimlicher Psychologik ergibt sich daraus ein charakterloser Mensch, urteilt man altmodisch; oder ein 'Charakter', der es dank des Erfolges ist. Erfolg allein zählt, die Konsequenzen für andere werden negiert. Das 'heilige Ich' ist Hauptwerk." Im Unterschied zu Nietzsche, der Stendhal ähnlich gesehen, aber positiv bewertet hatte, statuiert Carl Baumann hier das Exempel für die „Antigefühle", die „Antihaltungen", für das „Antidenken" „moderner Intellektueller", die sich von ihrer negativen Haltung gegenüber den von „der" Gesellschaft gesetzten Werten ein „gesteigertes Ichgefühl" versprachen. 90 Baumann ist jedoch eine Ausnahme. Die seriöse Stendhal-Forschung ist sich längst darüber einig, d a ß das Bild des Subjektivisten

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und Individualisten, des Zynikers und Immoralisten, des Dilettanten und Halbgebildeten, das so lange Zeit vorherrschte, auf einem Mythos beruhte.91 Zum Teil hat Stendhal diesen Mythos allerdings selbst mitverschuldet. Seine „Antihaltung" gegenüber den politischen Autoritäten* den geltenden moralischen Konventionen, den offiziellen Denkweisen und Verhaltensregeln ließ es ihm angebracht erscheinen, seine Überzeugungen hinter verschiedenen Masken zu verstecken. Daß diese Angewohnheit nicht nur einer charakterlichen Veranlagung entsprach, sondern auch die Folge praktischer Erfahrungen war, wird 'sofort deutlich, wenn man weiß, daß der Name Henri Beyle für etliche Polizeibehörden alles andere als ein unbeschriebenes Blatt war. Im Jahr 1820 hatte er sich der österreichischen Polizei in Mailand infolge seiner Verbindungen zur italienischen Befreiungsbewegung so verdächtig gemacht, daß er, wäre er kein Franzose gewesen, wahrscheinlich verhaftet worden wäre. 92 In den Polizeiakten von 1822 findet sich die Eintragung: „Debel (d. h. de Beyle - M. N.), aus Grenoble in Frankreich gebürtig, ist als irreligiöser, revolutionärer, liberaler Mensch und als Feind der Legitimität bekannt." Im Januar 1828 wird der „wohlbekannte Enrico Bayle" aus Mailand u. a. als Feind „jeder politischen Ordnung" ausgewiesen.93 Am 30. November, nach der Ankunft Stendhals in Triest, wo er das Amt des französischen Konsuls antreten sollte, richtete der Wiener Polizeipräsident folgende Note an Metternich: „Aus den nebenliegenden Berichten des Mailänder General-Polizey-Direktors vom 22. und 23. 1. M. belieben Euere Durchlaucht zu entnehmen, daß derselbe Franzose Henri Beyle, welcher im Jahre 1828 laut des beifolgenden Berichtes . . . als der Verfasser mehrerer unter dem apokryphen Namen eines Baron de Stendhal im Druck erschienenen revolutionären, besonders gegen Österreich feindselig geschriebenen Pamphlete aus Mailand und den k. k. Staaten abgeschafft wurde", nach Triest weitergereist sei. Der Polizeipräsident fügte der Note drei „Censur-Decisa" bei, die die Histoire de la peinture en Italie, Rome, Naples et Florence und Promenad.es dans Rome betrafen. In diesen Gutachten ist von „revolutionären Bocksprüngen", von der „Neuerungssucht", vom „Zusammentragen unsittlicher, wollüstiger Anekdoten" des „gefährlichen Fremdlings", des „gefährlichen Subjects", des „unverschämten Verfassers", der Henri Beyle alias Stendhal ist, ausführlich die Rede. 94 Die Folge war, daß dem ernannten Konsul in Triest das Exequatur verweigert wurde. Auch in Civitavecchia, auf dem Gebiet des Kir40

chenstaates liegend, erfreute sich der Konsul Beyle ständiger polizeilicher Überwachung. 95 Dieser flüchtige Einblick in ein reich gefülltes Dossier legt die Vermutung nahe, daß die zeitgenössische Polizei in die Gesinnung Stendhals auf manchem Gebiet tiefer eingedrungen war als viele seiner späteren Leser, die ihn als Lebenskünstler bewunderten. Was dem Auge des Gesetzes freilich entging, war die Differenziertheit der Persönlichkeit Stendhal. E r war in der Tat ein „gefährliches Subject", doch nicht weil er ein politischer Konspirator gewesen sei - das war er nicht, und darin überschätzten ihn die Hüter der Ordnung. Stendhal war mehr als einmal in seinem Leben bereit, mit der Autorität seinen Frieden zu schließen: 1806, als er in die Dienste Napoleons eintrat, den er, als er nicht mehr der republikanische General Bonaparte war, jahrelang als Tyrannen gehaßt hatte; 1814, als er Schritte unternahm, sich mit dem nachnapoleonischen Regimen ins Benehmen zu setzen; 1830, als er sich von LouisPhilippe zum Konsul ernennen ließ. D i e Gefährlichkeit dieses „Subjects" beruhte nicht auf abstrakt bleibendem Nonkonformismus, auf einer bloßen Negierung des Bestehenden, auf einer jünglingshaften rebellischen Trotzhaltung, auf einer sterilen Denkweise der bloßen Weigerung und der bloßen Destruktion. Die Gefährlichkeit war weit tiefer fundiert: auf einer Subjektivität, die einen Widerspruch von epochaler Dimension in sich faßte und gerade deshalb die Geltung des jeweiligen „ordre actuel de la société" in Frage stellte, den Widerspruch zwischen der Unmöglichkeit, die Realität der bürgerlichen Gesellschaft zu akzeptieren, und der Notwendigkeit, sie als die unumstößliche Basis der eigenen Existenz anzuerkennen. Stendhal war nie bereit, sich mit der „plate réalité" 9 6 zu versöhnen, die „folles images" seiner Imagination, sein „pays des chimères", seine rêveries héroïques", sein „cœur", das sich nach der „amour-passion" sehnte, den „traurigen Realitäten" und den „prosaischen Momenten des Lebens" zu opfern, seine „âme tendre" gegen eine „âme prosaïque" auszutauschen und die „ J a g d nach dem Glück" im privaten Leben zugunsten der Konventionen aufzugeben, deren Einhaltung eine glanzvolle gesellschaftliche Karriere ermöglicht hätte. 97 Wenige Monate vor seinem Tode, von sich selbst in der dritten Person sprechend, schrieb er : „ . . . seine Gewohnheit in der Kunst, das Glück zu suchen. Er träumt fortwährend, seine größte Mühe hat er damit, sich von dieser Träumerei loszumachen." 98 Phantastisches Glücksverlangen und Wunschträume bewahrten ihm eine Distanz zu der „plate réalité", die eine Versöhnung mit ihr ausschloß. 99 41

Stendhal war jedoch nie bereit, sich in diesen Träumereieft zu verlieren und sich den Enttäuschungen hinzugeben, die d i e nicht in E r f ü l l u n g gegangenen Wünsche auslösten. „ L e siècle marche, marchons avec lui" 1 0 0 , hatte er schon 1804 geschrieben, kurz also, nachdem er ihm hatte entfliehen wollen. D e r Ehrgeiz, ein „ H e l d " , ein „ E r o b e r e r " zu werden, sich in großem Format Zu verwirklichen, d a s Streben nach „plaisirs, gloire, bonheur", „the love of g l o r y " 1 0 1 beseelten ihn in einem Maße, d a s die G e f a h r , auch er werde d e m „ m a l du siècle" verfallen, immer wieder heraufbeschwor. D i e Niederlagen, die die „vie réelle" der idealen Welt seiner inneren Vorstellungen beständig zufügte, hatten in der T a t auch bei ihm „ennui", „timidité", „ d é g o û t " , „mélancolie" und die anderen Zustände zur Folge, in die sich die enttäuschte Subjektivität einschloß. Zugleich aber war er von Jugend an von dem Willen besessen, diese Zustände zu überwinden. E i n wichtiges Mittel dazu war für ihn das Journal (Tagebuch), das er zwischen 1801 und 1819 mit mehr oder minder großer Regelmäßigkeit führte. E r bezeichnete es als „ein mathematisches und unbestechliches Protokoll" seiner Lebensweise, „ d a s weder schmeichelt noch verleumdet, sondern klar und streng d a s aussagt, was meiner Meinung nach gewesen ist". 1 0 2 D a s Vorbild der Confessions Rousseaus ist deutlich, allerdings mit dem Unterschied, daß an die Stelle der nachträglichen Lebensbeichte die sofortige Registratur des alltäglichen Erlebten getreten ist. D i e neue literarische F o r m des „Journal intime" kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts allgemein in M o d e . 1 0 3 * Im Tagebuch konnte die von der „vie réelle" bedrängte Individualität zunächst erst einmal geborgen werden. D e r ramponierte Zustand, in dem sie aus dem Treffen mit der Wirklichkeit hervorging, ließ sich hier in Ruhe reparieren. Auch für Stendhal war d a s Tagebuch der Ort, wohin er sich zurückzog, wenn die Schlacht des T a g e s geschlagen war. D i e Selbstbeobachtung führte ihn aber nie in den Irrgarten der bloßen Introspektion. Vielmehr distanzierte er sich mit ihrer H i l f e von der Versuchung, die Niederlagen, die die „réalité" den „folles i m a g e s " seiner Imagination bereitete, vor sich selbst zu entschuldigen und die Verantwortung d a f ü r von sich auf die U m s t ä n d e abzuwälzen. E r sei den „choses de la v i e " gegenüber gewiß nicht gewandt, gestand er einmal. 10 '' 1 N i e m a l s aber habe er daran gedacht, die Schuld an seinem Versagen den Dingen zuzuschieben: „ N i e m a l s habe ich geglaubt, d a ß die Gesellschaft mir auch nur d a s Geringste schulde . . . N i e m a l s 42

habe ich daher die Idee gehabt, daß die Menschen mir gegenüber ungerecht seien. Ich finde das Unglück unserer sogenannten Poeten, die von dieser Idee zehren, höchst lächerlich . . ."10S Selbstbeobachtung war für ihn immer identisch mit Selbstkontrolle. Das Tagebuch sei dazu bestimmt, schrieb er 1810, „mich von meinen Lächerlichkeiten zu heilen, wenn ich es 1820 wieder lesen werde" 106 . Es stelle „eine anatomische Arbeit einzig zu meiner persönlichen Belehrung" dar. 107 Möglicherweise war es Stendhal, der Johannes R. Becher dazu inspirierte, die Funktion seines Tagebuchs ähnlich zu bestimmen. 108 * Wenn Stendhal Einkehr bei sich hielt, dann nie, um stille und selbstgefällige Rache an ungemeisterten Situationen zu nehmen. Vielmehr war für ihn jeder Mißerfolg Anlaß zur selbstkritischen Neuordnung der eigenen Mittel. Der Kampf gegen die Symptome jener „maladie de l'âme" 109 , die dem „mal du siècle" zugrunde lag, zieht sich wie ein roter Faden durch seine persönlichen, nicht für den Druck bestimmten Aufzeichnungen. Konsequent befolgte er die 1803 selbst aufgestellte Devise: „Kritik gegen mich selbst üben, wie es einer meiner Feinde tun könnte, wenn ich welche hätte." 110 Einige Male verarbeitete er seine selbsterzieherischen Projekte zu einem detailliert paragraphierten Programm, so, wenn er sich ermahnt: „Sehr an mir selbst arbeiten, mehrere neue Gewohnheiten annehmen, um zwei Zustände zu erreichen, die viel zu meinem Glück beitragen werden: 1. Kummer zu ertragen, indem ich ihn sowenig wie nur möglich spürbar werden lasse und mich sooft zerstreue, wie ich kann . . . 2. zu arbeiten und zu produzieren lernen ... 1 , 1 1 1 Dieses rigorose Selbsterziehungsprogramm erwuchs aus der Einsicht, daß nur die Sammlung der individuellen Kräfte mit dem Ziel ihres praktischen Einsatzes das Ich aus der Beschränktheit würde befreien können, in die es mit Sicherheit verwiesen wurde, falls es dem Drang nachgab, die „maladie de l'âme" zu kultivieren. Erstaunlich sicher analysierte der Einundzwanzig)ährige die psychischen Abläufe, die zu Weltschmerz-Stimmung und Misanthropie führen. Von allen Schriftstellern, heißt es in einem Brief 1804 an seine Schwester, habe er Rousseau den Vorzug gegeben: „. . . ich stellte mir die Menschen nach den Eindrücken vor, die er von denen empfangen hatte, mit denen er gelebt hatte. Dadurch bewirkte er über mich, was die Romane, die er in seiner Jugend gelesen hatte, über ihn bewirkt hatten. Erstaunt darüber, im Leben nicht die (im Guten wie im Schlechten) vollkommenen Menschen zu treffen, die ich erwartete, glaubte ich, mein Unglück habe mich in eine Gesellschaft langweiliger 43

und kalter Leute fallen lassen . . . , ich hätte ein besseres Schicksal verdient . . . ich haßte die Menschen, wie sie sind, weil ich schimärische Wesen wie Saint-Preux, Milord Edouard usw. liebte. Manchmal glaubte ich, solche gefunden zu haben, ich lieferte mich ihnen aus, sie täuschten mich, obwohl sie mich auf das anständigste von der Welt behandelten. Ich glaubte, mich über sie beklagen zu müssen, ich beklagte mich über sie und wurde immer misanthropischer, in meiner Narrheit von der Melancholie unterstützt, die ein tiefes Gefühl und der Eitelkeit süß ist. Es besteht, wie Du weißt, darin, sich zu sagen: Ich verdiente eigentlich ein besseres Schicksal; ich bin so gut, warum kann ich keine Menschen treffen, die so sind wie ich?" 112 Von diesen Narrheiten sich zu heilen, sei schwer, fügte er hinzu. Entscheidend für den Erfolg sei, so heißt es an anderer Stelle, sich zu „dérousseauiser", d. h. sich von den „Exaltationen" zu befreien, 113 die die Lektüre der Nouvelle Héloïse und der Confessions bei den Zeitgenossen, die Einwände gegen das „siècle" hatten, hervorgerufen hatte. Die Bemühung, sich zu „entrousseauisieren", war Bestandteil eines Bildungsprozesses, der das Denken Stendhals zeit seines Lebens entscheidend prägte. Er wird markiert durch den Rückgriff auf solche Strömungen des „siècle des lumières", die für die materialistische und sensualistische Philosophie repräsentativ sind. Hobbes, Locke, Helvétius, Condillac, d'Holbach und von ihren Schülern vor allem Cabanis und Destutt de Tracy lieferten ihm das philosophische Rüstzeug, dessen er bedurfte, um seinen „rêveries" und seiner Neigung zur lähmenden Introspektion ein aktivistisches Konzept entgegenstellen zu können. Bei Helvétius hatte er, ihn einseitig interpretierend, lesen können, das „intérêt personnel" sei das Motiv allen menschlichen Handelns und Denkens. Diese Formel befriedigte ihn nur partiell. Vor die Aufgabe gestellt, „Freundschaft" und „Liebe" zu erklären, würde Helvétius, so vermutete er, versagen: „Wie könnte er diese unbekannte Verwirrung erklären, die einem beim ersten Blick erfaßt, und diese ewige Beständigkeit, die eine entflammte Liebe ohne Hoffnung nährt?" 114 Bei aller „Entrousseauisierung": Die „âme passionnée", das „cœur" werden eine unverrückbare Konstante seiner Persönlichkeit bleiben. Was er bei Helvétius vor allem fand, war eine philosophische Bestätigung für seinen Willen zur Selbstbehauptung; sie wirkte im Sinne einer Zufuhr von „Energie", um das Schlüsselwort zu zitieren, in dem sich für ihn die Eigenschaften einer vom „mal du siècle" nicht betroffenen oder von ihm 44

geheilten Persönlichkeit zusammenfaßten. Die materialistische Philosophie der Aufklärung gab seinem Streben nach Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung eine innere Konsistenz. Ihm wurde klar, daß die Eigenschaften und Bedürfnisse, die er in der Metapher „cœur" zusammenzufassen gewöhnt war, in ein komplementäres Verhältnis zu dem zu setzen waren, was er mit der Metapher „tête" bezeichnete: „ . . . das beste Herz kann nur wenig Gutes ausrichten, wenn es nicht mit einem guten Köpf verbunden ist (voll von vielen vollständigen Wahrheiten über die Objekte, die für die Menschheit die bedeutendsten sind . . ,)" 115 . Die materialistische Theorie der Erkenntnis verdeutlichte ihm, daß der Weg zur Selbsterkenntnis nicht über die Introspektion, sondern über die Erkenntnis der anderen führt: „Ich bin jähzornig geboren, um mich zu korrigieren, hat man mir geraten, mich selbst kennenzulernen. Dieses Studium hat mit der Kenntnis der anderen Menschen beginnen müssen." 116 Die Suche nach einer Logik, nach einem allgemeinen Instrument der Erkenntnis, nach einer Methode der Analyse beschäftigte den jungen Beyle ständig. 117 Ideal wäre, wenn man „die Mathematik auf das menschliche Herz" anwenden könnte. 118 * Das Bedürfnis, in die Welt der anderen, in das „siècle actuel", in das Objektive überhaupt erkennend einzudringen, die Wahrheit zu erforschen, ist für Stendhal die wichtigste Hinterlassenschaft des „siècle des lumières". Die Ansprüche seiner idealen Vorstellungswelt an die Wirklichkeit konfrontierten ihn - da unrealisierbar - immer wieder mit sich selbst. Die Fesseln der dadurch erzwungenen Selbstanalyse wurden immer wieder durch die Erkenntnis gelöst, daß die angestrebte Selbstverwirklichung die Auseinandersetzung mit der „wirklichen Welt" zur Bedingung hatte. Der Zweck seiner Selbstbespiegelung war, so könnte man sagen, sich vom Zwang der Selbstbespiegelung zu befreien, sich die Fähigkeit zu erwerben, nicht sich im Spiegel zu sehen, sondern der Welt einen Spiegel entgegenzuhalten. So kam ein Prozeß der intellektuellen Selbstverständigung in Gang, der über eine nur durch subjektive Stimmungen und Verstimmungen motivierte Kritik am „siècle" weit hinausführte und Voraussetzungen für die Überwindung einer „romantischen" Haltung gegenüber der nachrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft schuf. Hervorragenden Anteil an diesem Prozeß hatte die sich allmählich bildende Überzeugung von der Sinnhaftigkeit des aktuellen geschichtlichen Geschehens. Das geistige Instrumentarium dafür hatte ihm- vor allem Condorcet geliefert, dessen Esquisse d'un tableau historique des 45

progrès de l'esprit humain (Skizze eines historischen Gemäldes von den Fortschritten des menschlichen Geistes) Stendhal schon 1801 in seiner Bibliothek hatte. 119 Condorcet stellte sich die Geschichte als einen Prozeß vor, der sich nach einem Gesetz der „perfectibilité" in einer Bewegung der Irreversibilität harmonisch entfaltet. Daraus ließ sich folgern, daß die nachrevolutionäre Gegenwart, obwohl ein „mauvais siècle" 120 , insgesamt eine notwendige und auch sinnvolle Phase der geschichtlichen Entwicklung sei. Indem' Stendhal sich diese These zu eigen machte, war im Prinzip einer Kritik des „siècle présent" von einer antikapitalistisch-romantischen Haltung aus der Boden entzogen - freilich nur im Prinzip. Stendhals Vorliebe für die Renaissance, für das noch nicht verbürgerlichte Italien, seine Idealisierung der jakobinischen Periode der Revolution und, in einigen Epochen seines Lebens, der Napoleon-Ära weisen darauf hin, daß die theoretische Einsicht in die Unumkehrbarkeit des geschichtlichen Prozesses ideologische Kompensations- und Evasionsbedürfnisse nicht nur nicht ausschloß, sondern umgekehrt: Der heroisierende Rückgriff auf die Vergangenheit trug entscheidend dazu bei, daß die praktische Misere nicht über die theoretische Einsicht triumphierte. Ausschlaggebend war, daß die geschichtliche Gegenwart als notwendiges Resultat einer fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung ins Bewußtsein trat. Dadurch erhielt das „siècle présent" einen Wert, obwohl es „merkantil" 121 , unfähig zum „Hervorbringen von Künstlern" 122 , besessen vom „Nützlichkeitsdenken", feindlich gegen jede Erhebung über die „Mittelmäßigkeit", 123 „platt", „schlecht" usw. war und all die anderen negativen Eigenschaften behielt, die Stendhal erkannte. Aus diesem Widerspruch erklärt sich, daß den Bemerkungen, aus denen seine tiefe Verachtung für das „siècle de comédie" 124 , das „Kleinliche des bürgerlichen Lebens" 125 , für die „herrschende Bourgeoisie" 126 spricht, immer wieder andere parallel laufen, in denen er trotz allem die Gegenwart als höhere Entwicklungsstufe der Gesellschaft gegenüber der Vergangenheit bewertet, auch gegenüber dem „siècle des lumières", das ihm die Theorie zum Verständnis gerade auch dieser Gesetzmäßigkeit geliefert hatte. So notierte er sich z. B. schon 1804, er denke „sehr viel Gutes" von seinem „siècle". 127 Seiner Schwester empfahl er, es zu studieren. Sie werde bemerken, daß es jetzt nur noch eine Triebfeder gebe: das Geld. Aber gerade das bedeute einen Fortschritt. Unter dem Absolutismus nämlich mochte einer noch so viel Geld besitzen: Es war unmöglich, „damit eine

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niedrige Herkunft auszugleichen . . ," 128 Im jetzigen „siècle" aber lösche das Geld die ständischen Ungleichheiten aus. 1808, mitten in der Napoleon-Ära, der er damals keineswegs unkritisch gegenüberstand, kam er zu dem Ergebnis, „notre siècle" habe die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz tiefer begriffen als das 18. Jahrhundert. 129 Das Niveau der Durchschnittsintelligenz habe sich gehoben, das zeichne das 19. Jahrhundert aus, merkte er 1815 an. Sein „siècle" sei weiser als das von Montesquieu, heißt es 1823, 130 und in Frankreich gebe es „mehr aufgeklärte, angenehme und auf dem 'niveau des lumières du siècle' befindliche Leute" als zum Beispiel in England oder Italien. 131 Dieser Glaube an einen unaufhaltsamen „progrès des lumières", 132 der ihn manchmal sogar dazu hinriß, sich als einen „Optimisten"133 zu bezeichnen, gründete sich sachlich auf den Fortschritt der materiellen Produktivkräfte, der industriellen Revolution, des „Industrialismus", dessen Entwicklung Stendhal, gestützt auf die Kenntnisse in Politischer Ökonomie, die ihm u. a. die Lektüre von Adam Smith, Say, Ricardo vermittelt hatte,134 mit großer Aufmerksamkeit verfolgte und ihn in der Gewißheit bestärkte, daß nach der Kapitalisierung Englands auch die Frankreichs unumstößlich war. Stendhals Bemühung um Verständnis der geschichtlichen Vorgänge gab sich mit der Anerkennung ihrer Notwendigkeit und ihrer prinzipiellen Progressivität jedoch nicht zufrieden. Konnte die aus der Aufklärung stammende Perfektibilitätstheorie eine Barriere gegen den Rückfall auf romantische Positionen gegenüber der geschichtlichen Realität errichten, so war sie andererseits nicht dazu geeignet, die durch die Kapitalisierung der Gesellschaft zutage tretenden antagonistischen Widersprüche zu erfassen. Das Festhalten an der Fortschrittsthese schloß daher die Gefahr einer legitimistischen Versöhnung mit dem „Gang der Ereignisse" ein, zumindest aber die der Bildung von Illusionen hinsichtlich der Fähigkeit des Kapitalismus, die ihm zugrunde liegende Widersprüchlichkeit aufzuheben. Erlangten solche Ideologien einen Einfluß auf die literarische Produktion, konnten Werke die Folge sein, die im Namen des Fortschritts apologetische Funktionen erfüllten oder zumindest doch ein Illusionsdenken über eine mögliche Humanisierung des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaftsordnung nährten. Andererseits begünstigte die offensichtliche Inadäquatheit der Fortschrittsthese die Neigung, die irreversible Prozeßhaftigkeit des Geschehens, die sie postulierte, im Sinne pessimistischer, fatalistischer, quietistischer Ideologien auszulegen oder im Sinne von Ideologien, die der Fortschrittsgläu47

bigkeit das Bewußtsein der geschichtlichen Dekadenz entgegensetzten, die die Evasion aus der wirklichen Welt, die Flucht vor der als unmenschlich empfundenen Realität, den Rückzug auf das Ich usw. legitimierten, im Sinn also derjenigen Ideologien, die zuerst für verschiedene Strömungen innerhalb der romantischen Literatur maßgebend und später von Bedeutung für große Teile der Literaturproduktion in den von der Bourgeoisie beherrschten Gesellschaftsordnungen wurden und heute noch sind. Gegen eine apologetische Auslegung des „système de la perfectibilité" war Stendhal gefeit, und Illusionen, daß eine bestimmte bürgerliche Regierungsreform, zum Beispiel eine Republik oder eine Demokratie oder eine bestimmte politische Partei, etwa die Liberalen, in der Lage wären, die Probleme zu lösen, hatte er kaum, obwohl er gegen die Restauration, in der die „Ultras" zur Macht drängten, einem liberaleren Regime den Vorzug gab. Viel eher war er dazu geneigt, seinem spontanen Drang zur bloßen Negierung der „convenances" nachzugeben und wider bessere theoretische Einsicht dem „ordre actuel de la société" die Haltung eines unverbindlichen Nonkonformismus entgegenzustellen. Daß es dazu nicht kam, verdankte er einer konzeptionellen Vertiefung des überlieferten Fortschrittmodells. Dadurch wurde es ihm möglich, sich einem Verständnis jener Widersprüchlichkeit anzunähern, vor der das Konzept der „perfectibilité" versagte. Der Ausgangspunkt dafür war die Erkenntnis, daß es zwischen der Revolution und dem „ordre actuel de la société" keinen Hiatus gab, sondern daß die Revolution einen Prozeß in Gang gesetzt hatte, der noch nicht abgeschlossen war, und daß .die Franzosen auch im „siècle bourgeois" noch in einem „siècle de la révolution" leben. Den Ausdruck „siècle de la révolution" für die Bezeichnung der geschichtlichen Gegenwart gebrauchte Stendhal zum ersten Mal wahrscheinlich erst 1832 in den Souvenirs d'égotisme (Erinnerungen eines Egotisten), in denen es heißt: „Eines der wesentlichsten Merkmale des 'siècle de la révolution' (1789-1832) besteht darin, daß es in ihm keinen großen Erfolg gibt ohne einen gewissen Grad von Schamlosigkeit und sogar ausgemachter Scharlatanerie."135 Dem Sinne nach ist der Gedanke des „siècle de la révolution" aber schon in der 1817 veröffentlichten Histoire de la peinture en Italie (Geschichte der Malerei in Italien) enthalten : „Die Welt ist in einer Revolution. Sie wird niemals weder zur antiken Republik noch zur Monarchie Ludwigs XIV. zurückkehren. Man wird ein konstitutionelles Schönes entstehen sehen."136 Derselbe Gedanke findet sich in Rome, Naples et 48

Florence (Rom, Neapel und Florenz): „Inmitten der großen Revolution, die uns durchknetet", schrieb er 1817, „kann man die Sitten eines Volkes nicht mehr studieren, ohne in die Politik zu geraten. D i e Revolution, die 1798 begann, wird 1830 durch die allgemeine Errichtung des Zwei-Kammer-Systems sowohl in Europa als auch in Amerika enden." 1 3 7 Ein paar Jahre später heißt es in bezug auf einen „état en révolution": „Ein solcher Zustand kann lange dauern und die Gewohnheiten einer Generation formen. In Frankreich begann er 1788, wurde 1802 unterbrochen und begann 1815 aufs neue, um Gott weiß wann zu enden." 1 3 8 In einer Rezension aus dem Jahre 1823 spricht Stendhal von dem „imposanten Drama, das seit 1789 dauert und wahrscheinlich erst 1900 beendet sein wird." 1 3 9 Angesichts der Zuspitzung der politischen Lage in Frankreich E n d e der zwanziger Jahre glaubte er, die „révolution" sei dabei, sich in Europa zu vollenden. 140 Vierzehn Jahre später, 1842, kurz vor seinem Tode, konstatierte er: „Erst nach einem 'demi-siècle de révolutions', die eine nach der anderen unsere ganze Aufmerksamkeit gefesselt haben, erst nach fünf vollständigen Änderungen der Form und der Tendenzen unserer Regierungen beginnt die Revolution in unsere Sitten einzudringen." 1/ ' 1 Stendhals Theorie des „siècle de la révolution" nimmt in genialer Weise die marxistische, von Lenin ausführlich erläuterte Auffassung vom Zykluscharakter der französischen Revolutionsepoche von 1789 bis 1871 vorweg, der „Epoche des Aufstiegs und des vollen Sieges der Bourgeoisie". 1/ ' 2 Dank dieser Erkenntnis ¡stellte sich für Stendhal die geschichtliche Entwicklung seit 1789 als ein Prozeß dar, der trotz der verwirrenden äußeren Ereignisse in seinen wesentlichen Zügen einheitlich verlief. D i e innere, manchmal in der Maske der Gleichgültigkeit auftretende Überlegenheit, die Stendhal oft gegenüber dem Auf und Ab im politischen Leben zum Ausdruck brachte, hat ihre Hauptursache in dieser Erkenntnis. Noch wichtiger aber war, daß die geschichtliche Gegenwart als Phase eines Prozesses wahrgenommen werden konnte, der nach vorn hin noch nicht abgeschlossen war. Das Moment der Irreversibilität wurde durch ein Moment der Reversibilität aufgehoben, und zwar nicht im Sinne einer undialektischen Negation, sondern als eine Alternative, die sich aus der Offenheit des Prozesses ableitete, der dais „siècle de la révolution" produziert hatte. Man würde die Stendhalsche Konzeption vom „siècle de la révolution" allerdings mißverstehen, wenn man daraus die Vermutung 4

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ableiten würde, er habe mit dem Begriff „révolution" eine Vorstellung von der weltgeschichtlichen revolutionären Potenz des Proletariats oder die Idee einer Enteignung des Besitzes an Produktionsmitteln im Zuge eines gewaltsamen Umsturzes der Machtverhältnisse verbunden. Die Fortsetzung der Juli-Revolution, die er 1835 143 erwartete, manchmal 1860, manchmal 1880 und manchmal sogar erst 1900 ansetzte,144 enthielt in seiner Vorstellung nichts, was in die Richtung der marxistischen Revolutionstheorie weisen würde. Das Bild, das er sich von einem Frankreich jenseits des „siècle de la révolution" machte, blieb vage. Sobald Frankreich von den alle fünfzehn Jahre stattfindenden politischen Revolutionen erlöst sein werde, schrieb er einmal, wird man Zeit haben, „um an die Genüsse des Geistes zu denken": „Die starke und gewaltige Regierung Napoleons . . . hat nur 15 Jahre gedauert, 1800 bis 1815. Die zum Erbrechen reizende Regierung dieser dummen Bourbonen . . . hat ebenfalls 15 Jahre gedauert, von 1815 bis 1830. Wie lange wird die dritte dauern? Wird es noch mehr geben?"145 Entscheidend aber waren nicht die Formen der Konkretisierungen, die Gestalten des „Eden", 146 die ihm vorgeschwebt haben mochten, sondern die Erkenntnis, daß es auf jeden Fall nicht die „bourgeoisie régnante"147, die „chevaliers d'industrie"148, die „aristocratie d'argent"149, die „banquiers, manufacturiers", der „industriel millionäre"150 sein würden, die einen Zustand herbeiführen könnten, in dem der Status quo im Sinne des „siècle de la révolution" aufgehoben wäre. Fernand Rude, dem wir eine umfassende Studie über das gesellschaftspolitische Denken Stendhals verdanken, hat das letzte Kapitel seines Buches Zwischen Liberalismus und Sozialismus überschrieben.151 Diese Formel greift sicherlich zu weit. Gewiß war Stendhal der Begriff „classe ouvrière"152 geläufig; wenn er in Saint-Simon nur einen Apologeten des „Industrialismus" gesehen hatte, so brachte er in den dreißiger Jahren der Lehre von Fourier viel Sympathie entgegen, den er einmal einen „rêveur sublime" nannte, ebenfalls den Lehren von Robert Owen, und auch der Name Babeuf war ihm bekannt; er empörte sich 1831 über die Verhaftung Blanquis.153 Die Klassenkämpfe in England, wo die „Adligen und die Reichen aller Art" ein Bündnis gegen die „Armen und die Arbeiter" geschlossen hätten154, verfolgte er mit großer Anteilnahme; dasselbe gilt von den Arbeiteraufständen 1831 und 1834 in Lyon: „Es gab Irrtümer im Denken der 'Lyonnais', aber sie legten eine übermenschliche Tapfer50

keit an den Tag." 155 Ende der dreißiger Jahre bemerkte er: „Zehn von fünfzehn Millionen Engländer müssen 14 Stunden am Tag arbeiten, um nicht vor Hunger auf der Straße zu sterben." 156 Ihn auf Grund solcher und anderer Äußerungen, Sympathien und Erkenntnisse aber in die Nähe eines sozialistischen oder auch nur präsozialistischen Denkens zu rücken, ist voreilig; wenn auch nicht deshalb, weil Stendhal mehrere Male zum Ausdruck brachte, daß er das „Volk" zwar „liebe", seine „Unterdrücker verabscheue" und sein „Glück" leidenschaftlich herbeisehne, nichtsdestoweniger aber lieber jeden Monat 14 Tage ins Gefängnis gehe, „als mit den Bewohnern der Krambuden zu leben". 157 Wird der Begriff Volk nicht klassenmäßig differenziert, dann ist er viel zu amorph, als daß sich aus seiner positiven oder negativen Verwendungsweise schon so weitgehende Schlüsse ziehen ließen. Voreilig ist eine solche Ableitung deshalb, weil sich die Alternative, die er zum „état actuel de la société" während des „siècle de la révolution" im Entstehen begriffen sah, für ihn in der Tat nicht in einer mit politischem Bewußtsein handelnden „classe ouvrière" konkretisierte, sondern in einer möglichen Regenerierung oder sogar Erhaltung der menschlichen Fähigkeit, sich gegen die depravierenden Wirkungen der gesellschaftlich-kapitalistischen Entfremdungsmechanismen zu behaupten. Die Vorstellungen, die Stendhal damit verband, kommen in besonders konzentrierter Form in der Formel zum Ausdruck: „Im 20. Jahrhundert wird auf die Erde die Energie zurückkehren." 158 „Energie" bedeutet für Stendhal die Eigenschaft der Menschen, dank der Kraft ihres Willens, ihrer Gefühle, ihrer Imagination, ihrer Großherzigkeit im Hinblick auf ein Ziel aktiv zu sein, das unter Ausschaltung des Egoismus und des persönlichen Interesses, der Eitelkeit und Eigenliebe, der Rücksicht auf geltende Verhaltens- und Denkkonventionen angestrebt wird. Sein Begriff von Energie hat nichts, wie man Stendhal von verschiedener Seite aus hat unterstellen wollen, 159 * mit einer Glorifizierung der Gewalttätigkeit, mit einer Dämonisierung der brutalen Willenskraft zu tun. Wer „énergique" ist, hat den moralischen Mut zur Hingabe an einen anderen Menschen, an eine Idee oder an eine Sache unter Nichtachtung des eventuellen persönlichen Risikos, das damit verbunden ist. Energisch ist derjenige, der die Zivilcourage aufbringt, sich den geltenden Normen zu entziehen, selbständig zu denken und mit einer „âme vivante", einer „âme sensible", „tendre" oder „passionnée", mit einer „âme du feu" zu fühlen, im Gegensatz zu den „âmes glacées", den „âmes prosaï4*

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ques", den „âmes de plomb" und „de boue" - den „Toten Seelen" - , für die Anpassung, kleinliche Ichbezogenheit, Gefühlskälte, materielles Nützlichkeitsdenken, Karrierismus und Opportunismus charakteristisch sind. Am besten läßt sich das Bedeutungsfeld, das für Stendhal mit dem Begriff Energie verbunden ist, negativ einzugrenzen : Der Begriff dient ihm zur Bezeichnung eines Persönlichkeitsideals, das die Summe der positiven Eigenschaften enthält, die die Mehrzahl der im „état actuel de la société" lebenden Menschen nicht oder nicht mehr besitzt; Energie, so definiert er einmal, ist „diejenige Qualität, die dem 19. Jahrhundert am meisten fehlt" 160 . Dagegen fand er Energie zum Beispiel in der Renaissance, in jener Zeit, die, nach den berühmten Worten von Engels, „Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit" 161 . Eine „époque de l'énergie" war für ihn die Diktatur der „revolutionären Regierung" von 1793, eine Diktatur, die nicht „von einem einzelnen Menschen ausgeübt wurde, sondern von denen, die am energischsten waren" 162 . „Die heroische Regierung von 1793", „die Epoche des Terrors", „das größte politische Phänomen in Europa seit 600 Jahren" gipfelte für Stendhal, der noch 1835 von sich sagte, er sei noch „der Mann von 1794", in „den energischen Proklamationen der Republik". 1(!;t Die Qualität des Energischen billigte er den Jakobinern zu, deren Herzen für „das Wohl des Vaterlandes" schlugen, den Mitgliedern des Konvents, der „während seiner Herrschaft von drei Jahren für die Verbreitung der Aufklärung mehr getan hat als Napoleon und die Bourbonen im Laufe der ihren, die jede zehn Jahre gedauert hat". 16,5 Aus diesen und anderen Gebrauchsweisen des Begriffes geht hervor, daß Energie für Stendhal keine bloße anthropologische Eigenschaft ist, die den Menschen entweder angeboren ist oder nicht. Seine Überzeugung ist, d a ß sie in manchen geschichtlichen Epochen konzentrierter auftritt als in anderen. Was die Gegenwart betrifft, so lieferte ihm die Energie-Konzeption das Kriterium für eine Bewertung der im „siècle de la révolution" wirkenden gesellschaftlichen Klassen und geschichtlichen Kräfte. Wenn er sagt, daß das 19. Jahrhundert durch das Fehlen von Energie charakterisiert sei, so gilt dieses Urteil nur relativ. Energielos im Sinne dessen, was er unter dem Begriff verstand, war in seinen Augen vor allem die herrschende Klasse, die „classe riche" oder die „bonne compagnie", wie er sie nannte. Obwohl er gegenüber den Legitimisten mehr zu den Liberalen und gegenüber diesen wiederum mehr zu den Republikanern 52

neigte, machte er in dieser Beziehung zwischen den verschiedenen Parteien, die sich gegenseitig um die politische Macht in Frankreich stritten, keine großen Unterschiede. Wenn er in der Restaurationszeit die „Ultras" haßte, so wurden ihm dadurch die „platten Liberalen", die „sogenannten liberalen Schriftsteller", die 1815 noch ganz anders gedacht hätten als 1825, und die „liberale Partei, die gekauft oder zu verkaufen ist", in ihrer Gesamtheit nicht sympathischer. D i e „Rasenden des juste milieu" wirkten lächerlich auf ihn, und er schloß nicht aus, daß „die republikanische Zivilisation zu demselben G r a d der Falschheit und des Gekünstelten" führen werde wie die monarchische. lßa Die verschiedenen - zum Teil schon und zum Teil noch nicht herrschenden - Fraktionen der Bourgeoisie waren für ihn die im wesentlichen gleich zu bewertenden Repräsentanten der „Klasse der Reichen" und der „guten Gesellschaft", von der er schon 1817 gesagt hatte, was sie am meisten verabscheue, sei die Energie, 1 6 6 und über die er noch zwanzig Jahre später das Urteil fällte, sie hasse „die Energie in allen ihren Formen". 1 6 ' Dahinter war kein Zweifel an ihrer Fähigkeit verborgen, ihre materiellen Interessen wahrzunehmen oder etwa den „Industrialismus", d. h. die kapitalistischen Produktivkräfte, zu entwickeln. Die „classe riche" verabscheut im Urteil Stendhals die Energie vielmehr aus Furcht vor neuen gesellschaftlichen Umwälzungen. Vergebens rufe ihr die „Philosophie" zu: „Aber alle hassenswerten Mißbräuche sind doch in Frankreich abgeschafft; wenn der Ewige Vater euch eine Feder in die Hand drückte, um die Mißbräuche zu korrigieren, würdet ihr sehr in Verlegenheit sein; ihr wüßtet nicht, was schreiben; es gibt in Frankreich keine wichtigen Sachen mehr zu bessern; also gibt es keine großen Umwälzungen mehr zu hoffen oder zu fürchten . . ." 1 6 8 Stendhal war der Meinung, daß die reiche Klasse solchen Beteuerungen niemals Glauben schenken werde. Angst vor einer neuen Revolution bestimmt ihr Denken, daher verabscheut sie die Energie; denn: „Alles was energisch ist, erinnert sie an Robespierre." 16!) Einen weiteren Grund für den Widerwillen der Reichen gegen das Energische leitet Stendhal aus seiner Überzeugung ab, daß in der geschichtlichen Gegenwart Energie nur noch solchen Menschen erreichbar sei, die nicht der „classe riche" angehörten und schon allein dank der in ihrer Energie konzentrierten Persönlichkeitsmerkmale eine potentielle Bedrohung ihrer Herrschaft darstellen. Eine solche Wertungsweise kündigt sich schon in einer Bemerkung aus dem Jahre 1814 an, in der es heißt: „Ein wenig Originalität 53

findet man in Frankreich nur in den 'classes du peuple', die zu unwissend sind, um dem Nachahmungstrieb zu gehorchen . . . Die 'classe riche' lernt jeden Morgen aus ihrer Zeitung, was sie für den Rest des Tages in Politik und Literatur denken muß."170 Etwas später (1818) gestand Stendhal immerhin noch den „Kleineigentümern" herausragende menschliche Qualitäten zu: „Die Klasse ist heute allein im Besitz der Energie, die in den höheren Rängen durch die 'politesse' zerstört worden ist." 171 Um die gleiche Zeit teilt er aber auch schon mit, daß „sich die Energie in die Klasse der Gesellschaft" geflüchtet habe, die nicht „poliert" sei172; und von nun an wird er immer wieder den Gedanken variieren: „In Paris sind die großen Leidenschaften und die Beispiele für heroische Treue in der Arbeiterklasse (classe ouvrière) zu finden." 173 Genies gingen nur noch aus „der armen und energischen Klasse" hervor.17,i Die Energie flüchte sich immer mehr in „die unteren Klassen der Gesellschaft".175 Das gleiche gelte von der Liebe: „Um in Paris Liebe zu finden, muß man bis zu den Klassen hinuntersteigen, denen das Fehlen von Bildung und Eitelkeit und der Kampf mit den echten Bedürfnissen noch Energie übriggelassen haben."176 Schon 1811 sei er der Meinung gewesen, daß Energie nur in der Klasse zu finden sei, die sich im Kampf mit den echten Lebensbedürfnissen befinde. Die „Poliertheit der oberen Klassen in Frankreich" habe „alle Energie" geächtet,177 und auch in Italien wüßten nur die Bewohner der „vierten Stockwerke" noch zu lieben, zu hassen und zu wollen. 178 Durch die Revolution sei das Volk energisch geworden,179 und alles was „energisch und jung" sei, sei heute, 1835, republikanisch.180 Der besondere Fall eines Menschen mit Energie stellte für Stendhal der Verbrecher dar, nicht der Verbrecher, der aus materiellen Motiven handelt, sondern der die Tat aus Leidenschaft begeht, wie zum Beispiel der Delinquent, von dem die italienischen Chroniken berichten, mit denen sich Stendhal in den dreißiger Jahren beschäftigte, oder ein gewisser Antoine-Marie Berthet, der 1827 in der Kirche von Brangues seine frühere Maitresse getötet und ein gewisser Adrien Lafargue, der 1828 in Bagnères seine Geliebte umgebracht hatte. Die beiden letzten Fälle lernte Stendhal aus der Gazette des Tribunaux kennen, die er das „goldene Buch der französischen Energie im 19. Jahrhundert" 181 * nannte. Hinter dieser Vorliebe verbarg sich keine Neigung zum Asozialen. Der interesselos handelnde Gewaltverbrecher war für Stendhal der Gegenentwurf zum „traurigen Raisonnierer" des 19. Jahrhunderts,182 der sich heuchlerisch und feig 54

den in der „bonne compagnie" geltenden Verhaltensnormen unterwirft. D a sowohl Berthier als auch Lafargue „Franzosen aus den unteren Klassen" waren, verschmolzen sie in dem sublimierten Bild, das sich Stendhal von ihnen machte, mit seiner Überzeugung, daß Energie nur noch im Volk existent sei. Vor allem der Tischler Lafargue übte eine große Faszination auf ihn aus. Seiner Meinung nach „hat er allein mehr Seele als alle unsere Dichter zusammengenommen und mehr Geist als die meisten dieser Herren." 1 8 3 Nach einem viele Seiten umfassenden Zitat aus dem Prozeßbericht kommt Stendhal zu dem Schluß, daß Lafargue einen „caractère d'energie et de délicatesse" habe, der ihn weit über „die gehobenen Klassen der Gesellschaft" stelle, die anscheinend „die Fähigkeit, mit Stärke und B e ständigkeit zu fühlen", verloren hätten. Männer wie Lafargue dagegen hätten sich die Willenskraft erhalten und die Fähigkeit, kraftvoll zu fühlen : „Wahrscheinlich werden von nun an alle bedeutenden Menschen aus der Klasse kommen, der M. Lafargue angehört." 1 8 4 D i e Liste solcher Belege ließe sich noch verlängern. Aus ihnen geht mit Deutlichkeit hervor, daß die Konzeption des „siècle de la révolution" gewiß nicht die von der „classe ouvrière" geleitete Revolution antizipierte. Wenn sich für Stendhal in den „classes inférieures de la société" eine Potenz konzentrierte, die das „siècle de la révolution" über die gegenwärtige Phase seiner Entwicklung hinaus führen konnte, dann stellte sie sich ihm vor allem als Summe von charakterlichen Qualitäten dar, die ihn als Beweise für eine „grandeur d'âme" faszinierten, für eine „énergie", die die bürgerliche „civilisation" nicht hatte vernichten können. D i e Angst der „classe riche" vor dieser Energie deutet er nicht sosehr als Anzeichen für eine in dieser Eigenschaft tatsächlich konzentrierten revolutionären Potenz, vor der er in der Praxis wahrscheinlich sogar zurückgeschreckt wäre ; diese Angst war für ihn eher ein Anlaß mehr, um seine Distanz zu den „bourgeois" zu vergrößern, die er, wie er Anfang der dreißiger Jahre gestand, schon „immer und wie aus I n s t i n k t . . . tief verachtet hatte." 1 8 5 Der Widerspruch zwischen Realität und Idealität, zwischen der Anerkennung des „siècle" als notwendig und der Weigerung, sich ihm auszuliefern, blieb trotz der These vom „siècle de la révolution" und trotz der gesellschaftlich fundierten Energie-Konzeption erhalten. D i e „beyliistische" Form, in der sich Henri Beyle diesen Widerspruch vergegenwärtigte, hob seine Position gegenüber der geschichtlichen Gegenwart jedoch auf einen ideologischen Standort, der sowohl den romantisch-illusionären Glauben an den Sieg als auch die romantisch-

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resignative Verzweiflung über den Verfall eines „Allgemeinmenschlichen" unter kapitalistischen gesellschaftlichen Bedingungen der Tendenz nach aufhob. Auf diesem Boden war die Produktion einer Literatur denkbar, die „realistisch" war, indem sie sich sowohl dem romantischen Illusionismus als auch der romantischen Resignation verweigerte und die individuelle und gesellschaftliche Realität der Menschen in ihrem irreversiblen geschichtlichen Sein akzeptierte; die zugleich aber „kritisch" war, indem sie das geschichtliche Sein in einen Prozeß der Unabgeschlossenheit und des nicht Vollendeten stellte, in einen Prozeß des Werdens, der das Bestehende relativierte und dem Geschehen den Charakter des Natürlichen nahm.

3JLiterarisches

Gewissen" und

Literaturverhältnisse

Stendhal war in seiner Jugend noch ganz in den Traditionen der klassischen französischen Ästhetik erzogen worden, die zuletzt (ab 1799) noch einmal La Harpe in iseinem Werk Cours de littérature ancienne et moderne (Vorlesungen über alte und moderne Literatur) zu verewigen gesucht hatte. Anzeichen für einen Zweifel an der Gültigkeit des klassischen Regelkanons haben sich aber schon in Stendhals frühen Aufzeichnungen finden lassen. Die Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (Kritische Überlegungen zur Poesie und Malerei) von Dubos, dem Begründer der isensualistischen Ästhetik, las er wahrscheinlich schon auf der „Ecole Centrale". Seit 1804 war der Plan, sich zu „délaharpiser", d. h. sich von Vorbild des Klassizisten La Harpe zu befreien, das Ziel seiner ästhetischen Bemühungen. Die Stationen dieses Prozesses sind bis in die Einzelheiten hinein bekannt. 186 In theoretischer Hinsicht fand er seinen Abschluß in den 1823 und 1825 veröffentlichten Streitschriften Racine et Shaker speare, in denen Stendhal den Unterschied zwischen „klassisch" und „romantisch" auf die berühmte Formel brachte: „Der 'romanticisme' ist die Kunst, den Völkern solche literarischen Werke zu geben, die im gegenwärtigen Zustand ihrer Gewohnheiten und Überzeugungen geeignet sind, ihnen ein größtmögliches Vergnügen zu bereiten. Der 'classicisme' dagegen gibt ihnen eine Literatur, die ihren Urgroßvätern das größtmögliche Vergnügen bereitete." 187 Hinter diesen lapidaren Formulierungen stand die Forderung nach einer Literatur, die dem „siècle de la révolution" entspricht und sich 56

daher von der Literatur früherer Epochen zu unterscheiden hat: „Seit Menschengedenken hat kein Volk so schnell und eine so totale Veränderung in seinen Sitten und seinen Vergnügungen erfahren wie zwischen 1780 und 1823; und man will uns immer noch die gleiche Literatur geben."188 Sich gegen den Stil wendend, der 1785 Mode gewesen sei, bemerkt er : „. . . ich habe versucht, daß mein Stil den Kindern der Revolution entspricht, den Leuten, die mehr den Gedanken suchen als die Schönheit der Wörter; den Leuten, die, anstatt Quintus-Curtius zu lesen und Tacitus zu studieren, am Feldzug von Moskau teilgenommen und aus der Nähe die seltsamen Übereinkommen von 1814 gesehen haben." 189 Mit großer Wahrscheinlichkeit darf angenommen werden, daß August Wilhelm Schlegel Stendhal dazu anregte, die den „Kindern der Revolution" und den „Forderungen eines 'siècle révolutionnaire'" entsprechende „littérature nouvelle" 190 mit dem Wort „romanticisme" zu bezeichnen.191 Stendhal las Schlegels Werk Über dramatische Kunst und Literatur in einer französischen Übersetzung im Dezember 1813. In einem Kommentar dazu schrieb er: „Herr Schlegel teilt die Dichter in zwei Klassen ein. Die griechischen und französischen Dichter haben die klassische Literatur kultiviert. Shakespeare, Calderon, Schiller, Goethe sind die Dichter des romantischen Genre". 1!l2 Konkreter wurden Stendhals Vorstellungen, was unter „romanticisme" zu verstehen sei, etwa ab 1816. Unter dem Eindruck der Edinburgh review, deren politische Prinzipien er mit „jakobinisch" bezeichnete193, der Dichtungen und der persönlichen Bekanntschaft Lord Byrons, vor allem aber der italienischen Liberalen, die ihre politischen und literarischen Losungen im Begriff des „romanticismo" zusammenfaßten, unterschied Stendhal von nun an scharf zwischen der Romantikauffassung Schlegels und einem „romanticisme", der die literarischen Konsequenzen aus dem „siècle de la révolution" zog. „Das Eindringen liberaler Ideen wird eine neue Literatur herbeiführen", konstatierte er 1818, auf Italien bezogen. Diese neue Literatur war es, die er damals romantisch nannte. Was man von ihr verlangte, sei „fran^ chise", d. h. „Aufrichtigkeit" und „Wahrhaftigkeit". Um 1820 hätten die Italiener eine solche Literatur gehabt. Der Beweis dafür sei, daß fast alle „Romantiker Mailands" in dieser Zeit von Metternich zum Tode verurteilt wurden oder sich noch heute, 1830, im Kerker befinden.194 Die Verteidigung dieser „romantiques" und ihres „romanticisme" gegen die Usurpation des „Romantischen" durch die von Schlegel 57

nach seinem Übertritt ins reaktionäre Lager repräsentierte Linie der deutschen Romantik, zieht sich durch alle Schriften, die Stendhal von nun an dieser Frage widmete. Immer wieder wird der „mystische" Schlegel als „lächerlicher Pedant" abgefertigt, der sich des „romantischen Systems" bemächtigt, ihm einen Namen gegeben und es im übrigen „verdorben habe". 1 9 5 Stendhals erste, 1823 veröffentlichte Streitschrift für den „romanticisme" ist Ausdruck «einer Bemühung, in Frankreich einer Literatur zum Durchbruch zu verhelfen, die in Form und Inhalt dem G e schmack der Zeitgenossen entsprechen sollte und daher nicht mehr „klassisch" sein konnte. Wenn er für diese „neue Literatur" unter dem Fahnenwort des „romanticisme" focht, so mußte er sehr bald bemerken, daß die Auffassungen der französischen Dichter, die sich damals „romantisch" zu nennen begannen, mehr Ähnlichkeit mit denen Schlegels als mit den Ansichten des italienischen „romanticismo" hatten. D i e ersten französischen Romantiker waren nicht nur royalistisch und katholisch gesinnt, sie standen sogar der Partei der „Ultras" nahe, die das restaurative Regime von „rechts" bekämpften. Auch sie strebten nach einer Literatur, die den Bedürfnissen der Zeitgenossen entsprach. Sie stützten sich dabei auf eine Maxime des klügsten Kopfes der ideologischen Restauration, Bonaids, der gefordert hatte, die Literatur müsse der „Ausdruck der Gesellschaft" sein. Wie ambivalent solche anscheinend schlüssigen Formulierungen sind, geht aus der Konsequenz hervor, die die ersten Romantiker daraus zogen: D a die Gesellschaft restaurativ sei, müsse, so folgerten sie, auch die Literatur restaurativ sein, die der „Ausdruck" dieser Gesellschaft sei. In seiner zweiten Streitschrift, 1825 veröffentlicht, versuchte Stendhal, seine Konzeption einer modetnen, d. h. „romantischen" Literatur abzugrenzen von der Konzeption der Konservativen, die ebenfalls eine neue und moderne, d. h. „romantische" Literatur forderten. Wieder ging er dabei gegen Schlegel vor und sprach den konservativen Autoren kurzerhand das Recht ab, sich „Romantiker" nennen zu dürfen. „Was ist das Romantische?", fragte er provokativ. D i e Werke des „bonhomme Hugo" etwa, des „nebelhaften Nodier", des „Père Lamartine" oder des „Herrn Comte de Vigny"? „Ist es vielleicht die falsche Sensibilität, die prätentiöse Eleganz, das verbindliche Pathos dieses Schwanns junger Dichter, die das 'genre rêveur', die 'Geheimnisse der Seele' ausbeuten und die, gut genährt und mit fetten Renten

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versehen, unaufhörlich das menschliche Elend und die Freuden des Todes besingen?"196 Die Antwort Stendhals auf diese rhetorischen Fragen war so eindeutig, daß zum Beispiel Mérimée hoffte, man werde von nun an den „Herren Hugo, Ancelot und Konsorten nicht mehr den Namen 'romantisch' geben".197 Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Mit einer gewissen Resignation stellte er Mitte 1825 fest, daß es jetzt in der französischen Literatur zwei Parteien gebe, eine „liberale" und eine „ultra". Da die Schriftsteller, die der letzteren angehörten, nicht genug Talent hätten, um eine gute Prosa zu schreiben, „wickeln sie ihre mystischen und trübsinnigen Träumereien in emphatische Verse ein; und diese bilden das", fügte er hinzu, „was man in Frankreich . . . die 'Romantische Schule' nennt".198 „Fast alle jungen reichen Leute sind romantisch", heißt es um die gleiche Zeit.199 Je mehr in der Öffentlichkeit gerade diejenigen als Repräsentanten des Romantischen galten, die Stendhal davon ausgeschlossen wünschte, desto mehr verlor der Begriff für ihn die Funktion eines Fahnenworts. An den Auseinandersetzungen um Victor Hugos Préface (Vorwort) zu dem Theaterstück Cromwell (1827) und um die Aufführung seines Hernani (1830) war Stendhal schon kaum noch interessiert.200 Da viele Romantiker der ersten Generation vor und nach 1830 außerdem zu den Liberalen übergelaufen waren, existierte für ihn der „romanticisme" nicht mehr als politisches Problem. Wenn er das Wort noch gebrauchte, dann verband sich für ihn kein ästhetisch-politisches Werturteil mehr damit. Romantisch war für ihn alle Literatur, die, mochte sie in seinem Urteil gut oder schlecht sein, nicht mehr die Literatur der französischen Klassik zu imitieren suchte. „Die Revolution, die sich in der Kunst des Schreibens vollzogen hat", schrieb er 1838, sei sinnvoll allein schon deshalb gewesen, weil durch sie die Diktatur der drei Einheiten auf dem Theater gebrochen worden sei.201 An der Ablehnung der „abscheulichen Emphase", die er den romantischen Theaterstücken Victor Hugos vorwarf, an der ironischen Kommentierung der „melancholischen Hirngespinste" und der „misanthropischen Töne",202 die für Teile der romantischen Dichtung charakteristisch waren, hielt er zeit seines Lebens fest. Die hier nur in den allergröbsten Umrissen skizzierte RomantikKonzeption Stendhals macht deutlich, daß er eine dem „siècle de la révolution" entsprechende „révolution littéraire" 203 für unausweichlich hielt. Die Grundlinien für das Programm einer „neuen Literatur" hatten sich für ihn spätestens während seines Aufenthaltes in Mailand von 1814 bis 1821 abgezeichnet. Daß das Schreiben von 59

Romanen jedoch diejenigen literarischen Produktionsweise sein würde, die seiner Konzeption vom „siècle de la révolution" am adäquatesten war, stellte eine Erkenntnis dar, die er erst spät errang. Jahrzehntelang hatte er geglaubt, er sei dazu bestimmt, ein zweiter Molière zu werden. Seine ersten dramatischen Versuche lassen sich bis 1796 zurückverfolgen.204* Die Stücke, die er plante und nie vollendete, zählen nach Dutzenden. Selbst nach Rot und Schwarz verfolgte er seine dramatischen Pläne weiter. Noch im November 1834 entwarf er den Plan zu einem Stück über Torquato Tasso - sein letzter dramatischer Versuch. Ein Jahr später legte er ausführlich die Gründe dar, die er für das Scheitern seiner dramatischen Versuche verantwortlich hielt. Er hätte es sich einfach machen und seine Mißerfolge auf eine mangelnde persönliche Begabung zurückführen können, auf die unglückliche Liebe zu einer literarischen Form, die sich seinem Talent widersetzte. Statt dessen argumentierte er geschichtlich : Die Komödie sei ein Genre, das dem 19. Jahrhundert generell widerspreche. Die vielleicht einzige negative Wirkung „der Revolution von 1789 bis 1835", so begründete er seine Meinung, bestehe darin, daß jetzt die Idee und das Geld ins Theater zu gehen, immer mehr Leute hätten, die keinen Geschmack haben. Die Autoren müßten sich nach ihnen richten und schlechte Stücke schreiben. Auf dem Theater herrschte daher das „grobe Genre" vor. 205 In dieses Urteil waren die romantischen Theaterstücke, die seit 1830 die Bühne zu beherrschen begannen, miteingeschlossen. Er sprach sich nicht gegen sie aus, weil sie „romantisch", d. h. nicht nach den klassischen Regeln gebaut waren. Er kritisierte sie wegen ihres emphatischen Stils, der ihm „abscheulich" vorkam, der nicht „natürlich" sei und von der fortwährenden Angst zeuge, „einfach" zu sein.206 Sein Hauptvorwurf gegen sie aber bestand darin, daß sie, im Gegensatz etwa zu den Stücken Molières, keine „réalité contemporaine" enthielten. Diesen Mangel machte Stendhal nicht sosehr den Dramatikern, sondern dem „19. Jahrhundert" im ganzen zum Vorwurf. Molière habe nur Ludwig XIV. zu gefallen brauchen. War ihm das gelungen, wurde er vor den Leuten, die sich zum Beispiel durch den Tartuffe getroffen fühlten, durch die königliche Gunst geschützt. Unter solchen Bedingungen war es möglich, eine „comédie vraie" zu schreiben, die auf der „réalité contemporaine" beruhte.207 Heute aber seien die Dramatiker dem Publikum schutzlos ausgeliefert. Einem Stückeschreiber ergehe es wie „einem Bürger von New York": anstatt die Stimmen abzuwägen, müsse er sie zählen.208 Wagte heute ein 60

Autor das Publikum so anzugreifen wie seinerzeit Molière im Tart u f f e , er würde gelyncht werden. 2 0 9 Auf dem Theater könne das „Wahre" daher nicht mehr dargestellt werden. Stendhal erinnerte sich in diesem Zusammenhang an Destutt de Tracy, der einmal gesagt habe: „. . . man kann das Wahre nur noch im Roman erreichen." Erwägungen dieser Art ließen ihn zu dem folgenreichen Schluß kommen : „Seit die Demokratie die Theater mit groben Leuten bevölkert hat, die unfähig sind, feinsinnige Dinge zu verstehen, betrachte ich den Roman als die Komödie des 19. Jahrhunderts." 210 Wenn diese Erklärungen ihn über das Scheitern seiner dramatischen Pläne hinwegtrösten sollten, bezeugen sie andererseits aber ein weiteres Mal seine Bemühung, persönliche Erfahrungen in größere Zusammenhänge einzuordnen, an die Stelle der Selbstanalyse die Analyse der Umwelt zu setzen. Verallgemeinernd darf man sagen, daß Stendhal mit der Hinwendung zum Roman die Konsequenz aus einer Sachlage zog, die mit Sicherheit als eine der Ursachen für die Vorherrschaft des Romans im 19. Jahrhundert angesehen werden kann. Das Theater war eine Institution, die den kapitalistischen Bedingungen für die literarische Produktion und Rezeption weit direkter ausgeliefert war als die individuelle Produktions- und Rezeptionsweise des Schreibens und Lesens von Romanen. Für Stendhal mußten solche Erwägungen besonders gewichtig sein, da ihm der Widerspruch zwischen seinen subjektiven produktionsästhetischen Intentionen und Ausdrucksbedürfnissen und den objektiven literarischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen, den objektiv gegebenen gesellschaftlichen Literaturverhältnissen also, sehr bewußt war. Eine systematische Untersuchung über die Stellung Stendhals zu und in den gesellschaftlichen Literaturverhältnissen seiner Zeit steht noch aus. Schon ein flüchtiger Blick aber in den Courrier anglais, der die wichtigste Quelle für eine solche Untersuchung sein dürfte, zeigt, wie aufmerksam und zugleich kritisch Stendhal die Kapitalisierung des literarischen Lebens verfolgt hat: die Polarisation der Literatur in verschiedene politisch-ideologische Lager, die Entstehung eines neuen, aber in sich ebenfalls zerspaltenen Publikums, die Ausweitung des Literaturmarktes und des kapitalistischen Verlegerwesens, eine von den politischen Parteien beherrschte Literaturkritik, überhaupt die Entstehung neuer gesellschaftlicher, materieller und ideologischer Bedingungen für die literarische Produktion und Rezeption. Der Niedergang des französischen Theaters, von dem er in den 61

dreißiger Jahren überzeugt war, trotz der Erfolge eines Victor Hugo und eines Alexandre Dumas, war für ihn im Grunde nur ein weiteres Symptom für die „allgemeine Mittelmäßigkeit, die die französische Literatur erstickt". Eine der Hauptursachen für den „literarischen Plunder", den er um sich herum im Entstehen begriffen sah, bestand für ihn offenbar in der Anpassung der meisten „littérateurs français modernes" an die kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf dem Gebiet der Literatur. 211 Die innere Distanz, die er sich trotz seines Engagements für die „liberté" gegenüber dem „libéralisme" und gegenüber einer „démocratie" bewahrte, in der „alle Handlungen nach dem Grad ihrer Nützlichkeit bewertet werden, wie z. B. in den Vereinigten Staaten von Amerika" 212 , war zu einem großen Teil durch die Sorge motiviert, ein parlamentarisches Regime werde „den schönen Künsten den Todesstoß versetzen"213. „Meiner Ansicht nach", konstatierte er 1829 nach dem Gespräch mit einem „Monsieur Clinker", einem „reichen Amerikaner", „wird die Freiheit in weniger als hundert Jahren den Sinn für die Künste zerstören".214 Um die gleiche Zeit heißt es an anderer Stelle: „'Le siècle des budgets et de la liberté' kann nicht mehr das der schönen Künste sein." Gewiß stelle eine Eisenbahnstrecke einen hundertmal größeren Wert als ein Kunstwerk dar: „Aber diese so nützlichen Gegenstände vermitteln nicht die Empfindung des 'Schönen', woraus ich schließe, daß die Freiheit die Feindin der schönen Künste ist. Der Bürger von New York hat' nicht die Zeit, das Schöne zu fühlen, obwohl er oft den Anspruch darauf erhebt." 215 Die gleiche Tendenz zu einem Rückgang der ästhetischen Empfindungskraft und der literarischen Urteilsfähigkeit in einem Publikum, das immer nur ans „Budget" denkt, nahm Stendhal auch in Frankreich wahr. Zwar würden seit 1817 in Paris mehr Bücher als irgendwo anders gedruckt, teilte er 1825 den englischen Lesern mit. Zwei Drittel davon würden aber von „Provinzindustriellen" gekauft, die total unwissend seien und ihren Inhalt nicht verstünden. „Diese totale Unfähigkeit der Buchkäufer, sich ein Urteil über das zu bilden, was sie sehr teuer gekauft haben, hat den Niedergang der französischen Literatur bewirkt." 216 Ihre Kaufkraft nämlich habe zur Folge, daß die Schreiber, die schnell zu Erfolgen kommen wollten, sich an den unterentwickelten literarischen Bedürfnissen solcher Leser orientierten: „Ein Autor kann nur dann einen Erfolg davontragen, wenn er sich anstrengt, den neureichen Kaufleuten der Provinz zu gefallen oder wenn er sich einen Ruf bei den mystischen Parteigängern des Herrn Cousin erwirbt". 217 62

Victor Cousin war der Repräsentant einer philosophischen Richtung, die im Namen eines eklektischen Spiritualismus die immer noch tief im gesellschaftlichen Bewußtsein verankerte Aufklärungsphilosophie bekämpfte und bis 1848 zur ideologischen Rechtfertigung der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse diente. 218 Die Nennung Cousins in einem solchen Zusammenhang zeigt, daß Stendhals Aversion gegenüber einer Politisierung der Literatur nicht, wie oft behauptet, 219 durch ein egoistisches Desinteresse an der Politik schlechthin motiviert war. Diese Aversion hatte im Gegenteil gerade politische Gründe ; sie bestanden für ihn in der zunehmenden Unterstellung der literarischen Produktion unter die ideologisch-politischen Zwecksetzungen der verschiedenen Parteien, die die Interessen der „classe régnante" und der zur Herrschaft strebenden Schichten vertraten. Solche Zwecksetzungen, so argumentierte Stendhal, bewirkten die Degradierung des künstlerischen Schaffens zu einer Tätigkeit, in der der Autor nicht mehr „seiner eigenen Inspiration" folge, dem „unwiderstehlichen und uneigennützigen Drang einer Berufung", 220 sondern einem seiner „vocation" äußerlich bleibenden „moralischen Ziel", d. h. einem „Interesse", und das sei tödlich für das Kunstwerk. 221 Eine besondere Verantwortung für den um sich greifenden „charlatanisme" trage die Presse. Im 19. Jahrhundert werde dem Künstler nämlich zugemutet, „dem Journalisten den Hof zu machen, der über die Meinung der reichen Leute verfügt". 222 Es sei lächerlich, „auch nur mit dem geringsten Erfolg zu rechnen, wenn man nicht für sich in den Zeitungen Reklame machen läßt". 223 Da die Zeitungen aber zugleich auch immer ein „politisches Interesse" vertreten, könne der zu Erfolgen strebende Künstler nicht umhin, seiner „vocation" Zugeständnisse gegenüber dem „but moral", d. h. gegenüber dem politischen Interesse abzuringen, das die betreffende Zeitung vertrete. Daraus zog Stendhal den Schluß: „Die Zeitung, die für die politischen Interessen ausgezeichnet und notwendig sein mag, vergiftet durch den Scharlatanismus die Literatur und die schönen Künste." 224 Für Schriftsteller, die davon angesteckt seien, sei die Eigenschaft der „vénalité", der „Käuflichkeit" charakteristisch. Es brauche nur irgendein bemerkenswertes Ereignis vorzukommen, um das Wirken des „esprit mercantile", der weite Gebiete der Literatur beherrsche, beobachten zu können: alle derzeitigen Talente benutzen es als ein gutes Mittel, um Leser zu erwerben und sich zehn- bis zwölftausend Francs in die Tasche zu stecken." 225 Als Vermittler zwischen Angebot und Nachfrage treten die Verleger auf: „Selbst die hervor63

ragendsten Schriftsteller konsultieren, bevor sie zur Feder greifen, lieber ihren Verleger als ihre eigene Inspiration." 226 In einem Artikel Stendhals aus dem Jahre 1826 heißt es über solche Autoren : „Anstatt einen Stoff zu wählen, der ihrem Können entspricht, behandeln daher viele Schriftsteller jeden beliebigen Stoff, vorausgesetzt, ihr Verleger hat ihnen gesagt, daß sich daraus ein verkaufbares Buch machen l ä ß t . . ," 227 Charakteristisch für seine Haltung in dieser Frage war die Entgegensetzung von „science littéraire" und „conscience littéraire". 228 „Conscience" ist hier mit „Gewissen" zu übersetzen: „Literarisches Wissen", so schien es ihm, habe jetzt (1825) fast jeder, an „literarischem Gewissen" dagegen herrschte Mangel. Mit dem Hinweis auf die „conscience littéraire" warf Stendhal ein Problem auf, das von nun an die literarischen Debatten im „siècle de la révolution" und auch noch später ständig begleiten wird. Schon bei Rousseau war, nachdem sich der „Gesellschaftsvertrag" als unrealisierbar erwiesen hatte, die „conscience" 229 zu der im Inneren des Ichs beheimateten moralischen Instanz geworden, in deren Namen das von den politischen Kräften und Parteien vertretene Klasseninteresse als „partikulär", d. h. im Widerspruch zum gesellschaftlichen Allgemeininteresse stehend, disqualifiziert wird, wohingegen das Ich der „Bekenntnisse" sich als repräsentativ für die gerechten, gleichsam überparteilichen Belange der menschlichen Gattung empfindet. Rousseau hatte damit einen Widerspruch aufgedeckt und zugleich ideologisch aufzuheben versucht, auf dessen Tragweite Walter Benjamin in ein paar knappen, aber aufschlußreichen Sätzen hingewiesen hat. Auf den Unterschied zwischen den bürgerlichen und den proletarischen Revolutionen aufmerksam machend, weist er auf den „Spiritualismus" hin, der in die bürgerlichen Revolutionen eingewirkt ist: „Seine Goldfäden hat die Moral gesponnen. Die Moral des Bürgertums - davon trägt die ersten Anzeichen schon die Schreckensherrschaft - steht im Zeichen der Innerlichkeit. Ihr Angelpunkt ist das Gewissen - sei es das des robespierreschen citoyens, sei es das des kantischen Weltbürgers." Benjamin fährt fort: „Das Verhalten der Bourgeoisie, das ihren eigenen Interessen zuträglich, aber angewiesen auf ein ihm komplementäres des Proletariats war, das den eigenen Interessen des letzteren nicht entsprach, proklamierte als moralische Instanz das Gewissen. Das Gewissen, steht im Zeichen des Altruismus. Es rät dem Eigentümer so zu handeln, wie es Begriffen entspricht, deren Geltung mittelbar seinen Mit-Eigentümer zugute kommt, und es rät den Nicht-Eigentümern leicht das gleiche an." 230

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Diese im Prinzipiellen zweifellos zutreffende Analyse darf jedoch nicht die Augen davor verschließen, daß das Gewissen des Citoyen eine individuelle Widerstandshaltung - in den Grenzen der bürgerlichen Ideologie - gegenüber den jeweils herrschenden Fraktionen der Bourgeoisie und ihren konzeptiven Ideologen durchaus begründen konnte. In der Literatur- und Kunstgeschichte zumal, in der im Vergleich mit anderen Zweigen der geistigen Produktion der Subjektivität eine spezifische Funktion zufällt, kommt dem Rekurs auf die Instanz, die Stendhal das „literarische Gewissen" genannt hat, eine wichtige Bedeutung bei den Differenzierungen zu, die innerhalb der Literaturproduktion seit Ausgang des 18. Jahrhunderts erfolgten. Der Rekurs ist als Symptom des Versuchs zu werten, dem literarischen Schaffen und den subjektiven Auisdrucksintentionen eine autonome Zone gegenüber den als Folge der literarischen Marktwirtschaft hereinbrechenden heteronomen Bedingungen zu sichern. Auch in den deutschen ästhetischen Debatten über die soziale Funktion des Schriftstellers spielte die Kategorie des Gewissens schon seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. 2 3 1 Vor dem Hintergrund des Citoyen-Bewußtseins erscheint das „literarische Gewissen" als ein Organ, das den Schriftsteller dazu legitimiert, seine Unabhängigkeit von den als partikulär kompromittierten Interessen der politischen Parteien des „bourgeois" zu erklären sowie das von diesen an die Literatur herangetragene Ansinnen zurückzuweisen, im Namen allgemeinmenschlicher Moralnormen die Herrschaft der ökonomischen, politischen und sonstigen Interessen des Bourgeois zu verschleiern. Damit beginnt eine Entwicklung, in deren Konsequenz sich die Literatur als anti-bürgerlich verstehen wird, was natürlich nicht heißt, daß sie pro-proletarisch wäre. Die Klasse des Proletariats hat objektiv kein partikuläres Interesse zu verfechten ; die auf seinem Interesse begründete Parteilichkeit besteht gerade darin, daß die geschichtliche Aufhebung der partikulären Klasseninteressen betrieben wird. D a es sich als Klasse aber erst im Zyklus des „siècle de la révolution" konstituiert, andererseits der Rekurs auf das „literarische Gewissen" gerade durch den Verbleib im bürgerlichen Bewußtsein bedingt ist, muß die Kritik an der Praxis des „bourgeois" auf der Gewissensbasis des literarischen Citoyen von dem Boden der gesellschaftlichen Ordnung aus erfolgen, in denen sich die Herrschaft der Bourgeoisie vollendet. Der Aufstand der „conscience littéraire" schließt daher stets ein illusionäres Moment ein, das auf einer ideologischen Skala liegt, die von einer egotistischen Hypertrophierung des Selbst- und Sen5

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dungsbewußtseins bis weit in die Regionen jenes „sogenannten Sozialismus" hineinreicht, von dem Marx 1852 sagte, er könne sich nicht selbst beurteilen und daher nie begreifen, „wie die Bourgeoisie sich verstockt gegen ihn verschließt, mag er nun sentimental über die Leiden der Menschheit winseln oder christlich das Tausendjährige Reich und die allgemeine Bruderliebe verkünden oder humanistisch von Geist, Bildung, Freiheit faseln oder doktrinär ein System der Vermittlung und der Wohlfahrt aller Klassen aushecken."232 Bei Stendhal nährt sich das illusionäre Moment, das der „conscience littéraire" zugrunde liegt, direkt an den Quellen des Citoyen-Bewußtseins der Revolutionszeit. Bei Balzac ist es durch die politischen Utopien ausgewiesen, die ihn von einer politischen Partei zur anderen laufen ließen. Die bürgerlich-demokratische Romantik, die sich Ende der zwanziger Jahre herausbildete und bis 1871 nachweisbar ist, lebte geradezu von der Illusion, ihr humanitäres Programm im Rahmen der bestehenden Interessengesellschaft durchsetzen zu können. Zugleich stehen wir mit der problematisch gewordenen „conscience littéraire" jedoch auch an der Wiege der „L'art-pour-l'art"Bewegung. Dort nämlich, wo sich die Literatur nicht nur von der Bourgeois-Realität, sondern auch von der Citoyen-Utopie trennte, konnte die „conscience" ihre „vocation" nur noch im Dienst am „littéraire" selbst erblicken. Wir werden sehen, daß dieses Ereignis schon wenige Jahre nach der Berufung Stendhals auf die Instanz seines Gewissens eintrat. Wenn Stendhal 1822 im Namen der gleichen Instanz beteuerte, 233 mit Literaten, die heute geachtet wären, verbinde ihn nichts, so schloß das auch eine Absage an das Publikum ein, das ihre Werke konsumierte. In der Tat hatte Stendhal zu dieser Zeit die früher noch oft geäußerte Absicht, mit seinen Werken allen, auch den „gens du monde", gefallen zu wollen, 234 längst aufgegeben. Ihm war deutlich geworden, daß sich „deux classes de lecteurs"235 herausgebildet hatten : eine, die er das „gros public" nannte, und eine andere, die er mit der Metapher „the happy few" umschrieb. Je problematischer seine Beziehungen zum „großen Publikum" wurden, desto mehr festigte sich seine Überzeugung, nur für „die wenigen Glücklichen" zu schreiben. Man hat Stendhals ambivalentes Verhältnis zum Publikum auf eine psychologisch erklärbare „timidité littéraire" zurückführen wollen, 236 auf eine durch innere Unsicherheit bedingte Furcht, sich rückhaltlos dem Urteil der Leser auszuliefern. Als hätte Stendhal eine solche Auslegung seines Publikumsver-

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hältnisses schon geahnt, merkte er einmal an: „Ich bin, wenn ich schreibe und mich dem Risiko aussetze, ausgepfiffen zu werden, weder furchtsam (timide) noch melancholisch; ich bin voller Mut und Stolz, wenn ich einen Satz schreibe, der von einem dieser beiden Riesen (von 1833), den Herren Chateaubriand und Villemain, zurückgewiesen würde. Ohne Zweifel wird es 1880 geschickte, fügsame, modische Scharlatane geben wie heute diese beiden Herren. Und wenn man das liest, wird man mich für neidisch halten. Das macht mich untröstlich; denn dieses platte bürgerliche Laster ist, so scheint mir, meinem Charakter am fremdesten."237 Wenn Stendhals Verhältnis zum zeitgenössischen Publikum psychologische Motive hat, dann sind diese nicht in einer „timidité littéraire" zu suchen, die auf der uneingestandenen Furcht beruht haben soll, dem Leser mißfallen zu können, sondern - umgekehrt - in einer „conscience littéraire", die den Mut einschloß, sich zum Preis der Erfolglosigkeit gegen ein Publikum zu behaupten, dessen konsumtive Bedürfnisse im gleichen Maße Stimulans und Produkt der neuen literarischen Marktverhältnisse waren. Seiner Beziehung zum Publikum liegt die Weigerung zugrunde, eine Literatur zu produzieren, die sich nach den Angebot-Nachfrage-Bedingungen des Marktes richtete. Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, daß mit der Etablierung antagonistischer Interessen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auch die in der Aufklärung noch denkbare Gleichheit des Adressaten der literarischen Produktion ad absurdum geführt worden war. Die Polarisation der Leser in „zwei Klassen" verlangte eine folgenreiche Entscheidung: „Man muß sich entschließen, entweder für das 'gros public' oder für 'the happy few' zu arbeiten. Man kann nicht gleichzeitig beiden gefallen." 238 Das „große Publikum" war für Stendhal indes nicht mit einer bestimmten sozialen Schicht identisch. Es umfaßte alle Leser, die dem herrschenden „literarischen oder politischen Credo" 239 unterworfen waren, ob sie nun dem ungebildeten Teil der Bevölkerung angehörten oder jener „bonne compagnie", auf deren Beifall er, wie er 1838 bekannte, verzichtet hatte.240 Auf welcher Seite er aber den Kern des „gros public" vermutete, geht mit Deutlichkeit aus einem 1825 oder 1826 geschriebenen Vorwort zu De l'amour (Über die Liebe) hervor: „Soviel Mühe ich mir auch gebe, klar und verständlich zu sein - Wunder kann ich nicht tun; ich kann den Tauben keine Ohren und den Blinden keine Augen geben. Menschen, die nur auf Geld und derbe Freuden aus sind und die in dem Jahre, da sie dieses Buch aufschla5*

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gen .hunderttausend Francs zusammengerafft haben, sollten es möglichst schnell wieder zuklappen, zumal wenn sie Bankiers, Fabrikanten oder achtbare Industrielle, das heißt Leute mit überaus positiven Ideen sind." Mit „Träumereien" verschwenden Leute, „die am E n d e jeder Woche zweitausend Arbeitern ihren Lohn auszahlen, ihre Zeit nicht; ihr Geist ist immer auf das Nützliche und Positive gerichtet. Der Träumer, von dem ich spreche, ist der Mann, den sie hassen würden, wenn sie Muße dazu hätten, der Mann, den sie gern zur Zielscheibe ihrer Witze machen würden. Der Industriemillionär fühlt dunkel, daß ein solcher Mensch einen Gedanken höher schätzt als einen Beutel mit tausend Francs." 2 4 1 Damit ist zugleich auch das Bild, das sich Stendhal von den „happy f e w " machte, umrissen. E s ist der Leser, dessen Denken nicht vom Utilitarismus beherrscht wird, sondern der noch zu träumen wagt, der kunstverständig und sensibel ist und der vermutlich, so sagte er an anderer Stelle, keine Rente von tausend Talern hat. 242 Man sieht, daß man zu falschen und einseitigen Werturteilen kommt, wenn ästhetische Kategorien und Theorien außerhalb der konkret-geschichtlichen Umstände betrachtet werden, in denen sie ihre wechselnden Funktionen erhalten. Die von Kant begründete These von der Zweckfreiheit der Kunst schlägt bei Stendhal in ein gegen die ökonomischen und ideologischen Verwertungsmechanismen der herrschenden Literaturverhältnisse gerichtetes Konzept um, dessen sozialkritisches Moment sich in dem ästhetischen Programm manifestiert, ohne Rücksicht auf die Aufnahmefähigkeit des großen Publikums zu schreiben. D a ß damit aus dem Kreis der Leser auch die arbeitende Bevölkerung ausgeschlossen war, mußte aus Gründen, die im Kapitalismus aktuell geblieben sind, in Kauf genommen werden: „Für eine Arbeit, die zur Marter wird, kann der fleißigste Arbeiter nur die Hälfte oder Dreiviertel seiner Ausgaben verdienen . . . Wie könnten die süßen Empfindungen der Künste inmitten dieser Hölle Gehör finden?" 2 4 3 Wenn er sich trotzdem wünschte, so zu schreiben, daß er von „dem Verurteilten Lafargue" und von einigen anderen „edlen und zärtlichen Seelen" verstanden werde, 2 4 4 dann weist das auf den Wunsch hin, den idealen Leser dort zu finden, wo er noch die Eigenschaft der Energie vermutete, diejenige Eigenschaft also, von der er überzeugt war, daß man sie nur noch „in den wenig gehobenen Klassen der Gesellschaft" antreffe. 245 Wie die beylistische Konzeption der Energie ihm einen Ausblick auf eine mögliche Aufhebung des „état actuel de la société" eröffnete, so sah er in der Hoffnung auf „the happy f e w " 68

eine Alternative zum „gros public", für das zu schreiben er sich weigerte. Es war daher folgerichtig, daß er mit seinem Glauben an eine Renaissance der „Energie" im 20. Jahrhundert die Erwartung verband, er werde „1900" wieder gedruckt und „1935" noch gelesen werden. 246 Daß sich diese Hoffnung erfüllte, hatte Stendhal vor allem einer Kunst zu verdanken, von der er 1825 noch hatte sagen müssen, sie sei in Frankreich so gut wie ausgestorben247: der Kunst, Romane zu schreiben.

Funktionen des Romans Jahrzehntelange Stendhal-Philologie hat die biographischen und quellenkundlichen Geheimnisse um Rot und Schwarz bis auf wenig bedeutende Reste erhellt. Als gesichert kann gelten, daß Stendhal den Gedanken zum Schreiben des Romans im Oktober 1829 in Marseille faßte und dort auch die ersten Entwürfe niederschrieb. Nach seiner Rückkehr nach Paris, am 2. Dezember, unterbrach er zunächst die Arbeit am Manuskript. Im Januar 1830 nahm er es wieder vor, im Mai war der erste Teil des Romans im großen und ganzen fertig. Schon vorher, im April, hatte Stendhal einen Vertrag mit dem Verleger Levasseur geschlossen. Die Arbeit an dem Werk zog sich, unterbrochen von der Juli-Revolution, bis November hin. Während dieser Zeit ergänzte, erweiterte, verbesserte Stendhal den Text ständig. Kurz nachdem er, am 6. November, nach Triest abgereist war, um dort das Amt eines französischen Konsuls anzutreten, kündigte das Journal de la librairie das Erscheinen des Buches an. Im Handel war das Buch seit Mitte November.248 Lange Zeit hat sich die Stendhal-Kritik beinahe ausschließlich mit der Frage befaßt, welche biographischen Erlebnisse dem Roman zugrunde liegen, inwieweit er Ausdruck des Charakters und des Innenlebens von Henri Beyle ist. Ein neuerer Stendhal-Interpret bemerkt richtig, daß die Idee einer autobiographischen Deutung des Buches die Stendhal-Kritik beherrscht hat. 249 Die Geduld, mit der man nach Persönlichkeiten suchte, die Stendhal nahestanden, und deren Züge in den Gestalten des Romans wiederkehren, wurde reichlich belohnt. Man fand deren so viele, daß, nicht ohne Ironie, gesagt werden

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konnte, „es gebe wenig Romane mit so vielen Schlüsseln".250 Die Ehre etwa, Patin für Mathilde de La Mole gestanden zu haben, können sich mindestens drei Damen streitig machen: Alberthe de Rubempré, die Geliebte Stendhals 1829, Giulia Rinieri, die 1830 beinahe seine Frau geworden wäre, und Marie-Henriette de Neuville, ein Mädchen aus der Aristokratie, das um dieselbe Zeit Stendhal sehr beeindruckte, weil sie den Mut hatte, sich von einem Bürgerlichen nach England entführen zu lassen.251 Mit Liebe und Selbstvergessenheit hat sich die Forschung in solche Probleme versenkt. Ihr detektivischer Spürsinn hat die meisten autobiographischen Hieroglyphen entziffert, mochten sie von Stendhal, der Spaß am Versteckspielen hatte, auch noch so kunstvoll der Nachwelt bereitet sein. Um die Einseitigkeit der autobiographischen Schlüsselforschung zu vermeiden, sollte man nicht in das andere Extrem - der Abtrennung des Romans von seinen autobiographischen Entstehungsbedingungen - verfallen. Daß Stendhal in seinem Werk autobiographische Elemente verarbeitet hat, unterliegt keinem Zweifel, und die Kenntnis der Beziehungen, die es zwischen dem Leben von Henri Beyle und dem Text von Rot und Schwarz gibt, kann die'Lektüre des Werkes bereichern. Was der älteren Stendhal-Kritik zum Vorwurf gemacht werden kann, ist daher auch nicht die Untersuchung dieser Beziehung, sondern die Reduktion des Romantextes auf die Funktion, der „Ausdruck" des Lebens und der Psyche seines Verfassers zu sein, wobei der Roman nicht schlechthin nur zu einer biographischen Quelle degradiert wurde, sondern dazu noch zur Quelle für eine Biographie, die abgetrennt wurde von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie sich konstituierte. Diese Praktiken führten zur Fixierung einer Rezeptionsweise, die nur eine partielle Realisierung des Textes erlaubte. Seine Bedeutung wurde auf ein'individualpsychologisches Drama reduziert, auf eine charakterologische Etüde, auf die Darbietung eines (je nach dem Geschmack des Interpreten positiv oder negativ bewerteten) Lebensstils. Den ersten Entwurf des Romans hatte Stendhal mit der Überschrift Julien versehen. Warum er im Prozeß der Ausarbeitung des Textes diesen Titel verwarf und ihn durch Rot und Schwarz ersetzte, dem er als Untertitel noch Chronik von 1830 hinzufügte, gab dem Biographismus ein im Grunde unlösbares Rätsel auf. Man las den Roman nur als psychologische Charakterstudie über „Julien", hinter dem man sogleich immer Henri vermutete. Der von Stendhal im Titel und Untertitel an die Leser gerichtete Appell, den Roman als zeitge70

schichtliches Dokument zu lesen, blieb unbeachtet. Diese Taubheit gegenüber Appellen, die im Text selbst enthalten sind, hat Ursachen, deren ideologischer Charakter nicht schwer zu erkennen ist: Die Verdinglichung der gesellschaftlichen Beziehungen unter entwickelten kapitalistischen Produktionsverhältnissen reproduziert sich hier wie in anderen Fällen im Bild einer von der verdinglichten Gesellschaftswelt abgetrennten Individualwelt, die die Grenzen absteckt, innerhalb deren dem überlieferten Text Bedeutungen vermittelt werden können. Bedeutungen jenseits dieser Grenzen werden nicht realisiert. Man kann daher von einem Bedeutungsschwund sprechen, den der Text unter der Vorherrschaft einer solchen Rezeptionsweise erleidet, oder auch, da große Teile der in dem Roman angelegten Bedeutungspotenzen ungenutzt bleiben, von einer Produktivitätsminderung seines Textes, ein Vorgang, der u. a. selbstverständlich die Funktion hat, die überlieferte Literatur in die modernen Strukturen der bürgerlichen Ideologie einzugliedern und diese Strukturen mit Hilfe dieser Literatur im Bewußtsein der Leser zu befestigen. Die Mehrzahl der heutigen Stendhal-Forscher hat das Geleis der einseitigen autobiographischen „Schlüssel"-Forschung inzwischen verlassen. Die Auslegung des Titels bereitet keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr. Man ist sich im großen und ganzen darin einig geworden, daß „Rot" und „Schwarz" Symbole sind, die für konträre gesellschaftliche Ideologien und Gruppierungen stehen, wobei es im Grunde sekundär ist, ob Stendhal mit „Rot" im Konkreten den Jakobinismus, den Republikanismus oder die Uniform der napoleonischen Armee und mit „Schwarz" den Priesterrock, die Kirche im ganzen oder die Gesamtheit der in der Restaurationszeit herrschenden Parteien meinte, ob er andeuten wollte, daß man in diesem Kräftespiel entweder auf „Rot" oder auf „Schwarz" setzen müsse. Wichtig ist die Erkenntnis, daß Stendhal schon mit der Wahl eines Titels, der solche konträren gesellschaftlichen Positionen umspannt, eine Anweisung für die Lektüre gegeben hat und daß der Untertitel die Empfehlung, Rot und Schwarz als Roman über die Gesellschaft seiner Zeit zu lesen, in unzweideutiger Weise unterstreicht. Die Durchsicht des Textes im Hinblick auf Stellen, an denen Stendhal auf Zeitereignisse anspielt, hat ergeben, daß Rot und Schwarz ein Gegenwartsroman im direkten Sinne des Wortes war. Das Eindringen von Zeitereignisssen in den Romantext hat sich bis in Einzelheiten hinein verfolgen lassen, zum Beispiel die Aufführungen von Victor Hugos Hernani am 25. Februar 1830, des Balletts Manon 71

Lescaut am 3. Mai u. a.252 Besondere Verdienste um die Erhellung der in den Text übernommenen Faktizität hat sich Claude Liprandi erworben. Unter anderem hat er die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß das Attentat Juliens nicht nur in dem Verbrechen des schon erwähnten Berthet, sondern auch in der Mordtat des ebenfalls schon zitierten Lafargue eine realgeschichtliche Entsprechung hat. 253 * Um 1830, als der Roman erschien, wußte auch jeder, was es mit der „congrégation" auf sich hatte, die in dem Roman eine so große Rolle spielt. Es handelt sich um eine geheimbündlerische Organisation, die die Macht der katholischen Kirche, vor allem der Jesuiten, restaurieren wollte und durch das Bündnis zwischen Thron und Altar die Rückkehr zum Feudalabsolutismus anstrebte. Diese (im Roman von Frilair, Masion, Castanède, Valenod, zum Teil auch von Monsieur de Rénal repräsentierte) politische Gruppierung stand noch weiter „rechts" als die „Ultras" vom Schlage des Marquis de La Mole, die ein absolutistisches Regime ohne ultramontanen Einfluß wünschten. Beide Fraktionen der „Ultras" waren gegen die Liberalen vereint, die die Interessen der Bourgeoisie vertraten und den König zur Einhaltung der 1815 angenommenen „Charta" zwingen wollten, welche die durch die Revolution geschaffenen Besitzverhältnisse, die Religionsfreiheit, die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, die Steuerpflicht aller Bürger und die Ausübung der legislativen Gewalt durch zwei Kammern garantiert hatte. Die mit dem Kampf dieser Parteien und Fraktionen verbundenen Intrigen, Machenschaften und Verhältnisse sind von Stendhal mehr oder weniger direkt zum Bestandteil seines Romans gemacht worden. Aus der Summe der realgeschichtlichen Bezüge in Rot und Schwarz läßt sich der Schluß ziehen, daß der Roman in weiten Teilen in der Tat eine „Chronik" darstellt, und zwar nicht nur des Jahres 1830, sondern der Restaurationszeit, genauer gesagt der Restaurationszeit ab 1826. Durch einen Vergleich der in dem Romantext enthaltenen Zeitangaben hat man herausgefunden,245 daß die Romanhandlung Ende September 1826 einsetzt - zu diesem Zeitpunkt stellt sich Julien als künftiger Hauslehrer bei den Rênals vor - und achtundfünfzig Monate später mit der Hinrichtung Juliens endet, also im Juli 1831. Die Juli-Revolution des Jahres 1830 wird mit keinem Wort erwähnt. Die Berücksichtigung des Ereignisses, von dem Stendhal beim Schreiben des Romans überrascht wurde, hätte die konzeptionelle Einheit des Werkes gestört, die äußerlich auf der realgeschichtlichen Faktizität der Restaurationszeit gegründet war. 72

Man wird Claude Liprandi zustimmen können, wenn er durch die Häufigkeit der von Stendhal benutzten realgeschichtlichen „pilotis" den Beweis für die Existenz eines „historischen Realismus" in Rot und Schwarz, erbracht sieht.255 In der Tat hat Stendhal - ungefähr zu der gleichen Zeit wie Balzac - eine Wende in der Geschichte des französischen Romans insofern herbeigeführt, als die gegenwartsgeschichtliche Realität unmittelbarer Gegenstand der literarischen Aneignung wurde. Die realistische Schreibweise Stendhals ist damit aber nur in e i n e m ihrer Merkmale beschrieben. Das Wesentlichste an Rot und Schwarz ist nicht der Chronik-Charakter des Romans, die mehr oder minder große Ähnlichkeit zwischen Romanleben und Wirklichkeitsleben, Romangestalten und wirklichen Gestalten, Romanszenen und Szenen aus der Wirklichkeit - so aufschlußreich die Entdeckung solcher Parallelen in vieler Hinsicht auch sein mag. Wesentlich an der Schreibweise Stendhals ist, daß sie eine Romanwelt in ganz neuen Dimensionen zur Darstellung bringt. Erst diese Dimensionen sind es, die die Qualität des Stendhalschen Realismus erkennbar machen. Mit der Erhebung der „bereits zur Prosa geordneten Wirklichkeit" zum Gegenstand der literarischen Aneignung setzte Stendhal Traditionen des französischen und englischen Aufklärungsromans fort. Zugleich gründete sich der Roman Stendhals (und Balzacs) auf Erfahrung und Begriff einer Wirklichkeit, die dem Romanschreiben Funktionen eröffnete und damit Strukturen ermöglichte, die gegenüber der Aufklärung neu waren - nicht nur hinsichtlich der „pilotis". Im 18. Jahrhundert war im Zusammenhang mit der Entstehung des geschichtlichen Denkens die geschichtliche Welt zu einer „vernünftigen" aufgewertet worden, in der sich über Vorurteil und Irrtum hinweg ein in der menschlichen Natur verankertes Gesetz des Fortschritts durchsetze. Das hatte zur Umkehrung der Bestimmung des Verhältnisses von Geschichte und Dichtung geführt, wie es Aristoteles im neunten Kapitel der Poetik vorgenommen hatte. Die Dichtung hatte nicht mehr - wie in der neuaristotelischen Ästhetik - die Funktion, das scheinbar Gesetzlose der geschichtlichen Welt in einet schönen Idealität aufzuheben. Nachdem im Fortschritt das Gesetz der Geschichte erkannt zu sein schien, erhielt die Dichtung die Aufgabe, eben dieses Gesetz zur Verwirklichung zu bringen: sei es durch Zerstörung der überlieferten Vorurteile und der durch die feudalistischen Institutionen gestützten Autoritätsgläubigkeit, sei es durch Entwürfe eines neuen Ideals, das die Normen für ein natürliches Ver73

halten, Denken und Fühlen enthielt. Dieses neue Verhältnis zur Geschichte brachte dem Roman einen immensen Gewinn an Funktionen ein. Wie alle anderen Gattungen, die sich den Zwängen der klassizistischen Ästhetik entziehen konnten, war der Roman nun dazu berufen, den Menschen ein Bewußtsein von den in ihrer „Natur" liegenden, bisher aber noch nicht genutzten Möglichkeiten ihrer Emanzipation auf allen Gebieten der gesellschaftlichen Praxis zu schaffen. Durch den Dienst, den er damit der aufstrebenden bürgerlichen Klasse leistete, war den immer noch geführten Diskussionen darüber, ob der Roman ein seriöses Genre sei, im Prinzip der Boden entzogen. Selbst Voltaire, der in Sachen Ästhetik „klassizistisch" dachte, entschloß sich dazu, sich des Genres zu bedienen. War der Roman damit von der früheren Mission erlöst, neben die reale Welt als Dekor eine idealisierte Ritter-, Schäfer- und Abenteurerwelt zu setzen, von der er sich bestenfalls durch Umkehrung in die Parodie befreien konnte, so fand er sich jetzt an die Aufgabe gebunden, einen durch den geschichtlichen Prozeß schon vorgegebenen und von der Philosophie schon fixierten Sinn zu verdeutlichen, eine Wahrheit zu interpretieren, die in ihren wesentlichen Bestimmungen schon als bekannt galt und von der zumindest die Eingeweihten - die Aufklärer nämlich - schon wußten oder zu wissen glaubten, daß sie sich gesetzmäßig in der Geschichte durchsetzen werde. Mit Recht wurde in einer neueren Arbeit darauf hingewiesen, daß hinter Dideröts „Streben nach 'vollkommener Nachahmung' . . . weder eine 'platte' noch eine 'mechanische' Nachahmung" steckt, „sondern die Forderung an die Kunst, die Wahrheit der Natur aufzudecken". 230 Die Wahrheit der Natur, d. h. die Wahrheit der Geschichte und der gesellschaftlichen Realität, brauchte in der Tat nur noch aufgedeckt zu werden: Gefunden war sie schon. Nicht nachgeahmt werden sollte das Vorhandene; es sollte entschlüsselt werden nach der Maßgabe des in ihm wirkenden und von der Philosophie entdeckten Gesetzes, um mit Hilfe der Kunst die Kluft zu schließen, die zwischen dem vorhandenen Bewußtsein der Menschen und dem philosophischen Denken noch besteht, in dem sich die Vernunft entfaltet. Als der Sinn des in der Aufklärung entdeckten Fortschrittsgesetzes infolge der Widersprüche der kapitalistischen Wirklichkeit fragwürdig geworden war, eröffneten sich dem Roman dann neue Möglichkeiten, wenn er sich zum Instrument der Suche nach den Gesetzmäßigkeiten umstrukturierte, die - noch unbekannt - die neue Realität beherrsch74

ten. Der Verlust der Aufklärungsmission, die das Vorhandensein einer vorgegebenen Wahrheit voraussetzte, über die aufzuklären war, konnte in diesem Fall zum Gewinn einer neuen Art von Erkenntnisfunktion führen: Der Autor nimmt sich das Recht, in seiner Romanwelt den Sinn zu produzieren, der außerhalb von ihr noch nirgends vorhanden war. Der Autor setzt sich als eine „allwissende" Instanz, von der aus keine schon anderweitig errungene Erkenntnis nachvollzogen wird, sondern die den Anspruch erhebt, das Wissen selbst erst hervorzubringen, das durch den Roman vermittelt werden soll. Im Formalen äußert sich dieser Anspruch darin, daß die dargestellte Romanwelt nicht mehr durch die Fiktion, im realgeschichtlichen Sinne wahr zu sein, legitimiert wird. Die traditionellen Techniken der Handlungseinkleidung, die die Funktion hatten, das imaginäre Geschehen als ein reales auszugeben, fallen weg. Stendhal deklariert Rot und Schwarz weder als Memoiren (wie Defoe im Robinson oder Lesage in Gil Blas), die dem Autor zufällig in die Hände geraten seien, noch als aufgefundene persönliche Aufzeichnung (wie Constant in Adolphe), noch als vertrauliche Zeugenaussage (wie Prevost in Manon Lescaut), noch als Rechtfertigungs- oder Verteidigungsschrift (wie Diderot in Die Nonne oder Richardson in Moll Flanders), noch als Briefwechsel (wie Rousseau in der Neuen Heloise, Goethe im Werther oder Laclos in Les Liaisons dangereuses - Gefährliche LiebschaftenJ.257 Der Roman hat das Privileg bekommen, schon in sich selbst, als Roman, der nicht vorgibt, in Wahrheit gar keiner zu sein, reale Geschichte zu enthalten und die Wahrheit über sie ans Licht zu bringen. Damit war zwangsläufig eine Verlagerung des pädagogisch-aufklärenden, didaktisch-moralisierenden auf den gnoseologisch-abbildenden Aspekt verbunden. Voraussetzung für die Übernahme einer solchen Funktion bildete der Verzicht auf idealisierende Verklärungen der gesellschaftlichen Realität und auf Harmonisierungen der durch die Herrschaft des Kapitals ins Leben der Menschen getragenen antagonistischen Widersprüchlichkeit ihrer Beziehungen. Damit wurde der Roman auch für Informationen aus dem materiellen Unterbau der Gesellschaft durchlässiger, so daß Friedrich Engels sagen konnte, er habe aus den Romanen Balzacs „sogar in den ökonomischen Einzelheiten (zum Beispiel die Neuverteilung des beweglichen und unbeweglichen Eigentums nach der Revolution) mehr gelernt . . . als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen"258. Nicht das gleiche, aber Ähnliches hätte 75

Engels auch von den Romanen Stendhals, hätte er sie gelesen, sagen können. Natürlich gehen die Romane von Balzac und Stendhal nicht in diesen Leistungen auf. Die Bemerkung von Engels enthält aber einen Hinweis auf die dem Roman eingeräumte neue Funktion, die ein wesentliches Merkmal dessen wurde, was wir mit „kritischem Realismus" bezeichnen. Wir verstehen darunter eine nach dem Zusammenbruch der aufgeklärten Gesellschaftstheorien und Geschichtsbilder aufkommende Methode des Schreibens, die die literarischen Gestaltungsmittel zur Formierung einer Romanwelt einsetzt, die nicht nur durch „pilotis" mit der Wirklichkeitswelt verbunden ist, sondern durch die der geschichtlichen Realität der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im dargestellten Schicksal der Figuren Geheimnisse entrissen werden, die andere (romaneske, philosophische usw.) Texte nicht ans Licht bringen wollen oder können. Mit dieser Art von Texten haben die kritisch-realistischen gemeinsam, daß auch sie sich auf keinen Begriff von einer Wirklichkeit gründen, die die bürgerlich-kapitalistische gesellschaftliche Realität überschreitet. Was im Rahmen dieser Grenzen über diese hinausweist, ist nicht der Entwurf einer anderen, „ideal" gesetzten gesellschaftlichen Welt, sondern die Enthüllung einer Wahrheit über die vorhandene Welt, die Offenbarung der Widersprüchlichkeit zwischen Anspruch und Erfüllung, Fortschritt und Deformation, abstrakter Freiheit und konkreter Knechtung, individuellem Ethos und sanktionierter Moral, Selbstbehauptung und Unterwerfung, Vergesellschaftung und Entmenschlichung, Wahrheit und Mythos, Sprache und Phrase, kurzum also der Antinomien, die mit dem sich durchsetzenden Kapitalismus alle Bereiche der gesellschaftlichen Beziehungen durchdrangen. Die Konzeption, daß der Roman die Funktion habe, gesellschaftliche Realität den Blicken der Leser preiszugeben, hat Stendhal auf die berühmte Formel gebracht: „Ein Roman ist ein Spiegel, den man den Weg entlang spazieren führt." 259 An anderer Stelle von Rot und Schwarz heißt es dazu: ein Roman ist ein Spiegel, der sich auf einer Straße fortbewegt. Bald zeigt er deinen Augen das Blau des Himmels, bald den Schlamm der Straßenlöcher. Und der Mann, der in seinem Korb den Spiegel trägt, wird durch Sie der Unmoral bezichtigt! Sein Spiegel zeigt den Schlamm, und Sie klagen den Spiegel an! Klagen Sie doch lieber die Landstraße an, die das Schlammloch hat, und noch mehr den Straßenaufseher, der das Wasser stehenläßt, daß sich ein Morast bildet." 260 76

Man mißversteht diese Bemerkungen, wenn man ihnen die Idee einer mechanistischen Widerspiegelung unterschiebt. Der Akzent liegt nicht auf dem Spiegel als einem Instrument, in dem sich Realität reflektiert; der Akzent liegt auf dem Man, auf dem Ich, das den Spiegel in der Hand hält, ihn nicht auf einer beliebigen, sondern auf einer ausgewählten Landstraße fortbewegt und ihn nicht irgendwohin in die Wolken, sondern auf Bestimmtes, zum Beispiel auf die Schlammlöcher richtet. In einer ansonsten hervorragenden Arbeit über die Schreibweise Stendhals wird die Ansicht vertreten, ein Realist sei derjenige Romancier, der beanspruche, „die Welt so zu zeigen, 'wie sie ist', der nach der direkten Beobachtung arbeitet und der die Flamme seiner Imagination bis zum Erlöschen herabsetzt, der von seinem Werk Abstand nimmt und sich einer unerbittlichen Objektivität anheimgibt, der der Geschichte und dem Dokument den weitesten Raum gibt, der, mit dem Gelehrten und dem Photographen wetteifernd, der Beschreibung der äußeren Welt den Vorzug gibt . . ." 261 Hier werden Merkmale einer Schreibweise, die für Vertreter der realistischen Schule, die sich nach 1850 in Frankreich konstituierte, und zum Teil für den Naturalismus charakteristisch wurden, zu dem Bild von einem Realisten verallgemeinert, in das sich Stendhal nicht einfügt. Georges Blin, von dem die Definition stammt, kann daher auch nicht umhin, den Realismus Stendhals als eine Abweichung von ihr zu deuten. Er spricht, wie schon andere vor ihm, in bezug auf Stendhal von einem „subjektiven Realismus" 262 . Damit will Blin ausdrücken, d a ß Stendhal zwar auch die Welt zeigen will, wie sie ist, daß auch er der Geschichte und der direkten Beobachtung einen breiten Raum gibt, d a ß er aber - im Gegensatz zu dem von Blin postulierten Typ des Realisten - weder die Flamme der Imagination bis zum Erlöschen herabsetzt, noch mit dem Gelehrten und Photographen wetteifert, noch der Beschreibung der äußeren Welt den Vorzug gibt und schon gar nicht gesonnen ist, sich einer unerbittlichen Objekivität anheimzugeben und von seinem Werk Abstand zu nehmen. Dieser Argumentation von Georges Blin kann man nur zustimmen; überzeugend arbeitet er heraus, daß von einer Unterwerfung Stendhals unter die „unerbittliche Objektivität" in der Tat keine Rede sein kann. Blins Irrtum besteht darin, daß er, seine Realismusnorm zugrunde legend, daraus auf eine „subjektive" Abart realistischen Schreibens glaubt schließen zu müssen. Mit dem gleichen Recht könnte man die späteren „objektiven" Formen des realistischen Romans als 77

Deformation des von Stendhal geschaffenen Musters werten. Wenn der Bezug zur Formierung objektiver Realität im Werk den Ausdruckscharakter der kritisch-realistischen Schaffensprozesse reduziert, so hebt er doch in keiner Weise die Bedeutung des Ichs als richterlich-wertende und -urteilende Instanz auf. Man wird im Gegenteil sogar sagen dürfen, daß der Realismus um so weniger kritisch, um so naturalistischer wird, desto weniger Souveränität sich das Subjekt gegenüber der Welt einräumt, der es den Spiegel entgegenhält. Insofern ist jeder kritische Realismus (wenn auch in einem individuell unterschiedlichen Maße) subjektiv. Im Fall von Rot und Schwarz läßt sich das Vorhandensein des subjektiven Mediums zunächst in einem Kunstgriff nachweisen, dessen sich der Erzähler bedient, um den Leser unmittelbar an der Denkwelt seiner Figuren teilnehmen zu lassen. Zu diesem Zweck gibt er an vielen Stellen seines Berichts die Perspektive der objektiven Distanz von seinen Figuren auf, spricht nicht „über" sie, begnügt sich nicht damit, die zwischen ihnen stattfindenden Dialoge mitzuteilen, sondern zeichnet die Selbstgespräche auf, in denen die Figuren aus ihrer subjektiven Perspektive heraus über das ihnen Zugestoßene reflektieren. Dieses als innerer Monolog bekannt gewordene Erzählverfahren wird oft mit einem „dachte er" oder mit einem „sagte er sich" angekündigt. Manchmal wird der Leser aber auch völlig übergangslos mit diesem Wechsel der Erzählperspektive konfrontiert : „Julien war tief bewegt. Er vermochte darin keine Heuchelei, keine Übertreibung zu erblicken. Sie glaubt ihren Sohn zu töten, weil sie mich liebt, und doch liebt die Unglückliche mich mehr als ihren Sohn."263 „Julien war kaum in Verrières angekommen, als er sich wegen seiner Ungerechtigkeit Madame de Rénal gegenüber Vorwürfe machte. Ich hätte sie wie ein Gänschen verachtet, wenn sie in ihrer Szene mit Monsieur de Rénal schwächlich versagt hätte."264* Im Unterschied aber zu vielen späteren Romanen, in denen der Erzähler auf jede Kontrolle über den „Strom" des inneren Monologs seiner Figuren verzichtet, d. h. sich mit seiner „objektivistischen" Registratur zufriedengibt und dadurch die Figuren auf „subjektivistische" Manier in ihrem Bewußtseinsraum einschließt, behält der Erzähler von Rot und Schwarz die Macht über seine Figuren stets in der Hand. Er nimmt sich nicht nur das Recht heraus, allgemeine Lebensweisheiten und Kommentare in seine Erzählung zu mischen,265 78

sondern auch die Handlungsweisen der Figuren zu beurteilen und mit Erklärungen überall dort nachzuhelfen, wo er auf Seiten des Lesers Mißverständnisse für möglich hält. Wenn Julien zum Beispiel beschließt, um zwei Uhr nachts in das Zimmer Madame de Rênals einzudringen, bemerkt der Erzähler dazu, das sei ein „lächerlicher Gedanke" 266 . Schon bei der Schilderung der Prozession (zweiter Teil, 28. Kap.) läßt der Erzähler den Leser nicht in Zweifel über seine Meinung, daß aus Julien niemals „ein guter Priester" oder „ein tüchtiger Verwaltungsbeamter" werden wird: „Solche erregbaren Seelen sind gerade gut genug dazu, einen Künstler hervorzubringen. Hier offenbart sich Juliens Eigenheit in vollem Licht." 267 Der Entschluß Juliens, trotz seiner Liebe zu Mathilde nicht mit ihr zu sprechen, reißt den Erzähler zur Bewunderung hin: „Das ist meiner Meinung nach einer der schönsten Züge seines Charakters; wer einer solchen Gewalt über sich selbst fähig ist, kann es weit bringen, si fata sinant." 268 Die Liste der Beispiele für solche Interventionen des Erzählers ließe sich verlängern. Nimmt man an, daß der „Reisende aus Paris", der nach Verrières kommt und sich manchmal als „Philosoph" 269 bezeichnet, die Rolle des Erzählers spielt, dann muß man sagen, daß er alles andere als ein stummer Zeuge des Geschehens ist. Er macht nicht nur permanent auf »seine Anwesenheit aufmerksam, indem er von sich in der ersten Person spricht,270 sich direkt an den „Leser" wendet, 271 von „unserem Helden" redet 272 und sogar so weit geht, seine politische Gesinnung zu verraten. 273 Er läßt darüber hinaus sich manchmal dazu hinreißen, die Maske des fiktiven Erzählers überhaupt abzulegen und sich mitten im Text als realgeschichtliches „Subjekt", d. h. als „Autor", zu Wort zu melden; so zum Beispiel im 19. Kapitel des zweiten Teiles, wo er die Befürchtung ausspricht, das soeben Erzählte werde „dem unglücklichen Autor" Schaden zufügen, und sich mit der Spiegel-Theorie zu verteidigen sucht; 274 so auch im 22. Kapitel des zweiten Teiles, wo er sich mit seinem Verleger über die Funktion der Politik im Roman unterhält. 275 Bleibt man im Spiegel-Bild, dann läßt sich aus solchen Eingriffen in die Erzählhandlung die Konsequenz ziehen, daß Stendhals Begriff der Spiegelung eine mechanistische Bedeutung ausschließt. In seinem Bild von Roman als Spiegel ist der Sachverhalt angedeutet, daß das Objekt der Spiegelung (die abstrakte Totalität dessen, was widergespiegelt werden kann) umfassender und weiter ist als der Gegenstand, der aus dieser Totalität im konkreten Schaffensprozeß selek79

tiert wird; mit anderen Worten: daß die Konkretisierung eines Gegenstandes für die literarische Produktion das Moment einer Wahl und damit einer Wertung einschließt, die Heraushebung bestimmter Seiten und Zusammenhänge der Totalität vom Standpunkt des den Spiegel haltenden und bewegenden Subjekts. Im Vorwort zu Armance (Juli 1827) faßte Stendhal diese Zusammenhänge in der lapidaren Frage zusammen: „Von welcher Partei ist ein Spiegel?" 276 Daß Stendhal damit nicht die Forderung nach einem Roman anvisierte, der von ihren Verfassern als Mittel zur Proklamation ihrer politischen Gesinnung gebraucht wird, geht mit aller Deutlichkeit aus dem schon zitierten 22. Kapitel von Rot und Schwarz (zweiter Teil) hervor, wo der Autor eigentlich „eine Seite voll Gedankenstriche" hatte einschalten wollen, um nicht von Politik reden zu müssen; denn, so begründet er seinen Standpunkt gegenüber dem „Verleger": „Die Politik ist ein Stein am Halse der Literatur und wird diese in weniger als sechs Monaten ersäufen. Die Politik im Mittelpunkt der Interessen der Phantasie, das ist ein Pistolenschuß in einem Konzert: Das Geräusch ist durchdringend, ohne energisch zu sein. Es harmoniert mit dem Klang keines Instruments".277 Man erinnert sich beim Lesen dieser Zeilen an die Bemerkung von Friedrich Engels, der sich in seinem berühmten Brief an Margaret Harkness gegen den „Tendenzroman" wandte, der „die sozialen und politischen Anschauungen des Autors" verherrlicht, und hinzufügte: „Je mehr die Ansichten des Autors verborgen bleiben, desto besser für das Kunstwerk".278 Engels argumentiert vom Parteistandpunkt des Proletariats aus, den der Autor nicht durch das subjektive Bekenntnis, sondern durch die historisch-materialistische Durchdringung der gegenständlichen geschichtlichen Welt erringt. Bei Stendhal dagegen witd die Bekundung der „politischen Tendenz" durch die schon erwähnte „conscience littéraire" problematisch, die an einem subjektiven Ort jenseits des politischen Pragmatismus der bürgerlichen Parteien angesiedelt ist. Insofern beruhen die Argumente von Engels und Stendhal gegen die politische Konfession des Autors im Roman auf ganz unterschiedlichen Grundlagen. Dessen ungeachtet kann im Anschluß an solche Bestimmungen des Verhältnisses zwischen Werk und persönlicher Gesinnung seines Hervorbringers festgehalten werden, daß das individuelle (auch politische) Bewußtsein des Autors, das dem Schaffensprozeß vorausliegt, auf einer anderen kategorialen Ebene steht als das Produkt, das sich

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während des Schreibens von ihm abtrennt. Der Roman wird nicht erst durch einen willentlichen Akt seines Verfassers „Partei", etwa indem dieser seinem Produkt noch ausdrücklich seine Gesinnung hinzufügt; der Roman ist Partei schon als Roman. Springt seine Tendenz nicht schon „aus der Situation und Handlung selbst" hervor, 2 ' 9 d. h. aus der Struktur der in ihm formierten künstlichen Welt, dann verringert sich seine Aussicht, als Roman gelesen zu werden. Die Textgestalt, in der der Roman vor den Leser tritt, verbleibt, da sie keine oder nur wenige Realisierungen findet, die ihr nur durch Lektüre vermittelt werden können, im Zustand der bloßen Rezeptionsvorgabe. Die subjektive Absicht des Autors, durch eine der Immanenz des Werkes aufgesetzte Tendenz den Leser zu seiner Meinung bekehren zu wollen, bleibt gerade deshalb unerfüllt, weil der Leser verstimmt wird und die Lektüre verweigert, der Textgestalt des Werkes also keinen Sinn vermittelt. Der „Verleger" zerstreut die Bedenken des „Autors", von Politik zu reden, mit dem Argument: „Wenn Ihre Personen nicht über Politik reden, so sind es keine Franzosen von 1830 mehr, und Ihr Buch kein Spiegel mehr, wie Sie Absicht haben .. .'