Preußische Jahrbücher: Band 48 [Reprint 2020 ed.] 9783112365069, 9783112365052


146 13 29MB

German Pages 641 [644] Year 1881

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Preußische Jahrbücher: Band 48 [Reprint 2020 ed.]
 9783112365069, 9783112365052

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Preußische Jahrbücher. Herausgegeben

von

Heinrich von Treitschke.

Achtundvierzigfter Band.

Berlin, 1881. Druck und Verlag von G. Reimer.

Inhal«. Erstes Heft. Sächsisch-polnische

Beziehungen

während

des

siebenjährigen

Krieges

russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.

zum

(Schluß.)

(Ernst Herrmann.)............................................................................... Seite BerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

1

(R. Schleiden.)



Die Zukunft des deutschen Reichsgerichts................................................................ — Die Tiefseeforschung der Neuzeit. Die Verlegenheiten Gambetta's.

50

(Dr. M. Alsberg.)....................................... — (Politische Correspondenz)

(n.) .....

24

60



Notizen................................................................................................................................—

87

96

Zweites Heft. Verfassungsgeschichte

der

Vereinigten

Staaten

von

Amerika.

(Schluß.)

(R. Schleiden.)................................................................................................... Raphael'S Skizzenbuch in Venedig.

Die Unterdrückung der Deutschen in Siebenbürgen.

.........................................

Ein Werk aus Kampfeszeit.................. .............................................................................

Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.

Russische Aussichten.

99

(Schmarsow.)..................................................... —

(Politische Correspondenz.)

(Fritz Kalle.)

(tt.).........................................

122

— 150 — 171 —

178

— 191

Drittes Heft. Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte. Die Beschränkung der Wechselfähigkeit,

(Chr. Meyer.)............................................ — (v. Borries.)

Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie. Helfrich Peter Sturz.

............................................ —

(Dr. Ferdinand Schultz.)



(Dr. G. Zimmermann.).......................................................... —

Italien und das deutsch-österreichische Bündniß. (Politische Correspondenz.) (tc.)

207

227 260 273



307



321

Viertes Heft. Karl Wilhelm Nitzsch.

(Richard Rosenmund.)....................................................

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.

Studien zur alten Gesellschastsgeschichte.

(Schluß.)

(Dr. Dziatzko.)

(Christian Meyer.)

.

.



346



377

Inhalt.

IV.

Die Kritik der reinen Vernunft.

(Julian Schmidt.)........................................... Seite 386

Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig.

(Politische

(ir.)............................................................................. —

Eorrespondenz.)

406

Notizen. (D.)............................................................................................................ —

422

Fünftes Heft. Karl Wilhelm Nitzsch.

(Richard Rosenmund.).............................................. —

Philosophie und Naturwissenschaft.

425

(Th. Achelis.).......................................... —

449

(H. d. G.)............................................................ —

Der Boer im Transvaal.

R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.

(Chr.Meyer.)

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseitdes Meeres.

.

...

474 — 493

— 510

(Heinrich von Treitschke.)................................. —

Die Lage nach den Wahlen.

525

Sechstes Heft. Ueber das Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit und deren

moderne Widersacher.

(Hugo Sommer.).................................................. —

R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.

(Schluß.)

533

(Chr.

Meyer.)........................................................................................................... —

570

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

(Ludwig Keller.).............................................................................................. — Melchior von Diepenbrock.

AntinouS.

(H. Jacoby.)...............................



(Julian Schmidt.)..................................................................................... —

Das neue Eril von Avignon. Notizen.

586

(Altpreußische

Brandenburg.)

(Heinrich von Treitschke.).................................... —

Geschichten.

— Wanderungen

durch

(Julian Schmidt.)............................................

dje Mark —

638

607

623 631

Sächsisch-polnische Beziehungen während des sieben­ jährigen Krieges zum russischen Hof und insbeson­ dere zum Großkanzler Bestuschew. Von

Ernst Herrmann.

(Schluß.)

3.

Unterm 9. März 1758 schrieb Prasse an Brühl:

„Ew. Exc. insbe­

sondere büßen durch diesen Fall (des Großkanzlers Bestuschew) ihren besten und einzigen Freund und größte Stütze ein und ich bin bange, daß wir

diessen Verlust in folgenden drei Stücken absonderlich ressentiren werden: in Ansehung unseres dedommagemens, in unsern Absichten auf Preußen

und in Bezug auf unsere künftige Succession in Polen.

Gleichwie nun

aber dieser Fall einmal geschehen und nicht leicht zu repariren ist, also

kommt eS nun darauf an, daß man auf Mittel bedacht sei, den vor unser

Interesse daraus entspringenden Schaden, wo nicht gänzlich zu evitiren,

Und auf das, was nun zu thun fei,

doch wenigstens zu verringern."

übergehend, fährt Prasse fort:

„zuvörderst muß ich anführen, daß der

Graf Poniatowski und ich gewissermaßen in die disgrace des GroßkanzlerS enveloppirt sind.

Jener, weil er ein vertrauter Freund des Groß-

kanzlerS und am jungen Hof in großem Ansehen gewesen, ich aber nur in so weit, als man mich als einen Vertreter deS Großkanzlers an­

sieht.

Da nun aber der Graf Poniatowski jetzt'angezeigtermaßen als ein

Anhänger des jungen HofeS angesehen wird, so ist natürlich, daß er am großen Hof allezeit suspect und mithin zu Ausrichtung gewisser Sachen ungeschickt bleiben wird und wenn auch dieses nicht wäre, so wird ihm doch allemal der französische Ambassadeur, der jetzo einen so großen Credit

und den Woronzow in seinen Händen hat, int Weg treten." Preu fr schc I.thrducher. Bd. XLVIIL Heft 1.

Sollte in-

Sächsisch-Polnische Beziehungen während de« siebenjährigen Krieges

2

dessen von Seiten des russischen Hofes sowohl auf Poniatowskis als auf

seine, Prasses, Abberufung gedrungen werden, so schmeichele er sich mit der Hoffnung, wenn das beiläufig zu bemerken ihm erlaubt sei, „daß Se. kgl. Mas. ihn als einen alten treuen Diener, der seit neun Jahren in

Rußland Jugend, Gesundheit und sein bischen Vermögen bei vieler Arbeit und Mühe zugesetzt, nicht Noth leiden lassen, sondern auf andere Weise

zu versorgen geruhen würden."

Als das vor der Hand Dringlichste

möchte nach seiner geringen Einsicht sich empfehlen, daß er, so lange er noch in Petersburg und kein anderer Minister deS Königs zugegen sei,

sich bemühe deS VtcekanzlerS Woronzow Gewogenheit zu erwerben.

Und

damit flattire er sich auch zu reufsiren, wenn er anders nur vom Hofe

aus so weit unterstützt werde, daß man ihm Gelegenheit verschaffe, sich mit ihm öfters in Affairen einzulassen, und daß man ihn mit etwas Geld

unterstütze um von den Sptelpartien sein zu können, welche in seinem

Hause etablirt seien.

WaS diesen Punkt betreffe, so berufe er sich auf

den Grafen Kayserling, der durch dieses Mittel seine Sachen alle gut ge­

macht habe. Und eS dauerte in der That nicht allzu lange, so glaubte Prasse in

Woronzow, der noch in demselben Jahr zum Großkanzler erhoben wurde, einen

dienstfertigen

Freund

gewonnen zu

30. Januar 1759, 12. December 1759).

haben (2. December 1758,

Das Hauptziel aber auf welches

der sächsische Geschäftsträger jetzt loSsteuerte, war die damals von August III. eifrigst betriebene Candidatur seines dritten Sohnes, deS Herzogs Karl, um das Herzogthum Kurland durchzusetzen, und die diesen Bestrebungen

entgegengesetzten Bemühungen einerseits des Großfürsten Peter, anderer­

seits der CzartorhSki-PontatowSkischen Fraction, zu vereiteln.

Poniatowski

mußte zwar auf ausdrückliches Verlangen der Kaiserin selbst Petersburg endlich verlassen (15. August 1758, R. G. V, 154); allein auch von Polen aus unterhielt er doch noch ganz im geheim fortwährend die intimsten Beziehungen zu dem jungen Hof (22. September 1758, 2. April 1759),

und zwar nicht nur zu der Großfürstin, sondern auch zu dem damals mit seiner Gemahlin wieder ausgesöhnten Großfürsten, so daß dieser selbst

verschiedentlich, wenn gleich vergeblich, sich für seine Rückkehr verwendete (2. und 22. December 1758), und gegen die vereinigten Umtriebe sowohl

deS jungen Hofes, wie der von diesem unterstützten polnischen Partei anzukämpsen, war um so weniger eine leichte Sache, da seit dem Sturz

Bestuschews, wie schon bemerkt, jener auch die Schuwalows und namentlich den Kammerherrn Iwan sich dienstbar gemacht hatte.

(3. Jan., 18. März,

5. Juni, 26. Juni, 16. Juli 1759.) Unter solchen Umständen kam es denn dem Herzog Karl ganz be-

sonders zu statten, daß die Kaiserin, auf die er Lei seiner persönlichen Anwesenheit im Sommer 1758 in Petersburg (R. G. V, 154) den vortheilhaftesten Eindruck machte,

einmal aus

eigenem Impuls

sich

zum

Handeln entschloß und so konnte der Vicekanzler schon Ende August Prasse die erfreuliche Mittheilung machen, daß bereits an den Kanzleirath Stmolin in Mttau die Ordre ergangen sei, den Ständen von Kurland zu erklären, daß e» der Kaiserin lieb und angenehm sein werde, wenn sie des Prinzen Karl kgl. Hoheit zu ihrem Herzog ausersehen wollten (30. August 1758).

Die Stände von Kurland wählten hierauf den Herzog Karl ohne Wider­

spruch (12. December 1758) und huldigten ihm (Prasse 13. Nov. 1759); ohne sich darum zu kümmern, daß der Großfürst Peter seinen dritten

Onkel, den Herzog Georg Ludwig mit diesem Fürstenthum hatte bedacht wisien wollen (15. September 1758).

Dem Großfürsten aber blieb nichts

übrig, als über das Fehlschlagen seiner Wünsche in der ohnmächtigen Drohung sich Luft zu machen,

daß wenn der Herzog Karl wieder nach

Petersburg kommen sollte, er ihm den Degen durch den Leib jagen werde. (3. Januar 1759, vgl. 12. December 1759 P. S. IV.)

Und ebensowenig

drangen in Polen die Czartoryskis mit ihrem Protest durch, daß der König nicht befugt gewesen sei, durch einen bloßen Senatsbeschluß statt

durch den Reichstag sein Recht, das Herzogthum Kurland als polnisches

Lehen zu verleihen, sich bestätigen zu lassen (vgl. R. G. V, 153).

Zwar

trieben sie eö in ihrem widrigen Betragen und in ihrer Verbitterung wegen der kurländischen Sache so weit, daß man königlich polnischerseits

schon befürchtete, sie möchten zunächst in den Woiwodschaften Plozk und

WitebSk eine Confoederation anspinnen und für diesen Fall gegen das russische Ministerium den Wunsch aussprach, „daß die dortiger Gegend am nächsten stehenden russischen kaiserlichen Truppen, sobald sich wirklich

etwas äußern sollte, daS Feuer gleich in der ersten Asche zu ersticken

beordert würden (4. December 1758), doch ließen sie selbst eS nicht dahin kommen, daß die in dieser Beziehung von dem Großkanzler Woronzow dem Grafen Brühl gemachte Zusage hätte wirklich in Anspruch genommen

werden müssen (30. Januar 1759).

Für den Herzog Karl aber handelte

eS sich in der kurländischen Angelegenheit bei dem von Seiten Rußlands ihm nicht weiter bestrittenen Besitz dieses Herzogthums demnächst vor­

nehmlich noch darum, wie weit er im Stande sein würde, von den durch

dreißigjährige und neunundfunfztgjährige Zinseszinsrechnungen

auf die

Summe von drittehalb Millionen Rubel sich erhebenden Ansprüchen der russischen Krone an die ihm persönlich als Herzog von Kurland zustehenden

Einkünfte, sich frei zu machen (vgl. R. G. V, 151).

Rußland nämlich

hatte die kurländischen Domainen, sowie die Privatgüter des removirten 1*

Sächsisch-Polnische Beziehungen während de« siebenjährigen Kriege«

4

Herzogs Biron mit Beschlag belegt auf Grund all der noch unberichtigten Forderungen, die eS theils kraft der vom Herzog Friedrich Wilhelm mit Anna Iwanowna geschloffenen Ehepakten, theils wegen der von Peter dem

Großen für diese Fürstin und hernach von dieser selbst und vom Herzog Biron mit russischem Geld erkauften Güter erhob (30. Jan., 12. Febr. 1759)

und wollte sich zur Aufhebung deS Sequesters nur gegen Berichtigung seiner Schuldforderung verstehen, wobei es außerdem noch verlangte, daß der neue Herzog für den Unterhalt der Btronschen Familie Sorge zu

tragen auf sich nehmen solle.

Dagegen war Prasse bereits in einem

Promemoria vom 8. August 1758 mit dem Gesuch eingekommen, „daß

die Kaiserin das auf die herzoglichen Domainen sowohl als auf die von

dem Herzog Biron an sich gebrachten und von ihm besessenen Güter und übriges Vermögen gelegte Sequester

aufheben und zugleich declariren

lassen möchte, daß man sich zur Schadloshaltung der vor diesem von

dem Herzog Biron seines eigenen Vortheils halber erschöpften russischen

Lasse mit den aus der Sequestration bisher erhobenen Revenüen begnügen wolle und daß demnach die Kaiserin dem Prinzen Karl als Herzog von

Kurland alle Rechte und übrige Anforderungen auf die herzoglichen Do­

mainen und das Vermögen des Herzogs Biron gänzlich zu cediren geruhen möge, wogegen eS der Prinz Karl auf sich zu nehmen hätte, dem Herzog

Biron und seinen Kindern eine jährliche Pension nach Verhältniß

der

Einkünfte deS Landes und nach Beschaffenheit der Bedürfnisse der Bironschen Familie festzusetzen und Lu entrichten."

Auf

dieses

Gesuch

erfolgte

endlich

in einem Promemoria

vom

5./16. März 1759 eine Antwort, die zwar im Wesentlichen demselben zu­

stimmte, aber doch nur unter äußerst lästigen Bedingungen, die weder mit der Unabhängigkeit eines völlig souverainen StaateS noch mit den Ver­ pflichtungen eines, wie daS in Bezug auf Kurland der Fall war, zu einem anderen Staat im Lehensnexus stehenden FürstenthumS sich wohl verein­

baren ließen.

Die Kaiserin erklärte nämlich-allerdings, daß sie von allen

bisher erhobenen Forderungen völlig abstehen, daS auf die herzoglichen Domainen gelegte Sequester aufheben und selbige dem Herzog Karl zu völligem Besitz etnräumen wolle, dagegen aber sollte der Herzog Karl im Einvernehmen mit der kurländischen Regierung als dem russischen Kaiser-

thum nothwendige reservata anerkennen:

1) die förmliche Befugniß Rußlands zu militärischen Zwecken und namentlich während der ganzen Dauer deS

gegenwärtigen Krieges in

Bezug auf Durchmarsch, Einquartierung und Berproviantirung der russi­ schen Truppen daS ganze Herzogthum mit sammt seinen Seehäfen im

Grunde nicht anders denn ein ihm unterthäntgeS Land betrachten und be-

zum russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.

5

nutzen zu dürfen (Promemoria vom 5./16. März 1759 Punkt 3—6), wie

eS ja freilich auch bisher schon dasselbe factisch kaum ünderS angesehen und benutzt hatte (vgl. Punkt 4 und 5); außerdem sollte 2) dem russischen Reich der Besitz aller der Güter, welche der Herzog Biron vor und nach seiner Erhebung zum Herzog noch

während seines Aufenthalts am russischen Hof, für russisches Geld von particuliers aufgekauft, gelassen werden

3) soll ein Theil der Güter, welche von dem Sequester befreit und

dem neuen Herzog eingeräumt worden, noch auf sechs Jahre denjenigen kur­ ländischen Edelleuten zur Anende übergeben werden, welchen die russische Regierung den Genuß derselben durch Borcontracte bereits zugesagt hat.

4) Da das Herzogthum Kurland dem Prinzen Karl schon vollkommen

zu Theil geworden, mithin der vorher gewesene Herzog Biron und seine Kinder deS Besitzes besserten auf immer verlustig gehen, so möge ohner-

achtet der Bironschen Familie von der Gnade der Kaiserin ihre Subsistenz gereicht werde, der neue Herzog, wie darauf auch bereits vom LegationSrath Prasse in seinem Promemoria vom 8. August a. p. hingewiesen

worden, derselben eine proportionirte jährliche Pension festsetzen und zahlen.

Wie zu diesen Forderungen Rußlands der Herzog Karl sich zu ver­ halten habe, wurde demselben hierauf vom sächsischen Ministerium in

einem durch Prasse übersendeten Promemoria nebst den dazu gehörigen Ausführungen vom 2. April 1759 an die Hand gegeben.

Dasselbe nahm

indessen, ganz der sächsischen Politik entsprechend gerade an dem an sich

bedenklichsten von unS unter 1) zusammengefaßten Punkt durchaus keinen erheblichen Anstoß.

Zur Beseitigung der bet dem Verharren Rußlands

auf seinen Ansprüchen an die Bironschen Güter kaum zu vermeidenden politischen Collisionen, gab es dem Herzog den Rath, nöthigenfallS sich zum allmähligen Abtrag der auf den Ankauf derselben verwandten Summe

In Bezug auf die für gewisse

von 280,000 Albertsthalern zu erbieten.

kurländische Edelleute hinsichtlich der Verpachtung von Domanialgütern ausbedungenen Vergünstigungen war es der Ansicht, daß falls eS hiebei

auf die Beftiedigung nur weniger Personen ankomme, die als Pensio-

naires oder Creaturen des russischen Ministeriums anzusehen seien, welchem man in dieser Sache soviel verdanke,

eS am rathsamsten sein möchte,

darüber keine Schwierigkeiten zu machen.

Und in Bezug auf die der

Bironschen Familie zu leistende jährliche Pension sprach diese Denkschrift sich dahin auS, daß fürs erste bei. Herzog Karl sich bereit erklären möge,

btefe in beut ben jährlichen Einkünften ber Bironschen Privatgüter gleich­ kommenden Betrage von 15,000 Rubeln zu entrichten, falls ihm unent­ geltlich der Betrag dieser Güter überlassen würde.

Am 28. April langte der Herzog Karl selbst in Petersburg an; durch

seine persönliche Gegenwart beabsichtigte er den Abschluß der Verhand­ lungen zu beschleunigen (1. Juni 1759).

Zwar fehlte es von der einen,

wie von der anderen Sette nicht an noch mancherlei Weiterungen, so daß der Großkanzler Woronzow gegen Prasse äußerte (24. Mai 1759), seine

College» hätten in der Conferenz den Einwurf erhoben, daß wenn man Alles einginge, was der Herzog verlange, man keinen Fuß in Kurland be­ halten würde, worum es doch Rußland durchaus zu thun fein müsse, in­ dessen gelang eS gleichwohl den beschwichtigenden Bemühungen PrasseS,

den noch vorhandenen Widerspruch im russischen Ministerium so zu be­ seitigen, daß es bereits durch einen Conferenzbeschluß vom 4. Juni alle vom Herzog gewünschten Modifikationen ihm zugestand (5. Juni 1759). Am 6. erging an den Herrn von Simolin in MUau der Befehl, daß das

Sequester sofort aufzuheben und von Johannis an dem Herzoge von den ihm einzuräumenden Gütern wirklichen Besitz zu ergreifen zu gestatten sei.

Und endlich am 29. Juni fand in Peterhoff die Auswechselung der von der Kaiserin und vom Herzog unterzeichneten Urkunden statt, durch welche die in dieser Angelegenheit getroffenen Vereinbarungen sollten „definitiv

regulirt worden" sein.

Und so hatte denn die sächsische Schmiegsamkeit

unter die russische Schutzmacht diesen einen Erfolg wirklich errungen, nur daß trotz alledem das so mühsam Erhaschte doch nicht von Dauer war.

Kaum hatte der Großfürst Peter den Kaiserthron bestiegen, so traf er auch schon zu Gunsten des Prinzen Georg Ludwig von Holstein die ener­

gischesten Anstalten, um den Herzog Karl zu verdrängen (R. G. V, 253).

Und gleich nach PeterS Entthronung stellte auch Katharina II. an August III. unumwunden das Ansinnen, seinen im anerkannten Besitz des HerzogthumS

Kurland sich befindenden Sohn, den Herzog Karl zur Verzichtleistung zu nöthigen (R. G. V, 345).

Schon im ersten Jahr ihrer Regierung setzte

sie auf die gewaltsamste Weise seine Vertreibung wirklich durch, zwar nicht zu Gunsten Georg Ludwigs, den sie

als Vormünderin ihres Sohnes

Paul mit der Statthalterschaft von Holstein entschädigte, (R. G. V, 211),

sondern um durch Wiedereinsetzung des ganz von ihrer Gnade abhängigen

alten Herzogs Johann Ernst Biron auf das vollständigste ihrem Rußland die in diesem Grenzfürstenthum schon in früheren Jahren fast mit unbe­

dingter Willkür ausgeübte Macht wieder zurückzugeben.

4. Viel mißlicher stand es mit der Erfüllung der an die beabsichtigte

Demüthigung

Preußens

sich

anknüpfenden

Entschädigungshoffnungen,

welche Sachsen auf die russische Freundschaft setzte und

die es immer

und

immer wieder laut werden zu

lassen,

sich nicht versagte.

So

schrieb Praffe (31. Januar 1758), nachdem noch vor dem Sturz des Großkanzlers am 28. Januar in Petersburg die Nachricht angelangt war,

daß am 21. Königsberg nebst der Festung Pillau sich der russischen Armee

ergeben habe, an Brühl:

„da nunmehr das ganze Königreich in russi­

schen Händen sei, werde er (Praffe) nicht ermangeln, das russische Mini­

sterium und besonders den Großkanzler zu sondiren, und wenn ja die Abtretung deffelben an den König von Polen und dessen Nachkommenschaft

nicht sogleich und noch vor einer generalen Pacification zu erhalten sein

dürfte, versuchen, ob nicht wenigstens ein Theil oder die Hälfte der Re­ venuen zum einstweiligen soulagement des königlichen Hofes werden könnte."

erhalten

Brühl aber ermuthigte ihn, bei so löblichen Vorsätzen

auszuharren durch die Ermächtigung für den Fall des Gelingens auch dem Vicekanzler Woronzow mindestens ein dem Betrag nach von diesem selbst

festzusetzendes douceur in Aussicht zu stellen (13. Februar 1758). noch vor dem Empfang dieses Schreibens hatte Praffe

zu

Doch

berichten

(17. Februar), der Großkanzler sei auch jetzt der Ansicht, daß diese An­

gelegenheit nur mit der größten Vorsicht berührt werden dürfe, vor­ nehmlich weil man der Kaiserin gleichsam anS Herz greifen würde, wenn

man ihr zumuthete, zu declariren, daß sie das Königreich Preußen, das sie nun einmal habe, für Sachsen in Besitz genommen habe, dann aber

auch, weil er selbst sich dem Verdacht gar zu großer Parteilichkeit auS-

setzen würde, wenn er gleich jetzt für Sachsen das zu thun anriethe, was er für Oesterreich zu thun, kürz zuvor schriftlich und mündlich abgerathen habe*), ja selbst in Bezug auf die von Sachsen beanspruchte Theilung

der Einkünfte sei eS nicht mehr res integra, indem schon vor wenigen

Tagen an den General Fermor der Befehl ergangen, eine Million für die russische Krone dort auszuschreiben.

Mußten hiernach die

dem endlichen Ausgang deS Krieges zufolge

ohnehin auf Sand gebauten Entschädigungsansprüche Sachsens einstweilen

wieder vertagt werden, so dauerte eS doch nicht lange, daß Rußland von diesem Hof mit der zwar herabgestimmten aber desto dringenderen Forde-

*) In Bezug auf diesen Punkt heißt eS in PrafleS Depesche vom 31. Januar: „Ew. Exc. habe schon in meinem letztem gehorsamsten Berichte anznzeigen die Ehre ge­ habt, daß der Ambassadeur Esterhazy einige Anwürfe gethan, um zu erhalten, daß daS Königreich Preußen im Namen der Kaiserin-Königin in Besitz genommen werden möchte. Diesen Antrag hat er seit Erlangung der Nachricht von dessen Occupirung wiederholt nnd dabei vorgestellt, daß die Polen vielleicht darüber ombrage nehmen oder auch gar die Pforte jaloux werden könnte, wenn sie erführen, daß dieses Königreich von denen Russen in Besitz genommen worden wär« und darinnen behalten würde." Vgl. die geh. Depesche an Esterhazy vom 13. November 1756 bei Arneth V, 61 und 479.

8

Sächsisch-Polnische Beziehungen während des siebenjährigen Krieges

rung um eine jährliche Subsidienunterstützung angegeangen wurde. Noch im December desselben Jahres 1758 (25. Dec.) nämlich gab die Er­ schöpfung SachsenS durch die unerschwinglichen preußischen Auflagen dem Grafen Brühl Anlaß, Zuflucht zu den alliirten Mächten zu nehmen, um bei ihnen zusammen um ein gemeinschaftlich auszuwerfendes subsidium von 500,000 Thalern anzusuchen. Er zweifelt nicht an der Bereitwilligkeit der Kaiserin, zur Versorgung der königlichen Familie mit einer convenablen Aushülfe den Höfen von Wien und Versailles, an die man sich in dieser Sache bereits gewendet, beizutreten, und wenigstens auf so lange würden sämmtliche Alliirte den Abgang aller Landeseinkünfte aus den Erblanden feines Königs auf eine angemessene Weise zu ersetzen sich ent­ schließen, als dieselben in Feindes Hand sich befänden. Aber auch in dieser Beziehung blieb eS, wie es scheint, russischerseits nur bei guten Vertröstungen (23. Januar 1759). Rußland dagegen nahm keinen Anstand, nachdem faktisch gleich nach der Einnahme von Königsberg die Kaiserin Elisabeth selbst dort sich hatte huldigen lassen, endlich ohne weiteres für sich an Oesterreich den formellen Antrag zu stellen, dasselbe möchte feine Zustimmung dazu geben, daß zum Ersatz der sich unbeschreiblich hoch belaufenden Kriegskosten ihm, dem russischen Reich „das eroberte Königreich Preußen als eine conquestirte Provinz gänzlich und auf alle Zeiten zugeschlagen würde oder doch wenigstens 20 Jahre laug als eine Hypothek in dessen Besitz bleibe (24. December 1759). Und Prasse wußte dem Grafen Brühl auf diese letzterere direct von Wien aus gemachte Mittheilung nichts Tröstlicheres zu antworten, als daß, so sehr auch er die russische Intention, Preußen zu occupiren, für eine ganz Europa gefahrdrohende halte, er doch um so mehr von dem hartnäckigen Festhalten Rußlands an derselben überzeugt sei, als eS dieser Macht nicht nur um einen Ersatz der enormen auf den Krieg verwendeten Summen, sondern auch namentlich für feine Kriegs­ flotte um den Besitz der Häsen von Memel und Königsberg zu thun fei, weil es feine Fregatten und Galeeren, wenn sie in diesen Häfen über­ winterten, zwei Monate länger würde in See halten können als in Kron­ stadt oder Reval (7. Januar 60). Kurz je länger der Krieg dauerte, um so mehr trübten sich die Aus­ sichten Sachsens. In seiner Depesche vom 8. Februar 1760 klagt Prasse darüber, daß die drei Hauptmächte der Allianz in ihren Vereinbarungen das größte Geheimniß vor ihm beobachteten, da „wir die größten Forde­ rungen haben und man uns unfehlbar als-diejenige Puissance ansieht, die der Vergrößerung der anderen, oder wenigstens der beiden kaiserlichen Höfe damit im Wege steht. Wir haben ein Absehen auf Preußen gehabt

zum russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew. und Rußland will eS auch haben.

9

Wir wollen ein Stück, obwohl ein

kleines, von Schlesien haben und Oesterreich will solches ganz allein be­

sitzen.

Wir wollen zu einer gewissen Macht und Ansehen gelangen und

Oesterreich will allein das Haupt in die Höhe halten."

Er findet, daß

Sachsens BergrößerungSabfichten nur mit Frankreichs Interesse nicht in

Widerspruch ständen, „vielmehr dürfte Frankreich, wenn eS nun auf den Umsturz des preußischen Hauses angesehen ist, gern sehen, daß wir her­ nach

eine gewisse Figur spielen und Oesterreich respectable werden

könnten", allein Frankreich befinde sich leider nicht in der Lage den beiden Kaiserhöfen die Wage halten zu können, mithin bliebe Sachsen nicht-

übrig, als fortdauernd sich an die ganze Allianz zu halten, und zugleich die äußersten Anstrengungen zu machen, um sich möglichst selbst zu helfen.

5. Mit der Selbsthülfe Sachsens aber war und blieb es übel bestellt und so suchte Brühl denn nochmals seinen Vergrößerungsgelüsten ver­

mittelst der Unterstützung Rußlands Bahn zu brechen und zwar jetzt durch die Vorstellung, daß wenn Rußland daö mit Polen verbundene Sachsen

stärker mache, eS in diesem seinem treuesten und zuverlässigsten Bundes­

genossen nur sich selber verstärke.

Er kommt darauf zurück, daß, „da die

ConquGte von Preußen vor Rußland allem Ansehen nach nicht durchzu­

setzen sein dürfte", eS am angemessensten sein möchte,

„wenn sothaneS

Königreich dem Hause Sachsen entweder ganz oder halb zu Theil würde" (13. August 1760).

Prasse jedoch, der die Lage der Dinge aus nächster

Anschauung beurtheilte, hielt dies Anbringen für ein zur Zeit so wenig einen günstigen Erfolg versprechendes, daß er, sich demselben zu unter­

ziehen ablehnend, entgegnete (4. September 1760),

„er sehe sowohl in

Ansehung der russischen Macht als der entfernten Lage deS Landes nicht ab, wer Rußland solches abnehmen könne, sobald eS sich in den Kopf setzet,

solches behaupten zu wollen, so als eS allem Ansehen nach schon wirklich

den Gedanken hat".

Auch müsse er dahin gestellt sein lassen, ob daS

von Sr. Excellenz hervorgehobene Motiv, eine namhafte Vergrößerung Sachsens werde dasselbe in Stand setzen, mit um so größerem Nachdruck die nur allzu unzureichend ausgestattete polnische Krone zum Nutzen Ruß­

lands mit dem Kurhut zu vereinigen, auf die russische Krone einen über­

zeugenden Eindruck machen werde, denn „man sei jetzo mit seiner eigenen Hoheit so sehr beschäftigt und auf seine Macht und bisherigen success

so stolz, daß man alle dergleichen grrangemens vorläufig gleichsam für

überflüssig ansehe und in der Einbildung stehe, daß zu seiner Zeit ein

10

Sächsisch-Polnische Beziehungen während des siebenjährigen Krieges

Fingerzeig von Rußland genügen werde, um Alles nach eigenem Gefallen

einzurichten".

In der That mußte die natürliche Consequenz seiner bisherigen Po­ litik in Polen Rußland mit Nothwendigkeit zu dem Bestreben führen, seine schon so lange vermittelst der Vasallenschaft des sächsischen Hauses indirekt über dieses Königreich ausgeübte Herrschaft in eine so weit möglich dtrecte

zu verwandeln und mithin für die Zukunft nicht auf die Befestigung deS deutschen Fürstenhauses, werdenden

dieses

ihm

seines

Zwischenträgers

allmählich

lästig

und hinderlich

Machtgebots, sondern vielmehr auf

dessen Beseitigung Bedacht zu nehmen.

Befand sich doch schon jetzt ganz

Polen so gut wie widerstandslos in seiner Gewalt, seine Armeen nahmen ihre Winterquartiere Jahr für Jahr auf polnischem Grund und Boden und nährten sich von polnischem Brod und auch die vornehmste Machtbefugniß, die dem verfassungsmäßig gefesselten König de jure noch zu­

stand, die Befugniß der Gnadenverleihungen von hohen, mit reichen Ein­ künften dotirten StaatSämtern, wurde ihm dadurch geschmälert, daß er eS nicht wagen durfte, die von den polnischen Magnaten selbst beim Peters­

burger Hof nachgesuchten Recommandationen, wenn sie ihm auch noch so mißfällig waren, zurückzuweisen oder unbeachtet zu lassen. Wir wollen zunächst den zuletzt berührten Punkt durch einige Bei­

spiele erläutern: Als zu Anfang August 1758 Prasse den Vicekanzler Woronzow in

Bezug auf die polnischen Magnaten ersuchte (4. August), solche Einrich­

tungen zu treffen, daß nicht gleich ein Jeder, der darum anhielte, mit Recommendationsschreiben versehen würde, versprach derselbe zwar diesem

durchaus begründeten Begehren in Zukunft nachkommen zu wollen, zu gleicher Zeit aber eröffnete er ihm, daß für jetzt davon noch nicht die

Rede sein könne, sondern daß demnächst der Graf Sapieha unfehlbar eine solche Recommandation behufs einer ihm vom Könige zu ertheilenden Starostei erhalten werde.' Ebenso versicherte Woronzow später in Bezug

auf den gleichfalls in Petersburg anwesenden jungen Fürsten Adam Czar­ toryski (28. September 1759), er für seine Person würde zwar gern be­

reit sein, zu verhindern,

daß demselben fernerhin keine weiteren Re-

commandationsschreiben ertheilt würden, doch habe der Fürst für jetzt

bereits durch andere Kanäle bei der Kaiserin den Auftrag an ihn, den

Großkanzler, ausgewirkt, zu seinen Gunsten an den Envoyö WojKow nach

Warschau zu schreiben, daß

der König ihm die Anwartschaft auf das

Commando der Garde, welches fein Vater, der Fürst August habe, sowie

auf gewisse Starosteien zu geben und, daß derselbe überhaupt einer Aus­ söhnung mit der CzartorySkischen Familie sich nicht abgeneigt zeigen möge

(vgl. 17. August 1760). — Am beleidigendsten war für August III. jeden­ falls

die ihm vom russischen Hof gemachte Zumuthung, den Fürsten

Alexander Joseph SulkowSki mit der erledigten Woiwodschaft von Posen zu bedenken, da derselbe gegen ihn, den König, persönlich sich in der Art vergangen hatte, daß dieser ihn lebenslang nicht wieder vor seine Augen

kommen zu lassen fest entschlossen war (19. März 1760).

Allein die eigen­

mächtige, völkerrechtswidrige Schilderhebung dieses polnischen Magnaten

zu Gunsten Rußlands gegen Preußen, durch die er sich die gefängliche

Einziehung von Seiten Friedrichs II. zuzog (R. G. V, 659), mochte für Rußland nur ein Grund mehr sein, ihn um so wärmer zu halten und mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln sich seiner anzunehmen (vgl. 18. und 28. März 1760).

Je länger man aber in Polen die Erfahrung machte, wie wirksam die russische Protection sei,

um so methodischer wurde gerade von den

Magnaten die Kunst betrieben, auch die kleinsten Mittel nicht zu ver­

schmähen, um durch Aufmerksamkeiten aller Art sich die Pforten der russi­ schen Machthaber zu öffnen.

So hält unter Anderm der Krongroßkanzler

Malachowski, der mit dem Großkanzler Woronzow „in directer und öfterer

Correspondenz stehet" eS für angebracht, letzterem ab und zu Präsente von ungarischem Wein zu übersenden,

womit er wie Prasse sich ausdrückt

(16. October 1760), „nach dem gemeinen Sprichwort ohnfehlbar die Wurst nach der Speckseite wirft und eine gute Pension von hier ziehet".

Und

gleich in der folgenden Depesche vom 21. October fügt Prasse hinzu: Woronzow habe ihm ein Schreiben Malachowskis mitgetheilt, in dessen

Nachschrift derselbe sich „für das ihm bezahlte ansehnliche Geschenk des russischen Hofes mit der Versicherung bedanke, daß er solches Geld nicht

aus Interesse annehme, sondern Willens sei, solches zum Besten des

Vaterlands, des Königs und seiner Alliirten anzuwenden".

Freilich

aber galt als selbstverständliche Bedingung solcher Ver­

günstigungen, daß dafür auch das polnische Interesse nur in russischem

Sinn ausgelegt werden durfte und wer anderer Ansicht war und dennoch sein Anliegen durchsetzen wollte, zog den Kürzeren.

dem Starost Grafen RogalinSki.

So z. B. erging es

Dieser hatte im Namen deS groß­

polnischen Adels sich nach Petersburg begeben, um über die auf den Gütern deffelben von den russischen Truppen verübten Excesse Klage zu führen.

Man ließ eS indessen bei dem Versprechen, die Sache zu untersuchen, be­ wenden, und Woronzow verhehlte Prasse nicht, daß dergleichen Beschwerden zu unterstützen, eben nicht der Weg sei, sich dem russischen Hof zu empfehlm, indem er namentlich in Bezug auf den Primas gerade heraus

sagte (13. November 1789), „man wisse recht gut, daß dieser eS eigentlich

fei, der die Anherschickung des RogalinSki veranlaßt, allein wenn er ge­

dächte, dadurch viel auszurichten oder die PensionS zu erhalten^ die sein Vorgänger gehabt, so werde er sich betrogen finden.

Man wäre nicht ab­

geneigt, ihm eine solche Pension zu gewähren, allein dies sei nicht der Weg dazu (vergl. 2. und 26. November 1759, 28. März 1760).

Statt

durch eine schleunige Vergütung die durch das russische Militär Geschä­

digten zufrieden zu stellen, zog man es vielmehr vor, der weiteren Ver­

folgung

ihrer Rechtsansprüche

von Seiten

des

polnischen Reichstags

durch das bei dem permanenten inneren Hader so leichte und bequeme Mittel der Sprengung desselben zuvorzukommen (10. und 16. Oct. 1760*).

Polen mußte eben, wehrlos wie es war, seine gefälschte Neutralität noch härter von Freundes als von Feindes Hand büßen, am rücksichts­

losesten aber sprang Rußland mit der reichen, auf ihre besonderen Privi­ legien eifersüchtigen HandelS-

und Hafenstadt Danzig

um.

Unterm

16. October 1758 berichtet Prasse, daß man in der Conferenz auf einmal

wieder auf den Gedanken gekommen sei, von der Stadt Danzig schlechter­ dings zu begehren, daß sie russische Garnison einnehmen solle.

Mit dem

allergrößten Eifer habe Peter Schuwalow diesen seinen Antrag verfochten, unter dem Vorwand, daß man in Pommern und der Mark Brandenburg nichts auSrtchten könne, so lange man nicht Danzig habe, jedenfalls aber

spiele dabei auch Schuwalows Privatinteresse eine große Rolle, denn eS sei ja bekannt, daß derselbe nunmehr fast alle Branchen des HandelS mittelst erhaltener Monopole an sich gebracht habe, wie er denn namentlich

den Korn-, Fleisch-, Stockfisch-, Thran- und TabakShandel ganz allein führe, daneben aber auch noch verschiedene Schiffe in See habe, welche Wein,

Branntwein und andere Waaren für seine Rechnung ab- und zuführten,

und so möge er denn wohl Danzig zu einem debouchS für die einen und zum entrepot für die anderen sich auSersehen haben**). Brühl beeilte sich, diesen so gefahrdrohend übergreifenden Absichten *) „Soviel ich aus verschiedenen DiScursen abnehme» können, (und der Großkanzler hat mir daraus kein Geheimniß zu machen begehret) hat man von hier aus Maß­ regeln genommen, den jetzigen Reichstag in Polen zu zerreißen, namentlich aus Furcht, daß wegen der von Seiten der russischen Armee vorgenommenen und un­ vergütet gebliebenen Exccffe gar zu viel und zu laut geschrieen werden möchte. ES wird mich Dieses aber nicht abhalten, auf die wirkliche Austelluug der deshalb niederzusetzen versprochenen Commission auzudringen." Praffe. **). Dgl. 20. Oktober und 26. Juni 1759: „ES ist Idiese Familie und besonder« der Kammerherr Iwan Jwanowiz noch immer mit dem jungen Hof in genauer liaison. Bis dato hat diese liaison in denen Affairen aber noch nichts geschadet, hingegen greift der Graf Peter Schuwalow hier im Lande täglich weiter um sich und ziehet allen Wandel und Handel an sich, wie er denn unter Anderm durch einen Handel, den er mit Ochsen nach der Ukraine und hier mit geschlachtetem Fleisch treibet, den Preis dieser unentbehrlichen Waare so hoch getrieben, daß man jetzo daS Pfund Fleisch zu 6 Kopeken bezahlen muß, was sonst nur Eines kostet."

Rußlands entgegenzuarbeiten und äußerte bei dieser Gelegenheit (3. No­ vember 1758): man könne sich kaum deS Gedankens erwehren, daß ent­

weder Rußland überhaupt nicht mit seinen Bundesgenossen

eS redlich

meine, sondern nur der Küsten der Ostsee sich auf Feindes- oder Freundes

Unkosten zu bemeistern suche, oder daß, falls die Kaiserin und den Vice­

kanzler ein solcher Verdacht nicht treffe, doch wenigstens eine Intrigue der Schuwalows und des jungen Hofs dahinter stecke, „welcher vielleicht Eng­ land und Preußen Danzig als ein sacrifice versprochen" (vgl. R. G. V, 155). Einstweilen schien zwar nach den Versicherungen Woronzows (28. Oct.

1758) die der Stadt Danzig drohende Gefahr der Einnahme und Besetznng durch die Russen beseitigt werden zu sollen, allein gleich darauf trug doch

der russische Resident Puschkin kein Bedenken, eben dieser Stadt das Recht, sich auf ihre Neutralität zu berufen, geradezu in Frage zu stellen und

Danziger Unterthanen mußten nicht nur die bei ihnen eingerückten russi­ schen Truppen,

ohne die vertröstete baare Bezahlung zu erhalten, be­

köstigen, sondern auch noch Fouragelieferungen einige Meilen weit leisten, ohne für die Fuhren einige Vergütung zu bekommen, wie denn auch die Fourage selbst entweder gar nicht, oder doch weit unter dem gewöhnlichen

Preis bezahlt wurde (6. December 1758).

Und als im folgenden Jahr

Praffe in Bezug auf Danzig Anlaß zu ähnlichen Beschwerden gegeben war, wurde er von dem Großkanzler mit der kurzen Antwort abgespeist,

er könne, wie die Verhältnisse einmal lägen, der Stadt nur den guten Rath geben, sich ruhig zu verhalten und so viel als thunlich sich gefällig

zu bezeigen (18. December 1759). 6.

Zur Vervollständigung des Bildes von der während der ganzen Zeit deS siebenjährigen Krieges hervortretenden Ohnmacht des sächsisch-polnischen Könighauses, den Glanz seiner erborgten Wahlkrone von den Verun­

glimpfungen der russischen Freundschaft frei zu halten, müssen wir neben

diesen andeutungsweise bemerklich gemachten Drangsalen, die der Stadt Danzig aufgebürdet wurden, zunächst noch der über alle Maßen furchtbaren Erpressungen gedenken, welche unter den fortwährenden Einlagerungen

russischer Truppen die andere deutsche Weichselstadt zu erdulden hatte, die seit ihrem Entstehen durch ihren Antheil an dem Fortgang und der Ent­ wicklung deutscher Colonisation in den preußischen Landen vorzugsweise geschichtlich denkwürdig gewordene Stadt Thorn.

Ein dem russisch-kaiserlichen Abgesandten von WojÄow im Namen

der kgl. Stadt Thorn unterm 26. October 1761 überreichtes Promemoria

beginnt mit den Worten:

„ES hat die Stadt Thorn, da sie unter den

Beschwerden, welche sie bei dem Aufenthalte und denen Durchmärschen der russisch-kaiserlichen Truppen betreffen, nunmehr» seit einigen Jahren seufzet,

unter der Zeit zu wiederholten Malen und auf verschiedenen Wegen ihr Elend vorstellig

gemacht und

dessen

Erleichterung zu erflehen gesucht,

nachdem sie aber keine Hülfe erlangen können, sondern vielmehr neue Be­ lästigungen dazu gekommen, so findet sie sich noch immer genöthigt, ihre Be­

schwerden aufS neue zu wiederholen."

In 13 Punkten werden hierauf diese

Beschwerden auseinandergesetzt in Bezug auf Einquartierung, Licht und Feue­

rung, Krankenpflege,

die Artillerie,

Feuerschäden, Schädigung der Weichselbrücke durch

Entziehung des Gebrauchs der Schiffbrücke zum Handel

und Verkehr, der Stadt von dem Proviantcommissariat durch Anlegung

der ansehnlichen Magazine verursachten Schaden, Einbußen aus den der

Stadt gehörenden Landgütern durch die beständige Einquartirung, die häu­ figen Durchzüge und den Untersassen auferlegte Podwoden rc.

Insbesondere

wird im 8 1 bemerkt: „Die Last der Einquartirung empfindet die Stadt um so viel mehr, da sie ohne Unterlaß davon gedrücket wird.

Bei den

Winterquartieren ist sie noch niemalen übersehen worden, sondern hat viel­ mehr insgemein das Standquartier Eines von der hohen Generalität sein

müssen und wenn die Armee ins Feld gegangen, so ist allezeit eine Be­ satzung zurückgelassen worden.

Diese mochte noch so schwach eingerichtet

sein, so diente eS zu keiner Erleichterung, weil währenden Feldzugs jenseit

der Weichsel alle die häufigen Commando und Offieiers, welche zu oder

von der Armee gehen, da sie hier die Brücke passiren, in der Stadt Rast­

tag halten und Quartier bekommen müssen.

Hierzu kommt noch, daß

nicht allein viele sogenannte Zeughäuser allhier angelegt sind,

sondern

auch daS Proviant-Comissariat seine Magazins hieselbst errichtet hat, mit­

hin die große Anzahl der Offiziere und Bedienten, welche dabei zu thun haben, anhero gezogen und die Einquartirung dadurch vergrößert worden. Noch überdies haben sich besonders dieses Jahr ungemein viele russische

Damen und Officiersfrauen, sogar derer Officier, die nicht ihr Stand­ quartier in dieser Stadt gehabt, anhero eingefunden, welche, da sie sogar

im Königreich Preußen die Logis bezahlen müssen,

allhier unentgeltlich

Quartier haben, und denen größtentheilS der Wirth noch das Holz und alles übrige, was sie benöthigt sind, ohne Bezahlung geben muß, aller Vorstellung und Einwendung ohngeachtet aber die Stadt solcher Gäste nicht entledigt werden tonn."

Unterm 6. November 1761

richteten Bürgermeister ujib Rath der

Stadt Thorn auch an den König und den Grafen Brühl dringliche Bitt­ schriften, bei der russischen Regierung für Erleichterung von der sie der

Vernichtung preisgebenden Bedrückung sich zu verwenden.

Bereits unterm

21. October hatte Brühl an Prasse geschrieben: „Soviel ist gewiß, daß der verschiedenen Mißhandlungen und Excesse, welche mit aller Schärfe

zu reprimiren sind, nicht zu gedenken, die russischen Anforderungen und

PrestationeS an verschiedenen Orten über die Maße gehen und bei Ent­ stehung einer billigen, auch zum Theil wirklich erfolgenden Vergütung,

denen, die sie betreffen, noch sensibler werden.

Die Noblesse klagt nicht

allein darüber, sondern die Städte leiden öfter- eben so viel und noch

mehr, wie denn zum Exempel die Stadt Thorn, daß man durch Weg-

nehmung aller ihrer Schiffsgefäße und begehrte Einräumung ihrer Speicher ihr ganzes die Stadt allein unterhaltendes Commercium hemmt, öfters

flehentlich angezeigt und um Hülfe und ernstliche Befehle gebeten hat." Darauf erwiderte Prasse am 3. November:

„Der Kanzler, dem ich die

Gerechtigkeit widerfahren lassen muß, daß er die Sache zu Herzen nimmt,

versicherte mich, daß deshalb an die russischen Befehlshaber schon die behörigen Ordres ergangen wären, und bezog sich zugleich auf das, was er mir vorhero schon darüber gesagt hätte.

Er zog gewaltig auf die Ge­

nerals los und bediente sich der eigenen Worte: daß nichts übrig bliebe, als einige davon zu henken, wenn sich anders nur die Kaiserin dazu ent­

schließen könnte, oder doch wenigstens sie zu degradiren. daß

Er sagte dabei,

die Conduite dieser Herren so irregulatr wäre, daß außer solcher

Schärfe, worzu aber leider seine Souveratne gar zu wenig geneigt sei,

sonst kein Mittel übrig bliebe, diese Herren zu besserer Beobachtung ihrer Schuldigkeit zu bringen.

Er klagte besonders über den Abgang hinläng­

licher Rapports von ihnen und äußerte, daß es nun schon fast dahin ge­ kommen sei, daß er fast von Allem, was bei der Armee vorgtnge, durch den Ambassadeur (Grafen Mercy) oder mich tnformiret werden müsse rc.

Keine Rechnungen würden auch nicht abgelegt.

Es wäre nicht zu be­

greifen, wo die vielen Millionen hingekommen, die man zur Armee ge­ schickt, wo cS doch an Allem fehle und Niemand bezahlt werde."

„Eben

dasselbe wiederholte er mir gestern als ich ihm zufolge Ew. Exc. neuesten

Depeschen vom 21. praet. abermals dieser Sachen wegen angeredet hatte und wo er die Ausdrücke über das Chapitre der Generals so wenig me-

nagirte, daß er sogar öffentlich und in Gegenwart vieler Personen mit Verachtung von ihnen sprach."

So also, stand eS damals, nach den eigenen Aeußerungen des russi­ schen Großkanzlers mit den Aussichten durch die russischen Feldherrn gegen die von ihren Truppen in Polen verübten Unbillen sich Schutz verschaffen

zu können.

Im Uebrigen blieb die Politik aller nachfolgenden russischen

Oberfeldherren im Wesentlichen dieselbe, wie die ihres Vorgängers, des

Feldmarschalls Apraxin, eine durch die Rücksichten, die sie auf den jungen

Sächsisch-Polnische Beziehungen während des siebenjährigen Krieges

16

Hof zu nehmen hatten, ihren Willen für das zur Zeit ihnen Obliegende lähmende.

Insbesondere war man zur Zeit des eben erwähnten Berichts

PrasseS vom 3. November mit dem Feldmarschall Butturlin in Petersburg durchgängig so mißvergnügt, daß man im Begriff stand, ihm das Com-

mando zu nehmen.

Ausführlichere Auskunft über diese Verhältnisse gibt

unS PrasseS Depesche vom 22. December 1761.

„Die Abfertigung deS

CurierS", heißt es da, „der nach meiner jüngsten Anzeige die Ordre zur Anherkunft Butturlins überbringen sollte,

ist wegen der dazwischen ge­

kommenen Krankheit der Kaiserin noch unterblieben, mithin weiß Niemand,

ob er endlich noch anhero kommen wird oder nicht.

Unterdessen gibt unter

der Hand der Kammerherr Schuwalow sich viele Mühe,

dem Grafen

Soltykow das Commando der Armee wieder zu verschaffen, welches, wenn

es geschehen sollte, ein groß Unglück wär, da dieser Feldmarschall wider die sämmtlichen Höfe der Allianz, besonders über den Wienerischen, denen

er seine Absetzung zuschreibt, sehr aufgebracht ist und weder den Willen, noch die Geschicklichkeit hat, etwas zu thun.

Es ist dahero der Ambaffadeur

und ich, mit dem ich darunter de concert gehe, darauf bedacht, so weit es

mit guter und unschädlicher Art geschehen kann, alles Dienliche anzuwenden, um den Feldmarschall Butturlin bei dem Commando zu erhalten, welcher,

ob er wohl vielleicht auch nicht habiler als jener, doch geschmeidiger ist, und wenigstens den Willen hat, etwas zu thun, auch sich sonst den guten

Absichten der Alliirten nach Möglichkeit pretiret hat und noch pretiret." „Der General Rumiänzow hat auch einen starken Anhang hieselbst,

der sich bemühet, ihm das Commando zu verschaffen und zwar arbeitet außer seiner Familie, der junge Hof selbst daran und eS scheint, daß sich der Baron Breteuil

auch unter der Hand mit darum bemühe, und be­

sonders auf sich genommen habe, den Kammerherrn Schuwalow darzu geneigt zu machen, wie denn überhaupt ernannter Baron, da er von der Kaiserin nicht gouttret ist, sich

Prinzessin attachiret, zu gewinnen.

an den jungen Hof und besonders die

auch bereits ziemlich reussiret hat, ihr Wohlwollen

Ob der Baron Breteuil daran gut oder übel thut, lasse

ich dahin gestellt sein, im Grunde aber taugen alle diese TripotageS nichts.

Der Großkanzler selbst, der die Decision wegen deS Commando seiner Souveräne selbst, tote billig, überlässet, hält sich außer dem Spiel und diesem Exempel folgen der Ambassadeur und ich, tote denn, wenn nur anders Soltykow das Commando nicht erhält, eher dabei gewonnen als verloren werden dürfte, wenn es dem Grafen Rumiänzow

würde.

Das

einzige Bedenken

ist, daß dieser, der

übertragen

da wissen muß,

wie sehr der großfürstliche Hof und besonders der Großfürst persönlich vor Pre.ußen und England portiret ist, sich vielleicht nicht getrauen wird.

zutt russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.

17

mit einer gewissen vigueur wider Preußen zu agtren, wiewohl er darunter durch die OrdreS seiner Souveraine rectificiret werden kann."

„Das Schlimmste bet allen diesen Umständen ist diese-, daß die Ge­

sundheit der Kaiserin täglich ab- und des Großfürsten Ansehen oder viel­ mehr die Furcht vor ihm, denn er ist nichts weniger als geliebt, bei

Jedermann zunimmt.

Vorgestern ist die Kaiserin so schlecht gewesen, daß

man um ihr Leben besorgt war rc."

„Gott wolle uns doch diese Prin­

zessin noch einige Zeit erhalten, allein überlebet sie diese Krankheit, so

müssen auch die alliirten Höfe keine Zett mehr verabsäumen, sondern ein jeder da- äußerste anwenden, um den jetzigen Krieg zu Ende zu bringen, als der ein ganz anderes Ansehen erhalten würde,

wenn diese wohlge­

sinnte und sanfte Prinzessin die Schuld der Natur bezahlen sollte."

Die der Kaiserin gestellte Lebensfrist sollte nur eine vierzehntägige

noch sein.

Elisabeth starb am 5. Januar 1762.

So lange sie lebte, bis

zu ihrem letzten Athemzuge stagnirte in Rußland Alle- durch die Lähmung

deS höchsten StaatSwillenS, der nicht einmal in irgend welcher, an sich auch noch so verfehlten Richtung perfekt zu werden und das vorgesteckte Ziel zu erreichen vermochte, wegen des inneren Widerspruchs zweier sich durchkreuzender Potenzen, von denen die Eine berechtigte, von der Kaiserin vertretene in den wichtigsten Fragen der Politik eine zwar zur Schau ge­

stellte, aber nur scheinbare Obedtenz fand, die andere dagegen, der junge Hof. wenngleich einer nur heimlichen, so doch zugleich in den wichtigsten

Dingen den AuSschlag gebenden Unterwürfigkeit sich zu erfreuen hatte. Es bleibt unS schließlich übrig, noch besonders in Betracht zu ziehen, wie denn die in Polen gründlich verfahrene Brühlsche Politik, deren sächsi­

schen AcquisitionSgelüsten eS auch bisher schlecht genug ergangen war, die letzten Stadien der Regierung Elisabeths noch dazu benutzte, das in dieser

Beziehung Mißglückte durch erneute Versuche, soweit irgend thunlich, ein­ zuholen und gut zu machen. 7. Am unverfänglichsten schien eS, auf Rußlands Schutz zu rechnen, wo

eS nur darauf ankam, feine Großmuth in Anspruch zu nehmen, ohne daß man dabei Gefahr lief, der eigenen Eroberungssucht dieser Großmacht

entgegen

treten zu müssen, mit anderen Worten, ihre Unterstützung in

Anspruch zu nehmen, um dem sächsischen Kurhause, abgesehen vom König­ reich Preußen im engeren Sinne, Entschädigungen auf Kosten und ver­

mittelst preußischer und sonstiger Territorien deutschen Reichsgebietes zu-

zuweUden, wie namentlich durch die Einverleibung Erfurts in daS Kurfürstenthum

Sachsen und durch eine angemessene Versorgung der kgl.

Preußische Jahrbücher. 58b. XLVIII. Heft 1.

2

Sächsisch-Polnische Beziehungen während des siebenjährigen Krieges

18

polnisch-kurfürstlich-sächsischen Prinzen Albert und Clemens durch Verleihung geistlicher Vacanzen. versucht gelassen.

Und auch diesen Weg einzuschlagen, wurde nicht un­

Zwar war Prasse auf eine neuerdings unterm 2./13. De­

cember 1760 eingereichte Denkschrift „über die dem Könige von Polen als

Kurfürsten von Sachsen bei dem künftigen Frieden zu Seiner Entschädi­

gung und Sicherstellung zu. verschaffenden hohen Bundesgenossen festzusetzenden

und zum voraus unter den

Bedingungen"

vom

Großkanzler

Woronzow bereits unterm 29. December 1760 (9. Januar 1761) die im Wesentlichen dahin gehende Antwort ertheilt worden:

„daß die Kaiserin

darüber, was die eigentlich für den König von Polen zu bestimmenden Friedensbedingungen betreffe, sich nicht eher erklären könne, als bis je nach dem Ausschlag der Waffen die Beschaffenheit der Umstände zulassen

werde,

das Nöthige deshalb

mit den Ministern der übrigen alliirten

Mächte in besonders anzustellenden Conferenzen zu verabreden."

Trotzdem

aber glaubte Brühl unmittelbar nach diesem Bescheid nicht zögern zu dürfen, gleich jetzt wieder den russischen Hof als Minimum der sächsischen

Forderungen nachdrücklichst jene bereits im Jahre 1757 auf Grund des russisch-österreichischen TractatS vom 2. Februar des genannten Jahres dem

sächsischen Hof wenigstens indirect, wenn auch nicht formell von diesen beiden Mächten in Aussicht gestellten Entschädigungen in Erinnerung bringen zu lassen (Warschau, 28. Januar 1761).

ES drängte ihn um so mehr seine

Wünsche nicht zurückzuhalten, als ihm soeben durch den Grafen Flemming in Wien war mitgetheilt worden, daß höchst unerwartet der französische

Hof dem dortigen Hof,

sowie dem dortigen russischen Gesandten seine

Dispositionen und Anträge zu einem baldigen Generalfrteden zu erkennen gegeben hatte (vgl. Arneth VI, 217 ff.).

Und wenngleich nach den Aeuße­

rungen Flemmings sowohl der Graf Kaunitz wie die Kaiserin-Königin über dieses unzeitige Verlangen und befremdende Verhalten des Königs

von Frankreich sich einigermaßen bestürzt gezeigt und dabei Kaunitz sehr

entschieden hatte merken lassen, daß des dortigen Hofes erstes Anrathen bei dem russisch-kaiserlichen Hof darauf gerichtet sein solle, zu der stand­

haften und vigoureusen Fortsetzung des Krieges bundesmäßig zu animiren, so hielt Brühl es doch auch bei einer kaum zweifelhaften Geneigtheit der Kaiserin von Rußland

rathsam,

zur Fortsetzung des Krieges auf alle Fälle für

unverweilt das sächsische. Interesse in Ansehung einer billigen

Entschädigung

dem dortigen Hofe inständigst anzuempfehlen.

Er über­

sendete daher (21. Febr. 1761) Prasse die Copien der ihm von diesem und vom Grafen Poniatowski im Jahre 1757 zugefertigten Aktenstücke, mit dem Auftrage, sich jetzt

derselben am Petersburger Hofe für das dem

sächfffchen schon damals in Aussicht Gestellte als beweiskräftiger Docu-

zum russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschewmente zu bedienen.

19

Dabei motivirte er in eigenthümlicher Weise, warum

Sachsen, abgesehen von dem damals bestimmt namhaft Gemachten auf Gmnd des gleichfalls in Aussicht gestellten Mehr jetzt zunächst, um ein

schickliches dedommagement durch Erfurt zu erhalten, die guten Dienste

Rußlands in Anspruch nchmen müsse: Frankreich, ließ er sich verlauten, habe zwar sogleich die Idee goutirt, daß der Kurfürst zu Mainz die Stadt

und Zugehör von Erfurt an Sachsen abtreten könne, worauf das sächsische Kurhaus ohnehin älter gegründete Ansprüche habe, wogegen dem Erzstiste

Mainz Paderborn auf beständig etnzuverletben sei, ja, der französische Hof habe daS auch bereits dem kaiserlichen Hof zu Wien im Vertrauen zu er­

kennen gegeben, dieser aber behandele alle die Verfassung deS deutschen Reichs berührenden Sachen mit allzugroßer Vorsicht, als daß von seinem Beitritt viel zu hoffen sei.

Der sächsische Hof sei wegen seiner eigenen

Verbindlichkeiten bet der deutschen Reichsverfassung nicht in der Lage, der­ gleichen in Anwurf zu bringen.

DaS beste würde also sein, wenn die

Krone England dieses Anliegen als schickliches ExpedienS bet den FriedenSconditionen an die Hand geben wollte und der russische Hof würde am

allerunbedenklichsten und nachdrücklichsten an daS englische Ministerium dergleichen Insinuationen und Ideen gelangen lassen können, da selbiger

mit den deutschen Gesetzen in keiner Verbindlichkeit stehe, daS Beste der Sachen bei einem künftigen Frieden allein zum Augenmerk habe und

Sachsen besonders nach Billigkeit zu favortsiren und zu möglichster Ent­ schädigung zu verhelfen sich großmüthig geneigt declarirt habe (9. April 1761).

Prasse wurde dabei ausdrücklich zur Pflicht gemacht, wenn er zu­

nächst in geheimer Mittheilung den Großkanzler ersuche, diese Angelegen­ heit besonders durch die russischen Gesandten in Wien und Versailles be­

treiben zu lassen, nicht zu verrathen, daß sie ursprünglich vom sächsischen Hof sei in Anregung gebracht worden (6. April 1761).

Inzwischen hatte

Prasse sich bereits in der Lage gesehen, eine vom 16./27. März 1761 datirte Note Woronzows zu übersenden, des Inhalts, „daß man betreffend die diesseitige Mitwirkung beim Wienerischen und ftanzösischen Hofe" zur

Erreichung des Endzwecks, den königlich polnischen und kursächsischen Prinze» Albert und Clemens und zwar ersterem zur Erhaltung des durch Absterben

des Kurfürsten von Köln erledigten Hochmeisterthums von dem teutschen Orden im Römischen Reich, dem zweiten aber zu einem oder anderen derer vacanten geistichen b'eneficiorum zu verhelfen, hiesigerseits nicht unterlassen wird, die an gedachten Höfen stehende russisch-kaiserliche Mi-

nistres mit solchen Verhaltungsbefehlen zu versehen, die dem Verlangen

des Königs von Polen Majestät vollkommen gemäß sind."

Darauf wurde

Praffe belobt für sein kluges Verhalten, „die schickliche Art, womit er bet 2*

Sachfisch-Polnische Beziehungen während deß stebenjährigen Krieges

20 dem

die Versicherung Ihre Kgl. Maj. jetzo und künftiger

Großkanzler

effektiven Erkenntlichkeit angebracht habe.

Er solle nicht unterlassen, bei

sich ergebender guter Gelegenheit zu bekräftigen, daß der Herr Großkanzler „auf diese wohlverdienten kgl. Gnadenbezeigungen in Proportion derer

uns durch seinen Hof uns zufließenden soulagemens allemal große Rech­ nung machen kann; man verhoffe, daß die dermalen seiner Frau Gemahlin

zugedachte Galanterie einer Porcelcin-Service wenigstens von der Realität unserer Gedenkungsart einen kleinen Vorgeschmack geben und nicht unan­ genehm sein dürfte" (6. April 1761).

Zunächst handelte es sich vor Allem darum, wie viel von den gewün­ schten Entschädigungen auf den FriedenSconferenzen sich würde durchsetzen

lassen, welche in dem Zeitraum vom 1. bis zum 15. Juli zu Augsburg eröffnen zu wollen die zu Paris anwesenden Gesandten der verbündeten

Brächte

dem Herzog

mit

von Choiseul sich verständigt hatten (Arneth

VI, 225).

Zu den Vertretern Rußlands auf diesem Congreß waren der dama­ lige Gesandte in Wien Graf Keyserling und der Kammerherr Tscherny-

schew auSersehen worden. tersburg

wie

für diese Minister gehabt.

Die sowohl von der StaatSconferenz zu Pe­

der

von

Kaiserin

hatte

Elisabeth

genehmigten Instructionen

der Geheime Rath

von

Groß zu verfassen

Es war seine letzte Arbeit im Collegium der auswärtigen An­

gelegenheiten gewesen, vor seiner Entsendung nach dem Haag, wohin er

sich mußte schicken lassen trotz seiner vorzüglichen Befähigung zu den so viel wichtigeren in Augsburg bevorstehenden Verhandlungen, weil er für

den Kammerherrn Schuwalow nicht genehm war als seinen Wünschen sich nicht genugsam anschmiegend und schon als Ausländer (12. und 17. Juni

7. Juli 61).

Nach diesen Instructionen sollte daS sächsische Jntereffe

namentlich dadurch gewahrt werden, daß dem Kurfürsten-König, wenn ein

MehrereS nicht zu erhalten stünde, der Saalkreis und in der Lausitz der CotbuS'sche

und

der

Peitz'sche

Kreis

nebst

brandenburgschen Landen abgetreten würde, die

Stadt Erfurt

betreffenden Punkt

den

übrigen

daselbstigen

wie man denn auch den

in derselben

aufzunehmen nicht

Unterlasten hatte (12. und 21. Juni. 61). Daneben versprach Woronzow Prasse noch

besonders,

auch die an die russischen Gesandten zu Wien

und in Frankreich ergangenen OrdreS, wegen eines vor dem Prinzen

Clemens

zu erlangenden BiSthumS in Westphahlen und besonders von

Münster nychmalS zu wiederholen und etnzuschärfen.

Aber abgesehen von

den an erster Stelle maßgebenden Kriegsereignissen, konnte Prasse doch erst recht von der damaligen bundesgenossenschaftlichen Beschaffenheit der

russischen Protection für daS sächsische Interesse sich einen nur im höchsten

Grad unsicheren Gewinn versprechen, und sehr deutlich drückt sich das

schon in der Schilderung aus welche er seinem Prinzipal von den Persön­ lichkeiten entwirft, auf die eS zunächst bei den diplomatischen Verhandlun­

gen wesentlich ankommen werde.

„Bon den beiden nach Augsburg ernann­

ten Ministern, berichtet er (17. Juni 61) hat der erste, der Graf Kahserling überhaupt in Ansehung des

gegenwärtigen Krieges so sonderbare Ge­

danken, daß sie theils schon Schwäche und Alter verrathen, theils aber vorher sehen lassen, daß man auf ihn eben nicht sonderlich werde rechnen

AlS letzthin der Baron von Fersen durch Wien gegangen, hat

können.

er ihm auS dem Propheten Jesaia zu beweisen gesucht, daß dieser Krieg

ein unrechter Krieg auf unsrer Seite wäre.

Er ist nächstdem wider die

Franzosen bis zum Lächerlichen eingenommen und aus diesem Grunde ist er auch den ganzen Krieg hindurch von dem secreto der Affairen ausge­ schlossen geblieben und nur seit ohngefähr sechs,

seine Activttät wieder erhalten.

acht Monaten hat er

Die Perspective, daß er nach geendigtem

Congreß gänzlich abgerusen und nicht weiter werde employiret werden,

wird ihm unfehlbar sehr unangenehm sein.

Der Graf Tschernyschew ist

Ew. Exc. seines feurigen und etwas leichten Charakters wegen schon be­ kannt.

Auf seine Worte kann man selten Staat machen.

Vor uns möchte

er wohl ganz gute sentimens haben, allein da er nur mit seiner eigenen

Größe und der Vermehrung seines Glückes beschäftigt ist, so wird er sein Benehmen lediglich darnach auSmessen.

Er ist sehr wohl mit dem Groß­

kanzler daran, noch besser aber mit dem Kammerherrn Schuwalow und

man glaubet, daß er den ersteren oftmalen dem letzteren aufopfert.

Uebrt-

genS hat er von Affairen wenig oder keine Kenntniß, auch keine Erfah­ rung, aber desto mehr sufficanse; ob er wohl unter beiden Ministern der

letzte, so wird doch hauptsächlich Alles auf ihm couilliren".

„Es sind

ihm zu seiner Reise 10,000 Rubels und ein monatlicher Gehalt von 5000 Rub. (soviel auch der Graf Keyserling erhält) und zur Unterhaltung einer griechischen Kirche noch besonders eine beträchtliche Summe zuge­

standen ,

auch ihm verschiedene

(12. Juni).

hiesige CavalierS

betgegeben worden"

Und weiter heißt es dann unterm 23. Juni 61..

„Der

Graf Tschernyschew ist am verwichnen Sonnabend nebst seiner Gemahlin

und sehr ansehnlicher suite von hier (von Augsburg) abgegangen.

ES

hat ihm sein guter vertrauter Freund der Kammerherr Schuwalow alle seine Brillanten mitgegeben, um desto mehr Figur machen zu können,

„man habe sich von ihm nicht viel Gutes zu versehen, um so weniger als er auch nicht die besten prineipia zu haben scheine".

Und schon jetzt, ein halbes Jahr vor dem Tode der Kaiserin ließ

Prasse insbesondere darüber, was man von den in Augsburg bevorstehen-

den Verhandlungen zu Gunsten des Königs-Kurfürsten in der russischen Metropole selbst zu erwarten habe, sich wörtlich folgendermaßen dahin

aus, daß „tanitzo in allen Sachen mehr als jemals schwer etwas auSzurichlen sei, da die Kaiserin seit einiger Zeit eine gewisse einsame Lebens­

art, welches wohl von ihren öfteren Unpäßlichkeiten Herkommen mag, er­ wählt haben und Niemand

bringen

könnte.

Sowie

vor sich lassen, aber

der etwas in Erinnerung

solchergestalt Alles langsam

hergehet,

eine gewisse Lethargie die Oberhand gewinnt, so frisch und herz­

und

haft gehet der junge Hof zu Werke und suchet durch seine Vorsprache Recommandalton

und

und seine Anhänger

daß

Jedermann

sich

desselben Hülfe und

indenen

höchsten

Collegien

einzuschieben, woraus die

nach

Alles durchzusetzen

übele Folge entstehet,

der ausgehenden Sonne wendet und unter

Unterstützung

zu

kommen

sich bemühet.

Hierzu

kommt die Furcht und Rücksicht auf das Zukünftige, dergestalt daß Nie­

mand sich unterstehet am allerhöchsten Ort die reine Wahrheit zu sagen, vielmehr bedacht ist, sich nur dem jungen Hof angenehm zu machen, welches

Spiel sonderlich der Kammerherr Schuwalow aufs höchste treibt." einzige Großkanzler"

„Der

(den man ja sächsischersetts für sich zu gewinnen

wenigstens die Worte nicht geschont hatte) „gehet seinen geraden Weg fort, allein er kann nicht durchdringen, und mag denn auch nicht auf sich nehmen

allzu offenbar dem Strom zu widerstehen" 17. Juni 61).

Und unter so bewandten Umständen kann der sächsische Geschäftsträger

auf die in Augsburg bevorstehenden Verhandlungen zurückkommend schließ­ lich selbst der Bemerkung sich nicht erwehren: „ob nun wohl diese puncta als ein Ultimatum und in dem Fall angenommen werden wollen, wenn

ein Mehreres nicht zu erhalten fein sollte, so werden doch Ew. Exc. selbst erleuchtet einsehen, daß unsere Alliirten und darunter vornehmlich Rußland sich jetzt selbst nicht in Stande zu sein erachten uns diejenigen äsävrn-

magemens zu verschaffen, die wir in unseren letzt übergebenen Memoiren gefordert oder auch die man uns theils in der Generalität (im allgemeinen) theils

mittelst der von beiden kaiserlichen Höfen ao. 1757 geschehenen

Declaration solemniter versprochen und »erhoffen gemacht (17. Juni 1761).

Auch schon früher, hin und wieder, hatte Prasse nicht Unterlasten, den wenig ermuthtgenden Erfolgen bezüglich der ihm vorgesteckten Zielpunkte Ausdruck zu geben, so unter Anderen am 5. October 1758 mit den Wor­

ten:

„durch diesen (den russischen) Hof müssen wir diejenigen Vortheile

erlangen, die wir bei einem künftigen Feinden erhoffen, haben wir diese

erlangt und mithin mehrere Macht gewonnen, so wird auch das daher entstehende Ansehen uns in Stand setzen, die Absichten, die wir wegen

des Künftigen haben, größtenthetls durch uns selbst auszuführen.

zum russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.

23

wenigstens wird unser Schicksal nicht mehr wie bisher von dem Eigen­ sinn unserer Feinde noch von der Unthätigkett unserer Freunde einzig und

allein abhängen". Die Brühlsche Politik aber freilich hatte mit ihren eben so unpatrtotischen, wie unnatürlichen sächsisch-polnisch-russischen Berzwickungen den

Grund und Boden der zu fortschreitender nationaler Machtentwtckelung berechtigten sächsisch-deutschen Eigenthümlichkeit unwtederherstellbar unter­

graben, zu Gunstm des großen Gegners der hoch über seiner Zett stehend, seine Macht sich schuf, auS dem festen, auf keinen fremden Beistand fußen­

den Willen heraus, das für die die deutsch- europäische Bedeutung seineStaateS als

nothwendig erkannte durch die opfermuthige Kraft seines

Volks ihm auch wirklich zu erringen. Im Bunde mit der Anhaltinerin, die als Kaiserin für Rußland in die Fußtapfen Peters des Großen trat,

zogen beide sich, Friedrich der

Große und Katharina II., die großmachtlichen Consequenzen, welche ihrer politischen Einsicht an die Hand gegeben wurden einerseits von dem kur­

sächsischen ParticulariSmuS Brühtschen Angedenkens, der mit dem Purpur der polnischen Wahlkrone verbrämt war, sowie andererseits von dem in­

dividuellen SouveränetätSdünkel der polnischen Magnaten, der sich kleidete in jene vaterlandverrätherischen, dem Zarthum des russischen Hofs unter­ breiteten RecommandationSgesuche.

Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika*). Selten sind

einem deutschen Gelehrten solche

Zeichen der Aner­

kennung zu Theil geworden, wie dem Dr. von Holst für seine Ver­ fassungsgeschichte der Vereinigten Staaten.

Wenige Monate nach dem

Erscheinen des ersten Bandes derselben (des zweiten Bandes von „Ver­

fassung und Demokratie der Vereinigten Staaten") verlieh ihm die Kgl. Preußische Akademie der Wissenschaften ein Reisestipendtum von 9000 Mk.,

um in den Amerikanischen Bibliotheken neues Material für die Fortsetzung

zu sammeln und

durch Bereisung der ihm noch nicht aus eigener An­

schauung bekannten Theile der Union neue und weitere Gesichtspunkte zu

und die Großhzl. Badische Regierung entband ihn zu dem

gewinnen,

gleichen Zweck in liberalster Weise für ein volles Jahr seiner Pflichten als akademischer Lehrer.

Ehrenvoller noch war eS für den deutschen Pro­

fessor, daß eine Amerikanische Universität — die Hopkins University in Baltimore — zweimal unter den glänzendsten Anerbietungen eine Beru­

fung an ihn ergehen ließ, und daß die Badische Regierung ihn erfreulicher

Weise vermochte, dieselbe beidemale abzulehnen.

In sechszehn vom September 1878 bis dahin 1879 in der „Allg. Zeitung"

und der

öffentlichten

„literarischen Beilage der Karlsruher Zeitung" ver­

interessanten und

lehrreichen „Briefen aus Nord-Amerika"

hat Dr. v. Holst einen Theil seiner Eindrücke und Beobachtungen auf seiner letzten Amerikanischen Reise

veröffentlicht.

Beinahe anderthalb

Jahre nach seiner Heimkehr bietet er uns in der Fortsetzung seines Werks die ersten Proben davon, wie er die ihm gewordene Gunst des Schicksals

wissenschaftlich verwerthet hat.

Zahlreiche Citate aus Biographien, Corre-

spondenzen, Zeitschriften, Broschüren und anderen Drucksachen, die, wenn *) BerfafsungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika seit der Administration Jackson'S, von Dr. H. v. Holst. 2. Band. Auch unter dem Titel: Verfassung und Demokratie der Bereinigten Staaten von Amerika. I. Theil, 3. Abtheilung. Berlin, Jul. Springer 1881. XV und 474 S.

überhaupt, jedenfalls nur in ganz vereinzelten Exemplaren nach Europa gelangt und selbst in unseren reichsten Bibliotheken nicht zu finden sind, beweisen, wie nothwendig ein neuer längerer Aufenthalt des BerfafferS in den Vereinigten Staaten war, um manche dunkle Punkte in der von

ihm geschilderten Periode aufzuklären.

Freilich will es mir scheinen,.als

ob seine anhaltende Beschäftigung mit den Schristett und Reden Ameri­ kanischer Politiker und sein persönlicher Verkehr mit denselben in einer

Beziehung auch einen nachtheiligen Einfluß geübt habe.

Denn nur daraus

vermag ich eS mir zu erklären, daß er, namentlich in der ersten Hälfte des neuen Bandes, häufig In dieselbe übele Gewohnheit verfällt, die diesen eigen ist: durch ungemessene Anhäufung von Bildern und sonstigem Rede­

schmuck daS Interesse, welches schon die Thatsachen selbst und eine ruhige

Beleuchtung derselben bieten würden, noch steigern zu wollen.

WaS beim

rasch verhallenden und mündlichen Bortrag ganz am Platze und sogar rathsam sein mag, ist es deshalb noch nicht bei der Geschichtsschreibung,

deren erstes Erforderniß, meines Erachtens, Klarheit und Einfachheit der

Anordnung und des Stils ist.

Friedrich Kapp*), Pauli**) und Andere,

die, wie ich, dem wissenschaftlichen Werth von Holst'S Arbeit volle Aner­ kennung zollen, haben bereits seine Schreibweise in den ftüheren Bänden

einer noch schärferen Kritik unterziehen zu müssen geglaubt.

ES ist er­

freulich diesem tadelnden Wort gleich einen entschiedenen Vorzug gegen­

über stellen zu können, welcher den neuen Band vor den vorangegangenen

aus zeichnet.

Er ist, obgleich wett weniger umfangreich, statt in 7, in

17 Capitel eingetheilt; die Seiten sind zum ersten Male mit Ueberschristen versehen, und ein ausreichend vollständiges JnhaltSverzeichniß erleichtert

in wiMommener Weise das Nachschlagen, bis das für den Schluß des

Werks vom Verleger in Aussicht gestellte Sachregister erscheint.

Leider

hat daS Bestreben des Verfassers, mit kurzen Worten ein wettschichtiges

Thema prägnant zu charakterisiren, ihn hier und da verleitet, Ueberschristen zu wählen, die gesucht erscheinen und theilweise nichts weniger als ge­ schmackvoll sind.

Es mag genügen, beispielsweise auf die Ueberschristen

der drei das „Doppelspiel gegen England und Mexico" behandelnden Ca­ pitel, hinzuweisen, von denen diejenige deS 8. Capitel lautet: „Der Theater­ donner verhallt und das Gewitter bricht loS." Ich erbitte mir um so lieber Raum für eine eingehende Besprechung

deS neuen Bandes von Holst'S großem Werk, weil eS dazu des Zurück­

gehens auf den Inhalt der beiden voraufgegangenen Theile desselben nicht bedarf, und weil ich durch mehr oder weniger intime Bekanntschaft mit *) v. Sybel'S historische Zeitschrift. N. F. V S. 265. ** ) Göttingische Gelehrte Anzeigen 1878. N. 25 S. 771.

fast allen darin hervortretenden bedeutenden Persönlichkeiten — nur die

drei großen Amerikanischen Staatsmänner John C. Calhoun, Henry Clay und Daniel Webster, so wie die beiden Präsidenten James K. Polk und Zach. Taylor waren bereits gestorben, ehe ich nach Amerika kam — in der Lage zu sein glaube, einige Beiträge zu deren richtiger Beurtheilung

und zur Beleuchtung der behandelten Vorgänge zu liefern. Der

vorliegende

Band

umfaßt

nur

den

kurzen

5 7a Jahren, vom Frühjahr 1845 bis zum Herbst 1850.

Zeitraum

von

Aber in den­

selben fallen die Differenzen mit England über die Oregonfrage,

der

Mexikanische Krieg und die durch diesen hervorgerllfenen innern Kämpfe über die Sklaverei in den neuerworbenen Territorien, welche durch das

unrühmliche Compromiß von 1850 ihre vorläufige, nur scheinbare Erle­ digung fanden.

Hätte v. Holst nicht neben dem neuen Titel „Verfassungs­

geschichte" auch den alten „Verfassung und Democratie" beibehalten und

in dem Vorwort zum zweiten Bande die Nothwendigkeit betont, den Ent­

wicklungsgang der Amerikanischen Democratie auch dorthin zu verfolgen, wo er nicht in ganz direktem Zusammenhänge mit der verfassungsrecht­

lichen Entwicklung steht,

so würde man es allerdings schwer begreifen,

wie er der Geschichte der Oregonfrage und des Mexikanischen Kriegs die

größere Hälfte eines Bandes widmen konnte.

Denn wenn auch einzelne

Verfassungsfragen, namentlich in Betreff der Rechte des Präsidenten, deS

CongreffeS und der militärischen Führer, eingehend darin erörtert sind,

so treten dieselben doch gegen die Darstellung der Ereignisse, sie auftauchten, völlig zurück.

bei denen

Aber eine ausführliche Besprechung der

einschlagenden Vorgänge war zum Verständniß der Zunahme der Dema­

gogie und der damals beginnenden Zersetzung der Parteien,

so wie zu

dem meines Wissens von dem Verfasser zum ersten Mal versuchten Nach­ weis des inneren Zusammenhangs der Oregonfrage mit dem Mexikanischen

Kriege unentbehrlich.

Ob der reichhaltige Stoff nicht übersichtlicher und

knapper hätte behandelt werden können, ist freilich eine andere Frage.

Ehe ich'übrigens auf die Sache selbst eingehe, ist es nöthig,

mit dem

Verfasser einen Blick auf die Lage der Dinge beim Regierungsantritt deS

Präsidenten Polk, die Zusammensetzung seines CabinetS und seine ersten

RegterungShandlungen zu werfen. Polk würde niemals von der demokratischen Partei als Candidat auf­ gestellt und zum Präsidenten gewählt sein, wenn die Parteiführer nicht in

ihm ein williges Werkzeug für ihre Zwecke zu finden geglaubt hätten. Er hatte das Losungswort der Partei: Anschluß von Texas an die Union

und Geltendmachung

des

„klaren und

unzweifelhaften"

Anspruchs auf

„ganz" Oregon bis zum 54° 40' acceptirt, war den südlichen Sklaven-

DerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

27

Haltern als ein eifriger Vertheidiger ihrer „häuslichen Einrichtungen"

bekannt, und hatte die Stimmen PennshlvanienS dadurch gewonnen, daß er, obgleich im Herzen Freihändler, die Auflage von Schutzzöllen nicht nur

für ein Recht, sondern unter Umständen sogar für die Pflicht der Bun­ desregierung erklärt hatte.

Das Alles klingt denn auch in der Rede wieder,

mit der er am 4. März 1845 sein hohes Amt antrat.

Die Möglichkeit,

ja Wahrscheinlichkeit ernster Differenzen mit Mexiko über die völlig un­

bestimmten Grenzen von Texas, dessen Annexion er als durch die Be-

schlüffe des CongresseS bis auf einige Formalien für erledigt anzusehen schien, blieb darin unerwähnt.

Dem Auslande wurde die Versicherung

ertheilt: daß die Welt nichts von Eroberungsgelüsten und militärischem

Ehrgeiz der Amerikanischen Regierung zu besorgen habe,

den Bedenken

mancher Mitbürger wurde mit der zweideutigen Bemerkung begegnet: daß die Union sicher bis zu den äußersten Enden ihrer territorialen Grenzen

ausgedehnt werden könne und dadurch nur um so fester werden würde. Die Rechtsansprüche der Vereinigten Staaten

auf Oregon wurden —

jedoch ohne das Wörtchen „ganz" zu gebrauchen — stark accentuirt, daran

aber die beruhigende Erklärung geknüpft: „gleiche und sorgfältige Gerech­ tigkeit sollte unseren gesummten Verkehr mit fremden Ländern charakteri-

siren."

Die Rede schloß mit einer an die Gegenpartei gerichteten cap-

tatio benevolentiae, der Zusicherung unparteiischer Handhabung der Ge­

setze und achtungsvoller Berücksichtigung ihrer Rechte und ihrer Ansichten. v. Holst charakterisirt den Präsidenten als einen Mann von makel­

losem Privatleben, von frostigem Ernst und kalter Höflichkeit, der nichts

vom Volksmanne an sich hatte, und dem es, wenngleich Gehorsam gegen daS Parteigebot

ein Hauptstück seines politischen Glaubensbekenntnisses

gewesen sei, nicht an hochgradigem Selbstbewußtsein gefehlt habe, weshalb

er denn auch nicht nur dem Namen und Rechte nach, sondern thatsächlich daS Haupt seiner Partei sein wollte.

Die Wahl der Mitglieder seines

CabinetS, die Besetzung der übrigen Aemter und manche seiner späteren Regierungshandlungen scheinen die Richtigkeit dieser Charakteristik zu be­ stätigen.

Kapp macht in seiner Geschichte der Sklaverei einmal die richtige

Bemerkung: eS gehe democratischen Präsidenten wie revolutionären Prä­ tendenten, beide hätten vor der Erlangung der höchsten Gewalt zu viel Hülfe in Anspruch zu nehmen und nach Erlangung derselben zu viele

Verdienste zu belohnen.

Man kann hinzufügen: daß ein Präsident der

Vereinigten Staaten, der eS seit Jackson'S Zeit nicht länger wie ein kon­

stitutioneller Monarch als seine erste Pflicht ansehen darf, über den Par­ teien zu stehen, sondern gerade als Repräsentant einer bestimmten Partei

BerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

28

an die Spitze gerufen wird, sich billiger Weise bei der Bildung seines Cabtnets zunächst fragen müßte: welches Ziel die Partei im Auge hatte, als sie ihn auf den Schild erhob, und welche Männer am erfolgreichsten

und eifrigsten dazu beigetragen hatten, ward.

daß gerade dieses Ziel erstrebt

Polk hielt sich nicht unbedingt an solche Rücksichten gebunden.

Er

behielt Tyler'ö ihm selbst weit überlegenen Staatssecretär Calhoun, in

dessen Person sich das Parteiprogramm am bestimmtesten verkörperte, nicht

bei, weil er wußte, daß dieser sich niemals einem Andern völlig unter­ und weil er selbst nicht gewillt war, sich mit der Rolle

ordnen werde,

eines Statisten in der auswärtigen Politik abfinden zu lassen.

Er ließ

die angesehensten Männer des van Buren'schen Flügels der democratischen

Partei, ungeachtet der ihm für seine Erwählung gewährten Unterstützung, unberücksichtigt und

eigenen Partei.

säte auch noch in anderer Weise Zwietracht in der

Aber er berief immerhin sehr hervorragende Demokraten

in seinen Rath, auf deren kräftiges Zusammenwirken zur Durchführung

des Parteiprogramms er, wie verschieden auch die einzelnen Persönlichkeiten geartet sein mochten,

rechnen durfte und deren politische Capacität auch

der Verfasser anerkennen muß,

obgleich er dieselben, meines Erachtens,

nicht alle richtig charakterisirt.

Bis auf den politisch nicht hervortretenden Generalpostmeister Cave

Johnson — denselben, der im August 1860 eine seltene Unabhängigkeit

des Charakters bewies, als er als Vorsitzender der auf Grund der Con­ vention vom 4. Februar 1859 eingesetzten Commission sämmtliche Rekla­

mationen gegen Paraguay,

wegen deren Präsident Buchanan das Land

beinahe in Krieg verwickelt hätte, für unbegründet erklärte — habe ich

alle Mitglieder von Polk's Ministerium persönlich gekannt.

Ich glaube

deshalb Holst'S Urtheil über dieselben nicht mit Stillschweigen übergehen

zu dürfen. Was den Staatssecretär James Buchanan betrifft, der wohl nur deshalb

an die Spitze

des Cabinetö gestellt ward, um Pennsylvanien

einigermaßen dasür zu entschädigen, daß das Electoralvotum des StaatS

durch Trug für Polk erschlichen war, so glaube ich mich auf die Bemer­ kung beschränken zu können,

daß der Verfasser die kurze Charakteristik,

welche er bereits in dem vorangegangenen Bande (S. 451) von demselben

gegeben hat, so viel wahres dieselbe auch enthält, voraussichtlich noch we­ sentlich modificiren wird, wenn er im weiteren Verlauf seiner Arbeit die

Geschichte der Administration Buchanan'S als Präsidenten der Vereinigten Staaten (1857 bis 1861) erst in allen Einzelheiten zu prüfen Veranlassung

haben wird.

Er wird dann wahrscheinlich einige Schatten in dem Cha-

racterbilde noch mehr vertiefen, andererseits aber auch sich überzeugen, daß

Verfassung-geschichte der Bereinigten Staaten von Amerika. Buchanan bei

29

allen großen Schwächen mehr vom Staatsmann an sich

hatte als irgend einer seiner Vorgänger seit der Zeit von John Quincy Adams. In dem Bilde, welches der Verfasser von dem tüchtigen Finanzsecretär

Robert I. Walker von Mississippi, einem ebenso gescheuten wie schlauen

und heißblütigen Politiker, entwirft, vermisse ich nur die Erwähnung des Umstandes, daß Walker ein geborener Pennsylvanier war und durch sein

ganzes Verhalten die notorische Thatsache bestätigte, daß nördliche Männer,

wenn sie lange im Süden lebten, sich fast ausnahmslos mehr oder we­

niger mit der Sklaverei auSzuföhnen pflegten, häufig zu deren eifrigsten Fürsprechern wurden.

Völlig verschieden von Holst beurtheile ich dagegen den KrtegSsecretär Wm. L. Marcy.

ES gehört zu meinen angenehmsten Erinnerungen an

meinen Aufenthalt in Amerika, mit diesem höchst bedeutenden Mann wäh­

rend seiner vierjährigen Amtsführung als Staatssekretär deS Präsidenten

Pierce genau bekannt geworden zu sein und im Kreise seiner liebenswür­ digen

Familie,

wo seine Brummbären-Natur häufig

einem

köstlichen

trockenen Humor Platz machte und seine schöne allgemeine Bildung in

erfreulichster Weise zur Geltung kam, freundschaftlich verkehrt zu haben, v. Holst behauptet: der festgefügte Charakter, den Marcy znr Schau trug,

sei nicht seine wahre Natur, sondern eine angenommene Rolle gewesen; seine edele Naturanlage habe auf der politischen Bühne Schaden gelitten;

die centrale sittliche Idee, welche dem wirklichen Staatsmann unentbehrlich sei, habe ihm gefehlt, und er sei deshalb nie über den eminenten Parteipolitiker hinausgewachsen; sein Ehrgeiz, den Präsidentenstuhl zu besteigen,

habe ihn zum Schacher mit dem Moloch der Sklaverei verführt. scharfe VerdammungSurtheil, daö durch das Zugeständniß:

Dieses

Marcy

sei

später als Staatssecretär in seiner Thätigkeit bisweilen durch moralische und patriotische Motive mitbesttmmt worden, nicht wesentlich abgeschwächt wird, ist mir ein neuer Beweis dafür, daß der Verfasser häufig Gefahr

läuft, die Stellung, welche die von ihm besprochenen Personen zur Sclaven-

ftage einnehmen, zum einzigen oder doch zum hauptsächlichsten Maßstab

seines Urtheils zu

machen und dadurch ungerecht zu werden.

völlig unbeachtet, daß

Er , läßt

die Sclavenfrage doch immer nur eine einzelne,

wenn auch die wichtigste und ernsteste Frage für jeden Amerikanischen Po­ litiker jener Zeit war, und daß dieselbe neben der ethischen auch eine ju­

ristische Sette hatte, an welche sich gerade diejenigen Patrioten am festesten hielten, die, wie March, durchaus konservativ gesinnt waren, und deren klarem Blick es nicht entging, mit welchen Gefahren die steigende Agita­

tion der Freiheitsfreunde und die zunehmende Verschiebung deS Gleich-

30

BerfassluigSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

gewichts zwischen den freien und den Sklavenstaaten den Bestand der Union bedrohte.

Unleugbar war March aus der Schule der „Albany-

Regentschaft" hervorgegangen und hatte sich während seiner dreimaligen Amtsführung als Gouverneur des Staates New-Dork nicht gescheut, die

„Parteimaschine"

in vollem Maße zu benutzen.

Aber seine persönliche

unbestechliche Integrität ist selbst von seinen entschiedensten Gegnern nie­ mals angezweifelt, ihm vielmehr immer als höchste Tugend angerechnet. Den Ehrgeiz, nach der höchsten Würde in der Republik zu streben, hat

Marcy mit der Mehrzahl seiner hervorragendsten Landsleute, die das Ziel

ebenso wenig wie er erreichten,

mit Calhoun, Clay, Webster, Seward,

Chase, Sumner und vielen Anderen, getheilt, aber es wird sich nicht nach­ weisen lassen, daß dieser Ehrgeiz ihn verleitet habe, gegen seine bessere

Ueberzeugung dem Sclaveninteresse Concessionen zu machen.

Die Ehre,

die Macht und daö Ansehen seines Vaterlandes waren seine Leitsterne. Er war ein ganzer Mann,

den Willensstärke,

umfassende

Kenntnisse,

seltene Arbeitskraft, klares Urtheil, große Geschicklichkeit und unbedingte

Zuverlässigkeit auch für die höchste Stelle befähigten.

So ist er denn

auch später ein ausgezeichneter Minister des Auswärtigen geworden und

er würde in noch höherem Maße ein solcher gewesen sein, Formen,

wenn rauhe

über die man sich freilich der Sache wegen leicht hinwegsetzte,

ihm nicht den mündlichen Geschäftsverkehr mit den fremden Diplomaten

erschwert hätten, weshalb er es auch lieber sah, wenn diese schriftlich mit

ihm verhandelten.

Bei allen Völkerrechtslehrern hat Marcy'S Name einen

guten Klang; um die Förderung des Seerechts in Kriegszeiten hat er sich

große Verdienste erworben, und ihm in erster Linie ist die Beseitigung deS Sundzolls zu danken. — AIS ich Fünfvierteljahre nach seinem Tode,

im Herbst 1858, seinen Schwager H. George W. Newell, in Albany be­ suchte, fand ich denselben mit der Ordnung von Marcy'S reichhaltigem literarischen Nachlaß beschäftigt, und waS er mir damals aus dessen Tage­ büchern, vertraulichen Correspondenzen rc. vorläS, konnte nur dazu bei­

tragen, meine Hochachtung für den geschiedenen Amerikanischen Staatsmann

zu erhöhen.

ES scheint, daß Newell seine damalige Absicht, die Biographie

seines Schwagers zu schreiben und eine Auswahl aus jenen Schriftstücken zu veröffentlichen, nicht ausgeführt hat.

Mir ist eine solche Publication,

wenigstens nicht bekannt geworden, und auch v. Holst kann sie nicht gekannt

haben, sonst würde er anders über den sittlichen Werth deS Mannes ur­ theilen.

Zum Marineminister ernannte Polk den Historiker George Bancroft,

obgleich derselbe bis dahin seine Qualification für einen solchen Posten durch nichts dargethan hatte.

Der Verfasser meint deshalb auch: er sei

für eine diplomatische Mission geeigneter gewesen.

Schon im folgenden

Jahre wurde H. Bancroft zum Gesandten in London ernannt und später hat er lange in gleicher Eigenschaft in Berlin fungirt.

Holst'S Bemerkung

hat mich daran erinnert, daß H. Bancroft an beiden Orten bei den Ge­ lehrten den Ruf eines ausgezeichneten Diplomaten genoß, während Diplo­

maten mir sagten: er gelte für einen großen Gelehrten.

Seine persönliche

Liebenswürdigkeit habe ich von Niemand bestreiten hören.

DaS letzte Mitglied des CabinetS, den Generalanwalt John G. Mason

von Virginien, der bis dahin Tyler'S Marinemintster gewesen war und

1846, an Bancroft'S Stelle, abermals dieses Departement übernahm,

hat der Verfasser in seinen vielen vorzüglichen Eigenschaften wie in seinen Schwächen, glaube ich, durchaus richtig charaktertsirt.

Gerade so erschien

er mir, als ich ihn später als Gesandten des Präsidenten Pierce in Paris

kennen und schätzen lernte, wo er Marcy'S tüchtigster Mitarbeiter bei Be­ handlung der SeerechtSfrage war.

Die Namen aller dieser Männer waren an sich kein Programm, und Holst vergleicht das Cabinet deshalb mit einem Europäischen Beamten­ ministerium.

Ein Vorwurf, soll in dieser Bezeichnung nicht liegen.

Denn

bei der während des letzten Wahlkampfs hervorgetretenen inneren Zer­ rissenheit der democratischen Partei würde eS wohl nahezu unmöglich ge­ wesen sein, eine Regierung aus gleich befähigten Männern zu bilden, in

der die verschiedenen Schattirungen derselben ebenso gut vertreten gewesen wären, ohne

bei den Andersgesinnten noch größeren Anstoß zu erregen.

Daraus und aus der Persönlichkeit deS Präsidenten, der den Ausschlag

gegeben haben soll, erklärt sich denn auch die Rücksichtslosigkeit, mit welcher nach dem 13 Jahre früher (1832), bei Gelegenheit der Ernennung Martin

van Burens zum Gesandten in London, von Marcy so prägnant formulirten Grundsätze: „dem Sieger gehört die Beute", jetzt unter den Bun­

desbeamten aufgeräumt wurde.

Holst hat sein scharfes Urtheil über Polk'S

KriegSsecretär nicht attf jene Maxime begründet, die längst in weiten Kreisen bekannt war; aber er entwickelt in trefflicher Ausführung (©. 115) die Gefahren, die nothwendiger Weise im Laufe der Zeit auS dem vier­

jährigen Aemterwechsel für die Republik erwachsen mußten.

Läßt sich

doch ein guter, wenn nicht der größte Theil der tiefen Schäden deS heu­

tigen Amerikanischen StaatSwesenS darauf zurückführen, daß die AemterRotation immer mehr zum Angelpunkt der ganzen Politik geworden ist, die Beamten sich nicht länger als Beamte des gesammten Volks, sondern

als solche einer Partei ansehen, deren Interessen zu fördern sie für Pflicht

halten, die Politiker ihre Gefolgschaft durch die Aussicht auf die Spolien zusammenhalten und zu vermehren suchen.

Fast hat eS den Anschein, als

32

VerfassnngSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

ob man drüben zu spät zur Erkenntniß dieses Grundübels gelangt sei,

und daß weder die von guten Patrioten begründete „civil Service reform association“ *), noch die warme Empfehlung der Rückkehr zu den früheren

gesunden Grundsätzen der Aemterbesetzung,

welche Präsident HaheS in

seiner letzten Jahresbotschaft vom 6. December ausgesprochen hat, Erfolg

haben werde.

Hatte doch der neue Präsident, General Garfield, kein Be­

denken getragen, seinen Wählern in Ohio zu erklären, daß es für sie

nächst den von Gott selbst auferlegten Pflichten des Gehorsams keine hei­

ligern gebe als die, bei der Präsidentenwahl für den von der Partei auf­ gestellten Candidaten zu stimmen. — Doch ich will diesen Gegenstand und

die von dem Verfasser daran angeknüpften beachtungswerthen Bemerkungen

über den Zug zur Radikalisirung der Democratie, der sich darin wie in

den Bestrebungen äußerte, die Grundsätze der reinen Democratie auf die richterliche Gewalt anzuwenden, nicht weiter verfolgen,

Versuchung ist,

so groß auch die

die unlängst in Frankreich erfolgte Suspendirung der

Jnamovibtlität der Richter damit in Parallele zu stellen.

ES ist Zeit dazu

überzugehen, wie Präsident Polk die in seiner JnaugurationSrede ange­

deutete Politik praktisch zur Ausführung brachte. Die ungemeine Fülle des zum großen Theile neuen Details, welche v. Holst über die Entwicklung der Verhältnisse in Texas, die Oregonfrage,

den Ausbruch und den Verlauf des Mexikanischen Krieges, sowie die be­ züglichen Verhandlungen beibringt, ohne von Zeit zu Zeit den Gang der Ereignisse in großen Zügen zusammenzufassen, erschwert es dem Leser,

der mit den officiellen Actenstücken nicht bekannt ist oder vielleicht nicht

einmal

eine allgemeine Kenntniß der Hauptmomente besitzt,

sich ein klares Bild davon zu entwerfen.

ungemein,

Das ist um so mehr der Fall,

weil der Verfasser sich nicht nur naturgemäß bald auf diesem, bald auf

jenem Gebiete bewegen muß, sondern, um manche andere Vorgänge — die Zunahme der feindseligen Gesinnung gegen die Sclaverei im Norden; die Gesetze Süd-CarolinaS gegen farbige Seeleute'; die Aufnahme Jowa's

und Florida'« als Staaten; die Tariffrage rc. — nicht unberücksichtigt zu laffen, diese zwischendurch bespricht.

Ich will es versuchen, die Punkte,

auf die eS, meines Erachtens, vorzugsweise ankommt, in möglichster Kürze

zusammenzustellen und dabei diejenigen besonders hervorheben, rücksichtlich

deren ich nicht, oder doch nicht völlig, mit dem Verfasser einverstanden bin. Eine gemeinschaftliche Resolution vom 1. März 1845, durch welche

der Congreß die Annexion von Texas beschloß, hatte im Senat nur auf die Voraussetzung hin die Majorität erhalten, daß der Präsident keinen *) Siehe deren treffliches Statut (Constitution) in „the Nation“, Nr. 804 vom 25. November 1880 S. IX

Gebrauch davon mache, sondern in Gemäßheit der ihm zugleich ertheilten

Ermächtigung einen förmlichen Vertrag mit Texas zu vereinbaren suche und denselben dem Senat zur verfassungsmäßigen Mitgenehmigung vor­ Unbekümmert darum, instruirte Präsident Tyler am letzten Tage

lege.

seiner AmtSperiode,. 3. März, den Geschäftsträger bei der Regierung von

TexaS: dieser die Annexionsresolution zur Annahme zu unterbreiten,, da

er sich dafür und nicht für den Abschluß eines besonderen Vertrags ent­

schieden habe.

Polk befand sich also bei seinem Regierungsantritt einer Daß er da­

vollendeten Thatsache gegenüber und er beruhigte sich dabei.

durch ein den beiden Senatoren, von deren Stimmen die Annahme der Resolution abgehangen hatte, gegebenes bestimmtes Versprechen unerfüllt ließ, ist nach Holst's Darstellung mehr als wahrscheinlich.

Ich bezweifle,

daß eS in jenem Augenblicke noch in seiner Macht gestanden haben würde, die von Tyler ertheilte Ordre wieder rückgängig zu machen.

Offenbar

hätte er daS aber, wenn er sich nicht der Beschuldigung des Wortbruchs auSfetzen wollte, thun mässen, sobald es bekannt wurde, daß Texas, welches

in Folge der langen Verzögerung seiner Angelegenheit schon vorher daS

Vertrauen auf die Vereinigten Staaten verloren hatte und nicht geneigt war, sich, ohne irgend welche Bedingungen stellen zu können, annectiren zu lassen, wegen Anerkennung

handlungen getreten sei.

seiner Unabhängigkeit mit Mexico in Ver­

Wirklich kam eS am 29. März, unter der Ver­

mittlung von England und Frankreich,

zu einem Präliminarfrieden mit

Mexico, durch welchen die Unabhängigkeit von Texas anerkannt ward, dieses auf Annexion an einen- anderen Staat verzichtete, die Bestimmung

der Gränzen dem definitiven Frieden Vorbehalten und bestimmt ward, daß Gränzstreitigkeiten und sonstige Differenzen von Schiedsrichtern entschieden werden sollten.

Intriguen der Amerikanischen Partei

und völlig unbe­

rechtigte und unausführbare Versprechungen, welche die Bundesregierung

durch ihre officiellen und unoffictellen Agenten machen ließ, führten jedoch dazu, daß der Senat von Texas den herbeigewünschten und von Mexico

bereits ratificirten Frieden einstimmig verwarf, beide Häuser der Texa­ nischen Legislatur die Annexionsresolution des Amerikanischen CongresseS pure annahmen, und eine eigens M Entscheidung gewählte Convention

diesen Beschluß am 4. Juli ratihabirte. Damit würde die Texanische Frage bis auf den rein formellen Act

der Aufnahme des Staats in die Union durch Gesetz,

sein, wenn man sicher gewesen wäre, werde.

erledigt gewesen

daß Mexico sich dabei beruhigen

Trotzdem, daß dieses bereits im März den diplomatischen Verkehr

mit den Vereinigten Staaten abgebrochen hatte und nach verschiedenen früheren und jetzt erfolgenden Proclamationen und Erlassen der Regierung Preußische Jahrbücher. Bd. XLV11I. Heft 1.

3

34

BerfassnngSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

entschlossen schien, sich der Annexion mit Aufbietung aller Kräfte zu toibtr« daß diese Drohungen

setzen, glaubte doch im Grunde Niemand daran, ernstlich gemeint seien.

Die einzige wirkliche Gefahr lag in der Unbe­

stimmtheit der Gränzen von TexaS.

Nach Präsident Polk's zweiter JahreS-

botschaft vom 8. December 1846 und dessen specieller Botschaft an das

Repräsentantenhaus vom 24. Juli 1848 (StateSman'S Manual, Ausgabe

von 1853, III. S. 1655 und IV. S. 1747)£ hatte die Amerikanische Re­ gierung zwar gute, von v. Holst völlig ignorirte Gründe, den Rio Grande del Norte für die richtige Westgränze von Texas anzusehen; aber, abge­ sehen von dem Vertrage, welchen Sta. Anna während seiner Gefangenschaft

in Texas im Mai 1836 mit der dortigen Regierung abgeschlossen hatte,

war diese Gränze niemals von Mexico,

das

sogar militärische Befesti­

gungen am linken Ufer des Stromes unterhielt, anerkannt, und die Texa­ nischen Ansiedlungen erstreckten sich auch im Jahre 1845 noch nicht weit über die Linie des Flusses NueceS hinaus.

Die gemeinschaftliche Reso­

lution deS Amerikanischen CongresseS vom 1. März 1845 hatte deshalb

auch weislich die definitive Feststellung der Gränze den Verhandlungen der Bundesregierung mit anderen Regierungen vorbehalten, und — wie erwähnt — hatte auch der nicht ratifictrte Präliminarfrieden zwischen

Mexico und TexaS die Gränzfrage offen gelassen.

Daß das Amerika­

nische Kriegsdepartement schon im März, und von Neuem im Mai, den

in Lousiana stationirten General Zacharias Taylor instruirt hatte, sich mit Rücksicht auf die bevorstehende Annexion von TexaS zum Einmarsch in

den Staat und zur Vertheidigung desselben gegen Invasionen fremder Mächte und gegen Jndianereinfälle bereit zu halten, war sicherlich nicht

mehr als eine gebotene Vorsicht, wie sie unter ähnlichen Umständen von

jeder Regierung für Pflicht gehalten wäre.

Ich wenigstens vermag weder

darin noch in der am 24. Juni, unter emphatischer Betonung deS Wunsches, den Frieden erhalten zu sehen, an den Befehlshaber der Flottille im stillen

Meere erlassenen Instruction, sich auf die erste Kunde von der Kriegser­

klärung Mexico's sofort San Francisco'- und anderer Häfen zu bemäch­ tigen — wie Holst daS thut — ein sicheres Zeichen davon zu erblicken,

daß die Herbeiführung

eines Kriegs mit Mexico zum Zweck weiteren

Landerwerbs im Sclaveninteresse dadurch angebahnt werden sollte.

Noch

am 30. Juli erhielt Taylor den Befehl: Texas, soweit es von den Texa­ nern in Besitz genommen sei, zu besetzen, zu schützen und zu vertheidigen, bei seinen Maßnahmen aber von denjenigen Posten und Ansiedlungen ab­

zusehen, die

von Mexikanischen Truppen besetzt oder zur Zeit der An­

nexion nicht im Besitz von TexaS gewesen seien.

Die hinzugefügte Wei­

sung, sich dem Rio Grande, der schon in einer Ordre vom 15. Juni als

Gränze bezeichnet war, so weit zu nähern als die Klugheit es angezeigt ersckeinen lasse, welche der Verfasser damit nicht in Einklang zu bringen weiß, erklärt sich, meines Erachtens, auch abgesehen von einer gleich zu

erwähnenden politischen Erwägung, aus der bereits angeführten Ueber­ zeugung der Regierung, daß das Gebiet von Texas sich wirklich bi- an

diesen Fluß erstrecke.

Bon demselben Gesichtspunkte auS kann ich auch

den Bedenken kein Ausschlag gebendes Gewicht beilegen, welche Holst gegen

zwei weitere, dem General am 23. und 30. August 1845 ertheilte In­ structionen erhebt, durch welche derselbe benachrichtigt ward: daß der Uebergang ansehnlicher Mexikanischer Truppentheile über den Rio Grande oder

der Versuch dazu als Beginn der Feindseligkeiten anzusehen sei, und der

General solchenfalls, wenn er sich stark genug dazu fühle, nicht nur TexaS

zu vertheidigen, sondern den Feind über den Fluß zu verfolgen und wenn möglich MatamoraS zu nehmen habe.

Unzweifelhaft ist der Präsident der

Vereinigten Staaten verfassungsmäßig nicht berechttgt, auf eigene Hand zu bestimmen, was die Gränze derselben sei, — wie das auch Polk'S un­

mittelbare Nachfolger, Taylor und Fillmore, in besonderen Botschaften an den Senat vom 17. Juni und 6. August 1850 ausdrücklich anerkannt haben. Äber mir scheint, daß Polk das auch garnicht versucht hat, sondern nur nach richtigen politischen Grundsätzen verfuhr, als er sich den Vor­

theil, im Besitz deS Gebiets zu sein, über dessen Gränze mit Mexico zu verhandeln war, nicht entgehen lassen wollte.

Er konnte auch in diesem

Falle um so eher so verfahren, weil Mexico bis dahin noch nicht gerüstet und nicht einmal Einspruch dagegen erhoben hatte, daß General Taylor bereits Anfangs August sein Lager westlich vom NueceS bei Corpus Christi

aufgeschlagen hatte. Schon am 17. September ließ der

StaatSsecretatr Buchanan in

Mexiko ansragen, ob man bereit sei, einen „Gesandten" zu empfangen, um über „alle" schwebenden Fragen zu verhandeln.

Die Mexikanische

Regierung erwiderte am 15. Oktober: sie sei bereit einen „Commissair" (commissioner) zu empfangen, „um den gegenwärtigen Streit in fried­ licher, vernünftiger und ehrenhafter Weise zu schlichten", müsse aber zu­

gleich verlangen, daß das vor Vera Cruz liegende Amerikanische Ge­

schwader während der Verhandlungen zurückgezogen werde, damit eS nicht den Anschein habe, als ob Mexico unter dem Druck einer Bedrohung

handle.

Dem letzteren Verlangen entsprach — was v. Holst unerwähnt

läßt — die Amerikanische Regierung sofort (vergl. Jahresbotschaft vom 8. December 1846, StateSman'S Manual 1. c. IV. 1660), ließ dagegen die anderen Claufeln der Mexikanischen Antwort vollständig unbeachtet,

als ob ihr Vorschlag unbedingt angenommen wäre.

Bereits am Tage 3*

VerfafsungSgeschichte der Bereinigte» Staaten von Amerika.

36

nach Eingang der Mexikanischen Note, am 10. November, ernannte der

Präsident John Slidell — einen der späteren Helden der Trent-Affaire —

zum außerordentlichen Gesandten bei der Mexikanischen Regierung mit der

Vollmacht, alle Streitfragen zwischen den beiden Staaten, diejenige der Gränzen eingeschlossen, endgültig zum Austrag zu bringen.

Slidell'S In­

struction ging dahin: die älteren Geldforderungen Amerikanischer Glättbiger an Mexico in der Art mit der Frage der Gränzregulirung zu verbinden,

daß er der Mexicanischen Regierung das Anerbieten mache: die Ver­ einigten Staaten übernehmen selbst die Berichtigung dieser Forderungen

und

zahlen überdies

5 Millionen,

an Mexico für die Abtretung von Neu Mexico

oder für die Abtretung Nell Mexicos

und Californiens

25 Millionen Dollars.

Wie der Verfasser den angegebenen Inhalt der Instruction mit der Bemerkung begleiten kann: „diese Ausdeutung der Annexionsresolutionen ist vielleicht die glänzendste Leistung der JnterpretationSkunst, die die ganze

Weltgeschichte aufzuweisen hat", verstehe ich nicht.

Ich würde ihm Recht

geben, wenn es sich für die Vereinigten Staaten lediglich um die Regulirung der Gränzen von Texas

gehandelt hätte.

Die Amerikanische

Regierung würde aber offenbar geradezu pflichtwidrig gehandelt haben,

wenn sie diese Gelegenheit nicht benutzt hätte, seit langen Jahren be­ stehende, von Mexico in wiederholten Conventionen ausdrücklich als be­

gründet anerkannte und

nur theilweise noch angezweifelte Forderungen

Amerikanischer Bürger im liquiden Betrage von mehr als zwei Millionen

und im illiquiden von 3 bis 4 Millionen Dollars endlich definitiv aus­ zugleichen.

Daß der Wunsch, über die Gränzfrage nicht unabhängig von

der Frage der Schuldforderungen zu unterhandeln, berechtigt war, erkennt denn auch der Verfasser an einer späteren Stelle beiläufig an; aber er

unterläßt eö, näher auf die in Betracht kommenden Verhältnisse einzu­

gehen, obgleich Präsident Polk dieselben in seiner ersten JahreSbotschaft

vom 2. December 1845 und ungleich vollständiger noch in seiner zweiten vom 8. December 1846, unter Bezugnahme auf die betreffenden Verträge von 1831, 1839, 1840 und 1843 unwiderleglich klar dargelegt hat.

So

viel geht allerdings aus den an Slidell ertheilten Instructionen deutlich

hervor, daß Polk die Verhältnisse für günstig hielt, um Mexico zugleich

ein Kaufgeschäft über gewaltige Länderstrecken auf die Gefahr hin anzubteten, daß dies zum Kriege führen konnte, wenn die Mexicanische Re­ gierung es mit ihrer Ehre unvereinbar fand, darauf einzugehen, ohne vorher besiegt zu sein.

ES fehlt jedoch an allen und jeden Beweisen da­

für, daß der Präsident sich bei seinem Vorschläge, den ich weit davon ent­

fernt bin seinem ethischen Gehalte nach vertheidigen zu wollen, durch irgend

ein anderes Motiv als den Wunsch leiten ließ, die Macht und das An­ sehen der Vereinigten Staaten in großartigem Maße zu vermehren. — Einstweilen kam es übrigens noch garnicht zu eigentlichen Verhandlungen,

weil die Mexicanische Regierung sich am 21. December mit Recht weigerte,

H. Slidell als „Gesandten" zu empfangen.

Unmittelbar darauf wurde

der Präsident der Mexicanischen Republik Herrera durch General Paredes

deshalb gestürzt, weil man ihn im Verdacht hatte, eine Verständigung

mit den Bereinigten Staaten gesucht zu haben.

Slidell wurde nun zwar

beauftragt, bet der neuen interimistischen Regierung den Antrag auf Zu­

lassung zu

erneuern,

aber im März 1846' abermals aus demselben

Grunde zurückgewiesen.

Der bereits vor dem Eintreffen der Nachricht

von der ersten Abweisung deS Gesandten, in Voraussicht derselben am

13. Januar an General Taylor erlassene Befehl:

mit seiner gesammten

Macht an den Rio Grande vorzugehen, hatte Mexico nicht, wie Slidell, der das empfohlen, erwartet hatte, nachgiebiger, sondern nur einen güt­

lichen Vergleich vollends unmöglich gemacht.

Mexico wußte, daß es einen

Krieg mit den Bereinigten Staaten nicht zu scheuen brauchte, so lange diese sich nicht mit England wegen der brennend gewordenen Oregonfrage

auf welche ich nunmehr kurz eingehen muß, auseinandergesetzt hatten, oder mindestens eine Verständigung mit der Britttschen Regierung zuversichtlich

erwartet werden durfte. Als Präsident Polk in seiner Antrittsrede vom 4. März 1845 die

Rechtsansprüche der Vereinigten Staaten auf Oregon so scharf betonte,

hatten bereits seit langen Jahren Differenzen mit England über die Be­ sitzverhältnisse im Nordwesten Amerikas bestanden.

ES ist nicht nöthig,

hier die mehr alö zweifelhaften Rechtsmittel, auf welche beide Theile ihre Ansprüche stützten, und von denen die Amerikanischen jedenfalls die besseren

waren, näher zu erörtern.

Eine größere Bedeutung erhielten jene Gebiete

ohnehin erst 1805, als eine von der Amerikanischen Regierung ausge­ rüstete Expedition den mächtigen Columbia-Strom entdeckte, an welchem unser LandSmann I. I. Astor 1811 die nach ihm benannte und manchen

Lesern wahrscheinlich aus Washington Jrving'S gleichnamigem Buche be­ kannte erste Ansiedlung, die Bestand hatte, Astorla, gründete, um dort wenn

möglich den Pelzhandel und den Thee- und Seiden-Jmport auS China

und Japan zu monopolisiren.

Im October 1818 verständigten sich die

beiden Regierungen über eine Convention, nach welcher alles Land westlich vom Felsengebirge zehn Jahre lang den Angehörigen beider Länder, un­

beschadet ihrer Rechtsansprüche,

„frei und offen" stehen sollten.

Nach

manchen vergeblichen Zwischenverhandlungen wurde diese Convention am 6. August 1827, mit beiderseits freigelassener zwölfmonatlicher Kündigung,

Verfassluigsgeschichtc der Bereinigten Staate» von Amerika.

38

auf unbestimmte Zeit verlängert.

Thatsächlich war damals die Englische

Hudson'S Bay Company die einzige wirkliche Macht in jenem Gebiete;

aber die Gesellschaft suchte nicht das Land zu entwickeln, sondern nur eS auszunutze'n, und „die Tage der staatlichen Coloniegründungen waren be­

reits vorüber".

Bessere Keime der Entwicklungsfähigkeit zeigte eine 1832

im fruchtbaren Thäte des Wallamette gegründete Amerikanische Ansiedlung.

Immer deutlicher

erkannte man den Werth jener Gegenden

Fremont einen Paß

über daS Felsengebirge entdeckt,

eine

und seit

erfolgreiche

Caravane von Missouri nach Oregon 1844 die Ausführbarkeit einer Ver­ bindung mit dem fernen Westen erwiesen hatte, so daß sogar daS Project

der Anlage einer Eisenbahn nach Oregon an den Congreß gelangte, wurde der Wunsch, die Oregonfrage endlich definitiv erledigt zu sehn, allgemeiner

und stärker.

Alle gesetzgeberischen Anläufe, Maßregeln zum Schutz der

Amerikanischen Ansiedler zu ergreifen oder die Kündigung deS Vertrags von 1818/27 herbeizuführen, waren bis dahin vergeblich gewesen.

Nun

verlangte, wie schon erwähnt, die demokratische Partei bei der Präsidenten­ wahl von 1844 „ganz Oregon oder Krieg".

Präsident Tyler ließ im

Januar 1845 einen Antrag Englands, die Sache zür schiedsrichterlichen Entscheidung zu verstellen, ablehnen, und kaum zwei Monate später schien

der neue Präsident durch seine erste officielle Erklärung allen weiteren

Unterhandlungen ein für allemal ein Ende zu machen.

So wurde ganz

allgemein in England wie in den Vereinigten Staaten die Jnauguraladresse verstanden, Lord Aberdeen aber sprach im Englischen Oberhause

die feste Zuversicht aus, daß die Sache friedlich werde ausgetragen werden,

und er irrte sich darin nicht.

„Vielleicht wollte Polk, bemerkt von Holst,

nur alle Augen auf die große Faust lenken, die er nach Westen (England) hin machte, um unbemerkt zu einem Schlage nach Osten (Mexico) hin ausholen zu können."

Unmöglich ist das nicht, doch bin ich keineswegs

überzeugt davon.

Die Amerikanische Regierung hatte wiederholt den Versuch gemacht,

sich auf der Grundlage mit England zu vergleichen, daß der 49 Breite­ grad als Scheidelinie des beiderseitigen Gebiets

angenommen werde.

Alle diese Versuche waren jedoch daran gescheitert, daß die Englische Re­ gierung die freie Schiffahrt auf dem südlich von dieser Linie belegenen

Theile des Columbia verlangte und man sich nicht über die damit in Ver­ bindung stehenden weiteren Bedingungen verständigen konnte.

Polk hielt

sich durch die Politik seiner Vorgänge gebunden, im Sommer 1845 noch einmal einen friedlichen Ausgleich vorzuschlagen.

Er bot abermals die

Dheilungslinie des 49. Grades, jedoch ohne daS Recht der freien Schiff­ fahrt auf dem Columbia, und zugleich die Abtretung eines oder einiger

südlich von dieser Linie am Cap Quadra und auf Vancouver Island be­

legenen Häfen an.

Als dieser Vörschlag, wie nicht zu verwundern war,

ohne langes Besinnen Englischer SeitS M'ückgewiesen wurde, kehrte der

Präsident auf seinen früheren Standpunkt zurück.

Die Art, wie er dem­

nächst in seiner ersten Jahresbotschaft vom 2. December die ganze Sache dem Congreß vorlegte, an die Monroe-Doctrine erinnerte und — da er wußte, daß die verfassungsmäßige */3 Majorität des Senats für diesen

Schritt nicht zu erlangen war — die Kündigung des Vertrags von 1818/27

durch Gesetz beantragte, bald nachher zwei neue Anträge Englands auf schiedsrichterliche Entscheidung ablehnen ließ, und wie sofort Anhänger der Regierung.die Frage' der Wehrkraft der Vereinigten Staaten in Anrege brachten, versetzte die Börse und das Land in Schrecken.

An einen Krieg

mit England war übrigens schon deshalb nicht zu denken, weil die Vexeinigten Staaten thatsächlich nicht im Stande waren, einen solchen zu

führen, die Demokraten, trotz des stritten Wortlauts ihres letzten WahlprogrammS, in ihren Ansichten streng geographisch geschieden und auch

die Whigs nicht länger unter sich einig waren. — Man wußte längst,

daß Polk,

im Widerspruch mit allen seinen früheren hochtönenden Er­

klärungen, ganz bereit sei, die weitgehendsten Concessionen zu machen, als beide Häuser deS CongresseS sich nach endlosen Reden am 27. April über eine in der mildesten Form abgefaßte Resolution verständigten, wodurch der Präsident auctorisirt ward, „nach seiner DiScretion" die Convention

von 1818/27 zu kündigen.

Schon am folgenden Tage ward von dieser

Auctorisation Gebrauch gemacht, und bereits am 6. Juni legte der Eng­

lische Gesandte dem Staatssecretair Buchanan einen ConventionSentwurf vor, durch welchen sich England mit dem 49. Grade als Gränze und der freien Schiffahrt auf dem Columbia zufrieden erklärte.

Hätte man in

London gewußt, daß der Krieg mit Mexico inzwischen bereits ausgebrochen

war, so würde man wahrscheinlich mehr verlangt haben.

Dieses Krieges

wegen konnte andererseits auch Polk nicht zweifelhaft darüber sein, daß er

die Proposition annehmen müsse.

Er suchte seinen Rückzug dadurch zu

decken, daß er sich, statt selbst zu entscheiden, unter Berufung auf Präcedenzfälle aus den Zeiten Washingtons, den Rath des Senats erbat und sich mit dem Bemerken, daß seine eigenen Ansichten unverändert geblieben

seien, bereit erklärte, diesem Rathe gemäß zu handeln,

Polk habe nur Komödie gespielt.

v. Holst meint,

Auch ich bin kein Bewunderer seiner

Politik, aber mir scheint, man kann die ganze Art, wie der Präsident die

Oregonfrage behandelt hatte, mit gutem Grunde tadeln und dennoch an­ erkennen, daß er wie ein Patriot handelte, als er in diesem ernsten Augen­ blick seine eigene Ansicht zum Opfer brachte.

Am 12. Juni sprach sich

BerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

40

der Senat mit 38 gegen 12 Stimmen für den Abschluß der Convention

auS; am 15. wurde dieselbe unterzeichnet, und damit war für jetzt die

letzte große Streitfrage zwischen England und den Vereinigten Staaten bis auf wenige Formalien erledigt.

Wenn die Achtung vor Polk als

Staatsmann durch den getroffenen Ausgleich auch nicht erhöht werden

konnte, nahm das Amerikanische Volk doch keinen Anstoß daran, weil der­

selbe dem wahren Interesse des Landes vollkommen entsprach. Nuitmehr kann ich den unterbrochenen Faden der Darstellung der Mexikanischen Verwicklung wieder aufnehmen. In Folge des Befehls vom 13. Januar 1846 war General Taylor

am 11. März von Corpus Christi aufgebrochen und, ohne auf Widerstand

zu stoßen, am 28. MatamoraS gegenüber, am linken Ufer des Rio Grande

eingetroffen.

Bei den sofort eingeleiteten Pourparlers mit dem in Ma­

bezeichnete dieser das

tamoraS commandirenden Mexikanischen General

Vorrücken Taylors bis an den Fluß Amerikanische Delegirte

ankündtgte:

als FrtedenSbruch, daß

jeder

Versuch

während der

Mexikanischer

Truppen, den Strom „in feindseliger Haltung" zu überschreiten, mit Ge­ walt werde zurückgewiesen werden.

Beide Theile

waren aber deßun­

geachtet darin einverstanden, daß man sich noch im Frieden befinde.

Als

jedoch General Ampudia am 12. April die peremtorische Aufforderung an

Generol Taylor erließ:

Binnen 24 Stunden sein Lager abzubrechen und

an den Nueces zurückzuziehen, beantwortete der Amerikayische General, der bis dahin stets Tact und Mäßigung bewiesen hatte, dieselbe mit einer

kriegerischen Maßregel, zu der er weder durch seine Instruction noch nach der Amerikanischen Verfassung berechtigt war.

Obgleich der Befehl vom

13. Januar ihm ausdrücklich vorgeschrieben hatte, nicht ohne weitere An­

weisung zu versuchen, das gleiche Recht auf Beschiffung deS Rio Grande mit Gewalt durchzusetzen, that er noch mehr als dies und sperrte die

Mündung deS Stroms, um so durch Abschneidung

aller Zufuhr die

Mexikaner zu zwingen, entweder MatamoraS zu räumen oder ihrerseits

die Offensive zu ergreifen.

Das war der Beginn deS Krieges, der frei­

lich, auch wenn Taylor nicht die Initiative ergriffen hätte, schon wenige

Tage später von Mexikanischer Seite eröffnet worden wäre, da — waö Holst auffallender Weise unerwähnt läßt — Ampudia unzweifelhaft schon

vor Erlaß seiner Sommation vom 12. April einen vom 4. datirten Be­ fehl des Mexikanischen Kriegsministers in Händen hatte, der ihn anwteS sofort zum Angriff zu schreiten, und Präsident ParedeS am 18. in einem

direkten Schreiben an den Oberbefehlshaber der Mexikanischen Gränz­ armee die fernere Ordre gab, ohne Verzug „die Initiative gegen den

Feind zu ergreifen".

(Vgl. StateSman'S Manual 1. c. III. 1658).

Als

Ampudia die Wiederaufhebung der völkerrechtswidrigen Blockade verlangte, machte Taylor dies von dem vorgängigen Abschluß eines „Waffenstill­

standes" abhängig, weil Mexico für den „quasi Kriegszustand" verant­ wortlich sei.

Auf diesen wunderlichen Vorschlag ohne specielle Autori­

sation seiner Regierung einzugehen würde der Mexikanische General, auch

abgesehen von seiner erwähnten Instruction, wohl schwerlich in der Lage gewesen sein, und General Arista, der ihn am 24. April im Commando ersetzte, kündigte denn auch sofort General Taylor an: daß er die Feind­

seligkeiten als angefangen betrachte.

Schon am folgenden Tage floß bei

einem unbedeutenden Vorpostengefecht zwischen recognoScirenden Truppen­ theilen am linken Stromufer, welches die Amerikaner als ihr Gebiet be­ trachteten, das erste Blut.

Wie willkommen der Amerikanischen Regierung

das

eigenmächtige

Verfahren ihres Generals auch fein mochte, vermag ich nach allem Vor­

stehenden doch nicht zuzugeben, daß der Verfasser den von ihm versuchten Beweis dafür, daß Polk eS von Anfang an darauf abgesehen habe, den Congreß vor eine vollendete Thatsache zu stellen, in überzeugender Weise

erbracht hat. In einer speciellen Botschaft vom U. Mai 1846 kündigte der Prä­

sident dem Congreß an: daß sich die Vereinigten Staaten „durch die That Mexico'S im Kriegszustände befänden" („war exists by the act of Mexico

heraelf“), und beantragte „zur weiteren Behauptung unserer Rechte und

Vertheidigung unseres Gebiets" durch rasches Handeln das Vorhandensein

dieses Kriegszustandes anzuerkennen und der Executive die nöthigen Mittel zur Disposition zu stellen, um den Krieg kräftig fortzuführen und so den

Abschluß deS Friedens' zu beschleunigen,

v. Holst unterzieht diese Bot­

schaft einer scharfen, meiner Ansicht nach, einer zu scharfen Kritik.

ES

ist richtig, daß TaYlor'S eigenmächtiger Act, der zur Krisis geführt hatte, unbegreiflicher Weise darin nicht ausdrücklich erwähnt wird, und ich ver­

mag nicht zu sagen, ob die der Botschaft hinzugefügten Aktenstücke die

nöthige Aufklärung über diesen wichtigen Punkt gaben, da mir dieselben nicht zur Hand sind.

Andererseits enthält die Botschaft aber alle zur

Gewinnung eines Urtheils über die Sachlage nothwendigen Momente in ausreichender Vollständigkeit, wobei allerdings auf die auch nach meinem

Dafürhalten völlig gerechtfertigte Zurückweisung deö Gesandten Slidell

durch die Mexikanische Regierung ein ihr nicht zukommendeö Gewicht ge­

legt wird.

Unter Anderem

erwähnt

die Botschaft auch

die von dem

Verfasser mit Stillschweigen übergangene bedeutsame Thatsache, daß der

Congreß bereits selbst durch Gesetz vom 31. December 1845 anerkannt

habe:

daß das Gebiet jenseits des Nueces als Theil der Bereinigten

42

BerfassungSgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

Staaten in deren Steuersystem einbegriffen, und daß mit Zustimmung deS Senats ein Steuerbeamter (ein „surveyor to collect the revenue“), der

seinen Wohnsitz in diesem District habe, ernannt sei.

Daraus ergiebt

sich, daß die in der Resolution wegen der Annexion von Texas offen ge­

lassene Gränzfrage schon im Sinne der Regierung gesetzlich erledigt war, und der

Congreß,

wenn

er gleich

nach völkerrechtlichen

Grundsätzen

sicherlich nicht zu einem solchen einseitigen Beschluß berechtigt gewesen,

jedenfalls die Verantwortung mit der Regierung theilte.

Da dem Con­

greß allein das Recht zustand, darüber zu entscheiden, ob die Union sich in

Folge der am Rio Grande begonnenen Feindseligkeiten bereits im Kriege mit Mexico befinde, so würde, wie Holst bemerkt, in Polk'S Erklärung:

„war exists“, unzweifelhaft eine „unbefugte Anmaßung" liegen, wenn diese Erklärung nicht dadurch einen wesentlich anderen Charakter erhielte,

daß, nur durch wenige Zwischensätze davon getrennt, der schon erwähnte

Antrag darauf folgt: der Congreß möge den Kriegszustand anerkennen.

In der Verurthetlung deS unwürdigen Verhaltens des Congresses bei dieser Gelegenheit muß ich freilich dem Verfasser unbedingt beistimmen.

Ohne auch nur den Druck der Anlagen der Botschaft abzuwarten, und

fast ohne alle DiScussion, wurde, ungeachtet der gewichtigen Einwendungen einer Anzahl der hervorragendsten Männer gegen die beliebte Fassung, in

beiden Häusern mit überwiegender Majorität ein Gesetz beschlossen, wo­ durch für den „durch die That Mexico's" herbeigeführten Krieg 50,000 Freiwillige unb 10 Millionen Dollars bewilligt wurden.

Run begann der Krieg im Ernst und mit glänzenden Erfolgen für die Amerikaner.

Am 27. Juli wurde der Mexikanischen Regierung die

Anzeige gemacht: die Vereinigten Staaten seien zu Friedensverhandlungen bereit, und am 4. August ward dies dem Senat mit dem Bemerken mit»

getheilt: daß es richtig sein dürfte, Mexico für daS im Frieden abzu­ tretende Gränzland einen angemessenen

Preis zu bewilligen

und den

Präsidenten zu ermächtigen, einen Theil dieser Summe — der nach einer

ferneren Botschaft vom 8. zwei Millionen Dollars betragen sollte — schon vor der Ratification deS Friedensvertrags auszuzahlen.

ES würde

den Anhängern der Regierung gelungen sein, eine entsprechende Bill noch in aller Eile durchzudrücken, wenn nicht in Folge eines von dem demo­ kratischen Abgeordneten Wilmot von Pennshlvanien vorgeschlagenen und auch im Repräsentantenhause angenommenen Amendements, wornach in

allen von Mexico zu erwerbenden Gebieten die Sklaverei für immer aus­

geschlossen sein sollte, — daS sogenannte „Wilmot proviso“, auf das ich

später zurückkommen muß — am 10. August der Schluß deS Congresses

eingetreten wäre, ehe eS darüber im Senäte zur Abstimmung gekommen war.

Als der Congreß am 7. December 1846 wieder zusammentrat, be­

fand sich bereits die größere Hälfte Mexicos in Amerikanischen Händen.

General Taylor war, nachdem er Matamoraö genommen, siegreich bis Monterey vorgerückt.

General Kearny hatte von ganz Neu Mexico Besitz

ergriffen und sich auf Grund seiner keineswegs klar gefaßten Instructionen

angemaßt, in einer Proclamation vom 22. August sämmtliche Einwohner deS Gebiets ihrer Treupflicht gegen Mexico zu entbinden und sie „als

Bürger der Bereinigten Staaten in Anspruch zu nehmen".

Als er nach

Californien weiter marschirte, erreichte ihn am 6. October die Nachricht,

daß auch dieses bereits erobert sei.

Die dortigen Amerikanischen Befehls­

haber hatten eS ähnlich wie er selbst gemacht und resp, am 7. Juli und 17. August proclamirt: daß Californien — welches bereits am 4. Juli

auf den ittath Fremonts von einer Handvoll Amerikaner für eine unab­ hängige Republik erklärt war — hinfort ein Theil der Vereinigten Staaten

fein werde.

Daß sie damit den Wünschen ihrer Regierung, wenn auch

nicht dem Wortlaut ihrer Instructionen, entsprochen hatten, und daß der Erwerb jener Gebiete bereits seit der Unabhängigkeits-Erklärung Mexicos von Vielen erstrebt war, hat v. Holst, der dabei freilich die Ausführungen

in der früher erwähnten Botschaft vom 4. Juli 1848 unberücksichtigt läßt, unter Beibringung reichhaltigen neuen Materials in hohem Grade wahr­

scheinlich gemacht.

Seine Behauptung: daß „daö Verlangen nach Neu

Mexico und Californien der einzige Grund und der einzige Zweck deS

Krieges" gewesen sei, scheint mir freilich damit noch nicht erwiesen zu sein. Der Verfasser mißbilligt übrigens den Mexicantschen Krieg nicht deshalb,

weil er ein Eroberungskrieg gewesen, sondern wegen der Art, wie der­

selbe seiner Ansicht nach herbeigeführt und betrieben worden.

Er führt

aus: trotz aller ethischen und sonstigen Bedenken, die sich erheben ließen, hätten die Vereinigten Staaten nur eine große Culturaufgabe gelöst, als sie die Küste deS stillen MeereS eroberten, dadurch ihr Gebiet von Ocean

zu Ocean ausdehnten und das Bindeglied zwischen Europa und Asien wurden.

DieS sei ihre „offenbare weltgeschichtliche Bestimmung" (mani­

fest destiny) gewesen, und die Geschichte könne nicht nach der Privat­ moral urtheilen, sondern müsse es als Gesetz anerkennen, daß abgestorbene

Völker das Feld zu räumen hätten, wo sie in einem Jnteresienwtderstreit

mit Völkern zusammenstießen, die sich mit ihrer Culturmission in auf­ steigender Linie bewegten. — Sollten die Europäischen Großmächte sich

diese verführerisch klingende Theorie aneignen, so werden die Tage der

Türkei wohl gezählt fein.

In der Hoffnung, daß Sta Anna sich leichter als jeder andere Mexicanische Führer durch Geld und sonstige Mittel zum Abschluß eines vor-

Bersassmigsgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

44

thetlhaften Friedens werde gewinnen lassen, hatte Polk schon am 13. Mai, bei Anordnung der Blockade der Mexikanischen Küsten, zugleich den Be­ fehl ertheilt, den in Havana in der Verbannung lebenden General unbe­

hindert nach Mexico zurückkehren zu lassen. sich getäuscht.

In dieser Hoffnung hatte er

Statt an die Spitze einer noch nicht existirenden Friedens­

partei zu treten, hatte Sta Anna als Haupt der Kriegspartei die Regie­

rung von Mexico übernommen und am 31. August die Friedensvorschläge vom 27. Juli zurückgewiesen.

ES war deshalb klar, daß eS vorläufig

noch einer sehr entschiedenen Fortsetzung deS Krieges bedürfe, und darauf wurde denn auch in der Jahresbotschaft vom 8. December 1846 und in

verschiedenen besonderen Botschaften an den Congreß hingewirkt.

Zugleich

begegneten sich aber der Präsident und die Opposition in dem Wunsche,

bald möglichst Frieden zu schließen, und die Bewilligung der nunmehr, statt der früheren zwei, gewünschten drei Millionen Dollars würde daher auch keine Schwierigkeiten gehabt haben, wenn man sich über die Friedens­

bedingungen und deren Einfluß auf die inneren Verhältniffe hätte ver­ ständigen können. kraten,

Die große Majorität deS Volks, Whigs wie Demo­

verlangte Ausdehnung deS Gebiets;

aber bei der eigenartigen

Zwiespältigkeit der Vereinigten Staaten fragte es sich bei jeder Gebiets­ erwerbung, ob dieselbe zu Gunsten der freien oder der Sklavenstaaten erfolgen solle, und es fehlte auch nicht an angesehenen südlichen Whigs,

welche gegen jede Eroberung waren, weil sie darin eine Gefahr für die Sklavokratie erblickten. noch weiter

Ich werde nicht umhin können, diese Frage später

ztt berühren.

Erst unmittelbar bevor der Congreß

am

4. März 1847 sein gesetzliches Ende erreichte, kam das Gesetz wegen Be­

willigung der drei Millionen Dollars ohne weiteren Zusatz zu Stande. Damit war die Frage entschieden, daß im Frieden Territorialerwerbungen

gemacht werden sollten,

aber die Entscheidung der anderen Frage, wie

über dieselben hinsichtlich der Sclaverei disponirt werden solle resp, müsse,

war vertagt. Im November 1846 war der älteste, General, Winfield Scott, zum Oberbefehlshaber der im Felde stehenden Armee ernannt.

Wenn man,

wie Holst anführt, annahm, daß dies nur deshalb nicht schon früher ge­ schehen sei, weil der General als möglicher PräsidentschaftScandidat der Whigs bei der nächsten Wahl bezeichnet war, so hatten — waS ich, da

der Verfasser cs nicht thut, erwähnen zu müssen glaube — nur der Ver­ hältnisse Unkundige Polk in dieser Weise verdächtigen können.

Denn eine

specielle Botschaft deS Präsidenten an den Senat vom 8. Juni 1846

(Statesman'S Manual 1. c. III. 1629) ergiebt, daß derselbe dem General

bereits beim Ausbruch des Krieges am 13. Mat den Oberbefehl über-

diese Ordre nur in Folge eines Schreibens Scotts

und

tragen

25. Mai wieder zurückgenommen hatte.

vom

Biel wahrscheinlicher ist es, daß

Rücksichten auf den verdienten General Taylor, der gleichfalls von den

Whigs als Candidat inS Auge gefaßt war, davon abgehalten hatten, schon früher auf diese Ernenmlng zurückzukommen. — Am 29. März 1847 nahm General Scott Vera Cruz und daS Fort San Juan d'Ulloa und nach

mehreren siegreichen Schlachten hielt er am 14. September seinen Einzug in die Hauptstadt Mexico.

Der Friede war damit noch nicht erkämpft.

Die bisherigen Versuche, dazu zu gelangen, waren an der noch nicht gcbeilgten

Hartnäckigkeit

der

Mexicanischen

Regierung

gescheitert.

Im

Februar hatte dieselbe das Eingehen auf ihr von dem StaatSsecretair

Buchanan gemachte neue FriedenSanerbietungen an die unzulässige Vor­ bedingung der vorgängigen Aufhebung der Blockade und Räumung des

Mexicanischen Gebiets geknüpft.

Bei den unmittelbar vor der Einnahme

der Hauptstadt während eines kurzen Waffenstillstands mit dem als Bevoll­ mächtigten in das Hauptquartier entsandten ersten Beamten des Staats­ departements N. P. Trist gepflogenen Unterhandlungen stellte sie abermals

unannehmbare Bedingungen.

Während das Amerikanische Ultimatum und

die conditio sine qua non die Abtretung von Nen-Mexico und Ober-

Calisornien war, Falls nicht auch Nieder-Californien und das Wegerecht

über den JsthmuS von Tehuantepec zu erlangen sein sollte, war die Ab­ tretung Ober-CalifornienS bis zum 37. Grade das einzige Opfer, welches

Mexico bringen wollte, wobei es obendrein noch Entschädigung für seine

Bürger und Rückgabe deS Gebiets zwischen dem NueccS und Rio Grande verlangte!

Jetzt entstand eine neue Schwierigkeit dadurch, daß eS —

ähnlich wie eS den Deutschen 1871 vor Parts erging — nach der Ein­ nahme der Hauptstadt an einer Regierung fehlte, mit welcher eS über­

haupt möglich war einen dauerhaften Frieden

abzuschließen.

General

Scott mußte zur Bildung einer provisorischen Regierung die Hand bieten. Erst im November ward General Anaya in verfassungsmäßiger Weise

vom Mexicanischen Congreß zum interimistischen Präsidenten der Republik erwählt — wie später, im Februar 1871, Thiers von der Nationalver­

sammlung in Bordeaux zum Chef der Executive Frankreichs. Für den Präsidenten Polk mußte eS um so peinlicher sein, dem am 6. December 1847 zu

30. Congreß

seiner ersten Session zusammentretenden neuen,

nicht die glückliche Beendigung

deS Krieges anzeigen zu

können, weil die bisherige sehr erhebliche demokratische Majorität im Re­ präsentantenhause bei den letzten Wahlen zur Minorität herabgesunken war.

ES ist jedoch nicht richtig, wenn v. Holst behauptet: die Congreß-

wählen seien

„ein emphatisches Verdammungsurtheil über das hinter-

VerfassungSgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

46

haltige, unwahre und intriguengesättigte Wesen gewesen, das die ganze

In völlig gleichem

auswärtige Politik der Administration charakterisirte".

Maß, wie die Unpopularität des Krieges in einigen Staaten, hatte in anderen, namentlich in Pennshlvanien, die durch Gesetz vom 30. Juli 1846

erfolgte Umwandlung des bisherigen Schutzzolltarifs in einen Finanzzoll­ tarif bei den Wahlen den Ausschlag gegeben, und in demjenigen Staat, der die meisten Repräsentanten stellte, in New-Aork, hatte die Uneinigkeit der Demokraten unter sich den Whigs eine ganze Reihe von Sitzen ver­

schafft.

Da übrigens — wie der Verfasser selbst bemerkt — ein „be­

trächtlicher Theil" der Whigs ebensowenig wie die landsüchtigsten Demo­

kraten geneigt war, Neu-Mexico und Californien wieder fahren zu lassen,

konnte der Präsident immerhin noch auf eine zuverlässige Majorität für die Durchführung seiner Mexikanischen Politik rechnen. freilich nicht gegen schmerzhafte Nadelstiche.

Das schützte ihn

Man warf ihm Uebergriffe

in die verfassungsmäßige Competenz des Congreffes vor und nahm sogar am 31. Januar 1848 mit 85 gegen 81 Stimmen ein Amendement zu

einer Dank-Resolution für General Taylor an, wodurch — im direkten Widerspruch mit den Beschlüssen vom 12. Mai 1847 — erklärt wurde:

„der Krieg sei vom Präsidenten unnöthiger und verfassungswidriger Weise

(unnecessarily and unconstitutionally) begonnen".

ES wird den einen

oder anderen Leser vielleicht interessiren zu hören, daß — was der Ver­ fasser zu erwähnen keine Veranlassung hatte — auch der spätere Präsident

und damalige Abgeordnete von Illinois, Abraham Lincoln, mit der Ma­ jorität stimmte, wie er denn überhaupt zu den entschiedensten Gegnern von Polks KriegSpolttik gehörte.

Er hatte bereits am 22. December den

Antrag gestellt: den Präsidenten um Aufklärung darüber zu ersuchen: ob

der Punkt, wo das erste Blut geflossen, Amerikanischer Boden gewesen sei oder nicht, und am 12. Januar dem Gedanken deS erwähnten Amen­

dements in scharfer Rede Ausdruck gegeben, womit er freilich in der eigenen Heimath keinen Beifall fand*).

Unter diesen Umständen war eS ein großes Glück für die Regierung und das

Land, daß Trist sich

einer ungeheuerlichen Insubordination

schuldig machte, über deren Motive — ob dreiste Eitelkeit, ob einsichtsvoller

PatttotiSmuS — Unklarheit herrscht. Statt den ihm am 6. und 25. Oktober ertheilten sehr bestimmten Befehlen, nach Washington zurückzukehren, Folge zu leisten, war er in Mexico geblieben, hatte sich auf eigene Hand mit

von dem General Anaya ernannten Bevollmächtigten in Verhandlungen eingelassen und konnte am 2. Februar 1848 melden: daß in Guadalupe

*) Vgl. M. W. Cluskey, the political text-book. New-Uork 1858. S. 317 ff. und Lamon's Life of Abr. Lincoln S. 283 ff.

Htdalge der Friede unterzeichnet sei, wodurch Neu-Mexico und Ober-

Californien gegen eine Zahlung von 15 Millionen Dollars an die Ver­

einigten Staaten abgetreten wurden, und diese die Berichtigung der Forderungen Amerikanischer Bürger übernahmen.

Da damit in der

Hauptsache alles erreicht war, was man erstrebt hatte, nahm der Präsi­

dent an der ordnungswidrigen Art, wie der Vertrag zu Stande gekommen war, keinen Anstoß, sondern beantragte am 22. Februar die verfassungs­

mäßige Zustimmung des Senats zu demselben, welche nach fangen und lebhaften Debatten am 13. März ertheilt wurde.

Nachdem die Ratifica­

tionen am 30. Mai in Queretaro ausgetauscht waren, übersandte der

Präsident dem Congreß am 6. Juli den Friedensvertrag mit dem Anträge: die zur Ausführung desselben erforderlichen Beschlüffe zu fassen und vor

allem bei der Organisation der neuerworbenen Territorien

im Geiste

gegenseitiger Zugeständnisse, der Versöhnung und der Compromisse zu ver­ fahren und der einst von Washington so eindringlich ertheilten Mahnung

eingedenk ;u sein:

sich vor einer Scheidung

nach geographischen und

sectionellen Interessen zu hüten. Diese weisen Rathschläge fanden keinen Widerhall im Congresse.

Nur die Organisation des Territoriums Oregon, welche der Präsident be­ reits am 5. August 1846 und von Neuem in seinen beiden letzten JahreS-

botschaften sowie in einer speciellen Botschaft vom 29. Mai 1848 dringend empfohlen hatte, kam noch in dieser Session, und zwar erst wenige Stunden

ehe dieselbe am 14. August geschlossen ward, zu Stande.

Auch sie würde

gescheitert sein, wenn nicht im Herbste die nene Präsidentenwahl bevorge­

standen hätte, und wenn nicht alle Parteien es in ihrem Interesse ge­ funden hätten, diese Frage noch vorher aus der Welt zu schaffen.

Ob­

wohl der Süden nicht verkannte, daß Oregon sich seiner geographischen

Lage nach nur für freie Arbeit eigne, hatten südliche Repräsentanten doch die Vertagung der Organisirung des Territoriums gewünscht, um dem

Norden im Interesse der Sklaverei in Neu-Mexico, Californien und künftigen Landerwerbungen, einen Handel aufzuzwingen.

Auf dieses Vor­

haben mußten sie, aller Anstrengungen ungeachtet, schließlich verzichten,

und durch den § 14 deS Organisationsgesetzes vom 14. August 1848 wurde indirect die Sclaverei auS dem Territorium ausgeschlossen.

Ich

werde im Uebrtgen auch hier auf die später folgenden Bemerkungen über

die Sclavenfrage verweisen dürfen und will zunächst flüchtig angeben, wie

sich der Kampf um die Präsidentenwahl gestaltete. Darüber, daß die principielle Frage in Betreff der Sclaverei in den

Territorien für den Augenblick weitaus die wichtigste war, waren wohl alle politischen Männer einverstanden; aber fast alle hatten auch zugleich

DerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

48

instinctlv das richtige Gefühl, daß dies ein uoli me tangere fei, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, die eigene Partei zu zersplittern.

So

kam es, daß die am 22. Mat 1848 in Baltimore eröffnete demokratische Nationalconvention — in welcher der mächtige Staat New-Aork garnicht

vertreten war, weil sich dort die für das Wilmot Proviso günstig gestimmte

Reformpartei, die sogenannten „Barnburners", und die den südlichen An­ schauungen geneigteren sogenannten „Hunkers" scharf geschieden hatten —

sich in ihrem Programm über die Rechtsfrage garnicht aussprach, so daß

also Jeder während des Wahlkampfs seiner inneren Ueberzeuglmg folgen konnte.

Der Name ihres Candidaten für die Präsidentschaft, des Generals

Lewis Caß von Michigan, ließ allerdings über ihre Intentionen keinen Zweifel, da es bekannt war, daß derselbe seine früher dem Wilmot Proviso

günstige Ansicht aufgegeben und dem Süden ein ziemlich bedingungsloses Treugelöbniß geleistet hatte.

Die Whigs überboten die Demokraten noch, indem sie überhaupt kein

Programm aufstellten und einen möglichst farblosen Candidaten nominirten,

der eS ausdrücklich abgelehnt hatte, sich im voraus auf ein bestimmtes Programm zu verpflichten, und von dem man mit Sicherheit nur wußte, daß er ein Whig, wenn auch kein extremer, sei.

Recht, wenn er sagt:

v. Holst hat gewiß

„eine Partei ohne Programm ist keine Partei mehr,

ein Mann ohne politische Vergangenheit und ohne politische Ueberzeugungen ist kein Programm".

Die Convention der Whigs, welche am 7. Juni in

Philadelphia zusammentrat, schien das jedoch nicht einzusehen.

Sie warf

daS bedeutendste Mitglied ihrer Partei, Henry Clay, dessen Name ein

Programm gewesen sein würde, sowie dessen zweiten militärischen Rivalen, General Scott, über Bord und ernannte General Taylor, einen geborenen Virginier, zu ihrem Candidaten für die Präsidentschaft, Millard Fillmore

von New-Aork für die Vice-Präsidentschaft. — General Zacharias Taylor, den der Norden nach einem früheren allgemein gehaltenen Briefe für einen Freund des Wilmot Proviso,

der Süden dagegen,

als reichen

Sclavenbesitzer in Louisiana, für einen Gegner desselben hielt, war durch

seine Erfolge auf dem Schlachtfelde, seinen kalten Muth und seine schlichte

Ehrenhaftigkeit in hohem Grade populär geworden, hatte sich aber nie um Politik bekümmert.

Holst erwähnt (S. 293 Note 2): „es hieß, Taylor

habe nie sein Stimmrecht auSgeübt".

Das allein würde nun freilich wohl

nichts dafür beweisen, daß er kein politisches Glaubensbekenntniß gehabt

habe, denn viele Amerikanische Generale scheinen es, wenigstens früher, mit ihren mUttärischen Pflichten unvereinbar gehalten zu haben, sich bet

Wahlen zu betheiltgen.

Als Präsident Lincoln ein Paar Tage vor seiner

Inauguration mit General Scott bet mir dinirte, sagte dieser zu jenem:

BerfaffungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

49

„ich habe nicht für Sie gestimmt, Herr Präsident, denn ich habe niemals

votirt!" worauf Lincoln rasch erwiderte: gestimmt General!"

„aber ich habe einmal für Sie

— nämlich 1852 als Scott der PräsidentschaftS-

candidat der Whigs war. — Gewiß ist übrigens, daß es General Taylor

an allen Vorbedingungen fehlte, welche das StaatSinteresse an einen Prä­

sidenten stellen mußte, weshalb er denn auch in richtiger Selbsterkenntniß Anfangs selbst seine Nomination nicht gewünscht hatte, bis die ihm sogar

von

demokratischen Volksversammlungen entgegengebrachten Sympathie­

erklärungen seinen Ehrgeiz weckten.

Seine einzige Eigenschaft, welche für

die Candidatur geltend gemacht werden konnte, war sein fester ehrenhafter Charakter, von dem er denn auch später während seiner kurzen Regierungs­

zeit glänzende Proben gegeben hat.

Die völlige Nichtbeachtung der brennenden Frage Seitens der WhigConvention erregte aber doch bei vielen

große Verstimmung.

hervorragenden Parteigenossen

Henry Wilson von Massachusetts — später von

1873 bis 1875 Vicepräsident der Bereinigten Staaten — ging so weit, seine Gesinnungsgenossen, Behufs Aufstellung anderer Candidaten, zu einer Convention auf den 9. August nach Buffalo zu berufen.

Dort entstand

aus einer Verschmelzung aller Gegner der Machtvergrößerung der Sklavokratie eine neue Partei, „die Freiboden-Partei" (Free Soil Party).

Ihr

Programm erklärte es für die Pflicht der Bundesregierung, überall dort, wo ihre verfassungsmäßige Competenz sie für das Bestehen und die Fort­

dauer der Sklaverei verantwortlich mache, sich dieser Verantwortlichkeit zu entledigen; forderte das Verbot der Ausdehnung der Sklaverei in zur

Zeit freies Territorium durch Bundesgesetz; und verkündete: keine wettere

Sklavenstaaten und kein weiteres Sklaventerritorium mehr zulassen wollen.

zu

Freilich beraubte sich die Partei zugleich von vornherein selbst

jeder Aussicht auf unmittelbaren Erfolg,

als sie den

„unzuverlässigen

nördlichen Mann mit südlichen Grundsätzen", den Expräsidenten van Buren, als ihren Candidaten für die Präsidentschaft aufstellte.

Bei der Wahl im November erklärten sich 15 Staaten — darunter 8 Sklavenstaaten mit 163 Electoral- und 926,016 BokSstimmen für Ge­ neral Taylor, 15 andere Staaten mit 127 Electoral- und 812,256 Volks­

stimmen für General Caß.

Auf van Buren fielen beinahe 300,000 Volks­

stimmen aber keine Electoralstimmen.

Taylor war also zum Präsidenten

R. Schleiden.

erwählt. (Schluß folgt.)

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 1,

4

Die Zukunft des deutschen Reichsgerichts. Die öffentlichen Dinge, so scheint eS, wollen sich in Deutschland immer ruheloser gestalten.

Die Reichsinstitutionen wie das Reichsrecht,

die Reichsregierung wie die politischen Parteien, der constitutionelle wie der wirthschaftliche Status deutscher Nation, Unitarismus wie Particu-

lariSmuS, dies alles in seinen ziellos durcheinander wirbelnden Wechsel­ beziehungen

läßt

täglich

weniger

erkennen,

was

als

Ausgangspunkt,

Grundsatz, Richtung und System noch einigermaßen feststeht, was bereits

einer unsteten, schwankenden Bewegung anheimgefallen ist.

nicht ES

mehren und häufen sich die offenen Fragen, deren Lösung eine ungewisse Zukunft erbringen soll.

Manche der verwirrenden Erscheinungen des TageS

mögen, wie man zu sagen pflegt, auf nur zwei Augen stehen, mögen ihren

Grund lediglich

in dem eigenthümlichen Temperament, dem besonders

gearteten Naturell dieses oder jenes im Kaiserlichen Regiment herrschenden Mannes haben und nach dem kurz bemessenen Lauf menschlichen Daseins

sich mit den Menschen von selbst wandeln.

Andere Zukunftsfragen sehen

stark darnach aus, als griffen sie in weite, unbemessene Fernen kommender Geschlechter voraus, als sei für sie innerhalb des gegenwärtigen Kreises

von Bewegungskräften überall keine Antwort zu erhoffen, und als sollten

sie mit ihrer ganzen problematischen Gestalt die zweifelsreiche Erbschaft

unserer Nachfahren werden.

Vielleicht, daß auch wir etwas zu schnell deS

neuen Reiches froh geworden sind.

Vielleicht, daß auch unS, den Ita­

lienern ähnlich, der glatte, fast mühelose Lauf der ersten einheitsstaatlichen Gründung, das erste flotte Jahrzehnt umfassendster unificirender und re-

formirender Gesetzgebung denn doch darüber weggetäuscht hat, mit dem inneren Ausbau deS Reichs

was eS

auf sich hat, was in Wirklichkeit

Jahrhunderte alte historische Hemmnisse nationaler Consolidation bedeuten.

Auch das deutsche Reichsgericht, die stolze, langersehnte Schöpfung der großen Justizgesetze, trägt noch immer mehr fragwürdige Gestalt, als der Patriot wünschen möchte.

Ich will hier nicht reden von seiner ver­

fassungsmäßigen Zuständigkeit, und was darin schon jetzt als änderungs-

bedürftig hervorgehoben werden könnte.

So zwiespältig und willkürlich,

wie die deutsche Strafprozeßordnung die Ordnung der deutschen Strafge­

richte mit ihren Competenzgrenzen

und

dem System der Rechtsmittel

aufgebaut hat, so völlig im Fluß, wie sich auf dem Gebiet einheitlichen

bürgerlichen Rechts die Reichsgesetzgebung befindet, wußten wir alle, daß der erste grundlegende Versuch des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes,

die Competenz deS höchsten Gerichtshofes zu regeln, eben nur ein vor­ läufiger sein solle.

Dieses Provisorium, wenn man eS so nennen will,

ist nicht nur erträglich, sondern wohlthätig.

An Gedächtniß und Fassungs­

kraft der älteren GeneraÜon deutscher Juristen sind ohnehin diese letzten

15 Jahre ganz ungebührliche Zumuthungen gestellt worden: daS Bedürf­

niß, in dem Gegebenen, eS sei wie es sei, einstweilen zu beharren, macht sich hier zweifellos stärker fühlbar, alö jeglicher Anspruch an folgerichtige

organische Fortentwickelung des Bestehenden.

Mehr aber bedeutet, daß

auch der Sitz deS Reichsgerichts, seine Residenz in Leipzig, nicht über das

Prekäre, Vorläufige der ersten Etablirung herauskommen zu

Unfertige,

wollen scheint.

Wie und nach welchen Kämpfen daS Reichsgericht nach Leipzig ge­ kommen ist, ist männiglich bekannt.

Nachdem die Mehrheit im Bundes­

rath und Reichstag darüber mit sich einig geworden, Berlin wegen Ver­ dachts der Befangenheit zu perhorreSciren und deßhalb Berlin nicht zu

wählen, war die Entscheidung für Leipzig ohne Weiteres gegeben.

Nicht

in den für Leipzig positiv geltend gemachten, schon durch die Anknüpfung

an daS ReichSoberhandelSgericht sich naturgemäß ergebenden Gründen,

sondern in den gegen Berlin laut und leise ausgesprochenen Ablehnungs­ motiven lag das Merkwürdige jener Controverse.

rückerinnert

zu haben.

ES genügt, hieran zu­

Also verkündete unter dem 11. April 1877 das

Reichsgesetzblatt in Lapidarstyl: „Das Reichsgericht erhält seinen Sitz in Leipzig."

Schade nur, daß, was in Worten so monumental Hingt, sich

nicht ebenso rasch in die entsprechende lapidare Architektonik umbilden läßt. Bier Jahre besteht jener Rechtssatz bereits in Gesetzeskraft und noch immer

darf man fragen: hat daS Reichsgericht wirklich seinen Sitz in Leipzig

erhalten?

Daß seit dem 1. October 1879 acht Präsidenten, sechszig Räthe,

vier Reichsanwälte, so und so viel Rechtsanwälte, Hülfsrichter, Unter­ beamte des Reichsgerichts in Leipzig wohnen, daß, irre ich nicht, auch bereits sechs Bände Leipziger Reichsgerichtsentscheidungen gedruckt vorliegen, ist fteilich unbestreitbare Thatsache.

Aber ist damit die Frage schon end­

gültig entschieden, ob daS Reichsgericht in Wahrheit in Leipzig residirt? Wer heute fremd nach Leipzig kommt und die Sehnsucht empfindet, das

deutsche Reichsgericht von Angesicht zu Angesicht zu schauen, wird

4*

einige entmutigende Ueberraschungen erfahren.

Man sollte glauben, in

einer Stadt von etwa 150,000 Einwohner müsse der Sitz einer an äußerem

Umfang und hervorragender Würde so bedeutenden Körperschaft denn doch nicht allzuschwer zu ermitteln sein.

Das Adreßbuch belehrt uns, daß wir

es unter drei Straßennummern suchen können: Brühl 42, Ritterstraße 15, Goethestraße 8.

Das klingt recht tröstlich, die Goethestraße und den

Augustusplatz kennt ja jedes Kind in Leipzig, dieser letzten Straßennummer zuzusteuern kann unmöglich mißlingen. was

Schnell genug stehen wir vor dem,

die städtische Topographie Goethestraße Nr. 8 nennt.

Hinter uns

der Schwanenteich und das neue Theater, vor und ein kolossaler, schmutzig

gelber, häßlicher Gebäudeklotz mit einer Unzahl von Thüren und Fenstern.

Keine Aufschrift, kein Enblem deutet dem Fremden an, daß an dieser Stelle eine der größten Reichsinstitutionen deutscher Nation zu Hause ist.

Da indessen alle Wege nach Rom führen, so wird doch wohl auch eine

der vielen Thüren uns den Eingang in's Reichsgericht verschaffen.

Wir

denken, introite, nam et hie Dii sunt, und versuchen es getrost erst mit

einer, dann mit einer zweiten und dritten, schließlich der Reihe nach mit fünf oder sechs an der Gocthestraße 8 vorhandenen Eingangspforten — vergeblich!

Entweder treffen wir auf außerordentlich diebesfest verschlossene

Thüren, und ein Blick durch die Glasfenster belehrt uns, daß wir un8

vor irgend einem Speichereingang befinden, oder, was noch schlimmer ist, eS wird uns mit dem bekannten Donnerworte aufgethan „die Ihr suchet"

trägt zwar nicht den Schleier, wohnt aber hier keinesfalls.

Während wir

rathloS noch einmal das unheimliche Gebäude von der Straße aus über­ schauen, kommt ein höflicher Sachse

unserer Verlegenheit zu Hülfe und

versichert uns, wir seien trotzdem an der richtigen Stelle, wir sollten nur die Goethestraße in Rühe lassen, und von dem an der Ritterstraße bele­

genen Flügel aus eintreten; dort, Nr. 15, wohne, wie er bestimmt wisse, auch Excellenz Simson, der unter allen guten Leipzigern ebenso bekannte,

wie beliebte Präsident des Reichsgerichts.

dem freundlichen Wegweiser.

Frischen Muthes folgen wir

Zwar ist zunächst der äußere Eindruck dieser

neuen Seite des Reichsgerichts von der Ritterstraße aus um kein Haar bester, als es der von der Goethe-Seite aus war; dieselbe trostlos leere Fatzade, dieselbe verwirrende Menge bald verschlossener, bald mit „Eich-

Amt" und dergleichen befremdlichen Schildern versehener, ganz gleichartiger

Ladenthüren.

Aber die eine derselben besitzt einen Klingelzug und das

Läuten dieses gastfreundlichen Instruments führt uns glücklich in die Hände eines Portiers, der wirklich zum Reichsgericht gehört. wir unserem Ziele noch immer nicht näher.

Nur leider sind

Denn hier ist lediglich der

Eingang zur Wohnung des Herrn Präsidenten, und, um zum Reichsgericht

zu gelangen, unterweist uns der sorgliche Thürhüter, müßten wir, um daS Gebäude herum, vom Brühl aus einzudringen versuchen.

Dankbar treten

wir die Wanderschaft von Neuem an, gelangen auch richtig auf den Brühl,

genießen zum dritten Male die uns jetzt schon hinreichend bekannte immer gleiche Front deS Gebäudeviereckö, absolut nicht ansehnlicher, vielleicht noch etwas schäbiger, als die beiden früher durchforschten; wiederum die gleiche Symmetrie zahlloser Ladenthüren mit Glasfenstern, darunter einige zweifel­

lose Eingänge in Kramläden, Weinstuben u. bergt, und wiederum die

eine, nur durch einen Klingelzug ausgezeichnete Thür, welche dem energisch vorwärts dringenden Manne nunmehr endlich den Zutritt zum eigentlichen

Portier des Reichsgerichts und zu den heiligen Hallen dieses erlauchten,

nur leider so geheimnißvoll waltenden Gerichtshofes eröffnet.

Hast Du,

wißbegieriger Fremder, aber gar das Unglück, zur Meßzeit Deine Ent­ deckungsfahrt zu schlimmer.

unternehmen, dann sind die Aspekten noch viel, viel

Dann ist das ganze Gebäude bergehoch umthürmt von übel

duftenden Häuten,

der ganze Unterstock ist ein ungeheures Ledergeschäft,

und eS wird Dir ohne Hülfe eingeweihter, kundiger Führer schwerlich ge­

lingen, durch daS betäubende Getös all dieser aufgeregten Fellhändler und

den nicht weniger betäubenden Gestank ihrer Waare zu den Lords-Ober-

richtern Deutschlands zu

gelangen. — Im Innern des Baus sieht eS

einigermaßen erträglich aus.

Es sind wirklich vier leidliche Sitzungssäle

vorhanden, in welche sich die, einschließlich der beiden HülfS-Senate, zehn fungirenden Senate des Reichsgerichts ohne erhebliche gegenseitige Besitz­

störungen friedfertig einreihen können, es fehlt auch sonst nicht an einer

erklecklichen Zahl von Stuben für die Präsidenten, Reichsanwälte, Biblio­ thek,

Bureaux rc., kurz die Art dieses inneren Hauses bleibt immerhin

nichts weniger als stattlich, verletzt aber doch nicht gradezu durch Würde­

losigkeit.

Die deutsche Justiz ist in diesem Punkte nicht verwöhnt, Justiz­

paläste gehören bei uns der allerneusten Architekten-Aera an und so braucht über die Schlichtheit, Bescheidenheit, Dürftigkeit auch dieser reichsgericht­

lichen inneren Daseinsformen werden.

keine übermäßig

laute Klage erhoben zu

Das Aeußere freilich ist und bleibt abscheulich.

Nun kann gewiß Niemandem ein Borwurf daraus gemacht werden, daß in der kurzen Frist von 2'/t Jahren, die

zwischen der legislativen

Entscheidung für Leipzig und dem Beginn der amtlichen Thätigkeit deS Reichsgerichts dazwischen lagen, nicht ein monumentales Debäude aufge­

führt worden ist.

Das wäre allenfalls angängig gewesen, wenn es sich

um die Errichtung eines PalaiS für Post-, Eisenbahn- oder militärische Zwecke gehandelt hätte.

Man konnte also vorläufig damit zufrieden sein,

daß sich in guter Stadtgegend irgend ein geräumiges Kaufmannshaus auf-

treiben ließ, dessen Unterstock man dem Handel und Wandel überlassen

und dessen obere Etagen man miethweise für die Gerichtszwecke erwerben konnte.

Mit diesem prekären Miethsbesitz zweier oberer Etagen mochte eS

denn wohl auch zusammenhängen, daß man Anstand nahm, durch Auf­

schrift, Reichsadler oder sonstiges Zeichen der Gerichtshoheit die neue Re­ sidenz dem Auge kenntlich zu machen.

Neben den übrigen am Gebäude

haftengebliebenen Firmenschildern würde daS Schild des deutschen Reichs­ gerichts kaum zu einer anständigen Geltung gelangt sein.

auch hierüber nicht weiter rechten.

So wollen wir

Aber inzwischen sind seit dem 1. Oc­

tober 1879 wiederum über 17, Jahre ins Land gegangen, und noch immer ist nicht einmal der Anfang deS Endes in diesem lokalen Provisorium ab­

Bon Zeit zu Zeit erlaubt sich in der Leipziger Tagespresse irgend

zusehen.

ein müßiger Reporter eine Notiz, wonach dieser

oder jener Platz von

diesem oder jenem offiziellen Architekten als ausgezeichnet geeignet für den

Neubau bezeichnet worden sei,

— der Rest ist Schweigen.

Daß der

Neichsetat für 1881 keinen Pfennig für reichsgerichtliche Bauzwecke auS-

wirft, daß wegen Erwerbs eines Bauplatzes, Entwerfung eines Bauplans, Veranschlagung der Baukosten mindestens außerhalb der in der Kanzlei deS Reichsjustizamts verborgenen Vorgänge amtlich noch gar nichts fest» Daß daS deutsche Reichs­

steht, muß als Thatsache hingenommen werden.

gericht nicht für alle Zeit dazu verurtheilt sein kann, anonymer MiethSbewohner der St. Georgs-Halle Brühl Nr. 42 zu bleiben, erscheint ebenso

Die Frage steht also noch offen:

wird überhaupt in Leipzig

der ZukunftSbau das Licht der Welt erblicken?

Oder deutlicher gesprochen:

zweifellos.

wird überhaupt das Reichsgericht endgültig in Leipzig verbleiben, oder

nicht?

DaS ist das eigentliche to be or not to be, das hinter dem ar­

chitektonischen Probleme steckt.

ES wird erlaubt sein, die Vermuthung auszusprechen, daß die ReichSregierung selbst die Frage alS eine noch offene ansieht, daß man in Berlin

noch zu keinem bestimmten Entschlusse gelangt ist und einstweilen weitere Erfahrungen abgewartet werden sollen.

Die bisherigen Erfahrungen, so

scheint eS, haben noch nicht dazu beigetragen, die alten Gegner des Leip­

ziger Domizils zu versöhnen, dem bestehenden Zustande neue Freunde zu

gewinnen, die mit der leidigen Angelegenheit verknüpften, politischen, ju­

ristischen, persönlichen Gegensätze auszugleichen.

WaS sich darüber nach

den flüchtigen Eindrücken eines Uneingeweihten sagen läßt, was darüber in Leipzig und anderwärts unter Betheiligten und Unbeteiligten hin und

her geredet wird, möchte auf folgendes hinauslaufen.

Die Politiker, die ja immer das erste Wort haben müssen, betonen nachdrücklich, wie es schon jetzt für den Blindesten erkennbar sei, daß der

verhängnißvolle Fehler, in diesem unfertigen, zwiespältigen Reich eine der fundamentalsten Reichsinstitutionen willkürlich von der Mitte weg in eine beliebige Provinzialstadt zu verlegen, nur schädlich wirke.

Jeder Tag er­

bringe neue Beweise für das Anwachsen, die Verstärkung der centrifugalen DaS Reichsgericht in Leipzig, statt dem ein

Kräfte deutscher Nation.

Gegengewicht zu bieten, trage nur dazu bei, dem ParticularismuS Nahrung

zuzuführen.

Das Reichsgericht habe die Erbschaft der, bis auf Bayern,

überall von ihm verdrängten obersten Landesgerichtshöfe angetreten; man

hätte hoffen dürfen, daß kraft dieser Universalsuccession im Reichsgericht der trotz alledem doch legitime Gedanke einheitlicher Justizhoheit von Kaiser

und Reich Fleisch und Blut gewinnen müsse.

Leider Gottes sei das Reichs­

gericht in seiner Zuständigkeit so organisirt, daß es, ohne Imperium, ohne alle Prärogative

einer aktuellen

Justizaufsicht

nur als Spruchbehörde,

etwa wie eine Juristenfakultät oder ein Schöffenstuhl, auf die Abgabe von Sentenzen beschränkt sei.

Da fehle jede Möglichkeit unmittelbarer Ein­

wirkung aus Geschäftsgang,

Gerichtsordnung,

Geist und Charakter der

deutschen Landesgerichte, jeder Schatten eines greifbaren Subordinations­ verhältnisses, jede wirksame Autorität der obersten Instanz über die unteren. Das beschauliche Dasein an der Pleisse verleite daS Reichsgericht immer

bedenklicher, sich in die Vorstellung einzuspinnen, als sei sein erhabener

Beruf darin erschöpft, täglich so und so viel responsa prudentium feier­ lich zu verkündigen, in allem Uebrigen aber die deutsche Justiz gehen zu

lassen, wie es Gott gefällt.

Die Folge davon liege auf der Hand: zunächst

sei trotz gleichartiger Gerichtsverfassung der organische Zusammenhang im deutschen Gerichtswesen nur weiter zersplittert und zerfahren, der StaatS-

gedanke darin nicht gestärkt sondern geschwächt, und die Neigung, einen ganz ungebührlichen SouveränetätSdünkel

in sich groß zu ziehen, unter

deutschen Amtsrichtern, Landrichtern, Oberlandesrichtern deutlich genug in der Entwicklung.

Eine kühle, ironische, von viel kritischen Vorbehalten

begleitete conventionelle Hochachtung

sei die vorherrschende Empfindung,

die man für daS Leipziger Reichsgericht und seine Rechtsprüche übrig

Alles dies, so meint man, hätte nicht geschehen, hätte mindestens

habe.

so schnell, so ausgeprägt nicht emporschießen können, wäre das deutsche

Reichsgericht geblieben, wohin es gehört, in Berlin, am Sitze der ReichSregierung, unmittelbar getragen von dem Ansehen Kaiserlichen Regiments,

in stetiger Berührung

mit den übrigen höchsten Gewalten der Reichs­

justiz!

Eine mehr gemüthvolle, als klar verständige Sinnesart, die grade

unter den Juristen stark vertreten gewesen, hat vordem viel Wesens davon

gemacht, wieviel günstiger in Leipzig die Aussichten für menschliches Zu-

sammenleben, korporatives Zusammenwachsen der disparaten Elemente des Reichsgerichts gelegen seien, als in der Weltstadt Berlin.

Kann davon

die Rede sein, daß wenigstens diese Erwartung ihrer Erfüllung gewiß ist? Der äußere Anschein der Dinge und das Urtheil nüchterner Beobachter

sprechen vorläufig mit aller Entschiedenheit dagegen.

Dazu ist denn doch

Leipzig wieder nicht klein genug, um etwa schon durch die Enge des Beiein­

anderwohnens die Menschen persönlich einander besonders zu nähern.

Auch

ist der Körper deS Reichsgerichts von vorn herein viel zu groß, zu viel­

gestaltig angelegt, um unter irgend welchen, noch so günstig gedachten ört­ lichen Verhältnissen eine derartige organische Einheit überhaupt zu ermög­ lichen.

Thatsächlich wohnen die Mitglieder des Reichsgerichts in Leipzig

erst recht nach allen Windrichtungen der weitläufigen Vorstädte in West und Ost, Nord und Süd zerstreut, den Kilometern, wie den städtischen KommunikationSverhältnifsen nach durchschnittlich weiter von einander ge­ trennt, als dies im Berliner Geheimrathsviertel je hätte der Fall sein

können.

Allgemeine Vereinigungspunkte fehlen so gut, wie ganz.

Jeder

Senat bildet amtlich, wie gesellschaftlich eine selbstständige Genossenschaft

für sich, hört und sieht der Regel nach von den anderen Senaten gar-

nichtS.

Daß ein paar Collegen desselben Gerichtshofs zehn Jahre neben­

einander dahin leben, ohne von einander mehr, als ihre Namen, zu kennen,

ist in Leipzig vollkommen ebenso natürlich, wie in einer anderen großen

Stadt.

Die wenigen dürftigen Fäden und kahlen Formen breiterer Ge­

selligkeit, die durch zufällige persönliche Beziehungen oder offizielle Ver­ anlassungen getragen, daneben das Ganze schwächlich durchziehen, bedeuten

Und um Nichts besser steht das Reichsgericht

schlechterdings garnichts. zur Bevölkerung Leipzigs.

An Entgegenkommen und gutem Willen hat

eö sicherlich von beiden Seiten nicht gefehlt.

Wenn trotzdem das ganze

Corps des Reichsgerichts von der großen Mehrzahl der Leipziger noch

heute angesehen wird, wie eine Kolonie eiugewanderter Fremdlinge von absonderlicher Distinktion, und wenn diese Körperschaft sich selbst s.o em­

pfindet als ein ftemdartiges Element der Stadt, durch Schicksalsfügungen hierher verschlagen, daö Land der Heimath mit der Seele suchend, so be­

weist das eben nur, daß die Verhältnisse großstädtischen Lebens mächtiger

find, als alles gemüthliche Wünschen und Wollen.

Nur in einem wichtigen

Punkte zeigt sich Leipzig nicht groß und mächtig genug für das Reichs­ gericht.

Eine Weltstadt, wie London, Paris, Wien, Berlin prägt Allem,

was auch nur einige Zeit in ihre Kreise gezogen ist, ihren, nur ihr eigen­ thümlichen, gleichartigen Stempel auf.

Der Eingeborene mag die Signatur

in schärferen Zügen an sich tragen, auch der Eingewanderte wird sich ihr nicht lange

entziehen.

In diesen

ungeheuren Brennpunkten

moderner

wird allem Besonderen die individuelle Farbe mehr

Civilisation

weniger aufgezehrt, und

allem gleichmäßigere Färbung gegeben.

oder Die

Menschen kennen sich hier vielleicht weniger, aber sie verstehen sich schneller, intuitiver untereinander, als in Städten mittlerer Größe.

Solche unbe­

wußte, elementare Einwirkung vermag Leipzig auf seine Bestandtheile nicht Leipzig hat kein geschichtlich fest gewordenes Gefüge, keine ge­

auszuüben.

schlossene Eigenart seines Wesens.

ES steckt ein gewisser universeller, man

könnte sagen, kosmopolitischer Grundzug in der Stadt, der eS Jedem ge­ stattet, nach seiner Fayon nicht allein im Himmel, sondern schon auf Erden selig

zu werden.

Staaten und

Hier können

alle Partikularitäten deutscher

Stämme, die zum Reichsgericht vereinigt worden sind,

fröhlich fortgedeihen, und sie thun es nach Kräften.

Jeder konfervirt nach

Möglichkeit alte heimathliche Gewohnheit in der äußeren Lebensführung, wie

in Geist

und Gesinnung; trinkt thunlichst den gleichen Schoppen

säuerlichen Weines, ißt sein Mittags- und Abendbrod zur gleichen Tages­

stunde, liest die gleiche Zeitung, die ihm am Neckar oder an der Isar, am Rhein oder Main lieb geworden find.

Die landsmannschaftlichen Zu­

sammenhänge erhalten sich, gut Würtembergischer, Bayerischer, Sächsischer, Preußischer Patriotismus findet im Zusammenkliquen der engeren Bater-

landsgenossen seine fortdauernde Kräftigung, und unitarisch bleibt nur der stille gemeinsame Groll im Herzen gegen das Verhängniß der Leipziger Residenz.

sein.

So ist es heute, so könnte eS in hundert Jahren auch noch

Stoff genug ist für solche Buntscheckigkeit in Deutschland noch für

unabsehbare Zeit vorhanden, und Leipzig wird niemals den Schmelztiegel

abgeben, der solches Gemenge zu einem einheitlichen Guß zusammen ar­

beitet. — Ist das nun wirklich der Boden und die Lust, sind das die ge­

sunden, die vernünftigen Lebensbedingungen für die naturgemäße Ent­ wickelung unserer ohnehin so spärlichen Reichsinstitutionen?

Heißt das

nicht, sie vor der Zeit der Reife zur Verkümmerung verurtheilen?

Diese

Zweifel wollen nicht verstummen, wollen sich auch nicht zur Ruhe bringen

lassen durch die Gegenrede, das Alles sei von keinem Belang, und werde

mehr, als genügend, ausgewogen durch die ganz evidente größere Unab­ hängigkeit, deren sich das Reichsgericht grade in Leipzig erfreue.

Denn

die gegen Leipzig nun einmal flepttschen Gemüther weisen darauf hin, daß

Titel und Orden, wie die verflossenen anderthalb Jahre gezeigt, ihren

Weg recht beqnem auch hierher zu finden wissen, daß, wenn man derartige, durch

daö Weihwasser

der Höfe vermittelten Beeinflussungen fürchten

wolle, es denn doch gradezu komisch sei, die vier Stunden Eisenbahnent­

fernung von Berlin nach Leipzig als besonderes Erschwerniß der Ansteckung anzusehen.

Richterliche Unabhängigkeit, so meinen Leipzigs Widersacher,

sei überall kein unmittelbar zu greifendes und zu erzwingendes Ding und

jedenfalls kein Gewächs dieses oder jerzes Orts.

EineStheils wurzele sie

allerdings in gewissen äußeren Garantien, welche das deutsche Gerichts-

verfassungSgesetz reichlich vorgesehen habe, und welche an jedem Ort genau die gleichen seien.

Anderentheils bleibe es

immer eine rein

ethische

Qualität, eine Charaktereigenschaft deS inneren Menschen, das langsam heranreifende Ergebniß individueller Lebensentwickelung.

In den Lebens­

jahren, in denen durchschnittlich deutsche Richter zur purpurnen Robe ge­ langen, ist in der Regel die Charakterentwickelung längst abgeschlossen. Wer sich wahrhafte Unabhängigkeit deS Urtheils, der Gesinnung, deS

Denkens und Wollens zu erwerben gewußt hat, wird den mühsam ge­ wonnenen Schatz allerwärts zu wahren wissen.

Wem das nicht gelungen

ist, bleibt derselbe kümmerliche Geselle in Leipzig, wie in Berlin: die Ver­

suchungen von Menschengunst und Ungunst werden ihn überall aufzufinden

wissen, und überall wird er sich als ein schwaches, bestimmbares Menschen­

geschöpf erweisen. Dieses Für und Wider der Meinungen ließe sich noch ein Unendliches

Wer soll innerhalb solcher, schlechterdings nicht nach irgend

fortsetzen.

welchen Grundsätzen der Logik zu entscheidenden Gegensätze schließlich be­ stimmen, was hier Einbildung, waS Wahrheit ist?

Schlimm genug, daß

überhaupt ein derartig unausgetragener Gegensatz noch besteht, daß er fortgesetzt fortwuchert, und die endgültige Lösung noch nicht abzusehen ist. Unter der fortdauernden Unsicherheit leiden die Menschen, wie die Sachen; jede äußere, jede innere Consolidation wird zur Unmöglichkeit.

Wie wäre

eS, wenn man dem Reichsgericht selbst die Alternative stellte: Leipzig oder Berlin, und einen Plenarbeschluß, oder, sagen wir zur Schonung aller constitutionellen Bedenklichkeiten vorsichtiger, eine gutachtliche Aeußerung des

Plenums dieser höchstbetheiligten Körperschaft zur Grundlage weiterer Ent­

schließungen machte?

Oder traut man dem Reichsgericht keine genügende

Unbefangenheit zu, in eigener Sache darüber ein wohlerwogenes, autori­

tatives Urtheil abzugeben, was dem Reichsgericht Noth thut, was die

Interessen der Nation, was die heiligen Interessen der deutschen Justiz erheischen?

Freilich würde es auch hier

ohne einen kritischen Moment

höchst erregter Gährung zwiespältiger Meinungen nicht abgehen, und ein schwaches Majoritätsvotum bliebe immer in solcher Angelegenheit ein be­

deutungsloses Ergebniß.

Aber ein nahezu einmüthiger Spruch in dem

einen oder anderen Sinne wäre ebensowenig ausgeschlossen, und ein der­

artiger Ausspruch, sollte man glauben, müßte auf allen Seiten Beachtung

finden.

Es käme eben auf die Probe an.

Doch ich will den Vorschlag

zur Güte, hinter dem man um Gottes Willen keine teuflischen Hinterge-

danken wittern mag, nicht weiter verfolgen, und ihn als einen willkürlichen

Einfall dahin gestellt sein lassen.

Viel wichtiger erscheint eS mir, daß dem

jetzigen unleidlichen Provisorium in irgend einer Weise ein baldiges Ende bereitet wird, daß der gegenwärtige fatale Zustand nicht einrostet, daß

man sich entschließt, einen Entschluß zu fassen.

Ohne budgetmäßige Mit­

wirkung deS Reichstags ist in der Baufrage nun einmal nicht vorwärts

zu kommen, kann weher ein Bauplatz erworben, noch ein Bauplan in An­

griff genommen werden. gesprochen werden.

Bei diesem Punkte muß das entscheidende Wort

Man kann eS voMommen verstehen und billigen, daß

die Reichsregierung Anstand genommen hat, den jetzigen Reichstag auch

noch mit dieser Frage zu belasten.

Dazu gehört allerdings eine etwas

frischere Farbe der Entschließung, als sie dem heurigen, in voller Fraktions­ zersetzung dahin wesenden Reichsparlamentarismus beiwohnt.

Aber der

nächste Reichstag, er sei nun, wie er sei, sollte durchaus vor die Entschei­

dung gestellt werden, ob es bei dem Reichsgericht in Leipzig sein Bewenden behalten und ihm hier baldthunlichst ein würdiges Dasein bereitet werden

soll, oder ob man dafür hält, eS sei die höchste Zeit, einen falschen Schritt zurückzuthun, das Andenken des Berliner Obertribunals sei nunmehr zur

Genüge gesühnt, und man solle dem Kaiser wiedergeben, was deS Kai­ sers ist!

Die Tiefseeforschung der Neuzeit. Von

Dr. M. Alsberg.

Da unten aber ist's fürchterlich Und der Mensch versuche die Götter nicht Und begehre nimmer und nimmer zu schauen, Was sie gnädig bedecken mit Nacht und mit Grauen. Schiller.

Wenn das Menschengeschlecht die Maxime, die in den obigen Worten enthalten ist, stets befolgt hätte, so würde uns mancher interessante Ein­

blick in die geheimnißvolle Werkstätte der Natur entgangen sein.

licherweise ist dem nicht so.

Glück­

Die Wissenschaft, welche die fernsten Fix­

sterne und Weltennebel mit dem Fernrohr und Spektroskop prüft, welche die Erdveste mit Allem, was darauf lebt,

tungen zieht,

in den Kreis ihrer Betrach­

hat sich neuerdings mit besonderer Vorliebe dem flüssigen

Theil unseres Planeten, jenen oceanischen Abgründen zugewendet, die vor nicht allzulanger Zeit für völlig unzugänglich galten und demgemäß von

der Phantasie mit den wunderbarsten Gebilden bevölkert wurden.

Wäh­

rend wir sonst im Allgemeinen die Beobachtung machen, daß die wissen­

schaftliche Thätigkeit

dem praktischen Leben zu Gute kommt, so ist hier

insofern der umgekehrte graphenkabel,

Fall

deren Legen

eingetreten,

als die unterseeischen Tele­

eine genauere Kenntniß von der Tiefe der

Oceane, von den Hebungen und Senkungen des Meeresbodens erfor­ derte, vor Allem zu den submarinen

Forschungen

Anregung

gegeben

haben. — Während im Gebiete der eigentlichen Meeresphysik die neue Welt der alten den Rang abgelaufen hat, während bereits in den fünf­ ziger Jahren dieses Jahrhunderts der hochverdiente Amerikaner Maury

Seewarten und

Wetterstationen errichtete, die durch den

Telegraphen

mit einander verbunden das Herannahen der Stürme signalisirten, wäh­

rend er durch Sammeln und Vergleichen der Logbücher von fast 200,000 Seefahrern einen festen Codex für die Schiffahrt niederlegte, so sehen

wir im Gebiete der Tiefseeforschung Engländer, Amerikaner, Deutsche, Schweden und Norweger in einem friedlichen Wettstreit begriffen,

der

bereits hochwichtige Resultate zu Tage gefördert hat und noch über viele dunkle Punkte Aufklärung

Oceane,

die

Meeresbodens, ferner mische Beschaffenheit

Ueber die Tiefe der

zu schaffen verspricht.

Bodenbeschaffenheit,

die

Hebungen

und Senkungen des

über Temperatur, Schwere, Salzgehalt und che­

deS MeerwasserS in

verschiedenen Niveaus

deS

OceanS und in verschiedenen Klimaten, über die Strömungen, welche die Vertheilung deS MeerwasserS reguliren, Aufschlüsse zu erhalten, die organischen Wesen, welche die submarinen Abgründe bevölkern und von

denen wir bis vor Kurzem nur eine höchst oberflächliche Kenntniß be­ saßen, genauer kennen zu lernen — das sind, um eS mit wenigen Worten

zu sagen, die Aufgaben, welche dieser Zweig der naturwissenschaftlichen

Forschung sich gestellt hat. DaS eigentliche Aufblühen der Tiefseestudien datirt vom Ende der

sechziger Jahre, wo die zum Zwecke der Durchforschung der Meere aus­ gerüsteten Expeditionen sich fast Jahr für Jahr wiederholten.

allerdings schon

Man hat

auf früheren Reisen, insbesondere soweit die Meeres­

fauna hier in Betracht kommt, einzelne interessante Funde gemacht.

So

brachte John Roß bei Aufsuchung der westlichen Durchfahrt (1818) im nördlichen Polarmeer eine Anzahl von bis dahin unbekannten Seewürmern

und das interessante Medusenhaupt (Euryale)

aus 1600 bis 2000 M.

mit dem Schleppnetz ans Tageslicht empor, so fand James Roß

auf

seiner Forschungsreise im südlichen Eismeer (1841) auch dort eine reiche Tiefseefauna und darunter einen großm Asselkrebs (Arcturus Baffinii),

von dem man bis dahin glaubte, daß er ausschließlich dem hohen Norden angehöre — ein Factum, das zusammen mit

der schon damals be­

kannten Thatsache, daß auch in tropischen Meeren das Wasser in großen Tiefen stets eine niedrige Temperatur beibehalte,

auf eine Verbindung

zwischen der arktischen und antarktischen Meeresfauna hinzudeuten schien.

Den bedeutenderen englischen Expeditionen gingen im Jahre 1857 die Lothungen des Capitän Dahman, im Jahre 1860 die des Dr. Wallich

voraus, von denen ersterer in dem KriegSdampfer „Cyklop" zum Zwecke der Kabellegung zwischen der alten und der neuen Welt die LothungS-

linie zwischen Irland und Neufundland, letzterer in dem „Bulldog" daS

Meer zwischen Island, Grönland und Neufundland untersuchte.

Hierauf

folgten in 1868 die Untersuchungen, welche Gwyn Jeffreys in seiner

Dacht „OSprey" in der Nähe der Hebriden, diejenigen, welche Wyville Thomson und Carpenter In dem Schiffe „Lightning" zwischen dem Butt

of Lewis und den Faer-Oer, sowie diejenigen, welche dieselben Forscher

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

62

darauffolgenden Jahren an Bord deS „Porkupine" Vornahmen,

in den

bei welcher Gelegenheit der Ocean westlich und südlich

von

Irland,

längs der Küste von Portugal und das Mittelmeer bis Malta hin durch­

forscht wurde.

Ihren Gipfelpunkt erreichte die englische submarine For­

während Lücken

schung in der epochemachenden Reise deS „Challenger,"

in den bisherigen Untersuchungen durch die Lothungen der „Sheerwater",

„BalorouS" und „Knight-Errant" ausgefüllt wurden. Thätigkeit reihen sich

An die englische

die Untersuchungen der Amerikaner würdig an.

Letztere durchforschten in der „TuScarora" den westlichen Theil des stillen Oceans, in den Schiffen „Corvin" und „Bibb" die Küsten von Neu­ england, die Floridastraße und den zwischen dem amerikanischen Festland,

Cuba und den Bahamas gelegenen Theil des atlantischen Meeres, später in dem „Haßler" das südwärts bis Barbados sich erstreckende nach dem

Grafen PourtalsS benannte submarine Plateau, in der „Blake"

den mexikanischen

ferner im Jahre 1878

Golf und die Mississippimündung.

Zum Theil ergänzt, zum Theil bestätigt, wurde die Arbeit englischer und

amerikanischer

Forscher

durch

die

Untersuchungen

„Gazelle",

unserer

welche im südwestlichen Theile deS stillen Oceans, östlich von Australien,

zwischen Australien und Neuseeland, sowie im südlichen Theile des atlan­ tischen MeereS ausgedehnte Lothungen vornahm, die Untersuchungen, welche die

Commission

während

andererseits

für Erforschung Deutscher

Meere in dem Aviso „Pommerania" (1871 und 1872) in der Nord-

und Ostsee ausführte, sich durch große Exaktheit auszeichneten.

bereits

erwähnten Tiefseeforschungen kommen

Zu den

endlich noch jene, welche

der Norweger F. Mohn im nördlichen Theile deS atlantischen Oceans und

tat arktischen Meeresbecken vornahm, sowie diejenigen, welche von schwe­ discher Sette ebenfalls in den hochnordischen Meeren auSgeführt wurden.

Die wichtigste unter den aufgezählten Expeditionen ist zweifelsohne die bereits

erwähnte Forschungsreise deS

„Challenger",

welche

durch fast

3'4 Jahre ununterbrochen fortgesetzt, mit Ausnahme deS nördlichen PolarmeereS sich über alle Oceane der Welt erstreckte, die in die entlegensten Winkel unseres Erdballes eindrang und ein Material lieferte, das trotz

angestrengter Arbeit bis zum heutigen Tage noch nicht völlig gesichtet und

bearbeitet worden ist.

Um dem Leser einen Begriff zu geben von der

großartigen Thätigkeit, welche Ausrüstung schildern.

diese Expedition entfaltete, will

ich die

und die Reiseroute deS Schiffes hier mit einigen Worten

Der „Challenger"

war durch die Muntficenz der englischen

Regierung mit allen nur denkbaren wiffenschaftlichen und technischen Hülfs­ mitteln versehen.

Ein chemisches und

ein

zoologisches

Laboratorium,

besondere Kartenztmmer, um Durchschnitte und Pläne der Meerestiefen

photographische Apparate, um alle interessanteren Objekte

zu zeichnen,

vervielfältigen zu können, sowie alle jene Apparate, deren ich im Nach­

folgenden Erwähnung thue, waren im reichsten Maaße vorhanden.

Der

„Challenger" hatte eine Reihe der namhaftesten Gelehrten an Bord, so vor Allem den bereits erwähttten Professor Whville Thomson, den wissen­

schaftlichen Leiter des Unternehmens, den Geologen Murrah, den Che­ miker Buchanan, den Zoologen Moseley und unseren LandSmann Dr.

von WtllemoeS-Suhm, der von einer tückischen Krankheit in der Blüthe

der Jahre dahtngerafft nicht weit von den Sandwichinseln in jenem Ocean, den zu erforschen er rastlos bestrebt war, ein nasses Grab fand.

Das Schiff, welches am 23. Dezember 1872 den Hafen von Sherneß

verließ, wandte sich zunächst der Küste von Portugal, der Straße von

Gibraltar und dem lieblichen Madeira zu, steuerte sodann unter fort­ währendem Lothen und „Dredgen" (d. h. mit Anwendung des Schlepp­

netzes), die beiden Tiefseebecken und den dazwischen befindlichen unter­ seeischen Bergrücken

des atlantischen OceanS quer durchschneidend nach

St. Thomas, von dort nach den Bermudas,

Halifax.

nach Sandy Point

und

Bon dort wurde die Reise zurück nach den Bermudas, nach

den Azoren und den Cap-Berde-Jnseln, dann südwärts entlang der afti-

kanischen Westküste bis Cap Mesurado fortgesetzt.

Abermals wurde dann

der atlantische Ocean durchschnitten, der St. Pauls Fels und Fernando Norontha besucht und an der brasilianischen Küste ausgedehnte Lothungen

vorgenommen.

Nachdem die Insel Tristan d'Acunha und die Jnaccessible

Islands angelaufen waren, und der atlantische Ocean zum vierten Male durchkreuzt war, wurde gegen Ende 1873 das Cap der guten Hoffnung

erreicht,, woselbst nothwendige Reparaturen einen mehrwöchentlichen Aufent­ halt zuerst in der Simons-, dann in der Tafelbay nothwendig machten. Die während des ersten Jahres der Challengerreise gewonnenen Resul­ tate liegen uns in dem von Wyvtlle Thomson herausgegebenen Werke:

Voyage of the Challenger: The Atlantic, in vollständigem Zusammen­

hänge vor, während die auf der folgenden Reiseroute gemachten Beobach­ tungen erst bruchstückweise veröffentlicht sind.

Vom Cap der guten Hoff­

nung setzte das Schiff seine Reise fort nach den im südlichen indischen Ocean gelegenen Marionö-Prince Edwards- und Crozetinseln, von dort nach der Kerguelengruppe und der MacdonaldSinsel/

In 78° östlicher

Länge von Greenwich wurde der Polarkreis überschritten, aber kein Land

angetroffen.

(Die Existenz des Landes, welches der Amerikaner WtlkeS

hier entdeckt haben will, welches nach ihm WilkeSland benannt wurde und

auf allen Karten des SüdpolarmeereS angegeben ist,

erscheint nach

der

Expedition des Kapitän Roß und den Beobachtungen des „Challenger"

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

64

als höchst unwahrscheinlich.)

Da Packeis in 65° 42' S. Br. und 79°

49' O. L. dem weiteren Vordringen große Schwierigkeiten entgegmstcllte, wandte sich das Schiff, einem furchtbaren Sturme und der gefährlichen

Nachbarschaft der Eisberge nur mit Mühe entgehend, der Süffc SüdAustraliens. zu.

Hier wurde Melbourne und Sydney angelaufen, dann

ging eS nach Neuseeland, nach dem Fidschiarchipel,

den wenig besuchten

Kermadecinseln und Neuen Hebriden und von dort zur TorreSstrcße, der

Arafura-, CelebeS- und Minderorosee.

Nach

einem

Aufenthalt in Hongkong wurden die Philippinen,

Admiralitätsinseln besucht.

nesischen Jnselreich

und

sechSwöchmtlichen

Neu-Guinea unb die

Von dort wurde die Reise nach dem Japa-

über die ungeheure Tiefe östlich von der Küste

Japans nach den Sandwichinseln, von da südlich nach Tahiti, denn öst­

lich nach Juan Fernandez und Valparaiso fortgesetzt.

Nachdem an der

Küste von Chile ausgedehnte Untersuchungen vorgenommen waren, wurde die Rückreise durch die MagelhaenSstraße zurück in den atlantischen Ocean

angetreten, die Falklandstnseln und Montevideo besucht, um von dort in

weitem 8-förmigen Bogen noch einmal die AtlantiS in der Richtmg von

Norden nach Süden zu durchschneiden, bei welcher Gelegenheit die Insel AScension, die Cap Verdeinseln und Vigo an der spanischen Kiste an­ gelaufen wurden.

Am 25. Mai 1876 traf der „Challenger" wuder Im

Hafen von Sheerneß ein, nachdem er im Ganzen die ungeheure Distanz

von 69,000 engt. Meilen — nahezu die dreifache Länge deS ErdäzuatorS — zurückgelegt und 96,000 Centner Kohlen verbraucht hatte.

Ehe ich nun dazu übergehe, die durch diese Expedition in Veründung

mit den zuvor erwähnten wissenschaftlichen Forschungsreisen gewmnenen Resultate — soweit dieselben bis jetzt mit Sicherheit festgestellt sind —

dem Leser klar zu legen, muß ich zuvor jener Apparate Erwähnurg thun,

vermittelst deren eS allein möglich war, innerhalb verhältnißmäßh kurzer Zeit diesen neuen Zweig der physischen Geographie zu begründen und

zugleich eine Lösung mannigfacher anderweitiger Probleme vorzuiereiten. Die in erster Linie zu beantwortende Frage war, wie bereits crwähnt, die von der Tiefe der Oceane, von den Hebungen und Senkunzen des

Meeresbodens

und handelte eS sich hier vor Allem darum gemue Lo­

thungen zu erzielen.

Man hat allerdings schon vor langer Zet, noch

ehe die eigentliche Tiefseeforschung tnS Leben trat, durch Ausweisen des

Senkbleis — wie dies die Vorsicht dem Schiffer in der Nähe wn Un­ tiefen gebietet — sich über diese Verhältntsie Aufklärung zu schüfen ver­

sucht; aber einerseits waren diese Lothungen nicht genügend an Zrhl und auch nicht

nach einem bestimmten System vorgenommen,

andrerseits

konnten die mit den früheren unvollkommenen Apparaten vorgencmmenen

Lothringen

auch

auf annähernde Genauigkeit keinen

Anspruch machen.

Der Moment, wo das mit Gewichten beschwerte Seil den Meeresboden berührt, konnte bei den Lothen,

wie sie früher zur Anwendung kamen,

in tieferen Oceanen niemals mit einiger Sicherheit festgestellt werden;

denn selbst wenn das Gewicht bereits auf dem Meeresgrunde angelangt

war, pflegte die Leine durch die Strömungen getrieben von der an Bord

deö Schiffes befindlichen Rolle sich noch eine Zeit lang abzuwickeln und so kam es, daß die mit den älteren Apparaten vorgenommenen Lothungen

meist zu große Resultate ergaben, daß — um nur ein Beispiel hier an­ zuführen — die Lothungen deS „Challenger" und der „Gazelle" im süd­

lichen atlantischen Ocean übereinstimmend nur 4400—5300 M. ergeben

haben an Stellen,

wo Denham

und Parker in 1852 noch 14,000 bis

15,000 M., also nahezu die dreifache Tiefe gelothet hatten.

Der neuesten

Zeit war es, wie schon gesagt, Vorbehalten, diese Irrthümer durch ver­ besserte Apparate, welche genaue Lothungen

Das von dem

Amerikaner

ermöglichen, zu beseitigen.

Brooke konstruirte,

Ticfseeloth besteht aus einem metallenen Stab, wicht — entweder

angewandte

allgemein

der durch ein Metallge­

ein chlinderförmigeS Eisenstück oder eine durchbohrte

Kanonenkugel — gesteckt wird.

Dieses Gewicht wird durch einen Metall­

draht in seiner Lage gehalten, der wiederum an 2 federnden Haken, die

auS der Spitze deS Stabes hervorstehen, befestigt ist.

Solange das Loth

sich abwärts senkt, bleibt daS Gewicht mit dem Stabe verbunden; sobald

aber nun der Meeresboden erreicht ist, schnellen in Folge des erhaltenen StoßeS die beiden federnden Haken abwärts, der Draht gleitet ebenfalls

hinab und das Gewicht nicht länger gehalten, fällt auf den Meeresboden,

während der Stab, nachdem sich eine an seinem unteren Ende befindliche Aushöhlung mit Proben des Meeresbodens gefüllt hat, mit einem Rucke

emporschnellt.

Selbst wenn die Leine durch die oceanischen Strömungen

getrieben von der an Bord des Schiffes befindlichen Rolle sich noch eine

Zett lang abwickelt, so tritt doch in Folge der Entlastung des Lothes von

dem beschwerenden Gewichte eine so bedeutende Verlangsamung deS Ab­ rollens ein, daß schon hierdurch der Moment,

in welchem das Loth den

Meeresboden berührt, an Bord des Schiffes deutlich erkennbar wird und

man hat dann eben nichts weiter zu thun als die Leine wieder aufzu­

rollen und ihre Länge zu messen, waS durch die von 50 zu 50 Meter in das Kabel etngesponnenen farbigen Fäden bedeutend erleichtert wird.

(Neuerdings benutzt Professor Thomson statt der Leine Clavierdraht, und wird die Länge, bis zu welcher derselbe sich von der Rolle abwickelt, durch die Umdrehung eines Zeigers auf einem Zifferblatte markirt.)

Auf

einem ähnlichen Prinzip, wie das Brooke'sche Tiefseeloth beruht daS deS Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLV11L Heft 1

5

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

66

Engländers Bailey, während der sinnreiche Apparat des Amerikaners Fitzgerald aus mehreren durch Charniere mit einander verbundenen Me-

tallstangen besteht, von denen eine mit einem Schöpskästchen — dazu be­ stimmt Proben deS Meeresbodens emporzubringen — und einer Einrich­ tung zur Selbstauslösung des Gewichtes versehen ist.

Eine für die Tief­

seeforschung besonders wichtige Aufgabe war die Construktion von Ther­ mometern, welche den Forscher in den Stand setzen sollten, die Temperatur

deS Meerwassers in den verschiedenen Niveaus des Oceans ohne Schwie­

rigkeit festzustellen.

Die gewöhnlichen Thermometer sind zu diesem Zwecke

unbrauchbar, da der gewaltige Druck der Wassermassen in den oceanischen Abgründen regelmäßig einen zu hohen Quecksilberstand bewirkt.

Diesem

Uebelstande haben Miller und Casella dadurch abgeholfen, daß sie die

Quecksilber-Kugel und -Röhre in eine zweite mit Weingeistdämpfen ge­

füllte Röhre dermaßen einschmolzen,

dem

Drucke

äußeren

daß die Spannung dieser Dämpfe

Wafsermassen

der

entgegenwirkt.

Miller-

DaS

Casellasche Tiefseethermometer bietet außerdem den Vortheil, ein selbst-

registrirendeS Maximal-

und Mintmalthermometer zu sein,

d. h. die

niedrigste und höchste Temperatur deS MeerwasserS, durch die cS passirt, durch einen auf der Quecksilbersäule ruhenden Schwimmer zu verzeichnen.

Ein Apparat, der bei der Tiefseeexploration eine große Rolle spielt, ist

das bereits erwähnte Schleppnetz (dredge der Engländer und Amerikaner), eine Vorrichtung, welche der Däne O. F. Müller bereits um die Mitte

des vorigen Jahrhunderts

von den Austernfischern entlehnte.

Dieselbe

besteht aus einem 4 bis 6 Fuß langen eisernen Rahmen, an welchem ein aus starkem Tauwerk geflochtener Beutel befestigt ist. auf dem Meeresboden hin-

Der Sack wird

und hergeschleift und dient dazu größere

Thiere in sich aufzunehmen, während kleinere Mollusken u. bergt, mehr durch

am

die

Beutel

befindlichen

Quasten

aufgefischt werden.

DaS

Schleppnetz eignet sich übrigens nicht überall zur Grundfischerei; in flachen Meeren

kommen

Tteffischnetze von mannigfacher Gestalt und daS an

einem Stabkreuz befestigte Netz, welches die Korallenfischer mit Vorliebe benutzen und das den alten Phöniciern vermuthlich schon bekannt war, zur Anwendung.

Zum Emporschasfen von Wasserproben dienen Metallcylinder,

nach Capitain SigSbee, die durch Ventile verschließbar sind und die während

sie beim Htnabsinken offen stehen und das Meerwasser ungehindert hin­ durch passiren kaffen, sich, sobald daS Aufwinden der Leine beginnt, sofort

schließen und somit die Proben auS jeder beliebigen Tiefe ans Tageslicht empor befördern. — Ich kann hier nicht alle jene Apparate besprechen,

welche der Tiefseeforschung wichtige Dienste geleistet haben und will nur noch deS

„Accumulators"

gedenken.

Bis zur Anwendung dieser höchst

einfachen Vorrichtung konnte man die Lothungen und sonstigen Unter­

suchungen nur bei völlig windstillem Wetter und spiegelglatter See vor­

nehmen, weil der Wellenschlag deS Meeres, das Rollen des Schiffes von einer Seite auf die andere, Zerningen, bisweilen auch Zerreißungen der

Lothleine

hervorrief und die Thermometer und

fährdete.

Diesem Uebelstand hat man dadurch abgeholfen, daß man zwei

sonstigen Apparate ge­

runde Holzscheiben vermittelst j60 bis 80 fingerdicken Guttaperchaschnüren mit einander verband.

Während das obere Ende des „AccumulatorS"

an einer SchiffSraae befestigt wird, ist am unteren Ende die Rolle an­

gebracht, über welche die Leine vor ihrem Eintauchen in die Fluth hin­ läuft.

Der Accumulator, der in unbelastetem Zustande nur 3 brö 4 Fuß

lang ist,

dehnt sich bei einer Belastung von 50 Centnern bis zu einer

Länge von 20 Fuß und durch die Einschaltung dieser Vorrichtung, welche

die Schwankungen und Zerrungen der Lothleine bis zu gewissem Grade aufhebt, ist der Forscher in den Sland gesetzt auch bei einigermaßer be­

wegter See seine Untersuchungen anzustellen. Soviel über die wichtigsten Apparate und Hülfsmittel der Tiefsee­

forschung. — Fassen wir nun die gewonnenen Resultate ins Auge und zwar zunächst soweit dieselben daS organische Leben der MeereStiefe be­

treffen, so muß ich von vornherein bemerken, daß schöpfende Darstellung

in

nicht angestrebt werden kann.

müssen,

eine irgendwie er­

dem engbegrenzten Rahmen dieser Zeitschrift Wir werden unS vielmehr damit begnügen

hier nur einige der wichtigsten Thatsachen zu einem Gesammt-

bilde zusammenzufassen; insbesondere den wichtigen Einfluß, welchen das Studium der submarinen Welt auf den Fortschritt der Naturwissenschaften

im Allgemeinen auözuüben verspricht,

ins

gehörige Licht zu setzen. —

Bemerken will ich hier sogleich, daß jene Ansicht, die noch vor Kurzem

allgemein verbreitet war, die größten Tiefen des Meeres

seien unbe­

wohnt, da bei dem dort herrschenden Drucke der Wassermassen organisches Leben

nicht

existiren

könne



daß

diese

Ansicht vom

„lebenSlosen

AbyssuS", wie der Engländer ForbeS die Tiefen bezeichnete, sich als eine durchaus irrige herausgestellt hat.

Der Tiefgrund deS MeereS be­

herbergt vielmehr überall — unter der Sonne der Tropen wie im Eise der Polargegenden — organisches Leben, wobei

allerdings die mit dem oben erwähnten SigSbee'schen Chlinderapparat

angestellten Untersuchungen eS unwahrscheinlich machen, daß zwischen der Fauna der oberen Wasserschichten und der Abgrundfauna eine von leben­

den Wesen bevölkerte Zwischenzone extstire. — Bemerkenswerth ist ferner die Thatsache, daß in den Tiefen deS Oceans noch heutzutage

zahlreiche niedere Thiere leben, die auf der Oberfläche der

5*

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

68

Erde zwar nicht lebend angetroffen werden, deren Ueberreste

wir aber in den Gesteinen vergangener geologischer Epochen vorftnden.

So hat z. B. die globigerina bulloides, welche gegenwärtig

den Boden ganzer Oceane mit ihren 1 mm großen Kalkschalen bedeckt, schon vor Hunderttausenden von Jahren wenn nicht auf der Oberfläche der

Erde so doch im Meere existirt und bei der Bildung ungehellrer Ge­ steinsschichten

mitgewirkt.

„Kein

Mikroskopiker

kann



wie K. Vogt

(Stand und Aufgaben der heutigen Paläontologie) sehr treffend bemerkt — an den runden winzigen Schälchen dieser niedersten Klasse von Thieren erkennen, ob sie dem heutigen Ttefseeschlamme oder den weißen Kreide­

klippen der englischen und französischen Küsten entnommen sind.

Diese

in Tiefen von 3000 M. und mehr sich ablagernden Thierchen haben also

von der weißen Kreide durch die ganze Tertiairperiode hindurch fortge­ lebt, sie haben gelebt während der Ablagerung der Nucumulitengesteine,

des Grobkalks, der Molasse,

deren jede an manchen Orten mehr als

1000 M. mächtig ist, sie haben die letzten Erhebungen der Pyrenäen, der

Alpen und Karpathen überdauert." — Die Globigerina steht nicht etwa vereinzelt da; auch in höheren Thierklassen findet man ähnliche Erschei­ nungen.

So hat bereits Forbes

in 1843 das Fortleben von Muscheln

auS der Tertiairperiode im Mittelmeer nachgewiesen; so wissen wir jetzt,

daß die Familien der Crinoiden (Meerlilien) — zur Klasse der Echinodermen gehörig — die in den älteren Gesteinsschichten so zahlreiche Re­

präsentanten hat, noch heute am Meeresboden in gewissen Tiefen ganze Waldungen bildet. — Welch' unendlich wichtige Aufschlüsse die Geologie

durch solche Thatsachen erhält, liegt auf der Hand.

Vor 30 bis 40 Jahren

gab es noch zahlreiche Geologen, welche an die Lehre von plötzlichen Erd­ umwälzungen und Kataklyömen, an das plötzliche Zugrundegehen und un­ mittelbar darauf folgende Auftreten einer neuen Schöpfung glaubten.

Heutzutage hat die Tiefseeforschung, indem sie nachweist, daß Organismen, die während längst entschwundener geologischer Epochen einst auf der Erde

lebten, noch heutzutage den Tiefgrund bevölkern, diesem Glauben an scharf begrenzte geologische Epochen den Gnadenstoß ertheilt und die Lehren eines

Lyell und anderer Geologen, denenzufolge

auf

samen Revolutionen, sondern nur langsame,

der Erde keine gewalt­

allmählige Veränderungen

vor sich gehen und vor sich gegangen sind, aufs Glänzendste bestätigt.

Noch in

anderer Weise verspricht daS Studium der Tiefseefauna

einen Einblick in die Vergangenheit unseres Erdballs zu eröffnen.

Car­

penter hat im nördlichen atlantischen Ocean eine Linie nachgewiesen, wo in den Tiefen des Meeres kalte und warme Strömungen an einander

grenzen, Strömungen, welche verschiedene Materialen mit sich führen, so

daß

die

Schichten,

welche

am Meeresboden

sich

niederschlagen,

den

Schwemmassen dieser Strömungen entsprechend einen verschiedenen Cha­

rakter tragen.

Auch die Thiere, welche mit diesen Strömungen die See

durchwandern, repräsentiren völlig verschiedene Typen; westlich von der soeben erwähnten Scheidelinie Carpenter'S

finden sich Thiere deS nörd­

lichen Eismeeres, welche die kalte Polarströmung vom hohen Norden heranführt;

östlich

von dieser Scheidelinie bringt daS Schleppnetz Be­

wohner der tropischen Meere anS Tageslicht empor, welche mit dem

Golfstrom nordwärts wandern.

Nahe der Küste von Florida hat Pour-

taleS eine Anzahl von Zonen nachgewiesen, innerhalb deren verschiedene

Strömungen und verschiedene Temperaturgrade deS MeerwasserS eine völlig verschiedene Fauna ins Leben

gerufen haben.

Ziehen wir diese

Thatsachen in Erwägung und bedenken wir, daß in vergangenen Epochen unseres Erdballs

die für die Thierwelt gegebenen Existenzbedingungen

ebenso mannigfaltige gewesen sein müssen wie heutzutage, so kommen wir

zu dem Schluß, daß die gegenwärtig noch ziemlich allgemein verbreitete geologische Anschauung, Verschiedenartigkeit der organischen Einschlüsse in gewissen Ablagerungen beweise ein verschiedenes Alter derselben, wesent­ lich eingeschränkt werden muß.

In dem Gesagten ist zum Theil schon daS enthalten, was ich über die Existenzbedingungen der submarinen Thier- und Pflanzenwelt zu sagen

habe.

Temperatur, Salzgehalt und GaSauStausch im Meereswasser, so

wie die Beschaffenheit des Meeresbodens beeinflussen daS Auftreten der

oceanischen Organismen in derselben Weise,

wie die Verbreitung der

Thiere und Pflanzen an der Erdoberfläche durch die Verschiedenheit der klimatischen Verhältnisse und

bedingt wird. wohin der

durch die Bodenbeschaffenheit der Länder

In den größten Tiefen, wo der Druck ein sehr hoher ist,

goldene Lichtstrahl nicht zu dringen vermag, leben

andere

Wesen, als in jenen Regionen des Meeres, die dem Licht noch bis zu

gewissem Grade zugänglich sind.

grundes

Die Fauna und Flora des Schlamm­

ist wesentlich verschieden

Andererseits

von der deS felsigen Meeresbodens.

spielen lokale Verhältnisse hier mitunter eine große Rolle.

An der Außenseite des Korallenriffs, welche von der Brandung gepeitscht

wird, Hausen

andere Bewohner als auf der Innenseite in der flachen

Lagline, wo die mit dünnen, zerbrechlichen Schalen auSgestatteten Thiere eine sichere Zufluchtsstätte finden.

Schmelzende

Küstengletscher, welche

dem Ocean fortwährend Süßwassermassen zuführen, submarine Vulkane, die den Meeresboden mit Lavamassen bedecken

und mächtige Ströme,

welche ihre Schlam »lassen meilenweit hinaus in die See führen, beein­ flussen ebenfalls das organische Leben der Tiefe. — Niveauveränderungen,

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

70

Sinken deS Meeresbodens, Hebungen der Küste, üben, indem sie die Druck- und Temperaturverhältnisse in gewissen Theilen des OceanS und

somit die Lebensbedingungen verändern,

gleichfalls einen wichtigen Ein­

fluß auf die oceanische Organiömenwelt aus.

(Einen interessanten Beleg

hierfür bietet Lophelia prolifera, eine biegsame Koralle, welche in der

Nähe der norwegischen Küste

erhält,

in bedeutenden Tiefen sich noch am Leben

während diejenigen Korallenbäume, die mit der Küstenerhebung

Skandinaviens bis nahe zum Meeresspiegel emporstiegen, längst abge­ storben sind.) — Andererseits sind die Resultate der Tiefseeforschung

die Evolutionstheorie

bis jetzt noch wenig verwendbar, wie

für

aus den

Worten W. Thomfon'S hervorgeht: „In allen jenen Fällen, wo eS mög­

lich gewesen ist, Beobachtungen mit Bezugnahme auf diese Frage anzu­ stellen, hat die Tiefseefauna Beweise beizubringen versagt für jene Theorie,

welche die Entstehung der Arten der mannigfaltigsten Formengestaltung verbunden mit natürlicher Zuchtwahl zuschreibt." —

Die großartige Bereicherung, welche die biologischen Wissenschaften,

insbesondere die Zoologie, der Tiefseefauna verdanken, im Einzelnen zu betrachten, darauf müssen wir hier verzichten.

Während in Tiefen von

bis zu 30 M. — in der Strandzone und der Zone der Bandalgen, wie

Austen diese MeereSniveaux bezeichnete — ein unendlicher Formenreichthum und eine Farbenpracht, würdig des Pinsels eines Markart, unS begegnet,

so hat In einer Tiefe von 100 M., wo der Einfluß des Lichtes schon fast vollständig geschwunden ist — (nach den von Forel im Genfersee ange­ stellten Versuchen wird in dem soeben bezeichneten Niveau Silberchlorür

vom Lichte nicht mehr angegriffen) — die organische Welt einen großen Theil ihres Farbenschmuckö verloren.

An die Stelle der grünenden Ge­

wächse sind hier Kalkalgen getreten.

Die Ansicht, daß alle in beträcht­

licheren Tiefen lebenden Thiere blind und farblos seien, hat sich übrigens nicht bestätigt; denn ein Pleurotoma, welches das Schleppnetz des „Challen­

ger" aus einer Tiefe von 4000 M. emporschaffte, hatte vollkommen ent­ wickelte Augen, ebenso ein Fusus, der aus 2200 M. emporgeholt wurde

und einzelne Arten, die in bedeutenden Tiefen leben, sind recht lebhaft gefärbt. — Die tiefsten MeereStheile dienen bekanntlich jenen einfachsten

Formen organischen

Lebens zum Aufenthalt, die

wir gemeiniglich als

„Protisten" (Erstlinge der organischen Welt) bezeichnen. der MeereStiefe zerfallen in 3 Klassen,

Diese Protisten

nämlich: 1) in die bereits er­

wähnte globigerina bulloides und die ihr nahe verwandte orbulina Uni­

versa — beide zur Familie der „Polhthalamien",' einer Klasse der „Rhizopoden" oder „Wurzelfüßler", gehörig — (ihren Namen Polythalamien

verdanken diese winzigen Geschöpfe dem Umstande, daß sie kuglig gewölbte

an einander abgeplattete Kammern darstellen, auS deren Poren die eiweißartige Ursubstanz in Form von Fäden hervorquillt) — 2) in Diatomeen, 3) in Radiolarien.

— Was die Globigerina anlangt, so werden ihre

winzigen Kalkschaalen allerdings irt fast allen Meeren in Tiefen von über 3000 M. angetroffen, jedoch ist die Frage nach den Wasserschtchten,

in

denen diese winzigen Geschöpfe, während ihre-Lebens sich aufhalten,

zur Zett noch ungelöst.

Während Thomson, Jeffreys und andere Forscher

der Ansicht sind, daß diese Organismen ausschließlich der Oberfläche an­

gehören und erst nach ihrem Tode auf den Meeresboden hinabsinken,

nimmt Carpenter an, bis

daß die Globigerina, nachdem sie schwimmend 12

16 Kammern hergestellt hat, zu wachsen aufhöre, sich mit einer

äußeren Kalklage umhülle und zum Zwecke der Vermehrung lebend auf

den Meeresboden niedersinke. — Die zweite Protistenklaffe, die Diato­ meen, sind bemerkenSwerth durch ihre zierlichen Kieselskelette — sogenannte

Kieselpanzer — sowie durch die Schnelligkeit ihrer Fortpflanzung. Ehrenberg

kann

(Nach

ein einziges Individuum binnen 4 Tagen eine Nach­

kommenschaft von 140 Billionen

erzeugen.)

Die fossilen Ablagerungen

der Diatomeen finden sich bekanntlich in den Polirschteferschichten bei Bilin in Böhmen, als Kieselguhrmassen bei Oberlohe im Lüneburgtschen,

sowie an mehreren anderen Punkten. — WaS die Radiolarien angeht,

so sind sie nach Haeckel die formenreichsten aller organischen Wesen.

Sie

haben mit den Diatomeen das Kteselskelett, mit den Polythalamien die Fadenfüße gemein, unterscheiden sich aber von Letzteren durch eine Cen­

tralkapsel und Nester gelber Zellen.

Sie erreichen ihre höchste Entwick­

lung bei hohem specifischem Gewichte des MeerwasserS und sind im süd­ westlichen Theile des stillen Meeres, sowie im malayischen Archipel be­

sonders verbreitet, während sie in hohen Breiten nicht angetroffen wer­ den. — WaS endlich den seiner Zeit vielbesprochenen Bathybius Haeckelii

oder „lebendigen Schlamm der Meerestiefen" anlangt, der von Huxleh

(1857) zuerst genau untersucht, dessen Existenz von Wallich, Thomson und Haeckel bestätigt wurde, so existirt derselbe in Wirklichkeit nicht, hat sich vielmehr als ein Kunstprodukt, hervorgerufen durch Zusatz von Al­

kohol zum Meerwasser herausgestellt. Analog der Pflanzenwelt der Erdoberfläche, welcher die Aufgabe zu­

gefallen ist, die durch den BerbrennungS- und AthmungSproceß fortwäh­ rend entstehende Kohlensäure zu absorbiren, Sauerstoff von sich zu geben

und somit die Zusammensetzung der Atmosphäre stets

als die nämliche

und für den thierischen Respirationsproceß geeignet zu erhalten — analog dieser Function hat die Thier- und Pflanzenwelt deS Meeres die Be­

stimmung jene Mafien aufgelöster Kiesel- und Kalkerde, welche dem Ocean

72

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

fortwährend durch die Flüsse zugeführt werden und die im Laufe der Zeit den Charakter des Meerwassers verändern müßte», zu verarbeiten und auf

diese Weise die chemische Zusammensetzung desselben zu erhalten. den Pflanzen sind eS hauptsächlich die kieselschaaligen Algen,

von

Don

den

Thieren: Polypen, Mollusken und Schwämme, die in Verbindung mit den zuvor erwähnten Protisten die richtige chemische Beschaffenheit des MeerwasserS stets auf'S Neue wiederherstellen und zugleich, indem sie ihre

Kalkschalen und Kieselskelette auf dem Meeresboden ablagern, zur Bildung

unserer Erdrinde beitragen.

Man kann wohl mit Burmeister behaupten,

daß alle Kalkgebirge unserer Erde einmal buchstäblich von diesen zum

Theil so kleinen Geschöpfen gefressen, verdaut und ausgeschwitzt worden

sind. — Unter den Bewohnern des Oceans, welche den Kalk verarbeiten, verdient die Koralle hier noch eine besondere Erwähnung und auch über

diese kleinen Baumeister des Meeres hat unS die Tiefseeforschung manche interessante Aufschlüsse geliefert.

Das eigenthümliche Verhalten der Ko­

rallenriffe und Koralleninseln des stillen Oceans ist bekanntlich schon durch

Darwin dahin erklärt worden, daß man dort einen im Meere versunkenen Kontinent vor sich habe, dessen höchste Spitzen nach dem Untersinken der niedrigeren Landmassen noch als Inseln auS dem Meere emporragten,

während, sobald auch diese Inseln unterzusinken anfingen, die Koralle, die hier günstige Lebensbedingungen vorfand, ihre stille Thätigkeit begann. Die riffbildenden Steinkorallen — Madreporen und Asträen — können allerdings in einer Tiefe von mehr als 36 M. nicht weiter fortleben;

aber das hindert nicht — vorausgesetzt, daß das Hinabsinken des Landes ein allmähliges ist — daß das Thterchen an der Spitze des unten abge­

storbenen Stockes nicht weiter fortknospen sollte. — Je tiefer die Inseln

sinken, um so höher baut die Koralle und so bewirken eS diese kleinen

unscheinbaren Wesen, deren Bauten hier als „Strandriffe" die Küste um­

säumen, dort als „Wallrisfe" zwischen Insel und Riff einen Kanal frei lassen, dann wieder als „Lagunenriffe" (Atolle) eine Salzwasserlagune

umschließen — so bewirkt eS die rastlose Thätigkeit dieser kleinen Ge­

schöpfe, daß diese höchsten Spitzen eines versunkenen Kontinents nicht längst

dem allverschlingenden OkeanoS zum Opfer gefallen sind, daß wenigstens die an ihrem Strande aufgerichteten Korallenbauten über Wasser bleiben.

Freilich da, wo das Sinken des Landes rasch vor sich geht, da vermag die emporbauende Koralle mit der Abwärtsbewegung nicht gleichen Schritt

zu halten und muß gänzlich absterben.

Ein solches Depressionsgebiet haben

wir durch die Lothungen der „TuScarora" kennen gelernt, welche im stillen

Meere zwischen Sandwich- und Bonininseln in 2200 bis 4000 M. Tiefe

die Existenz von 7 unterseeischen Erhebungen nachwies.

Auf und zwischen

diesen submarinen Bergen kam Korallenschlamm, Stücke von Korallen,

Kalk und Lava mit dem Tiefseeloth und Schleppnetz anS Tageslicht empor und diese Thatsachen

in Verbindung

zuerst von Darwin aufgestellten,

gesetzt mit der soeben erwähnten

später von Dana bestätigten.Theorie

über daS Wachsthum der Korallen lassen es als zweifellos erscheinen, daß

zwischen den bezeichneten Inselgruppen eine mächtige und schnelle Senkung

des Meeresbodens respect. ein Versinken des Landes während einer nicht weit zurückdatirenden geologischen Epoche stattgefunden hat.

Anscheinend

geringfügige Thatsachen sind eS, aus denen der Naturforscher seine Schlüsse zieht und ebenso wie die oben erwähnte lophelia prolifera durch ihr

Abstcrben einen neuen Beweis liefert von der Erhebung der skandinavi­ schen Westküste, so sind es die Korallen des stillen MeereS, welche unS

von den Umwandlungen berichten, die in der Vertheilung deS flüssigen und festen Theiles unseres Planeten dort vor sich gegangen sind. —

Wir gehen nunmehr dazu über, die geologische Beschaffenheit

des Meeresbodens einer kurzen Betrachtung zu unterziehen. — Unter

den Schichten, welche den Meeresboden bedecken, unterscheiden wir nach Murrah, dem Geologen der Challengcrexpedition, 3 verschiedene Gruppen

nämlich: 1, Küstenablagerungen, 2, schlammartige Ablagerungen im engeren Sinne, 3, rothe und grüne Thonmassen.

Erstere

finden sich wie der Name besagt, nahe den Gestaden der Kontinente und

größeren Inseln und bestehen aus den Trümmern des Landes, welche durch die Flüsse dem Meere zugeführt werden.

In einigen Fällen er­

strecken sich diese Küstenablagerungen auf beträchtliche Entfernungen in den Ocean hinein, so z. B. an den Küsten Südamerikas, wo die Schlicktheile

des Amazonas und Orinoko durch den Aequatorialstrom des atlantischen Meeres weit nach Nordwesten fortgetragen werden, so an der chinesischen Küste- wo die gelben Schwemmtheile des Hoangho soweit hinaus in die

See geführt werden, daß das gelbe Meer davon seinen Namen erhalten

hat.

Am verbreitetsten unter den Ablagerungen in der Nähe der Küsten

sind grüne und blaue Schlammassen; hier und da treten wohl auch rothe tinb graue — nicht zu verwechseln mit den rothen und grauen Thon­ massen der größten Meerestiefen — auf.

Aus den Küstenschichten lassen

sich mitunter wichtige Schlüsse in Betreff der angrenzenden Länder ziehen. So berechtigt daS Auftreten grüner und blauer Schlammassen in der

Nähe der antarktischen Eiöbarriöre zu der Annahme, daß sich im südlichen Polarmeere außer dem bereits bekannten Land noch unerforschte Länder«

massen oder Inseln befinden. — Erwähnt sei bei dieser Gelegenheit der anscheinend geringfügige Umstand, daß daS Schleppnetz deS „Challenger"

an der Küste Nordamerikas — 300 Seemeilen von Halifax entfernt —

74

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

einen kleinen Granitblock anS

Tageslicht empor brachte,

der sich

bei

näherer Untersuchung als ein Stück „Shelburne-Granit", wie er sich an

der Küste von Neuschottland vorfindet, erwies. submarinen FindltngSsteines in

so

Das Auftreten dieses

beträchtlicher Entfernung

von der

Küste — nur durch eine schwimmende Eisscholle oder einen losgelösten

Küstengletscher konnte derselbe so weit hinaus in's Meer getragen werden — legt die Vermuthung nahe, daß analog der Glactalperiode Europa'S

auch im nördlichen Amerika in den Breiten Neuschottlands einst eine Eis­ zeit bestanden hat. — Dies nur im Vorübergehen. — Als zweite Gruppe

der Ablagerungen am Meeresboden müssen die vorwiegend auS den Ueber-

resten niedriger Organismen bestehenden Schlammassen betrachtet werden und haben wir

entsprechend den drei obenerwähnten

Globtgerinen - Diatomeen-

und

Radiolarienschlamm

Protistenklassen: unterscheiden,

zu

ersterer vorwiegend aus den Kalkschalen der Globigerina, letztere auS den

Kieselskeletten der Diatomeen und Radiolarien bestehend. — Die dritte und am Weitesten verbreitete Gruppe der oceanischen Ablagerungen bilden die rothen und grauen Thone, welche in der Regel die größten Tiefen

der Oceane einnehmen, während die aus den Resten der Globigerina, der

Diatomeen und Radiolarien zusammengesetzten Schlammassen mehr in den mittleren Tiefen — zwischen Küstenablagerungen und Tiefseethonen — sich vorfinden.

Die rothe Farbe der Thonschicht ist die vorherrschende,

geht jedoch häufig in Folge des Gehaltes an Mangan- oder Eisenoxyd ins Chocoladenbraune über.

Die meisten Tiefseethone

enthalten

eine

Beimischung von Resten kieseliger Organismen, jedoch nur eine geringe

Beimengung von Globigerinenschalen. DaS seltenere Auftreten deS letzteren Bestandtheils erklärt sich wohl daraus, daß die im Seewasser enthaltene

Kohlensäure unter dem durch die Tiefe bedingten Druck den Kalk auflöst

und nur die nicht kalkigen Bestandtheile der niederen Organismen zurück­ läßt, auS denen dann das Mangan durch einige verwesende Substanzen

auSgefällt wird. — Knochen und Zähne von Haifischen und Cetaceen, die mit Braunstein (Manganhyperoxyd) tncrustirl sind, finden sich wohl hier

und da in dem rothen Thon und beweisen nach Murray, daß sich die

Manganmafien sehr langsam niedergeschlagen haben.



Da wo der

Globigerinenschlamm unter dem Thon angetroffen wird — (an einzelnen Stellen ist dies Fall, während an anderen ^aS umgekehrte Verhältniß sich

vorfindet) — ist vermuthlich eine Senkung des Meeresbodens vor sich gegangen, nachdem die Globigerinen bereits abgelagert waren. — Feinere Mineralpartikelchen, aus Quarz, Glimmer, Bimstein und Lava bestehend,

fehlen selten unter den Tiefseethonen.

Die beiden letzteren Bestandtheile

scheinen bei der Bildung dieser Schichten eine hervorragende Rolle zu

spielen.

Sie entstammen zum Theil wohl den Festländern und Inseln,

von denen, wie bereits erwähnt, die Flußläufe und Ströme die Trümmer zersetzter und verwitterter vulkanischer Gesteine hinab ins Meer schwemmen, zum größeren Theile jedoch submarinen Vulkanen.

ES ist ja

bekannt, daß die unterseeischen vulkanischen Ausbrüche noch immer fort­

dauern, daß sie bisweilen sogar weite Meeresflächen mit Bimstein und

Asche bedecken und der Schiffahrt Gefahren und Hindernisse, bereiten. —

In Betreff der Temperaturverthetlung im Ocean hat man auSgeheild von der irrigen Anschauung, daß das Salzwasser ebenso wie daS Süß­ wasser bei -b 4° C sein Dichtigkeitsmaximum erreiche, und gestützt auf die

Beobachtungen, welche JameS Noß auf seinen Nordpolfahrten (1840—1843) mit ungenauen Thermometern angestellt hat, bis gegen die Mitte der sechziger

Jahre noch völlig irrigen Anschauungen gehuldigt. Während nun die Versuche

von DepretSz und Zöppritz ergeben haben, daß das Meerwasser abweichend vom Süßwasser im bewegten Zustand bei — 2° 55 C, im ruhigen erst

bei — 3° 17 C gefriert,

ist zugleich

die Methode

der

Temperatur-

messungen in letzterer Zeit bedeutend vervollkommnet worden. — Diese

Messungen werden so vorgenommen, daß eine Anzahl der oben erwähnten Miller-Casella'schen Tiefseethermometer oder daS Umkehrungsthermometer

von Negretti und Zambra in bestimmten Abständen an der Lothleine be­ festigt und in daS Meer hinabgelassen werden.

Man erhält auf diese

Weise für jede einzelne LothungSstelle eine Zahlenreihe, auS der man dann über die Lage der MeereS-Jsothermen d. h. über die Temperaturverthei-

lung in vertikaler, wie in horizontaler Richtung Schlüsse ziehen kann.

Die auf solche Weise festgestellten Thatsachen lassen sich in folgende Sätze zusammcnfassen: Im Allgemeinen nimmt die Temperatur deS MeerwasserS von der Oberfläche bis zu einer Tiefe von 700 bis 1100 M. ab und zwar zuerst rasch, dann langsamer.

In dem soeben bezeichneten Niveau

herrscht eine Durchschnittstemperatur von 4- 4° C.

Abwärts von 1100 M.

ist die Temperaturabnahme eine nur ganz langsame und allmählige.

Am

Meeresboden selbst — wenigstens in allen tieferen Oceanen — hält sich die Temperatur stets innerhalb sehr enger Grenzen. schwankt in den Aequatorialgegenden, sowie in

Sie

der gemäßigten Zone

zwischen + 2° und 0° C, während sie in den Polargegenden nicht tiefer als — 3° C herabsinkt.

Die geringen Unterschiede zwischen den Tempe­

raturen der tiefsten Wafferschichten in hohen und niedrigen Breiten fallen um so mehr auf, als an der Oberfläche des Oceans bekanntlich sehr be­

deutende Schwankungen zwischen Extremen von + 32° C (der höchsten Wärme

des

MeerwasserS

unter

dem

Aequator)

und — 30 C (der

niedrigsten Temperatur int Polarwasser) existiren. — Fragen wir nach

der Ursache der allgemeinen Temperaturerniedrigung

mit zunehmender

Tiefe, so rührt dieselbe nicht etwa von oberflächlichen Polarströmungen her — welche auch existiren, aber nicht ausgedehnt genug sind, um die

Wärmevertheilung im Ocean bedeutend zu beeinflussen — sondern viel­ mehr von einer langsamen,

summten

aber mächtigen Bewegung der ge­

unteren Wasserschichten

Polen nach dem Aequator.

Wichtigkeit.

in

der Richtung

von

den

ES ist dies eine Thatsache von großer

Durch die stärkere Verdunstung

deS Meerwassers in den

Regionen der Passatwinde — (in einzelnen MeereStheilen verdunsten im Durchschnitt täglich '/< Zoll, also

im Jahre eine 22 bis 23 Fuß

dicke

Wasserschicht) — durch diese Verdunstung wird daS Meerwasser mehr concentrirt d. h. salzhaltiger als in solchen Zonen, wo die Verdampfung eine

geringere ist.

Andererseits überwiegt in gewissen Breiten die Menge der

feuchten Niederschläge*)'die dort stattfindende Verdunstung in einem solchen

Grade, daß sehr bedeutende Differenzen zwischen dem Salzgehalt der

einzelnen Oceane — (daß solche Differenzen des Salzgehalts bis zu ge­

wissem Grade wirklich existiren, werden wir später sehen) — sich heraus­ bilden müßten, wenn nicht durch die soeben erwähnte Bewegung der un­ teren Meeresschichten vom Pol zum Aequator diese Unterschiede wieder ausgeglichen würden.

Diese langsame Strömung, welche eö bewirkt, daß

daS kalte Polarwasser unter dem Aequator bis nahe an die Oberfläche herandringt, ist auch insofern von hoher Bedeutung, als durch sie eine Stagnation der unteren Wasserschlchten verhindert, Gasauötausch ermög­

licht und somit der submarinen OrganiSmenwelt die für ihre Existenz

nothwendigen Bedingungen gewährt werden. — Der kalte Grundstrom ist natürlich um so ausgiebiger, je freier die Communication zwischen den Oceanen ist und es liegt auf der Hand, daß derselbe auf der südlichen

Hemisphäre eine bet Weitem größere Ausdehnung erlangt, da hier der

atlantische, stille und indische Ocean mit dem antarktischen Meere im un­ mittelbareren Zusammenhang stehen, als auf der nördlichen Halbkugel, wo

die Ländermassen Asiens, Europas, Grönlands und Nordamerikas eine freie Communication deS nördlichen atlantischen und stillen Oceans mit

dem arktischen Meere verhindern. — Auf diese Weise erklärt es sich auch, daß im stillen und indischen Ocean in correspondirenden Bretten und

Tiefen die Temperaturen im Allgemeinen niedriger sind, alö in der von Ländermassen umgürteten AtlantiS.

Um über die Bodentemperaturen deS

♦) Capital» King hat an den Anden von Patagonien den »ngeheureii Regensall von 151 Zoll in 41 Tagen beobachtet und Darwin berichtet, daß die Oberfläche deS Meeres an diesem Theile dec südalnerikanischen Westküste von dem enormen Quantum der feuchten Niederschläge oft fast ganz süß ist.

MeereS in verschiedenen Breiten hier noch einige genauere Mittheilungen

zu machen, so beträgt dieselbe in den beiden Polarmeeren — 2 bis — 3° C, jenseits der Polarkreise, aber noch nahe denselben 0° bis — 1,5° 6, in

den mittleren und niederen Breiten in Tiefen

von 3600—5500 M.

1 bis 2° C, dagegen am Aequator eigenthümlicher Weise wieder etwas weniger, nämlich etwas über 0°. — DaS Gesetz von der Abkühlung des

Meerwassers nach der Tiefe zu erleidet nur hier und da Ausnahmen,

welche durch lokale Verhältnisse bedingt sind.

So kommt eS vor, daß das

Oberflächenwasser kälter ist als die tieferen Meeresschichten, herrührend

von schmelzenden Eisbergen, welche die Temperatur herabsetzen und deren salzfreies Wasser wegen seiner großen Leichtigkeit sich längere Zeit auf der Oberfläche erhält. — Eigenthümliche Temperaturverhältnisse herrschen auch in solchen Meeren, die wie das Mittelländische Meer durch eine

unterseeische Barriere von der freien Communication mit dem offenen abgeschnitten sind.

Ocean

Tiefe von 220 bis 360 M.

Jener submarine Höhenzug, der in

einer

Cap Trafalgar an der Südküste Spaniens

mit Cap Espartel an dem gegenüberliegenden Gestade Nordafrika'S ver­ bindet,

bewirkt eS, daß abwärts von letzterer Tiefe dem Wasser der

Atlantis der Eingang ins Mittelmeer nicht gestattet ist und so erklärt eS sich, daß von der Oberfläche bis zu dem besagten Niveau das Wasser des

Mittelmeers dem allgemeinen Gesetze folgend sich abkühlt, daß eS jedoch

von 360 M. abwärts bis zn seiner größten Tiefe (3110 M.) stets die nämliche Temperatur, nämlich 12° 8 0 im westlichen, 13° 6 C im öst­ lichen Mittelmeerbecken beibehält, entsprechend der mittleren niedrigsten

Wintertemperatur in den beiden Theilen dieses Meeres. Wir müssen unS bezüglich der Temperaturvertheilung im Ocean auf

diese allgemeinen Angaben beschränken, indem wir unS Vorbehalten, Einiges, was bisher noch nicht erörtert wurde, bei der nun folgenden Uebersicht

über

die Tiefe und

decken nachzutragen.

Bodengestaltung der

einzelnen

MeereS-

WaS diese letzteren Verhältnisse anlangt, so haben

erst die innerhalb der letzten 15 Jahre angestellten Untersuchungen

zu

richtigen Vorstellungen geführt; eS wurde ja bereits erwähnt, daß die mit den früheren unvollkommenen LothungSapparaten vorgenommenen Messungen unzuverlässig waren.

Auch glaubte man damals noch, daß die größten

Meerestiefen sich in der Regel fern von den Küsten in der Mitte der Oceane befänden, eine Anschauung, die der Wirklichkeit durchaus nicht

entspricht.

Währeyd Maurh noch das atlantische Meer als einen mulden­

förmigen Trog betrachtete, der die neue Welt von der alten trennt, so ist

jetzt durch zahlreiche Lothungen als unzweifelhaft dargethan, daß sich die größte Tiefe der Atlantis wenige Meilen nördlich von St. Thomas, also

an der Ostküste Amerikas befindet;

ebenso wurde die größte Tiefe des

nördlichen stillen Meeres östlich von Japan, also im westlichsten Theile

des Pacific, die größte Tiefe des Indischen Oceans nahe der Küste von Australien, also im östlichsten Theile dieses MeereSbeckenS vorgefunden und nur in der Südhälfte deö stillen Meeres, scheint soweit wir unS nach

den gerade dort noch unvollständigen Lothungen ein Bild entwerfen können,

die größte Tiefe ziemlich in der Mitte zu liegen.

Obwohl hier und da

mächtige Abstürze und plötzliche Senkungen vorkommen, obwohl langge­ streckte Höhenzüge und Plateaux ebensowohl existiren wie durch vulkanische

Action emporgehobene PeakS, so besitzt der Meeresboden im Ganzen nur geringe

lokale

Hebungen

und

Bertiefungen,

so

daß

derselbe

zwischen 2 Punkten, die nur etwa 100 Seemeilen von einander entfernt

sind, in der Regel alS eine vollständige Ebene erscheint und dement­ sprechend ist der Charakter der submarinen Landschaft im Allgemeinen

ein sehr monotoner. WaS nun zunächst das Becken des

atlantischen Oceans an­

langt, so wird dasselbe seiner ganzen Längenausdehnung nach von einer

unterseeischen Bergkette oder genauer gesagt von einer Anzahl zusammen­

hängender Landrücken durchzogen.

Dieser Höhenzug, welcher eine 8-Form

besitzt und im Ganzen die Umrisse der östlichen und westlichen Küsten

dieses MeereS wiedergiebt, hängt mit seinem Nordende mit jenem unter­ seeischen Plateau zusammen, welches Europa mit Island und Grönland verbindet und besten südlichster Theil von dem transatlantischen Kabel, daS über ihn verläuft, den Namen „Telegraphenplateau" erhalten hat.

Südlich von den Azoren bildet die Bergkette der Atlantis die schon früher bekannte Untiefe des „Dolphin-rise“ (Delphinrücken) und nachdem sie

unter 10° N. B. einen Ausläufer hinüber nach Cap Oranje (an der Küste

Südamerikas) geschickt hat, biegt sie schmaler werdend nach Südosten um und schlägt endlich in der Nähe des Aequator eine rein südliche Richtung

ein.

Unter 35° S. B. zweigt sich ein zur Westküste Südafrikas verlau­

fender Höhenzug von ihr ab, dann erstreckt sie sich südlich bis zur Insel

Gough.

Ob sie dort endigt oder ob sie mit dem submarinen Plateau deS

antarktischen MeereS zusammenhängt, läßt sich zur Zeit noch nicht mit Bestimmtheit entscheiden.

Als die höchsten über daS MeereSniveau empor­

ragenden Bergspitzen dieses unterseeischen HöhenzugS sind auf der nörd­

lichen Halbkugel die Azoren, unter dem Aequator der St. Paul'S Fels, weiter südlich die Inseln Ascension und St. Helena und endlich in 37°

und 40° S. Br. die Insel Tristan d'Acunha und daS bereits erwähnte Gough zu bezeichnen.

Die Atlantis wird durch diese Bergkette in ein

östliches und westliches Becken getheilt, von denen das erstere, von der

Westküste Irlands bis in die Nähe des Kaps der guten Hoffnung ver­ laufend, ein tiefes Thal mit einer DurchfchnittStiefe von 4000 bis 4500 M. darstellt, während die zuvor erwähnte Abzweigung, welche der atlantische Höhenzug zur Küste Südamerikas sendet, daS westliche Becken in eine

nordwestliche und südwestliche Hälfte theilt.

Beide haben eine Durch-

schnittStiefe von 5500 M., jedoch befindet sich im nordwestlichen Theil,

wie bereits erwähnt, die größte atlantische Tiefe, da zwischen St. Thomas und den Bermudasinseln von dem Challenger 7086 M. gelothet wurden.

Welch' einen hohen und auf schmaler Grundlage schroff emporsteigenden Bergkegel die letztere Inselgruppe darstellt, beweist die Thatsache, daß

rings um die Bermudas die Tiefe der Atlantis fast nirgends weniger

als 6000 M. beträgt und daß die Inseln auf einer Basis, deren Durch­

messer nur 27 deutsche Meilen mißt, aus den oceanischen Abgründen ans Tageslicht emporsteigen. — Daß Hebungen und Senkungen des Meeres­

bodens durch vulkanische Kräfte im atlantischen Meere noch in der neuesten

Zeit vorgekommen sind, beweist jene Bank, die der Amerikaner Gorringe, Befehlshaber der „Getihsburg", in 1876 in einiger Entfernung von der Küste Portugals entdeckt hat, während andere Untiefen, die früher in der

Nähe von Kap St. Vincent existirten, dort neuerdings nicht mehr aufzufiitden find. — Um über jenen Theil des atlantischen Meeres, der die

Nordküsten Europas bespült, hier noch ein Paar Worte zu sagen, so liegen

die briltischen Inseln nach den Untersuchungen des Norwegers Mohn auf

einer Bank, t>ie sich westwärts in seichtem Wasser noch eine Strecke weit fortsetzt, dann aber steil gegen die atlantische Tiefe abfällt, die sich in

nördlicher Richtung allmählig gegen den zwischen Fäer-Oer und Shetlandinseln befindlichen Meereseinschnitt senkt, östlich die ganze Nordsee — (be­ kanntlich ein sehr flaches Meer) — einnimmt und nur int Nordosten zu

jener 700 bis 800 M. tiefen Rinne herabfällt, welche die Küsten deö südlichen Norwegens umgiebt und einen Theil deS Skager-Rak bildet.

Auch über den Golfstrom, den Vater der europäischen Kultur — denn in der Erwärmung der Küsten unseres Welttheils durch diese be­

rühmteste aller Meeresströmungen erkennen wir die Hauptursache unseres gemäßigten Klimas und somit die wichtigste Vorbedingung für die Ent­

stehung der Civilisation — auch über diese Strömung hat die Tiefsee­ forschung unser Wissen in mancher Beziehung erweitert.

Durch die Engen

von Florida heraustretend aus dem Golf von Mexiko stellt er einen Strom heißen Waffers dar, dessen Bett kaltes Wasser bildet.

Bis zur Küste

von Karolina behält er die schöne indigoblaue Farbe seines Wassers bei, welche durch hohen Salzgehalt hervorgerufen ist und mit dem Grün der be­ nachbarten Mecrestheile lebhaft contrastirt, Sandyhook gegenüber besitzt er

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

80

eine Breite von 60 eine Tiefe von 20 Seemeilen; die Temperatur seines

Wassers, die dort nach den vom Challenger angestellten Messungen an der Oberfläche im April und Mai noch 20 bis 26° C beträgt, ist in

einer Tiefe von 200 bis 300 M. bereits auf 14 bis 18 ° C herabge­ sunken.

Den Küsten Neufundlands gegenüber, das durch feine Wasser-

dünste in die bekannten „Silbernebel" gehüllt wird, hat sich der Golf­

strom bereits in mehrere Arme gespalten. — Jene sich nach Nordosten

fortbewegende Wassermasse, die allein zwischen 30 und 40“ N. Br. einen Flächenraum von 7500 geographischen Quadrat-Meilen mit einer 600 M. dicken Wasserschicht von 15“, 6 C bedeckt,

zunächst einen Zweig in die

DavieSstraße sendet, dann in ihrem weiteren Verlaufe sich in 4 Aeste

spaltet — (einen der die Westküste Islands, einen zweiten, der das west­

liche Spitzbergen, einen dritten der die Westufer Skandinaviens bespült und in einen vierten, der sich südwärts wendet) — diese warme Meeres­

strömung wird gemeiniglich mit dem Namen „Golfstromtrift" bezeichnet, obwohl ihr Ursprung streng genommen nicht im Golfstrom selbst, sondern

in der durch die Erwärmung der tropischen Gewässer hervorgerufenen oceanischen Ctrculation, in der Strömung des stark erhitzten Wassers nach Norden und in der weiterhin durch die Achsendrehung der Erde bewirkten

Ablenkung dieses Stromes nach Nordosten zu suchen ist. — Ohne hier auf die Strömungen des atlantischen Meeres näher etnzugehen, sei hier

nur noch bemerkt, daß der soeben erwähnte südliche Arm der Golfstrom­

trift, nachdem er die Westküsten Großbrittanniens, Frankreichs, Spaniens

und Nordafrikas berührt und die schwimmenden Meercsgewächse (vorwie­ gend : fucus natans, eine Tangenart), die er mit sich führt, in der Nähe

der Azoren zum Kräutermeer (wäre de Sargasso) zusammengespült hat,

in den von Osten nach Westen verlaufenden Aequatorialstrom und mit diesem zunächst ins Caraibische Meer, von da durch die Straße von

Dukatan wieder in den Golf von Mexiko eintritt und somit den Kreislauf der Gewässer der nördlichen Atlantis vollendet. —

Wenden wir uns vom atlantischen zu seinem Annexum, dem mittel­ ländischen Meer, so wurde bereits jener unterseeischen Barriöre Er­ wähnung gethan, die abwärts von 220 bis 360 M. diesem Gewässer

alle Eigenschaften eines Binnensees verleiht und eben sowohl die Tempe­ ratur des Wassers wie die Fauna in diesem Meeresbecken beeinflußt. —

Erwähnt sei hier auch jene Landverbtndung, die, wie die Tiefseeforschung

nachweist, ehedem Sicilten mit der nordasrikanischen Küste (dem heutigen Tripolis) verbunden Hal.

Das Mittelmeer bestand allem Anschein nach,

während einer im geologischen Sinne nicht weit zurück datirenden Zeit aus 2 getrennten, einem östlichen und westlichen Meeresbecken, welche durch

die soeben erwähnte Landverbindung sowie durch das Zusammenhängen StcilienS mit Italien von einander getrennt waren, während zu jener Zeit die iberische Halbinsel ebenfalls noch mit Nordafrika zusammenhing

und eine Straße von Gibraltar damals noch nicht existirte. — Die ehe­

malige Landbrücke zwischen Sicilien und Nordafrika erklärt auch eine an­

dere naturwissenschaftliche Thatsache auf die einfachste Weise, nämlich das Verhalten unserer Zugvögel, die, wenn sie über Italien und Sicilien nach Nordaftika fliegen, statt den kürzesten Seeweg von Sicilien hinüber

nach Tunis zu wählen, die entferntere Route via Malta nach der tripolitanischen Küste einschlagen.

Route,

wo

Die Vögel wählen

in der Regel jene

sie Land unter sich behalten und zur Nachtzeit auöruhen

können, und so schlugen sie denn bereits vor Jahrtausenden jenen Weg

ein, den die damalige Landverbindung als den Naturgemäßesten erscheinen läßt.

Später versank das Land an dieser Stelle; jedoch ging das Ver­

schwinden desselben so langsam und allmählig vor sich, daß die Zugvögel, von denen die jüngere Generation stets der älteren folgt, von dieser Ver­

änderung Nichts bemerken konnten und daß sie in Folge der durch Ver­

erbung sich fortpflanzenden Gewohnheit ihre alte Flugrichtung

bis auf

den heutigen Tag beibehalten haben. — Dies nur im Vorübergehen. — Während wir auf eine Schilderung der Tiefenverhältnisse und Boden-

beschaffenheit des MittelmeereS verzichten müssen, wollen wir nur nach

der Thatsache gedenken, daß im westlichen Theile dieses MeereSbeckenS, in welchen keine sehr bedeutende Flüsse einmünden, der Salzgehalt deS

SeewasserS ein erheblich bedeutenderer ist als im östlichen Theile des­ selben Meeres, in welchen der Nil seine Gewässer ergießt, wo Donau,

Dniepr, Dniestr und Don dem Schwarzen- und Asowschen- und somit

indtrect dem östlichen Mittelmeer fortwährend Süßwaffermaffen zuführen und dadurch den Einfluß der Verdunstung

Meerwaffers wieder aufheben. DaS nördliche Polarmeer

auf die Concentration

des

stellt eine von den Ländermassen

Asiens, des nördlichen Europas, Grönlands — dessen Jnselnatur durch die Gezeitenbeobachtungen der „Polaris" und der letzten Englischen Nord­

polexpedition erwiesen wurde — und Nordamerikas eingeschlossenes Becken

dar.

Während die den amerikanischen und asiatischen Küsten nahe gele­

genen Theile dieses Meeres als allmählig sich abflachende Fortsetzungen

der angrenzenden Continentalebenen betrachtet werden müssen, erreicht das

Eismeer zwischen Grönland, Island, Norwegen und Spitzbergen seine größte Tiefe (4846 M.), von welcher auSgetiefte Rinnen — darunter die

bereits erwähnte Bodensenkung an der Südküste Norwegens und der 1100 M. tiefe Kanal zwischen den Fäer-Öer und Shetlandinseln ihren Preußisch« Jahrbücher. 8b. XLVIII. Heft 1.

6

Ursprung nehmen.

Letzterer Kanal bewirkt den WasserauStausch zwischen

der Eismeertiefe und dem atlantischen MeereSbecken, welche durch das

zuvor erwähnte submarine Schottland-JSland-Grönland-Plateau fast voll­ ständig von einander geschieden sind. In der Fäer-Öer-Shetlandrinne,

sowie im nordöstlichen Theile deS atlantischen Beckens hat Carpenter zuerst jene beiden in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Tiefseeströmungen — einen von Nordost nach Südwest verlaufenden Strom kalten Wassers und

östlich davon, aber unmittelbar angrenzend, einen in entgegengesetzter Rich­ tung verlaufenden warmen Strom beobachtet, die entsprechend ihrem verschie­

denen Ursprung eine völlig verschiedene Fauna mit sich führen (S. oben).

An die Oberfläche steigt die warme atlantische Strömung (Golfstromtrift) bis in hohe Breiten hinauf, breitet ihr Wasser über die Bänke aus,

welche die Westküste Skandinaviens umgeben, und bewirkt es, daß wäh­ rend des Winters der constante Ueberschuß der Meeres- über die Luft­

temperatur bei den Shetlandtnfeln 3° 4 C nahe dem Nordkap

6° 6 C beträgt.

sogar

Auf diese Weise erklärt es sich auch, daß die durch­

schnittliche Temperatur der Meeresoberfläche bei den soeben bezeichneten Inseln im Januar noch 70 C — (gleich der Temperatur von Rom in

demselben Monat) — daß sie bei Truholm (nahe dem Nordkap Europas), wo in diesem Monat die Sonne gar nicht mehr sichtbar ist, noch + 3° C

beträgt.

In

Folge der Erwärmung seiner Küsten durch das warme

Wafler ist Norwegen das nördlichste Land der Erde, wo Ackerbau noch betrieben wird, da Weizen dort bis zu 64°, Gerste sogar bis zu 70° N. Br. gezogen wird*).

Der Stille oder Große Ocean (von Engländern und Ameri­

kanern Pacific genannt), zu dessen Betrachtung wir nun übergehen, be­ sitzt in seinem Charakter.

östlichen und westlichen Theil einen völlig verschiedenen

Die östliche, Amerika zugewandte Hälfte stellt eine große un­

unterbrochene Wafierfläche fast ohne Inseln dar, während die Asien und Australien zugekehrte Seite zwischen 30® N. Br. und 30° S. Br. auS einem Gewtrre von einzelnen Meeren besteht, die durch Jnselreihen (die höchsten Spitzen unterseeischer Bergketten) von einander geschieden sind.

Obwohl einzelne Theile des stillen Meereö noch nicht genügend unter« *) Mit Bezug hierauf sagt Schleiden (das Meer S. 67), indem er einen Vergleich anstellt zwischen dem nördlichen Europa und den correspondirenden Breiten in Asien und Amerika: „Während in Hammerfest noch glückliche Menschen leben und eine lustige Sommermeffe Tausende von Fremden vereinigt, sind wir in Asten in derselben Breite fast 4° nördlicher als die furchtbare Behringstraße von ewigem Eis umschloffen; dem Korn- und Gartenbau Drontheim's entspricht etwa das Kap Navarin im Land der elenden Tschnktschen, denen Fische und Rennthiere die einzige Nahrung sind und wer möchte wohl die blühenden Fluren von Holstein mit PetropawloSk in Kamschatka vertauschen?" —

sucht wurden, so vermögen wir doch aus den Lothungen deS „Challenger",

und unserer „Gazelle" ein ziemlich klares Bild von

der

„TuScarora"

der

Bodengestaltung

dieses

OceanS

(Mittlere Tiefe des großen Oceans.

uns

zu

entwerfen.

Dr. Supan

Geographische Mittheilungen 1878

S. 213—215) hat sogar eine Art Triangulation des Meeresbodens vor­

genommen, indem er aus den besagten Lothungen zunächst für jedes Viereck

von 10° Breite und 10° Länge zwischen 50° N. Br. und 50” S. Br. und

zwischen 130® O. L. und 70° W. L. die mittlere Tiefe bestimmte und aus diesen Zahlen die Durchschnittstiefe sowohl des nördlichen und südlichen, wie deS ganzen stillen Oceans — (letztere zu 1842 Faden — 3370 M.) — herausgerechnet hat.

Was die mittlere Tiefe des nördlichen Pacific

anbetrifft, so gelangte S. durch seine Berechnungsmethode genau zu dem­

selben Resultat, das man anderweitig aus den großen Erdbebenfluthen, die von Zeit zu Zeil über das stille Meer sich hinwälzen und deren Fort­

pflanzungsgeschwindigkeit ebenfalls

einen Anhaltepunkt giebt,

um

die

mittlere Tiefe des Oceans zu bestimmen, herausgerechnet hat. — Die

Westküste Nordamerikas fällt dermaßen steil inS Meer ab, daß beispiels­

weise schon 60 Seemeilen von dem Gestade CalifornienS entfernt 3000 M., in einer Entfernung von 150 und 190 Meilen 4000 respect. 4500 M.

gelothet wurden.

Ebenso haben die Lothungen an den Ufern Chiles und

Perus Resultate ergeben, die beweisen, daß dort die Anden Südamerikas steil inS Meer abfallen.

Von der Küste CalifornienS bis zu der Gruppe

der Sandwichinseln besitzt der Meeresboden eine fast ebene, westlich von dieser Inselgruppe — zwischen Honolulu und Bonininseln — eine mehr unregelmäßige Gestaltung, indem dort die oben erwähnten 7 unterseeischen Erhebungen, die höchsten Spitzen versunkener Ländermassen, mit Ver­

tiefungen abwechseln.

Daß es vulkanische Action gewesen ist, welche das

Versinken deS Landes in diesem Theile des Pacific bewirkte, dafür spricht

außer den oben angegebenen Gründen auch der vulkanische Charakter der soeben erwähnten Inseln. — Nördlich von den Bonininseln und östlich

von der Küste deS Japanischen JnselreichS und der Kurilen hat die TuScarora die ungeheure Tiefe von 8513 M. gelothet.

tiefste Bodensenkung

auf

ES ist dies die

unserem Planeten,

ein

Abgrund,

dessen Tiefe nur 327 M. weniger beträgt als die Höhe deS

Gaurifankar, des höchsten Berges der Erde.

Nördlich von dem

zuvor erwähnten Gebiet der 7 unterseeischen Erhebungen erstreckt sich die

„Tuscarora-Tiefe" bis zum 140° W. L. wenn auch mit etwas geringerer

Depression deS Meeresbodens wie weiter westlich. — Was für gewaltige unterseeische Abstürze hier und da existiren, beweist die Thatsache, daß

100 Seemeilen von Sendai-Bah (an der Südostküste von Nipon) das

6*

84

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

Loth bis zu 6267 M., in etwas weiterer Entfernung von der Küste bis 8490 M. hinabsank, während unmittelbar vorher — etwas näher an dem

Ufer Japans — nur 3352 M. gelothet wurden.

Wir haben hier also

eine Senkung von mehr als 5000 M. auf geringer Flächenausdehnung des Meeresbodens. — Die Meeresbecken, welche den mittleren und süd­ lichen Theil des westlichen Pacific einnehmen (Melanasia-CelebcS-Banda-

Sulusee u. s. w.), zeigen insofern eine Uebereinstimmung mit dem mittel­ ländischen Meer, als sie durch unterseeische Riffe von der Communication

mit dem freien Ocean abgeschlossen sind und in Folge dessen ganz eigen­ artige Temperaturverhältnisse und eine besondere Fauna aufweisen. — Im

südlichen stillen Ocean haben einerseits die dort vorgenommenen Lothungen die Existenz eines untergesenkten Plateaus,

welches

die Gruppen der

Marquesas, der GesellschaftS- und Niedrigen Inseln mit dem südlichen

Chile und Patagonien verbindet, nachgewiesen;

andererseits zeigen

die

Untersuchlmgen der „Gazelle", daß sich weiter südlich, im Westen von

Neuseeland und den Freundschaftsinseln, im Norden von den Cook- und Tubuaiinseln, im Osten von der Südspitze Amerikas begrenzt, eine aus­

gedehnte Senkung des Meeresbodens befindet, die sich erst jenseits 50° S. Br. wieder zum antarktischen, submarinen Plateau erhebt.

Im Indischen Ocean

erstreckt

sich zwischen den Parallelen von

35 bis 55 ® S. Br. und den Meridianen von 35 bis 80 O. L. ein unter­ seeisches Plateau mit einer Durchschnittstiefe von 2700 M., als

dessen

über Wasser befindliche Spitzen die Inseln St. Paul, Neu-Amsterdam,

die Prince Edwards- und Crozetinseln, die Kerguelengruppe und Macdo­ naldinseln zu betrachten sind.

Besagtes Plateau scheint nur die Fort­

setzung des großen antarktischen Plateaus zu sein.

Das eigentliche Tief­

becken des Indischen Meeres dehnt sich vom Meridian der Insel Mau­ ritius bis zu der Ecke zwischen Java und dem nördlichen Australien aus. Die größte Tiefe des Indischen Oceans wurde im östlichsten Theile dieses Beckens unweit der Küste Nordwestaustraliens

mit 5523 M. gelothet.

An der Südküste Australiens befindet sich eine zweite Bodensenkung, die sich

über die Südspitze von Tasmanien hinaus erstreckt und einerseits

mit einer tiefen Einsenkung des Meeresbodens zwischen Australien und

Neuseeland, andererseits mit dem zuvor erwähnten Depressionsgebiet des südlichen stillen Meeres zusammenhängt. — Die Meerbusen, welche der

Indische Ocean bildet, sind im Allgemeinen flach; am flachsten ist das rothe Meer, welches außerdem noch die Eigenthümlichkeit besitzt, daß sich von der Straße Babel-Mandeb nach dem Golf von Suez hin der Salz­

gehalt des MeerwafferS allmählich steigert — eine Thatsache die durch die bedeutende Verdunstung, die dort stattfindet und die geringe Wasser-

zufuhr vom Indischen Meere her zu erklären ist. — Eine besondere Er­ wähnung verdienen wohl noch jene StrömungS- und Temperaturverhält­

nisse, welche sich in den das Cap der guten Hoffnung begrenzenden Meerestheileil vorfinden.

An der äußersten Südspitze des afrikanischen

ContinentS nahe Cap Agulhas (Nädelcap) begegnet hier der mit der

afrikanischen Ostküste parallel laufende heiße Mozambiquestrom — hier bereits Agulhasstrom genannt — einer vom Südpol heranziehenden kalten Oberflächenströmung und durch die plötzliche Abkühlung der Wassermaffen

und die damit verbundene Erniedrigung des barometrischen Druckes, wie

sie hier stattfindet, werden jene furchtbaren Unwetter erzeugt, die das Cap der guten Hoffnung zum Schrecken der Seefahrer machen. südlich von

Nördlich und

dem eigentlichen Vorgebirge der guten Hoffnung zeigt das

Meerwasser in

seiner Temperatur sehr bedeutende Unterschiede.

So ist

z. B. daö Wasser der Tafelbai in der Regel um 10° F. kälter als das

der benachbarten SimonSbat, die südlich vom JsthmuS der Cap-Halbinsel

gelegen

ist und noch vom heißen AgulhaSstrom berührt wird.

Sobald

aber der Nordwestwind hier nur einige Stunden weht, treibt das Waffer deS allantischen Meeres daS Waffer des Indischen Oceans aus der St-

monsbat heraus und innerhalb weniger Stunden sinkt alsdann die Tem­ peratur deS MeerwafferS in jener Bai um 10 bis 12° F.

Die Kenntniß des lückenhafte und

JameS Roß

südlichen PolarmeereS

beruht im Wesentlichen

ist noch

eine sehr

auf jenen Untersuchungen, die

auf seinen Südpolarfahrten dort vorgenommen hat.

Auf

die Erhebung deS Meeresbodens nach dem Polarkreise zu, sowie auf die

Wahrscheinlichkeit der Existmz von Ländermassen nahe dem Südpol un­ serer Erde — außer dem bekannten Victorialand — wurde bereits im

Vorhergehenden hingewiesen. Nachdem wir unS einen Ueberblick über die Tiefe und Bodengestal­

tung der einzelnen Oceane verschafft und einige damit in Zusammenhang

stehende Verhältnisse erörtert haben, wollen wir daS, was in Betreff des Salzgehaltes und specifischen Gewichtes deS Meereswassers

durch die Tiefseeforschung festgestellt wurde — soweit es nicht schon in dem Vorhergehenden enthalten ist — hier noch mit einigen Worten er­

läutern.

Die Ursachen, welche eine Vermehrung oder Verminderung deS

Salzgehaltes und somit der Schwere des MeerwafferS bedingen, sind identisch mit jenen, welche eine Veränderung deS Aggregatzustandes des flüssigen Elementes Hervorrufen.

Während

einerseits hohe Temperatur

und Trockenheit der Atmosphäre die Verdunstung deS MeerwafferS be­

fördert und somit eine größere Concentration desselben bewirkt, hat an­ dererseits die Kälte, indem sie das salzarme Eis aus dem salzreicheren

Die Tiefseeforschung der Neuzeit.

86

Wasser auSscheidet, die

nämliche Wirkung.

Neben lokalen Einflüssen,

größerer oder geringerer Wasserzufuhr in abgeschlossenen Meerestheilen

— ich erinnere nur an das, was bezüglich des Salzgehaltes im Wasser

deS

mittelländischen und rothen Meeres gesagt wurde — sind es vor

Allem die Passatwinde, welche die Verdampfung und somit die Concen­

tration des MeerwasserS

beeinflussen.

Dem

entsprechend unterscheidet

Buchanan 5 zwischen den beiden Polarzonen gelegene Zonen verschiedenen Salzgehaltes,

nämlich erstens die beiden Zonen, worin letzterer

sein

Maximum erreicht, entsprechend der Region deS NordostpassatS auf der nördlichen, des SüdostpasfatS auf der südlichen Halbkugel, ferner die

zwischen diesen beiden Zonen gelegene Region der Salmen, innerhalb deren daS specifische Gewicht und der Salzgehalt deS Seewassers durch die ge­

waltigen atmosphärischen Niederschläge verringert wird und endlich die

nördlich und südlich von den Passatzonen gelegenen MeereStheile, in denen

eine mittlere Höhe der Concentration und der specifischen Schwere deS

MeerwasserS vorherrscht.

Was die Aenderung dieser Eigenschaften nach

der Tiefe zu anlangt, so wurde constatirt, daß daS specifische Gewicht im

Allgemeinen von der Oberfläche oder vielmehr von einer dicht unter der­

selben befindlichen Wasserschicht bis zu einem Niveau von 1500—2000 M.

ab- und von da bis hinab bis zum Meeresboden wieder zunimmt. Daß

die einzelnen Oceane in Bezug auf die Vertheilung deS specifischen Ge­ wichts — sowohl an der Oberfläche wie nach der Tiefe zu — unter sich erhebliche Verschiedenheiten aufweisen, beruht ebensowohl auf der mannig­ faltigen Gestaltung der MeereSbecken — (in offenen Meeren haben die

ausgleichenden Grundströmungen größeren Spielraum) — wie auf der Verschiedenheit der dort vorherrschenden Luftströmungen und deS Quan­

tums der feuchten Niederschläge. In Betreff der verschiedenen chemischen Zusammensetzung deS MeerwasserS — (man glaubte früher, daß der Gehalt an Kalk- und Kieselsalzen in dem Waffer der einzelnen Oceane bedeutend variire) —

haben die Untersuchungen, welche Professor Jacobsen in Rostock an den von der „Gazelle" in verschiedenen Meeren und in verschiedenen Breiten gesammelten Wafferproben angestellt hat, erwiesen, daß die Mischung ter chemischen Bestandtheile des MeerwasserS eine sehr gleichmäßige ist unb

daß das Wasser der MeereStiefe nicht, wie man früher annahm, in Folge

des dort herrschenden Druckes einen Luftüberschuß aufgelöst enthalte. — Ein genaueres Studium der Chemie des MeerwasserS bleibt aber ebenso,

wie die Beantwortung so vieler anderer Fragen der Zukunft vorbehallln.

Die Verlegenheiten Gambetta's. (Politische Correspondenz.)

Berlin, 11. Juli 1881. Der Prozeß „Gambetta gegen Grävy" wird ungefähr um dieselbe Zeit in daS entscheidende Stadium treten, wo in Deutschland die Wähler

berufen sein werden, die Frage:

worten.

„Für oder gegen Bismarck" zu beant­

Auf dieses äußerliche Zusammentreffen freilich beschränkt sich die

Bergleichbarkeit der deutschen und der französischen Zustände.

Bei rmS

ist die Macht der Initiative auf der Seite des Staatsmannes, der die Zügel der Politik in der Hand hat und der durch beispiellose Erfolge auf dem Gebiete der auswärtigen Politik seine Popularität

begründet hat.

Der AuSgang des deutschen Wahlkampfs würde unter allen Umständen die

Grundlinien der auswärtigen Politik deS Reichs unberührt lassen, und wenn man die Gegensätze ins Auge faßt, zwischen denen Frankreich aufund abschwankt, so ist man versucht,

die Fragen der innern Politik,

welche die politischen Leidenschaften in Deutschland in Bewegung setzen,

als verhältnißmäßig unbedeutend zu charakterisiren.

Kein Wunder, daß

daS Ausland mehr mit Neugierde als mit lebendigem Interesse die Ent­

wickelung unserer innern Politik verfolgt.

gensatz persönlicher Rivalitäten.

Bor Allem fehlt uns der Ge­

Die Rtesenfigur deö Mannes, der seit

nahezu 20 Jahren die preußische und die deutsche Politik leitet, läßt alle

Gegner klein erscheinen.

In Frankreich kommt der Nimbus der Popu­

larität nicht der herrschenden, sondern der nach der Herrschaft ringenden

Partei zu Gute, um so mehr als es selbst einem Franzosen schwer werden

würde, den Antheil deö Präsidenten und denjenigen deS Prätendenten an den Erfolgen deS bestehenden RegierungSfystemS zu sondern.

Unglück­

licher Weise entspricht der Stärke der Initiative in keiner Weise die Klar­ heit und Offenheit deS politischen Programms — und darauf beruht offenbar die Schwäche des Prätendenten.

Wenn morgen Gambetta an

Stelle Grövy'S ble Präsidentschaft übernähme, würde fretltch „der Kampf um die Beute" in erster Linie stehen; aber Niemand, vielleicht sogar

Gambetta nicht, hat eine deutliche Vorstellung von dem Einflüsse, welchen

dieses Eretgniß auf die republikanischen Institutionen auSüben würde.

Nur das ist zweifellos, daß die Gambetta'sche Republik auf dem Gebiet

der europäischen Politik nicht nur eine andere Nummer,

sondern auch

einen andern Faden spinnen würde; aber gerade diese Ueberzeugung ist

eS, welche dem Exdictator von Tours den Sieg erschwert.

Darin liegt

ohne Zweifel die Erklärung der räthselhaften Tactik deS Kammerpräsi­

denten.

Niemand weiß besser als er, daß sein Name allein schon ein

Programm ist, aber ein Programm, welches das Frankreich deS gesättigten

RepublikanismuS verleugnen wird, bis eine glückliche oder unglückliche Verkettung von Umständen ihm dasselbe aufzwingt.

In der That kämpft

Gambetta nicht gegen Personen, sondern gegen die Nation, gegen den

besseren Jnstinct der Nation, und deshalb scheut er sich, in die Arena der praktischen Politik herabzusteigen. Wenn man den zahlreichen und beredten Freunden Gambettas im

Parlament und in der Presse Glauben schenken will, so muß man an­ nehmen, daß es nur von ihm abgehangen hätte, die Präsidentschaft der

Deputirtenkammer mit derjenigen der Republik oder doch mit dem Vorsitz

im Ministerrath zu vertauschen. Zeit noch nicht gekommen.

Aber Gambetta ist der Ansicht, daß seine

Er verschmäht eS, von der zweiten Stelle aus

sich die erste zu erkämpfen; er fürchtet das „hart im Raume stoßen sich

die Dinge"; er schmeichelt sich mit der Hoffnung, in dem entscheidenden

Moment wie ein deus ex machina auf die Bühne treten zu können. Seiner leidenschaftlichen Natur widerstrebt eS, die opportunistische Politik, die Politik der Compromisse praktisch zu bethätigen,

sehen, siegen".

er will „kommen,

Ob der Plan gelingen wird, ist nicht nur für Frankreich,

sondern auch für Europa und vor Allem für Deutschland von größtem

Interesse.

DaS erste unerwartete Erelgniß, welches die Cirkel Gambettas störte, war der Staatsstreich vom 16. Mai, der den vorzeitigen Rücktritt Mac

Mahon'S nach sich zog.

Mac Mahon war am 24. November 1873 zum

Präsidenten gewählt worden; sein Mandat lief also erst an dem Tage deS November 1880 ab und dieser Termin würde in sehr günstiger Weise

zusammengetroffen sein mit dem Ablauf deS Mandats der auf Grund der Verfassung vom 25. Februar 1875 gewählten zweiten Kammer.

Noch

ein drittes Datum mußte das Jahr 1880 als geeignetsten Zeitpunkt für den Beginn der neuen Aera erscheinen lassen: die Vollendung der neuen Militärorganisation.

Hinderlicher noch als die Verschiebung der Daten

hat sich für die Aspirationen Gambetta'S der Umstand erwiesen, daß die Präsidentschaft Grövy'S (gewählt 30. Januar

1879) eine Periode re­

publikanischer Entwickelung einleitete, welche nur den Extremen der Linken

unbefriedigend erschien, aber die breite Masse der Bevölkerung mit den neuen Institutionen auSsöhnte.

Vergebens wird man in den zahlreichen

Reden, mit denen Gambetta im Laufe der letzten Jahre seine Zuhörer

begeistert hat, auch nur den ersten Ansatz zu einem praktischen und den uilbefriedigten Bedürfnissen der Gegenwart entgegenkommenden Regierungö-

programm suchen.

Nur in der Frage der auswärtigen Politik besteht ein Gegensatz zwischen dem, was Gambetta erstrebt und dem, was Grevh gethan hat; aber es trifft sich schlecht, daß die Zukunftspolitik Gambettas

mit dem Friedensbedürfniß der Nation in allzu offenem Widerspruch steht. Seit dem Fiasco seiner Rede in Cherbourg hat freilich auch Gambetta

aber gerade dieser scheinbare Rückzug

Wasser in seinen Wein gethan;

auS einer zu weit vorgeschobenen Stellung war dem Prestige deS Kammer­ präsidenten wenig günstig

Unter diesen Umständen war die Aussicht, bei

den für den Herbst in Aussicht genommenen Neuwahlen zur Deputirtenkammer

eine gambettistische Majorität zu schaffen, eine sehr geringe.

So versuchte Gambetta eine Aenderung der Verfassung.

Die Wieder­

einführung deS ListenscrutiniumS bei den Wahlen zur zweiten Kammer

sollte

ihin

den Wahlsieg

sichern.

Die Wahlen zu der Nationalver­

sammlung von 1871 fanden nach Departements statt;

durch die Ver­

fassung von 1875 trat die Wahl nach Arrondissements an die Stelle. Beide Wahlsysteme schließen

sich demnach

den

bestehenden

und nach

Flächeninhalt und Einwohnerzahl sehr verschiedenen administrativen Be­ zirken an.

Von Algier abgesehen, wählt Frankreich 526 Abgeordnete in

die Deputirten-Kammer,

70,000 Seelen.

also

durchschnittlich

einen

Abgeordneten auf

Bei der Wahl nach Arrondissements aber kommt es

vor, daß einmal 15,000 Einwohner, ein anderes Mal über 180,000 Ein­ wohner einen Deputirten wählen.

Die Ungleichheit der Vertretung ist

frappant; aber die Verknüpfung der politischen Repräsentation mit den Verwaltungsbezirken giebt dem Deputirten einen stärkeren Rückhalt gou-

vermentalen oder auch Partei-Zumuthungen gegenüber.

Je größer der

Wahlkreis, um so weniger finden die Minoritäten Berücksichtigung, um

so unabhängiger wird der Deputirte von den Wählern und um so ab­ hängiger von den Parteiführern, welche die Candidatenliste aufstellen. Wenn in allen zu einem Departement gehörigen Arrondissements die Abgeord­

neten, welche bis jetzt in den einzelnen Arrondissements gewählt wurden, von sämmtlichen wahlberechtigten Einwohnern in der Weise gewählt- wer­ den, daß jeder Wähler für 6—10 Candidaten, also für eine Liste stimmt.

so fällt die auf persönlichen Beziehungen zu den Wählern beruhende Aus­ wahl der Candidaten fort; in einem Departement von 4 oder 500,000 Ein­

wohnern tritt bei der Aufstellung der Candidaten die Thätigkeit der Partei­ führung in den Vordergrund.

Die Liste kann ebensogut in dem Hauptort

deS Departements wie in der Hauptstadt des Landes aufgestellt werden.

Der Gesetzentwurf Bardoux aber beschränkte sich nicht darauf, daS De­ partement als Wahlcollegium an die Stelle deS Arrondissements zu setzen;

eS sollte auch ein Bruchtheil von 70,000 Einwohnern einen Deputirten haben, mit anderen Worten die Zahl der Deputirten um 55 vermehrt

werden. Der Zweck dieser Wahlgeographie konnte kein anderer sein, als die Candidaten Gambetta'S zu vermehren.

Die Gambetta unbedingt ergebenen

Gruppen der jetzigen Kammer zählen etwa 180 Mitglieder; die Aussicht, diese Minorität zur Majorität zu machen, schien nur gesichert, wenn der

leitenden Stelle ein unbedingter Einfluß auf die Aufstellung der Candidaten d. h. auf die Anfertigung der Listen etngeräumt würde. In der Presse wurde als besonderes Verdienst deS Listensystems gerühmt, daß dasselbe der FractionSpolitik ein Ende machen und

eine einige republikanische

Partei schaffen werde; was freilich kein Wunder sein würde, wenn sämmt­ liche republikanische Candidaten der Approbation eines EentralcomitSS be­

dürfen und also diesem gegenüber sich bezüglich ihrer politischen Haltung

verpflichten müssen.

Der principielle Streit, ob daS Listensystem den

Vorzug vor dem System der ArrondissementSwahlen verdiene, war ange­

sichts der Tendenz des Antragstellers uud seiner Freunde ein ganz über­ flüssiger; die Absicht, Gambetta in möglichst vielen Departements wählen

zu lasten und somit ein Plebiszit für oder gegen Gambetta zu veran­

stalten, dessen Ergebniß, im Falle der Plan gelang, den Vertrauensmann der Nation sofort auf den Präsidentensitz gebracht haben würde, war so

oft und so deutlich ausgesprochen worden, daß die akademischen Erörte­ rungen über das bessere System völlig werthloS waren.

Begreiflicher

Weise weigerte sich denn auch Präsident GrSvy, die Regierung für den Antrag Bardoux eintreten zu lassen, ohne indesten auS der Ablehnung

destelben eine CabinetSfrage zu machen.

Der Präsident der Republik ließ

sich nur zu dem Zugeständniß herbei, dem Anträge gegenüber Neutralität zu beobachten, offenbar mit dem Hintergedanken, auf alle Fälle seinen

Platz solange als möglich zu behaupten. Der Erfolg hat die Berechtigung dieses CalcülS erwiesen.

Allerdings nahm die

Deputirtenkammer am

19. Mat den Bardoux'schen Gesetzentwurf unter dem Eindruck einer Rede

Gambetta'S mit großer Majorität an, nachdem der Eintritt in die Special-

dtScussion nur mit 8 Stimmen beschlossen worden war; der Senat aber, der sehr wohl wußte, daß der erste Schritt einer Kammer von Gambetta'S

Gnaden eine Revision der Verfassung im Sinne deS Einkammersystems

sein würde, lehnte das Gesetz mit einer eben so starken Majorität ab. Wie wenig Gambetta einen solchen Ausgang für möglich gehalten hatte,

beweist die übermüthige Reise nach CahorS, seiner Heimathstadt, wo er verkündete:

„Bald werden wir wieder das allgemeine Stimmrecht br-

ftagen und wir werden es, obwohl der Senat seinen Beschluß noch nicht gefaßt hat, nach dem weitesten, aufrichtigsten, würdigsten und entscheidendsten WahlmoduS thun."

Im übrigen schienen die Reden von CahorS nur

dazu bestimmt, die Absichten des Prätendenten zu verhüllen. Er protestirte

gegen die Verläumdungen, deren Opfer er sei, er hob Grövy in alle Himmel, lobte sogar die Verfassung von 1875, an der man nicht vor der

Zeit rütteln dürfe und erklärte ausdrücklich, man müsse die dritten Er­ neuerungswahlen zum Senat abwarten und werde sich dann überzeugen,

daß diese Institution den gegen sie gerichteten Tadel immer weniger ver­ diene.

Nach dem Gesetz von 1875 besteht der Senat auS 75 von der

Kammer gewählten lebenslänglichen Mitgliedern und auS 225 von den

Departements auf 9 Jahre gewählten Mitgliedern, von denen alle drei

Jahre ein Drittel neu gewählt wird. Die erste Wahl hat im Januar 1876 stattgefunden; die erste Erneuerungswahl 1879, die Erneuerung des zweiten

Drittels wird also Anfang 1882, diejenige deS letzten Drittels 1885 er­ folgen.

Ganz anders freilich ließen sich die Freunde Gambettas

ver­

nehmen, nachdem der Senat am 9. Juni die unerhörte Kühnheit gehabt

hatte, den Wahlgesetzentwurf mit 148 gegen 114 Stimmen a limine ab­ zuweisen und zwar nach

einer Rede des früheren Ministerpräsidenten

Waddington, der als Berichterstatter deS Ausschusses den Senat warnte,

der Furcht vor der Revision der Verfassung Gehör zu geben. abstimmung

Die Listen­

bewilligen, hieße den Weg deS Plebiscits betreten;

eine

Persönlichkeit könne mit diesem Wahlsystem dem Präsidenten der Republik

Schach bieten und sogar dem Congreß im Falle einer Präsidentenwahl (diese erfolgt durch Senat und Kammer zusammen).

„Ich bin überzeugt,

schloß Herr Waddington, daß Frankreich die parlamentarische Republik

verlassen und in die cäsarische eintreten wird, wenn Sie die Leute in

Versuchung führen; eS wäre zu verwundern, wenn sie schließlich nicht der

Versuchung erlägen.

An unheilvollen Anzeichen fehlt eS nicht; aber der

Senat hat die Pflicht, das Gesetz Bardoux abzulehnen, um seine Würde und daS allgemeine Stimmrecht zu schützen."

Kaum war die Entscheidung

gefallen, so schrieb daS Organ Gambetta'S, die Rtipublique frangaise:

„Die Kammer muß fortgehen und das Ministerium bleiben, um Frank­

reich das Wort zu ertheilen, und dieses muß möglichst schnell geschehen."

Aber der neue Antrag Bardoux wegen Auflösung der Kammer und so-

Die Verlegenheiten Gambettas.

92

fertiger Neuwahl im Juli erhielt in den Bureaux nur 69 Stimmen! Am 20. Juni hielt der Ministerpräsident Ferry bei der Preisvertheilung der landwirthschaftlichen Ausstellung in Epinal eine Rede, in der er der gemäßigten Republik eine warme Lobrede hielt und ihre Verdienste —

den Feldzug gegen den ClericaliSmuS und die Unterrichtsreform, die Re­

form des Richterstandes und die Steuerreform, durch welche die Steuern in vier Jahren um 280 Millionen Francs — nicht vermehrt, sondern —

vermindert worden seien — aufzählte.

In bitterster Weise tadelte er die

Kurzsichtigen, die in die Wahlschlacht gehen wollten, ohne die monarchischen

Parteien zu beachten.

„Ihr Bündniß mit der äußersten Linken wäre eine

Gefahr für die Republik.

Ich trage hier keine transscendente Politik vor,

keine fertigen Formeln, wie man das an gewissen anderen Stellen thut."

Die Niederlage, welche Gambetta in dieser Wahlreform-Campagne erlitten hat, ist offenkundig; die Tragweite und die Wirkung dieser Nieder­ lage abzuschätzen, erscheint wichtiger als eine Thatsache zu constatiren, die

Niemand bestreitet, Gambetta am wenigsten.

Am 19. Juni erschien er,

wie alljährlich, auf dem Jahresbauquet der Pariser Kammdrechsler in der Vorstadt St.-Mand6, die zu seinem Wahlkreise Belleville gehört.

Die

Sorgen der Politik, sagte er, oder wie es allzu empfindliche Freunde

nennen, die Verlegenheiten der parlamentarischen Lage habe er vor der

Thür gelassen.

Jeder Tag habe seine Mühe und wenn die Mühe nicht

mit dem Erfolge belohnt werde, gebe man sich von Neuem an die Arbeit

und

mit größerem Eifer.

Die Gambettistischen Blätter haben in der

That die neue Parole schon ausgegeben; sie lautet auf ein gemeinsames Wahlprogramm der republikanischen Parteien, die Radikalen, die wüthendsten

Gegner der opportunistischen Politik nicht ausgenommen. Den Kern der Frage aber berührt eine andere Aeußerung Gambetta'S.

Er protestirte gegen den Gedanken, als ob die angeblichen „par­

lamentarischen Verlegenheiten"

ihm schaden könnten.

„Man muß ge­

stehen, daß diejenigen, die also sprechen, uns nur schlecht kennen.

kenne Euch und Ihr kennt mich.

Ich

Wir sind zusammen vor bald zwölf

Jahren zu einer langen und schönen Reise auSgezogen, haben schwierige Stunden durchgemacht, den Sturm tapfer bestanden und nicht jetzt,

wo

Alles dem Glücke der Republik lächelt, werden elende persönliche Händel

gegen die öffenlliche Freude in die Wageschaale fallen können."

ES ist

keine Frage, die Quelle der Popularität Gambetta'S und seines Einflusses auf die Massen ist die That des Dictators von Tours, der nach dem schmachvollen Zusammenbruch des zweiten Kaiserreichs durch die Proclamirung des guerre ä outrance wenigstens die Ehre der französischen

Nation rettete.

Daß die Regierung der nationalen Vertheidigung, welche

Parts für uneinnehmbar erklärte, die ihr gestellte Aufgabe, den Eindring­ ling zu vertreiben, nicht gelöst hat, ist nach französischer Auffassung nicht

die Schuld der Männer, welche im September 1870 auf den Trümmern deS Kaiserreichs die Fahne der Republik aufpflanzten. In magnis et voluisse

sat est, heißt es auch hier. Ob und unter welchen Umständen aber Gambetta in der Lage sein wird, diese Popularität, welche ihm schon jetzt eine Stellung sichert, die eine thatsächliche Grundlage nicht hat, zum Hebel einer großen politischen

Action zu machen, ist eine andere Frage.

Parlamentarische Mißerfolge

werden bas nicht verhindern und deshalb werden Stege der Ferrh und

Genoffen immer nur ephemerer Natur fein.

Daß sich für Gambetta sehr

bald eine Gelegenheit bieten werde, die Zügel der französischen PolUik Herrn Grsvy aus der Hand zu nehmen, ist freilich wenig wahrscheinlich. Die militärische Promenade nach Tunis hat sich — ähnlich wie diejenige

von 1870 nach Berlin — als eine verhängntßvolle erwiesen.

Der Ver­

trag mit dem Bey von Tunis vom 12. Mai hat nicht den Abschluß der Action, sondern den Ausgangspunkt der Verwickelungen gebildet.

„Der

wirkliche Gegner Frankreichs, schrieben wir im Mai, ist nicht der Bey und noch weniger der Sultan, sondern der muhamedantsche Fanatismus, der einmal entflammt, leicht auch die algerischen Stämme zum Aufruhr

gegen die französische Herrschaft treiben könnte."

Was damals nur eine

Möglichkeit war, ist heute gefahrdrohende Wirklichkeit geworden.

Der

Protest des Sultans gegen den Vertrag vom 12; Mai hat nicht die Groß­

mächte, wohl aber die muhamedanische Welt in Aufregung versetzt und

wieder einmal erkennen lassen, daß der „dunkle Continent" seit der Zeit Jngurtha'S seinen Charakter nicht verändert hat.

An die Stelle der

mythischen KhrumtrS sind Araber mit Fleisch und Blut getreten, welche

bald hier bald dort die französischen Ansiedelungen, ohnehin Oasen in der Wüste überfallen. DaS. ist der Bödensatz jener Phantasien von der Er­

schließung Mittelafrika'S und dem Eisenbahnbau durch die Sahara!

Der

Bey hat sich dem französischen Protectorat unterworfen, aber daS tunesische Gebiet wird Schritt für Schritt erobert, die aufständischen Hafenplätze nach

dem Beispiele von Sfax bombardirt werden müssen.

Mit den

Soldaten einer.Nation unter dem System der allgemeinen Wchrpflicht

führt man nicht Krieg, wie mit den Söldlingen, die nach Abenteuern lechzen.

Kaum haben sich die Truppen an das Klima gewöhnt, so müssen

sie aus Gesundheitsrücksichten abgelöst werden und der Kriegsminister, glücklicher Weise einer der Gambettistischen Minister findet eS immer

schwieriger, den Nachschub zu beschaffen, ohne zu mobilisiren und die Cadreö zu decimiren.

Wie bald werden die Lobredner der Colonialpolitik

Die Verlegenheiten Gambetta'S.

94

ä la Leroy-Beaulieu verstummen. Continental- oder besser gesagt,

Es war ja sehr verdienstlich, die

die Revanche-Politik zu diScreditiren;

aber es zeigt sich, daß „die einzige ernsthafte Mission Frankreichs", die

Colonialpolitik, schwere Opfer fordert.

Und in welche Verwirrung hat die Expedition nach Tunis die aus­ wärtigen Beziehungen Frankreichs gebracht!

Die italienische Diplomatie

ließ sich mit Phrasen abspeisen; das Anerbieten, den Italienern zum Ersatz für den in Tunis verlorenen Einfluß Tripolis zu überlassen, konnte nichts

anderes sein.

Aber der Uebermuth deS Siegers provocirte sogar auf dem

gastlichen Boden Frankreichs eine Jtalienerhetze.

Als am 19. Juni bei

dem Einzuge der Sieger über die KhrumirS in Marseille der dortige italienische Club „zu flaggen vergaß", als die französischen Truppen sogar

mit Pfeifen, angeblich seitens der Italiener begrüßt wurden, rächte der süße Marseiller Pöbel die beleidigte Nationalehre Frankreichs mit FLusten und Messern.

Die tunesische Frage ist das

Signal zur

Abrechnung

zwischen Italien und Frankreich geworden, trotz des Widerstreben» der Rndicalen, deren Herrschaft durch diese „Reaction" in Gefahr kommen

könnte.

Ist eS doch schon so weit gekommen, daß das Journal des Du­

bais die Betheiligung des französischen Capitals an der italienische» An­ leihe, welche die Beseitigung des ZwangscurseS bezweckt, als inopportun und unpatriotisch bezeichnet, solange Italien seine Politik Frankreich gegen­ über nicht ändere.

Die Plünderung der spanischen Colonie in Sada in

dem algerischen Departement Oran durch aufständische Araber uno die Weigerung der französischen Regierung, den Spaniern eine Entschäd'gung

zuzusichern, hat in Spanien eine gleiche Bewegung hervorgerufen, die ebenfalls der konservativen Strömung zu Gute kommt.

Die Allianz der

lateinischen Racen, welche das Kaiserreich zum Hebel seiner „Contimntalpolittk" machen wollte, die Gambetta zu benutzen gedachte, als er sch zu dem Worte verstieg: „die Republik muß Propaganda macken",

droht zu einer inhaltlosen Phrase zu werden.

Die Beziehungen zu Eng­

land sind nicht besser geworden; daß dieselben sich nicht noch mehr ver­ schlimmeren, daran tragen die irischen Verlegenheiten Gladstone»

Hauptschuld.

Die englische Einfuhr beherrschte bisher den

die

tunesischen

Markt — damit ist alles gesagt.

Die französische Oppositionspresse schöpft aus diesen Nachwirkungen der tunesischen Expedition den Muth, die Regierung als von dem Firsten

Bismarck düpirt lächerlich zu machen.

Fürst Bismarck hat natürlich alle

die für Frankreich unangenehmen Folgen der Expedition vorauSgisehen und in dieser Voraussicht die französische Regierung zu dem Unternchmen ermuthigt. Vielleicht hatte er auch seine Hand in dem Gemetzel von Saida

und dem Tumult in Marseille.

Indessen war auch die ftanzösische Re­

gierung im Voraus nicht im Zweifel darüber, daß die Expedition nach

Tunis weder in London noch in Italien oder Spanien Beifall finden

würde.

Aber in Frankreich war man nun einmal nicht gewillt, eine

Politik der Abenteuer zu treiben.

Der Aufständischen in Algier und

in Tunis wird man etwas früher oder etwas später Herr werden und

dann hoffentlich sich

ernstlich mit der Frage der Colonisation Nord-

afrika'S beschäftigen.

Vielleicht ist eS nach den neuesten Erfahrungen der

Republik vorbehalten, endlich dem AuSbeutungSshstem, welches unter der Militär- wie unter der Civilverwaltung in Algier in Blüthe steht, ein

Ende zu machen, vorausgesetzt, daß die Expedition nach Tunis noch einen anderen Zweck hatte, als für den Augenblick auf dem am wenigsten ge­

fährlichen Terrain dem wiedererwachten Bedürfniß der Franzosen nach der Bethätigung ihrer Kraft im Auslande zu genügen — und Gambetta die Karte aus der Hand zu nehmen.

Wer weiß, auf wie lange.

k.

Notizen. Die Gemäldegalerie des Museo del Prado zu Madrid in Braunschen Nachbildungen. Die Firma Ad. Braun & Co. in Dornach hat soeben -begonnen, ein künst­

lerisches Unternehmen ins Werk zu setzen, das ganz ihrem alten Ruhm ent­

spricht.

Ein Unternehmen, daS man unbedenklich zu den feit geraumer Zeit

bedeutendsten dürfen.

auf

dem Gebiete der vervielfältigenden Künste

wird

zählen

Sie veröffentlicht eine erste, 50 Blatt umfassende Lieferung der Ge­

mäldegalerie deS Museo del Prado in Madrid, in der lhr eigenthümlichen Art photographischer Nachbildung direct nach den Originalen. Nun weiß jeder, wenn er sich auch nur oberflächlich mit bildender Kunst be­

schäftigt, daß die Madrider Gemäldegalerie zu den ersten Europas gehört. Nicht nur, daß sie hervorragende Werke der großen Italiener, vor Allen Raphaels und

Titians enthält, und auch von Andrea del Sarto, Giorgione, Guido Reni und vielen sonst sehr werthvolle Gemälde aufweist: die großen spanischen Maler des 16., die größeren des 17. Jahrhunderts, insbesondere Murillo und Velasquez, kann man in ihrer vollen Bedeutung nur auf Grund der Schätze würdigen, die

sie von ihnen besitzt.

Wie auch hätte eine Sammlung, angelegt in einem

Lande, in dem die Malerei schon seit Jahrhunderten blühte, dessen Monarchen

und Granden mit der Kirche in ihrer Begünstigung und Beförderung wett­ eiferten, daS jährlich von den Goldschätzen des neuentdeckten Amerika über-

fluthet wurde, und das in engen Beziehungen zu Italien, der Wiege und dem Thron der modernen Kunst stand, — wie hätte

eine Vereinigung der in

Spanien seit Alters verstreuten Gemälde nicht ein Sammelplatz des vorzüg­ lichsten, was je gemalt wurde, werden müssen?

Während man in Dresden und

Berlin, in London und Petersburg aus der Ferne zusammenkaufen mußte,

brauchte man in Madrid die überwältigende Fülle kostbarster Schätze, die man längst besaß, nur zusammenzustellen. Wer kannte sie bisher?

Während das gastliche Italien jährlich eine

Völkerwanderung von Fremden erlebt, die sich an dem Doppelzauber von Natur und Kunst erquicken wollen, liegt Spanien seitab, unersehnt, unbetreten, wie vom Mittelpunkt der Welt den es einst gebildet, nach ihrer Peripherie gedrängt; die Ultima Thule unter den romanischen Ländern.

Einzelne der berühmtesten

Kunstwerke die sich dort finden, haben freilich in immer neuer Gewandung den Weg über die Pyrenäen gefunden: Raphaels Kreuztragung, feine Madonna

mit dem Fisch, Murillos Immaculata u. a. wurden wieder und wieder gestochen;

die namhaftesten Kupferstecher, (Denoyers, Steinla, P. Toschi u. a.) haben sich Aber um sich dem Eindruck von bet ganzen Fülle

an ihrer Wiedergabe versucht.

der Madrider Kunstschätze hinzugeben, war man bisher auf die Laurentschen Photographien angewiesen, die nicht einmal den Vergleich mit den bekannten

italienischen (Fratelli Alinari, Brogi, Naja u. a.) aushalten.. So ist denn nun endlich der Bann gelöst. Da wir nicht zu jenen Kunstschätzen kommen, kommen sie zu und, Dank der Firma Braun & Co.

Und

sie, die unter allen die photographische Nachbildung pflegenden Kunstanstalten, was technische- Verfahren und Größe

des Verlags aber auch was Opfer-

willigkeit betrifft, den unbestritten ersten Rang einnimmt, hat sich an das

Unternehmen gemacht, ganz in dem ihrer würdigen Geist deS noblesse oblige.

Nicht weniger als 397 Blatt Nachbildungen kündigt sie an; von ihnen 270 in großem Format (Bildgröße 40:50Str.), 127 in mittlerem (Bildgröße 24 :30Str.).

Darunter 34 Murillo, 48 Velasquez, 11 Raphael, 25 Titian, 16 Ban Dyk,

32 Rubens, 21 Teniers.

Aber auch die anderen großen Meister früherer Jahr­

hunderte und aller Schulen fehlen nicht.

Da finden wir von den Italienern

Correggio, Fr. Francia, Giorgione, Luini, Mantegna, Parmigianino, Pordenone,

Gmdo Reni, A. del Sarto, P. Veronese u. a., von den Deutschen und Nieder­ ländern, Dürer (5 Bl.) und H. Holbein, Memling und R. van der Weyden, Rembrandt, I. Breughel (14 Bl.), Jordaens u. a.; von den Franzosen Claude

Lorrain, Poussin, Lebrun.

Und dazu dann die Spanier!

Gleich die erste Lieferung enthält 4 Raphaels in großem Format. unter die Kreuztragung und die Madonna mit dem Fisch.

wirken durchaus bildartig.

Dar­

Beide Blätter

Selbst die tiefsten Partieen — so oft bei Photon

graphien im Sinn deS Worts der „dunkle Punkt" — kommen mit größter

Klarheit und Schärfe heraus.

Der satte mild-bräunliche Ton, der über dem

Ganzen ausgebreitet ist, und ihm etwas von der Wärme des farbigen Ge­ mäldes verleiht, gewährt einen Reiz, der selbst dem vollendetsten Kupferstich

fehlt, da bei ihm daS kalte Weiß deS Papiers immer mit einer gewissen Schärfe gegen die nicht minder kalten schwarzen Strichlagen der Zeichnung contrastirt. Wer kennt nicht die vorzügliche nach dem Original selbst genommene große Photo­ graphie der Sixtinischen Madonna (von der photographischen Gesellschaft in Berlin), der man jetzt so häufig auch als Zimmerschmuck begegnet?

Ich stehe

nicht an diesen Braunschen Nachbildungen selbst vor ihr den Vorzug zu geben.

Unter Glas und Rahmen würde die Madonna mit dem Fisch, eins von Ra­ phaels großartigsten Madonnenbildern, eine wahre Zierde deS Wohnraumes

sein. — Von den Gemälden des Velasquez ist der Kopf des Aesop besonders

gut herausgekommen, er wirkt förmlich plastisch; mit Bewunderung folgt man der breiten genialen Pinselführung bis ins Detail.

Gradezu entzückend ist das

Porträt des Don Balthasar Carl, wohl eins der liebenswürdigsten und origi­

nellsten Bildnisse, die je gemalt wurden.

Wie der kleine Prinz hoch zu Roß

gradeswegS auf den Beschauer lossprengt, mit seinem anmuthig ernsten Kinder-

Preußische Jahrbücher. Bd. XLV11I. Heft 1.

7

Notizen.

98

köpfchen, seiner stolzen Feldherrnruhe und dem gewaltig aufstampfenden lang­

mähnigen Roß, das sich abmüht, als trüge es, wer weiß welche Last.

Gegensätze, die sich zu einem äußerst feffelnden Ganzen fügen.

production ist untadelhaft.

Das sind

Und die Re-

Man trennt sich nur schwer von dem köstlichen Blatt.

Vom technischen Standpunkte die meisterhafteste der vorliegenden Braun'schen Meisterleistungeu dürfte wohl die Nachbildung der TenierS'schen „Gemälde­

galerie des Erzherzog Leopold Wilhelm v. Brüffel" sein.

Von den etwa vierzig

Bildern, die theils an den Wänden des dargestellten Cabinettes hängen, theils auf der Erde umherstehen, ist jedes aufs schärfste wiedergegeben, so daß man gar unschwer manchen alten Bekannten wiederfindet: Titian, Palma Vecchio,

Dominicino, Pordenone u. a.

Alle sind sie bis ins Detail genau zu erkennen

und mit wahrem Genuß ergeht man sich umherschauend in dem behaglichen

Raum, als gehöre man zu der anwesenden Gesellschaft.

Man braucht nur die

unansehnliche Photographie desselben Gemäldes von Laurent neben die Braunffche

zu Hallen, um deren Vollkommenheit ganz zu würdigen.

Genug der Einzelheiten; denn nicht darauf kann es ankommen, das gleiche

Lob, das all diesen Nachbildungen gebührt, jeder einzelnen im Besonderen zu spenden. Schönes ist in würdiger Form geboten. Reichlich, und daß ich es hin­

zufüge, um einen nicht eben theuren Preis.

Wenn man bedenkt, daß eine Ab­

theilung deS Braunffchen Ateliers nach Madrid hat übersiedeln müssen, um die

Blätter an Ort und Stelle anzufertigen, wenn man die complicirte und kost­ spielige Art der Herstellung dieser Kohle drucke, aber auch bedenkt, daß sie nicht

wie gewöhnliche Photographien mit der Zeit durch die Einwirkung des Lichts einbüßen, so wird man den Preis von 12 resp. 4 Mk. 80 Pf. (in Subscription von 10 und 4 Mk.) für die elegant ausgestatteten Blätter nur angemeffen

finden. Soeben erscheint die zweite Lieferung, gleich der ersten 50 Blatt enthaltend; darunter wieder köstliche Stücke: von Raphael die heilige Familie genannt „die Perle", und die heilige Familie mit dem Lamme; das Dürersche Selbstportrait

(ganz vorzüglich wiedergegeben); die Uebergabe Breders („die Lanzen") von Velasquez und sein prachtvolles Reiterbildniß des Herzog von Olivarez.

Dazu

wieder eine ganze Reihe von Murillos, die gleich denen der ersten Lieferung in

der Reproduction besonders gut gerathen sind. Halle a./S.

G. Droysen.

Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck und Perlag von G. Reimer in Perlin,

Verfaffungsgeschichte der Vereinigten Staaten

von Amerika.

(Schluß.)

Am 4. December 1848 trat der 30. Congreß zu seiner zweiten und letzten Session wieder zusammen und, da alle großen Fragen der aus­

wärtigen Politik nunmehr erledigt waren, lag es in der Natur der Sache, daß Hinfort die Frage der Organisation der neuerworbenen Gebiete und damit zugleich die brennende Frage, ob und wie weit die Sklaverei in

denselben für zulässig erachtet werden solle, den Hauptgegenstand aller Debatten bildete.

Von welcher Bedeutung dies aber war, ergiebt sich

schon aus der einfachen Thatsache, daß das Gebiet der Vereinigten Staaten

durch die Annexion von Texas und die Erwerbung von Neu-Mexico und

Kalifornien um mehr als den dritten Theil vergrößert war.

Rechnet man

Oregon, für welches die Sache schon erledigt war, noch hinzu, so betrug die Vergrößerung sogar mehr als die Hälfte.

Es liegt mir daher nun­

mehr ob zu versuchen, einige allgemeine Gesichtspunkte und thatsächliche Vorgänge zusammenzustellen, welche es erklärlich machen, wie doch noch beinahe zwei Jahre vergehen konnten,

ehe man zu einem vorläufigen,

immerhin kläglichen Ausgleich gelangte.

Ich werde dabei natürlich, wenn

diese Anzeige nicht selbst zu einem Buch anschwellen soll, viel Interessantes völlig mit Stillschweigen übergehen müssen, aber ich darf mir doch Vor­

behalten, hier und da meine von denen des Verfassers abweichenden An­

sichten in ähnlicher Weise zum Ausdruck zu bringen, wie ich das bei Be­ sprechung seiner Darstellung der auswärtigen Politik des Präsidenten Polk

gethan habe.

Wir nehmen in mehrfacher Beziehung eine

etwas ver­

schiedene Stellung zur Sklavenfrage ein; aber ich habe das Vertrauen zu dem geehrten Verfasser,

daß eS ihm selbst nur willkommen sein wird,

wenn ein Mann, der durch seine frühere amtliche Thätigkeit und seine

Studien mehr als die meisten Anderen darauf hingewiesen war, sich ein­

gehend mit Amerikanischen Dingen zu beschäftigen, ihm durch eine frei« Prkußischt Jahrbücher. Vd. XLVI1I. Heft 2.

8

BerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

100

müthige Kritik seine- verdienstvollen Werks den Beweis liefert, wie sehr

er dasselbe würdigt.

Es ist mir eine angenehme Pflicht hinzuzufügen,

daß die wissenschaftliche Bedeutung und der Werth deS neuen Bandes

vorzugsweise gerade in der Vollständigkeit und Gründlichkeit liegt, mit

welcher v. Holst den zur Frage stehenden wichtigen und schwierigen Gegen­

stand bis in die entferntesten Einzelheiten verfolgt und klar zu stellen sucht. Die Schwierigkeit, sich von der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der

Sclaverei in den Territorien einen richtigen Begriff zu machen, hängt, meines Erachtens, wesentlich damit zusammen, daß die Territorien selbst eine Anomalie und ein Compromiß mit der Constitution sind.

hören sicherlich nicht den Einzelstaaten,

Sie ge­

sondern bilden einen wirklichen

Theil des souveränen Staatswesens der Amerikanischen Nation.

Sie sind

Staaten im Kindesalter, die unter der Vormundschaft der Vereinigten Staaten stehen, und daraus ergab sich für den Congreß die Pflicht, un­

bekümmert um die Wünsche der alten Staaten, für ihr Wohl zu sorgen und ihrer Zukunft nicht durch ihren temporären und vorübergehenden Zu­

stand zu präjudiciren.

zu machen,

als indem

Ich weiß dem Leser die Sachlage nicht besser klar ich ihn auf die Deutschen Reichslande Elsaß-

Lothringen Hinweise, deren Stellung zum Deutschen Reich sich nur dadurch

von derjenigen der Amerikanischen Territorien zur Bundesregierung unter­ scheidet, daß es lediglich politische Gründe sind, welche eS unmöglich machen,

sie sofort als autonomen selbständigen Staat anzuerkennen.

Die Ameri­

kanische Verfassung setzte, wie Holst nachgewiesen hat, nichts hinsichtlich der Sclaverei in den Territorien fest, und nach der Natur der Sache, nach dem übrigen Inhalt der Verfassung und Entscheidungen des Ober-

bundeSgerichts, so wie nach dem



allerdings nicht immer — bisher

beobachteten Verfahren war es das Recht und die Pflicht des Congresses, ihnen in diesem Punkte das Gesetz zu dictiren.

Nach dieser meiner Auf­

fassung würde, auch wenn, was Neu-Mexico und Californien betrifft, nicht noch besondere Gründe dafür gesprochen hätten, die einzig richtige Lösung

der großen Streitfrage darin bestanden haben:

daß der Congreß die

Sclaverei ganz von den Territorien ausgeschlossen hätte, bis sie als Staaten constituirt waren und als solche selbst über die Frage entschieden.

Ja, ich meine, der Congreß hätte sogar noch einen Schritt weiter gehen und

auch die freien Farbigen von den Territorien ausschließen müssen.

Denn ich bin von jeher der Ansicht gewesen, daß das Zusammenwohnen

zweier ganz verschiedener Racen auf demselben Boden ähnliche Gefahren mit sich führt, wie das Bestehen der Sclaverei, und die Erfahrungen,

welche die Amerikanischen Südstaaten

nach der Emancipation

gemacht

haben, und welche man jetzt in einzelnen Theilen Californiens mit den

Chinesen macht, haben mich in dieser Ansicht bestärkt.

So aber wurde

die Sache zu jener Zeit in den Vereinigten Staaten noch keineswegs auf­ gefaßt, und bekanntlich ist erst durch die Congreßakte vom 16. Mai 1862

— ein Gesetz, welches der Ex-Präsident Buchanan nicht Anstand nahm in seinem Buche über seine eigene Amtsführung für unconstitutionell zu er­

klären — bestimmt, daß in keinem Territorium Sclaverei bestehen dürfe. Daß es so war, lag in der Natur der Verhältnisse.

Die führenden

Politiker der Sclavenstaaten, von der Rechtmäßigkeit der Sclaverei völlig überzeugt, sahen schon längst mit Schrecken den Augenblick herannahen, wo ihr bisheriges politisches Uebergewicht,

auf welches sie stolz waren,

mehr und mehr an den Norden übergehen und damit ihr Einfluß auf die Bundesregierung zu Gunsten der Interessen Sclavenhalter ein Ende nehmen müsse.

der von ihnen geleiteten

Diese Rücksicht wog bei ihnen

viel schwerer alö der Wunsch, das unrühmliche Privilegium, Sclaven zu

besitzen, aufrecht zu erhalten.

Die Aussicht einer plötzlichen Vergrößerung

des freien Gebiets der Union um hunderttauscnde von (englischen) Qua­ dratmeilen schien den gefürchteten Augenblick imminent zu machen.

Mit

ihnen im Bunde stand eine große Anzahl einflußreicher Männer im Norden, welche, wie sie, keinerlei ethische Scrupel bei der Sclaverei und seit Jack-

son's Zeit viel Vortheil von ihrem Zusammengehen gehabt hatten.

Kaum

minder groß war die Zahl derjenigen gewissenhaften nördlichen Männer, welche, bei allen Bedenken, die sie im Princip gegen die südliche Insti­

tution haben mochten, sich um so lieber an die einer verschiedenen Aus­

legung fähigen Bestimmungen der Verfassung hielten, welche zu deren

Gunsten zu sprechen schienen, weil ihnen vor Allem die Erhaltung der Union am Herzen lag, deren Bestand sie für gefährdet hielten.

Ihnen

gegenüber stand eine in den letzten Jahren rasch herangewachsene Partei,

welche ihre religiöse und ethische Ueberzeugung von der Verwerflichkeit der

Sclaverei über die Verfassung stellte, so wie eine andere, vielleicht noch zahlreichere, welche aus gleichen principiellen Gründen die Constitution so strict interpretirt wissen wollte,

wie der Wortlaut das irgend gestattete.

Der Einfluß Beider auf die großen Massen gewann dadurch an Stärke, daß die Unverträglichkeit der beiden Arbeitssysteme deS Nordens und deS

Südens

im Laufe der Zeit zu vielfach ganz entgegengesetzten Interessen

der freien und der Sklavenstaaten, so wie zu einer Entfremdung der Ge­ müther geführt hatte und führen mußte.

Zwischen den beiden antago­

nistischen Parteien aber bewegte sich eine Anzahl ehrgeiziger nördlicher Politiker, welche beiden Theilen so wett Rechnung zu tragen suchten, als möglich und resp, nöthig war, um, klug manövrirend, ohne die Unterstützung

der freien Staaten zu verlieren, diejenige der Sclavenstaaten zu gewinnen.

Aus diesen Gegensätzen erklärt sich die Behandlung, welche die Terri­ tortalfrage im Songreffe fand. Da Neu-Mexico und Califoruien durch die gemeinsamen Anstren­ gungen des bei der Aufrechthaltung und Ausdehnung der Sclaverei in-

terefsirten Südens und des freien Nordens für die Union gewonnen waren, würde eö — wenn man von dem Interesse der Territorien selbst

absehen wollte — an sich gewiß am Meisten der Billigkeit entsprochen haben, diese neuen Erwerbungen beiden Theilen in gleichem Maße zu

Gute kommen zu lassen. die Regierung

Compromiß

Von diesem Gesichtspunkte auS hatte denn auch

wiederholt warm befürwortet, die durch das Misfourt-

von

1820 als Scheide zwischen dem freien und Sclaven-

Gebiet bestimmte Linie deö 36° 30' auch auf die neuen Gebiete für an­

wendbar zu erklären.

Denn ohne weiteres konnte jene Linie deshalb keine

Anwendung auf die neu erworbenen ausgedehnten Landstrecken finden,

weil dieselben niemals zu Louisiana gehört hatten.

Dieser Idee, so plau­

sibel sie auch erschien, stand aber darin ein ausschlaggebender Grund ent­ gegen, daß die Sclaverei bereits durch ein Mexikanisches Gesetz vom 15. September 1829 für ganz Neu-Mexico und Califoruien definitiv auf­

gehoben war, also nicht, ohne eine schreiende Ungerechtigkeit zu begehen, dort wieder eingeführt werden konnte.

Wesentlich aus diesem Grunde

waren und wurden alle darauf gerichteten Anträge in beiden Häusern des

CongresseS abgelehnt. Dadurch veranlaßt brachte „der Mephistopheles der Sclaverei" — wie Chas Sumner Calhoun später einmal characterisirt hat — schon 1847

Resolutionen im Senate ein,

die darauf hinausliefen:

daß alle Terri­

torien gemeinsames Eigenthum aller Staaten seien; kein Gesetz diese volle Gleichberechtigung beeinträchtigen dürfe; ein Gesetz, welches die Bürger

gewisser Staaten verhindere, sich mit ihrem Eigenthum (Sclaven) in den

Territorien niederzulassen, dies thun würde; eine republikanische Verfassung die einzige zulässige Bedingung der Aufnahme eines neuen Staates in die Union sei.

Damals kam es freilich nicht zu einer DiScussion dieser

Resolutionen, die im Grunde mit der ganzen bisherigen Politik der Bun­ desregierung brachen und ein neues Zukunftsprogramm aufstellten, aber

sie fanden auch später noch wiederholt ein Echo in den Debatten, v. Holst erklärt Calhoun'S Doctrin für logisch, historisch und verfassungsrechtlich

absolut unhaltbar, erkennt jedoch an, daß daS Oberbundesgericht bereits zweimal — das eine Mal sogar durch den Mund des berühmten, frei­

heitliebenden Story — entschieden habe: daß die Verfassung Sclavm als

Eigenthum anerkannt habe, und sucht nachzuweisen, daß diese gerichtlichen Entscheidungen völlig unbegründet gewesen seien.

Ich lasse es dahin ge-

stellt, ob ihm dieser Beweis gelungen ist, halte eS aber für ein Glück,

daß zu jener Zeit noch Niemand an den Entscheidungen des höchsten Ge«

richtS zu rütteln und dadurch die ohnehin ernste Lage noch weiter zu er­ schweren suchte. Ein Ausgletchsvorschlag, welchen der gemäßigte und verständige Se­

nator Clayton von Delaware machte, fand zwar im Senat, jedoch nicht Er ging dahin: die Frage, ob der

im Repräsentantenhause Annahme.

Congreß hinsichtlich der Sclaverei in den Territorien kompetent sei, offen zu lassen, Neu-Mexico und Californien als Territorien zu organisiren,

aber deren Legislaturen das Recht vorzuenthalten, irgend etwas über die

Sclaverei zu entscheiden, und es durch Gestattung der Appellation an das Oberbundesgericht zu ermöglichen, daß die Rechtsfrage gerichtlich entschieden werde.

Im Norden

erregte dieser Compromißvorschlag vielfach deshalb

Anstoß, weil derselbe wenigstens vorläufig der Sclaverei den Eingang in

die Territorien öffnete, so gering die Gefahr auch mit Rücksicht auf die geographische Lage sein mochte.

3)Ht größter Entschiedenheit erhob sich

aber einer der bedeutendsten und ehrenhaftesten Verfechter der Sclaverei,

Alex. H. Stephens von Georgia, dagegen, indem er den Nachweis führte: daß das Oberbundesgericht jedenfalls gegen die Zulässigkeit der Sclaverei entscheiden müßte, weil das Mexicantsche Gesetz von 1829, wodurch die

Sclaverei in jenen Gebieten aufgehoben ward, nach völkerrechtlichen Grund­ sätzen bei deren Abtretung an die Vereinigten Staaten in Kraft geblieben

sei und in Kraft bleibe, bis es abgeändert werde, die Amerikanische Ver­ fassung

aber die Sclaverei nur dort anerkenne und garantire, wo sie

»lach Ortsgesetz (local law) existire, dieselbe aber nirgends einführe, wo sie verboten sei.

Eine andere Lösung hatte schon vorher Senator Dickinson von NewDork in Vorschlag gebracht, indem er erklärte: daß eS den Principien der Selbstregierung,

dem Geiste der Verfassung und dem wahren Interesse

der Union am Besten entspreche, die Regelung aller Angelegenheiten der

Territorien, die Sclaverei eingeschloffen, den TerrttoriallegiSlaturen zu überlassen, und daß in dieser Beziehung die Bevölkerung eines Territo­

riums „dieselben souveränen Rechte",

wie diejenige der Staaten habe.

Das war, wie v. Holst mit Recht bemerkt, die klare Lehre von der später

so viel besprochenen „Squattersouveränetät", für deren ersten Urheber ge­

wöhnlich Senator Douglas von Illinois gehalten wird.

Es war evident,

daß dem Süden mit dieser an sich unhaltbaren Lehre nicht gedient sein konnte, und ebenso klar, daß eS unmöglich war, eine verfaffungSrechtliche Doctrln hinsichtlich dieser Frage auszuklügeln,

welche sowohl von der

Sclavokratie als von deren BundeSgenoffen im Norden als eine definitive

BersassnngSgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

104

Lösung angenommen werden konnte.

Ohne die Hülfe des Nordens war

eS aber für den Süden unmöglich, feine Wünsche durchzusetzen, zumal da er auch unter sich weder über die Rechtsfrage noch über das Wie der Er­ ledigung einig war. — In der Winter-Session nahm Douglas den Ge­

danken der Squattersouveränetät in modificirter Form in einem Anträge wieder auf, wonach Californien sofort als Staat zugelassen werden sollte. Der Vorschlag mußte schon an dem formalen Einwande scheitern, daß

Californien noch nicht das Vorstadium eines Territoriums durchgemacht habe, das in diesem Falle um so nothwendiger erschien, weil dem größten Theil der alten Bevölkerung des erst eben erworbenen Gebiets die Insti­

tutionen, Anschauungen und Sitten der Union, ja sogar die englische Sprache, unbekannt waren, die seit der Erwerbung eingeströmte neue Be­

völkerung aber meistens aus Abenteurern bestand.

UeberdieS mußte der

Antrag auch bei denjenigen, sowohl nördlichen als südlichen,

Männern

auf Widerstand stoßen, die sich nicht bloß der Nothwendigkeit einer Ent­

scheidung

der principiellen Frage entziehen wollten,

sondern eine solche

noch in ihrem Sinne zu erzielen hofften. — v. Holst entwirft bei dieser

Veranlassung ein Charakterbild von Douglas, der schon damals anfing eine Macht im Senate zu werden, das ich nicht unbesprochen lassen darf.

Ich bin ganz mit ihm darin einverstanden, daß „der kleine Riese" — so wurde der Senator, dessen Gestalt seiner geistigen Bedeutung nicht ent­

sprach, später vielfach genannt — der Sclaverei als ethischer Frage gleich­

gültig gegenüberstand,

daß sein

ehrgeiziges Streben nach dem höchsten

Ziele eines Amerikanischen Politikers, der Präsidentenwürde, ihn versuchen ließ, den Süden zufrieden zu stellen,

derben, daß

er aber zugleich wußte:

ohne eö mit dem Norden zu ver­ er werde

im Norden den Boden

unter den Füßen verlieren, wenn er in seinen Concessionen an den Süden über die Fortführung

der Linie des Missouri-CompromisseS bis an den

Stillen Ocean und über die Squattersouveränetät hinausgehe.

Man er­

hält jedoch eine keineswegs richtige Vorstellung von Douglas, wenn man weiter liest:

daß er,

bet allen seinen GeisteSgaben und seiner Redege­

wandtheit, im Grunde doch nur von Profession, von Natur und auS Nei­ gung ein Demagoge von unbegränztem Selbstvertrauen gewesen sein soll,

der „mit dem ganzen plumpen Aplomb des dreisten, einflußreichen, halb­ gebildeten StreberS" auftrat, und der in seinem Aeußeren und seinen Ma­ nieren „die Rohheit und Halbcultur der untersten Bevölkerungsschichten

deS Westens scharf und bisweilen bis zum Ekel drastisch zu Tage treten ließ."

Für Letzteres beruft sich der Verfasser auf ein Zeugniß von

Adams auS dem Februar 1844, und es wäre ja nicht zu verwundern,

wenn der damals 30jährige Mann in seinem Aeußern noch starke Spuren

davon gezeigt hätte, daß er seine Laufbahn als Tischlergeselle anfing und

seit zehn Jahren im damals erst halbcivilisirten Westen lebte, wo er sich vom Commis in einem Auctionsgeschäft zum Schullehrer, zum Advocaten und zum Mitglied des höchsten Gerichts seines Staates hinaufgearbeitet

hatte.

Als ich ihn im Dezember 1853 kennen lernte, war wenig mehr

von dieser Vergangenheit an ihm zu bemerken.

Er hatte bereits eine

gewisse Gewandtheit in den gesellschaftlichen Formen und in der Unter­

haltung über die verschiedensten Interessen gewonnen und entwickelte sich auch in dieser Beziehung mit jedem Jahr mehr, zumal nachdem er Europa

besucht und das Glück gehabt hatte, in einer der liebenswürdigsten und

gebildetsten Damen Washington'», Miß Cutts, eine Frau zu erhalten, die es nicht nur verstand, in hübschester Weise die Honneurs seines gastfreien HauseS zu machen, sondern in jeder Beziehung einen veredelnden Einfluß auf ihn übte.

Unleugbar hatte Douglas viel vom Demagogen und vom

ehrgeizigen Streber an sich, aber seine Haupteigenschaft war doch ein

wahrer Patriotismus.

Davon gab

er den glänzendsten Beweis, als

er nach dem Scheitern aller seiner lange gehegten Hoffnungen, im Wahl­

kampf um die Präsidentschaft, beim Ausbruch des Bürgerkriegs alle Partei­

rücksichten zur Seite warf und seinen ganzen Einfluß nur dazu verwandte, daß Illinois einig zur Vertheidigung der Union unter die Waffen trat. Für dieses Urtheil könnte ich viele Belege beibringen, aber es wird ge­ nügen, an die ehrende Ordre zu erinnern, wodurch der KrtegSsekretär

seines glücklicheren Rivalen Lincoln, Simon Cameron, am 4. Juni 1861,

dem Tage nach Douglas' unerwartet frühem Tode, öffentliche Trauer für den Heimgegangenen Patrioten anordnete.

Kehre ich nach dieser Abschweifung zu den im Kongreß ventilirten Ausgleichungsvorschlägen zurück, die für die verschiedenen dort herrschenden

Strömungen charakteristisch sind, so bleibt darüber nur noch wenig zu be­

merken.

Das Repräsentantenhaus hielt in seiner

Majorität an dem

wiederholt beschlossenen Wilmot Proviso, der Ausschließung der Sklaverei

aus den Territorien, fest, und es wurde dort sogar ein vergeblicher Ver­

such gemacht,

aggressiv gegen die Sclavokratie vorzugehen und die Ab­

schaffung deS Sklavenhandels im District Columbia, dem Sitze der Bun­ desregierung, durchzusetzen.

Der Senat dagegen blieb in seinem Wider­

streben gegen das Wilmot Proviso konsequent. — Zwei hervorragende Männer, denen noch eine große Rolle in der Geschichte ihres Vaterlandes bevorstand, und deren

gerade damals (Dezember 1848) gleichzeitig er­

folgter Eintritt in den Senat ein Ereigntß von nationaler Bedeutung

war, Wm. H. Seward von New-Iork und Salmon P. Chase von Ohio, hatten naturgemäß noch nicht die Stellung gewinnen können, um einen

Berfassungsgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

106

entscheidenden Einfluß auf die Beschlüsse zu üben.

Ungern verzichte ich,

um diese Anzeige nicht noch weiter auszudehnen, darauf, die kurze,

im

Ganzen zutreffende Charakteristik, welche Holst von meinen beiden längst

verstorbenen Freunden giebt, hier noch etwas zu vervollständigen und meiner Verehrung

Nur das glaube ich nicht uner­

für sie Ausdruck zu geben.

wähnt lassen zu dürfen, daß Seward mir einst selbst ausführlich erzählt hat, wie er damals mit seinen anti-slavery-Gesinnungen im Senat fast

völlig allein gestanden und garnichts durchzusetzen vermocht habe, bis er

an dem 1856 verstorbenen ersten Senator von Texas, T. I. NuSk, einem

geborenen Süd-Carolinier, obwohl in den meisten Beziehungen sein po­ litischer Gegner, einen Freund gewonnen, mit dem gemeinschaftlich, häufig

in Folge eines CompromisseS, er fast alles, was er wünschte, und was

zur Zeit überhaupt erreichbar war, durchbringen konnte. So standen die Sachen, als die Session, ohne daß man bis dahin

zu irgend einem eittscheidenden Beschluß gelangt war,

näherte.

sich ihrem Ende

Selbst die Versuche, welche gemacht wurden, von außen her eine

Pression auf den Congreß zu üben — ein Protest aus Neu-Mexico gegen

Wiedereinführung der Sclaverei, eine von Calhoun angeregte, aber ihren Zweck völlig verfehlende Adresse südlicher Vertreter an ihre Constituenten,

sowie dessen Plan, eine südliche Partei zu bilden — änderten nichts an der Sachlage. fasser darüber,

Man kann die eingehenden Mittheilungen, welche der Ver­ über die Stimmung in den verschiedenen Landestheilen

und über die zunehmende Zersetzung der Parteien macht, nicht ohne leb­

haftes Interesse lesen.

Der Süden erkannte immer deutlicher, daß der

Kampf für das von ihm verfochtene Prinzip zugleich ein Kampf für seine Zukunft war.

Bis zuletzt hielten seine Vertreter an der Hoffnung fest,

daß es ihnen doch noch gelingen werde, mehr zu erreichen, als bloß zu verhindern, daß das Recht der Bundeölegislative, die Sclaverei aus den Territorien auszuschließen, ausdrücklich anerkannt werde.

Am 19. Februar

1849 machte Walker von Wisconsin einen letzten Versuch in dieser Rich­ tung, indem er ein später noch etwas modistcirteS Amendement zum EtatS-

gesetz (general appropriation Bill) stellte,

wodurch der Süden auf in­

direktem Wege seine Ziele rücksichtlich der Sclaverei in den Territorien erreicht haben würde.

Der Senat nahm dieses Amendement mit großer

Majorität an, das Haus verwarf eS.

Andererseits wurde die mit 126

gegen 87 Stimmen vom Hause beschlossene Bill, wodurch die Sclaverei aus den Territorien ausgeschlossen ward,

vom Senate verworfen.

Conferenz-AuSschuß konnte sich nicht verständigen.

Ein

Die Aufregung war in

beiden Häusern so groß, daß eS sogar zu Schlägereien kam.

Erst in der

Nacht vom 3. auf den 4. März, Morgens gegen 4 Uhr, ließ der Senat

sein Amendement zum ElatSgesetz fallen, und dieses passirte beide Häuser, ohne

eine

Bestimmung

über die neuen Territorien zu enthalten. —

v. Holst erwähnt, ohne selbst eine bestimmte Ansicht darüber auszusprechen,

daß der Congreß nach der Meinung mehrerer Senatoren rechtlich bereits mit der Mitternachtsstunde des 3. März sein Ende erreicht habe mtb also garnicht mehr befugt gewesen sei, Beschlüsse zu fassen, und daß vermuth­

lich die große Majorität des Volkes dafür gehalten haben werde, daß

Polk eigentlich mit der letzten Minute des 3. März aufgehört habe, Prä­

sident der Vereinigten Staaten zu sein, wenn man es auch allgemein gut geheißen habe, daß er das Gesetz deSungeachtet noch approbirt habe. Wenn man wirklich zu jener Zeit der Ansicht gewesen, daß die Legislatur­ periode deS CongresseS und die Amtsperiode des Präsidenten schon mit

der Mitternachtsstunde des 3. März ablaufe, so muß daS in DrightlY'S

„Digest of the Laws

of the United States“ (Philadelphia 1857) I

p. 2. Note m. leider ohne Anführung des Datums erwähnte Statut, wo­

nach die Legislaturperiode erst am 4. März Mittags 12 Uhr zu Ende

geht, erst später erlassen sein. gang

Vielleicht hat gerade der geschilderte Vor­

die Veranlassung dazu gegeben,

jeder Ungewißheit ein Ende zu

machen.. Ich selbst habe vom 33. bis 37. Congreß (1855—1863) den Schlußsitzungen beigewohnt, die jedesmal erst am 4. März um 12 Uhr

Mittags Statt hatten, während man meistens noch bis unmittelbar vorher wichtige Gesetze berieth und beschloß.

(Vgl. auch Hickey, the Constitution

of the United States 7. Ausgabe 1853. S. 312.) — Dasselbe gilt auch

rücksichtlich des Beginns und des Endes der Amtsperiode des Präsidenten, wenngleich die Congreßakte vom 1. März 1792 sec. 12, welche in Con­ sequenz deS Beschlusses vom 13. September 1788 dafür den 4. März be­

stimmt, die Stunde nicht näher angiebt.

Wäre es ander-, so würde auch

faktisch alle vier Jahre ein Interregnum von zwölf Stunden eintreten, da

der Präsident nach art. II sec. 1. § 7 der Verfassung nicht fungiren kann, ehe er den vorgeschriebenen Eid geleistet hat, und die- — ich selbst habe zweimal, 1857 und 1861, dem feierlichen Akte beigewohnt — erst am

4. März Mittags 12 Uhr geschieht.

Ich erinnere mich denn auch daß,

alö ich in der Nacht vom 3. auf den 4. März 1857 um 1'/, Nachts die Sitzung deS Senats verließ, Präsident Pierce, der nach wenigen Stunden

sein hohes Amt an H. Buchanan übergeben sollte, noch in einem Zimmer des Capitols anwesend war, um die noch fortwährend gefaßten Beschlüsse

mit seinem „approved“ zu versehen oder zur Seite zu legen.

Nur ein

in jener Nacht von beiden Häusern deS CongresseS beschlossenes Gesetz, betreffend die Zurückzahlung deS Zolls für bei einem großen Brande in liew-Dork zerstörte Güter, kam bei der herrschenden Unordnung nicht mehr

108

Verfassiingsgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

zur Vollziehung durch den Vicepräsidenten, den Sprecher und den Präsi­

denten, was viel besprochen wurde. Obwohl sich schließlich die große Majorität des Volks um der er­

reichten unermeßlichen Vortheile willen

völlig

mit dem

Mexicanischen

Kriege auSgesöhnt hatte, war Präsident Polk, der jetzt ins Privatleben zurücktrat, doch niemals ein populärer Dkann geworden.

Man ließ eS

ihn entgelten, daß man guten Grund hatte, sich in mehrfacher Beziehung der Errungenschaften zu schämen, die man in erster Linie seiner Politik

verdankte, und man schob ihm auch in unverdientem Maße vielfach die Verantwortung dafür zu,

gefährliche Steigerung des inneren

daß die

Zwiespalts eine natürliche Folge des gemachten großen Landerwerbs war. Wie man übrigens auch darüber urtheilen mag, gewiß ist, daß die Ne­

gierung Polk'S sich durch die endliche Erledigung der Oregonfrage und

drei unter ihr zu Stande gekommene wichtige Gesetze Anspruch auf den Dank dcS Landes erworben hat.

Die Congreßakte vom 30. Juli 1846

brach mit dem bisherigen Schutzzollsystem und führte für eine längere Reihe von Jahren ein wohldurchdachtes Finanzzollsystem ein, von dessen segensreichen Wirkungen die beiden letzten Jahresbotschaften und mehrere spezielle Botschaften des Präsidenten lautes Zeugniß ablegen.

Durch Gesetz

vom 6. August 1846 wurde daS unabhängige Schatzamt begründet, die Erhebung der Abgaben in Gold, Silber oder Schatzkammerschetnen ohne

Vermitilung einer Bank angeordnet und dadurch den Amerikanischen Fi­

nanzen zum ersten Male eine feste Basis gegeben.

Endlich wurde durch

das namentlich von Calhoun stark bekämpfte Gesetz vom 3. März 1849

ein Ministerium des Innern geschaffen.

Die Bedeutung der beiden letzten

Maßnahmen würde es, meines Erachtens, wohl verdient haben, daß der Verfasser ihrer mit wenigen Worten erwähnt hätte.

Am 5. März 1849 leistete Taylor den AmtSeid als Präsident der Vereinigten Staaten.

Es ist nicht nöthig, die Mitglieder seines Cabinetö,

an dessen Spitze Clayton von Delaware als Staatssekretär stand, näher zu charakterisiren,

da sie, so tüchtige Männer sich auch unter ihnen be­

fanden, während seiner nur kurzen Regierungszeit nicht in der Lage waren, einen Ausschlag gebenden Einfluß auf den Congreß zu üben, bei dem in letzter Instanz die Entscheidung lag.

Im Senat hatte die Opposition

schon beim Regierungsantritte Taylors eine entschiedene Majorität, und durch die Herbstwahlen erhielt auch das Repräsentantenhaus einen oppo­ sitionellen Charakter.

Die persönliche Popularität des Präsidenten erstreckte

sich nicht auf dessen politische Freunde; die Anhänger Clah's waren ihm von Anfang an mißgünstig; die Art, wie man bet der neuen Aemterbesetzullg verfuhr,

befriedigte weder

Whigs noch Demokraten;

und

die

Selbständigkeit, mit welcher Taylor die große Streitfrage zu lösen ver­ suchte, sowie die Energie, mit der er durch eine Proklamation vom

11. August einem Freibeuterunternehmen gegen Cuba entgegentrat, hatte den südlichen Sclavenhaltern im höchsten Grade mißfallen. Taylor wünschte seine Versicherung: daß er die Interessen der Par­

teien denen der Gesammtheit unterordne, an der Sclavenfrage wahr zu

machen und dem Congreß die Entscheidung über diese durch eine vollendete

Thatsache zu entziehen.

Er hoffte durch eine Combination der erwähnten

früheren Vorschläge Clayton'S und Douglas' die Territorialfrage aus der Schon am 3. April 1849 entsandte er den bisherigen

Welt zu schaffen.

Abgeordneten T. Butler King von Georgien, einen geborenen Neu-Engländer,

mit dem Auftrage nach Caltfornien, die Bevölkerung zu veranlassen, sich selbst eine Staatsconstitution zu geben und dann um sofortige Aufnahme als Staat in die Union nachzusuchen; zugleich aber sollte King dafür

Sorge tragen, daß die Organisirung des Staats in jeder Hinsicht das eigene Werk der Bevölkerung sei.

Die bewundernswerthe Fähigkeit der

Amerikaner für Selbstregierung, und die — wie der Präsident später in seiner speziellen Botschaft vom 21. Januar 1850 ausdrücklich anerkannte

— noch von Polk ernannten Beamten kamen dem Abgesandten bei seiner Aufgabe sehr zu Hülfe.

Alle verständigen Männer in Californien em­

pfanden lebhaft die Nothwendigkeit, so rasch wie möglich eine starke Local­ regierung zu begründen, um des bedenklichen Abenteurer-Elements, welches

durch die am 19. Januar 1848 gemachte Goldentdeckung massenhaft herbei­ gelockt war, Herr zu werden.

Am 1. September trat in Monterey eine

zur Entwerfung einer Staatsverfassung berufene Convention zusammen, die schon am 13. Oktober ihre Arbeit beendigte.

Obgleich 15 Mitglieder

der Convention aus Sclavenstaaten stammten, hatte man einstimmig be­

schlossen: daß keine Sclaverei geduldet werden, die Einwanderung freier Farbiger verboten sein solle. Verfassung

in

allgemeiner

Am 13. November wurde die vereinbarte Volksabstimmung

angenommen,

und

am

20. Dezember traten die durch dieselbe geschaffenen neuen bürgerlichen

Gewalten in Wirksamkeit.

Ermuthigt durch den in Californien erzielten Erfolg ließ der Präsi­

dent am 19. November an den Höchstkommandirenden in Neu-Mexico die Instruktion ergehen: die Wünsche der Bevölkerung zu fördern, wenn diese

ihre Angelegenheiten selbst zu reguliren versuchen sollte. So lagen die Sachen, als am 3. Dezember 1849 der 31. Congreß

zu seiner ersten Session zusammentrat.

aus 105 Whigs, Partei.

Das Repräsentantenhaus bestand

112 Dcmocraten und 13 Vertretern der Freiboden-

Schon die Sprecherwahl zeigte, wie wenig bei dieser Zusammen-

110

Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

setzung auf eine rasche Verständigung zu rechnen sei, wenn auch damals

wohl schwerlich Jemand voraussetzen mochte, daß die Session sich zur längsten, die jemals Statt gefunden hat, ausdehnen und bis zum 30. Sep­

tember 1850 dauern werde.

Erst am 22. Dezember wurde Howell Cobb

von Georgien — damals noch ein verhältnißmäßig gemäßigter Demokrat, den Präsidei>t Buchanan 1857 gerade deshalb zu seinem Finanzminister

ernannte, weil er zu jener Zeit als Führer der Unionisten seines Staats den immer lauter hervortretenden SecessionSgelüsten mit Entschiedenheit

entgegengetreten war — bei der 63. Abstimmung mit Pluralität

Stimmen zum Sprecher des Hauses erwählt.

der

Ich habe es später erlebt,

daß die Sprecherwahl im 34. Congreß erst am 3. Februar 1856 bei der

133. Abstimmung durch Pluralität, und im 36. Congreß am 1. Februar

1860

bei

der

44. Abstimmung

mit

einer

Stimme

Majorität

zu

Stande kam.

Die Jahresbotschaft deS Präsidenten, welche unter diesen Umständen erst am 24. Dezember an den Congreß gelangte, konnte noch nicht das definitive Resultat seiner Bemühungen in Californien und Neu-Mexico

melden, sondern nur Andeutungen darüber enthalten; aber, wie sein Vor­

gänger, so wiederholte auch er die Mahnung

Washington'S:

„keinen

Grund zur Charakterisirung der Parteien nach geographischen Unterschei­ dungen" zu geben.

Diese Mahnung war auch jetzt vergeblich; denn ehe

er noch in einer vortrefflich gefaßten speziellen Botschaft vom 21. Januar

1850 dem Congreß die von ihm in den beiden Territorien eingeschlagene

Politik klar darlegte und demselben am 13. Februar mit einer ferneren Botschaft die neue Verfassung von Californien überreichte,

hatten die

Verhandlungen in beiden Häusern bereits den Beweis geliefert, daß aber­ mals die ganze Sclavenfrage auf der Tagesordnung stand.

v. Holst giebt eine sehr drastische Schilderung der damals herrschenden Aufregung und verweilt namentlich auch bei einem widerlichen Wortgefecht

zwischen den Senatoren Foote von Mississippi und Benton von Missouri am 16. Januar.

Ich wundere mich, daß er nicht des viel bedenklicheren

Zusammenstoßes zwischen diesen beiden Senatoren am 17. April gedenkt,

um so mehr weil dadurch die Voraussagung des Washingtoner Correspon-

denten deS „New-Uork Herald" vom 28. Februar: „wir stehen am Vor­

abend von Blutvergießen auf dem Capitol" — über die er sich lustig macht — ihre volle Erklärung findet.

An jenem Tage richtete nämlich

Foote eine Pistole auf Benton, welche Senator Dickinson ihm entriß.

Daß Benton, wie die Sage erzählt, bei dieser Gelegenheit eine seltene Probe mannhaften Muths gegeben, seine Weste aufgerissen und gerufen

habe: „Schieße Mörder!" ist freilich eine lächerliche Uebertreibung.

Auf

einem charmanten Diner bei Seward, an dem Douglas, Houston und andere Augenzeugen Theil nahmen, wurde mir 1858 unter herzlichem Ge­

lächter erzählt, wie Benton das erst gethan habe, als die Pistole längst bet Seite geschasst war.

Die Lage war übrigens ernst genug.

Nicht Uebermuth und Macht­

durst, sondern daS Bewußtsein der Schwäche riß die Partei der Sclaven­ halter zu immer größerer Maßlosigkeit hin.

Wenn auch die ^ahl derer,

welche die Auflösung der Union wünschten, noch gering war, so wuchs doch die Ueberzeugung

stätig, daß die Secession zur Nothwendigkeit werden

könne, und die südlichen Whigs waren die Vorkämpfer dieser Ansicht.

ES

würde natürlich viel zu weit führen, wenn ich dieS durch Anführung einiger

der vielen interessanten Einzelheiten näher belegen wollte, welche der Ver­ fasser auS den Beschlüssen der Legislaturen mehrerer Einzelstaaten, den

im Congreß gestellten Anträgen und gehaltenen Reden, so wie auS den Correspondenzen

hervorragender

Abgeordneten

dafür

beibringt.

Der

Süden, noch nicht im Stande, seine Drohungen, an welche der Norden nicht einmal glaubte, zur Ausführung zu bringen, hatte das größte In­

teresse daran, zu einem Ausgleich zu gelangen, und vor Allem hatten dies die Gränzstaaten.

Henry Clay begründete darauf einen Compromißplan,

den er am 29. Januar im Senat einbrachte.

Er schlug vor: Californien,

ohne über die Sclaverei Vorschriften zu geben, als Staat aufzunehmen;

in dem

übrigen von Mexico erworbenen Gebiet Territortalregierungen

einzurichten, ohne die Sclaverei dort ausdrücklich einzuführen oder auszu­ schließen ; die streitige Gränze zwischen Neu-Mexico und Texas festzustellen

und letzteres für das Aufgcben seiner weiter gehenden Ansprüche mit Geld

zu entschädigen; den Sclavenhandel im Distrikt Columbia abzuschaffen, aber im Uebrigen die Sclaverei dort unberührt zu lassen, weil dieselbe nicht ohne die Zustimmung der Bevölkerung und Maryland'S aufgehoben

werden könne; das Gesetz wegen Auslieferung flüchtiger Sclaven zu ver­

schärfen und endlich auszusprechen: daß der Congreß nicht berechtigt sei, den Sklavenhandel zwischen den Einzelstaaten zu verbieten oder zu be­ schränken.

v. Holst verdammt natürlich von seinem Standpunkte aus diesen Compromißvorschlag, weil derselbe den prinzipiellen Gegensatz ignorirte, die drohende Katastrophe zum moralischen Schaden des Volks hinauöschob.

Südliche Senatoren

erhoben biete Einwendungen gegen den Plan, die

nördlichen schienen bereit, auf dieser Basis zu verhandeln.

Das Reprä­

sentantenhaus leistete schon durch einen Beschluß vom 4. Februar auf daS

Wilmot Proviso Verzicht. ließ nach.

Das Geschrei über Zerreißung

Vom Ziele war man aber noch sehr weit entfernt.

der Union Fast zwei

Berfaffungsgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

112

Monate vergingen, ehe der Senat, dem seiner Bedeutung nach die Ini­

tiative zufiel, am 18. April die bereit- am 21. Februar von Foote bean­

tragte Einsetzung eines besonderen Ausschusses von 13 Mitgliedern be­ schloß, um den Vorschlag eines GesammtcompromisseS auszuarbeiten.

Ich muß eS mir versagen, der von dem Verfasser gegebenen werth­ vollen Darstellung und Kritik der gepflogenen Debatten, die in drei bemerkenSwerthen Reden Calhouns, Websters und SewardS gipfelten, im

Einzelnen zu folgen und

dieselbe von meinem theilweise abweichenden

Standpunkt aus zu beleuchten.

Ich beschränke mich auf wenige Bemer­

kungen über jene drei großen Reden, von denen ich glaube, daß sie zur Vervollständigung seiner Ausführungen, zur Charakteristik der Persönlich­

keiten und zur Gewinnung eines unbefangenen Urtheils dienen.

Calhoun legte in seiner Rede, die er, dem Tode nahe — er starb schon

am 31. März —

am 4. nur noch von einem College» verlesen

lassen konnte, sein politisches Testament nieder. die Sklaverei

„ein positives Gut", und

In seinen Augen war

er erblickte in der politischen

Herrschaft der Sclavokratie die Vorbedingung des Bestandes derselben in der Union.

Ihn konnten deshalb weder die Vorschläge Clay'S noch der

Plan der Regierung zufrieden stellen; für ihn bestand das einzige Mittel

zur Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts zwischen den freien und

den Sclavenstaaten darin, daß dem Süden gleiches Recht an den neu erworbenen Territorien eingeräumt und durch ein Amendement zur Con­ stitution die Macht verliehen werde, sich selbst zu schützen.

Dieses Amen­

dement, dessen Inhalt er in seiner Rede nicht näher bezeichnete, sollte, wie man aus einer seiner Schriften weiß, in nichts Geringerem als in

der Ungeheuerlichkeit bestehen, daß die Executivgewalt in die Hände zweier

Präsidenten gelegt und dem Süden ein Veto gegen alle Beschlüsse der Bundesregierung gegeben werde.

Aber obgleich die Annahme dieses Vor­

schlags die thatsächliche Auflösung der Union bedeutet haben würde, ist es doch nicht zweifelhaft, daß Calhoun dieselbe liebte und erhalten zu sehen wünschte.

Er würde, wenn er die Zeit erlebt hätte, auch niemals, ohne

mit sich selbst in Widerspruch zu treten, im Stande gewesen sein, den

gewaltsamen Secessionöversuch der Südstaaten gutzuheißen.

Mir liegt

ein im „National Intelligencer“ vom 28. November 1861 abgedrucktes Schreiben des großen Süd-Caroliniers vom 3. Juli 1843 vor, in welchem

er, als damaliger Staatssekretär deS Präsidenten Tyler, dessen Recht, die Dorr'sche Revolution in Rhode Island nieder zu schlagen, damit begründet,

daß eS die verfassungsmäßige Pflicht der Bundesregierung sei, jede An­ wendung

physischer Gewalt zur Herbeiführung einer Aenderung prompt

zu unterdrücken.

Daniel Webster gab in seiner großen Rede, welche Holst „den dun­ kelsten Fleck in dessen politischem Leben" nennt, im Grunde nur der kon­

servativen Stimmung Ausdruck, die mit Macht im Norden eingesetzt hatte,

indem er die Lösung deS Problems zur Zeit für unnöthig erklärte und den ganzen Kampf wie einen thörichten Zank Verblendeter darstellte, der durch größere

könne.

Leidenschaftslosigkeit

Patriotismus beseitigt werden

und

Ich will die Rede, in welcher sowohl die ethische als die rechtliche

Seite der Streitfrage mit Stillschweigen übergangen ward, um so weniger vertheidigen, als Webster nicht so weit, wie er es that, mit seiner Ver­

gangenheit gebrochen haben würde, wenn dieselbe nicht unverkennbar darauf berechnet gewesen wäre, die Gunst deS Südens zu gewinnen und

sich doch gleichzeitig den guten Willen deS Nordens zu erhalten, was ihm freilich Beides nicht gelang.

Aber ich meine, daß die maßlos scharfe

Kritik, welcher Holst dieselbe unterzieht, doch kaum berechtigt ist, da er selbst später (S. 447) einräumt: daß die Zahl derer, welche jedes weitere

Pactiren mit der Sclavokratie — wie er selbst das thut — unbedingt verurtheilten, damals noch

„verschwindend klein"

und daß „die große

Majorität deS Volks, im Norden wie tat Süden", davon überzeugt ge­ wesen sei,

„daß es billig, vernünftig und patriotisch sei, sich gütlich zu

vergleichen."

Denn das war eS gerade,

empfahl, die mit den Worten begann:

was Webster in seiner Rede

„Ich will heute nicht als Mann

von Massachusetts oder deö Nordens, sondern als Amerikaner reden." —

DeS Verfassers Kritik der Rede ist mir überhaupt nur dadurch erklärlich,

daß er die ganze Sclavenfrage einseitig vom prützipiellen Standpunkte

aus betrachtet.

Ein einziges Beispiel mag zur Begründung dieses viel­

leicht zu streng erscheinenden Urtheils genügen.

Mit großer Entrüstung

macht er dem Senator von Massachusetts einen Vorwurf aus seiner Be­ merkung: daß die Abolitionisten „nichts Gutes oder Werthvolles" gethan

und lediglich die Sclaven fester gebunden hätten. rüstung insofern,

als

Ich begreife diese Ent­

die Abolitionisten unwidersprechlich daS Verdienst

haben, die Gewissen im Norden rücksichtlich der Verdammlichkeit der Sclaverei aufgerüttelt zu haben.

Aber andererseits habe ich auch nicht den

geringsten Zweifel darüber, und ich glaube auch vollgültige Beweise dafür zu besitzen, daß die Agitation der Abolitionisten nicht das allergeringste zur Verbesserung der Lage der Sclaven beigetragen, dieselbe vielmehr

vielfach noch wesentlich verschlimmert hat; daß der vorher im Gange be­

findlichen EmancipationSbewegung in den Gränzstaaten dadurch Einhalt gethan, der Werth der Sclaven für ihre Besitzer dadurch erhöht, und die

bereits vorhandene Entfremdung zwischen Norden und Süden dadurch aufs Aeußerste gesteigert ist.

Nur für die Politiker hat diese Agitation

114

VerfaffungSgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

bald Erfolge, bald Niederlagen mit sich geführt.

DaS einzige wirklich

staatsmännische Wort, welches v. Holst in Websters Rede gelten läßt, ist die mit Emphase abgegebene Erklärung: daß „friedliche Secession" eine

Unmöglichkeit sei und immerdar eine Unmöglichkeit bleiben werde. Im direktesten Gegensatz zu Webster erklärte Seward sich gegen alle

legislativen Compromisse, da sie nur die Hände für die Zukunft bänden, während sich die künftigen Bedürfnisse des Staatswohls nicht voraussehen ließen.

Er verlangte, daß die Sclavenfrage, gleich allen anderen gesetz­

geberischen Problemen, von Fall zu Fall behandelt werde,

womit jeder

Grund wegfallen werde, der Sclaveret die in den verschiedenen Compro-

mißvorschlägen enthaltenen Zugeständnisse zu machen.

Sein ganzes Auf­

treten bewies, daß die Auflösung der Whig-Partei eine vollendete That­ sache war und die Sclavenfrage die Basis der Neubildung der Parteien

werden würde.

Seward's Rede hat aber auch dadurch eine historische

Bedeutung erhalten, daß tischer Zweckmäßigkeit

er sich darin nicht auf ein Räsonnement poli­

beschränkte, sondern

„höheren Gesetzes" konstatirte. als ob

zugleich

die Existenz

eines

Seine Gegner legten dieses Wort so aus,

er von der Constitution an ein höheres Gesetz appellirt habe.

Aber in Wahrheit wollte er nur die volle Uebereinstimmung jener mit diesem behaupten, nur die Thatsache feststellen:

daß die Verfassung ein

todter Buchstabe sei, soweit das Volksbewußtsein sie für im Widerspruch mit dem höheren Gesetz stehend halte; und daß der Gesetzgeber dies nicht

ungestraft außer Acht lassen könne. magogie beschuldigte, vergaß,

Wer den Redner deshalb der De­

daß selbst die fanatischsten Partisanen der

Sklaverei zugaben: sie müsse und werde fallen, wenn sich aus der Bibel

beweisen

ließe, daß

sie gegen Gottes Gebot sei, — was freilich nicht

möglich ist. Am 8. Mai brachte Clay als Vorsitzender des Compromiß-AuSfchusseS

und Namens desselben drei Bills ein.

Die erste derselben, welche in nicht

weniger als 39 §§ die heterogensten Gegenstände umfaßte, um durch deren Verbindung

auch das

dem einen oder dem

anderen Mißliebige

leichter durchbringen zu können, und welche deshalb von Benton mit bitterem Spott die „OmnibuS-Bill" getauft wurde, bestimmte: Californien

wird unter seiner Verfassung als Staat ausgenommen; für Utah und Neu-Mexico werden Territorialregierungen organisirt, doch dürfen deren

Legislaturen kein die Sclaverei betreffendes Gesetz beschließen; Texas wird für seine Zustimmung zu der beliebten Regulirung seiner Gränzen gegen

Neu-Mexico eine Geldentschädigung angeboten. Die zweite Bill verschärfte das Gesetz wegen Auslieferung flüchtiger Sclaven (fugitive slave law), die dritte schaffte den offenen Sclavenmarkt im Distrikt Columbien ab.

Diese Vorschläge enttäuschten den Norden und befriedigten noch we­ niger den Süden.

Der Versuch, den Norden durch eine schon im vorigen

Jchre von Mississippi aus angeregte Convention der südlichen Staaten, die am 3. Juni in Nashville zusammentrat, einzuschüchtern und zu weiteren

Conzessionen

geneigt zu machen, verfehlte, trotz des im Hintergründe

stehenden Gespenstes der Bildung eines unabhängigen südlichen Staaten-

bundes, völlig seinen Zweck.

Die Convention gab nur von der inneren

Uneinigkeit des Südens Zeugniß, und das Zustandekommen eines CompromiffeS auf der Clah'schen Grundlage wurde dadurch nur wahrschein­

licher.

ES erregte daher bei den Freunden eines solchen Ausgleichs einen

Sturm des Unwillens,

als eS sich herausstellte,

daß der Präsident von

der „Omnibus-Bill" nichts wissen wollte, sondern an dem Gedanken fest­

hielt, daß die Territorialfrage durch die Wünsche der Bevölkerung selbst entschieden werden müsse.

Noch ungeberdiger als der Congreß zeigte sich

TezcaS, weil der Staat seine vermeintlichen Ansprüche aus einen Theil

von Neu-Mexico so hoch wie möglich zu verkaufen wünschte und nunmehr, in Folge der Instruktion Taylors vom November 1849, dort eine konsti-

tuirende Versammlung berufen war. Einmarsch

der

StaatStruppen

14. Juni Aufklärung

Der Gouverneur drohte mit dem

in das Territorium und verlangte am

vom Präsidenten.

Mann sich einfchüchtern zu lassen.

Taylor war jedoch nicht der

Er maßte sich nicht an zu entscheidm,

welcher Theil von Neu-Mexico zu Texas gehöre, aber er erklärte, daß die Bereinigten Staaten durch Eroberung', Kauf und Vertrag in den Besitz

des Gebiets gelangt feien, und er sie darin erhalten werde, bis das Ober­ bundesgericht oder der Congreß anders entschieden oder beschlossen habe. Er blieb auch dann noch fest, als die südlichen Whigs ihm, in Gemäßheit

eines am 1. Juli gefaßten Beschlusses,

ankündigten: daß sie sich völlig

von ihm loSsagen müßten, wenn er nicht eine wohlwollendere Haltung gegen TexaS annehme und darauf verzichte, auch die sofortige Aufnahme

Neu-Mexicos als Staat zu empfehlen.

Durch seine entschiedene Weige­

rung, in irgend einem Punkte nachzugeben, spitzten sich die Verhältnisse

zu einer Krisis zu.

Da änderte ein völlig unerwartetes Ereigniß aber­

mals die ganze Situation, indem Präsident Taylor am 9, Juli 1850 nach einer Krankheit von nur wenigen Tagen, treu seiner Pflicht bis zum letzten Augenblick, verschied und der Biceprästdent Millard Fillmore an

seine Stelle trat. v. Holst bemerkt: daß Fillmore für einen schlichten, ehrenhaften und

patriotischen Mann gegolten habe, der als Mitglied des Repräsentanten­ hauses Fleiß, Gewissenhaftigkeit und gutes Urtheil gezeigt hatte.

Man

habe angenommen, daß er die breite sichere Mittelstraße einhalten werde, Prrußische Jahrbücher. Bd. XLV1II. Heft 2.

9

116

BerfaffungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.

und die Conservaiiven hatten von vornherein gehofft, daß er, obgleich er früher daS Wilmot Proviso befürwortet hatte, für das Compromiß ein­ treten werde.

Da ich daS Glück gehabt habe, den stattlichen Mann von

angenehmen Formen während eines gleichzeitigen Aufenthalts in Saratoga Springs im Sommer 1857 persönlich kennen zu lernen, wird

es mir

wohl gestattet sein, diese Charakteristik noch etwas zu vervollständigen.

In

ärmlichen Verhältnissen

herangewachsen und in seiner Jugend vier

Jahre lang als Tuchwalker und Wollkämmer beschäftigt, war Fillmore Autodidact, und seine Bildung blieb auch dann noch mangelhaft, als er sich später der Rechtswissenschaft widmete und, um sich seinen Unterhalt

zu erwerben, abwechselnd als Schullehrer

fungirte.

Als Beweis dafür

mag dienen, daß er, als ihm, nachdem er den Präsidentenstuhl bestiegen,

der damalige Abgesandte Bremens von den „hanseatischen" Freistaaten sprach, immer von Neuem seine Freude darüber äußerte, einen Vertreter einer der „Asiatischen" Republiken in Washington zu sehen.

Von früheren

College», die zu jener Zeit bei ihm akkreditirt waren, habe ich gehört,

daß seine Administration, wie er selbst, sich durch äußere Würde und An­ stand ausgezeichnet,

eS ihm jedoch an hervorragendem Talent und der

nöthigen Entschiedenheit des Charakters gefehlt habe.

Daß eS übrigens

nicht der Mangel an dieser, sondern andere Gründe waren, welche ihn

seine früheren, jeder Ausdehnung der Sklaverei feindlichen Gesinnungen — die er namentlich in zwei berühmt gewordenen Briefen vom 17. Ok­

tober 1838 und 31. Juli 1848*) ausgesprochen hatte — während seiner Präsidentschaft verläugnen ließen, ergiebt sich aus einer Rede, die er nach

seiner Rückkehr von einer Reise nach Europa im Juli 1856 in Albany hielt **).

Er sagt darin: daß er sich genöthigt gesehen habe, lang gehegte

Ansichten zur Seite zu schieben und Ansprüche seiner Partei unberücksichtigt

zu lassen, weil er es für seine Pflicht gehalten habe, sich über sectionelle Vorurtheile zu erheben und nur das Wohl der ganzen Nation ins Auge

zu fassen, wobei ihn ausgezeichnete Whigs und Demokraten gleichmäßig

unterstützt hätten.

Daß er damit im Sinne der großen Majorität des

Volks gehandelt hatte, läßt sich, glaube ich, nicht bestreiten. Der Regierungswechsel mußte insofern einen günstigen Einfluß auf die Verhandlungen des CongresseS üben, als seit Webster'S Ernennung

zum Staatssecretär ein Veto gegen Compromißmaßregeln nicht mehr zu besorgen war.

Allerdings gelangte bei der Abstimmung über die Clay'sche

„OmnibuS-Bill" am 31. Juli nur der § in Betreff Utah's zur Annahme, und Benton erregte allgemeine Heiterkeit, als er bei dieser Gelegenheit *) Abgedruckt in ClnSkey: the political text-book. **) Daselbst S. 212 ff.

S. 211.

den Senat mit der webenden und wieder auflösenden Penelope verglich. Aber die Majorität war bereits über die Principien einig, so daß im

Grunde nur noch Detailfragen zu erledigen blieben, und so wurden denn

im Laufe des August drei Hauptgesetze wirklich vom Senat beschlossen. Durch das erste derselben wurde die Grenze von Texas regulirt und diesem für den Verzicht auf weiter gehende Ansprüche eine Entschädigung von

10 Millionen Dollars bewilligt.

Damit wurde die Bill wegen der Or-

ganifirung von Neu-Mexiko in Verbindung gebracht, welche hinsichtlich der Sklavenfrage bestimmte, daß das Territorium seiner Zeit mit oder

ohne Sklaverei, wie eS seine Verfassung festsetzen möge, als Staat aus­ genommen werden solle, während bis dahin in allen Sklaveneigenthum

betreffenden RechtSstreitigkeiten die Appellation an das Oberbundesgericht für zulässig erklärt ward.

Mit Recht bemerkt Holst, daß dadurch dem

Richter eine Entscheidung und Verantwortlichkeit zugeschoben wurde, die nach der Verfassung dem Congresse oblag. — DaS zweite Gesetz erklärte

Californien für einen Staat der Union, das dritte, für welches nur zwei nördliche Senatoren stimmten, während sich 15 der Abstimmung enthielten, war daS berüchtigte neue Gesetz über die Auslieferung flüchtiger Sklaven.

Die verdiente Kritik, welcher Holst dieses Gesetz — über dessen Ver­ fassungsmäßigkeit kein Zweifel obwaltet — unterzieht, glaube ich noch etwas vervollständigen zu müssen. Der Verfasser unterläßt es

auffallender Weise einer principiellen

Entscheidung des OberbundeSgerichtS zu gedenken, welche, meines Erachtens, allein daS Verlangen des Südens nach Abänderung und Verschärfung deö

früheren Flüchtlingsgesetzes vom 12. Februar 1793 erklärt und zugleich die von ihm erwähnten sogenannten Liberty Laws, welche den nächsten

Anlaß zu allen Beschwerden gegeben hatten, gerechtfertigt erscheinen läßt.

Nur auS einer beiläufigen Aeußerung in einer (S. 437 Note 1) citirten Rede erfährt der Leser, daß einmal irgend ein Erkenntniß abgegeben sein

muß, ohne daß gesagt wäre, worauf dasselbe hinauslief.

hält sich so:

Die Sache ver­

Im Januar 1842 halte Story, gegen das Votum des Ober-

richterS Taney und dreier anderer Richter, durchgesetzt, daß daS OberbundeSgericht in dem dadurch berühmt gewordenen Falle Prigg vs the

Commonwealth of Pennsylvania (16 PeterS 539) entschieden hatte: daß die obrigkeitlichen Behörden der Einzelstaaten (State magistrates) nicht verpflichtet seien, zur Wiederergreifung flüchtiger Sklaven mitzuwirken, «S

vielmehr ganz von ihrem Ermessen abhänge, ob sie daS thun wollten, da eine Verpflichtung dazu nur den Bundesgerichten (Federal Courts) ob­

liege.

Auf Grund dieser Entscheidung hatten die Legislaturen mehrerer

freier Staaten durch die sogenannten Liberty Laws ihren Magistraturen 9*

jede solche Mitwirkung untersagt.

DaS neue „Sklavenjagdgesetz" sollte

nun die Bundesgerichte ermächtigen, eine beliebige Anzahl von Commissären (commiseioners) in den Einzelstaaten zu bestellen, um mittelst eines höchst summarischen Verfahrens die dort verweigerte Rechtshülfe

zu leisten.

Zugleich enthielt die Bill die bedenkliche Bestimmung: daß diese Commissäre eine höhere Vergütung erhalten sollten, wenn sie die Auslieferung

eines Flüchtlings erwirkten, als wenn das nicht der Fall war, so wie die

Androhung scharfer Strafen für jede einem flüchtigen Sklaven gewährte Hülfe rc.

Mir ist von allen Vorschriften des Gesetzes immer diejenige

des § 9 als die bedenklichste erschienen, wornach die Kosten der zur Ueber­ windung von Widerstand requirirten Hülfe, so wie des Rücktransports der wieder eingefangenen Sklaven aus dem Bundesschatz bezahlt werden sollen, denn dadurch ward die Sklaverei gewissermaßen zu einer nationalen

Angelegenheit gemacht.

Seinen Zweck, der politischen Agitation entgegen­

zuwirken, mußte das Gesetz deshalb nur um so sicherer verfehlen.

Stand

demselben doch, ganz abgesehen von allem Anderen, ohnehin schon das

gewichtige Bedenken entgegen, daß es eine Polizeimaßregel war, die in Staaten ausgeführt werden sollte, welche keinerlei Vortheil davon haben

konnten.

Gewiß würde der Süden weiser gehandelt haben, wenn er nur

auf ein

Gesetz gedrungen hätte, wodurch

ihm

ohne Mitwirkung

der

Bundespolizei eine reichliche Geldentschädigung für flüchtige Sklaven ge­ sichert wäre.

Darüber daß daö Gesetz in der Hauptsache ein todter Buch­

staben bleiben werde, täuschten sich denn auch viele hervorragende südliche

Männer nicht.

Aber sie legten größeren Werth auf die moralische Ge­

nugthuung, gesetzlichen Schutz für ihr Sklaveneigenthum zu erhalten, als auf wirkliche reelle Resultate,

die sie davon erwarteten, und man darf

nicht unbeachtet lassen, daß ein gewisser Stolz für alle Bewohner des Südens charakteristisch und fürwahr nicht deren schlechteste Eigenschaft war. Nachdem die erwähnten drei Gesetze beschlossen waren,

hielt

der

Senat mit seiner Abstimmung über die gleichfalls zu den Compromiß-

maßregeln gehörige Bill wegen Abschaffung deS Sklavenhandels im District Columbia einstweilen noch zurück, um dadurch eine gewisse Pression auf

das Repräsentantenhaus, Behufs Annahme der übrigen drei Gesetze, zu üben, weil diese Bill die einzige war, welche den nördlichen Anschauungen

eine gewisse Concession machte.

Auch an sonstigen Einwirkungen, um

eine Majorität im Hause zu erzielen, ließ man es nicht fehlen.

Wir

haben ja im Deutschen Reichstage erlebt, wie sich Conservative und Centrum

bei der Tarifrevision verbrüderten und dafür bei anderen Gelegenheiten gegenseitig Handdienste leisteten.

ES kann daher einen Deutschen Leser

nicht überraschen, daß man auch in Amerika Stimmen dadurch für daS

Verfassung-geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.

119

Compromiß zu gewinnen suchte, daß in Aussicht gestellt ward, der Süden werde geneigt sein, zum Dank für dessen Annahme zu einer Revision deS Tarifs im schutzzöllnerischen Sinne die Hand zu bieten.

Die in dieser

Beziehung erweckten Hoffnungen erwiesen sich freilich als illusorisch, aber

der Verfasser macht es wahrscheinlich, daß — wozu wir glücklicher Weise

im Deutschen Reiche noch kein Seitenstück haben und hoffentlich auch nie­ mals eines erhalten werden — nicht weniger als drei Millionen Dollars von der für Texas ausgesetzten Entschädigung von 10 Millionen in die

Hände von Regierungsbeamten, Congreßmitgliedern und Agenten aller Art

flossen,

um den letzten Widerstand zu beseitigen.

Am 6. September

passirte nach schweren Kämpfen die TexaS-Btll, an den folgenden Tagen

die California- und die Utah-Bill und am 12., unter dem Druck der jede DiScussion ausschließenden Vorfrage, mit 109 gegen 76 Stimmen auch daS Gesetz über die Auslieferung flüchtiger Sklaven das Repräsentanten­

haus.

Am 20. September erhielt schließlich das Gesetz wegen Abschaffung

des Sklavenhandels im District Columbia, das nunmehr ausgenommen und rasch erledigt war, die Approbation deS Präsidenten. Damit war nach Jahre langen Kämpfen endlich ein vorläufiger Ab­

schluß der Sklavenfrage erreicht.

An die Permanenz des

geschlossenen

Friedens werden unter den urtheilSfähigen Männern wohl nur wenige ernstlich geglaubt haben.

Aber so laut daS Compromiß auch vielfach im

Süden wie im Norden verdammt und einzelne Bestimmungen desselben

kritisirt wurden, schuf eS doch für längere Zeit Ruhe, und noch bei der Präsidentenwahl im Jahre 1852 ward eS sowohl von der Whig- als von der demokratischen Convenrion von Neuem ausdrücklich acceptirt.

Gerade

in der selbstzufriedenen Zuversicht, womit die große Majorität im Norden jetzt der Zukunft entgegensah und geneigt war, die Secession der Sklaven­ staaten, mit der man gedroht hatte, nur für ein Phantom zu halten, lag aber der Keim einer neuen Gefahr.

Die südlichen Radikalen zogen daraus

den Schluß, daß man mit größerer Festigkeit noch mehr hätte erreichen

können, und das Gefühl ihrer immer rascher zunehmendm Schwäche trieb die Sklavokratie vorwärts, wenn sie diese Thatsache auch natürlich nicht

zugestand und sich derselben wahrscheinlich selbst meistens nicht klar bewußt war.

Damit war es wohl vereinbar, daß sie ehrlich überzeugt war und

dem Norden immer von Neuem vorrechnete, dieser habe ungleich mehr als sie selbst bei einer Zerreißung der Union zu verlieren und verdanke

seinen Reichthum vornehmlich dem Vortheile, den er in legitimer und in

illegitimer Weise aus dem Süden ziehe.

Daß, wie v. Holst anzunehmen

scheint, sich Biele bis zu dem Unsinn verstiegen hätten, „mit salbungs­ vollem Ernste" zu verkünden:

„daß der Süden an der Spitze der Cultur

VerfaffuiigSgeschichte der Bereinigte» Staaten von Amerika.

120

aller Zeiten und aller Zonen stehe", muß ich allerdings bezweifeln.

Der

durch seine Eitelkeit in Washington fast zu einer lächerlichen Person her­ abgesunkene langjährige Abgeordnete des sprichwörtlich gewordenen Buncombe County (Nord Carolina), Clingman, auf dessen Zeugniß er sich

hier wie bei anderen Gelegenheiten mit Vorliebe beruft, war zwar ein Mann von leidlicher allgemeiner Bildung

und guten

gesellschaftlichen

Manieren, auch ein tüchtiger Geologe, aber kein Politiker, den man ernst­ haft zu nehmen pflegte.

Die erwähnten Verhältnisse und die angeführte

übrigens dem Verfasser Veranlassung zu einem der

Aeußerung geben

werthvollsten und besten Abschnitte des ganzen Buchs. Auf Grund der statistischen Ergebnisse deS 7. Census von 1850, ver­

schiedener anderer Quellen, unb namentlich auch der tüchtigen Arbeiten deS südlichen Fanatikers De Bow, weist Holst schlagend nach, daß die

Sklaverei nicht ein positives Gut, sondern die Hauptursache des Rückgangs der Sklavenstaaten im Vergleich mit den freien Staaten war.

Ich muß

diese überaus lehrreiche Erörterung der besonderen Aufmerksamkeit des

Lesers um so dringender empfehlen, weil ich diese Anzeige nicht durch das Eingehen auf irgend welche Einzelheiten ober Hervorhebung meiner Be­ denken gegen einige baraus gezogene Schlüsse noch mehr verlängern bars.

Nur bie Bemerkung kann ich nicht unterbrücken, baß ber Verfasser über

bem Bestreben, ben verberblichen Einfluß ber Sklaverei barzustellen, verschiebene anbere wichtige Gesichtspunkte völlig unberücksichtigt läßt. bleibt z. B. bei Besprechung ber

So

traurigen inbustriellen Zustände im

Süden der Einfluß der klimatischen Verhältnisse unbeachtet,

welche die

Bevölkerung des Südens zur Beschäftigung in freier Luft, diejenige des

Nordens zur Concentrirung treiben mußten.

ihrer Thätigkeit in geschlossenen Räumen

In ähnlicher Weise liefert die Art, wie der Verfasser

den Rückgang des Handels der bedeutendsten Städte deS Südens bespricht, einen neuen Beweis dafür, daß er, der offenbar Centralist, nicht Föderalist ist, nur freie und Sklavenstaaten, nicht Einzelstaaten kennt.

Sonst hätte

er nicht unterlassen können, kurz die Gründe zllsammenzustellen, welche im Laufe der Zeit New-Aork zum Mittelpunkt der Industrie und zum billigsten und reichsten Markt für die Erzeugnisse nicht nur der Vereinigten Staaten,

sondern

der entferntesten Welttheile

machen

mußten

und Baltimore,

Philadelphia und Boston rc. in eine ähnliche, wenn auch geringere Ab­

hängigkeit von sich brachten, als die Städte des Südens, denen überdies die geringe Zahl der Konsumenten in ihrem nächsten geographischen Ge­

biet jede Concurrenz unmöglich machte.

Am Meisten vermisse ich aber

in diesem im Uebrigen so belehrenden Capitel jedes Wort über die Lage

der Sklaven selbst.

Wenn eS überhaupt eine Rechtfertigung der Sklaverei giebt, so liegt

sie, meine ich, darin, daß der aus einem Freien zum Sklaven gemachte

Mann in diesem Zustande glücklicher, besser und civilisirter werden mußte und ward, als er es jemals unter den barbarischen Verhältnissen seiner

heidnischen Heimath geworden wäre.

Fast scheint eS, als ob die Sklaverei

von der Vorsehung als ein Uebergang vom wilden zum Cultur-Zustande

der Völker zugelassen sei.

Gewiß ist, daß niemals in der Welt 3 bis

4 Millionen Neger zusammen gelebt haben, die so

civilisirt und im

Ganzen so glücklich waren wie die Amerikanischen Sklaven.

Der Fluch

der Sklaverei lastete jedenfalls weniger auf ihnen als auf der ganzen weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten und als vorzugsweise auf

ihren Herren, welche dieselbe bis zum Beginne der unseligen Streitig­ keiten, von denen ich hier nach Anleitung des vorliegenden Werks ein

schwaches Bild zu geben versucht habe, selbst als ein Uebel

hatten.

betrachtet

Erst durch diese politischen Kämpfe, an denen meiner Ueberzeugung

nach Norden und Süden gleiche Schuld tragen, wurden die moralischen

und Humanitäts-Gesichtspunkte, welche bis dahin leitend gewesen waren, mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, bis die Herren die Sklaven­

frage schließlich nur noch vom Nützlichkeits-Standpunkt aus und als eine ökonomische Frage beurtheilten.

Doch genug davon.

Nur meine Ueberzeugung, daß es immer wichtiger für jeden Deut­

schen wird, sich gründlich über Amerikanische Verhältnisse zu unterrichten,

kann ich als eine Entschuldigung dafür anführen, den neuen Band von v. Holst'S Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten so ausführlich be­

sprochen zu haben.

Je mehr ich selbst aus dem Buche gelernt habe, desto

mehr wünschte ich daS Verständniß desselben auch Anderen dadurch zu er­

leichtern, daß ich die wichtigsten Ergebnisse möglichst übersichtlich zusammen­

faßte und dabei namentlich diejenigen Punkte scharf betonte, die ich auf Grund eigener Studien oder einer theilweise abweichenden Auffassung der

Sklavenfrage anders oder doch nicht völlig so wie der Verfasser beurtheile. Wenn, wie ich hoffe, nunmehr Viele, die meinen ab und zu etwas po­ lemisch klingenden Bemerkungen freundlich gefolgt sind, das Buch selbst zur Hand nehmen, so werden sie mir, glaube ich, dankbar dafür sein, daß

ich sie darauf aufmerksam gemacht habe, und mit mir wünschen, daß nicht abermals beinahe drei Jahre verfließen, ehe die Fortsetzung erscheint.

R. Schleiden.

Raphael's Skizzenbuch in Venedig. Eine Reihe von Federzeichnungen in der Kunstakademie von Venedig,

welche wir unter dem Titel „Raphaels Skizzenbuch" zu begreifen pflegen, hat neuerdings wieder die Aufmerksamkeit der Forscher und Liebhaber auf sich gezogen: es ist versucht worden die Zusammengehörigkeit dieser Blätter zu bestreiten und die Autorrechte an verschiedene Meister zu vertheilen*). Ein Skizzenbuch Raphaels, das von seinen Anfängen bis in seine Flo­

rentiner Zeit hinein reichen soll, mithin für die ersten zwanzig Jahre des Künstlers ein unschätzbares Material zu intimsten Beobachtungen darböte, wäre doch ein köstliches Besitzthum der Kunstgeschichte, ja der Geschichte

menschlicher Entwicklung überhaupt; wir könnten nicht dankbar genug sein, daß es auf uns gekommen, wo so viele der werthvollsten Denkmäler ver­ schwunden, so schmerzlich entbehrte Zeugnisse auf immer verloren sind. —

Solch ein Hort wird angegriffen und von keiner Sette erschallt ein Videant Consulesl Mag sich sonst

das

persönliche Gefühl des Einzelnen in seinem

Kämmerlein mit dem Widerspruch Andersgläubiger abfinden, In diesem

Fall ist es mit subjektiven Meinungen nicht gethan.

Wo so viel auf dem

Spiele steht, haben die Wenigen, die berufen sind, jedenfalls die Pflicht,

unverweilt durch

gewissenhafte Kritik eine Entscheidung herbeizuführen.

Die nachfolgenden Zeilen sollen den Antrag auf Dringlichkeit stellen und ihn mit einigen vorbereitenden, aus unmittelbarer Anschauung geschöpften

Bemerkungen motiviren.

I. Die Federzeichnungen in Venedig, um die es sich handelt, sind so häufig publicirt worden, daß es Jedermann leicht ist, sich mit ihnen be­ kannt zu machen.

Sie sind von Scotto und Rosaspina gestochen**), von

*) Lermolieff, Die Werke ital. Meister in den Gall, von München, Dresden und Berlin. Leipzig 1880. 8°. S. 310 ff. **) Celotti, Disegni original! di Raffaello per la prima volta publicati, esistenti nella imperial regia Accademia di Belle Arti di Venezia. 1829.

Altnart, Perini und Braun photographirt, von Onganta in Heliotypie

facfimilirt worden; aber grade diese bequeme Zugänglichkeit ist eine Haupt­

ursache, weshalb die neueste Forschung so vielen Zweifeln Raum gegeben

und in diesem Augenblick unsicher hin und her schwankt.

Keine dieser

Reproduktionen, 'selbst die Photographieen von Braun und von Perini nicht, geben einen nur annähernd richtigen Begriff von dem überaus

zarten Charakter der Originale.

Die Blätter sind bis auf wenige Aus­

nahmen mit fehlen Federstrichen auf nicht ganz leimfestem Papier ge-

gezetchnet; die Tinte hat einen hellbräunlichen fast blonden Ton, der in der Photographie unfehlbar schwarz wird; Stellen, wo die Flüssigkeit ins

Papier ausgelaufen oder die ursprüngliche Schärfe des Striches zerrieben ist, werden durch den chemischen Prozeß völlig karikirt.

Grade der ge­

wissenhafteste Forscher, der täglich mit den Photographieen verkehrt, ist so

der schlimmsten Infektion deS Erinnerungsbildes ausgesetzt, daS er aus Venedig von der Betrachtung der Originalzeichnungen mitgebracht und als

unveräußerliche Habe zu besitzen wähnt.

Je genauer er daheim

die

Zweifel prüft, die man gegen diese Blätter äußert, desto zugänglicher dafür

muß er werden; denn die vielgepriesene Photographie läßt die leichtesten Federzüge derb und ungeschickt erscheinen oder leiht flüchtig hingeworfenen

Skizzen ein ängstlich pedantisches Aussehen.

Tritt man jedoch, vollständig

fleptisch, auf jede Resignation gefaßt, wieder vor die Zeichnungen hin, sv

erschrickt man wie völlig falsch die Vorstellungen sind, die man mitbringt, und

muß

angesichts einer solchen unbewußten Vergiftung deS Gedächt­

nisses erklären, daß ein Urtheil über diese Blätter überhaupt nur vor

den Originalen selbst gefällt werden kann.

Hier, bet unmittelbarer Anschauung erledigen sich leicht einige Vor­ fragen, deren sichere Beantwortung den Standpunkt für die unbefangene

Untersuchung wesentlich mttbestimmt.

Vom Maler Giuseppe Bossi, dem einstigen Besitzer, stammt die An­ nahme, diese Zeichnungen hätten zusammengehört und ein Skizzenbuch ge­

bildet.

„ES war ein Bund von 53 Blättern, die etwa eine Spanne in

der Höhe und weniger in der Breite maßen"*). — Wenn das richtig wäre, so würden von vornhetn manche Hypothesen eingeschränkt oder aus­

geschlossen, die mit losen Blättern ein leichtes Spiel treiben. Eine Anzahl gemeinschaftlich ausgestellter und tapfer mitpublicirter

Zeichnungen der Venezianer Akademie scheidet sich ohne Mühe aus.

Die

wunderschöne Darstellung Apoll und Marshas hat mehr als doppelte Di­

mensionen; die Rötelzeichnungen MoseS vor dem feurigen Busch nach dem

*) Memorie inedite di Giuseppe Bossi im Archivio storico lotnbardo Anno V. (1878) S. 287 f.

124

Raphael'S Skizzenbuch in Venedig.

DeckenfreSko der Stanza dell' Eliodoro und S. Paulus nach dem Cäcilienbilde in Bologna, dieselbe Figur von der Hand eines Kupferstechers,

Tritonen nach dem Triumph der Galatea und eine Kampfscene (Rahmen XXXV Nr. 12), die auf die Constantinsschlacht zurückgehen mag, gehören

offenbar nicht hierher. Nr. 10.

Ebenso wenig ein ChristuSkopf im Rahmen XXVII

Ein schmales Blatt mit einer stehenden und einer knieenden

Frau in verehrender Haltung gehört dem Mariotto Albertinelli, während

ein Jüngling mit gefalteten Hände», vielleicht ein Hirt aus der Anbetung deS Kindes (XXXV, 8), bis auf Weiteres in die Klaffe der florentinischen

Raffaellinos zu verweisen wäre*).

Einzelne Blätter,

die in Frage kommen, sind offenbar beschnitten

word.en; sonst aber bestätigt der Augenschein Bossi's Annahme vollkommen. Das Papier hat durchgehends die nämliche Farbe und, soweit dies bei

der Einspannung zwischen zwei Glasplatten konstatirbar, auch Textur.

dieselbe

Mehr noch als die gleichen Dimensionen spricht die gleichartige

Behandlung für die Zusammengehörigkeit, und der Zustand ihrer Erhal­ tung läßt keinen Zweifel übrig, daß sie einem Buche angehörten und ge­

meinsamer Abnutzung und Beschädigung ausgesetzt waren.

An der einen

Seite sind die beiden Ecken durch Abstoßen gerundet, während die andere

Seite, unversehrt und grade abgeschnitten, damals int Buchrücken geschützt

saß.

Außerdem trägt noch fast jedes Blatt, so gerichtet in der Ecke rechts

oben, die fortlaufende Nummer, welche den Schriftzügen nach bis ins sieb­

zehnte Jahrhundert zurückreichen mag.

vor; denn er erzählt

Jedenfalls fand Bossi diese Ziffern

ausdrücklich beim Ankauf der Sammlung

habe

Fol. 48 gefehlt, das er hernach unter andern, bereits zwei Jahre früher

in Paris,

aus dem Nachlaß von Le Grand,

erworbenen Zeichnungen

auffand**).

Bei so vielen Anhaltspunkten muß man doch sofort darauf verfallen,

ob und in wie weit eine Rekonstruktion der ursprünglichen Reihenfolge

möglich sei? — Natürlich wird man sich von vorn herein über den Werth *) Die beiden in der Bibliothek ausgestellten Zeichnungen, welche Aktfiguren von Pollajuolo enthalten, habe ich diesmal leider nicht sehen können; nach der Photo­ graphie erscheinen sie mir wie Copieen. ** ) „Per combinazione veramente singolare trovo mancarvi il foglio 48 e osservo tra i fogli vicini alcune figure panneggiate nello etile d’una figurina di Raffaello, ehe feci acquistare a Parigi due anni sono alla morte di Le Grand. La cerco nel volume della Scuola antica e romana, e riconosco non solo essere della stessa mano, ma essere lo stesso foglio 48 ehe mancava al libro“ a. a. O. S- 288. Lermolieff verschweigt diesen Um­ stand. Allerdings laust die noch vorhandene Paginirung von 6 bis 55; doch scheint Bösst die einzelnen Blätter des losen Bündels, er sagt 53 Stück, gezählt zu haben, wozu denn noch das nachträglich gefundene Fol. 48 als Nr. 54 zuzurechnen wäre; dann hätten wir unsrerseits von Fol. 55 rückwärts gezählt bis Fol. 2, d. h. ohne den Titel, 54 Stück.

einer solchen Einordnung der Blätter nicht täuschen.

Es handelt sich ja

nicht um den Text einer Handschrift, dessen innerer Zusammenhang von Seite zu Seite, von Blatt zu Blatt dadurch wiederhergestellt würde. Im Gegentheil, fast jede Zeichnung besteht für sich, nur selten ist direkte Auf­

einanderfolge mehrerer gefordert.

Und der Maler benutzt die weißen

Blätter ganz wie es ihm beliebt, zeichnet bald hier bald dort hinein, hier wird eine Reihe von Vorderseiten benutzt, deren andere Hälfte er vielleicht

nach geraumer Zeit gelegentlich auSfüllt; dort greift die eifrige Hand nach

der ersten besten Stelle, um eine vorübergehende Erscheinung in flüchtiger

Skizze zu fesseln; ein ander Mal wird wenigstens nach einem Platz ge­ sucht, wo nicht allzu heterogene Dinge dazwischen kommen.

Genug, die

Herstellung der örtlichen involvirt nicht ohne Weiteres auch die zeitliche Folge.

Für die Bestimmung der letzteren müssen die Gegenstände der

Darstellung, durchgehende Vorbilder, Stil und Technik u. dgl. zu Hülfe

kommen.

Jedenfalls aber wird Eins gewonnen: in ursprünglicher Reihe

angeschaut müssen sich, wenn irgendwo, die natürlichen selbstredenden Com­ binationen ergeben; nur so kann man auf legitimem Wege die Vorstellung erwecken, als folge man beim Durchblättern dem Meister selbst in seinen Studien nach.

Um ganz objektiv zu verfahren, lassen wir für die Herkunft der ein­ zelnen Zeichnungen alle Möglichkeiten offen, die bei einem solchen Taccuino statthaben.

Vor allen Dingen darf nicht abgewiesen werden, daß mehrere

Hände das Buch benutzt, sei eS zur Zeit des EigenthümerS selbst, also

etwa von Lehrern oder Genossen, mit denen er arbeitete, sei eS von spä­ teren Besitzern.

Nur so viel darf wohl ohne Widerspruch vorab erklärt werden: die

Mehrzahl der Zeichnungen geht mit Bestimmtheit auf die umbrische, oder wenn man will umbroflorentinische Schule beim Uebergang auS dem XV. ins XVI. Jahrhundert zurück.

Mit Fol. 6, wo die heute noch lesbare Paginirung beginnt, setzt so­ gleich eine Folge von Studien ein, Signorelli htnweist.

deren Stil unzweifelhaft auf Luca

ES sind größtentheilS Mfiguren, deren Stellungen

ganz ähnlich oder doch mit unmittelbar einleuchtender Modifikation in be­

kannten Werken des Meisters vorkommen.

Ein junger Mann mit erho­

bener Posaune nach links gewendet (Fol. 6a); ein Jüngling, der auf der linken Hand eine Schale, in der Rechten einen Krug zu halten scheint, mit dem Fuß eines Knieenden daneben (7 a); zwei nackte Jünglinge von hinten gesehen, mit einem Kind im Laufkorb zur Seite (8 a); ein stehender

Krieger nur mit einem Helm auf dem Kopf, in Rückansicht (8 b); eine Gruppe von vier jungen Leuten, deren Mittlerer gekrönt wird, während

ein Kind zu feinen Füßen spielt (11a); ein nackter Mann, der eine Keule

schwingt um

ein neben ihm liegendes Rind zu treffen (12 a), gehören

jedenfalls in den Kreis der Erfindunden Signorelli'S, welche in den WeltgerichtSscenen zu Orvieto (1500ff.), in den Geschichten des Totilas zu

Montoliveto maggiore (1497) und in mythologischen Darstellungen wie die Erziehung des Pan, int Palazzo Petrucci zu Siena (1498) verwerthet

wurden.

Auch die fliehende Frau, die ihren Säugling vor dem Schergen

des HerodeS schützt (7 b), verräth die charakteristischeit Merkmale Signorelli's in den Bewegungen, besonders der Beinstellung, wie in der Ge­ wandung und im Kopfputz.

Im Dom von Orvieto, links über der Thür

zur Capella S. Brizio begegnen uns ähnliche Motive.

Hirt nach

links hinten gewendet,

Der flötenblasende

mit einer Armstudie daneben (14a),

kehrt fast ebenso auf dem Tafelbilde der Erziehung deö Pan int Museum zu Berlin wieder,

und Fol. 16 bringt eine verwandte Figur, mehr in

Profil nach links schreitend.

Selbst in den tanzenden Putten (8 b), einem

Frauenkopf (8 a) und der eingerahmten Halbfigur der Madonna mit dem

Kinde, das an einem Kreuze spielt (13 a), zeigen sich noch hinreichende Spuren der Auffassung

und deS Geschmacks, die wir an gleichzeitigen

Werken Signorelli'S wahrnehmen*). Grade diese Zeichnungen, wie besonders die beiden Figuren aus dem Kindermord, beseitigen indeß andrerseits jeden Gedanken, als hätten wir

Signorelli selbst zu erkennen.

Mehrfach treten Anzeichen hervor, daß wir

es mit einer jüngeren Hand zu thun haben, die nach Vorlagen des Cortonesen sich übt, vielleicht unter persönlicher Leitung des Meisters, welcher am Ende der neunziger Jahre, wohin diese Darstellungen ohne Zweifel

gehören, auf der Höhe seiner künstlerischen Kraft und seines Ruhmes stand.

Eine andere Folge von Skizzen führt uns noch weiter zurück und zwar nach Urbino.

Hier befand sich im herzoglichen Schlosse eine Reihe

von Jdealbildnissen berühmter Dichter und Philosophen, weltlicher und geistlicher Schriftsteller, welche der Herzog Federigo von Montefeltre für seine Bibliothek halte

malen

lassen.

„Quod non

fecerunt barbari,

fecerunt Barberini“, sagt man in Urbino: auch unsre 28 Porträts sind

durch diese geistlichen Herrn von ihrem ursprünglichen Standort entfernt und befinden sich heute zur Hälfte noch zu Rom im Palast Barberini,

zur andern Hälfte im Louvre zu Paris.

Zwölf solcher Bildnisse sind im

venezianischen Skizzenbuch nachgezeichnet, das erste Fol. 21 b stellt Quintus

Curtius dar, das nächste Fol. 25 a ist ohne Namen, die folgenden haben *) Grotteskenornamente auf den Rückseiten einiger Blätter können ebenso wohl mit der Decoration deS Signorelli z. B. in Orvieto, als mit Arbeiten perusischer Maler um 1500 Zusammenhängen. AuS Sta. Maria del Popolo zu Rom stammen ste nicht.

die Unterschriften:

PLATONI. - ARISTOTELI.

ANNAEO SENECAE CORDVE.



STAGIRITAE —

M. TVLIO. CICER. — HO­

MERO SMYRNAEO. - CL. PTOLOMAEO. ALEX. - FI. BOETIO

(beide auf Fol. 29b) — P. VERG. MARONI. MANTVANO. — VITO­

RINO. FELTRINO und endlich ANAXAGORA, Bildern in Rom

und Paris

ebenso

den wir unter den

wenig wie Quintus Curtius ge­

nannt finden. Die Gemälde zeigen ein Gemisch von flämischer Auffassung und

einem dem Melozzo und dem Giovanni Santi gemeinsamen Stil, Ele­ mente die auch in der malerischen Ausführung an einzelnen mehr ge­

sondert, an andern enger verquickt hervortreten.

Sie sind um das Jahr

1474 gemalt, und ihre Nachzeichnungen können nur in Urbino selbst ent­

standen sein.

Kleine Abweichungen der letzteren von den ausgeführten

Malereien und sonstige Eigenthümlichkeiten machen es wahrscheinlich, daß auch diese Studien nach den Originalzeichnungen der Meister, nicht nach

den Bildern selbst, copirt wurden, und so werden wir wohl direkt in das Atelier der Urheber, zu Giovanni Santi und Jost van Gand, oder deren Erben gewiesen.

Auf

diese

älteren

urbinatischen

Lokalmeister

gehen

noch

andere

Blätter des Sktzzenbuchs zurück: so die runzlige Hand auf Fol. 49 a und eine andre mit Cirkel auf Fol. 12b; das Abenteuer mit dem Löwen, der

einen starken Mann zu Boden geworfen und brüllerid über dem Schreien­

den steht, während eine mächtige Dogge bellend assisttrt, und ein Hirt in

der Ferne ruhig sitzend kaum

seine Dudelsackpfeife vom Mund absetzt.

Die Erfindung dieser Scene ist noch ebenso naiv wie die Darstellung des

Kindermordes auf einem der allerersten Blätter; zeigt den

großen Fortschritt der nämlichen Hand,

aber die Ausführung

die jenen kindlichen

Versuch gewagt.

Als vorbereitende Skizzen mögen die Löwen bezeichnet

welche

sich auf den Rückseiten von Fol. 47 und 48 finden.

werden,

Hierher gehören ferner:

ein knieender Geistlicher, der sich anbetend im

Profil nach rechts wendet (Fol. 23b) und ein Alter,

der in gebückter

Haltung sinnend nach rechts gewendet dasitzt, während ein Genius hinter ihm Blumen über ihn auSstreut.

Dies Motiv erinnert an SignoreM'S

Engel in Orvieto, die Formgebung dagegen bereits an Perugia.

End­

lich pflanzt sich dieselbe Technik noch in anderen Blättern fort, wie in einer Madonna mit dem schlafenden Kinde, in mehreren Frauenköpfen, in der Kinderschaar, die mit einem Schweinchen spielt, und in dem Por­

trätkopf eines jungen Mannes mit Malerkappe, einmal in grober Hal­ tung nach links, und nochmals auf die Hand gestützt nach oben blickend (18 b), mit der Aufschrift: d vnz B.— L. paro.

RaPhael'S Skizzenbuch in Venedig.

128

Dazwischen treffen wir auf kindlich behandelte Stadtansichten, Berg­ gehänge, Felsen und dgl. landschaftliche Stücke, die oft ganz flüchtig skizzirt, aber unverkennbar auf Wanderungen in der Nähe von Urbino

aufs Papier geworfen wurden: wenn Urbino selbst auch nicht auftritt, so

begrüßen wir Motive, die uns Castel Durante und Plan de Meleto,

Cagli und Fossombrone ins Gedächtniß zurückrufen und dürften somit die bemannten Galeeren dazwischen nur auf die nächstgelegenen Hafenorte wie

Fano und Pesaro beziehen können.

Wer wollte sich darnach dem Gedanken

verschließen, daß die jugendliche Hand und Phantasie eines urbinatischen Künstlers viele dieser Blätter mit Versuchen gefüllt, die bald mehr, bald

minder gelungen, doch einen durchgehenden Charakter zeigen, und mit den

früher besprochenen Studien nach Luca Signorelli sehr wohl verträglich wären! Nun aber

tritt nach der Mitte des Buches noch eine dritte Reihe

von stilistisch zusammengehörigen Zeichnungen auf, nach welcher man bis­ her vorwiegend das Ganze beurtheilt und datirt hat.

mit Bestimmtheit

auf Perugia und

Sie führt uns

den Stil der beiden Hauptmeister

dieser Schule an der Scheide des 15. und 16. Jahrhunderts Bernardino

Pintoricchio und Pietro Vannucci genannt Perugtno.

Das Wappen der

Stadt, der Greif, auf einem dieser Blätter, mag. als Ortsangabe zuerst erwähnt werden.

Die Richtung selbst setzt entschieden ein mit zwei Pro­

pheten auf Fol. 13 b und 14b, welche noch einen älteren großartigeren

Stil repräsentiren

als jene matte Nachblüthe im Cambio, bei der

die

Auch der heil. Andreas ist ohne Frage dem

letzte Kraft verbraucht ward.

Fiorenzo di Lorenzo verwandt und streift nahe an seine Apostelgestalten auf dem Altarstück der Galerie von Perugia, das neben seinem vollen Namen die Jahreszahl 1487

enthält.

Recht hölzern erscheint dagegen

der heilige Sebastian, den der Zeichner mit auffallender Geduld stückweise auf drei Seiten wiedergegeben (45 a, 46 a und 46 b). Ganz anders gedacht,

ganz im Sinne der kleinlichen Verhältnisse,

und mit der Vorliebe für hagere Körper, enge puppenhafte Gesichter und konventionelle Gebärden, welche dem Pintoricchio seit seiner Rückkehr aus

Rom (1498) eigen sind, ist die Figur eines langbärtigen Greises mit

Turban behandelt, der in schleppendem Gewände nach rechts schreitend

den Kopf auf die andere Seite dreht (16 b). man bei Pintoricchio

Individueller belebt als

damals erwartet ist wenigstens eine Gruppe von.

Köpfen, die augenscheinlich Zuschauern eines Vorgangs gehören.

Auf

eine Arbeit desselben Meisters müssen die zwei Reiter zurückgehen, deren

einer nach rechts, der andre nach vorn gewendet ist; doch geht auch hier daS Verständniß, besonders in den Köpfen, bereits über Bernardinos

Leistungen hinaus (47 a).

Von Fol. 48 bis ans Ende des Buches schließen sich gleichartige

UebungSblätter an, deren Herkunft letztlich ins Atelier Perugino'S zurück

verfolgt werden muß*).

Eine junge Frau, die knieend nach rechts ge­

wendet, die Hände zu irgend einer Manipulation erhebt, verräth uns, in welchem Umkreis wir die Vorbilder zu suchen haben: es ist die Frau,

welche die Beschneidung Mosis vollzieht, auf einem Fresko der Capella Sistina deS Vatikans; Perugino hat es unter Beihülfe des Pinturicchio ums Jahr 1482 gemalt**).

Vergleicht mau die vorliegende Zeichnung

mit der Figur des Wandgemäldes, so wird man die naheliegende Ver­

muthung, als hätten wir eine vorbereitende Studie des Meisters selbst vor uns, doch baldigst aufgeben.

ausführenden

Die Haltung stimmt in

Zufälligkeiten, die sich nur erklären, wenn man bereits die zugehörigen

Figuren der Gruppe daneben hat, mit dem auSgeführten Fresko überein; die Stellung der Finger ist zu sicher,

zeichnet; andrerseits trägt die immerhin

ohne jegliches PentiMento, ge­ ziemlich

oberflächliche

durchaus nicht den Charakter ursprünglicher Erfindung, sondern

Skizze ist viel

zu regelmäßig, berechnet und befangen. — Ganz ähnlich verhält eS sich

mit dem Frauenkopf auf Fol. 17 b links unten; man hat gemeint, eS sei die Studie zum Kopf der Ziporah, die ihren Knaben führt,

diesem Fresko der Reise MosiS. in Nebensächlichem zu genau,

handen.

eben auf

Die Uebereinstimmung ist auch hier

in den feineren Qualitäten garnicht vor­

So durste man auch den Kopf daneben als den der sitzenden

Frau zu äußerst rechts im Fresko bezeichnen und in den oberen Versuche für die Krugträgerin links im selben Bilde erkennen;

aber nur ganz

äußerliche Beobachtung kann sich dabei beruhigen.

Bestimmter noch als diese beiden Zeichnungen von der „Reise MosiS" sind andre aus der „Einsetzung des Schlüsselamtes" herzuleiten, die Pe­

rugino in einem andern Fresko derselben Capelle dargestellt***).

Der

Jünger rechts vom knieenden Petrus, der die eine Hand auf seine Brust

legt und mit der andern eine Schriftrolle hält, ist im Skizzenbuch ohne dieses Papier gegeben und mit Quadratnetz überzogen; desgleichen sein

älterer Nachbar zur Rechten.

Der nämliche Jüngling kehrt, wenig ver­

ändert von der Gegenseite genommen, auf dem nächsten Blatte wieder.

Die letzte Skizze dann stellt den Jünger zu äußerst links im Fresko dar und neben ihm eine andre gleichartige Gestalt,

durch eine Porträtfigur ersetzt ward.

die im Wandgemälde

Alle diese Umstände führen darauf

hin, daß wir eine frühere Redaktion, Theile eines hernach veränderten *) Vgl. zum Folgenden Preuß. Jahrb. XLVII. S. 49 ff. **) Photogr. v. Alinari. Nr. 14359. ***) Photogr. v. Alinari, 14365.

(Januar 1881.)

Entwurfes für bie Schlüsselübergabe vor uns haben.

So erklärten sich

auch zwei ganz analoge Figuren auf Fol. 54 a als solche für die rechte Sette bestimmte, bei der Ausführung durch Porträts verdrängte Zuschauer*).

Es bliebe also nur die Alternative: diese Blätter des Skizzenbuches fhib entweber bie Originalentwürfe beS

ausführenden Meisters von 1483,

oder aber spätere Reproduktionen des ursprünglichen Entwurfes, Studien

eines Schülers nach dem

Carton Peruginos.

Die Mehrzahl ist mit

Quadratnetz überzogen, man könnte meinen zur Uebertragung in größerem Maßstab; doch wäre dies bei Blättern, die im Buche festsitzen, mindestens

unbequem gewesen.

Da nun allen diesen Skizzen durchaus der originäre

Charakter frischer Erfindung abgeht, vielmehr eine gewisse Nachlässigkeit

und Aeußerlichkeit anhaftet, so erklären wir uns für die letztere der beiden

Möglichkeiten, um so mehr als die nämlichen Figuren in zahlreichen Va­ riationen auf späteren Arbeiten Perugino's, Pintoricchio'S, Raphaels und

der ganzen perusischen Schule vorkommen. — Pietros Cartons zur „Uebergabe der Schlüssel", zur „Reise Mosis" und zur „Taufe Christi" waren

jedenfalls neben andern Vorbildern aus seiner fruchtbarsten Periode zum Studium seiner Schüler und zur Benutzung seiner Gehülfen im Atelier

aufgestellt.

Solche Uebungsblätter eines Lehrlings sind auch diese Zeich­

nungen im venezianischen Skizzenbuch, und zwar aus einer Zeit, wo mit

diesem Schulgut bereits recht mechanisch umgegangen wurde.

Gleichartige

Gewandfiguren dazwischen mögen aus andern Cartons herrühren; z. B. die knieende Jungfrau, die offenbar das Kind verehrt,

auf Fol. 51b,

dankt ihren Ursprung vielleicht jener Darstellung der „Geburt Christi", die Perugino an der Altarwand der Sixtinischen Capelle gemalt hatte, wo hernach ein Befehl Pauls III. dem Weltgericht Michelangelos Platz

schuf, und wir hätten in dieser Skizze eine Wiederholung desselben Ori­

ginals, das Pintoricchio in den neunziger Jahren in der ersten Capelle von Sta. Maria del Popolo benutzt hat.

Andre Jünger- und Frauen­

gestalten dürften sich in gleicher Weise auf die

„Findung MosiS"

oder

die „Himmelfahrt Mariä" zurückführen, wären diese Gemälde der Altar­ wand nicht ebenso dem großen Fresko Michelangelos zum Opfer gefallen.

Perugino's Schöpfungen für die Sixtinische Capelle sind jedenfalls als die Musterleistungen zu betrachten, an denen Pintoricchio so gut wie die ganze Schule von Perugia seitdem gezehrt hat.

II. Auf die letztbesprochene Reihe von perugineSken Figuren und ihre oberflächliche

Jdentificirung

mit

den Freskomalereien in der Capella

*) Verwandt ist auch das Blatt in Lille, Braun 60.

Sistina gründet Ivan Lermolieff seinen sogenannten Beweis, daß die bei

weitem größte Zahl dieser schönen Federzeichnungen in Venedig, welche der verstorbene Professor Bossi zuerst für Raphaels Eigenthum erllärt „keinem andern gehören als dem armen verkannten Bernardino

hat,

Pinturicchio", und daß sich indem Band, den wir das venezianische Skizzenbuch nennen, außerdem nur „noch zwei Zeichnungen von Ra­ phael, ein paar von Antonio del Pollajuolo nebst einigen andern

unbedeutenden aus der Peruginischen Schule" befänden.

Wie wenig die letztgenannten

Gewandstudien den Charakter von

Originalentwürfen, oder auch nur von sorgfältigen Ausarbeitungen Pinturicchio's nach flüchtigen Skizzen des Perugtno an sich tragen, ist dar­ Ebenso wenig aber wie diese Ankleidepuppen um 1482, kann der

gethan.

Altersgenosse Perugino'S „in viel späterer Zeit" die Nachbildungen nach

Luca Signorelli gemacht haben.

Die Erfindungen des Meisters

von

Cortona gehören, wie wir nachgewiesen, in die zweite Hälfte der neun­ ziger Jahre, vielleicht gar an den Eingang des Cinquecento, in eine Pe­

riode also, wo Bernardino Pinturicchio ebenfalls in seiner besten Kraft und als Hofmaler Papst Alexanders VI.

auf einer Höhe des Ruhmes

stand, wo er wenig aufgelegt war, die Skizzen des Cortonefen nachzu-

studiren.

Diese Blätter des venezianischen Albums zeigen außerdem die

unverkennbaren Merkmale einer ungeübten Hand, welche unmöglich einem

fünfzigjährigen, vielerfahrenen und damals anerkannter Maßen routinirten Maler zugemuthet werden dürfen.

Bon einer Beziehung PinturicchioS

zu den urbinatifchen Localmeistern,

oder gar von einem Aufenthalt in

Urbino und Umgegend, welche bei der zweiten Reihe von Skizzen noth­

wendig vorausgesetzt werden mußten, wissen wir garnichtS. Indessen, eS ist nicht meine Absicht dieser Controverse jetzt schon näher zu treten, ehe wir eine gründlichere Charakteristik deS Bernardino Pinturicchio besitzen.

Auch die Lösung der Skizzenbuchftage kann nur mit

gewissenhafter Berücksichtigung deS gesummten hierher gehörigen, in andern

Sammlungen vorhandenen Zeichnungsmaterials vollbracht werden.

Eine

solche genaue Verwerthung der verwandten Denkmäler würde, davon bin

ich fest überzeugt, durch streng methodische Arbeit auch über die Autor­ frage eine befriedigende Entscheidung herbeiführen, die gegen leichtfertige

Angriffe und das willkürliche Spiel subjektiver Kennerurtheile gesichert wäre.

Resultate, die auf legitimem Wege und mit anerkann­

tem Verfahren

erbracht sind, können ja durch ein einfaches

Decret nicht cassirt werden;

sondern

Jedermann

muß sich

redlich mit ihnen abfinden.

Solange jedoch diese Arbeit nicht gethan ist, mag wenigstens ein Preußische Jahrbücher. Bd. XLV11I. Heft 2

10

Urtheil berechtigt erscheinen, das aus eingehender Beschäftigung erwachsen

ist.

Ich vermag nur meine bereits früher ausgesprochene Ueberzeugung zu

wiederholen, daß dies venezianische Skizzenbuch keinem Andern als dem

jungen Raphael von Urbino gehört haben kann. Den Ausschlag

giebt

hierbei zunächst natürlich der unmittelbare

Eindruck der Zeichnungen selbst.

Während alle bisherigen Reproduktionen

ein vielfach entstelltes Ansehen darbieten, indem sie die Abstufungen des

Farbenauftrags nicht getreu wiedergeben, die Unterschiede zwischen den

leichten und den kräftigen Zügen verwischen, die Klarheit und Schärfe des Striches abstumpfen, übt der Anblick der Originale, obschon der Zu­

stand ihrer Erhaltung zu wünschen übrig läßt, doch einen Reiz, der alle Zweifel überwindet, mag man auch — wie es mir erging — mit noch

so skeptischen Gesinnungen gekommen sein.

Gleicht ihr AuSsehn doch aufs

Haar der Doppelzeichnung im Berliner Kupferstich-Cabinet,

mit dem

Entwurf zur Madonna Connestabile auf der einen und dem Entwurf zur

Madonna del Duca di Terranuova auf der andern Seite*).

Außerdem haben wir für einige dieser Blätter bereits früher einen

so engen Zusammenhang mit unbezweifelten Gemälden und zahlreichen in andern Sammlungen befindlichen Zeichnungen Raphaels nachgewiesen,

daß dadurch auch die nächstverwandten Blätter des Skizzenbuches dem­

selben Meister zufallen. Nur auf ein Hauptstück mag hier mit allem Nach­

druck hingewiesen werden: das Selbstporträt des höchstens fünfzehnjährigen Raphael in der Zeichnungssammlung zu Oxford, in dem wir doch sicher einen Maßstab dafür besitzen,

was wir diesem Künstlerknaben zutrauen

dürfen und müssen**). — Gewiß Niemand wird die herrliche Studie nach einem antiken Relief anzweifeln, die auf der einen Blattseite den Kampf

zweier Fußgänger gegen einen Reiter, auf der andern einen Fahnenträger nach linkshin schreitend, in nackter Schönheit darstellt, — oder die ganz

verwandten Speerträger, die nach rechts einen Angriff machen, und zu

der im Louvre befindlichen Darstellung eines Sturmes auf Perusia Au­

gusta gehören***).

Endlich haben wir in der Gesammtheit dieser Skizzen einen so reich­ haltigen Entwicklungsgang vor uns, daß die Auswahl unter den um*) Bergt, über diese Zeichnung LiPpmann'S Aufsatz im Jahrbuch der Königl. Preuß. Kunstsammlungen II, 1, wo die denselben Gegenstand darstellende Federzeichnung in Lille mit Recht als späte Topie verworfen wird: sie ist eine nicht allein fehler­ hafte, sondern auch der umbrischen Kunstweisc garnicht mehr kongeniale Variation. **) Ich darf mich hierfür auf daS Urtheil des Nestors deutscher Kunstforschung in Venedig, des Herrn Baron von Liphart berufen. Man vergleiche doch den weibl. Kopf der Sammlung Malcolm (Br. 116) und den heil. Thoma» in Lille. ***) Venedig, Rahmen XXXV, 9 mit der Nadel durchstochen und auf der Rückseite nachgezogen. Vgl. außer dem Louvreblatt auch Wien, Albertina, Braun 154.

Krischen Malern beim Uebergang deS Quattrocento ins Cinquecento wahr­ haftig nicht groß bleibt und die Entscheidung nicht schwer.

Ueberblicken wir also diese Reihen von Studien einmal unter der Voraussetzung, daß sie dem jungen Raphael gehören*).

Vielleicht wird

man merken, daß sich dann Alles wie von selbst in die bekannten That­

sachen seines Bildungsganges einordnet, ja, daß hier erst, an der Hand dieses

Einsicht in

Skizzenbuches eine beftiedigende

Wachsen,

sein Werden

und

eine Vorstellung über die Hauptfaktoren gewonnen wird, die

zusammenwtrken und ineinandergreifen

mußten,

um eine solche Erschei­

nung hervorzubringen. Man hat so oft das Kind Raphael in seiner Umgebung zu fassen

gesucht und mit hausväterlicher Phantasie geschildert, wie ihn Papa und

Mama geliebt, Ohm und Base miterzogen u. s. w.

Unmittelbarer als

irgendwo begegnen wir dem Heranwachsenden Knaben hier, wo

er auf

Spaziergängen um Urbino, auf weiteren Ausflügen in die Gebirgsthäler

ringsum das neue Taccuino an der Seite führt.

Im ersten Eifer sind

die weißen Blätter verschwenderisch mit landschaftlichen Skizzen zweifel­

haften Werthes gefüllt,

deren Motive in manchen seiner ersten selbstän­

digen Gemälde wiederkehren.

Daneben könnte man sich kein Zeugniß

wünschen, das charakteristischer für die Bethätigung kindlicher Einbildungs­ kraft spräche, als

eine Scene

frühesten Versuchen antreffen.

des Kindermords, die wir unter diesen Unschuldig wie die Kindlein ist die Seele

des Erfinders; er hat noch keine mörderische That gesehen, keine Krieger, die mit dem blutigen Handwerk Ernst machen, keine Mütter, die ver­

zweifelnd ihr Liebstes vertheidigen.

Hier wird ein Dolchstoß geführt, ein

Degen gezückt; aber es fließt kein Blut.

Fantini des Herzogs von Ur­

bino**) spielen zur Uebung eine Pantomime.

Die eine der Mütter sieht

dem drohenden Verderben deS Säuglings in ihrem Schooße wehrlos zu, indem sie nur die Hände erhebt, wie jede junge Anfängerin als Thecla

im Wallenstein; die andre will wenigstens davon eilen, wird aber am Haarschopf festgehalten; ihr Bübchen verzieht eben das Gesicht zum Weinen,

während eine Alte den unhöflichen Knappen mit ihrem Pantoffel ohrfeigt.

Man würde die- Scene nur humoristisch nehmen, wenn sich nicht trotzdem

verriethe, wie ernstlich die Erfindung gemeint ist, wie intensiv die knaben*) Zu Gunsten dieser Annahme darf für die Tradition des Skizzenbuches dann die Stelle (bei-Paffavant) in Anspruch genommen werden, wo Bellori als im Besitz des Carlo Maratta citiert: Un Libro di alcuni avanzi de’ Studj giovanili di Baffaelle, ehe approvano le ane prime fatiche con un esattiasima imitazione a maggior finimento terminato. **) Wir begegnen ihnen in der nämlichen Tracht in der Auferstehung Christi des Giov. Santi zu Cagli, auf den Galeeren im Skizzenbuch und mehrfach bei Ra­ phael sonst.

Raphael'S Skizzenbuch in Venedig.

134 hafte

gearbeitet.

Phantasie

Die

naive

Sinnesart

der

ostumbrifchen

Künstlergeneration muthet uns an, wie in Raphaels Heimat aus jenen

Fresken des Lorenzo und Jacopo da San Severino im Kirchlein S. Gio­

vanni Battista.

Es ist Empfindung ohne Affectation, angeborene Grazie

und eine köstliche Reinheit des Geschmacks in dieser instinktiven Aeuße­

rung einer Natur, welcher künstlerische Production zum Lebensbedürfniß gehört.

Dieser eigenen Leistung des Knaben darf wohl zunächst eine Reihe

von Studien angeschlossen werden, deren Vorbilder in den Arbeiten seines VaterS Giovanni Santi selbst oder im Kreise der localen Kunstunterneh­

mungen zu Urbino gesucht werden müssen.

Die enge Zusammengehörig­

keit mit dem Flamänder Jost van Gand, wie mit Melozzo da Forli be­ stimmt den Stilcharakter der Schule, in welcher Raphael unbewußt seine ersten Schritte that.

Wenn wir bei dem frühen Tode des Vaters (1494)

ein gut Theil dieses Einflusses auf bloße Vererbung schieben müssen,

so zeigen unS diese Skizzen andrerseits, wie sich auch die Eindrücke der urbinatischen Kunstschätze, die Bilder, welche den erwachenden Genius um­ geben, laut und entschieden zur Geltung bringen.

Die Malereien, mit

denen Herzog Federigo seine Residenz geschmückt,

sind ohne Frage als

Lehrmeister des Knaben mitzurechnen; es kommt nur darauf an, nicht blos

Namen aufzuzählen, sondern eine Charakteristik dieser Erscheinungen als lebendigen

Factor

in

die

Jugendzeit

Raphaels

einzuführen*).

Das

Skizzenbuch lehrt uns, daß entweder im Atelier Santi'S welches auf seinen Schüler Bangelista da Pian de Meleto übergegangen scheint, oder sonst

an zugänglicher Stelle in Urbino mancherlei Zeichnungen zu Malereien vorhanden waren,

welche von Melozzo, Giovanni Santi und Jost van

Gand gemeinschaftlich ausgeführt sein müssen.

Reproductionen solcher Vorlagen sind jene Phantasieporträts berühmter Männer, die wir oben besprochen.

Einzelne sind höchst sorgfältig, nicht

nur mit der Feder sondern auch mit Tusche ausgeführt,

andre minder

genau oder nur theilweise, einzelne gar flüchtig bis zur Carikatur, wie

z. B. Bittorino da Feltre.

Der Zeichner ist offenbar ein Knabe, dem die

Aufgabe deS CopirenS mit der Zeit langweilig geworden; aber feine Hand

ist bereits geschult, und, wo nur die Geduld auSreicht, schon ganz sicher

in der Wiedergabe des eigenthümlichen halb flämischen, rentinischen StileS.

halb umbroflo-

Sie sind mit derselben Fertigkeit und zur selben Zeil

gemacht, wie die Propheten nach einem Meister von Perugia und andre Köpfe, die von Luca Signorelli Herkommen.

*) Auch das neueste Leben Raphaels von Eugen Müntz läßt in dieser Beziehung den Mangel eigentlich kunstgeschichtlicher Auffassung bedauerlichst hervortreten.

Die voraufgehenden Studien müssen uns den Weg weisen, wie und wo

sich diese Fertigkeit

allSgebildet.

Luca Signorelli ist eS, den wir

diesen zahlreichen Blättern zufolge, als einen der ersten und einflußreichsten Lehrer deS jungen Raphael aufzustellen haben, und zwar grade in einem

Lustrum wo die Spezialforschung bis heute ziemlich rathloS gestanden ist. Man hat ausgerechnet, daß Raphael nicht vor 1499 in das Atelier

des Pietro Vannucci nach Perugia gekommen sein kann, und glaubt als

einzigen bedeutenden Meister in Urbino den Timoteo della Bite zu haben, auf den aller Inhalt dieser wichtigen Jahre zurückgeführt werden müsse.

DaS Sktzzenbuch belehrt uns eines Bessern.

DaS Blatt mit dem fliehen­

den Weibe, das ihr Kind gegen den Schergen des HerodeS vertheidigt, kann nur von einer knabmhaft ungeübten Hand gezeichnet sein; die Vor­ lage dagegen gehört dem Luca Signorelli.

Signorelli aber kam, wenn nicht schon öfter bei früherer Gelegenheit,

im selben Jahre nach Urbino, in dem Raphaels Vater gestorben ist. Im Juni 1494 wird mit ihm abgemacht,

er solle für die Brüderschaft

von Sto. Spirito in Urbino ein Prozessionsbild malen, mit der Kreuzi­

gung

auf der

einen und der Ausgießung des heiligen Geistes auf der

Zur Ausführung werden drei Monate bedungen.

andern Seite.

Diese

Darstellungen von Signorelli'S Hand sind noch heute in der kleinen Kirche

Sto. Spirito, wenig Schritte vom Geburtshause Raphaels, zu sehen und wir dürfen annehmen, daß der Meister sie zu Urbino selbst gemalt; denn

von CittL di Castello, wo wir Luca damals vornehmlich beschäftigt finden, würde der Transport

über die hohen Gebirgspässe schwierig und kost­

spielig*) gewesen sein, — eine Voraussetzung, die um so wahrscheinlicher

wird als wir sichere Belege besitzen, daß Signorelli die Kunstschätze Ur­ binos gekannt hat.

Bei seinen Decorationen in der Capella di S. Brizio

des Doms zu Orvteto haben ihm bei den Bildnissen berühmter Männer unverkennbar die Darstellungen in der herzoglichen Bibliothek von Urbino vorgeschwebt,

eben jene JdealporträtS, die auch Raphael um diese Zeit

gezeichnet hat.

Andererseits jedoch stünden einem zeitweiligen Aufenthalt Raphaels beim Luca in CittL di Castello die Präsenzzeugnisse in Urbino durchaus

nicht im Wege.

Wie dem auch sein mag, ein directer Verkehr mit dem

Meister von Cortona, und zwar daS Verhältniß eines Lernenden zu dem

anerkannten Vorbilde, ist unS in dem Skizzenbuch documentirt**).

Außer-

*) Die Brüderschaft von Sto. Spirito stipulirte ausdrücklich, der Meister solle sie aufstellen „Omnibus suis sumptibus et expensis, excepta tela seu panno lini“. (Pungileoni, Elogio Stör, di Giov. Santi S. 77.) **) Ich weise mit Vergnügen aus die schätzenswerthen Bemerkungen Rob. Vischers über

dem besitzen wir ja in der Sammlung Wicar

zu Lille eine Zeichnung

Raphaels nach zwei Bogenschützen auf dem Martyrium des heiligen Se­

bastian, welches Luca Signorelli 1496 für die Kirche von S. Domenico In Cittä, di Castello gemalt hat, eine Skizze, die durchaus die Hand eines

Anfängers verräth.

Von den frühzeitigen Aufträgen,

die dem jungen

Maler in dieser Stadt zu Theil wurden und persönliche Beziehungen ver­ muthen lassen, ganz zu schweigen.

Genaue Betrachtung der einzelnen Studien nach Signorelli ermög­ licht bald eine Sonderung zweier, nach ihrer Qualität, besonders ihrer

technischen Vollendung

auseinander gehender Reihen:

wir haben eine

ältere vor uns, in welcher wir die Härten der urbinatischen Localschule,

die Ungeübtheit des jungen Schülers zugleich mit sorgfältiger Nachahmung des Cortonesen erkennen, und eine spätere Gruppe von weit vorgeschrittener Feinheit, wo die Nachbildung bereits in überlegte Aneignung mit selb­ ständiger

Auswahl

congenialer

Elemente

übergeht.

Zwischen

beiden

Gruppen scheint ‘ bereits eine Berührung mit dem zarten Geschmack der

Meister von Perugia stattgefunden zu haben, oder eine ausgesprochene Richtung des eigenen Naturells hervorgetreten.

Die trefflichsten Studien

nach Luca führen uns in einen Gedankenkreis, welcher festdatierte Arbeiten in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre umschreibt; aber keines der

Blätter fordert die persönliche Gegenwart Raphaels bei diesen Malereien in Montoliveto, Siena und Orvieto; desto entschiedener dagegen setzt die

Bekanntschaft mit den vorbereitenden Versuchen des Meisters vertraulichen Umgang voraus: der liebenswürdige Urbinate nimmt an dem innersten

Schaffen Signorelli'« Theil, grade in einer Periode, welche die Vorstufe für jene höchsten Leistungen bedeutet.

Zahlreiche Anregungen der Antike, stoffliche wie formelle, werden hier von einem

echten Quattrocentisten verarbeitet.

Eine Beschäftigung mit

heidnischer und christlicher Poesie, besonders mythologischen Inhalts, eifrige

Studien nach römischen Skulpturen liegen zu Grunde.

Vor Allem aber

ist es immer die menschliche Gestalt, nackt, in Ruhe und mancherlei Be­ wegung, die hier verstanden, bewältigt, vollständig angeetgnet werden soll.

Wie weit diese Gemeinschaft gegangen sein muß, erhellt auch daraus, daß einige Rundbildchen in Orvieto z. B. jene HerculeSarbeiten, als Varia­

tionen anderer Skizzen Signorellis zu denselben Gegenständen angesehen

werden müssen, welche den Studien Raphaels, hier im Buche, zum Vor­ bild dienten, so z. B. Herkules Kämpfe mit dem Stier, mit dem nemeischen

Löwen, mit dem zu Boden geworfenen Riesen. den bedentenden Einfluß dieses Meisters aus Raphael, in seiner Monographie über Luca Signorelli (Leipzig 1879) S. 332 ff.

Das Jahr 1497, in dem Signorelli dann von CittL bi Castello nach

Montoliveto bei Chiusuri übersiedelte, um die Fresken aus dem Leben

deS heiligen Benedikt auszuführen, ist der früheste Termin für eine direkte

Berührung

mit Perugino.

Pietro'S Bilder in Sta. Maria nuova oder

delle grazie zu Fano tragen das Datum 1497 und 1498.

Fano aber ist wenige Stunden von Urbino entfernt und bequem er­ reichbar; ja der Meister von Perugia wird sicher den kürzeren Weg über

Cittit bi Castello unb Castel Durante gewählt haben, ber unmittelbar an Urbino entlang führt, statt beS weit beschwerlicheren über Gubbio unb Cagli,

bet burch ben Furlüpaß kurz vor Fossombrone auf bte andre Straße mündet. Mehr jedoch als diese äußerlichen Verhältnisse erzählen uns bte Ge­

mälde Perugino'S in Fano selbst.

Es fehlen ihnen die dunkelvioletten

unb bräunlichen Töne, welche Perugia eigenthümlich finb; das Ganze ist Heller, kühler gehalten,

gleich allen Bildern die um diese Zeit an der

Ostseite Italiens entstanden. Und die Predellenstückchen unter ber thro­ nenden Madonna, welche die Geburt Mariä, die Darstellung im Tempel,

das Sposalizio, bte Verkündigung vor einer langen perspektivisch verkürzten Säulenhalle und

die Himmelfahrt der Jungfrau enthalten, haben mich

bei jedem Besuche birect an Raphael gemahnt.

Die Aehnlichkeit einzelner

Gestalten unb Motive mit Venen in Raphaels frühen Gemälden, beson­ ders mit den Staffelbildchen zu seiner Krönung Mariä (im Vatican), ist so

groß, daß eine genaue Bekanntschaft mit ihnen vorausgesetzt werden muß.

Ich kann angesichts dieses sorgfältig, aber nicht fehlerfrei ausgeführten

Gradins die Vermuthung nicht unterdrücken, daß wir von 1497 in Fano die Verbindung Raphaels mit Perugino datiren sollten.

Jedenfalls müssen

wir in jener Reihe feiner unb feiner wiedergegebener Zeichnungen nach Signorelli ein neues Moment in der Entwicklung Raphaels constatiren.

Ein schwebender Engel mit einem Reif oder Tamburin in ben Händen

(Fol. 10 b), ein nach links schreitender Hirt, bet die Dudelsackpfeife bläst, eine wunderschöne Darstellung des Herkules, der dem nemeischen Löwen

den Rachen aufreißt wie Simson, sind sprechende Beispiele des Ueber«

gangö zum perusischen Geschmack. wie die Behandlung der

Aber die Zeichnung der nackten Theile,

Gewandfalten erinnern noch vollständig

an

Signorelli z. B. an die blumetiftreuenben unb krönenden Engel in Orvieto.

Jener Greif, der uns als Wappen der Stadt, Raphaels Anwesen­

heit in Perugia bestätigt, ist in der nämlichen, durchaus nicht perugineSken Handweise gezeichnet, aber schon zarter, echt umbrischer als manche

Studien nach dem Cortonesen*). *) Nach den Anmerkungen zum Vasari (Opere III S. 605) bewiese ein Tontrakt, in dem Perugino al« Zeuge auftritt, seine Anwesenheit in Fano am 21. April 1498

Hat Raphael bei Perugino in Fano die Behandlung des Bister­ pinsels gelernt, und die weiche Modellirung im Sinne der verrocchioschen

Schule?

Sie zeigt sich zuerst auf den ebengenannten Blättern, an einem

liegenden Knäbletn, das sonst nichts PerugineSkeS hat (Fol. 21 a), an

einem liegenden Kinderkopf (22 a), einem segnenden Jesus (24 a) und an

den Galeeren, die uns wieder an den Hafen von Fano erinnern. Darnach erscheint die Reihe manierirter Copieen nach perugineSken

Schulfiguren

wie

ein

Rückfall

in

banausische

Pedanterie.

Ist

eS

Perugino selbst, der den jungen vielversprechenden Urbinaten auf diese

Weise zum brauchbaren Ateliergehülfen umzustempeln sucht****) ), oder sollen wir bereits in Manier und Geist dieser AsstmilationSübungen die Ober­ leitung des Pinturicchio erkennen?

Jedenfalls nach einer Vorlage des

letzteren sind jene beiden Reiter gezeichnet, deren einer nach rechts um­ biegt, während der andre gradeaus vom Hintergründe herzukommt.

Noch

verrathen uns die Halbmonde im Geschirr, daß sie aus Bernardinos Ge­ schichten vom Prinzen Djem in der Engelsburg herrühren, oder für die

PiccolominifreSken in Siena bestimmt waren.

Aber die flüchtige Skizze

hält sich offenbar nicht genau an das Vorbild: wo er an den Kopf der

Pferde kommt, fängt des jungen Künstlers selbständige Beobachtung an wie unwillkürlich hineinzusptelen; besonders der höchst lebendige und ana­ tomisch genaue Kopf deS vorderen Gaules

hölzernen Rumpfe.

sitzt ganz fremd

an dem

Hier haben wir nicht die Lehre Signorellis zu er­

kennen: seine Pferdeköpfe sind miserabel gegen diesen; auch nicht PeruginoS

bessere Einsicht: eS fehlen uns Beispiele bei ihm.

Vielmehr Raphaels

persönliche Eigenart ist eS, der Sinn für dies edelste Thier, der ihn unter allen Umbrern auSzeichnet, und den größten Maler feuriger Rosie, den diese Zeit neben Lionardo hervorgebracht, schon in feinen Anfängen ver­

kündet.

In einer Skizze zum Cartoncino deS ersten Fresko der Librerka

zu Siena, welche sich neben dieser Tuschzeichnung selbst in den Uffizien befindet*), giebt den Beleg für die spezifische Beobachtung der nämlichen

Race.

Vollends diesen Entwurf mit Raphaels Handschrift darauf schreibt

nur der nicht dem künftigen Schöpfer des AttilazugeS zu, dem die Grenzen

d'eS Kunstvermögens der Localmeister von Perugia überhaupt verschwimmen. Die Blätter am Schluß deS Skizzenbuches dagegen sind die uner­

quicklichsten deS Ganzen, und ihnen gegenüber wird man kaum mehr den

(so ist offenbar statt 88 zu lesen). Im Januar 1497 ist er noch in Florenz, und wiederum im Ium 1498. *) Hier wäre stilistisch der einzige Anknüpfungspunkt für den, der die Frage »ach Raphaels Theilnahme an den Deckenmalereien des Lambio exact untersuchen wollte. **) Die Reiterskizze Braun Nr. 605, die fertige Compofltion Br. 510.

Eintritt Raphaels in die perusifche Künstlersippe als besonders glückliches

Schicksal preisen können.

Hier tritt, im Vergleich zu dem unter Signorelli

Erstrebten, allzu deutlich hervor, daß wenig frisches Leben in den Malern

des Cambio keimte, daß vielmehr die ganze trtebkräftige Organisation Raphaels, der sicherste Jnstinct dazu gehörte, um die fruchtbaren Elemente vergangener Tradition unter dem Wust leerer Formen und Manieren für sich auSzufnchen und zu verwerthen. Zwischen den drei Hauptreihen im Skizzenbuch verstreut deuten nur

ganz vereinzelte Spuren auf Florenz.

Es sind etwa vier bis fünf frei­

gebliebene Seiten, die hernach gelegentlich benutzt worden.

Drei Köpfe

nach Ltonardo da Vinci (Fol. 33 a) überraschen am meisten:

oben ein

kahlköpfiger Imperatorenschädel, unten zwei karikirte Alte im Profil gegen

einander über.

Den oberen dieser Typen hat Raphael auf einer Zeichnung

in Oxford (Br. 15) freier umgestaltet, um ihn endlich in seinem Fresko zu

San Severo in Perugia (1505) als Camaldulenserhetltgen auszuführen. Indessen

muß

gesagt werden,

daß wir verwandten Köpfen auch bei

Signorelli z. B. in Orvieto auf der Predigt des Antichrist unter den Zuhörern rechts, neben dem reichgckleideten Jüngling begegnen.

Mehr

wie Vermittlungen zwischen Lionardo und Raphael durch Signorelli sehen die Athleten aus, die nackt und kahlköpfig fast nur in Umrissen mit starker

Betonung der Muskulatur gezeichnet sind.

(Fol. 39a 39b 40a 43b.)

Direct auS Florenz stammt natürlich die Studie nach dem rothen MarshaS*), der aus altem Besitz der Medici in die Uffizien gekommen

fein muß.

Wir finden sie auf der Rückseite eines der ersten Blätter; der

Charakter der Zeichnung erlaubt indeß nicht bestimmt genug eine Ent­

scheidung, ob sie unmittelbar vor dem Originale selbst entstanden ist, oder etwa nach

einer solchen Aufnahme Signorelli'S

copirt wurde.

Ganz

florentinische Freiheit athmet dagegen die Ausführung der Gruppen nackter

Männer im Streit, die von antiken Reliefs entlehnt fein müssen.

Die

Schwierigkeiten welche die sienesifche Marmorgruppe der Grazien dem

umbrifchen Meister noch bereitete (Fol. 28 a), sind hier vollständig über­ wunden: die ganze Schönheit antiker Formgebung wird angeeignet, in den nackten Leibern der Jünglinge wie in dem herrlich bewegten Rosse.

Nur

ein Schritt liegt zwischen der Reiterstudie zum Cartoncino des

ersten

Fresko in der Dombibliothek von Siena und diesem Kampf deS Reiters

gegen zwei Fußgänger, und doch, welch ein Schritt!

Hat sich an dem­

selben antiken Vorbild zu Florenz etwa Lionardo zu seinem Kampf um die Fahne begeistert?

*) Ich verdanke diese Jdcntificirung Herrn Director Dr. Ad. Bayersdorfer.

III.

Die Einblicke in Raphaels Jugendzeit, welche das Skizzenbuch zu Venedig eröffnet, sind so entscheidend und der herrschenden Meinung gewiß

unerwartet, daß es wohl rathsam erscheint, zuletzt noch einige seiner in dieser Zeit auSgeführten Gemälde vergleichender Prüfung zu unterziehen,

um dem Zweifel gerecht zu werden, ob denn der soeben constatirte Ent­ wicklungsgang des Zeichners auch der anerkannten Laufbahn des MalerS

entspreche?

Vielleicht ergänzt die letztere noch einige Lücken, die sich im

ersteren fühlbar machen: werden doch z. B. definitive Entwürfe für Ma­

lereien kaum in einem Skizzenbüchlein von diesen Dimensionen Platz ge­ funden haben! Vor Allem fragt man unS mit Recht, wo bleibt bei dieser neuen

Zusammensetzung der Einfluß des Timoteo della Vite?

Passavant hat

auf ihn als ersten Lehrer Raphaels hingedeutet; neuerdings hat eS Lermolieff energischer wiederholt und mit einer erklecklichen Reihe von Be­

legen zu llnterstützen versucht.

Seinem Hinweis konnten wir mit Ver­

gnügen zustimmen; sein Beweiömaterial wäre zu prüfen.

Die Einführung Signorelli'S als Hauptfaetor neben Pietro Perugino,

welche nach den obigen Ergebniflen unerläßlich wurde, restringirt schon von selbst die Mitwirkung deS Timoteo Viti.

Da wir indessen das alte

Schachtelshstem nicht aeeepiiren, daS nur den Aufenthalt im heimathlichen

Nest bis 1499 und daS definitive Ausstiegen nach Perugia in Betracht

zieht, so bleibt uns immerhin mancherlei Gelegenheit übrig zur Berück­

sichtigung des seit 1495 in Urbino ansässigen Meisters, der seine be­ stimmende Richtung zu Bologna in der Schule deS Lorenzo Costa und

FranceSco Francia empfangen hat.

Wir suchen Raphael um diese Zeit

auf der ganzen Linie zwischen Urbino und Perugia; denn er hat nach­

weislich, solange er im Atelier Perugino'S oder selbständig in Perugia, CittL di Castello und Umgegend thätig war, mit Urbino in persönlichem

Verkehr gestanden und sich mehrfach in der Vaterstadt aufgehalten, wie wir auch andrerseits für spätere Wanderungen nach Siena, vielleicht gar nach Montoliveto bei Chiusuri, Belege genug besitzen*). *) Den Widersachern der „BeeinflussmigStheorie" mag bei dieser Gelegenheit «in treffendes Urtheil Rumohrs in Erinnerung gebracht werden, das der «inseitigen Provinzialsperre gilt, mit der man die 'Kunstgeschichte unlängst wieder beglücken wollen: „WaS sie Schule nennen, ist eigentlich nur Geburtsland; denn ob ein Künstler dieser oder jener andern Schule angehöre, wird bei ihnen nicht durch Lehre, oder Unterweisung in technischen Dingen entschieden, sondern ganz allein durch den nackten und bloßen Taufschein. Wer diese grobe Handhabe einsührt, wo man den Meistern selbst gegenüber tritt, der ist nothwendig ein . . . unge­ lenker . . . Kopf. Den Gemälden gegenüber will und soll man sehen in welchen

Dir Lehrerschaft Timoteo'S bei dem jungen Sohn des Giovanni Santi tonnte erst 1495 eintreten**), und hat jedenfalls nicht lange ge­

dauert.

Neben einem so energischen Meister wie Luca Signorelli ver­

mochte dne intensiv wie extensiv so wenig ausgiebige Kraft, tote dieser

Schüler deS Francia nicht aufzukommen bei Raphael.

LennolieffS Urtheil über feine Bedeutung als Künstler ist weitaus übertrieben, kein Wunder allerdings, da er ihn mit manchen fremden Federn zu

schmücken

weiß.

Die Majolikateller im Museo Correr in

Venedig, deren Zeichnungen er ihm zuschreiben möchte, sind nicht in Ur­

bino entstanden und gehören ihrer technischen Behandlung, besonders den Farben nach, frühestens in die Zeit um 1515—25.

Selbst wenn die

verdächtige Jahreszahl auf einem dieser Teller die Zeichnung dazu In die neunziger Jahre des Quattrocento zurückdatirt, so erkennen wir In den

zugehörigen Darstellungen doch bereits eine Richtung der bolognesischen

Schule, welche erst im vollen Zuge deS Cinquecento möglich war und be­ stimmte Anregungen von der Kunstweise der venezianischen terra ferma

in sich ausgenommen hat, ja Compositionen im Geschmack deS Giorgione, des Giulio Campagnola und ähnlicher Repräsentanten arranglrt.

Jeden­

falls liegt dieser Ausläufer der Franciafchrile, welchen diese TellerzeichNlMgen repräsentiren, vollständig jenseits der Richtung, die Timoteo bis

1495 in Bologna annehmen konnte; ein flüchtiger Vergleich seiner Form­

gebung und Gewandbehandlung auf den beglaubigten Bildern mit denen dieser 17 Majoliken sollte genügen den Anachronismus klarzulegen. In demselben Bemühen zu. Gunsten seines Lieblings hat sich 8er«

molieff auch einen wirklich tiefgreifenden Beweis für die Beziehungen Tt-

moteoS und Raphaels entgehen lassen,

indem

er nämlich das Gemälde

Apoll und MarfyaS bei Mr. Morris Moore in Rom seinem Timoteo vindicirt.

Betrachten wir die Zeichnung zu diesem Bilde in der venezia­

nischen Akademie, ein Blatt deffen unbeschreibliche Schönheit in jeder Re­

produktion völlig entstellt wird**), so treten uns Elemente, die unzweifel­ haft auf Timoteo zurückgehen, neben andern entgegen, die man grade bei ihm durchaus nicht erwarten darf.

Rechts steht der junge Gott in aufrechter Haltung; mit der erhobenen Linken faßt er einen langen Stecken, stützt den andern Arm In die Seite

und blickt mit vornehmer Ueberlegenheit auf den eitlen Flötenbläser gegen­ über, der auf einem Stein sitzend ganz in sein Spiel vertieft ist.

Neben

Stücken, in welchen Zeiten und Persönlichkeiten die verschiedenen örtlichen Schulen einander entgegenkommen, mit einander auölaufchen, sich gegenseitig berühren, oder ganz verschmelzen." (Drey Reisen nach Italien, Leipzig 1832. 12°. S. 285.) *) Unterm 4. April 1495 verzeichnet Francia die Abreise seine« Timoteo. **) Braun, Venedig Nr. 146 und in sonstigen Publicationen de« Skizzenbuche».

Apoll, zu seiner Rechten, ragt ein schlanker blätterloser Baumstamm empor,

während sich zwischen beiden Figliren eine Flußniederung öffnet, mit einem Hügelkranz und einem

Städtchen im Hintergründe.

Die Composition

zeigt den bolognesisch-ferrarischen Geschmack der Schule des Costa und Francia, den wir z. B. auf den frühen Stichen des Marc Anton ebenso antreffen; die Landschaft erinnert wohl an Timoteo Viti; die Köpfe jeden­

falls zeigen in ihrer kugligen Schädelform eine Verwandtschaft mit diesem Meister, die Beachtung fordert: man vergleiche nur die heilige Magdalena

Aber die Zeichnung der beiden nackten Körper

in Bologna*).

völlig

aus TimoteoS Geleisen heraus,

geht

und weist unS von der glatten,

eleganten Formgebung des Francia vielmehr auf florentinische Kenntniß der Anatomie.

Wenn man das Skizzenbuch geprüft hat, muß man auf

daS Richtige verfallen: eS ist der Schüler deS Luca Signorelli, den wir

vor uns

haben.

Die Behandlung der Gelenke, der Muskulatur, die

meisterhafte Beobachtung der Bewegungen, frei von jeglichem Arrangement und theatralischer Pose, in lebendiger Elasticität erfaßt, sprechen deutlich

genug für sich selber.

Sogar die eigenthümliche Form der Gliedmaßen,

der Hände mit dem Spiel der Finger, der Füße mit dem starken Ballen der großen Zehe, verräth ihre Herkunft von dem Cortonesen, mit dem

sie auch Pietro Perugino in einer Periode gegenseitiger Annäherung gemein

hat, wie z. B. auf dem großen Fresko in Sta. Marta Maddalena bei Pazzi zu Florenz (1493 f.).

Nicht minder charakteristisch ist die Behand­

lung der inneren Theile des Gesichtes und der Haare beim Apoll, wenn auch eine Vermischung der Schönheitsideale des Luca mit dem des Ti­

moteo bet Raphael ganz natürlich erscheint. Eine Vergleichung einerseits mit Adam und Eva und den blumen­ streuenden Engeln aus dem Fresko zu Orvieto, nebst dem nackten Jüng­ ling in der Darstellung der „letzten Tage Mosis" in der Capella Sistina

deS Vatican, sowie andererseits mit der genannten Magdalena in Bologna und dem heiligen Sebastian auf dem Brerabilde TimoteoS muß die Ab­

rechnung zwischen den beiden Lehrern und das Facit bei ihrem Schüler klarstellen. Entscheidend ist endlich Wahl und Auffassung des Gegenstandes: die Erfindung dieser Scene schließt sich unmittelbar an den mythologischen

Gedankenkreis an, den wir in zahlreichen Blättern des Skizzenbuches ver­ treten sahen, und ist ganz im Sinne jener Darstellungen des Luca Signo­

relli, wie die Erziehung des Pan und Ihresgleichen.

Selbst der lange

Stecken mahnt als unvermeidliches Requisit an seine Modelle.

*) Photogr. v. Alinari.

Den letzten Zweifel an dem EigenthumSrecht Raphaels, welcher bei

Beurtheilung deS Entwurfs in Venedig noch übrig bleiben könnte, be­ seitigt die Confrontation mit dem Gemälde selbst *).

Bei der Ausführung

in Farben Hal eine Metamorphose stattgefunden, welche für unsre Einsicht

in Raphaels Stilentwicklung höchst bedeutsame Resultate ergiebt.

Trägt

die Zeichnung den Stempel von Luca'S Kenntnissen und von Timoteo's

Geschmack, so gewahrt man im Bilde eine Annäherung an die Ausdrucks­

weise der Perusischen Meister.

Am auffallendsten ist diese Veränderung

im Kopf deS jungen Gottes, der den edelsten und reinsten Typen PeruginoS angeglichen ist, zartere Formen, sorgfältiger arrangirteS Lockenhaar

mit einem Knoten über der Stirn bekommen, aber den Kranz abgelegt

hat.

Der schlanke Baumstamm L la Viti ist abgehauen und nur ein

Stumpf mit der Leyer Apolls erinnert noch an gleiche Staffagen auf dem Magdaleirenbild in Bologna.

Zierliche Bäumchen mit dünnem Laubwerk

stehen nach umbrischer Weise im Mittelplan, während Vorder- und Hinter­ grund mit liebevollem Detail geschmückt sind; Pinturicchio'S Vögel, die vom

Falken verfolgt durch die Luft schießen, nicht zu vergessen.

Nur noch die

Landschaft bleibt in der farbigen Ausführung der Art Timoteo's näher; die beiden nackten Leiber strahlen in bräunlichem Goldton,

warm und

lebendig, wie es nur die vollendete Technik Perugino'S ermöglichte.

Wie

man angesichts dieser echt perugineSken Malerei noch an Timoteo della Vite denken mag, wird wohl Allen unbegreiflich bleiben, denen der Unter­

schied zwischen Perugia und Bologna richtungen aufgegangen ist. neben dem

als Centralstättcn zweier Kunst­

Ich wenigstens kenne kein Werk, das ich

bezeichneten Spofalizio

so ohne Zögern Raphael zuweisen

müßte als dieses trefflich erhaltene Bildchen

bei Mr. Morris Moore.

Daß überhaupt Zweifel daran aufgekommen,

erklärt sich nur aus der

Vergessenheit, in welche die Werke in CittL di Castello gefallen sind.

Man vergleiche doch nur den vortrefflich hingelagerten Adam in der

Schöpfung des Weibes auf jener Kirchenfahne daselbst, die jetzt endlich in die städtische Galerie gerettet worden.

Außer der Farbe ist doch an

dem herrlichen Akt nichts PerugineskeS; ebenso wenig an dem vornübergebeugten Schöpfer, dessen Kopf an Giovanni Santi gemahnt, während die Stellung völlig der Art Signorelli'S entspricht.

Engel zeugen auch in der Zeichnung Schule an Perugia.

Nur die schwebenden

für einen Durchgang durch die

(Abbildg. bei Förster Denkm. ital. Mal. III, 48.)

Einen ähnlichen Compromiß zwischen (bolognesisch)-urbinatischen und perugineSken Elementen haben wir in dem verwandten Gemälde Ra*) Leidlich gestochen in der Gazette deS Beaux-ArtS.

Paris 1859.

III, 1.

phaels „Der Traum des Ritters" in der Nationalgalerie zu London, wo sich auch die Zeichnung dazu befindet*).

In der Mitte, unter

einem

Lorbeerbäumchen, schlummert in beinahe sitzender Lage, den rechten Arm

auf seinen Schild lehnend, aber ohne rechte Stütze

für daS behelmte

Haupt, ein junger Ritter, dem im Traum zwei allegorische Frauen er­

scheinen.

Die Gestalt zu Häupten trägt Schwert und Buch, die zu Füßen

ein Blumensträußchen; den Hintergrund bildet eine umbrische Gebirgs­

landschaft, die man am trasimenischen See begegnet, oder nach den Auf­ nahmen des Skizzenbuches erwartet. Die Zeichnung, knabenhaft wie sie ist, hat noch mehr vom Gepräge

Timoteoö als die Ausführung.

Die allegorische Figur zur Linken ist

ganz timoteisch, wie Lermolieff richtig bemerkt:

die rundliche Kopfform,

die Faltengebung, das kurze bis an die Knöchel reichende Gewand, ent­ sprechen Gestalten wie jene Magdalena und eine hl. Margaretha im Besitz

des Herrn Senatore Morelli zu Mailand.

Auch der Kopf ihrer Rivalin

zur Rechten führt auf die nämliche Kunstweise; die Haare sind ähnlich wie die der Jungfrau auf dem Verkündigungsbild in der Brera arrangirt.

Aber schon das Gewand zeigt fremde Motive, die von Perugia Herkommen. Im Gemälde ist diese Gestalt vollends perugineSk geworden und auch der ThpuS der Ersteren in dem nämlichen Sinne verändert.

Ihr Gewand

und der Lorbeerbaum erinnern noch an Timoteo Viti; der Kopf des

jungen Ritters ist bereits von N. Helbig zu dem schlafenden Wächter in

Perugino's Auferstehung Christi in Beziehung gebracht werden**).

Zeich­

nung und Gemälde documentiren uns demnach einen UebergangSproceß in Raphaels jugendlicher Kunstentwicklung, wie wir ihn nicht klarer und

verständlicher erwarten können.

Die frühe Skizze zum Traum des Ritters

gehört neben dem vollendeten Entwurf zum Marshaöbilde zu den wich­ tigsten Zeugnissen, die wir außer dem Skizzenbuch, gleichsam als nöthigste Ergänzungen, für das Verständniß dieser Periode besitzen.

Die liebliche Frauengestalt zur Rechten im Gemälde kündigt bereits im Voraus ihre Schwestern im Sposalizio an und mag uns zu einem andern verwandten Bildchen hinüberleiten.

Sie trägt einen auffallenden

Schmuck: Perlenschnüre von rothen Korallen sind hier um Brust und

Taille geschlungen; „die drei Grazien" bet Lord Ward in Dudleyhouse

sind mit ähnlichen Ketten um Hals und Haar herausgeputzt, die uns an

den nackten Göttinnen um so merkwürdiger vorkommen.

*) Das Bild ist bezeichnet. Lermolieff bespricht beide a. a. O. S. 350 und 360 f. wo auch eine Abbildung der Skizze gegeben wird. DaS Gemälde ist von der Photog. Gesellschaft photographirt, bei Passavant gestochen v. L. Gruner, Atlas Tab. IX. **) Zeitschrift für bildende Kunst. VIII, S. 302 ff.

Zu diesem Gemälde liefert uns das venezianische Skizzenbuch nicht

sowohl den ausgeführten Entwurf des Ganzen, den wir als verloren be­ trachten müssen, als vielmehr eine vorbereitende Skizze, welche direct vor dem Urbilde, der antiken Marmorgruppe in Siena entstand.

Die nackten Gestalten sind absichtlich in eine flache Landschaft gestellt, um den harmonischen Fluß der Linien nicht durch fremde Formationen, schroffe Felsen oder aufragende Kirchthürme, zu stören.

Die Gesichter

haben bei der Ausführung in Farben vollständig den Typus der gleich­ zeitigen Frauenköpfe von Raphaels Hand bekommen und verrathen nichts mehr von der antiken Herkunft.

Wenn die Figuren sogar noch etwas

gedrungener scheinen als wir sonst bei ihm erwarten, so mag darin ein letzter Nachklang der Schönheitsideale Signorellis

erkannt werden; ein

Blick in das Skizzenbuch erklärt das.

Ueberhaupt muffen noch manche Elemente, die auch Raphaelkennern

in den Arbeiten dieser Zeit zu schaffen machen, auf ihren Ursprung von Luca Signorelli und Timoteo della Vite

zurückgeführt werde».

Man

denkt bisher eben nur ausschließlich Perugino^ wennS hoch kommt

ein

Bischen Giovanni Santi zu Anfang und vielleicht Pinturicchio am Ende (1503) zu finden; mag es erlaubt sein, wenigstens einige Ingredienzien

auszuweisen, die der Schüler Francia'S und der Meister von Cortona hinzugethan.

Am wenigsten beachtet, aber für den allgemeinen Eindruck der Werke

oft sehr bedeutsam sind zahlreiche Gcwandmotive, Costüme u. dgl., die

Raphael theils von Timoteo, theils von Signorelli angenommen und bis in seine florentinische Zeit, ja weiter hinaus beibehalten hat.

So steht

jene allegorische Figur zur Linken im Traum des Ritters nicht allein, sondern Mancherlei in der Zeichnung zum fünften Fresko der Libreria

von Siena*), im Cartoncino zum ersten Fresko daselbst, erklärt sich nur, aber auch unmittelbar, wenn wir Gestalten von Timoteo wie die heil.

Margaretha und S. Vitalis in Mailand**), sowie das Altarbild in der Sakristei des Domes von Urbino herbetziehen, oder andrerseits Gewänder von Signorelli mit ihren bauschigen Falten und schweren Stoffen

als

Vorbilder in Rechnung bringen.

Darnach sind es die Köpfe mit dem runden fast völlig halbkugeligen

Schädel und dem reinen Oval des Gesichts, da- in ein spitzes vorn etwas abgeplattetes Kinn auSläuft, — eine LiebltngSform Raphaels, die er auf

Anregung des Timoteo, oder vielmehr nach dem durchgehenden Localthpus

seiner Heimath, um diese Zeit ausbildet, und selbst in der ganz perugt*) Publ. in m. Raph. & Pinturicchio. Taf. VI. **) Publ. b. Lermolieff a. a. O. S. 345 und 347.

nesken Periode nur eine kurze Weile mit der Atelierschablone Vannucci's

vertauscht.

Ueberall wo keine absichtliche Nachahmung der Manier Peru-

gino'S vorliegt, — welche wir in manchen beim Meister selbst bestellten und von Gehülfen ausgeführten Arbeiten entschieden annehmen müssen — bleibt er diesem Typus getreu.

Wir können ihn beinahe in seiner Ent­

stehung verfolgen, wenn wir auf die frühesten Zeichnungen zurückgehen;

wenigstens giebt eS kein besseres Mittel den Sinn für das ächt Raphae-

lifche in dieser Jugendepoche zu schärfen als solche Vergleichung charak­ teristischer Beispiele, welche auch an sich höchst lehrreich ist.

Man lege

sich nur den Kopf deS vorderen Fantino in jenem kindlichen Kindermord

neben den schematisch behandelten ersten Reiter auf der florentiner Skizze zum Cartoncino der Reise deS Enea Silvio; den zweiten dort neben den zweiten hier;

dazu

den Engel im

Berliner

Entwurf

zur Madonna

Terranuova, den Marshas in Venedig, den Enea Silvio auf dem Car­

toncino der Uffizien und den träumenden Ritter in dem Bilde der Na­ tionalgalerie.

Dann betrachte man das Porträt mit der Malerkappe im

Skizzenbuch Fol. 18b und die beiden oberen, fein modellirten JünglingS-

köpfe auf Fol. 13 a, den Pagen dicht hinter Enea Silvio im Cartonctno zu Florenz, endlich Apoll auf der venezianischen Zeichnung zum MarsyaSbilde, den Kaiser und Heinrich Leubing

auf der Zeichnung in Casa

Baldeschi zum fünften Fresko der Libreria, — ferner den schwebenden Engel mit Tamburin (Fvl. 10 b) und die nackten Jünglinge (Fol. 11b) dicht dahinter, und ziehe dann Beispiele von den Lehrern wie Signorelli's

strammen Söldling hinter dem falschen TotilaS zu Montoliveto nebst dem heiligen Sebastian TimoteoS aus der Verkündigung in Mailand heran*).

Zu einer ähnlichen Vergleichung fordern die Frauenköpfe deS SkizzenbucheS (Fol. 17 b), eine Madonna mit dem schlafenden Kinde, die Köpfe

der Grazien auf dem Gemälde und auf der Skizze, die allegorischen Er­ scheinungen im Traum deS Ritters, die Hofdamen der Eleonore

von

Portugal in der Zeichnung der Casa Baldeschi, sowie die Madonna

Connestabile und andere Marienbilder dieser Zeit heraus.

Außer dem Kopf sind eS dann die Hände, die in ihrer allgemeinen Form und momentanen Bewegung beachtet sein wollen.

Lermölieff macht

mit Recht auf das breite viereckige Metacarpium mit verhältnißmäßig

kurzen Figuren aufmerksam, daS Raphael von Timoteo Viti angenommen. Er giebt die Hand des träumenden Ritters als Beispiel; man lege sich

daneben jene spezielle Handstudie neben den Modellfiguren zu musicirenden Engeln auf einem köstlichen Blatte zu Oxford, welche für die Krönung *) Diese Aufforderung zur Consequenz richtet sich besonders an die Adepten der neuesten Chiromantie und Otognostik.

Mariae im Vatikan bestimmt waren, ferner die Hand des Heinrich Leu-

btng auf dem Entwurf in Cafa BüldeSchi zu Perugia und die des Engels mit Tamburin im ^kizzenbuch. Die Hand mit dem weitabstehenden, ganz gestreckten oder leise gekrümmten kleinen Finger läßt sich ebenso von

Timoteo's hl. Vitalis und Margaretha zu den Oxforder Engeln, zur Krönung des hl. NicolauS v. Tolentino in Alle, sowie zu Heinrich Leu-

bing verfolgen.

Eine andere Reihe bilden: die Hand der allegorischen

Figur mit dem Schwert im Traum des Ritters, die des Pagen hinter Enea Silvio im florentiner Cartoncino und andere im Skizzenbuch wie

auf Gemälden Raphaels vorkommende Stellungen.

Auf dem Entwurf zur

Madonna Terranuova in Berlin haben wir die kleine breite fleischige

Hand, die von Timoteo stammt, beim Johannesknaben, neben der großen, langfingrigen steifgestellten, die auf Luca Signorelli zurückweist, unmittelbar

neben einander.

Auch die Finger der Madonna Connestabite, auf der

Rückseite deflelben. Blattes werden durch die übermäßigen Vorderglieder und breiten Nägel entstellt.

Die Fingerstudien auf dem Oxforder Blatte

betont in auffallender Weise die Muskelbänder zwischen den Gelenken; sie

Dasselbe findet sich in zahl­

sind gleichsam unter der Haut angedeutet.

reichen Blättern des Skizzenbuches besonders in den Reproduktionen der berühmten Männer aus der urbtnattschen Bibliothek, sowie in den Copieen nach Signorelli, — ein Fingerzeig, woher Raphaels Sinn für anatomische

Richtigkeit erwachsen. Ist es doch dieses Streben nach Naturwahrheit, das man als sicheres Merkmal Raphaelischer Arbeit während zeichnen muß.

der perugineSken Periode be­

Selbst bei geflissentlicher Nachahmung der Gefühlsmasken,

welche daS Atelier Perugino's damals lieferte, erkennen wir überall den

gewissenhafter erzogenen Sohn des Giovanni Santi, dem unter Signorelli's

Anweisung daS Verständniß der menschlichen Körperformen aufgegangen war, so daß er seitdem keine Figur hinstellte ohne sich über jede Bewegung angesichts der Natur Rechenschaft zu geben.

Sowohl im Skizzenbuch als

in anderen Zeichnungen tritt uns ein fortgesetztes Studium am nackten

oder leicht bekleideten Modell, meistens von Knaben und Jünglingen ent­

gegen.

Kein Wunder, daß sich solche Nachwirkung Signorelli's auch in

auSgeführteren Arbeiten dieser Zeit verräth.

Im Anschluß an die Modell­

studien zu Engeln in Oxford und zu Christus mit der Jungfrau in Lille für die Krönung Mariae, sowie an jene Figuren einer Auferstehung,

ebenfalls in Oxford, dürfen wir die Knappen auf dem Staffelbildchen der tre Re Magi und die vorzüglich bewegte Gestalt des stabbrechenden Freiers, rechts im Spofalizio hervorheben.

Zu diesen aber gehören nothwendig

die prächtigen Reiter auf dem Entwurf zur Reise des Enea Silvio, im Preußische Jahrbücher. Vd. XLVIII. Heft r.

11

Gang der Uffizien zu Florenz, und der ihnen voranschreitende Pikenträger, dessen Beine uns auf mehrere Blätter des Skizzenbuches znrückweisen. Den Letzteren haben zweifellos Vorbilder von Luca Signorelli selbst zu

Grunde gelegen,

eben jene Arbeiten Raphaels für Pinturicchio's

und

Fresken in Siena, deren nahe Verwandtschaft mit dem Sposalizio in die

Augen fällt, führen uns abermals direct auf einzelne Figuren Signorelli'-. Ich meine jene Landsknechte

auf einer Skizze Raphaels in Oxford*),

welche für das Fresko der Dichterkrönung bestimmt waren, und ihre Ge­ nossen auf der Zeichnung in Casa Baldeschi zu Perugia, welche die Be­ gegnung Kaiser Friedrichs III. mit Eleonora von Portugal darstellt.

Die

zeugungskräftigen Urbilder dieser Figuren sind Signorelli'S Prachtexemplare

auf den TotilaS-FreSken zu Montoliveto Maggiore.

Wir finden sie fast

alle ganz ähnlich oder in geläufigen Variationen, im selben Sinne oder von der Gegenseite wieder.

Dieselben Landsknechte haben auch in dem

letzten großen Fresko in Siena, über dem Eingang der Libreria im Dom, ausgiebige Verwerthung gefunden.

Die Masse der Zuschauer bei der

Krönung Pius'III. wird von der Schwkizerwache in Ordnung gehalten: eine Scene, deren Ausführung, im Gegensatz zu dem oberen, von Pintu-

ricchio selbst gemalten Theil, die Beihülfe des Eusebio di San Giorgio

erkennen läßt**).

Wie weit die Beliebtheit und Verbreitung dieser Ge­

stalten von Signorelli reichte, bezeugt uns auch die große Passion Albrecht

Dürers, wo wir u. a. auf dem Eccehomoblatte ganz rechts am Rande einen Söldling gewahren, der augenfällig genug auf Seinesgleichen in

den TotilaSfreSken zu Montoliveto zurückgeht***); dies ist wenigstens der nächstliegende Schluß, da Signorellis Fresko 1497 entstand und wir von der Holzschnittfolge Dürers nur das Datum der Publication 1510 wissen.

Genug, der durchgreifende Einfluß Signorellis, den wir im Skizzen­ buch vorfanden, verräth sich auch in anderweitigen Arbeiten Raphaels aus

dieser Zeit mit hinreichender Bestimmtheit. Die Verwandtschaft der Typen,

wie einzelne Handgriffe und Gewohnheiten,

leiteten zugleich auf frühe

Unterweisung durch Timoteo Biti, jedenfalls auf wiederholte Berührung mit ihm in Urbino.

Nehmen wir dazu die Tradition, welche Raphael

im Atelier Perugino's und in persönlichem Verkehr mit diesem einstigen Schüler des Verrocchio

aneignete,

endlich noch jene contraktliche oder

freundschaftliche Abhängigkeit von Bernardino Pinturicchio, welche an an« *) Bei Ottley, Station School cf Design, u. Fisher, Foc-simile« II, 5. **) E« ist wohl diese Leistung, für welche Pinturicchio sich am 24. März 1506 ver­ pflichtet dem Eusebio hundert Goldgulden zu zahlen. ***) Nur die Beinstellung ist dem Platze gemäß verändert. Bei Signorelli haben wir übrigen« bereit« auf dem Wandgemälde in der Cap. Sistina zu Rom, also 1483, ganz ähnliche Gestalten zu coustatireu.

derer Stelle erörtert worden sind, so haben wir eine Reihe beisammen, welche die wichtigsten Elemente für Raphaels Jugendbildung enthält.

Daraufhin eine sorgfältige Analyse vorzunehmen upd eine offenbar, je nach den Oscillationen der eigenen Produktivität, variable Synthesis zu

constatiren, scheint die einzige adäquate Auffassung, welche dem vorliegenden

Material — da- wir glücklicher Weise für Raphaels Werden besitzen — gerecht zu werden vermöchte.

ES würde doch jedenfalls mehr befriedigen,

wenn ein organisches Gebilde aus den hier bezeichneten Elementen an die Stelle jenes unbeschreiblichen liebenswürdigen Etwas träte, das man als

einziges untrügliches aber völlig subjektives Erkennungszeichen der Jugend­ werke Raphaels immer noch hinstellt. Sind wir mit den obigen Andeutungen, die ja keineswegs den An­

spruch abgeschloffener Forschungsresultate erheben, nicht gänzlich auf Ab­ wege gerathen, so wird auS alledem wenigstens soviel erhellen, wie tief die Frage nach der Echtheit des Skizzenbuches in Venedig in die wich-

tigstm' Angelegenheiten der ganzen Jugendgeschichte Raphaels eingreift, tote zahlreiche Beziehungen zwischen diesen Blättern und seinen

aner­

kannten Arbeiten, Gemälden wie Zeichnungen, hinüber und herüber spielen. Möchte mit dem Nachweis dieser Zusammengehörigkeit nur das Eine er­ reicht werden,

das wir beantragen wollten,

nämlich eine gründlichere

Prüfung und methodische Umarbeitung dieses bedeutsamen Abschnitts in

Raphaels Leben. Göttingen, Mai 1881.

Schmarsow.

Die Unterdrückung der Deutschen in Siebenbürgen.

Si fecisti, nega — nach diesem Grundsatz hat die neue „ungarische

Revue" es unternommen, die Verfolgung deutschen Wesens in Ungarn und „die Bedrückung der Sachsen", in Siebenbürgen einfach hin­

wegzuleugnen.

„Die Siebenbürger Sachsen" scheut daS Blatt sich nicht

zu behaupten, „sind in ihrem Culturleben, in ihrer nationalen Eigenart,

in

ihrer

historischen Entwicklung

völlig

unangetastet

geblieben;

ihre

Schulen sind deutsch, ihre Verwaltung ist deutsch, ihre Sprache im Hause, in der Kirche, in der Gemeindestube ist deutsch.

Genommen wurde ihnen

ein veraltetes Privilegium, welches ihre Gemeinschaft zu einem Staat im

Staate machte und welches noch halbwegs berechtigt war, so lang Ungarn

selbst in Folge seiner Municipalverfassung dem Wesen einer föderalisti­ schen Ordnung viel näher stand, als den Bedingungen eines einheitlichen

StaatSlebenS, aber schlechterdings sinnlos und unhaltbar geworden war in dem Augenblick, als auf den Trümmern der aristokratisch-föderalistischen

Verfassung der neue Staat mit seinen Prinzipien

der

bürgerlichen

Gleichberechtigung und seinen parlamentarischen Institutionen aufge­ richtet wurde." Horaz, der treffliche Meister, wie hat er eS doch so wunderbar vor-

auSgesagt:

quae desperat tractata nitescere posse, relinquit, atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet ! Die „Revue" muthet uns also zu, an „die Prinzipien der Gleichbe­ rechtigung" zu glauben, in dem „neuen Staat", der im Jahr 1874 ge­

setzlich aussprach (Artikel 33, § 2), daß das alte Privilegium, welches dem Adel als solchem das active und

passive Wahlrecht verleiht, noch ein

Menschenalter zu dauern habe, in dem Staat, dessen „Parlamentarische

Institutionen"

ein Oberhaus erhalten, das alle Fürsten, Grafen und

Barone des Landes umfaßt — so 31 Zichh, 17 Esterhazy, 14 Teleki —

und keinen einzigen Mann znr Vertretung bürgerlicher Freiheit; dabei

alle katholischen und griechischen Bischöfe, ohne einer andern Kirche irgend eine Vertretung zu gewähren, das endlich alle von der Regierung er­

nannte Obergespäne in sich schließt, ohne daß aus Ungarn und Sieben­ bürgen ein einziger Vertreter auf Grund einer Volkswahl darin sitzt! Und das ist ein Faktor der Gesetzgebung, und Ungarn ein „neuer Staat

mit Prinzipien der bürgerlichen Gleichberechtigung"!

Aber

der Borwurf

bezüglich

der Bedrückung

Siebenbürger

der

Sachsen, sagt die „ungarische Revue", ist nicht begründet.

Hören wir

dagegen die Geschichte der letzten 14 Jahre, Thatsachen, nicht Phrasen, Gesetze, parlamentarische Akte, Verfügungen der Regierung!

Zum rechten Verständniß, zur vollen Würdigung derselben ist eS

jedoch nothwendig den RechtSstaud zu kennen, mit welchem die Sachsen in

die Zeit der neuen magyarischen Vergewaltigung eintraten. Jedes Handbuch der Geographie lehrt,

daß das Großfürstenthum

Siebenbürgen in das Land der Ungarn, der Sekler und der Sachsen zer­ falle, daß diese drei die „recipirten", das ist im siebenbürgtsch-staatSrecht-

lichen Sinne des Wortes die politisch vollberechtigten „Nationen" des Landes seien. Es gehört wesentlich zum Verständniß auch der gegen­ wärtigen Frage, zu wissen, daß diese „sächsische Nation" nicht als Bettler

oder Flüchtlinge in das Land gekommen, sondern gerufen von ungarischen

Königen unter der Bedingung thumS,

eines vertragsmäßig zugesicherten Frei-

das insbesondere dem deutsch-nationalen Leben vollkommensten

Schutz bot, gerufen zur Besiedlung und Bebauung des in diesen Theilen

damals noch menschenleeren Landes und zur Vertheidigung desselben, das

die bisher nicht gesicherte Grenze des Reiches bildete („ad retinendam coronam“).

Durch diese deutsche Colonisation wurde Siebenbürgen aus

einem dubiae possessionis solum zu einem gesicherten Besitzthum der ungarischen Krone; ihrer Bedeutung

entsprechend

erscheinen die neuen

Bürger des Reichs schon unter den Arpaden auf den ungarischen Reichs­

tagen,

auf die sie fortan als Sachsen gerufen werden,

als specialis

ramus sacrae coronae et membrum regni, ohne deren Theilnahme,

wie König Matthias in seinem Einberufungsschreiben 1454 sagt, über die

Angelegenheiten deS StaatS nicht beschlossen werden könne. Bon den eignen LandeSgenossen, dem ungarischen Adel und dem Volk der Sekler, schon

durch ihren geschlossenen Boden getrennt, noch mehr durch Recht, Sprache,

Sitte, Culturziele gesondert,

als Gesammtheit unmittelbar der Krone

untergeordnet, berührten sie sich mit ihnen auf dem Boden der gemein­ samen Landesangelegenheiten als von einander unabhängige gleichgestellte

politische Korporationen, nur daß die Sachsen den

andern durch ihre

Burgen und Städte, durch Wehr und Waffen, durch ihren Wohlstand die

wünschenSwertheren Genossen erschienen.

So kommen vom Jahre 1437

an Einigungen zwischen den drei Völkern zu Stande, die die Berührungs­

punkte zwischen ihnen vermehren und sie häufiger auf Landtagen zu­ sammenführen, während ein Jede- seine inneren Angelegenheiten in seiner

Mitte nach dem eignen Rechte gestaltet, biö nach dem Fall deS ungari­ schen Reiches durch die Schlacht bei Mohatsch (1526) für daö von Un­ garn nun getrennte Fürstenthum Siebenbürgen der neue Vertrag seinen

drei ständischen Nationen 1542 das Grundgesetz schuf, daß alle Angelegen­

heiten deS Landes nach dem Rath und der Einwilligung aller — „pari consilip et consensu“ — zu ordnen feien, woran jede Nation gleich­

mäßig Antheil zu nehmen habe.

Die Autonomie in dem Innenleben der­

selben dauerte fort; auf dem Boden jenes öffentlichen und Privatrechtes

schuf sich die sächsische Nation ein eignes Partikularrecht und namentlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (1583 bestätigt vom Fürsten Stephan Bathort) ihr „Eigen-Landrecht", daö daS codifictrte bürgerliche

und peinliche Recht umfaßte, von dem der anderen Nationen wesentlich

verschieden war und unter Anderem auSsprach:

„damit der Angeklagte

verstehen und wissen könne, waS auf ihn geklagt und er verantworten soll,

ist eS vonnöthen, daß ein jeder Kläger im sächsischen Gericht seine Pro­

position und

Klagen

in

deutscher Sprache

klärlich und bescheiden

führen soll".

So in Sprache und Sitte, in Gericht und Verwaltung, in Schule

und Kirche — diese zur Zeit, der Reformation evangelisch geworden und zwar so, daß im ungarischen Volksmund die evangelische Kirche der „sächsische Glaube" hieß und heißt — durchweg deutsch und als deutsche

(sächsische) Nation, in dieser ihrer nationalen Eigenart und Berechtigung durch die Verträge mit den andern Nationen, durch die Verfassung und die Gesetze des Landes anerkannt und durch die Eide aller Fürsten wäh­

rend zweier Jahrhunderte gesichert, kam die sächsische Nation am Ende de» 17. Jahrhunderts mit Siebenbürgen unter da» Erbfürstenthum Oesterreich.

Der feierliche Staatövertrag, den da» Land mit Kaiser Leopold abschloß

— da» Leopoldinische Diplom vom 4. December 1691 — gewährleistete diesen Rechtsstand der sächsischen Nation und betonte dabei ausdrücklich auch die unverletzliche Geltung des sächsischen MunicipalrechtS, wie er an

erster Stelle den, durch keinen Einspruch je veränderlichen Rechtsstand „contradictionibus quibuscunque sive sacri sive profani ordinis nihil

unquam

in contrarium valentibus“

Schulen bestätigt hatte.

— der recipirten Kirchen und

Die bürgerliche

und kirchliche Rechtslage der

sächsischen Nation dauerte dann im 18. Jahrhundert gesetzlich fort; sie war die dritte ständische „Nation" deS Landes, nahm an den ge-

meinsamen Angelegenheiten desselben durch ihr Curatvotum Theil, ver­

waltete und regierte sich im übrigen nach ihrem Partikularrecht durch eigne gewühlte Beamte und Vertretungen selber und hatte als höchste nationale

Spitze den, nach dem Gesetze gleichfalls zu wühlenden „Comes", der zu­ gleich Königsrichter von Hermannstadt und Mitglied des königlichen Lan-

deSgubcrniumS war, als höchstes Organ der nationalen Verwaltung, Rechtspflege und Municipalgesetzgebung die „sächsische Nationsuniversität",

die neben dem Hermannstädter Rath mit dem Bürgermeister (consul provincialis) an der Spitze, aus gewählten Abgeordneten der andern acht

sächsischen Stühle und zwei Distrikte bestand.

Als Josephs II. weitauö-

schauende Reformversuche wie die ganze siebenbürgische, so auch die sächsische Verfassung zu Gunsten einer StaatSeinheit und deutschen Verwaltung der

ganzen Monarchie umgestoßen hatten,

stellte sein RestitutionSedikt vom

28. Januar 1790 beide wieder her und der siebenbürgische Landtag von

1790—1791 sanctionirte die Aufrechthaltung der letzten in dem hochbe­ deutenden XIII. Artikel seiner Gesetze durch folgende Bestimmung: „Artikel XIII. und den

Von der Universität der sächsischen Nation

andern in der Mitte derselben Nation bestehenden

Communitäten der Stühle, Städte und Märkte, welche in ihrer gesetzlichen Amtswirksamkeit und Freiheit zu bewahren sind.

Mit gnädiger Genehmigung Sr. Majestät wird auch die sächsische Nation, ihre Universität wie auch die Communitäten und Magistrate der

Stühle und Distrikte, der königlichen Freistädte und privilegirten Märkte, sowohl was die nach dem Gesetz ihnen zukommende Wahl der Beamten,

als auch die politische, ökonomische und juridische Verwaltung betrifft in

ihrem gesetzmäßigen, mit dem Leopoldinischen Diplom

über­

einstimmenden Stande erhalten." Schon auf diesem Landtag fing im Rückschlag gegen die Josephintschen Reformen der magyarische Chauvinismus an, im Bunde mit auf­

fälliger Geringschätzung des Adels gegen das deutsche Bürgervolk daö Haupt zu erheben; sie setzten durch, daß das alte Curiatvotum der drei „Nationen" zu Gunsten individueller Abstimmung fiel;

aber es mußte

wenigstens die Sondermetnung der Minderheit den an die Krone gehenden Akten beigeschlossen werden und jeder Beschluß entbehrte der Beglaubi­

gung, dem nicht die Siegel aller drei Nationen beigedrückt waren.

ES

hat sich getroffen, daß die sächsische Nation als letztes Mittel gegen Ver­ gewaltigung das ihre verweigerte.

In der Folge verbreitete sich die in Ungarn entstandene „neue Lehre, daß man magyarisch sprechen müsse um der Heimath würdig zu sein",

Adel und Sekler wurden eifrige Anhänger der hier unerhörten Doctrin,

daß magyarisch die Nationalsprache deS Landes sei oder doch werden solle, in Verwaltung und Gericht allein herrschend.

Aber der Widerspruch der

sächsischen Nation und die standhafte Rechtsachtung der Krone verhinderte daS Attentat mindestens in der ganzen geplanten Ausdehnung.

Wenn der

I. Gesetzartikel von 1847 auch festsetzte, daß fortan die Gesetze (statt wie

früher in lateinischer) in ungarischer Sprache abzufassen seien, so fügt er zugleich hinzu:

„übrigens wird Allerhöchst Se. Majestät dafür Sorge

tragen, daß eine unter öffentlicher Autorität besorgte Uebersetzung derselben

in die Muttersprache der sächsischen Gerichtsbarkeiten denselben zum Ge­ brauch in ihrer Mitte durch das königliche Gubernium zugleich mit den Landtagsartikeln seiner Zeit zugemittelt werde."

Ebenso bestimmt § 4

desselben Artikels: „alle Gerichtsbarkeiten, ferner alle Gerichtsstellen und Civilämter haben sowohl bei den Verhandlungen und bei Abfassung der

Protokolle, als auch in ihren Berichten und Erlässen in dem Mittel der ungarischen und

sächsischen

die

Seklernation

ungarische,

deutsche

im Mittel

Sprache

der

zu

ge­

In diesem Rechtsstand' traf Siebenbürgen das Jahr 1848.

Die

Nation

hingegen

die

brauchen". folgenschwere Bewegung in Ungarn, die unter dem, das Ausland täu­

schenden Aushängeschild deö Liberalismus und ConstitutionaliSmuS, die Alleinherrschaft

der

magyarischen Race und

möglichste Trennung von

Oesterreich erstrebte, fand hier unter dem Adel und den Seklern jubelnde Heeresfolge. Der VII. ungarländische Gesetzartikel beschloß die Vereini­

gung Ungarns und Siebenbürgens, weil „die Einheit der Nation und die

Rechtsidentität die

Vereinigung des

zur ungarischen Krone gehörigen

Siebenbürgens mit Ungarn unter eine Regierung erheischt" und erklärte: „Ungarn

ist

bereit,

alle

verschiedenen

Gesetze

und

Freiheiten

Siebenbürgens, welche nebst dem, daß sie die vollkommene Vereinigung nicht hindern, die Freiheit der Nation und die Rechtsgleichheit begünstigen,

anzunehmen und aufrecht zu erhalten."

Der siebenbürgische, in Klausen­

burg versammelte Landtag nahm diesen Gesetzartikel „mit heißem Mitge­

fühl" auf und die Vereinigung beider Länder unter Aufrechthaltung des

in der pragmatischen Sanction garantirten ReichSverbandeö an; die Reichs­ vertretung in Pest sollte das Weitere machen. Dieses von den siebenbürgischen Ständen beschlossene Unionsgesetz ist nach den Forderungen deS siebenbürgischen StaatSrechtS in dem Sturm

der sofort hereinbrechenden Revolution nie perfect geworden, indem eS nicht alle jene Stadien durchlaufen hat, die zur vollen Gesetzlichkeit eines

Landtagsartikels nothwendig sind.

Als daher nach dem Jahrzehnt des

Absolutismus von 1850—1860 das „Octoberdiplom" die alten Landesver-

fassungen heilweise wieder herstellte,

trat auch Siebenbürgen und das

Sachsenlaw dem entsprechend auf seinen frühern Rechtsboden zurück; da­ bei war ek ein Akt der Krone würdig und dem natürlichen Recht aller

VolkSstämne des Landes entgegenkommend, wenn das kaiserliche Hand­

schreiben vim 21. December 1860 als Regel aussprach, „daß den städti­ schen und öndlichen Gemeinden aller Nationalitäten und Confessionen die

Wahl der Geschäftssprache ihrer Gemeinde-, Kirchen- und Schitlangelegen-

heilen frei 'tehe; daß es Jedermann unbenommen bleibe, in den ComitatSden städtiscken und den Gemeindeverhandlungen sich jeder im Lande üblichen

Sprache zr bedienen und in jeder Eingaben an die Behörden einzu­

reichen, devn Erledigung in derselben Sprache zu geschehen haben wird; daß endlich die politischen und Justizverwaltungsbeamten jede Art Ver­ ordnungen und Befehle, welche unmittelbar an die Gemeinde ergehen, in

jener Sprcche erflteßen lassen sollen,

welche die Geschäftssprache ihrer

Gemeindealgelegenheiten ist."

Auch wr siebenbürgische Landtag, der 1863/1864 in Hermannstadt tagte, sprah in dem am 5. Januar 1865 sanctionirten Gesetzartikel, be­ treffend der Gebrauch der drei Landessprachen — der magyarischen, deut­ schen und wmänischen — im öffentlichen amtlichen Verkehr, deren Gletch-

bnechtiguns aus.

In den Landtagssitzungen selbst wurde in allen drei

Sprachen gesprochen, das Protokoll in allen drei Sprachen geführt.

das königliche LandeSguberntum

gingen

An

aus der Mitte der sächsischen

Nation alle Vorstellungen, Berichte, Zuschriften, deutsch und wurden von seiner Seit« deutsch erledigt, ohne daß diesbezüglich irgend eine Schwierig­

keit hervorgetreten wäre.

So kam nach der Slstirung der Februarverfassung, während welcher in den Jalren 1863, 1864, 1865 die vom Hermannstädter Landtag ent­ sandten Vertreter, fast ausschließlich Sachsen und Romänen, ihren Sitz

im Abgeortnetenhause des ReichSrachS in Wien eingenommen hatten, die Zeit des Ausgleichs mit Ungarn.

Sie wurde für Siebenbürgen einge­

leitet durch die Einberufung eines neuen Landtags auf den 19. Nov. 1865 nach Klausenburg.

Derselbe bestand nach der Analogie der vormärzlichen

siebenbürgischen Landtage In seiner großen Mehrheit aus

Magyaren.

Bon 190 „Regalisten" d. h. solchen Mitgliedern, die die Krone berufen, gehörten 132, von 106 Abgeordnete» der Jurisdictionen in Folge der

Wahlordnung, die allen Adligen als solchen das, Nichtadligen gegen­ über an eine directe Steuer von 8 Gulden ohne Kopfsteuer und Zuschläge

geknüpfte Wahlrecht verlieh, 61 dem magyarischen Stamme an.

Doch

beträgt bei einer Landesbevölkerung von etwa 2,102,000 Seelen die Zahl der Magyaren nicht einmal ein Drittheil (611,581 Seelen, demnach 29 %)

während die Zahl der Deutschen im ganzen Land 211,490 (10%), die der Romänen 1,249,447 (59%) nach einer auf die Zählung von 1870

gegründeten statistischen Berechnung erreicht. Bet solcher Sachlage, bei der Strömung, die aus Ungarn herüber­ schlug, und bet dem in Wien immer mehr und mehr hervortretenden ge­ dankenlosen Fahrenlassen der Idee des Einheitsstaates war das Ergebniß

Die Mehrheit beschloß eine Repräsentation an den

leicht vorauszusehen.

Kaiser um Einberufung der Vertreter Siebenbürgens aus den Reichstag

nach Pest, daß sie hier, „die im Jahr 1848 unterbrochenen Verhandlungen wieder aufnehmend, an der alle Interessen befriedigenden Durch­

führung der Union, an her Lösung der die Gesammtmonarchie betreffenden

Lebensfragen, an der Vorbereitung der Krönung, sowie an der gesammten Gesetzgebung deS gemeinsamen Vaterlandes Theil nehmen könne."

Dabei ist überaus bemerkenswerth, wie die beschließende Majorität sich den Sachsen gegenüber stellte.

im Landtag vertreten.

Seitens dieser waren zwei Ansichten

Die Mehrzahl (28) hielt, übereinstimmend mit

wiederholten früheren Erklärungen der Krone, dafür, der Unionsartikel des Klaufenburger Landtags von 1848 fei mit voller Gesetzeskraft niemals zu Stande gekommen und stellte daher in ihrer Sondermeinung die Bitte an Se. Majestät: es möge der, in dem Allerhöchsten königlichen Rescript

vom 6. October 1865 enthaltenen Aufforderung gemäß die Revision jenes Unionsartikels zu dem Zweck vorgenommen werden, damit die Bedingungen einer Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn nach allen Richtungen hin,

insbesondere aber auch zur Sicherung der Rechtslage der ver­ schiedenen Nationen und Kirchen in Siebenbürgen näher festgestellt,

und durch einen unter Sanction der Krone gegenseitig abzuschließenden StaatSvertrag zwischen den beiden Ländern bleibend verbürgt werden. —

Die Partei, — die der Altsachsen hieß sie —, kannte die Geschichte der Ver­

gangenheit und sah die dunkeln Schatten der künftigen bösen Dinge mit großer Bestimmtheit schon jetzt.

Getrennt von diesen stellten sich sechs sächsische Vertreter principiell

auf den Boden der magyarischen Mehrheit, sprachen dem Klaufenburger Unionsartikel Rechtsgültigkeit zu, stimmten dem Antrag derselben bei, die Vertretung Siebenbürgens solle sofort auf den Ungarländer Reichstag be­

rufen werden und beantragten dazu bloß, eS sollten zu der Adresse an die Krone „folgende Wünsche, Forderungen und Bedingungen der Sachsen

ausgenommen und vom Landtag zur Berücksichtigung bei der königlichen Proposition bezüglich der Union für den Ungarländer Landtag empfohlen

werden", nämlich: fassung"

„die

Aufrechthaltung der sächsischen Municipalver-

mit dem genau detaillirten, wesentlich dem

alten Recht ent-

sprechenden Inhalt derselben —,

„die

Unantastbarkeit

des

sächsischen

Territoriums, die Belassung der deutschen Sprache als Amts- und Ge­

schäftssprache bei allen ihren Behörden im Innern sowohl als auch nach

Außen, die Unantastbarkeit des sächsischen National-, Stuhls- und Ge­

meindevermögens" u. s. f.

Der Landtag schloß in der That — so wie

die Sondermeinung der 28 sächsischen Vertreter und das Separatvotum der Romänen, auch diese Erklärung seiner Repräsentation vom 18. De­

cember mit der Bitte an, Se. Majestät geruhe „ihre (der sächsischen

Dtinorität) durch vaterländische Gesetze und die Muntcipalverfassung be­ gründbaren Wünsche und Ansprüche dem gemeinschaftlichen Pester Reichstag zur Berücksichtigung zu empfehlen".

Das Ergebniß des Klaufenburger Landtags war das königl. Refcript

vom 25. December 1865, welches „gestattete", daß der auf den 10. De­ cember nach Pest berufene „Krönungslandtag Ungarns", welcher sich mit

der Regelung der die gefammte Monarchie berührenden staatsrechtlichen Fragen befassen werde, auch vom Großfürstenthum Siebenbürgen „zur

Wahrung der Landesinteressen" beschickt werde.

Ausdrücklich hebt das

Refcript dabei die kaiserliche Willensmeinung hervor:

„indem Wir die

Vertretung Siebenbürgens an diesem Landtag genehmigen, geschieht eö

mit der ausdrücklichen Erklärung, daß hiedurch die RechtSbeständig» keit der bisher erlassenen Gesetze keineswegs alterirt werde.

Die definitive Union beider Länder

machen Wir überdieß

von der gehörigen Berücksichtigung der speciellen Landes« tiiteressen Unsers Großfürstenthums Siebenbürgen und von

der Gewährleistung der, auch durch Euch gewürdigten RechtS-ansprüche der verschiedenen Nationalitäten und Confessionen,

von der zweckmäßigen Regelung der administrativen Fragen dieses Landes abhängig". Auch das letzte Wort des siebenbürgischen Landtags, das derselbe durch den Mund seines Ständepräsidenten, deS Barons Franz Kemeny

sprach, sollte diejenigen, die mit dem Gang der Entwicklung unzufrieden

waren und für ihre unveräußerlichen Rechte Gefahr sahen, beruhigen. „ES dürfte kaum ein nüchtern urtheilender Bürger in unserm Vaterlande sein", sprach der Genannte zum Schluffe des Landtags, „in dessen Sinn

eS gelegen wäre, . . die Institutionen, welche sich auS den eigenthüm­

lichen Verhältnissen Siebenbürgens entwickelt haben, die Union nicht hin­ dern und seit mehr als drei Jahrhunderten in unser Fleisch

und Blut übergegangen sind,

mit einem Mal zu vernichten, oder

die mit der Vereinigung der beiden Länder vereinbarlichen Wünsche der

verschiedenen Nationen unsers Vaterlands nicht zu erfüllen.

Wenn

die sächsische Nation . . dies erwägt, so kann sie für sich keinen Nach­

theil darin erblicken, daß sie sich unter den unmittelbaren Schutz der un­ garischen Krone begiebt.

so kann

faßt,

Denn

Und wenn sie ihre Stellung nüchtern ins Auge

sie auch keine Ursache zu Besorgnissen haben.

ihr Municipium bleibt auch bei der Union intacl; ja

dadurch, daß ihr Recht von ganz Ungarn gestützt wird, wird sie jene glänzende Epoche ihrer Geschichte sich erneuern sehen, welche in die Zeit vor der Trennung unter den ungarischen Königen fällt, aus welcher Zett

ihre schönsten Privilegien und

die festen Grundlagen

ihres

bürgerlichen Wohlstandes herrühren."

Im Hinblick auf ihr gutes Recht, mit der feierlichen Erklärung der Krone von der Rechtöbeständigkeit der bisher erlassenen Gesetze und mit

den Zusicherungen der siebenbürgischen Stände zogen denn die sächsischen Abgeordneten, der „Noth gehorchend nicht dem eigenen Trieb", im Jahr 1866 auf' den Pester Reichstag.

Die Frage ist nun,

wie wurde in

den seither vergangenen Jahren jenes ihr gutes Recht von der ungarischen Legislative und Regierung geachtet; wie wurde das

königliche Wort, die Zusicherung des siebenbürgischen Landtags von 1865 — in Verbindung mit den wiederholten feierlichen Erklärungen deS un­

garischen Reichstags betreffend die Achtung der Nationalitätsrechte der Nichtmagyaren — von der ungarischen Gesetzgebung und Regierung den

Sachsen gegenüber elngelöst?

Die beglaubigten Thatsachen, die hierüber vorltegen, beantworten die

Frage: ob eine „Bedrückung der Sachsen" Statt gefunden oder nicht. Und wenn diese Thatsachen kaum etwas anders als eine lange, fast

ununterbrochene Reihe von Nichteinlösung des gegebenen Wortes

und

von Ungesetzlichkeit melden, nun so sind das eben — die Thatsachen.

Schreien doch in gewissen Verhältnissen selbst Steine, wenn die Menschen schweigen!

DaS erste Zeichen der Dinge, die da.kommen sollten, eine Jllustrirung, tote das ungarische Abgeordnetenhaus das königliche Wort von der „Rechtsbeständigkeit der bisher erlassenen Gesetze" verstand, geschah am

8. März 1867.

Anläßlich der Verhandlung über die Regierungsvorlage

betreffend die Regelung der Municipien, beschloß das Haus trotz ernstester Einwendung von siebenbürgischen und namentlich eines sächsischen Abgeord­

neten:

„bis zu der, auf Grundlage von § 5 des VII. Gesetzartikels von

1847/1848 zu erfolgenden Regelung der siebenbürgischen Verhältnisse wird daS Ministerium ermächtigt, bezüglich der Regierung, Administration

und Rechtspflege in Siebenbürgen unter seiner Verantwortlichkeit nach

eigener Einsicht die nöthigen Verfügungen zu.treffen".

Damit war das Land und mit ihm die sächsische Nation dem Mi­ nisterium auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.

Die „freie Hand" der Regierung zeigte ihre Gewalt sofort auch der sächsischen Nation. Der verfassungsmäßig von dieser erwählte, vom Kaiser

in aller Form Rechtens bestätigte „ComeS", Conrad Schmidt, wurde am 8. Februar 1860 seines Amtes, das ihm doch auf Lebensdauer übertragen

war, enthoben, einfach, ohne irgend eine Untersuchung oder eine Begrün­ dung.

Aber eine Anzahl magyarischer Blätter war seit Monaten gegen

ihn Sturm gelaufen und hatte ihn als entschiedenen Anhänger eines ein­ heitlichen Oesterreich hingestellt.

Die Petitionen der sächsischen Nations-

Universität, der Hermannstädter Repräsentanz, der Schäßburger Commu-

nität, die sich um Schutz und Wiederherstellung des gesetzlichen Zustandes

an das Abgeordnetenhaus wandten, waren fruchtlos.

Dasselbe erkannte

nach einer stürmischen Sitzung am 14. Mai die That für statthaft, mit

deßhalb, „weil das verantwortliche Ministerium vom Abgeordnetenhause

ermächtigt worden, hinsichtlich der Administrativ- und Justizangelegenheitcn Siebenbürgens nach eigener Einsicht Verfügungen zu treffen",

und die­

jenigen, die die Maßregelung gut hießen, begründeten sie unter Anderm auch damit, daß Conrad Schmidt im Wiener Reichsrath gewesen — er

war eine Zeit lang Vizepräsident desselben — und die "Nothwendigkeit

ausgesprochen habe, daß Siebenbürgen sich dem constitutionellen Oester­ reich anschließe. —

„Der Nothruf eines freien Bürgervolks um Beistand und Schutz

eines verfassungsmäßigen Rechtes, vertrauensvoll gerichtet an die gesetz­ liche Volksvertretung des freien Ungarn, ist ohne Widerhall verklungen,

wie der Klageton einer ärmlichen Hirtenflöte auf der ungarischen Haide", so sprach daS Siebenbürgisch-Deutsche Wochenblatt über das beklagens-

werthe Ergebniß. Dann kam der 43. Gesetzartikel von 1868 „über die detaillirte Re­

gelung der Bereinigung Siebenbürgens

mit Ungarn".

Er nahm der

sächsischen Nation das Recht, ihr Haupt, den ComeS, zu wählen, dessen

Bestätigung nur nach jenem Recht der Krone zustand; nun lautete das

Gesetz:

„den sächsischen NationscomeS wird mit Gegenzeichnung des

Ministeriums der König ernennen".

DaS Unionsgesetz schlug ebenso die sächsische Autonomie in Trümmer. DaS Recht, daS die Nation seit ihrer, auf den Ruf ungarischer Könige

erfolgten Einwanderung besessen und geübt, sich mit Genehmigung der Krone ihre Munictpalverfassung selber zu geben und den Forderungen

des eigenen Rechts- und Culturbedürfnisses, deS eigenen wirthschaftlichen

LebenS entsprechend fortzubilden, wurde, ohne daß man auch nur versucht

hätte, jenen Rechtsstand in die neue StaatSform wohlwollend einzufügen, sofort vernichtet.

„Behufs Sicherstellung des autonomen Selbstverwal­

tungsrechtes", verfügte § 10 des Unionsgesetzes, „der Stühle des KönigS-

bodenS, der Distrikte und Städte, ebenso behufs Organisirung der Re­

präsentanz derselben und der Feststellung des Rechtskreises der sächsischen

Nationsuniversität wird daS Ministerium beauftragt, nach geschehener Ein­ vernehmung der betreffenden dem Reichstag einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen, welcher sowohl die auf Gesetzen und Verträgen beruhenden Rechte, als auch die Gleichberechtigung der auf diesem Gebiet wohnenden

Staatsbürger jeder Nationalität berücksichtigen und in Einklang bringen soll." So wurde die sächsische Autonomie zu einer „Einvernehmung der

betreffenden"; der Erfolg lehrte bald, wie wenig auch diese beachtet wurde, wie die „auf Gesetzen und Verträgen beruhenden Rechte" ein leeres in­ haltloses Wort auf dem Papier blieben.

Doch mit dem, erst in dieser neuesten Zett stabilirten Absolutismus

des Reichstags über das alte Sachsenrecht sollte es nicht genug sein; der­ selbe 8 ermächtigte „daS Ministerium" bis zu jener Gesetzgebung „hin­

sichtlich der Organisirung und des Wirkungskreises der auf dem Königs­ boden befindlichen Stühle, Diftricte und Städte im Sinn der hier ent­

wickelten Principien provisorische Verfügungen zu treffen". Die „freie Hand" über das Sachsenland wurde denn auf'S neue,

und zwar im ganzen Reich über dieses allein in Kraft erhalten. sofort wurde sie in drückendster Welse fühlbar.

Und

Mit Verordnung vom

24. Januar 1869 verfügte der Minister deS Innern „auf Grund der ihm

durch daS UnlonSgefetz ertheilten Vollmacht" die Zuweisung von 16 romäntschen Gemeinden, von welchen drei der ehemaligen Militärgrenze, die andern dem Talmescher und Selischter Dominium, einem Nobilitarbesitz

des alten Hermannstädter GaueS, angehörten,

in den Hermannstädter

Stuhl, ebenso die Zuweisung von zehn magyarischen und romanischen Ge­ meinden deS Törzburger DominiumS, einem Nobilitarbesitz von Kronstadt, in den Kronstädter District; diese Gemeinden, die gesetzlich ein Bestand­

theil deS Albenser ComitateS waren, also nicht zum Sachfenland gehörten,

sollten nach der Verordnung deS Ministers gleiche Municipalrechte auSüben, wie die Gemeinden des Sachsenlandes, demnach auch Einfluß nehmen auf die Wahl der Abgeordeneten in die sächsische Nationsuniversität und der sächsischen Kreisbeamten, ebenso Einfluß nehmen auf die Verwaltung und Verwendung deS sächsischen Kreis- und Nationalvermögens, an dem

sie doch kein EigenthumSrecht hatten.

Noch schwerer fiel in die Wag-

schale, daß der deutsche Charakter der Municipien Hermannstadt und

Kronstadt durch die widerrechtliche Zuweisung eines so zahlreichen andern

nationalen Elementes (beiläufig je 24,000) auf das schwerste gefährdet wurde.

Doch die Vorstellungen und Verwahrungen von Hermannstadt

und Kronstadt gegen diese Verfügung, welche in gradem Gegensatz gegen die „auf Gesetzen und Verträgen beruhenden Rechte" in § 10 deö UnionSartikels stand, waren erfolglos.

ES folgte rasch ein anderer Schlag.

Im März 1869 erließ der

Minister des Innern, wieder in Folge der ihm zugestandenen „freien

Hand" ein provisorisches Regulativ bezüglich der Wahl der Vertretungs­

körper, sowie der StuhlS-DistrictS- und Gemetndebeamten auf dem KönigSboden.

Die innere Berechtigung zu dieser Verfügung liege, so verbreitete

man eifrig in der öffentlichen Meinung, in dem „feudalen Zustand", daß

die sächsischen DertretungSkörper der Städte und Dörfer sich nach den, im

Jahre 1805 eingeführten „Regulativpunkten" selbst ergänzten.

Gewiß,

man konnte die Mißbilligung einer solchen „Constitution" Seitens der

ungarischen Regierung, die keinen Schritt that, die 403 Grafen und 137

Barone des.Oberhauses als „geborne Gesetzgeber", die 55 Bischöfe und

65 von der Regierung ernannten und nach deren Belieben absetzbaren Obergespäne desselben hohen Hauses, die ihren Sitz in demselben auch nicht der Wahl deö Volkes verdankten, abzuschaffen: — man konnte, sagen

wir, den größeren Freisinn der Regierung mindestens auf dem kleineren

Gebiete des sächsischen Verfassungslebens principiell nicht tadeln.

Aber

noch weniger kann übersehen werden, daß jene Selbstergänzung der Ge­

meindevertretungen nicht von der, zu solchen Municipakgesetzen allein kompetenten Nationsuniversität ausgegangen, sondern den Sachsen in den,

im Jahre 1805 von Oben eingeführten „Regulativpunkten" vorgrschrteben worden war und daß alle Schritte die die sächsische Nation seit einer Reihe von Jahren zur Abschaffung dieses, von ihr selbst als eine Schädi­ gung des eigenen Lebens schwer empfundenen Anachronismus

im ver­

fassungsmäßigen Wege gethan hatte, durch Schuld der Regierung erfolglos geblieben waren, daß insbesondere die diesbezüglichen Vorlagen der NattonSunlversität vom 11. Mat 1863 nie eine Erledigung gefunden

hatten. Dafür kam nun das neue provisorische Regulativ, das über die Zu­

sammensetzung der Nationsuniversität, dann der Gemeinde- und Kreisver­ tretung verfügte, eine Wahlnorm für dieselben brachte, sowie neue Wahlen der Gemeinde- und Kreisbeamten jedoch nur für die Zeitdauer bis zur

„definitiven Organisation" anordnete.

Die Nachweisung juridischer Fach­

bildung für die politischen Beamten, bisher Bedingung ihrer Anstellung, wurde fortan für nichterforderlich erklärt, zu den Wahlen für die be­ treffenden Stellen sollte der von der Regierung ernannte ComeS

Vorschlägen wer ihm beliebte und kein anderer wählbar sein; die gewählten

Oberbeamten mußten vom Minister bestätigt werden.

reichen

Ehrenmännern

langer

tadelloser

So hing über zahl­

Beamtenlaufbahn

das

Damoklesschwert der Willkühr des ernannten Regierungsbeamten;

ohne

Verschulden wurden alle plötzlich ihrer Stellen verlustig erklärt.

Und

nach

während die Seklerstühle ihre Beamten nach der Mtnisterialverorvnung vom 26. Juni 1867 ohne Candidation wählten, sollte im Sachsenland das Belieben des Comes zulassen oder abweisen; während dort und in den

Comitaten für die Gewählten keine Bestätigung erforderlich war, sollte hier für die gewählten Oberbeamten noch besonders die Bestätigung des

Ministers nachgesucht werden; die Protokolle der Kreisvertretungen und

der Universität sollten stets dem Ministerium deS Innern vorgelegt werden, waS mit den „auf Gesetzen und Verträgen beruhenden Rechten" allerdings in gradem Gegensatz sich befand.

Darum hätten gewiß die ernsten sach­

lichen Darlegungen und Verwahrungen der Stadt Kronstadt vom 12. Mai

1869 und HermannstadtS vom 29. November 1869, welche die im neuen Regulativ

enthaltenen Rechtsverletzungen

und

dessen

wahrer Freiheit und Selfgovernment klar nachwiesen,

Widerspruch

mit

in jedem RechtS-

und Culturstaat Europas Erfolg gehabt; hier konnten sie nur als Proto­ kollarerklärungen ein Zeugniß für die Geschichte ablegen.

Und doch stand jene Verfügung in unvereinbarem Gegensatz

auch

mit einer anderen Fundamentalbestimmung, mit § 11 des Untonsgesetzes.

Dieser lautet:

„die sächsische Nationsuniversität wird in dem mit dem

siebenbürgischen Gesetzarttkel XIII vom

im

Jahr 1791

Ein­

klang stehenden Wirkungskreis, mit Beibehaltung des im Weg des

verantwortlichen ungarischen Ministeriums auszuübenden obersten Beauf-

sichtigungSrechteS Sr Majestät, auch fernerhin belassen, mit dem Unterschied, daß der Nationalcon flux in Folge der im Gerichtswesen er­

folgten Aenderung keine Jurisdiction mehr ausüben könne".

Diefemnach

mußte die Nationsuniversität in jenem Wirkungskreis erhalten werden —

und das schloß unter Anderm ebenso die Untheilbarkeit deS Sachsenbodens als die Autonomie über die Gemeindeorganisation zweifellos in sich, oder eS war nur Eins von beiden möglich:

entweder, Regierung und Gesetz­

gebung hatten nicht gewußt was der eigentliche Inhalt jener Gesetzesbe­ stimmung sei, die sie in jenem § in den Grundvertrag Siebenbürgens mit Ungarn aufnahmen, oder — um es milde auszudrücken — die Auf­

nahme derselben war von allem Anfang an nicht ernst gemeint.

Da nun

keine dieser beiden letzten Voraussetzungen sittlich zulässig ist, so kann die sächsische Nation nicht beschuldigt werden, wenn sie nicht müde wird zu hoffen, eö werde ihr wiederholt anerkanntes gutes Recht doch endlich zum

Sieze gelangen und zwar umsomehr, da der Bestand eines sächsischen

MunicipiumS nach dem Zeugniß der Geschichte weder der Krone, noch dem

magyarischen Volke,

oder sonst wie der Wohlfahrt deS StaateS zum

Schaden gereichte, im übrigen ganz auf denselben internationalen Rechts­

grundlagen ruhte, wie der historische ungarische Staat selber. Diese Hoffnung, aufrechterhalten noch durch den 42. Gesetzartikel von

1870 „über die Regelung der Municipien", wo § 88 festsetzt: „über die Regelung des KönigöbodenS verfügt nach Anordnung deö Gesetzartikels XI^III,

1868, § 10 ein besonderes Gesetz" — wurde vernichtet durch den XII. und XXXIII. Gesetzartikel von 1876.

Wie über eine rechtlose Sache schalteten

und beschlossen beide über das Sachsenland und alle seine gesetzlichen Ein­ richtungen.

Der erstere verfügte:

„da die Regulirung eines Theiles

des Landesgebietes aus Verwaltungsrücksichten unvermeidlich geworden ist, wird bezüglich des Königsbodens festgesetzt (wir heben nur Einiges hervor):

§ 1.

„Bei der Regelung der Municipalgebiete, über welche ein be­

sonderes Gesetz verfügen wird, fallt der Königsboden und seine benach­ barten Gebiete unter dieselben Rücksichten.

Nach der GebietSregulirung

hören die, hinsichtlich deS Königsbodens bisher bestandenen Verschieden­

heiten im Kreise der Verwaltung auf", d. h. das wesentlich den Bedürf­ nissen des ungarischen Adels entsprechende ComitatSrecht wird auch auf

das rein bürgerliche Sachscnland ausgedehnt und das Jahrhunderte alte,

durch den Unionsartikel neuerdings gewährleistete Eigenrecht desselben ein­ fach vernichtet.

§ 2.

„DaS sächsische ComeSamt erlischt und dieser Titel geht auf

den Obergespan deS Hermannstädter ComitateS,

als den Vorsitzer der

Generalversammlung der sächsischen Universität über."

DaS Unionsgesetz

hatte das Amt des ComeS aufrcchterhalten. § 3.

„Der Wirkungskreis der sächsischen Universität, als einer aus­

schließlichen Culturbehörde, wird hinsichtlich der Verfügung über daS Uni­

versitätsvermögen, hinsichtlich der Bewerkstelligung deS widmungsgemäßen Gebrauches der, unter ihrer Verwaltung stehenden Stiftungen und hin­ sichtlich der Controlle über jene auch weiterhin aufrecht erhalten."

Nach

§ 11 deS Unionsgesetzes ist der Wirkungskreis der Universität der des XIII. Artikels von 1791. § 4.

„Das Vermögen der sächsischen Universität kann lediglich zu

Culturzwecken verwendet werden"; ein Eingriff in EigenthumSrechte. § 7.

„Ueber daS Vermögen der sächsischen Universität verfügt im

Sinn und innerhalb der Schranken der Stiftungen und mit Aufrechter­

haltung des Aufsichtsrechts der Regierung die , Generalversammlung der sächsischen Universität."

Doch ihre diesbezüglichen Verfügungen werden

Preußische Jahrbücher. Bd XLVUI. Heft r.

12

nur durch die Genehmigung des Ministers rechtskräftig und diese „Ge­

nehmigung" ist bereits Beschlüssen ertheilt worden, die als ein MinoritätSvotum blos zweier (romanischer) Mitglieder gegen die einstimmige

Schlußfassung aller anderen sächsischen dem Minister vorgelegt wurde. DaS heißt: die Regierung verfügt selbst, wenn es ihr gefällt, über sächsi­ sches Nationalvermögen, wie sie ausdrücklich in der Verordnung

vom

14. Juli 1877 ihrem Obergespan in einzelnen Fällen das Verfügungs­

recht darüber und das AnweifüngSrecht an die Caffe über das Budget hinaus zuspricht.

So befiehlt sie, daß dem von ihr ernannten uiib nach

ihrem Belieben jederzeit absetzbaren Hermannstädter Obergespan, der den

„Titel" sächsischer ComeS führt — das „Amt" selbst ist nach dem Gesetz erloschen — und nach § 8 des erwähnten Gesetzes Vorsitzer der Generalversammlung der Universität ist, gegen den Willen und ausdrück­

lichen Beschluß dieser auS jenem Vermögen jährlich 2000 Gulden gegeben

werden müssen und daß er von dem, der sächsischen Nation in Hermann­ stadt gehörigen Hause die nicht zu den Zwecken dieser verwendeten Räume

sammt dem Garten daran für sich und die ihm sonst gefälligen Zwecke

benützen darf.

Beide, der Obergespan als TttularcomeS und die Re­

gierung handeln, wo eS ihnen gefällt, nach der, sonst allerdings uner­

hörten, von ihnen aufgestellten Doctrin, daß eine Sondermeinung, sei es

auch nur von einem oder zwei Mitgliedern, die Rechtswirkung einer Be­ rufung habe, wornach dann der Minister diese Sondermeinung als Be­

schluß der Universität bestätigt. — Die Ergänzung des XII. bildet der XXXIII. Gesetzartikel Jahre 1876 über die GebietSregulirung einiger Municipien.

vom

Das alte

Sachsenland, oder der Königsboden wie sie ihn nennen, wird durch den­

selben in Stücke zerschlagen und mit Stücken von ComttatS- und Seklerboden, mit magyarischen und romänischen Territorien zu neuen Comitaten

zusammengeschlagen,

ohne daß irgend Jemand im Stande wäre mit

zureichenden Gründen der Verwaltungsbedürfnisse, der Rechtspflege, des

wirthschaftltchen und Culturlebens grade diese Arrondtrung zu recht­ fertigen.

Man muß das auf der Karte sehen, oder, noch besser, die

terrestrischen Verhältniffe aus dem Augenschein kennen, um die ganze, ab­

gesehen von allem andern, culturverderbliche und die wirthschaftltche Ent­ wicklung schwer schädigende Ungeheuerlichkeit, dergleichen ohne Uebertrei­ bung, in keinem Lande der Welt existirt, in ihrem ganzen Umfang zu

begreifen.

Welch ein Geist dem sächsischen Recht gegenüber in dem Abgeord­ netenhaus herrschte, wie die ganze Frage nicht vom Standpunkt des Rechts­ staats, der historischen Entwicklung, sondern der ausschließlichen magyart-

scheu Ra?en- und Machttnteressen aufgefaßt wurde, welches Meer von

Hohn sich über die, jenes Recht mannhaft vertheidigenden sächsischen Ab­ geordneten

ergoß, das

lehren die stenographischen Verhandlungen des

Reichstags, die in deutscher Uebersetzung („Die Zertrümmerung des Sieben­

bürger SachsenlandeS".

München.

1876) erschienen sind.

Ackermann.

Wurde ihnen doch der Vorwurf gemacht, daß sie schon unter Ferdinand I. gegen den, die Türken ins Land rufenden Zapolya im Feld gestanden, ja

der Unterstaatssecretär, jetzige Handelsminister Baron Gabriel Kemeny

warf ihnen gradezu inS Gesicht, die sächsische Nation habe ihr Recht ver­

wirkt durch ihre Haltung zu Gunsten deS Einheitsstaates im Jahr 1850,

durch ihre Theinahme am Landtag 1863, durch die Entsendung von Ab­ geordneten in den Wiener Rcichsrath.

Ein einziger Mann, ein einziger,

Freiherr DlonyS Eötvös erhob im MagnatenhauS seine Stimme gegen

die beabsichtigte Vergewaltigung — fruchtlos, wie die Sachsen selbst. Ja, es geschah das Unglaubliche!

Von allen jenen Männern, die

in ihrer Adresse an den Kaiser vom 9. Mai 1857 bezeugt hatten:

„die

Einheit der Monarchie ist der Erwerb von Jahrhunderten, sie ist das Er­

gebniß deS Zusammenwirkens der natürlichen Kräfte der Monarchie"; von allen, die dem Freiherrn Josef EötvöS lauten Beifall zugerufen hatten, als dieser in den (Leipzig.

Wigandt.

„Garantien der

Macht

und

Einheit Oesterreichs"

1859.) jene Einheit definirte und zu den Macht­

habern das ernste Wort sprach:

„für eine Monarchie, welche weder durch

daS Band eines gemeinsamen Volksthums, noch durch feste geographische

Grenzen zusammengefaßt wird, ... ist alles, wodurch daS historische Recht geschwächt, alles, wodurch in Hinsicht der Nationalität JndifferentiSmus erzeugt wird, statt eines Mittels den Staat zu kräftigen, blos ein Element der Auflösung"; von jenen Männern, die auf dem Pester Reichstag 1861 die feierlichsten Versicherungen gegeben hatten, allen Nationalitäten gerecht

zu werden; von allen jenen Männern endlich, die auf dem Klausenburger Landtag 1865 so freigebig mit den Betheurungcn der Unverletzbarkeit des sächsischen Municipiums gewesen waren und 1867 den XIII. Artikel von

1791 aufS neue hätten inarticuliren lassen —:

von Allen erinnerte sich

nach so wenigen Jahren Keiner an sein Wort und seine Pflicht, gedachte

Keiner, daß mit dem sächsischen Recht auch das seine hinfällig werde, so­ bald nur der Wille und die Gewalt dazu vorhanden ist!

So wurde denn daS

Sachsenland, daS

148 Quadratmeilen mit

381,500 Seelen umfaßte, im Wesentlichen in die vier Comitate Hermann­

stadt, Großkokeln, Kronstadt und Bistritz zerstückt, zusammen 217 Quadrat­

meilen mit 586,000 Seelen. Das magyarische Element betrug im Sachsen­

land 6,69°/,; eS wird auch in den neuen Comitaten bisher nicht viel

12*

höher sein; der Zuwachs besteht in der Mehrzahl aus Nomänen.

Sofort

hatte es denn mit der alten sächsischen Verwaltung, die, wenngleich nicht

ohne Mängel, doch allgemein als die beste im Land anerkannt war,

Das ganze Elend der „KomitatSwirthschaft", die das

ein jähes Ende.

geflügelte Wort des Barons Senyey als „asiatische Zustände" geißelt, und die seither im Reichstag, in der Presse, im Lande fortwährend nur ein Wort der Berurtheilung erfahren, brach nun auch hier über Land

und Leute herein.

Fachstudien sind nur für den Obernotar, den Präses

der Waisencommission, den Fiskal erforderlich, für die anderen Stellen,

selbst für den ersten Komitatsbeamten, den Vicegespan, nicht; das that­ sächlich von dem Obergespan ausgeübte ausschließliche Candidationsrecht macht die Wahlen zu leerem Schein. Die Jnnerverwaltung der Komitats­

ämter in Protokoll- und BerathungSsprache ist nur magyarisch, die Ver­ waltung nach unten fast ausschließlich ebenso; die Grundbuchämter amtiren

magyarisch, wiewohl mehr als neun Zehntel der Grundbesitzer die Sprache nicht verstehen.

ausgestellt.

Selbst die Dienstbotenbücher werden nur in diesem Idiom

Die Mehrzahl der Beamten gehört nicht der Nationalität

der Bevölkerung an, steht ihr kalt und fremd gegenüber und wird dlirch

die Kluft der Sprache und anderer Lcbensanschauung weit von ihr ge­

trennt.

An jeder Gemeindcstube jedes sächsischen Dorfes sind Verord­

nungen angeschlagen, deren Sprache dort kaum ein Mensch versteht und die dennoch — befolgt werden sollen.

Und das Alles geschieht zu einer Zeit, da die orientalische Frage das Unhaltbare solcher Verhältnisse doch ernst genug zeigt, geschieht, nachdem

die Conferenz in Konstantinopel die ganz gleichen Uebelstände, die auf der gedrückten Rajah lasteten, 1876 beseitigt hat.

Beschloß sie doch unter der

Mitwirkung und Zustimmung der österreichisch-ungarischen Conferenzmit-

glieder, des Botschafters Grafen Zichy und des Barons Calien — die auswärtigen Angelegenheiten werden

aber nach dem XII. Gesetzartikel

von 1867 im Einverständniß mit dem ungarischen Ministerium und mit dessen Zustimmung geleitet — daß in Bosnien und Bulgarien in Gericht

und Verwaltung die Landessprache gleichberechtigt sein solle mit der türki­ schen. (Vgl. Documents diplomatiques. Affaires d’orient.

Appendice S. 50, 55.)

Paris 1877.

Doch in Siebenbürgen wird das uralte Recht

der sächsischen Nation, daß in ihrer Mitte Verwaltung und Rechtspflege

deutsch sei, aufgehoben.

Ist das Deutsche im ungarischen Reich schlechter

und weniger werth, als das Bosnische und Bulgarische im türkischen?

Ob solche Zustände mit der Landeswohlfahrt vereinbar sind, ob sie

den Forderungen des Rechtsstaats entsprechen, ob daS eine Politik im Geiste Deak'S ist, der am 23. Januar 1872 im Abgeordnetenhaus sprach:

„Wenn wir die Nationalitäten gewinnen wollen, müssen wir das nicht so anstellen, daß wir sie um jeden Preis magyartsiren, sondern daß wir ihnen die ungarischen Verhältnisse lieb machen —" daS

mag der verständige und billig denkende Mann selbst beurtheilen.

So ist die sächsische Nation, vor kurzem die dritte ständische Nation in Siebenbürgen, die in ihrem Munictpalleben und den dasselbe, reprä-

sentirenden Verwaltungskreisen durchweg deutsch war, entgegen dem Funda­ mentalvertrag — der Union zwischen Siebenbürgen und Ungarn — durch

eine, diesen Vertrag und ihre eigenen früheren Zusicherungen nicht achtende Gesetzgebung Schritt vor Schritt von dem Boden ihres deutschen Parti-

cularrechteS abgedrängt worden, bis aus dem deutschen Landstand und den deutschen Municipien eine atomistische Anzahl deutschredender Individuen

wurde, denen die magyarische Presse,

nachdem allerdings die deutsche

Sprache am Herdfeuer des HauseS noch, nicht verboten ist, den Gebrauch derselben und die Beibehaltung der deutschen Namen als staatsfeindlich vorzuwerfen nicht müde wird.

Auch die Zahl der Vertreter, die das Sachfenkand ehemals in daS

Abgeordnetenhaus entsandte, ist durch den X. Gesetzartikel von 1877 von 22 auf 15 herabgesetzt, und die Wahl deutscher Männer durch die neue

Grupptrung der Wahlkreise überdieß wesentlich erschwert worden.

Wie

auch hier einseitig nationale, nicht wirkliche StaatSinterefsen obgewaltet,

daS

beweist,

daß dasselbe Gesetz dem Bistritz-Naßoder Komitat (mit

212,000 Seelen) zwei Abgeordnete zuerkennt, dagegen dem benachbarten

Solnok-Dobokaer (auch mit 212,000 Seelen) fünf und außerdem den,

in demselben liegenden Orten Samosch-Ujvar (5100 Einwohner) und Szek (3500 Einwohner) je einen Abgeordneten, dagegen der sächsischen Stadt Bistritz (7200 Einwohner) keinen.

So entsendet nach demselben Gesetze

der Großkokler Komitat, der die alten Stühle Reps, Schenk, Schäßburg, Mediasch umfaßt, welche acht Deputirte ins Abgeordnetenhaus entsandten,

fortan nur vier, der Haromßeker Komitat — ehemaliges Seklerland —

gleichfalls viere,

außerdem aber die in seiner Mitte gelegenen Land-

städtchen Beretzk (4400 Einwohner), KeSdi-Vasarhelh (4500 Einwohner), Sepsi-S.-György (4300 Einwohner) je einen, während

die

sächsischen

Städte Schäßburg (8200 Einwohner) und Mediasch (4600 Einwohner)

die in der letzten Zeit eigene Wahlkreise gebildet hatten, dieses Recht ver­ loren haben.

Und doch zählt der

Großkokeler Komitat 146,000, der

Haromßeker nur 124,000 Einwohner.

Wo bleibt da die vielgepriesene

„Gleichberechtigung" ?

So sind denn die Municipien des freien „Königsbodens", die sächsi­

schen Stühle und Districte, und ihr Gesammtmunicipium, die „sächsische

Nation"

und „die sächsische NattonSuniversität",

Schöpfungen worden.

die großen politischen

der größten ungarischen Könige in Trümmer geschlagen

Die deutsche Nation in Siebenbürgen, hier so gut berechtigt

wie die ungarische, in ihrer nationalen Bildung und Eigenart nie ein Hinderniß der Landeswohlfahrt, wurde depossedirt, widerrechtlich aus dem

Recht gesetzt, ihr nationales Leben auch auf dem Gebiet der municipalen und

staatlichen Organisationen zur Geltung zu bringen.

Was würde

Schlözer dazu sagen, der im Jahre 1797 schrieb sKritische Sammlungen Göttingen 1797]:

zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen.

„Wenn

Franz II. an dem, Gott gäbe, späten Abend seines, für die Ruhe des Welttheils theuern Lebens mit seinen deutschen Altgästen trans silvas etwa um das Jahr 1850 ihr siebentes Jubiläum feiert: wie schmerzend

würde es für ihn sein, wenn er an ihnen nicht mehr suum genus, wie

sein kaiserlicher Ahnherr Rudolf (4. Nov. 1600) erkennen könnte, sondern

ein walachisirteS,

altmagharisirtes,

slovakisirtes

Bolksgemengsel fände,

wenn er daS herrliche Monument, das seine großen Vorfahren auf dem ungarischen Thron ihrer Weisheit, ihrer Sorge für ihrer Völker Glück

und der Menschheit selbst am Ende der

europäischen Cultur für die

Ewigkeit errichtet und so lange unterhalten haben, in Ruinen fallen sähe; wenn ihn dieser Anblick in seinem treuen und geliebten Siebenbürgen an Spanien- Schicksal erinnerte, wo das Ende der rührigen Mauren und

Maranen der Anfang des Verfalls eines vorhin blühenden Königreichs

wurde?"

Und das wird das Ergebniß des gegenwärtigen, kein anderes Recht achtenden magyarischen Chauvinismus und

seines,

insbesondere alles

Deutsche mit Zerstörung verfolgenden Fanatismus sein, unter dem Nie­

mand mehr leidet als die sächsische Nation in Siebenbürgen.

Kein Staat,

der sich dauernd auf solche Grundlagen stellt, kann gedeihen. Wir können damit vor der Hand schließen.

Der denkende Leser wird

nun von selbst beurtheilen, was von der verblüffenden Behauptung der

„Ungarischen Revue" zu halten sei: die Siebenbürger Sachsen würden nich-t bedrückt, und:

sie seien in ihrer nationalen Eigenart, in ihrer

historischen Entwicklung völlig unangetastet geblieben.

Damit wird

wohl auch daS in die richtigen Grenzen zurückgeführt sein, was Herr

Dr. Schwicker — den wir übrigens ja nicht auf die gleiche Linie mit dem Artikelschreiber der „Revue" zu stellen bitten — im zweiten Heft des laufenden Jahrgangs von „Unsere Zeit" über „Die nationale Stellung

der Siebenbürger Sachsen" zweifellos wohlwollend, doch nicht in Allem

gut unterrichtet, oder nicht

überall das

Richtige voraussetzend, sagt.

Erkennt er doch an, daß den Sachsen gegenüber „auf Seiten der Re-

gierung ein nationalistischer Chauvinismus übermäßigen Raum gewonnen",

daß der „Gegner der Sachsen" (Regierung und Reichstag) „sich zu Ge­ waltmaßregeln Hinreißen ließ,

welche im Interesse

der Wohlfahrt des

sächsischen Volkes, wie in dem des ganzen Landes auftichtig beklagt werden müssen".

Daß die sächsische Nation irgendwie vom Wege deS Rechtes

und des Gesetzes — und darauf kommt es doch zunächst an — abge­ wichen, wird nicht behauptet; wo man es zunächst am „Entgegenkommen", am „Wohlwollen", am „Vertrauen" habe fehlen lassen, darauf gibt Ant­

wort die dem Minister am 8. März 1867 über daS Sachsenland ertheilte „freie Hand", und der Gebrauch, den die Regierung hievon machte, so

namentlich die Entfernung deS gesetzlichen ComeS im Februar 1868, ins­

besondre, wenn man weiß, auf wessen Einfluß und zu wessen Gunsten das Alles geschah.

gung ist.

Wer aber mit Herrn Schwicker gleich unS der Ueberzeu­

„Das Deutschthum stammt in Ungarn nicht von gestern und

heute; eS ist so alt, ja älter, als das ungarische Königreich selbst, in

welchem eS nun eine mehr als achthundertjährige bedeutsame und folgen­ reiche Rolle spielt.

Dasselbe verdrängen, oder gar

auSmerzen wollen

wäre in politischer und cultureller Hinsicht ein herostratischeS Be­

ginnen": der wird nicht umhin können, mitzuhelfen, daß an der sächsi­ schen Nation daS ihr im Namen des ungarischen Staates zugefügte schwere Unrecht möglichst bald wieder gut gemacht werde.

Es mangelt heute der Raum, um darzulegen, wie außer der Zer­

störung der politischen Organisation derselbe Geist auch die gerichtliche Verfassung der Sachsen allmälig vernichtet und damit wieder ebenso wohl neue Mächte der Magyarisirung als schwere Hindernisse der gemeinen

Wohlfahrt über daS unglückliche Land und Volk loSgelaffen hat; wie selbst fünfhundertjähriges Privateigenthum der sächsischen Nation im Urbartal­

gesetz von 1871 dem ordentlichen Richter entzogen und legislativer Ent­ scheidung vorbehalten wurde, die zu großer Schädigung jenes heute noch

immer droht; welch ein gefährlicher, die deutsche Cultur bedrohender Feind dieser im XVIII. Gesetzartikel von 1879 erstanden ist, der jeder deutschen

Volksschule, auch der einklassigen, die magyarische Sprache als obligaten Lehrgegenstand aufzwingt, auf Kosten anderer weit nothwendigerer, selbst in Gegenden, wo auf Meilen weit kein magyarisches Wort gehört wird;

wie derselbe Feind die Magyarisirung der Mittelschule durchführen und den

Zusammenhang der sächsischen Nation mit der deutschen Wisienschaft durch Verhinderung des Besuchs deutscher Universitäten tödtlich treffen will; wie

endlich unter diesem fanatischen Geiste deS magyarischen Chauvinismus,

der es zu rettenden Gedanken,

die dem

allgemeinen Wohl dienen

wollen, gar nicht kommen läßt, das wirthschaftliche Leben insbesondere des

Die Unterdrückung der Deutschen in Siebenbürgen.

170

sächsischen Volkes von Tag zu Tag tiefer getroffen wird, so daß es nahe jener Todesgrenze ist, an der es einst Oesterreich antraf, als dieses das Land von den Türken befreite.

Zum Schluffe nur noch Eines:

„Unsere Zeit" gibt in ehrenhafter

Weise zu, daß „in einem Theil der magyarischen Presse und Gesellschaft eine Anfeindung deS Deutschthums abermals Mode geworden ist".

fügt sie hinzu:

Doch

„die anständige Presse hat an diesen oft knabenhaften,

stets aber muthwilligen und ungerechten Angriffen keinen Antheil;

na­

mentlich muß das eigentliche magyarische Volk gegen den Vorwurf des unduldsamen Chauvinismus in Schutz genommen werden".

Hiegegen ist

zu erinnern, daß „die Bedrückung der Sachsen" doch im Parlament und in der Regierung ihren Sitz hat; daß in keinem Theil der magyarischen

Presse, ob sie auf der Seite der Regierung oder einer der oppositionellen Parteien steht, der Sachsen gutes Recht je Schutz, die leidenschaftlich­ höhnischen Angriffe auf dasselbe je Zurechtweisung gefunden haben; daß endlich die Mißhandlung des deutschen Wesens unter vollständigem Still­

schweigen der „magyarischen Presse und Gesellschaft" gegenüber

solcher

Unbill selbst in Kreisen betrieben wird, die gradezu an der Spitze der „Gesellschaft" stehen.

So schreibt Graf Alexander Teleki, Mitglied der Magnaten­ tafel, in dem zu Klausenburg erscheinenden, regierungsfreundlichen Magyar

Polgar in Nr. 15 vom 20. Januar 1881 wörtlich Folgendes:

„Einen

Feind haben wir, einen Feind, wie es der Hagel der Saat ist, wie der Reif der Melone, der Gurke, dem Kürbisblatt, die Katze der Maus, der

Geier der Taube, die Krätze der Haut, der Grind dem Kopfe, — unser Tyrann, unser Ausbeuter und unser Verwüster, der für uns zugleich Laus,

Wanze und Phyloxera ist; und dieser unser Feind ist der .. . Deutsche!"

Gewiß, man muß um Entschuldigung bitten, solche rohe, unflätige Worte der deutschen Leserwelt vorzulegen, aber es ist um der Wahrheit willen,

und illustrirt in erster Reihe das Geschick auch der Sachsen.

Welch ein

Umschwung der Dinge der Zeit gegenüber, da die Stände der drei Na­

tionen in Siebenbürgen,

also auch die Ungarn und Sekler, die Be­

stimmung des Leopoldintschen Diploms im 17. Artikel dankbar entgegen­

nahmen, daß der commandirende General in Siebenbürgen immer — ein Deutscher (caput germanum) sein solle!

Ein Werk aus Kampfeszeit. Eines der letzten Gesetze auS der Aktionsperiode des sogenannten

Kulturkampfes ist das vom 20. Juni 1875 mit dem Titel „über die Ber-

mSgenSverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden".

Dasselbe greift

tief in daS kirchliche Leben der preußischen Katholiken ein, eS wird, mäßig gerechnet, von 50—60000 Staatsbürgern als kirchlichen Ehrenbeamten

fortwährend angewendet und gelangt doch, merkwürdig genug, äußerst selten

zu einer Besprechung in den öffentlichen Blättern; da liegt eS wohl nahe

in Anwendung des Schillerschen Kriteriums für die beste Frau und das beste Staatswesen dieses Gesetz unter die gelungeneren Akte der Legis­ latur zu zählen.

Einheitliche Normen zu geben für Berhältntsse, welche

in langen Jahren sich ganz verschieden entwickelt haben, ist immer schwierig, höchst gewagt aber, wenn eS in Zeiten eines schweren Konflikts geschieht;

und doch läßt sich nach fünfjähriger, unter den mißlichsten Umständen be­

gonnener

Wirksamkeit

dieses

Gesetzes

sagen:

DaS

Unternehmen

ist

geglückt. Man vergegenwärtige sich die Aufgabe, welche im Frühjahr 1875

unter der leidenschaftlichen Aufregung aller Parteien zu lösen war.

Die

verschiedenartige Gestaltung der kirchlichen Vermögensverwaltung in den verschiedenen Landestheilen war entschieden vom Uebel, daS Allgemeine

Landrecht, welches im größten Theile der Monarchie galt, paßte überhaupt

nicht mehr

für die

jetzigen komplizirten Verhältniffe und die anderen

Rechte, an der Spitze daS linksrheinische, waren nicht geeignet eS zu er­ setzen.

ES galt eine Form für die Verwaltung des katholischen Kirchen-

vermögenS zu finden, welche in ganz Preußen durchgesührt werden konnte,

den Gemeinden die erwünschte freie Bewegung gab und die nothwendige Aufsicht deS StaatS und der kirchlichen Oberen bestehen ließ.

Die neue

Form durfte nicht prinzipiell bedenklich, nicht so gewählt sein, daß die

Bischöfe mit mehr oder weniger Recht ihre Mitwirkung hätten ablehnen können, und doch lag es in der Natur der Sache, daß die neuen Ein­

richtungen in vielen Punkten von den alten abweichen, Staunen erregen

und eine wenig wohlwollende Kritik herausfordern mußten.

DaS Gesetz

war, wie Mintsterial-Dlrektor Förster mit Recht im Abgeordnetenhause sagte, kein Kampfgesetz, aber eS wurde doch von Vielen als solches aufgefaßt und stand im Widerspruch mit den bisherigen Anschauungen, denn eS führte moderne, wir können fast sagen, konstitutionelle Einrichtungen in

die Kirche ein, welche zwar den Parlamentarismus für ihre Zwecke zu

gebrauchen versteht,

in ihren eigenen Angelegenheiten aber als etwas

Fremdes, Antipathisches betrachtet.

In der That waren auch die Bischöfe

Preußens anfangs durchaus nicht geneigt daö Gesetz „anzuerkennen", wie man sich in naiver Ueberhebung auf ultramontaner Seite auszudrücken

beliebt, und nur die Erkenntniß, daß das Gesetz dann ohne sie durchge­ führt werden, ihr Einfluß auf den nervus rerum also gänzlich verloren

gehen würde, vermochte die geistlichen Oberen schließlich dazu ihre Mit­ wirkung bei der Ausführung nicht zu versagen

Politisch klug war dieser

Entschluß jedenfalls, denn die Opposition auch auf diesem Gebiete würde daS katholische Volk, namentlich daS Landvolk, das in Eigenthumsfragen

bekanntlich keinen Spaß versteht, der Hierarchie rasch entfremdet haben.

Wenn auch die bisherigen gesetzlichen Verwaltungsnormen, die ge­ setzlichen Rechte der Aufsicht und der Zustimmung der bischöflichen Be­

hörde zu gewissen Handlungen nicht geändert werden sollten, so lag doch in der ganzen Organisation eine gewaltige Veränderung.

Nicht mehr,

wie bisher großentheils, durch Ernennung oder Kooptation sollten die

Verwalter des kirchlichen Vermögens bestellt werden, sondern durch direkte, demokratische Wahl der Gemeinde ohne höhere Bestätigung.

Nach freiem

Ermessen dürfen die neugeschaffenen Organe sich versammeln*), zu ge­ richtlichen Klagen ist die Ermächtigung der Aufsichtsbehörde nicht mehr

erforderlich.

Sache der Kirchenvorstände ist

eS einem Mitgliede die

Kaflenführung zu übertragen oder einen besonderen Rendanten anzustellen, daS Archiv mit den Geldern und Werthpapieren auf eigene Verantwortung, aber auch nach eigenem Ermessen, unterzubringen; Umlagen auf die Ge­

meindeglieder bedürfen zwar der höheren Genehmigung, welche aus wirthschaftlichen

Gründen

oder wegen ihres

gesetzwidrigen Zweckes versagt

werden kann, aber schon seit Jahren steht fest, daß die Versagung der Genehmigung für eine Umlage deßhalb, weil einem Geistlichen das in Folge deS sogenannten SperrgesetzeS entzogene StaatSgehalt daraus ersetzt

werden soll, nicht erfolgen darf.

Anderer Befreiungen nicht zu gedenken

ist die Verwaltung nach dem ganzen Geist des Gesetzes derart in die *) DaS französische Kirchenfabrikdekret vom 30. Dezember 1809 flir die linke Rhein­ seite hat die seltsame Bestimmung, daß die Kirchenvorstände zu außergewöhnlichen Sitzungen die bischöfliche Ermächtigung bedürfen.

Hände der Gemeinde-Organe gelegt, daß die Aufsichtsbehörden wohl noch

UebleS hindern können, selbstständig Handlungen anzuordnen aber nur

in wenigen Ausnahmefällen befugt sind.

Vornehmlich ist dieß der Fall,

wenn die Gemeinde-Organe sich weigern nothwendige Ausgaben zu leisten, dagegen kann ein Zwang für blos nützliche oder zweckmäßige Aufwendungen

nicht stattfinden, auch darf eine solche Anordnung ebenso wie die zur An­

strengung einer Klage nur von der bischöflichen und staatlichen Aufsichts­ behörde im gegenseitigen Einvernehmen getroffen werden.

Die Staatsaufsicht endlich ist keine allgemeine, sondern auf ganz be­ stimmte Punkte beschränkt.

Nun kann man wohl fragen, ob so erhebliche Befreiungen zweckmäßig

waren; die Antwort hierauf wird sich aus der Beobachtung der Wirkung deS Gesetzes ergeben, jedenfalls aber war der Schritt ein nothwendiger.

Bei dem Umfange, den die kirchliche Vermögensverwaltung in sehr vielen

Gemeinden mit der Zeit erlangt hat, konnte unabhängigen, ernsten Diännern nicht länger zugemuthet werden sich mit der mühe- und verantwortungs­

vollen Thätigkeit eines Verwalters fremden Vermögens ohne Besoldung

zu belasten, wenn ihnen nicht die entsprechende Selbstständigkeit gewährt wurde.

Durchschlagend ist aber, daß die Aufsicht nach dem alten Style

ohne rin Heer bureaukratischer Beamten an den Centralstellen nicht mehr gehandhabt werden konnte, daß bei den alten Ressortverhältnissen die Ge­

fahr eines schroffen, autokratischen Hineinregierens in die Gemeinden oder

eines ebenso schädlichen GehenlassenS, einer Scheinaufsicht, ungemein nahe lag; die entweder ungenügende oder unnöthige, also nachtheilige Kontrolle der Oberbehörden mußte daher durch andere Einrichtungen ersetzt werden.

Die

neue Organisation war nicht nur offenbar auf solche Erwä­

gungen gegründet, sie beruhte auch auf dem der möglichst freien Selbst­ verwaltung zugewandten Zuge der Zeit; nicht zwar in dem unS wenig

sympathischen Sinne, welcher womöglich überall debattirende Versamm­

lungen mit zungenfertigen Fraktionsführern konstitutren möchte, sondern sie basirt vielmehr auf dem liberalen und dabei echt konservativen Grund­ sätze die Interessenten selbst zu der nach Möglichkeit selbstständigen Ver­

waltung ihrer Angelegenheiten zu berufen und ihnen mit dem Gefühl der

Selbstständigkeit auch das erforderliche Pflichtgefühl zu sichern, indem ihnen die Verantwortlichkeit für ihre Handlungen, die Nothwendigkeit dieselben

zu vertreten, unmittelbar vor Augen gestellt wird.

Diese» Ziel konnte

nur errercht werden, indem einerseits der Gemeinde die freie Wahl ihrer Vertreter gegeben wurde, andererseits aber die Gemeinde selbst in größerem

Umfange als vordem an der gesammten Verwaltung thätigen Antheil er­ hielt; die ß letztere geschieht — abgesehen von der größeren Mitgliederzahl

des die Verwaltungsgeschäfte führenden „Kirchenvorstandes" — vorzugs­ weise durch die „Gemeindevertretung", welche (dreimal so stark als der Kirchenvorstand)

bet den wichtigsten Akten sowohl der laufenden

Ver­

waltung (Etats, Rechnungswesen) als auch in außerordentlichen Fällen kontrolltrend mitwirkt, indem sie ihre Zustimmung zu den Beschlüssen deö

Kirchenvorstandes ertheilt oder versagt, aber — eine weise Beschränkung — selbst keine Ausführungbefugnisse besitzt.

ES war ein glücklicher Griff deS Gesetzgebers die größere Bethei­ ligung der Gemeinde nicht durch bloße Verstärkung des eigentlichen Ver­ waltungsorgans, des Kirchenvorstandes, sondern durch das eben genannte

Kontrollorgan herbeizuführen;

ein

stärkeres Hinaufschrauben

der Mit­

gliederzahl deS Kirchenvorstandes würde dieses Kollegium mit einer Zahl unnöthiger, sich selbst als unnöthig fühlender Männer, welche sich bald

daran gewöhnten sich führen zu lassen oder in den Sitzungen durch ihre

Abwesenheit zu glänzen, belastet haben, während zu erwarten war, daß die weniger beschäftigte, kontrollirende Versammlung der Gemeindevertreter

geneigt sein würde einen nützlichen Wissensdurst zu zeigen.

Immerhin

war die Konstruirung zweier neben einander bestehenden Kollegien ein

Wagniß.

Eine ähnliche Einrichtung findet sich in dem Magistrat und

der Stadtverordnetensammlung der Städte in den alten Provinzen, neu

aber war sie für Kirchengemeinden, namentlich für ländliche; das Ver­

hältniß des Kirchenraths zu der Kirchmetsterstube auf der linken Rhein­ seite war ein ganz anderes, die nur in ganz besonderen Ausnahmefällen

berufenen landrechtlichen „Repräsentanten" können mit der jetzigen Ge­ meindevertretung gar nicht verglichen werden.

Nun war es wohl fraglich,

wie in der Praxis die Dinge gehen würden, zumal in den ländlichen Ge­ meinden mit einer, gelinde gesagt,

völkerung.

parlamentarisch ungeschulten

Be­

Besonders nahe lag die Gefahr, daß zwischen beiden Kollegien

unausgesetzte Konflikte entstehen würden, namentlich daß die Verwaltung

durch Zänkereien, durch Hemmungen Seitens der Gemeindevertretung ge­

lähmt werden würde oder daß diese, nachdem sie, vielleicht in Folge unge­ schickter Führung, des Kampfes müde geworden, sich auf unbedingtes Ja­ sagen verlegte.

Nun läßt sich nach fünfjähriger Anwendung deö Gesetzes

einigermaßen übersehen, wie die Dinge sich gestaltet haben.

Richtig ist,

daß ab und zu lebhafte Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Körper­ schaften stattfinden und die Aufsichtsbehörden mitunter in die Lage kommen

den fehlenden Willen deS einen Organs durch ihre Entscheidung zu er­

setzen.

Aber äußerst selten tritt der Fall ein, daß, wo die Aufsichtsbe­

hörden nicht kompetent sind einzuschreiten,

konstatiren wäre.

ein wirklicher Uebelstand zu

Dagegen kann ein unbefangener Beobachter nicht ver-

kennen, daß die weniger wichtigen Reibungen, die ja ohnedteß unter den Bewohnern kleinerer Ortschaften häufig

sind, ein belebendes Element

bilden, welches im Augenblick dem Einzelnen ärgerlich ist und die Ober­

behörde mit mancher lästigen Arbeit behelligen kann, aber die Theilnahme der Gemeinde an der Verwaltung rege erhält.

Sache der Oberbehörde

ist eS in solchen Fällen, auch wenn der Fall einer durchgreifenden Ent­ scheidung nicht gegeben ist, durch ihren Einfluß die Unebenheiten zu be­

seitigen, Mißverständnisse aufzuklären, nicht einschläfernd, aber begütigend zu wirken; mehrfach werden solche Bemühungen mißlingen, wir glauben aber in der Annahme nicht zu irren, daß sie im Großen und Ganzen mit

Glück angestellt werden.

Nicht ausgeschlossen ist ferner, daß Trägheit sich

einschleicht, aber ungemein selten müssen die Träger kirchlicher Ehrenämter an ihre Pflicht zum Besuch der Sitzungen erinnert werden.

Unbequem

ist vielfach für den Kirchenvorstand wie für die Aufsichtsbehörde, daß für manche Geschäfte die Gemeindevertretung

mit ihren relativ zahlreichen

Mitgliedern, welche immer schriftlich einzuladen sind, berufen werden muß,

namentlich in Gemeinden mit zerstreuter Lage z. B. im Gebirge;

auch

fehlt eS mitunter an der nöthigen Zahl geschäftskundiger Männer.

In­

dessen ist hier daS Mittel der Abhülfe gegeben, indem, wo das Bedürfniß

wirklich vorliegt, die Zahl der Gemeindevertreter mit Genehmigung des

Ober-Präsidenten herabgesetzt werden kann, die Geschäftskunde bildet sich

mit der Beschäftigung und sichtlich wächst die Routine der Vorsitzenden

die Sitzungen zur geeigneten Zeit anzuberaumen, die Berathungsgegenstände rechtzeitig

auf die Tagesordnung zu bringen.

Wenn nicht ge­

leugnet werden kann, daß das Verständniß für rechnungsmäßige Ver­ waltung, für die ganz vorsichtige, auf Gesetzeskenntniß und wissenschaftlicher Ausbildung beruhende

Sorgfalt

zur Verhütung

jedes Nachtheils

bei

manchen Geschäften z. B. Kapital-Ausleihungen, Bauten und dergleichen, welches der Aufsichtsbehörde beiwohnen muß, den Gemeinde-Organen —

namentlich auf dem platten Lande — mehr oder weniger mangelt, so be­ sitzen diese dafür die erforderliche Lokal- und Personalkenntniß und nicht

selten eine ganz unschätzbare Erfahrung; daher wird man z. B. von der

Gemeindevertretung eine vollständige, zuverlässige Prüfung der JahreSrechnung nicht leicht erwarten können, wohl aber, sofern nicht persönliche Zu- und Abneigungen sich einmischen, häufig ganz verständige, auf per­

sönliche Kenntniß der Dinge gegründete Bemerkungen finden.

So wird

die Kontrolle der Aufsichtsbehörde in wirksamster Weise ergänzt und schon

das Bewußtsein, daß der Nachbar Vieles weiß, was der Centralstelle ver­ borgen bleiben kann, und daß er aus seinem Amte veranlaßt ist von

diesem seinem Wissen Gebrauch zu machen, ist ein werthvoller Schutz

gegen allerhand Unregelmäßigkeiten.

In der That, die Befreiung von

manchen Schwanken, die stärkere Heranziehung der Gemeinde hat sich be­

währt.

Mit über Erwarten richtigem Blicke haben die verschiedenen Or­

gane ihre Aufgabe und Stellung erfaßt und sich rasch in die neuen Vor­

schriften gefunden. Pfarrhäuser werden

Reges Leben herrscht in der Verwaltung, Kirchen und gebaut,

reparirt,

verschönert,

Fonds für künftige

Bauten, soweit es möglich ist, angesammelt, der Vermögensstand wird verbessert, zahlreiche Stiftungen werden errichtet und mit Befriedigung sehen die Oberbehörden, mit welch' freudigem, warmem Interesse die Ge­

meinden ihrer Angelegenheiten sich annehmen.

Triumphirend verkündeten die Redner und Blätter der CentrumSpariei nach den ersten Wahlen 1875, das katholische Volk habe durch

seine im ultramontanen Sinne ausgefallenen Wahlen sich unzweideutig

auf die Seite der Hierarchie oder, vielleicht richtiger gesagt, der Centrums­ fraktion im Land- und Reichstage gestellt. Mag damals noch nach der politischen Parteirichtung gefragt worden sein, bei den Ersatzwahlen 1878

war dieß jedenfalls nur in viel geringerem Maße der Fall, vielfach aber

sind

ohne

Beachtung der kirchenpolitischen Meinungen an Stelle

un­

geeigneter Männer tüchtigere gewählt worden.

Auf ultramontaner Seite glaubte man den Pfarrer durch die Be­ stimmungen des Gesetzes absichtlich zurückgedrängt, der Macht beraubt, welche seiner Stellung gebührt. wiesen.

Die Erfahrung hat das Gegentheil er­

Wohl emanzipiren die Gemeinden sich nach und nach, mitunter

sogar recht rasch, von der unberechtigten geistlichen Gewalt, sie legen sich auch die Frage vor, ob der die Seelsorge ausübende Geistliche — na­ mentlich ein heißgespornter Kaplan bei vakanter Pfarrstelle — zu dieser

oder jener Maßnahme befugt ist, ob dieselbe nicht vielleicht dem Kirchen­

vorstande zukommt, aber verständige Priester,

wahre Hirten ihrer Ge­

meinde, üben immer noch den vollen Einfluß aus, der ihnen nach ihrem Amte, ihrer Bildung und Intelligenz zukommt, während andere allerdings

zu der Erkenntniß gelangen müssen, daß der allzu straff gespannte Bogen bricht. Ausnahmen einer unberechtigten politischen Gegnerschaft sind äußerst selten, sie würden noch seltener sein, wenn der Klerus nicht in der zucht­

losen ultramontanen Presse,

in den strebsamen Hetzkaplänen sich seine

Geißeln selbst geschaffen und groß gezogen hätte.

Das Gesetz ist nicht vollkommen, jedem irdischen Dinge haften ja Mängel an.

Aber mit voller Sicherheit kann als Ergebniß hingestellt

werden, daß der eingeschlagene Weg im Großen und Ganzen zu einem

glücklichen Resultate geführt hat; da braucht auch nicht verschwiegen zu

werden, daß Unbehülflichkeiten und Mißverständnisse, namentlich Ungeschick

Ein Werk aus KampfeSzeit.

177

In den unerläßlichen Förmlichkeiten, noch mannigfach Hemmnisse bereiten; ist es doch höher gebildeten Staatsbeamten nicht leicht sich in ein ganz neues Organisationsgesetz cinzuleben, wie viel Mühe und guter Wille ge­

hört bet Bauern und Kleinbürgern dazu ein solches Gesetz richtig durch­

zuführen!

Sache der Aufsichtsbehörden ist eS den Gemeinde-Organen den

besten Weg zu weisen, ihnen zu rathen und über die Schwierigkeiten der Form hinwegzuhelfen; daß das geschieht, ist an den Resultaten zu sehen.

Auf diesem kirchlichen Gebiete arbeiten Behörden und Bürger trotz des Grollens der Fanatiker einträchtig zusammen, auf dem von den Kämpfen

des Kirchenkonflikts durchwühlten Boden ist ein Friedenswerk in eminentem Sinne erwachsen.

Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-

Verstaatlichung*). Von

Fritz Kalle.

Als vor zwei Jahren die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetcnhause

stattfanden, stand allerorts die Eisenbahnverstaatlichungsfrage im Vorder­ gründe der Erörterung.

In privaten Kreisen wie in den politischen und

wirthschastlichen Vereinigungen wurde sie auf das lebhafteste besprochen

und wahrlich mit Recht, denn noch nie hatte ein Staat eine finanz- und wirthschaftSpolitische Operation von solcher Tragweite unternommen. Die

Preußische Staatsschuld sollte um Milliarden vermehrt, das das wirlhschaftliche Leben der Nation so tief beeinflussende Eisenbahnwesen sollte der Herrschaft der freien Konkurrenz entzogen und dafür durch staatliche Fürsorge geregelt werden.

DaS politische Moment, das in der mit der

Eisenbahnverstaatlichung verknüpften Machtcrweiterung der Regierungs­ gewalt, durch Vermehrung der vom Staate besoldeten Personen und durch

den verstärkten Einfluß ihrer Verwaltungsorgane lag, trat gegenüber jenen beiden Punkten beinahe in den Hintergrund. Unser früheres Eisenbahnwesen hatte unleugbar seine Schattenseiten,

und das durch die wirthschaftliche Krisis der letzten Jahre enlmuthigte Publikum, wurde durch die Hoffnung auf energische Förderung seiner ma­

teriellen Interessen für die Idee der Verstaatlichung gewonnen. Die Privbteisenbahnen, mitleidend unter dem allgemeinen wirthschastlichen Rückgang und dem Druck der Konkurrenz der Staatsbahnen und in der beständigen

Furcht,

durch einen noch stärkeren Druck der Staatsverwaltung ihre

Existenzfähigkeit zu verlieren, drängten selbst zum Verkaufe an den Staat.

Diese Strömung konnte und durfte der praktische Politiker nicht tgnoriren, *) Die Redaction stellt hiermit die wichtige Frage zur DiScusflon, ohne sich alle An­ sichten des Hrn. Derf. anzueignen. D. R.

sein Bestreben konnte, nachdem sie einmal eine solch überwältigende ge­ worden, lediglich dahin gehen, Garantien dafür zu schaffen, daß der ge­

plante große Schritt nun wirklich auf die Dauer den in Aussicht gestellten Vortheil für das Publikum habe,

indem den Staatsbahnen mehr wie

dies bei Privatbahnen möglich ist, der Charakter von im „öffentlichen Verkehrsinteresse verwalteten Anstalten" gegeben wird, andererseits, die

Staatsfinanzen nicht dadurch erschüttert werden.

Dementsprechend bildeten

denn die sogenannten wirthschaftlichen und finanziellen Garantien bet der Berathung der ersten großen Verstaatlichungsvorlage deS Jahres 1879

im

Abgeordnetcnhause

einen

der

Hauptpunkte der Debatte

und

es

machte die Majorität ihre Zustimmung zu jener Vorlage gradezu ab­

hängig von dem Versprechen der Staatsregierung, eine Reihe bezüglicher Forderungen in kürzester Frist zu erfüllen.

Wie kommt es nun, daß die

von der Staatsregiernng im engsten Anschluß an die Forderungen des Abgeordnetenhauses ausgcarbeitcten Gesetzentwürfe über die Einsetzung von

Eisenbahnräthen und die Verwendung der Jahresüberschüsse der Ver­ waltung der Eisenbahnangelcgenheiten, unerledigt liegen blieben?

erklärt sich diese Jnconsequenz?

Wie

Ich will eS versuchen, diese Frage, so­

weit eS sich uni die sogenannten finanziellen Garantien handelt, zu beant­

worten,

hoffend damit

einen kleinen Anstoß zur Wiederaufnahme der

meines Erachtens sehr zu Unrecht in's Stocken gekommenen wichtigen An­ gelegenheit zu geben.

AIS der Gesetzentwurf betreffend den Ankauf der Berlin-Stettiner,

Magdeburg-Halberstädter, Hannover-Altenbeckener und Cöln-Mindener Bahn in den Tagen vom 11. bis 13. November 1879 im Abgeordneten­ hause zur ersten Lesung stand, da sagte der Abgeordnete von Rauchhaupt

als Wortführer der konservativen Partei:

„Die 2. Klausel,

welche wir erstreben, beabsichtigt unsere

Tinanzverwaltung vor bedenklichen Schwankungen zu bewahren und eine Amortisation und Verzinsung deS in den Staatseisen­ bahnen künftig steckenden großen Kapitals zu sichern.

ES könnte

dies durch Bildung eines besonderen Eisenbahnfonds geschehen, der nicht bloß die Aufgabe hat, sich in sich zu amortisiren und zu verzinsen, sondern auch gleichzeitig einen Reservefond für mög­ liche Ausfälle zu schaffen."

Und der Abgeordnete Dr. Miquöl wieS auf die Einrichtung hin, wie sie in Haunover durch das Gesetz vom 4. Mai 1843 gebildet worden

war, imb welche in der vollständigen finanziellen Loslösung der Eisenbahn­

verwaltung von der übrigen Staatsverwaltung durch Errichtung einer be­ sonderen Eisenbahnkaffe mit sehr weit gehenden Verpflichtungen der RePnußisch« Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 2.

13

180

Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.

servenbildung und Tilgung der aufgenommenen Eisenbahnanleihen bestand.

Diese beiden im Wesentlichen übereinstimmenden Vorschläge*), deren Haupt­ gedanke also die Ausscheidung des EisenbahnetatS aus dem Staatshaus­

hallsetat war, wurde damals weder vom Minister der öffentlichen 2lr-

beiten noch vom Finanzminister bekämpft und auch aus dem Hause trat ihnen Niemand entgegen als der Abgeordnete Richter (Hagen), der da

meinte,

„daß eS nun einmal nicht möglich fei, innerhalb deS politischen StaatS einen besonderen Eisenbahnstaat zu konstrutren", daß die obligatorische Schuldentilgung aufgehoben werde, sobald die all­ gemeine Finanzlage deS StaatS eine ungünstige werde, daß die ange­

sammelten Fonds in Zeiten der Noth, besonders bei einem Kriege, vom Staate in Anspruch genommen würden.

Was würde Herr Richter zu

der Logik eines Privatmanns sagen, der seine ganze Einnahme aufzehrt

*) Denselben Standpunkt hatte ich in einem kurz vor den betreffenden Verhandlungen in der „ Nationalzeitung" veröffentlichten Artikel vertreten, indem ich schrieb: „Wenn sich in den beiden vorgeschlagenen Maßnahmen die nöthige Garantie dafür finden würde, daß die Bahnen wirklich in einer den öffentlichen BerkehrSinteressen entsprechenden Weise verwaltet werden, so bliebe, nachdem diesem Verlangen Rech­ nung getragen ist, als zweite Forderung die Sicherstellung der Finanz­ wirthschaft des StaatS und andererseits des Budgetrechts. ES ist un­ leugbar, daß in unserm StaatShauShaltsetat schon jetzt die Betriebsverwaltungen eine die Stetigkeit in hohem Grade gefährdende Rolle spielen, schwanken doch dre Ueberschüffe allein der Bergwerksverwaltung innerhalb des letzten Dezenniums nm etwa 50 Millionen Mark. Bei den preußischen Staatsbahnen haben in demselben Zeitraume die Ueberschüffe variirt um zwei Prozent des Anlagekapitals und dabei lag noch zwischen den guten und schlechten Jahren eine bedeutende Tariferhöhung, daS würde aber, wenn man letzteres, nach Uebergang aller Privatbahnen an den Staat, nur zu 5 Milliarden anschlägt — viel zu niedrig — eine Differenz von 100 Millionen ausmachen. Denjenigen, welche die Exemplifizirung auf die Ver­ hältnisse der letzten Zeit bestreiten möchten mit der oft gehörten Behauptung, die Periode seit 1870 sei eine abnorme, denen gebe ich zu bedenken, daß die durch immer noch weiter gehende ArbeitStheilung, durch Maschinenbetrieb rc. noch in der Zunahme begriffene quantitative Leistungsfähigkeit der Industrie, der mehr und mehr sich entwickelnde spekulative Zwischenhandel, die Verbesserung deS Verkehrs­ wesens selbst, lauter Momente sind, welche uns, wenigstens noch auf absehbare Zeit hinaus, eher mit einer Zunahme der wirthschaftlichen Krisen bedrohen. Führte nun schon jetzt der nach 1873 eingetretene wirtschaftliche Rückgang zu einer feit zwei Jahren recht bedenklich in die Erscheinung tretenden Unterbilanz in unserm Staatshaushalt, indem die glänzenden BetriebSüberschüffe des Anfangs der siebenziger Jahre zu einer Ueberschätzung der Leistungsfähigkeit deS Staatssäckels veranlaßten, was wird erst werden, wenn die Eisenbahnverwaltung die geplante Ausdehnung gewonnen hat? Ich glaube, daß wir unS jetzt zu einer radikalen Kur entschließen müssen, wir behandeln den Eisenbahn-Etat für sich, die sich ergebenden UeberschÜsse stellen wir nicht in das allgemeine Staatsbudget ein, sondern verwenden sie in erster Linie z^ur Verzin­ sung und Amortisirung (soweit letztere nöthig ist) der Staatsschuld, der Rest wrrd zur Bildung eines Reservefonds benutzt, indem ein entsprechender Betrag von StaatSschuldverschrelbungen angekauft wird, die dann zur Deckung deS in ungünstigen Jahren entstehenden Defizits be­ nutzt werden."

ihm Ersparnisse gestohlen werden könnten?

lediglich aus Furcht, daß

Ich glaube kaum, daß er ihr beistimmen würde, und doch wäre sie, auf

daS tägliche Leben angewandt, die seine.

Ich gebe ja zu, daß sich die

gesetzgebenden Faktoren mitunter dazu Hinreißen lassen können, Fehler zu

begehen, wie der Abgeordnete Richter sie im Hinblick auf frühere Vor­ kommnisse befürchtet, sollen wir aber, weil diese Möglichkeit vorltegt,

gleich selbst die Fehler machen?

Uebrigenö ist auch zu hoffen, daß die

wirthschaftliche Einsicht mit der Zeit so

stark wird, daß dadurch die

Wiederkehr ähnlicher Irrthümer wie wir sie früher erlebt haben,

ver­

mieden wird, und wenn dies auch nicht der Fall sein sollte, haben wir

nicht bis ein solcher Mißgriff erfolgt — und das kann ja recht lange dauern — ein Stück Arbeit geleistet, daS uns nicht mehr verloren gehen

kann?

Und was kann denn schließlich in dem von Herrn Richter vorge­

sehenen Fall überhaupt verloren werden?

Der aus den Jahresüber­

schüssen zur Amortisation bestimmte Betrag wird entweder — das wird aber sobald nicht vorkommen —, zum Ankäufe von alten eigenen Obliga­

tionen benutzt, welche dann in der Regel wohl vernichtet werden dürften, oder er wird — und das wird voraussichtlich noch während einer langen Reihe von Jahren die Regel bilden — wieder als

Kapital in neuen

Bahnbauten angelegt, oder er kann endlich, wenn der Staat als solcher zur Zeit Anleihen aufzunehmen genöthigt ist, zur Uebernahme eines ent­ sprechenden Theils derselben verwandt werden.

Bei den beiden zuletzt

genannten Arten der Anlegung kann eine Ausfertigung von Obligationen,

wie die für den Verkauf auf dem Markt bestimmten, unterbleiben, eine

einfache Buchung genügt.

Daß diese Modalitäten, bei welchen jede un-

nöthige Beunruhigung des Effektenmarktes und kostspielige ObligationenRückkäufe vermieden werden, so lange die aufgenommenen Anleihen nicht

zu einer Beeinträchtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit der Eisenbahn­ verwaltung resp. deS Staats führen, im Erfolge dem gleichkommen, was

man gewöhnlich unter Amortisation versteht, bedarf wohl keines beson­

deren Nachweises.

Aehnlich wird denn auch der Reservefonds gebildet, nur mit dem Unterschiede, daß hier bei Uebernahme von Anleihebeträgen jedesmal die

Auslieferung der Summe in verkäuflichen Obligationen stattfinden muß,

und daß diese ebenso wie die freihändig zurückgekauften älteren Obliga­

tionen, aufbewahrt werden.

DaS einzige, was sich für den Staat deS

Wegnehmens lohnt, wäre demnach die noch nicht angelegte, noch in baarem Gelde in der Cisenbahnkaffe befindliche Summe, während Amortisations­ und Reservefond auch den begehrlichsten Finanzminister kaum reizen können,

denn der erstere von ihnen besteht zum großen Theil nur in BuchungS13*

182

Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.

posten und ble vorhandenen Effekten können nur auf Grund eines beson­ deren Gesetzes annektirt werden.

Muß man aber so wie so ein Gesetz

erlassen, so thut man doch besser, sich gleich die Ermächtigung zur Auf­ nahme einer Anleihe in der dem Bedürfnisse entsprechenden vollen Höhe ertheilen zu lassen.

käuflich sein,

Die neuen Obligationen werden grade so gut ver-

als die alten aus den beiden genannten Fonds und die

Mehrkosten für Papier und Druck fallen doch wahrlich nicht in'S Gewicht. Wenn Herr Richter ferner sagt:

„Sie bringen den Staat in die Lage, nach der Verschiedenheit der AmortisationSperioden eine große Vielheit von Papieren zu

schaffen und dadurch den Kreditmarkt sich weniger gut zu ge­

stalten"

so faßt er die "bei Eisenbahnverwaltung aufzulegenbe Amortisationsver­ pflichtung als eine solche auf, wie sie die Staaten in ber Regel bei Auf­ nahme von Anleihen, ihren Gläubigern, ben Obligationenbesitzern gegen­ über eingehen.

Die Staatcn können daS, weil sie sich stützen auf bie

Steuerkraft ber Bevölkerung, bie sie im Nothfalle, behufs Deckung ber Verpflichtungen aus ben Anleihen mehr anspannen; nicht so bie Ver­

waltung eines wirthschaftlichen Unternehmens wie ble Eisenbahnen eS sind. Hier kann und darf eine Verpflichtung regelmäßiger Tilgung gegenüber dem Obligationenbesitzer überhaupt nicht übernommen werden, obligatorisch kann die Amortisation nur Insofern sein, als bie Eisenbahnverwaltung

gezwungen wird, etwaige Ueberschüsse, sei eS ganz, fei es theilweise unb innerhalb gewisser Grenzen, zur Tilgung zu verwenden.

Ist aber bie

Uebernahme einer Amortisationsverpflichtung gegenüber ben Obligationen» Inhabern von vorn herein ausgeschlossen, so hat eS auch keinen Sinn,

von „einer großen Vielheit von Papieren" zu teben. So unhaltbar demnach die von Herrn Richter gegen den Gedanken der Selbständigmachung des Eisenbahnetats erhobenen Einwände waren,

so sind sie doch bei den wetteren Verhandlungen wiederholt in'S Gefecht

geführt worden und haben das ihrige zur Verschleppung der gesetzlichen

Regelung der Angelegenheit beigetragen. schleppung sind sie aber nicht.

Der Hauptgrund für diese Ver­

Der liegt darin, daß man sich, je länger,

je mehr von dem ursprünglichen Grundgedanken „vollständige finanzielle

Loslösung der Eisenbahnverwaltung von der übrigen Staatsverwaltung", abdrängen ließ, daß man statt an diesem allein richtigen Principe festzu­ halten, sich auf Compromiffe einließ, die schließlich zu einer Niemand be­ friedigenden Halbheit führten.

Daß Herr Bitter, als Leiter der StaatSsinanzen dafür

eintrat,

daß letztere nicht durch die Verstaatlichung der Eisenbahnen leiden, wird

ihm Niemand verübeln, damit that er nur seine Pflicht als Ressort­

minister.

ES wäre Nichts dagegen einzuwenden gewesen, wenn er, nach­

dem in der betreffenden Kommission der Antrag gestellt worden war, die Eisentahnverwaltung solle die Verzinsung der gesammten Staatsschuld, wie sie sich nach dem Etat am 1. April 1880 stellte, übernehmen, seiner­

seits verlangt hätte, daß die Verpflichtung der Eisenbahnverwaltung auch

ausgedehnt werde auf die auf jener Schuld lastenden TilgungSverLtnd-

lichkeiten.

Ein solches im Princip berechtigtes Verlangen, hätte weder die

Eisenbahnkommission noch die Volksvertretung ganz ablehnen können, so­

bald sich die für die praktische Durchführung nöthigen Cautelen in daS

Gesetz bringen ließen und letzteres war leicht zu machen.

Damit wäre

ein klares Verhältniß zwischen Eisenbahn- und StaatShauShaltS-Rechnung

geschaffen.

DaS Staatsbudget wäre günstiger wie vor den großen Eisen­

bahnankäufen gestellt und den zukünftigen Schwankungen des Eisenbahnetatö ein für allemal entrückt worden.

Statt dessen war aber daS Streben

des Finanzministers fortwährend darauf gerichtet, sich oder vielmehr dem allgemeinen Staatshaushalt für die Zukunft den Mitgenuß etwaiger Ueberschüsse der Eiscnbahnverwaltung zu sichern; daß er sich dabei stützte auf die

zeitige ungünstige Lage der Staatsfinanzen, machte einen gewissen Eindruck,

und so drang er schließlich durch und durchbrach damit daS ganze Princip. Die von der Eisenbahnkommission dem Abgeordnetenhause vorgeschlagenen Resolutionen stellten die Selbständigurachung des Eisenbahnetats nicht mehr

als leitenden Grundsatz voran und verloren damit den festen Kern. Und als dann bei der Berathung dieser Resolutionen durch daS Plenum, der

Abgeordnete Richter einer derartigen Selbständigmachung der Eisenbahn­ verwaltung gradezu entgegentrat und sie für gefährlich erklärte, da erging

eS dem Abgeordneten Dr. Miquöl wie dem Apostel Petrus, er verleugnete die Shmpathie für die früheren Hannoverschen Einrichtungen und betonte

ausdrücklich, daß die Resolutionen durchaus nicht die Bildung einer be­ sonderen Eisenbahnkaffe bezweckten.

Nachdem auf diese Weise das führende Princip gefallen war, hatte

der Bau sein festes Gefüge verloren und zerbröckelte leicht unter dem

Anprall von rechts und links. Die Berathung des sich, wie gesagt, eng an die Resolutionen an­

schließenden Gesetzentwurfs in der Budget-Kommission, führte abermals zu einer bedeutenden Schwächung des ersten Plans, indem die Reserve­

fondsbildung aufgegeben wurde, so daß nun nur noch eine traurige Ruine übrigblieb,. für die sich Niemand mehr ernstlich interessiren mochte.

Nach

der Gestalt, die der Gesetzentwurf jetzt angenommen hat, würde, sobald die Eisenbahnverwaltung mehr Ueberschuß aufbringt als nöthig ist, um

184

Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Derstaallichung.

die Eisenbahnkapitalschuld zu verzinsen und mit 3/4 % zu tilgen, der Rest zur Verfügung des allgemeinen Staatshaushalts stehen.

Daß, wenn die

Eisenbahnüberschüsse einmal nicht zur Zinsendeckung genügen sollten, um­

gekehrt daS Defizit aus der Staatskasse gedeckt werden muß,

steht zwar

nicht im Gesetz, ergiebt sich aber als natürliche Consequenz seines Inhalts.

Der Zweck deö Gesetzes, die Staatsfinanzen zu schützen vor den Schwan­

kungen in den Ueberschüssen der immer ausgedehnter werdenden StaatSbahnverwaltung, wird daher in keiner Weise erreicht, man kann daher nur

damit einverstanden sein,

daß nicht durch Annahme des Vorschlags der

Budgetkommission eine die spätere zweckentsprechende Regelung erschwerende gesetzliche Feststellung stattgefunden hat.

Die Frage ist jetzt wieder eine

offene und eS läßt sich hoffen, daß erneute Erwägungen zu einer iefricdtgenden Lösung führen werden. Wie ich mir die Lösung denke, will ich hier kurz andeuten, rorher

aber sei eS mir gestattet, nochmals die Momente hervorzuheben, welche eine solche Lösung als unabweiSlich erscheinen lassen.

Im Jahre 1854 betrug die Verzinsung des im StaatSeisenbahnnetze angelegten Kapitals noch nicht 2 */2 % und 1858 wurden zum erster male die Zinsen herauSgewirthschaftet, indein bei 201 Millionen Mark Kapital

10,1 Millionen Mark Ueberschuß (d. h. lediglich Betriebsüberschuß, ohne Rücksicht auf die Ausgaben für die Centralverwaltung, Zinsgarantien rc.)

erzielt wurden; im Jahre 1862 betrug der Ueberschuß bei 268 Mill. M. Kapital 6,54% von letzterem 321 1865 6,76 ff tt 372 6,20 1867 it 721 6,00 1869 ff 6,38 786 1871 tt tt 6,28 802 1872 H H 5,12 906 ,, f. 1873 972 3,75 1874 tt 1041 4,91 1« 1875 f, ff 5,18 - 1130 1876 1196 5,01 1877/78 ■* tt ,, 1280 4,52 1878/79 ff 1480 4,30 1879/80 ff ,, ff u

AuS dieser Zusammenstellung ersieht man, daß die Ueberschüste von 1871 bis 1874 von 6,38% auf 3,75%, also um 2,63% sanken, das

würde aber bei dem heute in den Staatsbahnen steckenden Kapitale von etwa 3 % Milliarden nicht weniger als 85 % Millionen ausmachen, d. h.

über die Hälfte deS GesammtaufbringenS der direkten Staatssteuern

Er­

wägt man mm, daß auch der Bergwerks- und Forstetat Ueberschußdiffe'enzen

von 50 (10 bis 60), beziehungsweise 10 (20 bis 30) Millionen auf­ weisen und daß die schlechten Perioden dieser verschiedenen Etats sehr wohl zusammenfallen können, so ist wohl (auch davon abgesehen, daß das

Eiseitbahukapital mit der Zeit noch bedeutend wachsen wird) ohne Weiteres klar, daß, wenn man nicht für Abhülfe sorgt, die Aufstellung eines auch

nur einigen Anhalt gewährenden Staatshaushaltsetats gradezu unmöglich

wird, daß man in günstigen Perioden für die StaatSindustrie ungeheure

Ueberschüsse machen und dadurch nicht nur zu unnöthigen extraordinären,

sondern auch zu

Erhöhungen der laufenden Ausgaben verführt wird,

während bei Eintritt des Rückschlags dann die Einnahmen noch hinter

den laufenden Ausgaben zurückbleiben, daß mit einem Worte die in den letzten Jahren hcrvorgetretcne traurige Nothwendigkeit, laufende Ausgaben

auS Anleihen zu decken, sich in kurzen Perioden in noch viel höherem Nlaße geltend machen wird wie bisher, so daß unsere einst so berühmte

Finanzwirthschaft und der damit zusammenhängende Kredit deS Preußi­ schen StaatS in die ernsteste Gefahr kommen. Daß Staatskredit, wirthschaftliche Wohlfahrt und Macht der Nation

innig Zusammenhängen, brauche ich wohl micht deS weiteren auseinander-

zusetzcn,

ebensowenig, daß der Staat Preußen mehr wie jeder andere

Europäische Großstaat Ursache hat, mit aller Energie dafür zu sorgen,

daß er den mühsam erkämpften Standpunkt nach allen Seiten behaupte, ich glaube, daß ein Hinweis auf diese Verhältnisse genügt, um den Satz

zu rechtfertigen, daß es heilige Pflicht von Regierung und Volks­ vertretung

ist,

die

zum

Schutze

unserer

Finanzwirthschaft

nöthigen Maßregeln zu ergreifen, insbesondere also, alsbald

die völlige finanzielle Loslösung der Eisenbahnverwaltung von der übrigen Staatsverwaltung zu bewirken.

Den Ausgleich

der Ueberschußdifferenzen der übrigen Betriebsverwaltungen wird man dann auch baldmöglichst herbeizuführen suchen müssen und zwar am besten, zum

Theil wenigstens, durch Quotierung der Personalsteuern. Die „alsbaldige" Loslösung des Eisenbahnetats ist nöthig, weil es nach den

bereits

in die Oeffentlichkeit gedrungenen Nachrichten höchst

wahrscheinlich ist, daß die Eisenbahnverwaltung schon im laufenden Jahre so bedeutende Ueberschüsse bringen wird, daß schon jetzt nicht nur die Ver­ zinsung der ganzen Eisenbahnschuld

und

die

bereits darauf ruhenden

Amortisationsverpflichtungen daraus gedeckt, sondern daß außerdem ein nicht unbeträchtlicher Betrag zur Reservefondbildung benutzt werden kann,

und die Gefahr nahe liegt, daß ein solcher Ueberschuß zu seinen Zwecken

fremden Dingen gemißbraucht und dadurch nicht nur momentan, sondern

selbst auf die Dauer verhängnißvolle Fehler gemacht werden könnten.

186

Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn^Derstaatlichung.

Man kann nicht oft genug wiederholen, daß der Zweck des entschie­

deneren UebergangS zum Staatsbahnsystem nicht der sein kann, Ueberschüsse in die Staatskasse abzuliefern, sondern der, die Volkswirthschaft zu fördern, durch eine ihren Interessen mehr entsprechende Verwaltung der

Bahnen, insbesondere also durch eine rationelle, billige Tarifirung und durch den zweckentsprechenden Ausbau des bestehenden Netzes.

Dagegen

ist es umgekehrt gerechtfertigt, daß die Staatskasse, welche den Vortheil

der durch neue Bahnen gesteigerten Steuerfähigkeit der Bevölkerung ge­ nießt, für solche Anlagen ihrerseits Opfer- bringt.

Man wird niemals

aus dem Dilemma herauskommen, wenn man nicht die Staatsbahnen in­ sofern als industrielles Unternehmen behandelt, als man ihnen die Auf­ gabe auferlegte, sich mindestens selbst zu erhalten.

Daraus folgt dann,

daß der Eisenbahnverwaltung als solcher nicht zugemuthet werden darf, in größerem Maße Neubauten vorzunehmen, welche sich nicht, sei es

direkt, sei eS indirekt rentiren*), eS muß vielmehr, wenn das allgemeine StaatSinteresse solche Anlagen erfordert, der Staat daS Defizit decken,

indem er einen entsprechenden Zuschuß ä fonds perdus leistet.

Daß eine

vorherige Schätzung der Rentabilität, ebenso wie die Bemessung des all­ gemeinen StaatSintcresseS nicht leicht ist und stets mehr arbiträr bleiben wird, ist nicht zu leugnen.

oder weniger

Meinungsdifferenzen zwischen

Eisenbahn- und Ftnanzmintster und innerhalb des Parlaments werden daher unvermeidlich fein.

Jedenfalls sind die hieraus möglicherweise ent­

stehenden Konflikte aber verschwindend gegenüber denjenigen, welche ent­

stehen müssen, wenn die Eisenbahnverwaltung aus dem großen Staats­ säckel wirthschaftet, und die Lage der Regierung gegenüber unvernünftigen Anforderungen an die Etsenbahnverwaltung,

wird durch eine derartige

Stellung der letzteren entschieden erleichtert. Die Forderung der finanziellen Loslösung der Eisenbahnverwaltung ist im Interesse der Gesundheit der Staatsfinanzen unabwendbar,

un­

lösbar damit verknüpft ist aber die weitere Forderung, daß die Eisen­

bahnverwaltung sich selbst erhalte; da nun aber ihre Reinerträge erfah­ rungsmäßig in Folge des wechselnden Verkehrs, der Veränderungen in

den Preisen von Material, Arbeitslohn rc., schwankend sind, so ist die Bildung eines Rerservefonds conditio sine qua non des ganzen Plans.

Die Bestimmung der diesem Fonds zu gebenden Höhe ist allerdings nicht ganz leicht und wird stets mehr oder weniger arbiträr bleiben, da *) Uebrigen« glaube ich nicht, daß man aus die Dauer an dem Prinzip überall gleicher Tarife wird festhalten können; bei neuen Anlagen wird man sich meines Erachtens das Recht zu festen Tarifzuschlagen, welche erst mit sich günstiger ge­ staltenden BekriebSresultateu ermäßigt werden, Vorbehalten müssen.

es aber kaum schadet, wenn man zu hoch greift, wohl aber wenn man hinter dem möglicherweise entstehenden Bedürfnisse zurückbleibt, so wird

man gut thun, nicht unter 4% des ganzen in den Eisenbahnen steckenden

Kapitals zu gehen.

Nach obiger Zusammenstellung wäre ja wohl ein so

großer Fonds nicht grade nöthig, denn seit 1858 wurden nur in zwei Jahren — 1874 und 1879/80 — die zur Verzinsung des EisenbahnKapitals erforderlichen Ueberschüsse nicht aufgebracht, man möge aber er­

wägen, erstens daß dort, wie bereits erwähnt, mehrere zukünftig in Rech­ nung zu stellende Ausgaben fehlen, zweitens, daß im Jahre 1874, mit Rücksicht auf den Rückgang

der Ueberschüsse eine beträchtliche Tarifer­

höhung durchgeführt wurde, ein Experiment dessen Wiederholung jeden­

falls vermieden werden muß. Daß man den Reservefonds

ans nur 1 % des Eisenbahnkapitals

limitiren wollte, war ein großer Fehler und die Gegner hatten nicht Un­

recht, wenn sie deduzirten: da dieser Fonds doch bei der ersten etwas längeren ungünstigen Periode nicht genügt, kann man ihn auch

ganz

streichen.

Wie der Reservefonds

zri bilden ist, habe ich bereits angedeutet;

werden zur Zeit, zu der die Anlegung des UeberfchuffeS erfolgt, keine An­

leihen von Seiten der Eisenbahnverwaltung oder des StaatS ausgenommen,

von denen man einen entsprechenden Obligationenbetrag in den Reserve­ fonds legen kann, so kauft man auf dem offenen Markt.

Auf Einwände einzugehen, tote der, ein auS Schuldtiteln deS StaatS

gebildeter Reservefonds habe nur einen

„eingebildeten" Werth,

erläßt

man mir wohl, ich bestreite ja auch nicht den zum geflügelten Wort ge­

wordenen Satz, daß Gold nur Chimäre ist!

Und ebenso wenig ernst

kann ich eS nehmen, wenn man behauptet, der Reservefonds werde zur Verschwendung führen, oder wenn man ihn um deswillen bekämpft, weil

dadurch die Selbständigkeit der Eisenbahnverwaltung gegenüber der Volks­

vertretung gestärkt werde; will man sich einem solchen Gedankengang an­ schließen, so kommt man zu dem Resultate, daß die Stärkung der Macht

deS Parlaments einen mit Defizits arbeitenden Staatshaushalt erheischt,

daß also zwischen Macht der Volksvertretung und gesunden Staatsfinanzen

Gegensätzlichkeit besteht. Die zweite finanzielle Aufgabe, welche der Eisenbahnverwaltung zu­

fällt, ist die Amortisation deS Eisenbahnkapitalö.

Thatsache, daß alle Nachbarstaaten bei Ertheilung

ES ist eine bekannte

von Eisenbahncon­

cessionen an Private den Vorbehalt machen, daß die Bahn (excl. Be­

triebsmittel und sonstigen mobilen Zubehörs, welche bezahlt werden müfien) nach einer gewissen Reihe von Jahren kostenfrei an den Staat fällt. In

188 Frankreich

Die fiiiaiijictten Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.

erfolgt

dieser Anfall in

99

Jahren,

in Oesterreich nach

höchstens 90 Jahren, in Belgien nach 90 Jahren, In Rußland durch­ schnittlich nach 70 bis 85 Jahren.

(In Rußland wird selbst das Be­

triebsmaterial bei der Uebernahme durch vollen Werth bezahlt.)

den Staat nicht nach seinem

In Preußen machte

man dagegen den großen

Fehler, auf ein solches Anfallrecht zu verzichten und wir kämen also gegen­ über unsern Nachbarn wirthschaftlich in die übelste Lage, wenn wir nicht

dafür sorgten, daß auch wir in 60—65 Jahren unsere Eisenbahnschuldcn so weit abgetragen hätten, daß wir in der Tarifirung mit ihnen konkurriren können.

Wie letztere von der Höhe des zu verzinsenden Kapitals

abhängt, geht daraus hervor, daß unter Zugrundelegung der Zahlen der Rechnungen dcS Staatöbahnverwaltung in den letzten Jahren, wonach die

Ausgaben zwischen 62 und 63% der Einnahmen, und die Einnahmen speciell auS dem Güterverkehr etwa 64% der Gesammteinnahmen aus­ machten, eine Reducirung der Verzinsung des in den Eisenbahnen steckenden

Kapitals um 2 %, eine Ermäßigung der Gütertarife um ein volles Viertel erlauben würde; was das aber für eine ganze Reihe von Artikeln be­

sagen will, brauche ich nicht auSeinanderzusetzen, und man wird mir auch

ohne weiteren zahlenmäßigen Nachweis glauben, wenn ich sage, daß un­

sere Landwirthschaft, unsere Industrie und unser Handel und gleichzeitig natürlich

unsere Eisenbahnverwaltung selbst,

auf das schwerste bedroht

tvären, wenn unsere Nachbarstaaten über Eisenbahnnetze verfügten, deren

Anlegekapital per Km. nur % so groß ist wie daS unsere.

Diese Gefahr ist

so groß, daß eS eine unqualifizirbare Kurzsichtigkeit wäre, nicht mit der

größten Energie und allen Mitteln dafür zu sorgen, daß die Amortisation

der Eisenbahnschuld in dem mit Rücksicht auf die Verhältnisse der Nach­

barstaaten gebotenen Maße erfolge.

So lange die Erreichung dieses Zieles

nicht gesichert ist, müssen wir sogar meines Erachtens auf allgemeine

Tarifredukttonen verzichten und uns nur

schränken.

auf daS Allerdringlichste be­

Trotz der für den Staat günstigen Klausel in den ConcessionS-

urkunden der Privatbahngesellschaften sind doch mehrere Nachbarstaaten in

größeren Umfange nicht nur zum Ausbau der bestehenden Bahnnetze

auf Staatskosten, sondern sogar zum Ankäufe von Privatbahnen über­ gegangen, lind zwar meist auf Andrängen des verkehrtreibenden Publikums, dessen Interessen von den Eisenbahngesellschaften nicht in befriedigender

Weise Rechnung getragen worden war.

In je größerem Umfange ein

solcher Uebergang zum Staatsbahnshstem stattfindet und je weniger die

konkurrirenden Staaten auf eine rasche Amortisation deS betreffenden Ka­

pitals bedacht sind, desto mehr gewinnen wir allerdings mit der Tilgung freie Hand, wie die Verhältnisse aber jetzt liegen, müssen wir, um sicher

zu gehen, dahin streben, die jetzige Eisenbahnschuld (b. h. etwa 3’4 Mil­ liarden) vom 1. April 1880 ab, für weitere Bahnbauten aufgenommene Kapitalien, vom Tage der Aufnahme ab, innerhalb längstens 65 Jahren,

bis auf löchstenS ’4 zu tilgen, was eine jährliche Tilgung von etwa 1,16 %

des ursprünglichen Kapitals erfordern würde. Die Staatseisenbahnschuld wird, wenn einmal die verstaatlichten

Bahnen in das Eigenthum des StaatcS übergcgangen und für die ganze Prioritälsschuld 4% Eonsols ausgegeben sind, etwa 4'/4 % zu ihrer Ver­ zinsung bedürfen.

Um die verlangte Amortisation in 65 Jahren zu er­

möglichen müßten demnach im Durchschnitt beinah 5 '/3 % Ueberschuß hcr-

auSgewirthschaftet werden.

Nach obiger Zusammenstellung der Uebcrschüsse

wurden nun wohl in den 60gcr und im Anfang der 70ger Jahre über

6 % erzielt, allein bei jenen Berechnungen sind, wie bereits erwähnt, nur Betriebs-Einnahmen und -Ausgaben einander gegcnübergestellt, währeild

in Zukunft die Gesammt-Einnahmcn und Ausgaben der „Verwaltung der Eiscnbahnangclcgcnheiten" bei der Ueberschußberechnung zu Grunde gelegt und zudem die Ausgaben noch um die Beträge der Pensionen für Eisen­

bahnbeamte und um die zu wenig für Erneuerung der Bahnkörper und der Betriebsmittel angcsetzten Summen vermehrt werden müßten.

Thut

inan dies aber, so wird eS schon einer außerordentlich tüchtigen Leitung

der Eisenbahnverwaltung und nicht allzu ungünstiger politischer und wirthschaftlichrr Verhältnisse bedürfen, um im Durchschnitt auf 5 ’/2 % Rente

zu kommen. Fasse ich meine Ansichten über die leitenden Gedanken des zu er­ lassenden Garantiegesetzes in wenigen Sätzen zusammen, so würden diese

also lauten:

Die

Verwaltung

der

Eisenbahnangelegenheiten

wird finanziell selbständig (natürlich

auch in Bezug

auf die Ausgaben deS ExtraordinariumS) unter fol­

genden Bedingungen: 1.

Sie übernimmt als Eisenbahnkapitalschuld die gesammte Staats­

schuld wie sie sich 1. April 1880 stellt, mit den darauf lastenden Verzinsungs- und Tilgungs-Verpflichtungen, ebenso die nach dem 1. April 1880

auf Grund von laufenden oder noch zu bewilligenden Eisenbahn-Crediten

verausgabten Obligationen-Beträge, wie auch die aus der Verstaatlichung von Privatbahnen erwachsenen Schuldverpflichtungen.

2.

Der nach Abzug der gesetz- resp, vertragsmäßig zu zahlenden

Zinsen, Renten und Amortisationen verbleibende Jahresüberschuß, wird

in erster Linie verwandt, zur Ansammlung eines Reservefonds in Höhe von 4% des gejammten

für die Eisenbahnen

aufgewandten Kapitals.

Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.

190

Der Reservefond wird gebildet aus freihändig zurückgekauften, oder falls

gleichzeitig Anleihen von Seiten der Eisenbahnverwaltung oder des StaatS aufgelegt werden, auS Obligationen der letzteren.

3.

Der nach Erfüllung der sub 1 und 2 genannten Bedingungen

verbleibende Ueberfchußrest

wird zur weiteren Tilgung

der Eisenbahn­

kapitalschuld verwandt, indem er, falls die Eisenbahnverwaltung oder der Staat zur Zeit Anleihen aufnehmen, zur Uebernahme eines entsprechenden Betrags derselben, wenn dies nicht der Fall ist, zum freihändigen Rück­ kauf von eigenen Obligationen auf dem Effektenmarkt benutzt wird.

Russische Aussichten. (Politische C o rr e sp o nd enz.)

Berlin, 8. August 1881.

Die Reise

der russischen Kaiser-Familie nach Moskau, der alten

Hauptstadt deS Reiches, hat die Aufmerksamkeit weiterer Kreise wieder ein­ mal auf die Vorgänge in dem östlichen Nachbarstaate gerichtet. Das Geheim­ niß, mit dem diese Reise umgeben war — in Moskau selbst wurde die bevor­ stehende Ankunst der Majestäten erst an dem der Ankunft vorhergehenden

Tage bekannt —; die an die St. Petersburger Zeitungen ergangene Aufforde­

rung, über die Kaiserreise nur die Mittheilungen des officlellen Regierungs-

anzeigcrs zu veröffentlichen, (selbst die Agence generale Russe wurde bei dieser Gelegenheit als unzuverlässige Quelle bezeichnet) lassen eS be­ greiflich erscheinen, daß die bloße Thatsache der angeblich nur aus vier Tage

berechneten Ortsveränderung zu

den ausschweifendsten Gerüchten Anlaß

gab, die in St. Petersburg durch mündliche Ueberlieferung

verbreitet

und trotz aller Ueberwachung durch Vermittelung der Petersburger Correspondenzen auswärtiger Blätter der europäischen Presse zugänglich ge­

macht wurden. Bald sollte es sich um die Krönung Kaiser Alexander III., bald gar um den ersten Schritt zur Zurückverlegung deS Sitzes der Re­ gierung nach der alten Kaiserstadt, bald um die Ankündigung von Re­ formen handeln, da Kaiser Alexander eö nicht wage, sich zu diesem Zwecke nach St. Petersburg zu begeben, welches er am 18. Juni, gewisser Maßen

auf der Flucht vor dem Gespenst des Nihilismus, in aller Stille verlassen hatte.

Die Tendenzen, welche den Kaiser oder diejenigen, die ihn zu der

Reise nach Moskau bestimmt haben, leiten, haben bis jetzt keinen that­

sächlichen Ausdruck gefunden.

Der Aufenthalt in Gatschina, in der frei­

willigen Gefangenschaft deS dortigen kaiserlichen Schlosses, war dem Selbst­ herrscher des russischen Reiches nachgerade unerträglich geworden;

ohne

Zweifel geschah eS mit gutem Vorbedachte, daß die altrussische Partei den

Souverain bestimmte, gerade in Moskau Erholung von dem selbstaufer­ legten Zwang zu suchen. Um das Angenehme mit dem Nützlichen zu ver-

Russische Aussichten.

192

binden, hat der Hof eS für nöthig gehalten, das Kostüm auö der Zeit von Peter dem Großen anzulegen und in dieser antiken Verkleidung das

Nationalheiligthum zu besuchen.

Schon diese Veranstaltung läßt erkennen,

daß die Berather des Kaisers die altnationale Sympathie desselben a»iSzunutzen beabsichtigen, um ihre Pläne zu fördern.

Der officielle Jubel

über den begeisterten Empfang, den die kaiserliche Familie seitens der

„unverdorbenen" Bevölkerung der Hauptstadt des Ostens gefunden hat, kehrt seine Spitze gegen die zweite Hauptstadt, die ihr Gründer als das Fenster

bezeichnete, durch welches Rußland nach dem Westen auöschauen könne. Durch dieses Fenster sind ja nach der Versicherung der ergebenen Blätter

die revolutionären Miasmen eingezogen, welche das Haus zu verpesten drohen.

Das Organ der allrussischen Partei, die „Moskauer Zeitung" und

ihr Prophet, Herr Katkow, welche trotz aller Preßknebelungen das große Wort führt und über die brennenden politischen Fragen sprechen darf,

welche die übrige Presse im Interesse ihrer Selbsterhaltung unberührt läßt, hat die Gelegenheit der Anwesenheit deS Kaisers benutzt, um von Neuem die Lehre von der alleinseligmachenden Kraft der selbstherrscherlichcn Rtgierung deS Czarcn zu verkünden.

Die Theilbarkeit der allerhöchsten

Gewalt deS Czaren ist ihr eine gefährliche Irrlehre.

Der ganze Inhalt

des russischen StaatSbegriffs ist die Herrschergewalt deS Czaren, welche durch keinerlei Zugeständnisse an Richtungen, die den Staat gefährden,

beeinträchtigt werden darf.

Concessionen an die Auffassungen deS Westens

bedrohen die Existenz des russischen Reichs. ES hieße Eulen nach Athen tragen, die Cultur deS europäischen

Westens gegen die Anklagen der Ignatjew, deS augenblicklich allmächtigen Ministers des Innern und seiner Gehülfen zu vertheidigen.

Auch die

europäischen Staaten, neuerdings sogar Nordamerika, sind durch Attentate

auf die Souveräne in Schrecken gesetzt worden; aber wenn auch diese Un­ thaten als Symptome gewisser politischer und socialer Strömungen an­

erkannt werden müssen, in keinem Falle hat irgend eine Partei offen und

schamlos die Verantwortlichkeit für das Werk eines Fanatikers über­ nommen.

Rußland war die Schmach Vorbehalten, daß die Vertreter der

nihilistischen Partei eine That, wie die Ermordung des Kaisers Alexander II., als die Vollstreckung eines gerechten Urtheils, als die würdige Strafe

für die langen Jahre tyrannischer Regierung proclamirte und dem neuen

Herrscher das grausame Wort zurief: „Der Kaisermord ist in Rußland volköthümlich."

In der Anfang April erlassenen Proklamation des Exe-

kutiv-Comits'S der Nihilisten heißt es wörtlich:' „Nur den Räuber schützt das Gesetz; nur den Ausbeuter deS Volkes die Regierung; der schlimmste

Raub bleibt unbestraft, und welches fürchterliche Schicksal erwartet den

Menscher, der wirklich an das Wohl des Volkes denkt? Sie wissen es, Majestät daß eS nicht die Socialisten allein sind, die man verfolgt, ver­

schickt, ermordet....

AuS solcher Lage giebt es nur zwei Auswege: Die

unauSblabliche Revolution, der man durch keine Todesstrafen vorbeugen kann, oder freiwillige Beachtung des Volks seitens der Regierung....

Die Erbitterung ist ja auf unserer Sette eben so groß: Sie haben den Vater, vir haben nicht nur Väter, wir haben auch Brüder, Weiber,

Kinder, Freunde und Eigenthum verloren.

Wir sind bereit, jedes persön­

liche Gesihl zu ersticken, wenn es sich um daS Wohl Rußlands handelt." Die Proclamation forderte zunächst eine allgemeine Amnestie für alle

Staatsverbrecher der früheren Zeit; „denn eS waren ja keine Verbrecher, sondern Vollbringer einer harten Bürgerpflicht"; und dann die Berufung von

Vertretern des ganzen russischen Volkes zur Revision der Gesetze des Staates und des bürgerlichen Lebens und zu deren Reform nach dem Wunsche des

Volkes — eine Forderung, in der sich die Nihilisten mit den Aksakow und Genossen, den Vorkämpfern des PanslaviSmuS, begegnen, die heute um die

kaiserliche Gunst buhlen.

„Keinem Denkenden, heißt es in der unlängst

erschienenen vortrefflichen Schrift „Von Nicolaus I. zu Alexander III." (p. 406), auf welche wir im weiteren Verlauf unserer Auseinandersetzung noch

öfter zurückkommen werden, wird in den Sinn kommen, daS Constitutions-

gcschret deS St. Petersburger Preßpöbels in seinen Schutz zu nehmen —

welchen Sinn aber hat die Repression desselben, wo alle Welt weiß, daß die Presse daS bloße Echo dessen ist, was auf allen Märkten und Straßen

laut verkündet wird und daß diese Verkündigungen durch das Geschwätz

jener Aksakow und Genossen provocirt worden sind, die ihre früheren An­ griffe auf den „Europa nachgeahmten Absolutismus Peters des Großen",

durch daS Ableiern sinnloser Phrasen von der mystischen Bedeutung des „nationalen ZarenthumS" vergessen zu machen suchten."

Heute ist der

„Europa nachgeahmte Absolutismus Peters des Großen" wieder das Ideal der officiellen Politiker.

Die eigentliche Quelle deS Nihilismus ist nicht

der Import der Ideen deS Westens nach Rußland, sondern die System-

losigkeit der russischen inneren Politik.

„In Rußland selbst, sagt die oben

erwähnte Schrift (S. 202), hat unter den Gebildeten niemals eine Mei­ nungsverschiedenheit darüber bestanden, daß die sinnlose,

streifende Strenge, mit welcher

an Aberwitz

man (unter Kaiser Nicolaus) in den

Jahren 1849 bis 1855 jede Berührung mit dem westlichen Europa und

den dasselbe beherrschenden Jdeenkreisen zu verhindern versuchte, der vornehmlichste Grund dafür gewesen ist, daß bereits die ersten Berührungen,

welche das

jüngere Geschlecht, mit der

während

der folgenden Jahre

wehenden frischen Luft hatte, den RadicaliSmus mit einer Ueppigkeit und

Russische Aussichten.

194

Raschheit in'S Kraut schießen ließen, für die es im übrigen Europa kein

Beispiel giebt.

Wo alles, was nach freierer Bewegung schmeckte, Jahre

lang verboten gewesen war, mußte alles verboten Gewesene für erlaubt und löblich angesehen werden, nachdem an der Starrheit der überkommenen Begriffe und Einrichtungen einmal gerüttelt und die Kritik des Bestehenden für zulässig erklärt worden war. — Wesentlich aus diesem Grunde sind

jene russischen Allerneuesten, die man gewöhnlich als Nihilisten bezeichnet, noch schlimmere, noch fanatischere Radicale geworden, als ihre ihnen im

Uebrigen nahe verwandten Vorläufer, die „Verschwörer" von 1849: seit

der Entdeckung der PetraschewSki'schen Umtriebe hatten der

gegen die

Jugend geübte Druck und die Strenge, mit welcher man alles „west­

liche" Wesen alS unheilbar revolutionär verfolgte, sich eben noch gesteigert. Die December-Verschwörer von 1825 waren Kinder eines idealistisch ge­

richteten,

von unklaren Humanitätsideen erfüllten Zeitalters,

politische

Schwärmer vom Schlage ihrer burschenschaftlichen und „demagogischen" Zeitgenossen gewesen, — Petraschewski's unter dem Regime der dreißiger und vierziger Jahre großgewordene Genossen nahmen sich bereits wie ge­

fährliche, wenn auch noch halb kindische Zerstörungsfanatiker auS, — ihre Epigonen, die modernen Nihilisten, sind unter dem härtesten, überhaupt

denkbaren Druck emporgekommen und danach geartete Meuchelmörder und

Mordbrenner von Handwerk geworden."

Der Verfasser knüpft an diese

Bemerkungen die interessante Frage, weshalb gerade das russische VolkSthum der Sitz der nihilistischen Bewegung geworden ist, weshalb diese

Bewegung, welche nach und nach sämmtliche specifisch russische Universitäten ergriffen hat, heute wie vor 30 Jahren an den Grenzen deS eigentlichen

Rußland stehen geblieben ist und ertheilt darauf die folgende vorläufige

Antwort: „In den westlichen, auf katholischer und protestantischer Grund­ lage entwickelten Provinzen deS russischen Reiches giebt es ein bestimmtes Bildungsfundament, dessen festgefügter Boden zu hart ist, als daß die

nihilistische Saat können.

auf demselben ohne Weiteres hätte Boden

schlagen

Weil man in diesen Ländern einen gewissen Schatz sittlicher und

intellektueller Bildung zu besitzen glaubte, — weil man noch Etwas

zu verlieren hat, sind die Theorien von der Nothwendigkeit der Zer­ störung deS Bestehenden bis auf den Grund und eines vollständigen Neu­

baues auf Widerstand gestoßen und ohnmächtig zu Boden gefallen.

Das

erstarrte griechisch-orthodoxe Kirchenthum Rußlands hat es zu der Rolle

eines wirklichen Bildungsfundaments nicht zu bringen vermocht, — in den Herzen und Köpfen der von der modernen Bildung berührten russi­ schen Gesellschaftsklassen ist für die sittliche Bildung, welche diese Kirche

zu vermitteln vermochte, kein Platz übrig geblieben.

Die Mehrzahl der

gebildeten und halbgebildeten modernen Russen hat die Empfindung, daß

sie durch eine Auflösung der vorhandenen BildungS-, Staats- und Ge­ sellschaftsformen Nichts verlieren würden, was als wirklicher Verlust an­ gesehen werden könnte.

Daß die Theorie von der Nothwendigkeit einer

dem Neubau vorauszuschickenden vollständigen Zerstörung da die größten

Erfolge gehabt hat, wo (nach Meinung der Betheiligten) gar kein oder ein nur geringer Verlust zu fürchten ist, — das bedarf keiner Erklärung."

Vielleicht wäre eS nach dem Krimkrieg noch möglich gewesen,

die

bösen Keime zu ersticken, welche das Nicolaitische Regime gesät hatte — wenn nicht auch Kaiser Alexander II. und seine Rathgeber in dem nihi­ listischen Irrthum befangen gewesen wären, daß eS möglich sei, auf dem zerrissenen und schlecht vorbereiteten Boden mit Einem Schlage große und

umfassende Reformgebäude nach europäischem Styl aufzuführen.

Schon

damals verschmähte die russische RcgiernngSpolitik den Weg der histori­

schen Entwickelung.

Grade die

Schrift hat trotz der

oben erwähnte

aphoristischen Behandlung der Materie über die Gründe, weshalb eine solche Regierung ein solches Ende nehmen mußte, Helles Licht verbreitet. „Nach ihrem äußern Gang und ihren äußern Ergebnissen betrachtet,

sagt der Verfasser, erscheint die Regierung schmählich

des am

ermordeten Monarchen als eine der

welche die

moderne Entwickelung

13. März d. I.

ersprießlichsten Phasen,

aufzuweisen hat.

Der Umfang der

russischen Retchßgrenze hat sich seit dem Jahre 1855 um 30,000 Quadrat­

meilen,

die

Zahl der Unterthanen des russischen Scepters um

etwa

30 Millionen vermehrt, der Vater gebot über 900,000 bewaffnete Männer, der Sohn hatte schließlich 2'/t Millionen Soldaten hinter sich.

Unter

seiner Regierung haben die Staatseinnahmen sich von 264 ans 625 Millionen gehoben, die Zahl der russischen Universitäten ist um die Hälfte, diejenige der höheren Schulen um das Doppelte, die Zahl der Volksschulen gar

um das fünffache gewachsen.

Für Unterrichts- und Bildungszwecke wurde

im Jahre 1880 siebenmal mehr, für die Rechtspflege fünfmal- mehr auf­ gewendet wie zu den Zeiten des Kaisers NicolauS.

Vor 26 Jahren um­

faßte das russische Eisenbahnnetz etwa 700 Kilometer; Mitte deS vorigen Jahres war die Gesammtlänge russischer Schienenwege auf 22,643 Kilo­

meter angewachsen.

Die Ausfuhr aus Rußland hat während dieses Zeit­

raums eine Vervierfachung, die Einfuhr nahezu eine Verdreifachung er­

fahren. — Alexander II. hat die Leibeigenschaft aufgehoben, der ländlichen Bevölkerung Litthauen'S und Polen'S zu Grundbesitz verhelfen, die Erb­ lichkeit deS geistlichen Standes und die Cantonistenschulen beseitigt, die

Körperstrafe und die Verpachtung deS Branntweinsregals abgeschafft, die Anfänge einer Selbstverwaltung der Kreise und Provinzen tn'S Leben gePrru^schi Iahidüchir. ®t. XLVIIl. Hist r.

14

Russische Aussichten.

196

rufen; er hat die Militärdienstzeit abgekürzt, die Disciplin menschlicher

gestaltet, endlich die allgemeine Dienstpflicht eingeführt.

Unter seiner Re­

gierung hat die öffentliche Meinung einen bis dahin unerhörten Spiel­

raum,

die periodische Presse anerkanntes

Bürgerrecht in Rußland

er­

worben; die frühere Absperrung gegen das Ausland hat ein für alle Mal

ein Ende genommen.

Die Finnländer danken ihm die Wiederherstellung

ihrer fünfzig Jahre suSpendirt gewesenen ständischen Verfassung; die Liv-,

Est- und Kurländer die confessionelle Freiheit der in gemischten Ehen ge­ borenen Kinder, und daß die Polen ihm nichts zu danken haben, hat nicht

an dem Kaiser, sondern lediglich an ihnen selbst gelegen.

Alexander II.

ist endlich beschieden gewesen, den Krieg im Kaukasus zu beendigen,

die

auf daS Schwarze Meer bezüglichen Artikel des Pariser Friedensvertrags

aus der Welt zu schaffen, daS bei Abschluß deS Vertrags verloren ge­ gangene Stück Bessarabien wiederzugewinnen und durch die Unabhängig­

keitserklärung der drei Donaufürstenthümer und die Befreiung Bulgarien's der Lösung der orientalischen Frage näher zu kommen, als irgend einer

seiner Vorgänger. — Und der Monarch, dem so große und glänzende

Erfolge beschieden gewesen, — er hat sein Reich in einem Zustande hinter­ lassen, der noch schwieriger, noch gefahrvoller und bedrohter erscheint, als

derjenige,

der seinem inmitten eines unglücklichen Krieges verstorbenen

Vater das Herz gebrochen hatte! Unzufriedenheit, Verarmung, Mißtrauen, Rechtsunsicherheit und leidenschaftliches Verlangen nach einer veränderten

Regierungsform haben so ungeheuere Dimensionen angenommen, daß einer verhältnißmäßig kleinen Zahl entschloffener und in der Wahl ihrer Mittel

rücksichtsloser Fanatiker möglich geworden ist, die Grundfesten einer nach

Jahrhunderten zählenden staatlichen Ordnung zu erschüttern, um

eine

Krisis herauf zu beschwören, wie sie in Rußland noch nicht erlebt worden ist, — daS Leben des Zar-BefreierS zu sechs verschiedenen Malen zu ge­ fährden und ihn schließlich inmitten seines Volkes, auf offener Straße,

bei Hellem lichtem Tage auf den Tod zu treffen.

Wohl hallt der Ruf des

Entsetzens über diese That von dem einen Ende des weiten Reiches zum

andern wieder, ebenso laut und ebenso nachdrücklich aber wird der Ruf

vernommen, daß eS in Rußland anders, ganz anders werden müsse.

Conscrvative und Liberale, Nationale und Occidentale, expossedirte Herren und emancipirte Knechte stimmen in diesen Ruf ein und eine gewisse Be­ ruhigung bei dem gegeb.nen Zustande scheint nur noch da obzuwalten, wo man auch von einer Veränderung Nichts erwarten zu dürfen glaubt, — in den europäisch gearteten und wegen ihrer europäischen Art bitter

gehaßten westlichen Theilen der großen Monarchie deS Ostens." Und weshalb Alles das? Weil die Regierung deS menschlichsten und

wohlmenendstkn aller russischen Monarchen niemals, und auch nicht za ihren

besten gelten, aus unlösbaren inneren Widersprüchen herausgekommen ist,

weil sie es niemals zu einem einheitlichen consequent durchgeführten System gebracht, weil sie ihre besten Kräfte vielmehr an die Vereinigung unver­

einbaren Gegensätze gesetzt, und in dem Bestreben, dem Entgegengesetzten gerecht zu werden, alle Parteien und alle Ansprüche unbefriedigt ge­

lassen hat.

Die Geschichte der Aushebung der Leibeigenschaft, der Justiz- und der Bewaltungsreform

bis zum Jahre 1866

ist

im Grunde nur eine

russische Illustration zu dem französischeu Worte: Ordre — Contreordre

— Desordre,

hervorgerufen durch den Erbfehler aller russischen Herr­

scher, durch die unüberwindliche Ueberzeugung, daß trotz aller Reformen

und Gesetze die Kaiserliche Gewalt über

Recht und

Gesetz stehe, weil

sie eigentlich die einzige Quelle alles Rechts und aller Gesetze sei. Eine dieser Ueberzeugung entsprechende Praxis ist unverträglich mit einer bcrufS-

treuen, charaktervollen und intelligenten Beamtenschaft, sowie überhaupt

mit einer geregelten Regierung.

Eine solche ist thatsächlich unmöglich, so­

lange der Herrscher sich für berechtigt erachtet, in jedem ihm passend er-

scheineiwcn Augenblick und bei jeder Gelegenheit die regulären Organe zur Austührung seines Willens zu umgehen und besonderen Beauftragten Vollmachten zu ertheilen, welche in die Befugnisse des für die Durchfüh­

rung de§ Gesetzes verantwortlichen Beamten eingreifen und diese machtlos

machen.

Dieses System der Shstemlosigkeit zu beseitigen, das wäre die

erste Verbedingung jeder praetisch wirksamen Umgestaltung;

aber

nicht

einmal Kaiser Alexander II. konnte sich zu dieser Beschränkung seiner Selbstherrlichkeit entschließen.

Kein Wunder, daß auch die neuen Gesetze zum größten Theil auf

dem Papier blieben, daß z. B. trotz der principiellen Beseitigung der Verwaltungsjustiz durch die Justizgesetze von 1862 lediglich das Belieben

der höchsten oder auch untergeordneter Stellen darüber entschied, ob po­ litische Verbrechen oder was dafür gehalten wurde, nach Vorschrift der gewöhnlichen Strafproceßordnung oder auf dem Verwaltungswege abgeurtheilt wurden.

Das System der Verschickung nach Sibirien blieb nach

wie vor bestehen, obgleich die Anwendung desselben während deS ersten

Jahrzehntes der Regierung Alexander's II. eine sparsamere war. Allerdings ist es richtig, daß in einem Staate, wie Rußland, das System der Der-

waltungsjustiz gewisser Maßen unentbehrlich war angesichts einer Justizgesetzgebung, die

einem Volke mit völlig europäischer Bildung

messen gewesen sein würde. der Verwaltung;

ange­

Vollständige Unabhängigkeit der Justiz von

Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlungen;

Russische Aussichten.

198

Einführung der Jury in Strafsachen; Aufhebung des privilegirten Ge­ richtsstandes; Selbständigkeit der vom Staate zu wählenden Richter; Be­

gründung eines AdvocatenstandeS — das waren die angeblich unabänder­

lichen Grundsätze des künftigen russischen Gerichtswesens, deren sofortige Durchführung selbstverständlich eine absolute Unmöglichkeit war.

Wie die­

selbe versucht wurde, kennzeichnet der Verfasser unsrer oben citirten Schrift mit folgenden Worten: „Schon wenige Jahre nach Einführung der Justizre­ form hatte sich gezeigt, daß dieselbe wie dem Bedürfniß, so der Leistungsfähig­

keit der Nation um ein Menschenalter vorausgeeilt war. Magistratur, Staats­ anwaltschaft und Advocatur mit juristisch vorgebildeten, practisch erprobten

Männern zu besetzen, war bei dem Mangel entsprechender Elemente unmöglich

gewesen. Zu Richtern und Procureuren hatte man, je nach Zufall und Nei­

gung, bureaukratische Routiniers der herkömmlichen Sorte und der Schulbank entlaufene DoctrinärS machen müssen.

Die ersteren setzten die alte Miß­

wirthschaft unter veränderten Formen fort, indem sie die Selbständigkeit

des Rtchterstandes als Freibrief für die Emancipation von jeder Controle behandelten, die letzteren sahen ihre Hauptaufgabe in der Herausforderung aller Autorität und in grundsätzlicher Opposition gegen die Verwaltung.

Gerade unter dem strebsameren Theile der jüngeren Richter, insbesondere

unter den auS Bezirkswahlen hcrvorgegangenen Friedensrichtern gehörte es zum guten Ton, soweit immer möglich, die Partei des schwächeren Theils zu nehmen und der Regierimg die Zähne zu zeigen.

Die Advo­

catur wurde zum Tummelplatz des kecksten Radikalismus und außerdem zur Zufluchtstätte weggejagter Beamten,



auf den Bänken der Ge­

schworenengerichte aber überboten die verschiedenen Gesellschaftsklassen ein­

ander an Frivolität, Popularitätssucht und politischer Gewissenlosigkeit:

daS Vertrauen, das man in die Reife der Nation gesetzt hatte, war auf

allen entscheidenden Punkten getäuscht worden." Nicht viel glücklicher erwies sich der Versuch, in den Gouvernementö-

und KretS-Semstwo'S Organe der Selbstverwaltung unter Betheiligung der Gutsbesitzer,

Bauern und Bürger der kleinen Städte zu schaffen.

Der Bauernstand war der Leibeigenschaft ledig geworden; aber durch die Umwandlung der Frohnden und Naturalprästanden in Zinszahlungen und

durch die Verpflichtung, die Renten für die Loskaufsummen aufzubrtngen, waren die financiellen Lasten erheblich gestiegen, während gleichzeitig die Einführung der Branntwetn-Accise (mit. einem Ertrag von ca. 260 Mill.

Rubel jährlich), die den FtScuS an der Vermehrung

der Branntwein­

schänken und des Spirituosenconsums interessirte, die Widerstandskraft der befreiten Leibeigenen gegen die Verlockungen deS national-russischen Lasters

des Trinkens auf eine allzuharte Probe stellte.

„Das Saufen, sagt ein

Kemer der russischen Verhältnisse, ist auS einem Sonntagsvergnügen eine WerktagSbeschäftigung geworden."

„Während Alles unter der Last wlrthschaftlicher Sorgen seufzte, schreibt

der Verfasser deS erwähnten Buchs, und während die Herstellung auch nur

erträglicher Beziehungen zwischen ehemaligen Herren und ehemaligelt Leib­ eigenen mit den größten Schwierigkeiten verbunden war, sollten Gutsbesitzer,

Bauern und Bürger kleiner Städte gemeinsam Zeit, Anstrengung — und Geld darauf verwenden, ihr Prästanden- und CommunicationSwesen neu und

selbständig zu regeln, die Fürsorge für Gefängnisse und WohlthättgkeitSanstaltcn zu übernehmen und in Bezug auf eine Anzahl wichtiger Functionen an die Stelle der Regierung zu treten. Verglichen mit dem Pflichtenmaß, das die Landschaften übernehmen sollten, waren die denselben ertheilten Rechte nur höchst bescheidene — und daS wichtigste dieser Rechte, dasjenige zur

Umlegung neuer Steuern wurde ihnen verkürzt, sobald sie von demselben

ernstlichen Gebrauch machen wollten.

Die den Landschaften behufs Be­

streitung der ihnen übertragenen Verpflichtungen und der Kosten ihres, freilich durch

eigene Schuld vertheuerten Mechanismus regierungsseitig

überwiesenen Summen reichten nirgend auS; sollte Rath geschafft und den beständig

gesteigerten

Forderungen

der

Regierung

amtlich

entsprochen

werden, so mußte man neue Einnahmequellen aufsuchen — und daS in einer Zeit allgemeiner wlrthschaftlicher Bcdrängniß.

Sobald nun die Land­

schaft ein Steuerobject ausfindig gemacht zu haben glaubte, legte die Re­

gierung Hand auf dasselbe, indem sie die Befugnisse zur Ausbeutung des­ selben für ihr ausschließliches Recht erklärte.

Daflelbe geschah, sobald

vorgeschrittene oder energische Landschafts-Repräsentationen

auf Gebiete

hinübergreifen wollten, welche politisch bedenklich erschienen und schon

wenige Jahre, nachdem diese so hoffnungsvoll begrüßten Institutionen zu

fungiren angefangen hatten, wurde die allgemeine Klage vernommen, daß

dieselben keine Erweiterung der Befugnisse der Kreise und Provinzen, sondern lediglich eine ökonomische Mehrbelastung derselben bedeuteten.

Wenn es die Absicht gewesen wäre, den Beweis zu führen, daß die so leidenschaftlich verlangten Reformen nach westeuropäischem Muster in

Rußland unanwendbar seien, so hätte die Regierung nicht anders ver­

fahren können; in Wirklichkeit wurde freilich nur constatirt, daß Selbst­ verwaltung der Verwaltungskreise,

Selbständigkeit der Justiz mit dem

traditionellen Begriff des moskowitischen SelbstherrscherthumS, d. h. mit

der

absoluten Berwaltungswillkür unvereinbar sind



wozu es denn

freilich eines so schwerfälligen Experiments nicht bedurft hätte.

Die Ent­

täuschung deS intelligenteren Theils der Bevölkerung kam selbstverständlich nicht der Regierung zu Gute sondern ausschließlich den radicalen Ele-

Russische Aussichten.

200

menten, welche richtig erkannten, daß eine Umgestaltung nur gegen, nie

aber solange die Gewalt des Kaisers nicht eine Schranke gefunden habe, durch die Regierung zu bewerkstelligen sein werde.

Die besten Absichten

des Kaisers führten demnach nur dazu, die Kluft zwischen Thron und

ES bedurfte nur eines leichten Anstoßes, um der Re­

Volk zu erweitern.

gierung den inneren Zusammenhang oder wenigstens die thatsächliche Lage klar zu machen: von dem Mordversuch, den Wladimir Karakosow am

4. Sept. 1866 auf den Kaiser Alexander machte, datirt der Rückfall der russi­ schen Politik tu das kaum verleugnete System: die Untersuchung gegen Kara­

kosow und seine Genossen wurde nicht dem Gerichtshof für Staatsverbrecher, sondern einer außerordentlichen ad hoc berufenen Commission übertragen, an deren Spitze der Todfeind aller liberalen Reform und aller Einschrän­

kungen der altväterlichen Willkür, der aus Wilna herbeigerufene Murawjew gestellt wurde.

Damit war das System der Verwaltungsjustiz in aller

Form wiederhergestellt, ohne daß man eS für nöthig gehalten hätte, die

Gesetze selbst zu

ändern.

Dieser Vorgang ist gradezu typisch für daS

Verfahren der Regierung auf allen politischen Gebieten.

Wer begreift

nicht, daß die Mißachtung der Gesetze seitens der Regierung selbst gerade die radicale Strömung stärken mußte, der man entgegenzuarbeiten versuchte,

daß die Systemlosigkeit, mit der die Regierung verfuhr, ihr alle Kreise der Bevölkerung entfremdete und sie schließlich

in eine Jsolirung

versetzte,

welche eS der Umsturzpartei möglich machte, den Kaiser gewissermaßen für vogelfrei zu erklären? „Har, so schließt unser anonymer Verfasser seine Be­ trachtungen über die Regierung Alexander'- II., nach einer so langen Kette

von Mißgriffen und Widersprüchen, nach so unwidersprechlichen Zeugnissen

für den Umfang und die Tiefe der staatlichen und der sittlichen Auflösung,

nach so zahlreichen und so konsequent überhörten warnenden Zeichen, — von einer Ueberraschung wirklich noch die Rede sein können?

Reichte

nicht vielmehr die bloße Wahrscheinlichkeitsrechnung zu der Annahme auS, daß

auf so

unaufhörlich unternommene,

Kaisermordversuche

so regelmäßig wiederkehrende

schließlich ein Kaisermord folgen

Sicherheit konnte der Untergrund

der Straßen

werde?

Welche

St. Petersburgs noch

bieten, nachdem der Untergrund der russischen Gesellschaft unsicher befun­

den und nachdem schließlich selbst daS Fundament des Winterpalastes in

eine Mördergrube verwandelt worden war? Die alten Stützen des ZarenthumS waren über dem Sarge des Kaisers NicolauS zusammengebrochen,

neue Stützen hatte das Regiment seines Nachfolgers nicht aufzurtchten ver­

mocht; und für ein Kunstwerk, daö sich durch daS natürliche Gleichgewicht seiner Theile zu halten vermöchte, hat daS russische StaatSgebäude denen,

die eS kannten, niemals gegolten.

Zusammengestürzt ist dieser Bau auch

gegenwärtig nicht; daß die Steine die sich aus dem Gefüge loslösten, zu­ erst den Herrn des Haufes erschlagen haben,

legt zum Mindesten die

Vermuthung nahe, daß der russische Herrscherstuhl uicht an der richtigen Stelle ftett." Nahezu sechs Monate sind verflossen seit Kaiser Alexander III. die

Erbschaft seines Vaters angetreten hat, nnd da muß man doch fragen: liegt nirgmds ein Anzeichen für die Annahme vor, daß der neue Kaiser die Lehre terstanden hat, welche in dem Ereigniß vom 13. Februar liegt?

Nach langem Schwanken erschien endlich am 11. Mai In dem „Regierungs­

blatt" ein kaiserliches Manifest, in dem eS heißt:

„In Unserer großen

Betrübniß befiehlt Uns GotteS Stimme, fest die Zügel der Negierung

zu halten in der Zuversicht auf die göttliche Vorsehung und in dem Glauben an die Kraft

und die Wahrheit

der selbstherrscher-

lichen Gewalt, welche Wir berufen sind zu befestigen und zu bewahren vor jeder Anfechtung zum Wohle dcS Volks.

Indem Wir UnS Unserer

großen Aufgabe weihen, rufen Wir Alle Unsere getreuen Unterthanen auf,

Unö rind dem Staate in Treue und Wahrheit zu dienen, zur .Ausrottung der nichtswürdigen aufrührerischen Bestrebungen, welche die russische Erde

mit Schande bedecken, zur Befestigung von Sittlichkeit und Glauben, zur rechtschaffenen

Erziehung der Kinder,

zur Vernichtung von Lüge und

Veruntreuung, zur Herstellung von Ordnung und Recht, in der Thätig­ keit der Rußland von seinem Wohlthäter, Unserem vielgeliebten Vater

verliehenen Institutionen."

Deutlicher als es

hier geschehen,

konnte

es nicht documentirt werden, daß auch Alexander III. an dem Wahn fest­ hält, mit den herkömmlichen Mitteln, mit Mitteln, deren Wirkungslosig­

keit durch die Ereignisse der letzten Jahre klar gestellt ist, den bedrohten Die öffentliche Meinung in Rußland und außerhalb

Thron zu retten.

Rußlands sah in dem Manifest den Absagebrief dcS Kaisers an alle Reformprojecte und

den Steg des Grafen Ignatjew,

des Vertreters der

russischen Partei, und der Panslavisten über die LoriS Melikow, Walujew,

Schuwalow u. s. w.

Schon die Umstände, unter denen das Manifest

ohne Vorwisscn Melikow's vorbereitet worden war, zwangen diesen zum Rücktritt und bahnten dem Grafen Ignatjew, dem „Vater der Lüge", wie die Türken ihn nennen, den Weg in das Ministerium des Innern, mit dem auch die gefürchtete „dritte Abtheilung von Sr. Majestät höchst eigener

Kanzlei", d. h. die geheime oder politische Polizei verbunden worden war. Die erste officlelle Kundgebung Jgnatjew'S bestand in einem Erlaß an die

Gouverneure, der in der Hauptsache nur eine Umschreibung dcS Manifest-

vom 11. Mai war.

In dem Munde eines Ignatjew klingt die Berufung

an die staatscrhaltenden Elemente, Adel und Geistlichkeit, wie Hohn. WaS

Russische Aussichten.

202

das panslavistische Programm für die auswärtige Politik Rußlands bedeutet, davon hat der Krieg gegen die Türkei von 1876/77 einen Vorgeschmack ge­

geben.

Die Befestigung der landesherrlichen Gewalt, welche Ignatjew als

Minister des Innern sich zur Aufgabe gestellt hat, setzt die Verwischung aller ethnographischen Verschiedenheiten der Völkerschaften voraus, auS denen das russische Reich besteht. Die Phantasien der Aksakow und Genossen von einer

russischen Nationalversammlung gelten demselben Ziel.

„Vierzehn Jahre ist

eS her, schreibt der Verfasser unserer Schrift (a. a. O. S. 420), daß Juri Samarin (der Busenfreund und der intime Parteigenosie desselben Iwan Aksakow, der sich neuerdings als Lobredner des nationalen Zarenthums lind als Todfeind constitutioneller Velleitäten aufspielt) — den „feierlichen Augen­ blick" als nahe bevorstehend bezeichnete, „in welchem die Regierung das

Volk selbst zu Rathe ziehen, und ihm in der einen oder der andern Form

ein Stimmrecht gegeben werde" und daß derselbe Schriftsteller in der „der ersten

gemeinsamen russischen Landesversammlung" den

Boden zu bereiten,

Volk und Regierung in wahrhaft tumultuarischer

Absicht,

Weise aufforderte,

allen

eigenartigen Institutionen der baltischen Pro­

vinzen so rasch und gründlich wie immer möglich ein Ende zu machen.

Das ist seitdem

zu unzähligen

Malen

und

am

lautesten und

nach­

drücklichsten da wiederholt worden, wo man die Alt- und Rechtgläubigkeit

des Moskauer Slavophilenthums ebenso chnisch belächelt, wie Alles, was sonst nach russischer Tradition und nach Pietät gegen die bestehende Ord­

nung schmeckt.

Wohl wissend, daß eine ernsthaft unternommene De-

centralisation das einzige Mittel wäre, mit dessen Hilfe die souveräne „allgemeine russische Landesversammlung"

entbehrlich gemacht werden

und dem Radikalismus die sichere Beute entrissen werden könnte, treffen Moskauer und Petersburger Doctrinäre der verschiedensten Richtungen

und Farben in dem Wunsche zusammen, durch Einstampfung der den Grenzlanden gebliebenen organischen Einrichtungen, die Dynastie jedes

Rückhalts gegen den nationalen Sturm und Drang zu berauben und die tabula rasa zu beschaffen, auf welcher die semski sobor gebaut werden

Die Panslavtsten haben, natürlich nur vorläufig, die semski

soll."

sobor,

daS

russische

Nationalparlament

strichen, um die „landesherrliche Gewalt" der

den

Grenzlanden

auS

ihrem

Programm

ge­

zunächst zur „Einstampfung

gebliebenen organischen Einrichtungen"

nutzen oder, richtiger gesagt, zu mißbrauchen.

zu

be­

In den Ostseeprovinzen

ist Graf Ignatjew bereits am Werke. ' Im Mai d. I. wurden dem Kaiser

eine Anzahl von Vertretern des estnischen Volkes vorgestellt, welche in

ihre Loyalitätsversicherungen die Bemerkung einflochten, „daß die Russen

den einzigen den Esten benachbarten Stamm bilden, der dmselben Gutes

und

nichts Böses gethan habe".

Die Esten sind bekanntlich die Urbe­

wohner Estlands und des nördlichen Livland; sie bilden den Stamm deö Bauernthums der Ostseeprovinzen, während Adel, Bürgerthum und Städte

ausschließlich deutsch sind.

DaS sogenannte „nationale Bewußtsein" dieses

„Volkes" ist künstlich durch Sammlung von Volksliedern und ähnlichen Agitationsmitteln

genährt worden; der Empfang ihrer Wortführer bei

Hofe war darauf berechnet,

ihnen ihren Angehörigen in der Heimath

gegenüber ein glänzendes Relief zu geben und die Sprache ihrer Zeitungen,

welche unbelästigt von der sonst unbarmherzigen Censur und unter dem lauten Beifall der russischen Presse verkünden, daß die Zeit der deutschen Herrschaft in den Ostseeprovinzen vorbei sei, läßt erkennen, daß sie der

Unterstützung der Regierung sicher zu sein glauben.

„DaS Programm

dieser Jung-Csten und Jung-Letten, so berichtete der „Hamburgische Corre-

spondent" dieser Tage, bildet seit einiger Zeit den Gegenstand der öffent­

lichen DtScussion und legt von der Begehrlichkeit seiner Urheber deutliches Zeugniß ab.

Diefenigen Bauern, die noch nicht Eigenthümer ihrer Pacht­

höfe sind (der größte Theil derselben ist längst an die Pachtinhaber ver­

kauft) sollen gewaltsam zu Eigenthümern derselben gemacht, die Domänen ausschließlich an bäuerliche Gemeinden verpachtet werden, die drei alten

Provinzen, Liv-, Est- und Curland sollen in zwei neue Gouvernements, Est- und Livland, zusammengelegt werden, um die nationale Organisation

ihrer Urbewohner zu erleichtern; an die Stelle der officiellen deutschen

hat die lettische, bzw. estnische Sprache zu treten, deren Kenntniß von jedem

Lehrer, Dorpater UniversitätS-Profesior, Beamten, Prediger u. s. w. nach­ zuweisen ist; das den deutschen Corporationen der Städte und Ritter­

schaften zustehende Recht zur Wahl ihrer Richter und Beamten ist aufzu­ heben, die officielle Landesrepräsentation der Landmarschälle, Landesbe­

vollmächtigten u. s. w. zu beseitigen, — mit einem Worte, das Esten- und Lettenthum in die Erbschaft deS DeutschthumS zu versetzen und NamenS

des demokratischen Majoritätsgrundsatzes in eine herrschende Stellung zu bringen.

Die deutsche Cultur aber wollen die Herren über Bord werfen,

um an Stelle derselben eine von etwa 900, 1000 Esten und Letten im-

provisirte, der russischen möglichst angenäherte neue National-Civilisation zu etabliren."

„Das, fügt der Berichterstatter hinzu, wird unter der Aegide der

kaiserlichen Censur in den lettischen und estnischen Zeitungen gepredigt, von dem Chorus der russischen Presse beklatscht und auf solche Weise eine Agitation inscenirt, deren turbulenter Charakter auf der flachen Hand liegt

und die ausdrücklich dazu bestimmt erscheint, den gebildetsten, wohlhabendsten, friedlichsten und loyalsten Theil des schon erschütterten russischen StaatsPrcußische Jahrbücher. $Jt. XLVIH. Hest r.

15

Russische Aussichten.

204

körperS in einen Heerd von Umtrieben der bedenklichsten und aberwitzig­ sten Art zu verwandeln!

Und diesem Treiben sieht man regierungsseitig

nicht nur ruhig zu, — man scheint dasselbe begünstigen und im Interesse der sogenannten Nationaleinheit auSbeuten zu wollen, damit das Ost­

seegebiet in Bezug auf Wohlstand, Gesittung, bürgerliche Ruhe und kon­ servativ-kirchliche Gesinnung vor dem übrigen Rußland nichts voraus habe.

— Vergebens schütteln die ruhig und ernsthaft denkenden Leute den Kopf, vergebens mahnen die Freunde einer organischen Gesittung, geschichtlicher

Tradition und monarchischer Ordnung zu einer amtlichen Mißbilligung

dieses Treibens, das die der Residenz zunächst benachbarten Landschaften mit den bedenklichsten Wirren bedroht und direkt darauf auSgeht,

der

Umsturzpartei neue Recruten zuzuführen — das Ministerium des Innern, bet welchem das entscheidende Wort liegt, hat gegen die Verhetzung der

baltischen Minderheit nichts einzuwenden, weil die letztere einen deutschen Charakter trägt.

Unsere nationale Presse aber, die sonst den Mund nicht

aufthun darf, ruft Bravo und giebt den Letten und Esten den Rath, ihr.

Programm noch durch die Forderung einer Landvertheilung an alle Be­

sitzlosen und Einführung des russischen ungeteilten Gemeindebesitzes zu erweitern!"

Und während man so die deutschen Ostseeprovinzen mit Mißtrauen

erfüllt, redet man einer Aussöhnung mit den Ländern von dem Stamme

Ljech, d. h. den Polen das Wort, deren „Separatismus" man zugleich bekämpft und schürt, obgleich eine solche Aussöhnung immer nur durch die

Befriedigung der nationalen Bedürfnisse der Polen, durch Herstellung

eines dem Königreich Polen eingeräumten Selfgovernments möglich fein würde.

Mit großer Schärfe und Sachkenntniß erörtert unsere Schrift die Ge­ fahren einer Namens der Staatseinheit und Regierungssouveränität agitirenben Politik, welche darauf ausgeht, gerade die konservativen Elemente

der Gesellschaft der Negierung zu entfremden und die Dämme abzutragen,

welche im Momente der Gefahr die Sündfluth des national-russischen Parlamentarismus abhalten könnten.

Vor der Hand will der Kaiser von

keiner Beschränkung seiner selbstherrlichen Gewalt zu Gunsten deS Volkes

wissen; die Staatsmänner aber, welche unter seiner Aegide für ihre Zwecke

arbeiten, sorgen dafür, daß im entscheidenden Augenblick, d. h. wenn der Bankerott des absoluten RegierungSsystemS ausbricht, der Kaiser keine andere Wahl haben wird, als die Berufung eines einheitlichen nationalen Par­

laments.

„Wenn in dem national geschlossenen, auf alte Bildungstradi­

tionen gestützten, von konservativen Elementen nie völlig entblößt gewesenen

Frankreich, heißt eS in dem oft ettirten Buch, Volksvertretungen, wie die

gesetzgebende Versammlung von 1791 und der Convent möglich gewesen

sind, — so kann nur der rllchloseste Leichtsinn darüber in Zweifel sein, waS von einem Lande ju erwarten wäre, dessen Kirche für die Gebildeten

nicht mitzählt, dessen Bildung von Vorgestern datirt, das keinen wirklichen Mittelstand besitzt, dessen herrschende Klassen die Träger der Bewegung sind — und dessen Bevölkerung sich auS einem Dutzend unter einander

tödtlich verfeindeten Nationalitäten zusammensetzt, von denen jede auf einer anderen Bildungsstufe steht.

ES hat seinen guten Grund, daß dasselbe

Wort Constitution, dessen Nennung die nationalen und jungrussischen Kreise wie von neuem Wein erglühen macht, den europäischen Elementen der Hauptstadt und

Bewohnern der

den

europäischen Provinzen deS

Westens das Blut aus den Wangen treibt und daß die Neigung der

letztem, sich an einer Unternehmung solcher Art zu betheiligen, am besten

gar nicht auf die Probe gestellt würde!"

Der Nathlosigkett der

ersten Monate der Regierung deS Kaisers

Alexander III. sind Entschließungen gefolgt, deren Tragweite der Kaiser

selbst offenbar nicht übersteht, über deren bedenklichen Charakter aber Nie­ mand im Zweifel sein kann.

CS ist ein wahres Verhängniß für Rußland,

daß der Herrscher, dessen Privatleben als ein durchaus tadelloses anerkannt ist, der sich im Krieg wie im Frieden als ein strenger, gewissenhafter und

tüchtiger Heerführer und Verwalter erwiesen hat, gerade der wichtigsten und

unentbehrlichsten Fähigkeit ermangelt, den von Außen auf ihn eindringen­

den Eindrücken Stand zu

halten und den nothwendigen Entschluß zur

ES hat fast den Anschein,

rechten Zeit zu fassen.

als ob er in dem

Grafen Ignatjew den Mann gefunden habe, der, gewissen- und rücksichts­ los die allrussischen Velleitäten deS Herrschers zu seinen Zwecken auS-

beutend, ihn von der Qual des Zweifels befreit und ihn, der zu herrschen Die Fortsetzung der systemlosen Politik Kaiser

glaubt, selbst beherrscht.

Alexander III. wäre ein Uebel gewesen, aber vielleicht noch das geringere Uebel im Vergleich zu einem System,

welches,

blind oder verräthe-

risch, die Zersetzung deS russischen StaatSkörperS beschleunigt.

Die Um«

sturzpartei kann ihre Zeit abwarten In der ruhigen Ueberzeugung, daß die kaiserliche Regierung

breiten

Schichten der

für sie arbeitet.

An Symptomen einer die

russischen Nation immer

tiefer durchdringenden

Gährung fehlt es schon jetzt nicht; eS genügt an die Judenhetze in Süd­

rußland und die Ausbreitung deö SectenwesenS, deren Anhänger sich jetzt

schon nach statistischen Angaben auf 14 Millionen belaufen sollen, zu er­

innern.

In den höchsten Kreisen der Verwaltung, ja in der nächsten Um­

gebung deS Kaisers werden fast täglich Parteigänger der „Nihilisten" ent­ deckt, so daß man unwillkürlich zu dem Verdacht kommt, die Anklage wegen

Russische Aussichten.

206

Theilnahme an der nihilistischen Verschwörung sei für die jetzigen Macht­

haber der bequeme Vorwand, unbequeme Persönlichkeiten aus dem Wege

zu schassen. So wird von unten und von oben der Zündstoff aufgehäuft, den ein Funke, mag er kommen, woher er will, in dem rechten Augenblick zu

einem revolutionären Brande anfachen kann, der vielleicht zugleich der

Selbstherrlichkeit des russischen KaiserthumS und dem Bestände des russi­ schen KoloffeS ein Ende machen wird.

Wenn die russischen Staatsmänner

heute „Reform" für ein Fremdwort erklären, welches man in Rußland nicht verstehe — daS Fremdwort „Revolution" wird nicht unverstanden

bleiben.

k.

Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte. i.

Die recht- und friedlosen Leute.

Faßt man unsere heutige Gesellschaftsordnung ins Auge, so fällt als­ bald gegenüber derjenigen der alten Zett eine scharf abweichende. That­ sache auf, die wir als einen der Cardtnalsätze der modernen sozialen Er­ rungenschaften zu betrachten berechtigt sind:

ich meine den gleichmäßigen

Schutz des Gesetzes, dessen sich alle Glieder der bürgerlichen Gesellschaft

zu erfreuen haben, dessen sogar diejenigen noch theilhaftig sind, welche sich durch verbrecherische Handlungen irgend welcher Art außerhalb des

Rechts gesetzt haben.

Es gibt heutzutage keine Gesellschaftsklassen mehr,

welche schon durch ihr bloßes Dasein, ohne durch rechtswidriges Handeln

sich gegen die gesellschaftliche Ordnung aufgelehnt zu haben, Kreise der schutzberechtigten Gesellschaft ausgeschlossen sind.

aus dem

Mit solchen

sozialen Mißbildungen gründlich aufgeräumt zu haben, ist eines der haupt­

sächlichsten Verdienste der sogenannten Aufklärungöperiode des Jahrhunderts.

Gerade weil die Verfechter derselben

vorigen

mit Waffen des

Geistes und der höheren Bildung gegen die überkommenen sozialen Zu­

stände ankämpften, hat sich die Umbildung derselben zwar nur langsam, aber sicher und gründlich vollzogen, und eS ist eine durchaus nicht zu­

treffende Behauptung, wenn man das Hauptverdienst daran der mehr

äußerlich und gewaltthätig wirkenden französischen Revolution von 1789 zuschrcibt.

Sie hat nur vollendet und abschließende Form gegeben, nach­

dem die Neubildung In der öffentlichen Meinung und vielfach auch in der äußerlichen Gestaltung

schon Jahrzehnte vorher begonnen hatte.

Wie

wäre dies auch anders möglich, da bloß äußerliche Mittel geistige Be­ wegungen — und zu diesen gehören die sozialen Umgestaltungen in einem

besonders hervorragenden Sinne — zwar unterstützen, aber niemals her­

vorrufen können, wie es umgekehrt ebenso richtig ist, daß solche Bewe­ gungen nur sehr schwer und langsam ohne Zuhilfenahme äußerer Gewalt,

durch rein geistige Mittel sich verdrängen lassen. Preußische Jahrbücher. Bd. XLV111. Heft 3.

Wie der einzelne Dkensch

16

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.

208

und die Gesammtheit der menschlichen Gesellschaft

eine Mischung

von

Geist und Materie, Idealismus und Realismus ist, so vollzieht sich auch daS Wachsen und Werden des Einzelnen sowohl als die geschichtliche Ent­

wicklung der ganzen Menschheit unter dem Einfluß theils idealer, geistiger, theils materieller, mechanischer BildungSfactoren.

Beide Elemente er­

gänzen sich gegenseitig: die äußere Gewalt — die freilich vorwiegend sich wieder auf innerliche, geistige Motive wird stützen müssen, wenn sie einen

nachhaltigen Erfolg erzielen will — beschleunigt und vollendet den Prozeß

gesellschaftlicher Neubildungen, welche die vorausgeeilte höhere Bildungs­ stufe Einzelner begonnen hat.

Niemals dagegen vermochte erstere allein

andere als bloß ephemere geistige Umgestaltungen in'S Leben zu rufen; wo ihr dies einmal scheinbar gelungen ist, hat — ich erinnere nur an die josephinischen Reformen in Oesterreich — ein Zufall das ganze Ge­

bäude in Trümmer geworfen.

Und wenn eine spätere Zeit wieder an

solche angeknüpft hat, so hat sie dies nur unter Zuhilfenahme der geistigen BewegungSfactoren thun können, wenn nicht überhaupt in Folge jenes gewaltthätigen Eingreifens die Möglichkeit einer Reform für lange Zeit

hinaus verloren gegangen ist.

Als ein charakteristisches Merkmal unseres Jahrhunderts wird man in erster Linie die Auflösung des alten Ständebegriffs hinstellen dürfen.

Zwar ist dieser Prozeß noch nicht völlig zum Abschluß gebracht, aber die Conturen des Bildes sind doch schon so sehr verwischt und die Linien

desselben so in einander übergegangen, daß daS alte Bild kaum mehr er­

kennbar ist: noch wenige Jahrzehnte weiter so werden auch diese letzten Reste der früheren ständischen Gliederung der Gesellschaft verschwunden sein.

Gerade auf diese aber baute sich die Möglichkeit eines Ausschlusses

ganzer Gesellschaftsklassen aus der Gesellschaft selbst

auf.

Wie jeder

Stand in sich fest abgeschlossen war und seiner genau bestimmten und ihm durch die übrigen Stände garantirten Rechte genoß, so mußte eS

schließlich auch eine Anzahl Menschen geben, die man nicht unter diesen oder jenen Stand subsumiren konnte, die also außerhalb der ständischen

Gliederung, d. h. nach damaliger Auffassung überhaupt außerhalb der Gesellschaft standen.

Es wäre das an und für sich noch kein erschwerender

UÄstand gewesen, wenn nicht eben das Rechtsgefühl der damaligen Zeit

Leute, welche keiner anerkannten Corporation gehörten, nun auch sofort als ausgeschlossen von dem gesetzlichen Schutz und der standesgemäßen

Ehre betrachtet hätte.

Es ist eine durch die ganze alte Gesellschaftsge­

schichte wie ein rother Faden durchgehende Anschauung, daß der Einzelmensch für sich gar nichts gilt, sondern Anerkennung, Schutz und Ehre

erst dadurch findet, daß er sich nicht nur einer Gemeinschaft anschließt,

sondern auch mit seinem gesammten Thun und Treiben in derselben auf­ geht.

Bis in's Kleinste hinab regelt jene die einzelnen Seiten der Existenz

des Mitglieds: von seiner Geburt bis zu seinem Tode, ja noch über diesen hinaus ist dessen ganzes äußeres Handeln nicht nur, sondern auch seine gesammte Denk- und Anschauungsweise durch einen förmlichen Codex gesellschaftlicher Regeln eng begrenzt und bestimmt.

Nur so weit er inner­

halb dieser ihm gezogenen Schranken sich bewegt, hat er Anspruch auf Anerkennung und Schutz Seitens der Corporation und des Staatsganzen,

das dtrect nicht mit dem Einzelnen verkehrt, sondern nur ein mittelbares, durch das Medium der Corporation gehendes Verhältniß zu demselben

hat, wenn überhaupt die Gesammtheit zahlloser größerer und kleinerer, unter einander nur lose verbundener Gemeinschaften ein Staatswesen ge­

nannt werden darf.

Wer aus dem GemeinschaftSverbande auStritt, oder

wer von Anfang an keinem solchen angehört, ist vom gesellschaftlichen Standpunkt auS betrachtet nicht mehr vorhanden und steht außerhalb deö

Rechts und der Ehre der Gesellschaft, d. h. ist vogelfrei. ES ist nun eine Thatsache von der schwerwiegendsten Bedeutung, daß

der Eintritt in eine solche Genossenschaft durchaus nicht ein freier Willensact

des Einzelnen gewesen ist.

Wäre dies der Fall gewesen, so wäre nicht

abzusehen, warum nicht jedermann sich beeilt hätte, Schutz und Ansehen einer Corporation sich zu verschaffen.

Von unehrlichen Leuten würde dann

die Culturgeschichte nichts zu berichten haben.

Vielmehr war jener Eintritt

in den Schutzverband irgend einer Genossenschaft wenigstens in der späteren Zeit auch wieder nur ein Recht, daS der Betreffende nur unter bestimmten

Voraussetzungen erwerben konnte.

Ursprünglich mag dies allerwärtS an­

ders gewesen sein und der Beitritt einem Jeden offen gestanden haben, späterhin aber haben sich die einzelnen Kreise abgeschlossen und die Auf­

nahme an mehr oder minder beschwerliche Bedingungen geknüpft oder auch

ganz unmöglich gemacht.

Wir werden daher auch in den früheren Jahr­

hunderten, wie überhaupt keine engere ständische Gliederung, so namentlich auch keinen engherzigen Abschluß der Unterabtheilungen der Stände, eben

unserer Genossenschaften, bemerken, während späterhin dieser CorporationS-

geist sich bis zur Verzerrung ausgebildet hat.

Warum nun jener Aus­

schluß gerade diesx und jene Klasse von Menschen traf, darüber läßt sich

ein allgemeines Motiv nicht ausfindig machen, eS sei denn daß wir sagen wollen, daß

die Gesellschaft in ihrem Berufe etwas Unehrliches sah:

warum aber der betreffende Beruf anstößig erschien, daS hat fast bei jedem

einzelnen seine besondere Bedeutung. Theilen wir die vogelfreien Leute der alten Gesellschaft in solche ein,

welche sich durch eine rechtswidrige Handlung außerhalb des Schutzver16*

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.

210

bandeS, dem sie bisher angehört, gesetzt haben, und in solche, welche schon durch ihre bloße Existenz, ohne irgendwie durch ihr Handeln die Rechts­

ordnung zu gefährden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, so tritt

unS schon bezüglich der erstgenannten Klasse in der Anschauungsweise der älteren Zeit gegenüber der modernen Rechtsanschauung der principielle

Unterschied entgegen, daß diese letztere auch den schwersten Verbrecher noch als

ein Glied der menschlichen

Gesellschaft

betrachtet

und demgemäß

schützt und ehrt, so weit nicht dieser Schutz und diese Ehre ihm durch

richterliches Erkenntniß abgesprochen worden ist. das gerade Gegentheil der Fall.

In der alten Zeit war

Da konnte der Schutz gegen die Lynch­

justiz jedes andern Gesellschaftsglieds nur dadurch einigermaßen erlangt werden, daß sich der Verbrecher sofort nach begangener That freiwillig dem Gericht stellte und sich zu allem dem erbot, was der Beleidigte —

entweder das Gericht oder der thätlich Betroffene oder die Familie des­ selben — als Sühne forderte.

Entfloh er, so verfiel er in die Acht, d. h.

in den Zustand völliger RechtSlosigkeit, wo ihn jeder ohne weitere Pro­ zedur wie einen tollen Hund todtschlagen durfte, ohne dadurch gegen daS Strafgesetz zu verstoßen.

war auS

Der Geächtete war eben kein Mensch mehr, er

der menschlichen Gesellschaft und ihrer gegenseitigen Schutz-

garantie auSgeschieden. Ja diese Recht- und Friedlosigkeit ging so weit, daß auch diejenigen, welche dem Geächteten Schutz gewährt oder ihn nicht

ergriffen hatten, wenn sie ihn antrafen, oder späterhin Fürbitte für ihn ein­ legten, mit einem Wort in irgend eine Berührung mit demselben getreten

waren, in die gleiche Strafe verfielen.

Gerade dieser letzte Umstand, das

Verbot des Nichtverkehrs mit dem Rechtslosen, begegnet unS durchgängig bei den rechtlosen Leuten der alten Zeit und zwar gleichgiltig, ob diese

der ersten oder zweiten Klasse der von unS gemachten Eintheilung ange­

hören: nicht nur die Berührung mit dem Geächteten, auch diejenige mit

dem Nachrichter z. B rechtlos zu machen.

genügte, um den Betreffenden ebenso fried- und

Zwar nicht der Rache jedes einzelnen GefellfchaftS-

gliedS, wohl aber derjenigen des Beleidigten wurde der Verbrecher preis gegeben, wenn er nicht seinen Frieden mit diesem machte.

Der Schutz

der Gesellschaft war dann nur ein einstweiliger gewesen; er dauerte so lange, als man glauben konnte, daß der Verbrecher nicht aus seiner Ge­

nossenschaft ausgestoßen würde.

Und dabei ist es ein weiterer Beleg für

unsere Annahme eines innigen Zusammenhangs des Einzelindividuums

mit dem zugehörigen Kreis, daß sogar ein so eminent öffentliches Interesse

wie die Strafverfolgung während des ganzen

Mittelalters fast aus­

schließlich in die Hand der dem Beschädigten zunächst stehenden Corporation — meist der Familie im weiteren Sinne — gelegt war.

Wenn sich dies

auch für den Fall, daß der unmittelbar Beschädigte faktisch nicht mehr in

der Lage ist, seinen Sühneanspruch selbst verfolgen zu können (z B. bei

Todtschlag), damit genügend erklären läßt, daß dann eben die Erben, wie in die Vermögensrechte, so auch in die Pflichten des Erblassers eintreten, so reicht doch diese Erklärung nicht aus, wenn der Beschädigte z. B. am

Leben geblieben ist und vollkommen befähigt ist, das ihm widerfahrene Unrecht zu verfolgen.

Hier müssen wir vielmehr ein neben dem Rache­

recht des ursprünglich Beleidigten hergehendes gleichberechtigtes Recht auf Sühne auf Seiten der Sippe, der engsten und ursprünglichsten Form der

mittelalterlichen Genossenschaft, annehmen, wenn wir nicht überhaupt daerstere nur als einen Ausfluß des letzteren, die Einzelperson auch hier ledig­ lich als eine Art Mandatar der beleidigten Genossenschaft auffassen wollen. ES würde mich zu weit führen, wollte ich hier den tiefen Unterschied

der alten und modernen Rechtsanschauung bezüglich der Behandlung der

durch eigenes rechtswidriges Handeln aus der Gesellschaft auSgestoßenen Elemente noch weiter verfolgen.

Prägnanter noch ist jener Gegensatz bei

der zweiten von uns gekennzeichneten Personenklafle derjenigen, durch

ihr bloßes Dasein

außerhalb des

welche

ständischen und korporativen

Schutzverbandes stehen, mit andern Worten recht- und friedlos oder, wie

ein sehr bezeichnender VolkSauSdmck sagt,

vogelfrei sind.

Auch hiebei

wird sich wieder eine natürliche Abtheilung derselben dadurch ergeben, daß die Einen lediglich durch zufällige Umstände (wie Geburt, Beruf) in jene

Sonderstellung gedrängt sind, während die andern nicht ganz ohne eigenes

Zuthun sich deS Anspruchs auf Schutz und Ehre begeben haben, wenn freilich dieses Zuthun, wenigstens nach moderner Anschauung, bei weitem nicht htnreicht, die Betreffenden als außerhalb des Rechts stehend zu betrachten.

Beginnen wir mit der ersten Abtheilung, so stoßen wir innerhalb der

alten Gesellschaftsklassen sofort auf eine Reihe von

Berufsarten,

welche den sie Betreibenden auS der menschlichen Gesellschaft auSschlteßen. Die meisten dieser Fälle sind hinlänglich bekannt, so daß ich rasch darüber

hinwegeilen darf.

AIS ehrlos machend wurden vor allem alle diejenigen

Hantierungen angesehen, welche sich mit der Execution verhängter LebenS-

und Leibesstrafen befaßten.

Wir haben oben bereits allgemein hervor­

gehoben, daß dem früheren Mittelalter jene Richtung auf Ausschließung

ganzer Gesellschaftsklassen aus dem Rechte und dem Schutze der Gesell­

schaft in einem bedeutend geringeren Grade eigen war als den späteren Jahrhunderten desselben.

Bezüglich der Ausschließung der Nachrichter sind

wir nun sogar in der Lage, nachweisen zu können, daß die Ausführung der Todesurtheile bis in das 13. Jahrhundert herein durchaus nicht als

entehrend angesehen worden ist.

Wie bet den alten Germanen die Hin-

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.

212

rlchtungen nur durch die Priester vollzogen wurden, so geschah dies späterhin während längerer Zeit blos durch ehrbare Personen, wie die Schöffen und

Fronboten waren.

Dieser Gebrauch schwand jedoch im Laufe der Zeit;

ja wahrscheinlich war es sogar schon früh der Fall, daß der mit Aus­

führung der Todesurthetle beauftragte Schöffe oder Fronbote nicht selbst Hand anlegte, sondern hierfür einen Stellvertreter hatte.

Später wurde

das Amt des Nachrichters nicht nur als ein entehrendes, sondern auch als ein sündhaftes angesehen.

Es geht dies beispielsweise aus einem Schreiben

des Heilbronner an den Ulmer Rath aus der Mitte des 15. Jahrhunderts

hervor, in welchem es bezüglich eines vom ersteren entlassenen Schars­ richters heißt, derselbe habe sich in seinem Amte, Wandel und Wesen züchtiglich gehalten, sei aber nun durch Einsprache des heiligen Geistes

von seinem sündhaften Amte zur Buße und Besserung berufen worden;

hierzu habe der Bischof von Würzburg ihm eine offene Buße auferlegt;

diese habe er auch noch in Heilbronn begonnen; er wolle aber jetzt den heiligen Stuhl zu Rom besuchen, um sich daselbst durch demüthige Reue Ablaß seiner Sünden zu erwerben.

Und in der Instruction des Frank­

furter Nachrichters vom Jahre 1446 heißt es, der Rath wolle diesen fortan nicht mehr für jede einzelne Hinrichtung bezahlen, sondern ihm jede Woche,

er möge richten oder nicht, einen Gulden geben, damit der Rath nicht an der

auf dessen

Geschäfte ruhenden

Schuld mitbetheiligt, sondern der

Züchtiger allein der Diener der Gerechtigkeit sei.

Auch der Vorgänger

deS damals angestellten Nachrichters hatte sein Amt mit der Erklärung niedergelegt, daß er wegen desselben in schweren Sünden gegangen sei und Gott bitte, ihm darum barmherzig zu sein.

Der entehrende Cha­

rakter des Nachrichteramts erhellt daraus, daß der Inhaber nicht nur

nirgends in das Bürgerrecht ausgenommen wurde, sondern ihm untersagt war, am geselligen Leben Anderer Theil zu nehmen. erhielt derselbe kein ehrliches Begräbniß.

auch

Ebenso

Schon äußerlich kennzeichnete

ihn vor andern Leuten eine besondere Kleidung, die er selbst dann nicht

ablegen durfte, wenn er sein Amt ntedergelegt hatte.

Meist bestand diese

Kleiderauszeichnung in farbigen Lappen am Rockärmel und Armloch des

Mantels.

Die Berührung

desselben entehrte den Berührenden.

Im

Jahre 1576 strich deßhalb ein Bürger von Oppenheim seinen zum Durch­ peitschen verurtheilten Sohn eigenhändig mit Ruthen, damit derselbe nicht

dem Henker unter

die Hand komme.

Und 1590 geschah es sogar in

Frankfurt, daß, als dem von andern verfolgten Scharftichter sein Schwert entfiel und ein Ztmmermeister dasselbe aufhob, der letztere deßhalb von

den Mitmeistern und Gesellen für unehrlich gehalten wurde, und daß zu seinem Schutze der Rath bei der Zunft einschretten mußte.

Es gehört

zu den vielen Naivetäten der mittelalterlichen Rechtsanschauung, dem Voll­ strecker der GerechtigkeitSpflege,

die mit bewußter Absicht zu einer so

blutigen gemacht worden war, dafür gleichsam zum Sündenbock eigener

Schuld zu machen, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß die Nach­ richter der damaligen Zett meist der rohesten Klasse der Bevölkerung an­

gehörten und ihr Amt demgemäß auch mit ausgesuchter Brutalität auS-

geübt haben werden.

Dazu kommt noch, daß zu seinen Obliegenheiten

nicht blos das eigentliche Htnrtchten der Deltquenten, sondern auch noch andere Prozeduren gehörten, die als noch entehrender als das Richten selbst angesehen wurden.

Hierher gehört daS Reinigen des Hochgerichts,

das Abnehmen der Leichen der Gehenkten oder das Wiederaufhenken der­ selben, wenn sie abgefallen oder von fremder Hand abgeschnitten worden waren, das Begraben derselben im Felde, die Execution der Selbstmörder, daS Hinauspeitschen der zu schimpflicher Verbannung Verurtheilten, daS

Ertränken und Erschlagen der frei umherlaufenden Hunde, die Aufsicht über die liederlichen Dirnen u. a.

Gleich entehrend wie die Hantirung

deS Meisters wurde natürlich auch die ihm durch seine Knechte (Stöcker, Schinder) gethane Hilfeleistung betrachtet, wie auch die Familienange­

hörigen derselben aus der Gesellschaft der übrigen Menschen auSgestoßen

waren.

Um jede Berührung mit den so Geächteten möglichst zu ver­

meiden, baute man ihnen eigene, von den Wohnungen der

Menschen weitabltegende Häuser; das Verlassen

derselben

übrigen

oder ihres

nächsten Umkreises war ihnen verboten oder, wenn sie auch die Stadt be­ treten durften, so war ihnen hiefür eine bestimmte Zeit- und Raumgrenze

vorgeschrieben.

Die allgemeine Rechtlosigkeit schließt natürlich nicht auS,

daß ihnen nicht in der einen oder andern Richtung gleiches Recht mit

den Uebrigen zuerkannt wurde:

aber — und das ist doch wieder

ein

neuer Beleg für ihre Sonderstellung — diese partielle Ehrltchmachung

erfolgte immer nur durch Einzelprivilegien, meist von kaiserlicher Hand. Der Beruf deS Nachrichters ist nach mittelalterlicher Anschauung ein

seinen Inhaber durchaus entehrender.

Daneben kommen nun auch Be­

rufsarten vor, welche die sie Betreibenden zwar machen,

nicht geradezu ehrlos

ihnen aber doch einen Makel an ihrer Ehre anhängen.

diesen gehören z. B. die Bader und Scherer, die Abtrittsreiniger,

Zu die

Hirten, die fahrenden Spielleute (Musikanten) und Gaukler, die lieder­

lichen Dirnen u. a.

Bet den Badern, Scherern und Abortreinigern ist

wohl die Rücksicht auf ihren unfaubern Erwerbszweig für ihre geringere Werthschätzung maßgebend gewesen.

Die Pflege eines andern als des

eigenen Körpers galt durchgängig für anrüchig — wiederum ein Beweis der naiven Rechtsanschauung der alten Zeit, da keine andere so sehr der

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.

214

Reinlichkeitspflege obgelegen hat, nichts desto weniger aber diejenigen, welche aus dieser ein Gewerbe gemacht haben, aus dem Kreise ehrbarer Leute ausschließt.

Eine natürliche Folge hievon war, daß meist nur ver­

rufenes Gesindel in den öffentlichen Badestuben bediente, und dieselben, was ihren guten Ruf anlangt, nicht viel vor den Frauenhäusern voraus

hatten.

Daß z. B. AgneS Bernauer, bevor sie von Herzog Albrecht von

Bayern entführt wurde, Bademagd war, hat dem Vater deS letzteren das

grausame Vorgehen gegen die Unglückliche leichter und in den Augen der Mitwelt entschuldbarer gemacht, als wenn diese eine Bürgerstochter ge­

wesen wäre, wie man früher fälschlich angenommen hat.

DaS Reinigen

der Aborte wurde da und dort für so ehrschädigend angesehen, daß nie­ mand sich zu diesem Geschäfte hergeben wollte und

der Stadtobrigkeit

nichts übrig blieb, als den Henker damit zu beauftragen.

ursprüngliche

strenge

Hofhörigkeit

der

Straßburger

Und für die

Weinwirthe

des

frühesten Mittelalters spricht kein Zeugniß so zuverlässig und beredt, als daß sie noch im 12. Jahrhundert verpflichtet waren, die Aborte deS Bi­

schofs stets rein zu erhalten.

Bei den Hirten ist wohl die große Dürftig­

keit Anlaß gewesen, sie gesellschaftlich hintanzusetzen und sie z. B. nur

außerhalb deS eigentlichen Dorfes in eigenen Häuschen wohnen zu lassen. Bet den übrigen von unS namhaft gemachten Erwerbszweigen kommt dann

neben der Verächtlichkeit derselben bereits die criminelle Seite in Betracht. Namentlich wirkt hier die unstete Lebensweise, das beständige Hin- und

Herziehen dieser Leute ungünstig auf die öffentliche Meinung über die­

selben.

Das Mittelalter mit seiner fest an dem eigenen Boden haftenden

Seßhaftigkeit empfand kein Bedürfniß, über den engsten LebenSkreiS hin­ aus fremde Verhältnisse und Zustände kertnen zu lernen.

Ursprünglich

galt nur derjenige, welcher auf eigenem Grund und Boden saß, für völlig frei, wie umgekehrt nur der freie Mann befähigt war, Grundbesitz zu er­

werben.

Und nur der Freie genoß damals die volle Ehre.

Späterhin

hat sich diese strenge Anschauung allerdings dahin gemildert, daß Grund­ besitz nicht mehr die alleinige Bedingung der echten Freiheit sei,

daß

daneben auch der auf fremdem Grund und Boden Sitzende der gleichen Freiheitsrechte theilhaftig sein könne, wenn nur seine Leistungen gegen den

Grundeigenthümer keinen hörigen Charakter hatten.

Immerhin war von

der früheren Anschauung so viel zurückgeblieben, daß Leute, deren Besitz

lediglich in einer geringen Fahrhabe bestand, geringer geschätzt wurden.

Auch das darf nicht übersehen werden, daß die Geschlossenheit und Ge­

bundenheit deS mittelalterlichen Gewerbes keinen Genossen neben sich auf­ kommen ließ, der nicht zu einem bestimmten OrtSverbande gehörte.

sein Gewerbe frei, d. h. außerhalb

deS

Wer

zünftischen Verbandes betrieb,

mochte das Gewerbe und die Führung desselben auch noch so anständig

sein, hatte kein Ansehen in den Augen der Gesellschaft.

Verschloß man

einem solchen auch nach Möglichkeit durch eine Reihe oft der kleinlichsten und engherzigsten Präventivmaßregeln

den einheimischen Markt, ganz

konnte man doch den Gewerbebetrieb solcher unzünftiger Leute nicht hin­

dern und rächte sich nun für das Mißverhältntß, daß diese durch keine Zunftschranken eingeengten Elemente ihre Waaren ebenso an den Mann

bringen konnten, dadurch, daß man dieselben in der öffentlichen Meinung herabzusetzen versuchte.

Recht bezeichnend existtrt für alle diese die Be­

zeichnung „fahrende Leute", bereits mit einem starken Anklang deS Un­ regelmäßigen und Unordentlichen ihres Wandels, der an und für sich der

anständigste,

derjenigen der privilegirten Gesellschaft völlig gleiche sein

kann, in der Meinung der letzteren aber nothwendig ein schlechter sein

So oft wir das Adjectiv „fahrend" einem Namen vorgesetzt finden,

muß.

können wir regelmäßig versichert sein, daß damit etwas Verächtliches oder

wenigstens moralisch Zweifelhaftes und Verdächtiges ausgedrückt werden soll.

Die Bezeichnung „Schüler" z. B. weist auf einen Lehrjungen eines

gelehrten Meisters hin, der Beisatz „fahrender Schüler" bezeichnet jene übel berüchtete Klasse von einer Stadt zur andern ziehender, nur nominell

dem Studium, in Wahrheit aber ganz andern Dingen, wie Betteln, Stehlen u. a. sich widmender junger Leute.

„Fräulein" ist ein hoch auS-

zeichnendes Epitheton der unverheiratheten Frauensperson,

„fahrendes

Fräulein" dagegen bedeutet eine der Unzucht gewerbsmäßig ergebene Person. Alle diese fahrenden, d. h. ohne festen Wohnsitz frei umherziehenden

Leute gehören nicht zu der Gesellschaft, entbehren deS Schutzes und der Rechte derselben, die nur die Zugehörigkeit zu einer anerkannten Genossen­

schaft einbringt.

DaS schloß jedoch nicht aus, daß ihnen, falls nur da­

durch der Stadt irgend ein Vortheil erwuchs, der Schutz der Obrigkeit zu Theil wurde.

Augsburg

insofern

So waren beispielsweise vogelfrei,

als

an

die liederlichen Dirnen in

ihnen

keine Nothzucht — ein

sonst mit Lebendtg-Begraben bestraftes Verbrechen — begangen werden konnte.

Trotzdem erscheinen sie andererseits wieder durch eine Reihe An­

ordnungen geschützt, die freilich, wenn man näher zusieht, nicht in ihrem Interesse, sondern lediglich in dem des Publikums getroffen sind, oder

aber auch so verstanden werden können, daß sie nicht einer Person, son­ dern vielmehr einer kostbaren Sache, an deren Erhaltung viel gelegen ist, gewidmet sind, gerade wie man z. B. ein edleS Zuchtthier mit beson­

derer Vorsorge zu behandeln pflegt.

Und es ist dies ein weiterer Beleg

für den naiven Sinn des Mittelalters, daß es die Existenz nicht nur,

sondern auch die Aufpflege der liederlichen Dirnen als ein Bedürfniß

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.

216

gelten ließ, dieselben aber zum rohesten Abschaum der Gesellschaft hinab verbannte und jedem Versuch, sich daraus emporzuarbeiten, einen unübersteiglichen Damm vorschob.

So waren die Augsburger „fahrenden Fräu­

lein" der Aufsicht und Pflege deS Henkers unterstellt, der über alle sie betreffenden Angelegenheiten richtet und dafür von einer Jeden wöchentlich

zwei Pfenninge empfängt; weiter hat er darauf zu achten, daß dieselben

zu keiner Zeit, weder des TagS noch des NachtS, die eigentliche Stadt be­ treten; fand man sie darinnen, so schnitt man ihnen die Nase auS dem Kopfe. Es sei mir gestattet, gleich hier an eine andere Gesellschaftsklasse zu erinnern, die streng genommen nicht unter die von uns gekennzeichneten

Kategorien gehört, aber doch bezüglich der ihr zu Theil gewordenen Be­

handlung so viel Aehnlichkeit mit jenen hat, daß ich sie füglich hierher zählen darf.

Die sociale Stellung der

Juden im

Mittelalter war

nämlich gleichfalls eine geächtete, wenn schon die Ursache dazu weniger in

dem Beruf oder in der moralischen Aufführung als vielmehr in der re­ ligiösen Sonderstellung derselben zu suchen ist, obgleich auch die ersteren

ganz unzweifelhaft zu ihrer Geringachtung mitgewtrkt haben.

Bekanntlich verbreiteten sich die Juden schon bald nach der Zerstörung Jerusalems durch TituS (im Jahre 70 nach Christus) über die südlichen

und westlichen Länder Europa's, insbesondere

auch über die von den

Römern okkupirten Rhein- und Donaugegenden Deutschlands.

Wir übergehen hier ihre Stellung unter der Herrschaft der Römer und

bemerken nur, daß dieselbe eine verhältnißmäßig gesicherte war.

AIS das römische Reich den deutschen Eroberern zur Beute fiel, blieb auch zunächst dieser Rechtszustand noch bestehen, ja besserte sich vielmehr

unter den Karolingern, namentlich unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen.

Ein Wendepunkt tritt erst durch die Kreuzzüge ein.

Während sie bis dahin im Wesentlichen nicht anders, als die übrigen Einwohner der Städte behandelt worden waren, gelang es der durch die

Kreuzzüge zu völliger Entwickelung gelangten Hierarchie, den Pöbel zum wilden Fanatismus gegen die Unglücklichen zu erregen.

Tausende wur­

den in dem frommen Wahne hingeschlachtet, daß man durch ihr Blut

das Blut des Heilands rächen müsse.

Damals waren eS die deutschen

Kaiser, die die Verfolgten in ihren Schutz nahmen.

AuS diesem Schlitz

entwickelte sich allmählich die Auffassung, daß die Juden im ganzen Reich sich unter der besonderen Schirmherrschaft des Kaisers befänden und ihm dafür zu Abgaben verpflichtet seien.

Dieses Verhältniß

bezeichnen die

Geschichtsquellen des Mittelalters mit dem Ausdrucke: „Kammerknechtschaft".

Der König ist der allgemeine Herr der Juden, jedoch nicht in dem Sinn, daß die Letzteren Leibeigene sind, über deren Gut und Blut der Erstere

nach Belieben verfügen könnte; daher ist auch der Jude als Kammer­ knecht nicht der schrankenlosen Willkür des Kaisers preisgegeben, sondern

nur zu Steuern an ihn verpflichtet.

Dieses

Judenschutzgeld wurde als

königliches Regal zum öftern an weltliche und geistliche Fürsten und an

die freien Städte verliehen, welche dann zugleich auch die Verpflichtung

zum Judenschutz übernahmen. Die Juden einer Stadt bildeten nicht bloß eine religiöse Gemeinde, welche in der Synagoge ihren Mittelpunkt fand, sondern auch eine Ge­

meinde in kommunaler und rechtlicher Beziehung.

Als solche war sie von

den städttschen Beamten eximirt, stand unter eigener Obrigkeit und be­ saß auch die Gerichtsbarkeit über ihre Angehörigen.

Diese Organisation

hing mit der Neigung des Mittelalters zusammen, die sozialen Kreise auch juristisch zu trennen und Personen desselben Standes und derselben recht­ lichen Stellung eine korporative Stellung zu geben.

So wie der Klerus,

sowie Vasallen und Ministerialen, wenn sie in einer Stadt wohnten, von

den regelmäßigen Obrigkeiten eximirt waren, so erhielten auch die Juden ihre abgesonderte Stellung. derung

auch den

Interessen

Dazu kam noch, daß eine derartige Abson­

der Juden entsprach, und

daß sie ihre

Streittgkeiten unter einander gerne von Mitgliedern ihrer Nation und Religion entscheiden ließen, um den ihnen übelwollenden Christen keinen

Einfluß auf ihre Rechtsverhältnisse zu gestatten und um ihr nationales

Recht zur Anwendung zu bringen.

An "der Spitze

der Judengemeinde

stand der Judenmetster; diesem zur Sette stand ein von den jüdischen Hausvätern gewähltes Rathskollegium von 12 Mitgliedern, das zugleich

im Gerichte als Schöffenkollegium fungirte.

Der lokale Mittelpunkt der

Gemeinde war die Judenschule; auf ihr wurde Rath und Gericht gehal­ ten.

Wenn wir oben bemerkt haben, daß die Juden ihre Streitigkeiten

unter einander selbst richteten, so ist hievon die sogenannte blutige Ge­ richtsbarkeit auszunehmen, d. h. diejenigen Fälle, in denen es dem Be­

klagten an Leib und Leben ging. kompetent.

Hier war ausschließlich der Stadtvogt

Bon hohem Interesse sind ferner die Bestimmungen über den

GerichtSeid der Juden.

Nach zwei Setten hin hat sich nicht bloß das

Mittelalter, sondern ebenso sehr auch noch die neuere Zeit darin gefallen, den Judeneid mit Raffinement auszubilden, einerseits was die Worte be­

trifft, die der Jude zu sprechen hat, andererseits in Rücksicht auf seine

Kleidung und sein sonstiges Verhalten während des Schwures.

Durch

die abenteuerlichen Formen wollte man den Juden, von dem man fälsch­

lich annahm,

daß er nach seinem Gesetz vor der christlichen Obrigkeit

einen Meineid schwören dürfe, von dem falschen Schwur zurückschrecken;

aber ebenso sehr ging man auch darauf aus, ihn zu demüthigen.

Schon

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.

218

in den Gesetzen Karls des Großen heißt eS: „streue Sauerampfer zwei­

mal vom Kopf aus im Umkreis seiner Füße; wenn er schwört, soll er da stehen und in seiner Hand die fünf Bücher MosiS halten, gemäß seinem

Gesetz; und wenn man sie nicht in hebräischer Sprache haben kann, so soll er sie lateinisch haben."

Geradezu bis zur Tortur geht eine andere Vor­

„ein Dornenkranz soll ihm auf seinen

schrift aus dem 11. Jahrhundert: Hals

gesetzt, seine Kniee umgürtet werden, und ein Dornenzweig von

fünf Ellen Länge, voll Stacheln, soll ihm, bis er den Eid vollendet hat,

zwischen den Hüften durchgezogen werden. — was

Wenn er heil davon kommt"

nur durch ein wahres Wunder geschehen konnte — „hat er sich

von der Anschuldigung gereinigt". Anderwärts waren die Formen weniger grausam, als demüthigend.

Man ließ den schwörenden Juden auf einer

Sauhaut stehen, auf der Haut des Thieres, welches zu essen ihm seine

Religion verbietet, und seine rechte Hand bis an's Gelenk in die fünf

Bücher MosiS hineinstecken.

Oder der Jude mußte auf nacktem Körper

einen grauen Rock und Hosen ohne Vorfüße anhaben, einen spitzen Hut

auf dem Kopf tragen und auf einer in Lammblut getauchten Haut stehen.

In Schlesien sollte der Jude nicht auf einem Thierfell, sondern auf einem dreibeinigen Stuhl stehen, wohl Stellung zu geben.

um ihm eine schwankende,

unsichere

Jedesmal wenn er herunterfiel, zahlte er eine Buße;

fiel er zum viertenmale herunter, so hatte er seine Sache verloren.

Auch im Strafrecht begegnin uns manche Sonderheiten. Sollte z. B.

ein Jude gehenkt werden, so setzte man ihm einen Judenhut mit brennen­ dem Pech auf's Haupt.

Wurde er gleichzeitig mit einem Christen ge­

henkt, so hängte man ihn außerhalb des Galgens an einen Balken auf, um ihn von dem

verurtheilten Christen zu

unterscheiden.

Oder

man

hängte den Juden zwischen wüthenden Hunden auf, öfter mit dem Kopf nach unten.

Am furchtbarsten wurden die Fleischverbrechen zwischen Juden

und Christen bestraft.

Das Stadtbuch von Augsburg bestimmt, daß in

solchen Unzuchtsfällen die Schuldigen über einander gelegt und verbrannt werden sollten, „denn der Christ hat seinen Christenglauben verläugnet".

Man

sah in solchem Umgang das Unchristliche, ähnlich

Bestialität.

wie in der

Später wurde im Jahre 1590 ein Augsburger Jude, der mit

einer Christin Ehebruch getrieben hatte, nur mit Ruthen auögehauen.

Neben der körperlichen Züchtigung werden Gefängniß- und Geldstrafen für dergleichen Fälle erwähnt.

Der Jude Möfli war schon vom Rath

gestraft worden, weil er eine Bürgersfrau in Mannskleidern in's Bad

geführt und dort mit ihr gelebt hatte, „als es ihm dann fügt".

Als er

dessen nicht viel achtete, ward er wiederum gestraft, und zwar um 600 Fl., in den Thurm gelegt und aus der Stadt verwiesen.

Gegen die Frau

wurde erkannt: „man soll sie setzen auf einen Karren und durch die Stadt

führen an alle Orte, da man den Ruf thut, auch ein Judenhütlein von Papier ihro auf das Haupt setzen, und vor ihre durch die Stadt mit

zwei Nachtwacht-Hörnem blasen; danach soll sie ewiglich zwei Meilen von der Stadt bleiben; thäte sie darwider, so soll man sie blenden.

Ihre Mutter soll gleichfalls zwei Meilen von der Stadt bleiben, weil sie ihrer Tochter zu Allem zugeluget, da sie mit Möfli, dem Juden, zu

schaffen gehabt".

In einem anderen Falle, als eine Christin zwei Kinder

von einem Juden gehabt hatte, wurde auch der Pathe des ersten Kindes,

der gewußt, daß es ein Judenkind sei, mitbestraft.

Das Urtheil lautete:

„Seligmann müßte 20 Fl. Strafe zahlen, Elsa Meyerin soll man auf einen Karren setzen, ihre Arme bloß lassen, ihre Haare zerthun, kein Tuch

auf dem Haupte haben, ein Judenhütlein darauf setzen, also durch die Stadt und dann zur Stadt herausführen.

Wichelmann (der Pathe) soll

den Karren führen und auch ein Judenhütlein auf dem Haupte haben,

und soll man vor ihm mit Hörnen blasen." Ueberhaupt trug die ganze soziale Stellung der Juden im Mittel­ alter den Stempel des Gedrückten.

Es ist ein Zeichen der Rohheit des

Zeitalters, daß der Christ gegen den Juden aus nationalem und kirch­ lichem Widerwillen den tiefsten Haß hegte und demselben nicht bloß

im Leben bei jeder günstigen Gelegenheit freien Lauf ließ, sondern ihn

auch in seiner Gesetzgebung bethätigte und in der Literatur und Kunst verewigte.

Durch öffentliche Bilder, welche Szenen auS ihrer Leidensge­

schichte darstellten, wurden sie verhöhnt.

Zu Deggendorf hat man durch

ein Bild über dem Stadtthor die blutige Bestrafung der Juden im Jahre

1337 für eine angebliche Hosttenschändung verewigt; zu Frankfurt a. M.

hat man auf der Mainbrücke nach Sachsenhausen zu, unter dem Brücken­ thurm, zum Andenken

an die angebliche Ermordung eines Kindes zu

Trient im Jahre 1475, das Gemälde eines mit Pfriemen zerstochenen KindeS und sonstige die Juden verunehrende Darstellungen angebracht.

Bet Renovirung deS Thurmes im Jahre 1677 waren die Frankfurter

Juden bereit, große Summen zu zahlen, wenn das Bild ganz verlöscht

würde, aber eS ist erst neuerdings beim Abbruch des Thurmes verschwun­

den.

Aehnliche erniedrigende Darstellungen fanden sich auch anderwärts;

besonders pflegte man an Orten, welche von den Juden nicht betreten werden sollten, an Kirchen, christlichen Gasthäusern u. s. w., das Bild

einer Sau anzubringen.

MrgendS war man in den Mitteln bedenklich, die außerhalb des Christenthumes Stehenden unter die Herrschaft der Kirche und des christ­

lichen StaatS zu ziehen.

In allen Ländern wurde, wenn der Fanatismus

erwachte, den Juden oft nur die Wahl gelassen zwischen der Taufe und den furchtbarsten Todesqualen.

Wenn auch bet vielen Verfolgungen das

eigentliche Motiv Habsucht und andere niedere Leidenschaften waren, so

wurde doch

immer die Fahne des Christenthums hoch gehalten.

Im

Namen des Herrn, um die Anbetung Christi weiter zu verbreiten und die Verräther des christlichen Glaubens zu bestrafen, gab man vor, die

Gräuel zu begehen.

Die Geistlichkeit suchte besonders auch dadurch den

Juden gegenüber zu gewinnen, daß sie in alter, ebenso wie in neuer und neuester Zeit, Kinder der Juden ohne Wissen und Willen der Eltern durch die Taufe für sich in Anspruch nahm. Was ihre Wohnstätten betrifft, so wohnten sie überall in einem be­

Der Grund für diese lokale Absondermlg lag zu­

sonderen Judenviertel.

nächst allerdings darin, daß in den mittelalterlichen Städten überhaupt

Leute

der

gewerblichen,

sozialen

oder kommerziellen Klasse bestimmte

Straßen einzunehmen pflegten, sodann daß die Juden, wie schon bemerkt,

eine besondere Gemeinde bildeten, deren Mittelpunkt die Judenschule war.

Das

hauptsächlichste

Motiv

bestand jedoch darin,

daß

die

Obrigkeit

wünschte, sie auf einen abgeschlossenen Raum zu beschränken, um möglichst

jede Berührung mit der christlichen Einwohnerschaft vermieden zu sehen. Deßhalb besaß auch jede Judengemeide ihr eigenes BadehauS und ihre be­

sondere Fleischbank.

Ließ sich ein Jude außerhalb seines Hauses, nament­

lich in den christlichen Quartieren blicken, so waren ihm bestimmte Kleider­ abzeichen vorgeschrieben.

Die entwürdigende Wirkung solcher Vorschriften

kennzeichnet ein berühmter Geschichtsschreiber unserer Zeit treffend mit fol­ genden Worten:

„Viereckig oder rund,

von safrangelber oder anderer

Farbe, an dem Hute oder an dem Oberkleide getragen, war das Jude'n-

zeichen eine Aufforderung für die Gassenbuben, die Träger zu verhöhnen und mit Koth zu bewerfen, war ein Wink für den verdummten Pöbel,

über sie herzufallen, sie zu mißhandeln oder gar zu tödten, war eS selbst

für die höheren Stände eine Gelegenheit, sie als Auswürflinge der Menschheit zu betrachten, sie zu brandmarken oder deS Landes zu ver­ weisen.

Noch schlimmer als diese Entehrung nach Außen war die Wir­

kung deS Abzeichens auf die Juden selbst.

Sie gewöhnten sich nach und

nach an ihre demüthige Stellung und verloren das Selbstgefühl und die

Sie vernachlässigten ihr äußeres Auftreten, da sie doch

Selbstachtung.

einmal eine verachtete ehrlose Klasse sein sollten, die auch nicht im Ent­ ferntesten auf Ehre Anspruch machen dürfe.

Sie verwahrlosten nach und

nach ihre Sprache, da sie doch in gebildeten Kreisen keinen Zutritt er­

langen und

unter

machen konnten.

einander

sich

durch

ihr

Kauderwelsch verständlich

Sie büßten damit Schönheitssinn und Geschmack ein

und wurden nach und nach theilweise so verächtlich, wie eS ihre Feinde wünschten.

Sie verloren männliche Haltung und Muth, so daß sie ein

Bube in Angst setzen konnte."

Die dunkelste Partie in der Geschichte des mittelalterlichen Juden-

thums sind jedoch die Judenverfolgungen.

ES wäre eine schauerliche Auf­

gabe, durch den Verlauf von Jahrhunderten die Zeugnisse zu sammeln für die Unduldsamkeit, Barbarei, Gewinnsucht und den Aberglauben der Herrscher und deS Volkes und die beispiellose Widerstandskraft, Zähigkeit

und den Opfermuth der Juden, welche mit derselben Energie, mit welcher

sie einst den Römern getrotzt hatten, jetzt die Verfolgungen ertrugen und noch Lebenskraft behielten.

Deutschland steht in dieser Beziehung nicht

niedriger da, als die übrigen christlichen Länder, aber auch nicht über ihnen.

Die erste allgemeine blutige Verfolgung brachte der erste Kreuz­

zug mit sich.

In ihrem religiösen Fanatismus erachteten es die Kreuz­

fahrer für ihre erste Pflicht, schon in der Heimath mit Feuer und Schwert Propaganda für das Christenthum zu machen.

Vereinzelte Verfolgungen

fanden von da an fast in jedem Jahre statt; aber im Jahre 1298 wälzte

sich ein neuer Sturm unter Anführung des fränkischen Edelmanns Rind­ fleisch von Ort zu Ort.

anlassung der Verfolgung.

Eine angebliche Hostienschändung war die Ver­ Die Juden hätten eine Hostie in einem Mörser

gestoßen; auS ihr sei Blut in so großer Menge geflossen, daß sie eS nicht

mehr verbergen konnten.

Diesem albernen Märchen fielen unzählige Juden

in Franken, Bayern und Oesterreich zum Opfer.

Die allgemeinste und

verheerendste Verfolgung fand 1348 und in den folgenden Jahren, be­

sonders im Jahre 1349, statt.

Der schwarze Tod, die furchtbare Pest,

war von Asien her wie der nichtSschonende Würgengel über alle Länder

Europas daher gezogen und hatte den vierten Theil der Einwohner hin­

weggerafft.

Die tiefste Erschütterung bemächtigte sich der Gemüther.

Wie

erhaben würde die menschliche Natur erscheinen, wenn die tausend edlen

Handlungen, welche in Zeiten so großer Gefahr in der Stille geübt wer­ den, der Nachwelt aufbewahrt werden könnten!

Sie sind eS indessen nicht,

die in den Gang der Begebenheiten eingreifen; dagegen treten die Nacht­

seiten der menschlichen Natur bei solchen Anlässen mächtig hervor.

Tau­

sende religiös Fanatisirter zogen in wohlgeordneten Prozessionen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, das Haupt bis zu den Augen bedeckt, den Blick zur Erde gesenkt.

Angethan mit düstern Gewändern, trugen sie

auf der Brust, dem Rücken und dem Hute rothe Kreuze und führten große dreisträngige Geißeln mit drei oder vier Knoten, in welche eiserne Kreuz­

spitzen eingebunden waren; Kerzen und prangende Fahnen von Sammet und Goldstoff wurden ihnen vorgetragen, und wo sie kamen, läutete man

mit allen Glocken, und das Volk strömte ihnen entgegen, ihren Gesang

zu vernehmen und ihren Bußübungen beizuwohnen. Geißler

oder Flagellanten.

Das waren die

Jetzt wurde auf einmal in den bis auf'S

Aeußerste erhitzten Gemüthern der Gedanke laut, die Juden hätten die

Brunnen vergiftet, sie allein sollten das große Sterben über die Christen­

heit gebracht haben.

Fast allerorts wurden die Unglücklichen hingeschlachtet,

ihre Forderungen vernichtet, ihr baares Geld vertheilt.

Indem wir zu unserer eigentlichen Aufgabe zurückkehren, wollen wir, um den Lesern ein Bild von dem Treiben des fahrenden Gesindels in den alten Städten zu geben, hiezu das Achtbuch der Stadt Augsburg er­

wählen, aus welchem unlängst der jetzige Archivar dieser Stadt, Herr Dr. Buff, das Material zu einer ebenso ausführlichen- als interessanten Schrift über das Verbrecher- und Gaunerthum des genannten Orts im

14. Jahrhundert geschöpft hat.

Wir lassen hier den ersten Theil dieser

Publication, welcher von den schweren Verbrechern handelt, bei Seite, ob­ wohl auch dieser eine Reihe der merkwürdigsten Gesichtspunkte und Auf­

schlüsse giebt, und beschränken uns lediglich auf die Darstellung des dort

gekennzeichneten GaunerthumS.

Das hier gewonnene Resultat dürfte so

ziemlich in den meisten größeren Städten bei einer gleichartigen Unter­ suchung der einschlägigen sozialen Zustände wiederkehren: was Augsburg etwa einerseits an Einwohnerzahl gegenüber anderen Städten mangelte,

das ersetzte es andererseits wieder durch seinen lebhaften Verkehr.

Da

stößt unS nun zuvörderst die große Anzahl liederlichen Gesindels, daö sich in der Stadt herumtreibt, auf.

Eine ohngefähre Schätzung desselben wird

ermöglicht durch die Listen der alljährlich im Herbst unter dem Läuten der Sturmglocke aus der Stadt ausgetriebenen Individuen.

Leute" wurden die so Exequtrten genannt.

„Schädliche

Wir entnehmen daraus, daß

wir es bei ihnen nicht sowohl mit eigentlichen Verbrechern, als vielmehr

mit übelberufenen Personen zu thun haben, bet denen aber immerhin der Verdacht bezüglich ihrer Gemeingefährlichkeit so groß war, daß eine solche

Maßregel wie die obengenannte sich rechtfertigen ließ.

Neben den Kupplern

und Kupplerinnen kommen da große Mengen von Dieben und Diebs­

hehlern, Säckelabschneidern, dann verschiedene Sorten von falschen Spielern,

Bettlern und Landstreichern vor.

Ich kann mir nicht versagen, hier einige

Proben dieser einzelnen Classen zu geben; der große Reichthum an Gauner­ arten und Namen illustrirt besser als eine weitläufige Abhandlung die

sittlichen Zustände jenes Zeitalters. Die Räuber heißen Abbrecher, Abreißer, auch Pfadsuche, die falschen Spieler theilen sich in Scholdrer, Bierharter, Fünfler, Köpper, die Land­

streicher nennen sich Senner und Gtler.

Namentlich ist es der aber-

gläubische Sinn nicht bloß des gemeinen Volkes, welcher einer zahlreichen Classe von Betrügern einen mühelosen Erwerb schafft. Wahrsager, Teufels­ beschwörer, fingirte Priester und Mönche, fromme Pilgrime, die um irgend

welcher Sünden willen vorgeblich im Begriffe sind, nach heiligen Orten zu wallfahrten und die gläubige Einfalt dazu in Contribution setzen.

Auch der moderne Bauernfänger findet hier bereits sein Vorbild in dem Bauernverräther (burenveratter).

Buff nimmt an, daß bei dem regelmäßigen Austrieb tat Herbst oft 70, 80, 90, 100 und mehr Personen auf einmal fortgeschafft wurden. Rechnet man dazu noch diejenigen, die während des Jahres einzeln htnauSgetrieben wurden, dann solche, welche sich freiwillig entfernten oder auch

zurückblieben, so wird man nicht übertreiben, wenn man die Zahl der im Laufe eines Jahres in Augsburg sich

umhertreibenden Vaganten auf

ES ist das im Verhältniß zu heute eine

mehrere Hundert anschlägt.

enorm hohe Zahl, namentlich wenn man erwägt, daß die Stadt damals kaum 20000 Einwohner gezählt hat.

Recht bezeichnend ist dabei, daß

diesem liederlichen Gesindel die Stadt meist nur auf eine verhältnißmäßig

kurze Zeit verboten wurde, so daß sie nach Ablauf derselben ihr Unwesen

wieder

von Neuem

beginnen

konnten.

Eine Verbannung

auf immer

würde allerdings ganz resultatlos geblieben sein: ließen sich doch Biele

auch durch eine zeitweilige Ausweisung nicht abhalten, noch vor Ablauf des Termins wieder in die Stadt zurückzukehren, trotzdem darauf oft die grausamsten Leibesstrafen gesetzt waren.

Wo sollten sie auch anders hin,

da ihnen überall die gleiche Ausweisung drohte?

Es liegt ein wahrhaft

brutaler Egoismus der damaligen Strafrechtspflege darin, des vagirenden Gesindels sich einfach dadurch zu entledigen,

daß man dasselbe seinen

Nachbarn zutrieb, die natürlich die gleiche Praxis beobachteten, so daß schließlich der betreffende Missethäter, nachdem er im ganzen heiligen rö­

mischen Reich umhergehetzt worden war, immer wieder bei seinem ersten

Ausgangspunkte anlangte.

Die ganze Theorie der Strafrechtspflege be­

stand lediglich darin, den Verbrecher unschädlich zu machen.

Daher die

entsetzlich grausamen Strafen schon bei geringfügigen Vergehen: Henken

bei Diebstahl, Verbrennen bei Sodomiterei (häufig schon bei geschleckt-

lichen Vergehen

zwischen Juden und Christen), Lebendig begraben bet

Nothzucht, Handabhauen bet Meineid und Betrug u. s. w.

Freilich wurde

diese barbarische Strenge dadurch wieder gemildert, daß die meisten Ver­

brechen mit Geld gelöst werden konnten, nur daß dadurch der zügellosen Rohheit der Vermögenden gleichsam von ObrigkeitSwegen Thor und Thüre

geöffnet war und der Ernst des Gesetzes nur dem Armen fühlbar wurde, dem keine materiellen Mittel zu Gebote standen, sich von der Strafe loSPnußische Jahrbücher. Bd.

XLVIII. Heft 3.

17

zukaufen.

Wenn überhaupt die Wirksamkeit des Strafgesetzes nicht sowohl

durch die Härte, als durch die Sicherheit der Strafe bestimmt wird, so

befand sich auch hierin das Mittelalter noch in den Anfängen einer ge­ ordneten Rechtspflege.

Buff rechnet heraus, daß während der Jahre 1338

bis 1368 von 169 in Augsburg verübten Todtfchlägen 164 ungeahndet

blieben, weil man der Thäter nicht habhaft werden konnte; an den fünf

übrigen waren neun Personen betheiligt; davon wurde einer begnadigt,

von einem ist nicht klar was mit ihm geschehen, die sieben andern wurden ausgewiesen.

Aber nur von dreien ist eö unzweifelhaft, daß sie persön­

lich vor Gericht gestanden.

Erst späterhin verband man bei der Strafe

mit dem altgermanischen Rachebegriff auch die Absicht, Andere vom Ver­

brechen abzuschrecken.

Darüber hinaus bei der Zumessung der Strafe

auch an eine Besserung des Verbrechers zu denken, dazu ist das Mittel­ alter nie gelangt.

Der Strafvollzug war meist ein rascher, soweit nicht

das rein formalistische Strafverfahren

aufschiebend in den Weg trat;

höchstens Kriegsgefangene, die ein reiches Lösegeld in Aussicht stellten, wurden länger gefangen gehalten, die eigentlichen Uebelthäter dagegen, wenn sie sich nicht mit Geld loskaufen konnten, rasch procedirt. Wie fleißig man dabei von den verstümmelnden Leibesstrafen Gebrauch machte, davon giebt eine Sammlung

von Beinamen, welche Buff auS gleichzeitigen

Quellen gewonnen hat, ein sprechendes Zeugniß: Johann mit dem Buch­ staben, Claiblin mit dem Mal, Jeckel mit dem Finger, der Vierfinger,

Zwtrggel mit der einen Hand, Walpurg mit dem Stumpf, der handlos

Schneider, das handlos Müllerlin, die ohrloS Elben, die naöloS Anna, die naöloS Metz, die eineugtg Carrnerin, der blind Schneider, der Baier

der Blind u. f. w. *). Die schlechte Polizei, verbunden mit der Rohheit und Abgestumpftheit der Bevölkerung, muß nun ganz erschreckende Zustände geschaffen haben.

Vor allem war die Unsicherheit der Person eine ganz exorbitante.

Mit­

unter sind in einem Jahre 9, 10, ja 11 verschiedene Todtschläge ver­ zeichnet, sämmtlich innerhalb des Stadtftiedens verübt.

Und dabei sind

noch nicht gerechnet die Todtschläge, die auS Nothwehr geschahen oder mit

dem Tode bestraft oder sonst irgendwie gebüßt oder ausgeglichen wurden

oder deren Thäter verborgen blieben.

Und sind weiter nicht gerechnet die

*) Wie derb realistisch daS Mittelalter überhaupt in der Beinamengebung war, davon hier einige Beispiele aus gleichzeitigen Augsburger Quellen: der roth Aermel, Gebhart Dürrbein, der Ezzwadel, der Plerrer, der schielend Diettel von Würzburg, der bös Styesel, Künzlin Bozzwort, daS grindig Bäuerlein, der hupfend Schneider, Johann Mifferat, der Mäusesser, der Kötzer im Loch, die keuchend ElS, das rotzig Diemlin, das kotig Metzlin, die hupfend ElS, der Eilinsgrab, der Zucksmesser, der Leutscherer, der roth Schiffer, Kunz Dremelindemarsch u. s. w.

vielen Hinrichtungen, deren es auch alljährlich eine beträchtliche Summe gab.

Ungleich seltener kommen in dem Achtbuche Fälle von Körperver­

letzungen ohne tödtlichen AuSgang vor, wohl nicht deßhalb, weil sie seltener waren, sondern weil sie meist durch Geld geledigt wurden und dann keine Veranlassung existirte, sie im Achtbuche aufzuzeichnen.

Noch charakteristi­

scher ist die bloße wüste, rohe Lust am Schlagen, Stechen u. s. w., die aus den Einträgen unseres GerichtSbucheS sich ergiebt.

Und dabei macht

der Stand des Betreffenden durchaus keinen Unterschied.

Bei der gering,

fügigsten Veranlaffnng wurde das Messer gezückt. Frauen standen nicht zurück.

Auch Geistliche und

Bloße Eifersüchteleien der letzteren genügten,

daß sie in der Kirche und auf der Straße gegen einander loSgingen oder gar sich gegenseitig mit Messern verstümmelten.

In der Dunkelheit konnte

man sich ungefährdet nicht mehr auf den Straßen sehen lassen.

Zwar

wurde für die öffentlichen Schenken eine frühe Polizeistunde gehandhabt, aber daS bewirkte nur, daß sich der Skandal auf die Straße fortsetzte. Zwei Momente kommen dabei der angebornen Roheit, namentlich der

unteren Stände, zu Hülfe.

Einmal die Trunksucht, deren Wirkungen noch

dadurch gesteigert wurden, daß die geistigen Getränke weit stärker und un­ verfälscht consumirt wurden, sodann der dadurch im hohen Grade erregte

Geschlechtssinn.

Trunkenheit und Unzucht erscheinen daher in den meisten

Fällen als die nächsten Ursachen begangener Excesse.

Wir haben schon

oben hervorgehoben, daß die Prostitution im Mittelalter Seitens der

Stadtobrigkeiten nicht nur geduldet, sondern förmlich geschützt und gepflegt

wurde.

Daneben aber muß die nicht concessionirte Unsittlichkeit in allen

Schichten der Gesellschaft eine ebenfalls sehr bedeutende gewesen sein.

Namentlich scheinen die zahllosen Badestuben den öffentlichen Häusern ge­

fährliche Concurrenz gemacht zu haben; daß zur Bedienung in denselben vielfach liederliches Gesindel verwandt wurde, erhellt schon aus der That­ sache, daß alle Augenblicke Badeknechte und -Mägde mit der Rechtspflege in Collision geriethen.

Doch waren auch außerdem Kuppelei und Unzucht

viel betriebene und wie es scheint, einträgliche Geschäfte.

Unter den im

Herbste aus Augsburg Ausgetriebenen befanden sich mitunter auf einmal 20 und mehr Kuppler und Kupplerinnen.

haupt gegeben haben!

Wie viele mag eS da über­

Schon der Umstand, daß man eine Menge ver­

schiedener Namen hatte, um die Personen, die dergleichen Geschäfte auS-

übten, zu bezeichnen, giebt zu denken.

So sprach man von Ruffianern

und Ruffianerinnen, von Purlierern und Purliererinnen, von Aufmachern und Aufmacherinnen, von Sponsierern, Ausschütterinnen, Einheimerinnen,

Einstößerinnen, Aschenpreteln u. «., alle mehr oder weniger dasselbe be­ deutend wie das ebenfalls oft gebrauchte Kuppler und Kupplerin.

17*

Ge-

Studien zur alten GesellschaftSgeschichte.

226

legenheitSmacherinnen für verheirathete Männer und Frauen nannte man

„Berwerrerinnen" (Verwirrerin) oder auch Zerstörerinnen ehelichen Lebens,

Häufig begegnen wir dem Worte

mitunter wohl auch Ehebrecherinnen.

„Verrätherin", man verstand darunter eine Person, die Ehemänner, Ehe­ frauen und Töchter ehrbarer Eltern verkuppelte.

Auf den Ausdruck „fein

lediges Weib" (Maitresse) stößt man alle Augenblicke.

Entführung von Eheweibern sind häufig vorkommende Dinge.

Ehebruch und Am meisten

verstößt aber gegen unser Gefühl die privilegirte Stellung der liederlichen

Sie betheiligten sich an öffentlichen Aufzügen und Festen, an

Dirnen.

Gastmählern und Tänzen, und oft fiel ihnen dabei eine hervorragende Gegen Excesse nach dieser Richtung schritt man nur sehr lau

Rolle zu.

So wurde z. B. ein Bursche, welcher aus den Frauenhäusern der

ein.

Stadt sämmtliche Dirnen zusammengeholt und mit ihnen auf dem Perlach einen Tanz ausgeführt hatte, bloß mit einer mehrtägigen Ausweisung

gestraft.

Bei Verwundungen oder Tödtungen der „schönen Frauen" trat

Bürgermeister und Rath

als Kläger auf.

ES ist daS ein Beleg für

unsere oben ausgesprochene Behauptung, daß die Obrigkeit die liederlichen

Dirnen als einen kostbaren Sachbesitz zu betrachten gewöhnt war, den man für sich zu erhalten möglichst bestrebt sein müsse.

Ebenso schützt die

Obrigkeit den Gewerbebetrieb der „fahrenden Fräulein"

gegen Beein­

Letztere sollen z. B. keine seidene

trächtigung Seitens Nichtprivilegirter.

Stürze und Paternoster von Korallen tragen, stets ohne Magd ausgehen und außerdem zur Unterscheidung von ehrbaren Weibern einen Schleier

mit einem zweifingerbreiten grünen Strich tragen.

Der Vogt und seine

Knechte waren angewiesen, jeder, die gegen dieses Gebot verstoßen werde, die verbotenen Gegenstände oder ihren Mantel abzunehmen.

Ein ander­

mal wird den „freien Fräuleins" sogar gestattet, ihre heimlichen Con-

currentinnen, die sie zur Winterszeit nach 7 Uhr und zur Sommerszeit nach 9 Uhr „ohne Licht und gefährlich" aus der Gasse betreten, in das

offene Haus zu führen und zu pfänden.

Eine Besserung dieser unsicheren und unsittlichen Zustände in den

Städten brachte erst daS 16. Jahrhundert mit seiner erstarkenden Polizei­ gewalt

und der Kirchenreformation

mit sich.

Von da an hörten die

Städte auf, Sammelpunkte des liederlichen Gesindels zu sein.

Das letztere

zog sich jetzt mehr und mehr auf das platte Land zurück, wo eS für sein Gebühren sowohl in der hier noch wenig entwickelten Polizei, als in der

allverbreiteten Unbildung und Roheit den nöthigen Hintergrund und Stütz­ punkt fand.

DaS Leben und Treiben dieser Landvaganten gedenke ich in

einem zweiten Artikel zu schildern. Posen.

Chr. Meyer.

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit. Eine wirthschaftliche Studie*).

Durch die bekannte Reichstags-Resolution vom 7. Mai v. I., welche

die Einschränkung der allgemeinen Wechselfähigkeik und die Einführung von Registern über die wechselfähigen Personen in'S Auge faßt, ist eine

Frage in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt, welche, durch

die deutsche Wechsel-Ordnung einmal entschieden, nach mehr als 30jäh-

rigem Schlummer in jüngster Zeit wieder an das Tageslicht öffentlicher Diskussion gezogen war.

Es war kein Zufall, sondern ein bedeutsamer

Hinweis auf den Kern der ganzen Frage, daß sie, wie sie überhaupt im engsten Zusammenhang« mit den auf Unterdrückung deS Wuchers gerichteten

Bestrebungen behandelt wurde, so auch im Reichstage bei Gelegenheit der

Berathung deS Wuchergesetzes einen prägnanten Ausdruck fand.

Wie die

Wuchergesetzgebung, so hat auch die Einschränkung der Wechselfähigkeit die

verschiedenartigste Beurtheilung erfahren.

In großen Schaaren stehen sich

Freunde und Feinde gegenüber, mit den mannigfaltigsten Gründen wird gestritten und in buntester Verschiedenheit erscheinen die vielfachen Vor­

schläge Behufs Einführung einer Beschränkung.

Wenn wir diesen Vor­

schlägen im Folgenden einen ferneren hinzufügen, so glauben wir unS hierzu berechtigt, weil derselbe unseres Wissens neu ist, den mit dem zu

behandelnden Stoff so vielfältig verwachsenen Privatinteressen in vollem

Maße gerecht wird, und der gesetzgeberischen Formulirung und Ausfüh­ rung nur geringe Schwierigkeiten entgegensetzt.

Wir stellen uns dabei

vollkommen auf den Boden des Wuchergesetzes und der für seinen Erlaß

maßgebend gewesenen Erwägungen; ja unser Vorschlag will nicht nur ge­ sundere Credttverhältnisse, namentlich innerhalb des nichtkaufmännischen

Verkehrs,

anbahnen,

sondern

Zweck, unter Vermeidung

verfolgt zum großen Theil gerade den

einer Beeinträchtigung berechtigter Interessen

dem Wuchergesetze auf dem Gebiete deS Wechselverkehrs eine möglichst um­

fassende Anwendung zu sichern. *) A. d. R. Wir stellen die in einem Hauptpunkt neuen Vorschläge, welche der Herr Verfasser dieser Studie macht, zur DiScusflon.

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.

228

Der Zwiespalt zwischen dem Allg. Landrecht und dem Rheinischen Civil-

Ges.-Buch, von denen ersteres die Wechselfähigkeit als Ausnahme, letzteres als Regel hinstellte, drängte zu einheitlicher Neuordnung.

floß ein Menschenalter, ohne daß Abhülfe geschaffen wäre.

Trotzdem ver­ Erst der der

leipziger Conferenz vorgelegte preußische Entwurf einer Wechsel-Ordnung

stellte als allgemeine Norm für die Wechselfähigkeit die DarlehnSfähtgkeit hin; die betgelegten Motive befassen sich nicht damit, diese Ausdehnung principiell zu begründen, sondern begnügen sich mit einer gelegentlichen Be­

merkung über die Schädlichkeit von Beschränkungeen und mit einer Wider­ legung der landrechtlichen Auffassung von der Personalhaft.

Auch die

Protokolle der Conferenz, welche der Darlehnsfähigkeit die allgemeine Ver­ pflichtungsfähigkeit substituirte, gehen mit einer gewissen Leichtigkeit über

die ganze Frage hinweg: bezüglich der Ausdehnung der Wechselfähigkeit war die größte Einigkeit vorhanden und nur über die Beibehaltung des eigenen Wechsels wurde gestritten.

Man lebte in einer Zeit, die rechtlichen Unter­

schieden zwischen verschiedenen Klassen der Bevölkerung durchaus abhold war und die Beschränkung der Wechselfähigkeit auf die Kaufleute wäre

wohl allseitig als die ungerechtfertigte Bevorzugung eines Standes em­ pfunden worden.

Die philosophische Strenge dieser Anschauungsweise hat sich nach Ab­ lauf eines Menschenalters in etwas gemildert.

In den bewegten Zeiten

seit der Revolution haben wir einsehen gelernt, daß eö nun einmal nicht

geht, das im Geiste folgerichtig konstrutrte Staatsgebäude ohne Weiteres in die Wirklichkeit zu übersetzen.

Unsere Bausteine sind die realen Ver­

hältnisse, die sich nicht umformen lassen; nach ihnen müssen wir uns richten

und ändern, hier und dort, Großes und Kleines, und schließlich sind wir ganz zufrieden, wenn wir nur einigermaßen behaglich wohnen und sorgen uns nicht groß darum, wenn unser Bau nicht von tadellosem Stil. Darum

kann eS uns auch nicht allzuschwer fallen, für die Wechselfähigkeit bestimmte

Einschränkungen festzustellen, sobald wir uns von dem Nutzen und dem segensreichen Erfolge einer solchen Maßnahme vergewissert haben.

Wir

könnten einer solchen Einschränkung also das Wort reden vom Stand­

punkte derjenigen, welche die Wechselfähigkeit als unmittelbaren Ausfluß

der Rechtsfähigkeit ansehen, als ein Naturrecht, mit dessen Anwartschaft der Mensch geboren wird.

Dieser Ansicht ist aber nicht beizustimmen.

Nur die Rechtsfähigkeit ist es, welche der Mensch mit auf die Welt bringt, welche das Recht an die Persönlichkeit als solche anknüpft.

Die Wechsel­

fähigkeit dagegen, — bet welcher sich eine Trennung der aktiven und passiven

Seite nicht durchführen läßt —, ist eine Art der Verpflichtungsfähigkeit und für diese bestehen besondere, und in den verschiedenen Rechtsgebieten

verschiedene Erfordernisse, deren Zweck eS ist, ganze Klassen — die nach

Alter, Geschlecht, Stand u. s. w. bestimmt werden — zu schützen, sei eS vor eigener Unerfahrenheit und Leichtherzigkeit, sei es vor der Selbstsucht Anderer.

Freilich hat unsere neuere Gesetzgebung diese Beschränkungen,

mit Ausnahme der durch die Allmähltgkett der körperlichen und geistigen Entwicklung gebotenen, fast ganz beseitigt.

Aber doch nur um deßwillen,

weil die mit der Gleichstellung verbundenen Nachtheile nicht bedeutend

genug erschienen, um eine Ungleichheit vor dem Gesetz zu rechtfertigen. Wo wirklich erhebliche Nachtheile in Frage stehen, welche das Prinzip der

Gleichheit vor dem Gesetz Im Gefolge hat, da muß die Bedeutung beider

abgewogen werden.

Die Erkenntniß der Richtigkeit dieses Satzes ist nicht

nur bet Erlaß des Wuchergesetzes ausschlaggebend gewesen, sie tritt auch

auf anderen Gebieten der Gesetzgebung bereits deutlich hervor.

Jenes

Prinzip muß endlich seinen bedingungsweisen Werth für die vorliegende

Frage gänzlich verlieren, wenn nachgewiesen wird, daß daS Rechtsinstitut des Wechsels seinem inneren Wesen nach sich auf den kaufmännischen Ge­ werbebetrieb beschränkt; daß die eigenartige Entwickelung,

welche dem

Wechsel sein modernes Gepräge aufgedrückt hat, Schritt für Schritt der

Entwickelung des kaufmännischen Verkehrs gefolgt ist; daß die besonderen Bedürfnisse, denen der Wechsel bestimmungsgemäß dient, lediglich Bedürf­

nisse des Kaufmannsstandes sind; ja daß die vielfachen Nachtheile, welche mit dem Wechsel namentlich innerhalb der ntchtkaufmännischen Kreise ver­ bunden sind, zum größten Theile ihren Grund haben in einer Anwendung

des Wechsels auf Verhältnisse, für die er seiner Natur nach nicht bestimmt und nicht geeignet ist.

den.

Dieser Nachweis soll im Folgenden versucht wer­

Dabei muß dann der Streit seine Erledigung finden, ob für die

Beibehaltung des Wechsels außerhalb des kaufmännischen Verkehrs ein

wirkliches Bedürfniß vorliegt, oder nur ein eingebildetes.

Die Frage, ob im wirthschaftltchen Leben überhaupt so schwere Miß­ stände vorliegen, daß ein legislatives Einschreiten zugleich gerechtfertigt und geboten ist, wird von Manchen zur Zeit nicht für spruchreif gehalten.

Na­

mentlich wird hingewiesen auf das jüngst erlassene Wuchergesetz und be­

tont, daß zunächst die a priori unbestimmbare Wirkung dieser so ganz

neuen Vorschriften abgewartet werden müsse, daß erst einzuschreiten sei, wenn die Fruchtlosigkeit derselben sich herausgestellt habe.

müssen wir auf das Entschiedenste widersprechen.

Dieser Ansicht

Die Summe der Er­

fahrungen, die wir in mehr denn 30 Jahren in Bezug auf den Wechsel gesammelt haben, ist bedeutend genug, um auf'S Deutlichste vor die Augen zu führen, daß der derzeitige Rechtszustand für große und wette Klassen

unseres Volkes Gefahren in sich birgt, die nur zu häufig zu wirthschaft-

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.

230

llchem und sittlichem Verderben führen.

Man sollte meinen, es genüge

ein Blick auf die heutigen Lebensverhältnisse, namentlich deS kleinen Hand­ werkers und Landwirths, nicht minder der militairischen und studentischen,

weniger der beamtlichen Kreise, um die traurigen Folgen der allgemeinen Wechselfähigkett zur Evidenz hervortreten zu lassen.

Wie viele blühende

Existenzen sind zu Grunde gegangen und gehen täglich zu Grunde an der Ausstellung eines Wechsels über einen anfänglich vielleicht geringfügigen

Betrag!

Wo sich ein rapider wirthschaftlicher Verfall zeigt, fast immer

läßt er sich zurückführen auf Wechselgeschäfte. sich dies

in nichtkaufmännischen

Kreisen.

Und am auffälligsten zeigt Hier hält

sich der gröbste

Wucher, die gröbste Ausbeutung, unter dem undurchsichtigen Kleide des Wechsels verborgen, weil hier sich die größte Wehrlosigkeit, verbunden mit der größten Unerfahrenheit und Unbedachtsamkeit, findet.

In kaufmänni­

schen Kreisen ist der Wucher aus erklärlichen Gründen seltener.

Der

Kaufmann besitzt eine größere geschäftliche Einsicht, einen genaueren Ueber-

blick über seine jeweilige Geschäftslage; sobald er seine Wechsel nicht mehr prompt honortren kann, ist er, von Ausnahmsfällen abgesehen, verloren;

denn sein Kredit ist dahin und ohne Kredit kann er nicht bestehen. läßt sich

so

leicht

nicht durch den Wucherer aus

nissen in den Abgrund ziehen;

Er

blühenden Verhält­

sein Geschäftskredit und die durch und

in sein Geschäft fließenden Baarmittel ermöglichen es ihm, an einer

anderen Stelle sich Kredit zu eröffnen, wenn er von einem Kreditgeber gedrückt wird.

Ganz anders der Nichtkaufmann.

Bei ihm fehlt eS regel­

mäßig an der kaufmännischen Geschäftskenntniß und Vorsicht, vielfach an

dem klaren Einblick in die eigene wirthschaftliche Lage und meistens an

dem ausgebreiteten Kredit.

Und gerade da, wo eS in einer dieser Be­

ziehungen fehlt, gerade bei solchen Existenzen, in denen nicht mehr Alles gesund ist, sucht der gewissenlose, nur von gemeiner Habsucht getriebene Gelddarleiher, der Wucherer, mit Vorliebe seine Beute.

Der Bedrängte

bedarf Geld; eS wird ihm gegen einen Federzug; und nun ist er, den

man nach Möglichkeit zu retten und zu rehabilitiren suchen sollte, mit ge­

bundenen Händen dem Verderber überliefert, der in ihm nur ein Werthob­ jekt sieht, daS auf jede Weise auszunutzen ist. Man meine aber nicht, solches

geschehe nur am dürren Holze — es geschieht auch am grünen.

Auch in

wohlgeordneten Verhältnissen mag eS einmal vorkommen, daß ein plötz­

licher Geldbedarf eintritt.

Darauf lauert der Wucherer: ist er erst im

Besitze eines Wechsels, so sucht er die Zahlung hinauszuschieben und als­ bald zieht sich die Schlinge fester und fester.

So kommt es, daß heutzu­

tage in weilen Kreisen der nichtkaufmännischen Bevölkerung eine Scheu und Furcht herrscht vor dem Wechsel, daß derselbe betrachtet wird als

Todfeind häuslicher Zufriedenheit und blühenden Wohlstandes, ja daß

von kompetenter Seite öffentlich gewarnt wird vor dem Ausstellen von Wechseln.

Als neueste Beispiele führen wir nur an den in der Monats­

schrift für deutsche Beamte vom Jahre 1880 abgedruckten Vortrag deS

Geh.

„den Beamten

RegierungSrath Bosie über

Proklamationen der

als Ehemann", die

landwirthschaftlichen Vereine in Cassel und Fulda,

und daS Gutachten des General-Comitsö des landwirthschaftlichen Vereins

in Bayern über die Wechselfähigkeit des Bauern, bearbeitet vom Kgl. Regierungs-Direktor v. Jodtbauer. Der caffeler Aufruf ist so charakteristisch, daß wir ihn seinem ganzen

Wortlaut nach wiedergeben: „Bauersleute, Handwerker, Arbeiter!

Wechsel!

Warum nicht?

1)

Unterschreibt nie einen

Ihr könnt eure einmal gegebene Unter­

schrift nicht wieder zurücknehmen, so gern ihr eS vielleicht thätet.

2) Der

Wechsel muß am Verfalltage ohne Weigerung bezahlt werden und zwar

an den, welcher denselben in Händen hat.

Dieser hat gar nicht zu fragen,

ob ihr die Schuld wirklich gemacht habt oder nicht.

3) Seid ihr in der

That nicht imstande, zu bezahlen, so folgt sofort der Protest, Wechsettlage

und Beitreibung, alles mit vielen Kosten verbunden.

In wenigen Tagen

habt ihr die gerichtliche Exekution zuhause und was das zu bedeuten hat, braucht wohl nicht erklärt zu werden.

Bezahlen nicht retten.

4) Einreden können euch vor dem

Es kann auch nichts helfen, daß ihr sagt, ihr

wäret gar nichts oder ihr wäret nicht so viel schuldig; auch nicht einmal, daß ihr sagt, ihr hättet nicht so viel unterschrieben.

Ihr habt euren

Namen unter den Wechsel geschrieben und müßt zahlen, so viel darauf

steht.

Und wenn eS auch versprochen wäre, der Wechsel solle nicht in

Umlauf gesetzt oder er solle am Verfalltage prolongirt werden, so nützt

eS euch nichts, auf dieses Versprechen euch zu berufen.

5) Wenn ihr eine

Schuld habt, versuchet alles Mögliche, sie zu tilgen; verkauft oder entzieht

euch lieber- etwas, sollte eS euch schreibt keinen Wechsel dafür.

auch hart ankommen — aber unter­

Ihr übergebt euch in den meisten Fällen

einem wildfremden Menschen auf Gnade oder Ungnade.

6) Sprecht euch,

über eure Lage aus und fragt ehrliche Leute um Rath; Schulden schänden

nicht, wenn sie nicht auf schlechte Weise gemacht sind.

Wenn der Wechsel­

eigenthümer auch Wort hält und nicht über eure Geldverlegenheit spricht, am Ende, wenn euch HauS und Hof verkauft wird, wird eure Lage doch aller Welt offenbar.

7) Unterschreibt also keinen Wechsel, stellt aber auch

keine, nach § 702 der Civilprozeßordnung

vollziehbare

Urkunde

8) Sucht Hilfe bet den Sparkassen und Vorschußveretnen.

aus.

Könnt ihr

von diesen auf einen einfachen Bürgschaftsschein einen Vorschuß nicht er-

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.

232

halten, so dürft ihr diesen Vereinen ausnahmsweise einen Wchsel auSstellen, weil von ihnen ein Mißbrauch deS Wechsels nicht zu befürchten ist."

Der landwirthschaftliche Centralverein

für dm Regie­

rungsbezirk Cassel.

Alles dies können wir nur Wort für Wort unterschreiben und die

Zahl solcher Stimmen, bei denen weder die Einsicht noch die Unantast­ barkeit deS Strebens dem geringsten Zweifel unterliegt, ließe sich leicht vermehren.

Wir glauben nun aber,

bei einer bloßen Warnung

nicht

stehen bleiben zu dürfen: wir fühlen uns verpflichtet, unsere Stimme zu

erheben für das Eingreifen der Gesetzgebung, von welchem wir unS wirk­ samere Abhülfe versprechen, als das gesprochene und geschrikbene Wort

bringen kann.

Daß hier ein Krebsschaden vorliegt, der dringend der

Heilung bedarf, muß Jeder zugeben, der mit offenen Augen in Stadt und Land gelebt hat; und

dies wird auch von unbefangenen Gegnern deS

Wuchergesetzes nicht bestritten.

Es wird auch von den Meisten derer nicht

bestritten, welche die Sache nicht sür spruchreif halten: denn diese wollen eben abwarten, ob nicht eine Besserung der gekennzeichneten Nachtheile in

Folge deS Wuchergesetzes eintreten wird.

An die Möglichkeit einer solchen

Besserung, überhaupt an eine ausreichende Wirkung des Wuchergesetzes

auf dem Gebiete deS Wechselverkehrs vermögen wir nicht zu glauben.

Der Eingangs erwähnte RetchStagS-Beschluß gründet sich auf die Ueber­

zeugung, daß mit dem Wuchergesetze allein eine genügende Abhüife nicht

geschaffen ist. treffend.

Und diese Ueberzeugung

erweist sich als durchaus zu­

DaS Wuchergesetz ist in der That ein Torso, welcher der Er­

gänzung bedarf.

Gewiß werden seine Strafbestimmungen, im Anfänge

namentlich, wohlthätig wirken, den handgreiflichsten Wucher zurückdrängen.

Aber alsbald wird der, durch die Strafbestimmungen gewarnte md vor­ sichtiger gemachte Wucherer neue Wege suchen, das Gesetz zu »«gehen,

und da bietet sich ihm als das bequemste Mittel der Wechsel.

Denn

einmal ist der Wechsel vermöge seiner völligen Loslösung von dem ma­

teriellen Schuldverhältniß wie gemacht dazu, daS zu Grunde liegende Schuldverhältniß mit einem dichten Schleier zu überziehen; sodam aber, — und das ist hier daS Wichtigste — bietet selbst nach Eraß deS

Wuchergesetzes die in daS Indossament gelegte Kraft noch

immer die

Möglichkeit einer Umgehung deS Gesetzes, der durch dasselbe gevährten

Rückforderungsklage

zum Trotz.

Diese Möglichkeit

erkennt auch

der

scharfsinnige Referent deS letzten deutschen JuristentageS über die Frage einer Beschränkung der Wechselfähigkeit an.

(Freilich zieht er die Mög­

lichkeit einer Inanspruchnahme deS Wucherers aus § 302 c Str-G.-B. nicht in Betracht und die Zulässigkeit einer EideSzuschiebung über die

wucherlichei Thatsachen nicht in Zweifel.)

Seine rechtlichen Eigenthüm­

lichkeiten befähigen das Indossament im denkbar höchsten Maße, den durch die Wechsetform, das nackte Summenversprechen, über das materielle Schuldverhältniß gebreiteten Schleier undurchdringlich zu machen,

oder,

um den treffenden Ausdruck in dem eben erwähnten Referate zu ge­ brauchen, als Hehler des Wuchers zu dienen.

Dadurch wird die sonstige,

pekuniäre und rechtliche Ueberlegenheit des Wucherers über sein Opfer

noch unendlich verstärkt: die Hereinziehung insolventer oder fingirter Per­ sonen in den Wechsel, die Benutzung des Blankoindossaments zur Aus­

beutung, und andere Praktiken können sowohl nach der kriminellen, wie nach der civilen Seite die Rechtöverfolgung sehr erschweren oder ganz

unmöglich machen.

Alle jene Möglichkeiten bilden die Defensivwerke der

rechtlichen Position des Wucherers.

Der Schlüssel dieser Position ist und

bleibt die Abschneidung der Einreden gegen den Indossatar.

Gegen diesen

gewährt das Wuchergesetz eine Handhabe nur unter der Voraussetzung der Schlechtgläubigkeit; dazu gehört aber Kenntniß von dem ganzen Thatbe­

stände de« wucherlichen Geschäfts; es genügt nicht etwa, daß der Indossatar

weiß, sein Girant sei ein Wucherer.

Zudem muß auch noch das Valuten-

verhältniß zwischen beiden Personen deS Indossaments bewiesen werden.

Daß alle diese Nachweise sich nur in seltenen Ausnahmefällen erbringen lassen, kann nicht bezweifelt werden.

Auch durch die NückforderungSklage

gegen den Wucherer wird wenig gebessert an der schlechten rechtlichen Lage deS dem Wucher zum Opfer Gefallenen. dosiatarS sofort verurtheilt und cxequirt,

In der Wechselklage deS Jnsteht

er auSgeplündert

und

mittellos da; wie mag er dann die Rückforderungsklage anstellen, einen

Anwalt gewinnen, die Klage gehörig instruiren und vorbereiten, Kosten­ vorschüsse erlegen und die Klage durchführen, bevor er dem völligen Ruin

verfallen ist und den traurigen Anspruch auf Gewährung deS ArmenrechtS hat?

Alles in Allem ist nach jetzigem Rechte die Durchführung deS

Rückforderungs-Anspruchs mit Schwierigkeiten verbunden, welche dieselbe in nicht seltenen Fällen ganz vereiteln werden.

Bei Geltendmachung der

Einrede dagegen verringern sich diese Schwierigkeiten um ein Bedeutendes,

durch die sofortige Einbringung im Wechselprozesse werden Zeit und Kosten erspart und eS ist ein nicht zu unterschätzender Vortheil für den Ver­

klagten, wenn ihm außer dem Wucherer jeder Kläger, der von jenem sein Recht ableitet, auf Rückgabe verhaftet ist. — Bei alledem glauben wir

doch nicht hierauf,

sondern auf einen anderen Punkt das Hauptgewicht

legen zu sollen: das ist die Leichtigkeit, mit welcher heutzutage der Wucherer Unterstützung

in seinen

Unterstützung

bewußt

verwerflichen Bestrebungen findet,

oder unbewußt gewährt werden.

mag diese

Die

günstige

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.

234

Stellung des Indossatars gegenüber dem Schuldner bringt es mit sich, daß jener sich nicht eben großen Skrupeln darüber hinzugeben braucht, ob

das zu Grunde liegende Geschäft zweifelsohne und unanfechtbar sei; so lassen sich neben den reellen auch die Wucherwechsel ohne allzu große

Schwierigkeiten an den dritten Mann bringen, der dann absichtlich oder

unwillkürlich Helfershelfer des Wucherers wird.

Wucher erleichtert wird, liegt auf der Hand.

Wie sehr dadurch der

ErfahrungSmäßtg beschreitet

der Wucherer selbst nicht gerne den Prozeßweg; und nach Erlaß des Wuchergesetzes wird er es noch weniger gern thun als früher, weil selbst

wenn er der Strafe entschlüpft doch semper aliquid haeret, die Maske des Menschenfreundes ein wenig gelüftet wird.

aufzutreten

Selbst mit der Klage

aber wird der Wucherer gezwungen, wenn die Wirkung des

Indossaments abgeschwächt und der

materielle Rechtsverhältniß

Indossatar

gezwungen

einer Prüfung zu unterziehen.

wird,

das

Schon bei

Abschluß des wucherlichen Geschäfts steht dann dem Wucherer die Even­ tualität vor Augen, das Object selbst einklagen und sich der Wucherein­ rede aussetzen zu müssen, während er zur Zeit mit Bestimmtheit hoffen kann, die Wechselsumme durch Vermittelung eines Dritten zu erhalten,

und zu der Annahme berechtigt ist, mit der Rückforderungsklage habe es gute Wege. —

Die unbeschränkte Zulassung

der Einreden gegen den

Indossatar

würde somit ein äußerst wirksames Schutzmittel gegen den Wucher bilden und zugleich in hohem Maaße geeignet sein, Solidität und Reellität im Wechselverkehre zu festigen und zu fördern.

Mit dem Wuchergesetz allein

ist eS nicht gethan. Man wähne doch nicht, mit einer Norm von vorwiegend

strafgesetzlich-repressivem Gepräge, deren practische Anwendbarkeit zudem nicht ungerechtfertigten Zweifeln unterzogen wird, erfolgreich gegen eine so

mächtige Triebfeder des menschlichen Wollens und Handelns ankämpfen

zu können, wie die Habsucht.

Immer und immer wieder wird „das

Drängen nach Golde" Wucherer erzeugen, solche, die dem Gesetz frech in's Gesicht schlagen, und solche, die eS auf Schleichwegen zu umgehen

suchen.

Und

dieser Zustand kann und wird erst dann aufhören oder

doch sich bessern, wenn die lockende Aussicht auf Gewinn fortgefallen oder doch beschränkt ist.

Man kann mit Fug nicht behaupten, daß die jetzigen

wirthschaftlichen Zustände überhaupt anormale seien, daß der Eintritt einer allgemeinen Besserung alsbald zu erwarten stehe.

Je reger sich das

wirthschaftliche Leben gestaltet, je rascher sich der Güterumlauf vollzieht, je mehr die vermeintlichen und wirklichen Lebensbedürfnisse wachsen, um so weniger werden alle die Umstände schwinden, welche den jetzigen Zu­

stand herbetgeführt haben, Habsucht und Geldgier so wenig auf der

einen, wie wirthschaftliche Bedrängtheit oder Unvernunft auf der anderen

Darum ist eS notwendig — und dies ist unser ceterum censeo

Sette. — daß

eine Aenderung des bestehenden Rechts erfolge für diejenigen

Kreise der Bevölkerung, in welchen sich die bezeichneten Schäden am auf­ fälligsten zeigen.

Eine Aenderung des bestehenden Rechts wird man natürlich nur be­ fürworten können auf Grund der Ueberzeugung, daß mit der Aenderung

nicht Nachtheile verbunden sind, welche die erhofften Vortheile überwiegen. Und damit nähern wir uns dem Kernpunkte unserer Untersuchung.

„In

welchem Umfange ist ein unabweisbares Bedürfniß für die Beibehaltung

des Wechsels in seinem dermaltgen Bestände anzuerkennen?" Wir antworten:

Ein solches Bedürfniß besteht nur für den Kaufmannsstand.

Bevor wir

aber diese Ansicht auS der wirthschaftltchen Natur deS Wechsels heraus

zu begründen versuchen^ bleibt ein Punkt aufzuklären, dessen unrichtige Auffassung in hohem Maße zur Verwirrung der ganzen Frage betgetragen

hat.

Man pflegt zu sagen, der Handwerker bedarf deS Wechsels, oder

der Grundbesitzer, Beamte u. s. w. bedarf deS Wechsels.

Bedürfnißfrage in eine falsche Position gerückt.

Damit ist die

Nicht der Handwerker,

nicht der Grundbesitzer bedarf deS Wechsels sondem der Gläubiger deS Handwerkers

und Grundbesitzers.

Der Schuldner

Credit, der Gläubiger der Sicherung des Credits.

bedarf Geld

oder

Die Erörterung der

Bedürfnißfrage muß mithin von der Gläubigerseite, nicht von der Schuld­ nerseite, ausgehen.

Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnt die Frage so­

gleich eine ganz andere Gestalt.

Es kann sich nicht darum handeln, die

einzelnen Klassen der modernen Gesellschaft durchzugehen und ihre speciellen Verhältnisse zu untersuchen, sondern die Betrachtung muß sich richten

auf die allgemeinen Kategorien wirthschaftltcher Bedürfniffe, denen der Wechsel dient. Der Wechsel kann zur Befriedigung des Creditbedürfnisses in der doppelten Weise dienen, daß er

1) die Sicherung des gewährten Credits bewirkt, 2) die Uebertragung des Credits ermöglicht.

In seiner ersten Function dient er einem allgemeinen, in seiner zweiten einem specifisch kaufmännischen Bedürfniffe; in jener zeigt er keinen wesentlichen inneren Unterschied von anderen Sicherungsmitteln

des Credits, in dieser hat er sich zu dem

wichtigsten Werkzeug deS

modernen kaufmännischen Geschäftsverkehrs ausgebildet.

Die bezeichnete Verschiedenheit ist zurückzuführen auf den Unterschied deS kaufmännischen Credit-VerkehrS und deS nichtkaufmännischen.

Infolge

der großartigen Entwickelung des heutigen Weltverkehrs und

des von

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit-

236

diesem nicht zu trennenden kaufmännischen Verkehrs überhaupt trat zu­ nächst die Baarzahlung in den Hintergrund; ein Surrogat wurde gesucht

und gefunden in einem ausgedehnten CreditirungSshstem, sodann aber

auch in der umfangreichsten Tilgung eigener Schulden durch Ueberweisung eigener Forderungen.

Beides

ermöglichte der Wechsel

in

einfachster

Weise: das bloße Giro überträgt die Forderung an den Giratar mit einer Machtvollkommenheit, welche die deS Giranten möglicherweise noch über­ steigt und zugleich verpflichtet es den Giranten wechselmäßtg.

So wird

unter Vermeidung der Baarzahlung eine Ausgleichung von Forderungen und Schulden, Compensation und Skontration, im größten Maßstabe her­

beigeführt.

Um dieser seiner Eigenschaft als kaufmännisches Zahl- und

Circulationsmittel willen bezeichnet man den Wechsel mit Recht als „kauf­

männisches Papiergeld" und die ältere Theorie hat sogar von dieser rein wirthschaftlichen Seite aus den Wechsel juristisch zu konstruiren unternommen. Ist diese Konstruktion auch heute mit Recht verworfen, so ist doch die wirth-

schaftliche Funktion geblieben und wird von Niemandem bezweifelt.

Wechsel

ist

und

bleibt

kaufmännisches

Papiergeld,

ein

Der

negociableS

Werthpapier für den Kaufmann und wie die Bezeichnungen alle heißen, welche man erfunden hat, um die vorhin unter Nr. 2 genannte Funktion

auszudrücken. Der Wechsel hat diese Function nur im kaufmännischen Ver­ kehr; denn nur in diesem tritt jenes eigenartige Bedürfniß einer beson­ ders leichten Uebertragbarkeit des Credits, einer vereinfachten Umsetzbar-

barkeit der creditirten Forderung auf. Wenn mit dem Fortfalle der Baarzahlung im großen kaufmännischen

Handel und Wandel die Gepflogenheit, Credit zu geben und zu nehmen,

in immer umfangreicheren Maße sich ausbildete, so konnte sich diese Ge­

pflogenheit mit der bloßen Sicherung der gestundeten Forderung auf die

Dauer nicht begnügen; es bedurfte noch einer Ergänzung. — Wer Credit giebt, substituirt dem greifbaren BermögenSobjekt ein unsichtbares, die Forderung; dadurch tritt nach zwei Seiten eine wirthschaftliche Benachtheiligung ein.

Zunächst ist eine Forderung an sich nicht so sicher, daher

auch nicht von so hohem Werthe, wie ihr Objekt; bei einer befristeten Forderung, wie der Wechselforderung, muß überdies von dem Nominal­ beträge der Betrag der Zwischenzinsen in Absatz gebracht werden (Jnterusurium, Diskonto); die Zinsen zerfallen wieder in solche, welche als Er­

satz für den Verzicht auf eigene Fruktificirung deS Objects erscheinen,

und solche, welche zur Ausgleichung deS Credit-Risikos dienen.

Neben

diesem besteht noch ein anderer Nachtheil, auf welchen es hier speciell an­

kommt; trifft jener jeden Creditgeber, so trifft dieser fast allein den Kauf­ mann.

Dieser Nachtheil hat seinen Grund darin, daß das an die Stelle

des

Baaren Geldes

gesetzte Vermögensobjekt, die Forderung,

gleicher Weise verkehrsfähig und verwerthbar ist, wie jenes.

nicht in

DaS Credi­

tiren hat die Folge, daß es einen Theil des Vermögens der unumschränkt

freien Verfügung entzieht, daß eS ihn wirthschaftlich festlegt, oder doch

die Disposition darüber mehr oder minder erschwert.

Diese Consequenz

deS CreditgebenS trifft wesentlich nur den Kaufmann, diesen aber in schärfster Weise. DaS kaufmännische Vermögen ist werbendes Vermögen durch den

ununterbrochenen Umsatz, dem eS unterworfen wird; was nicht mehr fähig ist, an diesem Umsatz theilzunehmen, kommt als werbendes Vermögen

nicht in Betracht, eS fällt aus dem Geschäfte heraus; das Geschäftsver­

mögen, mithin auch die Creditfähigkeit und Creditwürdigkeit des Geschäfts, vermindert sich.

Ist also eine Forderung nicht, oder nicht genügend um-

satzfähtg, so muß ihre Einlösung abgewartet werden; damit aber geht Zeit verloren und Zeit ist Geld, zumal für den Kaufmann.

Diejenige

Umsatzfähigkeit nun, welche zufolge den Bestimmungen deS bürgerlichen

Rechts jede Forderung besitzt, genügt für den Kaufmann in keiner Weise. Umlauf und Umsatz vollziehen sich innerhalb seines Geschäftsbetriebes in raschestem Tempo und in endloser Reihe.

Die Baarzahlung erweist sich

als ein zu schwerfälliges und unzureichendes Mittel, um diesen Betrieb

in ununterbrochenem Gange zu halten.

In umfangreichstem Maße wird

Credit begehrt und gewährt, und der begehrte mittelst des gewährten aus­

geglichen.

Diese Ausgleichung des einen Credits

durch

den anderen,

Deckung der eigenen Schuld durch Uebertragung der eigenen Forderung,

bildet die Signatur des modernen kaufmännischen Verkehrs.

Ein solcher

Geschäftsbetrieb ist aber nur möglich, wenn die Kreditforderung ein be­

sonders hohes Maß von Cirkulationsfähigkeit besitzt. weglichkeit ist, um so

Je größer ihre Be­

größer wird nach dem bezeichnenden Auödrucke

RoscherS der Multiplikator, mit welchem der Kaufmann auf dem Wege deS Kredits seine wirthschaftliche Kraft zu steigern vermag.

Zu der Noth­

wendigkeit, die kaufmännische Kreditsorderung mit einer besonderen Umsatz­ fähigkeit auSzustatten, gesellt sich daher das lebhafte Jntereffe des Kauf­

manns, diese Umsatzfähigkeit auf das höchstmögliche Maß zu erheben. Denn daS Kapital, welches sich im kaufmännischen Betriebe verzinst, sind die im Geschäfte umgesetzten Summen, welche daS Kreditkapital bilden, mit dem der Kaufmann arbeitet.

Regelmäßig übersteigt dieses daS eigent­

liche Geschäftsvermögen sehr erheblich, und daraus erwachsen dem Kauf­ mann Gefahren, denen nur bei größter Disponibilität der Kreditforderung

begegnet werden kann.

Nirgends auf wirthfchaftlichem Gebiete haben

kleine Ursachen so große Wirkungen, wie in diesem Kreditverkehre, nirgends

kann eine nur zeitweilige Verlegenheit, eine kurze Stockung, so vernichtend und zerstörend wirken, wie hier.

Hier dient die erhöhte Umsetzbarkeit des

Kredits als wirksamstes Remedium.

Der Kaufmann disponirt über die

in seinem Pulte liegenden Wechsel wie der Feldherr, der an den bedrohten Punkt zuerst die leichten Truppen wirft und dann mit der Kerntruppe

nachrückt; ohne diese vermögen jene auf die Dauer nicht zu widerstehen, und so muß auch der Kaufmann den wankenden Kredit durch Baarzahlung

unterstützen. Ein wirthschaftlicheS Interesse und Bedürfniß, wie das soeben in kurzen Umrissen gezeichnete, besteht für den Nichtkaufmann nicht.

Dieser

befindet sich nicht in der Zwangslage, nach allen Seiten Kredit gewähren und Kredit in Anspruch nehmen zu müssen.

Eine so besonders qualificirte

Umsatzfähigkeit der Kreditforderung, wie sie der Wechsel durch das In­

dossament gewährt, ist für ihn nicht nothwendig; denn er kann und wird regelmäßig nur insoweit Kredit geben, als er in dem Kreditgeben selbst

seinen Vortheil sucht oder als er des Objekts der Kredttforderung zur Zeit nicht bedürftig ist.

ES fehlt ihm daS allgemeine Interesse des Kauf­

manns, dem eigenen Kreditbedürfniß durch leichte Uebertragung der eigenen

kreditirten Forderung Befriedigung zu verschaffen; es fehlt ihm auch daS

fernere Interesse, sein Vermögen in dem unablässigen und rapiden Um­

lauf zu erhalten, durch den sich daS kaufmännische Geschäftsvermögen ver­ zinst; es fehlt ihm endlich daS Bedürfniß freiester Disponibilität, weil eine Schmälerung seines Kredits seine wirthschaftliche Existenz nicht so

unmittelbar gefährdet und in Frage stellt, wie die des Kaufmanns.

Zu­

dem ist der Kredit, den der Nichtkaufmann giebt, in den weitaus meisten Fällen ein von dem vorher besprochenen kaufmännischen wesentlich ver­

schiedener;

es handelt sich regelmäßig nicht um Stundung der Gegen­

leistung auS einem Geschäft, daS beiden Theilen Leistung gegen Leistung

auflegt, sondern um Stundung der Leistung aus einem einseitigen Ge­ schäfte, dem Darlehn.

Die Verschiedenheit beider Fälle auf wirthschaft-

lichem Gebiete liegt zu Tage.

Im ersten Falle haben wir eine Gegen­

leistung, die nach der Natur der Sache Zug um Zug mit der Hauptleistung

erfolgen sollte, aber nicht sofort erfolgen kann aus Gründen, die in den Verhältnissen des Verpflichteten liegen und denen sich der Berechtigte hat

fügen müssen.

Der hieraus

für den Kaufmann sich ergebende beson­

dere Nachtheil, daß die ausstehende Forderung weniger umsatzfähig ist,

kann durch Wechselziehung und Begebung fast völlig beseitigt werden. Im zweiten Falle findet freiwillige Entäußerung baaren Geldes gegen

eine Forderung statt; hier geht die Intention des Geschäfts darauf, durch den Umtausch von Geld und Forderung beiden Kontrahenten Nutzen zu

schaffen und die wesentliche Voraussetzung für den DarlehnSgeber ist dabei gerade, daß er des Geldes zur Zeit nicht benöthigt ist; sein Interesse be­

steht in dem Erwerb der Forderung und der mit dieser etwa verknüpften Vortheile, nicht in der sofortigen Einziehung

Forderung. leihen.

oder Verwerthung der

Denn wer seines Geldes selbst bedarf, der soll eS nicht ver­

Der DarlehnSgeber hat demnach kein dringendes Interesse, an

Stelle deS baaren Geldes eine Forderung zu gewinnen, die mehr al-

andere Forderungen umsatzfähig ist.

Diese Grundsätze gelten nicht blos

für Nichtkaufleute, die als DarlehnSgeber auftreten, sondern auch für Kaufleute in gleichem Falle.

Sollte man sich dem gegenüber auf da-

Lombardgeschäft berufen, so ist zu erwidern, daß dasselbe ein spezifisch

kaufmännisches Geschäft nicht ist; eS ist ein solches nicht, weil ihm der kaufmännische Umsatz fehlt.

Dieser Umsatz geht hervor aus der Mittel­

stellung, die der Kaufmannsstand

einnimmt.

Der Kaufmann

ist der

Vermittler deS Güterumlaufs, er giebt nach der einen, empfängt von der anderen Seite, bald Waare (Gut), bald Geld, und die Differenz zwischen beiden Seiten ist sein Geschäfts-Verdienst oder -Verlust.

Diese

Doppelseitigkeit in dem kaufmännischen Geschäftsbetriebe ist es gerade,

welche die Mobilisirung deS kaufmännischen Vermögens erheischt und die CirkulationSfähigkeit deS Wechsels geboren hat; beim Lombardgeschäft aber

fehlt sie gänzlich.

Da-diese Doppelseitigkeit dem DarlehnS- und Lombard-

Geschäft nicht innewohnt, da dem Seitens des DarlehnSgebers gewährten

Kredit nicht ein anderer gegenübersteht, den er selbst genommen, so ist für ihn auch das Bedürfniß nicht vorhanden,

die Kreditforderung ein­

facher und leichter übertragen zu können, als Forderungen der nach übertragen werden.

Regel

Wird der Lombard-Kredit gesichert durch einen

Wechsel, oder über das einfache Darlehn ein Wechsel ausgestellt, so tragen

diese Wechsel den Charakter der Depotwechsel; nach der Natur des Ge­ schäfts sind sie für den Umlauf gar nicht bestimmt, sondern dienen nur

zur Sicherung dereinstiger Rückzahlung.

Dieser wirthschaftliche Charakter

der DarlehnSwechsel zeigt sich besonders deutlich in dem Geschäftsverkehr

der Kredit-Institute und Kredit-Genossenschaften. Bedarf demnach der DarlehnSgeber, er mag Kaufmann oder Nicht­ kaufmann sein, eines in erhöhtem Maße umsatzfähigen Papieres nicht, so

ist noch zu prüfen, ob nicht der Nichtkaufmann in denjenigen Fällen deS Wechsels, d. h. deS indossablen Wechsels, benöthigt ist, in welchen er einen eigentlich kaufmännischen Kredit, Frist für eine ausstehende Gegenleistung,

gewährt hat.

Solche Fälle werden namentlich vorkommen im Verkehre

zwischen Nichtkaufmann und Kaufmann, wenn Ersterer als Producent,

Letzterer als Abnehmer auftritt, weil dann der Kaufmann den in seinem Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVIII. Hest 3.

18

Stande üblichen Credit beanspruchen wird.

Beim Verkaufe landwtrth-

schaftlicher Erzeugnisse wird vielfach nach dem Geschäftsbräuche, der von

den kaufmännischen Käufern eingebürgert ist, Kredit gewährt, so daß der

auf Baarzahlung Bestehende weniger günstige Chancen hat.

Dazu ist

zunächst zu bemerken, daß es zum Mindesten fraglich erscheint, ob ein solcher Zustand wünschenSwerth ist, ob nicht auch hier die unbedingte An­

wendung der Baarzahlung vorzuziehen ist, welche — gewiß zum Vor­

theil aller Betheiligten — mehr und mehr Boden gewinnt.

Allein selbst

wenn man so wett nicht gehen will, das Kredittren hier grundsätzlich zu

bekämpfen, so wird man doch auch hier kein Bedürfniß anerkennen können, den Kredit durch ein ausnehmend cirkulationSfähiges Papier zu decken.

Der Landwirth, der Nichtkaufmann überhaupt, steht dem ununterbrochen

fluktuirenden, kaufmännischen Geschäftsbetriebe fern.

Für ihn handelt eS

sich um einzelne, in ihrer wirthschaftlichen Bedeutung und Wirkung meist unschwer zu übersehende Geschäfte.

Er muß im einzelnen Falle ermessen,

ob seine Verhältnisse ihm gestatten, einen Kredit, und wie weit reichend, zu gewähren.

Gestatten ihm die Verhältnisse dies nicht, d. h. würde er

einen Wechsel nur nehmen mit der gewissen Aussicht, ihn bald weitergeben zu

müssen, so wird er den Wechsel überhaupt nicht annehmen, sondern Baar­

zahlung verlangen und einen kleinen Preisverlust nicht achten.

Ihm ist

der Wechsel lediglich Sicherung seiner Forderung;- er empfängt ihn als eventuell zu brauchende Waffe gegen den Schuldner, nicht aber als ein

negotiableö Werthpapier, daS ihm die Forderung liquide und mobil er­ hält; er würde sich keinen Augenblick besinnen, ein nicht indossables Papier

zu nehmen, daS gleiche Vortheile bietet gegen den Verpflichteten.

Wird

er durch unvorhergesehene Umstände zur Veräußerung seiner Kreditforde­

rung genöthigt, so genügt die einfache Rechtsübertragung, wie unten näher nachgewiesen werden soll.

Steht in dem zweiseitigen Geschäft, aus dem

die Kreditforderung entspringt, dem Nichtkaufmann ein Nichtkaufmann

gegenüber, so gilt natürlich daS Gleiche, daß nämlich der Wechsel lediglich

Stcherungsmittel deS Kredits ist. Wir resumiren, daß eine besondere Erleichterung der Uebertragung

von Kreditforderungen nur im Bereiche deS kaufmännischen Geschäftsver­ kehrs ein wirkliches Bedürfniß ist und wenden uns zu dem Nachweise, daß nur innerhalb dieses Bereiches der Wechsel die Funktion, den Kredit

zu übertragen, erfüllen kann. Die einfachen Formen deS Indossaments befähigen den Wechsel im

denkbar höchsten Maße, dem Zwecke, das Vermögen in fortwährender Li­ quidität und Disponibilität zu halten, gerecht zu werden.

Es fragt sich

aber, welchen materiellen Erfordernissen der Wechsel genügen muß, um

jeweilig diesen Zweck gehörig erfüllen zu können.

Der Wechsel soll als

kaufmännisches Papiergeld verwandt werden, er soll die Baarzahlung ver­ treten durch Ueberweisung einer Forderung.

Zu dem Ende ist eS er­

forderlich, daß sein Werth für diejenigen Kreise, in denen er cirkuliren

soll, bestimmbar sei.

Forderung.

Der Wechsel enthält eine Forderung, er ist eine

Der Werch einer Forderung bestimmt sich einmal nach ihrem

Nominalbeträge, sodann nach der Sicherheit, mit welcher die Befriedigung

derselben erwartet werden darf; diese Sicherheit setzt sich wieder zusammen aus den Garantien, welche das Recht, und denen, welche die pekuniären

Verhältnisse deS Verpflichteten dem Gläubiger bieten.

Daß in jener Be­

ziehung der Wechsel mit jeder nur erwünschten Garantie auSgestattet ist, wird von keiner Seite bestritten; eS giebt keine Privaturkunde, welche die

materielle und formelle Wechselstrenge auch nur annähernd erreichte.

Als

einziger Faktor, welcher bet der Berechnung deS Werthes eines Wechsels aus diesem an sich nicht sogleich bestimmbar ist, bleibt also die Zahlungs­

Diese aber ist in so hohem Maße entschei­

fähigkeit des Verpflichteten.

dend, daß ohne ihre Kenntniß der Werth der Forderung überhaupt nicht

veranschlagt werden kann.

Der Gläubiger, welcher von seinem Schuldner

zahlungshalber daS Giro eines AcceptS annimmt, ohne die wirthschaftliche Lage deS Acceptanten auch nur annähernd zu kennen, kreditirt in Wahr­

heit nur seinem ursprünglichen Schuldner, dem Indossanten, auf dessen durch daS Giro begründete bürgschaftsähnliche und doch selbständige Wechsel­ verpflichtung; die Verpflichtung deS Acceptanten, die überwiesene Forderung,

tritt gänzlich in den Hintergrund; die Erwartung, daß der Acceptant

seinen Verpflichtungen nachkommen werde, sinkt zu einer völlig vagen Aus­

sicht herab, deren Verläßlichkeit den Indossatar wegen seines Vertrauens

auf die Solvenz des Indossanten wenig kümmert.

Für den Indossatar,

der den Acceptanten und dessen Verhältnisse nicht kennt, liegt demnach

die Sache im Grunde nicht anders, als wenn sein Schuldner ihm einen

„Wechsel von der Hand" gegeben hätte, als wenn das Accept gar nicht vorhanden wäre; und ebenso werthloS wird in solchem Falle die leichte Uebertragbarkeit der durch das Accept begründeten Wechselforderung für

den ersten Wechselgläubtger.

Kein reeller Kaufmann wird dem Schuldner,

dessen eigener Wechsel ihm nicht genügt, kreditiren gegen daS girirte Accept unbekannter Personen.

Nur solche Forderungen, deren Werth be­

stimmbar ist, gewähren die Möglichkeit, den Kredit zu übertragen, nur

solche vermögen den kreditirten Vermögensbestandtheil flüssig und verwend­

bar zu erhalten.

Soll also der Wechsel seine Berkehrsfunktion erfüllen,

so muß der Gläubiger, der ihn als „gemachtes Papier", d. h. durch Giro, erhalten soll, mit den Verhältnissen des Dritten, der ihn ausgestellt oder

18*

acceptirt hat, insoweit bekannt sein, daß er eine Werthprüfung vornehmen kann; um es kurz auszudrücken, der Werth deS Wechsels ist abhängig von

dem „Namen" des Verpflichteten.

Der Wohlkang dieses Namens in kauf­

männischen Ohren bestimmt sofort den Werth des Wechsels, auf den er

geschrieben.

Nach Maßgabe der Kreditwürdigkeit, welche diesem Namen

allgemein beigelegt wird, variirt der Kurs deS Wechsels.

Die kauf­

männische Verkehrssprache besitzt eine große Menge von Ausdrücken für die verschiedenen Abstufungen der Kreditwürdigkeit; bei „feinsten" Wechseln

kommt die Kreditwürdigkeit und das Kredit-Risiko kaum noch in Frage; sie

werden in der kaufmännischen Welt überall und ohne Anstand angenommen

und diSkontirt.

Aber nicht nur diese, sondern auch die mit einem gerin­

geren Feingehalt auSgestatteten Wechselbriefe haben ihren Kurs.

Kurs

und Umlaufsfähigkeit erstrecken sich bald über die ganze Erde, bald nur über einen kleineren Theil der Geschäftswelt.

Der Kreis, in welchem der

kaufmännische Name Geltung hat, bestimmt sich einmal nach dem Um­

fange, sodann nach der Natur deS Geschäftsverkehrs und Geschäftsbetriebes.

Der Geschäftskreis des Bankiers ist naturgemäß ein größerer, als der des Kaufmanns,

der nur mit einer einzelnen Waarengattung arbeitet.

Und demgemäß ist denn auch der Umfang verschieden, in welchem sich der Kaufmann über die Zahlungsfähigkeit seiner Geschäftsfreunde vergewissern und

auf dem Laufenden erhalten muß.

Bei aller Verschiedenheit im

Einzelnen bleibt aber der allgemeine Satz bestehen, daß jeder Kaufmann

innerhalb seines Geschäftskreises informirt sein muß über die Verhältnisse

der in demselben stehenden oder in denselben hineintretenden Personen,

denen er Kredit geben will, deren Accepte er sich giriren läßt.

Dem Be­

dürfnisse einer möglichst sicheren und genauen Orientirung hat man in

neuerer Zeit durch die Errichtung

von Auskunftsbureaux Rechnung zu

tragen versucht; doch kann der Zweck bei dem privaten Charakter dieser Bureaux und bei der materiellen Unverbürgtheit sowohl der ihnen zu­

gehenden, als der von ihnen ausgehenden Nachrichten nur sehr unvoll­ kommen erreicht werden; zudem ist in nicht zu unterschätzendem Maße die

Gefahr vorhanden, daß unter dem Deckmantel deS Vertrauens und der

Verschwiegenheit geltend machen.

allerlei

verwerfliche

und selbstsüchtige

Interessen sich

ES ist daher im kaufmännischen Verkehr regelmäßig

eigene selbständige Kenntniß, oder zuverlässige und verbürgte Nachricht,

welche den Kaufmann veranlaßt, Kredit zu gewähren.

Diese Kenntniß

stützt sich in den meisten Fällen auf die Beobachtung der allgemeinen, äußerlich hervortretenden Lage deS Kreditnehmers, namentlich seiner Ge­

schäftsverbindungen und seines Geschäftsbetriebes;

insbesondere ist die

Pünktlichkeit, mit welcher die eingegangenen Verbindlichkeiten bisher erfüllt

wurden, von Bedeutung.

Alles dies setzt entweder unmittelbare und

dauernde geschäftliche Beziehungen voraus,

oder doch zuverlässige Mit­

theilungen von solchen Personen, welche ihrerseits in jenen Beziehungen

stehen.

Solche Beziehungen, welche eine Beobachtung der GeschäftSver-

hältniffe und damit eine Kenntniß der Kreditwürdigkeit ermöglichen, sind

nach der Natur der Sache regelmäßig gerade in demjenigen kaufmänni­ schen Kreise vorhanden, innerhalb dessen der einzelne kaufmännische Wechsel

seinen Umlauf nimmt.

Schon die Anknüpfung einer Geschäftsverbindung

setzt ja eine gewisse Bekanntschaft mit den Verhältnissen deS neuen Ge­ schäftsfreundes voraus; bei der Dauer dieser Verbindungen, bei der Regel­ mäßigkeit der Bahnen, in denen der Güterumlauf und diesem entsprechend

der Wechselumlaus sich vollzieht, kann eS nicht fehlen, daß jeder Kaufmann von der Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit der übrigen Kaufleute,

mit denen er direkt oder indirekt in geschäftliche Verbindung tritt, ein mehr oder weniger detaillirteS und genaues Bild sich macht, daß er einen

Kreis von Geschäftsfreunden zieht, denen er Kredit gegen Wechsel zu ge­ währen bereit ist und deren Wechsel er von Dritten zahlungshalber an­

nimmt.

Von großer» Wichtigkeit ist dabei natürlich der Wechselverkehr

selbst, der jeden Kaufmann mit einer großen Anzahl anderer in Verbin­

dung bringt und bei dem die Promptheit der Einlösung den besten Prüf­

stein bildet für die geschäftliche Lage deS Verpflichteten.

So kommt es,

daß jeder Kaufmann innerhalb eines größeren oder kleineren KreifeS, und

zwar jedenfalls innerhalb desjenigen Kreises, für den die seinem Geschäfts­ betriebe dienenden Wechsel zumeist bestimmt sind, einen „Namen" hat, der seine Kreditwürdigkeit ausdrückt; der Anfänger in geringerem Umfange

und weniger volltönend, der Inhaber eines altbegründeten, soliden Ge­ schäfts in weitester Ausdehnung und vom besten Klange.

Und dieser Name,

diese Notorietät der wirthschaftlichen Lage deS einzelnen Kaufmanns ist eS, welche bei den von ihm ausgestellten Wechseln eine Werthbestimmung ermöglicht und damit ihnen die UmlaufSfähigkeit sichert. Alles dies findet sich nur im kaufmännischen Geschäftsverkehr; bei

den Nichtkaufleuten hat sich ein Analogon nicht ausgebildet und nicht auS-

bilden können.

Man darf sich darüber nicht wundern, denn der erste

Blick zeigt, daß hier kein einziger von all' den Gründen vorwaltet, welche

die Verhältnisse deS Einzelnen durch einen großen Theil der Bevölkerung verbreiten. dürfniß

Es fehlt vor Allem, wie schon oben ausgeführt, das Be­

nach

einem Umlaufspapier,

weil

ein

ununterbrochmer

rascher Vermögens- und Krpditumsatz nicht stattfindet.

und

Es fehlen ferner

die dauernden Geschäftsverbindungen, welche allein das dringende Interesse

Hervorrufen, über die Solvenz der Geschäftsfreunde im Klaren zu sein

und auch zu bleiben.

Damit soll nicht gesagt sein, daß dem Privaten

dauernde Geschäftsbeziehungen überhaupt fehlen; allein bei solchen erscheint

derselbe regelmäßig als Wechselgläubiger, weil er Producent, und eS kann sich auS diesem Grunde durch die Geschäftsverbindung ein festes Urtheil über seine wirthschaftliche Lage nicht bilden; wo dies aber nicht der Fall ist,

wo der Nichtkaufmann als Schuldner auftritt, pflegt doch die Geschäfts­

verbindung nach Zweck und Wesen nicht über die Person des Geschäfts­

freundes hinauSzureichen, weil sie eben die Gewährung und Uebertragung kaufmännischen Kredits nicht umfaßt.

ES fehlt beim Nichtkaufmann so­

dann das wichtige Moment des Zwanges, Kredit zu geben; denn dieser

Zwang beruht im letzten Grunde auf dem eigenen umfassenden Kreditbe­ dürfniß, wie eS beim Kaufmann besteht.

Es fehlen also alle die Trieb­

federn, welche im kaufmännischen Verkehr so mächtig dahin wirken, daß

Jeder innerhalb seines Geschäftskreises sich über die Verhältnisse der für diesen in Betracht kommenden Personen fortlaufend im Klaren erhält, und eS fehlen die Mittel und Wege,

leichtern.

welche dies ermöglichen und er­

Es sollte billig nicht bestritten werden, daß beim Nichtkaufmann

jene Notorietät seiner Verhältnisse, welche allein den'von ihm ausgehenden

Wechseln eine CtrkulationSfähigkeit verleihen kann, nun einmal nicht vor­ handen ist.

ES ist ja möglich, daß die Verhältnisse eines NtchtkaufmannS

weithin bekannt sind; aber auch dann werden sie nicht oder nicht genügend

bekannt sein in denjenigen Kreisen, in denen der Wechsel deS Betreffenden

umlaufen soll; denn dies sind in letzter Linie immer kaufmännische, weil eben ein dringendes Umsatzbedürfniß und ein regerer Umsatzverkehr außer­

halb deS Kaufmannsstandes nur sporadisch auftritt.

Der Fabrikant, dem

ein Geschäftsfreund das Accept eines in seiner Gegend als solvent be­ kannten Privaten girirt, wird Bedenken tragen, hierauf Kredit zu ge­

währen — wenn er dem Geschäftsfreund gegen dessen Wechsel allein nicht kreditiren würde; denn ihm, dem in einem anderen LebenSkreise Stehenden, sind die Verhältnisie jenes dritten unbekannt.

Dem Kaufmann ist eS

möglich, nicht nur die großen Häuser von Weltruf und internationaler Bedeutung, sondern auch innerhalb seiner Geschäftsbranche eine große, ja die überwiegende Anzahl der für diese und für ihn in Betracht kommen­

den Geschäfte nach ihrer wirthschaftlichen Lage und kommerziellen Bedeu­ tung ausreichend kennen zu lernen, um darnach ihre Kreditwürdigkeit zu

beurtheilen; dieses Urtheil wird sich um so mehr festsetzen, je länger die

Geschäftsverbindung, die Knüpfung und Lösung der Verpflichtungen dauert, eS wird um so günstiger ausfallen, je pünktücher die Erfüllung der Ver­

pflichtungen bisher erfolgt ist.

Es ist unschwer einzusehen, daß die Mög­

lichkeit einer solchen Beurtheilung der Kreditwürdigkeit Anderer geknüpft

ist an die Beschränkung auf eine nicht allzu große Anzahl von Personen oder Firmen.

Und eben darum kann die Fähigkeit zu solcher Beurthei­

lung und Feststellung nach der aktiven wie nach der passiven Seite nur dem Kaufmannsstande innewohnen, weil nur hier eine solche Beschränkung

gegeben ist.

Außerhalb des kaufmännischen Verkehrs extstirt eine solche

Beschränkung und Begrenzung der in Betracht kommenden Personen nicht;

immer neue und wieder neue Namen sind es,

welche die angebotenen

Wechselschriften tragen; zugleich fällt mit dem stetigen Geschäftsverkehr auch die Controlle darüber fort, ob den Verpflichtungen regelmäßig ge­ nügt wird.

Daß aber der Wechsel ein Umlaufspapier auch dann bleibe,

wenn der Gläubiger von Fall zu Fall Recherchen anstellt über die Sol­ venz, muß als eine baare Unmöglichkeit bezeichnet werden.

Wird dem

Wechsel nicht durch den Namen des Verpflichteten von vornherein der Stempel eine- bestimmten Werthes ausgeprägt, so qualificirt er sich nicht als negociables Werthpapier, sondern verbrieft nur eine besonders strikte Schuldverpflichtung, wie manch' anderes Papier auch; seine Umlaufsfähig­ keit ist verschwunden und nur die Einfachheit und Bequemlichkeit der UebertragungSform zurückgeblieben.

Für alle solchen Fälle könnte daher

der Wechsel füglich ersetzt werden durch ein Papier, daS zwar im Uebrtgen

Wechsel, jedoch nicht indossabel, sondern nur cessibel wäre.

Wir wiederholen: der Wechsel, sofern er nicht blos die Sicherung, sondern auch die Uebertragung deS Kredits bezweckt, sofern er also in­ dossabel ist, dient wesentlich nur zur Befriedigung eines rein kaufmänni­ schen Bedürfnisses und vermag demselben wesentlich nur zu dienen, sofern der Wechselverpflichtete ein Kaufmann ist.

Daraus folgt: der von einem

Nichtkaufmann ausgestellte Wechsel hat für den Kaufmann wie für den Nichtkaufmann wesentliche Bedeutung, sofern er Sicherung, unwesentliche, fofent er Uebertragbarkeit des Kredits gewährt; und ferner: in der Hand

des Nichtkaufmanns hat jeder Wechsel wesentlich nur die Bedeutung, den Kredit zu sichern, nicht aber, die Uebertragung desselben zu erleichtern. Ist demnach für den Kaufmannsstand die Beibehaltung des indoflablen Wechsels unbedingt geboten, so besteht für dieselbe hinsichtlich der nicht­

kaufmännischen Bevölkerung ein unabweisbares Bedürfniß nicht.

Wir

sagen, kein unabweisbares Bedürfniß, um anzuerkennen, daß auch im nichtkaufmännischen Verkehr der Wechsel indossirt wird, daß er nicht selten

indossirt wird, ja daß Fälle vorkommen mögen, in denen die leichtere Uebertragbarkeit deS Wechsels mit ihren eminent strengen Consequenzen höchst zweckmäßig erscheint.

Aber diese allgemeine Anerkennung schließt

die Ueberzeugung nicht aus, daß die von uns angestrebte Beseitigung deS Indossaments der davon betroffenen, nicht zum Kaufmannsstande gehörigen

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.

246

Bevölkerung nicht nur keine Wunden schlagen, sondern schwere Schäden

bessern und heilen wird.

Diese Ueberzeugung wollen wir im Speziellen

zu begründen suchen durch Betrachtung des Wechselbedürfnisses der Grund­ besitzer und der Handwerker, welche Klassen hergebrachtermaßen gegen die

Einschränkung der Wechselfähigkeit ausgespielt werden.

Zeigt sich hier die

unbeschränkte Wechselfähigkeit nicht unumgänglich erforderlich, so ist der

entsprechende Rückschluß auf die übrigen Klassen der Nichtkaufleute unab­ weisbar

Von den Grundbesitzern sind hier natürlich zuvörderst alle diejenigen auSzuscheidcn, die einen kaufmännischen, oder Fabrik-Betrieb führen, also

Kaufleute sind und in'S Handelsregister gehören.

Diese sind bei Durch­

führung unseres Vorschlages nicht blos im Kreise ihres kaufmännischen

Betriebes, sondern unbeschränkt wechselfähig.

Für die Uebrigen sich auf

Produktion der Bodenerzeugnisse Beschränkenden, bedingt die Größe oder

Kleinheit des von ihnen bebauten Feldes eine Unterscheidung in Bezug

auf unsere Frage nicht.

Bei allen ist der Umsatzverkehr ein gleich ein­

facher: der Bruttoertrag der Produkte dient der Bestreitung der Produk­

tionskosten, der Lebensbedürfnisse, und,

sofern ein Ueberschuß bleibt,

Meliorationen oder Kapitalienansammlungen. Die Verschiedenheit zwischen

dem landwirthschaftlichen Groß- und Klein-Betrieb beruht lediglich auf

dem Unterschiede in der Quantität, nicht der Art deS Umsatzes. Umsatz-Verkehr

kann

in kleinen

Der

ländlichen Verhältnissen, namentlich

beim Bauernstande, auf ein Minimum reducirt werden; der Umsatz voll­ zieht sich dann größtentheils

innerhalb der einzelnen Privatwirthschaft,

der Producent ist selbst Consument des überwiegenden Theils der Pro­

dukte. — Bedarf nun der Grundbesitzer des indossabley Wechsels? Wir

haben schon hervorgehoben, daß strenge genommen nur auf der Gläubiger­ Daß nun

seite von einem solchen Bedürfniß gesprochen werden kann.

der Grundbesitzer in den Fällen, in denen er Gläubiger ist, eines sofort

umzusetzenden Papiers dringend bedürftig sei, wird wohl kaum ernstlich be­ hauptet.

Zum Beweise des Gegentheils dürfen wir auf unsere obigen

Ausführungen über das wirthschaftliche Bedürfniß der Nichtkaufleute beim

eigentlichen (kaufmännischen) Kreditgeschäft Bezug nehmen. argumente pflegt aber

die

entgegengesetzte

Ansicht nicht

Ihre Haupt­

aus

diesem,

sondern aus dem umgekehrten Verhältnisse zu entnehmen, in welchem der

Grundbesitzer als Schuldner auftritt, so wenig auch die Argumentation aus diesem Verhältnisse vollbeweisend sein kann.

Man sagt,

der Land­

wirth, namentlich der Großgrundbesitzer, komme bisweilen, oder häufig, in die Lage,

plötzlich Geld leihen zu müssen, und dann wird concludirt,

daß er solches nur gegen Wechsel zweckmäßig erhalten könne;

als Bei-

spiele

finden

sich

vornehmlich

dabei

bedeutendere Meliorationen

Bodens, Ankauf landwirthschaftlicher Maschinen u. s. w. angeführt.

deS Die

Thatsache, daß der Grundbesitzer bisweilen eine größere Summe Geldes brauche, wollen wir gerne zugeben; nicht dagegen die auS dieser That­ sache gezogene Schlußfolgerung.

Man kann wahrlich für die Unrichtigkeit

derselben kaum beffere Beweismittel beibringen, als eben die Beispiele, welche für die Richtigkeit beweisen sollen.

Welcher einsichtige Landwirth

kauft theure landwirthschaftliche Maschinen gegen Wechsel, ohne sich zuvor

des erforderlichen Kapitals — und zwar

ohne Wechselztehung —

ver­

sichert zu haben? Welcher einsichtige Landwirth leiht die für Melioratio­

nen nöthigen Kapitalien gegen Wechsel?

Keiner, denn die Wechselschuld

ist rasch und unerbittlich fällig, die in die Wirthschaft „hineingesteckten"

Kapitalien dagegen verzinsen und amortisiren sich nur allmählig; erst im Verlauf langer Jahre erweist sich der Boden dankbar für besondere Pflege, zeigt sich daS Uebergewicht rationell angewandter Maschinen über die Ar­

beit der Menschenhand; und vielfach lassen sich Nutzen und Erfolg deS

Versuchs

erst nach geraumer

Dementsprechend wird zu

Zeit mit einiger Sicherheit bestimme».

solchen Zwecken, wie die genannten, jeder

verständige Landmann ein zinsbares Darlehn, eine Hypothek aufnehmen. Man kann der Behauptung, der Landwirth bedürfe des Wechsels,

mit

Fug die Thatsache entgegenhalten, daß für kaum einen Stand der Wechsel solche Gefahren bietet,

wie für den

Grundbesitzer.

Diese Gefahren

liegen in dem Kontraste zwischen der Natur der Wechselforderung und

dem Befriedigungsmitteln, welche der landwirthschaftliche Betrieb dem Grundbesitzer zur Verfügung stellt.

Langsam und unter den mannigfach­

sten Gefahren reifen die Früchte des Feldes heran; lange dauert es, bis

sie zum Verkauf hergerichtet sind; bald früher, bald später fällt die Ernte­

zeit, bald reichere, bald minder reiche Erträge bringt sie; die Möglichkeit deS Verkaufs ist eine nach Tagen nicht zu bestimmende, die Conjuncturen müssen abgewartet werden.

Alles das sind Thatsachen, die in ihrem

Jneinandergreifen es dem Landwirth unmöglich machen, mit Sicherheit

im Voraus zu bestimmen, welche Summe baaren Geldes er an einem bestimmten Tage, sei's auch nach der Ernte, disponibel haben wird; und darum hat für den Landwirth der Wechsel etwas so Hochgefährliches, wie

wohl für keinen anderen Stand.

Ist er infolge FehlschlagenS seiner

Hoffnungen, Unrichtigkeit seiner Berechnungen,

am Verfalltage außer

Stande, seinen Verpflichtungen nachzukommen, so erleidet er durch Pro­

test und Prozeß, oder durch wucherliche Prolongation, die schlimmsten

Einbußen. Und wie leicht wird gerade er dem Wucherer in die Arme ge­ trieben!

Nach einem schlechten Jahre braucht er zur Bestreitung

der

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.

248

nächstjährigen Produktionskosten baareS Geld, leiht eS gegen Wechsel in der Hoffnung auf ein besseres Jahr und wird nun, wenn er am Zahl­

tage keine Deckung hat, mit Prolongationen und neuen Wechseln so lange Man könnte hiergegen ein­

auSgesogen, bis Haus und Hof verfallen ist.

wenden, daß eS nicht nur ein unbedenkliches, sondern auch ein alltägliches Vorkommniß fei,

daß der Landwirth kurz vor der Ernte ein Darlehn

gegen Wechsel nehme, um die erhöhten Kosten der Einerntung zu decken. Wir wollen zugeben, daß diese Operation in vielen Fällen mit Gefahren nicht verbunden sei;

aber dadurch wird unsere Behauptung nicht wider­

legt, daß der indossable Wechsel für die Verhältniffe des Grundbesitzes nicht erforderlich fei.

Denn das Indossament kann nur für den Kredit

von Werth sein, den wir als

den eigentlich kaufmännischen bezeichnet

haben; und dieses Kredits bedarf der Landwirth nicht.

Sein Kreditbe­

dürfniß weist ihn auf daS Darlehn, auf den Kapitalisten: der Kapitalist

aber bedarf nicht eines indossablen Papiers, sondern nur größtmöglicher

Sicherung seiner Forderung.

ES mag noch hinzugefügt werden, daß regel­

mäßig die Wechselziehung nicht bei dem in bescheidenen, aber auskömm­ lichen und

geordneten Verhältnissen lebenden Grundbesitzer sich findet,

sondern bei dem, dessen Verhältnisse die Wechselziehung entweder ganz unbedenklich, oder aber in hohem Grade bedenklich machen und leider am

häufigsten und unheilvollsten bet letzterem. Beim Kleingewerbe dagegen findet sich der Wechsel auch in geord­ neten Verhältnissen, und namentlich sehr häufig als StcherungSmtttel kauf­

männischen Kredits.

Der Kaufmann, der an den Handwerker einen

größeren Posten Waare, besonders Rohstoffe, abgegeben hat, läßt sich nach stehendem Brauch von diesem Accepte geben, die er dann seinem Lieferanten,

dem Großhändler und Fabrikanten, girirt.

gebilligt werden?

Aber kann dieses Verfahren

Wir haben bereits gezeigt, daß die Wechselunterschrift

deS kleinen Gewerbtreibenden für den Großhändler keine Bedeutung hat, weil das werthbestimmende Moment, die Bekanntschaft mit den Verhält­

nissen deS Verpflichteten, fehlt, daß also der Großhändler, wenn er kredttirt, nicht der Acceptverpflichtung, sondern der Giroverpflichtung kreditirt.

Die

Gepflogenheit, Jemandem Wechsel von Personen anzubieten, deren Ver­ hältnisse er weder kennt noch genügend kennen lernen kann, ist ein kauf­

männischer Unfug geworden, deffen Beseitigung der Sicherheit und Reellität

deS Geschäftsverkehrs nur förderlich sein kann.

ES ist nicht in der Ord­

nung und bringt auch keine geschäftliche Vereinfachung mit sich, wenn dem

fernstehenden Großhändler zugemuthet wird, bevor er seinen Contrahenten

angehen kann, eine Menge Wechsel an den verschiedensten Orten und bet

den verschiedensten Personen protesttren zu lassen.

Damit wird dem

Wechsel des kleinen Gewerbtreibenden ein Gepräge aufgedrückt, das seinem inneren Wesen widerspricht.

Er besitzt von Natur keine CirkulationS-

fähtgkeit; darum ist eS Unnatur, ihm eine solche beizulegen.

auch auf Setten des Kaufmanns, der dem Handwerker

ES kann

eine Waaren-

forderung kreditirt, kein dringendes Interesse anerkannt werden, sich diesen VermögenStheil zu beliebiger Verwendung besonders liquide zu halten.

Denn einmal vermag auch der Wechsel einen Anspruch nicht umfatzfähig zu machen, der dies materiell, d. h. zufolge der Stellung deS Verpflichteten,

nicht ist; sodann aber fehlt hier das wichtige Moment

des Zwanges.

Gestatten seine Verhältnisse dem Kaufmanne nicht, den verlangten Kredit zu gewähren, so mag er auf Baarzahlung bestehen oder nur kleinere Quantitäten abgeben.

Dazu kommt, daß er im Stande ist, die Verhält­

nisse seiner Abnehmer zu übersehen; er wird daher dann nicht in Nach­ theil gerathen, wenn er nicht leichtfertig, blos um des Absatzes willen,

Kredit gewährt hat; dies um so weniger, als ihm von seinem Lieferanten

ebenfalls Kredit gewährt wird.

Es muß überhaupt als durchaus wün-

schenSwerth bezeichnet werden, daß der Grundsatz der Baarzahlung im

Verkehr zwischen Kaufmann und Ntchtkaufmann immer mehr zur Regel werde.

zahlung

Mehr und mehr bricht sich die Erkenntniß Bahn, daß die Baar­ für beide Betheiligte die größten Vortheile mit sich bringt.

Nimmt nun daS Kleingewerbe eine Stellung ein, welche es nöthigt, von dieser goldenen Regel abzuweichen?

Man pflegt die Bejahung dieser

Frage durch den Hinweis auf die GeschäftSetablirungen und

Rohstoffankäufe zu rechtfertigen.

größeren

Daß hierzu Kredit nothwendig, weiß

Jeder; denn wer von Hause aus mit dem nöthigen Kapital versehen ist, begnügt sich heutzutage nicht mehr mit dem Handwerk oder Kleingewerbe.

ES muß aber mit Energie darauf hingewiesen werden, daß gerade in den bescheidenen Verhältnissen deS Kleingewerbes und gerade von Anfängern mit der Inanspruchnahme deS Kredits vielfach ein grober Mißbrauch ge­ trieben wird.

Der kaum der Schule deS Meisters entwachsenen Anfänger

benutzt die Gewerbefreiheit, sich sofort selbständig zu etabliren ohne wei­ teres Kapital, als seine eigene Tüchtigkeit und Geschicklichkeit oder deren

Mangel.

Aber damit nicht genug! nun soll daS Geschäft blühen und sich

auSbreiten, bevor eS einmal recht Wurzel gefaßt hat, es werden größere Ankäufe der zu verarbeitenden Stoffe gemacht, kurz der Kredit wird nach

allen Seiten auf'S Stärkste angespannt, bevor noch die Lebensfähigkeit des

ganzen Betriebes feststeht.

Inzwischen hat sich der Inhaber vielleicht ver-

heirathet, hat Kinder, und in Folge dessen Ausgaben, die über den Er­

trag von seiner Hände Arbeit weit htnauSgehen.

Und wo eS nicht die

nothwendigen Ausgaben sind, da sind eS in vielen Fällen die durch

manche Setten moderner Anschauungsweise so hoch geschraubten

einge­

bildeten Lebensbedürfnisse, welche die Ausgaben zu unnatürlicher Höhe

anschwellen lassen.

Die unerbittliche Konsequenz ist in beiden Fällen, daß

nach kurzer Blüthe Alles jäh zu Grunde geht.

Dazu hat neben der

Ueberspannling der Hoffnungen und Erwartungen auch die Ueberspannung

des Kredits zum großen Theil beigetragen. und fordern unzählige Opfer.

Beide gehen Hand in Hand

Darum, sagen wir, ist eS vom Uebel,

wenn der kleine Gewerbtreibende Waaren gegen Wechsel nimmt, deren Betrag sein Jahresbudget schwer belastet, wenn er sich in seinen Einkäufen nicht weise Mäßigung auflegt, wenn er Geschäftserweiterung anstrebt, ohne

durch den bisherigen Gang deS Geschäfts hierzu berechtigt zu sein.

Nicht

nützlich, sondern schädlich ist ihm dann der Kredit, für die überflüssige, nicht zu verarbeitende oder abzusetzende Waare, die noch dazu allmähltg

verdirbt, zahlt er hohe Zinsen.

Wenn heute vom Handwerke leider nicht

mehr gesagt werden kann, eS habe einen goldenen Boden, so liegt der Grund nicht zum Geringsten an den vorbezeichneten Momenten, an der

Täuschung über die eigene Kraft und die Aussichten für die Zukunft, an

der Bestärkung dieser Täuschung durch allzu freigebige Gewährung deS Kredits gegen Wechsel. So hinsichtlich deS kaufmännischen Kredits; weitaus schlimmer noch,

wenn es sich um Gelddarlehen handelt.

Denn dann steht dem kleinen

Gewerbtreibenden nicht mehr der Kaufmann, sondern der Geldverleiher

und Wucherer gegenüber; ist eS jenem nur darum zu thun, zu dem

Seinigen zu gelangen, so will dieser sein Opfer möglichst auSnützen. Und so zeigen sich denn die vorhin geschilderten Nachtheile hier in ver­

stärktem Maße.

Im Uebrigen gilt auch hier, daß das DarlehnSgeschäft

nur Sicherung des Gläubigers, nicht aber auch Umsatzfähigkeit der Darlehnsforderung verlangt.

Schließlich mag noch darauf hingewiesen werden,

daß für das Kleingewerbe aus ähnlichen Gründen, wie wir sie bet dem Landwirth gefunden haben, die Wechselziehung überhaupt bedenklich und

gefährlich ist, auS Gründen, welche sich aus der größeren Langsamkeit deS Umsatzes gegenüber dem kaufmännischen Betriebe, und auS dem im besten

Falle nur allmählig fortschreitenden Steigen deS Verdienstes, sowie auS

der mancherlei Unsicherheit dieses Verdienstes überhaupt ergeben.

Und

gleichermaßen gilt, daß der Wechsel deS kleinen Gewerbtreibenden nicht umlaufsfähig ist und dies auch durch die Möglichkeit, ihn zu indofstren,

nicht wird.

Gelangen wir durch diese nähere Betrachtung der Verhältnisse zweier Bevölkerungöklassen,

für welche vorzugsweise

die Unentbehrlichkeit deS

Wechsels betont wird, zu der Erkenntniß, daß für die Angehörigen dieser

Klaffen das Kreditnehmer« gegen Wechsel überhaupt große und besondere

Gefahren hat, und daß andererseits für die Benutzung eines im höchsten Maße umlaufsfähigen Papiers, wie der indossable Wechsel, ein dringendes

Bedürfniß nicht obwaltet, so glauben wir damit auch abgesehen von un­ serer vorhergehenden, principiellen Erörterung der ganzen Frage darge­

than zu haben, daß in der That für die nichtkaufmännische Bevölkerung

in ihrer Gesammtheit kein erhebliches Interesse vorhanden ist, daß ihren Forderungen und Verpflichtungen eine besonders qualificirte,

über das

gewöhnliche Maß hinauögehende Uebertragbarkeit, wie sie der indossable Wechsel gewährt, verliehen werde oder verliehen werden könne.

Wenn wir dieses Resultat mit den Ergebnissen unserer,

von der

allgemeinen Betrachtung der wlrthschaftlichen und Kreditverhältnisse, sowie

der Natur des Wechsels ausgehenden Untersuchung zusammenfassen, so glauben wir unS zu dem Schlüsse berechtigt, daß die Nachtheile, welche mit der Beschränkung des indossable» Wechsels auf die in das Handels­

register Eingetragenen verbunden sind, nicht in'S Gewicht fallen können

gegenüber den Vortheilen einer solchen Maßregel, sofern nur gleichzeitig demjenigen wirthschaftlichen Bedürfnisse der Nichtkaufleute, welchem der Wechsel bisher gedient hat, ausreichend in anderer Weise Rechnung ge­

tragen wird.

Dieser Punkt ist eS, welcher gewöhnlich für die auf Ein­

schränkung der Wechselfähigkeit gerichteten Bestrebungen die Klippe bildet, an der sie scheitern.

Es darf behauptet werden, daß überwiegend ein

Etnverständniß über die Nothwendigkeit legislativer Maßregeln vorhanden ist; sobald eS aber gilt, die vorzunehmenden Aenderungen positiv anzu­

geben, finden sich tot capita, tot sensus und Jeder bemängelt die Vor­

schläge deS Anderen mit mehr oder weniger Grund.

Der im Folgenden

gemachte Vorschlag ergiebt sich in seinen Grundzügen aus den von unS

aufgestellten Sätzen.

Wir haben gezeigt, daß von den beiden wirthschaft­

lichen Funktionen deS Wechsels die auf Uebertragung

des Kredits ge­

richtete fick im Wesentlichen auf den Kaufmannsstand beschränkt; für den

übrigen Theil der Bevölkerung bleibt demnach die andere

Funktion,

nämlich die Sicherung des Kredits, und dieser Funktion entspricht das für

den Nichtkaufmann anzuerkennende Bedürfniß.

Dieses Bedürfniß, dem

der Wechsel bislang gedient, ist noch näher festzustellen; eS muß geprüft werden, ob die durch Einschränkung der Wechselfähigkeit entstehende Lücke

genügend auSgefüllt wird durch diejenigen Sicherungsmittel des Kredits,

welche daS bestehende Recht bietet, oder ob nicht vielmehr diese Sicherungs­

mittel als unzureichend zu bezeichnen sind. Zuvörderst wird kein Einsichtiger bestreiten wollen, daß auch in nicht­ kaufmännischen Kreisen ein weitreichendes Creditbedürfniß vorhanden ist.

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.

252

Diese Thatsache nehmen die meisten Proteste gegen die Einschränkung

der Wechselfähigkeit zum Ausgangspunkte und mit den mannigfachsten Gründen wird der Nachweis versucht, daß die Creditverhältnisse des ge-

sammten Volks die Beibehaltung des Wechsels dringend erheischen, daß mit der Entziehung der Wechselfähigkeit gerade denjenigen Klassen, denen geholfen worden solle, die empfindlichste Schädigung zugefügt werde. So steht eS zumeist zu lesen in den Handelskammerberichten, die sich mit der vorliegenden Frage beschäftigen. Wunderbar nur, daß gerade der Kaufmanns­

stand sich so uneigennützig für daS Wohl der sogenannten kleinen Leute,

der Handwerker und kleinen Landwirthe, erwärmt; daß aus den Reihen dieser selbst keine gleichlautende Stimme ertönt.

Daß vielmehr große und

weite Kreise der Bevölkerung die Entziehung der Wechselfähigkeit nicht als

Entziehung eines unveräußerlichen Menschenrechts perhorreSciren, sondern

als Erlösung von einer drückenden Last begrüßen! daß der verständige und

wohlwollende Mann den, der eS nicht nöthig hat, vor Eingehung wechselmä­ ßiger Verbindlichkeiten nach Kräften warnt; daß solche Warnungen öffentlich und in eindringlichster Form erlassen werden; daß vielfach der ordentliche

Hausvater in dem Wechsel ein Schreckgespenst sieht welches seine geord­ neten Verhältnisse zu verwirren und sein häusliches Glück über den Haufen

zu

stürzen droht! dergleichen Erscheinungen sollten doch stutzig

machen

und Anlaß geben zu unbefangener Prüfung, ob es denn wirklich gerade die ntchtkaufmännische Bevölkerung ist, der von einer Beschränkung der

Wechselfähigkeit Nachtheil droht.

Wir haben schon oben darauf hinge­

wiesen, daß derjenige, dessen Interesse bei der Beschränkung der Wechsel­

fähigkeit vornehmlich in Frage steht, der Gläubiger ist, daß der Schuld­ ner nur mittelbar getroffen wird.

Hieraus erklären sich jene Reklama­

tionen der allgemeinen Wechselfähigkeit zur Genüge: sie sind pro domo

des Kaufmannsstandes geschrieben;

sie sollen zum Theil auch den Miß­

brauch rechtfertigen, der mit Girirung von Wechseln, die an sich nicht umlaufsfähig sind, getrieben wird, ein Mißbrauch, unter welchem in Folge

des mit der Girirung verbundenen Verlustes der Einreden der Schuldner zu leiden hat.

Jene Auslassungen sind daher mit um so größerer Vor­

sicht aufzunehmen, je einseitiger und parteilicher der Standpunkt erscheint von welchem

aus sie allgemeine Interessen zu vertreten vorgeben, je

weniger dieser Standpunkt als ein richtiger angesehen werden kann. Der Wechsel des Nichtkaufmanns ist nun einmal kein Umlaufspapier; darum

ist auch das gemeinsame Interesse des Kaufmanns, dem ein Nichtkauf­ mann schuldet, kein anderes als das gemeinsame Jntereffe aller Gläubiger. Dieses Interesse geht dahin, mit möglichst umfangreicher RechtSmacht

gegen den Schuldner ausgestattet zu sein.

Gesunde Creditverhältniffe

können da nicht bestehen, wo der Schuldner gegen den Gläubiger, son­ dern

nur da, wo dieser gegen jenen umfassenden Rechtsschutz genießt.

Der Creditgeber, dem das Gesetz nicht genügend zu Hülfe kommt, sieht sich gezwungen, für daS größere Rtsico deS Credit- von vornherein sich

größere Vortheile auszubedingen, und der ehrliche Schuldner trägt somit

den Nachtheil der von dem unehrlichen untef dem Schutz des Gesetzes

geübten Chikanen; wo umgekehrt das Gesetz dem Gläubiger die sichere

Aussicht giebt, in kurzer Frist zu dem Seinigen gelangen zu können, da fällt mit dem Risico auch der Preis des Credits.

Rigoroser Schutz des

Gläubigers dient, wie Kulturgeschichte und Nationalökonomie unwiderleg­ lich beweisen, nicht nur seinem, sondern auch des Schuldners wohlver­

standenem Jntereffe.

Diesem Interesse, das in allen Schichten der Be­

völkerung gleichmäßig vorhanden ist, wird der Wechsel im höchsten Maße gerecht; er vereinigt in sich die größte Leichtigkeit und Billigkeit Schöpfung

mit

der

größten Strenge der geschaffenen

der

Verbindlichkeit.

Die einzelnen Setten der materiellen und formellen Wechselstrenge sind bekannt genug, um hier nicht speciell aufgezählt zu werden.

In der

Strenge der Verpflichtung sind dem Wechsel nur die im § 702 unter Nr. 5 in der

Civ.-Proz.-Ordn,

erwähnten

Urkunden zu vergleichen,

deren Wirkung allerdings eine noch unmittelbarere und einschneidendere ist.

Die Umständlichkeit und Kostspieligkeit aber, mit welchen die Aus­

stellung dieser gerichtlichen oder notariellen Urkunden verknüpft ist, machen

dieselben ganz ungeeignet, den Wechsel zu ersetzen und dem Bedürfnisse deS

täglichen Lebens zu genügen; das liegt so auf der Hand, daß eS

keiner weiteren Beweisführung bedarf.

Infolge einer Beschränkung der

Wechselfähigkeit auf die Kaufleute würde mithin der Gläubiger deS NtchtkaufmannS zur Geltendmachung seiner Forderung regelmäßig auf den ge­

wöhnlichen Prozeßweg angewiesen sein.

So sehr nun auch anzuerkennen

ist, daß die Ctv.-Proz.-Ordn. weitreichende Handhaben zur Sicherung des

Rechts bietet, so ist es doch zweifellos, daß der Wegfall des so schnell zum Ziele führenden Wechsel-Verfahrens als eine erhebliche Schädigung

berechtigter Interessen empfunden werden und eine Erhöhung des Preises

deS Credits als unabweisbare Folge nach sie ziehen würde.

Um daher

die entstandene Lücke auszufüllen, würde, unter Beibehaltnng deS be­

stehenden Rechnungszustandes in Ansehung der Kaufleute, für die Nicht­

kaufleute ein Rechtsinstitut zu schaffen sein, daS ohne die specifische Ge­ fährlichkeit deS Wechsels einen, namentlich prozessualisch energischen, Rechts­

schutz gegen den Schuldner gewährt.

Dasjenige nun, was wir als daS

specifisch Gefährliche, und gerade beim Nichtkaufmann Gefährliche, deS Wechsels erkannt haben, ist daS Indossament.

Wir haben ferner er-

tonnt, daß das Indossament dem Ntchtkaufmann entbehrlich ist, weil dieser

keine

erhöhte CirculationSfähigkeit

seiner Forderungen

braucht;

ebenso dem Gläubiger deS Nichtkaufmanns h weil des Letzeren Schuld eine

höhere CirculationSfähigkeit

nicht erhalten kann.

nicht besitzt und durch den Wechsel

Hieraus ergiebt sich, daß dem Creditbedürfniß deS

Nichtkaufmanns jedenfalls' genügt werden würde durch eine Schuldver­ schreibung, welche, im Uebrigen dem Wechsel ganz gleich, sich von dem­ selben nur dadurch unterscheidet, daß die verbriefte Forderung nicht durch

Indossament, sondern nur durch Session übertragbar ist, daß also die gegen den ersten Wechselgläubiger begründeten Einreden, und namentlich auch die Wuchereinrede,

auch dem Cessionar entgegengesetzt werden können.

Diese Fixirung deö ursprünglichen Rechtsverhältnisses, diese Erhaltung

der einmal entstandenen Einreden ist der springende Punkt für eine Ge­ setzgebung, welche dem Wucherverbot auf dem Gebiete des Wechselverkehrs

Geltung und Wirkung verschaffen will.

Jedem Erwerber des Wechsels

muß die Wuchereinrede entgegengesetzt werden können.

Ist sie auch im

Wechselprozeß nicht sofort erweislich, so kann sie doch gegen den jedes­

maligen Kläger in einem sich an den Wechselprozeß anschließenden Ver­ fahren geltend gemacht werden und nach Umständen auch vor dem Erkennt­

niß zur Sistirung der Zwangsvollstreckung oder zur Erwirkung provisori­

scher Sicherungsmaßregeln führen.

Diese Ausdehnung der Einreden ist

die einzige, zur wirksamen Bekämpfung des Wuchers geeignete Waffe.

Der Wucher kann und wird fallen nicht durch Strafgesetze oder Repressiv­

maßregeln, sondern einzig und allein dadurch, daß das ihm zu Grunde liegende Interesse beseitigt wird; und dies geschieht am wirksamsten durch die Zulassung der Einreden.

Die Lage des als Kläger auftretenden

Wucherers wird dadurch natürlich nicht geändert: feiner Klage stand bis­ her und steht auch ferner die Wuchereinrede entgegen.

Aber in Zukunft

kann der Wucherer — und darauf eben kommt es an — nicht mehr feine

obskuren Helfershelfer vorschieben und durch ihre Vermittelung den schnöden Gewinn einheimsen.

Fortan ist weder für für ihn, noch für jene Dritte,

in der bloßen Weiterbegebung ein Gewinn zu suchen, da der Schuldner

nun nach

allen Richtungen hin geschützt ist.

Allerdings muß er, im

Wechselproceß regelmäßig verurtheilt, zlinächst zahlen; allein er kann von

jedem Kläger das Gezahlte im Separatverfahren zurückfordern, wenn er

den Wucher beweist.

Daß dieser Beweis nicht leicht zu führen ist, liegt

in der Natur der Sache.

Aus diesem Umstande aber mag zwar ein

Einwand gegen die Vorschriften des Wuchergesetzes selbst entnommen wer­

den, nicht jedoch gegen den Versuch, diese Vorschriften auf den Wechsel­ verkehr auSzudehnen. — Zu den genannten Vortheilen würde noch der

fernere treten, daß Jeder die ihm angebotenen Wechsel von Nichtkaufleuten nur nach vorsichtiger Prüfung der einschlägigen Verhältnisse annimmt,

daß überhaupt die Girirung — nun Cession — von Wechseln, durch welche nur zu häufig die materiellen Schuldverhältnisse zum Nachtheil des Schuldners ganz verwischt wurden, sich beschränkt, daß der Wucherer zum

persönlichen Hervortreten gezwungen wird, daß der schwindelhafte Handel mit Privatwechseln, das mannigfache Hineinztehen fingirter Personen, die

Kellerwechsel,

und die viel Täuschung und

Trug bezweckenden Finten

und Practiken auS dem Wechselverkehr zum Wenigsten der Nichtkaufleute Ebenso würde auch die Möglichkeit einer

mehr und mehr schwinden.

Ausbeutung des Unerfahrenen und Leichtsinnigen auf das geringste zu­ lässige Maß reducirt sein.

unthunlich.

Ein weiteres Vorgehen in dieser Richtung ist

Wir können den, der Schulden machen will, mit Erfolg nicht

hindern, wir können dem Leichtsinn und der Unbesonnenheit nicht weiter entgegentreten, als durch die Gesetzgebung über Geschäftsfähigkeit Minder­ jähriger und Entmündigung in Verbindung mit den Vorschriften über

strafbaren Eigennutz gegenüber Minderjährigen und Wuchergesetz geschehen.

endlich durch das

Und ebensowenig vermögen wir den Ungebildeten

und Rechtsunkundigen über die allgemeinen Grundsätze für die RechtS-

gültigkeit von Willenserklärungen hinaus zu schützen; die Wiedereinführung

des RechrsbegriffS der rusticitas ist mit der modernen Anschauungsweise unverträglich.

wahren,

daß

Es bleibt daher nur übrig, den Schuldner davor zu be­

er auS formellem Grunde zahle, was er materiell nicht

schuldet. — Ein fernerer Vortheil würde auch in der regelmäßigen Er­

sparung der Protestkosten liegen.

Wie aber ist dies durchzuführen? Wie die Gefahr der RechtSunsicherheit zu vermeiden?

Wie der Unterschied erkennbar zu machen zwischen

dem kaufmännischen indossablen und

dem nichtkaufmännischen,

nichtin-

dossablen Wechsel? Wir antworten: „dadurch, daß einerseits der ge­ zogene Wechsel

ganz

auf den eingetragenen Kaufmann

be­

schränkt wird und daß andererseits bei dem eigenen Wechsel daS Indossament beseitigt und nur die Cession zugelassen, oder

daS

Indossament

mit

der

bloßen

Wirkung

der

Cession begabt wird. — Damit ist die Möglichkeit gegeben, aus der Form deS vorliegenden Wechsels selbst unmittelbar zu ersehen, ob man

eS mit einem indossablen Papier, oder mit einer allen Einreden unter­ liegenden Forderung zu thun hat.

Dadurch ist die namentlich für den

kaufmännischen Verkehr so unumgänglich nothwendige Rechtssicherheit im höchsten Maße hergestellt.

daß,

Zwar ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen,

auS Versehen oder bösem Willen, auch ein Nichtkaufmann einen

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 3.

19

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.

256

kaufmännischen Wechsel unterschreibt; daraus kann aber gegen die vorge­ schlagene Neuerung kein Einwurf entnommen werden; denn auch heutzu­

tage ist es möglich, daß der Name eines nicht Verpflichtungsfähigen auf

den Wechsel gesetzt wird.

Unser Vorschlag sieht ab von der Aufstellung

eines neuen, aprioristisch konstruirten Rechtsinstituts, um ein für den Ge­ setzgebungspolitiker immer bedenkliches Experimentiren zu vermeiden; er schließt sich vielmehr an ein durch Wissenschaft und Praxis festgestelltes Rechtsinstitut an und will dasselbe nur, dem erkannten Bedürfnisse gemäß,

umbilden. Der Vorschlag nimmt dem Kaufmannsstande in gewisser Weise den eigenen Wechsel, nämlich in seiner bisherigen Eigenschaft als besonders

einfaches Mittel des Creditumsatzes; die Durchführbarkeit des Vorschlages hängt daher ab von der Beantwortung der Frage, ob der Kaufmanns­

stand den eigenen Wechsel in seiner erwähnten Eigenschaft entbehren kann. Wir stehen nicht an, diese Frage zu bejahen.

Dasjenige, worauf allein

es für den Kaufmann ankommt, ist die Mobilifirung des Kredits.

Diesem

Zwecke trägt der gezogene Wechsel in vollem Umfange Rechnung; eS giebt

kein kaufmännisches Kreditverhältniß, welches nicht in der Form der Tratte, sei es durch Ausstellung, Accept, Aval, Indossament, Wechsel an eigene

Ordre u. s. f. den seiner Besonderheit entsprechenden Ausdruck fände; es

kann kein solches Verhältniß konstruirt werden, für das der eigene Wechsel geeignet,

der gezogene dagegen ungeeignet wäre.

Den besten Beweis

gegen die angebliche Unentbehrlichkeit des eigenen Wechsels liefert seine eigene Geschichte:

fast beiläufig ist er in die Wechsel-Ordnung ausge­

nommen; man fand ihn einmal vor und sah keinen besonders triftigen

Grund, ihn zu beseitigen.

Dabei konstatiren die Protokolle — und das

Gleiche läßt sich auch heute konstatiren —, daß der eigene Wechsel im Handelsverkehr wenig benutzt wird.

Wenn heute hier und da die Er­

haltung des eigenen Wechsels für den Kaufmannsstand gefordert wird, so tritt dieser Anspruch doch regelmäßig ohne besonderen Nachdruck auf und

wird, waS das Wichtigste ist, regelmäßig nicht unterstützt durch bestimmte

Gründe, sondern durch den allgemeinen Hinweis dararif, daß in gewissen

Fällen der eigene Wechsel bequemer zu handhaben sei.

Bequemlichkeiten

aber, deren Vorhandensein überdies sehr wenig feststeht, können nicht aus­

schlaggebend sein, wo eine umfassende Reform in Frage steht.

Man wird

auf Auslassungen, die in so allgemeiner und wenig präciser Form auf­

treten, um so weniger Gewicht legen dürfen, als feststehendermaßen im heutigen kaufmännischen Verkehr der eigene Wechsel durch die Tratte fast gänzlich verdrängt ist.

Den Grund hierfür setzt der große HandelsrechtS-

lehrer Thöl wohl nicht mit Unrecht in das Bestreben, den Trattenkredit

zur Schau zu stellen und aufrecht zu erhalten.

ES findet sich auch wohl

die Behauptung, der eigene Wechsel sei unentbehrlich als Depotwechsel,

Sicherheitswechsel, im Verkehr deS kleinen Mannes mit BolkSbanken und

ähnlichen Kreditinstituten.

Dabei ist zunächst nicht abzusehen, weshalb

denn hierzu z. B. ein Accept ungeeignet sein sollte, das gerade im kauf­

männischen Verkehr häufig genug als Depotwechsel gegeben wird.

WaS

sodann speziell den so wichtigen Verkehr des kleinen Mannes mit der Volks­ bank, der Kreditgenossenschaft, angeht, so will unser Vorschlag hier den eigenen

Wechsel belasten und nur die Wirkung seiner Uebertragung beschränken. Die Beseitigung deS Indossaments wird sich gerade in dem Verkehr dieser Kreditinstitute schwerlich fühlbar machen, da dieselben nur der Sicherung

ihrer Forderungen bedürfen, nicht aber auf Erlangung besonders umsatzfähiger Papiere angewiesen sind, wie denn im Ganzen der Giroverkehr hier ein äußerst geringer ist; auch wird bei den Wechselforderungen solcher Kreditinstitute die Ersetzung deS Indossaments durch die Cession um deß­

willen ganz unbedenklich sein, weil gerade hier am wenigsten der Gläubiger die Annahme des Wechsels aus Furcht vor Einreden des debitor cessus

weigern wird. Kann hiernach der Kaufmannsstand den eigenen Wechsel als indossableS

Papier entbehren, so bedarf es nur weniger Aenderungen, um den jetzigen eigenen Wechsel nach den von uns bezeichneten Gesichtspunkten umzuge­ stalten.

Der Haupt- und Kernpunkt dieser Umgestaltung ist die Beseiti­

gung des Indossaments mit all' seinen strengen Consequenzen und die Ersetzung desselben durch die Cession, welche die einmal begründeten Ein­

reden nicht zerstört.

Eine eigentlich wechselmäßige Verpflichtung soll also

nur zwischen den ursprünglichen Contrahenten bestehen; jeder spätere Er­ werber deS Wechsels übt Wechselrecht gegen den Verpflichteten nicht aus eigenem, sondern kraft abgeleiteten RechtS; mithin ist ein Ordre-Wechsel

ferner nicht zulässig.

Mit der Aufhebung der jetzigen Wirkung deS In­

dossaments dürfte indeß diese so einfache und bequeme Form der Rechts­ übertragung selbst nicht zu beseitigen sein; sie ist vielmehr mit der Wir­ kung der Cession nach landesgesetzlichen Vorschriften auszustatten.

Blanko-Indossament muß jedoch in Wegfall kommen.

Das

Die Frage, ob

jede sonstige Form der Cession zuzulassen ist, mag als

mehr neben­

sächlich

hier

verneinen

sollen.

Mit dem Recht des Indossaments fällt selbstverständlich das

nur

berührt

werden.

Wir

glauben

sie

zu

Wechselregreßrecht und das bürgerliche Regreßrecht tritt an die Stelle. Als entbehrlich

für den eigenen Wechsel in seiner neuen Gestalt sind

ferner zu bezeichnen die Vorschriften über Ehrenzahlung, Kopien, falsche Wechsel, Verjährung deS Regreßanspruchs, die zugelassenen Einreden; zu-

19*

Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.

258

gleich dürfte es sich empfehlen, bei dem eigenen domizilirten Wechsel die Hauptstreitigkeiten über seine RechtSnatur legislativ zu entscheiden, besser

noch denselben ganz aufzuheben. Wir haben hiermit die einzelnen Punkte, um die eS sich bei Aus­

führung unseres Vorschlages wesentlich handeln würde, kurz berührt und auch den Vorschlag selbst nur kurz in seinen Hauptpunkten skizzirt.

Denn

eS liegt nicht im Sinne dieser Zeilen, mit einem motivirten Gesetzesent­

wurf hervorzutreten; sie sollen nur Anregung zur näheren Prüfung eines Gedankens geben, den wir für fruchtbar und weiterer Ausbildung und Entwickelung fähig erachten.

Wir haben nur einen neuen Weg für die

Gesetzgebung aufzeigen wollen, welcher dem von vielen Seiten erstrebten

Ziele direkt zuführt; und wir hoffen nachgewiesen zu haben, daß das Be­ treten dieses Weges nichts Bedenkliches oder Gefährliches hat.

Wir geben

auch der Hoffnllng Naum, daß uns diejenigen beistimmcn werden, welche

auf dem Boden dcS Wuchergesetzes stehen, und nicht minder, daß uns auS den Reihen eben derjenigen Beifall zu Theil wird, denen wir die

Tratte nehmen wollen. — Zwei Punkte wollen wir schließlich noch kurz besprechen.

Der erste betrifft ein Bedenken, welches etwa bei denen aufsteigen könnte, die im Uebrigen die Richtigkeit unserer Ausführungen über kauf­

männischen und nichtkaufmännischen Kredit und über die Voraussetzungen

der Begebbarkeit des Wechsels zugeben.

Man könnte die vorgeschlagene

Beschränkung und Aenderung aus dem Grunde beanstanden, weil die Ver­

hältnisse des realen Lebens schwer oder gar nicht zu übersehen und daher eine Schädigung berechtigter Interessen im einzelnen Falle wohl möglich

sei.

Hierauf erwidern wir, daß allen berechtigten Interessen Rechnung

getragen werden kann auf einem kleinen Umwege; dadurch nämlich, daß an Stelle des früheren Indossaments jetzt dem Gläubiger

außer dem

«bitten fremden ein eigener Wechsel vom Cedenten zur Deckung gegeben und dadurch, nur unter Hinzufügung der unbedeutenden Stempelkosten,

auch der Cedent wechselmäßig verpflichtet wird.

Ueberall da, wo reelle

und erlaubte Zwecke verfolgt werden, wird dies einen genügenden Ersatz

des Indossaments bilden und wird namentlich der Kredit nicht versagt werden um der Möglichkeit willen, daß der dritte Wechselschuldner das

Gezahlte auf Grund einer ihm gegen den Cedenten zustehenden Einrede zurückfordere.

Sodann wollen wir unö mit wenigen Worten gegen die Beschreitung

desjenigen Weges aussprechen, welcher in der Reichstags-Resolution an­ gedeutet wird, nämlich die Anlegung von Wechselregistern.

Diese sind

natürlich vom Standpunkte unseres Vorschlages entbehrlich.

Wir halten

Die Beschränkung der WechselfLhigkeit.

259

sie aber auch abgesehen davon für positiv schädlich, weil sie die Folge

haben müssen, daß im Wechselverkehr mehr und mehr Unsicherheit Platz greift und derselbe dadurch gelähmt wird.

Man mag das Wechselregister

gestalten wie man will, man mag die Eintragungen in noch so ausge­

dehntem Maße veröffentlichen, man wird doch nie auch nur annähernd

diejenige Notorietät der Eintragungen erzielen, welche für die UmlaufSfähigkett der von dem Eingetragenen ausgehenden Wechsel unentbehrlich ist.

Man wird durch die Eintragung niemals dem einen Namen als

werthbestimmenden Factor des Wechsels schaffen, welchem ein Name nach

unserer obigen Ausführung an sich nicht beiwohnt.

Und je mehr Vor-

bedingnisse man für die Eintragung selbst aufstellt, um so mehr wird die Unsicherheit wachsen, um so empfindlicher der Wechselverkehr geschädigt

werden.

ES ist auch nicht einzusehen, daß daS Register zur Verminde­

rung des Wuchers in erheblichem Maße beitragen kann; die nächste Folge der Einführung von Registern würde fein, daß alle diejenigen, bei denen

der Wechsel heutzutage gebräuchlich ist, sich eintragen laffen, soweit sie die Vorbedingungen erfüllen können.

Man bemerke auch, daß vielleicht

in der Mehrzahl der Fälle der Wucher nicht sofort bet Ausstellung deS ersten Wechsels beginnt oder vorhanden ist, sondern daß vielfach gerade

die Nothlage, in welcher der Schuldner sich am Verfalltage deS Wechsels befindet, zu wucherlichen Zwecken benutzt wird.

daß derjenige,

Und glaubt man denn,

der ohnehin in die Hände des Wucherers fallen würde,

durch die kleine Erschwerung, die in der Erfüllung einer Formalität wie

die Eintragung liegt, sich wird hindern lassen?

Hier kann

auch durch

Aufstellung besonders strenger Normen für die Eintragungsfähigkeit nicht geholfen werden.

Das wirkliche Bedürfniß läßt sich von dem scheinbaren,

der unschädliche von dem schädlichen Wechsel nicht scheiden Kriterium

einen

das

allgemeiner Vorschriften in Betreff des Alters, Vermögens,

Höhe der Wechselsumme u. s. w. auf hin,

durch

Die ganze Sachlage weist vielmehr dar­

daß. nicht durch eine Anzahl künstlicher Mittel, sondern durch

einzigen

großen Schnitt die Heilung versucht werde und dieser

Schnitt ist nach unserer Diagnose deS wirthschaftlichen KrankheitSzustandeS unbedenklich.

Posen, 9. März 1881.

v. BorrieS.

Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie. Bou

Dr. Ferdinand Schultz.

DaS Verhällnis Herman» und Dorotheas zur Antike hat, wenigstens in Bezug auf Homer, A. W. Schlegel treffend dargestellt; für Iphigenie, dieses wunderbare Gedicht, dessen friedeatmende Ruhe, dessen stille Größe

und edle Einfalt seinen Zauber bei keinem fühlenden Menschen verleugnen

wird, scheint trotz der gewaltig angeschwollenen Literatur über dieselbe das Verhältnis noch keineswegs so klargelegt als man meinen möchte.

Hatte

schon ein Schiller geurteilt, Iphigenie sei so erstaunlich modern und un­

griechisch, daß man nicht begreife, wie eS möglich gewesen sei, sie jemals einem griechischen Stücke zu vergleichen, so dürfte für die Meinung der Jetztzeit im allgemeinen wohl das Wort des Engländers Lewes zutreffen:

„Deutsch ist das Stück. Empfindungen."

Es ist nicht griechisch, weder an Gedanken noch

Gewiß wird niemand diesen Worten eine gewisse Be­

rechtigung abzusprechen vermögen; in solcher Ausdehnung aber ist jene

Behauptung geradezu falsch, und sie beruht auf Unkenntnis oder Nicht­ beachtung von Momenten, die allerdings in der deutschen Literatur noch

wenig zur Geltung gebracht sind, die sich aber dem Auge des Kenners griechischer Tragiker nicht entziehen können. Für diese Betrachtung die Augen zu öffnen und so dem Ursprung

des Hauches von Anmut

und Würde,

welcher in dem Gedichte weht,

näher zu kommen, sei der Zweck unserer Ausführungen.

Lewes stellt die Behauptung auf, die leidenschaftslose Einfachheit der scenischen Darstellung bei den Griechen habe ihren Grund in der sceni­ schen Notwendigkeit,

Theaters,

welche

sich

aus

den

riesigen

aus dem Kothurn, der Schallmaske

Dimensionen

ergab.

des

In Wahrheit

zeichne das griechische Drama gerade Mangel an Ruhe aus.

In jenem,

was nebensächlich, was ein Bedürfnis der Zeit war, habe Goethe die Griechen nachgeahmt,

im Wesentlichen, Charakteristischen nicht.

Tiefe,

sittliche und Seelenkämpfe träten bei ihm an die Stelle der leidenschaft­

Aber, so fragen wir, haben die

lichen Kämpfe in den alten Mythen.

Griechen denn nur jene Kämpfe des Menschen mit dem hohen, giganti­ schen Schicksal, wie sie im König Ödipus so ergreifend zur Darstellung kommen,

nur

jene

Verirrungen

deS

vermessenen,

auf eigne

Kraft

trotzenden Menschen, welchen die Gottheit selbst mit Verblendung straft,

wie sie etwa im Ajax in die Erscheinung treten, zum Vorwurf ihrer

Dramen gemacht, oder kennen auch sie „tiefe, sittliche und Seelenkämpfe"? In der That kennen sie diese, und nicht nur im allgemeinen finden fich

dergleichen Kämpfe im griechischen Drama, sondern es begegnen unS in denselben sogar ganz ähnliche, ja fast gleiche Kämpfe, wie in der Iphigenie. Offenbar hat dieselbe Unkenntnis, welche eine so

wichtige Seite deS

griechischen Dramas übersehen ließ, auch Goethes Bekanntschaft mit der griechischen Literatur viel zu gering angeschlagen und zu der Meinung

geführt, Goethe habe sich begnügt, die den Namen der Iphigenie tragenden Dramen deS Euripides in Übersetzung zu studieren, wenn er nicht etwa

gar nur das Fabelbuch des Hygin aufgeschlagen, und habe dann den Be­

griff, den er sich aus der antiken Plastik gebildet, auf die antike Tragödie übertragen.

So kam man dazu, fast nur den Euripides zur Vergleichung

heranzuziehen, von dem Goethe nicht einmal die Fabel, ohne sie umzuge-

stalten, aufnahm.

Ja man ging noch weiter und glaubte beide Dichter

sogar als dramatische Bearbeiter ein und desselben Stoffes vergleichen

zu dürfen, wo denn das Urteil gegen Goethe ausfiel und nach LeweS lautete, als Dramatiker stehe Euripides höher.

Der Ort, wo Iphigenie

mit der Antike sich deckt, ist in ganz anderer Richtung zu suchen.

Schon in die Leipziger Zeit Goethes fällt der große Eindruck, den Lessings Laokoon auf ihn machte, jener „Lichtstrahl,

den der vortreff­

lichste Denker durch düstere Wolken auf „„den Jüngling"" Goethe her­

ableitete".

Durch Laokoon wurde die Vorstellung von edler Einfalt und

stiller Größe der griechischen Plastik, wie sie ihm Winckelmann eingeprägt

hatte, erweitert und vertieft mit dem Hinblick auf antike Dramen.

hier an der Schwelle desselben steht Philoktet, und ein Lessing

Und nimmt

keinen Anstand, dies Drama des Sophokles, welches er einer genaueren

Besprechung unterzieht, ein Meisterwerk der Bühne zu nennen.

Der so

gewonnene Eindruck gerade von diesem Drama mußte verstärkt werden,

als Herder, von dem ja so viele Anregungen dem jungen Goethe zu­

flossen, sein Drama Philoktet schrieb.

Und wieder sehen wir, nach jener

„schrecklichen Campagne" in Frankreich, zu Pempelfort im November 1792

die alten Freunde Goethes, um seinen „verhärteten Sinn" wieder in den

Strom früherer Gefühle zu leiten, ihm nach der Iphigenie den OedipuS

ColoneuS reichen, gleich als wäre dessen „erhabne Heiligkeit", wie Goethe selbst sie bei dieser Gelegenheit nennt, so recht der Ton griechischen Ge­

sanges, den Goethe in der ersteren habe anstimmen wollen. An diese Dramen, an Philoktet und Oedipus ColoneuS, müssen wir

anknüpfen, wollen wir wissen, welche Seite des Griechentums sich in Goethe wiederspiegelte und welche er durch seinen Gesang wiederzugeben

gedachte. Die Verwandtschaft des Grundgedankens der Iphigenie, die zwar nicht mit dem ganzen Philoktet, jedoch mit einem sittlichen Hauptkonflikt

in demselben stattfindet, macht es erforderlich, daß man sich die Fabel

dieses Dramas vergegenwärtige. Philoktet, der Freund und Begleiter des Herakles, welcher von diesem bet seinem Tode mit dem nie fehlenden Bogen beschenkt war, wurde auf

der Insel Chryse in der Nähe von Lemnos durch eine Schlange der

Nymphe Chryse, deren Altar er sich, ohne Ehrerbietung zu zollen, genaht hatte, in den Fuß gebissen.

Auf der Weiterfahrt nach Troja fiel seine

eiternde Wunde und daS wilde Jammergestöhn deS Helden dem Heere

so zur Last, daß man sich seiner zu entledigen suchte.

OdysseuS veran­

staltete eS nun, daß man ihn während eines tiefen Schlummers, wie er den heftigsten Schmerzensausbrüchen zu folgen pflegte, vom Schiff hinweg­

trug und auf der wüsten Insel Lemnos aussetzte.

eS nicht, uns die Leiden des Augen zu führen.

Der Grieche unterläßt bis aufs einzelste vor

armen Dulders

Er zeigt uns den alten Recken in der kahlen Fels­

grotte mit der eiternden Wunde

am

Fuße,

Schmerzensgeschrei die Lüfte erfüllen läßt.

welche ihn

mit wildem

Um kühlende Kräuter aufzu­

lesen, um einen Trunk Wassers zu schöpfen, muß er mühsam den Felsen­

pfad sich dahinschleppen.

Kein Gefährte, kein Nachbar steht ihm zur Seite,

dem er seine Not klagen,

von dem er Trostesworte hören kann;

sein

Bogen bleibt ihm sein einziger Freund, mit welchem er die flüchtigen

Bewohner der Luft erlegt, die ihm zur Speise dienen. losen Lage verbringt er neun lange schwere Jahre.

In dieser hilf­

Da veranlaßt eS die

Gottheit selbst, daß man sich im Griechenlager deS armen schmählich ver­ lassenen Genossen erinnern muß.

Schon sind die edelsten Helden der

Achaier vor Troja gefallen, schon glaubt das Heer weichen zu müssen,

da erfährt eS durch KalchaS, daß der Seher HelenoS, der Sohn des

PriamoS, die Orakelsprüche kenne, an denen das Schicksal Trojas hänge. Von OdysseuS gefangen, erklärt dieser, ohne Philoktet und den nie feh­

lenden Bogen des Herakles könne Troja nicht genommen werden.

So

müssen die Griechen sich entschließen, die alte Schuld zu lösen; sie müssen

Philoktet wieder unter Menschen bringen, ja ihm die höchste Ehre zuge-

stehen, daß durch ihn daS Ziel des langen Krieges, die Eroberung TrojaS, herbeigeführt werde. Dies etwa die Vorfabel des Stückes, aus welcher sich die sittlichen

Konflikte, um die es sich hier handelt, entwickeln.

Zur Vollführung deS schwierigen Unternehmens wird nun OdhffeuS

auserlesen, der Todfeind Phtloktets, der einst sein Unglück verschuldet hatte, der aber zugleich einzig und allein für ein solches Beginnen ge­ wandt und schlau genug war.

Er übernimmt die Leitung desielben und

wählt zu diesem Zwecke den jungen Helden NeoptolemoS, den Sohn des

edlen, damals bereits vor Trvja gefallenen Achilles, einen reinen offnen

Jüngling, der kein Arg kannte.

Dieser wird von Odysseus angestiftet,

sich mit List in das. Vertrauen Philoktets einzuschleichen.

Zwar sträubt

sich daS edle Herz desselben, eine solche Rolle zu spielen, doch die Aussicht auf Heldenehre bestimmt den jungen feurigen Streiter auf die Pläne deS

erfahrenen altbewährten Griechenfürsten einzugehen. Durch daS Versprechen, ihn auf seinem Schiffe in die Heimat zurückzusühren, gewinnt er daS

Vertrauen PhiloktetS, so daß dieser ihm arglos beim Herannahen eines Anfalls seiner Krankheit den nie fehlenden Bogen übergiebt.

Jetzt war's

Zeit zu handeln, als Philoktet, von der Krankheit überwältigt, in tiefster

Ohnmacht darniederliegt, und der Chor sucht ihn dazu zu drängen; aber

bei NeoptolemoS bricht seine edle Natur durch.

Er harrt aus,

bis

Philoktet aus dem Schlummer erwacht ist, und enthüllt nun dem er­ schreckten Dulder, was der Götterspruch fordere, indem er ihm zugleich

seine eigne Pflicht, den anvertrauten Bogen zu behalten, vor die Seele

führt.

Die Ausbrüche der Verzweiflung und die ergreifenden Bitten des

Armen wenden nun daS Herz des jungen, in Listen nicht geübtm Mannes

noch weiter um.

Schon ist er im Begriff, den Bogen zurückzugeben, da

tritt OdyffeuS dazwischen und will mit Gewalt das durchführen, was

NeoptolemoS in seiner JünglingSunschuld nicht vermocht, ja er droht, Philoktet, seines Bogens beraubt, elend auf der Insel zurückzulassen. Der Gedanke an die jammervolle Lage deS hilflos Verlassenen, welche diesem die rührendsten Klagen neben wilden Verwünschungen auSpreßt,

führt nun NeoptolemoS gänzlich zu seiner wahren Natur zurück.

Er er­

klärt dem OdyffeuS, den Bogen zurückgeben zu wollen, und beharrt auch

gegenüber den Drohungen desselben mit der Rache der Griechen fest bei diesem Entschlusse.

Noch einmal versucht er, den Philoktet zu bewegen,

freiwillig zum Heil seiner Landsleute nach Troja zu gehn.

Als er aber

sieht, daß alle seine Vorstellungen an dem Starrsinn deS alten verbitterten Helden scheitern, da übergiebt er ihm, der inneren Stimme folgend, den Bogen.

264

Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie.

Wir müssen eS uns versagen, auf die meisterhaft durchgeführte Cha­ rakterzeichnung der Personen und den reichen, psychologisch spannenden

Wechsel der Situationen, sowie auf die endlich durch einen deus ex machina herbeigeführte Lösung des Konflikts näher einzugehen.

interessiert hier nur der sittliche Konflikt deS NeoptolemoS.

Uns

Denn dieser

ist es, an den Goethe anknüpfte.

Zunächst werden wir feststellen dürfen,

daß in der Iphigenie ein

solcher von ganz gleicher Natur enthalten ist, wie der im Philoktet.

Die

reine, schöne Seele der Iphigenie läßt sich dazu bestimmen, zur List ihre

Zuflucht zu nehmen, um dem heißesten Wunsch ihres Innern, ihren ge­

liebten Bruder zu retten und in die langersehnte Heimat zurückzukehren, zur Erfüllung zu bringen.

Im Andenken an die Wohlthaten des Mannes,

den sie zu hintergehen gedenkt, kehrt sie zu ihrer wahren Natur zurück: Der Durchbruch

der Wahrheit in

einer edlen

unverfälschten

Seele — das ist also das in beiden Stücken Analoge.

Davon ist nun die natürliche Folge, daß auch die Charaktere dieser

beiden Träger der sittlichen Ideen inS Auge springende Analogieen dar­ bieten müssen. NeoptolemoS ist ein Jüngling, Iphigenie eine Jungfrau.

Beiden

ist aber gemeinsam daS Edle einer wahren und offnen Natur, die sich

eher dem Schlimmsten unterwerfen als wie der gemeine, feige Mensch der Lüge hingeben will.

NeoptolemoS spricht (Phil. 88):

„Denn nicht geschaffen bin ich, trau», für Hinterlist"

und Iphigenie (V, 1): „Ich habe nicht gelernt zu Hinterhalten,

Noch jemand etwas abzulisten."

NeoptolemoS, der Heldenjüngling, ist ebenso bereit, daS, was man

von ihm verlangt, mit Gewalt auszuführen, wie Iphigenie, die Helden­ jungfrau, den äußersten Widerstand zu leisten, wollte man sie am Altare

zu blutigen Opfern zwingen.

Wie dem NeoptolemoS (94): „Erwünschter ist

Der edlen That Mißlingen als unedler Sieg",

so will auch Iphigenie (V, 3) lieber ein kühnes Unternehmen wagen, bei dem sie „großem Vorwurf nicht entgeht,

Noch schwerem Uebel, wenn es ihr gelingt",

als den König, der ihr zweiter Vater ward, tückisch betrügen und be­

rauben. Bei beiden Charakteren ist es ein edles Motiv, welches sie aus der

ihrer Natur eignen Bahn der Wahrheit und Offenheit auf kurze Zett

herauStreibt.

Bet Neoptolemos ist es der Ehrtrieb eines feurigen Jüng­

lings und das Gefühl, daß von der Erfüllung seiner Aufgabe die Rettung

seiner Landsleute abhänge, bei Iphigenie die Hoffnung auf Rettung des

Bruders, welche ihre reine Seele den Versuch der Unwahrheit wagen läßt.

Bei dem ersten Antrieb von außen werden aber beide sich bald

deS betretenen Irrweges bewußt, Neoptolemos beim Anblick der Leiden

PhiloktetS, Iphigenie bei der Erinnerung an die dem ThoaS schuldige Dankbarkeit.

Beide gewinnen ihre ursprüngliche reine und wahre Natur

wieder und theilen ihre Anschläge selbst gerade den Personen mit, die den Zweck, der ihnen am Herzen liegt, vereiteln können, denselben, welche sie

durch ihren Trug aufS tiefste gekränkt.

Und das thun sie in Voraussicht

der schlimmsten Gefahren, die ihnen drohn.

Neoptolemos verzichtet nicht

nur auf den Ruhm, Troja erobert zu haben, sondern läuft auch Gefahr, die Freunde ins Verderben zu stürzen und sogar von ihnen getödtet zu

werden, Iphigenie entsagt nicht nur der heißersehnten Rückkehr in die ge­ liebte Heimat, sondern muß auch befürchten, ihren eben erst gewonnenen Bruder zu opfern.

Und beide werden sich in ähnlicher Weise bewußt,

daß sie, indem sie den Irrweg der Lüge betreten, auch ihre eigne innerste

Natur verleugnen, wie denn Iphigenie (IV, 1), die hier sich „leiten lassen muß, wie ein Kind", sagt: „O weh der Lüge! sie befreiet nicht,

Wie jedes andre wahrgesprochne Wort,

Die Brust; sie macht unS nicht getrost, sie ängstet" u. s. w-

und Neoptolemos (872): „Alles ist uns lästig, weun wir, unsrer Art

Untreu geworden, üben, was uns nicht geziemt."

Springt diese Verwandtschaft der Charaktere schon in die Augen, so wird die Annahme, daß dem Dichter bei seiner Nachbildung eines griechi­

schen DramaS gerade Philoktet in wesentlichen Zügen vorgeschwebt habe,

zur Gewißheit, wenn wir einen Blick werfen auf die Personen, welche jenen zur Seite stehen und einen bestimmenden Einfluß auf sie üben.

In

Philoktet ist dies Odysseus, in der Iphigenie PyladeS. Während Homer das Heldenideal seines Zeitalters vorzugsweise in

dem jugendlichen Helden Achill verkörpert, stellt er ihm den ausharrenden Mut und die ungeschlachte Tapferkeit eines Ajax, den wilden Ungestüm

deS Rufers im Streit Diomedes an die Seite.

Während er das könig­

liche Auftreten des Heerführers Agamemnon feiert, der an Haupt dem ZeuS, an Brust dem Poseidon, an Wuchs dem AreS gleiche, preist er die Süßigkeit der Rede an Nestor, dem helltönenden Redner der Pylier, dessen

auf Klugheit

und Erfahrung

beruhender Rat viele Männer aufwiege.

Diesen Helden gegenüber ist nun Odysseus mit mannigfachen und eigen­ artigen Zügen ausgestattet. doch einer der Recken,

Auch ihm fehlt eS nicht an Tapferkeit; ist er

die sich erbieten,

mit dem Hektor zu kämpfen.

Wird ihm andrerseits wegen seiner Standhaftigkeit im Leiden der Name des „Dulders" gegeben, so ist eS doch wesentlich die Schlauheit,

welche

ihn auSzeichnet, und welche ihm den Namen des „Vielklugen" verschafft. Als Jnselgrieche, der mit den gewandten und rücksichtslos auf ihren Vor­ teil bedachten

Phöniziern in Berührung

gekommen ist,

prägt er eine

Eigenschaft des griechischen Volkscharakters in sich aus, die zwar wenig

dem hohen Jdealbilde entspricht, welches wir von diesem Volke aus seinen Kunstwerken gewinnen, die aber in Wahrheit auch bei vielen der edelsten Griechen nicht fehlte:

er ist auf seinen Vorteil bedacht und scheut um

des Gewinnes willen kein Mittel der List, welches ihm seine angeborne

Schlauheit an die Hand giebt; gewandte, auf Täuschung berechnete Rede ist eins der hauptsächlichsten.

Dabei ist seine Gestalt würdevoll.

Zwar

überragt ihn Menelaos an Höhe und Breite der Schultern, wenn beide

stehen, doch beim Sitzen erscheint OdysseuS ehrwürdiger.

Aber er weiß

seine Miene zu verstellen, so daß niemand Worte, wie sie gleich dem Ge­ stöber von Schneeflocken seinem Munde entströmen,

bei ihm auch nur

vermutet, ja er erscheint bald wie ein Einfältiger oder gar ein Blöd­ sinniger, bald wie ein Ingrimmiger.

Während Sophokles nun die edleren

Züge des gereiften Menschenkenners Odysseus in seinem Ajax zusammen­ faßt, wo derselbe durch Gerechtigkeit und Selbstverleugnung dem eignen

Todfeinde gegenüber den wohlthuenden Schlußakkord des Dramas ein­ leitet, sind es jene zuletzt aufgesührten, welche im Philoktet einseitig betont

sind.

Odysseus hat hier, wie wir sagen würden, eine chargirte Rolle.

Der Krieg hat ihn abgehärtet und die Regungen des Mitgefühls zum

Schweigen gebracht.

Die Grenzen der Moralität sind vorgerückt, die Be­

griffe von Heldenehre verblaßt; List erscheint als ein im Kriege durchaus

erlaubtes Mittel.

Erfahrung hat ihn gelehrt, die Menschen zu benutzen.

So umstrickt er denn leicht die junge Seele des Neoptolemos durch seine Sophismen.

Kühl spricht er eS aus (99), daß er, durch Erfahrung ge­

reift, einsehen gelernt habe: „es ist Der Menschen Zunge, nicht die That, die alles lenkt".

Als Menschenkenner hat er zwar mit den Schwächen menschlicher Natur gerechnet und den brennenden Ehrgeiz deS Neoptolemos anzustacheln

gewußt; ein solcher OdysseuS kennt aber die edlen Regungen deS MenschenherzenS nicht.

Das Exempel stimmt nicht, seine Pläne mißlingen;

die Lösung muß auf andere Weise herbetgeführt werden.

Dem Odysseus entspricht in der Iphigenie PyladeS.

durch die rauhe Schule des Krieges gegangen. nachtroischen Zeit.

Er ist nicht

Er ist ein Jüngling der

Auch er hat mit seinem Freunde Orest den Jugend­

traum von künftigen großen Thaten geträumt, in dem jede That so groß war, „wie sie wächst und wird,

wenn Jahre lang durch Länder und Geschlechter Der Mund der Dichter sie vermehrend wälzt",

Wie auch einem Odysseus (96) als Jüngling „die Zunge langsam und die Hand zu Thaten schnell" war.

Aber er, welcher mit seinem armen,

von den Erinnyen verfolgten Freunde die Welt durchirrt,

ihm, als Griechen, nicht fremde List und Schlauheit.

braucht die

Da wählt er sich

denn zu seinem Helden, dem er die Wege zum Olymp nacharbeitet, den

Odysseus, und fast mit den nämlichen Worten die dieser braucht, (Phil. 109): „nicht schändet Trug den Helden,

wo er Rettung bringt",

spricht er (Jph. II, 1): „mir scheine» List und Klugheit nicht den Mann Zu schänden, der sich kühnen Thaten weiht".

Auch er rechnet, wie Odysseus, und gewinnt auch wirklich die reine

Seele der Iphigenie für seinen Plan, aber auch er kennt die Tiefen des menschlichen Herzens nicht.

Selbst der Iphigenie.

Sein Anschlag scheitert

besseren

an dem

Die Lösung muß auf andre Weise herbeigeführt

werden. Ebenso wie die Personen, bietet auch die ganze Anlage deS Truges erkennbare Analogieen dar.

Wie NeoptolemoS auf Anstiften deS Odysseus

Wahres mit Falschem mischt, so begegnet sich auch in den Erfindungen deS PyladeS Thatsächliches mit Erdichtetem — alles Züge, welche Goethe in sich ausgenommen hatte und in seiner Nachbildung verwertete.

Aber freilich das Interesse an dem Stücke deS Sophokles beruht

außer auf diesem Seelenkampf auch noch auf anderen Motiven.

Bei dem

antiken Dichter galt es vor allem, die eigentümliche Wirkung der Tra­

gödie zu erzielen, Mitleid und Furcht zu erwecken.

Daher gipfelt er

alles in den Zügen, welche uns das Leiden des Philoktet vor Augen

führen.

Der ungebeugte Titanentrotz des alten Recken im Angesicht des

furchtbarsten Elends ist es denn, der auch wirklich die höchste tragische

Wirkung erzielt und ein Drama ersten Ranges entstehen läßt.

Freilich

mußte der Dichter auf diesem Wege dahin gelangen, die Lösung durch einen deus ex machina herbeizuführen.

Der verklärte HeroS Herakles,

der Freund PhiloktetS, erscheint und überwindet den Widerstand deS alten

Dulders. Den großen deutschen Dichter interessierte vermöge seiner innersten Natur nur jener erste Seelenkampf, und so konnte er den geschürzten Knoten

durch die innere Wandlung der Menschen selbst lösen.

Den Kampf freilich

vertiefte er in seinen psychologischen Zügen, ohne doch sein Vorbild aus

den Augen zu verlieren, und so

schuf er jenes herrliche Ganze, welches

zwar die dramatische Kraft des antiken Dichters vermissen läßt, dieselbe

aber reichlich durch seine edle Harmonie,

stille Größe und würdevolle

Weihe ersetzt. War eS hier die Schürzung des Knotens, welche die nahe Beziehung

beider Dramen begründet, so ist es mehr die Lösung, welche eine innere

Verwandtschaft der Iphigenie mit Oedipus ColoneuS erkennen läßt. haben schon oben gesehen, daß Goethe die „erhabne Heiligkeit" Stückes wohl kannte.

Wir

dieses

Und gerade eine Dichtung, welche eine so hohe

Stufe der Humanität bezeichnet, in ihren religiös-sittlichen Jdceen eine hohe Weihe atmet und dabei jene olympische Ruhe antiker Klassizität

bewahrt, entsprach recht eigentlich dem Kunstideal, welchem Goethe nach­

strebte. Auch in dieser Dichtung handelt es sich um die Lösung ciiteS Fluchs. Hatte ÄschyluS in seiner Orestie die Lösung desselben für Orestes durch einen Richterspruch herbeigeführt, durch welchen er dem altehrwürdigen

Institut deS Areopag neue Weihe zu erteilen suchte, hatte Euripides die

Lösung rein äußerlich an die Zurückbringimg deS Götterbildes geknüpft, so finden wir bei Sophokles in analoger Situation eine innere Lösung und die sittlichen Jdeeen, welche durch diese ausgesprochen werden, sind eö,

die Goethe sich assimiliert und in seiner Iphigenie zum Ausdruck bringt. Ödipus stammt, wie Orest, aus einem jener alten Geschlechter,

welche sich den Zorn der Himmlischen durch ihre Thaten zugezogen haben. Furchtbar ist die Strafe, durch welche die Schuldigen

gefällt werden.

Aus dem eignen Blut derer, die dem Verderben geweiht sind, muß der Vollstrecker derselben erstehen. Ein ÖdipuS muß seinen Vater, ein Orest seine Mutter erschlagen.

Aber das Werkzeug der Strafe soll, wenngleich

eS mit dem Willen der Gottheit gehandelt, doch nicht straflos ausgehen. Ödipus irrt als blinder Flüchtling infolge deS von ihm selbst ausge­ sprochenen Bannes ruhelos umher, ähnlich Orest, dem die verfolgenden

Erinnyen keine Ruhe gönnen.

Der alte Fluch soll sich, so scheint es, von

Geschlecht zu Geschlecht forterben, bis das ganze von der Gottheit ge­ haßte Geschlecht vernichtet ist.

Ist doch auch der Gott der älteren griechi­

schen Volksvorstellung ein starker, eifriger Gott, der die Sünde der Väter heimsucht an den Kindern bis

inS dritte und vierte Glied.

Griechengott straft die Vermessenheit deS Menschen,

Ja der

welcher sich

über

menschliches Maß erhebt, sogar dadurch, daß er selbst ihn verblendet und zu Thaten hinreißt, die ihn in Schuld verstricken, eine Vorstellung, welche, in vollster Herbigkeit ausgesprochen, als die vom Neide der Gottheit aus

Schillers Ring des PolhkrateS bekannt ist.

Sie tritt uns auch in der

Iphigenie und zwar in vollster Schärfe im Liede der Parzen entgegen

(IV, V): „ES fürchte die Götter Da« Menschengeschlecht l Sie halten die Herrschaft In ewigen Händen Und können ste brauchen, Wie'S ihnen gefällt. Der fürchte ste doppelt,

Den je ste erheben" u. s. f.

sie ist eS auch, welche der Borfabel bei OedipuS ColoneuS zu Grunde liegt und im König Ödipus den dunklen Hintergrund bildet, auf dem

sich jene dämonischen Peripetieen abspielen, deren tragische Gewalt den Zuschauer noch heute mächtig ergreift.

Aber giebt es keinen Ausweg aus diesem Labyrinth der Schrecknisse, ist der Mensch zu ewigem Leiden verurteilt? Die Frage löst die Gott­ heit selbst. Dem ÖdipuS ist die Weissagung geworden, daß er bei den

Erinnhen, denselben Gottheiten, deren Zorn er wachgerufen, einst die er­

So irrt er umher.

sehnte Ruhe finden werde.

Zur Seite steht ihm, in

kindlicher Aufopferung alle Leiden teilend, Antigone. Obdach

und Nahrung.

Ihrer rührenden Bitte

Sie verschafft ihm

gelingt eS,

ihm

eine

Stätte der Rast bei den von Abscheu vor ihm ergriffenen Bewohnern von Kolonos zu bereiten.

Sie tröstet ihn und richtet ihn auf bei seinem

Leidenswege. Und wie finden wir ihn wieder? Der einst so stolz auf seine Kraft pochende ÖdipuS, er erscheint nach langer Prüfung geläutert;

demütig

unterwirft er sich

unter die allmächtige Hand der Gottheit.

Und diese selbst, sie löst den Fluch und führt den geprüften Dulder in geheimnisvoller Weise in ihr eignes Reich.

Die alte Fluchgottheit der

Erinnyen — sie hat sich in die der segenspendenden Eumeniden verwan­ delt, und ÖdipuS bringt noch im Tode dem Lande, wo ihn die Gottheit

aufnahm, Segen.

gnädig:

Die Gottheit aber, das ist der Kern des Mythos, ist

sie liebt den Menschen und führt ihn durch Prüfungen zur

Läuterung, um ihn endlich zu erhöhen.

Auch bei Orest ist die Lösung des Fluchs Götterwerk. Seele muß den Weg innerer Prüfung gehen.

Auch seine

Die Gottheit, welche ihn

einst zur blutigen Greuelthat bestimmte, zeigt ihm selbst den Ort an, wo er nach der Prüfung von seinen GewissenSqualen Erlösung finden

Nach Tauris soll er — so will es Apollo —, um von dort aus

soll.

dem Heiligtum die Schwester nach Hellas zu bringen. was er sucht.

Dort findet er,

Die Schwester, welche der Gott doppelsinnig bezeichnete,

ist nicht die Schwester Apollos, es ist die eigne, längst verloren geglaubte,

und mit der Wiederfindung derselben im Tempel der Gottheit ist auch die schwere Last der Gewissensqualen von ihm genommen. schweigen, sie sind zu Eumeniden geworden.

eine edle Jungfrau, welche den Weg dazu bahnt.

höherem Sinne als Antigone.

Die Erinnyen

Und auch hier ist es wieder

Aber freilich in weit

Die Gestalt der Iphigenie ist keine Nach­

bildung mehr, sie ist eine Umbildung, in welcher der moderne Dichter fast ganz aus dem Kreis der antiken Anschauung heraustrilt.

Alle Züge

einer NeoptolemoSseele, die edle Weiblichkeit einer Antigone, sie sind nur

einige Striche zu der wunderbar lieblichen Gestalt, wie sie uns in der reinen schönen Seele der Iphigenie vor Augen tritt. Sie ist es denn auch, der dieselben hohen und heiligen Jdeeen, welche im Ödipuö ColoneuS

zu Tage treten, in den Mund gelegt werden. (I, 4):

Hören wir nicht hier das

„die Unsterblichen lieben der Menschen weitverbreitete gute Ge­

schlechter"; die Götter sind gnädig und wollen Menschen menschlich er­ retten?

Ist eS nicht der grade Gegensatz zu jenen Vorstellungen von der

alten neidischen Gottheit? Gotteserkenntnis lehrt:

Ein neuer Morgen bricht an; eine reinere

der Mensch soll der Gottheit vertrauen und sich

ihr demütig unterwerfen, sie wird ihn zum Frieden führen.

So ist eS also nicht nur die Lösung des Knotens an sich, welche eine innere Verwandtschaft zwischen Iphigenie und OedipuS ColoneuS begründet,

sondern die Beziehung wird noch enger dadurch,

daß dieselbe sittlich-

religiöse Idee bi beiden Dramen zu Grunde liegt.

Zu untersuchen, wie

weit Goethe auch hinsichtlich der Form

auf antikem Boden wurzelte,

würde über das Ziel unsrer Ausführungen hinausreichen. Erinnern wollen wir nur daran, wie manches Wort an homerische Ausdrucksweise streift, und wie ferner eine wohlgelungene Übersetzung*) einzelner Scenen tnS Griechische beweist, daß der Ton sophokleischen Gesanges in der That in ihnen wiederklingt.

AuS unseren Darlegungen geht wohl soviel zur Evidenz hervor, daß

daS schillersche Urtheil, Iphigenie sei so erstaunlich modern und un*) Von Th. Kock, deren erste Verse lauten:

’Ec tiqvSe 8ev8pcov u^iygWiqtcdv axtdcv aupatc yepatov ßaia xivouvtcdv xtitpa that t äcpuüvov dXaog, daxetTTTOv ßpOTOtc, TT^cpptx’ del arel/ouaa xat Tapßä) cppevl, die fyV/ Ipov KpÄTOv etaeßijv xdöe, QT^pyetv 8'ö #up,o; xdvtkxS’ oö 8i8cfox6Tat.

Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie.

271

griechisch, daß man nicht begreife, wie es möglich gewesen sei, sie jemals

einem griechischen Stücke zu vergleichen, hinfällig ist.

Allerdings mußte

die dionysische Natur Schillers im geraden Gegensatz zu Goethe an die ge­

waltigen Leidenschaften, die sich in den griechischen Tragödien abspielen,

anknüpfen.

Der Schicksalsbegriff, dem er bereits im Wallenstein eine

Rolle zugewtesen hatte, mußte ihm verwandt erscheinen dem, welcher im König ÖdipuS zu Tage tritt. An dieses so ergreifende Drama knüpft

er daher an, als er den Plan faßte, ein Drama im Geist „antiker Ein­

fachheit und Idealität" (die Braut von Messina) zu schreiben.

Allerdings

sind auch hier die Analogieen mit dem antiken Drama, welches ihm als

Vorbild diente, bedeutend, und man merkt ihnen an, daß sie nicht, wie bet Goethe, der in Fleisch und Blut übergegangenen antiken Anschauung

entstammen,

sondern

nommenen Studium.

einem sorgfältig

eigens zu diesem Zweck vorge­

Jene Zweideutigkeit der Orakel, jene Ironie des

Schicksals, welche den Menschen so führt, daß er, „waS er denkt klüglich

zu wenden, selbst schaffend vollenden" muß, würden schon zur Genüge auf die direkte Anlehnung an König ÖdipuS schließen lassen, wenn auch gar nicht übereinstimmende Aussprüche im Munde der Hauptpersonen die engste

Beziehung zu demselben in die Augen springen ließen, wie z. B. die

Worte der Jokaste: „nie befand sich noch Ein sterblich Wesen im Besitz der Seherkunst"

und die der Isabella: „Die Kunst der Seher ist ein eitles Nichts"

so wie ferner die der ersteren: „Warum denn, mein Gemahl, beachten wir

Den Seherherd im Pytho, was die Vögel noch,

Die droben rauschen?"

und die der letzteren: „Warum besuchen wir die heil'gen Häuser

Und heben zu dem Himmel fromme Hände? ....

Ob rechts die Vögel fliegen oder links, Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur"

den Stempel nächster Verwandtschaft bewahrt haben: Aber Schillet glaubte mit dem Schicksalsbegriff, wie er ihn aus König Ödipus erfaßte,

das Wesen der Antike zu treffen, und so begegnete es ihm, daß er, der in seinen sonstigen Schöpfungen gerade den Triumph des Menschen über

das Schicksal feiert, in der Braut von Messina ein gekünsteltes Drama schuf, in welchem der Mensch dem Schicksal vermöge seiner eignen Natur

und der ihm

gewordenen Lebensbedingungen unterliegt.

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIH. Heft 3.

20

Ein

solche.S

272

Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie.

Unterliegen dürfen wir aber geradezu als unanttk bezeichnen, da es in sich jenes „Gräßliche (p.tapiv)" einschloß, welches dem Alten die tragische

Wirkung auszuschließen schien.

Schiller gelangte eben als sentimentalische

Natur auf dem Wege der Reflexion in die antike Welt, ohne sich, wie Goethe, von derselben durchdringen zu lassen. Daher entging ihm, daß der antike Zuschauer die Perspektive des „König ÖdipuS" weit über das

Dargestellte hinaus verlängerte und jenes Lied voll hoher Heiligkeit „den Ödipus auf Kolonos" als wohlthuenden Schlußakkord im Geiste bereits voraus vernahm.

So gelangte Schiller denn auch zu jenem schiefen Ur­

teil über Iphigenie. Aber auch Lewes behält nicht Recht, da er der Antike tiefe sittliche und Seelenkämpfe abspricht, während gerade auf ihnen das antike Mo­

ment in der Iphigenie beruht. Wie sehr wir nun auch die Gestalt der Iphigenie selbst als über die Antike hinausgewachsen bezeichnen und zugeben müssen, daß der um­

bildende Einfluß einer schönen Seele mit ihrem, so zu sagen, magischen Hauch nicht hat den Gegenstand antiker Darstellung bilden können, so

glauben wir doch so viel gezeigt zu haben,

daß Iphigenie sowohl in

Schürzung wie Lösung des dramatischen Knotens auf antikem Grunde ruht

und endlich auch den religiösen Grundgedanken diesem verdankt.

Wir werden daher daS Verhältnis Iphigeniens zur Antike

nicht

treffender zu bezeichnen vermögen als mit den Worten Schlegels, sie sei

ein Echo griechischen Gesanges.

Helfrich Peter Sturz*).

Im 17. Jahrhunderte war unsere Prosa mehr und mehr in ge­ lehrtem geschmacklosem Pedantismus erstarrt.

Ihre langsame Wiederbe­

lebung knüpfte sich besonders an die deutschen Zeitungen, deren erste Christian Thomasius im Jahre 1688 unter dem Titel: „Scherz- und

ernsthafter, vernünftiger und einfältiger Gedanken über allerhand lustige

und nützliche Bücher und Fragen erster Monat oder Januarius in einem

Gespräche vorgestellt

von

der

Gesellschaft

derer

Mäßigen"

eröffnete.

Thomasius und seine zahlreichen Nachfolger traten aus dem engen Kreise

der Gelehrsamkeit und strebten das größere Publikum heranzuziehen.

So

entstand eine populäre ControverSliteratur, die, wenn sie dem Be*) Bgl. H. P. Sturz, von I. F. L. Theodor Merzdorf, im Archiv für Literatur­ geschichte, herausgegeben von Schnorr von Carolsfeld, 7. Band, Leipzig 1878, S. 33 ff. H. P. Sturz nebst einer Abhandlung über die SchleSwigtschen Literaturbriefe mit Benutzung handschriftlicher Quellen von Max Koch, München 1879. (Dazu: E. Türkheim, I. P. Sturz, Im Neuen Reich 1879, Nr. 21.) — Die bis jetzt dem Druck übergebenen Schriften des berühmten Essayisten sind nicht zahlreich. Davon erschienen einzeln in Buchform 1767 „Die Menächmen" in Kopenhagen und das Trauerspiel „Julie", mit einem „Brief über das deutsche Theater in Kopenhagen und Leipzig", 1777 die „Erinnerungen aus dem Leben des Grafen I. H. E. von Bernstorf" in Leipzig. Die meisten übrigen Schriften wurden zuerst in Boje'S „Deutschen Museum" 1776—1779 veröffentlicht. Die erste Sammlung von Stürzens Schriften erschien, von ihm selbst besorgt, 1779 bei Weidmannes Erben und Reich in Leipzig, eine zweite 1782 bei Cramer in Bremen und, von Boje besorgt, von der Bremer Ausgabe wenig unterschieden, in demselben Jahre bei Weidmanns Erben und Reich. (Wir citiren die genannte Leipziger Ausgabe. Ueber spätere Ausgaben s. Merzdorf S. 69 ff.) Aus der Oldenburger Stadtbibliothek wurden vier von Sturz eigenhändig geschriebene Foliobände aufbe­ wahrt, die zumeist Auszüge aus einer Menge von Schriften der verschiedensten wissenschaftlichen Gebiete, aber auch eigene Arbeiten enthalten. (Merzdorf S. 72 ff.) Einzelnes daraus findet fich bei Merzdorf und bei Koch im Texte seines Buches und im Anhänge. — Ueber die dänische Geschichte in der Zeit, wo Sturz in Kopenhagen lebte, wirkte und litt, vergleiche- Die Verschwörung gegen die Kö­ nigin Karoline Mathilde von Dänemark, geb. Prinzessin von Großbritannien und Irland, und die Grafen Struensee und Brand, nach bisher ungedruckten Origi­ nalakten und nach E. S. Flam and in selbständiger Bearbeitung von P. F. von Jenssen-Tusch, Leipzig 1864. Struensee von Karl Wittig, Leipzig 1879. Geschichte von Dänemark mit steter Rücksicht auf die innere Entwickelung in Staat und Volk, von C. F. Albe, gekrönte Preisschrift, aus dem Dänischen übersetzt von Dr. Falck, Kiel 1846.

dürfnrß und Geschmack ihres Publikums entsprechen und die beabsichtigte

Wirkung erreichen wollte, den Ballast compilatorischer Gelehrsamkeit ab­ werfen, die Behandlung ihrer Themata auf das Wesentliche zurückführen und ihre Gedanken in knappen und präcisen Worten ausdrücken mußte,

auf diesem Wege reiste der Sinn und Takt für eine ansprechende Form der prosaischen Darstellung

und

schlang sich das Band zwischen dem

Schriftsteller und dem Leser, dem Buch und dem Leben immer fester. Eine besondere Anregung empfieng unser Journalismus durch die

moralischen Wochenschriften der Engländer, die in den Jahren 1709—1714 hervorlraten und auf daS geistige und sittliche Leben der Inselbewohner eine tiefgreifende Wirkung übten.

ES waren der Frische

des äußeren, der Gesundheit des inneren Lebens entstammte Produktionen, gestaltungskräftige Bilder, tiefe Betrachtungen in classischer Form. Steele und namentlich Addison erwarben sich dadurch unsterbliche Verdienste.

Solchen Meisterwerken können wir freilich ihre deutschen Nachahmungen

nicht ohne Beschämung gegenübcrstellen.

im

dritten

Jahrzehnt des

vorigen

Was in dieser Gattung bei uns

Jahrhunderts von Bodmer

und

Breitinger, Gottsched u. a. versucht wurde, blieb hinter den Englän­ dern weit zurück.

Die deutschen Wochenschriften, mit dem Laufe der Zeit

immer werthloser, bewegten sich meist in langweiligen,

moralisirenden

Betrachtungen, in Charakterzeichnungen und Erzählungen von flacher All­

gemeinheit in engem Gesichtskreise, in platter und beschränkter Darstellung. Aber sie trugen wesentlich zur allgemeinen Bildung deS Volkes und zur Ausfüllung der zwischen den Schriftstellern und dem öffentlichen Leben

eingerissenen Kluft bei. Unsere Zeitschriften bewegten sich bis in die siebenziger Jahre deS vorigen Jahrhunderts zumeist

auf dem

literarisch-kritischen Felde.

Lessing bildete seine prosaische Kunst, die für unsere Nationalliteratur

bahnbrechend wurde, schon seit der Mitte deS Jahrhundertes hauptsächlich in journalistischen Arbeiten.

Seine Darstellung näherte sich dem Essay,

der die Aufgabe verfolgt, in einer edel-populären und anziehenden Form

sich mit dem Leser über Fragen des inneren und äußeren LebenS, mehr

schildernd als zergliedernd zu unterhalten und ihn dadurch zu belehren und anzuregen.

Die künstlerische Gestaltung dieses ganz eigentlichen Essay

begannen in unserer Literatur etwa gleichzeitig Möser, Herder und

Sturz.

Möser gab seine ersten vereinzelten Aufsätze in den Jahren 1756, 1760, 1761, 1765, seine Jntelligenzblätter (Patriotischen Phantasien) seit dem I. 1767 heraus.

Und dieses Jahr brachte auch Herder'S große Erst­

lingschrift, die „Fragmente über die neuere deutsche Literatur", die aus

einer langen Reihe von Essah'S bestehen, und Sturzen- erste Veröffent« lichungen. Von keinem jener beiden Schriftsteller sind Einwirkungen auf SturzenDagegen erinnert er durch die Klarheit und Schärfe,

Form erkennbar.

durch die Beweglichkeit und Eleganz, auch öfter durch die Natürlichkeit seine- Vorträge- an Lessing, von dem er sich aber, neben einer Art

von Mißtrauen in die Kritik, durch den vorwaltenden Sinn für positive Darstellung unterscheidet.

Ja er beweist in mehreren seiner Schriften,

namentlich in seinen Aussprüchen über Werke der bildenden Kunst und über die Leistungen hervorragender Bühnenkünstler, eine an Winckel­

mann erinnernde Gabe congenialer, mit Begeisterung hervorströmender

Nachgestaltung.

Auch Klo pflock'- gedrängte, nervige Ausdrucksweise ging

an der seines Freunde- nicht spurlos vorüber.

Oester, besonders in den

Erinnerungen an Bernstorf nimmt man die stilistische Bildung an römi­

schen Mustern wahr.

Noch fleißiger ging Sturz bei Franzosen und

Engländern in die Schule.

Er nahm die ganze formale Bildung der

ersteren in sich auf, und die reiche, nur von der späteren Verdüsterung seines Gemüthes im vollen Ergüsse gehemmte Ader seines Humor- öffnete

sich

zumeist

Swift.

durch

die

Beschäftigung

mit

Fielding,

Sterne

und

Aber die Selbständigkeit und Eigenart seine- literarischen Pro­

files hat durch den geistigen, zum Theil auch persönlichen Verkehr mit allen diesen Vorgängern und Zeitgenossen keine Einbuße erlitten.

Bei allem Reichthums seiner gelehrten Kenntnisse schrieb er doch zu­ meist aus dem Leben und für das Leben; er schrieb als ein Mann, der die große Welt gesehen und fein beobachtet hatte, als ein Virtuose der

Gesellschaft, mit dem Blicke des Diplomaten und mit der HerzenSgüte und dem Adel der Gesinnung, die ihm das nur Wenigen beschiedene Glück

erwarben, von.allen Redlichen geschätzt und geliebt zu werden.

Wir versuchen eS, freilich nur mit Benutzung der bis jetzt durch den Druck veröffentlichten Quellen und Hilfsmittel, das Leben des berühmten

Prosaikers, der zugleich eine hervorragende diplomatische Stellung einnahm und in dieser den Wechsel der menschlichen Geschicke

auf eine tiefet«

schüttelnde Weise erfuhr, im Zusammenhänge mit seiner politischen und literarischen

Umgebung

darzustellen

und

in

die

bedeutendsten

seiner

Schriftm einzuführen.

Helfrich Peter Sturz (Stürz)*) wurde am 16. Februar 1736 *) Aus den Universitäten Jena und Gießen wurde Sturz unter dem Namen Stürz immatrikulirt. Dieselbe NamenSbilduug führen seine von dem seligen Kirchenrath Hoffmann, dem Vater de« OberappellationsgerichtSrathes Hoffmann in Darm­ stadt, ermittelten Verwandten, die mit der zweiten Hälfte des 17 Jahrhunderts beginnen.

in Darmstadt geboren, der ältere Sohn des landgräflichen KabtnetS-

kassierers Joseph Peter Friedrich Stürz, den er schon im Jahre 1741 durch den Tod verlor.

Daß Helfrich Peter an seinem Oheim Johann Christian

Stürz, der als Kriegsrath in Darmstadt

gestorben

ist, einen zweiten

Vater gefunden habe, ging aus einem an diesen gerichteten, von Pietät und Dankbarkeit erfüllten, leider abhanden gekommenen Schreiben des

Neffen hervor, das schon den künftigen trefflichen Prosaisten verrieth*). Helfrich Peter besuchte daS Gymnasium seiner Vaterstadt, wo I. H. Merck

zu seinen Mitschülern gehörte, in den Jahren 1753—1759 die Univer­ sitäten Jena, Göttingen und Gießen.

Nur in der Matrikel von Göttingen

ist der Gegenstand seines Studiums, nämlich die Rechtswissenschaft an­

geführt.

Er wurde noch im Jahre 1759 Secretär des Barons Widmann,

des kaiserlichen Gesandten an mehreren deutschen Höfen, besonders in München, erwarb sich dessen Zufriedenheit, vertauschte aber, da er als Fremder und Protestant keine Aussicht auf Beförderung hatte, 1760 diese

Stelle mit einer ähnlichen bei dem Meining'schen Geheimrath und Kanzler von Eyben in Glückstadt.

Hier bewährte er sich als ein vorzüglicher Po­

litiker und fand Gelegenheit, die verschiedenartigsten Personen und Zu­

stände kennen zu lernen.

Die Empfehlungen und die großmüthige Unter­

stützung von Eybens, wohl auch die Gunst des Erbprinzen Friedrich August von Anhalt-Bernburg, eröffnete ihm den Weg nach Dänemark, und dem

Grafen Schack Karl zu Rantzau-Ascheberg hatte er es wohl zu verdanken, daß er nach Kopenhagen als Sekretär im Departement der auswärtigen

Angelegenheiten berufen wurde.

Er trat in diese Stelle zu Anfang des

Jahres 1764 ein, 1765 wurde er Kanzleirath und Sekretär in der deut­

schen Kanzlei.

Der leitende dänische StaatSminister Johann Hartwig

Ernst von Bernstorf (später in den Grafenstand erhoben) nahm ihn, ohne ^hn hierdurch dem öffentlichen Amte zu entziehen, in seine Dienste und sein HauS.

Die sechs Jahre, in welchen Sturz mit Bernstorf zu­

sammen arbeitete, waren die glücklichsten seines Lebens.

„Hier entwickelten

sich", wie es in dem biographischen Vorworte zu der zweiten Sammlung

seiner Schriften heißt, „seine Talente, er arbeitete unter den Augen eines großen Staatsmannes, und noch größeren Menschenfreundes, bekannt mit

Hof und Welt, vertraut mit den Musen, in stetem Umgang mit dem feinern und aufgeklärtern Theil der Welt bildete ihn sein Genie schnell zum Staats- und Weltmann, zum Künstler, Dichter, Schriftsteller."

Den

*) Nach bett gefälligen Mittheilungen des Herrn OherapPellatiouSgerichtSratheS Hoff­ mann.

Geist, in welchem Sturz die ihm übertragenen öffentlichen Aemter be­ kleidete, können wir, so weit die gedruckten Quellenschriften reichen, fast nur aus den „Erinnerungen an I. H. E. von Bernstorf*)" erschließen, in denen Sturz die Grundlinien eines Lebens- und Charakterbildes mit

ebenso feinem Sinne als künstlerischer Meisterschaft, freilich auch mit ver­ klärender Liebe gezogen hat**). Friedrich V. hatte im Jahre 1746 den Thron der vereinigten Kö­ nigreiche Dänemark und Norwegen, der ebenfalls vereinigten Herzogthümer Schleswig und Holstein und der Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst bestiegen. Durch das im Jahre 1660 erlaffene KöntgSgesetz hatte die Bürgerschaft und die Geistlichkeit einem übermüthigen und in sich entzweiten Adel die Theilnahme an der Regierung entzogen und den Königen die schrankenloseste Souverainität verliehen. Friedrich V. übte diese in den christlichen Staaten Europa's alleinstehende Gewalt mit

väterlicher Milde und Liebenswürdigkeit, die ihm den Beinamen des Guten erwarb. Doch blieb er in königlicher Selbstthätigkeit hinter seinen zwei nächsten Vorgängern zurück, und seine Regierung, die von ausge­ zeichneten Männern, wie Schulin, Holstein, Bernstorf geleitet wurde, kam bei vielem Trefflichen und Heilsamen, was von ihr ausging, auf manche

sehr bedenkliche Fehlgriffe. 1750 erhielt Johann Hartwig Ernst von Bernstorf die Leitung deS StaatSministeriumS. Die Verwaltung der einheimischen und auswärtigen Geschäfte durch Bernstorf nennt Sturz „eine Reihe menschenfreundlicher Thaten", und fügt hinzu: „Sein System in der Politik war . . . Friede, gutes Ver­ nehmen, wechselseitige Dienstfertigkeit, Wohlfahrt und Ruhm für'S Vater­ land, Vortheile auch für fremde Staaten. ...

Nie ward von ihm die

Heiligkeit der Verträge beleidigt und die gesetzmäßige Verfassung irgend eines Staates untergraben. Er erlaubte sich nie Unterdrückte zu verfol­ gen, um den Mächtigen zu schmeicheln, sich zum Sieger zu gesellen, um die Beute des Ueberwundenen zu theilen. . . . Dänemark hatte unter Bernstorf's Verwaltung mehr Einfluß, als zu irgend einer Zeit, in die

Selbst Staaten suchten seine Freund­ schaft, die kein natürliches Interesse dazu antreiben konnte; des Königs Name war ehrwürdig, auch an größeren Thronen, sein Rath wurde nie

großen Angelegenheiten der Welt.

ohne Achtung gehört und gab öfters zum Wohl fremder Völker den AuS*) Zuerst 1777 einzeln in Leipzig, dann ebendaselbst 1782, in der 2. Sammlung der Schriften veröffentlicht. **) Vergl. über Bernstorf die allgemeinen Urtheile von Wittig S. 55 — 57 und von Jenssen-Tusch S. 74.

schlag. ...

So lange Friedrich regierte, war Europa mit Dänemark

einig, dieß Reich genoß einer ungestörten Ruhe."

Zur Erhaltung der­

selben diente noch besonders der nähere Vertrag mit Katharina II. von Rußland, den Bernstorf nicht lange nach Christian's VII. Thronbesteigung (22. April 1767) herbeiführte.

Was die inneren Angelegenheiten betrifft, überflügelte Friedrich V. in der Sorge für Manufacturen, Fabriken, Handel und Schiffahrt seinen

Vater Christian VI. und

fand

hierin die eifrigste Unterstützung durch

Der Weg, den man zur Förderung der Industrie einschlug,

Bernstorf.

— derselbe, den die vorausgegangene Regierung verfolgt hatte, konnte freilich vor einer strengen nationalökonomischen Kritik nicht wohl bestehen. Man berief Ausländer und begünstigte sie auf alle Weise, man unter­ stützte sie durch Vorschüsse Schutzregal,

Privilegien,

aus der Staatskasse und bewilligte ihnen Aber die Nahrungsquellen des

Monopole.

eigenen Landes blieben unbeachtet, dagegen wurden strenge Verbote gegen die Einfuhr ausländischer Seidenzeuge, wollener Waaren, baumwollener Zeuge, fremden Getreides und vieler anderen Gegenstände erlassen, die

doch weit besser und billiger als die inländischen befunden wurden.

Hier­

durch kamen zwar die inländischen Fabriken und Manufakturen eine Zeit lang in bedeutenden Schwung; aber dieser Glanz war blendend und er­ künstelt und lastete schwer auf der allgemeinen Handels- und Nahrungs­

freiheit.

Die Handwerker blieben hauptsächlich durch das Zunftwesen auf

niedriger Stufe zurück; aber die Regierung begann, dieses Joch zu er­ leichtern.

Auch dem Handel und der Wissenschaft widmeten Friedrich V.

und Bernstorf ihre eifrige Fürsorge.

Bernstorf erlebte nach Sturz „die

Freude, daß Dänemark seine Geschäfte immer mehr unmittelbar trieb und

sich aus der Gewalt eigennütziger Unterhändler riß.

Es hört zu seiner

Zeit auf, den Hansestädten zinsbar zu sein; es holt nun seine Bedürfnisse selbst auS allen Häfen der Welt, und Norwegen führt seinen Ueberfluß

auf eigenen Schiffen fremden Käufern zu.

Auch die Frachtschiffahrt nahm

unter seiner Verwaltung durch seine Aufmunterung zu. . . .

Kein Zweig

deS Handels hat sich schneller in dieser Zeit auSgebreitet, als der west­ indische Handel.

Die dänischen Inseln dieses

Welttheils schmachteten

unter der auszehrenden Gewalt einer Compagnie, die gemeiniglich ihre Colonien wie eroberte Länder behandelt, und sich mit keiner Ernte be­

gnügt, sondern Beute verlangt.

Der Zuckerbau gieng langsam von statten,

und der größte Theil dieser freigebigen Erde lag unbevölkert imb öde,

als Friedrich V. sich zur königlichen Handlung ohne Beispiel entschloß,

der Gesellschaft ihr ausschließendes Recht abzukaufen und seinen Unter­ thanen die Freiheit dieses Handels zu verleihen.

Nun erwachten die ver-

schlossenen Kräfte der Natur; die Freiheit goß neues Leben in die Ge­ schäftigkeit der Colonisten

und der Kaufleute des mütterlichen Landes.

Der Anbau und die Ausfuhr nahmen verhältnißmäßig zu."

Aber im

Allgemeinen fehlte es gerade an dieser Freiheit, dem Nerv des Han­ dels, und man beeinträchtigte ihn durch vorwaltend monopolistischen Be­ trieb.

Kopenhagen wurde auf Kosten deS Landes künstlich gehoben, aber

schlecht verwaltet. Friedrich V. und sein Staatsminister gründeten WohlthättgkeitSan-

stalten, und Bernstorf leitete die Versorgung der Armen.

Vortrefflich

war daS von Friedrich gestiftete HoSpital, das von Bernstorf und den

durch ihn gewonnenen Arzt von Berger,

„den Freund aller leidenden

Menschen", eingerichtet und mit einer Anstalt zur unentgeltlichen Geburts­ Zu ChristianShaven wurde ein dem Unterrichte

hilfe verbunden war.

dürftiger Knaben gewidmetes ErziehungShauS von Friedrich'S Regierung

in'S Leben gerufen.

Christian VII. gesellte diesen Anstalten das allge­

meine Hospital unter Bernstorf'S Verwaltung zu.

Auch die prächtigen

und bequemen Heerstraßen in Seeland und die Postanstalten in Holstein

verdankte man Bernstorf'S Anregung.

Die ihm insbesondere übergebene

Verwaltung der deutschen Provinzen wurde von allen Ständen gesegnet. —

In seiner Zeit erschien eine Menge von heilsamen Verordnungen über Gerichtsbarkeit, Handel und Medicin.

Bon den Richtern verlangte er die

Ausgleichung der Gerechtigkeit mit der Humanität, und nie erlaubte er

sich, in ihre Entscheidungen einzugreifen. Ueber die Stellung des Ministerpräsidenten zu den Fragen der Re­

ligion, die in Dänemark durch herrschsüchttge lutherische Priester vertreten wurde, bemerkt Sturz:

„Er verlangte, daß die herrschende Religion in

ihrer Reinigkeit gehalten werden sollte, weil Bernünftelei und Polemik den großen Haufen nicht bessert; aber darum war er keinem Zweifler ge­

hässig, nicht gegen ihre Verdienste unempfindlich.

ES fiel seinem Herzen

nicht schwer, Orthodoxe und Irrende zu ehren, den erleuchteten Cramer zu

lieben und den redlichen Basedow zu schätzen, die aufrichtigen Anhänger

aller Religionen als seine Brüder zu ertragen." Eine düstere von Sturz unerwähnt gebliebene Seite der dänischen

Zustände gewährt immer noch daS Schicksal der unter Christian VI. auf

alle Weise gedrückten Bauern (von denen allein die norwegischen ausge­ nommen waren).

Sie hatten es unter Friedrich V. in Hofdienst und

persönlicher Freiheit nicht besser; ja die Gebundenheit an die Scholle wurde im Jahre 1764 noch verstärkt, und zur Verschlimmerung des von

den Bauern zu erduldenden Looses trug der 1765 begonnene und bis 1776 fortgesetzte Verkauf der Krongüter bei,

der viele Pachthauern auS den

milden Händen der Könige in den Besitz unbarmherziger Gutskäufer übet*

gehen ließ.

Die Bauern, also der größte Theil des Volkes, schmachtetm Der Hofdienst, die Feldgemeinschaft, die Em-

in Armuth und Elend.

richtung des Zehnten in Garben stellten der Verbesserung des Ackerbaues unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. nahm

Die Bevölkerung des Landes

freier Grundbesitzer wurde

von Jahr zu Jahr ab; die Anzahl

immer kleiner; mit der Armuth wuchsen Laster, Aberglaube, grobe Un­ wissenheit, Sklavensinn, stumpfe Gleichgiltigkeit.

Die Vorschulen blirbe»,

großentheils wohl durch die Schuld der adeligen Grimdbesitzer, trotz dein

guten Willen der Regierung sie zu heben, auf der niedrigsten Stufe. —

Doch regte sich unter Friedrich V. im Volk und in der Regierung ein Geist, der an den Ketten des Bauernstandes rüttelte.

Nach dem schönm

Vorgänge der verwittweien Königin Sophia Magdalena, die hierin dm

Eingebungen des älteren Grafen Stolberg folgte, ließ Bernstorf im ?ahre

1764, von

seinem Neffen Andreas Peter

bewogen,

auf seinem Aule

Bernstorf bei Kopenhagen die Länder auftheilen imb gab sie den Bauem

in erblicher Pacht,

mit Dienst- und Zehntenfreiheit.

„Schnell dickten

sich", wie Sturz bemerkt, „Heiden mit fröhlichen Saaten; neue Pflanzmgen

stiegen hervor; anstatt dürftiger Hütten in elenden Dörfern würd« die

Gegend mit angenehmen Wohnungen geschmückt, in welchen glückliche Säter ihre Kinder den Namen ihres Wohlthäters lehrten."

Andere

ahmten

diese würdigen Beispiele nach. Der Bürgerstand entwickelte in dieser Zeit eine viel geringere Le­

bendigkeit und Selbständigkeit, als in irgend einer früheren Period, der

dänischen

Und

Geschichte.

daneben

ging

unter

Christian VI.

und

Friedrich V. eine außerordentliche Ueppigkeit in der Lebensweise, in der

Kleidung und im Hausgeräthe von Hof und Adel auf die reichen und

vornehmen Klassen des Bürgerstandes über.

Erschreckend ist

die unter Friedrich'S V.

wachsende Staatsschuld.

Regierung

lawinemrtig

Die Gründe hiervon lagen in den außerorvenl-

lichen Anstrengungen, die in der letzten Zeit dieses Königs zum Shutze

des Reiches nicht vermieden werden konnten, in unüberlegten und ver­

schwenderischen Ausgaben und in der mangelhaften Erhebung und Über­ wachung der Einnahmen.

der

Gesammteinnahme.

Der prächtige Hofhalt verschlang ein Finftel

Beim

Tode Friedrich'S V.

beliefen sich die

Passiva des Staates auf zwanzig Millionen Thaler, wobei die schwelende Schuld nicht mitgerechnet ist und die Zinsen waren von Hunderttalsend

auf Neunmalhunderttausend Thaler gestiegen. Das Heer befand sich

in einer traurigen Verfassung.

Die mge-

heuere Menge von StaatSdienern rekrutierte sich aus dem Lakaienyum,

wobei auf höhere Bildung, wie sich

nommen wurde.

denken läßt,

wenig Rücksicht

ge­

Die Mehrzahl der Besoldungen war lächerlich klein; die

der hohen Beamten stieg bis zu einem riesigen Umfange.

Diese Männer

verstanden es, bei der geringen persönlichen Theilnahme des Königs an den eigentlichen StaatSgeschäften eine Oligarchie zu bilden, die sich im thatsächlichen Besitze der Souveränetät befand.

Der bis in die untersten

Schichten verbreiteten Titel- und Rangsucht wurde von oben mit der

größten Bereitwilligkeit nachgegeben. Der Adel, hauptsächlich der zum Staatsdienste neugeschaffene und der

herbeigczogene deutsche, erhob sich unter Friedrich V. zu einem seit dem

I. 1600 unbekannten Ansehen und Einflüße. folgte er dem Beispiele des französischen Hofes.

In seiner Art zu leben Ueber die Stellung, die

Bernstorf zum Adel einnahm, drückt sich Sturz in diplomatischen Wen­ dungen auS: „Der Adel war ihm ein ehrenvoller Stand, der den Thron

eines Monarchen verherrlichte.

Er vermuthete gern erbliche Tugend bei

den Nachkommen berühmter Vorfahren, und er gab ihnen früh Gelegen­ heit, um die Ansprüche ihrer Geburt zu erfüllen, aber er verlangte Proben

eines feurigen Eifers, des großen Namens würdig zu fein, der, wenn er die Verdienste deS Enkels umstrahlt, gewiß auch kein schwächeres Licht über seine Fehler verbreitet.

Doch ehrwürdiger erschien ihm der Mann,

der durch rühmliche Thaten der erste eines dunkeln Geschlechts war, der

allein,

ohne Reize der Geburt und des Beispiels die hohe Bahn der

Tugend ging, der, nach unbekannten Vorfahren, großen Nachkommen die Laufbahn der Unsterblichkeit öffnete." Daß eS einem hochverdienten Manne wie Bernstorf nicht vergönnt

war, die im Staate aufgehäufte Centnerlast von Uebelständen auf einmal hinwegzuräumen, kann ihm nicht zum Vorwurfe gemacht werden.

vielseitige und tiefe Einsichten,

Er hatte

wurde vom besten Willen geleitet und

schaffte mit rastloser, aufopferungsvoller Hingebung für das Vaterland.

Er folgte einem besonnen voranschreitenden, von religiösen und sittlichen Ideen, von Menschenliebe und Gewissenhaftigkeit durchdrungenen Libe­ ralismus, der mit den bestehenden Verhältnissen vorsichtig bis zur Aengstlichkeit, aber uneigennützig rechnete.

Unter den Zierden seines HerzenS und Lebens finden wir eine groß­

artige im Stillen geübte Wohlthätigkeit.

und Zärtlichkeit,

ergeben war.

Auch gedenkt Sturz der Treue

mit der Bernstorf seiner Gattin und seinen Freunden

Die ganze Liebenswürdigkeit deS cdeln Mannes entfaltete

sich in dem engeren Kreise, der sich spät Abends nm ihn versammelte.

„Klopstock und Cramer", sagt Sturz, „gehörten mit zu diesem glücklichen

Cirkel.

Wir hingen alsdann an Bernstorf'S Mund und labten uns mit

Sokratischer Weisheit.

Hier entfaltete sich sein Herz und sein Geist; der

Schleier der Würde fiel nieder und die erhabene Seele glänzte in ihrer eigenthümlichen Schönheit; wir verließen ihn nie, ohne wärmer für die Tugend zu empfinden, ohne unterrichtet und gebessert zu sein." Durch diese Abendversammlungen wurde Sturz dem deutschen Lite­

raturkreise Dänemark's zugeführt.

Im PalaiS des Ministers, auf

dem nach ihm geheißenen Landgut, und im nahegelegenen Lingby verkehrte Sturz mit Klopstock, dem

Bernstorf'S,

I. A. Cramer,

Gerstenberg,

I. E. Schlegel,

Hausgenossen

von Berger, G. Chr. Oeder,

Basedow,

Schönborn, den Jünglingen K. F. Cramer, Christian und Friedrich Leo­ pold Grasen zu Stolberg u. a. m.

Die Wissenschaften und Künste wurden von Friedrich V., Bernstorf,

I. E. Holstein, A. G. Moltke und Erich Pantoppidan mit Liebe gepflegt und gefördert.

Eine Menge ausländischer, namentlich deutscher und fran­

zösischer Gelehrten wurde von Bernstorf in Dänemark angestellt und er­

freute sich in wichtigen Unternehmungen seines Beistandes.

Mil den be­

rühmtesten unter ihnen führte er einen lebhaften Briefwechsel. Am Hofe und überhaupt in den vornehmen Ständen herrschte lange

schon deutsche Sprache, deutscher Geist und Ton.

Die Armee wurde

nach deutschen Dienst- und ExercierreglementS gedrillt und commandirt,

und die Kriegsverhöre und Kriegsgerichte wurden

protokollirt.

in deutscher Sprache

Schon vor Struensee, zu dessen Untergang die Mißachtung

der Landessprache wesentlich beitrug, finden wir dänische Minister, wie

Schulin, Berkentin, Ahlefeld-Dehn und Bernstorf selbst, viele hohe Beamte

und Offiziere, die kein Dänisch verstanden; nur die Angestellten der Ma­ rine bildeten hierin eine durchgreifende Ausnahme*).

nünftig und so

gescheidt,

Sturz war so ver­

sich das Dänische in Zeit von einem halben

Jahre anzueignen**). — Aber schon unter Friedrich V. begann der fran­

zösische Geschmack die Oberhand zu gewinnen.

Auch der König und

Bernstorf waren ihm zugelhan.

Dennoch schaarten sich um Bernstorf die Häupter deS in Dänemark eingebürgerten deutschen LiteratenthumS. Von seiner Gesandtschaft in Paris

zurückgekehrt, empfahl er den Messias dichter dem Grafen von Moltke und durch ihn dem Könige.

Nach Kopenhagen mit einer Pension berufen,

ließ Klopstock sich dort im I. 1751 nieder.

Auf seine Empfehlung bei

dem "Grafen Moltke wurde sein Jugendfreund Johann Andreas Cramer 1754 als Hofprediger des Königs nach Kopenhagen berufen.

*) Vgl. v. Jenssen-Tusch S. 72 s. 124. *») Merzdorf S- öl.

Eine her-

vorragende Stellung nahm in dem dänisch-deutschen Literatenkreise Hein­

rich Wilhelm von Gerstenberg aus Tondern in Schleswig ein, der bis zum I. 1766 als Rittmeister im dänischen Heere diente,

1768 von

Bernstorf in die deutsche Kanzlei ausgenommen wurde und bis zum I. 1775 verschiedene Beamtenstellen in Kopenhagen bekleidete*).

In dieser literarischen Colonie erstarkte,

besonders auf Anregung

Klopstock's, die Liebe zum deutschen Vaterlande im Gegensatze der

Fremde.

Wenn auch Männer wie Gerstenberg, Klopstock und Sturz den

altskandinavischen Literaturdenkmälern, besonders den beiden Edden (an

deren Entstehung Dänemark übrigens keinen Antheil nachweisen kann) ihre

lebhafte Aufmerksamkeit zuwandten, und jene beiden Dichter sie in einzel­ nen ihrer Werke reproducirten, so schienen die eingebürgerten deutschen

Schriftsteller sich doch um die neuere dänische Literatur wenig bekümmert zu haben, und, so viel unS bekannt, war Johann Elias Schlegel (seit

dem I. 1743 in -Kopenhagen) der einzige von ihnen, der von dem unter Friedrich V. neuauflebenden inländischen Theater Notiz nahm. Aus den Umgang mit Klopstock legte Sturz einen vorzüglich hohen Werth; „als ich im Hause des unsterblichen Bernstorf'« mit ihm lebte",

sagt Sturz in seinem trefflichen Aufsatze über den Dichter**), „mein Herz mit ihm theilte, über alle Wünsche glücklich war unter den besten edelsten Menschen — heiterer Morgen einer trüberen Zukunft! — Meine Be­

kanntschaft mit Klopstock bildete sich schnell, und in sieben unvergeßlichen Jahren

(1764—71)

sind,

außer

einer achtmonatlichen Reise,

Tage verflossen, worin wir uns nicht sahen.

wenige

Nie hat in dieser Zeit ein

Wölkchen Laune unsere Freundschaft umdämmert; denn auch als Freund ist Klopstock Eiche, die dem Orkan steht.

Gegenwärtig, fern von ihm, oder in täuschenden Schatten, er verkennt seine Freunde nie."

Sturz trat im I.

1767 mit seinen zwei ersten Schriften in die

Oeffentlichkeit ***), den „Menächmen", worin er eine schlechte Kopenhagener Wochenschrift verspottete, und dem fünfaktigen Trauerspiele „Julia" mit

einem „Briefe über das deutsche Theater an die Freunde und Beschützer desselben in Hamburg".

In den „Menächmen" finden wir nichts als

einen schülerhaften Versuch im komischen und humoristischen Gebiete; doch

enthalten sie einzelne literarhistorisch nicht uninteressante Ausfälle auf die

*) Vgl. Sturz' Schriften I, 184. **) Sturz' Schriften I, 180 ff. ***) Schriften II, 21 ff. 153 ff.

hereinbrechende Genieperiode.

„Julia" ist ein mittelmäßiges Stück; aber

der ihm vorausgehende Brief über das deutsche Theater zeigt den Pro­ saisten in seiner vollen Reife und ist ein sehr beachtenSwerthes Denkmal

unserer Literaturgeschichte, auf das wir zurückkommen werden. Das folgende Jahr entrückte den geistvollen Schriftsteller auf eine Reihe von Monaten der gewohnten amtlichen Thätigkeit in Kopenhagen

und dem literarischen Freundeskreise und eröffnete ihm einen weiteren

Spielraum für die Gewinnung von Lebenserfahrungen, von geistigen An­

regungen und namentlich für die Einleitung bedeutender persönlicher Be­

kanntschaften.

In den Verhältnissen Dänemark's war inzwischen eine un­

glückliche Wendung eingetreten, die im weiteren Verlaufe auch für Sturz

beklagenöwerthe Folgen herbeiführte.

Am 14.Januar 1766 starb Friedrich V. Dessen Sohn Christian VII. bestieg, erst 17jährig, den Thron, — ein talentvoller, aber physisch und moralisch tief heruntergekommener Mensch, der mit Caligula verglichen worden ist.

Die Minister seines Vaters, denen er die Regierung über­

ließ, hofften, durch eine passende Ehe ihn sittlich zu retten und das Land vor großem Verderben zu bewahren.

Bernstorf in

guter Absicht

Die Wahl, die hauptsächlich von

geplant wurde, fiel

auf die Cousine deS

Monarchen, die schöne, geistvolle und edelangelegte, um zwei Jahre hinter

ihm zurückstehende Prinzessin Karoline Mathilde, Schwester deS engli­ schen Königs Georg III. Aber in der Ehe, die Christian VII. im Spät­

herbste 1766 mit ihr schloß, enthüllte der junge König erst recht seine Er­ bärmlichkeit, stürzte daS Land in die größte Verwirrung und zerstörte daS LebenSglück, die Seelenreinheit und die Gewissensruhe des an ihn ge­ schmiedeten tiefunglücklichen Wesens.

Den lasterhaften, haltlosen, durch und durch blasirten, dem partiellen

Wahnsinn verfallenen Jüngling schickten die Minister auf Reisen, in der eiteln Hoffnung, ihn dadurch zu erfrischen und auf würdigere Gegenstände

hinzuleiten.

Die mit ihm versuchte moralische Kur schlug, obgleich sie

dem armen Land wenigstens anderthalb Millionen deutsche Thaler kostete,

gänzlich fehl.

Die Königin weinte bitterlich, als der neunzehnjährige

— Greis mit einem glänzenden Gefolge, in dem sich auch Sturz befand, am 6. Mai 1768 von ihr Abschied nahm.

Der wichtigste Vorgang auf

dieser Reise, von der Christian VII. und dessen Begleiter am 14. Januar

1769 nach Kopenhagen zurückkehrte, war die verhängnißvolle Bekannt­

schaft deS vr. Johann Friedrich Struensee, die der König am 6. Juli

1768 machte.

An diesem Tage wurde Struensee zu Flensburg in das

Gefolge Christian's VII. ausgenommen und erhielt einen Platz in dem

Wagen unseres Essayisten, hierdurch leitete sich zwischen beiden Männern

ein gesellschaftlicher Verkehr ein, der jedoch nie freundschaftlichen Charakter annahm. Sturz legte seine Erinnerungen an den längeren Aufenthalt, den die Reisegesellschaft in London und Paris nahm, in 12 geistvollen Briefen

nieder, die er wahrscheinlich nach manchen Umarbeitungen,

zuerst int

Deutschen Museum 1777, dann in der ersten Sammlung von Schriften

1779 veröffentlichte.

Zu den hervorragendsten

Bekanntschaften,

die Sturz in London

machte, gehörten Samuel Johnson, „der Koloß der englischen Literatur",

Garrick, mit dem er in eine nähere freundschaftliche Beziehung trat,

und Angelika Kaufmann.

Seine Aussprüche über Garrick, sowie in den

späteren Briefen über die Tragödie Clairon und über Preville,

„den

König der Crispine", in Paris zeugen von eingehendem Verständnisse und

feiner Beurtheilung der Schauspielkunst. Der fünfte in London geschriebene

Brief enthält sehr interessante Bemerkungen über den politischen Zustand

Englands unter Georg III.

In Paris besuchte Sturz

das Kabinet

Mariata'S, wo ihn zwei Federzeichnungen Rafael'S besonders

anzogen.

Er beschreibt sie, er beschreibt auch andere Stücke der Sammlung und

auf den früheren Blättern die Kunst Angelika'S mit congenialem, Winckel­ mannartigem Geist.

Er kam in die Cirkel der Madame Geoffrin, wo

sich d'Alembert, HelvetiuS, Marmontel, Marieta, Cohen, Soufiot, Bernet

und der liebenswürdige neapolitanische GesandschaftSsekretär, Abt Galiani

einzufinden pflegten.

Sehr lebendig ist die Schilderung D'Alembert'S, den Sturz in einem auserlesenen Cirkel der Mademoiselle de l'Espinasse näher kennen und von Herzen bewundern lernte*). Sturz begleitet diese Schilderung mit einer

Art von liberalem politischem Glaubensbekenntnisse:

„Unter Männern

dieser Gattung, und ihre Anzahl ist nicht klein, lernt man die Franzosen

anders schildern, als es unsere schreiblustige Jugend gewohnt ist.

Ge­

sunde nervige Philosophie, aufgeklärte Menschenliebe erheben

jetzo dreist ihre Stimmen, die Nation thut Riesenschritte, und

bebt, im Patrioteneifer, nicht vor dem Despotismus zurück. Freilich fällt es auf, daß die Regierung Wahrheit vorträgt, und ihr nicht

folgt. . . .

Aber die Aufklärung steigt nur allmählich empor;

lange harrt sie in der niedern Gegend.

Manche Staaten gleichen

den Alpengebirgen, wohlthätige Furchtbarkeit weilt in der Mitte, und die Gipfel bleiben kahl**)". Ebenso fesselnd, wenn auch nicht ganz klar, sind

*) S. 69 — 73. **) S. 73 f.

die Bemerkungen über HelvetiuS*), den Verfasser des materialistisch­

empirischen Werkes „vom Geiste".

Sturz ist über die Ungerechtigkeit des

Clerus gegen diesen ausgezeichneten Mann

empört.

Mit Lebhaftigkeit

versetzt er sich in dessen Ideen. Es ist aber nicht recht deutlich, inwieweit

Sturz ihnen beipflichtet oder sie bloß darstellt. Er gibt ihnen wenigstens

eine freundliche Auslegung, indem er sagt: „HelvetiuS, der Apostel des Eigennutzes, hat auch durch sein Leben die Meinung seiner Sätze erklärt: er ist ein wohlthätiger, großmüthiger Mann. . .

Ich will darum sein

Werk nicht vertheidigen; aber eins ist gewiß, nicht wenn er Eigennutz predigt, sondern nur alsdann ist er unleidlich, wenn er sich seiner Dialektik

überläßt, wenn er Witz und Paradoxie auskramt, wenn er Menschensinn und Erfahrung durch Anekdoten und Reisefabeln bestreitet; und so hat er

beinah, wider eigenes Vermuthen, alles justum und honestum von der Erde weg vernünftelt."

Nun folgt die Behauptung des HelvetiuS, der

sittliche Werth oder Unwerth einer Handlung richte sich nach deren Ge­

meinnützigkeit und stelle sich nach den Zeiten und Umständen verschieden dar. Sturz dagegen — und es ist doch wohl seine Ansicht, die sich nun­

mehr geltend macht — beruft sich auf die Unentbehrlichkeit gewisser Tu­

genden zur Erhaltung jeder Gesellschaft, auf die Werthschätzung, die ge­ wisse ihr zur Förderung dienende edle Eigenschaften auch bei jeder die Wüste durchziehenden Horde finden müsse.

mit Nothwendigkeit

Er verweist also auf einen

und Allgemeinheit unter den Menschen

sich geltend machenden sittlichen Trieb, zunächst als den Trieb

gesellschaftlicher

Selbsterhaltung.

Wir

empfangen

aber damit

nicht den vollen Ausdruck seiner auf religiösem Grunde stehenden Welt­ anschauung.

Ueber HelvetiuS' politisches Verhalten bemerkt Sturz:

„Wenn HelvetiuS in die Laune geräth, SarkaSmen zu sagen, so hört es sich angenehm zu, aber endlich wird er zu bitter, und ist ungerecht gegen

die Regierung und sein Vaterland.

Die Nation strebt augenschein­

lich empor; ihre besten Schriftsteller haben sich mit britischer

Kühnheit gegen Vorurtheile und Knechtschaft erklärt; Erleuch­ tung und Verträglichkeit nehmen zu.

Hingegen, wenn HelvetiuS

Recht hat, so ist die Nation zertreten unter'm eisernen Fuße der Tyrannei;

eine traurige Hilfe stehe ihr bevor, delenda est Carthago; sie muß die Beute eines fremden Eroberers, und ganz von Neuem gebildet werden." Auf Stürzens religiöse und politische Weltanschauung werden wir zurück­

kommen.

Die Gesellschaft, die HelvetiuS um sich versammelte, war ur­

sprünglich die der Madame Geoffrin; doch fanden sich bei ihm außerdem *) S. 75 ff.

noch der Chevalier Jnaucourt, der Abt Rahnal, der Dichter Saurin, Duclos, der Ritter Chatalz und Ausländer ohne Zahl ein.

Der Besuch deS Theatre Fran$ais, der das in dem

„Briefe

über daS deutsche Theater" gefällte Urtheil über das französische mehr zu Gunsten desselben, namentlich in Bezug auf die tragischen Leistungen

stimmte,

veranlaßt den Essayisten zu einigen werthvollen Bemerkungen

über die Comödie dieser Nation:

„Ich versäume Moliöre'S Stücke

nie, und finde das HauS gewöhnlich einsam und leer; ein schlimmes

Zeichen für den heutigen Geschmack.

In jeder Kunst giebt'S eine höhere

Stufe; dann wandert sie wieder bergab. DaS Lustspiel gehet nun zurück; keine neue Arbeit ist mit dem Menschenfeinde, dem Geizigen und dem

Tartuffe zu vergleichen.

Man hat zuweilen diese Meinung die Schutz­

rede der Ohnmacht genannt; die Sitten, sagt man, ändern sich täglich, und bieten also neuen Stoff zur Schilderung dar; aber wenn auch Ton und

Lebensart und Witz und Mode ewig wechseln, so erhält sich dennoch die Natur, welche immer die nämliche war; ihre großen Züge sind verbraucht.

In Frankreich trifft man jetzt nur auf Nuancen, auf Eigenheiten kleiner Cirkel, auf einzelne seltene Varietäten. Der Wohlstand richtet alle Geister

und Herzen nach Einem „Bierstückchen" ab.

Fülle gepflückt; sie lesen jetzt nur Früchte.

Ihre Meister haben in der

dürftig nach, und sammeln taube

In England ist noch die Menschengattung mannichfaltig, wie

Ihre*) Gärten; dennoch fehlte nicht viel, so hätte man auf der Bühne Ihre thätigen Briten in flache gallische Schwätzer verwandelt.

Darum

verdienen Sie den Dank Ihrer Zeit, daß Sie die elende Gattung ver­ drängen, und Shakespeare's nervige gesunde Natur wieder belebten durch ihre schöpferische Kunst."

Zu den hervorragendsten Bekanntschaften die Sturz in Paris machte, gehörte auch der spätere französische Minister Necker, damals Resident

deS Freistaates Genf, über den er sich mit großer Verehrung ausspricht

und Necker'S rühmlich bekannte Gemahlin.

Auf die Schilderung dieser

beiden Persönlichkeiten und ihrer sie umgebenden „Colonie aus Liliput" folgt ein beachtenSwertheS Urtheil über die Franzosen. Mit Garrick, Riccoboni,

HelvetiuS

und den Frauen Necker

und

Geoffrin unterhielt Sturz einen Briefwechsel.--------------Sturz wurde auf der Reise zum LegationSrath mit dem Rang eines

JustizratheS, 1769 zum Direktor im Generalpostamte mit 2500 Thalern Gehalt ernannt, behielt aber zugleich die ihm so liebe Stellung in der deutschen Kanzlei unter Bernstorf, der sich aus seinem Posten mehr als

*) Sturz' Schriften an Garrick. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 3.

je befestigt zu haben schien. Für Sturz eröffneten sich die Aussichten auf

eine glänzende Zukunft.

Bernstorf war ihm sehr geneigt; bei Hofe war

er durch gesellige und künstlerische Talente beliebt und er befand sich unter

anderem auf der am 18. Juni 1770 nach den Herzogthümern angetretenen Reise in dem herrschaftlichen Gefolge. Inzwischen hatte sich Struensee dem armseligen Könige so unent­ behrlich gemacht, daß ihn derselbe nach der Heimkehr zu seinem bestän­ digen Leibarzt ernannte. Im Frühjahr 1769 erfolgte die Ernennung zum

wirklichen Etatsrath. Im Sommer gewann Struensee das Vertrauen der

jungen Königin und wurde nun zum Vermittler zwischen ihr und ihrem

Gatten.

Die ursprüngliche Abneigung der hohen Frau gegen Struensee

verwandelte sich in schwärmerische Liebe. gewandten,

thatkräftigen

Durch

die Bemühungen deö

Emporkömmlings gelangte die bisher

Unter­

drückte zu einer schrankenlosen Herrschaft über den König. Struensee wurde

im Frühjahr 1770 an Einem Tage zum Vorleser des Königes und zum

Kabinetssekretär der Königin, gleich darauf zum Conferenzrath ernannt.

Sein familiäres, ja keckes Benehmen gegen beide Majestäten, die ausge­

lassene Heiterkeit der von dem Umgänge mit ihm entzückten jungen Frau weckten mit gerechter sittlicher Entrüstung zugleich alle bösen Geister deS

Neides und der Bosheit auf. Der König schloß die Augen zu der schmäh­

lichen Rolle, die man ihn spielen ließ.

Struensee's Verhalten zu der

Königin war um so frevelhafter, je weniger es von leidenschaftlicher Zu­

neigung, je mehr

es von den Berechnungen des Ehrgeizes

bestimmt

wurde*).

Struensee unternahm eS, den an vielen und schweren Wunden krank

darniederliegenden Staat zu heilen; er that dieß nicht langsam und mit besonnener Anknüpfung an die vorhandenen Zustände, sondern rasch und gewaltsam.

Für diesen Zweck verband er sich mit einem nichtswürdigen

und höchst gefährlichen Manne, dem Grafen Karl Schack von Rantzau-

Ascheberg, durch

den Sturz wohl nach Kopenhagen berufen war und

den zu Staatsgeschäften unfähigen Kammerherrn Enevold von Brandt, für den die Beschäftigung des physisch und moralisch zerstörten Königes

und

die Absperrung der Unterthanen von

partement auSersehen war.

ihm

als eigentliches

De­

Hauptsächlich von den beiden ersteren wurde

Bernstorf, den sie auf dem Wege ihrer kühnen Unternehmungen als

den härtesten Stein des Anstoßes betrachteten, auf die Seite geschafft.

Während Strumsee bei diesem Gewaltstreiche von persönlichem Haffe frei blieb, folgte Rantzau der Todfeindschaft gegen den Mann, durch den er

*) Wittich S. 51. 103. 109 f.

1768 in Ungnade gefallen und entlassen worden war, und der wilden Rachsucht gegen Katharina II., Bernstorf'S diplomatische Bundesgenossin.

Unter dem 4. September 1770 wurden drei königliche CabinetSbefehle er­ lassen,

die man später

nicht mit Unrecht Struensee'S Manifest gegen

Bernstorf genannt hat. Einer von diesen Befehlen verkündigte das Recht uneingeschränkter Preßfreiheit.

Bernstorf,

erzählt Sturz,

„hatte schon

lange die Absicht seiner Feinde entdeckt, ihn durch wiederholte Angriffe zu

reizm und zu irgend einem Schritt zu verleiten, der sie von dem Mann,

den sie haßten, befreite.

Endlich konnte er sich nicht verbergen, daß eS

ihnen gelungen, ihm das Vertrauen feines Monarchen zu entziehen. Aber sollte er ruhig sein Schicksal erwarten, oder dem Sturm, der ihm drohte,

entfliehen?"

Er beschloß, „den Posten nicht feig zu verlaffen, auf welchem

er als ein auserwähltes Werkzeug der Vorsehung stand, keinen Augen­

blick, der in seiner Macht war, zu verlieren, wo er dem Staat, oder auch nur einem Gliede desselben durch seine Arbeit nützlich sein konnte ...

Der Schlag kam seiner Erwartung zuvor.

Ich war der einzige Zeuge

dieses prüfenden Augenblicks." Durch ein königliches Schreiben vom 13. September 1771 wurde

Bernstorf mit einer Pension von 6000 Thalern seiner Ministerstelle ent­

hoben*).

Bernstorf hatte sich — fährt Sturz fort — „eben zur Arbeit

niedergesetzt, als er das Schreiben des Königs empfing, welches ihn den Staatsgeschäften entzog.

Er las es mit ernsthafter Stille und stand mit

einem Blick des Schweigens auf.

Ich bin meines Amtes entsetzt, sprach

er mit einem gesetzten bescheidenen Ton und fügte mit gen Himmel er­ hobenen Augen hinzu: Allmächtiger, segne dieß Land und den König!"

Bernstorf zog am 5. October mit seinem Freund und Hausgenoffen Kl o pflock aus der Hauptstadt; er ging nach Hamburg, später auf sein Gut Borstel in Holstein.

Die wenigen Tage, die er noch in Dänemark

zubrachte, wandte er „wie Sokrates an, um seine Freunde zu trösten.

Ihm entfiel keine Klage, nicht ein empfindliches Wort.

Er beschuldigte

niemand, er vertheidigte sich nicht, sondern ging, wie Scipio, aus der Versammlung seiner Ankläger, und dankte, statt aller Verantwortung,

Gott für alle Dienste, die er dem Staat geleistet hatte."

Er starb am

19. Februar 1772.

Auch die übrigen Minister wurden verabschiedet, keiner an ihre Stelle gesetzt.

Struensee und Rantzau theilten sich in die Geschäfte.

Aber da

Struensee die tollen Rachepläne des Grafen gegen Rußland vereitelte,

warf dieser einen glühenden Haß auf ihn. *) v. Jenssen-Tusch S. 74.

Brandt schmiedete aus ge-

kräiiktem Ehrgeize gegen Struensee verrätherische,

wenn auch ohnmäch­

tige Pläne. Durch eine in Uebereinstimmung mit Struensee von Rantzau ent­

worfene Akte vom 27. December 1770 wurde die förmliche Aufhebung des

Geheimconseils, „des ersten, des ehrwürdigsten und stolzesten aller Collegien", verfügt.

Dann vermochte Struensee den König, ihn am 14. Juli

1771 zum Geheimen Cabinetsminister mit einer bisher in Dänemark noch keinem Unterthan übertragenen Machtvollkommenheit zu ernennen*). End­

lich wurden Struensee und Brandt, nachdem der König jedem von ihnen zum Behufe standesgemäßer Einrichtung die Summe von 60000 Reichs­

thalern geschenkt hatte,

am 3. Juli

in den dänischen Grafenstand er­

hoben.

Die große Zahl neuer Gesetze und Einrichtungen, die Struensee in

einem Zeitraum

von anderthalb Jahren

mit fieberhafter Schnelligkeit,

ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung und die an ihn ergangenen Warnungen, auf die geschichtliche Entwicklung des Staates, auf die vor­

handenen Rechte des Einzelnen,

auf die Vorurtheile der höheren und

mächtigen, auf die Gewohnheiten, das Lebensgefühl, die Sprache der Be­

völkerung

von oben herab

dekretirte,

die Verletzung der herrschenden

kirchlichen Gesinnung durch einzelne Verordnungen und durch des liberalen Despoten bekannte enchklopädistische Ansichten, und nicht zum wenigsten die gerechte Entrüstung über sein Verhältniß zur jungen Königin, die

den

öffentlichen Anstand strafwürdig verletzte,

riefen

eine stets weiter

um sich greifende und immer gefährlichere Opposition, zuerst der Geist­

lichkeit und des Adels,

dann auch des Offizierstandes, der zahlreichen

CivilstaatSdiener, selbst der untersten VolkSclassen, die dem kühnen Re­

formator wohl den meisten Dank schuldeten, gegen ihn hervor.

Vom

Glücke verzärtelt, übersah er die Nothwendigkeit, sich mit einer kräftigen und zuverlässigen Partei zu umgeben, und zuletzt stand er mit der Königin

fast allein. Die von ihm gegebene Preßfreiheit wurde zu den boshaftesten Agitationen gegen ihn benutzt, und als im September des I. 1771 eine königliche Verordnung die bisherige Straflosigkeit für Mißbräuche der

Presse widerrief, die anonymen Drucksachen verbot und die Verfasser oder die Buchhändler einer schweren Verantwortung unterwarf, da war eS zu

spät.

Unerhörte Gerüchte liefen um: Der „gute" König werde als Ge­

fangener bewacht, ja geradezu mißhandelt; Struensee gedenke ihn abzu­ setzen, die Königin zu heirathen und sich selbst der Krone zu bemächtigen.

Die ihm drohende äußerste Gefahr konnte ihm, bei aller Selbstverblen-

*) v. Jenssen-Tusch S. 115 f

düng, nicht immer verborgen bleiben; er wollte ihr trotzen. Aber schon das Wetterleuchten des herannahenden Gewitters fand ihn zaghaft. Graf

Rantzau, durch feine Theilnahme an der mörderischen Palastrevolution gegen den russischen Kaiser Peter III. vorgeübt, zettelte gegen Struensee und die junge Königin mit dem EtatSrath und Professor Guldberg, der Königin-Mutter Juliane, dem Erbprinzen Friedrich u. a. eine Verschwörung zur Rettung der Monarchie an. Sturz hatte die fteundliche Verbindung mit Struensee nicht abge­ brochen, zumal da auch Bernstorf, trotz den schon im I. 1770 an ihn gerichteten Warnungen, für Struensee eingetreten war. Als der Leibarzt Berger, Stürzens alter Freund, auf der Reife, die der Hof im Juni dieses Jahres in die deutschen Provinzen machte, mit Struensee zerfiel, wurde Sturz nur durch Bernstorf'S ausdrücklichen Befehl abgehalten, den Verkehr mit Struensee gänzlich aufzuheben. Im Sommer des I. 1771 wurde Sturz auf dem Schlosse Hirschholm, wohin sich der Hof zurückzog, fast täglich in die Gesellschaft des Königes und der Königin berufen, gewiß nur um seiner Unterhaltungsgabe und seiner künstlerischen Talente willen. Hier wurde er beauftragt, die junge Königin zu malen, und dieses Bild empfing Struensee von ihr zum Geschenke, — ein Umstand, der später zur Verdächtigung deS Meisters benutzt wurde. Bernstorf, der auf einen baldigen Umschwung der Verhältnisse rechnete, erlaubte seinem Schütz­ linge nicht, daS Exil mit ihm zu theilen. Aber Sturz gab seiner Miß­

billigung deS gegen Bernstorf geführten Streiches unverhohlenen Ausdruck, und er führte mit ihm eine lebhafte Correfpondenz. Er wurde zwar aus der deutschen Kanzlei entlassen, behielt aber die Postdirektion und trat in mehrere Commissionen ein. Die Verlobung, die er noch im I. 1771 mit der dritten Tochter des dänischen Majors de la Garde schloß,

mag ihn hauptsächlich bestimmt haben, mit größerer Vorsicht aufzutreten

und die Erhaltung seiner Aemter nicht auS den Augen zu verlieren. Er suchte den schrankenlos waltenden Günstling und dessen Anhang für seine Person unschädlich zu machen, erwies ihnen künstlerische Gefälligkeiten und folgte ihren gesellschaftlichen Einladungen. Dennoch trat er, sobald er damit nützen zu können hoffte, für seine Ueberzeugung ein. Als Struensee

dem hochverdienten Bernstorf die vom König ihm gewährte Pensioir ent­

ziehen wollte, richtete Sturz an den Uebermüthigen ein höfliches, aber nachdrückliches Schreiben, durch das er den empfindlichen Verlust von seinem Beschützer abwandte.

Sturz gedachte den 24. Januar 1770 seine Vermählung zu feiern.

Aber schon in der Nacht vom 16. auf den 17. explodirte die von Struensee'S Feinden gegrabene Mine. Sie zertrümmerte das Glück, das Sturz

in Dänemark sich aufgebaut hatte, und das er unter Struensee'S Regie­ rung zu bewahren, auch wohl nach Bernstorf'S Wiedereinsetzung zu stei­ gern hoffte.

In dieser SchreckenSnacht drangen die Verschworenen in daS Schlaf­ zimmer des Königs ein und erpreßten von ihm Haftbefehle gegen die junge Königin, gegen Struensee und dessen wirkliche

oder angebliche

Freunde. Struensee und Brandt wurden in die Citadelle, Caroline Ma­ thilde nach Cronborg bei Helsingör gebracht.

Noch in der Frühe des 17.

folgten weitere Verhaftungen.

„In Struensee's Fall", sagt Merzdorf, wurden „Schuldige und Un­ schuldige, Betheiligte und Unbetheiligte verwickelt",

„mitleidlos rächten

sich politische und persönliche Feinde; der leiseste Verdacht genügte, um den Unvorsichtigen zu Falle zu bringen.

Auch Sturz wurde von diesem

Schicksale erreicht, er, der so wenig sich betroffen meinte, daß er seine

Papiere bei sich behielt und gleich nach Struensee's Fall mit Carstens und Schumacher an die Wiedereinsetzung I. H. E. Bernstorf'S dachte."

Aber gerade seine unvorsichtigen Bemühungen zu Gunsten dieses Mannes scheinen die neue Regierung besonders gegen ihn erbittert zu haben. Am

26. Januar empfing er folgende Cabinetsordre: „Da ich nicht mehr Ihrer Dienste bedarf und schon auf andere Weise über Ihren Posten als Post­

direktor verfügt habe, so haben Sie Sich von jetzt an nicht mehr mit den Geschäften zu befassen.

Ich bewillige Ihnen für die Zeit, bis Sie auf

andere Weise in meinen deutschen Provinzen placirt worden, die Pension,

wie solche der Etatsrath Holm bis jetzt genossen hat" (500 Thaler). Am folgenden Tage wurde Sturz von zwei Offizieren auö der Wohnung seiner Braut geholt und bei hellem Tage unter Pöbelgeschrei nach der Haupt­ wache geführt, wo man ihn und seine Mitgefangenen wie Verbrecher be­

handelte.

Die

am

21. Januar

niedergesetzte

Jnquisitionscommission

brachte ihn am 5. Mai, nachdem er vier Monate eine schmachvolle Ge­ fangenschaft erduldet hatte, in die Rubrik derjenigen Angeklagten, gegen

welche die geringsten Verdachtsgründe vorlagen. Die Kabinetsentschließung

vom 18. Mai erklärte: „Nur auS besonderer Gnade hat der König für dieseSmal Ihr unvorsichtiges, unbedachtsames und strafwürdiges Verhalten

nachgesehen, seien Sie aber hiermit verwarnt, nun nicht durch Wort oder

Schrift Veranlassung zu größerem Verdachte zu geben, da Sie sonst zu weiterer Untersuchung gezogen werden würden und Sie des Königes end­

licher Ungnade gewärtig sein müßten."

Am 19. Mai wurden diese am

wenigsten Verdächtigen auf freien Fuß gesetzt, und erhielt Sturz den Be­ fehl, nach Holstein zu gehen; er sollte aber nicht mehr als das ihm zu­ erkannte Jahrgehalt von 500 Thalern beziehen, den er an einem seelän-

dlschen Orte zu verzehren habe.

Man gestattete ihm die Uebersiedelung

nach Uetersen in Holstein.

Zu Anfang des April war Karoline Mathilde von Christian VII.

geschieden und am 28. waren Struensee und Brandt schmachvoll hin­

gerichtet worden.

Im Mai erhielt die unglückliche Königin ihren Auf­

enthalt auf dem Schloß in Celle, wo sie im Frühlinge des I. 1775 starb. Nachdem Klopstock sich im I. 1771 in Hamburg niedergelassen hatte,

I. A. Cramer als Superintendent nach Lübeck übergesiedelt war, verließ auch Sturz die ihm zur Heimath gewordene dänische Hauptstadt.

Der

früher so heitere Mann wurde durch den furchtbaren Umschlag seines Ge­ schickes bis in die tiefsten und feinsten Lebenswurzeln erschüttert und ver­

fiel in einen Trübsinn, den er wohl niemals völlig überwinden konnte.

Seine düsteren Lebenserfahrungen sprechen hauptsächlich

aus

einer

Note zu seinen „Denkwürdigkeiten von Johann Jakob Rouffeau"*): „Wer, in seiner goldnen Mittelmäßigkeit, unbemerkt durch das Leben schleicht, begreift

Rousseau'S Menschenfeindschaft nicht, oder findet sie übertrieben; aber lernt euer brüderliches Geschlecht an Höfen, lernt eure Nebenbuhler im Amt,

im Verstand, im Glücke kennen, erhebt euch durch irgend ein Verdienst, und glaubt in der Unschuld eures Herzens, daß man euch liebt und schätzt,

weil man euch umlächelt und umarmt.

Wenn endlich unter euch der

Boden wegsinkt, durch freundliche Mörder untergraben — dann seht, wie

sich eure Freunde retten, als vergiftetet ihr die Luft; wie eure Clienten euch für genossene Wohlthaten anspeien;

ertragt deS Glücklichen stolzes,

niedertretendes, erwürgendes Mitleid, und liebt die Menschen, wenn ihr könnt."

Einsam trauernd verlebte Sturz den Sommer 1772 in Uetersen. Dann wohnte er bald in Glückstadt, bald in Altona, kam auch von Zeit

zu Zeit nach Hamburg, aber ohne einen dortigen Bekannten aufzusuchen.

1773 wurde er zum Regierungsassessor

mit

einem

Gehalt

von

800 Thalern in Oldenburg, einer Art von dänischem Sibirien, ernannt. Hier trat er noch in demselben Jahre, als der bisherige Fürstbischof

von Lübeck, Herzog Friedrich

August von Schleswig-Holstein-Gottorp

souveräner Herzog von Oldenburg wurde, in dessen Dienste über. Durch zweimalige Zulagen wurde sein Gehalt bis auf 1200 Thaler gebracht. 1775 erhielt er den EtatsrathS-Titel.

1774 hatte Sturz endlich das langersehnte Ziel der ehelichen Ver­ bindung mit seiner in Kopenhagen zlirückgelassenen Braut erreicht.

Seine

Gattin schenkte ihm zwei Kinder, von welchen das jüngere ein Vierteljahr *) Schriften I, 133 f.

vor ihm starb; die Geburt des dritten sollte er nicht mehr erleben.

Das

Glück dieser Ehe, daö freundschaftliche Zusammenleben mit Gramberg, von Halen, dem Grafen von Holmer, Order in einer und derselben Stadt und die zeitweise Gegenwart Friedrich Leopold Stolberg'S warfen er­

heiternde Lichtstrahlen in sein Gemüth.

Aber die Trostlosigkeit seines

Aufenthaltes, die ungestillte Sehnsucht nach einem weiteren Felde staats­

männischer, insbesondere diplomatischer Beschäftigung, wie es in Kopen­ hagen ihm

offen gestanden,

die dort gemachten harten Erfahrungen,

finanzielle Sorgen beugten ihn tief und nagten an seiner Gesundheit.

Im Sommer 1776 machte Sturz eine Privatreise nach Gotha.

Bei

dieser Gelegenheit suchte er den Verfasser des Buches über die Einsam­ keit, I. G. Zimmermann in Hannover auf, der seine Bekanntschaft mit

und Leisewiz vermittelte,

Brandes

und führte ihn ein kurzer Ausflug

nach Pyrmont mit Boje zusammen, mit dem er schon längere Zeit cor-

respondirt hatte. Amtsgeschäften

AlS er die Monate Mai bis August des I. 1778 in in Hannover weilte,

benutzte

er diese Gelegenheit

zu

einem achttägigen Ausfluge, den er mit Boje nach Braunschweig und Wolfenbüttel machte.

In Wolfenbüttel hielt er sich bei Lessing auf.

In

Hannover lebte er im Kreise Zimmermann'S, Brandes', Rehberg'S, bei

dem er wohnte, u. a. Schon längere Zeit krank,

Bremen.

reiste

Sturz im October 1779 nach

Hier empfing er Briefe aus Dänemark, deren Inhalt ihn bis

zur Ohnmacht rührte; vielleicht hätten sie ihm neue und erfreuliche Aus­

sichten eröffnet; zu spät, — nach zwei Tagen ergriff ihn ein bösartiges Fieber.

Am 12. November starb er in Bremen.

Bei den traurigen Vermögensverhältnissen, die er zurückließ, wandte sich Graf Holmer an F. L. von Stolberg mit der dringenden Aufforde­ rung, der Wittwe des Freundes, den Guldberg zur Wiederberufung nach Kopenhagen ersehen, dort eine Pension auszuwirken.

Stolberg erlangte

diese Unterstützung durch I. H. E. Bernstorf's Neffen Andreas Peter

Bernstorf.

Stürzens Wittwe kehrte mit den Ihrigen nach Kopenhagen

zurück. —

Merzdorf gibt dem unglücklichen Manne das schönste Zeugniß, indem

er sagt*):

„Der Adel seiner Seele und die Güte seines Herzens riefen

für ihn das seltene Glück hervor, allgemein geschätzt und geliebt zu sein."

Daß

er aber die Lieb- und Ehrlosigkeit anderer Menschen erfuhr und

schwer dadurch gekränkt wurde, lehrt uils die oben angeführte Stelle aus seinen: „Denkwürdigkeiten von I. I. Rousseau". *) S. 51.

Das Lebensbild, so wett es nach den bis jetzt durch den Druck zugSnglichen Quellenschriften von ihm ausgeführt werden konnte, zeigt uns

einen ehrenwerthen Staatsmann. Seine politische Gesinnung und Mchtung dürfen wir nach den in seinen Schriften enthaltenen Aussprüchen und nach seinem vertrauten Zusammenleben und gemeinschaftlichen Wirken mit Bernstorf als freisinnig, aber zugleich an daS Bestehende anknüpfend und den allmähltgen Fortschritt erstrebend, als liberal-conservativ be­

zeichnen.

Den von einem solchen Geiste durchdrungenen, oben mitge­

theilten Aussprüchen seiner Reisebriefe über D'Alembert und HelvetiuS möge zur Ergänzung der kleine Aufsatz „Ueber den Vaterlands­ stolz"*) beigefügt werden: „Du bist ein Deutscher. Wohlan, sei stolz auf deinen Hermann, auf den Helden Friedrich, aus Katharina, die Wohl­

thäterin der Menschen! Nenne Leibniz, Klopstock und Lessing der Nach­ welt! Nenne Deutschlands Erfinder, wenn England seine Darsteller neben Königen begräbt, und Gallien seine DecorateurS unter die Vierziger setzt! UnS fehlen zwar Geschichtschreiber und Redner, aber weder Dichter noch Thaten. Dennoch laßt uns gerecht sein, und nicht vergessen, daß kaum vor dreißig Jahren noch Gottsched der deutsche Addison war, daß itzt noch Laune, Witz und Grazie im deutschen Boden nur mühsam gedeihen, und daß Vaterland und Freiheit in unserer Sprache nicht viel mehr

als Töne ohne Namen sind. Wenn die AbenakiS und die Mikimakis, die Chawanesen und die Cherokesen bei jedem Krieg ihrer Nachbarn die

Axt gegen ihre Brüder erheben, kämpfen sie für's Vaterland? — Wo ist der lebendige Geist, der unS allgewaltig und zu Einem End­ zweck ergreife? der uns an Einer Kette halten sollte, wie Jupiter die Schicksale hält? Wo ist ReguluS'Tugend? Leiden­

schaft, ein Opfer zu werden für'S Vaterland? — Sprich den Fürsten nicht Hohn, Freiheittrunkener Jüngling, der du viel­ leicht als Mann zu ihren Füßen kniest! Und sie verdienen auch deinen Bardeneifer nicht, denn viele unter ihnen sind freundlich und gut, und verleihen selbst den Fürstenhassern Brot. Aber träume nicht von

Freiheit, so lange noch an jedem Hof jeder Laut des Muths ver­ stummt, so lang unser Eigenthum nur von einer Schatzverord­ nung zur andern sicher ist, so lang unser Blut eine Lands- und Domatnenwaare bleibt, so lang wir auf jeden Wink wie Cäsar'S

Kriegsknechte auSrufen: Pectere si fratrem, gravidare in viscera matris Imperat, invita peragam tarnen omnia dextra. *) Schriften II, 283 f.

Tröste dich damit, daß Freie nicht immer glücklich sind, daß es Sokrates und Phocion nicht waren, und daß eS Sklaven sein können unter Antoninen". — Aehnliche Gedanken spricht der „Brief

über daö deutsche Theater" aus, wovon später. —

In religiöser Beziehung darf Sturz wohl als ein Gesinnungs­ verwandter Bernstorf's gelten.

physischen und gibt

präcisiren,

theologischen er

seinem

Ohne

seine Stellung

Richtungen

des

lebendigen,

am

Zeitalters

Geiste

der

zu

meta­

den

begrifflich Schrift

zu

fest­

haltenden, den kirchlichen Buchstaben zwar nicht beseitigenden, aber auch nicht starr behauptenden, liebevollen und duldsamen Offenbarungsglauben

mehrfach einen warmen Ausdruck:

„Es läßt verdächtig, wenn ein roher

Mündling eben da die höchste Klarheit entdeckt, wo die Bayle zweifeln und die Leibnize vermuthen, wenn man da am trotzigsten entscheidet, wo die Rousseau und die Locke ihre Unwissenheit gestehn. Die Grundbegriffe

aller Dinge, das Wie? in den Erscheinungen der Natur, das Warum?

in der moralischen Welt, die Rathschlüsse der Vorsicht, die widersprechenden Schicksale des Lasters und der Tugend sind Geheimnisse deS All­

mächtigen. Wir werden selbst in der bürgerlichen Weisheit nur einzelne

Beziehungen

gewahr,

wenn

sie just in unserm

Gesichtskreise

liegen.

Darum überläßt der Weise, wenn ihn keine Offenbarung er­ leuchtet,

den Olymp den unsterblichen Göttern, erträgt oder

genießt sein Loos, ist nützlich, wenn er kann, und bildet an sich

selbst. Wir sind auch ohne tiefes Forschen durch unsere Vernunft genug aufgeklärt, um unS zu lieben, zu ertragen, um gütig und gerecht zu sein.

Wohlthätigkeit und Menschenliebe sind älter als Systeme, älter alS die goldenen Sprüche des Pythagoras, und es gab freundliche Erdensöhne,

ehe Platon über die Tugend schrieb, ehe Sokrates dafür starb. — War es aber dein Schicksal, Freund der Wahrheit, in einer Religion erzogen zu

werden, die bei ihrer Unerklärbarkeit, doch für deine Einsicht und dein Gefühl unleugbare Spuren eines hohen Ursprungs trägt, so grüble

weniger als Rousseau, hasche nicht so emsig nach Zweifeln, die dich weder

klüger noch glücklicher machen; aber entscheide auch nicht so trotzig und kühn, wie deine Orthodoxen, mäkle nicht zwischen Geheimnissen

und Vernunft, vertrage dich nicht um die Hälfte, demonstrire den einen

Theil nicht weg, um den andern metaphysisch zu erklären*), sondern Dinge, ehre

die du weder verwerfen noch begreifen kannst, ver­

mit bescheidenem

Schweigen,

und

demüthige

dich

vor

dem alles erfüllenden Gott, der zu dir spricht, im Herzen, und im *) Bgl. „Ein Rangstreit", Schriften I, 209 f.

lauten Jubel der Natur, der wahrlich ist — weil alles ist, und vor

dem allein die Wahrheit ohne Hülle erscheint*)".

„Religion ist der ehrwürdigste Theil des Unterrichts. furchtsam davon.

Das Christenthum ist leider!

worden, und wer begehrt den Rath eines Laien?

Ich rede nur

eine Wissenschaft ge­

Allgemein gibt man zu,

daß eine brauchbare Anweisung, welche die Glaubenslehren dringend und

für die Kinder begreiflich enthält, noch unter die frommen Wünsche ge­

Nicht, weil eS nicht

Ein solche- Lehrbuch ist allerdings schwer.

hört.

angeht, die Wahrheiten unsers Glaubens in einen verständlichen Vortrag

zu Neiden, sondern weil man dazu eine Sprache wählen müßte, die den

Wächtern in Zion zu unsymbolisch und darum zu gefährlich klingt.

Wonne dem wohlthätigen Mann, der sich an die bedenkliche

Arbeit wagt!

Ihn müßte Christi Lehrart erleuchten, der wenig Ge­

heimnisse predigte, aber innig Liebe empfahl, der gern tröstete, selten

dräute, und sich immer zum Begriffe seiner Zuhörer herabließ, der nichts

tiefsinnig

sprach,

und

erklärte,

Schlüsse bewies. Moral,

sondern

durch

Beispiele

und

der seine himmlische Weisheit nie durch Jn's

Lehrbuch

der

Religion

eine Frucht des nämlichen Baums.

Gleichnisse

schulgerechte

gehört

zugleich

die

Beide sind Gesetze der

Liebe"**).

In dem „Briefe über das deutsche Theater an die Freunde und Beschützer desselben in Hamburg" dringt Sturz vor allem nach dem Vorgänge Lessing'S in den Literaturbriefen (1759 f.) auf na­

tionale Selbständigkeit unserer dramatischen Poesie:

„Ich wünsche

zuvörderst eine Hauptverfolgung gegen die deutschen Nachahmer zu erregen,

gegen diesen Geist der Knechtschaft, in welchem wir an das Mittelmäßige gefesselt, schon lange einhergehen; wie können wir ein eigenes Theater

erwarten, wenn wir ewig übersetzen, und wenn unsere Schauspieler fremde Sitten mit deutschen Geberden ausdrücken sollen? Wann wagen wir eS

endlich einmal zu sein, was wir sind? Ist unsere Empfindung des Schönen nicht durch vortreffliche Schriften unserer eigenen Landsleute, durch eine

strenge und richtige Kritik aufgeheitert genug?

Sind uns nur allein

*) „Denkwürdigkeiten von Johann Jakob Rousseau", Schriften I, 178—180. **) „Ueber die Verbesserung der Landschulen", Schriften II, 351. — Vgl. noch den „Auszug eines Briefes", Schriften II, 331 f. Die bedeutendsten unter Stürzens gedruckten Schriften sind neben den „Erinnerungen aus dem Leben des Grafen I. H. E. von Bernstorf" und den „Briefe», im Jahre 1768 auf einer Reife im Gefolge des Königs von Dänemark geschrieben", die wir beide schon besprochen haben, der (S. 22. 43) bereits erwähnte „Brief über das deutsche Theater" nnd ein „Fragment Uber die Schönheit", das zuerst im „Dentschen Museum" des Jahres 1777 und sodann in den Schriften I. 1779. S. 222 ff. erschien.

dre Schätze der Alten verschloffen? Haben nicht Dichter unter uns die

Sprache der Leidenschaft geredet, und die wahren Töne der schönen Natur ausgesprochen?

gelungen?

Ist nicht einem Deutschen in der Epopöe ein Meisterstück

Dürfen wir nicht wenigstens auf zwei oder drei Trauerspiele

stolz sein?" Johann Elias Schlegel hatte 1741 öffentlich Shakespeare gegen

die Angriffe Gottsched's vertheidigt und eine für die Zeit überraschende

Bewunderung jenes Dichters geäußert; er hatte 1747 die Abhängigkeit unseres Schauspieles von dem französischen bekämpft, für das englische ge­ sprochen und die Wahl deutscher Gegenstände befürwortet.

in den

Lessing war

„Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters" (1750)

scharf und herausfordernd gegen die ausschließliche Nachahmung der Fran­ zosen aufgetreten. Er hatte unseren Dramatikern die Griechen und Römer als die ersten Muster vorgehalten, unter den Neueren hauptsächlich die

Engländer und die Spanier empfohlen.

Er hatte bemerkt, daß wir durch

unser Naturell mehr auf die englische, als auf die französische Bühne an­

gewiesen werden.

Er hatte es in den „Literaturbriefen" tadelnd hervor­

gehoben, daß Gottsched an der Stelle unseres kläglich heruntergebrachten

Theaters ein französirendes aufgertchtet habe, ohne zu untersuchen, ob es auch mit unserer Denkart übereinstimme.

Wolle unsere neue Literatur

sich zu einer deutschen, zu einer Nationalliteratur entwickeln, so würde sie

hierzu, wenigstens im Drama, besonders in der Tragödie weit sicherer

und schneller durch den Anschluß an die sinneSverwandten englischen Dichter Johnson, Beaumont, Fletcher und vorzüglich Shakespeare, als durch die

Nachahmung der Franzosen gelangt sein.

Lessing eröffnete in demselben

Jahre mit dem Hervortreten des „Briefes über das deutsche Theater"

gegen die heroische französische Tragödie seinen großen kritischen Feldzug in der „Hamburgischen Dramaturgie". Sturz nimmt in der Beurtheilung

der französischen Tragödie denselben Standpunkt ein; doch ist er im

Tadel maßhaltender: „Ich dächte mit der tragischen Muse sollten wir es

weniger als die Franzosen verderben,

denn noch

sind wir frei,

noch

seufzen wir nicht unter dem Joch eines angenommenen Wohlanständigen,

gegen welches der wirklich erhabene Corneille, der zärtliche Racine und der oft rührende Voltaire sich zuweilen vergeblich aufzulehnen versuchten,

wir haben noch kein Parterre, das, wie ihre Frauen vom Stande, mit Vapeurs geplagt ist, das, ohne übel zu werden, kein Blut sehen kann,

das ihre Helden verdammt, hinter den Coulissen zu sterben, und von

einem Römer oder Griechen Manieren des gesitteten Umgangs der letzten zehn Jahre verlangt.

Wir sind noch nicht genöthiget alle Handlung in

kalte Erzählungen, die Leidenschaften

in Gemälde derselben,

und den

ganzen tragischen Dialog in eine pathetische Conversation zu verwandeln." (Während seines Aufenthaltes in Paris gewann Sturz eine günstigere Ansicht von der französischen Tragik*): den

„Alle Fremde spotten gern über

Man findet darin eine taktrichtige,

französischen Theateranstand.

widernatürliche Zierlichkeit, eine hochtrabende Menuettenmanier, die auf

die Tanzböden gehört. Allerdings übertreiben sie, für den nordischen Ge­ schmack, Stellung, Gang und Deklamation; aber man überlegt nicht, daß

sie nicht für uns, sondern für ihre Landsleute spielen.

Jedes Volk ist

gewohnt, durch ein eigenes Medium zu sehen; man täuscht und rührt uns

nur, wenn man die Vorstellung in unsern Sehwinkel stellt, und unsern Sitten näher bringt.

Vollkommene Wahrheit alter oder ausländischer

Sitten wird, weder von dem Dichter, noch dem Schauspieler, erreicht; sie ist auch zu fremd für unsere Empfindung.") Sturz hält es für so schwer

nicht, zwischen der weitgehenden englischen Verletzung der Einheitsregeln

und ihrer peinlichen Beobachtung durch die Franzosen ein Mittelmaß zu treffen, wie ja auch Lessing gethan hat. Ueberhaupt aber spricht er gegen

die

Beurtheilung

Muster.

unsere-

Drama'- nach dem

auswärtigen

„ES sei bei dem künftigen Kunstrichter der unterscheidende Cha­

rakter der deutschen Theaterscribenten, daß sie nie die Gesetze der Illusion beleidigen, daß ihre Helden die Sprache ihrer Zett geredet, und gehandelt

haben, wie in der Geschichte."

Sturz verlangt von unseren Dramatikern

die Bearbeitung nationaler Geschichte. Die Aussichten auf eine gute deutsche Komödie liegen ihm noch in

der Ferne: Am Lächerlichen fehlt es uns nicht, aber welche Sitten sollen wir schildern? Die Sitten einer einzelnen Provinz? ... Haben wir eine Hauptstadt,

die uns alle versammlet, die uns mit uns selber bekannt

macht? die den Ton angibt, deren Moden Gesetze für die ganze Nation sind? ... Der größte Theil unseres Vaterlandes sind, wie Moser sagt, noch moralische Wälder und Heiden.

Der Witz des Umgangs, der geist­

volle Scherz, die lachende Satire, die Urbanität (eine Sache, die unsere Sprache noch nicht nennt), alles dieses sind Kennzeichen der schönsten Zeit

eines Volkes;

Moliäre konnte

boren werden.

auch rauhe Nationen

haben ihre Offiane gehabt, aber

nur unter Ludwig dem Großen, nur in Frankreich ge­ Wir haben leider eine Originallaune, die, als Karikatur

betrachtet, nicht ohne glückliche Züge ist, ich meine die Possenspiele des

Hanswursts, sobald wir aber die komische Sprache verfeinern wollen, so

werden wir fade oder gekünstelt.

Die höhere Komödie kann uns nicht

wohl besser gelingen; denn in der guten Gesellschaft sind wir meistentheilS

*) Schriften I, 92 f.

keine Deutsche mehr, unsere Sitten sind nachgeahmt und unsere Einfälle übersetzt, unsere ganze Artigkeit ist, wie Haman Böhme weissagt, aus französischer Seide gesponnen, und wenn wir diese schielenden Geschöpfe auf's Theater bringen, so copieren wir die Copie.

Die Regierungs­

form in Deutschland trägt unstreitig sehr viel zu der Unfruchtbarkeit un­

serer Charaktere mit bei; die deutsche Freiheit ist nicht viel mehr als eine Redensart in dem Stile der Reichs- und Kreistage; wir empfinden nach­

drücklich genug die schwere Hand unserer Beherrscher, die bis an die Grenzen ihrer Staaten herumreichen, und sie durch und durch mit ihrer

Gewalt ausfüllen, wir werden nach dem Ton ihrer Höfe unterthänig er­ zogen, nach kleinen Ansichten gebildet, wie Bäume in geschmacklosen Gärten

in schnörkelhafte Gestalten verschnitten, Staubregen ihrer Wohlthaten erquickt.

und nur sehr sparsam durch den Was Wunder wenn

man

auf

dem deutschen Boden nur ungesunde Stauden und Buschwerk wahrnimmt?

.. . Dem ohngeachtet gibt es auch in Deutschland interessante Charaktere, ich zeichne die Schwierigkeiten nur aus, und spreche dem Genie die Fähig­

keit nicht ab, den leblosen Stoff zu beseelen." „Wenn jedoch auch unter uns ein dramatisches Genie aufstände!"

fährt Sturz fort „Wo sind die Acteurs, die eS nicht durch ihre Vor­ stellung entehren?" Zu den glänzenden Ausnahmen gehörte freilich das Nationaltheater in Hamburg, an deffen Freunde und Beschützer dieser Brief gerichtet ist,

Johann Friedrich Schönemann, der sich hier

1740 mit seiner Truppe

niederließ, hob in derselben Ordnung und Sitte. Unter ihm bildeten sich die großen Mimen Eckhof, Ackermann und Schröder.

Nachdem Schöne­

mann 1757 abgegangen war, übernahm Koch die Leitung und führte sie

mit bestem Erfolge. Der drittle Vorsteher (seit dem I. 1763) war Acker­ mann, unter dem, besonders durch die Verdienste seines Schwiegersohnes

Friedrich Ludwig Schröder, die Hamburger Bühne ihren Glanzpunkt er­

reichte und den eigentlichen Anfang des heutigen deutschen Theaters bil­ dete. Johann Friedrich Löwe errichtete dieser Bühne gegenüber ein stehendes

Theater oder sogenanntes Nationaltheater, dem Ackermann im October 1766 sein Schauspielhaus auf 10 Jahre vermiethete.

Löwe wurde als

Direktor und UebungSlehrer eingesetzt und Lessing als Dramaturg und Consulent berufen. Am 22. April 1767 wurde das neue Theater eröffnet, und an demselben Tage kündigte Lessing die Hamburgische Dramaturgie an.

Löwe gab Vorlesungen und Direktion auf, und sein Nachfolger in

der letzteren wurde Konrad Eckhof, der deutsche Garrick, der Vater unserer

Schauspielkunst, dessen edle Persönlichkeit diesem Stande zuerst seine eigent­

liche Würde verlieh.

Nächst ihm sind unter den Mitgliedern des Ham-

Bürger Nattonaltheaters David Borchers und die Frauen Mecoeur, Hensel und Löwen mit Auszeichnung zu nennen.

Das glanzvolle Unternehmen stand freilich auf schwankendem Boden.

Aeußerc Mißverhältnisse, Hader und Ungehorsam unter den Darstellern führten schon am 25. November 1768 das Ende herbei.

So viel über eine großartige Episode in der Geschichte des deutschen Theaters, deren Sturz mit eingehender Aufmerksamkeit hätte gedenken sollen.

In seiner allgemeinen Schilderung heißt es Wetter:

„Wie lange ist

eS her, daß die Neuberin wagte, die gesunde Vernunft-auf hxm deutschen

Theater einzuführen? ...

WaS waren unsere Schauspieler damals, und

was sind sie größtentheils noch? ein Haufen Unglücklicher, die kein Trieb, kein Ruf der Natur, keine unüberwindliche Neigung, nein Verzweiflung,

die auf Ausschweifungen folgte, zu einander versammlet, die wie Aus­ sätzige von ihren Mitbürgern abgesondert leben, und so wie TheSpiS und sein Gefolge bei dem Anfänge der Kunst auf Karren hin- und herziehen. Setzen Sie hinzu, daß eS unsere Schuld ist, wenn ihre Seele noch immer

niedriger, noch immer unedler wird, daß nur wenige unter uns dem Vor­

urtheil Trotz bieten, welches ihren Umgang mit Verachtung bezeichnet....

Moliöre, Baron, Garrik, Quin, die Oldfields, die ChampmZlö, die Le Couvreur, die Gaussin, die Clairon, haben alle in der feinen Welt ihrer Zeit gelebt, die größten Genie's der Nation waren ihre Freunde, und die

Helden des Volkes kehrten von der Bahn des Sieges in ihre Gesellschaft zurück. . . .

Daher der edle Anstand, das Gefühl des Erhabenen, das

die Handlung der Schauspieler belebt, die feine Nuance der Leidenschaft, in der Seele gezeugt, der wahre Ton, den ihr Herz angab, und ihr Blick

aussprach. ...

Wo ist der deutsche Fürst, der nicht lieber fünf franzö­

sische Tänzer, als einen deutschen Schauspieler besoldet? wie kann bei

dieser Verachtung, bei dieser Erniedrigung der Kunst ein Genie dazu an­ gelockt, wie kann eS, wenn eS sich zufälliger Weife findet, entwickelt und

emporgehoben werden? ... Ich habe Deutsche gesehen, die den Sturm der

Leidenschaft, Wuth, Rachsucht, Verzweiflung, Raserei sehr glücklich auSdrückten. . . .

Aber die stille Größe, die heiligen Schauer er­

regt, die hohe Simplicität, welche die Werke des Sophokles ganz erfüllt, so wie des Phidias Jupiter seinen Tempel ganz

mit dem Gotte;

der edle Stolz einer

über alles erhabenen

Seele, den auch Corneille zuweilen erreicht, noch öfter aber mit dem

Geiste der Ritterschaft verwechselt, hierzu ist unseren Schauspielern

(mit den oben erwähnten sehr gewichtigen Ausnahmen) auch nicht ein Ton verliehen. . . .

Wie soll es aber der Schauspieler machen, um

sich zum Erhabenen, zum Großen zu bilden, das unter dem freien griechi­ schen Himmel, und in der schönsten Zeit von Rom, nicht allein die Eigen­ schaft der Helden, sondern auch der Dichter, der Künstler und der Acteurs war? wo ist die hohe Natur, die er nachahmen könnte?" Hieran reiht Sturz einige Bemerkungen über das Verhältniß der Naturnachahmung zum Ideale, die gleichzeitig von dem Geiste Lessing'S

und Winckelmann'S durchdrungen sind. „Die Erfindung der idealifchen, das ist, der höchsten Schönheit, in jedem Werke des Genie'S ist fern von der Nach­ ahmung ejneS einzelnen Objekts in der Natur, sie schränkt sich nicht einmal auf die Geschicklichkeit ein, zerstreuete und individuelle Schönheiten zu einem Ganzen zu sammeln, eS gibt Geister, die eS wagen dürfen, um einen Punkt über die Linie der Natur hinüber zu schreiten. Das Ideal ist bei ihnen daS Resultat einer Reihe von Empfindungen und Vorstellun­ gen, auf welchen der Geist, wie auf einer Leiter, emporsteigt; auf der untersten Sprosse sieht das Genie eine neue Natur, der Schwärmer das Reich der Chimäre. Wer hat den Sänger des Messias in der Sprache höherer Wesen unterwiesen? Niemand sagt du BoiS hat die Musik des Pluton gehört, und in der Oper Alcest Dort Lulli, glaubt man sie zu hören; wurde der Apoll im Belvedere, an welchem nach Winckelmann'S Ausdruck nichts von der menschlichen Dürf­ tigkeit ist, in der Versammlung der Götter nach den Unsterblichen ge­ bildet? die Göttin der Liebe war dem Künstler nicht in seiner Werkstatt erschienen; aber, als sie ihr Bildniß erblickte, so fragte sie: wie der Dichter versichert, wo hat mich Praxiteles nackend gesehen?" Hiermit streift der Briefsteller an die von Gerstenberg herauSgege-

benen „Briefe über die Merkwürdigkeiten der Literatur", die Samm­ lungen, die 1766 und 1767 in Schleswig und Leipzig erschienen und kurzweg als schleswigische Literaturbriefe citiert werden: daß nur ein Werk

deS Genie'S, der unwiderstehlichen Inspiration, der göttlichen Manie auf den Namen der Dichtung Anspruch habe. Nach einer langen Reihe feiner Bemerkungen über die Schauspiel­

kunst lenkt Sturz auf das Verhältniß des deutschen Trauerspieles

zum antiken ein:

„Der Verfasser der Literaturmerkwürdigkeiten hat be­

reits richtig angemerkt, wie fehlerhaft es sei, die Trauerspiele aller Zeiten und Völker nach griechischen Mustern zu beur­ theilen und Begriffe, die wir von ihrer Ausführung abziehen, als ewige Gesetze zu verehren. Der Endzweck der Alten im Trauer­ spiel war, eine tragische Begebenheit in ihrem rührendsten Lichte zu zeigen,

und durch das Ganze, nicht durch das Colorit deS Details, dann zu rühren, dann zu schrecken.

Ihre Stücke sind daher voll von vortrefflichen

Situationen, von großen Sentiments und von der ihnen eigenen hohen unnachahmlichen Einfalt, aber sie sind beinah ohne Contrast, und ganz ohne Charaktere (?), die Helden wurden nach einem bestimmten Ideal,

wie ihre Götter gebildet.

Homer hatte die Außenlinien der meisten ent­

worfen und kein nachfolgender Dichter war so kühn, an dem ehrwürdigen

Riß nur einen Zug zu verändern.

Ich tadle diese Weise auch in unsern

Trauerspielen nicht, so bald wir entweder ähnliche, oder nur so allgemein

bekannte Sujet- abhandeln,

daß

eS

ein fruchtloses Unternehmen sein

würde, Costume oder Charaktere zu beobachten.

Ganz anders verhält es

sich aber mit Vorfällen aus der aufgeklärten Geschichte, und noch be­

stimmter muß der Verfasser eines aus dem gemeinen Leben genommenen bürgerlichen Trauerspiels verfahren, denn er soll nicht allein rühren, son­

dern auch malen." Hiermit sind Lessing'S Bemerkungen in der Hamburgischen Drama­

turgie zu Anfang des 59. Stückes zu vergleichen.

Obgleich Stürzens Mitarbeit an den oben erwähnten Schleswig'schen Literaturbriefen*) zweifelhaft

ist, prägen sie doch im Allgemeinen die

Ideen aus, die sich in Sturz unter den Einwirkungen seiner dänisch­ deutschen Umgebung entwickelten, aber bei ihm einer größeren Maßhaltung

begegneten.

Den literarisch-revolutionären Tendenzen der auftauchenden

Genieperiode erkannte er eine Berechtigung zu, verlor aber dabei nicht

den Sinn für die geschichtliche Entwicklung,

tadelte und verspottete in

demselben Geiste, wie Lessing auf den letzten Blättern der Hamburgischen Dramaturgie den Wahn der jüngeren Generation, daß mit ihr zuerst eine Literatur beginne**).

Sturz' Ideen über die bildende Kunst finden

wir hauptsächlich in einem Fragmente über die Schönheit***) aus­ gesprochen. Die bildende Kunst war ein Haupttheil seiner Nebenbeschäftigungen und man schätzte hier an ihm nicht bloß die Richtigkeit und Feinheit deS

Geschmackes, er war auch als Zeichner und Maler im Fache des Por-

traitierenS, namentlich als Pastellmaler angesehen.

In Kopenhagen, Ham­

burg, Hannover, Gotha findet man Werke der letzteren Art, die von .ihm

*) Vgl. Koch S. 76 ff. **) Vgl. Schriften I, 47 f 213. II, 83. 289 f. ***) Schriften I, 222 ff. — Anregende Ideen, aber mehr fragmentarisch hingeworfen und mit geringerer Präcision, als in dem „Fragment über die Schönheit" ausgedrückt finden sich in den „Ergänzungen" bei Koch @. 265 ff. Sturzen« Brief an Lesstng vom 23. September 1767, bei Koch S. 280 ff. enthält kritische Randbe­ merkungen zum „Laokoon", die keine besondere Gedankenausbeute gewähren.

Prmßische Jahrbücher, ißt. XLVIII. Heft 3.

22

Helfrich Peter Sturz.

304

herrühren.

Die große Lavater'sche Physiognomik enthält Stiche nach seinen

Zeichnungen, so einen Garrick und vor allen*) eine Beatrice Cenci nach Guido (oder Dolci), von Lips gestochen.

Das „Fragment über die Schönheit"

handelt von der Schön­

Allerdings gibt es für diese nach Sturz

heit der menschlichen Gestalt.

„einen Maßstab der Schönheit; er ist aber nicht, wie die Tugend, durch eine Offenbarung

bestätigt,

nicht

vom Himmel,

sondern

aus

Griechenland geholt, wo die Natur in einem gemäßigten Erdstrich, wie Winckelmann sagt, nicht mit ihren äußersten Enden kämpft, keine Formell überzeitigt und keine unreif lassen muß;

und wirklich gelingt

jedes ihrer Produkte nur in einer Zone höchst vollkommen, also wohl die ES gibt ein Gesetz, meint der Essayist, nach dem

Menschengestalt auch."

wir die Schönheit beurtheilen;

aber

es stammt nicht aus Ideen, die

geoffeilbart oder bevorzugten Geistern eingeboren sind; es stellt sich viel­ mehr in iltatur- und Kunstformen der Griechen dar, von welchen es an­ dere Völker gelernt haben.

„Unsere höchste Schönheit hat also mit der

Göttin der Liebe ein gemeinschaftlich Vaterland;

erleuchtete Völker

haben ihr gehuldigt, aber noch ist sie nicht durch die Mehrheit der Stimmen anerkannt.

Die Griechen waren ein Völkchen, und der

aufgeklärte Theil von Europa ist es noch, gegen die Millionen, welche den Stumpfnasen, den kleinen, schiefen, eingesenkten Augen, den großen

Ohren und den gemästeten Weibern hold sind."

Die Frage, ob nicht alle

Völker bei unaufgehaltenem Voranschreiten ihrer Geistesbildung mit Noth­

wendigkeit dahin geführt werden, die Formen der Griechen als den gesetz­ mäßigen, mustergiltigen Ausdruck der Schönheit anzuerkennen, läßt Sturz offen.

Es könnte

ja ein und derselbe Geschmack als Keim in allen

Völkern, in der menschlichen Natur überhaupt liegen und einmal in den

verschiedensten Völkern, durch die erwärmenden Strahlen deö Glückes be­

günstigt, die Hülle der Barbarei durchbrechen und sich im reinen Glanze der Cultur zum vollen Leben entfalten.

Die Griechen hätten allen übrigen

uns bekannten Völkern gegenüber eine lange Entwicklungsgeschichte des

Geschmackes abgekürzt; ihr Schönheitsgefühl wäre das normale, absolute, wenn auch noch nicht in dem Hervortreten aller seiner Momente, also noch einer weiteren Entwicklung fähig; ihre ästhetische Bildung wäre die, wenn

auch noch nicht abgeschlossene Musterform einer künftigen ästhetischen MAbildung.

Sturz ist

bei

unverkennbarer Idealität der Gesinnung, im

Denken zu viel Empiriker, um ein über allen Völkern schwebendes oder in allen sich aus dem Dunkel emporarbeitendes gemeinschaftliches Gesetz

*) IV, 125, Taf. 5.

der Schönheit auszusprechen*).

Sturz wirft die Frage auf,

ob die

Griechen das Ziel erreicht haben, beantwortet sie aber nicht durch

die Vergleichung mit der späteren Kunstgeschichte, sondern durch Bemer­ kungen über die malerische Darstellbarkeit des Gottmenschen.

„Verlangt Klopstock zu viel, wenn er unS auffordert:

wir sollten die

Götter der Griechen Übertreffen, und unS den Empfindungen der Religion überlaffen, um des Menschen Sohn würdig darzustellen? ...

den Künstler über seine Grenzen heraus.

dert

Er for­

Der Dichter

schwingt sich auf Höhen empor, wohin ihm der Künstler nicht nachfliegen

Jener kann uns für das Wesen, welches erscheinen soll, stufen­

kann.

weise zu hohen Empfindungen stimmen;

er kann eS nicht allein fort­

schreitend handeln, nicht allein eS reden lassen und selbst mitsprechen; sondern er stellt auch Eigenschaften und Vortrefflichkeiten dar, die ganz außer dem Gebiet der bildenden Kunst sind.

Diese Folge vereinigter Empfindungen

wächst endlich zum Totaleindruck eines hohen Ideals, das unsre ganze

Seele,

wie Jupiter seinen Tempel füllt, aber ohne ein deutliches

Bild; wir können die Erscheinung nicht haschen; sie zerfließt in ihrem

eigenen Lichte.

Was uns in den Gesängen des Messias für den Gott­

mensch mit heiliger Bewunderung einnimmt ist keine Größe, die ge­

malt werden kann, denn waS findet der Künstler in dem Stoffe seiner

Schöpfung, um den Dichter zu erreichen?

er, der nur Eine Sentenz

sagen, nur Einen Augenblick darstellen kann?

Kann er durch irgend etwas

des Menschen Sohn würdig charakterisiren, als durch die edelste Men­ schengestalt?

Wie kann er sie hervorrufen, wenn das Bild nicht in

seiner Seele lebte?

Und wie entstand es in seiner Seele, wenn er eS

nicht, entweder ganz

oder theilweise, lebendig, gemalt, oder in Marmor,

mit leiblichen Augen gesehen hatte? „Begetstre dich, junger Künstler, durch die hohen Gesänge des Messias, werde, wenn eS möglich ist seines

ganzen Dichterfeuers

voll, denn es erzeugt dir hohe Wünsche; aber nichts

von dem, was dich so mächtig durchströmte, artet in deiner Vorstellungs­

kraft zu irgend einem vollkommnern Auge, einer schönern Nase, feineren Stirne; du wirst ringen nach edler Gestalt, nach Hoheit im Ausdruck; du

wirst alle deine Versuche verwerfen, und doch nichts besseres als die Phidiaster hervorbringen, wenn dir nicht angenehmere Erscheinungen ver­

liehen sind." Sturz

wendet

sich

zu

dem

gegenseitigen Verhältnisse

Natur und der Kunst bei den Griechen:

der

„Aber fragt man: Waren

*) Vgl. „Ergänzungen zum Fragmente über die Schönheit" bei Koch S. 265 „Eigent­ liche absolute Schönheit zu suchen ist ein fruchtloses Beginnen ebenso fruchtlos als aujzusuchen was absolut gut oder übel schmeckt."

die Formen der griechischen Künstler nicht schöner, al- selbst die griechische

Natur?

Allerdings schöner, als eine individuelle Gestalt.

Wenn

Phrhne oder KampaSpe zur VenuS Anadyomene saß, so wählte doch Apell

nur die edelsten Züge der Mädchen, und vereinigte sie mit andern, die ihm sein Gedächtniß wiedergab.

Die schönste Göttin hatte nie unter

den Sterblichen gewandelt, sondern sie war ein Geschöpf deS Künst­

lers, der sie rief auS dem Ocean der Natur. . . .

Die Fähigkeit

zu finden, waS in jeder Form vortrefflich und fehlerhaft ist, das letzte zu verwerfen, das erste zu wählen, sich (wie eS niemand besser als Reynolds

auSdrückt über Eigenthümlichkeit, Lokalität und Zufälligkeit zu erheben,

mit einem Worte, nur die Art,

keine besondere Gattung*) zu

malen, das ist hohes Künstlergenie.

Natur

überhaupt die Natur unter

in so

fern wird auch

PhidiaS

übertreffen,

ein

wären

In so fern also die griechische

einem

rauhern Himmel übertrifft,

griechischer Phidias

einen niederländischen

sie auch mit gleicher Fähigkeit

geboren.

Wer aber unter den schönsten griechischen Statuen noch wählen, noch auS solchen ein Ideal zusammensetzen könnte, (eine mehr gelehrte, als freie künstlerische Arbeit I) der würde mehr als Phidias sein.

Wir sind nicht

auf dem Wege zu dieser Veredlung; denn wohin sich der Forscher der Schönheit wendet, findet er Arbeit der griechischen Kunst."

„Ich kenne

nur zwei Maler, (und einer ist ein Deutscher) die noch Strahlen auffingen

von der hohen Kunst, ehe sie ganz unsern Gesichtskreis verließ." — *) Eine Unterscheidung, deren Kritik uns hier zu weit führen würde.

Professor Dr. G. Zimmermann.

Italien und das deutsch-österreichische Bündniß. (Politische Correspondenz.)

Berlin, 11. September 1881.

Die Erörterung der

Möglichkeit,

daß

Italien

sich dem

deutsch­

österreichischen Bündnisse anschließen möchte, würde noch vor einem halben Jahre für eine rein akademische gegolten haben.

Ob die Frage wirklich

eine brennende ist, läßt sich auch heute noch nicht mit Sicherheit bejahen;

aber au Symptomen, daß dieselbe auch andere als publicistische Kreise beschäftigt, fehlt es nicht.

Daß die Aussicht auf eine neue Annäherung

an Italien in Deutschland, d. h. in der öffentlichen Meinung Deutsch­ lands nicht lebhaftere Bewegung hervorruft als thatsächlich der Fall, ist zum mindesten nicht die Schuld der deutschen Politik.

Die Zeit ist vorbei,

wo der ParalleliSmus gleicher nationaler Bestrebungen ein sympathisches

Band zwischen den beiden Völkern knüpfte.

Die Allianz von 1866 hatte

in Deutschland einen bittern Nachgeschmack hinterlassen, der durch daS: „Etwas

mehr Licht"

Lamarmora'S nicht

eben verwischt wurde.

Die

Rücksicht auf Napoleon III., den angeblichen Schöpfer der italienischen

Einheit hat stets die Politik Victor Emmanuel's beherrscht und doch hat

Italien fast jeden Fortschritt in seiner Entwickelung nur im Widerspruch

mit den in Paris herrschenden Absichten erzielt. Der AuSbrsich des französisch-deutschen Krieges trug Italien die Ab­

berufung der französischen Besatzung aus Civita Vecchta ein; die Schlacht bei Sedan und der Sturz des französischen Kaiserreichs ermuthigten die

Regierung, von der Hauptstadt Besitz zu ergreifen und der weltlichen Macht

des Papstthums ein Ende zu machen.

Der Sieg der deutschen Waffen hatte

Italien in den Besitz von Rom gesetzt und dennoch waren eö italienische Freischärler unter Anführung Garibaldi'S, welche an der Seite der re­

publikanischen Truppen in Südfrankreich kämpften.

ES ist nicht zu viel

gesagt, daß der Protest gegen jede Einmischung in die innere Politik an­ derer Nationen, welchen

der erste deutsche Reichstag in die AntwortS-

Adresse auf die Thronrede des deutschen Kaisers einflocht, weniger von

der Sympathie für Italien, als von der Antipathie gegen das Papstthum eingegeben war, dessen Vorkämpfer die eitle Hoffnung genährt hatten, das

deutsche Kaiserreich werde in die Fußstapsen Napoleon III. treten.

Und

doch war es nur die Haltung Deutschlands, welche der italienischen Re­

gierung den Muth gab, zehn Jahre nach dem Parlamentsbeschlusse, trotz der Abmahnung Frankreichs von der nationalen Hauptstadt Besitz zu er­ greifen.

Vom Jahre 1871 ab war eS dann die Furcht vor dem fran­

zösischen Nachbar, die Italien mehr und mehr an die Seite Deutschlands drängte.

In jenen Jahren war es die Forderung der Restauration deS

Kirchenstaates, hinter welche die französischen Nevanchegelüste sich versteckten.

Bei der Berathung

über das Schulaufsichtsgesetz im Herrenhause am

6. März 1872 verlas Fürst Bismarck einen ihm während der Sitzung zugegangenen „Bericht eines unserer erfahrensten und angesehensten Ge­ sandten", der sich also äußerte:

„Wenn ich meine persönliche Meinung

aussprechen soll, so gestehe ich, daß ich keinen Augenblick daran gezweifelt

habe, daß die in Frankreich gewünschte Revanche durch religiöse Zerwürf­ nisse in Deutschland vorbereitet werden soll, und nur auf diesem Wege

Hoffnung auf Erfolg haben kann. Kraft auf diesem Wege lähmen.

Man will die deutsche Einheit und

Ein einflußreicher Theil deS katholischen

CleruS (in Deutschland?), der von Rom aus geleitet wird, ist der fran­

zösischen Politik dienstbar, weil mit ihr die Hoffnungen auf die Restauration im Kirchenstaate zusammenfallen.

In Frankreich ist vorübergehende Ver­

schmelzung oder vielmehr gegenseitige Düpirung deS clericalen und re­

publikanischen Elements möglich, sobald der CleruS Rache an Deutschland und Wiederherstellung französischer Oberherrschaft offen auf seine Fahne schreibt, unter welcher Regierungsform eS sei.

So hofft man wieder zu

erstarken, während in Deutschland durch wohlorganisirte Arbeit deS von Paris, Rom, Genf, Brüssel geleiteten CleruS kirchliche Zerwürfnisse mit aller Anstrengung vorbereitet werden. . . .

Man mache sich keine Täu­

schung darüber, daß gleichzeitig mit der Revanche gegen Deutschland der Schlag gegen Italien vorbereitet wird, in der Hoffnung,

daß

Deutschland durch innere religiöse Wirren paralysirt werden solle und daß daS clertcale Element, während es in Deutschland und Polen langsam

zersetzend wirkt, in Italien offen daS französische Banner aufpflanzt und unter seinem Schutze daS Land unter päpstliche, oder vielmehr französische, durch den Papst repräsentirte Herrschaft zurückführen soll."

So standen

die Dinge unter der Präsidentschaft deS Herrn Thiers, der nicht einmal

den Muth hatte, die Bischöfe, die die Regierung zur Einmischung in die italienische Politik drängten, offen und energisch zur Ruhe zu verweisen.

Schon im Februar 1872 trifft Prinz Carl zum Besuch in Rom ein — ein Schritt,

der die französische Republik veranlaßt, den bis dahin

offenen Posten eines Gesandten bet dem König von Italien auszufüllen.

Einige Monate später treten Kronprinz Humbert und seine Gemahlin, Prinzessin Margherita die Reise nach Berlin an.

Mit dem Sturz des Herrn Thiers und der Erhebung des Marschalls Mac-Mahon zum Präsidenten (Mai 1873) steigt die reactionäre-ultramontane Fluth. des

Schon im September geht Victor-Emanuel in Begleitung

Ministerpräsidenten

Minghetti,

des

Ministers

des

Auswärtigen

BiSconti-Venosta und einer glänzenden Suite von Generälen erst nach

Wien, dann

nach Berlin zum Besuche des „alten Allitrten".

Italien jubelt erleichtert auf.

Ganz

Die guten Beziehungen zwischen Italien

und Deutschland veranlaffen Frankreich, endlich das im Hafen von CtvitaBecchta zur Verfügung des Papstes stationirte Kriegsschiff L'Orönocque

abzuberufen (October 1874).

DaS Jahr 1875 war der Höhepunkt der

deutsch-italienischen Freundschaft und zugleich das Jahr, in welchem der

Culturkampf in Deutschland den weitesten Umfang und die denkbar größte Schärfe angenommen halte.

ES ist das Jahr der eigentlichen Kampf­

gesetze, der Aufhebung der Verfassungsartikel, der Auflösung der Kloster­ gesellschaften und der Verhängung der Temporaliensperre in Preußen.

Diese gesetzgeberischen Maßregeln waren gewissermaßen die Antwort auf

die Encyclica deS Papstes PtuS IX. vom 5. Februar an die Erzbischöfe und Bischöfe in Preußen, in welcher der Papst, anknüpfend an die Ab­

setzung des Erzbischofs von Gnesen und Posen und deS Bischofs von

Paderborn, klagend die Stimme erhob „gegen jene Gesetze, welche die Quelle jener bereits vermerkten und vieler noch zu befürchtenden Uebel­ thaten sind" — und für die durch gottloft Gewalt niedergetretene kirchliche

Freiheit mit aller Entschiedenheit und mit der Autorität deS göttlichen Rechtes auftrat.

„Um diese Pflicht Unseres Amtes zu erfüllen", hieß es

weiter, „erklären Wir durch dieses Schreiben ganz offen Allen, welche es angeht, und dem ganzen katholischen Erdkreise, daß jene Gesetze un­ gültig sind, da sie der göttlichen Einrichtung der Kirche ganz

und gar widerstreiten".

Es wolle scheinen, „als ob jene Gesetze

nicht freien Bürgern gegeben, um einen vernünftigen Gehorsam zu fordern, sondern Sclaven aufgelegt seien, um den Gehorsam durch deS Schreckens

Gewalt zu erzwingen".

In den Motiven zum Sperrgesetz war aus­

drücklich auf diese Kundgebung des Papstes hingewiesen, welche den Staat verpflichte, bis dahin, daß der römisch-katholische CleruS zum Gehorsam

gegen die Gesetze zurückkehre, ihm

zunächst alle Mittel zu entziehen,

welche er bisher zur Unterhaltung dieses CleruS beigetragen habe.

Wenn

der Staat das noch länger unterließe, so müßte ihn der schwere Vorwurf

treffen, daß er selbst seine Gegner in ihrem Widerstande stärke.

„Solchem

Vorwurfe darf er sich am wenigsten in einem Augenblicke aussetzen, in

welchem in deutschen und römischen Blättern in lateinischem Text wie in

deutscher Uebersetzung eine bezüglich ihrer Echtheit nirgends angezweifelte Encyclica des Papstes vom

5. Febr. d. I.

veröffentlicht worden ist,

welche jene Gesetze vor der katholischen Welt für Alle, die eS angeht, für ungültig erklärt und den Ungehorsam gegen dieselben sanctionirt hat — und die Erzbischöfe und Bischöfe in Preußen diese an sie gerichtete En­ cyclica, soweit bekannt,

ohne einen Widerspruch angenommen haben."

Auf einen unmittelbaren Erfolg des Gesetzes rechnete Fürst Bismarck

nicht.

„Der Papst, sagte derselbe im Herrenhause, und zehn Mal mehr

der Jesuiten-Orden sind viel zu reich, als daß es ihnen auf diese Summe ankommen könnte, ich sage nicht ohne Bedacht, der Jesuiten-Orden zehn

Mal mehr als der Papst; außerdem können sie ihre Besteuerungsart, die ihnen bisher gute Dienste leistete, anwenden.

Ich erwarte also keinen

großen Erfolg; aber wir thun einfach unsere Pflicht, indem wir die Un­ abhängigkeit des Staates und der Nationen gegen diese äußeren Ein­

wirkungen schützen, indem wir die Geistesfreiheit der deutschen Nation

gegen die Ränke des römischen Jesuiten-Ordens und des Papstes ver­ treten; das thun wir mit Gott für König und Vaterland."

Bekanntlich

begnügte sich der Reichskanzler mit diesen inneren Maßregeln nicht. Wie

er schon im Jahre vorher anläßlich der Veröffentlichung der Enthüllungen deS Generals Lamarmora über das Jahr 1866,

welche eine Reihe von

bis dahin unbekannten vertraulichen Aktenstücken an's Licht brachten —

u. A. die bekannte Stoß-in'S-Herz-Depesche deS Grafen Usedom an die italienische Regierung

appellirt

in Form

Strafgesetzbuch,

einer Novelle

zum

und dieselbe veranlaßt



hatte,

welche den Mißbrauch

amtlicher Aktenstücke mit schweren Strafen belegte,

ein VerdammungS-

urtheil über das Verfahren deS Generals auszusprechen uud durch das

Parlament bestätigen zu lassen, so stellte er auch jetzt an die italienische Regierung die Frage, wie die italienische Regierung die Einmischung deS

Papstes in die inneren Angelegenheiten Deutschlands beurtheile,

und ob

sie, indem sie dem Papste durch das Garanliegesetz ein den auswärtigen Mächten unzugängliches Asyl gewähre, nicht die Verpflichtung fühle, ihrerseits

Garantien gegen den Mißbrauch des Asylrechtes zu schaffen; eine Frage, deren Beantwortung

die italienische Regierung, wie eS scheint,

unter

Berufung auf den innerpolitischen Charakter deS Garantiegesetzes ablehnte;

während der Papst in seiner Allocution vom 15. März die „Drohungen"

der preußischen Regierung verwerthete, um darauf hinzuweisen, welchen

Werth gewisse Gesetze (d. h. eben das Garantiegesetz) hätten, „welche

Ehrfurcht heuchelnd, um die Gläubigen zu täuschen. Unsere (deS Papstes) Freiheit und Würde zu wahren scheinen". Thatsächlich ging der Zwischen­

fall vorüber, ohne die Beziehungen der beiden Regierungen zu erschüttern.

DaS Garantiegesetz, das, je nachdem das Ausland gegen den Papst oder der Papst gegen Italien reclamtrt, einen tnnerpolitifchen oder einen inter­

nationalen Charakter hat, blieb unberührt.

Hatte doch Italien eben erst

die Unverletzlichkeit des Papstes für feine Reden selbst in dem.Falle an­

erkannt, wo es selbst das Ziel der Pfeile gewesen war.

„Die so reichlich

dem hl. Stuhle gewährte Garantie, heißt eS in einem am 12. Febr. er­

gangenen Erlaß deS JusttzministerS Vigliari an den Generalprocurator in Rom, könne nicht ohne Schaden, sobald sie die gesetzlichen Grenzen überschreite, die Controle deS Staates entbehren.

Die Unverletzlichkeit

des Papstes für feine Reden, mögen dieselben sein, wie sie immer wollen

und die ihm zuerkannte Freiheit, an den Pforten der römischen Kirchen die Verkündigungen seines geistlichen Amtes anschlagen zu lassen, schließe nicht

die Verantwortlichkeit derer aus, die durch die Presse oder aus andere Weise diese Erlasse weiter verbreiten, sobald dieselben eine Verletzung

der Einrichtungen und Gesetze deS StaateS enthalten."

Schon im April 1875 hatte Victor Emanuel die Genugthuung, den

Kaiser von Oesterreich auf italienischem Boden zu begrüßen und zwar, auf den eigenen Vorschlag Franz

Josephs, in Venedig, wo die beiden

Fürsten unter den Klängen der österreichischen Volkshymne die Versöhnung

feierten.

Der Gegenbesuch deS Kaisers Wilhelm ließ zunächst noch auf

sich warten; dagegen traf schon Ende April der deutsche Kronprinz mit der Kronprinzessin in Oberitalien zu längerem Aufenthalt ein und stattete

von Florenz aus dem Könige in Neapel einen Besuch ab.

ES war die

Zeit, wo in Frankreich das clerical-reactionäre Ministerium Buffet am Ruder war.

Endlich, im October verwirklichte sich die Hoffnung Italiens: Kaiser

Wilhelm entschloß sich zur Reise nach Mailand, eine Reise, die er selbst in dem telegraphischen Bericht an die Kaiserin als einen

„Der Einzug mit dem König in Mailand spottet aller Be­

bezeichnete.

schreibung, so

Lebhaftigkeit. gesehen."

„Trtumphzug"

unaussprechlich

enthusiastisch war er bei der italienischen

Ich habe in meinem ganzen Leben nie etwas AehnlicheS

Bei dem

Galadiner sagte der Kaiser in Erwiderung

des

Toastes Victor Emmanuel's „auf das Heil Sr. Majestät, für das Ge­ deihen Deutschlands und für die fortdauernde Freundschaft der beiden Nationen", er erkenne in den zwischen Deutschland und Italien bestehenden

Sympathien und der ihn mit dem König verbindenden Freundschaft „eine

der Garantien für den europäischen Frieden."

Leider ging der Wunsch,

daß diese Beziehungen stets dieselben bleiben möchten, nicht in Erfüllung. Mit dem Jahre 1876 ändert sich die Lage.

In Frankreich erlitt die

„konservative und wahrhaft liberale Politik" des Marschalls Mac-Mahon

bei den Wahlen zum Senat und zur Deputirtenkammer, welche auf Grund der neuen Verfassung constituirt wurden, eine entschiedene Niederlage.

Wenigstens in der Deputirtenkammer hatten die Republikaner die Majo­

rität.

Die französische Regierung hatte keine Zeit mehr, Italien zu be­

drohen.

Die italienischen Patrioten athmeten auf.

„Das Bischen Herze­

gowina" war zu einem Feuerbrand geworden, der trotz aller Löschversuche mit diplomatischen Noten die orientalische Frage von dem Scheintode er­ weckte — und genau ein Jahr nach dem Besuche des deutschen Kaisers in Mailand

den Kronprinzen und die Kronprinzessin von

finden wir

Italien auf der Reise nach St. Petersburg und die italienischen Blätter

— in Rom war inzwischen die Linke in den Besitz der Regierungsgewalt

gelangt — erörtern Annexion

mit unnachahmlichem Ernste die Eventualität einer

von Wälschthrol und Triest oder des Erwerbes

oder der italienischen Ansprüche auf Albanien!

von Tunis

Ein Stimmungswechsel,

der sofort zu einer ziemlich gereizten Polemik zwischen der italienischen

und der österreichisch-deutschen Presse führte.

Die Thronrede, mit der der

König am 20. November das neue, vorwiegend progressistische Parlament eröffnete, betonte in erster Linie die völlig freundschaftlichen Beziehungen Italiens zu allen Mächten, dann das Vertrauen in den Erfolg der Rath­

schläge zur Mäßigung, welchen die Regierung ihre wirksame Unterstützung

geliehen habe. Endlich aber hieß es: „Getreu allen seinen Verpflichtungen, wird Italien niemals vergessen, daß es bei Uebernahme seiner Großmacht­

stellung gleichzeitig eine Mission übernommen hat, welche dem Fortschritt der Civilisation gewidmet ist."

Damit ist die für Rußland sympathische,

Oesterreich bedrohende Haltung, welche Italien während der weiteren Phasen

der orientalischen Verwickelung einnahm, deutlich bezeichnet.

Aber mehr

als diplomatische Liebesdienste zu leisten, war die italienische Regierung

nicht im Stande, um so weniger,

als während des Jahres 1877 die

Staatsstreich-Politik Mac-Mahon's von Zeit zu Zeit patriotische Beklem­ mungen hervorrief, welche durch die Arbeiten an der Befestigung Roms

wenig erleichtert wurden.

Der Anfang 1878 erfolgte Tod Victor Em-

manuel'S, dem wenige Wochen später der ebenso plötzliche Tod des Papstes

folgte, blieb auf die italienische Politik ohne Einfluß.

Die Versöhnlichkeit,

welche Leo XIII. anderen Mächten gegenüber zur Schau trug, schien nur

darauf berechnet, die Gegnerschaft gegen Italien schärfer und gefahrdrohender hervortreten zu lassen.

Mit unbeabsichtigter Ironie verkündet die Thron-

rede bet Eröffnung der Parlamentssession (7. Februar):

„Die Mächte

Unsere aufrichtige

wünschen Europa einen dauerhaften Frieden zu sichern.

Unparteilichkeit wird unseren Rathschlägen höheren Werth verleihen und daS Beispiel unserer jüngsten Geschichte unS daS Argument bieten, um die der Gerechtigkeit und

den Rechten der Humanität am meisten ent­

Dies ist unsere Ueberzeugung, welche

sprechende Lösung zu unterstützen.

unS die kostbarste Allianz, jene der Zukunft vorbereitet."

Congreß hat diese Prophezeiung bewahrheitet.

Die „Allianz der Zu­

mächtigten kamen mit leeren Händen nach Hause.

kunst" war nicht compromittirt.

Der Berliner

Die italienischen Bevoll­

ES ist die erste große Verwickelung seit

der Neugestaltung Italiens, bei der dem begehrlichen Südländer kein An»

theil

an der Beute gegönnt wird.

greiflich als verdient.

Die Enttäuschung war eben so be­

Selbst wenn die Cairoli, Crispi und Genossen

auf dem Gebiete der auswärtigen Politik freie Hand gehabt hätten —

was bekanntlich nicht der Fall war — so

würden sie die Schranken,

welche die Haltung der deutschen Großmacht den Aspirationen der „Italia irredenta“ setzen mußte, nicht haben überspringen können.

Die „Italia

irredenta“ war im Grunde nichts anderes als eine neue, durch Zweig­ vereine über ganz Italien verbreitete Organisation der italienischen ActionS-

partei, die ihre Anstrengungen zunächst gegen Oesterreich concentrirte, in

der Hoffnung,

aus den Schwierigkeiten der inneren und äußeren Lage

Oesterreich-UngarnS Nutzen ziehen zu können.

Die Occupation der Her­

zegowina und Bosniens auf Grund des Berliner Vertrags gab dieser

Agitation neue Nahrung und die Regierung glaubte schon Großes gethan zu haben, wenn sie der Liga die offictelle Anerkennung verweigerte.

Für

die Cairoli und Genossen war diese Ableitung der radicalen Strömung nach Außen, so heikel dieselbe auch die Beziehungen zu der österreichischen

Regierung gestaltete,

immerhin

eine Erleichterung.

In Frankreich war

Anfang 1879 Marschall Mac-Mahon gestürzt, der Sieg der Republikaner

über die Monarchisten, Bonapartisten und Clericalen eine Wahrheit ge­ worden.

In dem Moment, wo die ersten Friedenstauben zwischen dem

Vatican und der deutschen Hauptstadt wechselten,

die Aera deö Culturkampfs, der

begann in Frankreich

in seinen Rückwirkungen auf Italien

ungleich erfreulicher gewesen wäre, wenn nicht damals schon der Wett­ streit um den dominirenden Einfluß auf Tunis den engeren Zusammen­

schluß Italiens und

Frankreichs

verhindert hätte.

Zur Zeit aber war

das Hauptaugenmerk beider Mächte noch nach Osten gerichtet.

Seit dem

Berliner Frieden waren die Beziehungen zwischen Berlin und St. Peters­

burg sichtlich erkaltet, theils in Folge der Enttäuschung,

das Eingreifen des

„ehrlichen Maklers"

welche Rußland

in die Congreßverhandlungen

bereitet hatte, theils deshalb, weil Deutschland auch nach dem Friedens­

schluß sorgfältig darüber wachte,

daß bei Ausführung des Vertrags die

günstige Position, welche Oesterreich-Ungarn

Weise benachtheiligt wurde.

errungen hatte, in keiner

England, das England Lord BeaconSfielb'S

nämlich, sah mit Recht in Oesterreich die Vormauer gegen die russischen, die loyale Ausführung des Berliner Vertrags in Frage stellenden Agitationen

und so bildete sich eine gewisse Solidarität der Interessen zwischen Eng­ land, Oesterreich und Deutschland heraus, welche Rußland auf das Tiefste verletzte, während Frankreich und Italien gezwungen waren, in einer mehr

passiven Rolle die weitere Entwickelung

Daß damals —

abzuwarten.

Sommer 1879 — Versuche gemacht worden sind, für gewisse Eventuali­ täten eine Verbindung zwischen den drei Unzufriedenen anzubahnen, ist

zweifellos, so wenig sich auch der Punkt bezeichnen läßt, bis zu welchem

das Einverständniß gediehen war.

Auf alle Fälle haben die künstlich

gesponnenen Fäden dem kühnen Griff, den der Reichskanzler durch den Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses that, nicht widerstanden.

Im Frühjahr 1880 aber schien ein ganz unvorhergesehenes Ereigniß, der Sieg der Whigs bei den Neuwahlen zlim englischen Unterhause eine den Hoff­ nungen Italiens günstige Diversion einzuleiten. Die englische Politik schwenkte

mit einer für den Kaiser von Oesterreich persönlich verletzenden Heftigkeit

nach der Seite Rußlands ab, angeblich um die völlige Ausführung des Berliner Vertrages seitens der Türkei zu erzwingen.

Gladstone hoffte

nicht mehr und nicht weniger, als mit Hülfe Frankreichs und Italiens

und unter passiver Assistenz Rußlands über Deutschland und OesterreichUngarn zur Tagesordnung

übergehen zu

können.

Die endlosen DiS-

cussionen über die montenegrinische und die griechische Grenzfrage aber

nahmen ein für Gladstone höchst überraschendes Ende.

Seit der Ber­

liner Conferenz über die griechische Grenzfrage war Frankreich, auf dessen Verfeindung mit Deutschland das

ganze Gebäude der

Actionspolitik ruhte, unsicher geworden.

Gladstone'schen

Die Regierung lehnte die ihr

zugedachte ehrenvolle Rolle, als Mandatar Europa's für Griechenland die Kastanien aus dem Feuer zu holen, höflich aber entschieden ab.

Ende

1880 war England auf der einen, Italien auf der andern Seite völlig isolirt; Rußland an die nihilistische Wand gedrängt; die beiden Verbündeten, Deutschland und Oesterreich-Uligarn im Verein mit Frankreich Herren

des

diplomatischen Schlachtfeldes.

Die Türkei sah sich allerdings ge­

zwungen, den Berliner Vertrag zu executiren und auch Griechenland eine

sehr

erhebliche

wenigstens

Grenzberichtigung zuzugestehen,

aber sie tauschte dafür

die moralische Unterstützung der Mächte ein.

Die

irische

Frage hatte inzwischen in England jedes andere Interesse zurückgedrängt

und, um das Unglück voll zu machen, strich der Mord am Katharinen-

Kanal für's Erste auch Rußland aus der Reihe der actionsfähigen Mächte. Einen günstigeren Moment, dem Streit um Tunis ein Ende zu machen,

konnte Frankreich nicht finden; wer

will eS ihm verübeln,

daß cS den­

selben auSnutzte, ohne Rücksicht auf eine Macht, die, stets in der Furcht, irgend eine Chance zu verlieren,

niemals

einen Einsatz gewagt hatte?

Selbst die Speculation auf die natürliche Eifersucht Englands gegen jeden

Concurrenten

an den Gestaden des Mittelmeers erwies

sich als irrig.

Und heute muß sich Italien sagen lassen, daß daS französische „Protectorat" über Tunis hätte vermieden werden können, wenn die italienischen Staats­ männer klug genug gewesen wären, Frankreich nicht zu provociren! Und wer

sagt das?

Niemand anders als der frühere Minister Lanza, der in einem

Schreiben an den Herausgeber der „Deutschen Revue" die gegenwärtige

Lage Italiens und die Gefahren seiner Zukunft in möglichst dunkeln Farben

schildert, um zu dem Schlüsse zu gelangen, daß es am Besten thun würde,

absoluten Jsolirung zu verharren.

in der Politik der

keinen Illusionen

darüber hin, daß

Lanza giebt sich

„Protectorat"

daS

Frankreichs

in

Tunis nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, daß Frankreich die neugewonnene Position auSnutzen wirv,

auch

gegen Italien.

In den

Häfen von Biferta und Tunis werde Frankreich Arsenale und Werfte

anlegen, so daß eS im Falle eines Krieges mit Italien bei weitem wirk­ samere Offcnsivmittel in der Hand haben werde als dieses.

der Zukunft wird in seltsamer Uebertreibung geschildert,

Die Gefahr um die

über

Frankreichs Vorgehen erbitterte Nation von jedem Schritt zurückzuhalten,

der den französischen Machthabern unbequem

Frankreich

einerseits

sein

könnte.

„Zwischen

und Oesterreich nebst Deutschland andererseits ge­

legen, war es (Italien) Jahrhunderte lang eine streitige Beute, bot eS

den Antrieb zu langen und hartnäckigen Kämpfen zwischen diesen Mächten, öfter auch

die Veranlassung zu großen Umwälzungen.

Jetzt ist

nicht

allein die Ursache des Streites hinweggenommen, sondern Italien hat auch das größte Interesse, Alles daran zu setzen, damit er sich nicht wieder­ hole;

auch hat

eö die Macht erlangt,

ihn verhindern zu helfen.

italienische Politik muß daher darnach trachten,

Die

die Freundschaft beider

Mächte (d. h. Frankreichs und Oesterreich-Deutschlands) sich in gleicher

Weise zu verschaffen,

indem eS bei jeder neu auftauchenden Frage die

Vertheidigung des guten Rechts (etwa

rechtigkeit" Gambetta'S?)

auch die der „immanenten Ge­

übernimmt und

indem

eS sich fern hält von

jedem irgendwie gewagten Unternehmen und von Tendenzen, welche bet den benachbarten Mächten Verdacht und Mißtrauen erregen können.

Man

hat zum Oefteren die Nothwendigkeit für Italien betont, Bündnisse abzu-

schließen, welche es gegen eventuelle Gefahren im Voraus sichern könnten,

aber in der Regel pflegt man Bündnisse nur in der Voraussicht un­ mittelbar bevorstehender Conflikte und für einen bestimmten und festen

Zweck abzuschließen.

Glücklicher Weise befindet sich

Italien

nicht in

solcher Verlegenheit, denn es ist von keiner Seite bedroht." Lanza läßt einen Punkt — und zwar den wichtigsten, absichtlich bet

Seite: daß die Freundschaft Oesterreichs nur um einen Preis feil ist, um den Preis des entschlossenen Bruchs mit der Fiction, daß der junge Staat

seine ganze Existenz und die Möglichkeit jeder gesunden innern Entwickelung auf'S Spiel setzen müsse, um die unter dem Joche der „Fremdherrschaft"

schmachtenden Stammesgenossen in Triest und Trient zu befreien und der Ein­ sicht, daß selbst in dem Falle, wo eS Italien mit Hülfe irgend einer Allianz

gelänge, Süd-Tirol an sich zu reißen, Deutschland nie dulden würde, daß

der Hafen von Triest und das sogenannte Einfallsthor von Trient in die

Gewalt Italiens fielen.

Den genauen Inhalt des deutsch-österreichischen

Bündnißvertrages kennen wir nicht; aber daß nach dieser Seite hin der Besitzstand Oesterreichs garantirt ist, kann um so weniger bezweifelt werden,

als Deutschland schon während des russisch-türkischen Krieges der italieni­ schen Regierung zu verstehen gegeben hat, es werde einen Angriff auf das

Grenzgebiet Oesterreichs nicht dulden.

Zwischen Oesterreich, Deutschland

und Italien steht nichts als die Italia irredenta, mit einem Worte: die

radikale und republikanische Partei; dieselbe, die jetzt eine Annäherung der Regierung an die Cabinette von Berlin und Wien mit der Phrase

zu hintertreiben sucht, der König von Italien würde an den beiden Höfen

verschlossene Thüren finden, wenn er nicht feierlich vor ganz Europa den absoluten Verzicht auf Trient und Triest verkündige.

Der Erklärungen

bedarf eS nicht, wenn die italienische Regierung endlich Ernst zeigt, einer Agitation ein Ziel zu setzen, welche ihre Autorität im eignen Lande auf daS Bedenklichste erschüttert.

ES bedarf auch nicht der andern Erklärung

daß Italien die Vorherrschaft Frankreichs in Tunis anerkenne.

Die Po­

litik der letzten Monate hat die Ohnmacht Italiens in der Tunesischen

Frage zur Genüge coristatirt.

Seine Annäherung an Deutschland ist un­

denkbar, wenn dieselbe von dem Hintergedanken

eingegeben wäre, in

Berlin eine Stütze zu finden, die eben erlittene Niederlage wett zu machen.

Niemand kann es für möglich halten, daß Deutschland einer italienischen Allianz zu Liebe Frankreich zu dem Revanchekrieg geradezu herausfordern

könnte.

Wenn die Eventualität einer Verwickelung mit Deutschland nicht

ausgeschlossen wäre, würde Italien sich wahrscheinlich über Frankreich nicht

zu beklagen haben. In Wirklichkeit ist die Lage nicht die, daß Deutschland-Oesterreich der

Allianz Italiens bedürfen, sondern daß Italien daS Bedürfniß fühlt, in vas neue „europäische Concert" ausgenommen zu werden.

Das Gefühl

der Vereinsamung und daS Bewußtsein der daraus entspringenden Gefahr wird durch die Möglichkeit einer Aussöhnung des deutschen Kaiserreichs mit dem römischen Stuhl nicht abgeschwächt werden.

Länger als ein Jahr­

zehnt hat der Conflict zwischen dem Vatikan und der deutschen Regierung der letztern die Pflicht auferlegt, Italien zu schützen.

Mit dem Friedens­

schluß zwischen Berlin und Rom fällt dieser für Italien so wohlthäige

Zwang fort.

Und noch mehr.

In Italien weiß man wohl am besten, daß Leo XIII.

nicht das Ziel der päpstlichen Politik aufgegeben, sondern nur die Mittel

gewechselt hat, mit denen er die Wiederherstellung des Papstthums er­ strebt.

Die ersten Kundgebungen deS neuen Papstes haben überall den

Eindruck gemacht, als ob der italienische Papst nur Italien unversöhnlich

gegenüber

stehe.

Und solange eine Aussöhnung deS Papstthums

mit

Italien nicht erfolgt, ist jede Besserung in dem Verhältniß deS Papstes

zu den europäischen Staaten eine indirekte Bedrohung Italiens.

ES war

augenscheinlich kein zufälliges Zusammentreffen, daß gerade in der Zeit, wo die Verhandlungen mit Berlin wieder ausgenommen wurden, die Curie

und Papst Leo XIII. selbst eS unternahmen, die scandalösen Vorgänge der Nacht vom 12. auf den 13. Juli als eine Bedrohung des Papstthums bar«

zustellen und an Europa zu appelliren.

Pius IX. hatte in seinem Testa­

mente angeordnet, daß seine Leiche in der Basiltca deS h. Laurentius außerhalb ver Stadt Rom beigesetzt werde.

Anordnung unausgeführt geblieben.

Drei Jahre lang war diese

Jetzt sollte die Leiche PiuS IX., des

Erfinders der Lüge von dem „Gefangenen im Vatican"

mitten in der

Nacht begleitet von Tausenden von Fackelträgern und unter den Klängen

der Todtenlieder die Stadt Rom in ihrer ganze Länge durchziehen.

Und

da beklagt man sich, daß die Gegner des unfehlbaren Papstes, der, wie Mario auf dem Meeting am 6. August auSrief, im Jahre 1848 unsere

Fahnen segnete, um sie 30 Jahre lang zu verfluchen, in jenem nächtlichen Aufzuge nichts anderes sahen, als eine Provokation!

In dem Rundschreiben

Mancini's an die Vertreter Italiens im Auslande heißt es in dieser Be­ ziehung: „Der italienischen Gesetzgebung sowie auch der Gesetzgebung an­ derer Länder gemäß sind religiöse Umzüge, selbst zur Tageszeit, außerhalb

der Kirchen und in den öffentlichen Straßen nicht gestattet, wenn die be­

hördliche Bewilligung dazu verweigert wird. Nächtliche Umzüge, welche eine beinahe unvermeidliche Gelegenheit zu Unordnungen bieten, sind in Italien

geradezu verboten, selbst wenn sie keinen politischen Zweck und keine po­

litische Bedeutung haben sollen.

An die Regierung deS Königs wurde

nicht nur kein Ansuchen um die Erlaubniß zur Abhaltung eines nächtlichen

Umzuges gestellt (welche Erlaubniß nothwendiger Weise verweigert worden wäre), sondern eS wurde überhaupt nicht um die Erlaubniß zur Abhaltung irgend eines Umzuges nachgesucht; ja, in dem Gesuche, welches von dem Architecten des Vaticanö, Grafen Vespignani als Beauftragten der drei

Cardinäle und TestamentSexecutoren des verstorbenen Papstes PiuS IX.

gezeichnet war, wurde die Abhaltung eines Umzuges der Gläubigen durch­ aus ausgeschlossen; die Uebertragung sollte zur Nacht, ohne die Leichen­

wagen von einem anderen Gefolge mit Ausnahme von zwei oder drei

Wagen begleiten zu lassen, vor sich gehen und zwar in durchaus privater Form, gerade um jedwede Oeffentlichkeit auszuschließen und dadurch dem letzten Willen des Papstes selbst Genüge zu leisten.

In diesen Grenzen

und unter diesen Bedingungen gab die Behörde ihre Zustimmung.

In

Folge dessen bildet die einfache Thatsache, daß ein Umzug von Tausenden von Personen, mit Fackeln zur Nachtzeit abgehalten und früher geheimniß­ voll zusammenberufen und organisirt wurde, nicht nur eine Irreführung

der Behörden und einen Vorgang, der darauf berechnet war, die verein­ barten Bedingungen zu verletzen; sondern es ist dies schon an und für

sich eine flagrante Verletzung deS Gesetzes und eine strafbare Handlung,

deren Thäter und in erhöhtem Maße die Anstifter mit Fug und Recht der gesetzlichen Ahndung verfielen."

In der Allocution vom 4. August

sagte Leo XIU., aus jenen Vorgängen könne die katholische Welt ersehen,

waS eS mit der Sicherheit des Papstes in Rom auf sich habe.

Wenn

schon die Ueberführung der sterblichen Hülle PiuS IX. die unwürdigsten Ruhestörungen zur Folge gehabt habe, wie könne Jemand Bürgschaft da­

für übernehmen, daß die Frechheit böswilliger Menschen nicht ebenso zu Tage treten würde, falls dieselben den Papst in einer seiner Würde ent­ sprechenden Weise durch die Stadt ziehen sähen.

DaS beweise immer

klarer, daß der Papst gegenwärtig nicht in Rom weilen könne, denn als

Gefangener im Vatican.

Mancini hat in dem erwähnten Rundschreiben

schon im Voraus gegen diese Schlußfolgerung protestirt, indem er be­

merkte, wenn eS dem Papste genehm wäre, in den Straßen von Rom sich zu zeigen, so wäre das, weit entfernt, gleich den Vorfällen vom 13. Juli

eine ungesetzliche That und eine politische Provocatton zu bilden, in den Augen der Italiener die erwünschte Ausübung eines eminenten Rechtes

und die unmittelbare Anerkennung der gegenwärtigen Ordnung der Dinge.

Mancini hätte noch

hinzufügen können, daß die Ver­

schwörungen gegen das Papstthum, über welche Leo XIII. Klage führt,

provocirt worden sind durch die offene Feindseligkeit deS Papstthums gegen den nationalen Staat.

Auf dem Meeting vom 6. August, an dem sich

übrigens nur Republikaner und von Mitgliedern des Parlaments nur Menotti Garibaldi betheiligten, wurde folgende Motion — deren Ver­

lesung die Polizei freilich nicht gestattete — beschlossen:

daß

„In Anbetracht,

daS Papstthum und die italienische Einheit ein politisch-historischer

Widerspruch sind, daß die Päpste 35 Mal Fremdlinge nach Italien riefen,

daß das Papstthum die National-Souveränetät beeinträchtigt, daß das göttliche Recht, worauf daS Papstthum fußt, mit dem italienischen, VolkSrecht unverträglich ist, daß daS Papstthum

als religiöse Institution im

Geist, im Princip und im Zwecke die Selbstständigkeit der Vernunft und

des Gewissens verneint, jedem modernen Rechtsbegriff widerspricht und sich

im Dunkel deS Mittelalters verliert (I),

daß das

Garanttegesetz als

Stützpunkt der souveränen Autorität der Nation jenes Dunkel neu belebt (!): in Anbetracht alles dessen verlangt daS römische Volk die Abschaffung der

Garantiegesetzes und die Besitznahme

aller

päpstlichen

Paläste."

DaS

Greifbare In diesen wahnwitzigen Phrasen, die heute die Runde durch alle größeren Städte Italiens

machen,

ist die Verurtheilung deS Ga­

rantiegesetze, über dessen Wirkungslosigkeit dieselbe Curie sich beklagt, die

demselben von Anfang an ihre Anerkennung versagt hat. der

im

Gesetze

Die Annahme

auSgeworsenen Dotation (3,225,000 Franken jährlich)

freilich hat der Papst verweigert,

weil die Annahme derselben

gleichbe­

deutend sein würde mit der Anerkennung deS Status quo; von den könig­

lichen Vorrechten, welche daS Gesetz ihm anweist,

macht er keinen Ge­

brauch, um die Rolle des „Gefangenen im Vatican" spielen zu

im Uebrigen aber nutzt er die absolute Freiheit, mit vollen Händen gegeben hat,

können;

welche der Staat ihm

rücksichtslos aus,

um desto energischer

den Kampf gegen die „Räuber" deS Kirchenstaats fortsetzen zu können.

Auf

Grund der Freiheit, welche daS Garantiegesetz ihm einräumt, hat Pius IX.

den König Victor Emmanuel in seiner eigenen Hauptstadt in den Bann gethan; zahllose Allocutionen, die in der verletzendsten Weise die italienische

Regierung angrtffen, sind an den Thüren der Kirchen Roms angeschlagen worden.

Der Verkehr des Papstes mit den Katholiken aller Länder ist

keiner Controls unterworfen.

Die Regierung

hat sich jedes Einflusses

auf die Anstellung der Geistlichen begeben — und doch diese Klagen über die Unfreiheit, den Mangel an Unabhängigkeit deS Papstes und die be­

ständige Drohung, das „Gefängniß" zu verlassen und im AuSlande Schutz

gegen die unerträgliche Tyrannei Italiens zu suchen! gegen das antinationale Papstthum,

Die Agitation

welche heute von den Radicalen in

Scene gesetzt wird, wer anders hat sie angefacht als die Schleppenträger der Curie selbst!

Jetzt, wo der Sturmlauf gegen das Garantiegesetz be­

ginnt, möchte die clericale Presse demselben sogar einen internationalen Preußisch« Juhrbüchtr. Bd. XLVIIL Heft 3.

23

320

Italien und das deutsch-österreichische Bündniß.

Character vtndiciren, obgleich das Gesetz aus der freiesten Initiative der Regierung

hervorgegangen ist.

Nichtsdestoweniger wird die italienische

Regierung nie zulassen können, daß das Garantiegesetz in Frage gestellt wird.

Aber sie kann auch nicht hoffen, den h. Stuhl zur Anerkennung deS Status quo und zum Verzicht auf die Wiederherstellung der weltlichen

Macht deS Papstthums zu bewegen, solange sie im Gegensatz zu den

Mächten verharrt, von denen das Papstthum, mit Recht oder mit Unrecht, heute oder morgen eine Unterstützung erwartet.

Schon jetzt fehlt cS nicht

an Symptomen, daß man im Vatikan an eine Aussöhnung mit Preußen

und Deutschland Erwartungen knüpft, die sich zweifellos als gefährliche Illusionen erweisen werden, die aber in der Zwischenzeit Italien in hohem Grade unbequem werden können.

Ein Anschluß Italiens an Deutschland und Oesterreich würde allen diesen Beunruhigungen vorbeugen, den Verzicht

auf

ohne dem jungen nationalen Staate

irgend eines seiner wahren Interessen aufzuerlegen.

Seiner Jsolirung verdankt es die schmerzlichen Enttäuschungen der letzten

Jahre.

In Egypten sind seine Interessen von England und Frankreich

ignorirt worden;

Tunis

hat Frankreich endgültig mit Beschlag belegt;

ein Italien, welches Niemandes Freund ist, wird

auch bei der weiteren

Entwicklung der Mittelmeer-Frage unberücksichtigt bleiben.

Der Militär-Aufstand in Egypten, dessen Consequenzen heute noch nicht zu berechnen sind, möge für Italien eine Mahnung sein, den Ent­ schluß, den eS einmal fassen muß, bald zu fassen.

Italien kann auch nach der Kaiserzusammenkunft in Danzig, deren

Bedeutung nicht zu unterschätzen, aber angesichts der Probleme der inneren

russischen Politik auch nicht zu überschätzen ist,

zu der Befestigung deS

Friedens Europas, dessen eS für seine innere Entwicklung so dringend bedarf, ein gutes Theil beitragen.

Wird eS auch wollen?

Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.

ir.

Karl Wilhelm Nitzsch. Bon Richard Rosenmund.

Am 22. April 1880 las Nitzsch noch bei voller körperlicher Rüstigkeit in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine Abhandlung:

niederdeutsche Kaufgilden.

Ueber

Wenige Wochen später traf ihn ein Schlag­

anfall, und bereits am 20. Juni war er aus dieser Welt geschieden.

Der

Philosoph Harms, mit dem ihn die innigste Freundschaft seit den Knaben­

jahren verband, war ihm unmittelbar im Tode vorauf gegangen, und die tiefe Erschütterung über diesen schmerzlichen Verlust, wie sie diejenigen,

welche damals Nitzsch zu beobachten Gelegenheit hatten, berichten, mochte mit dazu beigetragen haben, daß Störungen deS Organismus bei diesem zu dem Ausbruch kamen, der ein so schnelles Ende herbeiführte.

Jeden­

falls starb Nitzsch unerwartet, und sein Todesfall berührte darum alle die,

welche ihm nahe standen, um so schmerzlicher.

Aber ein weiteres kam

hinzu, das BeklagenSwerthe dieses Ereignisses zu vermehren.

Der Tod

rief Nitzsch mitten in der Arbeit ab, als er gerade Hand daran legte in einer Darstellung der deutschen Geschichte das Resultat seines Gesammt-

wissens zu ziehen und ein monumentales Bild seines Könnens zu schaffen.

Eine solche Leistung fehlt unter den Werken, die er uns als Zeugen seiner Bedeutung für die historische Wissenschaft hinterlassen.

Nitzsch concentrirte

sich nun in seinen Arbeiten stets auf das Thema und trotz weiter Blicke, die er uns in das ungeheure Feld seines historischen Wissens thun läßt,

sehen wir den Gelehrten immer nur von einer Seite; und meist nicht

einmal von der richtigen.

Aber so sehr, wie wir eben meinten, Nitzsch sich

im Einzelfall auf sein Thema concentrirt, so sehr sind doch alle diese einzelnen Arbeiten auf der einheitlichen Basis einer Methode der Forschung

und eines Zieles der geschichtlichen Erkenntniß aufgebaut und sind Aeuße­ rungen

einer in Geschichtsauffassung und Weltanschauung in sich ge­

schlossenen und originalen Persönlichkeit.

Preußische Jahrbücher. Bd.Xl.Vlll. Heft 4.

DaS Einzelwerk gewinnt darum 24

erst im Zusammenhang mit den andern den Werth, den es für die Beur­

theilung seines Verfassers enthält. So winkt doppelt gebieterisch die Aufgabe, was er im Einzelnen ge­

schaffen, zusammenfassend zu betrachten und unter Berücksichtigung seines LebensgangeS den Versuch zu machen, an Stelle des Monuments, daS

ihm sich selbst zu setzen daS Geschick versagte, ein anderes wenn auch viel bescheideneres Denkmal seiner großen wissenschaftlichen Leistungen in diesen

Blättern ihm zu errichten.

I. Karl Wilhelm Nitzsch war am 22. December 1818 zu Zerbst geboren;

dort und in Wittenberg verlebte er die ersten Kinderjahre.

Er war der

Sprosse eines gelehrten Geschlechts, das seinen Beruf im geistlichen Amte und im akademischen Lehrerstande, seine geistige Arbeit in der theologischen Forschung suchte.

Erst der Vater Gregor Wilhelm hatte die Theologie

verlassen und sich der Philologie zugewandt; ihn hatte daS gewaltige Ta­

lent Lobeks, der damals, als Gregor Wilhelm die akademischen Studien begann, in Wittenberg wirkte, angezogen und für dessen Wiffenschaft ge­

wonnen.

Man kann nun bei diesem Geschlechte gelehrter Männer dieselbe

Beobachtung machen, die unS in der Geschichte wiederholt entgegentritt, daß da, wo in einer Familie ein bestimmter Wirkungskreis im Leben als der herkömmliche gilt, dem Generation auf Generation sich widmet, nicht

blos bestimmte Anschauungen sich forterben, sondern auch gewisse geistige

Züge und geistige Neigungen sich fortpflanzen.

Betrachten wir die drei

Persönlichkeiten dieses Geschlechts, die uns speciell interessiren, weil sie

geistigen Einfluß auf Karl Wilhelm ausgeübt, nämlich außer dem Vater den Großvater Karl Ludwig, der als Prediger, Professor und Director deS Predigerseminars in Wittenberg gewirkt hat, und den Oheim Karl Immanuel, der als Professor, Probst und Mitglied deS Kirchenrathes in

Berlin eine bedeutsame Thätigkeit entfaltete, so erkennen wir unschwer an ihnen solche charakteristischen gemeinsamen Eigenthümlichkeiten ihrer geistigen

Naturen und gelehrten Interessen. alle drei einen universalen Ztig.

In ihrem Wissensdrange offenbaren

Den Grund dazu hatte wohl die Bildung

gelegt, die sie auf der Schnlpforte und zu S. Afra empfangen. Denker ferner sind sie höchst original.

Als

Es genügt dafür wohl der Hin­

weis auf Gregor Wilhelms Erörterungen der homerischen Frage,

auf

Karl Ludwigs Versuch die Mysterien der Offenbarung und die Lehren

der Kantischen Philosophie zu einem Religionssystem vereinen zu wollen.

Dann aber sehen wir auch darin etwas gemeinsames, wie sie sich auf den

verschiedenen Feldern ihrer Geistesarbeit mit Vorliebe den dunkleren und

geheimnißvolleren Gebieten zuwenden.

Bei Gregor Wilhelm herrschte das

Interesse für den griechischen MythoS vor, für Karl Immanuel bildeten die Mysterien der Sacramente den eigentlichen Boden der Spekulation,

und Karl Ludwigs Gedankenkreis nahm das Mystische der Offenbarung doch vor allem gefangen.

Man halte daö nun so zusammen — das alte

Wittenberg gleichsam die Wiege des Geschlechts, die in der Geschichte un­ seres deutschen geistigen Lebens so gefeierten Orte Meißen und Schul-

pforta die Stätten seiner Bildung, die akademische Thätigkeit der herge­

brachte Wirkungskreis, die wissenschaftliche Forschung Lebenszweck, in der Forschung Richtung auf das Universale verbunden mit absoluter Origi­

nalität und beeinflußt durch einen spekulativen Zug für daS Geheimniß­ volle, Dunkle in der Ueberlieferung der Fachwissenschaft — ich denke, die Linien, welche den äußern Lebensgang von Karl Wilhelm umgrenzen sollten, aber auch die, auf welchen sich seine geistige Thätigkeit bewegen

würde, lassen sich erkennen, und ich meine weiter, manche Eigenthümlichkeit

dieses Letzteren, von der zu berichten sein wird, findet in jener Betrachtung die Erklärung.

Aber neben dem, waS der Einzelne durch Geburt, Erziehung und Angehörigkeit an eine durch bestimmten Wirkungskreis gefestigte Familie

überkommt, entwickelt sich der Mensch zu dem eigenartigen Wesen, als welches er schließlich dasteht, abgesehn von individuellen Eigenthümlichkeiten, unter der Einwirkung dessen, waS er erlebt.

Und ein Erlebniß in diesem

Sinne, daS bedeutendste vielleicht für Karl Wilhelm überhaupt, war eS,

daß er 1827, als sein Vater als Professor nach Kiel übersiedelte, die ehemals kursächsischen Lande mit den Elbherzogthümern als Aufenthaltsort

vertauschte.

Hier in Holstein wurde auS dem Nachkommen der Theologen,

dem Sohne des Philologen, ein Historiker.

In Kursachsen um die alte Stätte des Protestantismus, um Witten­ berg herum, da mochte daS theologische Interesse bei den Vorfahren alle anderen überwiegen und ihrem gelehrten Eifer reiche Nahrung geben; in der neuen Heimath pulsirte lebendiges geschichtliches Leben, da überwogen

denn auch die historischen Interessen.

Holstein war seit 1806 im Ver-

fassungSstreit mit Dänemark, seit dem Wiener Congreß befand eS sich in einer eigenthümlichen Doppelstellung zwischen Deutschland und Dänemark.

Jener fortdauernde Conflikt mit der Regierung, die

fortgesetzten Be­

mühungen der Ritterschaft um Herstellung der landständischen Verfassung machten daS Land zum Schauplatz eines regen politischen Lebens.

Gegen­

über dem dänischen Patriotismus erwachte daS deutsche Nationalgefühl,

daS Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit Deutschland erstarkte, und eS wurde dieses Bewußtsein gekräftigt, wenn man die Waffen für den

24*

Streit um die Selbständigkeit aus der Rüstkammer der Geschichte holte. Mittelpunkt der ganze»» Bewegung war Kiel und in Kiel die Universität.

Und wenn hier friedliche Männer der Wissenschaft, sie die Freunde stiller

Geistesarbeit im ruhigen Gelehrtenzimmer, in das öffentliche Leben hinaus­ traten und mannhafte Streiter im politischen Kampfe wurden, waS Wunder,

daß auf diesem Boden und in dieser Atmosphäre Karl Wilhelm, der die neue Heimath inzwischen so lieb gewonnen, daß er durch und durch ein richtiger Holsteiner geworden, zum Historiker heranreifte. Von 1839—1842

studirte Nitzsch Geschichle in Kiel

Lehrer.

und Berlin.

Hier war Ranke sein

Der große Historiker hatte seine Schule bereits fest begründet,

die kritischen

Forschungen wandten sich

energisch dem Mittelalter zu.

Nitzsch lebte sich in die Methode Rankes ein, genoß ganz die vielfachen Anregungen dieses eminenten Geistes

und erfüllte sich

mit lebendigem

Interesse für die mittelalterliche Forschrmg; aber die eigene historische Be­ gabung versuchte er auf dem Gebiete der alten und speciell der römischen

Geschichte.

Neben Rankes persönlichen Anregungen und schriftstellerischen

Einwirkungen zog ihn übermächtig der Geist Niebuhrs an.

Die deutsche

historische Literatur hatte damals, als Nitzsch seine Studien begann, be­

reits eine stattliche Reihe glänzender Namen

und vortrefflicher Bücher

aufzuweisen, die sich dem Mittelalter zugewandt hatten. Wilken, Stenzel, Raumer.

Ich erinnere an

Und Nitzsch machte sich gründlich mit den

Werke»» dieser Männer vertraut.

Aber Niebuhrs römische Geschichte wurde

ihm doch das interessanteste Werk der derttschen historische»» Literatur; unb

dazu wirkte verschiedenes mit.

Einmal blieb es für die historische Kritik

das bahnbrechende Werk; dann war seine Eigenart und ist auch he»»te noch überaus fesselnd; ferner wirkte der JnteressenkreiS des Vaters mit auf den Sohn, und schließlich war es unzweifelhaft das dunkle Gefühl der

individuellen Befähigung, die Geschichte im Geiste NiebuhrS erforschen zn können, was ihn zu diesem hinzog.

Den»» es geht doch in der Wissen­

schaft wie in der Kunst, geheimnißvolle Kräfte weisen dem Talente seinen Weg.

Und gerade als Schüler Rankes mußte ihm der Plan kommen,

waS Niebuhr begonnen, fortzusetzen.

Rankes Schriften, von denen auch

bereits die „deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation" erschienen

war, boten dem Jünger der Geschichtswissenschaft das Beispiel einer GeschichtSdarstellung, welche über das quellenkritische Referat hinaus sich zur lebendigen Anschaulichkeit der geschichtlichen Vorgänge erhob. Unter dieser Einwirkung und getrieben von individuellen Neigungen entwickelte sich bei

Nitzsch jene Richtung der Forschung, die rticht bei den aus der Quellen­ kritik gewonnenen thatsächlichen Erfahrungen stehen bleibt, sondern das

Thatsächliche im pragmatischen Zusammenhänge aufsucht und als geschicht-

liche Leistung bestimmter Zeiten und Menschen verstehen will.

Dazu aber

mußte er eine klare Anschauung der Vorgänge zu gewinnen erstreben.

Der Stand nun des Materials, wie es damals für die Geschichte des

Mittelalters vorhanden war, ließ allenfalls für diese Periode einzelne

Momente weltgeschichtlicher Verwicklungen verstehen, gestattete aber durchaus noch nicht, die Entwicklung der Dinge anschaulich darzustellen.

Wollte

Nitzsch nicht wie Ranke der neueren Zeit mit seinem Versuch sich zuwenden, so sah er sich auf die antike Welt hingewiesen und für diese war denn NiebuhrS Leistung die hellste Leuchte, der er dann auch folgte.

Er setzte

mit seiner Forschung da an, wo Niebuhr aufhörte. II. Die römische Geschichte zerfällt nach dem Stande der Ueberlieferung

in zwei große Abschnitte, die durch den ersten punischen Krieg von ein­

ander getrennt werden.

Für den Zeitraum vorher haben wir gar keine

gleichzeitigen Quellenschriften, für den Zeitraum nachher haben wir zwei­ mal gleichzeitige Quellengruppen,

in dem großen Stück zeitgenössischer

Ueberlieferung in CatoS und PolybiuS' Schriften, sowie in den Schrift­

stellern des ciceronianischen Zeitalters.

Nitzsch hatte sich mit seinem Buche

über PolybiuS (1843) über den Stand der Ueberlieferung für die Zeit

des hannibalischen Krieges und die ersten Decennien nachher zu orientiren gewußt.

Das Hinübergreifen über den Quellenvergleich für diesen Zeitraum zu quellenkritischem Studium früherer und späterer Abschnitte der Repu­

blik und namentlich der Verfassungsentwicklung in denselben ergab sich dabei von selbst.

Je mehr sich ihm PolybiuS erschloß, je mehr er in

dessen Stellung zum Kreise der Scipionen Einsicht gewann, den doctrinären Zweck seines Werks erkannte, die leitende politische Idee darin

verfolgte, desto mehr stellte sich die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit und nach der Richtigkeit seiner Auffassung vom römischen Staate als richtig dar und desto mehr mußte der Kritiker mit der äußern und innern Controlle

bedeutend rückwärts und vorwärts in der römischen Geschichte ausgreifen. Hier nach vorwärts bildete die Revolution der Gracchen den Grenzpunkt.

Und dieser Grenzpunkt bildete bald mehr als den Schlußstein seiner

kritischen Untersuchung über PolybiuS; er wurde der Mittelpunkt der wei­ teren Studien von Nitzsch und der Vorwurf für eine darstellende Behand­

lung eines Jahrhunderts der römischen Geschichte.

Der gelehrte Kenner

deS PolybioS und seiner Zeit bürste sich vor andern dazu berufen fühlen,

die Ursachen dieser Revolution aufzusuchen, ihren Verlauf zu betrachten und daS Ergebniß seiner Studien darzustellen.

Er mußte aber auch vor

andern gerade den Anreiz empfinden, sich diesem denkwürdigen Abschnitt

der römischen Republik zuzuwenden.

So lange es eine wissenschaftliche

Behandlung der römischen Geschichte gab, hatte man daS Eigenartige,

fast Wunderbare und Unerklärliche dieser gracchischen Bewegung empfun­ den.

Am Ende der ruhmreichsten Periode der Republik, am AuSgang

der Kriege, durch welche Rom sich die Weltherrschaft errungen, am Ab­ schluß des Jahrhunderts, in welchem Rom mit dem Eintritt in die eigent­

liche Interessensphäre der hellenischen Welt sich schnell auch die hellenische Bildung angeeignet, nach dem Verlauf eines Säculums, daS so glän­ zende Namen, wie die der Scipionen, so sittliche Erscheinungen, um im

Sinne der früheren Geschichtsauffassung zu sprechen, wie die des älteren TiberiuS SemproniuS Gracchus und des älteren Cato in seinen Annalen

verzeichnet, als Endresultat einer Entwicklung, die Rom zu ungeahnter Machtfülle emporhob, geleitet von großen Staatsmännern, gefördert durch die hellenische Kultur,

Revolution.

fand der Forscher in der Geschichte Roms eine

Er stand vor einem Räthsel, und diese gracchischen Bewe­

gungen erhielten mit dem Charakter eines solchen auch den ganzen An­

Für Nitzsch aber wurde dieser Anreiz, wie

reiz desselben für die Lösung.

schon bemerkt, ein besonders starker.

Unter dem nämlich, was in Nie­

buhrs römischer Geschichte ihn so überaus anzog, standen ihm die Be­

trachtungen obenan, welche jener über die natürlichen Verhältnisse einer

ackerbauenden Bevölkerung, verkehrs u. ä. anstellte.

über geographische Bedingungen des

See­

Sein Buch über Polhbius lehrt uns deutlich, wie

Nitzsch gerade in dieser Richtung seinen Blick in die römische Geschichte zu vertiefen sich bemühte und wie bei dieser Vertiefung seiner geschicht­

lichen Anschauung sich seine eigenartige Richtung ausbildete, den natür­ lichen Einfluß der wirthschaftlichen Verhältniffe auf die politische Ent­ wicklung der Völker zu beobachten.

Für die Revolution der Gracchen

hatte die bisherige geschichtliche Betrachtung das Verständniß noch nicht

erschlossen, sie war ein ungelöstes Problem jener Art der Forschung, die aus der Willkür der Persönlichkeiten an die Erklärung ging,

wie

auch derjenigen Auffassung, die aus dem Jdeenkreis politischer Partei­

kämpfe die Lösung versuchte. eine agrarische, wie man sagte.

Ihrem Charakter nach war sie offenbar

Nitzsch wählte für seine Anschauung statt

dieser so weiten Bezeichnung die festere der wirthschaftlichen Revolution

und damit mußte die Aufgabe, die Umwälzung geschichtlich zu verstehen, nothwendig den höchsten Reiz für ihn erhalten. seiner weiteren gelehrten Studien.

Sie wurde das Centrum

Zur Vorbereitung für diese Arbeit

machte er im Sommer 1843 eine Reise nach Italien und Sicilien.

Ueber-

all war er ein aufmerksamer Beobachter der wirthschaftlichen Zustände in

Ackerbau und Viehzucht, er bemerkte ihre Abhängigkeit von lokalen Ver­ hältnissen, von Bodengestaltung und Klima; er stellte Vergleiche der Ge­

genwart und der antiken Vergangenheit an und brachte eine Fülle von

Anschauungen über das wirthschaftliche Leben UnterilalienS und Siciliens in die Heimat mit.

Dann legte er Hand an das Werk selbst und dieses

liegt uns vor unter dem Titel:

Die Gracchen und ihre nächsten Vor­

gänger (1847).

Es ist ein merkwürdiges, aber höchst beachtenswerthes Buch.

Auf

einer Fülle kritischer, politischer, staatsrechtlicher, nationalökonomischer Be­ trachtungen, an denen wir die Tiefe deS Gedankens, den Scharfsinn der Combination, das Umfassende des geschichtlichen Blickes, den Reichthum

der Analogien bewundern, baut er sein Ergebniß auf.

Und was er

schreibt, ist mehr alS bloße Untersuchung, eS ist durchaus Geschichte.

Die

Kriege Roms und seine Verfassungskämpfe, die wirthschaftlichen und so­ cialen Verhältnisse deS Centrums der Republik und ihrer Provinzen, Staats­

verwaltung und Finanzwesen, Steuer- und Militairshstem, wissenschaft­ liche politische Theorien und praktische Parteipolitik und inmitten aller

dieser Regungen des geschichtlichen Lebens die einzelnen Persönlichkeiten,

als Leiter deS StaatSwesenS wie als Führer der Parteien, durch Fami-

lientradition, persönliche Erlebnisse und zeitgenössische Vorgänge ein Pro­ duct ihrer Zeit, in der Art, wie sie sich dies Erbe ihrer Zeit aneignen

und schließlich ihre Ideen gestalten und danach handeln, Schöpfer ihrer Zeitgeschichte:

das alles faßt Nitzsch zur Geschichte des sechsten und eine-

Theils des siebenten

Jahrhunderts der Stadt zusammen.

In der Art,

wie er vermeidet, bekanntes wieder zu erzählen, wie er mit sichtbarer Freude an die Charakteristik der Persönlichkeiten geht,

erkennt man

leicht den

Schüler Rankes;

Zusammenstellen der äußeren und Anhänger Niebuhrs.

im detaillirten Bilde in

dem fortlaufenden

inneren Geschichte der Republik den

So hat er in diesem Buche eine glückliche Fort­

bildung dessen, was er von seinen Meistern in der Methode überkommen

zur eigenartigen Form der Geschichtsbetrachtung und Geschichtsschreibung erreicht.

Aber nicht gleich mit der Bedeutung des Buches und nicht ent­

sprechend seinem interessanten Inhalt ist der schriftstellerische und in ge­ wissem

Sinne der wissenschaftliche Erfolg des

Werkes gewesen.

Grund hiervon ist in der Form der Darstellung zu suchen. eine große Schwierigkeit

für

die Anordnung

Der

Es lag schon

des Stoffes darin, daß

Nitzsch äußere und innere Geschichte, wie sie sich im Gang der Ereignisse faktisch stets durchdringen, so auch in der Darstellung in fortlaufenden

Zusammenhang zu bringen gedachte.

Jeder Anhalt einer künstlerischen

Gestaltung deS Ganzen, um diese Bezeichnung zu gebrauchen, fiel dann

Karl Wilhelm Nitzsch.

328

aber weg, als Nitzsch im Interesse der Beweisführung die Darstellung

durch umfangreiche Untersuchungen zu unterbrechen für nöthig erachtete. Jedoch dieses Fehlen der höheren Einheit der Form ist immerhin zu ent­

schuldigen und noch heute dürfte durchaus Controverse sein, ob bei einer

mehr systematischen, mehr pragmatischen Durcharbeitung des Stoffes nicht die geschichtliche Wahrheit für die denkwürdigen Zeiten, die daS vorlie­

gende Buch behandelt, etwas zu kurz gekommen. in unserer Geschichtsschreibung

so

Auch sind wir Deutschen

an diese Mengung von Darstellung

und Untersuchung gewöhnt, daß deshalb niemand an der Form des Buches

einen Anstoß genommen hätte.

Die Sache liegt aber noch anders.

Schon

das befremdet, daß der Verfasser wiederholt seinen einzelnen Kapiteln In­ haltsangaben vorsetzt, die den Inhalt doch nur sehr zum Theil decken,

ohne daß wir dabei wie einst Kant für Herder gethan, als Entschuldigung gelten lassen dürften, Nitzsch habe sich bei den Titeln anderes gedacht, als wir dem Wortlaute nach selbst zu denken genöthigt sind.

Nun mußte

man erwarten, daß da, wo jede künstlerische Einheit in der Anordnung des

Stoffes fehlte, der Verfasser um seine Wirkung zu erzielen, sich befleißigt

hätte, die Klarheit der Beweisführung mit derjenigen des Ausdrucks zu paaren.

Aber hierin fehlt es nach beiden Seiten.

Die Beweisführung

ist zerstückelt und gewunden, der Ausdruck schwerfällig, und die Sätze be­ kommen wiederholt den Charakter eines Aphorismus, wo man ihn nicht

erwartet.

Gegenüber seiner Gedankenfülle, die wir bewundern und gegen­

über seiner Gedankentiefe, die uns mit ihrem Zauber gefangen nimmt, übte Nitzsch nicht hinreichend die Concentration auf daS HauptbeweiS-

moment und die Befreiung von allem Nebensächlichen.

ES muß dahin­

gestellt bleiben, ob wir eS hier mit einem Mangel an Energie, mit einem Fehler des Talents, oder mit einer Lücke seiner Einsicht zu thun haben, jeden­

falls war es ein für die wissenschaftlichen Erfolge des Gelehrten verhäng­ nißvoller Fehler; er haftet diesem Buche wie seinem späteren so genialen

Werk über Ministerialität und Bürgerthum an, er hemmt den Eifer des

gelehrten Lesers an dem Studium seiner gelehrten Bücher, wie er den Genuß seiner vortrefflichsten Aufsätze stört.

DaS Gediegene des Buches, um nun wieder vom Inhalt zu sprechen

hatten wir schon rühmen können; wir hatten auch die Stellung deS Ver­ fassers in der historischen Schule charakterisirt, den Umkreis erkannt, den

er der Geschichtschreibung zog.

Es erübrigt nun, und damit kommen wir

zu der wichtigsten Seite unserer Betrachtung dieses Buches, sein Urtheil über die Entstehung der gracchischen Bewegung aufzusuchen.

Ich werde

dabei die leitenden Gedanken des Buches kurz reproduziren müssen.

Jeder

Kenner des Werkes wird mir darin beistimmen, daß bei der Schreibart

und Anordnung deS Verfassers eine solche Mittheilung dessen, waS ich

aus dem Buche herausgelesen, für meine weitere Betrachtungen durchaus nothwendig ist.

Nitzsch greift in seinem Buche bis zum Beginn des sechsten Jahr­ hunderts der Stadt zurück.

Da war in Rom, so meint er, wie in frü­

heren Jahrhunderten noch der Ackerbau für die große Masse der Bürger­ schaft Hauptbeschäftigung.

Diese Bauernschaft besaß die Majorität in

den Comitien, sie bildete den Kern der Infanterie, auf ihrer politischen Stellung wie auf ihrer kriegerischen Leistung beruhte die Ordnung des römischen Staatswesens im Innern wie die Machtstellung nach außen.

Und in weiser Einsicht dieser Verhältnisse hatten die römischen Staats­ männer deS vierten und fünften Jahrhunderts sich bemüht, diese Bauern­

schaft intakt zu erhalten.

Umfangreiche Aufnahmen latinischer Bauern in

die römische Bürgerschaft, zahlreiche Assignationen an diese waren hiezu die

Mittel gewesen,

und sie hatten sich

Mit dem AuSgang deS

bewährt.

fünften Jahrhunderts kam diese Fürsorge der Regierung für die Bauern­

schaft aber zum Stillstand.

Im eigentlichen Italien war nur der picenische

Acker noch für eine etwaige Auftheilung vorhanden. natioN aber trat der Senat nicht heran.

An dessen Assig-

Er machte geltend, daß die

dem römischen Begriff vom Ager PrivatuS innewohnenden Vorstellungen der Limitation eine Ackerauftheilung auf ehemals gallischem Boden auS-

schloffen, vielleicht auch wollte der Senat diese Landschaft dem Großbetrieb offen halten, sicher aber auch bewogen ihn Rücksichten der äußeren Politik;

er befürchtete durch große Assignationen in Picenum die Gallier der Po­

ebene zu beunruhigen, und eS lag nicht in seiner Politik weitere kriege­ rische Unternehmungen dort durchzuführen.

ES hätte nun der Senat für

Assignationen zum Domanialland greifen können. Auf diesem

aber halte sich

unter dem erweiterten Handelsverkehr

Roms, nachdem die römischen Eroberungen sich auch auf die Sommer­ weiden des Apennin erstreckt,

eine Großwirthschaft alisgebildet, und eö

hätte diesen ganzen Betrieb ruinirt, sobald man zur Assignation geschritten

wäre.

AuS allen diesen Gründen unterblieb dieselbe, und die Sorge für

die Bauernschaft kam damit zum Stillstand.

Die Resultate des ersten

punischen Krieges veränderten an diesem Verhalten des Senats nichts. Derselbe acceptirte in den Neuerwerbungen den politischen Zustand, wie er

ihn vorfand, die Einwohner traten in ein UnterthänigkeitSverhältniß ohne Verlust an Eigenthum, und deren Besitzthum wurde zum Nutzen des AerarS besteuert.

Da gelang eS Flaminius aber gegen den Willen des

Senats die Ackerauftheilung in Picenum durchzusetzen und sogar die Er­ oberung der Poebene für den gleichen Zweck zu erzwingen.

Und schon

Karl Wilhelm Nitzsch.

330

waren Colonien auf den neugewonnenen Acker deducirt, da störte der Ein­ fall Hannibals in diese Gebiete wiederum diese Entwickelung.

Nach dem

Kriege jedoch wurde diese Bewegung zur Fürsorge für die Bauernschaft wieder ausgenommen,

und es war die regierende Partei der Nobilität

selbst, die das alte Mittel der Ackerauftheilung im großen Stil auf dem

Gebiet der Poebene wie in kleinerem Maaßstabe in anderen Gegenden

zum Besten der mittleren Volksklasse anwandte.

Und die maßgebenden

Persönlichkeiten der Nobilität wußten ihren Standesgenossen noch weitere Die Lage dieses

Maßnahmen im Interesse der Bauernschaft abzuringen.

Standes war eben eine derartige nach dem hannibalischen Kriege, daß

Ackerweisungen allein ihm nicht mehr aufhelfen konnten.

Die persönlichen

Opfer, die er im Kriege gebracht, waren ungeheuere gewesen.

Seine

militärische Leistung raubte ihn ganz der friedlichen Beschäftigung und ruinirte ihn.

Dabei schien ein Ende dieser kriegerischen Aufgaben nicht abzusehen.

Neue Provinzen mußten in dauernden Besitz genommen werden, im Osten war eine gebietende Stellung zu erstreben, die herrschende Partei ergriff mit Bewußtsein den Gedanken der Weltherrschaft.

Und

da durch die

Knechtung der Campaner, Lucaner, Brutlier die Kontingente dieser Völker

aus der römischen Armee verschwanden, wurde die römische Bürgerschaft immer mehr zum Dienst in den Legionen herangezogen.

Zugleich aber

lastete auf diesem Legionär und zwar auf ihm allein das Tributum, denn

der Proletarier wie die Nobilität waren davon frei. Es war daher neben

den Assignationen nothweildig entweder das Tributum zu erleichtern oder den Dienst in den Legionen zu verkürzen, wenn man der Bauernschaft

helfen wollte. Und wie gesagt,

bei einzelnen maßgebenden Persönlichkeiten ist ein

Verständniß dieser bedauernswerthen Verhältnisse zu Tage getreten und eine gewisse Erkenntniß der Mittel zur Abhülfe derselben offenbar.

Und

sie haben gestüttzt auf einen engeren Kreis ganz ergebener Anhänger die

Nobilität zur thatsächlichen Ausübung einer weiteren Fürsorge für die Bauernschaft zu veranlassen verstanden.

Man muß unter diesem

Ge­

sichtspunkt solche einzelnen politischen Maßnahmen wie die Begründung der

Seecolonien,

Truppenzurückziehungen

aus

Gallien,

Sardinien,

Spanien u. a. betrachten, man muß aber ebenso die ganze Orientpolitik

des Flamininus von diesem Gesichtspunkte aus verstehn, und man muß schließlich die Censusreform vom Jahre 565 d. St. zu diesen fürsorgen­

den Handlungen rechnen. deutendste Reformakt

Bauernschaft.

Diese

letztere

gerade ist sicherlich

der Partei des älteren Scipio

der

be­

im Interesse der

Wenn Rom nach dem Sinne des FlamininuS den Ein-

fluß, den eS im Osten haben mußte, durch Befreiung Griechenlands und

der kletnasiatifchen Städte, durch die Begünstigung von PergamoS nnd

RhoduS

auszuüben suchte,

statt

eine Provinz in Kleinasien und Ma-

cedonien einzurichten, so entzog dieses jährlich viele tausend freie Bauern weniger den Äckern, und eS war somit diese Politik getragen von weiser

Fürsorge für die Republik und diese Maßnahme konnte durchaus förder­

lich für das Auflommen der Bauernschaft werden.

Sicherlich förderlicher

mußte aber sein, wenn in der Censusreform vom Jahre 565 d. St. die Liniendienstpflicht von dem Census von 10000 AS auch bis auf den von 4000 As herab erweitert wurde.

Der Classiarier wurde damit ganz be­

deutend erleichtert, wenn nun auS der großen Kopfzahl derjenigen, die

unter 10000 AS geschätzt wurden, alle die, welche mindestens 4000 As Census hatten, zum Lintendienste verpflichtet wurden, und indem nun Handwerker und Tagelöhner neben den Bauern zur Linie eingezogen werden konnten,

wurde die Lage der kleinen Grundbesitzer einschneidend verbessert. Diese Reform

wälzte also den

Dienst von der Mittelklaffe der

Bauerschaft auf die kleinen Leute überhaupt, sie ließ aber die Trtbutumfrage

ungelöst.

An diese ging die Consusreform CatoS.

Er nahm von der

Bauernschaft das Tributum und wälzte dessen Last auf die Reichen; die Steuer­

freiheit des Ager PrivatuS die hohe Einschätzung städtischen Besitzes waren

durchaus Maßregeln zum Besten der ackerbauenden, mittleren Bevölkerung. ES erscheint damit gewissermaßen geleistet, was von Seiten der Regierung

im Interesse der Intaktheit der Mittelklasse zu leisten war, und sehn wir wie nun daS Aerar die Unterhaltung der Armee leistete, erfahren wir

dann Schritt für Schritt von neuen Assignationen, beobachten wir, wie reich regelmäßig der Legionär aus den Feldzügen dieser Decennien nach dem hannt-

balischen Kriege zurückkehrt,

erfahren wir, daß die Dienstzeit auf sechs

Jahre abgekürzt wird, überschauen wir, wie der römische Staat nach der

Ordnung der macedonisch-illyrischen Verhältnisse eine Periode absoluten Friedens genießt, so müssen wir erwarten, segensreiche Folgen aller dieser

politischen Reformen zu finden und eine Bauernschaft anzutreffen, die im freien Besitz eines größeren oder geringern Ackerlandes durch dessen Bewirthschaftung die alten Tugenden der Sparsamkeit, Tüchtigkeit, Nüchtern­

heit des Urtheils, Rechtlichkeit sich bewahrt und darin die Klarheit für politische Aufgaben aber auch die Zähigkeit und Energie

für kriegerische

Leistungen ungeschwächt erhält, sodaß sie, was sie.Jahrhunderte hindurch dewesen, der Kern der Volksversammlung und der Halt der Armee, der

eigentliche Repräsentant des römischen Staatswesens auch jetzt blieb.

Aber

keine dieser Erwartungen sehen wir erfüllt.

Die eigentlich römische Bauernschaft ist im eigentlichen Italien am

AuSgang des sechsten Jahrhunderts der Stadt völlig verarmt und fast ganz verschwunden, die Armee aus unwilligen und untüchtigen Bürgern

Roms und aus Latinern und Bundesgenossen zusammengesetzt, die Volks­ versammlung überwiegend von einem großstädtischen Proletariat gebildet und dieses Proletariat einer demokratischen Entwickelung der Verfassung

zugewandt, die bereits für die Ruhe und Sicherheit des Staatswesens ge­

fährlich ist. Und die Gründe dieser Erscheinungen lassen sich erkennen. Jene CensuS-

reform zunächst vom Jahre 565 d. St. hatte doch auch noch einen andern als gerade segensreichen Erfolg

für den kleinen Grundbesitzer gehabt.

Indem jetzt zur Legion alle Bürger bis zum Census von 4000 As herab, zur Flotte auch diejenigen unter diesem Satz herangezogen wurden, trat

für den Wirthschaftsbetrieb

der Werth des freien Arbeiters gegenüber

dem Sklaven damit ganz bedeutend zurück; der freie Arbeiter konnte durch Aushebung jederzeit der Arbeit entzogen werden, der Sklave, der

von den Leistungen gegen den Staat frei war,

blieb ungestört.

Und

diese Werthsteigerung des Sklaven für den Wirthschaftsbetrieb trat in einer Zeit ein, wo die römischen Eroberungen im Osten den syrischen Sklavenmarkt geöffnet hatten.

Die Ausdehnung des Großbetriebes nahm daneben immer zu. Als die Römer nach dem hannibalischen Kriege die Äcker der Campaner, Lucaner, Bruttier occupirten, fanden sie daselbst Waldwirthschaft, Pechsiede­

reien, Viehwirtschaft vor.

Die Ländereien fielen damit von selbst den

Kapitalisten zu, die diesen Betrieb fortsetzen konnten und fortsetzten.

Und

dieser Bewegung zum Großbetrieb schloß sich der altpatricische Grundbe­

sitz

schon

seit langem

an.

Der ausgedehnte Handel, die Concurrenz

außeritalischen Getreides legten ein Verlassen des Getreidebaues und ein Versuchen anderer Fructifizirung des Bodens nahe.

Den Auöschlag

aber gab, daß die grundbesitzende Aristokratie im

Gelderwerb es den Publicanen, in deren Hände die römische Finanzver-

waltnng bereits ungeheuere Kapitalien brachte, nachmachen wollte.

Die

römische Aristokratie hatte aus den östlichen Reichen ungeheuere Summen

heimgebracht, aber die Publicanen waren ihr trotz des Cato und deS Tiberius SemproniuS Gracchus Gegenbemühungen im Besitz doch wieder

vorausgeeilt.

Und darum wandte sich die Aristokratie neben der ihr durch

Gesetz wie durch Tradition verbotenen, aber doch mit allerlei nicht gerade

aristokratischen Umgehungen der Gesetze ausgeübten Betheiligung an der

Speculation und neben der in diesem Zeitraum allerdings noch maßvoll geübten Ausnutzung der Provinzialverwaltung einer rücksichtslosen Aus­ beutung des Grundbesitzes mit Hülfe der Sklavenarbeit zu.

Und diese

Ausbeutung erschien um so rationeller, je ergiebiger sie in Betreff des Geldpunktes wurde, und wiederum um so ergiebiger, je mehr Grundcomplex in einer Hand vorhanden war,

Richtung

nicht

blos

durch

den

Sklaven

so

daß

den

diese wirthschaftliche

freien

Tagelöhner

be­

drängte, sondern auch den kleinen freien Bauer befehdete, dessen Terri­ torium der Arrondirung eines ausgedehnten Besitzes im Wege war. verarmte

So

die Bauernschaft, so verschwand der ländliche Tagelöhner, so

sank der alte Kern deS römischen BürgerthumS zusammen.

Und dieser

Proceß vollzog sich um so schneller und vollständiger, als die Partei der Nobtlität, die durch weise gedachte Maaßregeln diesen Verfall des bäuer­

lichen Mittelstandes hemmen wollte, von ihren Reformen zurücktrat, da

neben den Folgen ihrer Fürsorge, wie sie dieselbe in der Orientpolitik, in CensuSreformen u. a. documentirt hatte, die sie erwartete, auch an­

dere, nicht erwartete, eintraten. biet.

Diese letzteren lagen auf politischem Ge­

Die Heranziehung der ärmeren Klassen bis herab zum Census von

4000 AS zum Dienst in den Legionen hatte diese neuen Legionäre auch mit

neuen politischen Rechten ausgestattet; sie erhielten damit daS Stimmrecht in den Centurien und gegenüber dieser Masse der kleinen Leute trat die

Bedeutung der mittleren Grundbesitzer zurück.

In den Tribusversamm­

lungen hatten sie mit denen, die unter der Schätzung von 4000 As waren erst recht die Entscheidung in ihrer Hand.

Und diese Legionäre wie die

neuen Flottenmannschaften waren zunächst wenig der Reformpartei dank­ bar, sie fühlten unzweifelhaft mehr zunächst das Drückende des Dienstes

als

die Ehre desselben.

Sie wurden dadurch ein fanatisches Werkzeug

für eine geschickte aristokratische Minorität, und diese bereitete auch der

Partei des älteren Scipio mit diesen ausschlaggebenden Elementen der

Volksversammlung eine Niederlage nach der andern. — Dann aber setzte Cato

mit denselben Elementen seine Reformen

durch.

Die gesammte

Nobilität sah sich darin betroffen und schloß sich daher zusammen. Publicanen

Die

litten gleicherweise durch diese gesetzgeberische Richtung, die

sich gegen alle Reichen wandte, und so kam es zu dem Bündniß der bei­

den Parteien der Aristokratie unter sich und mit dem Handelstand der

Publicanen, und zum Stillstand von Reformen im Interesse der bäuer­ lichen Plebs. Das Ergebniß des Bündnisses war die Wahl des LepiduS und Nobilior

zu Censoren für 575 d. St. gewesen.

Durch eine neue Anlage der Tri-

buSrollen legten sie den Grund zu einer bevorzugten Stellung der Be­

steuerten innerhalb der Centerialkomitien und dann gingen diese Parteien der Nobilität und der Publicanen an eine feste Organisation gegenüber

der gesammten mittleren und niederen Plebs.

Als den eigentlichen Re-

gulator der VerfassungS- und Verwaltungsverhältnisse hatte sich in dieser Zeit die Censur entwickelt, zweimal hatten in den letzten Jahren Censoren

vermöge ihrer Machtbefugnisse einschneidende Aenderungen des Finanzund Steuerwesens herbeigeführt und zugleich die Ordnung der Comitien

geändert.

Nach der ganzen Entwicklung der aristokratischen Republik war

aber der Senat die Behörde, welche Finanz- und Steuerfragen unbe­ schränkt durch Nebengewalten zu erledigen hatte.

diese staatsrechtliche Stellung

Die Nobilität acceptirte

des Senats und glaubte überhaupt ihre

Position gegenüber der demokratischen Entwicklung der Plebs zu stärken, wenn der Senat eine möglichst starke Gewalt in seinen Händen vereinte,

d. h. die Beamten der Republik von sich abhängig machte.

Indem die

Censoren Lepidus und Nobilior sich in der Curie die öffentlichen Bauteil verschreiben ließen, führten sie die Abhängigkeit dieses Magistrats vom

Senate herbei; indem die Quästorier Zutritt zum Senat erhielten, wurde

auch dieses Finanzamt in den Jnteressenkreis des Senats hineingezogen, und eS entspricht dieser ganzen Richtung, im Senat den Mittelpunkt der

Nobilität zu festigen, wenn die Gewohnheit der Stufenfolge in den cu-

rulischen Aemtern und der Intervalle zwischen denselben zum Gesetz er­ hoben wurde.

ES lag eben in dieser so geordneten Carriere von den

unteren zu den höheren Aemtern eine Schule der Beamtenerziehung im

Sinne der Senatspolitik.

Und wenn der Senat dann in dieser Zeit Ver­

fügungen trifft, wie die, daß die Bundesgenossen keinem Magistrat Hilfe ohne Senatsschreiben leisten sollen, oder jene, wodurch der Senat An­

klagen wegen Bundesbruchs sich allein reservirte, so sind daS eben Zeichen einer starken Position, welche der Senat gewonnen.

Darin und nur in

dieser Richtung bewegte sich also die Politik der Nobilität. satz der früheren Regierungsweisheit,

Der Grund­

daß Rom für seine äußere und

innere Befestigung eines bäuerlichen Mittelstandes bedürfe, da dieser allein die Bürgschaft für militärische Tüchtigkeit der Armee biete, wie er denn

auch bei dem aristokratischen Charakter einer solchen bäuerlichen Bevöl­

kerung die Gewähr eines starken Einflusses der herrschenden Nobilität in den

Comitien gebe, war somit verlassen, die mit den Publicanen geeinte No­

bilität glaubte das Regiment zum Heil des Vaterlandes führen zu können, wenn sie in sich festgeschloffen den Senat mit großen Machtbefugnissen

ausstattete, die Selbständigkeit der Magistrate im Interesse einer starken Centralregiernng brach und durch geschickte Veränderungen in den Tri­

busrollen das Schwergewicht in den Comitien in die Hände der Besitzenden zu legen sich bemühte.

Man konnte die

Majorität in den Tribus ja

auch wohl sicher erhoffen, wenn man wegen des beschwerlichen FlottendiensteS die Flotte verfallen und bei Aushebungen zur Legion alle Ent-

schuldiglmgen gelten ließ, und man durfte willige und tüchtige Soldaten auszuheben erwarten, sobald man dem Legionär im Felde den Lohn reicher

Beute in Aussicht stellte. — So erklärt sich der volle Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung in der Zeit des Friedens. Dann trat Rom wieder in eine kriegerische Periode. Das Resultat der Kriege war die

Einrichtung von drei Provinzen. Das Bündniß der Aristokratie mit den Publicanen hatte nach außen hin Früchte getragen. Trotz des Cato und deS Tiberius SemproniuS Gracchus Bemühen that der Senat den Schritt vor dem er sich seit fünfzig Jahren gesträubt, er erwarb neue Provinzen die dann den Kapitalisten nothwendig und unabwendbar zur Ausbeute verfielen. Auch für die neuen Erwerbungen stand somit die wirthschaftliche Entwicklung in Aussicht, die in Italien und Sicilien sich bereits vollzogen hatte. Und diese Entwicklung hatte sich inzwischen schon als staatsgefährlich offenbart. Die Armeen in Afrika, Spanien, Makedonien u. s. w. hatten nichts mehr von dem Geist der früheren Armeen gezeigt. Die Disciplin war gelockert, die Energie fehlte, Mißerfolg häufte sich auf Mißerfolg. Es war der Energie einzelner Feldherrn dann wohl ge­ lungen, einen Moment die Haltung der Truppen zu bessern und wiederum den Sieg an die römischen Fahnen zu heften, eine dauernde Rückkehr zur alten Leistungsfähigkeit blieb aber fern, und der Staat sah seine äußere Machtstellung vollständig bedroht. Und wie die Nobilität dieses bedauerliche Resultat ihrer negativen Stellung zum bürgerlichen Mittel­ stände erkennen mußte, wurde ihr ebenso durch die Ereignisse die klare Einsicht aufgedrängt, daß die Meinung, durch die Kräftigung deS Senats als Mittelpunkt der eignen Machtstellung Herr im Staate trotz der ver­ änderten socialen Lage der Tributen zu sein, eine arge Selbsttäuschung ge­ wesen. Bei den Aushebungen gerieth der Senat nebst seinen Magistraten wiederholt in die Situation völliger Machtlosigkeit und mußte zu ganz außergewöhnlichen Maßregeln greifen. Und nicht minder mußte er bei andern Gelegenheiten empfinden, daß das durch die Aushebungen immer

wieder in seinem Selbstgefühl als werthvoller Faktor der StaatSgemein-

schaft gekräftigte Volk, das auch durch mancherlei Errungenschaften, seine Rechte vergrößert, auch über den Willen deS Senats hinaus mit Nicht­ achtung selbst bestehender Gesetzesvorschriften in die Leitung der öffent­ lichen Dinge eingriff. War dieses für den Senat beunruhigend, so war

es ebenso für den Staat gefährlich, und erneuert trat die Frage als eine brennende in den Vordergrund, wie diesem Zustand abzuhelfen sei.

Die

Partei des Eroberers von Carthago erkannte diese Situation zuerst. LäliuS dachte wieder an großartige Assignationen, das alte Mittel sollte helfen,

um eine neue Bauernschaft zu schaffen.

Den Eingriff, den er dabei in

Karl Wilhelm Nitzsch.

336

die Rechte und Besitzungen der Nobilität hätte durchführen müssen, er­ schien ihm aber zu groß, er stand von seinen Plänen ob und erhielt vom

Senat den Beinamen des Weisen.

Die Partei ließ aber darum im In­

teresse für die allgemeine Frage nicht nach.

Aber sie faßte die Sache

doch von anderen Zielpunkten her ins Auge als dem, die alte aristokratisch-

bäuerliche Republik durch Regeneration der Bauerschaft herznstellen und damit die demokratische Entwicklung, welcher Rom zueilte, zu vernichten. Die Theorien hellenischer Staatsweisheit, denen sich dieser Kreis der No­

bilität zuwandte, mußten sie vielmehr auf den Gedanken führen, diese demokratische Entwicklung der Verfassung als etwas Positives und Defi­ nitives hinzunehmen, aber auch zu versuchen, ob sich unter Anerkennung

dieses Zustandes der Volkssouveränität nicht verfassungsmäßige Mittel und Wege fänden, bei voller Aufrechterhaltung der Wirthschaftsentwicklung

Italiens dieser Demokratie alles Staatsgefährliche zu nehmen.

Oie De­

generation der Nobilität, wie sie bereits in Verwaltung und Gericht zu Tage trat, schien auch nur auf diesem Wege eine für daS Staatswesen

heilsame Correctur erfahren zu können.

Scipio trennte sich daher von

der Nobilität und den Publicanen, er offenbarte in dem Anlehnen an demokratische Elemente und in seinen censorischen Angriffen gegen No­

bilität und Publican seine und seiner Anhänger veränderte politische Rich­

tung, aber so schnell konnte er das Mittel der verfassungsmäßigen Reform nicht finden.

Da brach in Sicilien der Sklavenkrieg aus, zu Rom, Min-

turnä, Sinuessa u. a. Orten, in Atlika und DeloS erstanden Sklavenver­ schwörungen, und es zeigte sich zum Schrecken aller, welch furchtbarer dtrecter Gefahr Rom durch die Sklavenwirthschaft ausgesetzt war.

Scipio

Aemilianus entschloß sich auch jetzt nicht gleich, eine bestimmte Reform anzubahnen; er ging nach Spanien, um dort im Felde dem Vaterlande zu dienen, ihm folgte dorthin die Mehrzahl seiner Genossen, sie mochten

denken, nach der Rückkehr den inneren Zuständen der Republik näher zu

treten; bis dahin, so durften sie hoffen, werde eben wegen der Kriege, die der Staat zu führen, in den inneren Verhältnissen eine gewisse Sta­

bilität eintreten.

Aber die Dinge in Rom kamen während Scipios Ab­

wesenheit in die allerheftigste Bewegung.

einige in

Von seiner Partei blieben nur

Rom zurück, unter diesen Appius Claudius

Gracchus, und von diesen ging die Bewegung aus.

und

TibevtuS

Persönlich hatten

sie sich bereits vor einiger Zeit von Scipio getrennt, jetzt trennten sie sich

auch politisch von ihm; sie verleugneten dabei nicht die Parteiprincipien die sie mit jenem gemeinsam halten, sie erfaßten dieselben nur radikaler,

wenn sie meinten, schon jetzt wäre die Zeit zum Handeln gekommen.

Der

Umstand, daß der Senat für die Ausrüstung der spanischen Armee eine

Anleihe auf die Vectigalia des nächsten Lustrums bei den Publicanen

hatte machen wollen, um die Nobilität nicht finanziell zu belasten, der weitere Umstand, daß der Senat auf eine förmliche Aushebung verzichtete,

um die mürrische Plebs nicht zu erregen, hatten die Schäden des gegen­ wärtigen Regiments wie die der gegenwärtigen demokratischen Entwicklung

nochmals in grelles Licht gesetzt, Tiberius Gracchus nahm daraus neuen Anlaß für die Ansicht, daß die Zeit zum Handeln dränge, er glaubte in dem Zurückgreifen auf das alte Mittel der Assignation auch den Weg

zu erkennen, den er zum besten des Staates einschlagen müsse, und er

schritt zur Realisirung seiner Ideen, als er Tribun geworden. —

Tiberius Gracchus

befand sich in Uebereinstimmung

mit Appius

Claudius, wenn er meinte, die Durchführung der Afsignation werde ihm gelingen; auch sonst gab es Persönlichkeiten in hervorragender Stellung, die dieser Anschauung waren; und im geheimen waren viele einem solchen

Unternehmen zugeneigt, die öffentlich dafür einzutreten entweder keinen

Muth hatten oder keine Befugnisse erkannten; von ihnen erhielt Tiberius Gracchus Ermunterungen zu seinem Vorhaben.

Aber die Sache lag doch

weit anders, als alle diese vermuthet, und Tiberius Gracchus sah sich arg getäuscht, wenn er an einen glatten Verlauf der Sache gedacht hatte. Er sah sich bald neben dem Eingriff in die faktischen Besitzverhältnisse

der Nobilität zu einem Angriff gegen die Machtsphäre des Senats auf einem Gebiet veranlaßt, auf welchem dem Senat entgegenzutreten der ganzen Tradition der Republik und seinen eignen Wünschen widersprach;

er mußte dabei die absolute BolkSsouveränität proklamiren.

Aber er

mußte ferner erkennen, daß die städtische Plebs entweder den eigentlichen Zweck seiner wirthschaftlichen Reform verkannte oder zum mindesten doch

derselben sehr kühl gegenüber stand; sie verlangte statt socialer politische Reformen.

Und dann sah er sich, um seine Pläne der Regenerirung einer

mittleren Bauernschaft überhaupt durchzusetzen, gerade auf die Hülfe dieser

städtischen Plebs angewiesen, und er mußte daher in seine Resormpläne

auch

dik Vergrößerung politischer Rechte derselben aufnehmen.

ganze Thätigkeit bekam dadurch einen völlig veränderten Charkter.

Seine

Wäh­

rend dann aber die Plebs noch schwankte, ihm ganz ihre Unterstützung angedeihen zu lassen, sanden seine Gegner Gelegenheit durch einen Ge­

waltakt sich seiner zu erledigen.

Damit freilich kam die von ihm angebahnte Bewegung nicht zum

Stillstand, ja sie konnte trotz aller Bemühungen der Nobilität nicht ein­

mal auf das eigentliche Feld der Assignation beschränkt, auf den Aus­ gangspunkt zurückgeführt werden.

Ueber die Absichten des Senats, über

die entgegengesetzte Anschauung der eignen maßvollen Anhänger des LiciniuS Preußische Jahrbücher. Bd.

XLVIII. Heft 4.

25

CrassuS, des Scipio AemilianuS hinaus, deren einer zu gelegner Zeit für die radikale Reform starb, deren andrer aus dem Wege geräumt wurde, drängte die Partei des ermordeten Tiberius Gracchus unter des Cajus Gracchus und

deS FulviuS Flaccuö Leitung zu einer Form der Ausführung der Ackergesetze, welche außer der Nobilität und den Publicanen auch die Bundesgenossen erschreckte, und zugleich führten die Cirkellinie der verschiednen Interessen,

welche die Reformpartei zu befriedigen suchen mußte, einerseits und die taktischen Fehler des Senats gegen diese ganze Bewegung andrerseits zu

einer Umänderung in den Rechten des Senats und der Magistrate, in

den Machtbefugnissen der Comitien, in der Stellung der Bürgerschaft, im Steuer- und Militairshstem, die als totale Umwälzung der bestehenden

Staatsordnung gelten mußte.

Gegenüber allen diesen Plänen des Cajus

Gracchus die ihnen gemeinsam nützen sollten, fand unter den Klassen der

städtischen und ländlichen Plebs, der Latiner und Bundesgenossen wiederum

eine kurzsichtige egoistische, darum gegenseitig eifersüchtige und neidische Be­

theiligung statt, sodaß die Nobilität geschickt eingreifen konnte, dem Cajus

Gracchus die Hülfe jener entzog, wo er sie brauchte und auch seiner Herr durch eine Gewaltthat wurde. — Soviel vom Inhalt dieses gelehrten Werkes.

Man erkennt, es bietet

mehr als die Geschichte der Gracchischen Reformen, es ist eine Geschichte der römischen Republik vom Ausbau der Verfassung bis zum Eintritt in die Aera der Revolutionen, und indem sie uns von der Größe Roms in

diesem Zeitraum berichtet, deren Ursachen in der eigenthümlichen Organi­

sation der älteren Republik zu suchen sind, und zugleich von dem Verfall Roms während desselben Zeitraums erzählt, als dessen Folge der eigen­

artige Gang der weiteren Geschichte der Republik bis zur Cäsarischen Mon­ archie zu betrachten ist, wird sie der Ausdruck der Auffassung, welche der

Verfasser von der Geschichte der Republik überhaupt sich wissenschaftlich

erworben.

Wir brauchen nur an einzelnes auS dem oben mitgetheilten

Inhalt des Buches anzuknüpfen, um hierüber ganz klar zu sehn.

Und

wir sind andrerseits durchaus berechtigt, für eine solche Betrachtung von

diesem Werke auszugehn, denn was Nitzsch sonst auch über den Charakter

der römischen Republik geäußert hat, immer treten uns dieselben Grund­

anschauungen entgegen, denen wir hier begegnen. Die Verfassung Roms am Ausgange deS fünften Jahrhunderts der

Stadt hat durchaus den aristokratischen Charakter gewahrt. punkt derselben

Der Schwer­

liegt in den Comitien und hier in den Händen einer

ackerbauenden Bürgerschaft.

Diese Bürgerschaft hat unzweifelhaft die

Majorität der Versammlung in ihrem Besitz, aber sie ist darum doch

von aller demokratischen Richtung entfernt.

Gerade als bäuerlicher Stand,

aristokratisch abgeschlossen gegen Handwerker, Tagelöhner, Freigelassene, war die Bürgerschaft dem Einfluß der regierenden Aristokratie zugänglich,

wie stets der Bauer sich willig dem größeren Grundherren unterordnet, wo er auS gleicher Art des Erwerbes auch gleiche Interessen bei diesem voraussetzt und andrerseits ein natürliches Gefühl der politischen und ma­

teriellen Ueberlegenhett deS größeren Besitzers anerkennt.

Und wenn das

römische Bürgerthum in seinen politischen Leistungen Weisheit, Mäßigung,

Nüchternheit des Urtheils offenbart, so offenbart sich eben hierin die Folge der bäuerlichen Wirthschaft, die in der strengen Arbeit der Feldbestellung,

in der Sparsamkeit deS kleinen Haushaltes solche Charaktereigenschaften

zeitigte.

Und wie diese Bauernschaft die Grundlage der Staatsordnung

im Innern bildete, so war sie die Basis der Machtstellung nach außen. Die Unwiderstehlichkeit der römischen Armee beruhte darauf, daß eben diese Bauernschaft den Kern der Legion auSmachte.

Die Disciplin der

Armee, die freiwillige Unterordnung des Legionärs unter die Offiziere der

Nobilität, die Anerkennung der Kavallerie als bevorzugter Truppe, die innerliche Geschlossenheit und äußerliche Sonderstellung der Legion gegen

die Alae der Bundesgenossen, der ganze Geist der Legion beruhte auf diesem Ueberwiegen deS aristokratisch-bäuerlichen Elements.

Auf der bäuer­

lichen Tüchtigkeit fußte die Zähigkeit, Ausdauer, Energie des Legionärs.

In der Doppelstellung als Bürger und Bauer erwarb sich der Legionär jene moralischen Eigenschaften und physische Tüchtigkeit, ersten Infanteristen der Welt machten.

die

ihn zum

Und auf diesem Zusammenhangs

der Legion und Comitien beruhte überhaupt das ganze Leben der Re­

publik.

In dieser doppelten Erziehung politischer Schulung und militäri­

scher Zucht reifte die staatsmännische Weisheit, das militärische Genie

einzelner, erwuchs das politische Urtheil und die kriegerische Tüchtigkeit

aller, und eS entwickelte sich daS allgemeine wie das persönliche Interesse jedes einzelnen an den öffentlichen Dingen zu jenem Gleichgewicht nüch­ terner Erwägung des eignen Vortheils wie begeisterter Hingabe für daS

allgemeine Wohl, welches als Produkt eben jene Erscheinung der älteren Republik ermöglicht hat, die unS in ihrer Einfachheit so großartig und

in ihrer Großartigkeit doch so menschlich schön entgegentritt, weil sie die

Leistung eines einfachen BürgerthumS ist, das in voller Freiheit feine schöpferischen Kräfte entfalten konnte und entfaltet hat, das in seiner Arbeit

den Quell eigner und gegenseitiger Zucht sich schuf und auf dieser Freiheit und dieser Zucht seine wunderbare Dieses Staatswesen erlitt darum

geschichtliche Stellung begründete.

denn auch eine totale Veränderung,

als dieser Träger desselben, das bäuerliche Bürgerthum zu existiren auf­ hörte.

Warum es aufgehört hat, das hat Nitzsch eben in seinem Buche über die Gracchen dargestellt.

Die neuere Auffassung der römischen Geschichte

geht bekanntlich überwiegend andre Pfade, und sie schlägt diese ein, weil

sie sich zu den Thatsachen, die Nitzsch auö der Geschichte der mittleren Republik für seine Betrachtung heranzieht, ganz anders stellt.

faßt beispielsweise,

Nitzsch

um nur einiges zusammenzustellen, die censorischen

Maßregeln der Nobilität während dieser Periode im Zusammenhänge auf,

diese andre Auffassung

negirt entweder

einzelne censorische Maßregeln

überhaupt oder doch wenigstens diesen inneren Zusammenhang; Nitzsch

will die äußere Politik wiederholt aus Gründen der innern Politik nicht blos erklärt, sondern auch gerühmt wissen, diese Anschauung trennt äußere

und innere Politik, sie findet dabei jene nicht blos unerklärlich, sie findet vielmehr in ihr Planlosigkeit und Schwäche. Und wo Nitzsch noch lebendige

Fortentwicklung

des

Staates

sieht,

erblickt

diese

Auffassung

bereits

Stagnation der schlimmsten Art; wo Nitzsch Regeneration des Bürgerthumö als Heilmittel der Schäden erblickt, erblickt diese Darstellung im

völligen Umbau der Verfassung die Rettung; wo Nitzsch von den Staats­ männern rühmt, daß sie die Forderungen der Zeit erkannt und sie durch

wirthschastliche Maßnahmen wie auch durch solche der äußeren Politik und

durch Verfassungsänderungen mit Hülfe der Censur zu erfüllen bemüht

gewesen, da spricht diese Behandlung von der Unfähigkeit der Staats­

männer, die Rom aus seiner veränderten Weltstellung erwachsenen Auf­

gaben zu verstehn, da spricht sie das harte Urtheil von einer Politik von Fall zu Fall, von einem Regiment des GehenlassenS, wie es geht. ES ist eine Welt von Anschauungen, was hier in Betreff der Ge­

schichte der mittleren Republik in Gegensatz tritt, und dieser Gegensatz wirkt fort in der Betrachtung der älteren und der jüngeren Republik. WaS Mommsen in seiner römischen Geschichte über Genesis und Ent­

wicklung dieser Republik bis Cäsar erzählt hat, ist nun so Gemeingut unserer Bildung geworden,

daß nach obiger Ausführung über die ge­

schichtliche Anschauung, die Nitzsch von diesem Staatswesen hatte, eS über­

flüssig wäre, von diesem tiefen Gegensatz ihrer Betrachtungen hier aus­ führlicher zu handeln.

Es kann sich hier nur darum handeln, die Gründe

auszusuchen, die eine so verschiedene Auffassung der Dinge veranlaßten, und da spitzt sich die Frage, da wir es hier doch nur mit den Leistungen

von Nitzsch zu thun haben, so zu: welches war die Stellung dieses Ge­ lehrten zu den Quellen der römischen Geschichte?

Weiterer Blick, tieferes

Eindringen, schärfere Beobachtungen, kurz Vorzüge der Befähigung für

diese oder jene Aufgabe, die dem Forscher gestellt wird, machen den Vorzug

eines GeschichtSwerkeS vor einem andern in einem bestimmten Falle auö;

neue Gesichtspunkte, andere Methode der Kritik lassen unS bet gleicher

Befähigung geschichtlichen Urtheils Verschiedenheiten im Einzelnen zwischen zwei Werken desselben Inhalts verstehen; totales Auseinandergchen deS GesammturtheilS über ein Staatswesen an der Hand derselben Quellen

läßt sich nur begreifen, wenn die Stellung derjenigen, die über das ge­

schichtliche Leben eines Volkes urtheilen, zu den Quellen dieser Geschichte eben eine grundverschiedene ist.

Und bei der Eigenart der römischen

Ueberlieferung ist diese Verschiedenheit eben durchaus möglich.

Wenn die

Geschichte Roms uns direkt erst durch die Geschichtschreiber und Antiquare der letzten Zeit der Republik bekannt ist und vieles, das uns über die

Geschichte dieses Staatswesens berichtet wird, gar erst bei den Schrift­ stellern der Kaiserzeit zu lesen ist, dann ergibt sich zunächst das Eine: kein Urtheil über irgend einen Abschnitt ist möglich, bevor nicht der Ge­

lehrte eine feste Stellung zu dem gesammten Quellenmaterial genommen.

Und diese Stellung zu den Quellen wird mehr sein müssen, als das, was wir so gemeinhin als Urtheil über deren Glaubwürdigkeit bezeichnen.

In erster Linie heißt es den Entscheid darüber treffen, ob was wir sonst in Einzelnachrichten über Institute der Republik, über Censusansätze u. a. irgendwo antreffen, auch Werth haben soll, wo es sich zwischen die An­

gabe, die unS ein zweifelloses Denkmal der älteren Republik, und die

Nachricht, die wir bei einem Geschichtschreiber am Ende der jüngeren Re­ publik antreffen, als Mittelglied nicht einstigen läßt, oder nur da, wo es sich einstigen läßt.

Nitzsch hatte, als er sein Buch über die Gracchen

schrieb, seine Entscheidung bereits getroffen,

er meinte in den Quellen-

fragmenten der mittleren Zeit und sonstigen zerstreuten Nachrichten, so wie in bestimmten Thatsachen seien unS von den Instituten der Republik im

Jahrhundert der punischen Kriege und für die Decennien nachher so positive Erscheinungen vorgeführt, daß sie Gültigkeit haben müssen, auch

wenn sich diese Angaben über Magistrate und Censusänderungen u. a. mit den Denkmälern der älteren Zeit und den Notizen der Historiker der

späteren Zeit zu einem einheitlichen Bilde nicht combiniren lassen.

Die

Geschichtschreiber im Cäsartschen Zeitalter ferner sähen alles, was sie von der früheren Geschichte ihres Vaterlandes erfuhren, mit den Anschauungen

ihrer Zeit an, Menschen, Zustände, politische und sociale Aufgaben, die vor ihnen liegende Periode der Revolutionen habe den Bau wie die Phy­ siognomie deS StaatSkörperS aber so vollkommen verändert, daß von einer Ähnlichkeit der mittleren und der jüngeren Republik gar keine Rede sein

könne.

So werde, da wir an einer Fülle von Thatsachen die Geschichte

der mittleren Zeit für sich verstehen könnten, dies zur Pflicht, zugleich er­ halte damit diese Geschichte der mittleren Zeit aber auch einen besondern

Karl Wilhelm Nitzsch.

342

Werth, sie werde der eigentliche Fußpunkt für die Betrachtung der früheren

und der späteren Geschichte.

Mit dieser Anschauung über die Verwerthung

der Quellen erklärt sich nun vollständig die eigenartige Auffassung, die

Nitzsch zunächst über das Jahrhundert vor den Gracchen, dann über die römische Geschichte überhaupt gewann und wir wissen auch, warum er sie festhielt.

Die Kritik der römischen

schwierige Aufgabe zu leisten,

heran treten kann.

GeschichtSquellen

hat noch

eine zweite

bevor der Forscher an die Dinge

selbst

Wenn in der Auffassung, welche die Schriftsteller der

Cäsarischen Zeit von den Jahrhlinderten vorher haben, ein durch die da­

zwischen liegenden Revolutionen getrübter, durch zeitgenössische Zustände verdunkelter Blick zu erkennen ist, wie steht eS dann mit der Glaub­

würdigkeit, dem Charakter, der Geschichtsauffassung der Geschichtschreiber selbst, aus denen ein LiviuS u. a. schöpften?

Erst mit dieser Recon­

struction der römischen Geschichtschreibung konnte die etwaige Sicherheit

des historischen Schlusses erreicht werden, die unS dazu verhilft, aus einer Hülle von Diißverstäildniß und Entstellung daS Wirkliche herauszulösen.

Nitzsch hatte in seinen Büchern und Aufsätzen der vierziger Jahre diese Betrachtung hie und da begonnen, in seinen Vorlesungen früh die Be­ deutung dieser Aufgabe dargelegt und auch seine Stellung in dieser Frage umzeichnet.

Die Uebungen seines Seminars kamen immer wieder hierauf

zurück, und daß eö mit Erfolg geschah, davon gaben einige vortreffliche

Arbeiten seiner Schüler Beweis.

Das Gesammtresultat in dieser kriti­

schen Aufgabe zog dann Nitzsch selbst in dem gelehrten Buch:

Die rö­

mische Annalistik von ihren ersten Anfängen bis auf Valerius Antias

(1873). Die römische Annalistik, so legt Nitzsch dar, beginnt nicht erst nach

dem gallischen Brand.

Vielmehr hat gleich nach der Vertreibung der

Sie ist annalistisch, sehr dürftig,

Könige eine Ueberlieferung begonnen. und die Aedilen sind ihre Verfasser.

bis zum ersten punischen Kriege. und weiter die Laudationes hinzu.

Dies ist die einzige schriftliche Quelle Dann kommen die AnnaleS Maximi

Auf diesen Quellen beruht FabtuS

Pictor.

Auf diesem beruht Valerius AntiaS, auf diesen beiden LiciniuS

Macer.

Zu dieser kritischen Ordnung der römischen Geschichtschreibung

fügt nun Nitzsch in dem Buche die Charakteristik der einzelnen Quellen­

schriften hinzu, und damit zieht der Verfasser zugleich seine Resultate für die Geschichte Roms.

Charakteristik.

Verweilen wir darum einen Moment bei dieser

Fabius Pictar schöpfte seine Nachrichten auS dem alten

Liber Annalis, aus den Annales Maximi und aus der zur Zeit ihrer

schriftlichen Fixirung

bereits

patricisch

gefärbten Laudationes.

Seine

Arbeit hat den Doppelcharakter eines gelehrten Werkes und einer politi­ schen Schrift.

Er überträgt die Anschauungen, in denen er und seine

Standesgenossen sich bewegen auf die frühere Zeit und will auf diesem

historischen Hintergründe die Politik und Stellung der Aristokratie in seiner Zeit rechtfertigen.

Ist ihm Fabius Cunctator der Retter des StaateS gegen

Hannibal, so ist ihm derselbe auch der Verfechter der Stellung deS Senats

gegen eine stolze, städtische Plebs gewesen.

Diese Entstellung, die sich In

diesem Bilde geltend macht, ist eine unbewußte, aber sie ist doch vorhanden. Nach FabtuS Pictar dauern die AnnaleS Maximi als Quelle der Geschichte

fort.

Sie werden ohne Scheu gefälscht.

Ebensowenig wahr sind die Leichen­

reden, eine andere Form der geschichtlichen Ueberlieferung.

PolhbiuS, der

zu derselben Zeit schrieb, entbehrte ganz der Fähigkeit, eine historische Ent­

wicklung zu verstehn, er hatte ferner einen bestimmten Parteistandpunkt, seine Auffassung ist darum nur einseitig und unvollkommen. Stande der Geschichtschreibung baut Valerius Antias auf.

Auf diesem

Er kennt schon

keinen andern Unterschied von Patriciern und Plebejern als den von reich

und arm und dieser Unterschied sei von jeher so gewesen.

Und dieses ab­

solute Mißverständniß wird die Grundlange seiner Geschichtsauffassung. Aber diese hat auch noch einen anderen Gesichtspunkt.

Seine Gens soll verherr­

licht werden und darum wird die ganze Verfassungsgeschichte umgeändert, werden Thatsachen und Zahlen

älteste Zeit hineingedichtet.

Auf

erfunden, Zustände seiner Zeit in die Valerius

und

Fabius Ptctor beruht

dann LiciniuS Macer; er verfährt kritiklos in der Art, wie er die An­

gaben dieser Schriftsteller chronologisch und sachlich verbindet, und er hat ebenfalls eine außerhalb der Geschichtsbetrachtung

liegende Tendenz im

Auge, die Gens Licinia zu verherrlichen.

Die hohe Wichtigkeit, welche diese Quellenkritik für die ganze Ge­ schichte der Republik hat, leuchtet sofort ein.

Wer hier bemerkt, wie

Nitzsch den Fabius Pector charakterisirt, wird verstehn, warum er nichts

von einer stolzen, machtsüchtigen aber politisch-unfähigen Plebs Urbana in der Zeit des Hannibalifchen Krieges wissen will, warum er die rettende

That deS Fabius Cunctator nicht so hoch schätzt, in dessen tactischen Maß­ regeln nackten Egoismus für sich und feine Standesgenossen und zugleich

Unehrlichkeit gegen die bäuerliche Plebs sieht, warum er die Errettung RomS aus der Katastrophe der Hannibalifchen Siege nicht einzig der

Weisheit des Senats zuschreibt, warum er der bäuerlichen Plebs den vollen Antheil an der Errettung des Vaterlandes wahrt.

Ebenso schöpfen wir

aber aus diesen Mittheilungen, in denen Nitzsch fixirte, was seit dreißig

Jahren ihn beschäftigt hatte, den weiteren Grund, warum Nitzsch die In­ stitute der ältern und mittlern Republik und deren Zustände überhaupt.

344

Karl Wilhelm Nitzsch.

soweit irgend thunlich, wo aus gleichzeitigen Thatsachen sich ein Schluß

ergab, und wo gleichzeitige Nachrichten vorlagen, eben aus diesen und unabhängig von der späteren Ueberlieferung zu erklären sich bestrebte.

Das Buch selbst, von dem wir hier sprechen, ist überaus scharfsinnig,

wir staunen über die Fülle der Beobachtungen, die Nitzsch an LiviuS und Dionysius von Halikarnaß macht, um die einzelnen Quellenschriften heraus­

zulösen, wir bewundern die Geschicklichkeit in der Handhabung der äußeren und inneren Kritik bei dieser ihrer ganzen Natur nach überaus schwie­

riger Aufgabe, die Quellen in dieser Verarbeitung so von einander zu

scheiden, daß die Charakteristik der einzelnen möglich ist: aber das Buch

kommt bei aller Schärfe der Beobachtung und aller Größe der Gelehr­

samkeit doch über einen hypothetischen Charakter nicht hinaus und zwar deshalb nicht, weil die gewissermaßen zur Thesis erhobene Behauptung,

auf der die ganze Schlußfolgerung sich aufbaut, nicht den Charakter der Unantastbarkeit hat.

Es

ist das jener Satz,

den Nitzsch von Nissen

acceptirt, daß LiviuS für eine bestimmte Strecke immer nur eine Quelle zu Grunde lege.

Andere Forscher der römischen Geschichte haben zum

Theil sehr erhebliche Gründe gegen dieses sogenannte Einquellenprincip gebracht, sie erschüttern damit auch die Charakteristiken, und es bleibt das Buch darum eben zum Theil hypothetisch.

Aber es bleibt immer ein unvergängliches Denkmal der Gelehrsam­ keit seines Verfassers.

Und es hat für uns Jüngere doch auch einen

positiven hohen Werth, indem eS uns die Bahnen weist, auf welchen die

Erforschung der römischen Geschichte noch großes zu leisten hat, indem eS ferner gegenüber der römischen Geschichtschreibung uns mit jener Skepsis erfüllt, die zur Vorsicht gegen alles dogmatische Urtheil über diese Ge­

schichte mahnt und zugleich doch auch durch eine Reihe interessanter Er­

wägungen in uns das Interesse wachruft, über die Skepsis hinaus zur

Wahrheit zu gelangen. Man darf nun nicht aus diesem einschränkenden Urtheil über dieses kritische Werk zu weite Schlüsse für die Gültigkeit oder Ungültigkeit des Urtheils von Nitzsch über daS römische Staatswesen und seine Geschichte

überhaupt ziehn.

Es ist mit den exakten Wissenschaften eben doch etwas an­

deres als mit der Geschichte; eine Lücke der Beweisführung in der einheit­

lichen Auffassung des Quellenmaterials erschüttert noch nicht die Einzelheiten der mit dieser Auffassung zusammenhängenden Betrachtungen, und wie

Nitzsch gerade vorgeht, neben der Quelle die Institution, die einzelne Thatsache selbst auf die verschiedenartigste Weise zu betrachten, unter neuen Gesichtspunkten der Betrachtung ihr auch neue Seiten für daS geschicht­

liche Urtheil abzugewinnen sich bestrebt, in dieser Art wie er Niebuhrs

Karl Wilhelm Nitzsch.

345

Methode fortbildet, da bekommt alles einen mehrfachen Stützpunkt, so daß

wo eine Stütze fällt, andere die Sache aufrecht erhalten.

Seine Eigen­

artigkeit und Originalität in der Stellung zur römischen Geschichte tritt außerdem mit dem strengen Gesichte ernstester Gedankenarbeit hervor und findet schon darum die Autorität, daß niemand sein wissenschaftliches

Forschen diesem Gebiete zuwenden kann, ohne seinen Forschungen ein­

gehende Beachtung zu schenken. — Soviel an dieser Stelle über die Gesammtletstung von Nitzsch für unsere Kenntniß der römischen Geschichte, es mag nun erst beobachtet werden, was er auf andern Gebieten unseres historischen Wissens geschaffen, dann wird sich Gelegenheit bieten, seine

Stellung unter den Historikern unserer Nation zusammenfassend zu be­ sprechen und dabei genau auch zu präcisiren, wie er unter die einzureihen ist, die der römischen Geschichtsforschung ihre Lebensarbeit zugewandt.

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums. Fast in der Mitte von London, etwas näher dem Westen der Stadt,

liegt, in einem einzigen monumentalen Bau von gewaltigen Dimensionen fast alle wissenschaftlichen Sammlungen Londons umfassend, das British

Museum.

Es nimmt daö von Great Russell Street (im Südosten),

Montagu Street (im Nordosten), Montagu Place (im Nordwesten), Char­

lotte Street (im Südwesten) eingeschlossene Viertel beinahe ganz in An­

spruch; seine Hauptfatzade liegt nach Great Russell Street zu frei; zwischen Straße und Porticus befindet sich ein weiter, mit wohlgepflegten Rasen­ plätzen versehener Raum und zum Abschluß desselben ein stilvolles Eisen­ gitter.

Gegründet und gefördert durch die erleuchtete Munificenz englischer

Könige und die opferfreudige Begeisterung von Privaten, wie vor Allem

durch die reichen, in Fülle gespendeten Mittel des Staates hat das In­

stitut des Brittischen Museums für die eingehendsten Studien auf fast allen Wissensgebieten und zugleich für die Verbreitung vielseitiger Kenntnisse

in den weitesten Schichten der Bevölkerung eine Bedeutung gewonnen,

welche die englische Nation mit gerechtem Stolz, das Ausland mit be­

wundernder Anerkennung erfüllt.

Und dabei ist diese Sammlung von

Sammlungen — denn das ist das Brittische Museum — keineswegs gleich andern berühmten Museen oder Bibliotheken Europas das Werk viel­

hundertjährigen Sammelns und Ordnens: nein, kaum vier Generationen

genügten, um bei den großartigen Gesichtspuncten, nach welchen die Eng­ länder Pläne für praktische Schöpfungen zu entwerfen pflegen, bei der Energie und Zähigkeit, mit welcher sie bei der Ausführung vorgehen, bei der regen, immer frischgehaltenen Theilnahme, welche nationale Ideen dort in allen Kreisen des Volkes finden, und endlich bei dem bekannten Reich­

thum, über welchen England im Allgemeinen gebietet, jene Stätte ästhe­

tischen Genusses und geistiger Belehrung zu schaffen, welche in einzelnen Beziehungen zwar von andern Sammlungen erreicht oder übertroffen wird,

in ihrer Gesammtheit aber und namentlich in Bezug auf leichte Zugäng­

lichkeit und ausgedehnte Nutzbarkeit einzig in ihrer Art ist. Der Ursprung deS heutigen Brittischen Museums reicht eigentlich bis ins Jahr 1700zürück. In diesem Jahre wurde von Sir John Cot­ ton die von seinem Großvater Sir Robert Cotton angelegte, besonders

für Denkmäler der Englischen Litteratur wichtige Handschriftensammlung, welche sein Sohn und Enkel noch vermehrt hatten, der Englischen Nation zum Geschenk gemacht. Im Cotton House zu Westminster aufbewahrt, gerieth sie bei dem Brande dieses Gebäudes (1731) in große Gefahr vom

Feuer zerstört zu werden. Dies veranlaßte die Regierung zu dem Plane, für diese und ähnliche Sammlungen eine eigene Centralstelle zu gründen. Zur Ausführung kam der Plan aber erst im Jahre 1753, als das Par­ lament (A. 26 George II. C. 22) beschloß, „das Museum, bez. die Samm­

lung des Sir Hans Sloane (für 20,000 Pf. St.), und die Harleianische Handschriftensammlung (für 10,000 Pf. St.) anzukaufen; und zur besseren Aufbewahrung und bequemeren Benutzung der genannten Sammlungen sowie der Cotton'schen Bibliothek und der weiteren Vermehrungen eine Centralstelle (one General Repository) zu gründen*)". Sir HanS Sloane (f 1753) hatte nämlich seine sämmtlichen Sammlungen, welche sowohl gedruckte Bücher und Manuskripte als Alterthümer und Natur­ gegenstände enthielten und einen Werth von etwa 50,000 Pf. St. repriisentirten, dem Staate für die eben erwähnte Summe zum Kaufe angeboten. Im Jahre 1754 wurde das Montagu-Haus, an der Stelle des heutigen Brittischen Museums, (für 10,250 Pf. St.) angekauft, mit einem Kosten­

aufwand von beinahe 13,000 Pf. St. baulich hergestellt und die bezeich­ neten Sammlungen darin untergebracht. Die Mittel hierfür sowie für einen Verwaltungsfonds wurden durch eine öffentliche Lotterie beschafft.

Anfangs waren es nur drei Abtheilungen (departments), je eine für Handschriften, gedruckte Bücher und Naturgeschichte; mit der Bücherab­

theilung waren die Bestände an Münzen, Gemmen, Stichen und Zeich­ nungen verbunden. Schrittweise stieg die Zahl bis auf dreizehn, von denen jedoch eine (dep. of Maps, Charts, Plans and Topographical Drawings) im vorigen Jahre dem department of Printed Books wieder untergeordnet wurde. Ihre Zahl beträgt zur Zeit also zwölf, nämlich die departments of Printed Books, of Manuscripts, of Oriental Manuseripts (seit 1867), of Oriental Antiquities, of Greek and Roman Antiquities (seit 1807), of British and Mediaeval Antiquities and *) Ein übersichtlicher und belehrender Abriß der wichtigste» Ereigniffe an« der Ge­ schichte de« Brittischen Museums findet sich im IV. Capitel der Biographie Panizzi's von Mr. Fagan (London.1880; I 102 ff ).

348

Die Bibliothek und der Lesesaal deS Brittischen Museums.

Ethnography, of Coins and Medals, of Zoology (seit 1837), of Geology, of Mineralogy (feit 1857), of Botany (feit 1870) und of Prints

and Drawings*). Jede Abtheilung wird durch einen besondern Dirigenten (Keeper) — natürlich innerhalb des Rahmens der gesammten Museums­

verwaltung — geleitet. Es wäre ermüdend und würde weit über die Grenzen dieses Auf­

satzes hinausgehn, wollte ich alle die Privat- oder öffentlichen Samm­ lungen aufzählen, welche im Laufe der Zeit an das Brittische Museum ihre Schätze abgaben und dort seitdem ebenso zum Ruhme und Ge­ deihen des Ganzen beitragen, wie für sich dauernde Beachtung und Ver­ werthung gewonnen haben. Nur an einige der bekanntesten, mit dem Brittischen Museum nach seiner Gründung vereinigten Sammlungen er­ innere ich: an die berühmten von Lord Elgin nach England gebrachten Sculpturen des Parthenon, welche das Parlament im Jahre 1816 für die Summe von 35,000 Pf. St. ankaufte und die für sich allein genügen würden, das Museum zum Zielpunkte zahlreicher Künstler, Kunstforscher und Freunde der Kunst zu machen. Fast gleichzeitig mit den Elgin Marbles wurden die Denkmäler von Phigalia erworben (im Jahre 1815), es folgten 1845 die Lycian Marbles, 1856 f. die Reste des Mausoleums

von Halicarnaß, 1863—1875 die von Ephesus. An Vasen, Gemmen, Münzen u. dergl. finden wir dort die bekannte Sammlung BlacaS (1866), und im Jahre 1872 allein wurde die Summe von 10,000 Pf. St. für den Ankauf der schönsten Exemplare griechischer und römischer Münzen aus der Wigan Collection ausgegeben. Einzig in ihrer Art sind die Denkmäler Assyrischen Alterthums, welche Layard von 1849 bis 1851 zu Kuyundjik, dem alten Ninive, und zu Nimrud auSgegraben und deren Studium den Forschungen über Sprache und Geschichte des Orients neue Bahnen eröffnet hat. Nicht minder haben die naturwissenschaftlichen und ethnographischen Sammlungen, welche von den Reisen des Capitän James Cook (namentlich 1772—1775), von der antarktischen Expedition

des Capitän Sir James Clark Roß 1839 f., von der VenuSdurchgangSExpedition (1875) sowie von der Nordpolfahrt des Jahres 1878 her-

stammen, in den Räumen des Brittischen Museums Aufstellung gefunden. *) Schon hier sei erwähnt, daß gegenwärtig, um dem sehr drückend gewordenen Rmimmangel abzuhelfen, die vier naturwissenschaftlichen Abtheilungen aus dem Gebäude deS Britiah Museum entfernt und in einen dazu besonders aufgeführten'Bau (Natural History Museum oder New British Museum), gegenüber dem South Kensington Museum gelegen, übergeführt werden. Der freigewordene Raum soll besonders den Sammlungen der Alterthümer zu gute kommen. Die Verwaltung jener vier departments bleibt übrigens nach wie vor den Trustees des Britti­ schen Museums unterstellt. Mr. Taylor, der seitherige Secretär de« Principal Librarian, führt die Vertretung deffelben im Neuen Museum.

Die Bibliothek und der Lesesaal de« Brittischen Museum«.

349

Daß bei so raschem und bedeutendem Wachsen der Sammlungen die alten im Jahre 1754 erworbenen Räume des Montagu-HauseS nebst ge­ legentlichen Erweiterungen nicht lange auSreichen konnten, liegt auf der Hand.

Seit dem Jahre 1823, als die Bibliothek König Georg III.

(The King’s Library), welche in einer Zeit von 50 Jahren mit einem Kostenaufwand von beinahe 200,000 Pf. St. gesammelt worden war, öffent­

liches Eigenthum wurde, ward die Frage eines umfaffenden Neubaues ventilirt

und dieser auf dem bisherigen Grundstück nach Plänen von

Sir Robert Smirke ausgeführt.

Erst im Jahre 1845 waren alle vier

Flügel des jetzigen Baues fertiggestellt.

Dieser Hauptbau nimmt einen

Flächenraum von etwa 460 Engl. F. in der Länge und 410 F. in der Tiefe ein (1 Engl. F. — 0,304697 m.); im Innern befand sich ein freier

Raum von 235 F. Länge bei 313 F. Tiefe*).

Man hatte bei jenem Bau

vor Allem die Herstellung von AuSstellungSsälen inS Auge gefaßt, und

die Grenville- und King’s Libraries sind auch jetzt noch in dem stattlichen Parterregeschoß des Ostflügels untergebracht.

Für die geordnete Auf­

stellung der beständig wachsenden Büchermaffen aber und für die zu ihrer

Verwaltung nothwendigen Arbeiten, besonders aber für die Benutzung der Bücherschätze durch das Publikum zeigte sich auch jener Neubau als un­

zureichend**).

ES war nun ein genialer, allerdings ähnlich schon von

anderer Seite ausgesprochener Gedanke deS damaligen Keeper of the Printed Books, Sir Anthony Panizzi***), den bezeichneten innern Raum

*) Dergl. A List of the Books of Reference in the Reading Room of the British Museum. 2. ed. 1871. Dorrede S. XVII. ** ) Während im Anfang tzaS Brittische Museum, dessen literarische Schätze am 15. Ja­ nuar 1759 zuerst dem Publikum zugänglich gemacht wurden, für Readers nur 20 Arbeitsplätze enthielt, welche auch durch lange Zeit mehr als ausreichten, bot es vom Jahre 1826 an für 120 und vom Jahre 1838 an für 208 gleichzeitig Arbeitende Raum. ** *) Antonio Panizzi, geboren 1797 zu Breöcello in Italien, studirte in Parma Jurisprudenz, wurde daselbst 1818 Doctor der Rechte und ließ fich darauf in seiner Vaterstadt als Advocat nieder. Als Carbonaro verhaftet (1821), entkam er glücklich aus dem Gefängniß, lebte zunächst in Lugano, wo er seine Processi di Rubiera schrieb; von da auögewiesen, wandte er sich nach England (1823). In seinem Heimathlande Modena in contumaciam zum Tode verurtheilt, lebte er um so freudiger sich in die Verhältnisse seiner neuen Heimath ein, mit deren Interessen er rasch auf daö innigste verwuchs. Nach kurzem Aufenthalte in London, lebte er durch mehrere Jahre als beliebter und angesehener Privatlehrer der Italienischen Sprache und Litteratur zu Liverpool in sehr angenehmen Verhältnissen. Bei Be­ gründung der neuen Londoner Universität (jetzt University College genannt) er­ hielt er 1828 dahin einen Ruf als Professor der Italienischen Litteratur, wurde 1831 daneben Extra Assistant Librarian am Brittischen Museum, ließ sich im Jahre 1832 naturalisiren und avancirte 1837 mit Ueberspringung eines Vorder­ mannes zur Stelle eines Keeper of the Printed Books. In Folge dessen gab er die Lehrthätigkeit an der Universität auf und widmete seine ganze Kraft dem Museum, welches ihm zu einem guten Theile seine großartige und mustergültige Organisation zu verdanken hat. Namentlich sind Bau und Einrichtung der New

350

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.

zum Bau eines großartigen Reading Boom und weiterer Bücher- und

Verwaltungsräume zu benutzen**).

Nach seinen Angaben und nach den

Zeichnungen des Mr. Sidney Smirke wurde ein 258 F. langer und

184 F. breiter Neubau hergestellt, dessen Mitte der Reading Room ein­ nimmt, ein runder, reich in Gold und Blau decorirter Kuppelbau von

140 F. Durchmesser und 106 F. Höhe. 18. Mai 1857 übergeben.

Der Benutzung wurde er am

Das Oberlicht, welches durch eine Lichtöffnung

von 40 F. im Durchmesser sowie durch 20 Fenster in den Reading Room fällt, die sich in einer Höhe von 35 F. über dem Boden, in gleichen Ab­ ständen von einander befinden und 27 F. hoch und 12 F. breit sind, ist

an klaren Tagen für die Arbeiten im Reading Room ausreichend, nicht

ganz bei trübem Wetter und in den Stunden des späten Nachmittags; auch werden die Leser zuweilen durch Regentropfen überrascht, welche durch

undichte Fugen dringen.

Rund um die Wand des Reading Room läuft

ein Gang, welcher in bequemer Weise die Verbindung der Lesehalle mit

allen andern Theilen des Museums vermittelt. Room führen nur zwei Thüren:

Aus und in den Reading

eine (südliche), für das Publikum be­

stimmt, wird vom Haupteingang des Museums aus geraden Weges er­ reicht, die andere (nördliche) liegt jener gegenüber und dient nur den

Beamten des Museums.

Bon jenem Rundgang aber außerhalb des Lese-

saaleS führen — abgesehen von den zwei erwähnten Ausgängen — noch sieben weitere nach den inneren Lokalitäten.

Soweit diese zum Neubau

Library und des Reading Room sowie der neue alphabetische Catalog sein Werk. Im Jahre 1856 wurde Panizzi Nachfolger des Sir Henry Ellis als Principal Librarian, von welchem Amt er zunehmender Kränklichkeit halber im Jahre 1866 zurücktrat. Er starb zu London am 8. April 1879. Große Gewandtheit und Leb­ haftigkeit des Geistes, Ideenreichthum, ungewöhnliche Arbeitslust und Arbeitskraft, vielseitige Kenntnisse, reiche Lebenserfahrungen zeichneten ihn aus und waren ver­ bunden mit hoher Liebenswürdigkeit und Charakterfestigkeit. Sein bedeutendstes litterarisches Werk ist eine kritische Ausgabe von Orlando innamorato di Bojardo; Orlando furioso di Ariosto mit Commentar (London 1830—1834 in 9 vol.). Die hervorragendsten Staatsmänner, Gelehrten und Litteraten Englands, Frank­ reichs und Italiens zählten zu dem ausgedehnten Kreise seiner Freunde und Ver­ ehrer. Zu den ihm erwiesenen äußeren Ehren gehört, daß König Victor Emmanuel ihm im Jahre 1868 die Würde eines Senators von Italien antrug, und die Kö­ nigin von England ihn im Jahre 1869, was er früher wiederholt abgelehnt hatte, zur Ritterwürde erhob. Bereits ein Jahr nach seinem Tode erschien eine Bio­ graphie Panizzi's von LouiS Fagan in zwei Bänden, deren erste Auflage schon nach einer Woche vergriffen war. *) Ein Facsimile der Originalskizze (bat vom 18. April 1852) findet sich in dem an­ geführten Buche A List of the Books etc. nach S. XVI. Bereits am 5. Mai überreichte er den Trustees des Museums einen ausführlichen Plan für den Neu­ bau, aus dessen Motivirung zugleich die großen Uebelstände des bisherigen Raum­ mangels erhellen. Ein im wesentlichen vollständiger Auszug aus dem Bericht ist im I. Bande der Biographie Panizzi's S. 350 ff. abgedruckt. Uebrigens waren schon früher von ihm und Andern Vorschläge zu ErweiterungS- oder Neubauten gemacht worden, die stch aber als nicht empfehlenswerth erwiesen (Fagan I 349 ff).

Die Bibliothek und der Lesesaal deS Britüschen Museums. gehören, haben sie eine Höhe von 24 F., bez. 32 F.

351

(rings um den

Reading Boom) und dienen mit vorzüglicher Ausnutzung deS Raumes meist zur Aufbewahrung von Büchern; nur im Süden, auf dem Wege

vom Eingänge des Museums her, befinden sich Garderobe, Dienerzimmer u. bergt.

Der New Reading Room selbst, zu dessen Beschreibung wir uns

jetzt wenden, bildet, wie bemerkt, in seiner Grundfläche einen regelmäßigen

Kreis mit einem Durchmesser von 140 Engl. Fuß*).

In bet' Mitte be­

finden sich auf kreisrundem Podium die Arbeitsplätze des Superintendent und feines HülföperfonalS.

Bon diesem Podium aus führt der schon er­

wähnte nördliche Gang, von beiden Seiten dem Publikum gegenüber ab­

geschlossen, welcher den Zutritt der Beamten zu den Bücher- und sonstigen Verwaltungsräumen vermittelt**).

An zwei Punkten der das Podium

kreisförmig einschließenden Schranke befindet sich, nahe dem in die Bücher­

räume führenden Gange, je ein offener Kasten, in welchen die Bestellzettel seitens der Leser gelegt werden.

An drei anderen Stellen wiederum sind

die Arbeitsplätze der Beamten, welche die als Quittungen dienenden Be­

stellzettel nach dem Alphabet der Benutzer verwahren und die zurückzuge­

benden Bücher in Empfang nehmen.

In zwei eoncentrtfchen Kreisen um­

schließen sodann diesen ganzen nur den Beamten zugänglichen Mittelraum

Doppelpulte, auf deren beiden Seiten die schräge, leberüberzogene unb

gepolsterte Pultfläche zum Nachschlagen bet Kataloge unb Schreiben bet Bestellzettel bestimmt ist, wähtenb

bie unteren Fächer in Doppelreihe

übeteinanber ben neuen geschriebenen alphabetischen Katalog,

bie zahl­

reichen gebrückten Kataloge über bie Handschriften unb einzelne Theile des Bücherbestandes, kurz Alles dasjenige enthalten, was über die gedruckten

oder geschriebenen Schätze des Museums, ihre Ordnung u. bergt irgend­ welche Auskunft ertheilt.

Alle diese Hülfsmittel find den Besuchern des

*) Um von der Weite der Wölbung eine Vorstellung zu geben, füge ich aus dem Buche A List of tbe Books etc. S. XVII hinzu, daß nur das Pantheon zu Rom eine um 2 F. größere Spannweite hat, die St. Peterskirche zu Rom aber um 1 F., die St. Paulskirche zu London um 28 F. u. s. w. im Durchmesser zurück­ bleibt. **) So sehr die Anlage des Reading Boom in der Mitte des ganzen Museumsbaues durch die Umstände geboten war, läßt sich nicht verhehlen, daß damit für die Ver­ waltung manche Unzuträglichkeiten verbunden sein dürften und daß diese sich stei­ gern müssen, je mehr die Bücherräume nach dem Süden des Gebäudes sich aus­ dehnen werden. Da nämlich die Berwaltungsbeamten, um da« arbeitende Publikum nicht fortwährend zu stören, mit Recht auf eine einzige Verbindung (im Norden> mit den außengelegenen Räumen angewiesen sind, so ist es klar, daß der Verkehr nach den südlichen Räumen des Museums ein sehr umständlicher und erschwerter sein muß. Für die Neuanlage eines nur zu Bibliothekszwecken bestimmten Baues dürfte es sich daher meines Erachtens empfehlen, den Lesesaal, falls derselbe von ungewöhnlichen Dimensionen ist, nicht nach der Mitte, sondern möglichst nach der Front hin zu verlegen.

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.

352

Reading Boom nicht blos zugänglich, nein, diese sind sogar genöthigt sich

ihrer zu bedienen, um ein Buch zu erlangen.

Denn anders als unter

Beifügung der vollständigen und richtigen Bibliothekssignatur würde ihnen weder ein Druckwerk noch eine Handschrift verabfolgt werden*); mit An­

gabe der press mark auf dem Bestellschein — natürlich wird für jedes Werk

ein besonderer Zettel verlangt — erhält ein Jeder Drucke und Hand­ schriften in unbeschränkter Zahl.

Bestimmungen, welche ein Maximum

der auf einmal zu entleihenden Bücher festsetzen, gibt es nicht.

Für die

Bestellungen dürfen nur bestimmte gedruckte Formulare benutzt werden,

welche auf den geschilderten Katalogpulten allenthalben zur freien Ver­ fügung der Leser daliegen.

Die Scheine für Handschriften haben eine

grüne, die für Druckwerke eine weiße Farbe.

Hinsichtlich jener zwei Pult­

reihen bemerke ich noch, daß sie durch vier auf den Mittelpunkt zu ge­

richtete Gange, von denen zwei längs des wiederholt erwähnten nördlichen

Verbindungsganges hinlaufen, zum Zwecke der Communication in drei Abschnitte getheilt werden und daß ebenso zwischen den Pultreihen und

dem innern Podium Gänge von genügender Breite frei sind. Der ganze weite Raum jenseits des zweiten concentrischen Kreises

und des natürlich vor demselben freigelassenen Ganges bis zur weiten

mit Bücherschränken bedeckten Wandfläche ist zu Sitzplätzen für das arbei­ tende Publikum bestimmt.

Dieselben sind so geordnet, daß in symmetri­

scher Vertheilung 19 lange Arbeitstische strahlenförmig nach der Peripherie zu liegen, jeder etwa einen halben Radius lang.

Nach außen zu halten

sie alle, mit Ausnahme des am Eingang für das Publikum liegenden Tisches, die gleiche Entfernung von der Rundwand inne, nach innen tritt abwechselnd einer um den andern je 4 F. zurück, da sonst die Enden der

Tische einander zu nahe kommen würden.

Diese breiten Arbeitspulte sind

zunächst in der Mitte durch eine ziemlich hohe Brüstung, welche oben und

am Ende zugleich Oeffnungen für die Luftheizung enthält, in zwei Seiten in der Weise getheilt, daß die Gegenübersitzenden sich nicht sehen, also auch nicht in der Arbeit stören können.

Aber auch nach rechts und links

sind die einzelnen Arbeitsplätze in gleicher Größe durch niedrige Brüstungen

abgetheilt.

Die 8 langen Tische enthalten je 8, die 9 kürzeren je 7 Sitz­

plätze auf jeder Seite, jeder ist 4 F. 3 Z. breit.

Die zwei Tische auf

den beiden Seiten des Beamtenganges sind nur auf einer Seite mit je 8 Plätzen versehen, und sind dieselben Tische ausdrücklich für Damen re-

servirt, ohne daß solchen übrigens verwehrt wäre anderswo Platz zu

nehmen.

Vor jedem Platze befindet sich ein höchst solider Mahagonisessel

*) Auch diese Einrichtung stammt von Panizzi her (f. Fagan, Life of Panizzi I. 348 f.).

von behaglicher Breite mit Rücken- und Armlehne, mit Leder-, Rohr- oder

Holzsitz versehen.

Da die Stühle zudem auf Rollen sich bewegen, machen

sie auf dem ganz mit Kamptulikon belegten Fußboden ein möglichst ge­

ringes Geräusch.

Vor sich, an der Brüstung angebracht, hat jeder Leser

verschiedene Schreibutensilien, sowie zwei zusammengeklappte und zum AuSeinanderschteben eingerichtete Bücherhalter für Bücher unbequemen Formats

oder solche, die man in bestimmter Beleuchtung benutzen muß.

Mir er­

schien übrigens diese Einrichtung etwas sehr complictrt.

Zu den beschriebenen Tischen, welche 270 Plätze enthalten, kommen noch 16 flache Tische (square tables) zwischen den weit von einander ab-

ltegenden Enden jener Sitzreihen.

Dieselben sind je 6 Fuß lang und von

ansehnlicher Breite, zunächst zur Benutzung von Werken ungewöhnlich

großen Formats bestimmt.

Zu den zwei Sitzplätzen, welche früher an

jedem der 16 Tische eingerichtet waren, wurde nach 1878 zunächst je ein

dritter hinzugefügt, so daß die Zahl sämmtlicher Arbeitsplätze 318 betrug.

Aus dem Verwaltungsbericht für das Jahr 1879/80 (Ordered, by The House of Commons, to be Printed, 2 June 1880) S. 7 ersehe ich, daß eine weitere Vermehrung der Plätze (um 62 mit Einschluß der erwähnten

16) stattfand.

Sie wurde dadurch erreicht, daß an die erwähnten 16 Tische

weitere nach innen zu angerückt wurden. — Jede der Reihen ist mit einem

großen Buchstaben bezeichnet, die einzelnen Sitzplätze derselben mit fort­

laufenden Zahlen; mit diesen zwei Elementen kann ein jeder Platz kurz und übersichtlich bezeichnet werden.

Sie müssen aber auch auf jeden der

Bestellscheine gesetzt werden; nach ihnen bringen die attendants die ge­ wünschten Bücher dem Leser an seinen Platz.

DaS häufige Ab- und Zu­

gehen der attendants — sie entsprechen unsern Bibliotheksdienern —,

vor allem aber die centrale Lage des für die Aufsichtsbeamten bestimmten

Raumes ermöglicht eine fortwährende und durchaus wirksame Controls deS arbeitenden Publikums, welches nicht leicht mit den geliehenen Büchern

oder Handschriften nachlässig umgehen könnte, ohne die Aufmerksamkeit eines Beamten auf sich zu ziehen.

Die Wände der Halle sind bis zur Höhe von co. 35 Fuß mit Repositorien und Büchern bedeckt.

Der obere Theil davon, etwa 40,000

Bände fassend, ist durch eine nur von außen zu betretende Gallerie dem

lesenden Publikum entrückt und gehört also eigentlich nicht zum Reading Room.

Es ist etwas zu bedauern, daß die Rücksicht auf den Raum ein

solches Arrangement nöthig macht; denn

das Hantiren der attendants

auf den Galerien verursacht manches den Leser störende Geräusch.

dem gleichen Grunde hätte es sich empfohlen, die

AuS

mechanischen Vorrich­

tungen, durch welche Bücher aus den oberen Etagen nach unten gewunden Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI1I. Hefl 4

26

354

Die Bibliothek und der Lesesaal deS Brittischen Museums.

werden, in größere Entfernung vom Reading Boom zu verlegen.

Der

unter der ersten Galerie befindliche Wandraum (8 Fuß hoch) enthält eine umfangreiche Handbibliothek zum beliebigen Gebrauche der Leser, etwa

20,000 books of reference, welche, im Allgemeinen sachlich geordnet, eine leichte Orientirung zulassen.

Katalog dieser Bibliothek, der

Es giebt einen gedruckten alphabetischen auch

in mehreren Exemplaren bei den

übrigen Katalogen im Innern der Halle steht*). Nachdem wir so die äußere Einrichtung des Reading Room, welcher

räumlich und

geistig der Dkittelpunkt deS Brittischen Museums ist, zu

flizziren versucht haben, mögen auch gleich einige Mittheilungen über die

Benutzung desselben und die darauf bezüglichen Bestimmungen ihren Platz

finden.

DaS im Auftrage

I. Winter Jones

der Trustees

vom

Principal

Librarian

unter dem 9. Dezember 1876 erlassene Reglement be­

schränkt den Besuch deS Reading Room

auf Zwecke von Studien und

Forschungen (study, reference or research) und schließt somit die Leser von TageSblättern und Unterhaltungslektüre aus. etwas Häufiges gewesen sein, daß

mit einer

Früher soll eS nämlich Eintrittskarte

versehene

Herren im Laufe deS Tages zu ihrer Erholung ein Stündchen im Reading Room sich niederließen, um ihre von der Straße mitgebrachte Zeitung zu

lesen, ein Verfahren,

das die Noth um Arbeitsplätze für die wirklich

Studirenden noch größer machte, als sie schon war**).

Ausgeschlossen

sind ferner alle Personen unter 21 Jahren und können Ausnahmen nur

durch Beschluß der Trustees statuirt werden.

Ohne Zweifel wird dadurch

das Publikum der Lesehalle ein gewählteres, die Benutzung der Bücher­ schätze eine qualitativ gesteigerte.

Wer nun zu dem angegebenen Zwecke

und im Besitz der nöthigen Lebensjahre im Reading Room zu arbeiten wünscht, bedarf einer vom Principal Librarian auszustellenden Zulassungs­ karte (ticket), welche

auf ein schriftliches Gesuch im Laufe der nächsten

zwei Tage ausgestellt wird.

Dem Gesuch

muß die Empfehlung eines

Londoner Hausbesitzers oder einer Person von bekannter Stellung beige­ fügt sein, worin diese erklärt den Gesuchsteller persönlich zu kennen und

*) Bergt. S. 349 *). In dem Bande befindet fich auch ein farbiger OrientirungSplan über die sachliche Ordnung der Handbibliothek. — In neuester Zeit hat man zur Erleichterung des Dienste« damit begonnen in den oberen Galerien solche Bücher unterzubringen, welche erfahrungsgemäß am häufigsten verlangt werden. (S. Monthly Notes of the Libr. Assoc. II S. 52.) **) Daß im Jahre 1859 das Gros der Besucher de« Reading Room nicht „select“ war, bemerkt Mr. Winter JoneS in seiner Einleitung zu A List of the Books of Reference etc. S. IX f. Dieselbe enthält eine gedrängte, ebenso lichtvolle wie intereffante Uebersicht über die Entwickelung aller auf die Benutzung des Brittischen Museums, besonders seiner Bibliothek hinzielenden Einrichtungen, in erster Linie also eine Geschichte des Reading Room.

355

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.

zu wissen, daß er selbst event, von der Karte Gebrauch machen wolle. Scheint das Gesuch ungenügend motivirt, so kann es vom Principal Librarian abgeschlagen oder den Trustees zur Prüfung vorgelegt werden.

Das ticket gilt nur für ein halbes Jahr, kann aber vom BibliothekS-

directorrum

irgendwie

immer wieder

erneuert werden.

über ihre Person sich

Fremden Gelehrten, die

auszuweisen im

Stande sind, wird

übrigens mit größter Leichtigkeit die Benutzung des Reading Boom ge­

stattet und sogar für die Zwischenzeit bis zur Erledigung deS Gesuchs ein JnterimS-Einlaßschein gewährt*).

Daß trotz der

erwähnten Beschrän­

kungen der Zudrang zur Erlangung der tickets ein sehr großer ist, be­ weisen die Zahlen der

etwa 11,000.

ausgegebenen Erlaubntßkarten:

Im Durchschnitt arbeiten täglich

Reading Room,

jährlich sind eS

etwa 430 Personen im

ein Theil der vorhandenen Plätze wird also täglich

zweimal benutzt**).

DaS ticket, welches natürlich nicht auf eine andere Person über­ tragbar ist, soll der Besitzer eines solchen beim Besuch deS LesesaaleS bei

sich führen und nach Bestimmung des Reglements auf Verlangen vor­ weisen.

Zur Zeit

meines Londoner Aufenthaltes

(Herbst

1878) war,

weil einige Zett vorher einem Leser irgend ein Gegenstand abhanden ge­

kommen war (der Verlust eines Buches der Reference Library datirte aus noch früherer Zeit), eine wesentliche Verschärfung dieser Bestimmung eingetreten, und sollte jeder Besucher deS Lesesaales bei jedem Besuche

den am Eingang zum Reading Room Wachd haltenden Dienern seine Einlaßkarte vorzeigen.

Diese ihren Zweck ersichtlich verfehlende Bestim­

mung wurde mit einer Rigorosität durchgeführt, welche man an Deutschen als büreaukratische Pedanterie belächeln oder rügen würde; jedenfalls war auch die englische Verwaltung deS British Museum damals wenigstens

einer solchen Pedanterie nicht unfähig.

Nebenbei haben

übrigens die

beiden ostiarii noch die Aufgabe, die Zahl der täglichen Besucher zu notiren für die mit großer Sorgfalt gepflegte Statistik des Museums.

*) Es ist mir eine angenehme Pflicht, an dieser Stelle den Beamten des Brittischen MusenmS für das sehr freundliche Entgegenkommen, welches sie mir im Jahre 1878 während eines längeren Aufenthaltes in London, sowie noch später durch Beant­ wortung verschiedener aus die Verwaltung des Museums bezüglicher Fragen be­ wiesen haben, auch öffentlich angelegentlichst zu danken. Insbesondere hatte Herr Dr. Hörning, Assistent am Brittischen Museum, wiederholt die Güte, mir über zweifelhafte Punkte Auskunft zu ertheilen. **) Nach dem erwähnten VerwaltungSbericht vom 2. Juni 1880 S. 6 betrug die Zahl der Besucher deS Reading Room „for the purpoee of study or research“ im Jahre 1874: 104,727, im Jahre 1875: 105,310, im Jahre 1876: 109,442, im Jahre 1877: 113,594, im Jahre 1878: 114,516, im Jahre 1879: 125,594, im Jahre 1880 laut einer privaten Mittheilung: 133,842.

Wer von den wachthabenden Beamten

durchgelassen ist und den

Gang zwischen verschiedenem Nebengelaß, wie Garderobe u. s. w. passirt hat, gelangt endlich zu der nach beiden Seiten geräuschlos sich öffnenden

GlaSthür

des Reading Room

Von

imponirendcr Großartigkeit

er­

scheint dieser dem Fremden, welcher ihn zum ersten Male betritt: sowohl überraschen ihn die mächtigen Dimensionen, als die übersichtliche Sym­

metrie der gesammten Anordnung ihm wohlthut und die bunte Mannig­

faltigkeit des Treibens

ihn fesselt.

Neben

den zahlreichen Vertretern

beider Geschlechter des Landes, in dessen den Musen geweihter Stätte er weilt, und den bekannten Typen anderer europäischer Länder sieht man die Söhne der verschiedensten Gegenden fremder Erdtheile, Araber, Neger

und Mulatten, namentlich viele Hindus, die durch Studien im Britt. Museum die Kluft auszufüllen bestrebt sind, mischen und der europäischen Cultur besteht.

welche zwischen ihrer hei­ Man würde übrigens fehl

gehen mit der Annahme, daß alle die anwesenden Leser ernst wissen­ schaftlichen Studien obliegen.

Gerade unter den Besuchern aus London

sollen, wie mir versichert wurde, viele den Reading Room zu praktischen Zwecken aufsuchen: Beamte von Advocatenbureaux, welche alte Zeitungs­

annoncen im Interesse

ihrer Clienten nach irgend welchen Personalien

durchstöbern; Industrielle, welche sich nach Zeichnungen für ein Modell

umsehen oder nach der Beschreibung der für irgend eine Branche patentirten Maschinen.

Fremde, welche den Reading Room nur in Augen­

schein nehmen wollen, werden blos partienweise und nachdem sie auf dem

Secretariat des

Museums

eine besondere Erlaubniß eingeholt

haben,

unter Führung eines Beamten zugelassen; auch dürfen sie nur von der

EingangSthüre aus den Raum und seine Einrichtung betrachten.

Wer

alS Leser und mit einem bestimmten litterarischen Zwecke den Lesesaal

betreten hat, wird sich zuerst, falls er noch zu wählen hat, eines geeig­ neten Platzes versichern, wobei — besonders für Handschriftenleser — auf die Beleuchtung zu achten ist und auf die Nähe derjenigen Abtheilung

der Reference Library, aus welcher er zumeist Bücher zum Nachschlagen

entnehmen muß.

Er wird dann seine Bücherbestellung machen und zwar

für Bücher, die Tags zuvor für ihn zurückgestellt worden sind, unter

Benutzung der alten Empfangsscheine, auf welchen nur Datum und event, die Angabe des Sitzplatzes zu verändern sind.

Werden reservirte Bücher

nicht am dritten Tage nach ihrer Aufbewahrung wieder vom Leser bestellt,

so wandern sie in die Bibliotheksräume zurück.

Das Herbeiholen der

gewünschten Bücher, namentlich solcher, welche neu bestellt sind, erfordert zumal in der ersten Stunde nach Eröffnung des Reading Room eine

geraume Zeit.

Da vergehen '/, bis 3/t Stunden, ehe das Gewünschte

zur Stelle ist, und doch kann man den Beamten des Museums, bei welchen wie im englischen Geschäftsleben überhaupt daS „quickly“ eine Hauptrolle spielt, keineswegs den Vorwurf der Lässigkeit machen. Au^h die Manipulation des BüchersuchenS ist richtig organisirt; nur ist in der

ersten GeschäftSstunde der Andrang zu groß und daS lobenSwerthe Princip, die Zahl der Bücher, die Einer verlangen kann,

sehr zeitraubend für die Verwaltung.

nicht zu beschränken,

Ueberhaupt würden manche deutsche

Gelehrte, welche jeden Gang nach der Bibliothek ihres OrteS als einen lästigen Zeitverlust empfinden, deren Verkehr mit diesem Institute sich

häufig darauf

beschränkt, durch Brief

oder Boten Bücher zu bestellen

und diese ebenso durch Andere holen zu lasten,

welche aber anderseits

vom Hörensagen geneigt sind daS Brtttische Museum als Muster be­ quemster Bücherbenutzung über Alles zu preisen; diese Gelehrten, meine ich, würden an Ort und Stelle bald erfahren, daß ohne wesentliche Opfer an Zeit die Schätze deö Brtttischen Museums für sie nicht zu heben sind.

Der Fremde, welcher nur zu Studtenzwecken und meist in seiner Ferien­

zeit in London weilt,

empfindet das wenig; wohl aber haben mir in

London ansässige Gelehrte versichert, daß sie wegen ihrer anderweitigen Berufsgeschäfte nur selten, und dann stets mit Aufopferung eines halben

oder ganzen Arbeitstages das Museum benutzen könnten;

ein Opfer,

welchem der geholte Gewinn nicht immer entspräche.

Will der Leser den Reading Boom verlassen, so liefert er sämmt­ liche gegen Scheine erhaltenen Bücher oder Manuskripte bei demjenigen

der drei Beamten ab, welcher seine Scheine in Verwahrung hat; die Entleiher sind auf die drei Beamten nach dem Alphabet ihrer Namen vertheilt.

Diejenigen Werke, welche Einer für den folgenden Tag zurück­

gestellt haben will, müssen besonders abgegeben werden und je mit einem

JnterimSzettel (Formulare sind nicht vorgeschrieben) versehen sein,

auf

welchem die Signatur des Buches, Datum und Name deS Bestellers

nebst dem Worte „kept“ enthalten sind.

Die Bücher der Reference

Library sollen reglementsmäßig alsbald nach erfolgter Benützung vom

Leser wieder eingestellt werden,

jedenfalls also bevor er weggeht.

An

eine Zeit innerhalb der GeschäftSstunden ist die Rückgabe der Bücher so wenig

wie

ihre Bestellung

gebunden.

natürlich vor Schluß deS Reading Room.

Am

meisten

häuft

sich

jene

Derselbe wird 15 Minuten

vorher mit einer Glocke angekündigt; doch merkt man schon längere Zeit vorher an dem demonstrativen Zurechtrücken der Stühle, Abtragen von

Büchern u. bergt,

von Seiten des Unterpersonals,

daß

die Zeit des

Schlusses nahe ist, falls man sich nicht durch einen Blick auf die große

im Reading Room befindliche Uhr

über die Zeit unterrichtet hat. —

Vor Oeffnung des Reading Room wird täglich die Reference Library

revidirt, was sowohl der Sicherheit wegen als zur Beseitigung der un­ ausbleiblichen Verstellungen erforderlich ist.

Ueber die Einrichtung der Bücherräume kann ich kürzer sein. Soweit

dieselben nicht zugleich Ausstellungssäle sind, für welche Rücksichten der Repräsentation maßgebend waren, ist das Princip größtmöglicher Aus­

nützung des Raumes sowie

im Zusammenhang damit größter Gleich­

mäßigkeit der Einrichtung streng durchgeführt. Gänge, sie sind 6 F. breit,

An den Seiten schmaler

befinden sich die Büchergestelle,

alle von

Sie sind, was sehr praktisch ist, aus Eisen

gleicher Höhe und Breite*).

gegossen, in Folge dessen in ihren einzelnen Theilen und unter einander so gleichmäßig, daß die Legeböden (gleichfalls galvanisirte, oben mit Leder

überzogene und an den Ecken mit Holz verkleidete Eisenplatten) weitere Anpassung an jeder Stelle

können.

jedes Repositorii

benutzt

ohne

werden

Letztere sind vorn in ihrer ganzen Breite mit einer herabhän-

genden etwa 2 Zoll breiten Lederklappe versehen, welche die untere Bücher­

reihe vor dem Eindringen des Staubs und die einzelnen Bücher beim Einstellen und Herausnehmen vor Beschädigung durch die scharfen Kanten der Legeböden schützen.

Die Böden selbst sind natürlich beweglich, ruhen

aber nicht auf den heutzutage veralteten Zahnleisten, sondern auf messingnen

Bolzen oder Stellstiften**).

Die Büchergestelle sind nur so hoch, daß ein

erwachsener Mann auch aus der obersten Reihe die Bücher ohne weiteres Hülfsmittel herausnehmen kann.

Leitern sind daher hier ganz vermieden.

Natürlich sind nicht nur die Reposttorien, sondern die ganzen Etagen, in

welchen diese stehen, entsprechend niedrig.

Der Fußboden jeder höheren

Etage ist von Eisen, ruht aus den Büchergestellen und ist weit durch­ brochen, um den darunter liegenden Etagen möglichst wenig Licht zu ent­

ziehen.

Galerien kommen nur an der Innenseite des Reading Room

und der Ausstellungssäle vor.

Die zur Verbindung der einzelnen Stock­

werke dienenden eisernen Wendeltreppen sind zahlreich (nur 40 F. von

einander entfernt), aber sehr schmal und daher wenig Platz raubend. Alles in Allem

genommen, sind die Bücherräume — von den AuS-

stellungSsälen abgesehen — durchaus nur als Magazin für Bücher ge*) Eine regelmäßige Ausnahme bilden die nur etwa halb so breiten Gestelle, welche die Vorderseite der eisernen Pfeiler in der Rundung des Reading Room bekleiden. **) Diese Einrichtung kam meines Wissens im Brittischen Museum zuerst zur Anwen­ dung und wurde darauf in der Pariser Nationalbibliothek eingeführt. Innerhalb Deutschlands ist, so viel mir bekannt ist, an den Bibliotheken von Karlsruhe und Halle, für einige Zimmer an der unter meiner Leitung stehenden Königlichen und UniversttätSbibliothek zu Breslau, äußerem Vernehmen nach auch in Leipzig, Berlin (Königliche Bibliothek) und Hamburg von der nachahmenSwerthen Neuerung Ge­ brauch gemacht worden.

plant und ausgeführt, nicht zugleich, wie daS an den meisten deutschen

Universitätsbibliotheken der Fall ist, zugten Theil der Benutzer.

als Arbeitsplatz für einen bevor­

Und in Wirklichkeit ist im Br. Museum der

unbeaufsichtigte Zutritt zu den Bücherräumen absolut nur den Beamten

gestattet. Im Winter wird der gesammte mit Büchern gefüllte Raum gleich

dem Reading Room durch Warmwasserröhren gehetzt bis zu einer Wärme von etwa 12 Grad R.

Die Beheizung der Bücherräume gilt nicht bloß

dem mit Aufsuchen und Etnstellen der Bücher betrauten Personal, sondern dient ebenso zur Conservirung der Bücher; auch befinden sich ebenda an

bestimmten Stellen die Arbeitsplätze für Beamte, (transscriberg), welche in eine Art Ausleihejournal die Titel und Signaturen der aus ihrer Abtheilung geholten Bücher und

den Namen

der Entleiher eintragen,

bevor jene in den Reading Room gebracht werden, ebenso natürlich die

Eintragungen löschen, sobald die Bücher zurückgeliefert sind.

Spätestens

nach Verlauf von 6 Tagen findet eine Uebertragung auf das neueste

Datum statt, wenn ein Werk noch nicht wieder einzustellen ist.

Jede der

Eintragungen geschieht übrigens doppelt, die eine neben der andern. die äußeren werden abgeschnitten und für jeden Tag

besonders

Je

alpha­

betisch nach dem Stichwort des Titels geordnet und in ein anderes Aus­ leihejournal geklebt, aus welchem man event, leicht constatiren kann, ob und an wen

ein bestimmtes Buch verliehen ist.

Die Führung

dieses

zweiten Journals schien mir seiner Zeit, obschon ich mir die Sache mehr­ fach und genau habe erklären lassen, überflüssig zu sein und das gleiche

Urtheil habe ich heute noch*). andere

Ja, sie ist um so entbehrlicher, als eine

sehr beachtenSwerthe Einrichtung eine treffliche Controle bietet.

Jeder attendant nämlich, welcher aus einem Gestell ein Buch oder mehr­ bändiges Werk entnimmt, muß an dessen Stelle ein kleines Täfelchen,

deren er eine größere Zahl stets bei sich führt, legen; auf diesem ist die

Signatur, das Stichwort, Zahl der weggenommenen Bände, Datum nebst einer den Beamten kennzeichnenden Note kurz verzeichnet. Die Aufstellung der Bücher in den Bibliotheken des Br. Museums,

zu welcher wir uns jetzt wenden, ist keine streng shstematische.

Anderseits

ist unwahr, was die Fama erzählt, daß dort die Bücher, wie sie kommen,

p61e-m61e nach dem Format aneinander gereiht werden.

Vielmehr giebt

*) Die Signatur und also der Standort eine- bestimmten Buches wird stch stets leicht feststelleu lassen. Findet es stch nun nicht am Platze und will man Näheres über den Entleiher u. bergt feststellen, so wird die Durchsicht der in den letzten 6 Tagen zu einer einzelnen Bücherabtheilung — denn um einen Theil der Bibliothek han­ delt es sich stets nur — gehörigen Büchertitel, wie sie im obenerwähnten Ausleihe­ journal stehen, nicht allzu große Mühe verursachen.

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen MnseumS.

360

eS in der großen Sammlung etwa 700 sachlich verschiedene Abtheilungen*), innerhalb deren allerdings die einzelnen Werke nach ihrer Accessio neben einander stehen, die neuerworbenen Bücher also ans Ende kommen, nur

mit Rücksicht auf die Formate je in verschiedene Fächer der Büchergestelle. Fortlaufend

gezählt werden die Gestelle mit

arabischen Zahlen in der

Weise, daß am Ende jeder Unterabtheilung für den zu erwartenden Zu­

wachs Zahlen übersprungen sind; zur Bezeichnung der Bücherreihen dienen Buchstaben, zu derjenigen der einzelnen Werke wieder arabische Ziffern.

Weiter auf die Details der Anordnung und Aufstellung will ich

hier nicht eingehen, ebensowenig aber auf den alten Streit mich einlassen,

ob für eine Bibliothek eine streng systematische oder eine auf praktische Rücksichten, wie Raum u. bergt gegründete Aufstellung der Bücher vor­ zuziehen sei.

Unter Verhältnissen, wie sie das Br. Museum bietet, wo

für den massenhaften Zuwachs mit dem Raum sehr haushälterisch um­ gegangen werden muß, wo ferner Gelehrten der Zutritt zu den Bücher­ räumen doch nicht freisteht, anderseits ohne das geringste Widerstreben so

viele Bücher Jedem zugebracht werden,

als er nur bestellen mag; da

wird daS dort eingeführte System der Bücheraufstellung sich als aus­ reichend erweisen.

Nur ist der nothwendige, ja unentbehrliche Ersatz für

die ihm anhaftenden Mängel ein guter und vollständiger Sachkatalog, und eines solchen entbehrt das Brittische Museum, wie wir sehen werden, vollständig.

Werfen wir jetzt noch kurz unseren Blick auf die Katalogisirung

jener Bücherschätze.

Es giebt im Ganzen vier neue Kataloge über den

des Brittischen

die

gleiche

alphabetische Anordnung haben; einer ist ein Standortskatalog

(shelf-

Bücherbestand

Museums, von denen

drei

index), welcher die Werke nach den Abtheilungen und in der Reihenfolge

verzeichnet, wie sie in den Räumen auf einander folgen, bestimmt für

etwaige Revisionen des Bücherbestandes.

Bon den neuen alphabetischen

Katalogen ist einer, in welchem die Veränderungen zuerst vorgenommen

werden,

nur den

(assistant’s copy).

Beamten zugänglich;

ebenso

das

zweite

Exemplar

Das dritte steht in 1457 Bänden**), wie schon er-

*) Ich entnehme diese Zahl der EinleitungSrede des früheren Principal Librarian Mr. Winter JoneS, welche er auf der Londoner Conferenz Englischer Bibliothekare (im October 1877) hielt (f. Trane actione and proceedinge etc. London 1878 S. 15). Mr. Rich. Garnett in einem bei derselben Gelegenheit gehaltenen Vortrag „On the System of classifying books on the shelves followed at the British Museum“ (a. O. S. 108—114) spricht S. 112 nur von „mehr als 500 solcher Unterabtheilungen", und in einem Anhang zu diesem Vortrag (a O. S 188 ff) werden sie einzeln (bis 515) aufgezählt. **) Dazu kommt der Katalog der Grenville Collection (7 Bde), deren Bücher nur int letzten Theile des New General and Supplementary Catalogue vom Buch-

wähnt, im Reading Room zur Disposition des Publikums.

Der alte

alphabetische Katalog (old copy) ist — wenn auch noch nicht vollständig

— durch die neuen ersetzt worden.

DaS Verfahren bei der Katalogisi-

rung war bis vor zwei Jahren dieses,

daß auf slips (Zetteln) von

feinem,

abgekürzte,

aber

festem

Schreibpapier

der

immerhin

jedoch

ziemlich ausführliche Titel mit seiner Signatur mittelst Copierdinte ge­

schrieben und von diesem Originalzettel drei Copteen abgenommen wurden. Die für den Reading Room bestimmten Zettel werden gehörigen OrtS auf den Blättern der Katalogbände aufgeklebt.

gelassen;

auch können noch

werden.

Fehlt eS an freiem Raum,

gefeuchteten slips

ganze Blätter

mag dtesehbe noch so

großer

Zahl eingefügt

so wird durch Ablösen der an­

und Einfügen von- Blättern,

lung deS Bandes Raum geschaffen.

dinte,

Freier Raum ist reichlich

in

eventuell

durch Thei­

Daß diese Abdrücke von Copier­

trefflicher Qualität fein, nicht nur nicht

ewig, nein auch nicht ein Jahrhundert lang die Farbe behalten und leicht

lesbar sein würden,

Zetteln,

die etwas

ließ

sich schon 1878 aus der Beschaffenheit von

über 30 Jahr alt waren, mit Sicherheit schließen.

ES kommt dazu, daß die beschriebene Praxis, so große Vorzüge sie bietet,

allzu viel Raum in Anspruch nimmt,

mit welchem

wenigstens für den

Reading Room im Interesse der Leser entschieden hauSgehalten werden muß.

So war mit mathematischer Sicherheit vorauszusagen,

daß nach

50 Jahren bei gleichem Anwachsen der Bibliothek der Katalog wenigstens

die doppelte Zahl Bände, also ca. 4000 nöthig hätte, eine Zahl, welche

der ihm gegenwärtig zugewiesene Raum überhaupt nicht fassen kann. lag daher der Gedanke nahe,

Es

daß sich für das Brtttische Museum der

Druck der Titel empfehlen würde, da dieser einerseits deutlich und dauer­ haft sein kann,

andrerseits kaum die Hälfte eines geschriebenen slip an

Raum beansprucht.

Die täglich zu druckenden Titel, im Durchschnitt etwa

200, würden zusammen den Raum von höchstens 14 Quartseiten füllen. Diese von Mr. Winter JoneS,

dem

früheren Principal Librarian des

Brittischen Museums, in seiner bereits erwähnten Rede (Transactions

. .. of the London Conference S. 19) nebenbei ausgesprochene Idee ist durch seinen Nachfolger, Nir. Edw. A. Bond, seit Jahresfrist verwirk­

licht worden**).

Der Druck erfolgt in monatlichen Zusammenstellungen

staben N an seit dem Jahre 1848 ausgenommen sind; ferner ein Katalog der Karten (l44 Bde.), der musikalischen Schätze (126 Bde.); ein alter alphabetischer Katalog (82 Bde.), neuere, zum Theil gedruckte Specialkataloge (21 Bde.), die ver­ schiedenen gedruckten oder geschriebenen Manuscriptenkataloge (im Ganzen 110 Bde). Siehe A list of the books of referenee etc. S. 269 ff. *) Vergl. den Verwaltungsbericht des Brittischen Museums vom 2. Juni 1880 S. 7 und Petzholdt's Anz. f. Bibliogr. u. BibliothekSwiff. S. 343 f.

362

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.

der Titel, die unter 7 Rubriken clasfificirt sind; an Abonnenten werden Abzüge derselben in zwei Exemplaren für 10 Guineas jährlich geliefert;

neuerdings ist der Preis auf die Hälfte herabgesetzt.

Was die innere Anordnung des alphabetischen Katalogs,

seine

Uebersichtlichkeit und somit seine Brauchbarkeit anbetrifft, so verdient an

sich die Riesenarbeit, eine Masse von ca. 1 Million Titel -in handlicher,

gut lesbarer Form nach festem, konsequent durchgeführten Systeme geordnet und dem Publikum vorgelegt zu haben, unbedingte Anerkennung und volle

Bewunderung. Verfasser

Auch wird Jeder, welcher nur die Schriften bestimmter

sucht,

leicht sich zurechtfinden und sichere Auskunft erlangen.

Dagegen läßt sich nicht verhehlen, daß jener Katalog aufhört ein zuver­

lässiger Führer zu sein, sobald es sich um Titel von anonymen Schriften

oder Sammelwerken handelt.

Da laborirt er an den Mängeln, welche

der englischen Bibliographie überhaupt eigenthümlich sind, an dem Herein­ ziehen sachlicher Gesichtspunkte bei dem

unmotivirten

der

alphabetischen Anordnung,

gelegentlichen Aufgeben des formalen Prinzipes zu

Gunsten eines realen.

Frei von diesem Fehler sind zumeist die neueren

französischen alphabetischen Kataloge, im Wesentlichen auch die deutschen, welche

höchstens bei der Auswahl des zweiten oder dritten OrdnungS-

worteS bei

Sammelwerken (z. B.

Jahrbuch oder dgl.)

unter dem

Stichwort

Zeitschrift,

ein recht störendes Schwanken zeigen.

Sehr ge­

wöhnlich findet man bei uns den Fehler noch in den alten alphabetischen Katalogen größerer

oder kleinerer Bibliotheken.

Um aus dem Katalog

des Brittischen Museunrs wenigstens ein Beispiel anzuführen, so werden

dort die periodischen Schriften jeder Art, Annalen, Jahrbücher, Journale,

Monatshefte, Zeitschriften, Revüen u. s. w. unter dem Stichwort Perio-

dical Publications eingetragen und zwar ohne Verweis unter den be­ treffenden Hauptwörtern*).

Das Auffinden der gesuchten Titel wird

aber noch weiter dadurch erschwert, daß daneben in besonderen Katalogen

die Schriften gelehrter Gesellschaften (Academies) und die Tagesblätter

(Ephemerides) verzeichnet sind.

Die näheren Details der Katalogisirung werden die Leser voraus­ sichtlich ebenso wenig interessiren, wie die vielen geschäftlichen Einzelheiten, *) Man vergleiche zur Bestätigung des oben ausgesprochenen Urtheils die dem Catalogue of printed books in the British Museum (Vol. I) vorausgeschickten Rules for the Compilation of the catalogue, besonders die Regeln 9. 33—35. 37. (38.) 40. 47. (48.) 49. 80 — 82. 85. 88—91. — Einen Umschwung von der jenseits des Kanals üblichen Vermengung sachlicher und formaler Gestchtspunkte für die alphabetische Anordnung von Titeln bezeichnen die von einer besondern Commission der Library Association of the United Kingdom aufgestellten und in den Monthly Notes of the Libr. Ass. vol. I (1880) S. 60 f. zur vorläufigen Kennt­ nißnahme vor ihrer Discussion durch den Verein veröffentlichten Regeln.

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.

363

Aus einer Prüfung des Geschäftsganges

welche dieser Arbeit vorausgehen.

im Copy right department habe ich die Ueberzeugung von seiner großen

Sicherheit gewonnen, zugleich aber auch von einer übergroßen Genauigkeit Bet Tagesblättern z. B. könnte die tägliche Buchung

und Umständlichkeit.

recht wohl unterbleiben ohne die Controlle zu hindern. — Novitäten von

Büchern läßt sich die Verwaltung, wohl zur Vermeidung der vermehrten Controlle und etwaiger Irrthümer bei Rüch'endung der nicht behaltenen Bücher, nicht zur Ansicht schicken.

Nur die bibliographischen Uebersichten

der neu erschienenen Bücher, Buchhändlerkataloge jeder Art gelangen in

die Hände der Beamten; nach ihnen werden die festen Bestellungen ge­ macht und ausgeführt.

Die Bindearbeiten werden nur im MuseumSge-

gebäude selbst von besonderen Buchbindern, und 17 weiblichen Arbeitern, ausgeführt.

gegenwärtig 61 männlichen

Die Folge dieser Beschränkung

ist eine große Verlangsamung dieses Geschäftes.

Der Zuwachs des Museums betrug im Verwaltungsjahre 1879/80

laut dem bereits erwähnten Berichte: 31,019 Bände und kleine Schriften (pamphlets) abgeschlossener Werke,

darunter 2,308 Geschenke, 10,219 Pflichtexemplare, 18,782 durch Kauf erworbene;

39,145 Theile von Bänden (oder einzelne Hefte periodischer Schriften) — dieselben

erhalten

AccessionSnummer

—;

im Brittischen Museum je eine besondere hiervon

sind

790 Nummern

geschenkt,

21,594 Pflichtexemplare, 17,761 gekauft; 7,559 Stück einzelne kleine Drucksachen, Theaterzettel, Lieder, Programme,

Flugblätter u. dgl.

Im Ganzen also ein Zuwachs von 77,723 Nummern, in denen ca. 33,329

größere selbständige Werke enthalten sind. Begreiflicher Weise kann ein Institut von solcher Ausdehnung, ein

so großartiger Geschäftsbetrieb nur mit einem großen Aufwand von Ar­ beitskräften in Ordnung und flottem Gange erhalten werden.

Und in

der That ist die Zahl der Beamten eine recht große, dabei in mancher

Beziehung anscheinend doch nicht ausreichend.

An der Spitze der Ver­

waltung steht ein Collegium von 49 Trustees, welche dies Amt als Ehren­ posten bekleiden und aus hoch- und höchstgestellten Personen der Geistlich­ keit und Civilverwaltung, Mitgliedern des Ober- und Unterhauses u. s. w.

bestehen*).

Sie vertreten das Museum nach außen, dem Publikum, dem

Parlamente

und allen Behörden gegenüber;

in ihrem Namen werden

Reglements erlassen, sie müssen zu jeder Aenderung im Gange der Ver-

*) ES sind 24 official Trustees, 1 Royal Trustee, 9 Family Trustees, 15 elected Trustees.

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.

364

Wallung, im Beamtenpersonal, zur Einleitung neuer und zu Publikationen ihre Genehmigung geben.

größerer Arbeiten

Der ständige Sekretär

dieser Behörde, welcher zugleich die Ausführung der Beschlüsse leitet, ist der jeweilige Principal Librarian des Museums, der den Trustees gegen­ über persönlich

Verwaltung

für die Ausführung ihrer Beschlüsse und die geordnete

des Museums verantwortlich ist.

12 departments of Coins,

An der Spitze jedes der

steht ein Keeper; die departments of Manuscripts,

of Greek and Roman Antiquities haben daneben

einen

Assistant Keeper, daS department of Printed Books hat vier Assistant Keepers.

Assistenten und Unterpersonal haben sie nach Bedürfniß.

Ganzen beläuft sich 267,

daS

Im

Beamtenpersonal des Museums zur Zett auf

nämlich 24 Oberbeamte (1 Principal Librarian and Secretary,

2 Assistant Secretaries, 1 Accountant, 1 Superintendent of Natural History, 12 Keepers, 7 Assistant Keepers), 85 Assistenten (33 of the

first, 52 of the second dass), 158 Diener (Attendants, und zwar 65 of the first, 93 of the second dass).

Hiervon wird die Hälfte, 137

Personen (8 Oberbeamte, 47 Assistenten, 82 Diener), durch die Bedürf­

nisse der Bibliothek und deS Reading Room (die Abtheilung der Bücher, welchem die Verwaltung deö Lesezimmers unterstellt ist, sowie der beiden für Handschriften) in Anspruch genommen.

Speziell zum Reading Room

gehört als Personal ein Superintendent, zugleich Senior Assistant Keeper of the Printed Books, ein Clerk und 17 Attendants*).

Das Ver­

hältniß der Zahl von Ober- zu Unterbeamten ist im Ganzen sowohl wie bei der Verwaltung der Bibliothek gleich 2: 3, wobei ich nicht unterlassen kann zu

bemerken, daß

mir an deutschen Bibliotheken bei einer meist

ausreichend bemessenen Zahl von Oberbeamten daS Dienerpersonal unge­ nügend

erscheint für Aufrechthaltung der Sicherheit und guten äußeren

Ordnung, sowie für eine angemessene Bertheilung der Geschäfte.

Die

tägliche Arbeitszeit beträgt für die Oberbeamten und Assistenten I. Klasse

6 Stunden**).

Ihre jährlicke Urlaubszeit wechselt nach ihrem Range:

die der Keepers beträgt 8 Wochen, der First Class Assistants 44 Tage,

der

Second

Class

3 Wochen, der

Assistants

36 Tage,

Attendants II. Klasse

der

Attendants I. Klasse

2 Wochen.

Die

Gehälter der

Unterbeamten bewegen sich zwischen 60 und 120 Pf. St., die der Assistenten

*) Schon im Jahre 1859 waren nach Winter JoneS' Bericht (A list etc. Pres S. XXV) allein im Reading Room außer dem Superintendent ein Clerk (Sekretär) und 11 Attendants beschäftigt; die Zahl der Attendants, welche die bestellten Bücher au« der Bibliothek nach dem ArbeitSraume brachten, wechselte den Umständen nach zwischen 10 und nahe an 40. **) Ebenso für die Assistenten II. Classe, welche nur während des erste» Dienstjahres zu 7 Arbeitsstunden verpflichtet sind.

zwischen 120 und 450 Pf. St.; der Gehalt der Assistant Keepers be­

trägt 500, bez. 600 Pf. St., der der Keepers 650, bez. 750 Pf. St. Der Principal Librarian hat eine Einnahme von 1200 Pf. St. und ein an das Museum anstoßendes Haus als Amtswohnung.

Ebenso wohnen

5 Keepers, welche die Verantwortung tragen für die Sicherheit ihrer Sammlungen, in den Museumsgebäuden. Bei einem so

nahe,

umfassenden Verwaltungsapparat liegt der Wunsch

die damit verbundenen Ausgaben zu vergleichen mit dem dadurch

geschaffmen Nutzen, bez. mit der Benutzung des Reading Boom.

Nach

dem erwähnten Bericht der Trustees S. 10 sind im Verwaltungsjahre 1879/80 430.

125,594 Leser im Reading Room gewesen, täglich also etwa

An sie

wurden insgesammt

kommen ca. 344,637 Bände,

789,336 Bände auSgeliehen; dazu

die aus der Reference Library benutzt

wurden, was im Ganzen die Summe von 1,133,973 Bänden oder un­

gefähr 3,887

geöffnet war.

für jeden der 292 Tage ausmacht,

an welchen die Halle

Jeder Leser benutzte täglich etwa 9 Bände.

Dieser gewiß

auf den sorgfältigsten Zählungen beruhenden Benutzung stehen folgende jährliche Ausgaben gegenüber: ca. 27,000 Pf. St. Gehälter;



1,000 Pf. St. Beheizung, Amtsbedürfnisse u. dgl.*);



9,000 Pf. St. als Hälfte der für Bücher, Handschriften und

______________________

Bindelohn gezahlten Summen**).

Summe: 37,000 Pf. St. = (rund). 740,000 M., welche Summe der Staat für die Benutzung jener 1,133,973 Bünde

zahlt.

Mit anderen Worten: für jeden zu wissenschaftlichen Zwecken an

einem Tage benutzten Band (groß oder klein) zahlt der FiScuS eine Prämie

von ca. V3 Mark. Mir wurde seiner Zeit 30,000 Pf. St. als runde Summe der jährlichen Berwaltungskosten mit Ausschluß der für Bücher und Bindelohn gezahlten Summen angegeben. — Des Näheren kann ich mittheilen, daß im Finanzjahre 1880/81 am Brittischen Museum ausgegeben wurden: für Gehälter (aller Beamten und Angestellten des Museums) . 61,118 Pf. St. Ankauf vou Büchern................................................................... 7,700 „ „ „ „ Manuskripten ........................................ 2,000 „ „ Bindelohn für Bücher.............................................................. 7,000 „ „ „ „ Manuscripte.............................................................. 600 „ „ Beheizung, Ventilation, elektrische Beleuchtung (einschl. 250 Ps. St. für Aenderungen am Apparat)................................................. 980 „ „ In den Transactions and Proceedings of the Oxford Meeting (1878) S- 124 gibt Mr. Bullen 10,000 Pf. St. als JahreSquvte für den Ankauf von Büchern an. **) Nur die Hälfte der Bücherpreise zähle ich zu den für die Zwecke der Benutzung ausgegebenen BerwaltungSkosten, insofern die Bücher ja einen dauernden Werth behalten. Dagegen laste ich den muthmaßlichen Miethswerth der Räume sowie die baulichen Unterhaltungskosten außer Berechnung, weil die Abschätzung eine allzu unsichere wäre.

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.

366

Eine eingehende Vergleichung dieser Zahlen mit den entsprechenden Leistungen unserer großen deutschen Bibliotheken ist für mich unmöglich, da — entgegen der englischen und amerikanischen Verwaltungspraxis —

die deutsche Bibliotheksstatistik sich noch in den ersten Anfängen befindet, jedenfalls sehr wenig davon in die Oeffentlichkeit dringt.

Bei der hie­

sigen Königlichen und Universitäts-Bibliothek indeß würden sich die ent­ sprechenden Ausgaben und Leistungen so stellen:

24,000 M. Gehälter und Wohnungsgeldzuschüsse, bez. freie Wohnungen.

2,000 M. Beheizung, Amtsbedürfnisse und Insgemein.

10,000 M. Hälfte der Ausgaben für Bücher und Binde­ löhne.

Summe: (rund) 36,000 M.

Die Benutzung betrug im Verwaltungsjahre 1879/80: 41,150 Bände, die an Hiesige,

2,177







Auswärtige aus der Bibliothek geliehen

_______________________ wurden, Summe: 43,327 Bände. Da diese 4—8 Wochen,

ja

ein

ganzes

Semester

hindurch

in den

Händen der Entleiher bleiben können, darf man annehmen, daß

jeder

jener Bände, wenn die Entleihung nur in ein Lesezimmer stattgefunden

hätte, mindestens viermal zur Benutzung verlangt worden wäre, bez. so oft zu Hause benutzt worden ist.

Bänden

im Jahre.

DkeS giebt eine Zahl von ca. 174,000

Dazu kommen die im hiesigen Lesesaal theils aus

der dortigen Handbibliothek, theils

Bücher mit 50,000 Bänden*)

und

aus den Bücherräumen entliehenen etwa 1000 Bände, welche in den

Bücherräumen selbst von den dazu berechtigten Personen benutzt werden. Alles

in Allem beträgt dies ca. 225,000 Bände im Jahre bei obiger

JahreSauSgabe von 36,000 M.

Auf die gleiche Formel wie oben zurück­

geführt, lautet das Ergebniß, daß der Staat für jeden je an

einem Tage

zu wissenschaftlichen Zwecken benutzten Band eine Prämie von ca. 16 Pf.

zahlt.

Dieses für das Brittische Museum

(ca. 65 Pf. pro Band) an­

scheinend ungünstige Resultat gestaltet sich für dieses wesentlich günstiger, wenn man den Unterschied deS Geldwerthes für England und Deutsch­ land erwägt, sowie daß zum Reading Boom nur Personen mit zurück*) In der Handbibliothek stehen etwa 1500 Bände, von denen im Durchschnitt täglich etwa 50 benutzt werden, jährlich also etwa 14,000. Dazu kommen etwa 20,000 aus den Bücherräumen zugetragene Bände, von denen ein großer Theil zur wieder­ holten Benutzung zurückgestellt wird. Im Ganzen ist für diese die Zahl 36,000 (täglich benutzter Bände) also wohl nicht zu hoch gegriffen.

gelegtem 21. Jahre Zutritt finden, die Benutzung der Bücher also, worauf sehr viel ankommt, eine qualitativ höhere ist.

Endlich ist die Zahl der

vom Brtttischen Museum alljährlich ausgehenden Publicationen eine recht

bedeutende, so daß die Verwaltungskosten nicht blos auf die Benutzung

des Reading Boom

in Anrechnung zu bringen sind*).

Andrerseits

dürfte freilich die Gleichstellung eines nach Haufe geliehenen Bandes mit einer viermaligen Benutzung deffelben eine sehr mäßige und ferner zu

beachten sein, daß hier wie überhaupt an deutschen Bibliotheken die den einzelnen Benutzern Seitens der BtbltothekSverwaltung gewährte per­ sönliche Hülfe, schon durch Ausführung unsigntrter Bücherbestellungen, weitergehend ist als im Britttschen Museum, das Beamtenpersonal also auch mehr in Anspruch nimmt.

Fasten wir jetzt im Allgemeinen unser Urtheil über die Ver­ waltung der Bücher- und Handschriftenschätze des Brittischen Museums

zusammen und heben wir zugleich mit den Hauptvorzügen einige Punkte

hervor, in denen die Einrichtungen einer Entwickelung noch fähig, bez.

bedürftig wären, so ist vor Allem daS durchgehende Streben nach voll­ ständiger, bequemer Nutzbarmachung der vorhandenen Schätze mit größtem Lobe hervorzuheben. schen Museums,

Diesem Grundzug

aller Einrichtungen des Britti­

welcher durch die Macht der öffentlichen Meinung stets

wach und wirksam gehalten wird, verdankt die Anstalt sowohl ihre bis­ herigen Erfolge, wie er auch weitere Fortschritte anregen und befördern

wird.

Die Zeit der Benutzung

Wesentlichen nur durch

der Räume und

ist die denkbar ausgedehnteste und im

die Rücksicht auf die nothwendige Reinhaltung

auf das Tageslicht beschränkt**).

Kaum hatten die

letzten Jahre eine ausgedehntere Verwendung des elektrischen Lichtes als

möglich erwiesen, so drang auch schon die Kunde in die Zeitungen,

daß

Versuche angestellt würden mit elektrischer Beleuchtung des Reading Room, und die kühne Phantasie einzelner Engländer verstieg sich bereits zu der

Hoffnung, es werde wie auf Eisenbahnlinien, in Post- und Telegraphen-

*) Allein in das Verwaltungsjahr 1879/80 fallen folgende Publicationen der hier in Frage kommenden departments: Facsimiles of ancient chartere. P. IV. Edited by Edw. A. Bond. — Facsimile of the Codex Alexandrinas. [Vol. IV.]. Edited by E. Maunde Thompson. — Antotype Facsimile of the Shakespeare Deed. — Catalogne of the Persian Manuscripts. Vol. I. By CH. Rieu. — Guide to the Printed Books exhibited to the Public. By Ge. Bullen. — Der Ladenpreis je eines Exemplares sämmtlicher bis ins Jahr 1879 erschienenen Publicationen derselben Abtheilungen des Britti­ schen Museum« beträgt etwa 63 Pf. St. **) Mit Ausnahme der Sonntage, je der ersten Wochen des Februar, Mai und October und einiger weniger Festtage ist der Reading Room täglich von 9 Uhr an geöffnet, und zwar vom October bis März einschließlich bis 7, im September bis 5, in den übrigen Monaten bis 6 Uhr.

Die Bibliothek und der Lesesaal deö Brittischen Museums.

368

anftatten,

so

führt werden.

auch Im Reading Room ein geregelter Nachtdienst einge­

Und

in Wirklichkeit

ist

der Raum bereits im Winter

1879/80 während der Abendstunden von 4—7 Uhr und sonst in den zu

London nicht seltenen Fällen dunkeln Wetters elektrisch beleuchtet worden*).

Denselben Geist echter Liberalität zeigt die Verwaltung, wenn jedem Be­ nutzer jedes Buch und jede Handschrift, welche daS Museum besitzt, ohne

Ausnahme und ohne weitere Formalität sowie ohne einen anderen Ver­ zug,

als die gleichzeitige Befriedigung aller Wünsche so vieler Benutzer

verursacht, zur Stelle gebracht wird.

Daß gewisse sehr kostbare Manu-

scripte nur in einem besondern Raume unmittelbar unter den Augen von

Beamten zu benutzen sind — hier indeß unter Zuziehung deS auS dem Reading Room herbeigeschafften gedruckten Apparates — ist eine durch

dw Rücksicht auf Ordnung und Sicherheit gebotene Vorsicht**). Nächst dieser wahrhaft liberalen Auffassung vom Wesen und Zweck

öffentlicher Bibliotheken unb der darauf beruhenden steten Fürsorge für

die Interessen deS Publikums,

die große Sicherheit und Ordnung,

hat

mit welcher sich die Verwaltung und Benutzung einer so großen Büchcrund Handschriftenmasse vollzieht,

meine Bewunderung erregt.

In den

vollen acht Wochen, während welcher ich daselbst arbeitete, wurde mir nicht

ein einziges der vielen von mir bestellten Bücher noch eine Hand­

schrift als nicht auffindbar oder verstellt bezeichnet, ein einziges Buch als zur Zeit beim Buchbinder befindlich.

An Andere verliehen waren aller­

dings wiederholt von mir gewünschte Bücher; daß diese Angabe aber nicht eine leere Ausflucht sei zur Verdeckung ungenauen Suchens, davon über­

zeugte mich allemal die Thatsache, daß ich bald in den Besitz derselben gelangte***).

Defecte namentlich

den größten Seltenheiten-f).

irgend

welcher Art zählen dort zu

Unterstützt wird die Verwaltung bei Wah­

rung dieser guten Ordnung durch das stricte Festhalten an dem Grund­ sätze,

kein Buch und keine Handschrift aus den Räumen des Museums

herauszugeben.

Diese mit größter Strenge

durchgeführte Regel mag

*) Siehe den Bericht vom 2. Juni 1880 S. 7. **) Wie unbequem ist dagegen die Einrichtung in der Bibliotheqae Nationale zu Paris, wo Druckwerke und Handschriften nur in streng gesonderten Raumen zu benutzen stnd. Wie schwer ist es z. B. den Werth von Handschriften zu bestimmen, wenn Einem nicht die Angaben über andere Handschriften, welche etwa in gedruckten Büchern sich finden, zur Vergleichung zu Gebote stehen. ***) Principiell hängt, falls mehrere Personen dasselbe Buch begehren, die Erreichung desselben alltäglich davon ab, wer eS zuerst bestellt (Bret come first served). Nur für einen Tag wird ihm dasselbe geliehen, und das Zurückstelle« eines Buches für eine bestimmte Person sichert dieser dasselbe für den folgeudm Tag nur dann, wenn er auch an diesem zuerst darnach verlangt. t) Aus Boehmer'S Roman. Studien IV 481 erfahren wir von Herm. Bamhagen, daß in neuerer Zeit — nach Ostern 1878 — eine werthvolle romanische Hand­ schrift (Reg. 16. E. VIII) auS dem Brittischen Museum verschwunden ist.

freilich unS Deutschen, die wir gewohnt sind,

Bibliotheken vor Allem

durch Entleihen von Büchern zu benutzen, wo von Stadt zu Stadt und Land zu Land in immer ausgedehnterem Maße die Bibliotheken ihre

als

illiberal und zweck­

Für die Londoner Verhältnisse

ist die Einrichtung

Schätze zu zeitweiliger Verwerthung hergeben,

widrig erscheinen.

meines Erachtens durchaus angemessen.

Jedenfalls ist eS für den Be­

nutzer des Brittischen Museums eine Hauptannehmlichkeit zu wissen, daß

er jede- im Katalog verzeichnete Buch sofort auch benutzen, eventuell eS bei

einem

Leser

anderen

an Ort und Stelle ohne Zeitverlust

ein­

sehen kann.

Wenn im Allgemeinen öffentliche

Bibliotheken die doppelte Auf­

gabe haben, zunächst die litterarischen Bedürfnisse des Publikums zu befriedigen, sodann aber auch bis zu einem gewissen Grade solche zu

wecken und

anzuregen,

so

stellt sich

je nach dem größeren Gewicht,

welches der einen oder anderen dieser Aufgaben den Umständen nach

beizumessen ist, naturgemäß

auch

ein Verwiegen

der

strengen Ord­

nung oder der Liberalität in den Verwaltungsmaximen ein.

verwalteten Bücher- und Handschristenschätze weit größer sind

Wo die als die

Nachfrage darnach, wird die Verwaltung richtig daran thun, die Nach­

frage zu fördern durch liberalste Entleihung der ängstliche Gemüther die Sicherheit derselben

Schätze, selbst wenn

in etwas gefährdet sehen.

An Orten aber, wo die litterarischen Bedürfnisse bereits sehr lebhaft

vorhanden sind, wird die Rücksicht auf Ordnung, Sicherheit und gleich­ mäßige Gerechtigkeit sehr bald dazu führen, für

eine

verschiedene

Behandlung

feste Schranken gegenüber

Derselbe Gesichtspunkt ließe sich

einer regellosen Liberalität zu ziehen.

verschiedener

Arten

und

Gruppen

von Büchern und Manuskripten derselben Bibliothek begründen und ver­ werthen.

Indem ich nach dieser kleinen Abschweifung zu meinem Thema zu­ rückkehre, möchte ich als dritten Vorzug der Verwaltung des Brtttischen Museums die Zweckmäßigkeit und Folgerichtigkeit seiner Einrichtungen im

Großen und Ganzen hervorheben.

Auf einige Grundgedanken von durch­

schlagender Richtigkeit ist daS ganze complicirte Fachwerk der Verwaltung gebaut, welches Ergänzungen und Ausbesserungen im Großen und Kleinen

wohl zuläßt, daS

aber in seiner Art trefflich gefügt ist und sich in der

Praxis ja auch aufs beste bewährt hat. Wir sind hiermit von selbst auf das Thema etwaiger Mängel ge­

kommen.

Einzelnes habe ich bereits in diesem Aufsatz an verschiedenen

Stellen (s. S. 359. 362 f.) berührt.

Als wesentlichsten Mangel muß ich

aber daS vollständige Fehlen eines Realkatalogs der gedruckten Bücher Preußische Jahrtücher. Bd. XLV1II. Hcft 4.

27

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.

370

Ihm abzuhelfen ist eine der dringendsten Aufgaben der Mu-

bezeichnen*).

seumSverwaltung, und immer wieder wird auf dieses von vielen Gelehrten

lebhaft empfundene desiderium hingewiesen werden müssen.

genügenden

Ersatz bieten die

gedruckten

Einen un­

bibliographischen Hülfsmittel,

welche die neue Verwaltung in reicher Fülle den Benutzern des Reading

Room zur Verfügung gestellt hat (s. Bericht vom 2. Juni 1880 S. 7). ES giebt einen besonderen von Mr. G. W. Porter, Senior Assistant

Keeper in

the Department of Printed Books, verfaßten

gedruckten

von diesen Büchern.

Katalog (Hand-List of Bibliographies etc. 1881)

Daß sie nicht im Stande sind, jeden Leser kurz und vollständig darüber zu unterrichten, was auf dem ihn besonders interessirenden Gebiete an

Litteratur überhaupt ist, leuchtet ein.

oder im Brittischen Museum besonders vorhanden

Sollte eS nun nicht möglich sein — diese Frage drängte

sich mir bei meinen Besuchen im Brittischen Museum auf —, einen der

drei neuen, auS

identischen alphabetischen Kataloge, die ja alle im Grunde

Zetteln

bestehen,

auseinanderzunehmen und

sachlich zu ordnen?

Wenn alsdann Theile des Sachkatalogs, von Gebieten,

im Museum besonders reich vorhanden ist,

würden,

deren Litteratur

durch den Druck publicirt

so würden solche Bände sowohl an den betreffenden Fachleuten

dankbare Käufer finden, als auch der Museumsverwaltung selbst die Mög­

lichkeit gewähren, durch Zerschneiden jener gedruckten Kataloge die alten

geschriebenen Titelzettel in ihren alphabetischen Katalogen wiederholt durch gedruckte zu ersetzen.

Den Plan, welcher seit einigen Jahren wieder von

der Museumsverwaltung ventilirt und dessen Ausführung sogar bereits vorbereitet wird, den alphabetischen Katalog drucken zu lassen,

halte ich

für verfehlt und möchte in dieser Hinsicht die von Dr. Ed. Reyer an

der Wiener Universität (s. Petzholdt'S Anzeiger 1879 S. 313 f.) dagegen ins beben gerufene Agitation kräftigst

unterstützen.

Den

Opfern an

Arbeit und Geld, welche ein so kolossales Unternehmen kostet, entspräche der lediglich auf die Räume des Britttschen Museums beschränkte Nutzen durchaus nicht.

Vermuthlich wird die Ausführung auch ebenso im Anfang

stecken bleiben,

wie vor 40 Jahren,

als der erste Folioband eines ge­

druckten alphabetischen Katalogs erschien

(London 1841 auf 457 eng ge­

druckten Folioseiten den Buchstaben A umfassend).

Etwas anders scheint

dieses Mal allerdings die Sache geplant zu sein: es sollte fürs erste nur ein Katalog der in England oder in englischer Sprache bis zum Jahre

1640 gedruckten Litteratur publicirt werden**). Wenn auf diesem Gebiete *) Von den Handschriften gibt eS Kataloge für die einzelnen Disciplinen, welche in den besonderen Räumen dieses department eingesehen werden können. **) Nach den vor Kurzem in einem Artikel der Academy (1881 S, 280 f.) enthaltenen

das Museum, was wohl der Fall sein dürfte, besonders reiches Material

birgt,

so wäre mit einem solchen Lexikon ein gutes Stück desjenigen

Werkes erledigt, welches seit Jahren in England mit rüstiger Kraft vor--

bereitet wird, nämlich eine« bibliographischen Lexikons der gesammten in

England gedruckten Litteratur.

Eine Vereinigung dieses Unternehmens

mit dem bezeichneten der Museumsverwaltung ist nicht in Aussicht ge­ nommen.

Vielleicht könnte das Comits für den Generalkatalog sich später

darauf beschränken bis zum Jahre 1640 einen Supplementband, die aus

andern Bibliotheken ermittelte Litteratur umfass mb, zu ediren.

Als das

Nützlichste erschiene mir übrigens, wie ich nochmals hervorhebe, wenn die

Museumsverwaltung auf Anlage eines Sachkatalogs und Publicirung aller oder einzelner Theile desselben ihre Kräfte concentriren wollte.

Zweitens ist es als ein Uebelstand zu beklagen, daß die gesammte

periodische Litteratur den Lesern vor dem Abschluß eines ganzes Jahrganges oder Bandes gar nicht zugänglich ist. sondern,

wie ich glaube,

Nicht etwa im Interesse der fremden,

besonders der einheimischen Gelehrten, welche

doch nicht alle in der Lage sind die sie interessirenden Fachzeitschriften

selbst zu halten oder Mitglied eines reich mit Journalen versehenen ClubS

zu werden, muß es als ein Mangel bezeichnet werden, daß

es in dem

großen, reich ausgestatteten Brittischen Museum dem Forscher unmöglich ist je mit den neuesten Bestrebungen und Anregungen, wie sie in Fach­

zeitschriften niedergelegt werden, Fühlung und Schritt zu halten.

Wenn

eS sich ermöglichen ließe, in der Nähe des Reading Room die einzelnen Hefte der periodischen Litteratur in Fächer geordnet und mit Jnterimssignaturen versehen,

aufzubewahren, bis je ein Band abgeschlossen, zur

Katalogisirung und Einstellung in die Bibliothek bereit ist,

anderseits

im Reading Room einen entsprechenden Jnterimskatalog mit regelmäßiger Verzeichnung der neu

eingehenden Hefte zur Einsicht für die Besucher

bereit zu halten, so wären diese in der Lage, die einzelnen Hefte der im Erscheinen begriffenen Journale gleich andern Büchern zu bestellen und

kennen zu lernen.

Drittens habe ich sowohl persönlich

eS als einen Uebelstand em­

pfunden, wie auch auf Nachfragen von Andern eS bestätigen hören,

daß

die neu erschienene Litteratur unendlich lange Zeit braucht, bis sie alle

Stadien des Geschäftsganges zurückgelegt hat und für den Leser zur VerNotizen soll der Druck des ganzen Katalogs in 40 Jahren beendet sein. Vorläufig sind Theile des Buchstabens A im Druck; die Abtheilung der mit B beginnenden Pseudonymen ist zur Publication vorbereitet; für Artikel wie Bible, Homer, Shakespeare sind besondere Bände in Aussicht genommen. Im Ganzen wird also der Druck des allgemeinen alphabetischen Katalogs von verschiedenen Seiten her in Angriff genommen.

Die Bibliothek und der Lesesaal de« Brittischen Museums.

372

fügung steht.

Vor mir liegt z. B. ein Zettel, auf welchem ich im Jahre

1878 die Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Philos.-hist. Klasse 1876

und 1877 bestellte und den schriftlichen Bescheid

erhielt, daß Jahrgang

1874 „last available“, der letzte zu benutzende sei.

Ohne Zweifel ist

Arbeitsüberhäufung zum Theil daran Schuld, abgesehen von dem lang­ samen Tempo, in welchem die Buchbinderei dort vor sich gehen soll;

es

ließen sich aber doch, wie ich an einigen Stetten meines Aufsatzes an­ deutete, durch Vereinfachung deS Geschäftsganges nicht unwesentliche Er­

sparnisse an Arbeitskraft erzielen, welche man zunächst zur Beschleunigung des

Geschäftsganges

auf jenem Punkte verwerthen

könnte.

Oder

eS

müßten andere, zwar sehr wünschenswerthe, aber nicht so dringende Auf­

gaben vor jener zurücktreten. Endlich bedarf meines Erachtens die gesammte Reference Library

dringend einer Revision in Bezug auf die Brauchbarkeit der 20,000 Bände nach dem

heutigen Standpunkte der Wissenschaften.

Nach ihrer ersten

unter Sir Panizzi's Aegide erfolgten Auswahl scheint wenig dafür ge­

schehen zu sein, diese Handbibliothek auf der Höhe zu erhalten, bez. ver­ altete litterarische Hülfsmittel durch die neuesten besten zu ersetzen*).

unter der neuen Verwaltung des Museums

Erst

durch Mr. Bond, d. h. seit

dem Herbst des Jahres 1878, ist auch hiermit ein Anfang gemacht wor­

den und weist der erwähnte Jahresbericht nach, daß 621 Aenderungen in

den Katalogen der Reference Books

vorgenommen worden sind.

Im

September 1878 sand sich z. B. noch ruhig der erste Band von Pauly'S Realencyklopädie in alter Auflage im Reading Room, während die zwei

Bände der neuen Auflage ungebunden in der General Library aufbe­

wahrt wurden (im alphabetischen Katalog übrigens unrichtig als „to be

continued“ bezeichnet).

Von Forcellini'S Lateinischem Lexikon ist im

Katalog von 1871 weder die Schneeberger Ausgabe noch eine der Neu­

bearbeitungen (von De Vit, bez. Corradini) verzeichnet; und wie es auf

dem Gebiete der Deutschen Litteratur mit den „leading works“ bestellt

war, möge man darnach bemessen, daß von Lessing's Werken die Lachmann'sche sowie die Lachmann-v. Maltzahn'sche Ausgabe im Reading Room fehlte und von Goethe gar nur ein Pariser Nachdruck (von 1835) in

5 Bänden vorhanden war.

Von Ranke's historischen Werken durfte vor

Allem die „Englische Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert" nicht vermißt *) Die erste Auflage de« gedruckten Katalog« der Reference Booke datirt vom Jahre 1859, die zweite von 1871. Die in dem Borwort der letzteren gegebene Berstcherung, „daß seit 1859 zahlreiche Verbesserungen vorgenommen worden seien durch Einreihung neuer Werke oder neuer Ausgaben, wenn immer diese irgend einen Vorzug boten vor den früher daselbst aufgestellten", stimmt mit dem Bestand der Bibliothek, wie er stch noch im Jahre 1878 vorfand, keineswegs überein.

werden. — Mit diesem Mangel hängt eS zusammen, daß auch sonst der

wenigstens auf dem weiten Gebiete der

Bücherbestand des Museums,

klassischen Philologie, gerade bezüglich der Erwerbungen aus dem letzten Decennium mancherlei zu wünschen übrig ließ.

So sehr bereitwillig ich

die Herren Oberbeamten im Reading Boom fand, die ihnen bezeichneten

Lücken alsbald zu ergänzen; so sollte eS doch für ein Institut wie das Brtttifche Museum nicht erst einer zufälligen späten Anregung von außen

bedürfen, um Werke anzuschaffen wie die Grammatici Latini von H. Keil oder Reiferscheid'S Ausgabe des Suetonius u. a. m.

Wir haben hierin

vielleicht die Folgen eines von dem früheren Principal Librarian Mr. Winter JoneS (1866 —1878, gest, den 7. Sept. 1881) mit voller Absicht verfolgten Principes zu sehen, nach welchem er mit einseitiger Bevorzugung

der bibliothekarischen Geschäftsroutine den fachwissenschaftltchen Studien der Beamten innerhalb des Printed Book Department — natürlich mit

einzelnen hervorragenden Ausnahmen — nicht genügendes Gewicht bei­ maß und nicht genügenden Spielraum ließ*). Zum Schluffe sei eS gestattet,

den Blick vom englischen Gestade

zurück auf unser Heimathland, insbesondere auf deutsche Bibliotheksver­ hältnisse zu werfen.

Gerade im Hinblick auf die Bibliothek des Brittischen

Museums ist etwa seit Jahresfrist der Gedanke der Gründung

einer

Deutschen ReichSbibltothek angeregt worden, und zwar von Dr. Karl

Kehrbach aus Halle in einem Artikel der Allgem. Liter. Correspondenz Voraus ging übrigens der Kehrbach'schen Agitation

(vom 1. Juli 1880).

ein Artikel deS Universitäts-Bibliothekars Dr. O. Hartwig aus Halle in der „Post" vom 19. März 1880, worin dieser, anknüpfend an ein Schriftchen

deS Dr. Otto Richter aus Dresden „Ein Nothstand bei den sächsischen

Bibliotheken", die Nothwendigkeit der Sammlung aller deutschen Druck­ erzeugnisse hervorhebt.

Deutschen

Reichstages

bibliothek

vor

der

beiden,

sehen.

allen

und

Er schlägt als Sammelstelle die Bibliothek deS

und

die

betreffende

Provinzial-

wünscht die Reichspostverwaltung

bez.

LandeS-

mit Einziehung

auf Schreibpapier gedruckten Pflichtexemplare betraut zu

Kehrbach a. O. tritt für ein Reichsgesetz in die Schranken, welches deutschen

exemplares

an

Verlegern eine zu

die

unentgeltliche

begründende

Ablieferung

Reichsbibliothek

eines

Frei-

auferlegen soll.

*) Mit großer Offenheit hat Mr. Winter JoneS diesem einseitigen Grundsatz Ausdruck gegeben an einer Stelle seiner Eröffnungsrede der Londoner Conferenz Englischer Bibliothekare (Transactions etc. S. 8), wo er seine Fachgenoffen vor dem Felsen warnt, sich einem besondern Studienzweige zu widmen, und den Ausspruch Mark Pattison's im wesentlichen adoptirt, welcher in seiner Biographie des Isaac CasaubonuS (London, 1875) S. 207 in Bezug auf deffen bibliothekarische Thätigkeit zu Paris erklärt hat: „Der Bibliothekar, welcher liest, ist verloren."

Die Bibliothek und der Lesesaql deS Brittischen Museums.

374

So wünschenswerth nun auch offenbar das bezeichnete Ziel einer deutschen

Retchsbibliothek ist, so wenig gereift erschien von Anfang an die dafür inS Werk gesetzte Agitation.

Dies zeigt sich vor Allem darin, daß in

einem weitern Artikel (Allgem. Lil. Corresp. vom 15. Juli 1880) ernst­

haft als verschiedene Möglichkeiten die Vorschläge discutirt werden, den Sitz jener Reichsbibliothek in spe nach Leipzig oder Frankfurt am Main oder gar nach Nürnberg zu verlegen, während doch nur von Berlin und event,

einer Erweiterung der dortigen Königlichen Bibliothek die Rede

sein kann.

Letzteren Standpunkt allein vertritt mit Recht die von dem

Allgemeinen Deutschen Schriftstellerverein unter dem 30. März d. I. an

den Reichskanzler Fürsten von Bismarck gerichtete Eingabe, worin um

Begründung einer Reichsbibliothek und um ein Gesetz betr. die Abgabe je eines PflichtexemplareS .sämmtlicher Druckschriften an jene nachgesucht

wird*).

Auf ungenügender Bekanntschaft mit dem Br. Museum beruht

jedenfalls die Meinung, daß^das Br. Museum und seine litterarischen Schätze ihre hervorragende Bedeutung allein oder auch nur vorwiegend dem Copyright Law verdanken **).

Außer Acht gelassen sind die gewal-

*) Abgedruckt im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1881 Nr. 89 sowie im 5 Hefte des N Anzeigers für Bibliogr. und Bibliothekswiss. 1881. Dergl. ebenda (Heft 6) den Abdruck einiger Artikel des Preußischen Landtagsabgeordneten Ober­ lehrer Dr. Kropatschek sowie des Dr. Kehrbach aus dem Deutschen Tageblatt. Ersterer hat das Verdienst in einer Rede vom 15. December v. I. die Frage vor der Kammer mit großer Wärme sowohl nach ihrer nationalen Bedeutung wie nach der praktischen Ausführbarkeit besprochen zu haben. **) Irrig ist die in der erwähnten Eingabe deS Deutschen Schriftstellervereins ent­ haltene Behauptung, daß die Druckerzeugnisse Englands sich vollständig nicht nur im Brittischen Museum, sondern ebenso in noch vier andern Englischen Bibliotheken vorsänden. Nur an daS Brittische Museum ist nämlich laut Gesetz (A. 5 und 6 Victoria C. 45) ein Freiexemplar aller Drucksachen innerhalb eines KalendermonateS nach ihrer Ausgabe (bez. 12 Monaten aus den außereuropäischen Ländern Englands) uneingemahnt und kostenfrei zu übersenden, und verfallen Säumige einer Geld­ strafe (bis zu 5 Pf St. für jeden Fall). Dagegen haben vier Bibliotheken, die Bodleiana zu Oxford, die Public Library zu Cambridge, die der Advocatenfacultät zu Edinburgh und die des Trinity College zu Dublin, das Recht, die Einsendung eines Freiexemplares von jedem Druckerzeugniß schriftlich zu ver­ langen; ein Recht, von welchem schon um dieser Bedingung willen nur ein be­ schränkter Gebrauch gemacht wird. Daß übrigens selbst das Brittische Museum die neueren Englischen Drucksachen nicht in absoluter Vollständigkeit besitzt, räumte Mr. Bullen, Keeper of the Printed Books, auf der Oxford Librarian Con­ ference (s. Transactions S. 126) ein und erzählte dabei eine Anekdote aus dem Leben Panizzi's, daß dieser in einem kleinen Englischen Städtchen in einen Bücher­ laden tretend Verlagsartikel des Besitzers gefunden habe. Auf seine Frage, ob diese auch an das Brittische Museum geschickt worden seien, gestand der Buchhändler, welcher den Fremden natürlich nicht kannte, demselben ein, daß er — ein Vollblutengländer — gegen den Principal Librarian des Museums, eben den Sir Panizzi, als Ausländer eine Abneigung empfinde und deshalb das Institut nicht durch Ein­ sendung von Freiexemplaren bereichern wolle. — Uebrigens besaß schon seit dem Jahre 1709 (A. 8. Anna C. 19 § 5) die „Königliche Bibliothek" nebst acht andern Bibliotheken Englands das Privilegium ein Freiexemplar von jeder an der engli­ schen Buchhändlerbörse registrirten Druckschrift zu erhalten, und ging dieses Privi-

Die Bibliothek und der Lesesaal de» Brittischen Museum».

375

tig«n Summen, welche seit Decennien regelmäßig oder bei außerordent­

lichen Anlässen zur Vermehrung und Ergänzung des Bücher- und Hand­ schriftenbestandes verwendet werden; außer Acht vor Allem die unschätzbaren alten Büchersammlungen, welche durch Bermächtniß oder Kauf Eigenthum

deS Museums geworden sind.

Auch wird von Kehrbach ganz übersehen,

daß gerade für die kleinen und kleinsten Drucksachen, Theaterzettel, Ge­ legenheitsgedichte, Wahlprogramme u. dergl., welche bet Zeiten mit sorg­

samer Hand gesammelt werden müsien oder schon nach Jahresftist nicht mehr vollständig zu beschaffen sind; daß für diese ein Gesetz über Pflicht­

exemplare von sehr beschränkter Wirkung ist, weil ja jede Controlle über ihr Erscheinen der BibltothekSverwaltung fehlt.

Da muß die Thätigkeit

des Liebhabers und Sammlers ergänzend eintreten, und die Btbliotheksdirection wird nur darauf bedacht fein müssen das Interesse der Sammler wach zu halten und für das Institut

nutzbar zu

machen.

Gleichwohl

würde ich für eine etwaige ReichSbibltothek das Recht der Pflichtexemplare

halten, und zwar wesentlich aus Für England schätzt Mr. Bullen (Trans, of the

gleichfalls für durchaus nothwendig finanziellen Gründen**).

Oxford Cons. S. 140) den den vier Bibliotheken (ohne das Br. Museum)

aus den Pflichtexemplaren erwachsenden Vortheil auf mehr als 1200 Pf. St. Jedenfalls wird nie die Dotation einer deutschen ReichSbibltothek so reich

bemessen sein können, daß die Verwaltung nicht beständig vor die Alter­ native gestellt wäre, ihre Geldmittel entweder zum Ankauf einer endlosen

Masse von heimischen Drucksachen zweifelhaftesten Werthes oder wichtiger ausländischer, sowie älterer deutscher Werke, kostbarer Handschriften, Jn-

cunabeln u. dergl. zu verwenden.

Wenn jene heimische Litteratur nicht

alö Freiexemplar der Bibliothek zufäflt, würde die Verwaltung gegebenen Falls ihre Ergänzung aller Voraussicht nach um der Befriedigung anderer Bedürfnisse willen vernachlässigen,

und eS könnten so Lücken entstehen,

welche in einer Reichsbibliothek allerdings vermieden werden sollten.

Ich

stimme deshalb dem Verfasser eines Artikels im Deutschen Buchhändler-

Börsenblatt vom 2. August 1880 Nr. 177, K. in M. gezeichnet, welcher legium im Jahre 1757 mit der Bibliothek der Könige England» durch Geschenk König Georg II. auf da» Brittische Museum über. Im Jahre 1815 (A. 54. Georg III. C. 156) wurde die Zahl der zur Entnahme eine» Freiexemplare» berechttgten Biblio­ theken gar auf elf vermehrt. *) Auch die in England geltende Strafandrohung und kurze Lieferungsfrist zugleich mit Portofreiheit müßten im Gesetz Aufnahme finden; nicht minder endlich wäre, worauf von anderer Seite bereit» hingewiesen worden ist, eine Bestimmung wünschenswerth, nach welcher da« an die Reichsbibliothek zu liefernde Freiexemplar ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit der übrigen Anflage auf gutem, dau;rhaften Papier abgezogen sein muß. Bei einer Erweiterung der Berliner Königlichen Bibliothek zur Reichsbibliothek träte übrigens für die Preußischen Drucker und Ver­ leger keine eigentliche Neubelastung ein.

376

Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischm Museums.

das Kehrbach'sche Projekt im übrigen einer sehr sachgemäßen Kritik unter«

zieht, in diesem einen Punkte nicht bei, insofern er sich gegen die Abgabe von Pflichtexemplaren

an

eine

zukünftige Reichsbibliothek

ausspricht.

Offenbar thut er dies vom Standpunkte der deutschen Buchhändler aus, welche in jeder gesetzlichen Verpflichtung zur Abgabe von Freiexemplaren

eine Beeinträchtigung der Gewerbefretheit sowie einen direkten materiellen

Schaden für sie selbst erblicken.

Sie bedenken dabei das Eine nicht, daß

jede öffentliche Bibliothek — und um wie viel mehr ein deutsches Reichs­ institut? — nicht blos die litterarischen Bedürfnisse deS Bücher suchenden Publikums befriedigt, sondern sie auch in hohem Grade weckt und somit

durch die von ihr ausgehende litterarische Anregung dem

Buchhandel

immer neue Consumenten und Producenten zuführt.

BreSlau.

Dr. Dziatzko, Oberbibliothekar.

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte. Die recht- und friedlosen Leute. (Schluß.)

Reichen Aufschluß über das Leben und Treiben dieser Vaganten auf dem Lande gibt eine kleine, kurz nach dem Jahre 1509 erschienene Schrift unter den Titel: „Liber Vagatorum, der Bettlerorden".

In dem Vor­

wort derftlben heißt eS wörtlich: „hienach folgt ein hübschS Büchlin . . . dictirt vm eime hochwirdigen Meister nomine expertus in trufis dem

Adone zu Lob und Ere, sibi in refrigerium et solacium, allen Menschen zu einer llnderweysung und Lere, und denen die dise Stuck bruchen zu

einer Besemng und Bekerung.

Und Wirt diß Büchlin geteilt in drei

Teil. Dar erst Teil sagt von allen Narungen, die die Betler oder Lantfarer

brauchen, und Wirt geteilt in xx Capitel et paulo plus, dann es sind xx Narmgen et ultra, dadurch der Mensch betrogen und überfürt Wirt.

DaS etlid Teil sagt etlich notabilia, die zu den vorgenannten Narungen

gehören. DaS dritt sagt von ein Vocabulari, Rotwelsch zu teutsch genannt."

Auch hier begegnet uns wieder dieselbe eingehende Classifikatton der einzelnen Lorten von Landstreichern, wie im Augsburger Achtbuch.

Auch

die Namer sind vielfach dieselben geblieben, nur daß jetzt der Schauplatz

der erster« das platte schwäbische Land ist, während daS Achtbuch vor­

zugsweise die Stadt Augsburg im Auge hat.

Zuvörderst werden genannt

die Breger, Bettler, welche keine Zeichen von den Heiligen oder nur

wenige ar sich hangen haben, schlechtlich und einfältiglich vor die Leute kommen md um Gottes und unserer lieben Frau willen Almosen heischen.

Unter ihnn, sagt der Verfasser, ist mancher fromme Mann, der mit Un­ willen betest und sich vor denen, die ihn kennen, schämt^ und bessere Tage

erlebt hat und, wenn er könnte, daS Betteln gerne aufgäbe; bet solchem ist eine Nabe wohl

angelegt.

Nach ihnen kommen

die Stabüler,

Bettler, de alle Lande mit Weibern und Kindern durchziehen.

Hut und

Mantel hingen bei ihnen voll von Heiligenbildern, sie führen mehrere Säcke, been keiner leer ist, Schüsseln, Teller und andern HauSrath bei

sich und lissen vom Betteln nimmer ab, denn der Bettelstab ist ihnen in

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.

378

den Fingern erwärmt.

Die Loßner sind Bettler, welche Ketten bei sich

tragen und vorgeben, sie hätten Jahre lang in der Gefangenschaft bei den

Ungläubigen geschmachtet, seien aber, da sie Gelübde zur Mutter GotteS

oder zu den Heiligen gethan, erlöst worden und nun auf dem Wege,

ihre Gelübde zu erfüllen.

Sie gehen aber nur mit Lügen und Betrügen

um, und unter Tausenden sagt kaum einer die Wahrhekt.

Noch schlimmer

sind die Klenkner, welche auf Krücken gehen und sich stellen, als fehle ihnen ein Arm oder ein Fuß, was aber lauter Betrug ist; sie setzm sich

vor die Kirchenthüren, stellen das Bild eines Heiligen neben sich und bitten mit jämmerlichklagender Stimme, daß man um dessen Willen ihnen

ein Almosen gebe.

Die Debisser oder Dopfer geben sich für Ordens­

brüder aus, gehen von Haus zu HauS, bestreichen die Bauern und ihre

Frauen mit einem Heiligenbild und heischen eine Gabe für ihr Kloster oder ihre Kirche, weisen auch Briefe vor, worin um Beiträge zu einem

Kirchenbau gebeten wird. Die Kammesierer sind Schüler und Studenten, die Vater und Mutter nicht folgen und ihren Meistern nicht gehorsam sein wollen, in böse Gesellschaft gerathen, das Ihrige verschwenden und dann auf den Bettel herumziehen.

Einige geben sich für Priester aus,

andere wollen es erst werden und bittten dazu um eine Beisteuer.

Die

Bagirer sind Abenteurer, welche aus Frau Venus Berg kommen und die schwarze Kunst verstehen.

Wenn sie in ein HauS kommen, so fangen

sie an zu sprechen: hie kommt ein fahrender Schüler, der sieben freien Künste ein Meister, ein Beschwörer der Teufel gegen Hagel, Wetter und alles Unheil.

Darnach machen sie etliche Charaktere, zwei oder drei Kreuze

und sprechen, wo diese Worte werden gesprochen, da wird Niemand er­ stochen, es trifft auch Niemand ein Unglück, und viele andere köstliche

Worte.

Da meinen dann die Bauern, es sei also, sind froh, daß sie

kommen, und sprechen zu den Vagirern, das und das ist mir begegnet, könnt ihr mir helfen?

Diese aber bejahen eS und betrügen die Bauern.

Die Grantner sind Bettler, welche vorgeben, sie seien mit der fallenden

Sucht behaftet, sie nehmen Seife in den Mund, daß sie recht schäumen, stechen sich in die Nasenlöcher, daß sie bluten, und fallen nieder vor den

Kirchen oder auf öffentlichen Plätzen, sprechen, sie haben zur Erlösung von ihrem Uebel den Heiligen eine Gabe gelobt und sammeln dazu frommer Leute Beisteuer ein.

Auch von den Dützern geben einige vor, sie hätten

wegen einer schweren Krankheit ein solches Gelübde gethan und bedürften

zu dessen Erfüllung einer Beisteuer, andere bitten um Butter, um ihren kleinen Kindern eine Suppe zu kochen, um Wein für ihre krenke Frau u. s. w.

Die Schlepper geben sich für Priester aus und bitten um eine

Gabe für ihre Kirche, oder nehmen für gute Belohnung die Bauern in

eine geisMche Bruderschaft auf.

Zickissen heißen solche, die wirklich

blind sind oder sich doch dafür ausgeben und erzählen, wie sie in einem

Walde überfallen und geblendet worden seien; sie tragen auch gemalte Täfelein und geben vor, sie kommen von fernen Wallfahrtsorten; einige,

die Platschierer genannt, singen auch vor den Kirchen.

Die Schwan­

felder oder Blickschlager verbergen ihre Kleider, setzen sich halbnackend und vor Kälte zitternd an die Ktrchenthüren und bitten um ein Kleidungs­

stück zur Bedeckung ihrer Blöße.

Die Bopp er und

Bopperinnen

lassen sich an Ketten führen und geben sich für Wahnsinnige oder Be­ sessene auS; die Dallinger stellen sich vor die Kirchen und geißeln sich,

als ob sie Buße für ihre Sünden thun wollten; die Sönzengänger

geben sich für durch Krieg oder Brand ins Elend gekommene Edelleute,

die Kandierer für ausgeplünderte Kaufleute auö, und beide gehen sauber gekleidet einher.

Die Sündveyer,

starke Knechte,

die

mit

langen

Messern gehen, geben an, sie hätten aus Nothwehr einen Todschlag be­ gangen und möchten dafür eine Geldbuße zahlen, zu der sie um Beiträge

bitten; öfters führen sie Frauen bei sich, welche reumüthig bekennen, sie hätten früher ein lüderlicheS Leben geführt, jetzt aber sich bekehrt So werden noch einige Arten von Landstreichern beiderlei Geschlechts ange­

führt: Weiber, die sich für schwanger (Btlträgerinnen) oder Kind­

betterinnen (Dutzbetterinnen), Bettler mit Klappen, die sich für aus­ sätzig (Jungfrauen) ausgeben, angebliche LollhardSbrüder (Mumsen),

getaufte Juden (Beraner und Beranerinnen), Pilgrime (Christianer

oder Calmierer); Schweiger).

Gebrechliche und Kranke (Burkarte, Seffer und

Im zweiten Theil des Büchleins führt der Verfasser nach

einigen Arten betrügerischen Erwerbs dieser Landfahrer an, daß sie ihre

eigenen Kinder zu Krüppeln machen oder fremde Kinder zum Betteln ent­

lehnen, in den Wirthshäusern zechen und

sich hierauf heimlich davon

machen, wo dann gewöhnlich etwas mit ihnen laufe,

und warnt vor­

nehmlich vor den Schatzgräbern (Sefelgräbern), die, wenn sie Jemand finden, der sich von ihnen überreden läßt, sprechen, sie müssen Gold und Silber haben, viel Messen lesen lassen u. s. w., womit sie Weltliche und Geistliche betrügen, aber noch nie einen Schatz fanden, vor den umher­

ziehenden Spenglern, vor den Krämern, welche in die Häuser laufen, weil sie immer unnütze Waaren hätten, vor den Afterärzten, welche

Theriak und Wurzeln feilbieten und sich großer Kunst rühmen, und vor

den Jonern oder falschen Spielern. Die rücksichtslose Strenge, mit welcher nach dem Bauernkrieg na­ mentlich der schwäbische Bund gegen das Landvolk verfuhr, vermehrte die

Zahl dieser Leute bedeutend.

Am 22. Dezember 1528 theilte die öfter-

Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.

380

relchische Regierung in Württemberg dem Rath der Reichsstadt Eßlingen mit, eS zögen viele Landröcke und Bettler umher, die sich zum Theil für Landsknechte, Krämer und Handwerker auSgeben, Feuer einlegen, rauben und morden, daher hätten sie ihren Amtleuten befohlen, daß sie künftig

nirgend- solche „Landstreicher, Schmuttirer, Scheiden- und Löffelmacher, Zahnbrecher, Wurzelgräber, Röthelsteinträger und andere Krämer, welche

ihren Kram auf dem Rücken tragen", ohne schriftliche Urkunden von ihrer

Obrigkeit, die aber nur auf ein Jahr gültig wären, aufnehmen sollten.

Auch an andere schwäbische Reichsstädte ergingen Mittheilungen ähnlicher Art und die Regierungen ergriffen verschiedene Maßregeln, dennoch nahm die Mordbrenneret immer mehr zu.

Im Jahre 1540 hielt eine solche

Bande ihre Versammlungen in dem Hause eines Eisenkrämers zu Eß­

lingen.

Man entdeckte sie und bekam mehrere von ihnen gefangen, welche

merkwürdige Geständniffe ablegten.

Die Räuber und Mordbrenner seien

vornehmlich daran zu erkennen, daß sie meist grüne oder blaue Hüte trügen; zu ihnen gehörten viele Bettler, Keffelflicker und andere Land­

streicher, die bald mit dem Aussatz, bald mit der fallenden Sucht behaftet zu sein vorgäben, und die meisten deutschen und wälschen Krämer, welche mit ihren „kleinen Krämlein" allenthalben die Jahrmärkte besuchten, ge­

wöhnlich grüne Mäntel und Hüte, auch große Paternoster oder Kreuze am Halse trügen; sie hätten besondere Zeichen, wodurch sie die Häuser,

in welche Feuer eingelegt werden sollte oder schon eingelegt sei, ihren

Genossen bemerkbar machten; zum Anzünden bedienten sie sich der Brieflein mit Pulver und Schwefel, der Häfelein mit Pulver und der soge­ nannten Holländerröhrchen.

Einer sagte sogar, er sei einmal zum Brennen

gekommen, und da seien blaue Vögelein zu ihnen und von ihnen geflogen,

diese hätten sich auf die Häuser gesetzt, welche dann sogleich in Brand gerathen wären; ein anderer bekannte geradezu, der Teufel sei ihr Haupt­ mann, während ein dritter erzählte, wie er und seine Genossen einen

reichen Müller durch Gespenstererschetnungen so sehr und so lange

er­

schreckt hätten, bis er seine Mühle verlassen habe, welche dann von ihnen auSgeplündert worden sei.

Einen bedeutenden Prozentsatz dieser vagirenden Bettler bildeten die entlassenen Landsknechte, die zuerst unter Maximilian I. auftauchen und

von da ab das ganze 16. Jahrhundert hindurch eine wahre Landplage namentlich für die ländliche Bevölkerung geworden sind.

Namentlich nach

dem Schluß des fchmalkaldifchen Krieges nahm die Zahl dieser herren­

losen, gürtenden Knechte dermaßen zu, daß bereits auf dem Augsburger Reichstag von 1548 strenge Maßregeln gegen dieselben ergriffen werden

mußten.

In ähnlicher Weise suchten die einzelnen Landes-Regierungen

und Kreisstände dem Unwesen zu steuern.

Jeder Ort sollte seine eigenen

Armen selbst unterhalten, Preßhafte, Krüppel und Lahme aber, welche

keine beständige Heimath hätten, sollten von einem zum andern Ort ge­ führt werden.

„Landröcken", jungen und starken umherstreifenden Bettlern,

gürtenden Knechten und anderem dergleichen leichtfertigen Gesind, welche

„die armen Unterthanen mit großen Beschwerden belästigen und denselben

ob dem Hals liegen", wurde das Umherschweifen und Betteln ganz unter­ sagt.

Niemand sollte solche Leute beherbergen, sondern sie stets abweisen.

Den Landleuten wurde befohlen, ihnen alles „Zusammenrottiren" zu ver­ bieten, und wenn sie die Unterthanen beschädigt und ihnen daS Ihrige mit Gewalt abgenommen hätten, oder wenn sie, wie bisher oft geschehen

sei, dieselben bedrohten oder gar ihre Drohungen verwirklichten, sie so­ gleich gefangen zu nehmen, damit man sie an Leib und Leben strafen oder

auf die Galeeren schicken könne."

Ein württembergischeS Rescripl vom

20. Juni 1604 befahl, Landstreicher und Bettler, welche gesunden, starken LeibeS seien, zu den

öffentlichen Bauarbeiten zu verwenden, die „Preß­

haften" aber fortzuschaffen.

Und

1608 wurden die früher befohlenen

Maßregeln aufS neue eingeschärft, weil bet der Regierung Beschwerde an­

gebracht worden sei, „waS massen sich jetzt eine gute Zeit her unerschwing­

licher Zulauf von einheimischen und fremden Gartknechlen, Landröcken und

allerlei Vaganten, angeblichen Studenten, Musikanten, Schreibern, Schul­ meistern, Lakaien und andere dergleichen zeige", welche den Unterthanen ganz beschwerlich und überlästig seien, sich an geringen Gaben nicht be­

gnügen ließen, sondern böse Reden darüber auSstießen und weil zudem auch „mit schriftlichen Patenten, so von Wälschen und Ausländern vorge­

legt werden", nicht geringer Betrug vorgehe.

Zu einer wahrhaft furchtbaren Höhe wuchs aber die Zahl dieses Ge­

sindels während und nach dem Ende des dreißigjährigen Krieges.

Auch

die Raubkriege Ludwigs XIV. und der spanische Erbfolgekrieg brachten

immer neue Schaaren solcher Landstreicher hervor.

Ja, die allgemeine

Gefährlichkeit derselben stieg jetzt dadurch höher, daß sich häufig solche ein­

zelnen Vaganten zu ganzen großen, oft mehrere hundert Köpfe starken Banden zusammenthaten, die sich in den Wäldern verschanzten und von

hier nicht nur die Landstraßen unsicher machten, sondern häufig ganze Ortschaften überfielen und ausplünderten. daher die schwäbische Kreiöversammlung,

Im December 1705 befahl solche Banden überall

aufzu­

greifen und, wenn sie sich widersetzten, niederzuschießen, die Gefangenen

in die härtesten Kerker zu werfen,

aufs schärfste zu

examiniren,

in

Festungen und auf die Galeeren nach Venedig und Genua zu schicken,

oder

„mit härtiglicher Schaffung in opere publico,

pro qualitate

Studien zur allen GesellsihaflSgeschichte.

382

delictorum auch mit Galgen und Rad zu bestrafen" und hiemit fortzu­ fahren,

„bis die ganze Race von diesem Gesind in allen Theilen des Mit den benachbarten Kreisen

Kreises auf den Grund ausgerottet fei".

trat man zu gemeinsamen Maßregeln zusammen.

beschlossen,

„daß

alle ergriffenen Zigeuner

einige Gnade und Nachsicht,

Unter anderm wurde

und famosen Jauner

sine strepitu judicii

ohne

und ohne weiteren

Prozeß, bloß und allein um ihres verbotenen Lebenswandels und bezeugten Ungehorsames halber mit dem Schwert und nach Befinden mit höheren Leibes- und Lebensstrafe hingerichtet, deren Weiber und erwachsene Kinder

aber, wenn sie auch gleich einigen Diebstahls nicht überwiesen seien, mit Ruthen ausgehauen, gebrandmarkt und deS Landes auf ewig verwiesen

oder in Zucht und Arbeitshäuser gesteckt werden sollten".

Solche und

ähnliche Beschlüsse verfehlten jedoch fast regelmäßig ihre Wirkung, weil

es — wie zeitgenössische Berichte klagen — „an rechtschaffener Execution und Vollziehung der so Heilsamlich gefaßten Dispositionen mangelte und

daher der vorgesetzte Zweck nicht erreicht werden konnte, da ein und an­ dere Kreisstände dergleichem diebischem

und ruchlosem Gesinde

wissent­

licher Dinge entweder auS Furcht oder anderen Prätexten einen Aufenthalt gestatteten, die vorgeschriebenen Strafen nicht anwandten, sogar mit ge­

bührender Handhabung nicht an die Hand gingen".

Bei einer Versamm­

lung der „verbündeten fünf vordern Kreise" im Jahre 1714 wurde ver­ ordnet:

„weil dieses leichtsinnige, böse und anderes Herrnlose Gesindel

hie und da an solche Orte zu ziehen beginne, wo eS der Waldungen halber mehrere Bedeckung und Sicherheit zu finden vermeine, auch defien Anzahl sich merklich und zwar dergestalt vergrößere, daß ungeachtet der

da und dort sogar in Dörfern angeordneten Wachen man täglich von Ein-

brcchen und Rauben, auch wohl von Plünderung der Reisenden hören

müsse, dessen Impertinenz auch dahin zu wachsen anfange, daß es dem Landmann, der ihm die Nachtherberge abschlSgt, mit Mord und Brand

zu drohen sich nicht entblöde und dadurch daS Landvolk von Vollziehung der Verordnungen abhalte, so sollten alle nicht in den fünf Kreisen ge-

bornen und

eingebürgerten Landstreicher,

Bettler,

blessirte Soldaten,

fremde Juden, Zigeuner und anderes Gesindel, sie möchten mit Pässen

und Abschieden versehen sein oder nicht, auS den sämmtlichen KreiSlanden verwiesen werden."

1712 wurde auch die Errichtung zweier KreiSzucht-

Häuser beschlossen, aber nur eines tarn 1722 zur Ausführung.

Zwei Momente waren es namentlich, welche der Ausbreitung des Gaunerthums in Schwaben förderlich waren: die vielen Territorien und

der Reichthum derselben an Wäldern und Schluchten.

Der erste Um­

stand war natürlich einer energischen, gemeinsamen Verfolgung der Land-

streicher äußerst hinderlich, wie er andererseits eS denselben ermöglichte,

sich immer wieder neue Legitimationspapiere zu verschaffen.

Der letzte

Umstand dagegen gewährte ihnen Schlupfwinkel in reicher Zahl.

Besonders

der Schwarzwald und die engen Thäler der rauhen Alb waren ein be­ liebter Sammelplatz der Gauner.

Die Bauern sowie die Beamten waren

meist zu feig, bei der Verfolgung der Banden ihrer Pflicht nachzukommen,

ja manche hielten es aus Gewinnsucht heimlich mit ihnen. Ausgang

des

18. Jahrhunderts zeigt

sich

Noch am

keine wesentliche Besserung

der öffentlichen Sicherheit, ja eS fallen sogar gerade in diese Zeit jene noch heute im Munde deS Landvolks fortlebenden Räuberbanden des

SonnenwirtheS — bekanntlich von Schiller in so ergreifender Weise in seiner Erzählung „der Verbrecher auS verlorner Ehre" verwerthet —,

des Constanzer Hans, des großen Baier Sepps, des baierischen Hiesels,

der Gasners Liesel und der Schleiferbärbel.

Erst daS 19. Jahrhundert

mit seiner Umgestaltung der territorialen Verhältnisse deS deutschen Reichs,

der Schaffung großer einheitlich regierter Staatskörper, namentlich einer starken Militär- und Polizeigewalt hat jener Landesplage die Existenzbe­

dingungen unterbunden.

Doch zogen noch in den zwanziger Jahren auf

dem Schwarzwald und der Alb die letzten Ueberbleibsel jener verrufenen

Menschenklasse herum, die sogenannten Freimenscher oder Freilente, Landstreicher, die sich mit dem Korb- und Zaunenmachen abgaben und zu zehn bis zwölf, große und oft schöne Leute, die Weiber in besonders auf­

fallender Tracht, von Hof zu Hof wanderten.

sie durch die Drohung,

Den Einödbauern preßten

ihnen daS HauS über dem Kopfe anzuzünden,

Mehl, Milch, Schmalz und andere Lebensmittel ab, die

selbst verzehrten oder sich aufS freie Feld bringen ließen.

sie bei

ihnen

Hier wurden

dann Hunde und Dachse gebraten, es wurde geschmaust, gezecht und an­

deren sinnlichen Lüsten gefröhnt.

Die Bewohner jener Gegenden aber

hatten eine solche Furcht vor diesen Leuten, daß sie nicht so keck waren,

ihre Besuche der Obrigkeit zu melden oder auch nur zu gestehen. Um hier noch einiges über die Lebensart und die sonstigen Verhält­ nisse dieser aus der Gesellschaft ausgestoßenen Menschenklasse beizufügen, so sei vorerst bemerkt, daß sie sich auS Angehörigen fast aller Länder

Europas zusammensetzte.

Neben den Eingebornen deS Landes waren die

Franken, Baiern, Elsässer und Schweizer die zahlreichsten, aber auch die Pfalz,

Throl,

Oesterreich, Böhmen und Sachsen, selbst Frankreich und

Italien stellten ihr Contingertt.

Meist waren es die Abkömmlinge von

Bettlern und Landstreichern, die in die Fußstapfen ihrer Erzeuger traten, doch treffen wir unter ihnen auch Söhne deS Bürger- und Bauernstands,

die dem väterlichen Hause entlaufen waren; auch

abgedankte Soldaten

Studien zur alten Gesellschaflsgeschichte.

384

lieferten manchmal einen starken Prozentsatz.

Ihren Namen Gauner oder

Jauner leitet man gewöhnlich vom Worte Gau ab. sich Tschor, Krochumer und Cannoger. neben

Sie selbst nannten

Die einzelnen Jauner führten

ihrem Geschlechtsnamen gewöhnlich noch einen Gesellschafts- oder

sogenannten Spitznamen, welche ihre Kameraden ihnen beilegten.

Der­

selbe bestand aus ihrem Vornamen mit irgend einem Beisatz, welcher sich

bezog

auf ihre Abstammung (GasnerS Liesel),

ihren Geburtsort (der

Sulzer Jörgle, der Dillinger Kaspar), ihren Volksstamm (der Baier Sepp,

der Throler Hans), das Gewerbe ihres Vaters (der Schultoni, des krummen

Spielmanns Claus) oder ihrer selbst (der Schleifer Toni, der Hafen Caspar), auf ihre körperlichen Eigenschaften (der schöne Franz, der ein­

äugige Joseph, der kropfige Sigmund, der schwarze Toni, der geräucherte Simon svon seiner Magerkeils) u. s. w.

sie ihr Räuberhandwerk trieben,

dkach der Art und Weise, wie

wurden sie in verschiedene Klassen ge­

theilt: in Schrendefeger (StubenauSräumer), welche Nachts die Häuser plünderten, Scheinsprenger und Schranzirer, welche ihre Plünde­ rungen bei hellem Tage verübten, Gschockgänger, welche auf den Jahr­

märkten stahlen, Bimuffer und Kißler (Taschendiebe), betuchte (stille) Kochemer und Kochmooren, welche nächtliche Einbrüche verübten, ge­

meine und StaatSfelinger

(Quacksalber und Medikaster),

Frei­

schupper (falsche Spieler), Markkißler und Markediser (falsche Geld­ wechsler) und Reisser (Falschmünzer).

zelne auf eine GewerbSart, legenheit sich gerade gab.

Selten beschränkte sich der Ein­

meist trieb er deren mehrere, tote die Ge­

Um die Polizeibehörden über ihre eigentlichen

Zwecke zu täuschen, betrieben sie nebenbei ein erlaubtes Gewerbe, das ihnen jedoch das freie Umherztehen gestatten mußte, z. B. Kesselflicker,

Korbmacher, Hausirer u. a.

Auch zogen sie, um Aufsehen zu vermeiden,

nur einzeln oder mit wenigen Genossen umher, standen aber miteinander

immer in solcher Verbindung, daß, wenn sie eine größere Unternehmung ausführen wollten, stets schnell eine größere Anzahl beisammen war.

Ihre

Hauptthätigkeit fiel in daS Frühjahr, den Sommer und den Herbst; im Winter, wo die Wege meist unzugänglich waren, zogen sie sich in ihre

Schlupfwinkel Im Schwarzwald und auf der Alb zurück, die sie stets so wählten, daß sie im Fall einer Verfolgung rasch aus einem Territorium in daS andere gelangen konnten.

Nach diesen Winterashlen theilte man

sie auch in Wäl dler und Aelbler ein: die ersteren lebten ausschließlich

von Raub und Diebstahl, während die letzteren sich daneben auch auf den Bettel legten.

Der erstere Bezirk umfaßte daS südwestliche Schwaben

bis tief in die Schweiz hinein

und das Land auf beiden Seiten des

Oberrheins, der letztere das übrige Schwaben bis nach Franken und dem

Odenwald zu.

Ein gemeinsames,

wenn auch noch so loseS Band um­

schlang alle diese einzelnen Gruppen, und wo einmal rasches Zusammen­

handeln sich nothwendig erwies, da waren sie auch Alle stets zur Stelle und ordneten sich willig den Befehlen ihres freigewählten Oberhauptes

unter.

Im übrigen zogen sie Freiheit und Ungebundenheit manchen äußeren

Vortheilen, die sich ihnen bei einer strammen Disciplin geboten haben würden, vor.

rufs.

Ihr Privatleben war das treue Abbild ihres unftäten Be­

Schon frühzeitig schloß der jilnge Gauner eine Ehe, da er zu

kleinen ökonomischen Bedürfnissen einer weiblichen Hand bedurfte.

Den

Ausschlag bei der Wahl gab dann meist nicht etwa körperliche Schönheit,

sondern angeborne List und Behendigkeit — Eigenschaften, die das Weib

zur treuen Gefährtin des Mannes wenigstens beim Rauben und Stehlen machten.

Eine gesetzliche Form bei der Eingehung solcher ehelicher Ver­

bindungen verschmähten sie meisten-, daher auch diese sich, rasch wie sie geschlossen wurden, auch wieder lösten.

Die Kinder wurden von frühester

Jugend an zur Jaunerei herangebildet und entzogen sich dem Einfluß der

Eltern, sobald sie Kraft genug in sich fühlten, um sich selbst fortzubringen. Die meisten wuchsen ganz ohne Unterricht auf und blieben daher auch

des Lesens und Schreibens unkundig; dagegen wurde auf die Ausbildung

körperlicher Fähigkeiten starkes Gewicht gelegt.

Zum Verkehr unter sich

bedienten sie sich einer eigenen Sprache, die sie die jenifche nannten und die ein sonderbares Gemisch verschiedener Idiome und von den Jaunern

selbst erfundener Worte war.

welcher sie auch Declination,

Vorherrschend war die deutsche Sprache,

Conjugation und Construction nachbildeten

und aus der sie manche Wörter unverändert, nur mit anderer Bedeutung,

aufnahmen.

Außer der deutschen steuerten die hebräische, französische, ita­

lienische, lateinische Sprache und die der Zigeuner aus ihrem Wortschätze

bei.

Daneben war noch eine Zeichensprache in Gebrauch.

Diese bestand,

wenn der, dem sie etwas mittheilen wollten, gegenwärtig war, aus Blicken, Geberden und Bewegungen deS Körpers und aus besonderen Charakteren,

wenn sie Abwesenden

eine Nachricht geben wollten.

Zu diesem Zwecke

führte jeder ein willkührlich gewähltes Wappen, einen sogenannten Zinken:

wenn er nun einem Abwesenden seinen jeweiligen Aufenthaltsort anzeigen

wollte, so zeichnete er mit Bleistift, Kreide oder Kohle seinen Zinken an

die Wand oder Thüre deS HauseS oder desselben oder in einen nahestehenden Baum.

schnitt

ihn in einen Balken

Wenn er fortzog, bezeichneie

er durch einen vom Zinken rechts oder links ausgehenden Strich die Rich­ tung seines Weges und, wenn er Gesellschaft bei sich hatte, durch Ringe

und Zacken seine Genossen. Preußische Jahrbücher. iBo. XLVIIL Heft 4.

Christian Meyer.

28

Die Kritik der reinen Vernunft. Bor hundert Jahren.

Bet der Jubelfeier eines hervorragenden geistigen Werks

liegt cs

wohl am nächsten, zu untersuchen, waS es uns Nachgeborncn ist? wir noch an ihm haben?

Das macht sich bei einer Dichtung leichter als

bei einem philosophischen Buch. auf festem

sinnlichen Boden

wir gewinnen

bald

was

Die Dichtung, wenn sie echt ist,

und zeigt

steht

sich unS in greifbarer Gestalt,

ein bestimmtes, unmittelbares Verhältniß zu ihr.

Die philosophische Bewegung dagegen bleibt in beständigem Fluß; nicht

blos die Ideen wandeln sich um, sondern auch ihre Ausdrücke, und wir müssen bei einem philosophischen Schriftsteller,

der vor hundert Jahren

lebte, sehr genau zuschn, ob er mit den Worten auch denselben Sinn ver­

bindet, wie wir?

In dieser Beziehung ist seit etwa dreißig Jahren für Kant sehr viel geschehn;

früher betrachtete man ihn hin und wieder gar als abgethan,

seitdem studiert

Correctiv

man ihn wieder gründlich und findet in ihm wohl ein

für die maßlosen Ueberschreitungen seiner Nachfolger.

geschieht nicht blos in Deutschland;

Das

noch vor drei Jahren erschien ein

sehr gelehrtes und geistvolles Werk deö schottischen Professor Caird,

das

sich in vierzig bis fünfzig Bogen ausschließlich mit der „Kritik der reinen Vernunft" beschäftigt. Ich

habe mir eine bescheidnere Aufgabe gestellt: ich will nicht den

bleibenden Werth der Kritik untersuchen, soitdern vom Standpunkt der Literaturgeschichte andeuten, was sie ihrer Zeit war.

Wie wirkte sie vor

hundert Jahren? Gewaltiger vielleicht,

als irgend ein Buch aus unserer klassischen

Periode. Was sie als FacultätSwissenschaft geleistet, ist noch daS wenigste.

Die Professoren auS Kant's Schule mußten sich freilich eine andere Ter­

minologie aneignen als ihre Vorgänger die Wolfianer, aber der Durch­ schnitt der Menschen ändert sich nicht so leicht in dem innersten Kern der Gesinnung; die Ausdrücke wurden neu, aber eigentlich sah man daS Leben

in den jungen Facultäten nicht viel anders an als in den alten.

Frei­

lich gilt das nicht von Kant selbst, oder von Schülern wie Fichte, Schelling

und Reinhold: ihre feurige Beredsamkeit faßte das Gemüth der Jugend und prägte ihm einen Stempel auf, der sich auch im Lauf deS Alltags­ lebens nicht wieder verwischte. Die großartigste Wirkung übte die „Kritik" auf die Männer aus,

die zum Theil schon fertig,

angesehen und berühmt in ihrem Fach, sich

dem Zauber der neuen Lehre nicht entziehen konnten und mit gläubigem

und

unverdrossenem Eifer an der völligen Wiedergeburt ihres Denkens

und Empfindens arbeiteten.

Hier steht in erster Reihe Schiller, über dessen Bildungsgang wir

glücklicherweise sehr vollständige und höchst unterrichtende Urkunden haben.

Der Dichter der Räuber, des Don Carlos, des Liedes an die Freude ii. s. w. als Anhänger einer Philosophie, die daS starrste, unerbittlichste Moralgesetz verkündigt, ist eine höchst auffallende Erscheinung!

steht keineswegs allein.

des „Ugolino"

aber er

Auch der Dichter der „Lenore" und der Dichter

suchten sich

in die Kantischen Kategorien einzuarbciten.

Huber und Heinrich v. Kleist hatten vor, für die neue Philosophie in

Frankreich Propaganda zu machen. unzählige anführcn.

Die

Dergleichen Beispiele ließen sich noch

„Kritik der reinen Vernunft"

war für diese

Männer wie ein plötzlicher Blitzstrahl in der Dämmerung, der ihnen die

Welt anders zeigte, als sie sie bisher gesehen,

sie freilich auch zuweilen

blendete und irrte wie Kleist und Jean Paul.

Für sie alle aber war die

neue Lehre nicht eine bloße Beschäftigung deS Verstandes, sie wurde ihnen Herzenssache. Schiller trieb die Arbeit am gründlichsten, vollständig methodisch und

schulgerecht. auch geltend. gehabt.

Er durfte sich zu den Eingeweihten zählen und machte daö

Auf seine Dichtung

hat daS den ungeheuersten Einfluß

AuS der wilden Sturm- und Drangpcriode ging er zu einer

idealen klassischen Richtung über, die für die

ganze Geschichte unserer

Literatur bestimmend war.

Nicht bloß

für Männer wie Fichte, Schelling, Herbart, Berger,

Hegel, Hülsen u. a., die sich mit vollem Bewußtsein auf den Boden der

Kantischen Philosophie stellten, machte die Kritik Epoche, sondern ebmso wirkte sie auf die Gegner.

Herder,

Jacobi und Schleiermacher haben

freilich von sehr verschiedenen Standpunkte» aus die Kantische Philosophie

auf daS leidenschaftlichste bekämpft, aber sie bekämpften sie in den Denk­

formen, die Kant ihnen angab, und gewannen dadurch für ihre eigene Anschauung

eine neue Farbe.

Ebenso war eö

mit den Physikern wie

Lichtenberg und Forster, mit den Philologen wie Hermann, mit den 3u28*

Die Kritik der reine» Vernunft.

388 und

risten

Geschichtschreibern.

Die ganze deutsche Literatur, Dichtung

und Prosa, steht von 1781 bis etwa zu Hegels Tod unter dem Bann

der kritischen Philosophie. Freilich gereichte ihr baS nicht durchweg zum Segen.

Während der

Herrschaft der Wölfischen Philosophie setzte man die letzte metaphysische Begründung der Dcnkformen als bekannt voraus; daS ging nicht mehr,

seitdem Kant die Gebildeten nöthigte sich umzudenken, gerade die Grund­ lagen der bisher

tisch zu prüfen.

auf Treu und Glauben angenommenen Wahrheit kri­ Wer nun noch gelten wollte, mußte sich der neuen KunstDie deutsche Prosa seit 1781 sieht schwerfälliger und

auSdrücke bedienen.

anspruchsvoller auS als die nächstvorhergehende. Es ist von dem leitenden Mann der Literatur noch nicht die Rede

gewesen, von Goethe, der ja in der berühmten ersten Unterredung mit Schiller sich als Spinozist gegen den Kantianer aufspielte.

KantS Schriften nie ein eigentliches Studium gemacht. ihn die Kritik sehr stark berührt,

Er hat aus

Gleichwohl hat

und er hat mit seinem genialen Blick

für das Wesentliche auch hier häufig das worauf es ankam, richtiger ge­

troffen als die Philosophen von Profession. — „Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik,

dem

sich alles unter­

werfen muß." — Dieser Ausspruch Kant'S, an dem bedeutenden Wende­ punkt des Jahrhunderts, bezieht sich sowohl auf die nächste Vergangenheit

als auf die

nächste Zukunft der deutschen Literatur.

In dem geistigen

Aufblühen keines andern Volks hat die Kritik eine so hervorragende Rolle gespielt als bet uns.

Die Kritik hat einen dienenden und subalternen Charakter, so lange sie sich darauf beschränkt, nach

überlieferten Grundsätzen das Publikum

über den Werth einzelner Leistungen aufzuklären.

Sie wird aber herr­

schend und schöpferisch, sobald sie die echten Grundsätze findet und fest­ In diesem Sinn waren für die Periode von 1750 bis 1781 Lessing,

stellt.

Winckelmann, Hamann, Möser, Herder weitaus die productivsten Schrift­

steller;

gegen das,

was durch sie der deutsche Geist gewann, kamen die

Dichtungen selbst Klopstocks und Wielands lange nicht auf.

Kunst, Ge­

schichte, Rechtswissenschaft, Alterthum und Mittelalter, Christenthum und

Heidenthum, Sprache,

gewann durch sie neues Leben und neue

alles

Gestalt.

Erst seit „Emilia Galotti" und „Götz von Berltchingen" gewann die Dichtung die Oberhand;

die deutsche Literatur,

seitdem fuhr ein gewisser jugendlicher Ton in

die sich

in Sturm und Drang austobte.

Aber

und

rief das dringende Bedürfniß hervor,

sich in dem Chaos der von den

entgegengesetzten Seiten eindringenden

gerade da« ermüdete zuletzt,

Eindrücke durch Kritik zu oricntiren.

alter.

Diesmal

ging

die

Die Literatur trat in ihr Mannes­

Kritik inS

Große,

sie

suchte

die

letzten

Gründe auf.

Bisher lagerten im geistigen Leben Deutschlands zwei Hauptgruppen

gegen einander: die Dogmatiker und die Empiriker. Jene — eS waren die Anhänger der Wolfischen Schule — suchten

aus dem reinen Begriff heraus, nach dem Satz des Widerspruchs, alles Wissenöwcrthe in der sinnlichen und übersinnlichen Welt zu construiren: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, daS höchste Gut, die beste Welt und wo­ nach sonst der Geist streben mochte: nach der „Prästabilirten Harmonie"

müssen die Folgerungen deS Denkgesetzes auf alles Wirkliche anwendbar sein.

Die Schule traute den Schlüssen deS Verstandes mehr als den

Sinnen und der Erfahrung.

Die Empiriker dagegen wollten nichts von Verstandesschlüssen hören, sondern

nur von den Sinnen und der Erfahrung.

Die Pietisten, nach

ihnen die Wunderthäter und Glaubenöphilosophen beriefen sich mit ihren Behauptungen ebenso auf das, was sie erfahren haben wollten, wie die

Leugner einer göttlichen Weltregierung.

Kant hatte seit einem Menschenalter gegen beide scharmuzirt, gegen Svedenborg nicht weniger alö gegen die Wolfianer;

er hatte schon in

seinem 24. Jahre die Absicht ausgesprochen, eine wissenschaftliche Grund­ lage zu suchen, die der Unsicherheit ein Ende machen sollte.

Er hatte

diese Versicherung mehrfach wiederholt, und das war nicht unnöthig: das

Volk folgt nur demjenigen Seher, der an sich selbst glaubt.

Die Kritik kam in einem günstigen Moment; es war eine allgemeine

Gährung im Denken,

das

Hergebrachte

hatte

seine Macht

verloren.

„Unsre deutsche Wissenschaft", sagt einmal Lichtenberg, „besteht mehr

darin, inne zu haben, waS zu einer Wissenschaft gehört, und angeben zu

können, waS dieser oder jener darin gethan hat, als selbst auf Erweiterung zu denken.

Bei unserm gar zu häufigen Lesen, wodurch daS Gedächtniß

gewöhnt wird, die Haushaltung für Empfindung und Geschmack zu führen:

da bedarf es einer tiefen Philosophie, unserm Gefühl den ersten Stand der Unschuld wiederzugeben, sich auö dem Schutt fremder Dinge heraus­

zufinden, selbst anzufangen zu fühlen und selbst zu sprechen, und ich möchte fast sagen, auch einmal selbst zu existiren." Wenn Kant seinem Volk die Zumuthung stellte, sich

umzudenken,

so entsprach daS dem Verlangen der Pädagogen, dem Unterricht eine neue

Basis zu geben.

Diese Richtung, durch den „Emile" hervorgerufett, war

In vollster Kraft: Pestalozzi'S „Lienhard und Gertrud" zeitig mit der „Kritik der reinen Vernunft."

erschien gleich­

Alle Eiferer für die neue

Methode des Unterrichts suchten Fühlung mit Kant,

in dessen System

die Pädagogik eine hervorragende Rolle spielte, und der den Vorzug lang­

jähriger Erfahrung hatte.

Als er an die „Kritik" ging, war er 57 Jahr

alt, grade so alt wie Locke, da dieser sein Epoche machendes Werk ver­ Es war für Deutschland die Zeit gekommen, wo die Jugend,

öffentlichte.

die bisher mit ihren Jnstincten das große Wort geführt, das Bedürfniß fühlte, in die Schule zu gehn.

Erst im 46. Jahre erhielt Kant eine Professur; Vorlesungen 20. August 1770 mit der Dissertation

bilis atque intelligibilis forma et principiis“,

er eröffnete seine

„de mundi sensi-

die bereits

den Keim

seiner neuen Ueberzeugungen enthält.

Ein Jahr darauf entwickelte er seinem Schüler, dem jungen Berliner

Arzt Dr. Marcus Herz,

Mendelsohn'-

Hausfreund — er hatte Kant

bei seiner Disputation respondirt — den Plan

zu

„die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft".

einem neuen Werk:

DaS Thema soll fein:

„woher stimmen die Axiome der reinen Vernunft mit den Gegenständen überein, ohne daß diese Uebereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hülfe entlehnen?"

Binnen etwa drei Monaten hofft er den ersten Band

einer „Kritik der reinen Vernunft" herauszugeben.

Fünf Jahre später schreibt er an Herz:

„Ich empfange von allen

Seiten Borwürfe wegen meiner Unthätigkeit,

und bin doch niemals an­

haltender

beschäftigt gewesen.

Die Materien häufen sich unter meinen

Händen, wie es zu geschehen pflegt, wenn man einiger fruchtbaren Prin­ zipien habhaft geworden; aber sie werden insgesammt durch den Haupt­

gegenstand zurückgehalten.

Um den ganzen Umfang des Feldes der reinen

Vernunft nach sichern Principien zu verzeichnen, dazu gehört eine förm­ liche neue Wissenschaft, zu der man von denjenigen, die schon vorhanden

sind,

nichts

brauchen kann. — In einer Gemüthsbeschaffenheit so zärt­

licher Art ist nichts hinderlicher, als sich mit Nachdenken, das außer diesem Feld liegt, stark zu beschäftigen.

DaS Gemüth muß in den ruhigen oder

auch glücklichen Augenblicken jederzeit zu irgend einer zufällige» Bemer­

kung, die sich darbieten möchte, offen sein, und in der Beweglichkeit, den

Gegenstand immer von andern Seiten zu erblicken." Eben damals schickte Herz, der in Berlin jährlich Vorlesungen über die Kantische Philosophie hielt — der Unterrichtsminister v. Zedlitz be­

suchte sie regelmäßig — „Briefe über die Subjektivität der Empfindungen" an Lessing.

Als er darin Kant mit Lessing verglich, schrieb Jener: „ich

besitze hoch kein Verdienst, das einen solchen Vergleich rechtfertigen könnte, und eS ist als ob ich den Spötter zur Seite sähe, mir solche Aussprüche beizumessen."

Wenn Kant als Schriftsteller zu feiern schien, so setzte er seine Lehr,

thätigkeit ununterbrochen fort;

seine Schule durchgemacht.

zuletzt hatten alle Gebildeten der Provinz

Darum lehnte er ab, als ihm Zedlitz Mai

1778 in den schmeichelhaftesten Ausdrücken eine Professur in Halle anbot. „Eine meinem Bedürfniß angemessene Situation", schreibt er an Herz, „wo mein sehr leicht afficirteS aber sonst sorgenfreies Gemüth, und mein

noch mehr launischer doch niemals kranker Körper ohne Anstrengung in

Beschäftigung erhalten werden, ist alles was ich gewünscht und erhalten habe.

Alle Veränderung macht mich bange, und ich glaube, auf diesen

Jnstinct meiner Natur Acht haben zu müssen, wenn ich den Faden, den

mir die Parcen sehr dünn und zart spinnen,

noch

etwas

in die Länge

ziehn will." Nach langem Zögern entschloß er sich endlich; nach zehnjähriger Vor­

bereitung wurde 1781 die „Kritik der reinen Vernunft" naten fertig geschrieben.

in wenig Mo­

Man merkt beides: die Ausführung ist sehr un­

gleich; Vorarbeiten sind mehr als billig mit ausgenommen.

Die Wid­

mung an Zedlitz datirt 29. Mai, ein Vierteljahr nach Lessings Tod. Kant hatte, wie Wolf, sein System auf dem Katheder ausgearbeitet;

er hatte seit 33 Jahren Collegien

gelesen

und sich ein großes Register

von Kunstausdrücken angeeignet, die für den nachschreibenden Schüler sehr bequem und lehrreich, den gebildeten und denkenden Leser nicht selten

stören mochten.

Bisher hatte Lessing den deutschen Stil beherrscht; eS

kam jedem Schriftsteller bet der Arbeit so vor, als ob Lessing ihm über die Schulter sähe; nun, da er todt war, mußte jeder auf eigene Hand im Nebel seinen Weg suchen.

Die Führung einer starken Hand war will­

kommen. Es handelt sich in der „Kritik der reinen Vernunft" um den alten Gegensatz der Platonischen und Aristotelischen Philosophie: wieweit ge­

hören die Vorstellungen dem Eindruck der Dinge, wieweit den Eigen­ schaften des denkenden Geistes an? Der Gegensatz hatte sich im 17. Jahr­ hundert am schärfsten zugespitzt in den Systemen von Locke und Leibniz.

Ülach Locke ist der denkende Geist eine leere Tafel und wird erst be­

schrieben durch die Eindrücke der Sinne; nach Leibniz bringt dagegen das denkende Wesen die Vorstellung aus sich selbst hervor, eS ist ein Spiegel des Universums, hat aber keine Fenster, durch welche die Dinge auf eS

eirwringen können.

Daß trotzdem die Dinge den Vorstellungen entsprechen,

ist eben das Geheimniß der Weltordnung (Prästabilirte Harmonie). Locke'S Philosophie war dem großen Publicum bequem und geläufig gewesen.

Die jüngern englischen Philosophen stießen eö vor den Kopf..

Der Idealist Berkeley betrachtete die Außenwelt oder die Dinge als einen

Schein, der

Skeptiker Hume

stellte

die Gültigkeit deS VerstandeSge-

setzeS und seiner Anwendung auf die Welt in Frage.

Der letztere übte

auf Kant einen ganz ungemeinen Einfluß auS.

So wett die Geschichte der Metaphysik reicht, berichtet Kant, hat sich keine entscheidendere Begebenheit zugetragen als der Angriff HumeS.

Hume

forderte die Vernunft, die da vorgibt, den Begriff der Caufalität in ihrem Schooß gezeugt zu haben,

auf: ihm Rede und Antwort zu stehn, mit

welchem Recht sie sich das denkt? Wie ist eS möglich, daß, wenn mir ein Begriff gegeben ist, ich über denselben htnauSgehe und einen andern

damit verknüpfen kann, der in jenem garnicht enthalten ist? und zwar

so als wenn dieser nothwendig zu jenem gehörte? Nur Erfahrung kann unS solche Verknüpfungen an die Hand geben, und alle jene vermeintliche Nothwendigkeit ist nichts als eine lange Gewohnheit, etwas wahr

zu finden.

Daraus schloß Hume, die Vernunft habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen auch nur im Allgemeinen zu denken, weil ihre Begriffe

alsdann bloße Erdichtungen sein würden, und alle ihre vorgeblich a priori

bestehenden Erkenntnisse wären nichts als falsch gestempelte gemeine Er­ fahrungen; welches ebensoviel sagt alS: es giebt überall keine Metaphysik. „Ich versuchte zuerst, ob sich Hume'S Einwurf nicht allgemein vor­

stellen ließe, und fand bald, daß der Begriff von Ursache und Wirkung

bei weitem nicht der einzige ist, durch den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, daß die Metaphysik ganz und

gar auS solchen besteht.

Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern, und

da mir daS auS einem einzigen Prinzip gelungen war, so ging ich an

die Deduktion dieser Begriffe,

von denen ich nunmehr versichert war,

daß sie nicht auS der Erfahrung, sondern aus dem reinen Verstand ent­

springen.

So entstand die Tafel der Kategorien, daS Schema der reinen

Derstandesformen.

„Ich erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige

metaphysische Aufgabe sei, zu deren Auflösung hier nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden."

Leibniz hatte ein Alphabet der reinen Verstandesformen gesucht, mit

denselben die Welt zu berechnen; Kant dagegen stellte seine Tafel zu­ sammen, mit dem klaren Bewußtsein, daß diese Formen zur Berechnung der Welt nicht ausreichen, daß sie einen irrationellen Rest geben.

Der

Satz des Widerspruchs reicht nicht aus für daö Verständniß des Wirk­

lichen. Die reine Vernunft behauptet, auch ohne Beihülfe der Erfahrung,

allein durch daö in ihr liegende Gesetz die Dinge, die außer ihr liegen, zu erkennen.

Wo ist der Rechtsanspruch zu dieser Behauptung? — Diese

Frage ist der rothe Faden für die „Kritik der reinen Vernunft". Ferner:

wie kommt die Erfahrung dazu, über irgend etwas ein endgültiges Gesetz

feststellen zu wollen, da sie doch stets durch eine neue Erfahrung tviderlegt werden kann?

Die Aufgabe der Kritik ist also recht eigentlich eine Theorie

deS wissenschaftlichen Erkennens, eine Wissenschaftslehre. Leibniz und viel entschiedener noch seine Schüler, suchten für die

Erkenntniß eine physiologische Basis: ihnen wächst aus der Combination

der fünf Sinne und ihrer Eindrücke auf dem Boden des Selbstbewußt­ seins das auf, was wir Vernunft im Menschen nennen.

Will man den

Vorgang des Empfindens, Vorstellens und Erkennens in seinem Zusam­

menhang untersuchen, so giebt es in der That keinen andern Weg.

Aber

Kant verschmäht ihn: er beobachtet die Vorstellung erst, wenn sie in's Bewußtsein eintritt; was sie vorher war, hat mit den Gesetzen der reinen

Vernunft nichts zu schaffen.

Kant geht der Frage: waö ist das menschliche Erkennen? sorg­ fältig auS dem Wege; er behandelt nur die andre: waS ist das Erkennen

überhaupt?

Es kommt ihm nicht darauf an, daß vom Menschen, einem

mit fünf Sinnen ausgestatteten Naturwesen die Rede ist.

Die Wechsel­

wirkung der Sinne läßt er bei Seite, ihm ist das Medium alles Er­ kennens die Sinnlichkeit, d. h. das Vermögen,

durch die Gegenstände

afficirt zu werden, und dadurch Vorstellungen zu bekommen.

Sinnlichkeit

ist aber ein abstracter Begriff.

Denken heißt, Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigen.

Das

Selbstbewußtsein, d. h. das Bewußtsein, daß daS, was wir denken, dasselbe ist, waS wir einen Augenblick zuvor dachten, ist die Basis aller Erfah­ rung, alles UebergangS von der Vorstellung zum Begriff.

Durch den

innern Sinn — d. h., die Reflexion auf sich selbst — ist das Ich, der Träger alles Denken-, genöthigt, alle seine Vorstellungen als der Zeit

unterworfen zu denken, in der sie insgesammt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden, wie eS durch den äußern Sinn — d. h. die Reflexion auf das waS nicht Ich ist — genöthigt ist, alle Gegenstände als außer sich, d. h. im Raum vorzustellen.

Zeit und Raum sind reine

Anschauungsformen des denkenden Subjects; nur durch eine unvermeid­

liche Selbsttäuschung halten wir sie für Bestimmungen der Gegenstände, der Dinge an sich.

Der Verstand ist jederzeit geschäftig, die Erscheinungen in der Ab­

sicht zu durchspähn, in ihnen ein Gesetz zu finden: dies Gesetz aber ent­ nimmt er aus seinen eigenen Denkbestimmungen.

Erst durch die An­

wendung dieser Gesetze wird Erfahrung möglich, erst aus ihnen entspringt

der Begriff der Natur.

Die Erfahrung beginnt mit der sinnlichen Raum-

394

Die Kritik der reinen Vernunft.

anschauung;

der

Verstand

rubricirt

sie

nach

seinen Kategorien;

die

Einbildungskraft gestaltet sie zu Bildern; der innere Sinn setzt sie in

Rapport zum Selbstbewußtsein und dessen Form, der Zeit: — im Register des Geistes fängt immer einer das andre auf, ohne daß der Geist je aus sich selbst herausträte. — Diese Register hier aufzuzählen, liegt nicht in

der Absicht; eS kommt nur auf die Resultate an. Rein wissenschaftlich ist nur das von der Erfahrung unabhängige ab­

solute Erkennen. Mathematik.

Ein zuverlässiges Beispiel dieser

Wissenschaft ist die

Sie borgt nichts von der wechselnden Erfahrung, ihre Re­

sultate stehn unumstößlich fest und sind des strengsten Beweises fähig. Der Grund davon liegt darin, daß sie sich ausschließlich auf dem Gebiet

deS reinen Verstandes bewegt.

Sie stellt die Gesetze des Raumes fest,

und der Raum ist lediglich eine Denkform deS Verstandes.

Von den

Außendingen widerlegt zu werden, darf sie nicht fürchten, weil diese sie

gar nichts angehen. Auch in der Naturlehre ist rein wissenschaftlich nur der mathematische

Theil, die Mechanik im großen und im kleinen.

Die reine Mathematik

hat es nur mit den Raumbestimmungen zu thun, die Mechanik fügt die Zeitbestimmung hinzu.

Aus der Combination der beiden ergiebt sich der

Begriff der Bewegung. Dies ist das Gebiet, auf welchem Kant, als Jüngling von 22 Jahren,

35 Jahre vor der „Kritik der reinen Vernunft", zuerst ausgetreten war. Er hat eS einige Jahre darauf in der „Naturgeschichte deS Himmels nach

Grundsätzen Newton's" im größten Stil umfaßt.

Er hatte sich mit allen

Zweigen der Naturwissenschaft, auch der empirischen, unablässig beschäftigt,

Vorlesungen gehalten, alle neuen Entdeckungen ausgezeichnet, er war stets auf der Höhe der Wissenschaft geblieben.

Mit besonderer Aufmerksamkeit

hatte er die scheinbaren Bewegungen, z. B. in Luft und Wasser verfolgt

und mitunter

einen

sehr glücklichen sinnlichen Ausdruck dafür gefunden.

Nur ein Gebiet hat er nie berührt, waS gerade damals von Haller aufs

glänzendste bearbeitet wurde, die Physiologie.

Die Bewegung des Welt­

alls glaubt er erklären zu können, vor dem Leben eines Grashalms stand

er still.

So etwas gehörte nur in das Reich der Erfahrung,

der reine

Verstand hatte damit nichts zu thun.

Die Paragraphen in der „Kritik der reinen Vernunft", die sich mit der mathematischen Naturwissenschaft beschäftigen, finden ihre willkommene

Ergänzung in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft", vielleicht dem klarsten und rundesten Buch, das Kant geschrieben.

Er sucht

nach dem Schema seiner Kategorien den Begriff der Materie, von seinem einfachsten Ausdruck (daS Bewegliche im Raum) bis zu seiner vollsten

Bedeutung zu entwickeln.

Er zeigt, daß, wenn man sich ein Ausgedehntes,

ein den Raum Erfüllendes, ein Widerstand Leistendes u. s. w. denkt, man

nothwendig zu dem Begriff der Anziehung und der Abstoßung kommt. Wenn Newton das allgemeine Gravitationsgesetz feststellte, so ließ er sich

auf die metaphysische Erklärung desselben nicht ein; geht eS zu, daß ein Körper auf den andern, leeren Raum wirken könne?

er fragte nicht: wie

aus der Ferne,

durch den

Leibniz, der eine solche Erklärung nicht ent­

behren konnte, verhielt sich ablehnend.

Kant zeigt, und zwar mit einem

wunderbaren Scharfsinn, daß mit dem Begriff der Materie diese Wirkung in die Ferne unzertrennlich verknüpft ist.

„Die Möglichkeit der Materie

erfordert eine Anziehungskraft, als die zweite wesentliche Grundkraft der­ selben."

Kant wollte damit nicht etwas Historisches ausdrückcn, er wußte sehr wohl, daß Newton nicht durch einen Berstandesschluß von dem Begriff

einer Materie zu

seinem Begriff der Schwere gekommen war, sondern

durch Beobachtung, Messung und Rechnung.

Aber er wollte sagen: nach­

dem auf empirischen Wege das Gesetz entdeckt ist, kann cS logisch auf die Grundbegriffe zurückgeführt und somit in den Bereich der reinen Wissen­ schaft ausgenommen werden.

Nicht minder lichtvoll ist seine Kritik der absoluten Bewegung, in sich selbst zurückkehrt.

Widerlegung des

die

Die ganze Untersuchung mündet auS in die

„sonderbareil" Begriffs vom „absoluten Raum", der

eine „bloße Idee" und als solche wissenschaftlich betrachtet leer ist.

„So endet die metaphysische Körperlehre mit dem Leeren, und eben darum Unbegreiflichen.

Dies Schicksal haben alle Versuche der Vernunft,

die ersten Gründe der Dinge zu erforschen: sie kann, ihrer Natur nach,

weder bei dem Bedingten stehen bleiben, noch sich das Unbedingte faß­ lich machen.

ES bleibt ihr nichts

übrig,

als

von den Gegenständen

auf sich selbst zurückzukehren, um statt der letzten Gründe der Dinge die letzte Grenze ihres eigenen sich selbst überlassenen Vermögens zu er­

fassen." Alles was der Verstand aus sich selbst schöpft, ohne eS von der Er­ fahrung zu borgen, hat er lediglich zum Erfahrungsgebrauch.

Die Grund­

sätze des reinen Verstandes enthalten nichts als das Schema zur mög­

lichen Erfahrung: und da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegen­

stand der Erfahrung sein kann, so kann er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb deren uns allein Gegenstände gegeben werden, schreiten.

niemals

über­

Die Erfahrung ist an die Verstandesformen Zeit und Naum

gebunden; was außerhalb derselben liegt, fällt nicht in den Bereich der Erfahrung.

Auf

dem Felde der Erscheinung

löst

die Erfahrung

eine

Schaale nach der andern ab, und was sie dadurch gewinnt, bereichert die Wissenschaft: daS Ding an sich ist ihr verschlossen.

JnS Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, gehn werde.

und man kann nicht wissen, wie weit dies mit der Zeit

Fragen aber, die über die Natur hinausgehn, würden wir

niemals beantworten können, wenn uns auch die ganze Natur aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Bewußtsein mit

einer andern Anschauung als der unsers inneren Sinns zu beobachten. Gleichwohl nöthigt uns das Denkgesetz, hinter

dem Einzelnen daS

Ganze, hinter dem Bedingten daS Unbedingte, hinter der Wirkung die Kraft, hinter der Vorstellung den Gegenstand, hinter der Erscheinung das

Ding an sich zu suchen.

Da die Erfahrung immer nur Bruchstücke giebt,

so bedarf die Vernunft zur Vorstellung dieses Problems, dem die Ber­ standesbegriffe nicht gewachsen sind, der Ideen.

Diesen Ideen kann eine

Erfahrung nie adäquat sein, sie sind nur Grenzbegriffe, die Anmaßung

der Sinnlichkeit einzuschränken:

gleichsam Fragen, die wir ebensowenig

abweisen als beantworten können. Indem wir nothwendig zu jedem Prädicat sein Subject suchen, ver­

wandelt sich daS Gefundene wieder in ein Prädicat, und so inS Unend­ liche fort: die eigentliche Substanz, daS Absolute, zeigt sich nie, auch wenn

die ganze Natur aufgedeckt wäre, weil eben unser Verstand in der Lage ist, alles nur diScursiv, d. h. durch Begriffe zu denken.

Wie wenig die Kategorien des Verstandes ausreichen, das Absolute zu umfassen, zeigt sich bereits, wenn wir die Summe der sinnlichen An­ schauungen als Ganzes, als Welt zu denken suchen. Grenze im Raume?

Hat die Welt eine

Hat sie einen Anfang und ein Ende in der Zeit?

— Beides kann mit völlig gleichem Recht bewiesen und widerlegt werden, und wir finden uns in einer Welt des Widerspruchs und des Scheins,

dem wir nicht entgehn können, auch wenn wir alle einzelnen Blendwerke Der Irrthum liegt darin, daß wir die Denkformen Raum und

aufdecken.

Zeit auf eine Totalität übertragen, der nie eine Erfahrung beikommt, die

nur in der Idee liegt.

Die Welt als Ganzes liegt außerhalb unsrer

Denkformen; der Satz des Widerspruchs

verliert ihr

gegenüber seine

Gültigkeit. Noch schlimmrer wird es, wenn wir über die Welt hinauögehn. Die

Wolfianer bewiesen daS Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele

wie einen Congruenzsatz; tragen.

Freilich

liegt

schon

auf den Schulen wurde so etwas vorge­

es in der Natur unsrer Vernimft, von der zu­

fälligen Existenz auf den unbedingten Grund aller Existenz zurückzugehn.

Aber diese subjective Natur unsrer Vernunft ist niemals Beleg für ein

wirkliches Dasein. formen.

Zudem widerspricht der gesuchte Begriff unsern Denk­

Ich kann das Zurückgehn zu den Bedingungen des Seins nie­

mals vollenden, ohne als Idee ein nothwendiges Wesen anzunehmen; ich

kann aber von demselben niemals anfangen.

Das unbedingt Nothwendige

ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft.

Selbst die Ewigkeit

macht lange nicht den schwindligen Eindruck: sie mißt nur die Dauer der

Dinge,

aber trägt sie nicht.

Man kann sich des Gedankens nicht er­

wehren, man kann aber auch nicht ertragen, daß ein Wesen gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit; außer mir ist nicht«,

als blos durch meinen Willen! Aber woher bin Ich etwa? — Wirsetzen

etwas voraus, wovon wir gar keinen Begriff haben, das wir uns also nur nach der Analogie vorstellen können. Jede Vorstellung GottcS ist

anthropomorphistisch; läßt man diese Analogie fallen, so bleibt nicht« al«

ein Deismus übrig, der zu keinem Fundament der Religion und Sitte dienen kann.

Die Idee eines höchsten Wesens ist unfähig, unsre Erkenntniß in

Ansehung dessen was extstirt zu erweitern.

Wenn man zur Erklärung

von Naturerscheinungen zu Gott seine Zuflucht nimmt, so ist das nur ein Geständniß, man sei mit seiner Philosophie zu Ende. Jene Idee ist nichtandres als ein

regulatives Princip der Vernunft, alle Verbindung

in

der Welt so anzusehn, als ob sie aus einer allgenugsamen nothwendigen Ursache entspränge; sie dient nicht dazu,

den Begriff GotteS positiv zu

geben, sondern nur, die Anmaßungen derer zurückzuweisen, die ihn wider­ legen wollen.

Unser Ich freilich scheint der gesuchte feste Punkt zu sein: indem ich denke, bin ich, und kann mir absolut nicht vorstellen, wie ich aufhören

soll zu denken.

Aber das Ich ist nur Beziehung der innern Erscheinungen

auf daS unbekannte Subjekt derselben; die Identität meines Selbstbewußt­

seins in verschiedenen Zeilen nur formale Bedingung des Zusammenhangs meiner Gedanken.

Wenn wir auS dem Begriff der Seele auf Beharr­

lichkeit derselben schließen, so gilt eS nur zum Behuf möglicher Erfahrung. Nun ist die subjektive Bedingung aller unsrer möglichen Erfahrung daS

Leben:

folglich kann nur auf die Beharrüchkeit der Seele im Leben ge­

schlossen werden,

denn der Tod des Menschen ist das Ende aller Er­

fahrung. Viel wichtiger noch ist die zweite Frage:

eine wirkliche Existenz?

ist daS individuelle Sein

Hat es einen Anfang in sich selbst? oder ist eS

nur ein Phänomen der mannigfach sich ergänzenden Naturkräfte? — Mit andern Worten: ist der Wille frei?

Unter Freiheit versteht die Metaphysik daS Vermögen, einen Zustand

von selbst anzufangen, dessen Causalität also nicht wiederum unter einer andern Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte.

In diesem Sinne

ist die Freiheit eine Idee, welche die reine Vernunft sich schafft, die

nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, und deren Gegenstand auch

in keiner Erfahrung gegeben werden kann, weil die Möglichkeit aller Er­

fahrung auf dem Begriff der Causalität beruht.

Ist die Grenze unsers Erkennens — die Erscheinungswelt — auch Grenze des Seins, so ist der Begriff der Freiheit nicht zu retten. dann ist Natur die

Begebenheit.

Als­

vollständige hinreichend bestimmende Ursache jeder

DaS Gesetz, daß alles was geschieht eine Ursache habe,

daß diese Ursache, da sie in der Zeit vorhergeht, gleichfalls durch eine

Ursache bestimmt ist: dies Gesetz, durch welches Erscheinungen allererst eine Natur ausmachen und Gegenstände der Erfahrung abgeben können,

ist ein Verstandesgesetz, von welchem es unter keinem Vorwand erlaubt

oder möglich ist, eine Ausnahme zu machen.

AuS dem Naturgesetz folgt, daß jede Handlung, die in einem Zeit­ punkt vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei.

Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in

meiner Gewalt ist, so muß jede Handlung, die ich auSübe, durch bestim­

mende Gründe, die nicht in meiner Gewalt sind, nothwendig sein, d. h.

ich bin in dem Zeitpunkt, darin ich handle, niemals frei.

Einem Wesen,

dessen Dasein in der Zeit bestimmt ist, Freiheit beilegen, ist eine freilich

leicht erklärliche Selbsttäuschung, ein leerer und nichtiger Begriff. Alle Handlungen deS Menschen in der Erscheinung sind aus seinem

Charakter und den mitwirkenden andern Ursachen nach der Ordnung der

Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde eS keine einzige menschliche

Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit Vorhersagen und auS ihren

vorhergehenden Bedingungen als nothwendig erkennen könnten.

Der Charakter Richards des Dritten und die Zeitumstände gegeben, waren alle seine Schurkenstreiche so nothwendig gesetzt, als die Bewegung

eines Körpers infolge eines Stoßes.

Wenn es uns möglich wäre, eines

Menschen Denkart mit allen Triebfedern gründlich zu kennen, ingleichen alle äußern Veranlassungen, so könnten wir sein künftiges Verhalten mit Gewißheit wie eine Sonnenfinsterniß ausrechnen.

Damit scheint alle Zu­

rechnungsfähigkeit ausgeschlossen.

So urtheilt aber nicht blos der unbetheiltgte Zuschauer nicht, so urtheilt der Bösewicht selbst nicht, wenn durch irgend eine gewaltige Erschütterung sein Innerstes hervortritt.

Das Gewissen in ihm verurtheilt nicht blos

die böse That an sich, sondern den eignen bleibenden Charakter, den er

mit Schauder erst aus der That erkennt, und den er, ohne zu wissen warum? als eigene Schuld empfindet.

Wenn ihn so der Dichter dar­

stellt, zeigt er die Wahrheit des Lebens: der aufgewachte Bösewicht em­

pfindet die Erkenntniß, daß alle seine Gräuelthaten mit Nothwendigkeit aus seinem Charakter folgen, nicht als Milderung sondern als Erschwe­ rung seiner Schuld; er verabscheut sich um so mehr, als ob er seinen

Charakter mit Freiheit gewählt habe.

Hier sind wir an das Urphänomen gekommen.

Das Schuldbewußt­

sein erklärt sich nur durch die Annahme einer Doppelnatur im Menschen: sein empirischer Charakter ist nur die andere Seite seines intelltgiblm Charakters.

Diese Scheidung kann nicht begreiflich gemacht, wohl aber

gegen den Widerspruch des Verstandes vertheidigt werden.

Der Begriff der Causalität gründet sich auf eine Anschauungsform deS Verstandes, die Zett; wenn ich sage: eins folgt aus dem andern, so

denke ich an ein Vorher und Nachher; die Zeit zwischen der Ursache und deren unmittelbaren Wirkung kann verschwindmd klein sein, aber das Verhältniß der einen zur andern bleibt immer der Zeit nach bestimmbar.

Die Zeit ist aber nur eine Anschauungsform des Verstandes: und es kann eine intellektuelle Anschauung gedacht werden, die nicht unter dem Schema der Zeit steht.

Die Causalität ist ein BerstandSbegriff, der seine Realität durch Er­ fahrung beweist; die Freiheit eine Idee der Vernunft, zu der wir ge­

nöthigt sind, weil der Fußsteig der Freiheit der einzige ist, auf welchem wir bei unserm Thun und Lassen von der Vernunft Gebrauch machen.

ES wird der subtilsten Philosophie unmöglich sie wegzuvernünfteln. Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine intelltgible Welt hinein denkt, überschreitet sie nicht ihre Grenzen; wohl aber, wenn sie

sich Hineinschauen, hinein empfinden wollte, wenn sie sich zu erklären unter­ finge, wie Freiheit möglich sei.

Freiheit ist eine bloße Idee, deren objec­

tive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen dargethan, die also nie­ mals begriffen werden kann.

Es bleibt nichts übrig als Abtreibung der

Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben

vorgeben, und die Freiheit dreist für unmöglich erklären. DaS Vernunftwesen betrachtet sein Dasein auch, sofern eS nicht unter

Zeitbedingungen steht: in diesem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung, sondern jede Handlung und überhaupt jede

dem inneren Sinn gemäß wechselnde Bestimmung seines Daseins, selbst

die ganze Reihenfolge seiner Existenz als Sinnenwesen ist im Bewußtsein seiner intelligibeln Existenz nichts als Folge des Charakters, der selbst nicht Erscheinung ist, also auch unter keiner ihrer Bedingungen steht.

Die Causalität der Bernunft im intelligiblen Charakter hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen.

kann von ihr nicht sagen,

Man

daß vor demjenigen Zustand, darin sie die

Willkür bestimmt^ ein andrer vorhergeht, darin dieser Zustand selbst be­

stimmt werde.

In ihr gilt kein Vorher und Nachher; sie ist in allen

Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit, sie wirkt, handelt, ohne in der Kette

der Naturursachen durch äußere oder innere, aber der Zeit nach vorher­ gehende Gründe bestimmt zu sein. In diesem Betracht kann das vernünftige Wesen von einer jeden ge­

setzwidrigen Handlung, die eS verübt, ob sie gleich als Erscheinung in

dem Vergangenen hinreichend bestimmt und insofern nothwendig ist, mit Recht sagen, daß eS sie hätte unterlassen können: denn sie mit allem Ver­ gangenen, daS sie bestimmt, gehört zu einem einzigen Phänomen seines

Charakters, den eS sich selbst verschafft, und nach welchem eS sich die Causalität jener Erscheinungen selbst zurechnet.

Wären wir — was wir

nicht sind — einer intellektuellen Anschauung fähig, so würden wir diese ganze Kette bis zu ihrem letzten Glied sehn: in Ermangelung dessen ver­

sichert unS das moralische Gesetz, daß alles, was auS unserer Willkür entspringt, eine freie Causalität zum Grunde habe, welche von früher

Jugend an ihren Charakter in ihren Erscheinungen (Handlungen) auS-

drückt: eine Beschaffenheit des Willens, die wir als Folge freiwillig an­ genommener böser und unwandelbarer Grundsätze empfinden. Wenigstens eine Art Analogie bietet das wirkliche Leben. — Der Mensch,

Natur,

der sich eines

Charakters bewußt

sondern erworben:

ist,

hat

die Gründung desselben,

Wiedergeburt, macht ihm den Zeitpunkt,

ihn

nicht von

gleich

einer Art

da sie vorging, unvergeßlich.

Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit in Grund­

sätzen nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion bewirken.

Erklärt soll damit garntchtS werden.

„Wir begreifen zwar nicht die

Freiheit, aber wir begreifen ihre Unbegreiflichkeit, und das ist alles, waS billigerweise von einer Philosophie gefordert werden kann, die bis zu den Grenzen der Vernunft strebt."

Grade durch die Undurchdringlichkeit ihres Geheimnisses, durch das Erstaunen über ihr Erhabenes, regt die Idee der Freiheit die ganze Seele

auf.

Man wird nicht satt, sein Augenmerk darauf zu richten, und in sich

selbst eine Macht zu bewundern, die keiner Macht der Natur weicht.

Dies

durch Ideen erzeugte Gefühl ist der Punkt des ArchimedeS, woran die

Bernunft ihren Hebel nachsetzen kann, ohne ihn weder an die gegenwärtige

noch eine künftige Welt anzulegen: da die bloße Idee der Freiheit, beim

Widerstand der ganzen Natur, den Willen bewegt.

Es ist etwa« sehr Erhabenes, unmittelbar durch ein reines Ber-

Aber der Rechtschaffene

nunftgesetz zu Handlungen bestimmt zu werden.

darf wohl sagen: ich will, daß ein Gott,

daß außer der Naturver­

knüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt sei!

Ich be­

harre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen: denn dies ist

das Einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen

darf, mein Urtheil unvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zu

achten, so wenig ich auch darauf zu antworten im Stande bin. — — „Ich will!" sagt Faust.

Mephistopheles.

„Das läßt sich hören" erwidert ihm

Und wenn Jener „das Wort" unmöglich so hoch schätzen

kann, eS „im Anfang" zu Gott zu stellen, und sich am Ende Rath weiß und getrost schreibt: „im Anfang vor die That!" so klingen dem Dichter

Kantische Ideen im Ohr. — — „Weh! weh! Du hast sie zerstört, die schöne Welt! sie stürzt, sie

fällt, ein Halbgott hat sie zerschlagen.

Wir tragen die Trümmer inS

Nichts herüber und klagen über die verlorene Schöne.

Mächtiger der

Erdensöhne! prächtiger baue sie wieder, in Deinem Busen baue sie auf!" — DaS war in der That die Aufgabe, die der „transcendentale Idea­

lismus" sich stellte: aus dem Busen, aus dem Gemüth deS Menschen das

Bild deS Göttlichen, das Bild des WeltgemüthS wieder aufzurichten, das sich dem Verständniß der reinen Vernunft entzog.

WaS in dieser Idee,

durch freies Wollen Gott zu fordern, für eine tiefe Mystik liegt, erkennt man mit immer neuer Verwunderung aus Novalis' Aphorismen,

aus

Schleiermachers Monologen, aus Schellings Schrift über die Freiheit. Jede Philosophie hat ihre Mystik, d. h. den Punkt, wo sie mit der

Analyse nicht weiter kommt, und das letzte Problem in einem Bild oder

einem Symbol darstellt.

Für Leibniz lag die Mystik in den Monaden

und der prästabilirten Harmonie: für Kant in der Freiheit.

Wissen­

schaftlich aus ihr etwas herzuleiten, ist unmöglich, da sie nur zur intelligibeln, für uns unbekannten Welt gehört. ja sie ist ihm das Gewisseste aus

Trotzdem glaubt Kant an sie,

der.Welt,

obgleich das Unbegreif­

lichste. Eine Witterung

von dieser Mystik hatte Hamann,

„Kritik" (6. Aprl 1781) noch im Manuskript laS:

als

er die

„menschlichem Ver­

muthen nach wird das Buch Aufsehn machen, im Grund aber möchten sehr wenig Leser dem scholastischen Inhalt gewachsen sein.

Mit dem Fort­

gang wächst daS Interesse, und es giebt reizende und blühende Ruheplätze, nachdem man lange im Sande gewatet. Prmßifchk Jahrbüchrr. Bd. XLVIII. Heft 4.

Ueberhaupt ist eS reich an AuS29

Die Kritik der reinen Bernunst.

sichten, und Sauerteig zu neuen Gährungen in und außerhalb der Fa­ kultät." „Entspringen Sinnlichkeit und Verstand, als die zween Stämme der

menschlichen Erkenntniß, aus

gemeinschaftlichen und unbekannten

einer

Wurzel: wozu eine so gewaltthätige Scheidung dessen, was die Natur zu­

sammengefügt hat? — Die Sinne mögen noch so sehr trügen, ich ziehe

sie allen geläuterten, abgezogenen und leeren Worten vor! und Begriffen ist keine Existenz möglich.

In Worten

In den Worten vermuthe ich den

Grund aller Widersprüche, die man der Vernunft zur Last legt. uns

der Baum

des Lebens nicht

Soll

lieber fein als der Baum der Er­

kenntniß? — Gott schuf den Menschen sich zum Bilde, der Unterschied liegt blos darin, daß wir noch in der Mache sind und unser Leben noch verborgen ist.

Unsere Vernunft muß warten und hoffen, Dienerin, nicht

Gesetzgeberin der Natur sein wollen."

„Hume ist mein Mann, weil er wenigstens das Prinzip des Glau­ bens veredelt und in sein System ausgenommen; seine Dialoge schließen

mit der jüdischen und platonischen Hoffnung eines Propheten,

kommen soll.

der noch

Kant ist mehr ein Kabbalist, der einen Aion zur Gottheit Ohne es zu wissen,

macht, um die mathematische Gewißheit festzusetzen.

schwärmt er ärger als Plato in der Jntellectualwelt.

Ich will dem eng­

lischer! und preußischen Kritiker auf einmal antworten, mit denen beiden

ich in Ansehung der Kritik völlig einig bin, aber desto mehr von ihrer mystischen oder skeptischen Synthese abweiche."

Aeußerung:

Kant stutzte über diese

„er wüßte garnicht, wie er zur Mystik kam.

Mich hat eS

gefreut, daß Lavater eine gleichförmige Sprache mit Kant führt; ein neuer Beweis für mich, daß alle Philosophen Schwärmer sind, ohne eS zu wiffen." Ein ganz ähnlicher Vorwurf wurde Kant in den Göttinger Gel. Anz. gemacht, von Garve und Feder:

seine Lehre stimme mit dem alten

schwärmerischen Idealismus Berkeleys,

Sinne und Erfahrung

wonach

alle Erkenntniß

auf Schein herauskomme.

durch

Dagegen protestirte

Kant aufs Aeußerste: sein Idealismus verhalte sich zu dem Berkeleys wie

Chemie zur Alchymie.

Er hatt» in seiner Stimme zwei grundverschiedene

Register; auch für die Freiheit fand er eine sehr faßliche Auslegung. Im praktischen Leben versteht man unter Freiheit nur die Unabhän­ gigkeit des Willens von der Nöthigung

durch Antriebe der Sinnlichkeit,

und diese kann durch Erfahrung bewiesen werden.

Denn nicht blos was

reizt, d. h. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür,

sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was

selbst auf entfernte Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser

sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Ueberlegungen aber von dem, was in Ansehung unsers ganzen Zustands begehrenSwerth, d. h.

gut ist, beruhn auf der Vernunft.

Diese giebt objektive Gesetze der Frei­

heit, welche sagen, waS geschehn soll, ob eS gleich vielleicht nie geschieht, und

sich darin von Naturgesetzen unterscheiden.

Ob aber die Vernunft

selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum

durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernter wir­

kender Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht unS im Prakttschen nichts an.

Woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich

jetzt handeln soll, gekommen sei, kann mir gleichgültig sein: ich frage nur,

waS ich nun zu thun habe?

Und da ist die Freiheit eine nothwendige

praktische Voraussetzung, unter der allein ich die Gebote der Vernunft als

gültig ansehn kann. ihm

Selbst der entschlossenste Fatalist muß, sobald eS

um Pflicht zu thun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre;

und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige That hervor.

Könnte sich ein Mensch von allem Interesse lossagen, und die Be­

hauptungen der Vernunft, gleichgiltig gegen alle Folgen, blos nach dem Gehalt ihrer Gründe in Betracht ziehn: so würde ein solcher, gesetzt, daß

er keinen Ausweg wisse, anders auS dem Gedränge zu kommen, als daß

er sich zu der einen oder der anderen der streitenden Lehren bekennte, in einem unaufhörlich schwankenden Zustand sein.

Heute überzeugt, der

menschliche Wille sei frei, würde er morgen, wenn er die unauflösliche

Naturkette in Betracht zöge, die Freiheit für eine Selbsttäuschung halten.

Wenn eS aber zum Handeln käme, so würde dies Spiel der blos specu-

lirenden Vernunft wie das Schattenbild eines Traums verschwinden und er würde seine Principien blos nach dem praktischen Interesse wählen.

In Ansehung der Ideen Freiheit und Gott ist das blos speculative Interesse der Vernunft sehr gering, weil man von allen Entdeckungen, die hierüber etwa zu machen wären, doch keinen Gebrauch machen kann,

der in concreto, d. h. in der Naturforschung seinen Nutzen bewiese; sie sind, an sich betrachtet, müßige Anstrengungen unsrer Vernunft.

Wenn sie unö demnach zum Wissen garnicht nöthig sind, und unS

gleichwohl durch unsre Vernunft dringend empfohlen werden, so wird ihre Wichtigkeit wohl nur das Praktische angehn. „Zwar wird sich Niemand rühmen können,

er wisse, daß ein Gott

und daß ein künftiges Leben sei: denn wenn er eS weiß, so ist er grade

der Mann, den ich längst gesucht habe.

Ich darf nicht einmal sagen: eS

ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei u. s. w.; sondern: ich bin moralisch

gewiß, u. s. w.; d. h. der Glaube an einen Gott und eine andre Welt ist 29*

mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, ebensowenig besorge ich, daß mir der zweite jemals könne entrissen werden. — An Gott zu glauben, ist moralisches

Bedürfniß, aber nicht Pflicht." „Ist daS aber alles, was reine Vernunft ausrichtet, indem sie über die Grenzen der Erfahrung hinaus Aussichten eröffnet?

zwei Glaubensartikel?

Nichts mehr als

Soviel hätte auch wohl der gemeine Verstand auS-

richten können!" „Allerdings entdeckt die tiefste Metaphysik nur, daß die Natur in dem, was Menschen

ohne Unterschied angelegen ist, keiner

parteiischen

Austheilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und daß in Ansehung der

wesentlichen Zwecke die höchste Philosophie es nicht weiter bringen könne, als waS die Natur auch dem gemeinsten Verstand Hal angedeihen lassen."

— „Nach drüben ist die Aussicht unS verrannt; Thor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet! . . Er stehe fest und sehe hier sich um; dem

Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. zu schweifen?

WaS er erkennt,

Was braucht er in die Ewigkeit

läßt sich ergreifen.. Im Weiterschreiten

find' er Qual und Glück, er! unbefriedigt jeden Augenblick."

'Goethe verhielt sich erst durchaus ablehnend gegen die „Kritik der reinen Vernunft."

„Sie lag außerhalb meines KreifeS.

Der Eingang

gefiel mir, inS Labyrinth selbst konnt' ich mich nicht wagen: bald hinderte

mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte mich nirgend gebessert, wenn ich auch einzelne Capitel zu verstehn glaubte. Ich

wohnte jedoch manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerk­

samkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneuere: wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserm geistigen Dasein bei­ trage?

Ich hatte beide niemals gesondert,

und wenn ich nach meiner

Weise philosophirte, so that ichs mit unbewußter Naivetät, wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen.

und glaubte

Gern aber mochte ich

mich auf diejenige Seite stellen, welche dem Menschen am meisten Ehre macht, und gab Kant'S Behauptung recht: wenngleich

alle Erkenntniß

mit der Erfahrung angehe, so entspringe sie darum doch nicht eben auS der Erfahrung... Hatte ich doch in meinem ganzen Leben, dichtend und beobachtend, synthetisch und dann wieder analytisch verfahren; die Systole und Diastole deS menschlichen Geistes war mir, wie ein zweites Athem-

holen, niemals getrennt, immer pulstrend.

Beobachtete doch die Natur

selbst ein analytisches Verfahren, eine Entwicklung aus einem lebendigen

geheimnißvollen Ganzen, und dann schien sie wieder synthetisch zu handeln, indem

völlig fremd scheinende Verhältnisse einander angenähert und in

Eins verknüpft wurden."

„Manchmal wollte mir dünken,

der köstliche Mann verfahre schalk­

haft ironisch, indem er bald daS Erkenntnißvermögen aufs engste einzu­ schränken bemüht war, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen, mit

einem Seitenwink hinausdeutete.

Er mochte freilich bemerkt haben,

wie

anmaßend der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenig Erfahrungen

ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht, und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheften

trachtet.

Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine

reflectirende Urtheilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur

Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Aeußerungen, und überläßt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen,

die er uns einigermaßen zugesteht." Kants „Kritik ber praktischen Vernunft" hat Goethe mit dem System

nicht näher befreundet, sondern ihn durch seine Starrheit eher abgestoßen.

Mit der größten Freude dagegen begrüßt er die Kritik der Urtheilskraft,

die eine wesentliche Bereicherung des Princips enthält. Nach der bisherigen Kantischen Auffassung ruhte die Natur auf ihrem

eigenen unabänderlichen Gesetz; sie hatte keinen Zweck als ihr eigenes Dasein.

Die Kritik der Urtheilskraft suchte den Begriff des Zwecks für

das Naturganze zu retten, indem sie die Erfahrung der Kunst heranzog.

Das Genie wirkt zweckvoll, ohne sich des Zwecks bewußt zu werden;

das Kunstwerk ist zweckvoll, ohne daß der Zweck durchscheint.

auch die Natur gleichsam

So ist

ein großes Kunstwerk, dessen innere Zweck­

mäßigkeit aber eine bloße Idee bleibt.

Man kann sie empfinden und

ahnen, aber nicht begründen.

Julian Schmidt.

Die Probe auf die Bedeutung der Kaiser­ zusammenkunst in Danzig. (Politische Correspondenz.)

Berli-n, 8. October 1881. Frankreich hat sich auch dieses Mal wieder als das Land der Ueber-

raschungen erwiesen.

Was hat man nicht in den letzten Monaten über die

Bedeutung der Neuwahlen zu der Deputirtenkammer declamirt, vor allem

mit Rücksicht auf die Absicht Gambetta'S, aus dem Halbdunkel der Cou-

lissenregierung nur mit einem jener starken Effecte hervorzutreten, welche unsern westlichen Nachbarn unentbehrlich erscheinen.

Am 21. August haben

die Neuwahlen stattgefunden, über 6 Wochen vor dem Zeitpunkt, an dem daS Mandat der letzten Deputirtenkammer abläuft,

aber merkwürdiger

Weise, ohne daß die alte Deputirtenkammer aufgelöst worden wäre, so

daß Frankreich bis zum 14. October im Besitz zweier Kammern ist, der alten, deren Mandat fortdauert und der neuen, die eine Art embryonisches

Dasein führt.

War die Beschleunigung der Neuwahlen dringend, wes­

halb macht die Regierung der Scheinexistenz der alten kein Ende?

Oder

wenn man noch weit über den 21. August hinaus ohne neue Vertretung

auskommen konnte, weshalb mußten die Wahlen vor der Zeit stattfinden? Das Räthsel ist nicht gerade schwer zu lösen.

Zur Auflösung der zweiten

Kammer hätte die Regierung der Zustimmung des Senats bedurft und dieser würde schwerlich seine verfassungsmäßige Mitwirkung gewährt haben

zu einer Maßregel, welche von vornherein bestimmt war, den Senat für

die Kühnheit zu bestrafen, mit der er den Gesetzentwurf wegen Einfüh­

rung des ListenscrutiniumS, den die Deputirtenkammer beschlossen hatte, ohne Weiteres

ablehnte.

Dem Senat eine Lection zu ertheilen,

freilich nicht der einzige Zweck.

war

Die Regierung hatte schon damals vor­

aus gesehen, daß die Lage der Dinge in Tunis sich in nächster Zukunft nicht verbessern, sondern eher verschlimmern, daß es nothwendig sein würde,

die OccupattonStruppen zu verstärken und da sie den Eindruck, den in

Die Probe auf die Bedeutung der KaiserzusammeukuNst in Danzig. einem

407

Lande mit allgemeiner Wehrpflicht diese unliebsame Folge deS

Feldzugs gegen die KrumirS machen würde, zu fürchten Grund hatte, so mußten die Wahlen stattfinden, ehe die Wähler Zeit gehabt hatten, die

Wahrheit über Tunis kennen zu lernen.

ES versteht sich von selbst, daß

Sorge dafür getragen wurde, daß der Telegraph nicht etwa unmittelbar

vor den Wahlen unliebsame Mittheilungen über die Lage der Dinge in

Afrika mache.

In der That hat die Tunesische Affaire keinen erkennbaren

Einfluß auf die Wahlen auSgeübt.

Aber die Schwierigkeiten der Lage

trugen ohne Zweifel dazu bei, die Abneigung der Regierung gegen eine schleunige Berufung der neuen Kammer zu verstärken, der man eine ge­ naue Auskunft über die Führung des ganzen Feldzugs nicht vorenthalten

könnte.

Daß fettens der Militärverwaltung schwere Fehler begangen

worden sind, ist freilich zweifellos. mit unzulänglichen Kräften begonnen.

Der Feldzug wurde von vornherein Die vorzeitige Zurückberufung eines

Theiles der Truppen nach der Besetzung der Küstenplätze war ein zweiter

Fehler.

Aber bei der Abhängigkeit des CabinetS Ferry von dem Wellen­

schläge der öffentlichen Meinung ist eS leicht zu begreifen, daß der Kriegs­ minister sich mehr vor den Unzufriedenen in Frankreich als vor den Auf­ ständischen in Tunis und Algier fürchtete.

Der Feldzug in Tunis hat

jetzt schon den auch für uns Deutsche nicht werthlosen Beweis geliefert, daß eine Colonialpolttik im großen Styl ohne eine Modification des Systems der allgemeinen Wehrpflicht unmöglich ist.

Keine Nation — und vor allem

nicht eine so wüthige und reizbare Nation wie die französische — wird

im Falle eines europäischen Krieges die Opfer zu groß finden, welche sie

bei dem System der allgemeinen Dienstpflicht zu bringen gezwungen ist; aber zu einem Feldzug gegen die Krumirs und die Horden eines Bu-Amena unter dem mörderischen Klima des schwarzen Continentö eignen sich die

ChasseurS dÄfrique, die Turko's,

SpahiS und die Berufstruppen deS

Kaiserreichs besser als die Rekruten der allgemeinen Wehrpflicht.

Daß

General Farre diesen Erwägungen Raum gegeben und von der Mobilisirung

eines oder einiger Armeekorps Abstand genommen hat, mögen

seine politischen Gegner ihm zum Vorwurf machen; schwerlich würden sie an seiner Stelle anders gehandelt haben.

Aber das ändert eben nichts

an der Thatsache, daß die endlose Verschleppung der tunesischen Ange­

legenheit, die Schlappen, welche den französischen Truppen durch die Auf­ ständischen in Süd-Algier beigebracht wurden, auch über die Grenzen der

Colonie hinaus den Geist der Empörung gegen das europäische Element

weckten.

Seit der Absetzung

Ismail Paschas

(26. Juni

1879) wird

Egypten gewissermaßen im Interesse seiner europäischen Gläubiger von englischen und französischen Commissaren verwaltet.

Der neue Khedtve,

408

Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunst in Danzig.

Tewfik Pascha hat englischen und französischen Generalcontroleuren die Verwaltung der Zölle und Steuern überlassen müssen; im Uebrigen aber und solange er die sinanciellen Interessen seiner Beschützer nicht gefährdet,

ist er absoluter Herrscher geblieben, mit anderen Worten: auf dem Gebiet

der inneren Verwaltung dauert das alte Willkür-Regiment fort.

Die

Unzufriedenheit im Lande und namentlich in der Armee wendet sich natur­ gemäß nicht nur gegen die Europäer, sondern auch gegen Tewfik Pascha,

der eine Creatur derselben ist.

Zeichen einer Gährung

Seit

in der

längerer Zeit schon

hatte es an

Armee nicht gefehlt; am 9. September,

am Tage der Kaiserzusamwenkunft in Danzig,

rückten 4000 Mann mit

30 Geschützen vor den Palast des Khedive und

forderten, unter der

Drohung der Absetzung, den Rücktritt des Ministerpräsidenten Riaz Pascha,

Erhöhung des Bestandes der Armee auf 18,000 Mann, der nach dem Firman des Sultans vom 6. August 1879 zulässigen Maximalstärke, die

Einführung der von einer besonderen Commission vorbereiteten Militär-

gesetze

und

endlich



die

Berufung

eines

nationalen

Parlaments.

Daß diese Bewegung, der durch die Ernennrmg Schertf Paschas freie Bahn gebrochen

ist,

sich

gleicher Weise gegen die Willkür-Herrschaft

des Khedive wie gegen die Finanzwirthschaft der englisch-französiscken General-Controleure richtet, liegt auf der Hand.

Das schließt aber nicht

aus, daß von englischer Seite die Bewegung nicht ungern gesehen wird, vorausgesetzt, daß England berufen würde, das alleinige Protectorat über den neuen constitutionellen Staat auszuüben.

Schon vor dem Ausbruch

der Emeute vom 9. September wurde in der englisch-französischen Presse die Frage der Zukunft deS Pharaonenlandes sehr lebhaft erörtert.

Die

„Times" bezeichnete eS als fraglich, ob der gebrechliche Zustand der Dinge in Egypten mit der Sicherheit der englischen Interessen verträglich sei, während daS Organ Gambetta'S, die Republique fran^aise ankündigte,

daß an dem Tage, an dem England aus eigner Initiative die Verwaltung EgyptenS ändern würde, Frankreich im Namen seiner Interessen „schwere

Einwendungen" machen werde.

Das Mißtrauen

englische Politik wurde noch verschärft, als

Frankreichs gegen die

englische Blätter nach dem

9. September den Vorschlag machten, die Intervention deS Sultans anzu­ rufen, um durch eine militärische Occupation EgyptenS dem Uebermuth der SoldateSca ein Ende zu machen.

Man kann es dahin gestellt sein

lassen, in wie fern dieser Vorschlag ernst gemeint war; enthielt er daS Eingeständniß, daß

weder

auf alle Fälle

eine einseitige englische oder

französische, noch eine gemeinsame englisch-französische Occupation für mög­ lich gehalten wird; der einzige Punkt, über den die Cabinette von Parts und London derselben Meinung sind.

Ob der Militär-Aufstand vom 9. September im Einverständniß mit

dei englischen Politik erfolgte, kann man dahin gestellt sein lassen.

DaS

weitere Verhalten der englischen Regierung beweist, daß der Zwischenfall ihr sehr zur Zeit kam.

England hat ruhig zusehen müssen, als Frank­

Sein Alliirter in Egypten hat sich plötz­

reich von Tunis Besitz ergriff.

lich — wenn auch nicht unerwartet — als gefährlicher Concurrent

ent­

puppt, so daß die Londoner Blätter heute kein Bedenken tragen, den durch

die Convention vom 30. August 1879 geschaffenen Zustand für unhaltbar zu erklären.

Selbstverständlich kehrt das Cabinet Scherif Pascha's,

den

der frühere Khedive im letzten Augenblicke mit der Bildung eines „na­

tionalen" Ministeriums beauftragt hatte, des

um dem durch das Eingreifen

erweckten „Nationalgefühl" Rechnung zu

englischen Finanzministers

tragen, seine Spitze ebensowohl gegen England

wie gegen Frankreich.

Sein Ziel kann nur die Befreiung Egyptens von dem europäischen Einfl»lß sein, gleichviel ob hinter Scherif nur die Demonstranten vom 9. Sep­

der frühere Khedive Ismail Pascha oder Constantinopolttanische

tember,

Einflüsse stehen.

Es klingt keineswegs unwahrscheinlich, daß der Sultan

die Zeit gekommen glaubt, seine Oberherrschaft über Egypten, die in den letzten

Jahren nur

den

englisch-französischen Generalcontroleuren

als

Sturmdach gedient hat, wieder zu befestigen; aber diese Gefahr schlägt

man in England nicht hoch an.

Wenn die „nationale" Politik Scherif

Pascha's dem gegenwärtigen Zwitterzustand erst einmal ein Ende gemacht

hat, hofft man in London um so leichter das letzte Ziel der englischen

Politik, die ausschließliche Herrschaft über Egypten durchsetzen zn können. Natürlich

wird vor der Hand mit verdeckten Karten gespielt, um den

Rückzug offen zu halten für den Fall, daß sich schließlich doch die Fort­

setzung des Compagniegeschäftes

mit Frankreich als unvermeidlich

be­

währen sollte.

Frankreich wenigstens wird nichts thun, die Krisis zu beschleunigen; im Gegentheil, die französische Politik kann nur wünschen, Zeit zu ge­ winnen,

um vor Allem der Schwierigkeiten in Algier Herr zu werden

und Tunis zu verdauen.

Als die französische Regierung den Zug nach

Tunis unternahm, glaubte sie genug gethan zu haben, wenn sie sich der Neutralität Deutschlands versicherte.

Jetzt aber,

wo sich die ausschwei­

fendsten Befürchtungen bezüglich der Verwickelungen, welche die tunesische

Expedition nach sich ziehen könnte, zu verwirklichen drohen, gewahrt man mit Schrecken, daß

der englische Freund sich anschickt, aus diesen Ver­

legenheiten Nutzen zu ziehen.

Nicht umsonst betont die französische Presse

die Nothwendigkeit, das gute Einvernehmen zwischen England und Frank­

reich, welches allein über die Schwierigkeiten der Lage hinweg helfen könne,

410

Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig.

ungetrübt zu erhalten.

Von englischer Seite wird das nicht in Abrede

gestellt; aber mit erstaunlicher Naivetät empfiehlt die „Times", das Ein­ vernehmen dadurch zu erhalten, daß man die Intervention der Türkei zu Hülfe rufe.

Die

eghptifche Revolte,

antwortete daS City-Blatt, muß

niedergeworfen und die eghptifche Armee auf die ihr zukommende Stärke

permanent reducirt werden, d. h. auf die Stärke,

welche zum Schutze

der südlichen Territorien des Landes und zur Aufrechterhaltung der Ord­

nung nothwendig ist.

DaS ist eine bestimmte Ausgabe und die Lösung

derselben wird die Türkei zu keinen weiteren Plänen verleiten.

Die An­

rufung des türkischen Beistandes ist ohne Zweifel ein pis aller, aber es

ist dies besser als die Hülfe von Europäern anzurufen, deren Landung in Waffen das Signal sowohl zur Opposition der eingeborenen Bevölkerung als auch zu einer unerträglichen Friction zwischen den zeitwei­

ligen Bundesgenossen sein würde. charakteristisch für die neueste Phase der englischen

Außerordentlich

Politik ist die Sprache, welche d»S leitende Blatt der Kaiserzusammen­ kunft in Danzig zu führen für angemessen hielt.

Am Tage nach der Zu­

sammenkunft war die „Times" der Ansicht, Erörterungen über rumänischen und serbischen Ehrgeiz, bulgarische Revolution, österreichisches Weitervor­

dringen in die Türkei und die Wache über die Donaumündungen könnten nur ein Schein sein, hinter welchem das Problem verhandelt sein müßte,

mit den Nihilisten

fertig zu werden.

Da aber weder Kaiser Wilhelm

noch Fürst Bismarck das einzige wirksame Mittel, constitutionelle Regie­ rung, Vorschlägen würden, so könne man daraus abnehmen, wie unbedeutend die Zusammenkunft sei.

England werde von den großen Militärreichen

Europas nicht befragt, welchen Grad von Wärme sie ihren gegenseitigen Beziehungen geben sollten; England wünsche auch nicht befragt zu werden.

Solange die Militärreiche nicht Abmachungen träfen, welche legitime eng­ lische Interessen beeinträchtigten,

überlasse England es ihnen, sich

Belieben unter einander zu verständigen.

nach

Immerhin, meint die „Times",

die Abwesenheit des Kaisers von Oesterreich zeige an, daß Deutschland

„noch immer" die Vollmacht Oesterreichs in Fragen der europäischen Po­ litik in Händen halte.

Kaiserliche Alliancen, so schloß die griesgrämige

Auseinandersetzung, durch welche nebenbuhlerische Staaten ihre verschiedenen

Prätentionen und Bestrebungen in einen Mischmasch einrühren, sind nicht

nach englischem Geschmack. Der Engländer vermuthet in solchem Abkommen eine gegen die Rechte Dritter gerichtete Verständigung.

Wege sind nicht Englands Wege!

so weit, ihre Leser über Dritter zu beruhigen.

Aber Fremder

Vierzehn Tage später war die „Times"

die Besorgniß

einer Bedrohung der Rechte

Die Interessen Oesterreichs im Orient, schrieb sie.

sind mit wenigen Vorbehalten conservattv wie die unsrigen.

Die Bande,

welche unS mit unseren traditionellen Verbündeten verbinden, sind hoffent­

lich nicht geschwächt worden durch irgendwelche Vorgänge oder Aeußerungen neuerer Zeit.

Oesterreich mag daher fast der Vertreter Englands in dem

Concert genannt werden, welches sich zwischen den drei Kaiserreichen vor­

zubereiten scheint.

Der Ausdruck „unser traditioneller Verbündeter", der

an die Zeit der Kriege gegen das napoleonische Frankreich erinnert, war

natürlich auf französische Ohren nicht berechnet.

Die Hoffnung, daß dieses

Band durch Aeußerungen neuerer Zeit nicht geschwächt sein würde, klang

wie eine Abbitte Gladstone'S für das „Hände weg", welches er bei dem Wiedereintritt in die Regierung an die Adresse

hatte.

Oesterreichs gerichtet

Den letzten Gedanken verrieth die Betrachtung: „Ebbe und Fluth

der Umstände wechseln unaufhörlich und haben, das Bestreben, das Dretkaiferbündniß auf den Sand zu setzen." Nach diesen Präliminarien rückte dann die „Times" in den letzten

Tagen des September mit einem Project heraus, welches die innere — wenn auch vielleicht nicht die harmonische — Verbindung der beiden Ereignisse

veS 9. September, der Kaiserzusammenkunft in Danzig und der Militär-

Emeute in Kairo in greller Beleuchtung hervortreten läßt.

In Form einer

Correspondenz aus Prag anticipiren die Betrachtungen des Cith-BlatteS eine neue „Theilung des Orients", um in hypothetischer Sprechweise die

Bedingungen zu fixiren, unter denen England zur Sprengung des Ber­ liner Vertrags bereit sein würde.

„Es ist klar", so beginnt der frei­

willige Mitarbeiter der „Times", „daß die gemeinsame Besetzung EghptenS durch Frankreich und England unausführbar ist und daß die Erhaltung

des gegenwärtigen Zustandes der Dinge mit jedem Augenblick zur Un­ möglichkeit werden kann.

Diese Gedanken beunruhigen bereits die öffent­

liche Meinung und nehmen die Aufmerksamkeit so vollständig in Anspruch, daß man eine andere, gerade so offenbare, Gefahr gar nicht sieht, welche von der anderen Seite deS ägäischen Meeres droht, nämlich die Occupation

des Königreichs Griechenland durch Oesterreich und die durch österreichische Disciplin und griechische Seeleute drohende Bildung einer großen @eemacht längst der Linie der englischen Hauptstraße (nach Indien). Die Intri­

guen und Unterhandlungen, welche die Lösung der griechischen Frage be­

gleiteten, hatten zum Hauptzwecke die weitere Besitznahme von Prevesa

und Salonichi durch Oesterreich.

Sind Epirus und Macedonien unter der

Botmäßigkeit dieser Macht, dann gelangt Griechenland unvermeidlich unter die

Controle,

die

politische

und

financielle Verwaltung Oesterreichs.

Griechenland befindet sich in einem solchen Zustande der innern Lähmung

und ist so sehr vom Bankerott bedroht, wenn eS in seinem gegenwärtigen

Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig.

412

ungewissen Zustande verbleiben muß, daß eine Catastrophe binnen kurzem eintreten muß;

denn

ohne die Unterstützung einer starken europäischen

Macht kann Griechenland nicht einmal dem Namen nach seine Unabhängig­

keit behaupten; und da für alle Griechen die ernste Erwägung besteht und

bestehen muß in der Vereinigung aller Zweige der Race, so wird die un­ mittelbare Folge die Besetzung von Epirus und Makedonien durch Oester­ reich, wie das auch von allen vernünftig Denkenden in Athen anerkannt

wird, der Eintritt Griechenlands in das österreichische Verwaltungsshstem

sein.

Die Handelsthätigkeit und die merkantilen Interessen Oesterreich-

Ungarns sind gegenwärtig schon im Osten deS Mittelmeeres bedeutender, als die irgend einer anderen Macht, mit Ausnahme Englands und, durch

Griechenland verstärkt, werden diese Interessen die bedeutendsten werden mit der anwachsenden Leichtigkeit des Verkehrs in den Häfen, durch die

Schienenstraßen und Dampferlinien auf den Wasserstraßen zwischen Europa, Ostafrika und Kleinasien.

Die Stellung einer Macht mit der Fähigkeit

zu organisiren und Fuß zu fassen, wie Oesterreich sie besitzt, welches über die ganze Kraft und die nautischen Hülfsmittel der griechischen Bevölkerung und die Levante in der Flanke, die bedeutendste Station auf dem Wege nach Indien verfügt, ist derart, daß die Engländer die Complicationen

bedenken müssen, welche daraus

entstehen können.

Wir sprechen von

Oesterreich als einem alten unb treuen Alliirten in einem Athem mit un­

seren Befürchtungen für Frankreich, den Alliirten Englands par excellence in dem reconstruirten Europa.

Ist irgend eine Allianz vertrauenswürdig,

wenn es sich um die Herrschaftsfrage handelt?

Ist es weise, der Hand

einer Macht, welche ein Feind werden kann, eine solche Gewalt anzuver­

Und wenn sich die österreichischen Handelsinteressen so entwickeln,

trauen?

wie heutzutage, wenn sich seine Communicationen bis an den Stillen

Ocean ausdehnen und die französischen Herrschaftsinteressen auf der an­ deren Seite der Hauptstraße vordringen; wenn überdies die Interessen der einen wie der anderen dieser Mächte activ und schlau durch jede Anwen­ dung von Intrigue und Diplomatie gefördert werden — heißt es da nicht

die Sorglosigkeit auf's Aeußerste treiben, wenn nichts geschieht, um diese Lebensinteressen des britischen Reichs vor künftigen Eventualitäten zu schützen, wenn man auch von der gegenwärtigen Bedrohung nichts sagen

will?

Ich glaube, es giebt nur eine politische Vorkehrung, um die Un­

abhängigkeit EgyptenS und die totale Vertreibung des türki­

schen Elements aus den Ländern längs deS Rothen Meeres zu sichern.

Die Egypter sind ein weit gelehrigeres Volk als die Türken,

welche überall ein Hinderniß für eine gesunde politische Organisation sind und wenn einmal ein egyptischeS Königreich wtederhergestellt und seine

Unabhängigkeit von England garantirt ist, wird der Weg nach Indien so sicher gemacht wie durch eine englische Occupation.

DaS türkische Reich

mag sich eines Tages auflösen — aber wie bald das geschehe, kümmert

England nicht im Geringsten,

sobald Egypten gesichert ist — und die

Ruhestörungen und Vorbereitungen aus Anlaß der schrecklichen orientali­ schen Frage hören für England auf von dem Momente an, wo Egypten sicher ist."

Von Rußland ist, wie man sieht, in dieser Zukunftsphantasie gar

nicht die Rede; aber wenn England von dem Augenblicke an, wo die egyptische Frage in seinem Sinne gelöst ist, an dem Fortbestände der

Türkei kein Interesse mehr hat, so würde die türkisch-englische DefensivAllianz vom 4. Juli 1878 vollständig hinfällig werden und ein weiteres

Vordringen Rußlands auf der Ostfeite des Schwarzen Meeres, welches Lord Beaconsfield damals als Kriegsfall betrachtet wissen wollte, England nicht wieder beunruhigen.

Der Kernpunkt des Programmes ist das selbst­

ständige Königreich Egypten unter englischer Garantie.

Der Gedanke, daß

hinter dieser Kundgebung der „TimeS", welche in den übrigen der Gladstone'schen Regierung ergebenen Blättern zustimmend erörtert wird, direct

oder

indirect daS auswärtige Amt stehen könne, ist von einer

wältigenden Komik, wenn man sich deS Schreibens Gladstone

öffentlichte.

am

erinnert,

über­

welches

11. März 1880 während der Wahlvorbereitungen ver­

„In Beziehung zum Auslande, schrieb der damalige Oppo­

sitionelle, haben die Minister (Beaconsfield) die Prärogative der Krone durch groben Widerspruch ungebührlich ausgedehnt, weitn nicht gefährdet, daS Reich geschwächt durch unnöthige Kriege, unvortheilhafte Erwerbungen und unweise Verpflichtungen und dasselbe entehrt in den Augen Europa's

dadurch, daß sie die Insel Cypern der Pforte abgegaunert haben durch einen heimlich

abgeschlossenen Vertrag,

unter Verletzung des

Pariser

Vertrags, welcher letztere einen Bestandtheil deS internationalen Rechts der Christenheit bildet.

Wenden wir uns von principiellen Erwägungen

zu den materiellen Resultaten, so haben die Minister Rußland vergrößert, die Türkei auf den Weg ihrer Zerstückelung, wenn nicht zu ihrem Unter­

gänge verlockt und die christliche Bevölkerung Macedoniens wieder unter ein erniedrigendes Joch gebracht."

Und doch hat die autorisirte Presse der beiden Cabinette, an welche die Insinuationen der „Times" entweder direct oder indirect gerichtet waren,

Oesterreichs und Rußlands Veranlassung genommen, sich über die Vorschläge in einer Weise zu äußern, welche für die Bedeutung derselben Garantie

leistet.

Wenn aber der in der „Times" ausgestreckte Fühler auch nur

den Zweck gehabt hätte, die Tragweite der Danziger Zusammenkunft zu

Die Probe aus die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig,

414

erproben, so muß man sagen, daß dieser Zweck vollständig erreicht wor­

den ist.

An dieser Danziger Zusammenkunft war alles ungewöhnlich: das Geheimniß, mit dem sie umgeben werden sollte und die JndiScretion, mit der hinterher Berichte vertraulichster Natur der Oeffentlichkeit preisgegeben

wurden.

DaS wirkliche Geheimniß liegt nicht in der Zusammenkunft selbst,

sondern in den Kämpfen, die ihr vorangegangen sind, in der Wandlung der Gedanken des jungen Kaisers.

Oder sollen wir sagen: in der plötzlich

durchbrechenden Erkenntniß, daß die Politik der nationalen Wiedergeburt, deren Ausfluß die Ende Juli erfolgte Moskauer Reise gewesen ist, sich

mit den Gesinnungen uitverlräglich erweisen werde, welche den Sohn be­ seelten, als er an jenem verhängnißvollen 13. März an der verstümmelten Leiche seines Vaters stand. Die Geschichte der Wandlungen, welche die Gesinnung Alexanders III. in den letzten 15 Jahren erfahren hat,

hängt aufs Innigste mit der

Entwickelung der russischen Politik und den Phasen der deutsch-russischen

Beziehungen zusammen.

Seine Vermählung mit der dänischen Prinzessin

(9. November 1866), zu einer Zeit, wo die Wunden, welche der deutsch­

dänische Krieg geschlagen hatte, noch kaum geheilt waren, die jugendliche

Empfindlichkeit des Thronfolgers

über die Machtentwicklung Preußens,

trieben diesen unwillkürlich in den Gedankenkreis der Panslavisten, deren

politische Ideale in so schroffem Gegensatz standen zu der preußenfreund­ lichen Politik Alexanders II. und zu dessen Abneigung gegen Frankreich.

Man weiß, daß während des deutsch-französischen Krieges Kaiser Alexander II. mit seiner Begeisterung für die wunderbaren Erfolge der deutschen Waffen

am russischen Hofe nahezu isolirt war und daß erst die Heldenthaten der Commune den heißblütigen, aufrichtigen aber bestimmbaren Thronfolger

zum Nachdenken über die Schattenseiten westlicher Cultur zwangen.

Man

weiß auch, daß die Kriegspartei, welche Kaiser Alexander II. in den Krieg

gegen die Türkei trieb, sich der Sympathien des Thronfolgers erfreute. Der Thronfolger selbst hat an dem Kriege thätigen Antheil genommen; aber er kehrte, tief erschüttert durch die Eindrücke des Feldzugs, nach

St. Petersburg zurück.

Was ihn damals noch mit den Panslavisten in

Verbindung hielt, war die gemeinsame Enttäuschung, die gemeinsame Ent­

rüstung über die angebliche Treulosigkeit deö deutschen Bundesgenossen,

der auf dem Berliner Congreß das Seinige gethan hatte, den Jgnatiew'schen Frieden von St. Stefano zu zerreißen und das übermüthige Wort

von dem

„Schwimmen Bismarcks im Kielwasser der russischen Politik"

Lügen zu strafen.

Die officiellen Vertreter Rußlands auf dem Berliner

Congreß, Fürst Gortschakow und Graf Schuwalow setzten ihre Unterschrift

Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkuuft in Danzig.

415

unter den Vertrag vom 13. Juli 1878, die russische Nation aber knirschte mit den Zähnen.

Nichts hat zu dem tieferen Eindringen des nihilistischen

Giftes in daS Blut deS russischen Volkes mehr beigetragen, als die Auf­

regung über die Nachgiebigkeit, mit der die Regierung sich dem Macht­ spruche deS im Congreß versammelten Europa'S fügte.

Die Hoffnungen,

mit denen die Massen die Armee auf dem Marsche nach Constantinopel begleiteten,

hatten die unmittelbarste Beziehung

auf die innere Politik.

Der Sieg der russischen Waffen, so calculirte man,

werde

den Einfluß

der Partei, welche den Kaiser ganz gegen seine ursprünglichen Absichten

und im Widerspruch mit den wiederholt abgegebenen Erklärungen zum Kriege gezwungen habe, auch nach dem Kriege befestigen; eine Niederlage

aber den Kaiser zwingen, im Innern Zugeständniffe zu machen.

Auf alle

Fälle also würde eS einen Besiegten gegeben haben: entweder die Türkei und damit auch Europa oder die selbstherrscherliche Gewalt deS Zaren. Die Ablösung deS Friedens von San Stefano durch den Vertrag von Berlin wirkte um so mehr wie eine Verhöhnung der Hoffnungen des Volkes, als ohnehin

der Verzicht auf den Einmarsch der russischen Armee in Constantinopel als ein unbegreiflicher erschienen war.

Die moralische Schwächung der

Regierung Alexander'S II., einmal durch seine Nachgiebigkeit gegen die

Kriegspartei und dann durch das Preisgeben der Ergebnisse deS Krieges auf dem Berliner Congreß, hat nicht am wenigsten zu der Kräftigung

der revolutionären Bewegung beigetragen, deren letzte Ausläufer die Blut­ that am Katharinen-Canal hervorriefen.

Der Berliner Vertrag

den Bestrebungen der Panflavisten eine neue Richtung gegeben. rend die Regierung sich immer noch mit der Hoffnung trug,

hatte

Wäh­

die harten

Friedensbedingungen bei der Ausführung deS Vertrages zu mildern, die

Zweitheilung Bulgariens rückgängig zu machen und Oesterreich an der Besetzung Bosniens zu verhindern, wühlten die Panflavisten gegen Deutsch­

land.

Die Hoffnungen, welche

Frankreich setzte,

scheinen bei

der Thronfolger auch damals noch auf

einem Besuch, den derselbe im Sommer

1879 in Paris abstattete, den antipathischen Eindrücken erlegen zu sein,

welche

er

den republikanischen Institutionen und

Personen

verdankte.

Vielleicht hat auch der Thronfolger damals die Ueberzeugung gewonnen, welcher eine geheime Denkschrift auS dem Jahre 1864 in folgender Weise

Ausdruck gab.

„Nach dem Krimkriege schienen die Zeitverhältnisse einer

ernsthaften Annäherung dieser beiden Länder günstig zu sein, welche mehr

durch theoretische Mißverständnisse und durch von beiden Seiten begangene

Fehler als durch ihre wirklichen Interessen von einander getrennt gewesen waren; und doch hat auch dieser Versuch lediglich dazu geführt, daß der

Ausbruch eines neuen Zusammenstoßes vertagt wurde.

Die sich hieraus

Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunst in Danzig.

416

ergebenden

können.

Schlußfolgerungen

werden kaum einem Zweifel unterliegen

Gerade weil diese Versuche zu einer Annäherung höchst ernsthaft

gemeint waren, werden sie als unwidersprechliche Beweise dafür angesehen werden müssen, daß die politischen Tendenzen beider Länder schlechterdings in Einklang zu bringen sind.

nicht

Polen ist nur die Gelegenheit zu

dieser Differenz gewesen; der eigentliche Grund lag tiefer.

Er ist darin

zu suchen, daß die französische Natur von einem beständigen Verlangen nach gewaltsamen Umwälzungen heimgesucht wird, während die russische Nation

vor Allem Ruhe verlangt.

Mit Frankreich werden wir uns voraussichtlich

erst verständigen, wenn wir das Bedürfniß fühlen sollten, in Europa das

Unterste nach Oben zu kehren; aber auch dann wird das auf unsere Un­ kosten geschehen."

Auf alle Fälle kehrte der Thronfolger damals mit der Ueberzeugung

nach Rußland zurück, daß mit dem republikanischen Frankreich die Allianzen, deren

sein Land unter allen Umständen bedürfe, nicht zu finden sein

würden. In dem Maße, in dem die Erkältung der Beziehungen zwischen Berlin

und

St. Petersburg hervortrat,

Deutschland und Oesterreich

gewannen

an Intensität.

die

Beziehungen zwischen

Der Abschluß des deutsch­

österreichischen Bündnisses im Herbst 1879 und die Entrüstung des Thron­ folgers über diese Wendung der deutschen Politik gaben dem PanslaviSmus noch einmal eine Handhabe, den Thronfolger in der Abneigung gegen die

officielle Politik zu befestigen. Inzwischen war die Vermählung der Prinzessin Thyra, der jüngeren

Schwester der Gemahlin deö Thronfolgers mit dem Herzog von Cumber­ land (1878) erfolgt, die zunächst die Spannung zwischen dem dänischen und dem deutschen Hofe noch zu verstärken schien und deren Anknüpfung

den Anstoß zu der deutsch-österreichischen Convention vom 11. October 1878 wegen Aufhebung des Artikels V. des Prager Friedens (der nordschleswigschen Klausel) gegeben hat.

Aber ein Besuch, den der König und die

Königin von Dänemark im Spätherbst 1879 in Wien — der Herzog von Cumberland hat bekanntlich seinen Wohnsitz in Oesterreich — abstatteten,

führte auf der Rückreise nach Berlin, und bei diesem Anlaß erfolgte eine Aussöhnung zwischen den beiden Höfen, welche in der Folge auch für die

russischen Verhältnisse bedeutsam werden sollte.

Für den Augenblick freilich

steigerte diese Wandlung nur die Entfremdung, welche den Thronfolger von den ihm am nächsten Stehenden trennte und ihn anscheinend wenig­ stens ganz in die Arme der Panslavisten trieb.

Erst an der Leiche des

schmachvoll hingemordeten Vaters verflüchtigte sich dieser Schein, um dem

peinigenden Gefühle darüber Raum zu geben, daß der Vater in inner-

Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunst in Danzig.

sicher Entfremdung von ihm geschieden.

417

ES ist begreiflich, daß gerade in

diesem Augenblicke die Kundgebungen deS treuesten Freundes deS BaterS,

des Kaisers Wilhelm, auf den Gramerfüllten einen tiefen, unverlöfchlichen Eindruck machten.

am Abend des 13. März richtete der junge

Noch

Kaiser ein langes Schreiben an den Großoheim, in welchem er rückhaltlos

in die Hinterlassenschaft seines BaterS, in die Freundschaft mit Deutsch­

land eintrat.

Man weiß, daß das erste Rundschreiben deS Herrn v. GierS

den Entschluß deS Kaisers ankündigte, auf dem Gebiet der auswärtigen Politik Enthaltung zu üben.

Es hatte indessen den Anschein, als ob die

Rathgeber deS Zaren den Irrthum nährten,

daß die Freundschaft mit

Deutschland nicht unvereinbar sei mit einer russischen Politik, welche, indem sie die centrifugalen Elemente Oesterreichs anzog, das deutsch-österreichische

Bündniß illusorisch machte.

Unter diesen Umständen war eS eine Illusion

zu glauben, daß eS möglich sei, den Grafen Jgnatieff zu dem leitenden

Minister auf dem Gebiet der innern Politik zu machen, ohne daß dadurch

die auswärtigen Beziehungen tangirt würden.

Die Krisis, auf welche der

König von Dänemark wiederholt hingewiesen hatte, konnte nicht auSbleiben; sie trat aber erst ein, als dem Kaiser die Beweise geliefert wurden,

daß der russische Rubel an gewissen Vorgängen in Rumänien und Un­ garn einen großen Antheil hatte, und als dann Kaiser Wilhelm die be­ stimmte Mittheilung

nach Peterhof

gelangen ließ, das Bündniß mit

Oesterreich-Ungarn sei für Deutschland die Basis seiner Politik; dieselbe könne nur durch Oesterreich selbst verschoben werden, wenn dasselbe die

gemeinsamen Interessen verflüchtige und den Elementen, mit denen das

Bündniß geschlossen,

fremde Elemente unterschiebe,

die die Jnteressen-

Gemeinschaft mit Deutschland ihrer innersten Natur nach verleugnen würden.

Die Folge dieses entscheidenden Schrittes war der Entschluß deS Zaren „DaS Begrüßungstelegramm", so meldete Kaiser

zur Reise nach Danzig.

Alexander, unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Peterhof, dem Kaiser von

Oesterreich, „welches Du so freundlich warst, mir bei Gelegenheit meines

Geburtsfestes zu senden, hat mich sehr gerührt und ich danke Dir dafür

von ganzem Herzen."

Der Dank war um so bedeutungsvoller, als, wie

eine Vergleichung der Daten ergiebt, das Begrüßungstelegramm des Kai­

sers von Oesterreich sechs volle Monate unbeantwortet „Ich habe mich sehr glücklich geschätzt",

geblieben war.

schloß Kaiser Alexander,

„den

Kaiser Wilhelm wiederzusehen, den verehrten Freund, mit dem uns gemeinsame Bande der innigsten Zuneigung verbinden."

Worte

enthalten

die

unbedingte

Anerkennung

schen Allianz seitens deS Kaisers Alexander.

richtete Herr von GierS

der

„Kaiser Wilhelm, so be­

am 15. September dem

Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLV111. Heft 4.

Diese schlichten

deutsch-österreichi­

österreichischen Sot» 30

schafter

am

russischen

Hofe,

Grafen

Kalnockh,

(in

habe

Danzig)

auch die so befriedigende Aeußerung unseres aüergnädigsten Herrn (des Kaisers von Oesterreich) in Gastein an Kaiser Alexander mitgetheilt und hinzugefügt, daß er darin mit Freude eine Bestätigung der ihm bekannten

freundlichen Gefühle Sr. k. und k. apostolischen Majestät gefunden habe." Die Begegnung

der Kaiser von Deutschland und Oesterreich in Gastein

hat schon Anfang August stattgefunden; die Zusammenkunft in Danzig

bekanntlich

erst

am 9. September.

Die Botschaft des

Kaisers

Fran;

Joseph war also nur für den Kaiser Alexander bestimmt, der in Danzig zum Besuche des Alliirten erschien.

Wie schwer dem Kaiser von Rußland

die Reise nach Danzig geworden ist, verräth die denkwürdige Wendung

deS Berichts des Grafen Kalnockh:

„Kaiser Alexander ist

mit den er­

höhten Gefühlen der Beruhigung und inneren Zufriedenheit zurückgekehrt. Namentlich hat die Weisheit und nnerwartete Mäßigung der Sprache

deS Fürsten BiSmarck sowohl auf den Zaren wie auf GierS einen guten Eindruck gemacht und sie darüber beruhigt, daß er (BiSmarck) nach keiner Richtung andere als friedliche Absichten verfolge."

Man kann diese Worte

nicht lesen, ohne den Eindruck zu haben, wie der Seemann, der plötzlich

wird, daß das Schiff glücklich eine gefährliche Klippe passirt

gewahr

hat.

Die „unerwartete Mäßigung", welche Fürst Bismarck an den Tag

legte, äußerte sich darin, daß der deutsche Reichskanzler von Ignatjew,

den Panslavisten und dem Verhältniß zu Oesterreich auch nicht ein Wort sagte.

Kaiser Alexander soll sofort nach der Unterredung mit dem Fürsten

Bismarck sein freudiges Erstaunen über dieses Verhalten ausgesprochen und noch von Danzig aus die Anweisung nach Peterhof haben gelangen lassen, daß die Dankbarkeit gegen Deutschland zur unverbrüchlichen Norm

werden müsse und daß Niemand ungestraft dagegen sündigen dürfe.

„Herr

v. GierS sagt", so berichtet Graf Kalnockh, „daß die bedeutungsvollste Seite der Danziger Reise darin liege, daß der Zar dadurch vor ganz Ruß­

land seinen Willen, eine conservative und friedfertige Politik zu verfolgen, in unzweideutiger Weise kund gegeben habe."

Graf Ignatjew und seine

Freunde werden sich demnach entschließen müssen, die Hand zur Durch­

führung dieser Politik zu bieten oder —.

Zu der langen Reihe von

Mißerfolgen, welche die diplomatische Carriöre des Grafen Ignatjew kenn­

zeichnen,

fügt diese Wendung

einen neuen und vielleicht den größten,

der auch dann nicht wett gemacht werden würde, wenn der jetzige Mi­

nister des Innern nach einiger Zeit an die Spitze eines russischen Ca-

btnets nach europäischem Muster treten sollte, in dem freilich der Minister des Auswärtigen immer eine Sonderstellung

behalten würde.

Kaiser

Alexander hat mit den Consequenzen des PanslaviSmuS auf dem Gebiete

der auswärtigen Beziehungen gebrochen; warten wir aber,

ob Graf

Ignatjew der Monk des PanslaviSmuS fein will. Die Probe auf die Bedeutung der Danziger Zusammenkunft hat somit Gladstone mit dem großen Projecl der Theilung des Orients ge­

welches daS letzte Ziel der im Frühjahr 1880 mit solcher Be­

macht,

geisterung inscenirten Politik der vollen Durchführung der Stipulationen deS Berliner Vertrags mit chnifcher Offenheit enthüllt: das Ziel der Zer-

stönmg der Türkei.

Dieses Mal aber hat England, wie es scheint, keinen

Auf Frankreich kann der interessirte Beschützer

Bundesgenossen gefunden. eines

selbstständigen Königreichs Egypten selbstverständlich nicht rechnen.

Italien, wenn seine Stimme überhaupt ins Gewicht fällt, hat schon daS

französisch-englische Condominat als eine Verletzung seiner Interessen be­ klagt.

Die Antwort Oesterreichs auf das Angebot des City-Blatteö Hai

wohl am unzweideutigsten und, wie anerkannt werden muß, am schlagfertigsten

daS officiöse „Fremdenblatt" formulirt.

„Den Conjecturen der „Times"

über die zukünftige Gestaltung deS Orients fehlen, um ernst genommen zu werden, viele wichtige Voraussetzungen, während es unzweifelhaft ist,

daß Oesterreich-Ungarn

nicht die geringste Lust verspürt, daS reiche Ge­

schenk, welches ihm geboten wird, anzunehmen.

Die Interessen unserer

Monarchie fordern wahrlich nicht, daß Griechenland uns einen Theil seiner

Selbstständigkeit opfert.

Oesterreich-Ungarn will weder Griechenland an-

nectiren, noch kann eS daran denken, über suzeräne Staaten zu herrschen. Sein Augenmerk muß vielmehr darauf gerichtet sein, sich das Vertrauen und die Sympathien der

selbstständigen Balkan-Staaten zu erwerben.

DaS ist auch in der That die Politik des Baron Haymerle, und daß

dieselbe

von Erfolg begleitet ist, zeigt die süßsaure Freundlichkeit der

Engländer nicht minder wie der leidenschaftliche Zorn, womit neuerdings

wieder die panslavistischen Blätter von dem wachsenden Einfluß Oester­ reich-Ungarns sprechen." sollte,

Daß Oesterreich, wenn es wirklich geneigt sein

auf die Londoner Ideen einzugehen,

Gefahr laufen würde, die

Wahrheit deS Sprichwortes: qui trop embrasse, mal ötreint am eigenen Leibe zu erfahren, und daß eS durch ein Bündniß mit dem welterobernden PanslaviSmuS gegen die Türkei sich

könnte, liegt auf der Hand. Berliner CongresseS

ging

leicht zwischen zwei Stühle setzen

Die ganze Tendenz der Abmachungen deS

offenkundig dahin,

die Stellung Oesterreichs

auf der Balkan-Halbinsel so zu stärken, daß der österreichische Einfluß und daS Interesse Oesterreichs eine feste Vormauer gegen panslavistische Ge­ lüste bilden können und in diesem Sinne hat auch das England Lord

BeaconSfield'S den Berliner Vertrag

unterzeichnet.

Daß

die russische

Presse eS vermied, bei der Erörterung der Vorschläge der „Times" auf

420

Die Probe aus die Bedeutung der Kaiserzusammenkunst in Danzig.

diese Seite der Frage einzugehcn, ist begreiflich genug; die Abweisung

der Gladstone'schen Versuchung war darum nicht weniger peremptorisch. „Soweit

es sich um den gegenwärtigen Zeitpunkt handelt, schrieb das

„Journal de St. PeterSbourg", können wir uns als einfache Zuschauer

dieser Bewerbung gegenüber stellen, welche durch das Pronunciamento

der Offiziere in Cairo hervorgerufen ist. laubt sein, dem

City-Organ zu

bemerken,

weder eine ausschließlich englische noch

Indessen dürfte eS doch er­

daß der Besitz Egyptens

selbst englisch-französische Frage

ist und sein kann und daß diese Frage viel zu eng mit dem gesammten

Status quo im Orient verknüpft

ist,

als daß eine Regierung daran

denken könnte, dieser Frage aus eigener Autorität zn präjudiciren.

Die

Presse kann allerdings mit solchen Phantasien um sich werfen, dieselben

existiren aber nicht für die Regierungen.

Die Cabinette sind umso­

weniger geneigt, die Verkettung der verschiedenen Probleme, aus denen sich die Situation im Orient zusammensetzt, außer Augen zu lassen, als

noch die Erfahrung der letzten Jahre ihnen die Wahrheit deS Sprich­ worts in'S Gedächtniß zurückruft:

discordia maximae dilabuntur“.

„Concordia res parvae crescunt, Diese russische Antwort wahrt zugleich

den Standpunkt, den Deutschland vor zwei Jahren

in der egyptischen

Frage — damals in gleicher Linie mit den französischen Interessen — eingenommen hat.

Und was

an der ersten Erklärung des Organs der

russischen Reichskanzlei noch dunkel sein konnte, klärte eine zweite in be­

friedigendster Weise auf:

„Indem wir unS", sagte daS Journal, „an die

officiell bekannt gegebenen Erklärungen von Staatsmännern halten, glauben wir, daß die Aufrechterhaltung des Status quo im Orient und

des Friedens in der Welt deren wahres und alleiniges Bestreben ist, und daß, wenn bezüglich EgyptenS oder anderweit Schwierigkeiten entstehen

sollten, man dieselben durch das Einvernehmen der Mächte und nicht durch

Abenteuerlichkeiten lösen würde von der Art, wie solche neulich die „Times"

predigte."

Natürlich ließ auch die Pforte nicht auf eine Zurückweisung

der englischen Auffassung warten, als ob die Regelung der egyptischen Frage unter Umgehung des Souzeräns des Khedive erfolgen könne.

Mit

einer sonst in Constantinopel seltenen Schnelligkeit des Entschlusses ent­ sandte der Sultan zwei Commissare nach Egypten, deren Mission an­ geblich die sein sollte, dem Khedive zur Seite zu stehen.

Indirekt kommt

dieser AuSgang deö Vorspiels zu der egyptischen Frage der Politik Frank­

reichs zu Gute, die begreiflicher Weise nicht geneigt ist, dem Nebenbuhler

daS Feld allein zu überlassen. Und doch ist Englands letzte Hoffnung gerade

Frankreich, nicht das Frankreich Grävy's und Barthelemy St. Hilaire'S, sondern daS Frankreich Gambetta'S, der ungeduldig den Zusammentritt

Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig.

421

der neuen Kammer abwartet, um mit Hülfe der neuen Majorität die Zügel der Regierung in die Hand zu nehmen. Und Gambetta steht in der Orientpolittk, wenigstens insoweit eS sich um die Vernichtung der Türkei handelt, in vollem Einklänge mit Gladstone. Um so erfreulicher

ist eS, daß die Probe auf die Tragweite der Danziger Zusammenkunft gemacht worden ist, ehe die Karten zu dem gefährlichen Spiel gemischt wurden, bei dem der Friede Europa'S den Einsatz bildet. «.

Notizen. Der ehemalige italienische Minister Minghetti hat ein Buch über Staat und Kirche publicirt*), welches indirect ein interessantes Zeugniß über die Natur auch unseres deutschen „Culturkampfes" ablegt.

Werke die Trennung von Kirche und Staat.

Minghetti fordert in seinem

Nichtsdestoweniger glaubt er, daß

der Staat, auch wenn er sich sonst um alles Kirchliche so gut wie garnicht

kümmere, doch verpflichtet sein werde, von allen Geistlichen in ihrer Eigenschaft als öffentlicher Lehrer ein Examen über ihre allgemeine Bildung zu verlangen. Er verweist dabei auf das preußische von Falk eingeführte Examen. Examen dreht sich,

Um dieses

wie wir wissen, bei uns der ganze Culturkampf.

Der

Staat will sich überzeugen, daß nur Leute von genügender allgemeiner Bildung

eine so wichtige Stelle in der Volkserziehung und im Volksleben einnehmen. Die katholische Kirche will ihm, obgleich alles Kirchliche und Theologische von

jenem Examen ausgeschlossen ist, doch eine solche Controlle ihrer Anstellungen

nicht zugestehen.

Alle anderen Maßregeln auf dem kirchenpolitischen Gebiet sind

nur Consequenzen des über jene Frage entstandenen Kampfes. man den Unterschied.

Nun beachte

Die katholische Kirche hat genossen und genießt noch

heute in Preußen seitens deS StaateS sehr große Vorzüge.

Sie hat einen

großen Einfluß im öffentlichen Unterricht; ihre Einrichtungen, Festtage, Gottes­ häuser werden respectirt und geschützt; ihre Geistlichen haben das Ansehen öffent­

licher Beamter; ihre Anstalten erhalten bedeutende materielle Unterstützungen.

Dafür verlangt der Staat als Gegenleistung unter Anderem auch das Examen. Bei Minghetti sollen alle jene moralischen und materiellen Vortheile, die der

Staat bisher der Kirche zugwendet hat, wegfallen.

Dennoch aber, aus der

bloßen Natur der Sache heraus, glaubt Minghetti dem Staat das Recht und

die Pflicht zu jenem Examen zusprechen zu können.

Wenn man fragt, wer trägt

in Preußen die Schuld an dem mit solcher Erbitterung geführten Kampf, ist es wirklich wahr, daß der Staat die Kirche angegriffen hat, so wird man dieses Zeugniß eines katholischen Ministers, eines katholischen StaateS immerhin an­

führen dürfen. Was Minghettis Thesis von der Trennung von Staat und Kirche selbst

betrifft, so ist es ja wohl möglich, daß wir, wenigstens bezüglich der katholischen

*) Kürzlich auch in deutscher Uebersetzung erschienen. „Staat und Kirche". Von Mario Minghetti. Autorisirte Uebersetzung aus dem Italienischen nach der zweiten durchgesehenen Auflage. Gotha, Perthes, 1881.

423

Notizen.

Kirche, einmal dahin gelangen.

Aber man möge sich von vornherein klar machen,

daß das nicht eine Milderung, sondern eine Verschärfung der bisher gegen die

Kirche bei unS getroffenen Maßregeln bedeutet.

dieser Frage ist dasjenige der Jugenderziehung.

Das entscheidende Gebiet in Dieselbe ist bislang noch basirt

auf eine religiöse Grundanschauung, die der ganzen Erziehung zum Fundament dient.

An Stelle dessen würde die Religion in Zukunft nur ein UnterrichtS-

gegenstand sein, nicht anders wie Geographie oder Rechnen; noch dazu ein

Gegenstand, der nicht von der allgemeinen Schulpflicht getroffen, häufig nicht von dem regelmäßigen Lehrer selbst ertheilt wird.

nebenher,

Die Erziehung,

die ein organisches Ganze bilden soll, wäre dadurch in zwei Theile gerissen und

der Autorität und Stellung der katholischen Geistlichkeit in Deutschland damit die wichtigste Stütze entrissen.

D.

Verantwortlicher Redacteur:

H. v. Treitschke.

Druck und Verlag von O. Reimer in Berlin.

Karl Wilhelm Nitzsch. Bon

Richard Rosenmund.

in. In der Vorrede zu seiner Geschichte der rheinischen Pfalz (1845) kommt Häußer auf die Klage zurück, die man so oft vernehme, daß eS an einer tüchtigen Bearbeitung unserer deutschen Geschichte mangle.

Er

fügt dem hinzu, daß aber selten von den Klägern erwogen werde, welche

übergroßen Schwierigkeiten einer Verwirklichung dieses Wunsches entgegen­

stehn, und indem er meint, daß die Zett einer deutschen Geschichte „in hellen und großen Umrissen, frei von störender Mannigfaltigkeit" noch

etwas in der Ferne liegen möchte, weist er auch auf den Hauptgrund für diese seine Anschauung hin, daß nämlich erst das provinzielle Leben der

deutschen Nation geschichtlich auSgebeutet werden müsse,

schichte der Nation geschrieben werden könne.

bevor die Ge­

Diesen letzteren so treffenden

Gedanken wird niemand antasten, der mit der Eigenart unseres Landes, mit derjenigen seiner Bewohner und der aus beidem entspringenden Eigenart

unserer Geschichte vertraut ist.

Und selbst wer spöttelnd auf einen Scott'S

Antiquarh auf deutscher Erde herabsieht und sich von allem provinziellen

Selbstgefühl frei weiß, der dürfte doch gegen die Richtigkeit jenes Satzes nichts einzuwenden haben.

Aber Häußer hätte die Bemerkung gleich an­

fügen können, daß wir erfreulicher Weife auf dem besten Wege zur Aus­ beutung dieser provinziellen Geschichte seien.

Ueberall in Deutschland

regte es sich für die Erforschung der Vergangenheit; Alterthums- und

Geschichtsvereine bildeten sich in reicher Zahl, die Theilnahme weiterer

Kreise an diesen Zwecken war eine lebhafte, und für die wissenschaftlichen Ziele fanden sich über Erwarten tüchtige Kräfte.

Unter den Gesellschaften

nun, die für den Zweck der Erkenntniß ihrer heimathlichen Vergangenheit

so thätig waren, war eine der regsamsten die zu Schleswig-Holstein mit

dem Mittelpunkte Kiel.

1833 war dieser Geschichtsverein als „Schleswig-

Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVJ1L Heft 5.

31

Karl Wilhelm Nitzsch.

426

Holstein-Lauenburgische Gesellschaft für vaterländische Geschichte" gebildet. Die politischen Zustände der Herzogthümer wiesen immer aufS neue zur historischen Erforschung der staatlichen Rechte derselben hin, in allen Be­

völkerungkreisen lebte daS Interesse an der Geschichte des engeren Vater­

landes, Kiel selbst, aber auch andere Orte der Lande beherbergten genug intelligente Persönlichkeiten, die den wissenschaftlichen Aufgaben historischer

Forschung gewachsen waren.

Der Boden für einen Geschichtsverein war

also durchaus in den Herzogthümern vorhanden.

In NielS Nikolaus

Falck fand der Verein einen durch feine Persönlichkeit wie seine Kennt­

nisse gleich sehr für einen solchen Posten befähigten Präsidenten, seit der

Uebersiedlung von Georg Waitz nach Kiel an diesem einen ganz vorzüg­

lichen Mitarbeiter; Müllenhoff, Ratgen u. a. betheiligten sich lebhaft an den Vereinspublikationen; die Mitgliederzahl wuchs und die literarische Production gedieh nach außen und innen.

Als Vereinszeitschrift erschien

daS „Archiv für StaatS- und Kirchengeschichte (1833 ff.)", das in den

„Nordalbingifchen Studien" (1844 ff.) und danach in den „Jahrbüchern für Landeskunde der Herzogthümer Schleswig-Holstein (1856 ff.) feine

Fortsetzung sand.

Daneben gingen die Urkundeneditionen her und zwar

so schnell und so umfassend, daß kaum ein anderer Verein im Verdienst um die Veröffentlichung urkundlicher Denkmäler damals diesem Verein an die Seite treten konnte.

(etwa 1847)

So kam es, daß diese Ge­

sellschaft prosperirte und sogar die Unruhen der Jahre 1848—1852 über­ dauerte.

Riefen diese Zeitverhältnisse auch manchen aus den Rethen des

Vereins und schien er dem Sturm der politischen Verwicklungen zu erliegen,

so war gerade doch manches, was diese Zeit herbeibrachte, dazu angethan,

den Verein mit frischem Leben z»l erfüllen.

Während der Wandlungen der

Politik der Großmächte und nach denselben galt eS in den Herzogthümern nicht blos in der kriegerischen und diplomatischen Arena die Einheit der

Lande zu erhalten, nein eS mußte für diese Einheit auch bereits die Ge­ schichtswissenschaft eintreten.

Die Kieler Historiker mußten gegen eine als

wissenschaftlich sich geberdende Auffassung ihrer Landesgeschichte auftreten, die darin gipfelte, daß für Schleswig-Holstein keine historische staatliche

Einheit sich nachweisen taffe, daß „Schleswig-Holstein" ein neugemachter Name ohne staatliche Bedeutung sei, der in der That nur eine Partei in

Holstein und Südschleswig bezeichne.

Und wenn diese Ansicht nun nicht

allein in dänischen Schriften oder doch in denen dänischer Parteigänger, wie etwa in dem Buche des Kieler Professor Zimmermann „Ueber daS wahre Rechtsverhältniß der Herzogthümer Schleswig und Holstein" (1854)

sich ausgesprochen fand, sondern bereits von deutschen Gelehrten wieder­ holt wurde, wie denn Johann Friedrich Böhmer sie in der Vorrede seiner

staufischen Regesten accepttrte, und zwar nach der vorzüglichen Geschichte der Herzogthümer von Georg Waitz und trotz der daselbst in klarster

Uebersicht auf Grund streng kritischer Verarbeitung eines reichen Materials vorgeführten entgegenstehenden und vom jahrhundertlangen VolkSbewußt-

fein getragenen und gefestigten Auffassung über die alte Zusammenge­

hörigkeit der Lande Schleswig und Holstein, so galt eS, sie energisch zu bekämpfen, und so mußte das dem wissenschaftlichen Eifer für Erforschung

der eigenen LandeSgeschtchte einen neuen Antrieb und dem Vereine als dem Mittelpunkt solcher Bestrebungen neues Leben zuführen.

Man darf nun von dem Historiker, dem diese Blätter gewidmet sind, entschieden behaupten, daß seine schriftstellerischen Leistungen für die Ge­

schichte der Herzogthümer geradezu durch patriotischen Unwillen über jene

absichtliche Verdunklung der LandeSgeschtchte hervorgerufen sind. Zu Kiel war Nitzsch bereits 1845 Mitglied des historischen Vereins geworden.

Seine umfassenden Arbeiten aus dem Gebiet der römischen Ge­

schichte schlossen eine Betheiligung an den Vereinspublikationen allerdings zunächst aus.

Aber sein Interesse an der Sache war ein lebhaftes und

1850 finden wir ihn in der Ehrenstellung eines SecretärS der Gesellschaft,

welches Amt er lange Jahre vertreten hat.

Regelmäßige Beiträge für die

Zeitschrift der Gesellschaft lieferte er dann seit 1854.

Die Aufsätze zeigen

mannigfaltigen Inhalt. Er zeigte neuere Arbeiten zur Geschichte Christians IV. und Friedrichs III. von Dänemark an, dann behandelte er eine ganz lokale Aufgabe in dem Aufsatz:

Die Hufen des Amtes Bordesholm im dreißig­

jährigen Kriege.

folgten:

Dann

Das

Verhältniß

der

holsteinischen

Ethelinge deS 12. Jahrhunderts zu der Stellung des sächsischen Adels in der Lex Saxonum und im Sachsenspiegel (1856); das sächsische Heergewäte und

die holsteinisch-ditmarsische Bauernrüstung (1858);

schichte der ditmarsischen Geschlechterverfassung (1860).

die Ge­

ES ist eine Reihe

liebevoller Untersuchungen zur Heimathgeschichte und zunächst ganz in den Grenzen gehalten, die in der lokalen Beschränkung gezogen waren.

Sie

erfüllen dabei, was sie als lokale Forschungen zu leisten haben, sie sind

eingehend in topographischen Schilderungen, beachten auch das Geringste an Kunstdenkmälern, Bauwerken, erklären Orts- und Geschlechtsnamen,

kurz sie erschöpfen ganz daS Detail.

Und dann sind sie erfüllt von jener

Wärme der Betrachtung und jenem Ausdruck der Freude an der Sache,

die uns an solchen Studien über die HeimathSgeschichte deS Landes, dem

der Verfasser angehört, so anmuthen, weil wir gleiche Wärme erhalten und gleiche Freude empfinden, sobald wir der eignen Heimath in unseren Studien uns zuwenden.

Aber über diesen einzelnen so lokalisirten Be­

trachtungen schwebt ein Blick, der in weite Fernen zu dringen vermag,

31*

Karl Wilhelm Nitzsch.

428

und nirgends läßt Nitzsch verkennen, daß daS Besondere in den geschicht­

lichen Erscheinungen seines engeren Vaterlandes, so sehr eS ihn mit sicht­ licher Freude als Bereicherung seines Wissens von der Heimath erfüllt, sogleich wieder im. Vergleich mit ähnlichen Erscheinungen bei

andern

Völkern und in andern Zeiten oder im Vergleich mit ganz unähnlichen Entwicklungen anderer aber in Abstammung nahe stehender und in der Zeit nahe gerückter Völker zur Förderung seiner allgemeinen Geschichts­

anschauung dienen muß.

Seine Betrachtung deS holsteinischen Adels leitet

hinüber zu dem Adel jenseit der Elbe, seine Untersuchung über die Ge­ schlechterverfassung der Ditmarsen gar weit hinein in die antike Welt zur römischen Gentilität.

Und dieses Hinübergreifen in der Betrachtung auf weitere Gebiete

der allgemeinen Geschichte bei aller Wahrung der speciellen Aufgabe hatte nun für den weiteren Entwicklungsgang der wissenschaftlichen Interessen

unseres Historikers die wichtige Folge, daß er eingehend seine Studien der älteren deutschen Geschichte zuwandte. ES war einer seiner frühesten Aufsätze zur schleswig-holsteinschen Geschichte, den er zugleich mit dem

Bewußtsein schrieb,

damit für die allgemeine deutsche Verfassungöge-

geschichte einen werthvollen Beitrag zu liefern.

In der Kieler Monats­

schrift (1854) erschien von Nitzsch nach einer Untersuchung zur römischen

Geschichte:

„Q. Fabius Piclor über die ersten Jahre deS hannibalischen

Krieges" jener Aufsatz:

„Der holsteinische Adel im 12. Jahrhundert.

Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte".

Ein

ES war hiebei gerade An­

laß zur Untersuchung der patriotische Unwille gegen Entstellungen der

schleSwig-holsteinschen Geschichte gewesen, wie es bereits oben behauptet. Gegenüber jener schon erwähnten Ansicht deS Professor Zimmerman über die Nichtzusammengehörigkeit der Herzogthümer als Staatsverband legte

sich Nitzsch die Frage vor nach der bloßen Möglichkeit einer so bodenlosen

Verkennung der ganzen

geschichtlichen Vergangenheit

im

Angesicht der

reichhaltigen Untersuchungen und der Fülle historischen Materials, welche

im

verflossenen halben Jahrhundert zu Tage gefördert war.

ES er­

schien als einzige Möglichkeit die, daß eben die wissenschaftliche Grund­

lage der staatlichen Entwicklung der Herzogthümer im 15. und 16. Jahr­ hundert verkannt war.

Aber die Stellung dieses Adels, der sich noch im

18. Jahrhundert als Vertretung

eines Landes einer Landesherrschaft

gegenüber fühlte, zu verkennen war doch ein absichtliches Jgnoriren dessen,

was die historische Ueberlieferung an Nachrichten brachte.

Zweifelhaft,

weil darin die Quellen lückenhaft, konnte manch einzelne Strecke in der

Politik dieses Adels erscheinen; von dem Verkehr der großen Familien .unter sich berichteten die Geschichtschreiber wenig.

Auch wie der Adel

zu dieser leitenden Stellung innerhalb der Herzogthümer emporgekommen, war nicht ganz klar; und so war eS also gegenüber jenen falschen Auf­

fassungen von der Geschichte der Herzogthümer nur nöthig auf die staats­

rechtliche Stellung des eingesessenen Adels in den früheren Jahrhunderten hinzuweisen, um damit die ganze Unhaltbarkeit jener Meinung nachzu-

wetsen, für die Anfänge dieses Adels aber war manches geschichtlich noch aufzuhellen.

Im Verlauf der hiezu angestellten Untersuchung ergaben sich nun als eigenthümliche Resultate die, daß der holsteinische Adel in der ersten Hälfte deS

12. Jahrhunderts noch aus freien Bauern bestand, die zur Vertheidigung der Landesgrenze verpflichtet waren; daß dieser Bauern- und Grenzadel Theil­

nahme an Landesgericht hatte, daß eine erbliche LandeSältestenwürde vor­ handen und daß von einer mächtigen Grafengewalt keine Spur nachweisbar.

Und diese Resultate waren zugleich überraschend, wenn man die Zustände jenseit der Elbe damit verglich, die mächtige Grafengewalt dort, die em­

Nitzsch warf nun die Frage auf: ist dieser

porstrebenden Ministerialen.

Zustand, der in den Gauen Holstein und Ditmarsen sich fand, so ent­

standen in der Zeit der Verlassenheit, im Drange der Verhältniffe, oder sind diese Institute Reste einer älteren Verfaflung, die einst vor den Tagen

der Zerrüttung der sächsischen Verhältnisse dem ganzen sächsischen Stamm gemeinsam waren?

Damit aber war er tief hineingerathen in die dun­

keln und verschlungenen Pfade unserer deutschen Verfassungsgeschichte im 10. und 11. Jahrhundert.

Und als er den Nachweis lieferte, daß diese

in Ditmarsen und Holstein vorhandenen Zustände ursächsisch seien und

ursprünglich allen Sachsen gemeinsam, da hatte er allerdings einen hoch­ wichtigen Beitrag zu der allgemeinen deutschen VerfassungSgeschtchte ge­ liefert, der uns so manche Nachricht deS Lambert und Bruno, aber ebenso noch manche Angabe späterer Chronisten erhellte und auf die Sonder­

stellung der sächsischen Stammesgeschichte sein Licht warf.

Und wie er

dann nun verfolgte, weshalb südlich der Elbe die BerfassungSzustände so ganz andere geworden, stand er mitten in dem schwierigsten Problem der nachkarolingischen Verfassung.

Die Umbildung der alten ständischen Verhältnisse zu erforschen darf eben unzweifelhaft als eine solche Aufgabe bezeichnet werden sowohl was

die Dinge, um die eS sich handelt, anbetrifft, als auch in Hinsicht auf die

Art des Quellenmatertals.

Zugleich ist eS eines der wichtigsten Kapitel

unserer politischen Geschichte; wer eine deutliche und lebendige Vorstel­ lung über diese Ständeumbildung in uns zu erwecken wüßte, der würde

im besten Sinne unS über die politische Geschichte des 10. und 11. Jahr­ hunderts belehren.

In dem Gange der historischen Literatur über die

Karl Wilhelm Nitzsch.

430

VerfafsungSgeschichte lag eS sodann, daß Nitzsch diesen UmbildungSproceß

unseres Volkes unter dem GesichtSpunktte der Frage nach Entstehung deS deutschen BürgerthumS verfolgte.

In demselben Jahre 1854 nämlich veröffentlichte Arnold seine BerfassungSgeschtchte der deutschen Freistädte im Anschluß an die Verfassungs­ geschichte der Stadt WormS; K. Hegel schrieb anknüpfend an diese Schrift

und recensirend einen Aufsatz:

Zur Geschichte der deutschen Städtever­

Letzterer Aufsatz erschien in derselben Kieler Monatsschrift (1854),

fassung.

in welcher Nitzsch seinen Aufsatz über den holsteinischen Adel veröffentlicht

hatte.

Die Ansichten Arnolds wichen vollständig von dem ab, was seit

Eichhorn im Allgemeinen, bis auf die bereits allseitig verworfene An­ nahme von den Ueberresten einer römischen Municipalverfassung, über den Ursprung der deutschen Städte, die Entwicklung des BürgerthumS daselbst und die Entstehung

schauung

galt.

Hegel hielt

des

Sradtraths als wissenschaftliche An­

jenen Resultaten Arnolds

gegenüber an

den wesentlichen Sätzen Eichhorns über den Charakter des StadtrechteS

und über das Emporkommen eines Rathes fest.

Seine Geschichte der

italienischen Städteverfassung hatte ihm einen wohlverdienten Ruf erworben, der Anhang seines Buches, in dem er bereits seine Ansichten über die

deutsche Städteverfassung aussprach, hatte ihn als Kenner auch des für diese Frage nach dem Ursprung der deutschen Städteverfassung einschlä­ gigen Materials gezeigt, der Aufsatz gegen Arnold bewies die Vertraut­

heit mit der Sache von neuem, die ganze Art des Angriffs war siegesgewiß, kein Wunder, daß Hegels negative Kritik Anerkennung fand.

Auch

enthält der Aufsatz mancherlei, was ihm einen Werth bis heute verleiht.

Ich rechne dahin die geschickte Gruppirung der Fragen unter vier Haupt­ punkte, nach denen wir immer werden an diese Städtegeschichten heran­ treten müssen, die eingehende Besprechung einer Reihe Urkunden, die Er­ läuterungen zu Burchards Stadtrecht und Friedrichs II. Gesetzgebung. Auch war es doch eben nicht leicht, sogleich im Detail etwaige Irr­

thümer Hegels zu erkennen.

Aber Hegel fügte seinen Ausführungen einige

allgemeiner gehaltene Bemerkungen hinzu, und unter diesen war manche, die doch in wetteren Kreisen der Historiker Anstoß erregen mußte; eS

waren eben Behauptungen, die Dinge betrafen, über die sich sicherlich viele

ein Urtheil gebildet hatten und gebildet haben konnten, ohne daß sie Spe­ cialkenner der Städtegeschichte zu sein brauchten.

So führte Hegel aus,

wie bescheiden die Stellung der deutschen Städte für die allgemeine Welt­ geschichte sei, wenn man damit die italienische Städtegeschichte vergleiche. Und darum, so schloß er weiter, verdiene auch die Frage nach den ita­

lienischen Städteverfassungen

in einem besondern Werke als Thema für

sich behandelt zu werden, nicht aber lasse sich eine gleiche Nothwendigkeit selbständiger Behandlung für diese Entwicklung der deutschen Städte nach­

weisen, eS genüge da, wenn in einer deutschen Verfassungsgeschichte unter

den

vielen anderen Kapiteln so nebenbei auch das von den deutschen

Städteverfassungen geschrieben werde. Man kann diese Auffassung von der geringen Bedeutung der deuffchen

Städte für die politische Geschichte begreifen, wenn man erwägt, daß der,

welcher so schrieb, seiner Herkunft nach ein Schwabe, seinem Geburtsort nach ein Matnftanke war.

Und sicher schwebte Hegel, als er dieses schrieb,

das Bild seiner Vaterstadt Nürnberg vor.

Die ehrwürdigen Ueberreste

des geschichtlichen Lebens, die hier den Beschauer empfangen, führen den Gedankengang unwillkürlich auf die Zeiten zurück, in denen dieser Ort ein

Centrum des europäischen Binnenhandels geworden und zugleich als wie­ derholter Sitz der Reichstage, bei vielfachem Verkehr des Kaisers und der Fürsten in seinen Mauern,

gleichsam zu der Ehre einer Retchsresidenz,

die mit Wien und Brüssel in die Schranken trat, Der

alte Theil des Rathhauses,

emporgestiegen

war.

die Kirchen und die Erdgeschosse der

alten Häuser erzählen allerdings von einer Blüthe der Stadt im 14. Jahr­

hundert, aber jenes durch seinen Handel reiche, durch seinen Verkehr weit­ schauende, im Glanz des Hofes wie der Reichstage lebensfrohe, kunstsinnige

Bürgerthum, das

den Talenten eines Adam Krafft, eines Veit Stoß,

eines Peter Vischer Gelegenheit zur Entfaltung bot, jene geistig beweg­

liche, witzige, phantasievolle Bevölkerung, die allein die Entwicklung eines

Talentes

wie das Albrecht Dürers möglich machte,

wunderlicher Mischung

jene Menschen voll

ehrbarer Zucht und Ueppigkeit, voll Freude an

NarrenSpossem und voll Andacht für lutherische Predigten, voll Empfäng­

lichkeit für Witz wie voll nachhaltigen Interesses gegenüber der gelehrten Richtung deS Humanismus, unter denen sich die Eigenart eines Hans Sachs herausbildete, kurz die Repräsentanten der Größe und Blüthe

Nürnbergs und diese Größe und Blüthe selbst, wir suchen sie am Ausgang deS 15. und im Verlauf des 16. Jahrhunderts, und da sehen wir die reiche

Entfaltung bürgerlichen Lebens

allerdings ohne politische Machtstellung.

Aber anders als dies Bild der süddeutschen Binnenstadt, die zugleich die Eigenart dieser Städte überhaupt repräsentirt, ist daS Bild der norddeutschen

Seestädte,

und anders urtheilt darum der deutsche Küstenbewohner über

die geschichtliche Bedeutung dieser Städte.

auf das

13. und 14. Jahrhundert zurück.

Er geht da in der Erinnerung

Es sind die Zeiten großer

kriegerischer Unternehmungen gegen die nordischen Reiche, eö sind Zeiten, wo diese Städte im Auslande ihre Bürger zu schützen wissen, wo sie dem

Auslande Gesetze geben, und wo sie mehr noch als durch die Waffen des

Krieges durch die deS Friedens erringen, durch Colonisation sich in den

Osten hineinschie-en und

Bürger,

zugleich durch die überlegene Tüchtigkeit ihrer

die in Skandinavien und Polen Handel und Gewerbe leiten,

jene Uebermacht in diesen Reichen erringen, daß sie daselbst die Entwick­ lung eines eignen BürgerthumS für lange Zeit hemmen oder ganz ver­

hindern.

Und bei diesem Bilde ist es unmöglich, die große geschichtliche

Leistung dieser Städte und der deutschen Städte überhaupt zu negiren. Nitzsch war nun durch und durch Norddeutscher.

Er war sogar, was die

Geschichte der Stadt betraf, die wohl am meisten in ihrer Vergangenheit das Eigenartige dieser nordischen Städteentwicklung offenbart, und die zu­

gleich am vollständigsten die stummen Zeugen dieser Vergangenheit in ihren Bauwerken und Kunstdenkmälern bis auf den heutigen Tag bewahrt hat,

durchaus ein competenter Kenner.

Lübecks Chroniken erzählten am meisten

von Holsteins Vergangenheit, eine große Zahl auf Holsteins Geschichte be­

züglicher Urkunden beherbergte das Archiv Lübecks, Helmolds und Arnolds Chroniken berichteten von dieser Stadt,

ihre Kämpfe mit Dänemark

waren stets folgenreich für Schleswig-Holstein,

es war natürlich,

daß

der Erforscher der eignen Heimatgeschichte, der Kenner des Helmold, recht vertraut geworden war mit dieser Stadtgeschichte.

Ebenso natürlich war

aber auch, daß er mit Hegels oben dargelegter und als so allgemeingültig hingestellter Anschauung sich in Widerspruch befand.

Und wenn er nun

als die allerdings nicht ganz deutlich gegebene Begründung dieses Ur­

theils fand, daß die geringe geschichtliche Stellung der deutschen Städte

in der Abgeschlossenheit des Bürgerthums gegen Fürsten und Adel zu

suchen sei, wohingegen die italienischen Communen Fürsten, hohen Adel und Ritter in ihren Kreis hineinzogen, wenn er sah, wie damit gleichsam

einem rein bürgerlichen Gemeinwesen die Fähigkeit großer politischer Lei­ stungen abgesprochen wurde, so widersprach auch dies seiner ganzen wissen­

schaftlichen Ueberzeugung, und zwar am meisten in dieser Verallgemeine­ rung, die nicht blos das negirte, was Nitzsch unmittelbar in der Geschichte

Lübecks von den politischen Thaten eines einfachen BürgerthumS vor sich sah, sondern was ihm an der Hand der römischen Geschichte zur Maxime

über die schöpferische Kraft eines

einfachen

Gemeinwesens

geworden.

Verschieden allerdings war das römische Bürgerthum von dem der Stadt Lübeck, verschieden die Welt,

in die eS hineintrat, verschieden die wirth-

schaftliche Thätigkeit, verschieden der kriegerische Dienst, verschieden die po­

litischen Ziele, verschieden die Art, an die Dinge heranzutreten; aber ge­ meinsam war, daß beide, das römische und das Bürgerthum der nord­ deutschen Seestädte, aus sich heraus die Pläne ihrer Politik, die Maß­

nahmen ihrer kriegerischen Organisation, die Ordnung ihrer inneren Ver-

hältnisse schufen. So lebhaft wie Nitzsch diese Ueberzeugung hatte, so lebhaft

empfand er darum den Widerspruch gegen die andre Art der Betrachtung

diese- Theiles der deutschen Geschichte. — Nun liegt es aber in dem Wahrheitötrieb wirklicher Forschernaturen, da wo sie sich mit ihrer wissenschaft­ lichen Ueberzeugung in Confltkt mit einer anderen ebenfalls streng wissen­

schaftlich vorgetragenen Anschauung wissen, der Sache näher zu treten, um über den Conflict zur definitiven Erkenntniß zu kommen, und so bekomm,

wie bereits oben gesagt, die Studien von Nitzsch zur deutschen Verfassungs­ geschichte jene Richtung auf die deutsche Städtegeschichte.

Ein genaueres

Betrachten des Buches von Arnold und des Aufsatzes von Hegel zeigten,

daß eine wesentliche Lücke nach der Seite noch war, die die Frage be­ trachtete, welche Stände im deutschen Bürgerthum verschmolzen seien; und die Studien über die Ethelinge Sachsens, die Ministerialen Süddeutschlands,

jene unklaren Ausdrücke Lamberts

über die Bevölkerung, die in Köln

gegen den Bischof rebellirt, alles dieses wirkte zusammen, um dann jene

Studien zur deutschen Städtegeschichte speciell auf die Frage nach Ursprung

des deutschen BürgerthumS hinzulenken.

Das Material, welches für eine

solche Untersuchung vorhanden, war nun ziemlich vollkommen publicirt. Be­

merkenswerth aber mußte dem, der an eine solche Arbeit ging, erscheinen, wie gering bei den Geschichtschreibern unseres Volkes im 10., 11. und 12. Jahr­

hundert die Nachrichten waren, die sich für eine solche Betrachtung ver­ wenden ließen.

Er sah sich angewiesen auf königliche und private Ur­

kunden, auf Stadtrechte, die aber erst mit dem 11. Jahrhundert auftreten,

und auf noch viel spätere Weisthümer andrer Art.

Zum großen Theil

waren alle diese Quellen in den Werken von Eichhorn, Gaupp, Fürth,

Roth u. s. w. herangezogen, und neuerdings hatten eben Hegel und Ar­

nold auf ihnen ihre divergirenden Meinungen aufgebaut.

Dabei trat zu

Tage, daß eben bei diesem Stand der Quellen je nach der Art der Be­

trachtung verschiedene Behauptungen zu Tage treten, hie und da bei Heranziehn einer neuen Quelle Berichtigungen eintreten konnten, ohne daß

die neue Anschauung darum mehr bewiesen wäre.

Ferner aber ergab sich

bei Bekanntschaft mit dem Material und mit den auf diesen fußenden Ansichten, daß der Sprachgebrauch der Quellen in den Bezeichnungen von

Beamten- und Ständeklassen, von Rechts- und Abhängigkeitsverhältnissen

in sich und untereinander ein so schwankender sei, daß ein einfaches Sam­ meln von Nachrichten, die sich an dieselbe Bezeichnung wie etwa Burg­

graf knüpften, zu nichts führe, weder zur Erhellung einer dunkeln Stelle, noch zur Veranschaulichung

der Sache selbst.

Es

galt deshalb für die

Kritik erst die Methode zu finden. Das Operiren mit der Analogie nun war

Nitzsch geläufig, und Hegel hatte noch ausdrücklich darauf hingewiesen, wie

sich durch Erkenntniß solch normaler Entwicklungen wie der flandrischen Städteverhältnisse das Mittel biete, dunkle Fragen der deutschen Städte­

verfassungen zu erhellen, und er hatte sich mit Leichtigkeit über alle Schwie­ rigkeiten des ältesten Kölner WeiSthums durch Anwenden dieser Analogie

hinweggeholfen.

Nitzsch hatte aber bereits die feste Methode, Analogien

erst da Heranzuziehn, wo die analogen Verhältnisse sonst bewiesen, und

indem

er nun die bauliche Anlage flandrischer Städte mit derjenigen

deutscher Städte verglich, fand er gerade in dem Burg- und Städtebau hier und dort so große Verschiedenheiten, daß

er glaubte die Ana­

logie der flandrischen Städte für Fragen der deutschen Städte-Verhält« nisse zurückweisen zu müssen. schränkt.

So blieb er auf die Quellen allein be­

Verfolgte er nun, wie diese benutzt waren, so fand er, daß man

für Aufklärung der Verhältnisse des 10. und 11. Jahrhunderts zusammen­ zustellen beliebte, was sich aus Nachrichten der Karolingerzeit mit solchen

des 11. Jahrhunderts combiniren ließ.

Es war somit dieselbe Methode,

die Nitzsch, freilich auf anderm Gebiet und anderm Quellenmaterial, an

den modernen Forschungen zur römischen Geschichte bekämpft hatte, wo er, wie oben ausgeführt (Seite 341), zur Erklärung der Institute der mittleren Republik die dürftigen Nachrichten, die über diese selbst gleichzeitig vor­

handen, betrachtet wissen wollte und nicht blos das gelten lassen wollte, waS sich zwischen den Nachrichten früherer und späterer Geschichtschreiber einschieben ließ.

Daß diese Methode auch hier bei den Forschungen zur

deutschen Städtegeschichte nicht zulässig sei, darüber war ihm namentlich nach

Einsicht in den sprachlichen Charakter seines Materials ebenfalls kein Zweifel,

und so wurde denn seine Methode wesentlich die, daß er unter Ausscheidung der Analogie außerdeutscher Städteverhältnisse und jener Combination verschtedner zeitlich bedeutend getrennter Nachrichten zu einer These, wenn diese Nachrichten auch nur in einem technischen Ausdrucke übereinstimmen, sich

zweierlei zll lösen bemühte, einmal festzustellen, was in jedem einzelnen Falle die zur Bezeichnung bestimmter Beamten, Ständeklassen, Rechtsverhält­

nisse u. s. w. angewendeten Ausdrücke wie Burggraf, Schöffen, Ministerialen bedeute, dann aber was etwa trotz verschiedner Bedeutung in den charakteristi­ schen Merkmalen der Sache gemeinsam sei.

es möglich zu sichern Resultaten zu kommen.

der Methode

Erst bei dieser Methode schien Aber um diese zwei Punkte

erfüllen zu können, waren Hülfsmittel der Betrachtung

nöthig, und solche glaubte er darin zu finden, wenn er stets lebendig sich vergegenwärtige, unter welchen Wandlungen der politischen Zustände der deutschen Lande sich diese Ausbildung des Bürgerthums vollzogen, zugleich

aber auch, welches die natürlichen Verhältnisse waren, auö denen eine

solche städtische Gemeinde sich entwickeln konnte.

An der Hand dieser Methode ging er an die Aufgabe, die ihm vor­ lag.

Und als Resultat dieser umfassenden Betrachtung unserer politischen

Geschichte vom 10. bis 13. Jahrhundert und unserer deutschen wirth-

schaftlichen Verhältnisse in demselben Zeitraum,

als Ergebniß seiner

Methode, daS Urkundenmatertal, die Quellenschriften und WeiSthümer für unsere Städtegeschichte zu durchforschen,

beachtenSwertheS Buch:

liegt uns nun vor sein so

Ministerialität und Bürgerthum

im 11. und

12. Jahrhundert (1859). Die Vorgeschichte dieses BucheS ist gleichsam auch seine Kritik, nur

wer diese Vorgeschichte kennt,

eigentlich krttisiren, und die beiden

kann

wichtigsten Recensionen dieses Buches, die von Hegel und Waitz, sind für

diese Behauptung die denkbar klarsten Beweise.

Aber ich muß doch auch

von der Stellung der Kritik zu diesem Buche ausführlicher sprechen. Denn

die Geschichte dieser Kritik ist ein wichtiges Kapitel zur Kenntniß der

wissenschaftlichen Würdigung unseres Historikers.

Das Werk von Nitzsch

ist nun durchaus Forschung, nirgend Darstellung, und diese Forschung ist

entsprechend dem Charakter des Materials und demjenigen der Aufgabe, die zu lösen war, wie auch aus Gründen der mit Bewußtsein angewandten

Methode, von der bereits vorhin gesprochen ist, eine in unendlich viele Einzelbetrachtungen zerstückelte; dabei ist der daS Ganze zusammenhaltende

Faden deS Gedankenganges ein so gewundner, daß eine Wiedergabe dieser

Betrachtungen in Form einer Inhaltsangabe ganz ausgeschlossen ist.

ES

genügt auch für daS Verständniß der weiteren Betrachtungen, die wir an diese» hervorragende Werk zu knüpfen haben, wenn einige der Hauptmo­

mente deS Ergebnisses fixirt werden. Die

älteren

Städte

unseres Vaterlandes,

so

behauptet

Nitzsch,

haben sich aus der Btllenverwaltung des fränkischen Reiches entwickelt. Auf einer solchen Villa entstand eine Hofgemeinde unter einem könig­

liche» Burggrafen,

einem

Stift-

oder Klostervogt.

Bisweilen lagen

mehrere solcher Hofgemeinden unmittelbar zusammen, und in den Bischofstädten war eS immer der Fall.

Neben der um die bischöfliche Pfalz sich

entwickelnden Hofgemeinde bildete sich eine solche um die königliche Pfalz,

daneben wohl auch noch eine solche auf klösterlichem Territorium.

Die

Einwohner der so gebildeten Stadtgemeinde sind als Hörige oder in nie­ derer Dienstbarkeit von ihren Herren abhängig, letztere dienstbaren Ein-

wohuer bilden mit denen, die zum unmittelbaren HauS- und Hofdtenst der Herren gehören, die große Klasse der Ministerialen.

Hoftecht, dem

Das verschiedene

die Einwohner dieser so geschiedenen aber räumlich zu­

sammenhängenden und sich durchdringenden Gemeinden unterstellt sind, führt zu sehr verwickelten Zuständen, und eS liegt in der Natur der Sache,

daß hier in den Bischofstädten der Bischof darnach trachtet, den Vorstehern der andern Hofgemeinden gegenüber eine höhere autoritative Stellung zu

erlangen.

Das gelingt und allmälig wird der Bischof Stadtherr, ob er

nun die volle Grafengewalt oder eine beschränkte erlangt habe. Inzwischen aber wächst die Stadt, aus der Umgebung ziehen ihr Leute zu, sei es,

daß sie sich mit ihrem Eigen dem Stadtherren übergeben, dessen Schutz sie für einen Zins und für Verzichtleistung auf die Vollfreiheit erhalten, oder sei es, daß sie für die Zwecke des Handels die Ansiedlung ebenfalls gegen eine Abgabe flichen.

Es wird dann für den steigenden Verkehr und

namentlich für die Bedürfnisse eines Großhandels der alte Markt in der

alten Stadtumfriedung, obgleich die Mauer um die Burg nicht bloß zu Zwecken der Vertheidigung aufgeführt war, zu eng, und so entsteht neben

der Altstadt die Vorstadt, die Neustadt.

Ursprünglich gehen die Einwohner

dieser Nellstadt bei dem öffentlichen Beamten des Reiches zu Gericht, dann

stellen sich aber bei den Beziehungen zur Allstadt wieder Unzuträglichkeiten heraus, der Stadtherr sucht sich auch hier zum obersten Herren zu machen

und eS gelingt, auch die Neustadt kommt unter die bischöfliche Gerichts­ barkeit.

Zur Verwaltung dieses so aus Altstadt und Neustadt gebildeten

Gemeinwesens ist mit dem Bischof ein auS Geistlichen und Ministerialen

bestehender großer Rath thätig, nicht eigentlich eine organisirte und in ihrem Competenzkreis geordnete Behörde, sondern gleich den RathSversammlungen des Königs eine losere Vereinigung hervorragender Personen

zu gemeinsamem Handeln.

Nun macht aber indeß die Ministerialität eine

Entwicklung durch, die zur vollen Trennung jener im unmittelbaren HauS-

und Hofdienst und der im eigentlich städtischen Dienste verwendeten Ele­ mente führte.

Jene als Begleiter ihrer Herren zu Hof- und Heerfahrten

mußten für die Möglichkeit solcher Dienstleistnngen mit Beneficien auSgestattet werden, ihre wesentlich kriegerische Thätigkeit in ritterlichen Waffen

verschaffte ihnen auch ritterliche Ehre.

auch

außerhalb der Stadt,

Ihre Interessen lagen aber nun

mindestens

gingen sie über diese hinaus.

Anders war es mit den Ministerialen, die als Gewerbetreibende, als Vor­ steher der Handwerker, als Münzmeister,

als Aufseher der hofrechtlichen

Leistungen der Hörigen, als Erheber deS Zinses und der Abgaben, als Zolleinnehmer u. f. w. in dem Rahmen des städtischen Haushaltes und

Verkehres ihre Beschäftigung und auch ihre Interessensphäre hatten, sie blieben, was sie waren, eine niedere städtische Ministerialität der „Offi-

cialeS"

schlechthin im Gegensatz zu

„Officiales Curiae".

jener höheren Ministerialität der

Aber blieb nun die ständische Stellung dieser niederen

Dienstmannschaft unverändert, so wuchs ihr Selbstgefühl doch, sie erkannten ihre Leistungen für den Stadthaushalt und für den Stadtherren und bei

dem steigenden Ertrag ihrer Verwaltung ihre Bedeutung für den bischöf­

lichen Hofhalt und zugleich, wie die Reichsverfassung einmal war, und

wie sie sich in der Politik der Salier und der Staufer fühlbar machte, auch diejenige ihrer Thätigkeit für die Reichslasten, und in dem Moment,

wo diese städtischen Ministerialen die Erkenntniß ihrer Stellung und die­ jenige ihrer Interessen gegenüber den von den Stadtherren und seinen

ritterlichen Ministerialen beliebten Plänen erfaßt, beginnen sie sich von dem Herrn und seinen OfficialeS Curiae zu trennen, setzen daS Ausscheiden

eine- engeren kleinen Rathes zur Handhabung und Leitung der städtischen

Angelegenheiten auS dem städtischen großen Rathe durch und bilden hierin jenen Stadtrath,

den wir überall in deutschen Städten im 12. und

13. Jahrhundert finden.

Dieser Stadtrath

ergänzt sich selbständig und

nur auS den „OfficialeS", die Mitglieder der höheren Ministerialttät sind

allenfalls in verschwindender Minorität zugelassen und diese zum Rath be­ rechtigten Geschlechter der „OfficialeS" sind der Ursprung der bevorzugten

Rathsgeschlechter der Patrizier. So ist daher der Ursprung dieser Geschlechter

in der Dienstbarkeit und derjenige der deutschen Städteverfassung über­ haupt im Hofrecht zu suchen.

liegenden Untersuchung

Hält man von diesen Ergebnissen der vor­

nun das fest,

Städten, Ursprung, Entwicklung,

daß nach Nitzsch

alles in den

Ausbildung der Verfassung aus dem

Hofrecht unmittelbar hervorgegangen, so ist der Gegensatz evident, in den seine Resultate mit aller bisherigen Ansicht über den Ursprung des deut­ schen BürgerthumS und der Städteverfassungen traten.

Die Borsteher­

schaften der Reste einer freien Gemeinde, wie sie Eichhorn in den gegen

den Stadtherren sich

erhebenden

bürgerlichen

Elementen

glaubte, finden in der Auffassung von Nitzsch keinen Platz,

zu

erkennen

ebensowenig

wie jene steten Grundeigenthümer, die nach Arnolds Ansicht unter einem die Befugnisse der alten öffentlichen Beamten fortsetzenden bischöflichen

Vogt fortexistirten; denn nirgends

ist nach Nitzsch von den Ueberresten

einer vollfreien Gemeinde eine Spur zu finden.

Und es war nicht dieser Umsturz der bisherigen Anschauungen von den Ueberresten einer vollfreien Bevölkerung in den Städten, was so sehr

Aufsehn erregte, als vielmehr das Ergebniß, welches hier über die Ge­ schichte des Ministerialenstandes geboten wurde, und wie die Betheiligung

dieses Standes an der Entwicklung der Städte- von den einfachsten Ver­

hältnissen einer Domänenverwaltung bis zur Ausbildung eines selbstän­ digen BürgerthumS vorgeführt wurde.

Nun ist und war die Ministerialenfrage eine überaus verwickelte. Wenn der Verfasser deS Sachsenspiegels es ablehnt, von dem Recht der Dienstleute zu handeln, da eS so mannigfaltig sei, daß niemand zu Ende

kommen könne, denn unter jedem Bischof,

Abt und Aebttssin hätten die

Dienstleute sonderliches Recht, so wird uns die Schwierigkeit über die

Entwicklung dieses Standes Licht zu erhalten und gar zusammenfassend das Gemeinsame und Charakteristische in seiner Umbildung erkennen zu

wollen, deutlich vorgeführt, soweit es die Verhältnisse selbst betrifft. Aber die Ueberlieferung über diese Verhältnisse leistet durch das Schwanken der

Ausdrücke zur Bezeichnung der rechtlichen, persönlichen, ständischen Ver­ hältnisse der Ministerialen ein weiteres, um die Sache verwickelt und fast unlösbar zu machen.

Und damit war begründet, daß, wenn das vorlie­

gende Werk lebhaft die Kritik durch seine Gesammtergebnisse herausfor­

derte,

diese

Kritik sicherlich Anhaltepunkte zu Angriffen

im Einzelnen

finden mußte. Die Kritik trat nun ein, lebhafter als es der Verfasser vielleicht ge­ dacht, polemischer alS eS für die Sache gut war, ablehnender als das

Werk eS verdiente, und leider einseitiger als es das Interesse der Wissen­

schaft erforderte.

ES ist nun wohl klar, aber es mag erlaubt sein, diesem

Gedanken Ausdruck zu geben, der

fast als Gemeinplatz zu erscheinen

fürchten muß, daß unzweifelhaft die Kritik einem Werke wie dem vorlie­ genden gegenüber zweierlei zu erfüllen hatte, die Beurtheilung aus dem

Material und dann die aus der Methode heraus, die der Verfasser an­ gewandt hatte.

Das Eine bringt Berichtigungen im Einzelresultat, daS

Andre mehr Beurtheilung in den Gesammtergebnissen, und beides zusammen

berechtigt erst eine definitive Stellungnahme.

Und eS hat den Anschein,

daß die Kritik im vorliegenden Fall auch beide Seiten deS Buches beachtet habe.

Waitz

brachte Berichtigungen im Einzelnen an der Hand eines

reicheren Materials, und

zugleich äußerte er sich anerkennend über die

Methode des Verfassers.

Hegel widersprach an der Hand deS Materials

in einzelnen Hauptpunkten,

dann aber verwarf er daS ganze Gefammt-

ergebniß, weil er ausdrücklich die Methode als verfehlte verwerfen müsse.

Nun liegt auf der Hand, daß Waitz dem Verfasser auf daS Gebiet von dessen Methode nicht folgen wollte, weil seine innerlich geschlossne Ansicht

über die Ziele und letzten Grenzen kritischer Forschung ihn hinderte, über

diese Grenzen hinaus mit einer andern Methode zu operiren.

Er ver­

warf nicht die Methode an und für sich, er hatte vielmehr deutliche Ein­

sicht davon, waS damit fein jüngerer ehemaliger Kieler Kollege für die

römische und holsteinische Geschichte fruchtbares geleistet. bleibt bestehn,

Aber daS Faktum

über eine höfliche Anerkennung der Eigenart von Nitzsch

ging der große Kenner unserer deutschen Verfassungsgeschichte nicht heraus.

In Hegels Recension dagegen erkennt man deutlich, daß er auf die Me­ thode von Nitzsch überhaupt nicht einging, weil die letzten oder ersten Ge-

danken derselben, jene innere Kritik an den Dingen selbst, jene lebendige

Intuition von den Einflüssen geographischer Verhältnisse auf wirthschaft-

liche Entwicklungen und jene positive Anschauung von der Abhängigkeit poli­ tischer Institute gerade von wirthschaftlichen Prozessen, sich seiner Einsicht entzogen.

Man darf daher wohl die Kritik, die daS Buch über Mtniste-

rialität und Bürgerthum erfuhr, eine einseitige nennen.

Und daS ist zu

bedauern, denn in den Augen der jüngeren Fachgenossen erschien sie zu­

gleich völlig ablehnend. der Methode von Nitzsch

nehme

und in

Jene reservirte Stellung von Waitz gegenüber mußte den Jüngeren eben nur als eine vor­

Weise

verbindlichster

gehaltene

Ablehnung

erscheinen.

Und deutete schon Hegel mit keinem Worte an, daß er von der wissen­ schaftlichen Eigenart von Nitzsch mehr wisse, als was sich in diesem Buche selbst offenbarte, so lag eS den jüngeren Mitgliedern der Göttinger histo­ rischen Schule erst recht fern, sich an andern Arbeiten von Nitzsch auf dem

Gebiet der alten Geschichte daS Mittel des VerstLndniffeS und den Maß­ stab der kritischen Beurtheilung

für dieses Werk zur deutschen Geschichte

zu holen.

Denn eS liegt doch eben in der Eigenart,

um

großen Meister der Wissenschaft, der eine streng durchdachte

einen

Methode auf einem bestimmten

wie sich allmälig

Gebiet dieser seiner Wissenschaft nach

einem festen und klar präcisirten Ziel hin zur Anwendung bringt, eine Schule bildet, daß die Schüler das Specialgebiet für die Wissenschaft

selbst, das mit weiser Einsicht im gegenwärtigen Moment fixirte Ziel als

das für alle Zeiten allerletzte Ziel der Forschung hinstellen, und die Me­

thode, die der Lehrer für seine Zwecke ausgebildet, als diejenige betrachten, die für alle Zwecke überhaupt anzuwenden sei.

Und je schwierigere An­

forderungen diese Richtung des Lehrers an die Arbeitskraft, den Scharf­ sinn, den Fleiß der Schüler stellt, je mehr sie den ganzen wissenschaftlichen

Eifer der Studienzeit absorbirt, je überraschender im Hinblick auf das vorgesteckte Ziel die gewonnenen Resultate sind, je genialer Meister und

Schüler eben ihre Methode handhaben, desto mehr wird sich eben jene Ein­

seitigkeit der Schule entwickeln.

Und zwar wird die Schule nicht einseitig,

wie man so allgemein hin sagt, weil das Wissen des Lehrers einseitig wäre, auch nicht einseitig in dem Sinne, daß nur eine Methode für die

Forschung angewendet wird, denn eS giebt für die bestimmten Ziele, die sich eine Schule steckt, nur eine Methode, sondern einseitig darin, daß die Anhänger der Schule die letzten Ziele ihrer Arbeiten auf einem enger

begrenzten Gebiet als die letzten Aufgaben ihrer Wissenschaft überhaupt ansahen.

Es mußten sich daher die jüngeren hervorragenden Historiker

schon ihrer ganzen Richtung nach dem passiven Verhalten

von Waitz

zuwenden, was die Methode des Werkes von Nitzsch anbetraf, und sie

Karl Wilhelm Nitzsch.

440

wandten sich in dem Urtheil über das Werk überhaupt darum dann den Ansichten Hegels zu.

Nun würde freilich weder Hegel sich so ablehnend gegen das Ganze verhalten haben, noch würden ihm die Mitglieder der hervorragendsten

historischen Schule in diesem Urtheil so unbedingt HeereSfolge geleistet haben,

wäre die Form des BucheS eine andere gewesen.

Die Form

ist eben unzweifelhaft Hauptgrund für den Mißerfolg auch dieses genialen Buches wie sie den wissenschaftlichen Erfolg des BucheS über die Gracchen

beeinträchtigte, und wir müssen darum auch bei ihr wieder ein wenig verweilen und um so mehr als hier der Formfehler noch ein andrer ist als dort.

Man macht tat Allgemeinen an Werke wissenschaftlichen Inhaltes, die

durch und durch sich als Forschung geben, nicht allzuviele Ansprüche in der Form. muß.

Man läßt eben gelten, daß die Form sich dem Stoffe unterordnen

Weder jene mosaikartigen Zusammenstellungen noch ganz systemlose

Vorführungen der Forschung schrecken uns Leser ab.

Aber eS gibt eben auch

hier eine Grenze. Ich erinnere an das bekannte Buch DanzelS über Lessing, eine Biographie ernsten wissenschaftlichen Gepräges, und über eine Persön­

lichkeit, die als Zunftgenossen doch auch dem pedantischen Gelehrten inter­ essant war, wie sie den Literaturkenner und den Literaturfreund anzog.

DaS Buch fand keine Leser.

Jürgen Bona Meyer meinte von seinen

Schulamtskandtdaten, die dieses Buch nicht kannten, es wäre ein Zeichen

der Interesselosigkeit für unsere deutsche Literatur, ich möchte dem wider­

sprechen und behaupten die Form, nur die Form war es, waS DanzelS Buch so wenige Freunde erwarb.

Und dieser Formmangel lag in dem

schreienden Widerspruch seiner schwerfälligen, geschraubten, unklaren Aus­ drucksweise zu den schriftstellerischen Aufgaben, die ihm gerade als Lessing­

biographen gestellt waren.

ES ist an dem Buche von Nitzsch ein ähnlicher

Fehler zu beobachten; eS tritt seine unklare, gewundene Ausdrucksweise in Widerspruch mit den Zielen lebendiger Veranschaulichung geschichtlicher

Dinge, die ihm vorschweben; waS er sagt, deckt nicht das was er sagen will; der Ausdruck des Gedankens steht in keinem Verhältniß zu der Klar­ heit deS Gedankens selbst, den er sich gebildet.

ES erweckt daS aber tat

Leser die Vorstellung, eS mit unklaren Auffassungen zu thun zu haben. Und dazu kommt, daß Nitzsch, wo er an der Hand seiner Methode von den Quellengeschichten sich bis zur lebendigen Intuition einer Sache durch­

gearbeitet, dann die breite Erörterung alles in Betracht kommenden Ma­

terials für überflüssig hält und eS bei Seite schiebt.

Dieses ruft leicht

den Verdacht wach, daß er mit den Beweisstellen nicht erschöpfend ver­ fahren.

Und beides, jene unklare Ausdrucksweise dort, dieser Verzicht

auf Quellenerörterungen breitester Art hier lenkten den Leser von dem

tieferen Eindringen in die Grundlagen des ganzen Werkes ab, und riefen indem die Leser nun sich gewissermaßen mit der Oberfläche der Sache

einer Fülle zerstreuter und zerstückelter Einzelforschungen abzugeben genSthigt sahen, daS absolute Mißbehagen hervor, das unS bei Studium einer verfehlten, weil unklaren und verwirrten Arbeit überschleicht.

Nun

toiffen wir freilich aus der Uebersicht, die wir über den wissenschaftlichen Entwicklungsgang des Gelehrten bieten konnten, daß er zu der Intuition über die wissenschaftlichen Dinge, auf denen er sein Urtheil wiederholt auf­ baute, völlig berechtigt war; daS Schlußkapttel der Gracchen, sein Aufsatz:

Ueber die

ersten Anfänge der neueren deutschen agrarischen Literatur

(Kieler Monatsschrift 1851) möge hier noch besonders erwähnt werden.

ES war nicht Vernachlässigung deS Quellenmaterials, sondern die Ansicht,

daß die Erörterung überflüssig sei, wenn er die breite Verarbeitung aller Quellenstellen bei Seite schob.

ES war auch nicht Unklarheit, weshalb

der Ausdruck so gewunden wurde.

Er scheute sich eben nur die Dinge,

die ihm lebendig vor Augen standen, einfach zu bezeichnen, weil er sich vor modernen Ausdrücken scheute, da er fürchtete, bei dem Leser durch daS

moderne Wort auch moderne Vorstellungen hervorzurufen.

Aber eS liegt

auch auf der Hand, daß wer nicht aus der Gesammtheit aller bisherigen

Leistungen heraus an die Beurtheilung des Buches über Ministerialität

und Bürgerthum heranzutreten vermochte, eben da Fehler finden mußte, wo sie nicht vorhanden waren.

Und so ist die Form des Buches vor

Allem Ursache seines Mißerfolges.

Sie hat Hegel abgehalten, tiefer in

das Werk einzudringen, sie ist der Grund, warum mancher der jüngeren

Forscher an eindringlicherem Studium des Werkes vorübergegangen ist.

Die Arbeiten zur Erkenntniß unserer deutschen Vergangenheit gingen indessen in den sechziger Jahren eifrig vorwärts.

Sie mußten sich oft

mit dem Material beschäftigen, daS Nitzsch verwerthet hatte, und so kam

manche Einzelheit deS Buches unter kritische Betrachtung. Ende der sechziger Jahre versuchte Heusler nochmals die Lösung der Frage nach dem Ur­

sprung der deutschen Stadtverfassung.

formalen Kritik.

Seine Methode war die der rein

Seine Arbeit aber ergab positive Resultate auch auf

diesem Wege, die Kritik, von der wir eben sprachen, hatte manche Unter­

suchung überflüssig gemacht, andererseits hatten Fortschritte einzelner histori­

scher Disciplinen ein besseres Operiren mit dem vorhandenen Material ermöglicht; ich erinnere an Sickels Diplomatik der Karolinger und wie

dadurch das Verständniß hochwichtiger Angaben in den Karolingerurkunden gefördert wurde.

Und als Heusler 1872 feine Untersuchungen veröffent­

lichte, konnte er erklären, daß seine Auffassung sich der von Nitzsch sehr Preußische Jahrbücher

Bd. XLVIII. Hefe

32

Karl Wilhelm Nitzsch.

442

nähere.

Und da zugleich HeuSler sich bemühte, überall das Verdienst­

liche der Arbeit dieses Gelehrten ins rechte Licht zu setzen,

so wurde

nun die Aufmerksamkeit auf das Werk eine lebhaftere, und als Nitzsch

selbst dann durch einen Aufsatz, der in diese Frage über den Charakter der

älteren deutschen Städte sehr einschlug, die eigentlichen Grlmdanschauungen die ihn schon 1859 geleitet, darlegte und deren Richtigkeit überzeugend

vorführte, gewann das Urtheil auch über seine Methode ein anderes An­

sehen, man wurde dem Gelehrten gerecht, seine Leistung für die deutsche Geschichte fand Lob, seine Methode Anerkennung, seine letzten Ziele Zu­ stimmung. — Der Aufsatz, der diese Wirkung errang, war der über die

oberrheinische Tiefebene und daS deutsche Reich im Mittelalter. Jahrb. 1872.

(Preuß.

Bd. 30.)

Früh war die oberrheinische Ebene mit Dörfern bedeckt worden, und

von alterSher fanden sich in diesen gesegneten Fluren Königssitze.

Uralt

ist da die Königspfalz zu WormS, der Sitz der burgundischen Könige in der Heldensage, und unter Karl dem Großen wiederholt Stätte wichtiger

Versammlungen und Ausgangspunkt großer Heerfahrten.

Es war eben

die überaus günstige Lage, was diese Gegend um WormS lange Zeit im

fränkischen Reiche zum Mittelpunkte der königlichen Hofverwaltungen in dem Fruchtland deS Oberrheins machte.

Aber gegen AuSgang des achten

Jahrhunderts traten die nördlicher gelegenen Königspfalzen zu Frankfurt

und zu Tribur mehr in den Vordergrund.

Der Main war nun nach

Unterwerfung der Sachsen die Berbindungsstraße für den friedlichen Ver­

kehr der alten Centren der königlichen Verwaltung am Oberrhein mit den neuen Bezirken geworden.

Daher mußten die Sitze der Centralverwaltung

in der Rheinebene sich nach Norden verschieben.

So blieb

eS unter

Ludwig dem Frommen, so unter Ludwig dem Deutschen und auch später­ hin, denn wenn diese Ebene von Basel bis Bingen die Kornkammer des

Ostreiches war, so waren diese beiden nördlich in seiner Ebene gelegenen Pfalzen die eigentlichen Knotenpunkte für Vermittlung der südwestlichen Ueberfülle nach Nordosten, sie waren die hervorragenden Etappen für die

Heeresversorgung, sie waren die Mittelpunkte für den Austausch der Ueberschüsse der einzelnen Hofverwaltungen

unter sich und die Märkte

für Abgabe der Gesammtüberschüsse dieser Verwaltungen in den Verkehr.

— Und vor allen lag Tribur für diese Zwecke außerordentlich bevorzugt.

Die bequeme lange Wasserstraße des Rheins eignete sich zum Transport

großer Gütermassen und führte ihm dieselben auf der Thalfahrt zu.

Von

der Rheinfähre bei Mainz wie derjenigen bei Oppenheim nahm der Weg

nach Frankfurt seine Richtung über Tribur.

Wasierreiche Wiesenstrecken

gaben letzterem außerdem von zwei Seiten militärische Deckung.

Es war

daher durchaus geeignet, eine Centralstelle für den wirthschastltchen leb­

haften Verkehr und ein fester Stützpunkt politischer Unternehmungen zu

werden, wie eS dieser Ort denn auch factisch geworden und zwei und ein halbe- Jahrhundert geblieben ist.

Da muß aber, so meint Nitzsch, eS

Wunder nehmen, daß dieser in Allem so bevorzugte Mittelpunkt wirth-

schaftlichen Lebens während der langen Zeit von mehr denn zwei Jahr­ hunderten nicht den geringsten Ansatz zu einer städtischen Entwicklung ge­ macht hat.

An der Thatsache selbst ist nicht zu rütteln, und so ist sie ihm

ein Beweis, daß sich in dieser oberrheinischen Ebene lange die einfachsten wrrthschaftlichen Zustände erhalten haben.

Und wenn eine solche hervor­

ragende Pfalz Jahrhunderte lang den Charakter einer Domäne bewahrt

hat und wenn ihre Verwaltung ganz die einer einfachen GutSwirthschast geblieben ist, dann, so schloß Nitzsch weiter, dürfen wir solche Verhältnisse

auch als die grundlegenden für andere Mittelpunkte des Verkehrs am

Oberrhein zu Bafel, Straßburg, WormS annehmen, und sehen wir uns daselbst die alten Stadtrechte in der Weise nun an, daß wir ihrem for­

mellen Inhalt diesen realen Untergrund leihen,

wie es die vorliegende

Betrachtung erlaubt, so paßt in ihnen alles überraschend auf Zustände, tote wir sie auf einer königlichen Domäne finden.

Auf des Bischofs Hof

sind Hörige ansässig, die für den Herrnhof frohnden, in der Bestellung

der Felder und auch in den Leistungen des Handwerks, unter Aussicht und

Leitung von Ministerialen des Stadtherrn.

So sind diese ältesten Städte

„durchaus Sitze einer ackerbauenden Bevölkerung von Grundbesitzern".

Mit dieser glücklichen Ausführung

einer tiefen Beobachtung

gab

Nitzsch nun deutlich und klar, und erfreulicherweise in einer freieren Form bekannt, welches denn die seinem Buche über Ministerialität und Bürger­ thum zu Grunde liegende reale Anschauung unserer wirthschastltchen Ver­

gangenheit in der ersten Hälfte des Mittelalters gewesen.

Und eS lag

eben so klar die Richtigkeit dieser Anschauung vor Augen, namentlich wenn

man seinen ganzen Aufsatz genau verfolgte, wo sich noch mancher andere Beweis für diese Anschauung fand.

Daher erlangte Nitzsch für diese Dar­

legung lebhafte Anerkennung, und der vorzüglichste Vertreter jener histori­ schen Richtung, die vornehmlich daS wirthschaftliche und gewerbliche Leben der Vergangenheit zu erkennen sich bemühte, war zugleich der, welcher Nitzsch

daS meiste Lob spendete. Und seitdem eben Schmöller sein Urtheil über diesen

Aufsatz wie über daS Buch von „Ministerialität und Bürgerthum" dahin auSsprach, daß seines Erachtens Nitzsch unter allen Gelehrten sich allein ein

klares Bild des ganzen wirthschaftlichen Entwicklungsprozesses im Mittelalter gemacht habe, bekam das Verhältniß der gelehrten Fachgenossen zu der ge­ nialen Arbeit von Nitzsch einen andern Charakter.

Man überwand die 32*

Karl Wilhelm Nitzsch.

444

Form, man suchte die eigentlichen Beweise seiner Untersuchung nochmals auf, und trotzdem die formale Kritik mit großer Bestimmtheit seinen Ergebnissen

manche Grundlage entzogen, manche Worterklärung anders gab, manches Einzelresultat definitiv umstieß, — ich erinnere an die Fragen über das

Kölner Weisthum von

der Rigirzegheide,

an

die Interpretation des

Jmmunitätsbegriffs, an die Hypothese über das Burggrafenamt und an­

deres, — so näherte man sich in den wichtigsten Ergebnissen, denen über die

Umbildung der Stände unseres Volkes, über die wirthschaftlichen Grund­ lagen unserer Reichsverfassung, über den Ursprung der Städte und über den

Charakter der Städteverfassungen seinen realen Anschauungen immer mehr, so daß er in einem Aufsatz, den er etwa im Jahre 1874 entwarf (jetzt

unter dem Titel „Das deutsche Reich und Heinrich IV.", aus dem Nach­

lasse von Karl Wilhelm Nitzsch, gedruckt in Sybel's Zeitschrift Bd. 45. 1881) sagen konnte: eS ist so weit ich sehe, jetzt allgemein zugegeben, daß alle deutschen Bischofstädte sich am Schlüsse deS 11. und während des

12. Jahrhunderts unter der hofrechtlichen Verwaltung

fanden. Und nicht allein diese Anerkennung

in

einzelnen

ihrer Herrn be­

allerdings sehr

wichtigen Fragen unserer Verfassungsgeschichte wurde ihm zu Theil, eS

lag in der Anerkennung der Resultate doch eben auch gleich eine solche der Methode, mit der sie gewonnen waren. — Und der Gang unserer historischen Literatur über unsere mittelalterliche Geschichte in den sechziger

Jahren bewies durch das, was sie in Darstellungen über unsere Kaiser­ zeit und in Erörterungen über den Charakter des deutschen Königthums leistete und nicht leistete, denn auch die Nothwendigkeit, mit derselben zu

operiren. ES war ja doch von vornherein der weitere Gesichtspunkt des Ver­

ständnisses unserer früheren politischen Geschichte überhaupt gewesen, unter dem Nitzsch an die Ausarbeitung seines Buches über die Ministerialität herangetreten, und ganz bestimmte Gründe hatten ihn zu der uns nun bekannten eigenartigen Methode hingeführt.

Bei tieferem Eindringen in

unsere mittelalterliche Geschichtschreibung hatten sich ihm eben ganz eigen­

thümliche Betrachtungen aufgedrängt, von deren Richtigkeit er sich bei weiterem Studium immer mehr durchdrungen fühlte, und welche in dem

Satze gipfelten, daß jeder Versuch, auf diesem Material, das wir be­

sitzen, die Geschichte unserer sächsischen, fränkischen, staufischen Kaiser zu schreiben,

mißglücken

müsse.

Die gejammte

Masse der vorhandenen

Quellen und Denkmäler, so urtheilte Nitzsch, ist überwiegend geistlichen Ursprunges, diese Geistlichen ferner sind, wenn sie Verfasser hervorragen­ derer Werke, fast immer in der Umgebung des Regenten selbst zl>m Theil

in den Besitz des Materials gelangt, sicher haben sie daher ihre An­

schauungen, und so ist die doppelte Einseitigkeit der Auffassung In diesen Geschichtswerken offenbar.

Und diese Einseitigkeit ist nicht die einzige,

eS kommt dazu die Einseitigkeit der Mittheilung respective der Beob­

achtung.

Die Fülle der WeiSthümer und die Sammlungen der Rechts­

bücher lassen in Gemeinsamkeit mit

der

offen vorliegenden

schnellen

Städteentwicklung des 13. Jahrhunderts und zugleich andrerseits mit den

großen dichterischen Denkmälern von der Grenzscheide deS 12. und 13. Jahr­ hunderts erkennen, daß in dem 10., 11. und 12. Jahrhundert eine sociale

wirthschaftliche und rechtliche Entwicklung deS niedern Laienstandes sich voll­ zogen, daß dabei große Reste nationalen LebenS, eine Fülle rechtlicher und

sittlicher Vorstellungen in diesen Klassen sich erhalten, von welchem allen

jene Geschichtschreibung keine Spur, auch nicht andeutungsweise, uns mit«

theilt.

ES fehlt also in ihr ein sehr wesentliches Stück unseres geschicht­

lichen LebenS, ein Stück ohne dessen Kenntniß uns ebenso der blühende

wirthschaftliche Zustand des deutschen Reiches in den Decennien der Ver­ wirrung unter Philipp und Otto unverständlich, wie die anziehenden und

wunderbaren Bildungen der Städterepubliken, die Richtung ihres Bürger-

thums auf politische Selbsthülfe im Interesse deS Reiches, das mächtige Emporsteigen dieser Pläne und ihr schnelles Niedersinken in der zweiten

Hälfte deS 13. Jahrhunderts unbegreiflich

erscheinen müffen. — Und

nicht nur der geschichtliche Bildungsproceß deS bäuerlichen und bürger­ lichen Laienelements fehlt in den Geschichtsbüchern, eS fehlt ebenso in ihnen an jeder Beobachtung der Ideen, Bestrebungen deS Menschlichen und Eigenartigen für die Laienaristokratie,

so daß die Welt, in welche

unS Nibelungenlied und Gudrun versetzen, für uns, wenn wir glauben,

aus unseren Geschichtschreibern unsere Vorfahren und ihre historischen

Leistungen und menschlichen Eigenschaften zu kennen, geradezu etwas 'über­

raschendes hat.

Und wiederum ist eS dieser Mangel an Interesse gegen­

über dem sittlichen Jdeenkreise dieser Laienaristokratie nicht allein, was

man als einen wesentlichen Mangel dieser Historiographie zu bezeichnen hat, es muß da eben doch auch nicht übersehen werden, daß hier bereits

diese geistliche Geschichtschreibung zu fälschen beginne; denn nichts als

Fälschung ist es, wenn in dieser Ueberlieferung der weltliche Herrenstand

konsequent als Unterdrücker der Kirche dargestellt wird. — AuS allen diesen Gründen kam eben Nitzsch zu der Ueberzeugung, die

wir schon oben dargelegt, daß eine Geschichtsdarstellung nach diesen Quellen nimmermehr die Wirklichkeit deS geschichtlichen LebenS unserer Nation zu

erschließen im Stande wäre.

Als Nitzsch einen Theil dieser Gedanken zum ersten Male au^sprach

Karl Wilhelm Nitzsch.

446

(in der Einleitung zu dem Buche über Ministerialität, 1859), exempltfizirte

er dabei ausdrücklich auf GiesebrechtS Kaiserzeit, deren erster Band 1855

erschienen war.

AIS er dann wieder einen Theil jener allgemeinen Be­

merkungen aussprach (in dem Aufsatz über Heinrich IV., 1874), exemplt­ fizirte er auf die weiteren Bände der Arbeit GiesebrochtS und zugleich auf

jene Versuche, ein allgemeines Urtheil über die Kaiserpolitik deS 10. bis 12. Jahrhunderts festzustellen, die von Sybel und Ficker unternommen,

durch den scharfen Widerspruch ihrer Meinungen, der sich in Replik und

Duplik verschärfte,

wie durch die hervorragende Bedeutung der Frage

selbst und die wissenschaftlich bedeutsame Stellung der Vorkämpfer, und nicht minder durch die Gunst der Zeitgeschichte eine Zeit lang den Vorder­ grund der literarischen Debatte einnahmen und aus derselben überhaupt nicht verschwunden sind und

in

absehbarer Zeit wohl auch nicht ver­

schwinden werden.

Und man konnte den Exemplifikationen nicht

stimmten.

Diese Debatte über die Kaiserpolitik der

bestreiten, daß sie deutschen Könige,

warum kam sie zu keinem Schluß? warum nahm sie eine Wendung, in

welcher der

politische Geschichtschreiber den Rechtshistoriker und dieser

jenen nicht mehr zu verstehen schien? Man hat da eine Reihe von Gründen für diese Erscheinung beigebracht, sie sind bekannt, und manche sind treffend;

aber man muß als den vornehmsten Grund doch immer den anführen,

daß dieses reiche Material, mit dem diese großen Gelehrten ihr Urtheil zu bilden unternahmen, eben seinem oben dargelegten Charakter nach doch gerade für diese Frage zu mangelhaft war, um ein abschließendes Urtheil, das auf Allgemeingültigkeit Anspruch zu erheben berechtigt gewesen, darauf

zu begründen.

Und GiesebrechtS vortreffliche und von Band zu Band vollkommnere Arbeit, als Wiedergabe dessen, was in den Quellen und Documenten be­ richtet worden, war sie doch vorzüglich; woher denn nun das Unbefriedigte

des Lesers bei der Lectüre, woher das Gefühl beim Studium dieses Buches, es oft nur mit dem Schein der Dinge und nicht mit ihrem Wesen zu thun zu haben?

An dem Verfasser lag eS nicht.

Ein nicht

unbedeutendes Talent zur Darstellung und ein von reifer Kenntniß un­ serer geschichtlichen Vergangenheit und Gegenwart und lebendiger Hoff­

nung auf eine bessere nationale Zukunft getragener ächter Patriotismus

einten sich in ihm mit einem reichen Wissen, mit vollständiger Beherr­ schung des Quellenstoffes und einem eminenten kritischen Talent, und er hatte von allen seinen Fähigkeiten fleißigen und energischen Gebrauch ge­ macht.

Woher also nochmals das Unvollkommne seiner Leistung in Hin­

sicht auf den erstrebten Zweck, unS vom Werden und Sein unserer Nation

bis zum Wendepunkt des ersten Jahrtausend und darüber hinaus zu er­

zählen?

ES lag doch eben wieder nur an dem Charakter der Quellen.

Aber wenn nun unsere gesammte geschichtliche Ueberlieferung bis zum

13. Jahrhundert eben wirklich alle jene so scharf hervorgehobenen Mängel besitzt, waS wird dann aus unserer deutschen Geschichte? Sollen wir uns

mit dem begnügen, was die kritische Schule an geordnetem und gesich­ tetem Material zusammengebracht hat?

Sollen wir über „Jahrbücher"

unserer Geschichte nicht hinaus kommen? Nein, meinte Nitzsch bereits

1859, der Versuch,

darüber hinaus zu kommen, müsse gemacht werden,

und eS gelte nun, bei dieser Lage der Dinge einen andern Weg der historischen Betrachtung einzuschlagen, als man bisher beliebt.

ES heiße,

um die treffende Bezeichnung von Waitz für diese Ziele der Betrachtung

durch Nitzsch zu gebrauchen, sich bemühen, den Quellennachrichten mehr

abzugewinnen, als sie dem gewöhnlichen Auge darzubieten scheinen.

Den Versuch in dieser Methode der Betrachtung machte Nitzsch, wie wir schon wissen, in der Arbeit über den Charakter unserer älteren Städteverfassungen; er glückte, wenn auch langsam sich erst die Zustimmung

der betreffenden Fachkenner zu den Resultaten und zu der Methode einsand; eS war eben das Ergebniß zu umstürzend für das bisherige Wissen

und diese Methode zu eigenartig.

Kein Wunder aber, daß Nitzsch, als

er Zustimmung fand, mit dieser Art der Betrachtung an das Totale un­

seres geschichtlichen Lebens in der Vergangenheit sich heranwagte, zumal ihm die Resultate jener Arbeit über die Ministerialität ein sicherer Halt für Beurtheilung der staufischen Politik geworden und zugleich der lebendige

Inhalt, mit dem er anschaulich sich das Wormser und noch mehr das

Straßburger Stadtrecht ausfüllte, ihn für das Anlegen eines wirthfchaft-

lichen Gesichtspunktes

an geschichtliche Prozesse unserer Nation überaus

befähigten und berechtigten. Die Betrachtungen die Nitzsch über den Charakter des Kaiserreichs deutscher Nation angestellt hat, liegen

sonderen Arbeit vor.

uns leider nicht in einer be­

Von seiner Auffassung

der deutschen Geschichte

überhaupt zu sprechen, werden wir unS daher versagen müssen, bis die etwaige Veröffentlichung

seiner Vorlesungen hiefür festeren Anhalt der

Mittheilung und Beurtheilung bietet.

Aber er hat einige Bemerkungen

dem Papier anvertraut die allerdings offenbar nicht mehr von ihm selbst für den Druck redigirt, nun als der wiederholt erwähnte Aufsatz „über

daS deutsche Reich und Heinrich IV."

auS seinem Nachlasse vorliegen.

Und diese Bemerkungen nebst den Aufsätzen „staufische Studien" und „die oberrheinische Tiefebene

und

daS deutsche Reich im Mittelalter"

und

„deutsche Stände und Parteien sonst und jetzt" lassen doch einige Haupt-

448

Karl Wilhelm Nitzsch.

Momente seiner Auffassung unserer nationalen Vergangenheit sehr klar er­

kennen.

Und da in diesem Wenigen wir bereits erfüllt sehn, was dieser

eigenartige tiefe Denker zu erreichen bestrebt war, mehr über unsere Ge­ schichte zu erfahren, als gemeinhin uns aus den Quellen ersichtlich, da

in diesem Wenigen ferner uns mit das Geistvollste vorliegt, was Nitzsch

je gedacht, und in dieser geistvollen Aeußerung über unsere Geschichte sich die ganze wunderbare historische Begabung dieses

eminenten Talentes

wieder offenbart, so darf dieses Wenige, auch wenn wir es nur eben wie

eS vorliegt, fragmentarisch vorführen können, an dieser Stelle nicht fehlen.

Philosophie und Naturwissenschaft. „Feindschaft sei zwischen euch, noch kommt daS Bündniß zu frühe. Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst

so

suchte Schiller in einem

die Wahrheit erkannt" —

bekannten Xenion dem fruchtlosen Kampfe

vorzubeugen, in welchen TranScendentalphilosophen und Naturforscher in

seinen Tagen zu gerathen drohten.

Und man könnte mit vollem Recht

diese Warnung bestätigt finden in dem gesammten Verlaufe, welchen die Entwicklungsgeschichte deS

menschlichen Erkennens durchgemacht hat; be­

stand doch auch die griechische Philosophie in einem vergeblichen Ringen, apriorischen und

und

empirischen Principien gleichmäßig

gerecht zu werden,

in seltsamer Weise kreuzten hier die willkürlichsten Behauptungen,

welche je ein subjektiver Idealismus ersonnen hat, die angeblich gesicherten

Aussprüche inductiven Denkens.

Aus keinem anderen Grunde eben ist

die Geschichte der antiken Philosophie überhaupt unserer Aufmerksamkeit so werth, als weil sie uns höchst lehrreich die mannigfaltigen Versuche zeigt,

in welchen das menschliche Nachdenken die Widersprüche der Wirklichkeit zu enträthseln sich bemühte, und dabei häufig der Täuschung verfiel, diese

seine subjectiven Anstrengungen für die thatsächlichen Eigenschaften und Beziehungen der Dinge zu halten. der einzig mögliche Standpunkt,

(ES ist dies beiläufig bemerkt,

um die Entstehung und philosophische

Durcharbeitung der platonischen Ideen zu verstehen.)

hin in der Entwicklung der Fortschritt entdecken, so

Mag man immer­

ionischen Naturphilosophie einen gewissen

bleiben doch bei Allen,

ja selbst bei dem von

Aristoteles so hoch gepriesenen AnaxagoraS die schreiendsten Widersprüche schon in der methodologischen Behandlung und ein völliger Mangel an

Consequenz in der Ausbildung einer einheitlichen Weltanschauung. Reductionen deS Geschehens auf ein Princip,

sei

Jene

es nun Wasser, Luft

oder irgend ein unqualificirbareS Unbegrenztes, find doch Hypostastrungen

der gröbsten Art, die an Stelle eines wirklichen Mechanismus irgend einen beliebigen Faktor, der vielleicht für eine beschränkte Gruppe der Er­

scheinungen eine zureichende Erklärung bietet, einsetzen.

Umgekehrt krankte

die idealistische Methode eines Platon an der ungenügenden Verarbeitung

des Wirklichen, das gegenüber dem transcendentalen Reich der für sich feienden Ideen nur

eine sehr bescheidene Werthschätzung beanspruchen

Durchweg sehen wir, wie das eine Princip auf Kosten des an­

konnte.

deren verfolgt wird, wie hier ein Weltbild entsteht auf einseitig mecha­ dort auf exclusiv idealistischer Grundlage, und wie trotz aller

nischer,

gegenseitigen Feindschaft beide Momente noch heute unlösbar aneinander

gekettet sind. Woher Ueberblick

Vielleicht wird uns ein

nun diese seltsame Abhängigkeit?

über die Beziehungen,

neueren Zeit aneinander

welche beide

Wissenschaften in der

gefesselt haben, die nöthigen Aufschlüsse ver­

schaffen.

Triumphirend hatte die Hegel'sche Philosophie als der Abschluß und die Vollendung jeglichen metaphysischen Erkennens ihre unumschränkte

Herrschaft in der Republik der Wissenschaften errichtet und lange genug hatte die leichtgläubige Menge den Kunststücken andächtig gelauscht, mit

welchen die dialektische Entwicklung den ganzen Inhalt deS Seienden aus dem sogenannten reinen Sein hervorzauberte.

Mit dem wohlfeilen Macht­

spruch: das Wirkliche ist das Vernünftige und das Vernünftige ist das

Wirkliche, begann man alle Erscheinungen in den wohlabgestuften RhthmuS einer in sich zusammenhängenden Idee aufzulösen und alle als Ma­

nifestationen deS einen Weltgeistes aufzufassen, welcher sich in diesem

unendlichen Processe mit sich selbst entzweite, um dann sich in dem ein­ zelnen Individuum wieder zu finden.

Angeblich mittelst spekulativer Vor­

stellungen, die in der reinen Aetherhöhe deS an und für sich seienden Ge­

dankens mit dem Staube gemeiner Wirklichkeit nichts zu schaffen hatten, meinte man den Verlauf deS Geschehens rein apriorisch und schematisch

seststellen zu können und in der kurzsichtigen Jdentificirung deS Seins mit dem Erkennen wurde jenes aus diesem heraus construirt.

Freilich sah

man sich genöthigt, doch verstohlene Blicke auf die so verachtete Erfahrung zu werfen, um aus ihr das thatsächliche Material zu entnehmen, das

schließlich war;

mit dem

besten Willen den Ideen doch

die reine apriorische

Methode zeigte

sich

nicht abzugewinnen

unfähig

mit

eigenen

Mitteln irgend welche Resultate in den exacten Disciplinen zu erzeugen und reducirte

sich auf ziemlich werthlose formale Spielereien, in denen

eine schematische Dialektik eine bedenklich an die Antike erinnernde Ge­

wandtheit zeigte.

Der totale Bankerott konnte nicht auSbleiben und je zu­

versichtlicher und hochmüthiger die Haltung des spekulativen Verfahrens gewesen war, desto kläglicher gestaltete sich der AuSgang; endlich rächte

sich die gewöhnliche Bildung an der erlittenen Vergewaltigung durch die

vollständige Jgnortrung Alles dessen, waS irgend nach Philosophie auSsah.

Nachdrücklicher wie die bissige Polemik Schopenhauer'S, wirksamer,

wie die wohlberechneten Angriffe Herbart'S hat die Verachtung, mit der das Publikum jede metaphysische Richtung nichtungSprozeß befördert.

behandelte, diesen Ber-

Ja selbst bis in unsere Tage zieht dies da­

mals entstandene Vorurtheil sich fort, das die sogenannten exacten Beob­

achter der Philosophie und überhaupt jeglichem systematischen Gedanken

ein eigenthümliches Mißtrauen entgegen bringen läßt.

die Fluth des Materialismus herein, philosophischen Denkens und

die Stelle der

Sodann brauste

der mit scheinbarer Vereinigung

empirischer Methode sich berufen fühlte,

vertriebenen Königin der

Wissenschaften

einzunehmen.

Eine seltsame Ironie des Schicksals liegt aber in der Contmuität des Inhalts oder mindestens der formellen Behandlung, welche verschiedene Probleme sowohl in der materialistischen, wie in der rein spekulativen Disciplin erfahren haben.

So finden wir z. B. bei Moleschott vollständig

die Idealität und Subjectivität der Empfindungen anerkannt und damit

im weiteren Sinne auch die vollständige Jncommensurabilität des Welt­ bildes, das sich jedes Individuum je nach seinen physischen und psychi­ schen Anlagen verschieden entwirft.

Thatsache

einen

falschen

Schluß;

Freilich zieht unser Autor aus dieser

weil

ein

Gegenstand,

wie

er

sich

ausdrückt, nur ist durch seine Beziehung zu anderen Gegenständen, zum

Beispiel durch sein Verhältniß zum Beobachter, deshalb ist die Scheide­ wand durchbrochen zwischen dem Ding für uns und dem Ding an sich. Als ob nicht grade umgekehrt diese subjektive Beziehung zur Ergänzung

eine objektive Qualität erfordere, eben weil sie den freilich gänzlich un­ vorstellbaren,

aber nichtsdestoweniger logisch

erzwungenen Zustand des

Dinges darstellt, wie es sich an und für sich verhält ohne Rücksicht auf

ein empfindendes Bewußtsein?

Doch diese Kritik im Einzelnen zu ver­

folgen, ist hier nicht unsere Sache (vgl. übrigens Lange, Geschichte des

Materialismus II, 100ff.), wir regtstriren nur das Fortwirken idealisti­ scher Momente, die an sich dem krassen Materialismus fern liegen.

Eine

spätere Richtung, die jenem Impulse mehr fremd war, benahm sich denn auch nicht so vorsichtig, sondern operirte mit Kraft und Stoff so ver­

trauensselig, als ob sie Beide von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt hätte, zog auS der physiologischen Bedingtheit aller seelischen Processe den

kühnen Schluß, daß die Psyche überhaupt nur eine Function des Körpers

sei und brachte endlich in dem allein selig machenden Schoß der Materie die vielen unnützen Fragen zur Ruhe, welche so ungebührlich seit Jahr­ hunderten die Menschen aufgeregt.

Die Harmlosigkeit,

mit

der die

Thatsachen gruppirt und aus ihrer Anordnung irgend welche Schlüsse

Philosophie und Naturwissenschaft.

452

gezogen werden, ist so überwältigend, daß man die Worte eines scharf­ sinnigen Denkers wohl begreift:

wußtseins, jede Regung

„Jede einzelne Aeußerung unseres Be­

unseres Gefühls, jeder keimende Entschluß ruft

unS zu, daß mit unüberwindlicher und unleugbarer Wirklichkeit Ereigniffe

in der That geschehen, die nach keinem Maße naturwisienschaftlicher Be­

griffe meßbar sind.

So lange wir dies Alles in uns erleben, wird der

Materialismus zwar im Bereich der Schule, die so viele vom Leben sich

abwendende Gedanken einschließt, sein Dasein fristen und seine Triumphe

feiern,

aber seine eigenen Bekenner werden durch ihr lebendiges Thun

ihrem falschen Meinen widersprechen.

Denn sie werden alle fortfahren,

zu lieben und zu hassen, zu hoffen und zu fürchten, zu träumen und zu forschen, und sie werden sich vergeblich bemühen uns zu überreden, daß

dies mannigfaltige Spiel der geistigen Thätigkeiten, welches selbst die ab­ sichtliche Abwendung vom

Uebersinnlichen nicht zu zerstören vermag, ein

Erzeugniß ihrer körperlichen Organisation sei, oder daß das Interesse für

Wahrheit, welches die einen, die ehrgeizige Empfindlichkeit, welche andere verrathen, aus den Verrichtungen ihrer Gehirnfasern entspringe.

Unter

allen Verirrungen des menschlichen Geistes ist diese mir immer als die seltsamste erschienen, daß er dahin kommen konnte, sein eigenes Wesen,

welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln oder es sich als Crzeugniß einer äußeren Natur wiederschenken zu lassen, die wir nur

auS zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wissen eben deS Geistes kennen, den wir leugneten."

Alle diese Kämpfe,

(Lotze, Mikrokosmus I, 295, II. Ausl.)

die übrigens nur aus dem scharfen Gegensatz

gegen die überspannten Forderungen, resp. auS den argen Unterlassungs­

sünden der transcendentalen Philosophie verständlich erscheinen, liegen jetzt schon weit hinter unS und haben nur noch ein historisches, kein persön­

liches Interesse mehr, das die Entwicklung unseres eigenen Denkens beein­ flußt hätte.

Der Materialismus, diese Spottgeburt auS Dreck und Feuer,

hat bald zum Styx fahren müssen, wenigstens bet jedem leidlich wissen­ schaftlich Gebildeten; die völlige Unmöglichkeit, die Entstehung der Em­

pfindung und jeglicher psychischen That zu erklären, also daS Fehlen jeder

Erkenntnißtheorie, schnitt von vorne herein die Aussicht ab, eine irgend wie einheitliche Weltanschauung auszubilden, die nicht von den gröbsten

Phantasmen und Fiktionen

wimmelte.

Damit war aber der Materia­

lismus gerichtet, und anstatt der Philosophie überhaupt den Krieg zu er­

klären, wie eS bis dahin Mode war, handelte eS sich vielmehr jetzt um eine kritische Ausgestaltung deS empirisch Gewonnenen.

Je mächtiger der

Riesenbau der Naturwissenschaft anwuchs, je complicirter das Detail wurde,

je schwieriger der innere Zusammenhang aller Theile zu entdecken war,

desto lebhafter mußte der Wunsch entstehen, einen verständlichen Ueberblick

über das Ganze zu erhalten,

über dem Einzelnen nicht das Allgemeine

zu vergessen, mit anderen Worten aus der bloßen Anhäufung von That­

sachen einen gesetzmäßig

gegliederten Organismus oder wenigstens eine

Reihe innerlich verknüpfter Erscheinungen zu schaffen.

Obgleich durch diese

emsige Arbeit der Naturforscher erst das solide Fundament für jede meta­

physische Ueberlegung gelegt wurde, so vergaß man häufig diesen Gesichts­ punkt und

mit der Durchforschung

beruhigte sich

eines möglichst be­

schränkten Gebietes, das zum Specialstudium sich darbot.

Je mehr sich

die Kenntniß auf diesem kleinen Terrain vertiefte, desto dürftiger wurde die Behandlung deS Ganzen, und derjenige, welcher sich in seinem Fache als unumschränkter Meister, als anerkannte Autorität bewies, gerieth in

die größte Verlegenheit, wenn eS galt, den Beitrag zu formuliren, welchen die Naturwissenschaft insgesammt zur Bildung einer Weltanschauung zu leisten vermöge.

Aus der anderen Seite verstanden eS die herrschenden

philosophischen Richtungen nicht, diesen Einseitigkeiten der empirischen

Forschungen die Spitze abzubrechen, um mit ihnen ein für beide Theile

fruchtbares Bündniß einzugehen.

So

klar und eindringlich der Haupt­

gedanke Schopenhauer's in allen Schriften ausgeführt ist, so wenig

glückte es ihm, die physiologischen Forschungen als Grundlage für meta­

physische Perspectiven zu benutzen; ja er, der rücksichtlos die willkürlichen Erdichtungen des subjektiven Idealismus entlarvte, verfiel in dem Ausbau

seiner eigenen

Weltanschauung denselben mystischen Neigungen, die ihn

von dem gesicherten Boden der Erfahrung weit abführten.

Mag man

über die Priorität des JntellectS und des Willens streiten und gern zu­

geben,

daß

auf Kosten anderer psychischer Prozesse die allmächtige Ver­

nunft in früheren Systemen eine ungebührliche Werthschätzung erfahren

hatte, soviel ist gewiß, daß daS Fundament der Schopenhauer'schen Phi­ losophie völlig nichtig und unterhöhlt ist.

Oder ist eS nicht etwa eine

Hypostasirung der schlimmsten scholastischen Art, wenn mit einem kühnen

Decket ex cathedra der Wille für das wahre Wesen, für daS bis dahin

immer als unbekannt und unzugänglich gegoltene Ding an sich constituirt wird?

Woher wissen wir denn überall Etwas von dieser angeblich welt­

beherrschenden

Funktion?

Doch wohl nur durch Beobachtung entweder

anderer oder unserer selbst, also in beiden Fällen von Erscheinungen,

die eben dem

auffassenden

Bewußtsein als Objekte der Zergliederung

dienen; man müßte denn, um diesem Schluß zu entgehen, das eigene Ich,

welches

sich selbst zum Gegenstände seines Studiums nimmt,

an sich hinstellen:

als Ding

Eine Ungeheuerlichkeit, die Jedem sofort einleuchtet.

Ebenso nichtig ist die weitere Beschreibung dieses Weltprincips, das

in

seiner transcendentalen Souveränetät jeglicher causalen Verknüpfung ent­ zogen ist und sofern es in den Bereich der wahrnehmbaren Welt hinein­

reicht, ebenfalls mit absoluter Freiheit sich manifestirt.

Diese ganze Rich­

tung trägt einen offenbar mystischen Charakter, der jeder nüchternen Er­

fahrung schnurstracks zuwiderläuft; denn solange die Meinung Kant'S von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich, d. h. der wahren und eigentlichen Natur deS Seienden überhaupt eine wissenschaftlich begründete ist, sind die Versuche des Denkens, über diese klar gezogene Grenze des Erkennens in eine terra incognita zu fliegen, lediglich Ausgeburten einer phantastischen

Neigung, die wohl mit religiösen Motiven zusammenhängen mag, niemals

aber eine kritische Beurtheilung verträgt.

ES ist deshalb geradezu unbe­

greiflich, wenn in neuerer Zeit der sogenannte MoniSmuS, wie ihn z. B. L. Noirä vertritt, den Gedanken Schopenhauer'S über die Zwei­ theilung der Wirklichkeit in Wille

und Vorstellung

als ein erlösendes

Wort feiert, das im Anschluß an die Darwin'sche Theorie endlich eine wissenschaftliche Philosophie ermögliche.

„Der tiefsinnige Fortsetzer der

Kant'schen Philosophie, Schopenhauer, fand in dem unmittelbar (sie!) be­

kanntesten Wesen unseres eigenen Seins, dem Willen, die Brücke,

auf

welcher er über diese Kluft (die nämlich die reale und ideale Welt scheidet) hinüber in das Gebiet der Dinge an sich gelangen konnte.

Er erklärte

die Welt als einen Makranthropos, während man bisher den Menschen

als einen Mikrokosmos verstehen zu lernen sich bemühte."

leitung

und Begründung

einer

(Noirä, Ein­

monistischen Erkenntnißtheorie S. 44.)

Gegenüber den neueren Forschungen, die als die primäre That der mensch­ lichen Psyche, die Empfindung als unbewußtes Schlußverfahren

haben, verlohnt

es

entdeckt

sich nicht mehr, diesen axiomatischen Behauptungen

eine längere Aufmerksamkeit zu schenken: Wir wollen nur als letzte Be­

merkung hinzufügen, daß uns die innere Wahrnehmung durchaus die völlige Zusammengehörigkeit von Wollen und Denken zeigt, daß der Wille

einer Handlung als psychologischer Vorgang in der Apperception derselben besteht, als äußere Handlung aber ein Geschehen darstellt, das nach den gewöhnlichen Causalgesetzen verläuft: Einen unbewußten Willen kennen wir aber schlechterdings nicht. Wir überzeugten uns, daß die theoretischen Erwägungen Schopen­

hauer'S, dessen practische Philosophie wir hier wohl außer Acht lassen

durften, zu sehr des unmittelbaren Zusammenhangs mit den empirischen Forschungen entbehrten, um eine befriedigende Welterklärung zu ermög­

lichen.

Oder besser ausgedrückt, trotzdem unser Philosoph vielfach richtige

Ansichten auf dem Gebiete der Physiologie aufstellte, verführte ihn sein

mystischer Hang

dazu auf metaphysischem Boden die willkürlichsten Be-

Hauptungen zu wagen, die eben durchaus nicht mit den früheren Prä­

missen zusammenhingen.

Zöllner hat eS unternommen in seinem Buche

„Ueber die Natur der Kometen" (S. 345ff.), die hervorragenden Ver­ dienste Schopenhauer'- um die Theorie der Gesichtswahrnehmungen, des CausalitütSgesetzeS u. f. f.

durch eingehende Vergleichung mit anderen

Autoren, wie z. B. Helmholtz zu erweisen,

und wir sind weit entfernt,

diese irgend wie schmälern zu wollen: Aber wir kommen auf unsere ftühere

Aeußerung zurück, daß physiologische Vorarbeiten und philosophische An­

schauungen zweierlei sind, daß jene für sich betrachtet trefflich und exact geführt sein mögen, während diese völlig haltlos im Leeren schweben.

Daß eben die wirkliche Ausdeutung des Weltinhaltes bei Schopenhauer

so dürftig ausfiel und sich die Auflösung in das Nirwana zum Ziel setzte, lag wesentlich an der Abneigung desselben gegen jede Entwicklungstheorie, die ihm über die thatsächliche Gestaltung irgend eines Seienden hätte Be­

lehrung verschaffen können.

Allein die Ansicht über die künstliche und

natürliche Züchtung der Formen, die Anthropologie mit ihren Bestim­

mungen über das allmählige Wachsthum sittlicher und religiöser Vor­

stellungen schien ihm eine Verunstaltung des reinen und unveränderlichen Seins zu enthalten, an dem er nach dem Muster der Eleaten starr fest­

hielt.

Er selbst, nachdem er die Thorheiten des absoluten Idealismus

scharf gerügt, kennzeichnet treffend seinen eigenen Standpunkt: Wir sind

der Meinung, daß Jeder noch himmelweit von einer philosophischen Er­ kenntniß der Welt entfernt ist, der vermeint, das Wesen derselben irgend wie, und sei es noch so fein bemäntelt, historisch fassen zu können: wel­

ches aber der Fall ist, sobald in seiner Ansicht des Wesens an sich der der Welt irgend ein Werden, oder Gewordensein, oder Werdenwerden sich

vorfindet,

irgend ein Früher oder Später die mindeste Bedeutung hat

und folglich deutlich oder versteckt, ein Anfangs- und ein Endpunkt der Welt nebst dem Wege zwischen beiden gesucht und gefunden wird und daS

philosophirende Individuum wohl noch gar seine eigene Stelle auf diesem

Wege erkennt.

Solches historisches Philosophiren liefert in den meisten

Fällen eine Kosmogonie, die viele Varietäten zuläßt, sonst aber auch ein Emanationssystem (anders möchte man übrigens die Weltentwicklung aus

dem unbewußten Willen unter dem Bestreben ihn möglichst zu ertödten,

ebenfalls kaum nennen), Abfallslehre, oder endlich, wenn aus Verzweiflung über fruchtlose Versuche auf jenen Wegen, auf den letzten Weg getrieben, umgekehrt eine Lehre vom steten Werden, Entsprießen, Entstehen, Hervor­

treten anS Licht aus dem Dunkeln, dem finsteren Grund, Urgrund, Un­ grund (offenbar eine Persifflage Schelling'S) und was dergleichen Gefasels mehr ist, welches man übrigens am kürzesten abfertigt durch die Bemer-

hing, daß eine ganze Ewigkeit, d. h. eine unendliche Zeit bis zum jetzigen

Augenblick bereits abgelaufen ist,

weshalb Alles,

und soll, schon geworden sein muß.

was

da werden kann

Denn alle solche historische Philo­

sophie, sie mag auch noch so vornehm thun, nimmt,

als wäre Kant nie

dagewesen, die Zeit für eine Bestimmung der Dinge an sich, und bleibt daher bei dem stehen, was Kant die Erscheinung

(doch eben das einzig

erfaßbare Objekt für die Erkenntniß), int Gegensatz des Dinges an sich, und Platon das Werdende, nie Seiende, im Gegensatz deS Seienden, nie Werdenden nennt,

oder endlich was bei den Indern daS Gewebe der

ist eben die dem Satze vom Grunde anheim gegebene

Maja heißt: es

Erkenntniß, mit dem

man nie zum inneren Wesen der Dinge gelangt,

sondern nur Erscheinungen

Die ächt

bis ins Unendliche verfolgt ....

philosophische Betrachtungsweise der Welt, d. h. diejenige, welche unS ihr

inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinausführt, ist gerade die,

sondern

welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum,

überall nur nach dem WaS der Welt frägt, d. h.

immer und

welche die Dinge nicht nach irgend einer Relation, nicht als werdend und vergehend betrachtet, sondern umgekehrt, das in allen Relationen erschei­

nende, selbst aber ihnen nicht unterworfene, immer sich gleiche Wesen der Welt, die Ideen derselben zum Gegenstände hat."

IV. Aust. I, 322.)

(Welt als Wille rc.

Ueberall scholastische und dogmatische Vorstellungen,

trotz der fortwährenden Berufung auf Kant daS hoffnungslose Unterfangen daS Wesen der Dinge zu erkennen, während wir nur ihre Erscheinungen

zu begreifen vermögen.

Daher auch die Hinneigung Schopenhauer's zum

Mysticismus, weil er selbstredend dem Inneren der Natur nicht auf dem

gewöhnlichen Wege wissenschaftlicher Forschung nahen konnte, sondern nur vermöge irgend welcher instinctiven Intuition, ähnlich der berüchtigten in-

tellektualen Anschauung weilen in leeren

deS subjectiven Idealismus.

ontologischen

Hartnäckiges Ver­

Voruntersuchungen, die noch außerdem

höchst einseitig gefaßt sind; deshalb der Wahn, daß die Gestaltung deS

Seienden, falls überhaupt möglich, jedenfalls gänzlich werthloS sei, da sie die Unveränderlichkeit und Erhabenheit der Idee, also des reinen Seins

Mit anderen Worten liegt hier eine völlige Verkehrung

beeinträchtige.

des Kant'schen Standpunktes

vor;

anstatt

aus

den

verschiedenartigen

Formen, welche das Wirkliche im Verlauf seiner Entwicklung annimmt, eine Geschichte

seines

Wesens

zu

construiren,

wird

ächt

scholastisch

das Wesen als solches jeglicher Eigenschaft schlechthin entgegen gestellt, geschieden in einen unversöhnlichen Gegensatz, wie Substanz und Attribut, als wenn man überhaupt etwas von jener wüßte ohne dieses!

das Seiende

Anstatt

in dem Geschehenden, in den verschiedenen Modificationen

seiner Natur zu erfassen, wird dies uns einzig zugängige Gebiet der Er­ fahrung zu Gunsten einer ganz leeren und haltlosen Begriffsspielerei ver­

laffen, durch die wir niemals in der Erkenntniß der Wirklichkeit weiter kommen. (die

Nicht die eleatische Berschnörkelung des Begriffs vom Seienden

übrigens in anderer Form wieder bei Herbart auftaucht), sondern

grade die verpönte historische oder wie wir unS auSdrücken würden, die

genetische und ethnologische Philosophie vermag unS überhaupt Aufklärung über daS Welträthsel zu verschaffen.

Zwar muß man nicht verlangen,

daß diese in allerlei Aufschlüssen über das Absolute und Unendliche, über die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt, über die Beschaffenheit deS reinen Geistes und der reinen Materie besteht: DaS sind Aufgaben für einen schwärmenden Dilettantismus oder für eine mit höheren Functionen

ausgerüstete Theologie.

Aber wollen wir übör die Probleme orientirt

fein, die sowohl unserem theoretischen Verständniß deS Geschehens im

Wege stehen, als auch unser sittliches Gefühl bedrängen,

so müssen wir

vor Allem den gesetzmäßigen Entwicklungsgang klar legen, den jeder

thatsächliche Verlauf irgend eines Ereignisses in der Welt befolgt; dieser Construktion des Mechanismus,

psychische Geschehen etngeschlossen ist,

aus

in welchem Alles physische und

ergiebt sich dann in aufsteigender

Linie daS Bild deS Kosmos, in dem Alles »ach gleichen Gesetzen eben­ mäßig verläuft,

und

hierin

liegen implicite diejenigen Forderungen,

welche wir an den Charakter des

Seienden stellen müssen, d. h.

um eS gleich hier möglichst allgemein und verständlich auözusprechey, die

Fähigkeit zu wirken und zu leiden.

Ohne diese Qualität giebt eS

überhaupt kein Reales und keine Entwicklung,

und daher reicht die

Schopenhauer'sche Philosophie, welche jene Merkmale von der starren Un­ veränderlichkeit deS Seienden fern halten will, für eine wirkliche Welter­

klärung nicht zu. Einen ungleich größeren Wirkungskreis als Schopenhauer, dessen Be­ deutung erst die Nachwelt erkannte, übte zu seiner Zett Herbart, dessen Gedanken hier um so mehr Beachtung verdienen, als er unmittelbar an

die Naturwissenschaft anknüpft.

Ihm war bekanntlich die Philosophie die

Bearbeitung und Verbesserung der Widersprüche, welche in der gewöhn­

lichen Erfahrung lägen; nur ist gleich hier zu bemerken, daß hierbei häufig

durch einen Kunstgriff dieser Widerspruch in die alltägliche Meinung erst hineingebracht wurde, um dann einen philosophisch geläuterten Begriff zu

produciren, der wohl schulmäßige Geltung beanspruchen konnte, aber im Uebrigen nicht die gesuchte Anerkennung fand.

So wurde die landläufige

Vorstellung vom Seienden als behaftet mit Widersprüchen verworfen, da

sie eine Veränderung zulasse und Etwas, das sei, brauche doch nicht erst Preußische Jahrbücher. Bb. XLV1II. Heft 5.

33

Philosophie und Naturwissenschaft.

458

zu werden, resp, wenn eS sich entwickele, sei eS noch nicht.

Anstatt nun

zu überlegen, wie für ein Seiendes das Prädicat der Veränderlichkeit ge­ rettet werden könne, werden auf Grund einiger ontologischer Spitzfindig­

keiten

die bisherigen Meinungen über Bord geworfen und dafür

Begriff des Seienden geschaffen,

sei.

ein

das jeglicher Veränderung entzogen

Scheine nun dennoch einer unphilosophischen Auffassung dieser Proceß

Statt zu finden, so sei das eine Täuschung und eine zufällige Ansicht, die mit dem wahren Wesen der Sache Nichts zu thun habe.

Es ist schon

verschiedentlich zur Genüge hervorgehoben, wie wenig Herbart seine Pflicht erfüllt habe, eben die Entstehung dieses Scheines einer Veränderung in

irgend einem Bewußtsein zu erklären; denn zugegeben, daß überall that­

sächlich die Unveränderlichkeit des Wirklichen nachgewiesen sei, so bestände sie um so gewisser in dem Geiste desjenigen fort, der diesen Schein einer Veränderung, und zwar diese als Modification seines Wesens in sich ver­

spürte (vergl. Lotze Mikrokosm. I, 207).

Ebenso unhaltbar ist die For-

mulirung, welche Herbart dem Seienden als absoluter Qualität giebt, die

völlig für sich bestehe, ohne je in Beziehungen eintreten zu müssen; denn

eine Qualität als solche giebt es für unser Denken gar nicht, das, es mag noch so menschlich bornirt sein, eben deshalb um so mehr ein Recht

hat, die Qualität als Zustand oder Eigenschaft irgend eines Subjects

aufzufassen, als dessen That sie erscheint.

Nicht minder ist eS vergeblich

von dem Seienden die Nothwendigkeit einer Beziehung zu anderen abzu­ wehren, als ob damit seine souveräne Natur geschwächt würde, und dann doch hinterher die Thatsache zuzugestehen, daß allerdings vielfach die realen Wesen in gegenseitige Berührung zueinander träten:

Hierdurch entstehe

aber durchaus keine Wechselwirkung, vielmehr sei jedes Seiende so sehr

auf der Hut, daß eS jeden fremden Angriff von sich fernzuhalten im Stande sei.

Wie wenig diese bekannte Theorie der Selbsterhaltung

sich mit der Unveränderlichkeit des Seienden vereinigen lasse, liegt klar

auf der Hand @. 59ff.).

und

hat zuletzt Lotze einleuchtend erörtert (Metaphysik

Herbart hat aus dem Gebiete der Psychologie die großen

Erwartungen nicht gerechtfertigt, welche feine Anhänger von ihm hegten; freilich sollte sie eine mathematische Gestalt erhalten, ihr also der sicherste

Unterbau gegeben werden, der sich in der Welt auffinden ließ.

anstatt die Erfahrung, d. h. die Thatsachen

Allein

der Naturwissenschaft im

weiteren Umfange zur Grundlage zu nehmen, versuchte unser Philosoph das -Princip

für

eine Statik und Mechanik der Vorstellungen durch

Speculation zu finden.

Mit Recht nennt Lange dies ein merkwürdiges

Denkmal der philosophischen Gährung in Deutschland, daß ein so feiner

Kopf wie Herbart, ein Mann von einer bewunderungswürdigen Schärfe

der Kritik und von großer mathematischer Bildung auf einen so aben­ teuerlichen Gedanken kommen konnte (Gesch. d. Material. II. S. 377).

Jene Selbsterhaltungen, mit welchen die Seele ihr Wesen gegen fremde Einflüsse sichert, sind nach dieser Darstellung die Vorstellungen, die in

dem genau geregelten Mechanismus ihres Verlaufs (dies eben sollte die

Mathematik überwachen) die ganze Fülle des seelischen Lebens ausmachen. Abgesehen von den theilweis schon früher erwähnten logischen Wider­ sprüchen, diese Actionen der Seele sich zu denken ohne Fähigkeit der Ver­

änderung, ist vor Allem gewaltsam die Reduktion des gesammten psychi­ schen Geschehens auf einen Theil desselben, auf daS Vorstellen.

mag über die Gleichberechtigung der

gewöhnlich

Man

angenommenen Trias

von seelischen Kräften streiten, jedenfalls ist dies Verfahren ein höchst un­

gerechtes, da es sich um die wirkliche Untersuchung der einschlägigen Verhältnisie gar nicht kümmert.

ES versteht sich darnach von selbst, daß in

den neueren Darstellungen der Psychologie, beispielsweise bei Wundt jener einseitige Weg längst verlassen ist, weil er eben den Thatsachen der Er­

fahrung widerspricht. Also auch hier finden wir nicht den gehofften Fortschritt; anstatt werthvoller Beobachtungen über daS Verhältniß der Empfindung zum

Reize, über das Minimum und Maximum der erfahrbaren Eindrücke sei­

tens der Außenwelt, immer und immer wieder metaphysische Ueberlegungen, Versuche die Widersprüche deS gewöhnlichen Denkens zu eliminiren, und dabei als Resultat, neue Widersprüche.

Und wurzeln diese Verlegenheiten

schon so tief in den grundlegenden Lehren der Psychologie, so ergiebt sich

leicht, wie wenig ein allgemein verständliches Weltbild auf streng empirischer Grundlage gelingen wollte.

Die Naturwissenschaft selbst, allerdings

philosophisch regenerirt brachte den Aufschwung, in deffen weiteren Stadien wir uns noch heutzutage befinden.

Wir brauchen nur die Namen Müller,

Helmholtz, Weber, Dove, Fechner, Lotze, Wundt zu nennen, um für den sich vollziehenden Proceß die schöpferischen Factoren zu bezeichnen.

WaS

war es nun, daS jetzt einen neuen Entwicklungspunkt begründete und die Anfänge zu einer auf sichere Grundlagen basirenden Weltanschauung legte?

Zunächst entsagte man allen hochmüthigen Ansprüchen, über die Natur deS Dinges an sich irgend Etwas aussagen und wissen zu wollen und

bestimmte im Gegensatz zu diesem hochfliegenden Problem als nächste und

unmittelbarste Aufgabe der Philosophie

Erkenntnißtheorie zu schaffen.

eine wissenschaftlich begründete

Dasjenige was Kant mehr apriorisch

und deduktiv erwiesen hatte, wollte man auf empirischem Wege erhärten, und so entstanden

alle jene werthvollen Untersuchungen, die uns über

unser Verhalten zur Außenwelt aufllären.

In rastloser Arbeit wurden

33*

unsere Wahrnehmungen immer auf'S Neue wieder zergliedert und auf ge­

naue Bedingungen unseres psychischen Verhaltens sowohl, als des uns

treffenden Reizes zurückgeführt:

Mit einem Worte, es entstand nunmehr,

waS Herbart auf deduktivem Wege schaffen wollte,

Geistes.

eine Mechanik des

ES würde hier zu weit führen, den Verlauf dieser Entwicklung

im Einzelnen zu verfolgen, wir begnügen uns mit der Hervorhebung des­ jenigen Resultates, daS alle jene Untersuchungen belohnte.

Nicht kürzer

wüßten wir unS auszudrücken, als wenn wir eS als die völlige Un­

vergleichbarkeit deS Reizes mit der Empfindung bezeichneten.

Wie für daS bewaffnete Auge eine anscheinend ganz continuirliche Masse

sich auflöste in eine Reihe einzelner, durch Cohäsion zusammenhängender Theilchen, so verschwanden auch für den philosophischen Blick diese letzten

Reste materieller Existenz und wurden zu punktuellen Trägern von auS-

und eingehenden Wirkungen.

Rastlos in der Welt schwingend treffen diese

untheilbaren Einheiten oder Atome unsere Sinneswerkzeuge und veranlaffen unsere Seele zu Rückwirkungen, die wir Empfindungen nennen. Aber wie eine bestimmte Anzahl von ActheroScillationerr an sich Nichts

mit jener bestimmten Farbe zu schaffen hat, welche schließlich auf Grund

jenes Reizes als qualitative Erregung der Seele entsteht, so unvermittelt stehen sich Empfindung und Bewegung, diese beiden Endglieder des Pro­

cesses einander gegenüber.

Nie giebt es einen Augenblick, wo eS sich von

selbst verstünde, daß irgend eine Schwingung der Luft nun aufhörte als

solche zu existiren, um dann als Klang neu geboren zu werden; vielmehr sind hier zwei Erscheinungen aneinander gekettet, die innerlich nicht aus­

einander

ableitbar

sind.

Wer die Empfindung als selbstverständliches

Product aus der sie veranlassenden Bewegung deducirt, begeht den hand­

greiflichen Fehler des Materialismus; wer umgekehrt die Bewegung aus der Empfindung entstehen läßt, verfällt einem völlig haltlosen TraumidealismuS.

Wir sehen also am Anfangspunkte unseres psychischen Da­

seins zwei, einander fremde Welten zusammenstoßen, die beide einander (wenigstens scheinbar) entgegengesetzt, dennoch in ihrem Bestehen auf ein­ ander angewiesen sind.

Die eine Seite ist die mechanische, daS Sen-

sorium für alle Bewegungömodalitäten, die andere ist die psychische, als Agens für das gefammte Reich der Empfindungen.

Wie die Seele

genöthigt ist durch die Art ihrer Organisation jede Empfindung zu localisiren, so nähert sie umgekehrt jeden Act der Bewegung einer inneren Er­

regung, d. h. einer Empfindungsqualität.

Also auf diesen Grundstufen

organischer Existenz sehen wir eine anscheinend unüberwindliche Kluft sich aufthun, welche unser ganzes Wesen in zwei heterogene Elemente zu zer­ reißen droht.

Diesem Dualismus dadurch entgehen zu wollen, daß man

die Atome selbst mit Empfindung und Bewegung ausgerüstet denkt, wäre nur eine Hinausschiebung der Lösung; denn nun würde sich ja offenbar auf'S Neue die Frage erheben, wie dann diese beiden Momente, die also

auch in diesem letzten Residuum deS Wirklichen nicht in Eins verschmelzen, nebeneinander bestehen können, während sie sich doch gegenseitig auf­

zuheben bemüht sein müssen?

Auch hier würden wir den Zwiespalt nicht

beseitigen, der für jede innere Bewegung als Aequivalent eine äußere Expansion erfordert und umgekehrt, für jede Intensität eine Extensität,

für jede innere Welt ein äußere.

Und nun, wenn man sich an diesem

unentrinnbaren Gedanken recht müde gedacht hat, wird man endlich wohl einsehen, daß hier eine widersinnige Zumuthung an unseren Intellekt ge­

macht wird; denn eben, um jenen Dualismus zu überwinden, müßten wir

ja im Stande sein, unS für einen Augenblick auS unS selbst zu versetzen und von

allen Bedingungen

menschlicher Existenz zu abstrahiren.

So

lange wir aber zufolge unserer Organisation diesen Lustsprung (dem ge­

genüber das horazische, „naturam expellas furca, tarnen usque recurret“ übrigens ein Kinderspiel wäre) nicht auszuführen im Stande sind, so lange ist eö vergeblich diese Thatsache zu Gunsten eines verschwommenen MoniSmuS hinwegzuleugnen.

Auf Grund also jener diametralen Verschiedenheit, welche die Reihe der Bewegungen von den Empfindungen trennt, hat die moderne Psycho­

logie mit Recht geschlossen, daß ein AgenS vorhanden sein müsse, welches

auS den Schwingungen der Atome die färben- und klangreiche Welt der inneren Erregungen hervorriefe.

Dieses nenne man nach dem Vorgehen

der Sprache bei den verschiedenen Völkern Seele, einerlei, welches im

Uebrigen die Eigenschaften desselben seien.

Ein hinzukommender Grund

für die Bildung jener Vorstellung liege aber in dem psychischen Processe

der Reproduktion verschiedener Vorstellungen in ein und dem­

selben Individuum; falls diese nicht als gänzlich neue jedesmal aus

der Tiefe des Bewußtseins auftauchen sollten, so sei die Einheit der sie

hegenden und erzeugenden Factoren nothwendig.

Diese Einheit, welche den

inneren Zusammenhang aller psychischen Erlebnisse verbürge, werde mit dem Namen

des „Ich"

oder auch des „Selbstbewußtseins" bezeichnet.

Das etwa sind die Grundlinien und Umrisse, welche die experimentelle

Psychologie an der Hand ihrer Beobachtungen gewonnen und ihren wei­ teren Folgerungen zu Grunde gelegt hat.

Und damit kommen wir auf

die zweite Errungenschaft, welche wir der jüngsten Epoche dieser Forschung

verdanken.

Bestand daS erste Merkmal derselben in der vorsichtigen Ab­

grenzung deS zu behandelnden Stoffes, desjenigen, was nach Kant „mög­ liche Erfahrung" genannt wird, so sehen wir die zweite Eigenthümlichkeit

in der Anwendung der Methode.

theil- mit der Speculation,

Während die bisherige Untersuchung

theils mit der Selbstbeobachtung arbeitete

(vor der übrigens Kant als vielen unbewußten Täuschungen unterworfen dringend warnte), erlangte die moderne Psychologie in dem Experiment

Durch die eingehende

ein vorzügliches Hilfsmittel für ihre Analysen.

Zergliederung der psychischen Processe wird der Nachweis geliefert, daß

der eigentliche vorbereitende Hintergrund für die Erscheinungen des be­ wußten Seelenlebens im Unbewußten liege, und schon die Thatsache der einfachen Empfindung ist nach der Ansicht der hervorragendsten Autoritäten,

wie Helmholtz, Wundt u. A. nicht ohne die Annahme eines unbewußten

Schlusses zu begreifen.

Wie kommen wir dazu, die Seele selbst in ihrem

unmittelbaren Schaffen gleichsam zu belauschen? dermaßen über diesen Punkt auS:

Wundt läßt sich folgen­

„Hier stellt sich nun der Forschung

die Frage, wie- eS möglich gemacht werden könne, in jene geheime Werk­

stätte hinab zu

steigen,

wo der Gedanke ungesehen seinen

Ursprung

nimmt, und ihn dort wieder in die tausend Fäden zu zerlegen, aus denen

er zusammengewebt ist.

Ich werde in den nachfolgenden Untersuchungen

zeigen, daß das Experiment in der Psychologie das Haupthülfsmittel ist, welches uns von den Thatsachen des Bewußtseins auf jene Vorgänge hin­ leitet, die im dunkeln Hintergrund der Seele das bewußte Leben vorbe­

reiten.

Die Selbstbeobachtung liefert uns, wie die Beobachtung über­

haupt, nur die zusammengesetzte Erscheinung.

In dem Experiment erst

entkleiden wir die Erscheinung aller der zufälligen Umstände, an die sie in der Natur gebunden ist.

Durch das Experiment erzeugen wir die Er­

scheinung künstlich aus den Bedingungen heraus, die wir in der Hand

halten.

Wir verändern diese Bedingungen und verändern dadurch in

meßbarer Weise auch die Erscheinung.

So leitet uns immer und überall

erst das Experiment zu bin Naturgesetzen, weil wir im Experiment gleich­

zeitig die Ursachen und die Erfolge zu überschauen." die Menschen- und Thierseele I. Vorrede S. VI.)

(Vorlesungen über

Daß nicht der kind­

liche Versuch gemacht werden soll, das immaterielle Wesen der Seele experimentell zu erfassen, sondern nur die psychischen Functionen, daß mithin auS einem Rückschluß von der Wirkung die Ursache erkannt wird,

bedarf keiner ausführlichen Erläuterung.

Es wäre aber eine unverzeih­

liche Einseitigkeit, diese kritischen Untersuchungen nur auf die menschliche Seele einschränken und nicht mit auf die Thierseele auSdehnen zu wollen;

während früher

es

freilich für eine poetische Schwärmerei galt, von

einem derartigen Problem im Ernst zu reden, hat man endlich, namentlich auf Grund der Darwin'schen Forschungen eingesehen, welche trefflichen Analogien zu unseren psychischen Erlebnissen sich hier bieten.

Bis dahin

war stillschweigend der Standpunkt Chr. Wolff'S wirksam, der über diesen höchst irrelevanten Gegenstand mit vornehmer Geringschätzung zur Tages­

ordnung überging: nicht,

ist

„die Frage, ob die Thiere eine Seele haben oder daher wäre eS

eine

wenn man darüber viel Streit anfangen wollte;

mir

von keinem sonderlichen Nutzen,

große Thorheit,

und

zu Gefallen mag es Einer behaupten oder nicht, ich werde einem Jeden

bei

lassen."

feinen Gedanken

(Vernünftige Gedanken von Gott, der

Welt rc. I. 438 in Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie I.

137.)

Schon jetzt lassen sich auf Grund eingehender Beobachtungen über

mannigfache Erscheinungen des thierischen Lebens allgemeine Gesetze auf­

stellen, die leidlich gesichert sind.

Aber nicht nur der einzelne Mensch

und das einzelne Thier geben der Psychologie in ihrem experimentellen Verfahren die werthvollsten Aufschlüsse, sondern der Blick erweitert sich vom Individuum auf die Gesammtheit, die sich von denselben Gesetzen

gelenkt zeigt, welche das Leben des Einzelnen beherrschen. danke einer allgemeinen Psychologie,

um

Dieser Ge­

eS zunächst so zu benennen,

war zuerst von Herbart gefaßt, aber er litt an der einseitigen Ueber-

schätzung, welche in seinem System dem einzelnen Realen überhaupt zu Theil wird.

So suchte er aus den Hemmungen und Störungen der

Jndviduen allein die Völkergeschichte zu construiren und vermeinte, daß

das Gewebe des gesellschaftlichen Daseins aus denselben Fäden bestände,

welche das Leben der Einzelnen ausmachten, ja daß überhaupt der ganze Mechanismus der socialen Association lediglich ein Werk der Individuen wäre.

Daher müßten eben wie für die individuelle, so auch für diese

allgemeine Psychologie dieselben Gesetze gelten.

Diese Einseitigkeiten sind

dann späterhin von Lazarus und Steinthal mehr ausgeglichen und zu der Idee einer Völkerpsychologie erweitert worden.

„Die Psychologie

lehrt, daß der Mensch durchaus und seinem Wesen nach gesellschaftlich ist; d. h. daß er zum gesellschaftlichen Leben bestimmt ist, weil er nur im

Zusammenhang mit seines Gleichen daö leisten und werden kann, wie er zu sein und zu wirken durch sein eigenstes Wesen bestimmt ist.

Auch ist

in der That kein Mensch, daS was er ist, rein aus sich geworden, son­ dern nur unter dem bestimmenden Einfluß der Gesellschaft, in der er lebt.

Jene unglücklichen Beispiele von Menschen, welche in der Einsamkeit deS

Waldes wild aufgewachsen waren, hatten vom Menschen Nichts als den Leib, dessen sie sich nicht einmal menschlich bedienten: sie schrien wie daS Thier

und gingen weniger, als sie kletterten und

traurige Erfahrung

selbst,

daß

wahrhaft

krochen.

menschliches

So lehrt

Leben, geistige

Thätigkeit nur möglich ist durch das Zusammen- und Jneinander-Wirken

der

Menschen.

Der

Geist

ist

daS

gemeinschaftliche

Erzeugniß

der

menschlichen Gesellschaft.

Hervorbringung des Geistes aber ist das wahre

Leben und die Bestimmung» des Menschen; also ist dieser zum gemein­ samen Leben bestimmt, und der Einzelne ist Mensch nur in der Gemein­ samkeit, durch die Theilnahme am Leben der Gattung." Völkerpsychologie I. 3.)

(Zeitschrift für

„ES verbleibe also der Mensch als

seelisches

Individuum Gegenstand der individuellen Psychologie, wie eine solche die bisherige Psychologie war; eS stelle sich aber als Fortsetzung neben sie

die Psychologie deS gesellschaftlichen Menschen

oder der menschlichen Ge­

sellschaft, die wir Völkerpsychologie nennen, weil für jeden Einzelnen die­

jenige Gemeinschaft, welche eben ein Volk bildet,

historisch gegebene als auch,

im Unterschied von

sowohl die jederzeit

freien

allen anderen

Culturgesellschaften, die absolut nothwendige und im Vergleich mit ihnen

die allerwesentlichste ist.

Einerseits nämlich gehört der Mensch niemals

bloß dem Menschengeschlechte als der allgemeinen Art an, und anderseits

ist alle sonstige Gemeinschaft, in der er etwa noch steht, durch die deS Volkes

gegeben.

Die Form

eben ihre Trennung

des Zusammenlebens der Menschheit ist

in Völker

und

die Entwicklung des Menschenge­

schlechts ist an die Verschiedenheit der Völker gebunden."

(S. 5.)

ES

erhellt aus diesen Anführungen, daß das Gebiet dieser neuen Wissenschaft daS Gesammtleben der Menschheit ist, sofern eS sich schon bis zu bestimmten

Völkergruppen mit staatlicher Organisation differenzirt hat.

Und zwar

muß es daS Ziel dieser Untersuchungen sein, die einzelnen Ursachen festzu­ stellen, aus welchen nach Angabe sämmtlicher Bedingungen eine bestimmte

Wirkung als mechanisches Product sich ableiten läßt; mit anderen Worten

den gesetzmäßigen Zusammenhang

in den Thatsachen des Völkerlebens

durch eingehende Vergleichung des bezüglichen Materials klar zu legen. Natürlich handelt es sich hier nicht nur um die geschichtlichen Erlebnisse

im engeren Sinne (sonst würde sich schwerlich ein erheblicher Unterschied von der Historiographie aufzeigen lassen), sondern um die ganze Fülle deS Volksgeistes, wie er sich in seinen verschiedenen Aeußerungen, sei eS

Religion, Sprache, Kunst, Recht, Sitte u. s. f. manifestirt.

Es ist also

eine umfassende Culturgeschichte im idealen Stil, nur mit dem Unterschied,

daß hier aus den psychischen Processen die Gesetze entwickelt werden, die dem ganzen Verlauf zu Grunde liegen.

Die Völker werden betrachtet

als Organismen, und an ihnen, ihren Sitten und Rechten die psycholo­

gischen Eigenthümlichkeiten studirt, die sich in ihnen als specifisch unter­ scheidende Merkmale kundgeben.

„Die Völkerpsychologie wäre

zu be­

stimmen als die Erforschung der geistigen Natur des Menschengeschlechts,

der Völker, wie dieselbe die Grllndlage zur Geschichte oder dem eigentlich

geistigen Leben des Volkes wird."

(S. 13.)

Unleugbar schon ein bedeutender Fortschritt gegen früher; denn wäh­

rend die rationalistische Ansicht Rousseau'S z. B. die Sitten und Gesetze auS einer ad hoc geschehenden vertragsmäßigen Verabredung (Contrat

social) hervorgehen ließ oder eine andere weit verbreitete Ansicht, wie sie Kant vertrat, die ethischen Ideen dem Menschen als ursprünglich an­

geborenen Besitz zuschrieb, unternahm eS die Völkerpsychologie zuerst an

der Hand der vergleichenden Wissenschaften den Entwicklungsgang nach­ zuweisen, welchen irgend eine Vorstellung im wirklichen Verlauf des so­

cialen Lebens genommen hatte.

Man wollte nicht mehr speculativ Gesetze

decretiren, welche nun hinterher die Erschetnungrn des geschichtlichen Wer­ dens zu befolgen hätten, sondern man suchte umgekehrt burch sorgfältiges Studium der Wirklichkeit diejenigen Verhaltungsweisen abzulauschen, die, falls sie in regelmäßiger Succession bei denselben Ereignisien sich wieder­

holten, Gesetze benannt wurden.

Es zeigte sich, daß weder bestimmte

Verabredungen, noch fertige Anlagen den ganzen Inhalt des BölkerlebenS producirt hätten, daß vielmehr auf Grund innerer und äußerer Bedin­

gungen aus einem ursprünglich minimalen Element (das man Jnstinct,

Empfindung oder sonst wie nennen mag) sich in fortdauernden Differen-

cirungen das geistige Leben der Menschheit entwickelte.

Dies eben empirisch

nachzuweisen auf den verschiedenen Gebieten menschlichen Denkens, war

Sache der Specialwissenschaften; namentlich griff hier die aus kleinen

Anfängen mächtig emporgewachsene vergleichende Sprachwissenschaft hülfreich ein.

So warfen die Forschungen von Lazarus Geiger ein ganz

neues Licht in die dunkeln Striche, welche bislang die vorhistorische Zett umhüllt hatten.

Er suchte in der Entwicklungsgeschichte der Worte und

Begriffe die Entwicklung der menschlichen Vernunft selbst zu erfassen, und sein Panier war:

Die Sprache hat die Vernunft erschaffen, vor der

In ähnlicher Weise gewann Max

Sprache war der Mensch vernunstloS.

Müller durch die vergleichende Zusammenstellung der zu ein und dem­

selben Sprachstamm gehörenden Wörter höchst interessante Aufschlüsse so­

wohl über den Zusammenhang der Racen unter sich, als auch über ihre geistigen Zustände in Zeiten, von denen keine Ueberlieferung uns Berichte

erhalten hat.

Aus der Bedeutung einzelner Wörter erschloß er mit voll­

kommener Sicherheit das Vorhandensein bestimmter religiöser und sittlicher

Vorstellungen, konnte er z. B. das Institut der Ehe, die Ueberwindung der nomadisirenden Lebensweise durch die Stufe des Ackerbaus bei den Ariern, den Vorfahren der Jndogermanen erweisen, also in Zeiten zurück­ greifen, die sonst für immer dem wissenschaftlichen Forschen verhüllt ge­

blieben wären.

Die alten Schranken,

historischen Perioden getrennt hatten,

welche bislang die

Völker

in

stürzten ein, an der Hand der

Sprachwissenschaft ergab sich, daß die alten Bewohner der iranischen Hoch­ ebene sowohl die Ahnen der jetzigen Ansiedler in den Gangesniederungen,

als auch der deutschen Volksstämme gewesen sein müßten; immer weiter

öffnete sich die Perspective,

um wenigstens Material für eine Entwick­

lungsgeschichte des menschlichen Geschlechts anzuhäufen, sofern sprachliche und

damit zusammenhängende religiöse Studien einen wissenschaftlichen

Aufbau ermöglichten.

Im Verlauf dieser Skizze, die selbstredend nur die gewichtigsteil Momente des geschilderten Prozesses herausgreifen konnte, waren wir schon

genöthigt, mit Vorstellungen zu operiren, welche wesentlich und bahn­ brechend

der

durch

Wissenschaft

die

Eh. Darwin übermittelt wurden.

epochemachende

Entdeckung

von

Der vielfachen Angriffe, der Lücken

in dem Beweismaterial, der phantastischen Ausschreitungen, zu welchen

jene Lehre von der natürlichen Zuchtwahl Veranlassung gegeben hat, hier

ausführlich zu gedenken, liegt kein Grund vor; handelt es sich für unsere ganze Untersuchung doch

nicht um die möglichst vollständig« Einsicht in

den Plan und die Tendenz einer Specialwissenschaft, also hier der Bio­ logie, sondern vielmehr nur darum, die schöpferischen Antriebe kennen zu

lernen, welche im Lauf der Jahrzehnte Philosophie und Naturwissenschaft mit einander ausgetauscht

haben.

War mithin der schon von Lamarck

geäußerte, von Darwin aber besonders durch die Selectionötheorie im Kampfe ums Dasein erweiterte Gedanke von der allmählichen Entwick­

lung der Organismen aus irgend einem structurlosen Urwesen (in dem aber schon, wenn auch völlig dunkel,

die beiden primären Eigenschaften

der Bewegung und Empfindung sich vorfanden) ein durch die empirische

Forschung bestätigter, so fragte es sich, in wiefern sich dieses Prinzip der Dtfferenzirung methodologisch für andere Wissenschaften verwerthen ließ.

Sollte es sich nicht als möglich erweisen, daß in derselben Weise, wie in

dem äonenlangen Prozesse

durch stetige Theilung und anderseits Verer

bung derselben psychischen Funktionen, so auch in der Völkergeschichte durch Anpassung an die Bedingungen des Klimas, der Nahrung und der all­

gemeinen Bodenverhältnisse eine ununterbrochene Umwandlung der Racen sowohl, als der in ihrem socialen Dasein erwachsenen rechtlichen und sitt­

lichen Institute sich nachweisen ließe,

von denen dann

immer dasjenige

Produkt sich am lebensfähigsten zeigen mußte, daS im Stande war, übrigen die Spitze zu bieten und sie zu absorbiren?

den

In der That hat

die Geschichte die Anwendung dieser Hypothese vertragen; schon Buckle

versuchte bekanntlich mit umfassender Gelehrsamkeit die Gesetze aus den

empirisch gegebenen Bedingungen zu. construiren, welche den Verlauf der geschichtlichen Entwicklung beherrschen: nur freilich betonte er zu einseitig

die

mechanische Sette, und

ließ

die psychische, d. h. die unvertilgbare

Eigenart des Volkes selbst zu sehr außer Acht.

Dies aber müssen wir

von vorneherein als principielle Forderung aufstellen, daß gegenüber der rein mechanischen Betrachtung (die sich also in der Angabe der wirksamen Existenzbedingungen für irgend einen Organismus erschöpft) das correlate

Kehrbild, die psychische nicht vergessen wird; denn — um bei dem einfachsten Vorgänge stehen zu bleiben, wenn irgend ein Element sich an seine Um­ gebung so weit anpassen soll, daß eS erhalten bleibt, so muß eS offenbar schon eine bestimmte Natur besitzen, muß ein Quäle sein, um zu diesem

Entschluß gelangen zu können.

Sonst würde man sonst zu der ungeheuer­

lichen Vorstellung genöthigt, daß jenes Element,

früher völlig

eigen-

schaftSloS, nun plötzlich erst ein unterscheidbares Naturell erhielte, ähnlich wie die tabula rasa der Sensualisten, welche sie durch die wechselnden

Eindrücke der Erfahrung allmählig beschrieben dachten.

Sehen wir aber

von diesen Einseitigkeiten ab, so fragt eö sich, ob uns die Entwicklungs­ lehre ähnliche Rückschlüsse

auf dem Gebiete des Völkerlebens gestattet,

wie wir sie beispielsweise in der Geologie aus den verschiedenen Schichten

der Erdrinde auf frühere Perioden tellurischer Existenz unbedenklich uns

erlauben.

Daß

dieß thatsächlich der Fall

ist, gehört zu den

frucht­

barsten Errungenschaften jener Theorie, die leider noch viel zu wenig ge­

würdigt wird. „ES ist

Treffend charakterisirt diesen Punkt ein moderner Forscher:

eine der größten und folgenreichsten Entdeckungen der Wissen­

schaft unserer Tage, daß jedes kosmische Gebilde alle Phasen seiner Ent­

wicklung noch an sich trägt und aus Allem, was ist, die unendliche Ge­ schichte seines Werdens

in ihren Grundzügen

erschlossen werden kann.

Wie sich auS der Struktur deS gestirnten Himmels von heute dessen welt­ geschichtliche Entstehung erschließen läßt,

wie die Schichten der Erdober­

fläche unS die Geschichte unseres Planeten entrollen, wie die Morphologie uns gelehrt hat, auS der organischen Struktur irgend einer Pflanze oder

eines Thieres auf die Stufen zurückzuschließen, welche es dereinst durch­ laufen hat, bis es zu seiner jetzigen Entwicklungshöhe gelangte, und wie wir in den Phasen des fötalen Lebens die wesentlichen Phasen des RassenlebenS wiederfinden, wie aus der Struktur des menschlichen Gehirns die

Geschichte seiner Entwicklung

durch denjenigen entziffert werden kann,

welcher diese Runen zu lesen versteht, wie der Sprachforscher auS der Sprache eine Geschichte der menschlichen Vernunft zu Tage fördern kann,

wie sogar, wenn man Geiger'S interessanten sprachwissenschaftlichen For­

schungen trauen

darf, das Farbenspectrum zugleich die Geschichte des

menschlichen Sehens bedeutet, so

giebt unS auch das Gesammtbild der

menschlichen Rasse und der Zustand jede« einzelnen Organismus, welchen

Philosophie und Naturwissenschaft.

468

wir im menschlichen Gattungsleben antreffen,

ein sicheres Material für

Rückschlüsse auf die Geschichte der Organisation der menschlichen Rasse (Post, Ursprung des Rechts S. 8.)

und des einzelnen Organismus."

Auf diesen

Ideen beruht die Wissenschaft der Ethnologie, die

jüngste unter ihren sämmtlichen Geschwistern; unser nächstes Augenmerk würde also sein, uns mit der Aufgabe, Methode und den bezüglichen Re­

sultaten bekannt zu machen, die wir von jener Disciplin erwarten dürfen. Die

Ethnologie will

eine

Geschichte der Entwicklung der menschlichen

Rasse liefern von ihren dürftigsten Anfängen bis zu ihren höchsten Culminationspunkten, und indem sie dieses Gemälde vor unseren Blicken auf­

rollt, zeigt sie zugleich die wirksamen Triebfedern auf, welche diesen ganzen

Proceß in den Gang setzen.

Während sie also die ununterbrochene und

innerlich zusammenhängende Folge von Entwicklungsphasen entwirft, in denen die menschliche Geschichte sich bewegt hat, giebt sie zu diesem bunten

d. h. die Ge­

Gewühl des Geschehens zugleich die abstrakten Schemata,

setze hinzu, welche jenen Verlauf beherrschen: Sie ist gleichsam Geschichts­

Aber zugegeben, daß dies der ideale

schreibung und Philosophie zugleich.

Plan jener Wissenschaft sei, wie soll es möglich sein, uns über alle jene Perioden der menschlichen Geschichte auch nur annähernd aufzuklären, die

ewige Nacht bedeckt und wo die kritische Historiographie mit allen ihren

Hülfsmitteln der Paläontologie u. s. f. sich verzweifelnd abwendet?

Oder

ist etwa unsere Kenntniß unseres eigenen Lebens auf diesem Erdball auch nur einigermaßen zusammenhängend?

Oder finden wir nicht außer jenen,

mit undurchdringlichem Dunkel bedeckten Lücken völlig entwickelte Cultttren vor uns, deren Vorgeschichte uns durchaus verschlossen ist?

Können wir

also auch nur mit einem gewissen Rechte von einer Weltgeschichte reden,

oder löst sich nicht vielmehr dies anscheinende Continuum in eine Menge disparater Theilchen auf, die noch dazu häufig meteorhaft aus dem Nichts

empor zu tauchen scheinen und in ihrer ferneren Gestaltung ebenfalls in pfadlose Nacht verschwinden?

verworrenen

Zustand

ES wäre thörichte Vermessenheit, diesen

unserer

geschichtlichen

Kenntnisse

in

imaginärer

Selbsttäuschung uns vorenthalten zu wollen, sobald wir den Kinderschuhen entwachsen sind.

Um so dringender wiederholt sich die Frage, wie eS der

Ethnologie gelingen solle, diesen Schleier zu lüften? vornherein das

Bedenken nicht

zu

überwinden,

Wir vermögen von

daß unsere

Antwort

schwerlich den Historiker befriedigen wird; allein um so mehr möchten

wir den einen Punkt zur Beachtung empfehlen, daß eS unserer Wissen­

schaft durchaus nicht auf einen

fraglichen Verhältnisse

ankommt,

chronologischen Zusammenhang sondern nur

auf

einen

der

causalen.

Darin liegt freilich das Verletzende für die rein geschichtliche Auffassung,

daß in dieser Perspective die

zeitliche Folge irrelevant

erscheint,

da

wir gewöhnt sind, nicht grade in der Zeit als solcher, aber wohl in den Zeitströmungen und in den sie anscheinend producirenden Individuen

die realen Träger dieser ganzen Entwicklung zu verehren.

Diese absolute

Werthschätzung der Individuen wird allerdings durch die Ethnologie er­ heblich gekränkt; denn in ihr erscheint das Einzelne nicht wie in der iso-

lirten geschichtlichen oder psychologisch biographischen Betrachtung als ein

Wesen mit unendlicher Spannkraft und Spontaneität ausgerüstet, dem eS gleich seinen Voreltern, den Titanen erlaubt sei den Himmel zu stürmen: Vielmehr

erscheint eS hier als Product der psychischen Verhältnisse und

der psychischen Vorbedingungen (Individualität, Stammescharakter u. s. f.) und

eingepreßt in die ihm zugewiesene Umgebung, welche eben sowohl

seine Freiheit einengt,

als

ihm anderseits den einzig möglichen Schau­

liefert.

Daß wir diese individuelle Kraft nun

niedriger anschlagen als billig

scheinen möchte, hat darin seinen zwin­

platz seiner Thätigkeit

genden Grund, daß wir zunächst hier Stufen der menschlichen Entwicklung im Auge haben, auf denen der Einzelne noch nicht so unvergleichbar ver­ schieden sein konnte, wie auf den Höhepunkten einer entwickelten Cultur.

Und das

ist nicht nur eine bloße Vermuthung, vielleicht durch allerlei

deductive Gründe gestützt,

sondern unabweisbares Resultat der ethnolo­

gischen Vergleichung selbst.

Diese ergibt nämlich unwiderleglich, daß in

den ersten Phasen menschlicher Association (denn vom isolirten Menschen

ist überhaupt keine Rede) bei den verschiedensten und geographisch ent­ legensten Völkerschaften sich genau dieselben Formen der Organisation

zeigen.

So wiederholt sich die Entwicklung der Ehe von der Genossen-

schaftSehe bis zur rein monogamischen Form durch alle Phasen, wie Raub, Erdienen, Kaufen der Braut u. s. f in den verschiedenen Stadien bei fast allen Völkern, nur daß uns häufig nur noch Rudimente dieses Processes

aufbewahrt sind,

zu denen wir die fehlenden Glieder ergänzen müssen.

In derselben Weise läßt sich die Entstehung der patria potestas gegen­

über einer früheren gynäkokratischen Periode in den genauesten Abstufungen verfolgen.

Während

nun der Historiker der Geschichte eines Volkes für

sich nachgeht, resp, so weit es mit anderen in Berührung gekommen ist, verläßt der Ethnologe diesen engeren Rahmen, und indem er die ver­ schiedenen Organisationsformen, wie sie sich auseinander entwickelt haben,

zu einem zusammenhängenden Processe aneinander fügt, gewinnt er die Grundzüge für die Geschichte nicht eines oder mehrerer Völker, sondern

der ganzen menschlichen Rasse. welchem Jahrzehnt

Daher kann es ihm gleichgültig sein, auS

oder Jahrhundert irgend ein Recht oder eine Insti­

tution ihm überliefert wird; denn jene Signatur ist nur bedeutsam für

die Geschichte eine« bestimmten ethnischen ComplexeS, irrelevant da­

gegen für die des gestimmten Menschengeschlechts.

Das einzig entschei­

dende Merkmal für die ethnologische Behandlung ist vielmehr die innere Zusammengehörigkeit zweier

ob sie denselben Ursachen ent­

Ereignisse,

sprungen sind; diese aber können, wie wir sahen, an verschiedenen Orten

und in verschiedenen Zeiten dieselben sein.

Sollte es uns wider Erwarten gelungen sein, die Bedenken des Hi­ storikers wenigstens für den Augenblick hinsichtlich dieses Punktes zu be­

schwichtigen, so wird uns ein anderer Einwurf um so lebhafter erwarten, auf welche Sicherheit sich denn überhaupt dies ganze Verfahren der Eth­

nologie stütze, wo die Denkmäler, Urkunden und Berichte seien, die über alle jene Perioden Auskunft gäben, die doch sonst der wissenschaftlichen

Kenntnißnahme verschlossen seien?

Abgesehen von den literarischen Nach­

richten, mit denen natürlich unsere Disciplin grade so andere geschichtliche arbeitet,

gut

wie jede

ist eS dasjenige Mittel, welches überhaupt

den Aufschwung der Wissenschaften in neuerer Zeit begründet hat:

DaS

Experiment oder in diesem Falle die Vergleichung, die nichts weiter ist als eine andere Form des ersteren.

Wie die Psychologie nicht eher

wirklich nennenswerthe Resultate erzielte, als bis sie sich des Experiments

bediente, wie die

Sprachwissenschaft nicht

eher auS

dem

beschränkten

Rahmen einer philologisch-exegetischen Disciplin herauStrat, als sie durch möglichst umfassende Vergleichung die ähnlichen und gleichartigen Erschei­ nungen auS der wirren Masse Gesetzen der

der

übrigen auSsonderte und so zu den

Sprache gelangte, wie überhaupt jede Wissenschaft durch

diese comparative Methode erst wahrhaft synthetisch, d. h. wissenschaftlich

wird, so versucht auch die Ethnologie die verschiedenartigen Fälle unter einem Princip zu subsumiren.

Durch die massenhaften Berichte aller Art

sind wir nunmehr in den Stand gesetzt, über die ersten Zeiten der mensch­

lichen Gesittung eine leidlich festbegründete

wissenschaftliche

Ansicht zu

haben, wie eS die Werke von Bastian, Fr. Müller, Tylor, Lubbock u. A. beweisen.

An diesem soliden Fundament wird mithin jede Notiz eines

Reisenden gemessen und sofern sie mit den allgemeinen Bezügen stimmt,

angenommen; wo nicht, verworfen.

Natürlich wird in den Einzelheiten

noch immer viel Unsicherheit herrschen, wie ein Blick in jede detaillirte

Beschreibung der Völker deS

Erdballs zur Genüge zeigt:

Allein

die

Grundlinien für die Entwicklung der primitiven menschlichen Organisationen sind jedem ScepticiSmuS entzogen; und außerdem werden durch das täglich

anwachsende Material die Fehler thunlichst auSgeschieden, so daß wirklich

unglaubwürdige, d. h. in sich unbegründete Nachrichten über irgend eine wichtigere Erscheinung des Völkerlebens schwerlich mehr auftauchen können.

Eine gänzlich falsche Folgerung würde eS sein, wenn man meinte,

durch ein solches Verfahren die Geschichtschreibung verdrängen zu wollen; durchaus nicht: Immer,

wo eS sich um die Erforschung eines ganz be­

stimmten localisirten und chronologisch fixirten ethnischen Gebildes handelt,

muß dies Detail der Raffengeschichte von dem exacten Historiker festgestellt und untersucht werden.

einer

Aber überall wo dieser Gesichtspunkt zu Gunsten

weiteren Perspective aufgegeben wird, wo von den allgemeinen

AffociationSformen die Rede ist, wie sie sich auf den nämlichen Entwick­ lungsstufen immer und überall identisch zeigen, da reicht die Arbeit des, nur den specifischen

Abschnitt der universalen

Geschichte

verfolgenden

Forschers nicht aus, sondern da beginnt die Thätigkeit des Ethnologen. Viele Thatsachen sind vom historischen Standpunkt einfach unlösbar und

erscheinen als capriciöse BolkSlaunen, die unser Lächeln hervorrufen; die ethnologische Forschung aber lehrt diese für sich unverständlichen Rudi­

mente als EntwicklungSglteder eines gesetzmäßig sich vollziehenden ProzeffeS kennen, den wir auS Vergleichung mit anderen Quellen ergänzen.

In diesem Sinne wird man begreifen, welche unendliche Wichtigkeit die Sitten, Gewohnheiten, Rechte und Institute der sogenannten Naturvölker besitzen; denn ohne ihr Vorhandensein (wozu selbst die Gegenwart immer­ fort noch manch werthvolles

Supplement liefern kann) wäre

es uns

schlechterdings unmöglich, die Entstehung der Cultur zu verstehen.

Wie

diese nicht gleich der Minerva gewappnet und ausgebildet ans Tageslicht

treten kann, sondern unendlicher Vorbereitungen bedarf, wie also auch hier wie auf dem biologischen Gebiete durch stetige Differenzirung immer

neue Formen sich entwickeln,

so kann unsere Weltanschauung nicht eher

eine leidlich umfassende werden,

als bis sie diese Geschichte des mensch­

lichen Geistes einigermaaßen verstehen lernt.

Es ist demnach unseres Er­

achtens kein Zeichen besonders tiefer Bildung, auf diese Bemühungen verächtlich herabzusehen von der Höhe beneidenswerther Civilisation, als

seien sie nur ein würdiger Gegenstand romanhafter Neugier oder dilettan­ tischer Spielerei:

Vielmehr ist in ihnen das Material für eine künftige

großartige Weltanschauung enthalten. Wie aber steht es mit den Resultaten dieser jungen Wissenschaft? Oder muß man Alles auf den guten Glauben an eine segensreiche Zu­

kunft setzen?

Wir meinen nicht; außer dem thatsächlichen Material, das

unsere empirische Kenntniß erheblich erweitert, lassen sich nach zwei Rich­

tungen hin schon die Antriebe verfolgen, welche der Philosophie von dieser

Seite aus zugeführt werden.

Zunächst in rein theoretischer Beziehung;

die vergleichende Ethnologie zeigt unwiderleglich die Einseitigkeit und wissenschaftliche Unhaltbarkeit der extremen Materialisten und Spiritus-

Philosophie und Naturwiffeuschast.

472

So weit wir organisches Leben zurückverfolgen mögen, überall

listen.

finden wir jene schon früher erörterten Eigenschaften der Bewegung und

Empfindung beieinander, nie die eine durch die andere aufgehoben und ineinander übergegangen.

ES wäre daher ein grober Mißgriff, bei jener

Construction der allgemeinen Geschichte lediglich den einen der beiden

wirksamen Factoren betonen zu wollen auf Kosten des anderen;

d. h.

entweder die rein mechanische Seite zu berücksichtigen, wie sie sich überall gleichmäßig darstellt in den Existenzbedingungen wie Klima, Nahrung,

Fortpflanzung u. s. f., und darüber die psychische Beziehung vergessen zu wollen.

Aus jenen mechanischen Gründen geht an sich Nichts hervor,

wie wir uns früher schon bei dem Darwinschen Princip der Anpassung

überzeugten; immer muß

auf

(obgleich

den

in den Individuen

ersten

Stufen

sehr

das eigenartige Subjekt

gleichförmig)

durch dessen Afficirung seitens der Außenwelt schehen

entsteht.

gesucht

werden,

überhaupt erst ein Ge­

An der Pforte also der Weltentwicklung

steht schon

das Individuum mit bestimmten Eigenschaften, mit einer äußeren und inneren, einer mechanischen und psychischen Welt, und dies Individuum

ist nicht etwa erst allmählig im Lauf irgend

eines irdischen Prozesses

entstanden, etwa im Kampfe ums Dasein oder sonst wie. düng

Die Bil-.

des Individuum liegt vielmehr über alle Grenzen möglicher Er­

fahrung hinaus im Gebiete des Uebersinnlichen

und ist nur als die

That eines Weltschöpfers, Absoluten, Kosmos oder wie man sonst will, zu begreifen (vergl. Post, Bausteine zu einer allgemeinen Rechtswissen­ schaft S. 25 ff.).

Ebenso einseitig wäre es, die mechanische Seite zu ver­

nachlässigen, den weitgreifenden Einfluß zu vergessen, den die äußeren Bedingungen auf diese Entwicklung auSgeübt haben, und damit in einen verschwommenen, haltlosen Spiritualismus zu verfallen.

Um das zu ver­

deutlichen, was wir hiermit meinen, führen wir die Worte eines in dieser

Zeitschrift vielfach erwähnten Mannes an: „Ausnahmslos universell ist die Ausdehnung des Mechanismus und zugleich völlig untergeordnet die

Bedeutung der Sendung, welche der Mechanismus in dem Bau der Welt zu erfüllen hat."

(Lotze, Mikrok. I Vorr. S. 15.)

Also Sinnenwelt und

Empfindungswelt gehören unmittelbar zu einander und kein« kann ohne

das andere bestehen.

„Die mechanische Welt regelt unser Empfindungs­

leben zu einem Ich,

unser Ich regelt das kosmische Bewegungsleben zu

einer Welt.

Ohne unser Sinnenleben würde unsere Seele ein psychisches

Chaos, ohne unser Ich unsere Sinnenwelt ein mechanisches Chaos sein. Der einzelne Mensch, wenn

sich daher

auch

er zum bewußten Wesen heranwächst, baut

in stetiger Correspondenz und in gleichmäßigem Fort­

schreiten ein Ich und eine sinnliche Welt.

AuS der gegebenen Scheidung

Philosophie und Naturwissenschaft.

473

der EmpfindungS- und BewegungSthätigkeiten erwachen hier Vorstellungen,

dort Eigenschaften, hier Begriffe, dort Dinge.

Nur für ein Menschliche-

Bewußtsein existiren Farbe, Schall, Wärme, Druck, nur für ein mensch­

liche- Bewußtsein Gestirne, Pflanzen, Thiere, Menschen. Bewegung-leben ist

anderes.

ohne da-

Da- kosmische

menschliche Bewußtsein etwa- durchaus

Andrerseits werden nur durch das kosmische Bewegungsleben

Vorstellungen und Begriffe in der menschlichen Seele erzeugt:

ohne den

Einfluß der Welt der Bewegungen würde sie nur eine schlummernde

Potenz der Empfindung sein.

So trägt alles Psychische den Gegensatz

des Mechanischen schon in sich; keinS kann ohne das Andere sein, und

(Post a. a. O. S. 24.)

beide sind durcheinander bedingt."

Blicken wir zurück auf unsere anfängliche Frage, woher das selt­ same, bald feindselige, bald freundschaftliche Verhältniß zwischen Philo­ sophie und Naturwissenschaft komme, so wird uns die vorliegende Erwä­

gung die Antwort übermitteln.

Bisweilen verband eine, meist freilich

schnell erlöschende Neigung jene beiden Wissenschaften, weil Beide

ein

gleich großes Interesse daran hatten, die Wirklichkeit zu erklären und sich

dennoch außer Stande sahen, ganz ohne Hülfe der anderen dies schwere Werk zu vollführen.

Bei weitem häufiger aber entbrannte bittere und

heftige Fehde zwischen ihnen, weil Jede glaubte, des Beistandes der an­ deren cntrathen zu können, die eine sich auf ihren himmlischen Ursprung verließ und mit kühner Speculation das Welträthsel zu lösen vermeinte, die andere mit klarer Erkenntniß bescheidenere Fragen richtig auffaßte und

zerlegte, um dann in ungerechtfertigter Verallgemeinerung überall dasselbe Princip auch in Sachen anzuwenden, die nicht vor ihr Forum gehörten.

Hierfür liefern die letzten Decennien in der Geschichte unserer Wissen^ schäften ein ebenso lehrreiches, wie trauriges Beispiel; die gesunden An­

fänge der jüngsten Zeit führen darauf hin, daß die Naturwissenschaft für die Bearbeitung

der Philosophie einen

möglichst breiten Unterbau zu

liefern hat, während die Philosophie, freilich ohne Borurthetle und etwaige Abneigung gegen die Aussagen der Erfahrung, methodologisch sowohl als

metaphysisch, d. h. in der Verwerthung aller bezüglichen Gesichtspunkte nach einer einheitlichen Weltanschauung hin, das letzte Wort zu reden hat.

Th. Achelis.

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 5.

34

Der Boer im Transvaal*). Von

H. d. G.

Noch vor Kurzem beschäftigten sich nur Wenige mit dem Transvaal und seinen Bewohnern.

Die am 12. April 1877 Seitens England er­

folgte Annexion dieses Landes, das doch immerhin ungefähr eben so groß wie Frankreich ist, hat nicht einmal vermocht die allgemeine Aufmerksam­

keit dahin zu lenken.

ES hat der in den letzten Monaten erfolgten Ereig­

nisse**), der Niederlagen der Engländer, des Todes eines ihrer Generale und des den Boers günstigen Friedens bedurft, um das Interesse, sowohl

deS Militärs wie auch des Politikers diesen Landstrich, seine Bewohner,

und deS Handelstreibenden für

deren

Schicksale und Leben wach­

zurufen.

DaS Land selbst ist seit noch gar nicht langer Zeit von Weißen be­ wohnt, die ersten die dahin kamen, mögen wohl die mit der Annexion

der Kapkolonie von 1806 Unzufriedenen gewesen sein.

Die Folge dieser

Annexion und der daraus entstehenden fortwährenden Reibereien zwischen

der englischen Regierung

und dem „dutch Boer“, wie diese Leute deS

Berufes wegen, dem die Meisten oblagen, hießen, war daß die BoerS bald den Oranje-Fluß überschritten.

Als dann im Jahre 1834 England

für feine sämmtlichen Kolonien das Sklaven-Emancipationö-Gesetz verkündete

*) Zur Schilderung sind benutzt worden:

1.

The Transvaal of to day, by Alfred Aylward 2. edition 1881.

2.

Der Unabhängigkeitskampf der niederdeutschen Bauern von Ernst von Weber. 1881. Neue militärische Blätter, Märzheft 1881.

3.

4. Englands Verantwoording in de Transvaalsche Kwestie, doof Sir Bartle Frere, exgouverneur van de Kaap Kolonie. 5. De Transvaal Republik en de Hollandsche Boeren, 1876. 6. De Zuid Africaansche Kwestie. Dortrag gehalten im Frühjahr 1881 zu Arnheim in Holland. 7. Het Handelsblad. ** ) Der Aufsatz ist Anfang Mai geschrieben.

und dieses in der Kapkolonie ohne Rücksicht auf den ungeheuren Schaden, den die Besitzer dadurch erlitten, einführte, begann tat Jahre 1835 daS

sogenannte trekken — d. h. Wetterziehen der BoerS derartig um sich zu greifen, daß binnen kurzem gegen 10000 die Kapkolonie verließen, ihre ausgedehnten, gut cultivirten Besitzungen für einen Spottpreis ver­ kauften und sich eine neue Hetmath suchten.

Die Anführer dieser Be­

wegung — die Voortrekkers — waren vorsichtig genug die englische Regierung zu fragen,

ob ihnen daS „trekken“ erlaubt wäre, worauf

ihnm das Kap-Gouvernement antwortete, daß sie jenseits des OranjeFluffeS thun und lassen könnten, was sie wollten.

Die Voortrekkers

— auch Voorloopers genannt — glaubten somit ihr Ziel: ein freies selbständiges Volk zu sein, erreicht zu haben, ein Theil von ihnen zog nach Norden in den jetzigen Transvaal, ein größerer Theil wandte sich von hier auS durch die Pässe des DrachengebtrgeS nach Westen und er­

reichte ein fruchtbares, heutige Natal.

aber fast vollständig entvölkertes Land — das

Hier hatte Moselekatze, der Attila des Südens, gehaust

und fast alle Eingeborenen die trekkende BoerS

gemordet.

Erst am Tugela-Fluffe fanden

einen Kaffernstamm,

die ZuluS,

deren Ober­

haupt Dingaan ihnen einen erheblichen Landstrich abtrat, ihre Deputation

jedoch an einem Sonntage des Jahres 1838, kurz nachdem der Vertrag über diese Gebietsabtretung

unterzeichnet war,

ermorden ließ.

Dieses

hinterlistige Verfahren entstammte natürlich die BoerS zur höchsten Wuth

und obgleich bedeutend in der Minderzahl,

überschritten sie dennoch den

Tugelafluß und richteten in der Schlacht von „Veehtkop" irn Januar 1840

ein ungeheures Blutbad an zur Rache für den „blutigen Sonntag" von

1838.

Darauf kehrten sie nach Natal zurück und gründeten hier die

Batavische Republik, verließen daS Land jedoch wiederum als England 1844 Natal feinen Kolonien einverleibte.

Die „Voortrekkers“ gingen

wieder über das Drachengebirge zurück und errichteten den Oranje-Frei­

staat, doch auch hier wurden sie durch die Annexion von 1848, nachdem

sie jedoch erst noch die brittische Macht bei BoomplaatS geschlagen halten, vertrieben.

Unter Führung vort Andreas Pretorius ging der — trek —

diesmal über den Vaalfluß herüber bis zu den Gegenden, wo ihre Väter 1836 bereits vorgedrungen waren.

Republik entstand hieraus.

Die Süd-Afrikanische oder Transvaal-

Da jedoch die englische Regierung wohl ein­

sah, daß sie zu weit gegangen war, so schloß sie mit den emigrirten Boers am 2. Januar 1852 die Convention von Sandriver oder Zandrivier, in welcher allen nördlich des Vaal wohnenden BoerS volle Selbst­

ständigkeit zugesichert wurde.

Dieser Convention folgte am 8. April 1854

die Ungültigkeitserklärung der Annexion des Oranje-FreistaateS.

34*

Durch

diese Convention hat der Oranje-Freistaat seine Freiheit ununterbrochen bewahrt, der TranSvaal-Republik ist sie jedoch nach 25 jährigem Bestehen

durch die Annexionserklärung vom

12. April 1877 wieder genommen

und erst durch den letzten Friedensschluß zurückgegeben worden.

Mit richtigem Blicke hatten die „Voorloopers“ von 1836 und 1848

die Fruchtbarkeit der von ihnen besetzten Gegenden erkannt,

denn der

Transvaal ist ein der Entwickelung sehr fähiges Land, dessen Produkte nur augenblicklich noch nicht leicht zu verwerthen sind, da eS keine Eisen­

bahnen oder

andere bequeme Verbindungen mit dem Welthandel hat.

Die Folge hiervon ist, daß nur ein verhältnißmäßig geringer Theil deS Landes zum Getreideanbau verwerthet wird, und daß weite Flächen frucht­

baren und ergiebigen Bodens nur als Weide heerden benutzt werden.

für die zahlreichen Vieh-

Der Staat zählt jetzt 1804 Regierungsfarmen

mit einem Areal von 11,447,000 engl. Acres und 10485 Privatfarmen mit 54,526,000 engl. Acres.

Auf diesen letzteren ist nur

ein Areal

von etwa 52420 Acres angebaut; das Uebrige wird nicht vom Pfluge berührt! Trotz der vielen Kämpfe die der „Voortrekker“ mit den Einge­

borenen, mit dem Klima und mit der Natur zu bestehen hatte,

es doch auch unter den Weißen drei streng

giebt

von einander geschiedene

und sich bekämpfende Parteien.

Die Minorität, aber trotzdem die am Meisten Lärm machende Partei ist die der sogenannten Annexionisten, die zuerst die Annexion wollte in der

Hoffnung unter der englischen Herrschaft Aemter, Concessionen und dergl.

zu bekommen, dann aber als sie diese Begünstigungen nicht erhielt, ein ebenso unruhiges und verderbliches Element unter der neuen Regierung

wurde, wie sie eS vor der Annexion gewesen war. die Radikalen nennen, die stets

Man kann

sie

unzufrieden fein werden unter welcher

Form auch eine Regierung ihre Ausschreitungen zügelt. — Einen wesent­ lich anderen Charakter trägt die „Eisenbahnpartei".

Ihre Mitglieder be­

klagen auf daS Bitterste, daß der Entwickelung des Transvaal noch nicht mehr Spielraum durch den Bau einer Eisenbahn gegeben ist, daß Eng­

land alle Maßregeln, die irgendwie

eine Schädigung

der

Interessen

Natals Hervorrufen könnten, auf jede Weise zu hintertreiben suchte und

darum auch trotz des § 15 der AnnexionS-Proclamation in den Jahren

1877—1880 nie die Eisenbahnprojecte einer ernstlichen Erwägung unterzogen hat.

Diese Partei repräsentirt entschieden die Intelligenz und den Unter­

nehmungsgeist des Landes, sie wünscht Eisenbahnen, Fortschritt und Self­

government, war unter diesen Bedingungen jedoch mit der englischen Ober-

Hoheit einverstanden. — Die dritte Partei, die der „BoerS" ist die ent­ schiedene Gegnerin der englischen Annexionsgelüste.

Nach 1877 pflegten

sie zu sagen: „Ohne jeden Grund hat man unS unsere Freiheit genommen

und unser Land annektirt, nicht nur gegen den Willen der Majorität, sondern

sogar im Widerspruch mit der von Lord Carnavon dem Sir

Theophilus Shepstone gegebenen Instruktion, in welcher es heißt: „eine

Proclamirung der Annexion darf nur dann stattfinden, wenn Sie sich davon

überzeugt haben, daß das Land oder wenigstens die Mehrzahl seiner Be­

wohner oder endlich seine Regierung es wünschen unsere Unterthanen zu werden."

Die BoerS waren umsomehr empört über diese Annexion als

sie beweisen konnten, daß die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen,

auf Grund deren die Annexion für nöthig befunden wurde,

auf falschen

Grundlagen basirt und größtentheilS Verläumdungen waren, auSgestreut

von Annexionisten, die in den Städten wohnend, ihre Klagen in die Oeffentlichkeit bringen konnten,

ohne befürchten zu müssen, daß der auf

dem Lande lebende Boer sobald etwas davon erfahren würde.

Was nun diese BoerS betrifft,

so sind sie ein kräftiger schönge­

wachsener Menschenschlag, bedeutend über Mittelgröße, deren Aussehen sofort verräth, daß sie an Strapazen gewöhnt, aber auch befähigt sind

dieselben zu ertragen.

Sie sind Kolonisten d. h. sie sind nicht nach

Afrika gekommen um Vermögen zu machen und dann zurückzukehren,

sondern sie haben dort

eine neue Heimath für sich und ihre Nach­

kommen gründen wollen.

Die Frauen haben durch das viele „trekken“,

durch die Theilnahme an den Strapazen, den Wanderungen und den blutigen Kämpfen viel von der weiblichen Anmuth verloren, sind jedoch nach dem einstimmigen Urtheil objektiver Beobachter treue und tüchtige

Hausfrauen, deren Pflichten sie sehr bald kennen lernen, da Männer

und Frauen kaum erwachsen, sich bereits verheirathen und einen eigenen Hausstand gründen.

Der

Charakter des „BoerS"

ist überlegt und besonnen, frei von

Leidenschaftlichkeit, den Gefahren, die ihm entgegentreten und an die er seit seiner ersten Jugend gewohnt ist, mit Ruhe inS Auge sehend.

DaS

Nomadenleben jedoch, welches der Boer während mehr als vierzig Jahre zu führen gezwungen war — wenn er sich der nach ihm gekommenen englischen Herrschaft nicht unterwerfen wollte — hat ihm ein ganz eigen­

thümliches Gepräge von Unstätheit gegeben und man kann annehmen, daß nur wenige BoerS nicht jeden Augenblick bereit sein würden in neue Ge­

genden zu „trekken“

um neue

Weide- und Wohnplätze aufzusuchen.

Durch dieses fortwährende „trekken“ sind die Boers zu dem unleugbaren Mißgriff gekommen, ihre eigene Thätigkeit zu weit auSzudehnen und sich

zu vereinzelt niederzulassen.

Die natürlichen Verhältnisse spielten hierbei

auch eine Rolle, denn der Boer, der vom Cap kam, wo er Holz, Wasser und ergiebige Weideplätze im Ueberfluß gehabt hatte, wollte sich erst dort wieder

niederlassen,

fand.

wo er AehnlicheS

Auf

dem

kahlen Plateau des

„hoogveldes“ — der Wasserscheide des Transvaal — war dies nicht zu

finden, darum zog er in die nördlich und östlich desselben gelegenen, frucht­ bar auSsehenden Ebenen. ungesund

und

Diese Strecken sind jedoch im höchsten Maaße

von tödtlichen,

Fiebern heimgesucht.

Menschen

und Thiere htnwegraffenden

kehrte der Boer nach jahrelangem An­

Darum

kämpfen gegen diese Ungunst der Natur wieder zurück zu dem zwar rauheren, aber desto gesunderen „hoogvelde“.

der Transportschwierigkeiten der

„Buschgegenden" dem

sich

„hoogvelde“.

bedeutend Nicht

Ortschaften sind aus

weniger rentirt als die Viehzucht auf

allein

diesem

Hierzu kommt noch, daß in Folge

Getreideanbau in den tiefer gelegenen sondern ganze

einzelne Wohnplätze,

Grunde wieder von den BoerS verlassen

und ist ihnen dieses von den Annexionisten als ein Zurückweichen vor den Eingeborenen

auSgelegt worden.

Dieses „nie zur Ruhe kommen"

wird von dem Boer selbst bitter empfunden und er giebt diesem Gefühl manchmal in der Bezeichnung seiner Wohnplätze Ausdruck.

Weenen (Weinen) und Lhdenberg

Die Orte

(Berg der Leiden) verdanken

ihm

ihre Namen.

Die BoerS sprechen im Allgemeinen unter sich nur Holländisch, das jedoch in einzelnen Gegenden

sehr an daS Plattdeutsche streift und mit

portugiesischen,

malayischen und Hottentottischen Brocken

Auffallend

der

und

den

andrerseits.

ist

Unterschied

im

Sprachgebrauche

vermischt ist.

zwischen

Natal

übrigen englischen Colonien einerseits, und dem Transvaal Dort müssen die Ausländer die Sprache der Eingeborenen

lernen und können nur in dieser mit ihnen unterhandeln, hier sprechen die Eingeborenen dagegen holländisch, also die Sprache der Ausländer; nur

die Ortschaften machen eine Ausnahme.

Da in diesen das englische Ele­

ment vorherrschend ist, so wird auch hier mehr englisch als holländisch

gesprochen.

Läßt sich eine englische Familie im Boerlande nieder,

so

wird sie ihren Kindern erst holländisch, dann die Kaffernsprache und dann erst englisch beibringen und wenn dieselbe Ansiedlerfamilie auch noch durch Generationen hindurch von England, als von ihrer Heimath spricht,

so

wird sie sich doch in wenigen Jahren als „AfricanderS," d. h. ächte Be­ wohner Süd-AsricaS fühlen. —

Wer ein gewisses Ansehen unter den

muß einen Grundbesitz von mindestens 6000 engl. Acres nachweisen können; wer auf der Besitzung eines Anderen wohnt Boers haben will,

und „Beiwohner" genannt wird, genießt kein Ansehen.

Nichtsdestoweniger

sind aber die Boers nur Bauern in vollem Sinne, vielleicht die größten

BauergutSbesttzer der Welt, sie sind und wollen nichts als Bauern sein. Wer im Transvaal etwa Gutsbesitzer zu finden meint, würde darum

sehr enttäuscht sein.

Er wird eS vielleicht unbegreiflich finden, daß Be­

sitzer von so ausgedehnten Strecken Landes und von so zahlreichen Heerden so einfach leben können und da er um sich her keine Spuren der von dem

Boer erlittenen Mühen und Drangsalen sieht, wird er demselben leicht

Mangel an Unternehmungsgeist vorwerfen. — DaS Wohnhaus des BoerS

steht meist in einem durch eine dichte Hecke umgebenen Raume, am Ufer

eines kleinen Baches, von Trauerweiden beschattet. wenigen WirthschaftSgebäude.

Daran schließen sich die

Vor dem Wohnhause liegt das Ackerland,

der Gemüse- und Obstgarten, dessen Ernten nie mißglücken, und schon an dem Aeußeren deS Hauses kann man erkennen, ob dafielbe bereits feit lange bewohnt ist, ob der Besitzer wohlhabend, ob er fleißig oder

faul ist.

Bedenkt man,

unter

welchen schwierigen Verhältntffen die

BoerS ihre Wohnhäuser haben errichten müssen, ohne Hülfe eines Tech­ nikers, ohne Balken, Bretter, Zimmerholz oder Fensterrahmen beschaffen zu können, nur aus dem an Ort und Stelle sich vorfindenden Material,

man sich über das traurige Aussehen vieler dieser auS Lehm,

so wird

Rohr und Baumstämmen aufgebauten Häuser nicht wundern.

Dort wo

der Besitzer jedoch bereits längere Zeit weilt, steht meist ein ansehnliches HauS aus Fachwerk, dessen Wände mit weißem Kalk gestrichen sind und

dessen Dach mit dem langen Grase deS Landes gedeckt ist. Die einzelnen Besitzungen liegen meist 7—9 engl. Meilen von ein­ ander entfernt.

Bet solchen Entfernungen und in der Erinnerung an be­

standene Leiden und Gefahren ist eS erklärlich, daß der Boer, wenn er nur auf einige Stunden sein HauS verläßt, seinen Angehörigen ebenso Lebe­ wohl sagt, als wenn Europäer zu einer Reise von mehreren Wochen auf­ brechen.

Analog wird Jeder, der eine Boerfamilie besucht, er mag Rei­

sender,

Fremder, Nachbar oder Verwandter sein, mit lautem Zurufe

und Händedruck von dem sofort herauskommenden Hausherrn begrüßt und aufgefordert vom Pferde zu steigen um gastlich bewirthet zu werden.

Die Wohnstube nimmt die Mitte deS Hauses ein, ein oder zwei Tische und einige Stühle machen das ganze Ameublement auS.

Auf einem

Brettchen an der Wand steht die Bibel und ein Gesangbuch, auf einem

anderen die unentbehrlichsten Arzneien.

Neben der Wohnstube, dessen

Thür nach außen führt, liegen ein oder mehrere Schlafkammern, deren

Eingänge

meist nur verhangen sind.

Die Küche ist nicht immer sehr

sauber, da in diesem Theile des Hauses die Dienstboten — die Schwarzen — wohnen.

Durch die Pflege der Vtehheerden ist der Boer zum frühen Aufstehen, durch den Umstand, daß er bei seinem „trek“ kein Beleuchtungsmaterial

auf lange Zeit im Voraus mitnehmen konnte, zum zeitigen sich schlafen Sobald die Sonne untergegangen und die Heerde in

legen gezwungen.

die Kraals getrieben ist, folgt auf das ohnehin kurze Zwielicht des Abends eine Mahlzeit, die Mittag- und Abendessen vereinigt.

Wenn der Tisch ge­

deckt ist, versammelt sich die Familie zum gemeinsamen Gebet und begiebt sich nach dem Essen zur Ruhe, meist ohne sich auSzukletden.

Diese Ange­

wohnheit erklärt sich auS den Gefahren und Störungen die der Boer

während seiner vielen „treks“ in der Nacht zu gewärtigen hatte.

Seine

Waffen legt er beim Schlafengehen in Handbereich.

Ist der Boer irgendwie gut

gestellt, dann ißt er täglich dreimal

Fleisch, die Gemüse werden durch Mais oder Weizenbrod ersetzt. Verbrauch an Kaffee ist groß,

Der

man kann daraus rechnen, daß manche

Boerfamilie bis zu 100 Kilogr. Kaffee in einem Jahre verbraucht.

Die Tracht des Boers ist europäischer Art, dazu ein Hut mit breitem' umgeschlagenem Rand.

Die Frauen und Mädchen tragen wollene Röcke

und Helgoländer Hüte.

ES wäre unbillig

an die BoerS,

die keine zahlreichen Schulen

haben können, da sie zu weit von einander entfernt wohnen, die Anfor­ derung zu stellen, daß sie alle eine gründliche Schulbildung haben müßten.

Dennoch wird auch nach dieser Richtung hin viel gethan.

Die Eltern

leiten selbst den ersten Unterricht der Kinder, später nehmen fast alle Fa­

milien auf kürzere oder längere Zeit einen „Hauslehrer" an, der den Kindern hauptsächlich Lesen, Schreiben, Rechnen, biblische Geschichte und

den Katechismus

In den Dörfern und

beibringt.

vor Allem in dem

Oranje-Freistaat finden sich fast immer Schulhäuser, die nicht selten mit

einem Kostenaufwande von 3—400 Livres Sterling erbaut sind und deren Lehrkräften ein vollkommen ausreichendes Einkommen gesichert ist.

Die Religiosität ist ein hervorstechender Zug im Leben der BoerS, sie sind sogar

meist streng

orthodox.

Da

eS nur wenige Prediger

giebt, so reisen diese vielfach im Lande umher und halten dort, wo eine-

Kirche erbaut ist, den Gottesdienst ab.

Jede Boerfamilie auS der Um­

gegend kommt dahin und bringt Zelt und HauSgeräth mit, um solange wie die „Kirchtage" dauern, dort zu wohnen.

Gleichzeitig dienen diese

Zusammenkünfte auch zu den nothwendigen Besprechungen, HandelSab-

schlüssen und Einkäufen.

Sie tragen somit etwas den Charakter der in

Deutschland früher so zahlreichen Messen.

Wie sehr die BoerS

ihren ernsten und glaubenstreuen Charakter

bewahrt haben, zeigt beispielsweise der Wortlaut des BundeSeideS, den

im Jahre 1879, zwei Jahre nach der Annexion, eine Versammlung der angesehensten BoerS in Wonderfontein einstimmig beschwor: „In der Gegenwart des allmächtigen GotteS, des ErgründerS der

dessen gnädigen Beistand wir erflehen, haben wir Bürger der

Herzen,

süd-afrikanischen Republik feierlich beschlossen für uns und unsere Kinder zu einem heiligen Bunde uns zu einen,

Eide bekräftigen.

den

wir mit einem feierlichen

ES sind jetzt vierzig Jahre her, daß unsere Väter die

Capkolonie verließen um ein freies unabhängiges Volk zu werden.

Wir

haben Natal gegründet, den Oranje-Freistaat und die südafrikanische Re­ publik und dreimal hat die englische Regierung unsere Freiheit unter die

Füße getreten.

unserer

Unsere Flagge, getauft mit dem Blute und den Thränen

Väter, ist ntedergerissen worden.

Diese vierzig Jahre waren

vierzig Jahre der Sorge und des Leidens.

Wie durch einen Dieb in der

Nacht, ist unsere freie Republik uns gestohlen worden. wollen dies nicht dulden.

Wir können und

ES ist der Wille Gottes, daß die Einigkeit

unserer Väter und die Liebe zu unseren Kindern uns verpflichte, unseren

Kindern unbefleckt das Erbe unserer Väter zu überliefern. Grunde vereinigen wir uns hier

Männer und Brüder,

und

AuS diesem

geben einander die Hände als

feierlich versprechend, unserem Lande und Volke

treu zu bleiben und auf Gott blickend bis in den Tod zusammenzuwirken

für die Wiederherstellung unserer Republik.

So wahr uns der allmächtige

Gott helfe."

So spricht nicht ein zusammengelaufener Haufe verschiedener Natio­ nalitäten, so sprechen nicht Elemente, die sich keinem Gesetz fügen wollen;

diese Elemente

liefert nicht der Boerstand sondern jener wilde Haufen

von Abenteurern und untergegangenen Menschen, die zur Ausbeutung der

Diamant- und Goldgegenden nach dem Transvaal kommen, dort wohnen, dort nie den Namen „Boer" führen dürfen, ihn aber in den Augen der

Außenwelt, die leicht geneigt ist, sämmtliche Bewohner des Transvaal

mit dem

Kollecttvnamen die „BoerS" zu bezeichnen, diScreditiren. —

Die Hauptbeschäftigungen des Boers sind Landbau, Viehzucht und die

Jagd.

Der Landbau liegt, wie bereits erwähnt, etwas im Argen, sowohl

der inneren Transportschwierigkeiten und somit des geringen Verdienstes, als auch des nicht zu leugnenden Umstandes wegen, daß der frühere

Sklavenbesitzer sich und seine Söhne für zu gut hält, um den ganzen Tag

den Acker zu

bestellen.

Es ist dies die Aufgabe der ungefähr 300000

Köpfe zählenden schwarzen Bevölkerung.

wollen — wie

Hieraus

jedoch

schließen

zu

es vielfach geschehen ist — daß der Schwarze auch jetzt

noch der Sklave deS „BoerS"

sei, wäre grundfalsch.

und

einer harten Behandlung ausgesetzt

Wohl sind die Eingeborenen weder wahlberechtigt

noch auch wählbar, wohl dürfen sie sich keinen eigenen Grund und Boden

in den Boerdistricten kaufen, dort

niederzulassen

auf

sondern müssen für die Erlaubniß sich

einen Monat oder ein

Jahr

einen

Contrakt

mit dem Boer abschließen, wonach sie ihm seine Feldbestellung besorgen; sie sind jedoch durchaus nicht

an die Scholle gebunden, wie früher der

Leibeigene, sondern sie dürfen nach Ablauf ihrer Contracte wandern wohin sie wollen, nur müssen sie an dem neuen Platze, wo sie sich niederlassen,

sich zur Arbeit für den Farmer verpflichten.

Dies wird man aber nicht

als Sklaverei bezeichnen können, vor Allem wenn man das LooS bedenkt,

das der Schwarze unter seinen eigenen Häuptlingen hat.

In den englischen Niederlassungen ist das Verhältniß ein anderes. Dort

wird

allerdings

den

Schwarzen

volle Freiheit gewährt,

dafür

überschwemmen sie jedoch Natal in einer gefahrdrohenden Weise und er­

geben sich dort ebenso wie im Basutolande und in Kaffrarien den heid­ nischen Gebräuchen der Polygamie und Frauensclaverei.

Die Folge dieser

beiden verschiedenen Systeme ist nach dem übereinstimmenden Urtheil ob­ jektiver Beobachter diese: daß wirkliche Treue und Anhänglichkeit an ihre weiße Lohnherrn viel häufiger bei den schwarzen Dienstboten in den Boerstaaten zu finden ist, als in den englischen Kolonien,

deren ver­

zogene und in ihrer gesellschaftlichen Stellung über ihre Fähigkeit künstlich

emporgeschraubte schwarze Bevölkerung rasch in alle die Untugenden ver­ fallen ist, die eine unbeschränkte Freiheit einem unmündigen Volke zu

geben pflegt. Aeußerlich giebt sich das zwischen Herrn und Dienstboten bestehende Verhältniß leicht zu erkennen. selbe Schwarze,

DaS jüngste Kind eines BoerS wird der­

der einem erwachsenen Menschen anderer Nationalität

vielleicht mit Unverschämtheit entgegentritt, immer mit einem gewissen

Respect behandeln.

In jedem Boerhause finden sich weibliche schwarze

Dienstboten, deren Männer und Väter bereits seit einer Reihe von Jahren

in der unmittelbaren Nähe der Farm wohnen und das dazu gehörige Land bestellen, während

englische Hausfrauen meist vergebens schwarze

weibliche Dienstboten zu bekommen suchen und ihre Kinder der Obhut von

Kaffernknaben anvertrauen müssen.

Selten wird der Boer oder ein Mit­

glied seiner Familie von einer der erwähnten „Messen" zurückkehren, ohne einige kleine Geschenke für das „Volk", wie die Eingeborenen genannt

werden, mitzubringen.

In fast jeder Hütte solcher zahmen Kaffern im

Boerlande findet man Gewehr und Munition, die der Schwarze auch keinen Augenblick anstehen würde zur Vertheidigung seines Herrn zu ge­

brauchen, denn der Pflege und medicinischen Einsicht der Boerfamilie

verdankt mancher Schwarze sein Leben und dieses Gefühl der Dankbarkeit,

der Zusammengehörigkeit, aber auch der geistigen Ueberlegenheit seines Herrn kettet ihn an den Boer und nicht die Furcht und die Zwangsmittel der Sklaverei.

Ueberläßt der Boer die Bestellung des Ackers meist den Schwarzen, so kümmert er sich desto mehr um seine Heerden.

Man trifft nicht selten

BoerS, die Heerden von 5—700 Stück Hornvieh und 2—3000 Schafen

haben.

Die Viehzucht bringt denn auch vielmehr ein als der Ackerbau,

da die Unterhaltung des Viehs durch die vorzüglichen Weiden nichtkoftet und

es nur der Gefahr der Lungenseuche und in den „Busch­

gegenden" deS tödtlichen Stichs der „tsetse“ Fliege ausgesetzt ist.

Da

jedoch im Winter die Weideplätze nicht so ergiebig sind wie im Sommer, so „trekken“ viele Boers, sobald der Winter naht, mit ihren Heerden in die Ebene und kommen erst gegen Sommer-Anfang wieder in ihre

alte Wohnungen zurück.

Der Boer hält ungemein viel darauf eine

reine Heerde zu haben und stets dieselbe Art weiter zu züchten, darum

sieht er es nicht gerne, wenn Engländer, die das Vieh meist des Handels wegen aufkaufen und dabei weniger Gewicht daraus legen, wo daffelbe

her ist, somit auch leicht Seuchen und bergt, etnschleppen können, sich in

seiner Nähe niederlaffen.

Geschieht dies doch, dann bleiben Streitig­

keiten wegen Ueberschreitens der Grenzen, Pfänden und ähnliche Plagereien nicht aus.

Da der Boer solche Mühe auf die Reinhaltung seiner

Heerde verwandt hat, will er auch dieselbe Heerde behalten und eher wird

er auf den beim Tode eines Familienoberhauptes eintretenden Auktionen

das Doppelte von dem bieten, was ein Stück Vieh werth ist, als daß er zugiebt, daß eine rein und gut erhaltene Heerde seiner Familie oder

seiner Gegend in alle Winde zerstreut wird. Nicht denselben guten Erfolg hat die Pferdezucht, so nöthig der Boer auch Pferde hat, da er gerne und gut reitet und seine Jagden und Kämpfe

nie anders als zu Pferde abmachen kann. Die Pferdezucht gedeiht eigentlich nur auf dein „hoogvelde“, aber auch die hier aufgezogenen Thiere sind,

sobald sie in die Ebene kommen, einem bösartigen, meist

tödtlichen Fieber, einer Art Pleuritis und einer heftigen Entzündung des Unterkiefers ausgesetzt. Sobald der Boer es kaun, giebt er sich seiner Lieblingsbeschäftigung,

der Jagd hin.

Die ergiebigsten Jagdgründe sind die „Buschgegenden"

in denen das Jagen jedoch in der Zeit von September bis Juni durch

ein todtbringendes Fieber verwehrt ist.

Nur in der Zeit von Ende Mai

bis September ist dieses Fieber nicht gefährlich und dann widmet sich der Boer und auch mancher europäische Nimrod der Jagd auf Elephanten,

Buffalo's, Bären, Löwen, Strauße und dergleichen. Auf dem „hoogvelde“

Der Boer im Transvaal.

484

muß sich dagegen der Jäger mit Gnu's, Elend's, Antilopen, einzelnen

Wölfen und Schakal'S begnügen. Es dürste nicht ohne Interesse sein zu erwähnen, wie eine Jagdexpedttion nach den Buschgegenden ausgerüstet sein muß.

Ein Süd-Afrika-

Jäger, schreibt Capitain Aylward, muß einen starken mit guten Ochsen bespannten Wagen mit sich führen,

dazu einige Reitpferde.

Sowohl

Ochsen wie Pferde müssen die gefährlichsten Krankheiten d. h. Lungen­

seuche und Pleuritis überstanden haben.

Als die besten Pferde sind die­

jenigen zu empfehlen, die ein dem Maulthiere ähnelndes Aussehen und

auch dessen längs deS Rückens bis zur Kruppe lausenden dunkeln „Aal­ strich" haben.

Für solche Pferde zahlt man 75 —150 LivreS Sterling,

während ein Wagen, wie der oben erwähnte, mit 12 Ochsen bespannt und dem nöthigen Reservematerial an Ketten, Stricken, Rädern rc. nicht unter

230 LivreS Sterling zu haben ist.

Thee, Caffee, Zucker, Zwieback, Pfeffer,

Salz, kurz alles was zum täglicheil Leben gehört, muß der Jäger mit sich führen.

Sehr unpractisch würde eS sein sich vom AuSlande theure, edle

Hunde mitzllbringen, da diese fast stete dem Klima erliegen.

Der ge­

meine transvaalsche Hund ist von bedeutend größerem Nutzen und man zahlt gern für einen solchen guten Hund bis zu 30 LiverS Sterling. Zur Ausrüstung gehören eine gute Büchse mit schwerem Geschoß und einige Gewehre mit etwa 4000 Patronen pro Lauf, ferner natürlich Decken und

dergleichen.

Hierzu kommt dann noch die unentbehrliche Dienerschaft wie

Wagenaufseher, Ochsentreiber, Koch u. s. w.

Wenden wir uns nun zu dem politischen Leben deS BoerstaateS, der bis zum Jahre 1858 aus den drei, nach den gleichnamigen Haupt­

dörfern benannten Republiken Patchefstroom, Lydenberg und ZuntpanS-

berg bestand und erst seit jenem Jahre den gemeinsamen Namen SüdAfricanische

oder TranSvaal-Republik angenommen hat.

Gemäß dem

noch in demselben Jahre proclamirten Verfassung'Sstatute steht ein auf

fünf Jahre zu wählender und wieder wählbarer Präsident an der Spitze deS Ausführenden Rathes (uitvoerende Raad), der die Regierung reprä-

fentirt.

Ihm zur Seite stehen die Landdroste der 10 Distrikte in welche

daS Land administrativ eingetheilt wird.

Diese meist nach dem darin

gelegenen Hauptdorfe benannten Distrikte sind:

1) Patchefstrom, dessen

gleichnamiges Städtchen von 3000 Einwohnern wohl der größte und be­ deutendste Ort im Lande ist.

ES besitzt z. B. eine Druckerei, wo der

„Transvaal Advocate" wöchentlich erscheint, verschiedene Kaufläden, drei holländische und zwei englische Kirchen, eine Freimaurer Loge, daS portu­ giesische Consulat, eine kleine Tabakfabrik,

eine Filiale der Feuerver-

sicherungsgesellschaft, eine Schule in welcher in holländischer und englischer

Sprache Lesezirkel,

unterrichtet

wird,

verschiedene

ein Stadthaus und

ein

englische

Privatschulen,

Postgebäude rc. rc.

einen

2) Heidelberg,

3) Wakerstroom, 4) Utrecht, 5) Rustenburg, 6) Pretoria das seiner günstigen geographischen Lage wegen jetzt Sitz der Regierung geworden ist, endlich

7) WaterSberg, 8) Lhdenberg, 9) ZuntpanSberg ftnb 10) ein kleiner abge­

schloffener schottischer District: Nova-Scottia. Die legislative Gesetzgebungs­ gewalt wird durch den „BolkSraad" repräsentirt, der aus 50 bis 60 Mit­

gliedern besteht, welche aus den Städten und den Verbänden von Grundeigenthümern, die den Namen Feldkornetschaften führen, gewählt werden.

DaS Bürgerrecht erwirbt sich nur der Weiße und auch nur wenn er bereits 1—3 Jahre im Lande wohnt und ein Minimal-Einkommen von 150 Livres Sterling hat.

Als Grundsteuer, aus der das StaatSein-

kommen besteht, wird je nach der Güte des Landes 30— 60 Mark pro

6000 englische Acres gezahlt, jedoch ist es nicht immer leicht dieselbe ein­ zuziehen.

Die Ursache hiervon liegt in der ganzen Art und Weise wie

die Gesetze gehandhabt werden.

geschlagen ist,

Sobald im VolkSraad ein Gesetz vor­

wird eS drei Monate lang in dem RegierungS-Organ

publicirt damit die Bevölkerung sich dafür oder dagegen aussprechen könne. Widerspruch findet sich leicht, und so liegt eS auf der Hand, daß ein Gesetz

schwer in Anwendung zu bringen und daS Amt eines Präsidenten oft kein

sehr beneidenSwertheS ist.

Irgend ein Mittel um Zwang anzuwenden,

giebt es nicht, da die Republik kein Militär hat.

Die Landdroste der

Districte haben ebensowenig irgend welche Macht, außer der ihres per­ sönlichen Ansehens, somit hängt denn die Regierung vollständig von dem guten Willen der Bürger ab und nur mit deren Unterstützung können Feldkornet, Landdrost und Präsident irgend eine Bestimmung durchführen.

Nur einem Gesetz leisten die Boers willig und gerne Folge sobald kein allzulangeS Fortbleiben von Hause damit verbunden ist.

Es

ist

dies die Einberufung zu einem Kampfe, eS sei mit den Schwarzen, eS

sei mit den Engländern.

Ohne diese Eigenthümlichkeit der BoerS wäre

eS auch nicht möglich, daß die Regierung bei ihrer traditionellen Ohn­ macht sich irgendwie feindlicher Einfälle erwehren könnte.

Jeder weiße Bürger ist vom Jünglings- bis zum Greisenalter dienst­ pflichtig, solange er gesund und noch kräftig genug ist.

Er hat sich be­

waffnet (Enfield. Büchse) dahin zu begeben wohin eS bestimmt wird. Ein Theil erscheint mit Ochsenwagen

auf denen die Verpflegung für

welche sie selbst zu sorgen haben, mitgeführt wird, ein anderer Theil

kommt zu Pferde.

Ein solches Volksheer ist natürlich ohne jede militärische

Ausbildung und

entbehrt vollständig der militärisch geschulten Führer.

Selbstverständlich müssen sie in offener Feldschlacht den Engländern stet-

unterliegen, da sie aber alle ohne Ausnahme ausgezeichnete Schützen und gute Reiter sind, so wählen sie als Kriegsweise eine Art recht erfolg­

reichen Guerilla-Krieges, wobei ihnen die Natur deS Landes trefflich zu Hülfe kommt.

Die von den Engländern erlittenen Niederlagen recht­

fertigen es wohl wenn auf die Vertheidigung des Transvaal gegen einen

Angriff derselben etwas näher eingegangen wird. Die schwachen Besatzungen der einzelnen Posten im Inneren des Landes vermochten nicht viel, da sie sofort von den BoerS eingeschlossen

und von jeder Zufuhr abgeschnitten wurden, so daß sie sich theilweise sogar zur Uebergabe gezwungen sahen.

Die Stärke der Vertheidigung deS Transvaal liegt jedoch in seinen

Grenzen.

Zwischen Natal und Transvaal liegt ein hohes, nur sehr spär­

liche und schwierige Uebergänge aufweisendeS Gebirge, dessen Uebersteigen

den Engländern ungeheure Verluste gekostet haben würde.

Die Ostgrenze

ist ebenfalls durch einen GebirgSkamm und die Südgrenze durch den

neutralen Oranje-Freistaat geschützt.

England konnte

allerdings diese

Neutralität verletzen, um in den Transvaal vom Cap aus einzudringen,

dann würde jedoch sofort die mühsam erhaltene Neutralität deS OranjeFreistaates sich in einen engen Anschluß an die Stammgenossen deS Trans­

vaal verwandelt haben.

ES hätten dann 10,000 waffenfähige Männer,

die sogar eine theilweise militärische Ausbildung und vor Allem etwas geschulte Artillerie haben, die etwa 8000 Mann starke Macht der BoerS

verstärkt,

ein gewiß nicht zu verachtender Factor.

Wenn auch

diese

18,000 Mann gering erschienen gegenüber derjenigen Macht die England hätte aufstellen können, so wären sie doch immer nur mit schweren Opfern zu vernichten gewesen.

Von Kindheit an durch ihre Jagden an das Reiten

gewöhnt, auf acclimatisirten Pferden sitzend, die so abgerichtet sind, daß

sie auf der Stelle bleiben wo der Reiter abgesessen ist, würde es Ab­ theilungen solcher BoerS wohl leicht geworden sein, den in ihr Land vordringenden englischen Kolonnen jede Proviant- und Munitionszufuhr abzuschneiden und ihnen fortwährend Verluste beizubrigen.

weise ist den BoerS durchaus nichts Neues.

Diese KriegS-

In den Kriegen mit den

Eingeborenen pflegen sie vom Pferde zu steigen, wenn

sie ein Paar

Schuß abgeben wollen, dann im Nu wieder im Sattel zu sein um nach

wenigen Augenblicken an einer ganz anderen Stelle wieder aufzutauchen.

Dieser Kampfesweise verdanken sie zum großen Theile ihre Erfolge den

Schwarzen gegenüber, die wohl tapferen Widerstand leisten auch gelegentlich selbst angreifen, denen jedoch das Gefühl, nie an keiner Stelle sicher zu

sein vor den plötzlich auftauchenden kleinen Abtheilungen berittener BoerS

und deren selten fehlenden Kugeln, so unangenehm ist, daß sie in letzter Zeit stets die Farmen der BoerS verschont haben und nur die der Eng­

länder zu überfallen pflegten.

Da jedoch der Boer nie lange von seiner

Besitzung wegbletben will und eS natürlich dringend geboten war an den Grenzen zum Schutze sämmtlicher Bewohner eine stehende Truppenmacht

zu haben, so schritt der „BolkSraad" zur Bildung von Freiwilligen-CorpS

von denen das Fort Burger und das Fort Weeber errichtet wurden und die 1877 Secocoeni, den gefährlichsten Grenznachbar, dazu brachten um Frieden zu bitten. Einige charakertstische Verse aus einem Schlachtgesange der BoerS

mögen hier Erwähnung finden: Du List UNS eigen, theures Land; ES hat der Däter fleiß'ge Hand Die Wüste und die Wildniß dort Gemacht -u einem trauten Ort. Wir wollen eS, als freies Vaterland Als unser Erbtheil, dieses schöne Land. Und heiliger Boden ist'S durch Väter Blut, Durch theurer Mütter Thränenflut, Geweint auö tiefstem Herzensgrund. WaS wird aus uns zu dieser Stunb'? Wir werden wie die Väter-gehen Und für die Republik einsteh'n. Der Däter Erbtheil ist kein Traum; Tief wurzelt unser Freiheitsbaum, Den fällt ihr nie und nimmermehr. Er wächst zu einem Blättermeer,

Er wird nicht rasten, nicht ermüden, Bis er gedeckt einst Africa'S Süden.

Zerschmettert unö, wenn'S euer Will, Ihr habt die Macht — wer todt, ist still — Macht nur zur Wüste unser Land Wie Natal einst — wie'S ja bekannt. Doch hütet euch, daß nicht einmal erwache Für LandSlawana'ö *) Mord — die Rache! Dom Joch bestell — für alle Zeit Uns steht zur Seit' Gott selbst im Streit.

Abgesehen von den auf kurze Kriegszüge

hinzielenden

oder auf

Regelung des Grundbesitzes bezüglichen Maßnahmen ist eS dem Präsi-

*) In der Schlacht von LandSlawana ließen sich die englischen Soldaten auch nach der bereits erfolgten Uebergabe große Grausamkeiten zu Schulden kommen.

denten nicht leicht dem Boer verständlich zu machen, daß es Gesammt-

interessen giebt bei denen das Interesse des der

dies

schwere Amt

Einzelnen vielleicht nur

Darum fand sich auch 1872 keiner

geringe Berücksichtigung finden kann. übernehmen

wollte,

außer

Thomas

Franyois

Bürgers, der jedoch kein Transvaler sondern Prediger in her Kap-Kolonie war.

Bei seinem Antritte fand er daS Finanzwesen, das seit 1863 be­

reits sich allmählig verschlechtert hatte, in einem höchst traurigen Zustande.

Die Gehälter und Verpflichtungen deS Staates konnten aus Mangel an Geld nicht bezahlt werden, die Steuern blieben aus, die Staatsschuld stieg allmählig auf 213000 LivreS Sterling; das als Nothbehelf auSgegebene Papiergeld sank immer mehr, so daß an manchen Stellen sogar

der Tauschhandel wieder aufkam.

Dennoch machte sich

Bürgers

mit

aller Energie an die Durchführung großartiger Pläne, wie Eisenbahn­ bau, trigonometrische Aufnahmen, Anerkennung und Schutz durch fremde

Mächte.

Eine jede dieser Maßregeln war an und für sich vorzüglich,

nur paßte sie nicht dahin in dem Augenblicke, in welchem Bürgers nur

darauf hätte bedacht

sein

dürfen,

seine Autorität

und

die der

Regierung durchzusetzen um geordnetere innere Zustände zu erlangen.

Durch, sein Eisenbahnproject brachte er sämmtliche Annexionisten gegen sich auf, da diese wohl eine Eisenbahn Pretoria-Natal aber nicht Pretoria-

Delagoa Bai wollten.

Während nun seine Anwesenheit im Lande drin­

gend nöthig war, um erst den Umtrieben dieser Partei ein Gegengewicht

zu bieten, ging Bürgers auf 1'/, Jahre nach Europa, um eine Anleihe zum Bau der Bahn durchzusetzen.

Natürlich benutzten seine Feinde diese

Abwesenheit um den BoerS begreiflich zu machen, daß Bürgers das Land

vollständig ruinire.

Bei seiner endlich erfolgenden Rückkehr fand Bürgers bereits die Mehrzahl der BoerS gegen sich eingenommen, diesen mußte er nun noch mittheilen, daß er die Anleihe von 300,000 Livres Sterling nicht zu Stande gebracht hätte, und daß ihm nur 90,000 LivreS Sterling auSge-

zahlt wären, wofür denn auch Eisenbahnmaterial gekauft sei.

Hierzu kam

ein nothwendiger Krieg mit dem Grenznachbar Secocoeni, den Bürgers

entgegen den Gewohnheiten der BoerS mit einer verhältnißmäßig großen

Macht (2600 Mann) und mit „einem" Schlage zu Ende bringen wollte. Als dies jedoch nicht gelang und der Krieg sich in die Länge zu ziehen

drohte, verlangten die BoerS ungestüm nach Hause und eS mußte ihnen nach­

gegeben und zur Errichtung jener bereits erwähnten Freiwilligen Corps ge­

schritten worden, die dann im Februar 1877 Secocoeni um Frieden zwangen. Das Fehlschlagen dieses ersten Kriegszuges, die Vermehrung

der

Staatsschuld um die 90000 Livres Sterling die eigentlich nichts nutzen

konnten und um die Kosten des letzten Krieges brachte die BoerS so gegen den Präsidenten auf, daß dieser abdankte.

Ein Zustand allgemeiner Verwirrung riß ein, überall verbreiteten sich Gerüchte von einer Intervention Englands, von Truppenansamm­

von StaatSbankerott und dergleichen.

lungen an den Grenzen,

Keiner

wollte unter diesen schwierigen Umständen den Präsidentensitz einnehmen. In dieser höchsten Krisis erschien dann plötzlich Sir Theophilus Shepstone

mit einem kleinen Stabe, als „Berather", „Helfer in der Noth" und als

Freund wie er sagte.

Ehe noch die Boers diesen „Freund" recht schätzen

gelernt hatten, hißte derselbe am 12. April 1877 in Pretoria die brittische

Flagge aus. Kein Schuß fiel, kein Tropfen Blut wurde vergossen, ein großer

Theil der Bevölkerung war froh von dem unsicheren Gefühle einer un­ bestimmten, drohenden Gefahr befreit zu sein und hoffte auf geordnete Zustände, nur der „VolkSraad" unh 400 zur Stelle befindliche Boers pro-

testirten und erwählten P. Krüger zum Präsidenten.

Dieses Shmpathi-

stren mit der Annexion dauerte jedoch nicht lange, denn bereits im August

desielben Jahres, als die BoerS Gelegenheit gehabt hatten diese Verän­ derungen und vor Allem die Seitens der Engländer vorgebrachten Gründe

der Annexion zu prüfen, erwachte die Reaction. Im August desselben

Beeren nach

England

JahreS (1877) wurde eine Deputation der

geschickt,

um

von

stdllung ihrer Unabhängigkeit zu erbitten.

der

Regierung Wiederher-

Alle Vorstellungen, die sie dem

„colonial office“ machten, waren vergebens und so entschlossen sich die Boeren 1878 eine neue Deputation hinzuschtcken, welche in der „Letter to Sir M. Hicks-Beach, Secretary of State for the Colonies, from

the Transvaal

delegates, dated 10. Juli 1878“, gegen die Annexion

protestirten und als Beweis der allgemeinen Bolksstimmung „a memo­ ria! in Support of the protest,

signed by 6591 out of a possible

8000 electors and dated 7. January 1878“ einreichten.

Alle diese Petitionen waren jedoch erfolglos, die Delegirten kehrten unverrichteter

Sache nach Afrika zurück und die Zustände wurden so

traurig, daß sogar Sir T. Shepstone darüber berichtet:

„die Lage der

Farmer ist augenblicklich ungünstiger als je zuvor unter der Republik*)." Ein tiefer Haß bemächtigte sich der Boers und mehr denn eine

stürmische Versammlung steigerte denselben.

Als äußeres Merkmal der

Stimmung dienten die Steuerzettel, auf deren Rückseite bei Einzahlung

*j Blue Book C 2079. Despatch dated Utrecht January 29. 1878 from Sir T. Shepstone to Sir EL Bulwer: „and their position ie for the time worse under Her Majeaty’s Government, than ever it was ander the Republic“. Pnußischc Jahrbücher. Bb. XLVIIL Heft 5

35

der Steuern fast jedesmal jeder einzelne Boer seinen Protest gegen die englische Herrschaft schriftlich wiederholte.

Die glimmende Gluth der Unzufriedenheit brach endlich am 11. No­

vember 1880 zur lodernden Flamme aus, als ein großer Holzvorrath

zweier Bürger in Potchefstroom, die sich geweigert hatten die Steuern zu

zahlen, mit Beschlag

belegt und verkauft wurde.

Holz wegholen wollte,

widersetzten sich 300 junge Boeren diesem Vor­

haben.

Als der Käufer das

Die hierüber zwischen dem damaligen Gouverneur des Transvaal

und den Leitern des aus jenen 300 Boeren zuerst gebildeten, allmählig

aber bedeutend anwachsenden Meetings in Paardekraal entstandenen Ver­

handlungen endeten damit, daß die Boerenversammlung am 15. December zu Heidelberg ihre Unabhängigkeit proclamirte und ein Triumvirat, be­

stehend aus Krüger, Pretorius und Joubert erwählte.

Am 16. wurden in Potchefstroom die ersten Schüsse gewechselt,

am

26. die von Middelburg nach Pretoria marschirenden englischen Truppen (259 Mann)

am Meadderspruit

vernichtet

oder gefangen

genommen.

Auch den sofort von der Capcolonie, von Natal und von auswärts her gegen die Transvaalgrenze in Bewegung gesetzten Truppen erging es

nicht besser.

Am 28. Januar erlitt General Colley die erste Niederlage

am LaingS-Neck Paß, worauf er von den Boeren vollständig eingeschlossen

wurde; am 8. Februar wiesen sie einen Ausfall am Jngogoflusse unter großen Verlusten der Engländer zurück und brachten ihnen am 26. Fe­

bruar, trotz der inzwischen unter General Wood herangekommenen Ver­ stärkungen am „Majubahügel" eine entscheidende Niederlage bei, wobei General Colley fiel*).

Bei all diesen Erfolgen war

das Boerentriumvirat jedoch

blind gegen die ihm drohende Gefahr.

nicht

ES erkannte ganz richtig, daß

endlich die Truppenmassen, welche England in Bewegung setzen konnte,

ihre nur 8000 Mann zählende Schaar überwältigen müßten.

Sie ver­

suchten daher durch Vermittelung des Präsidenten des Oranje-FreistaateS,

Brandt, unter annehmbaren Bedingungen Frieden zu schließen**).

Da

nun auch bereits am 13. Februar die englische Regierung an den Gou­

verneur von Natal folgende Depesche geschickt hatte: „Ohne Ihre diskre­ tionäre Gewalt einschränken zu wollen, möchte die Regierung doch, daß Ihrerseits Unterhandlungen angebahnt würden,

um dem Blutvergießen

ein Ende zu machen", so führten die Besprechungen bereits am 6. März *) Die Ereignisse des Krieges sind, soweit sie bis jetzt bekannt waren, von demselben Verfasser in Nr. 57 des Militär. Wochenblattes ausführlich geschildert.

**) Petitie voor Rechten gericht van Z. H. Ed. den President van de OranjeVryStadt, d. d. 17. 2. 1881.

zu einem Waffenstillstände, dem am 14. desselben Monates ein vorläufiger

Friedensschluß folgte, der folgende Bestimmungen enthält: 1. Die Souveränetät der Königin von England wird anerkannt. 2. Den Boeren wird ein „Selfgovernment" gestattet. 3.

Die Aufsicht über die Beziehungen mit dem Auslande behält sich

die englische Regierung vor. 4. Ein englischer Resident wird in der zukünftigen Hauptstadt deS

Transvaal angestellt. 5. ES wird eine Königliche Kommission bestehend aus Str H. Ro­ binson, General Sir E. Wood und Sir I. H. de Villiers ernannt. 6. Die Kommission wird die nöthigen Beschlüsse fassen zum Schutze der Eingeborenen und zur Regelung der Grenzangelegenheiten. 7. Sie wird in Erwägung ziehen, ob und welcher Theil des östlichen Transvaal den Brittischen Besitzungen« einzuverleiben ist. 8. Die Boeren werden sich von LaingS-Neck zurückziehen und sich in ihre Heimath begeben. 9. Die Brittischen Garnisonen im Transvaal verbleiben dort bis

zur endgültigen Regelung aller Punkte. 10. Da die Boeren sich zurückziehen wollen, verspricht General Sir E. Wood, daß seine Truppen weder weiter vorwärts marschiren, noch auch daß MunitionSvorräthe zu den Garnisonen im Transvaal gesandt werden. Dieser Präliminar-Friede läßt der individuellen Auffassung einen ungemein weiten Spielraum, einzelne Paragraphen sind den Engländern

so günstig, daß zu befürchten steht, daß wenn die nur aus Engländern zusammengesetzte Kommission nicht sehr maaßvoll ist, die Boeren von Neuem

zu den Waffen greifen. Punkt 7 z. B. bedroht den Transvaal mit der Trennung von dem portugiesischen Territorium an der Delagoa-Bai, Punkt 8 stellt den Eng­ ländern den Einmarsch in die Republik frei, sobald etwa die FrtedenS-

verhandlungen scheitern.

Die augenblickliche Lage im Transvaal ist daher noch durchaus keine befriedigende, überall herrscht eine gewisse Gährung und eine unbestimmte Angst, ob nicht die englische Kommission ihre Rechte mißbrauchen und ob

der Leiter deS Triumvirates P. Joubert wohl genug Autorität besitzen wird, um die endgültigen Bestimmungen durchzuführen. Faßt man die gesammte Lage der Republik ins Auge, so sind die beiden Hauptbedingungen, die durchaus erfüllt werden Missen, wenn der jetzige Boerenstaat Bestand und einige Aussicht auf eine günstige Entwicklung haben soll: 1. ein energischer Präsident zur Hebung der politischen und 2. eine Eisenbahn Pretoria-Delagoa-Bai zur Hebung der materiellen Lage deS Landes. 35*

Ob Ersteres sich erreichen läßt, hängt natürlich von den Persönlich­ keiten ab, Letzteres ist möglich, da die Entfernung der projectirten Bahn Pretoria-Delagoa-Bai nur 300 englische Meilen beträgt.

Diese Bahn

würde den besten Hafen der Africanischen Südost-Küste mit der Mitte der Republik verbinden, würde leicht zu bauen sein, da sie zu Vierfünftel durch

Flachland führt, aber die Interessen Natals ungemein schädigen und findet darum den heftigsten Widerstand von England auS.

Die andere in Vor­

schlag gebrachte Bahn-Pretoria-Natal'wäre viel schwieriger zu bauen da

sie u. A. das Drachengebirge zu überwinden hätte, würde keinen sehr guten Hafen als Ausgangspunkt haben, vor Allem nicht die reichsten Gegenden

des Transvaal durchschneiden und wegen der hohen Zölle in Natal keinen so großen Vortheil gewähren, immerhin wäre aber auch sie eine wesent­

liche Verbesserung gegenüber den jetzigen Zuständen. Die unermeßlichen unterirdischen Schätze des Transvaal, die jetzt wegen Mangels an Arbeitskräften und Transportmitteln noch nicht ausgebeutet werden können, wie z. B. Gold, Silber, Eisen, Blei, Kupfer,

Zinn, Quecksilber, Kobalt und vor Allem die mächtigen Steinkohlenlager

würden durch den Bau einer Eisenbahn der Industrie erschlossen und ebenso würde dem Getreideanbau im Flachlande ein großer Aufschwung

gegeben werden.

Wäre es England gelungen sich den Transvaal zu er­

halten und hätte seine Regierung eS verstanden der Bevölkerung einiger­

maßen entgegenzukommen, dann hätte dieses Land nach einer Reihe von Jahren leicht mit dem Reichthume der anderen englischen Kolonieen konkurriren, eS hätte die künftige Kornkammer Süd-Africa'S und vermöge der

geographischen Lage der Schlüssel zu den ungeheuren Territorien werden

können, die sich vom Limpopo und vom Zambesi bis zum Congo und

den centralafricanischen Seen erstrecken. Diese Aussichten mögen denn wohl auch der Hauptbeweggrund zur

Annexion gewesen sein, aber Sir Bartle Fröre, der vormalige Gouverneur der Kap-Kolonie, urtheilte weise, als er schrieb: „wie groß die Gefahr auch

war, die BoerS baten uns nicht um unseren Schutz und darum mußten wir warten bis sie es thaten." — So paradox es auch klingen mag, die BoerS müssen in gewisser Weise den Engländern für die Annexion von 1877 dankbar sein, denn erst durch die Folgen derselben ist eS den BoerS möglich gewor­

den, die durch Berichte oberflächlicher und voreingenommener Beobachter

gemachten Anschuldigungen zu widerlegen und das allgemeine Interesse der

Außenwelt zu erwecken.

Verfolgen die BoerS ihre bisher errungenen Vor­

theile mit Mäßigung, dann ist zu erwarten, daß aus dem Transvaal eine ebenso gut geordnete Republik, wie auS dem Oranje-Freistaat entstehen wird.

R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807-1815*). DaS vorstehende Werk bildet eine sehr werthvolle Ergänzung zu den

Werken von Pertz (Leben Steins) und Duncker (Abhandlungen aus der

Zeit Friedrichs d. Gr. und Friedrich Wilhelms III.), sowohl durch die

vorzügliche und lichtvolle Darstellung des einleitenden Theils,

als na­

mentlich durch die Masse deS beigegebenen urkundlichen Materials.

Das­

selbe stammt zum größten Theil aus dem Berliner Geheimen SlaatS-

Archiv;

daneben ist auch

herangezogen worden.

das Wiener Archiv

fleißig durchforscht und

Von bisher unbenutzten Quellen kommen na­

mentlich die diplomatischen Papiere deS Grafen Hardenberg, der bis zum

Februar 1808 hannoverscher Gesandter in Wien war, in Betracht.

Auch

die handschriftliche Hinterlassenschaft deS Obersten Grafen Götzen hat

reiche Ausbeute gewährt.

Wir wollen versuchen, unsern Lesern die gewonnenen Resultate in

knappen Zügen vorzuführen.

Am 9. Juli 1807 war zwischen Frankreich und Preußen der Friede von Tilsit abgeschlossen worden.

Der preußische Staat wurde dadurch

auf die Hälfte seines bisherigen Besitzstandes beschränkt; daS dem König belassene Gebiet sank von 5570 aus 2877 Quadratmeilen, die Unter­ thanenzahl von 9,743,000 auf noch nicht völlig 5 Millionen herab.

Alle

Besitzungen zwischen Rhein und Elbe gingen verloren, ebenso die Erwer­

bungen aus der zweiten und dritten Theilung Polens, auS dem ReichSdeputationShauptschluß von 1803, die fränkischen Fürstenthümer, OstfrieSland u. a.

Und auch die Länder, die Preußen noch verblieben, verdankte

eS lediglich der Rücksichtnahme, die Napoleon seinem neuen Verbündeten Alexander von Rußland schuldete, der schon auS Pflichten der Selbster­

haltung die Niederreißung auch noch deS letzten Dammes, der das Ost*) Publikationen au» den K. Preuß. Staatsarchiven. Bd. VI. Leipzig, Hirzel, 1881.

R- Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.

494

reich von dem Westreich trennte, nicht dulden konnte.

Wäre Alexander

nicht gewesen, so würde Napoleon auch Schlesien und Ostpreußen von der

preußischen Monarchie abgetrennt,

ja vielleicht den

ganzen preußischen

Staat aufgelöst und die einzelnen Stücke desselben an die beutelüsternen Nachbarn vertheilt haben.

Aber auch so schien die Zukunft deS preußischen Staatswesens ver­

nichtet zu sein.

Denn was ihm noch übrig blieb, bildete so wenig ein

consoltdtrtes Ganzes, daß auch der ärgste Widersacher mit dem schlimmsten

Willen keine ungünstigere Gestaltung der Grenzen hätte auösinnen können.

Die noch verbliebenen Gebiete (Ostpreußen, Schlesien, Brandenburg und Pommern) „lagen wie die drei Blätter eines Kleeblatts durch schmale

Streifen verbunden; jeden Augenblick konnten, auf einen Wink des Im­ perators, die Polen vom Osten, die Sachsen vom Süden her, die West­ falen auö Magdeburg, die Franzosen auS Mecklenburg und Hamburg gleichzeitig gegen Berlin vorbrechen und das Netz über dem Haupte des

Hohenzollern zusammenziehen".

Schlimmer noch als die Bestimmungen des Friedens selbst war die von Napoleons Seite geübte Auslegung, bezieh. Ausdehnung derselben. Er selbst hatte als preußischen Unterhändler, im Widerspruch mit Friedrich

Wilhelm III., der Hardenberg zu dem Friedensgeschäft delegirt hatte, den

Feldmarschall Grafen Kalkreuth gefordert, der, so tapfer er sich bei der Vertheidigung Danzigs gezeigt hatte, doch keineswegs den politischen und

diplomatischen Künsten Napoleons und seiner Helfershelfer einen erfolg­ reichen Widerstand entgegenzusetzen im Stande war.

Ein Hauptfehler der Redaction der Friedensbestimmungen bestand

darin, daß über die Höhe und den Zahlungstermin der Kriegskostenent­

schädigungsgelder keine bestimmten Abmachungen getroffen worden waren. Trotzdem war aber in der Königsberger Convention vom 12. Juli die militärische Räumung

des Landes von der vorherigen Zahlung dieser

Kriegsschulden oder ihrer worden.

genügenden Sicherstellung

abhängig

gemacht

Bis zum 1. August sollten die französischen Truppen über die

Passarge, bis zum 20. August über die Weichsel, bis zum 5. September

über die Oder und bis zum 1. Oktober über die Elbe zurückgezogen werden.

Das Verfahren Kalkreuths war um so unbegreiflicher, als er

durch den französischen General-Intendanten Grafen Daru über die Höhe der von Napoleon geforderten Kriegskostenentschädigung (100 Mill. Frcs.) unterrichtet worden war.

Die Bemühungen

Friedrich Wilhelms III.,

nachträglich durch persönliche Verhandlung mit Napoleon nicht nur eine bestimmte Festsetzung, sondern auch eine Ermäßigung der geforderten Summe herbeizuführen, blieben fruchtlos.

Bald sollte es sich erweisen,

daß jener französischer SeitS beliebten Verschleppung der FriedenSauSführung ein fester, vorberechneter Plan zu Grunde lag, der nichts Anderes bezweckte, alö das unglückliche Land finanziell auSzusaugen und so zum völligen Untergang reif zu machen.

AlS der für das Zurückgehen der

französischen Truppen hinter die Weichsel festgesetzte Termin heranrückte, erklärte Berthier als Stabschef der Großen Armee, daß er den Befehl

habe, mit seiner Avantgarde in Ostpreußen stehen zu bleiben, bis die

Ausführung

des Friedens in allen Punkten bewerkstelligt fein werde.

Wenige Tage später überreichte Dar», der in Berlin mit der FriedenS-

vollziehungS-Commission die finanziellen Fragen der Auseinandersetzung zu behandeln hatte, seine berüchtigten Tableaux über die Abrechnung mit

Preußen, in denen u. a. im schnödesten Widerspruch mit den Tilsiter Ab­ machungen und den hergebrachten Anschauungen des Kriegsvölkerrechts,

sämmtliche Staatseinkünfte Preußens vom 1. November 1806 an bis zum Tage des Friedensschlusses nachträglich für Frankreich beansprucht und da­

durch die Kriegskosten zu einer Höhe von 154'/, Millionen Francs htnaufgeschraubt wurden.

Zu gleicher Zeit warf sich Daru eigenmächtig zum Vermittler aller derjenigen auf,

welche in irgend einer der vormaligen, jetzt durch den

Tilsiter Frieden abgetretenen preußischen Provinzen GeldentschädigungsAnsprüche an die preußische StaatSkasie hatten oder zu haben glaubten.

Nicht eher — so erklärte er am 1. September — würden die französischen Truppen die Passarge verlassen, als bis der letzte dieser Ansprüche be­

glichen worden sei.

Bei der Schwierigkeit, alle diese Forderungen rasch

zusammen zu bekommen, bedeutete diese neueste Erklärung des findigen

Franzosen nichts Anderes als die unabsehbare Hinauszögerung der für die ganze künftige Wohlfahrt Preußens nicht rasch genug herbeizuführenden

Räumung des Landes von den französischen Truppen. Diesen maßlosen Forderungen Daru's gegenüber suchte die in Berlin unter dem Vorsitz des Geheimen Oberfinanzraths Sack tagende FriedenS-

commission als billig hinzustellen, daß von der verlangten Summe vorerst

die in Geld veranschlagten, den einzelnen Provinzen, Kreisen und Com­

munen auferlegten Naturallieferungen abgezogen werden müßten; auf diese Weise würde nur noch ein Rest von 19—20 Millionen zu erlegen sein.

In Anbetracht jedoch der Schwierigkeit der genauen Ermittlung dieser ein­ zelnen Lieferungsposten proponirte die Commission die Zahlung einer Ent­ schädigung von 30 Millionen, wenn dadurch jeder fernere Anspruch fallen gelassen würde.

Allein Daru wies nicht nur diesen Vorschlag aufs unzweideutigste

zurück, sondern erklärte noch weiter geradezu, daß er die gesammte Civil-

Verwaltung so lange festhalten würde, bis der letzte SouS der geforderten

Entschädigung bezahlt sei.

Und daß dies nicht blos eine leere Drohung

bleiben werde, konnten die preußischen Staatsmänner schon aus manchen früheren Maßnahmen Darus abnehmen.

So hatte er beispielsweise den

Berliner Zeitungen die Veröffentlichung der königlichen OrdreS untersagt,

welche die Einsetzung der Friedenscommission und die Abgrenzung ihres

Geschäftskreises verfügten, so daß der Commission nichts erübrigte, als sich ausländischer Zeitungen (so namentlich deS damals in Handelskreisen viel gelesenen Hamburger Couriers) zu bedienen.

Auch sonst suchte Daru

der Friedenscommission in der Ausübung ihrer Amtsgewalt die peinlichsten Schwierigkeiten zu bereiten.

ES würde die größte Thorheit sein —

äußerte er einmal ganz unverhohlen gegen Sack — wenn das französische

Gouvernement sich von seiner bisherigen Gewalt auch nur den geringsten Theil entziehen lassen wollte.

„Im Besitze der Civilverwaltung", fügte

er hinzu, „regiert man daS Land aus dem Tintenfaß, im andern Falle

müßte man

alle Tage die Soldaten

marschiren lassen."

Sämmtliche

öffentlichen Kassen wurden zuerst beschlagnahmt, dann ganz in französische Verwaltung genommen, die Verbindung der Provinzialbehörden mit der eine Art von oberster Aufsichtsbehörde bildenden FriedenScommission durch

Verbot jeder direkten Correspondenz unterbunden und namentlich denjenigen

Behörden, die der Staatskasse reichliche Einkünfte lieferten, französische Controlleure mit weitreichenden Vollmachten an die Seite gesetzt. Aehnliche Schwierigkeiten wurden den zur GrenzregulirungScommission nach Elbing abgeordneten preußischen Commiffaren bereitet.

Der fran­

zösische General-Kommandant Marschall Soult erhob bezüglich der Ab­

grenzung des neu geschaffenen Herzogthums Warschau die ungemessensten Forderungen.

Der durch den Tilsiter Frieden zu einem unter preußischem

und sächsischem Schutze stehenden Freistaat erklärten Stadt Danzig mußte

von Seite Preußens ein Gebiet von zwei deutschen Meilen (von der Enceinte aus gerechnet) bewilligt werden, obgleich der Friedensvertrag nur von Heues sprach.

Empfindlicher für Preußen war das ihm abgepreßte

Zugeständniß einer durch Schlesien gehenden Militärstraße für Sachsen.

Und wenn diese Straße wenigstens nur für den Transport der sächsischen Truppen aus dem Stammlande nach den neu acquirirten polnischen Ge­

bieten benützt worden wäre: aber so wurde sie auch für die mi,t Sachsen verbündeten Armeen, also namentlich für die Große Armee in Anspruch genommen und diente nebenbei auch noch zur massenhaften Einschleppung sächsischer und polnischer Handelsartikel in preußisches Gebiet. Friedrich Wilhelm III. war über alle diese Demüthigungen tief em­

pört.

Eine letzte Hoffnung setzte er noch auf die Sendung Knobelsdorffs

an Napoleon, da so vielleicht der Gewaltige zur Milderung der von seinen

Beamten geübten grausamen Härte sich bewegen lassen würde.

Der un­

glückliche-Fürst schien nicht zu wissen, daß Daru und Bignon, Berthier

und Sack und wie sie alle hießen die Blutsauger und Dränger, nur Werkzeuge des einen dämonisch gewaltigen Willens waren, und daß alles,

was sie forderten und thaten, sich ausschließlich innerhalb der ihnen von diesem ertheilten Instruktionen bewegte.

Und dieser eine Wille war auf

die gänzliche Vernichtung Preußens gerichtet.

Darauf deuten nicht blos

die Bestimmungen des Tilsiter Friedens hin: die Zerreißung des Landes,

die Ausstattung des rivalisirenden Hauses Wettin mit wichtigen Stücken

dieser Länderbeute, sondern namentlich jetzt noch weiter die militärische Besetzthaltung des preußischen Staatsgebiets, die planmäßige finanzielle Aussaugung desselben, die den völligen Zusammenbruch des Staates noth­

wendig nach sich ziehen mußte.

Schon im November 1807 erklärte sich

Napoleon bereit, die Donauprovinzen an Rußland zu überlassen, wenn er

dafür Schlesien erhielte und dem Könige von Preußen nur noch ein Ge­ biet von zwei Millionen Köpfen übrig bliebe.

Dazu die unablässigen

Rüstungen in Magdeburg, die französischen ArmeecorpS in SchwedischPommern, in Warschau,

überall in den Landen diesseits der Weichsel,

und die wiederholte Versicherung, der Imperator werde es als ein Zeichen

des Vertrauens betrachten, wenn der König bald aus dem sichern Königs­ berg nach Berlin übersiedle.

Unter solchen Umständen durfte man sich auch von einer directen Anrufung des obersten Machthabers keinen Erfolg versprechen.

Und in

der That, noch ehe KnobelSdorff zu einer Audienz bei Napoleon gekommen

war, ließ dieser ihm durch Tallehrand bedeuten, daß von einer Er­ mäßigung der Kriegssteuer unter keinen Umständen die Rede sein könne, da jene der Armee, nicht ihm gehöre.

DaS Handschreiben des Königs

blieb unbeantwortet.

Noch ein letzter Ausweg blieb dem Könige offen: die Anrufung der Intervention seines Verbündeten Alexander von Rußland.

DaS freund­

schaftliche Verhältniß zu diesem hatte durch die Tilsiter Abmachungen — auch nicht durch jene selbstsüchtige Annexion preußischen Gebiets seitens

des Czaren — keine Einbuße erlitten.

Unmittelbar nach der Unterzeich­

nung deS Friedensvertrags hatte Friedrich Wilhelm III. dem russischen

Kaiser Abschrift des Vertrags mitgetheilt und eine solche deS russisch­ französischen Tractats erhalten — allerdings nur was den eigentlichen

Friedensvertrag und die geheimen Nebenartikel desselben anlangte.

Außer

diesen war zwischen den beiden Machthabern noch ein geheimer Tractat

abgeschlossen worden, und von diesem erhielt Friedrich Wilhelm III. keine

Man hat später überhaupt die Existenz eines solchen geheimen

Kenntniß.

Vertrags geläugnet und konnte sich zum Beweise dieser Ntchtexistenz dar­ auf berufen, daß nie etwas Bestimmteres darüber in die Oeffentlichkeit

gelangt ist.

Aber daß trotzdem solche geheimen Abmachungen zwischen

Napoleon und Alexander getroffen worden sind, geht aus zahlreichen An­ deutungen

gleichzeitiger Beobachter mit genügender

Sicherheit hervor.

Die Grundlage des Geheimvertrags war ein Schutzbündniß der beiden Mächte.

Alexander erbot

sich, auf England zur Herbeiführung eines

Friedens mit Frankreich zu wirken: gelang diese Vermittlung nicht bis

zum 1. November, dann sollte Rußland gemeinsam mit Frankreich zum Kriege gegen den Inselstaat vorgehen.

Ebenso machte sich Napoleon an­

seinem neuen Alliirten einen vortheilhaften Frieden

heischig,

Pforte zu verschaffen:

mit der

weigerte die letztere die Annahme dieser Inter­

vention, dann wollten die Verbündeten die europäischen Lande der Türkei mit einziger Ausnahme RumelienS

meers

mit Constaniinopel unter sich auf­

Portugal, Spanien, Schweden, Dänemark, die Inseln des Mittel­

theilen.

wurden in willkührlich-abenteuerliche Kriegs- und Eroberungö-

Combinattonen hineingezogen — Abmachungen, die nur zum kleinsten Theil praktische Folgen hatten,

aber von der stolzen Ueberhebung, der

schrankenlosen Willkür und den riesigen Plänen der beiden Autokraten

Zeugniß

ablegten.

In einem

Spiel kühnster, zügellosester Phantasie

wurde hier über die Länder Europas und selbst über Indien verhandelt, als ob sie eine völlig wehrlose Beute wären.

„Niemals", sagt Lanfrey,

„war die Freiheit Europas ernstlicher bedroht gewesen, niemals schien der naturwidrige Cäsarismus,

den Napoleon in wahnsinniger Verkennung

wieder heraufzubeschwören suchte, so nahe daran, sich fest zu begründen, als in diesem Augenblicke, wo er sich einerseits auf den moSkowitischen

Koloß, andererseits auf eine Militärmacht ohne gleichen stützte.

Damals

sah eS aus, als ob Alles verloren sei, und doch waren diese großartigen Pläne, diese glänzenden Berechnungen, dies gewaltige Bündniß nur ein

Schreckbild, eine Vision, eine Täuschung." Den

ehrenhaften, streng

gerechten Sinn Friedrich Wilhelms III.

mußten solche Abmachungen und Pläne aufs tiefste kränken.

WaS half

es, wenn gegenüber dieser PreiSgebung zahlreicher alter legitimer Herr­

scherfamilien, Preußen für den Fall, daß Hannover mit dem Königreich Westfalen vereinigt werden würde, eine Länderentschädigung auf dem linken Elbufer mit einer Seelenzahl von 3—400000 in Aussicht gestellt wurde?

Denn abgesehen davon,

daß diese Entschädigung noch nicht annähernd

einen Ersatz für das Verlorne schuf, so war es so gut wie ausgeschlossen,

daß Georg III. jemals seine Hand zur Aufgabe seines Stammlandes an

Und über Freundschafts­

ein Glied des Hauses Bonaparte bieten würde.

versicherungen und mitleidiges Bedauern der doch nicht ohne seine Schuld

geschaffenen Lage seines alten Verbündeten kam Alexanders Eitelkeit und Selbstsucht nicht hinaus.

Ende September 1807 ging der während des letztverflossenen JahreS bereit- mehrmals zu diplomatischen Sendungen an Kaiser Alexander ver­ wendete Major von Schöler als vertrauter Bevollmächtigter Friedrich Wllhelms III.

— die

offizielle

Gesandtschaft war durch

von Schladen vertreten — nach Petersburg ab.

richtige Mann für diesen schwierigen Posten:

den Baron

Schöler war ganz der

das

geht schon aus den

Worten hervor, mit denen ihm Alexander bei seiner Antrittsaudienz entgegen­

„ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich mich freue, daß der König

trat:

gerade Sie gewählt hat.

rede."

Sie wissen, daß ich zu Ihnen ohne Rückhalt

Bis zum Ausbruch des russisch-französischen Krieges ist Schöler

in Petersburg geblieben und hat dabei erreicht, was bei einem so schwan­

kenden Charakter, wie derjenige Alexanders war, überhaupt zu erreichen

war.

„Nicht immer hat Alexander sein faltenreiches Herz mit unbe­

grenzter Offenheit vor Schöler erschlossen; im großen Ganzen aber trat

er ihm ohne Rückhalt entgegen, und ost genug ward dem Gesandten Ge­

legenheit gegeben, einen tiefen Blick in das Innere des Kaisers zu thun; gerade für die persönliche Charakteristik Alexanders bilden die Depeschen

Schölers eine Quelle ersten Ranges."

In einem eigenhändigen EinführungSbrlef, den Friedrich Wilhelm III. seinem Vertrauten mitgab, glaubte er dem Verbündeten das Dilemma

seiner Lage in folgender Frage vorlegen zu müssen: „soll man festhalten und gegen jeden widerrechtlichen Anspruch Protest erheben, in der Hoff­

nung, daß die guten Dienste E. M. einen glücklichen Erfolg zu Wege bringen werden?

Oder aber soll man in allen Punkten nachgeben, alles

zugestehen, im Hinblick auf eine Entschädigung, zu der Ihre Intervention

mir verhelfen wird?

Die Freimüthigkeit, die in unserm Briefwechsel

vorherrschen soll, gestattet mir offenherzig zu sprechen, und ich weiß, daß Sie mir gegenüber ebenso verfahren werden."

Alexander ließ eS nicht

an Betheurungen seiner dienstwilligen Gesinnungen fehlen, aber dem Kern

der Frage wich er vorsichtig aus.

„Daß ich eS nicht an freundschaftlichen

Vorstellungen fehlen laffen werde", sagte er zu Schöler, „davon kann der König, der meine Gesinnungen kennt, ebenso überzeugt sein, als er über­

zeugt ist, daß mich nur die absolute Nothwendigkeit dazu gebracht hat, seine Vertheidigung durch die Gewalt aufzugeben.

Allein welche Garantie

kann ich für den Erfolg gewähren, da wir eS nicht mit Gefühlen besserer

Art, sondern mit der kalten Entschlossenheit zu thun haben, die Uebermacht

R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.

500

gelten zu lassen, der wir nichts entgegensetzen können.

Ich kann, glaube

ich, dem Könige keinen stärkeren Beweis der Aufrichtigkeit meiner Ge­ sinnungen geben, als daß ich, anstatt ans meine Verwendungen bet Na­

poleon einen Werth zu legen, ihm gerade heraus gestehe, daß ich mir wenig oder gar nichts davon verspreche, daß ich ihm anrathe, sich ganz

allein an Napoleon zu wenden, in seine Ideen, soweit eS der König nur immer für rathsam hält, einzugehen und dadurch wenigstens seiner Eitel­ keit zu schmeicheln."

Im Uebrigen empfahl er dem Könige Nachgiebigkeit

und ließ sich in dieser seiner Weichmüthigkeit auch durch die offene Er­

klärung SchölerS nicht beirren, daß die fortgesetzte schwere Bedrückung Preußens durch Napoleon nothwendig auch Rußlands fernere Sicherheit

bedrohen müsse.

Alexander mußte dies zugestehen, ohne sich jedoch des­

halb aus seiner auf die Aufrechthaltung eines bestmöglichen Einverständ­

nisses mit Napoleon gerichteten Politik aufrütteln zu lassen.

„Sie wissen"

— sagte er zu Schöler — „daß ich nicht im Stande bin, einen Krieg gegen Frankreich zu unternehmen, und ohne die Hoffnung eines vorzüglich glücklichen Erfolgs wäre, sicher nach des Königs eigener Ueberzeugung, dieser Krieg das größte Uebel, welches Preußen begegnen könnte. Drohen

— und jede sogenannte kräftige Vorstellung muß doch wenigstens eine

Drohung verstecken — enthüllt aber, wenn man diesen Drohungen keine Folge geben kann, die Schwäche nur noch mehr und könnte also nur das

Uebel ärger machen."

Unter solchen Umständen erübrigte dem Könige nichts anderes, als sich schweigend der brutalen Gewalt zu fügen.

Und wohl noch niemals

ist ein gebildetes Volk in gleichem Maße gemartert worden, wie das preußische in den Jahren 1807—1812.

Am 21. September erklärte Daru

der Friedenscommission, daß er von Napoleon beauftragt worden sei,

sämmtliche 1. Oktober

Staatseinkünfte nicht

mit Beschlag zu belegen,

eine Einigung

über

wenn bis zum

die Schuldzahlung

erfolgt sei.

Völlig rathloS fand diese neue Drohung die Mitglieder der Commission.

Glücklicherweise weilte gerade in jenen Tagen auf der Durchreise nach Memel der Freiherr vom Stein in Berlin.

Aus einer Unterredung mit

Daru hatte er die Ueberzeugung gewonnen, daß diesem eine weitere Ver­ schleppung der Kriegskostenangelegenheit durchaus nicht unerwünscht kommen

würde,

da ihm dadurch die Möglichkeit gegeben würde, Preußen noch

länger die Daumschrauben seiner AuSsaugungSpolitik aufsetzen zu können.

Steins Rath ging daher, in Berlin wie in Memel, dahin, ungesäumt

eine Ausgleichung mit dem

Feinde zu suchen und diesen dadurch zu

zwingen, das zu thun, ohne was eine Regeneration des tief gesunkenen Staatswesens

überhaupt nicht gedacht werden konnte:

das preußische

So entschloß sich denn der König, dem

Staatsgebiet völlig zu räumen.

französischen General-Intendanten eine Zahlung von 60—100 Millionen anbieten zu lassen, von denen etwa die Hälfte sofort entrichtet werden könnte.

Auch hiesür hatte Steins weitreichende Umsicht Mittel und Wege Seine Vorschläge gingen dahin, die öffentlichen

zu beschaffen gewußt.

Gelder, die nach der dritten Theilung Polens auf die Güter des Groß-

herzogthums Warschau hypothekarisch eingetragen

deren Gesammtwerth auf

18 Millionen Thaler

französischen Regierung zu überlassen.

worden waren, und

berechnet wurde, der

ES waren dies dieselben Capitalien,

die Napoleon später durch die Convention von Bayonne Preußen in so schmählicher Weise entrissen hat.

Die andere Hälfte gedachte man durch

Theilzahlungen von 4—5 Millionen Thaler ungefähr in einem Zeitraum

von 3, höchstens 4 Jahren zu tilgen.

nur verbindlich machen,

Dagegen sollte Frankreich sich nicht

in einer neuen Convention einen

bestimmten

Termin für den Rückzug seiner Armee festzusetzen, sondern sammt allen denjenigen Staaten, welche mit ihm sich in die durch den Tilsiter Frieden abgetretenen Gebiete theilten, auf alle weiteren auS demselben gefolgerten Forderungen verzichten.

Allein Daru war nicht gewillt, seine Beute so leichten Kaufs fahren zu lassen.

Zu Anfang Oktober wurden sämmtliche Behörden Berlins

von ihm angewiesen, die öffentlichen Einnahmen fortan ohne jeden Abzug

an die französischen Staatskassen abzuliefern.

Wenig später erschien einer

seiner Agenten in Elbing, um die Civilverwaltung West- und Ostpreußens bis zur Paffarge an sich zu nehmen.

Die preußischen Beamten mußten

der Gewalt weichen. Gegenüber der völlig-hoffnungslosen Lage, in die Preußen durch die

sich immer mehr steigernden Forderungen der französischen Gewalthaber gerathen war, tauchte der Gedanke auf, den König zur Absendung eines

preußischen Prinzen nach Paris behufs direkter Verständigung mit Na­

poleon zu bestimmen. Mission Knobelsdorffs

Schon gleich nach dem Scheitern der diplomatischen war von seinem Civilbegleiter, dem Geheimen

LegationSrath Le Coq, die Idee einer solchen Entsendung angeregt worden.

Namentlich aber war eS Sack, der Vorsitzende der Berliner FriedenS-

Commission, niemand

in

der diesen Gedanken lebhaft verfolgte; freilich hatte auch

gleichem

Maße

wie

er

unter

den

Schwierigkeiten

der

Situation zu leiden, wie er auch aus dem Verkehr mit einigen höheren französischen Offizieren der Berliner Garnison, denen eine rasche Erledi­ gung des Friedensgeschäfts am Herzen lag, zur Verfolgung feines Plans

bei dem König lebhaft ermuntert wurde.

Vielleicht, daß der wie alle

Parvenus eitle Napoleon durch die Aufmerksamkeit der Entsendung eines

502

R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.

Prinzen aus einem der ältesten und erlauchtetsten Herrschergeschlechter ge­

schmeichelt, demselben Concessionen bewilligte, die tat offiziellen Verkehr Dazu kam noch, daß der bald nach dem

niemals zu erlangen waren.

Friedensschluß zum bevollmächtigten Minister Preußens bei den Tuilerien ernannte

Baron von

Brockhausen vermöge seiner

streng ablehnenden

Haltung gegen das napoleonische Regime nicht der Mann war, von dem man eine erfolgreiche Wiederaufnahme der durch Knobelsdorff versuchten, von Napoleon abgelehnten Unterhandlungen hoffen konnte.

An Präcedenz-

fällen einer solchen höchst persönlichen und unmittelbaren Verhandlung

mit Napoleon fehlte eS nicht.

Der Erbgroßherzog von Baden, der Erz­

herzog Ferdinand von Oesterreich, der Herzog Leopold von Anhalt, der

Herzog Ernst I. von Sachsen-Coburg und mehrere jüngere Mitglieder

der vornehmsten deutschen Fürstenhäuser, darunter nahe Anverwandte der königlichen Familie, weilten derzeit in Paris zur Verfolgung politischer

und dynastischer Interessen:

der Bruder der Königin Luise,

Georg von Mecklenburg-Strelitz,

mit seinem

Friedrich von Mecklenburg-Schwerin,

Vetter,

Erbprinz

dem Erbprinzen

ferner eine ältere Schwester der

Königin, Fürstin Therese von Thurn und Taxis,

die nach Paris ge­

kommen war, um die Rückgabe der mit Beschlag belegten holländischen

Güter ihres Gemahls bei Napoleon durchzusetzen, was ihr auch gelang.

Inzwischen hatte Napoleon in einem Ultimatum seine Forderungen an Daru gelangen lassen.

Darin waren 150 Mill. Kriegsschuld, zahlbar

in comptanten Wechseln, festgesetzt.

Sollte letzteres in Anbetracht der

trostlosen Lage der preußischen Finanzen unangänglich sein, so wollte er sich mit Schuldanweisungen auf den preußischen Staat begnügen, wenn

ihm als Unterpfand für die Einlösung derselben die Besetzung der preußi­

Glogau und Cüstrin zugestanden würde.

schen Festungen Stettin,

Und

zwar sollte die französische Besatzung einer jeden Festung 6000 Mann

betragen, welche von Preußen vollständig verpflegt und besoldet werden

mußten.

Sollte Preußen

auf dieses Ultimatum nicht eingehen, dann

sollte der von der Räumung des preußischen Staatsgebiets handelnde Ar­ tikel des

Tilsiter Friedens-Vertrags

hinfällig sein.

„Sie müssen ein­

dringlich mit den Ministern des Königs von Preußen reden" — schrieb Napoleon an Daru — „es scheint mir,

als

ob man in Memel Scherz

treibt, wozu die Dinge wahrlich nicht angethan sind.

Sie müssen er­

klären, daß man die Mittel zum Zahlen schon finden wird, wenn man nur will.

unterhalten;

Der König

von Preußen hat nicht nöthig, eine Armee zu

er ist mit Niemandem im Kriege."

Von der genannten

Summe sollten lediglich die seit dem 12. Juli erhobenen Contributionen und eingezogenen StaatSgelder im Betrage von 42 Millionen — soviel

hatte man in nicht viel mehr als drei Monaten aus dem ohnedies schon

erschöpften Lande herauSgesogen — in Abzug kommen, von dem Rest — so priicisirte Daru später die Zahlungsweise — sollten

12 Millionen

baar, 50 Millionen in Pfandbriefen unter Verpfändung deutscher Festungen,

daS Uebrige durch Abtretung von Domänen bezahlt werden.

Die völlig neue Forderung preußischer Festungen und Domänen rief

am königlichen Hoflager in Memel die schmerzlichste Aufregung hervor. „Gott, wo sind wir?" — schrieb damals die Königin an Stein — „wo­ hin ist eS gekommen?

Unser TodeSurtheil ist gesprochen!"

Wie bei der

Forderung preußischer Festungen die einstweilige Besitzeinräumung dreier

der wichtigsten Plätze der Monarchie nur eine Etappe der dauernden und

umfassenden militärischen Besetzung deS preußischen Landes war, so zweckte auch der Antrag auf Ueberlaflung von Staatsdomänen offenbar nur dahin einen festen Stützpunkt zu schaffen, von dem aus die all-

ab, Napoleon

mählige Untergrabung

der territorialen Selbständigkeit Preußens ange­

strengt werden konnte.

Denn wenn auch Daru Preußen ein Rückkaufs­

recht einräumen wollte, so war man doch von ihm den Widerruf oder die direkte Ableugnung ertheilter Zusagen schon so sehr gewöhnt, daß man

seinen Worten kein Gewicht beilegen konnte, wie er denn wirklich auch diesmal seine ursprüngliche Erklärung im Laufe der Verhandlung einfach

zurücknahm. Gegenüber der Frage, ob man die letzten Propositionen Daru'S ein­ fach verwerfen und damit jede weitere Unterhandlung abbrechen, oder noch

einmal eine Gegenvorstellung

anbringen

sollte,

entschied man

sich in

Memel — zumeist in Rücksichtnahme auf die beabsichtigte Sendung des

Prinzen Wilhelm,

welche bei einem Abbruch der Verhandlungen völlig

gegenstandslos geworden wäre — für einen nochmaligen Gegenvorschlag. In einer von Stein verfaßten Denkschrift vom 30. Oktober wird die von

Daru festgesetzte Summe von 112 Millionen im Principe angenommen, dagegen

gegen

die Herausgabe von Domänen aufs entfchiedendste pro-

testirt und dem Könige vielmehr gerathen, die eine Hälfte der Schuld­ summe in eine Hypothekenschuld zu verwandeln, die auf die Gesammtmaffe

der Domänen eingetragen werden sollte, jedoch so, daß der Besitz und-die

Verwaltung derselben ausschließlich dem preußischen Staate verblieben.

Zur Deckung der andern Hälfte sollten der Wechsel der

französischen Staatskasse

angesehensten Kaufmannshäuser Preußens und Pfandbriefe

der landständischen Creditinstitute überliefert werden.

Binnen eines Zeit­

raums von zwei Jahren hoffte Stein durch Ersparnisse und außerordent­ liche Finanzmaßregeln jene Werthdokumente wieder einlösen zu können. Aufs bereitwilligste ging der König auf Steins Vorschläge ein.

Er

R. Hassel, Geschichte der preußische» Politik 1807—1815.

504

sandte sogleich Niebuhr

nach Berlin,

damit derselbe mit der FriedmS-

commission wegen einer in Holland und Hamburg aufzubringenden An­ leihe Rücksprache nehme, und stellte selbst in der hochherzigsten Weise das überflüssige Silbergeräthe und das goldene Tafelgeschirr seines HofhrltS

als Beisteuer zur Abfindung Frankreichs zur Verfügung.

Hinsichtlich der

Einräumung von Festungen hatte Stein gerathen, im äußersten Nothfall

eine solche noch eher zuzugestehen als die Abtretung von Domänen. Der König befahl demgemäß der FriedenScommission, in diesem Punkte event,

nachzugeben, nur sollte die Wahl der von den Franzosen zu besetzenden

Festungen dem Ermessen des Königs anheimgestellt bleiben.

Friedrich

Wilhelm III. beabsichtigte damals, seine Residenz nach Berlin zurückzu­ verlegen, und es mußte ihm daher daran gelegen sein, in seinem Rücken

keine französische Besatzung zurückzulassen. Aber schon wieder waren die Zugeständnisse des Königs von neuen

Forderungen der Gegner überholt worden.

Am 24. October hatte Daru

der Friedenscommission eine Sommation überreicht, in der von den früheren

Forderungen nichts als die Höhe der Summe herübergenommen war.

Dagegen verlangte er jetzt,

neben der Cession der Domänen, statt drei

fünf Festungen, und zwar die wichtigsten:

Cüstrin, Glogau.

Graudenz, Colberg, Stettin,

In jedem dieser Plätze sollte eine französische Besatzung

von 8000 Mann zu liegen kommen und Preußen die gesammten Unter­ haltungskosten tragen, was

Francs erforderte.

einen Aufwand von jährlich 40 Millionen

Nun betrugen die Gefammteinnahmen des StaateS

damals knapp 60 Millionen Francs.

„ES ergab sich also, daß Preußen

durch Annahme der Convention vom 23. Oktober in die Nothwendigkeit

versetzt worden wäre, mehr als zwei Drittel seiner Revenüen auf die Er­

haltung der in den Festungen verbleibenden fremden Truppen zu ver­ wenden.

Von

einer preußischen

Finanzverwaltung

hätte unter solchen

Verhältnissen überhaupt keine Rede mehr sein können.

Wenn man sich

selbst entschloß, zu dem Mittel des Domänenverkaufs zu greifen, um mit

dem Erlös die eine Hälfte der regulären Kriegsschuld zu decken, so würden die restirenden fünfzehn bis zwanzig Millionen der jährlichen Einnahmen noch immer kaum ausgereicht haben, um die andere Hälfte der Contri-

bution in einer Frist von drei Jahren abzutragen.

öffentlichen

Die Mittel für die

Ausgaben, für die Civilliste, für die gesammte Verwaltung

des StaateS, für das Heer, für die Verzinsung der Staatsschuld und was noch etwa an Schuldposten für die Forderungen aus den abgetretenen Provinzen nach dem bekannten System Daru's zusammengerechnet wurde, — alle diese Summen hätten nicht anders beschafft werden können, als

durch neue Anleihen.

Das Resultat wäre also gewesen,

daß

der preu-

ßische Staat bei

einer Verminderung des DömänenbesitzeS um fünfzig

Millionen, drei Jahre hindurch mit einem Deficit von mindestens glei­

chem, wahrscheinlich weit höherem Betrage hätte wirthschaften müssen." Jetzt mußten dem Könige die letzten Zweifel über die Nothwendigkeit der Sendung des Prinzen Wilhelm schwinden.

„Die Domänen in der

Gewalt der Franzosen" — schrieb er — „und 40,000 Mann französischer

Truppen im Lande, — dies würde heißen, den preußischen Staat in

Augenblick der Gnade und

jedem geben."

Barmherzigkeit Napoleons Preis zu

Der Prinz erhielt Befehl, sich zur sofortigen Abreise nach Paris

zu rüsten, der noch in Paris weilende Knobelsdorff genaue Instruktion. „Urtheilen Sie über mein Erstaunen" — schreibt der König an ihn —

„als ich zweimal vierundzwanzig Stunden nach dem Abgang des Couriers gestern früh das Projekt einer Convention erhielt, das Herr von Daru

vorgelegt hatte.

Mit aller nur erdenkbaren Entsagung, mit den nach­

giebigsten Gesinnungen der Welt, ist eS unmöglich, sich solchen Geboten zu unterwerfen.

Man

würde in dem ganzen Umfange der preußischen

Monarchie von einem Ende zum andern die französische Herrschaft be­

gründen,

seine eigene Knechtung, seinen Untergang vollenden, — man

würde Verpflichtungen eingehen, die ich nie erfüllen kann, — denn der Unterhalt der fremden Truppen im Verein mit der allmäligen Abzahlung der Kriegssteuer würde die Gesammtheit meiner künftigen Staatseinnahmen

verschlingen, für die Bestreitung der Ausgaben und der Civilliste würde nichts mehr übrig bleiben.

Man braucht nur ein guter Patriot und ein

pflichteifriger Diener zu sein wie Sie, zu empfinden.

Der Schmerz, den

um das Entsetzliche dieser Lage

sie mir bereitet, übersteigt alle Be­

schreibung, da sie mit einem Schlage die Unterbrechung der Unterhandlung

in Berlin bedingt und die Unmöglichkeit einer Verständigung mit Daru

in das klarste Licht setzt.

Unter so traurigen Umständen bleibt mir nichts

weiter übrig, als mich ganz in die Arme Napoleons zu werfen und einen

letzten Versuch zu machen,

um

ihn zu einer endlichen und kategorischen

Erklärung über das Schicksal Preußens zu veranlassen.

Ich habe Ihnen

schon Mittheilung gemacht von dem Entschluß, meinen Bruder, den Prinzen Wilhelm, nach Paris zu

schicken und ich habe Sie beauftragt, seinem

Erscheinen die Wege vorzubereiten. lieren ist, liegt

Jetzt, wo kein Moment mehr zu ver­

eS Ihnen ob, die directe Meldung von seinem bevor­

stehenden Besuche zu machen und Pässe für ihn zu erbitten." Prinz Wilhelm sollte sich vorerst nach Homburg zu seinem Schwieger­

vater, dem Landgrafen Friedrich von Hessen-Homburg, begeben, um hier die Ankunft seiner Reiselegitimationen zu erwarten. in Frankfurt a. M. mit Alexander

Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 5.

Alsdann sollte er

von Humboldt, den ihm der König 36

506

R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.

zum Reisebegleiter

bestimmt

zusammentreffen.

hatte,

Naturforscher lebte damals in Berlin,

Der

berühmte

mit der wissenschaftlichen Verar­

beitung seiner mit Aimö Bonpland unternommenen amerikanischen Reisen beschäftigt.

Er zählte in der französischen Hauptstadt zahlreiche Freunde

und Gönner, und diese seine persönlichen Verbindungen wie seine Welt­

gewandtheit konnten nur vom günstigsten Einfluß auf die Sendung des

Prinzen sein.

Trotz der äußerst knappen Finanzverhältnisse war er von

Friedrich Wilhelm III. auch während der letzten Jahre in seinen Studien aufs freigebigste unterstützt worden;

er empfand jetzt eine freudige Ge­

nugthuung, seinem königlichen Gönner einen kleinen Theil seiner Schuld

abtragen zu können.

„Es steht mir nicht zu", sagt er, „über den Erfolg

dieser Mission ein entscheidendes Urtheil auszusprechen, aber inmitten bet beschaulichen Einsamkeit, in der ich seit einem Jahre gelebt, habe ich be­

ständig an dem Glaubenssätze festgehalten, daß endlich, nachdem so lange

das Unheil gewüthet,

die Tugend wieder in ihre Rechte treten wird."

Als diplomatischer Begleiter wurde auf Stein's Rath der Geh. LegationS-

rath Le Roux, der von 1796—1806 der Pariser Gesandtschaft zugetheilt gewesen war,

als militärische Begleiter der Major Graf Heinrich von

Goltz vom Stabe Blüchers und der Adjutant Lieutenant von Hedemann bestimmt.

Die dem Prinzen ertheilten Instruktionen betrafen einmal die Kriegs­ schuld, sodann einige andere Punkte, durch welche Napoleons Mißtrauen

gegen Preußen beseitigt werden sollte.

Bezüglich der Kriegskosten blieb

der König bei seinem letzten Angebot stehen: Zahlung von 12 Millionen in baar, von 50 Millionen in Wechseln, Creirung einer Hypothekenschuld

auf die Domänen von ebenfalls 50 Millionen, die durch den Verkauf

von Domänen an Einheimische gedeckt werden sollte,

und Einräumung

dreier Festungen bis zu dem Zeitpunkt, wo die preußischen Verpflichtungen vollständig erfüllt sein würden.

Nur hinsichtlich der Zahlungsfrist wurde

der Prinz autorisirt, einen noch kürzeren Termin anzubieten. jetzt Napoleon ein Offensiv- und Defensiv-Bündniß

seine künftigen Kriege ein preußisches HülfScorpS in 30—40,000 Mann in Aussicht gestellt.

Dazu wurde

angeboten und für

der

Stärke von

Sollte Napoleon ein solches

Bündniß ablehnen, so war der Prinz ermächtigt, noch einen Schritt weiter

zu gehen und die Bereitwilligkeit Preußens zum Eintritt in den Rhein­ bund zu erklären.

Aber — so Lage

wird

man erstaunt fragen — war denn wirklich die

des preußischen Staates eine so hoffnungslose, daß man sich so

gänzlich dem Gutdünken des übermüthigen Siegers überliefern mußte?

In der That boten am Ausgang des Jahres 1807 die allgemeinen euro-

päischen Verhältnisse das Bild einer völligen Auflösung der alten histo­

dar.

rischen Verbindungen

Alle Mächte, mit einziger Ausnahme Eng­

lands, gehorchten willenlos dem Manne der Revolution.

Bon Rußland

war keine Unterstützung zu hoffen: es war selbst an Händen und Füßen

gebunden, und wo es hätte helfen können, ließ Selbstsucht seines Herrschers daran behindern.

es sich durch die eitle England war wohl be­

fähigt, dem Eroberer ungeheuren Schaden zur See und in seinen außer­

europäischen Colonien zuzufügen, ihm nicht zu erwarten.

aber eine positive Hilfe war auch von

Trotzdem blieb daS Verhältniß Preußens zu dem

Mit voller Aufrichtigkeit hatte Friedrich Wilhelm III.

Jnfelreich daS beste.

die englische Regierung alsbald nach dem Abschluß des Tilsiter Friedens

von den einzelnen Bestimmungen desselben in Kenntniß setzen lassen, na­ mentlich von jenem Separatartikel, nach welchem Preußen vom 1. De­

zember 1807 an mit Frankreich gemeinsame Sache gegen die Engländer

zu machen habe, wenn die Annahme des Friedens bis dahin nicht erfolgt war, und von jenem Artikel des Hauptvertrags, verpflichtet wurde, die Häfen feines

gemäß dem der König

Landes schon jetzt den englischen

Schiffen zu verschließen und überhaupt jeden Verkehr mit England abzu­

brechen.

Allein gleichzeitig hatte Friedrich Wilhelm III. durch seinen Ge­

sandten in London die Versicherung aussprechen lassen,

er werde dieser

letztgenannten Verpflichtung nur im Falle der äußersten Noth nachkommen.

Und in der Thal dauerte der Seehandelsverkehr Englands mit den preußi­ schen Küstenstädten ungestört fort, bis die namentlich durch das Bombar­

dement Kopenhagens und die Wegführung der dänischen Flotte seitens Eng­ lands herbeigeführte Kriegserklärung Rußlands auch Preußen zum Abbruch

der diplomatischen und commerztellen Beziehungen mit England nöthigte.

Wenn Daru einmal gegen Sack die Aeußerung fallen ließ, die Räu­

mung Preußens seitens der französischen Truppen sei mehr eine Frage der politischen Erwägung als der Sicherung der Kriegsentschädigungsan­

sprüche Frankreichs, so hatte er damit den innersten Gedanken der napo­

leonischen Politik ausgesprochen.

Nicht um die Zahlung der Kriegskosten

war es Napoleon bei der Besetzthaltung Preußens zu thun, in erster

Linie wollte er sich damit eine feste militärische Position schaffen, falls er mit Rußland über kurz oder lang in einen neuen Krieg verwickelt wer­ den würde.

Und noch eine andere Möglichkeit schwebte dem Imperator

dabei vor Augen.

Wenn Rußland aus der Erwerbung der Donaufürsten­

thümer bestehen blieb, dann hielt sich Napoleon genöthigt und berechtigt, auch

seinerseits nach

Schlesien sein.

einer neuen Beute auszusehen.

Und diese sollte

Nun ließen sich aber die Verhältnisse der Balkan-Halb­

insel keineswegs zum Frieden an.

Kaiser Alexander hatte die unter fran36*

zösischer Vermittlung zu Stande gekommenen Friedenspräliminarien von Robohia als mit der militärischen Würde seines Reiches unvereinbar ver­

worfen und beharrte nun fester als

fürstenthümer.

je auf der Erwerbung der Donau­

Jene geheime Absicht Napoleons hatte ihren Ausdruck ge­

funden bei der ersten Audienz des neuen russischen Gesandten Grafen

Tolstoi, eines scharfen Gegners des russisch-französischen Bündnisses, der da­ gegen aufs eifrigste die freundschaftlichen Beziehungen seines Staates mit Preußen zu pflegen bemüht war und daher sich aufs engste an seinen preußischen Collegen in Paris, Baron Brockhausen, anschloß.

Zwar ver­

hehlte er demselben aus Schonung den neuesten Plan Napoleons, suchte

dagegen auf jede andere Weise auf ihn in einer die Haltung der preußi­ schen Regierung

gegenüber den

ungemessenen Forderungen Napoleons

und seines General-Intendanten festigenden Weise einzuwirken.

Brock­

hausen stand wieder in direktem Verkehr mit Sack, der meist früher als der König selbst von den neuesten Wendungen der Tuilerien-Politik Kennt­ niß erhielt und in seiner ablehnenden Haltung Berichte BrockhausenS gestärkt wurde.

Napoleon ernste Vorstellungen

nicht wenig durch jene

Graf Tolstoi hatte nicht verfehlt,

über die fortdauernde Besetzthaltung des

preußischen Staatsgebietes, durch welche am Ende auch Rußlands Sicher­

heit bedroht werde, zu machen.

Darauf hin hatte es Napoleon vorge­

zogen, um den unbequemen Vermittler, den er jetzt, wo er ihn zur Durch­

führung einer das ganze europäische Festland umfassenden Handelssperre gegen England nothwendig gebrauchte, bei gutem Willen erhalten mußte,

zu beschwichtigen,

über Rußland hinweg

direkt mit Preußen einen Ab­

schluß zu versuchen; hinterher konnte man dann immerhin diesen Abschluß wieder verleugnen oder sich nicht an ihn halten. Diese mildere Auffassung begegnet uns in den Vergleichsvorschlägen,

welche Daru der Friedenscommission am 15. November unterbreitete: Fixirung der Kriegsschuld auf 108 Millionen, Abtragung derselben inner­

halb eines Jahres und

zwar der einen Hälfte durch Ueberlaffung von

Domänen, der andern durch Wechsel, Pfandbriefe und Anleihen.

Von

den früher geforderten Sicherheitsplätzen waren Graudenz und Colberg fortgelassen und nur Glogau,

Stettin und Cüstrin beibehalten.

Auch

hinsichtlich der Besatzungsmannschaft sollte eine bedeutende Reduction ein­ treten, so daß die Unterhaltungskosten sich höchstens auf die Hälfte der

früher geforderten belaufen sollten.

Aber Sack rieth dem Könige nicht

zur Annahme dieser Propositionen, namentlich im Vertrauen auf die Ver-

heißungm Tolstojs,

der

ein baldiges Engagement Napoleons auf der

phrenäifchen Halbinsel ankündigte, durch welches dieser genöthigt werden

würde, feine Truppen aus den preußischen Landen zurückzuziehen.

Die Antwort der preußischen Regierung verhält sich demnach ziemlich ablehnend auch gegen diese mildere Fassung der französischen Forderung. Die Schuldsumme wurde um 7 Millionen niedriger angesetzt.

51 Mill,

sollten in Wechseln der angesehensten Kaufmannshäuser in den größeren

Handelsplätzen, zahlbar nach 3 Monaten, der Rest in Obligationen der

landständischen Creditinstitute, sowie in Pfandbriefen auf die Domänen gezahlt werden, mit der Verpflichtung, die letzteren während der Frist eineJahres

in baarem Gelde einzulösen.

Die Festungen Stettin,

Cüstrin

und Glogau sollten vorläufig französische Besatzungen aufnehmen, doch soll

Glogau geräumt werden, sobald 7„ Cüstrin, wenn */, und Stettin, wenn die ganze Summe gezahlt sei.

Sold und Ausrüstung der Besatzungs­

truppen habe Frankreich, die Verpflegung Preußen zu tragen.

Eine ungeheure Anstrengung aller Kräfte mußte bet diesen preußischen Gegenvorschlägen

die

rasche

Beschaffung

der

Geldmittel

hervorrufen.

Aber Steins energischer Geist wußte auch hier Rath und Hülfe.

In

erster Linie sollte die Veräußerung und Verpfändung der Domänen die nöthigen Mittel beschaffen.

Dabei wollte Stein Staatsgut und ritter-

schaftliches Gut derartig in Connex bringen, daß innerhalb jeder Provinz

der FiSkuS und die ritterschaftlichen Besitzer sich zu einer solidarischen Ge­ noffenschaft vereinigten,

welche unter gegenseitiger Haftpflicht aller Be­

theiligten für die pünktliche Verzinsung und Wiedereinlösung der Pfand­

briefe Bürgschaft zu übernehmen hätte.

Aus diese Weise durste man zu­

gleich hoffen, daS Sinken der ritterschaftlichen Pfandbriefe gegenüber den

neu auszugebenden Domänenpfandbriefen zu verhindern.

Mit dem von

Napoleon seines Landes beraubten Kurfürsten von Hessen, der sein großes Privatvermögen bei der englischen Bank sicher geborgen hatte, ließ der

König durch den Fürsten Wittgenstein und den vormaligen Münsterer Kammerpräsidenten Frh. v. Vincke Unterhandlungen wegen eines AnlehenS

von 6—8 Millionen Thaler anknüpfen.

Einen größeren Erfolg versprach

er sich von der Ankunft seines Bruders in Paris, die endlich, nach manchen Aufhaltungen, am 3. Januar 1808, zwei Tage nach der Rückkehr Napo­

Chr. Meyer.

leons aus Italien, statthatte. (Schluß folgt.)

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres. Im gegenwärtigen Augenblick ist Frankreich genöthigt einen größeren

Theil seiner HcereSmacht auf afrikanischem Boden zu verwenden, um da­ selbst eine Bewegung niederzuwerfen, welche sich im Lauf einiger Monate

über Algier und Tunis auSgebreitet, und die namentlich Dank dem mit

fremder Hülfe angefachten Fanatismus der eingebornen Bevölkerung, den Charakter eines Religionskrieges angenommen hat.

Von den Gränzen

Marocco'S bis zum Shrte-Meerbusen und bis zu dem Gebiet von Tripolis reichend, hat dieser Aufstand die Welt deS Jslam's in ganz Nordafrika

mit Abneigung und Feindseligkeit gegen daS Europäerthum und gegen die Sitten mildernde Macht abendländischer Civilisation erfüllt, und damit den Fortgang eines großen CulturunternehmenS gehemmt, an dessen Durch­

führung die französische Staatsleitung in neuerer Zeit mit regem Sinn gegangen war.

Solches durchaus auf den Boden der praktischen Politik

gestellte Unternehmen, bestand in dem mit Eifer verfolgten Projekt von

den beiden Colonien, Algerien im Norden und Senegambien im Westen, Schienenwege nach den Sudanländern zu führen,

auf diese Weise die

Gränzen der europäischen Culturwelt bis weit in das Innere des dunklen Continentes vorzuschieben und europäische Ideen und französischen Einfluß mittelst deS Dampfes und der Elektrizität bis in die Mitte deS am we­

nigsten bekannten und sich am hartnäckigsten verschließenden ErdtheileS zu tragen.

Abgesehen von dem, diesem Projekt zu Grunde liegenden politi­

schen Gedanken, der Invasion der andern Völker in Afrika gegenüber, sich

wenigstens im Norden des WelttheileS ein Feld unbestrittenen Einflusseis

zu sichern, führten nicht minder Erwägungen wirthschaftlicher Art darauf

hin eine Action einzuleiten mit der Tendenz, der Machtsphäre Frankreichs bisher ferner gelegene Länder in nähere Verbindung mit den afrikanischen

Colonialbesitzungen zu

bringen,

Mutterlande zu verknüpfen.

und dieselben dadurch enger mit dem

Grade auf wirthschaftlichem Gebiet,

und

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.

511

zwar namentlich in der Anknüpfung von Handelsverbindungen, in dem Abschluß von Verträgen mit Nachbarreichen,

in der Gewinnung neuer

Absatzgebiete für die französische Industrie, und Erschließung von europäi­ schen Märkten für die eingeborne Bevölkerung schien ein weites Feld ge­

geben, nicht allein um das civilisatorische Prestige Frankreichs zu heben,

sondern auch einen weiten Kreis von Ländern in seinen Interessenbereich zu ziehen.

Das Vorgehen auf der Linie von Algier nach dem Süden

begann im Jahre 1877, zunächst mit Explorationen und Recognoscirungen

von Land und Leuten.

Da die Ergebnisse der von dem

Ingenieur

Duponchel geleiteten Arbeiten nicht ungünstig waren, so veranlaßte der damalige Minister der öffentlichen Bauten Frehcinet die Einsetzung einer

Commission welcher die Aufgabe ertheilt wurde Forschungen vorzubereiten,

zu letten und zu unterstützen,

die darauf gerichtet wären, die praktische

Möglichkeit einer solchen Eisenbahn, und die beste ihr zu gebende Rich­

tung festzustellen.

Auf Vorschlag dieser Commission ward dann mit der

Verwirklichung des Vorhabens begonnen.

Anfang Januar 1880 verließ

eine unter den Befehl des Obrist Flatters gestellte Mission Paris, um den Weg für eine die Sahara durchschneidende Bahn ausfindig zu machen. Der Ausgang dieser Expedition war ziemlich resultatlos.

Nachdem man

bis zum See Menkurt gekommen, verweigerte der räuberische Beduinen­

stamm der Tuareg'S der Mission die Beschaffung von Lebensmitteln und

zwang

dieselbe zur Umkehr.

Ziemlich gleichzeitig mit Obrist FlatterS

traten im Frühjahr 1880 zwei andre RecognoscirungScolonnen den Marsch

an, die eine derselben wandte sich den Landschaften südöstlich Algerien'-

zu; sie sollte auf den beiden Linien Saghonat-Goleah und BiSkra-Ouargla vorgehen; die andre sollte mehr die westliche Richtung einschlagen und

von Saida aus den Rand der Sahara zu erreichen suchen. — Hand in Hand mit den von Norden her eingeleiteten Expeditionen geschah auch das Vorrücken vom Senegal aus.

Die Senegalländer haben

durch die längere Zeitdauer ihrer Zugehörigkeit zu Frankreich in mancher

Beziehung ein näheres Verhältniß zum Mutterland

als Algier.

Seit

mehr als zwei Jahrhunderten herrscht hier französische Sitte und Sprache; wohlhabende französische Kauf- und Geschäftshäuser, seit jener Zeit existirend,

stehen in regelmäßigem und regem Verkehr mit den Mittelmeerplätzen, sowie mit Bordeaux.

Die Länge der Zeit hat ein Band des Vertrauens zwischen

Franzosen und Eingeborne» geknüpft; ohne Scheu kommen dieselben aus dem Innern des Landes nach den Küstenstädten St. LouiS und Dakkar

mit Waaren, die sich für den überseeischen Export eignen.

der einheimischen Bevölkerung zu den Europäern,

DaS Zutrauen

der Wohlstand,

die

Bildung welche jene im Lande verbreitet, hat den Franzosen hier eine

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.

512

gute Operationsbasis geschaffen von der aus das Vorschieben des fran­

zösischen Einflusses bereits mehrere mal mit Erfolg unternommen worden ist.

Bis zu dem Punkt, wo die Schiffbarkeit des Senegal aufhört d. h.

bis 700 Kilometer von seiner Mündung aufwärts, ist die Herrschaft über

das Land durch kleine Forts, die mit Besatzungen versehen sind, gesichert.

Zwischen der am weitesten nach Osten vorgeschobenen Ortschaft (Bakel) und dem obern Niger liegt eine Strecke von etwa 500 Kilometer, welcher die Wissenschaft bis jetzt nur vereinzelte geographische Daten abgerungen

und die der Handel noch gar nicht in seinen Bereich gezogen hat.

Gegen­

wärtig gilt eS diesen Landstrich der französischen Autorität zu unterwerfen. Sobald dieses Ziel erreicht, hat man die Absicht einen Schienenweg nach dem oberen Niger herzustellen.

Der Anfang zur Durchführung dieses

Projektes ist insofern gemacht als die Kammern im Februar dieses Jahres die Concession zum Bau einer Linie zur Verbindung der beiden Küsten­

plätze St. Louis (Hauptstadt der Colonie) und Dakkar

ertheilt

haben.

Beide Städte kommen deßhalb namentlich in Betracht, weil sie vermöge ihrer Lage die Träger und Vermittler des überseeischen Binnen- und des

Geschäftsverkehrs nach Frankreich und den andren Mittelmeerländern sind.

Auch noch

andre Umstände tragen dazu bei,

sie zu Mittel- und zu

Stationspunkten der interoceanischen Schiffahrt zu machen.

Zu solchen

Umständen gehört die gute Rhedebeschaffenheit von Dakkar, welche einen

geräumigen und geschützten Ankerplatz bietet, und die Möglichkeit der ge­ fahrlosen Ansegelung des Cap Verde.

Die weit vorspringende Spitze

desselben zieht schon jetzt die Navigation immer mehr an, und begünstigt

das Anlaufen der von Europa nach Süd-Amerika und nach Guinea resp, dem Caplande bestimmten Dampfer, welche dort immer lohnende Fracht

aus dem afrikanischen Hinlerlande finden. Niger verbindende Bahn,

Eine Dakkar und den obern

würde daher zu einem

directen Bindeglied

zwischen Europa und den Landschaften des oberen Nigerthales werden.

Man hat ferner in Erwägung gezogen, daß der Unterschied der Fracht­

kosten zwischen Dakkar und Bordeaux, dem Havre oder Liverpool einer­ seits,

und zwischen Algier und Bordeaux, dem Havre und Liverpool

andererseits sehr geringfügig ist. zwischen

Algier

und

Marseille

Zwischen Dakkar und Marseille, und wird

sich

etwa

20 Francs pro Tonne Transportkosten ergeben.

ein

Unterschied

von

Diese Differenz wird

immer noch sehr hinter der Ausgabe zurückbleiben, welche der Waaren-

Transport auf dem Landweg von Timbuctu nach Algier erheischen würde der ungefähr 1000 Kilometer weiter ist, als die Strecke Timbuctu-Dakkar. Die Gesammtkosten einer den

Senegal und den Niger verbindenden

Bahn sind auf 54 Millionen Francs veranschlagt, und zur Herstellung

der ersten Sektion derselben 1,300,000 Fr. bewilligt. — Die Regierung hat mit Interesse und Lebhaftigkeit die Frage des Eisenbahnbaues in Senegambien vertreten, und durch den Mund des Marineministers er­ klären lassen, Frankreich müsse eS als eine Ehrensache betrachten, die erste

Nation zu sein,

die festen Fuß am Niger fasse; außerdem würde eine

Besitzergreifung des Landes wegen des Reichthums an Baumwolle lukrativ fein, und dem Handel wie der Marine noch manche andre Vortheile

bieten.

Um für die Anlage und den Betrieb von Eisenbahnen den Boden

zu ebnen und vorzubereiten, sind drei Missionen speciell innerhalb des letzten Jahres mit Aufträgen in das Innere entsendet worden, die sich darauf bezogen Stütz- und Anknüpfungspunkte für eine weitere Ausbrei­ tung nach Osten hin ausfindig zu machen.

Die bedeutsamste und er­

folgreichste derselben, unter die Leitung deS Capitain Gallieni von den Marinetruppen gestellt, brach im Januar 1880 von St. LouiS auf, und

begab sich in südöstlicher Richtung in die Sudanländer, um namentlich mit dem Beherrscher von Segu, dem König Ahmadu, einem der ange­ sehensten und mächtigsten Fürsten jener Gegend, einen Freundschaftsver­ trag und ein Schutzbündniß abzuschließen und ihn durch das Ueberreichen

von Geschenken und Auszeichnungen dem französischen Etsenbahnunternehmen

nach dem oberen Niger hin günstig zu stimmen.

Capitain Gallieni ist

nach mehr als einjähriger Abwesenheit von seiner Mission in Mai dieses

Jahres zurückgekehrt, und hat dieselbe mit vollem Erfolge zu Ende ge­ führt.

Dank der von diesem Offizier mit Geschick und Ausdauer gelei­

teten Unterhandlungen, hat der König Ahmadou einen Vertrag unter­ zeichnet, kraft dessen den Franzosen das Recht eingeräumt ist, sich in dem

Reich Segu niederzulassen und Handelsniederlassungen zu gründen, Han­ delsstraßen nach dem oberen Niger anzulegen, auf dem ganzen Nigerstrom bis Timbuctu das Protektorat zu üben,

ihren Schiffen zu befahren,

legen,

endlich in der Hauptstadt Segu einen Vertreter zu unterhalten,

welcher

im

diesen Strom ausschließlich mit

und Niederlassungen an demselben anzu­

völkerrechtlichen

Laufe

Derrien,

des

letzten

Schutz Jahres

genießt.



entsandten

Auch

die

Missionen

beiden

andren

DeSbordeS

und

von denen der erstere am Fluß selbst und nördlich desselben,

der letztere im oberen Flußthal vordrang, und ausführliche Terrainstudten

machte, sind in diesem Frühjahr mit günstig lautenden Nachrichten zurück­

gekehrt. Da der Senegal nur bis 700 Kilometer von der Mündung auf­

wärts während 4 Monat im Jahr schiffbar ist, so kann der seinem Laufe folgende Schienenweg eine große CommunicationSlinie bilden, welche dem europäischen Import »in Vordringen bis fast zu den Küstenregionen ge-

514

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit deS MeereS.

stattet und andrerseits die Produkte der Sudanlandschaften und deS oberen Nigerthales dem Meere zuzuführen erlauben wird.

Die aufständische Bewegung welche seit einigen Monaten einen großen Theil der, den Gränzen deS französischen Machtbereiches zunächst domici-

lirenden Araberbevölkerungen zum Ergreifen der Waffen veranlaßt, hat sich bis jetzt in den Senegalländern' wenig bemerkbar gemacht.

Um so

schwerer sind diese Länder so eben von der Plage deS gelben Fiebers be­ troffen worden, welches unter der Einwirkung des heißen Klima'S und der

ungesunden Ausdünstungen deS Bodens, ganz besonders bösartig aufge­

treten ist, und die Reihen der Europäer in selten dagewesenem Umfang

decimirt hat.

Die mit Beginn dieses Jahres wieder aufgenommenen Versuche, von Südalgerien aus eine Eisenbahnlinie durch die Sahara nach den Sudan-

landschaften zu führen, waren von keinem Erfolge gekrönt.

mit dem Befehl über die wohlausgerüstete Expedition FlatterS, der von Ouargla die Richtung

Der wiederum

betraute Obrist

über Hasst Mineghem und

Amdjid eingeschlagen, erklärte In seinen Berichten die östlich deS JgargarflusseS hinlaufende Linie für die dem Bahnbau Vortheilhafteste.

Am

28. Januar erreichte die Mission die Residenz des Königs der Hogar, (Jtarem) welche den räuberischen Tuareg'S angehören; nach dem ihm hier

in zuvorkommender Weise zu Theil gewordenen Empfang wurde die Reise

unter der Leitung von mitgegebenen Führern fortgesetzt.

Seitdem hörte

man nichts mehr von der Expedition, bis einige Monate später deren Ermordung gemeldet ward. ES wird angenommen, daß das Blutbad welches die grausamen und

heimtückischen Tuareg'S unter der französischen Colonne anrichteten, am 16. Februar d. I. einige Tagemärsche von Assiun

stattgefunden habe.

in dem Lande Aird

Mit dem Eintritt dieses erschütternden Trauerfalles,

war allen weiteren Unternehmungen Stillstand geboten. zum

Ausgangspunkt

eines ferneren Vorgehens

nach

Zur Basis und Süden

beabsich­

tigt man die Stadt Ouargla, als den am weitesten nach Süden vorge­

schobenen Posten der französischen Machtsphäre, zu nehmen, und daselbst das Hauptquartier aller auf die Durchforschung der zu recognoscirenden Saharagebiete zu verwendenden

militärischen Streitkräfte und

HülfS- und Nebendienstzweigen einzurichten.

anderen

Die ziemlich an der äußersten

Gränze deS colonialen Gebietes gelegene Stadt hat telegraphische Ver­

bindung mit Biskra und Laghouat nach Norden, und ziemlich regelmäßige Verkehrsbeziehungen zu den politisch und commerziell bedeutendem Plätzen

der Sahara. WaS den Bau der Saharabahn selbst betrifft, welcher durchaus nicht

aufgegeben, so Ist die Länge derselben vorläufig auf etwa 2500 Kilometer

veranschlagt.

DaS ganze Gebiet, welches die Bahn durchschneiden soll,

ist etwa 16 Mal so groß als Deutschland.

Zumeist sind eS sanft ge­

wellte felsige Hochplateaux, die mit Kiesel bedeckt, des vegetabilischen LebenS völlig zu entbehren scheinen.

welche die Oasen bilden.

Zwischen diesen Plateaux liegen Tiefebenen,

DaS von den atmosphärischen Einflüssen zer­

störte Material wird zu Sand, der von den Passatwinden weiter getragen

wird.

WaS die Wasserverhältnisse betrifft, so ist die Sahara nicht ganz

so regenlos, wie man oft annimmt.

birgsgegenden.

Der meiste Regen fällt an den Ge­

Doch verliert sich das Wasser rasch in der Tiefe.

artesischen Brunnen von denen die bedeutendsten

Mit

100, die mittleren

50—70 Meter Tiefe haben, gelingt eS fast immer Wasser zu erreichen.

AIS erste Station der projectirten Bahn würde sich Laguat empfehlen,

das von Algier 400 Kilometer entfernt ist. die Dünenketten dem Bau entgegensetzen. Schwierigkeit

wäre die Wasierbeschaffung

Ein großes Hinderniß werden

Eine zweite sehr erhebliche

für die Arbeiter.

Der In­

genieur Dupouchel, der Urheber des ganzen Planes, will den Wasser­

bedarf täglich durch drei Züge herbeischaffen.

Südlich von Laguat ist die

Gegend von den Ingenieuren noch absolut nicht erforscht, nach den ein­

gezogenen Erkundigungen glaubt man, daß dort eine für den Schienenweg geeignete Ebene sei, und hofft man, das nöthige Wasser im Boden zu

finden.

Tuat soll die zweite Station der Bahn bilden.

Tuat auSsieht, weiß man gar nicht.

Wie es jenseit

ES soll sich dort eine tiefe Ebene

befinden, die aber für die Beschaffung des Wasserbedarfs die größten

Schwierigkeiten

bieten würde.

Auf eine Gesammtlänge von mehr als

2500 Kilometern ist die Bahn projectirt und die Kosten deS Baues sind

auf 400 Millionen Francs veranschlagt worden.

Diese Zahlen sind zu

niedrig gegriffen; daS Dreifache jener Summe wäre nicht zu viel, wenn daS Project sich wirklich ausführbar zeigen sollte.

Aber die gehoffte Aus­

führbarkeit beruht auf manchen irrthümlichen Vorstellungen, die schwer in

positiver Weise zu widerlegen sind.

Die Arbeiter würden nur mit Mühe

zu beschaffen sein, für die Europäer würde sich daS Klima vielleicht nicht gerade schädlich erweisen, wohl aber die eingeborene Bevölkerung, die

dem Einwandern der Fremden den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzt.

Ehe sie einsieht, daß eine Eisenbahn auch in ihrem Interesse liegt, würden

die Arbeiten zerstört, die Arbeiter getödtet und Alles vernichtet sein.

Und

ließe sich auch der Bau noch schützen, der Bestand der Bahn wäre stets

gefährdet und in Frage gestellt durch die Liebe der Eingeborenen zur Un­

gebundenheit und durch ihren religiösen Fanatismus. Den wirthschaftlichen Erwägungen auf welche sich der Calcul einer

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit deS Meeres.

516

Rentabilität der Saharabahn stützt, lag die Annahme zu Grund, daß die

Ausfuhr einer Reihe von afrikanischen Naturprodukten durch welche der Anstoß zu lebhaften kommerziellen Verbindungen mit dem Mutterland gegeben werden könnte sowie der Import von Salz aus den Sahara­

ländern in das Nigerbecken, den Träger einer genügenden Frequenz ab­

zugeben vermöchte. Bahn nur

In ersterer Beziehung rechnete man, daß wenn der

zwei Drittel

der

bisherigen Güterbewegung

zufielen,

sie

sogleich einen Exportverkehr von 50,000 Tonnen Alfa (eine Faserpflanze zu Gespinnsten) 20,000 Tonnen Datteln und Südfrüchte, 20,000 Tonnen Körner und Oelfrüchte, 20,000 Tonnen Baumwolle, Indigo, Federn, Harze,

zusammen 140,000 Tonnen — einen Einfuhrverkehr von 30,000 Tonnen Provisionen für die französischen Militärposten in der Wüste unb am

Senegal, 30,000 Tonnen Getreid'e für die Oasenbewohner, 50,000 Tonnen

Salz für den Sudan, 30,000 Tonnen europäische Manufacturwaaren,

zusammen ebenfalls 140,000 Tonnen, (waS einen Gesammtverkehr von 280,000 Tonnen Fracht für den Beginn darstellt) zu bewältigen haben

würde.

Hierzu eine Personen-Frequenz von jährlich 50,000 Reisenden

gerechnet, ergäbe eine Jahreseinnahme von 40—45 Millionen Franks.

Da die Sudanlandschaften ebenso wie Indien häufig von der Calamitat einer Mißernte und von Hungersnoth bedroht sind, sollte die neue Bahn

dazu beitragen zwischen den Bevölkerungen von Südalgier und denen der Sahara und Sudangegenden, ein Culturvermittler zu fein, und ihnen die Möglichkeit geben ihre Produkte, namentlich Vieh, in schlechten trockenen

Jahren, wo die Ernährung desselben mit großen Kosten verknüpft wäre, nach dem Norden zu senden.

Die vorstehend in den allgemeinsten Berichten skizzirte französische

Expansionspolitik in Afrika findet, wie die Ereignisse dieses Sommers in der Provinz Oran und auf anderen Punkten Südalgiers gezeigt haben,

ein Hemmniß ernster Art in dem schroffen und feindseligen Verhältniß, daS seit langer Zeit zwischen den Bewohnern der Gränzzone d. h. jener

Landstriche besteht,

in welchen sich die seßhafte europäische Ansiedlerbe­

völkerung mit den nomadisirenden Araberstämmen des Gebirges und der

Wüste berührt.

ES ist dies das Gebiet, das ziemlich parallel mit der

Küstenlandschaft Tell, in 15 bis 30 Meilen Breite mehr im Innern hin­ ziehend, durch den kleinen und großen Atlas in drei Hochebenen gegliedert wird und an welches sich dann, landeinwärts die Küste mit ihren Oasen und einigen mit Gras bewachsenen Strichen die einige Zeit im Jahre den

Heerden etwas Nahrung bieten, anschließt.

Die Nomaden welche den herrschenden Stämmen Algeriens angehörten, behaupteten von jeher das Recht, ihre Heerden überall weiden zu lassen,

wenn während der sommerlichen Dürre in der Wüste oder während des

Winterschnees in dem Gebirge für dieselben keine Nahrungsmittel zu

finden waren.

Die seßhafte Einwohnerschaft jener Gegenden legte ihnen

dabei kein Hinderniß in den Weg.

Dies Verhältniß erfuhr nach der Er­

So wenig Euro­

oberung Algiers durch die Franzosen eine Wandlung.

päer sich auch dort ansiedelten und auf den Ackerbau verlegten, ihre Zahl

war doch groß genug, um die Nomaden ganz auS dem Tell zu verdrängen. Allmählig griff diese Bewegung aber noch weiter vor.

In dem letzten

Jahrzehnt wurde durch den Bergbau und noch mehr durch die Anpflan­ zung deS AlfagraseS auch die niedere Hochebene den Nomadenstämmen

als Weideplatz immer mehr entzogen, und zwar grade an den Stellen, wo der Boden am ertragreichsten und am culturfähigsten.

Die Kinder

der Wüste wurden zwar durch Geld in vielen Fällen entschädigt, allein diese Art der Compensation behagte ihnen wenig, sie wußten nicht recht,

waS sie mit baarer Münze anfangen sollten.

Die Verminderung der

Beschränkung der Weideplätze wirkte indeß in immer fühlbarerer Weise auf den Viehstand zurück, und trug wesentlich dazu bei denselben zu verrin­

gern, wodurch

daS Vermögen der Stämme geschädigt wurde.

Diese

Beeinträchtigung wichtiger Lebensinteressen steigerte den, durch die Ver­

schiedenheit deS Glaubens stets bestehenden Haß gegen die Europäer; von

den Nomaden der Wüste übertrug sich derselbe auch auf die andern un­ abhängigen Stämme.

DaS mit der zunehmenden Bevölkerung Hand in

Hand gehende Weitervorschieben der europäischen Cultur bedeutet daher

eine immer weiter gehende Verkürzung und Schädigung deS Lebensunter­ haltes und Erwerbs einer nach Hunderttausenden zählenden Bevölkerung

bei der es, angesichts des reich vorhandenen Zündstoffes, nur eine- leisen Anstoßes bedurfte, um eine Explosion herbeizuführen.

Es war daher eine

leicht zu erklärende Erscheinung, daß da wo gewaltsame Ausbrüche von

Haß zum Vorschein kamen, und wo Gewaltthätigkeiten stattfanden, dieselben sich vornämlich gegen die Alfaanpflanzungen richteten, um diese,

Arabern den Boden entziehenden verhaßten Culturen zu vernichten.

den Der

grausame Ueberfall bei Saida am 11. Juni d. I. unter dem nicht nur

die in den Alfaanlagen beschäftigten Arbeiter, sondern auch deren Frauen und Kinder zu leiden hatten, lieferte ein deutliches Beispiel von der Er­

bitterung, welche in den Reihen der arabischen Bevölkerung jener Gränz­

gegenden Herrschte, und die sogar so weit ging,

auch die Bediensteten

spanischer Nationialität mit dem Tode zu bedrohen. — Die französischen

Verwaltungsbehörden wissen sehr wohl, daß ein dauernder Friede mit

den Nomaden an der Südgränze nur dadurch zu erreichen ist, daß man den ersteren wieder die im Lauf der Zeit verloren gegangenen Weideplätze

518

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.

einräumt.

Als Aequivalent für das damit abzugebende Culturland, würde

die Beschaffung neuer, der Ansiedelung Nutzen gewährender Culturgebiete

nothwendig sein.

Die großen Kosten mit denen derartige Meliorationen

verbunden wären, haben die Durchführung der bis jetzt in dieser Richtung zu Tage getretenen Projekte immer wieder in die Ferne gerückt und theil­

weise ganz von denselben absehetl lassen. Nicht in Afrika allein, auch in Asien und in der Südsee hat Frank­ reich in neuerer Zeit seinem Einfluß und seiner Macht weitere Ausdehnung

zu geben gesucht; in Asien handelte es sich dabei um eine Verstärkung seiner politischen und kommerziellen Position in Hinterindien, deren Basis

wie bekannt, die Colonie Cochinchina bildet:

Den äußeren Anlaß dazu

gab nicht nur das Streben dem Mutterlande nach dieser Seite hin

lukrativere Verbindungen zu eröffnen, reich

ausgestatteter,

und die Schätze von der Natur

aber bisher von dem Weltverkehr

völlig

auSge-

schloffener Colonialgebiete mehr als bisher auf die breite Handelsbahn

des MeereS zu lenken, sondern auch der Gedanke, dem Vordrängen Eng­ lands auf die Märkte des südlichen China'S entgegenzutreten, und eine

mit Erfolg begonnene Concurrenz auf dem chinesischen Weltmarkt siegreich weiter zu

behaupten.

DaS

heißfeuchte Klima Cochinchina'S

regt den

Boden des innern wie des Küstenlandes zu großer Ertragfähigkeit an;

das Hauptprodukt ist der Reis, der in großen Quantitäten gewonnen und

exportirt wird.

China, Australien, Calisornien sind die Hauptabnehmer

desselben, und zahlen gute Preise.

Außerdem wird Baumwolle, Pfeffer,

Indigo mit gutem Erfolg von den Eingeborenen gepflegt, und auch die Seide ist ein lohnender Erwerbsartikel, da sie acht Monat hindurch ge­

nügende Ernten liefert.

Nächst dem Reis geben Zuckerrohr und Pfeffer

die höchsten Erträge und könnte die Cultur derselben sehr lohnend sein,

wenn es nicht an europäischem Capital und namentlich an europäischer

Intelligenz zur Ausnutzung der Arbeitskräfte fehlte. Die Bevölkerung

Anamiten.

Cochinchina'S besteht

zum

größeren Theil aus

Die Anamiten haben gemeinsame Abstammung mit den Süd­

chinesen, den sogenannten Punti'S, soweit dieselben nicht daS Hochgebirge

bewohnen; dennoch unterscheiden sie sich ihrer Sprache und namentlich ihren Sitten und Gebräuchen nach von jenen.

Ihre Bildung und Civili­

sation ist jedoch chinesisch geblieben, wie der Charakter der Anamiten überhaupt wenig Originalität und Selbstständigkeit bekundet.

Cochinchina hat sich in den zwanzig Jahren in denen es unter fran­ zösischer Hoheit steht, erfreulich entwickelt.

Bon einer Million ist die

Bevölkerung auf zwei Millionen angewachsen, die Bodenkultur hat be­

deutend an Umfang zugenommen; während vor 16 Jahren der Export

519

Frankreichs diplomatische und militSrisch« Händel jenseit des Meeres.

eine Million PikulS Reis betrug, beläuft sich derselbe gegenwärtig auf mehr als fünf Millionen; den früher im Lande üblichen Culturen hat man außerdem diejenigen des Kaffee, deS Cacäo und der Vanille mit großem Erfolg hinzugesellt.

Mit der Herrschaft über Cochinchina ist daS Protectorat über den

Staat Cambodja verbunden worden, dessen vegetabilische Naturerzeugnisse und mineralische Schätze einen Theil seiner reichen Beträge an Cochinchina abgeben, und der Holz, Gummi, Gewürze und Elfenbein in tadelloser

Qualität und genügender Masse auf die Märkte der Colonte liefert.

Die

Zahl der europäischen Ansiedler hat sich von 200 im Jahre 1870 auf 820 gehoben,

und seitdem das Land von

einem Civilgouverneur verwaltet

wird, ist der.Zuzug noch stärker geworden. Die Finanzen der Colonie sind in blühendem Zustand, dieselbe trägt nicht nur die Kosten ihrer gesammten Verwaltung, sondern liefert noch

einen jährlichen Ueberschuß von zwei Millionen Francs durchschnittlich an

das Mutterland ab.

Bon Cochinchina ist der Blick und die Unterneh­

mungslust der Republik in neuerer Zeit

auf ein Nachbarland gelenkt

worden, das, seiner Lage und Zugänglichkeit, der Tüchtigkeit seiner Be­

wohner und seinen reichen HülfSquellen nach, Frankreich einen werthvollen Machtzuwachs innerhalb seiner asiatischen Besitzsphäre zu versprechen scheint.

DaS Gebiet, um welches es sich dabei handelt, ist die Provinz Tonkin deS Königreichs

Anam,

an

deren gleichnamigem Meerbusen

gelegen.

Die Beziehungen Frankreichs zu Tonkin reichen in das Jahr 1873 zurück und erhielten ihren Anknüpfungspunkt durch einen Conflict, in den ein in

China ansässiger französischer Lieferant, M. I. Dupuiö, wegen der Waffenund MunitionStranSporte, die er im Auftrag der chinesischen Regierung

dem in der rebellischen Provinz Iünnan die Truppen befehligenden Ge­ neral auf dem Songkoi oder rothen Fluß zuführte, mit dem Königreiche

Annam gerieth.

ES war daS erstemal, daß eine von einem Europäer

geführte Flotille in das Innere von Anam vordrang, dessen Argwohn

und feindselige Gesinnung dadurch geweckt wurde.

Der der DupuiS'schen

Mission entgegengesetzte Widerstand gab die Veranlassung zur Absendung einer kleinen militärischen Expedition,

welche Genugthuung für die er­

littene Unbill fordern und sich dieselbe nöthigenfallS mit den Waffen in

der Hand erzwingen sollte.

Dem kaum hundert Bewaffnete zählenden

kleinen CorpS, das den Songkoifluß hinauf gesendet wurde, gelang es in kurzer Zeit alle Positionen in seine Gewalt zu

bekommen.

DaS

aüS

diesen Zwistigkeiten und den auf dieselben folgenden Unterhandlungen sich

ergebende Resultat war ein im Jahre 1874 zwischen der Republik und

Anam abgeschlossener Vertrag, kraft dessen den französischen Schiffen und

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.

520

ihrem Handel der Songkoi oder rothe Fluß erschlossen, dagegen französi­ schen Ansiedlern das Verbleiben im Lande untersagt wurde.

der Abneigung

und Feindseligkeit

gegen das Europäerthum,

Der Geist

der das

Staatswesen Anam's beherrscht, machte indeß daS Einhalten der über­

nommenen Verbindlichkeiten seitens Anam's illusorisch.

Zu dieser Oppo­

sition trug wesentlich der Umstand bei, daß zwischen den Bevölkerungen

beider Länder ein scharfer Zwiespalt besteht, der aus der Zeit herrührt, wo die

benachbarten chinesischen Gränzstämme die Waffen gegen ihre

rechtmäßigen Regierung und gegen Anam erhoben, und wo Tonkin zum Schauplatz verheerender Kämpfe wurde.

Die Grausamkeit und Hinterlist

mit welcher der König Tu-duk von Anam die Tonkinesen bei Unterdrückung

der Empörung behandelte, führte eine völlige Entfremdung zwischen beiden Ländern herbei.

Grade dieses Moment war

Sympathien für die französische Macht erfüllte.

eS, welches Tonkin mit

Sowohl einzelne Rei­

sende und Forscher, wie militärische RecognoscirungS- und HandelSexpe-

ditionen fanden stets eine freundliche Aufnahme; dadurch entstanden mit

der Zeit nähere Beziehungen zwischen beiden Ländern, die in der franzö­ sischen Colonie angesichts der Kraft- und Energielosigkeit Anam's, den

Wunsch rege werden ließen, direkteren Einfluß auf Tonkin zu gewinnen,

und namentlich Handelsvortheile daselbst zu erlangen. ledigung des

ersten,

Schon vor Er­

durch den Munitions- und Waffentransport des

Unternehmers Dupuis herbeigeführten Streitfalles, welcher in thatkräftiger und umsichtiger Weife innerhalb 6 Wochen von einem französischen Ma­

rinedetachement geregelt wurde, schrieb der Gouverneur von Cochinchina

unter dem 16. Mai 1873 an den Marineminister: daß seiner Ansicht nach

mit der Besetzung des productenreichen und vermöge einer großen Wasser­ ader bequem zugänglichen Landes, welches daS natürliche Sammelbecken

der aus den südchinesischen Landestheilen auszuführenden Bodenerzeugnisse wäre, nicht gezögert werden dürfe, und daß dessen Inbesitznahme eine

Lebensfrage für die Fortdauer des französischen Einflusses im östlichen Asien sei.

Man müsse dort entweder als Verbündeter des Königs Tu-Duc

von Anam festen Fuß fassen, unter dem Vorwande die Autorität dieses Fürsten zu befestigen und sein Ansehen zur Geltung zu bringen, oder bei

der geringsten Gelegenheit,

bei welcher der König Beweise von Uebel­

wollen gäbe, oder sich weigere auf ein Vertragsverhältniß einzugehen, zur

militärischen Occupation schreiten.

Das damals von einem sachgemäßen

und richtigen Urtheil eingegebene Verbiet scheint nunmehr nach 8 Jahren der Verwirklichung entgegenzugehen.

Die zukünftige neue französische Colonie hat ein gesünderes, besseres

Klima als Cochinchina; ein netzförmig entwickeltes Kanal- und Flußshstem

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.

521

verbreitet Feuchtigkeit und Frische über den Boden, und giebt dem Lande

den Charakter einer sich zum Meere hinabsenkenden Niederung.

Auf den

ausgedehnten Flächen derselben gedeihen der ReiS, der Mais, das Zucker­ rohr in überreichem Maße; die Cultur des Bodens würde eine besser entwickelte seine, wenn König Tu-Duc nicht, in der Absicht jeden Außen­

handel zu verhindern, seit langer Zeit die Ausfuhr von Waaren verboten

hätte.

Alle Früchte und Gemüse der tropischen Natur, auch der Oelbaum,

sowie die Erträge deS Meeres, ernähren in wohlfeiler Weife eine dicht gedrängt wohnende Bevölkerung. staude kommen vielfach vor.

Auch Seide, Baumwolle, die Ricinuö-

Am meisten exportirt werden Zinn, Lack, Der breite Rücken des SongkoistromeS trägt

Firnißöl, feine Baumwolle.

diese Artikel in großen Massen dem Ocean zu, da der Fluß ungefähr 414 MileS von seiner Mündung aufwärts schiffbar ist. —

Dieser Fluß, welcher bis tief in das Innere von gut bevölkerten,

von der Natur reich ausgestatteten, durch die Erzeugniffe ihres GewerbfleißeS hervorragenden Binnenlandschaften reicht, ist der Vermittler der

Ein- und Ausfuhr Tonkins.

In seinem oberen Laufe durchfließt er die chinesische Provinz Aünna deren Märkte sich durch eine große Reichhaltigkeit auSzeichnen.

Metalle

aller Art, als Eisen, Kupfer, Zinn, Zink, Silber bilden den einen Theil dieser natü'rlichen Schätze; die Theestaude und der Maulbeerbaum einen

anderen.

Der Waarenreichthum der vorstehend genannten

chinesischen

Märkte übt seit langer Zeit große Anziehungskraft auf die englischen in

Birma ansässigen Handelsagenten. Nachdem die indobrittische Regierung Birma die Stadt Pugon ab­

genommen hatte, glaubten die englischen Händler, eS würde möglich sein,

auf dem Jrawaddi oder dem Salüen-Fluß das ertragreiche Aünnan und

die Provinz Sjö-Tschuen zu erreichen.

In dieser Hoffnung sahen sie sich

indeß durch den Umstand getäuscht, daß die beiden genannten Ströme nicht bis auf chinesisches Gebiet hin, auf welchem sie ihren Ursprung haben,

schiffbar sind, und der Landweg über hohe Gebirgsrücken und durch steil

etngeschntttene Querthäler führt. Einen werthvollen mineralischen Schatz besitzt Tonkin auch in fast

unerschöpflich reichen Kohlenbecken, die sich in der Nähe der Uferland­ schaften des oberen Singkoilaufes vorfinden, und deren Borräthe mühelos auf dem genannten Fluß zum Meere hinab geführt werden können. —

Die Aussicht auf eine Erweiterung des ostasiatischen Besitzstandes, und auf eine einflußreichere handelspolitische Stellung innerhalb der indo­ chinesischen BerkehrSzone,

hat der französischen Colonialverwaltung

den

Impuls gegeben, der Ergänzung und Weiterentwicklung deS noch sehr Preußische Jahrbücher. Bd. XI.VIII. Heft 5.

37

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.

522

lückenhaften Verkehrsnetzes daselbst ein reges Interesse zu widmen.

In

dieser Beziehung ist namentlich daS Project zur Herstellung einer Bahn zwischen Saigon und Puom Peng, der Hauptstadt von Cambodja günstig

ausgenommen worden.

Durch ein solches Schienenband würde das Haupt­

emporium deS unter französischer Oberhoheit stehenden Reiches Cambodja

erreicht, und eine bessere Verwerthung der LandeSproducte desselben er­ möglicht werden.

Nach neuern Nachrichten liegt außerdem eine Regulirung

der Schiffbarkeit deS Mekongstrom sowie der Bau von Zweigbahnen die vom oberen Flußthal nach Aünnan lind nach Tonkin geführt werden sollten

in der Absicht, dadurch würde einmal die bessere Ausnutzung der wald­

reichen Ufer deS mit tiefer und breiter Strombahn weit in das Hinter­ land eindringenden Mekongflusses möglich sein, andrerseits könnte Saigon dadurch zu einem Depot- und Siapelplatz für die, namentlich in Mine­

ralien und Lackholz bestehenden sehr werthvollen Produkte des benachbarten Binnenlandes, sowie zu einem Stationspunkt des französischen überseei­

schen Handels werden.

Auch in der Südsee hat, wie schon gesagt worden, die Republik in neuerer Zett eine Politik der Expansion etngeschlagen, und sich bemüht, dem dortigen Colonialbesitz, dem es wegen seiner Zersplitterung und seiner isofirten Lage

an den Bedingungen eines kräftigen Gedeihens fehlte,

mehr Ausdehnung und zugleich auch mehr innern Zusammenhang zu geben.

Einen äußern Ausdruck erhielt dieses Streben zunächst in der im Juni 1880 erfolgten Annexion der Gesellschaftsinseln, über welche Frankreich seit dem

Jahre 1840 ein Protektorat ausgeübt, das ihm zwar das Recht zu manchen Einmischungen in innere staatliche und wirthschaftliche Verhältnisse der

genannten Inselgruppe gegeben, dagegen ihm nach außen manche Reserve

auferlegte.

Nachdem die Königin Pomare am 20. Juni 1880 das bis

dahin von ihr beherrschte Land für einen Theil deS französischen Staats­

gebietes erklärt hatte, war ein Mittel gegeben um den ernsten Unzuträglichkeiten die das ProtectoratSverhältniß nach sich gezogen, ein Ende zu

machen. In Folge der Anordnung, daß innerhalb der ProtectoratSgränzen nur solche Schiffe Handel treiben sollten, die ganz oder theilweise französisches

Eigenthum, und von französischen Kapitänen geführt würden, war das

kaufmännische Geschäft in jenen MeereStheilen fast vollständig erlahmt. Auch die kleinen Zugeständnisse zu denen man sich dann entschlossen,

änderten an diesem Zustande nichts.

Die französischen Kapitalisten und

Unternehmer, denen zu Liebe die genannte Bestimmung getroffen war und welchen dadurch der Handel reservirt werden sollte, blieben aus.

Das­

selbe war in Folge der beengenden und drückenden Beschränkungen und

Besteuerungen die der fremden Kauffahrteiflagge auferlegt waren,

nichtfranzösischen Fahrzeugen der Fall. Regierung Nachtheile und Verluste.

mit

Dadurch erwuchsen der Colontal-

In diesem Dilemma empfahl eS

sich, an Stelle der Schutzherrschaft die Annexion treten zu lassen; damit war das Land direct unter die französischen Gesetze gestellt, und waren die Bewohner des letzteren zu französischen Unterthanen erklärt, während

das staatsrechtliche Band bei dem Protectorat nur darin bestand, daß die Bevölkerung Tahtti'S das Staatsoberhaupt Frankreichs auch als ihr Ober­ haupt anerkannte.

Von außen wirkte auf die Umwandlung des Pro-

tectoratS in ein direktes Abhängigkeitöverhältniß die kräftigere Entwickelung des DeutfchthumS auf den benachbarten Samoa-Jnfeln, und die Verbrei­ tung des deutschen Handels über die weniger bekannten Inselgruppen des Südsee-Archipels.

Die Besuche welche deutsche Kriegs- und Kauffahrtei­

schiffe in letzter Zeit den King Mill- oder Gilbert-Inseln abstatteten, die

Verhandlungen deutscher Agenten mit Regierungsvertretern auf der Ellice-

Gruppe, den Marschall- und Duke of Aork-Jnseln zeigten, daß es opportun

sei, die französische Machtsphäre räumlich zu erweitern und fester zu consolidiren.

Noch mehr war durch daS bestimmte Auftreten Englands in

Polynesien der Anlaß zu entschiedenem Vorgehen für Frankreich geboten.

Nachdem sich die Engländer auf den 1874 occupirten Fidschi-Inseln voll­

ständig eingerichtet, drangen ihre großen Plantageneigenthümer und Grund­ besitzer auf die Besitzergreifung der günstig innerhalb der BerkehrSzone gelegenen „Neuen Hebriden" sowie auf Okkupation von Neu-Guinea und

der daran grenzenden Jnselgebiete, Neu Britannien und der GilbertInseln, vornehmlich um daS dortige Arbeiterfeld für brittische Interessen zu monopolisiren.

Der Ausbreitung des deutschen und des englischen

Elements in jenen Meeren konnte nur durch die förmliche Einverleibung

eines Theils des französischen ProtectoratsgebietS ein Gegengewicht ge­

geben werden, welche, wie schon gesagt, im Juni vergangenen JahreS Thatsache ward.

Bon demselben Schicksal wie die GesellschaftS- oder Tahiti-Inseln ist

vor einigen Monaten auch die Gruppe der Gambier- oder Mangareva-

Eilande betroffen worden. Neuesten Meldungen zufolge hat der AnnexionSact

selbst im März stattgefunden.

Wie üblich, wurde bet demselben die Form

beobachtet, daß in einer Erklärung ausgesprochen ward: die gegenwärtige Regierung habe um den Anschluß an das französische Staatsgebiet nach­

gesucht. In der letzten Zeit hat sich auch mehrfach von Neu-Caledonien, der

bekannten französischen Verbrechercolonie aus, der Ruf nach einer Einver­ leibung der Gruppe der Neuen Hebriden in den Colonialbesitz der Re-

Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.

524

publik vernehmen

lassen.

Motivirt wurde dieses Verlangen mit dem

Hinweis darauf, daß das Verbrecher-Element in Numea vollständig die

Oberhand gewonnen habe, so daß der freie Ansiedler verschmähe dort sein Glück zu suchen.

Wollte man die Cultur und Anbaufähigkeit von Neu-

Caledonien weiter auSnützen, dann müßte, so wurde gesagt, dasselbe zu­

nächst von den schwersten Verbrechern befreit werden.

Für dieselben gäben

die „Neuen Hebriden" eine geeignete Strafanstalt ab, ebenso wie diese

Inseln andererseits dadurch Werth fßr die Caledonier hätte, daß sie den­ selben, in ihren Bewohnern billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen könnten.

Vorläufig scheint man nicht an eine Acquisition der genannten Gruppe zu denken; das wenig versprechende Klima, die Sterilität, der sehr geringe

Grad von Civilisation ihrer Bewohner, würden dieselbe zu einem sehr kostspieligen Unternehmen machen, dagegen darf die Einverleibung des

ebenfalls unter französischer Oberhoheit stehenden, etwa 80 kleine länglich

geformte Eilande umfassenden Paumotu-ArchipelS, der den südöstlichsten

Arm Polynesiens bildet, wohl als in naher Zeit bevorstehend angesehen werden.

Die Lage nach den Wahlen. Selten in unserer neuesten Geschichte hat sich die Macht der Trägheit so wirksam erwiesen wie bei dem Wahlkampfe, der soeben zu Ende geht.

Wie es oft geschieht, daß eine regierende Klasse allein durch die Macht

des Beharrens noch Jahrzehnte hindurch eine Herrscherstellung behauptet, welcher ihre sittlichen und wirthschaftlichen Kräfte nicht mehr entsprechen,

so werden auch zuweilen veraltete, von den lebendigen Mächten der Ge­ schichte längst überholte Parteigegensätze durch die Kraft der Gewohnheit noch eine Weile auftechterhalten, und solche im Grunde ideenlose Parteikämpfe pflegen dann durch ein Uebermaß gehässiger Erbitterung zu er­

setzen was ihnen an Sinn und Gehalt abgeht.

Die Parteinamen Liberal

und Conservativ haben im Verlaufe der letzten Jahre ihren alten Sinn

verloren.

Was die alten liberalen Parteien an berechtigten politischen

Gedanken erstrebten, ist durch die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes

und des Deutschen Reichs tut Wesentlichen verwirklicht und steht so fest, daß eigentlich Niemand mehr daran zu rütteln wagt.

Alle Parteien ohne

Ausnahme benutzen im Wetteifer die Freiheit der Presse und der Redner­

bühne, die ihnen der Liberalismus erobert hat; in keinem Lande Europas kann der Bürger seine persönliche Kraft so schrankenlos nach freiem Be­ lieben bethätigen wie in dem vtelverleumdeten deutschen Militärstaate.

Das Programm des Liberalismus ist erfüllt; und unterdessen hat die

wachsende Zeit dem deutschen Staate eine Reihe neuer Aufgaben gestellt, welche mit den alten Parteilehren nichts gemein haben und früher oder später unser FraktionStretben umbilden müssen: die dreifache Aufgabe der finanziellen, der volkSwirthschaftlichen und der socialpolitischen Reform.

Von dem ParticulariSmus der Regierungen steht für die Einheit des Reichs zunächst nichts zu fürchten; sie Alle haben, mehr oder minder willig,

aber mit ehrenhafter Treue sich in die neuen Verhältnisse gefügt.

Um

so bedrohlicher regt sich im Volke wieder jener Sondergeist, der in Jahr­ hunderten der nationalen Schwäche aufgewachsen, durch die wundervollen

Erlebnisse des französischen Krieges wohl zurückgedrängt doch nicht be-

wältigt werden konnte, und er nährt sich vornehmlich an der Klage über

die materielle Noth.

Die Masse des Volks in den kleinen Staaten be­

merkt wenig oder nichts von Allem, was den Gebildeten den deutschen Staat theuer und ehrwürdig macht; sie weiß nicht, welche ruhmvolle Rolle die friedliche Macht des einigen Deutschlands in den europäischen Händeln

diese« Jahrzehnts gespielt hat.

Sie empfindet von der neuen Ordnung

der Dinge nur die harte Wehrpflicht und die Erhöhung der Steuern; sie trägt diese Lasten um so unwilliger, da sie von den Anforderungen, welche

ein großer Staat an seine Bürger stellen muß, keinen Begriff hat und von AlterSher gewöhnt ist die Wohlfeilheit des Regiments als das höchste politische Ideal zu betrachten.

Die Feinde Deutschlands kennen diese Ge­

sinnung wohl und werden nicht müde durch beharrliches Aufzählen der

unerschwinglichen neuen Lasten den Haß gegen das Reich

zu

schüren.

Längst schon hört man in Württemberg und Baiern, wie einst unter dem

alten Zollverein, wieder die Klage: Preußen braucht uns um seine Taschen zu füllen, wir können Preußens gern entbehren!

Solchen Gesinnungen den Boden zu entziehen, die nationale Einheit auch den Massen des Volks erträglich zu machen ist der eigentliche Zweck

der in den jüngsten Jahren begonnenen Finanzreform.

Da das Finanz­

wesen kleiner Staaten den Ansprüchen einer Großmacht schlechterdings nicht zu genügen vermag, so bleibt nur übrig, den Haushalt der Reichs­

gewalt so selbständig zu gestalten und mit eigenen Einnahmen so reich

auSzustatten, daß sie selber die Einzelstaaten unterstützen und sie durch

eine wohlthätige, willig ertragene Feffel unzertrennlich mit dem Reiche verbinden kann.

Dieser Gedanke ergiebt sich so unabweisbar auS den

Lebensbedürfnissen deS Reichs, daß man seine Ausführung wohl ver­ schieben, aber nicht verhindern kann.

Darum wird auch der Plan des

Tabaksmonopols, trotz so vieler berechtigter Bedenken und unberechtigter Vorurtheile, die ihm entgegenstehen, immer von Neuem auftauchen — so lange Niemand ein andere- Mittel anzugeben weiß, daS ohne Schädigung

des Volkswohlstandes die Einnahmen des Reichs ebenso nachhaltig ver­ mehren kann. ES ist und bleibt ein unnatürliches Verhältniß, daß die wenig

rauchenden Engländer von einem Genusse, der sich wie kein anderer für ergiebige Besteuerung eignet, dem Staate 4,86 Mark auf den Kopf zahlen, die rauchlusttgen Deutschen bisher 35 Pfennig und erst nach vollständiger

Durchführung der neuen Gewichtssteuer etwa 1 Mark. Die Stärkung der Reichsfinanzen erscheint aber um so dringender,

weil der unerfreuliche Zustand unserer Volkswirthschaft eine Steigerung

der productiven StaatSauSgaben gebieterisch fordert.

Man kann sich nicht

mehr darüber täuschen, unser Wohlstand bleibt nicht nur weit hinter der

politischen Machtstellung des Reichs zurück, er hält auch nicht mehr gleichen

Schritt mit dem raschen Wachsthum unserer Bevölkerung und dem Gedeihen unserer westlichen Nachbaren.

Wer aber überholt wird, der schreitet zurück

— das gilt im Völkerleben noch mehr als im Geschäftsleben der Einzelnen. Wie oft haben wir uns gerühmt den ersten Hafen des ContinentS zu be­

sitzen; heute bemerken wir mit Beschämung, daß der Handel Antwerpens, gefördert durch die einsichtige Freigebigkeit seines Staates, den Hamburgischen

Wir

in der Tonncnzahl der Schiffe bereits um 36 Procent übertrifft.

sehen unsere Flagge aus den Gewässern HinterasienS Schritt für Schritt zurückweichen, weil Deutschland allein unter allen großen Culturvölkern

den oceanischen Dampferverbindungen die Staatöhilfe versagt, welche selbst England, das classische Land des Voluntarismus, mit offenen Händen gewährt.

Wir haben drei Jahrhunderte in trauriger Schwäche verbracht,

während die anderen Völker die transatlantische Welt unter sich auftheilten,

und mußten jetzt erleben, daß der erste bescheidene Versuch der ReichS-

regicrung, der deutschen Schifffahrt

eine selbständige Position

in der

Südsee zu sichern, an dem Widerspruche deö Reichstags zu Schanden

wurde.

Wir besitzen kaum die

eines CanalnetzeS, während

Anfänge

Frankreich für Hafenbauten, Kanäle, Flußregulirungen und dergleichen in einem Jahre 460 Mill. Fr. aufwendet.

Wir sehen alle wissenschaftlichen

Berufe bedenklich überfüllt und bieten, etwa mit Ausnahme Württembergs,

unseren jungen Gewerbtreibenden einen so mangelhaften technischen Unter­ richt, daß wir vor Frankreich erröthen müssen.

Wohin wir blicken, überall

stoßen wir auf die Unterlassungssünden deutscher VolkswirthschaftSpolitik. Der neue Zolltarif — dies läßt sich jetzt schon erkennen — hat unsere Producenten etwas ermuthigt, und die Ehrlichkeit gebietet das Eingeständ-

niß, daß namentlich der Getreidezoll die erwarteten üblen Folgen nicht

gehabt hat.

Eine wesentliche Veränderung des Tarifs erscheint in den

nächsten Jahren schon darum unmöglich,

weil sich inzwischen in allen

unseren Nachbarstaaten die Schutzzollpolitik immer schärfer ausgebildet hat

und wir in dem allgemeinen Zollkriege nicht waffenlos bleiben können.

Aber mit Alledem ist nur ein erster Schritt geschehen. Aufnahme unserer beiden

Wir brauchen die

ersten Häfen in das nationale Marktgebiet,

große Aufwendungen des Staats für Kanäle, Häfen und Schifffahrt und vor Allem eine Neugestaltung unseres veralteten Steuersystems, das in einer Zeit bescheidener wirthschaftlicher Verhältnisse entstanden, heutzutage

den Grundbesitz wie die großen Städte gleich schwer bedrückt.

Und dazu endlich die drohende Gefahr der socialen Revolution.

Die

Socialdemokratie ist durch das Ausnahmegesetz zwar in ihrer Ausbreitung etwas behindert, aber keineswegs vernichtet worden.

Wer den

Proceß

gegen die Frankfurter Verschwörer vor dem Reichsgerichte aufmerksam

verfolgt hat, muß den Eindruck gewinnen, daß die Fäden dieses Unter­

nehmens sehr weit reichten und nur ein kleiner Theil der verbrecherischen Pläne an den Tag gekommen ist.

Dämonische Kräfte nagen und bohren

an den Grundlagen der Gesellschaft, und der deutsche Revolutionär ver­ fährt in der Wahl seiner Mittel ganz ebenso unbefangen wie der russische Nihilist.

ES wird die höchste Zeit, daß der Staat den berechtigten Klagen

der Arbeiter die so oft,

von allen Parteien im Wetteifed, verheißene

Abhilfe endlich gewährt und der Masse das Vertrauen zu seiner Gerech­ tigkeit wieder erweckt.

Die Aufgabe zählt zu den schwersten der StaatS-

kunst und jeder Fehlgriff kann verhängnißvoll wirken, denn überall droht die Gefahr, daß durch das Eingreifen der Staatsgewalt das Gefühl der

persönlichen Verantwortlichkeit, der feste Grund aller socialen Ordnung, zerstört werde.

Doch der deutsche Staat hat seiner Thätigkeit schon so

oft neue, hohe Ziele gestellt, welche der übrigen Welt unerreichbar schienen, und sie wirklich erreicht; er hat einst unter dem Gelächter deS Auslands

den Schulzwang und die allgemeine Wehrpflicht durchgesetzt und soeben wieder, zuerst unter allen Großmächten, das StaatSeisenbahnshstem in großem Stile eingeführt — ein Wagniß, das trotz mancher noch nicht be­

seitigter Uebelstände zuletzt doch gelingen wird.

Er hat auch zu allen

Zeiten den Grundsatz der öffentlichen Armenpflege festgehalten, und Nie­

mand darf ihn eines radikalen Bruchs mit der Vergangenheit beschuldigen, wenn er sich jetzt die Frage vorlegt: inwieweit ist eS möglich, die oftmals

ungenügenden und immer demüthigenden öffentlichen Almosen durch ein vom Staate geleitetes Versicherungswesen zu ergänzen?

In diesem dreifachen Gedankenkreise hat sich die innere Politik des Reichskanzlers bisher bewegt.

Man mag ihr vorwerfen, wie es auch in

diesen Blättern oftmals beklagt wurde, daß sie hastig, unstet, sprungweise

vorging, daß sie manche unreife oder ganz verfehlte Entwürfe, wie den unseligen Wehrsteuerplan, zu Tage förderte.

Aber ihre Grundgedanken

sind nicht die willkürlichen Einfälle eine- genialen Kopfes, sondern daS

nothwendige Ergebniß unserer wirthschaftlichen Lage.

Mag der Reichs­

kanzler bleiben oder ausscheiden, die deutsche Politik wird die Lösung dieser

socialpolitischen Probleme nicht mehr umgehen können, und eS gereicht den konservativen Parteien zur Ehre, daß sie diese Nothwendigkeit früher und

klarer begriffen haben als die Liberalen. Die alten Rollen sind vertauscht. Die sogenannten Conservativen erscheinen heute als die Träger der Re­

formpolitik; darum folgt ihnen auch die Jugend, die immer und überall

liberaler denkt als die Erwachsenen. Liberalen

In den Kreisen der sogenannten

überwiegt ein doktrinärer Optimismus, der,

froh deS Be-

sitzeS, die vorhandenen Mißstände hinwegzuleugnen sucht und sich alle

Neuerungen vom Leibe hält mit dem wohlbekannten reaktionären Angstrufe: „wir wollen endlich Ruhe haben!" Gleichwohl hat der Wahlkampf nicht dazu geführt, daß die Parteien

je nach ihrer Stellung zu den praktischen Aufgaben der nächsten Zukunft sich neu gruppirt hätten. Obwohl einzelne Schlagworte aus dem Programm

des Reichskanzlers, die Arbciterversicherung, das Tabaksmonopol, die Bör­

sensteuer, hüben und drüben als willkommene Agitationsmittel benutzt wurden, so zog doch jede der zehn alten Fraktionen als eine geschlossene Heerschaar ins Gefecht, eine jede eifrig bemüht den anderen, und wenn

sie auch nur um eines Fingers Breite weiter nach links oder rechts standen,

den Boden streitig zu machen.

So enstand ein Krieg Aller gegen Alle,

der selbst in der wtrrenreichen Geschichte des deutschen Parteiwesens nicht seines gleichen findet.

Mit weniger als drei oder auch vier ja sechs

Candidaten scheint ein deutscher Wahlkreis bald nicht mehr auskommen zu können.

Ein volles Viertel der Wahlkämpfe mußte durch Stichwahlen

entschieden werden, und bei diesen offenbarte sich die Verwilderung des Parteihasses in den unnatürlichsten Coalitionen.

Daß der rohe, zuerst

von der Socialdemokratie und der Fortschrittspartei angeschlagene Ton des

Schimpfens und Verleumdens jetzt auch die anderen Parteien anzustecken beginnt, erscheint nur als eine natürliche Folge des unglücklichen allge-

Ulkinen Stimmrechts, und wir müssen in der Zukunft auf noch lieblichere Proben deutscher Höflichkeit gefaßt sein.

Völlig neu, unerhört in der Ge­

schichte unseres strengmonarchischen Staates war aber die Verunglimpfung

des kaiserlichen Thrones selber, die von der Fortschrittspartei und ihren Genoffen nicht für unziemlich gehalten wurde.

Dieselbe Partei, welche

einst das Königthum von Gottes Gnaden für eine bankrotte Firma er­

klärte, warf sich zum Kronenwächter deS Haufes Hohenzollern auf und versicherte den Thron gegen die HauSmeier-Gewalt deS neuen Richelieu

beschützen zu wollen — als ob nicht jedes Kind wüßte, daß ein Richelieu ohne einen Ludwig XIII. nicht möglich ist!

Die beiden Mittelparteien

zeigten sich dem Ansturm der Extreme nicht gewachsen.

Wenn eS nur

darauf ankommt die Pfeife deS armen Mannes zu rauchen und den alt­

germanischen Abscheu gegen die Steuerzahlung durch die lockende Ver­ heißung „freien BroteS und freien Lichts" aufzustacheln, dann werden die Männer, welche daö Mögliche in der Politik erstreben, niemals mit der

Lungenkraft der Radikalen wetteifern können.

Die nationalliberale Partei

half überdies noch in unbegreiflicher Verblendung ihr eigenes Grab graben

und leistete in vielen Wahlkreisen der Fortschrittspartei HeereSfolge um zum Danke aus ihren alten Stammsitzen verdrängt zu werden. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIIL Heft 5.

38

DaS Ergebniß des verworrenen Kampfes ist in der That, wie eS im

Junihefte dieser Jahrbücher vorhergesagt wurde, ein Nebeneinander von

drei scharf geschiedenen Gruppen, und unter diesen ist die Schaar der zuverlässigen Anhänger des Kanzlers die schwächste.

Daö Centrum geht

als der eigentliche Sieger auS dem Wahlkampfe hervor.

Eine confervativ-

liberale Mehrheit, wie sie den Reichskanzler jahrelang unterstützte, ist vorderhand unmöglich, und die Regierung selbst trägt einige Schuld an

ihrer Niederlage; denn während sie der europäischen Diplomatie mit be­ wunderungswürdigem Scharfblick bis in Herz und Nieren schaut, versteht

sie den

so viel einfacheren Charakter des deutschen Bürgerthums noch

immer nicht richtig zu behandeln.

Der schlichte Mann will zunächst wissen,

wohin daS Boot segelt, bevor er sich dem Steuermann anvertraut; er verlangt nach einem klaren, festen Programme und wird unwirsch, wenn

er kein Ende absieht.

Der unerfreuliche AuSgang der Wahlen war wesent­

lich daS Werk deS wild gewordenen PhilisterthumS.

DaS Volk konnte

sich schon in dem verwickelten Steuerresormplane kaum zurechtfinden und wurde dann während deS Sommers immer von Neuem beunruhigt durch die dunkele Ankündigung noch anderer, noch kühnerer Entwürfe, die sich in so unklarer Fassung jedem sicheren Urtheil entzogen.

DaS eine un­

glückliche Wort von dem „Patrimonium der Enterbten" hat der Oppo­ sition tausende von Stimmen geworben;

denn eS war unleugbar dem

Wörterbuche der Socialdemokratie entlehnt und arbeitete den gesinnungStüchttgen Anklägern deS „StaatSsocialiSmuS" geradeswegs in die Hände.

Durch solche Mißgriffe der Regierung wird freilich der ungeheure Rückschritt, den der deutsche Liberalismus soeben vollzogen hat, in keiner

Weise entschuldigt. Die große Mehrheit der alten nationalliberalen Partei

kehrt wieder zurück auf den abschüssigen Weg, den sie im Jahre 1867 zu ihrem und deS Landes Heil verließ; sie sagt sich loS von jener posi­

tiven, alifbauenden Politik, welcher das Reich die zehn besten Jahre seiner Gesetzgebung verdankt, und schließt von Neuem daS Bündniß mit der

Partei der reinen Negation, daS ihr im Jahre 1866 eine so schmach­ volle Demüthigung bereitete.

Mit einem Worte, der neue Reichstag be­

sitzt zwei Fortschrittsparteien, statt der einen alten, und die Trümmer deS

vormaligen rechten Flügels, die sich unter Herrn v. Bennigsen wieder zusammenfinden, können schon wegen ihrer numerischen Schwäche nicht hoffen die Haltung dieser „großen liberalen Partei" zu bestimmen, selbst

wenn sie sich ihr anschließen wollten.

Es liegt nicht in den Gewohnheiten

deS Radikalismus, nach einem unverhofften Erfolge sich zu mäßigen. Wer dürfte den Reichskanzler schelten, wenn er jetzt von seinem Amte zurückträte?

Er hat übermenschlich gearbeitet für sein Volk und über-

menschlich gelitten unter einer Fluth des UnglimpfS, die einer ruhigeren Zukunft ebenso unbegreiflich erscheinen wird wie unS heute der Undank

der Briten gegen Wilhelm III.

Es wäre für die Liberalen eine heil­

same Lektion, wenn sie einmal den Unterschied zwischen dem Regiment des Fürsten Bismarck und einer wirklichen conservativ-clerlcalen Regierung handgreiflich kennen lernten; denn nur ein solches Ministerium bliebe

dann noch

möglich, da die Partei, welche die Legende vom deutschen

Richelieu erfunden hat, sich offenbar selber noch nicht für regierungsfähig Nichts würde das Volk über die Segnungen der großen liberalen

hält.

Partei so

Daran ist ja kein Zweifel,

gründlich belehren.

an dem

Rücktritt deS Kanzlers hat die ungeheure Mehrzahl der liberalen Wähler

nicht von ferne gedacht.

Manche der liberalen Candidaten betheuerten in

aller Unschuld: „den hält der Kaiser auf jeden Fall, meiner Unterstützung

bedarf er nicht"; und nur auS Furcht vor den Wählern ließ die Fort­

schrittspartei ihr Feldgeschrei „fort mit Biömarck" stummen.

alsbald wieder ver­

Der kindliche Wunsch der liberalen Wählerschaft ging vielmehr

dahin: der Fürst soll unsere auswärtigen Angelegenheiten nach wie vor

allein leiten, aber er soll in der inneren Politik daS Gegentheil dessen thun, waS er für recht und nothwendig hält!

Welche Zumuthung an

einen ehrenhaften Mann! Und welche kühne Auslegung des ReichSrechtS,

das den Kanzler ausdrücklich geschäfte auferlegt!

die verantwortliche Leitung aller Reichs­

Radikalkuren sind aber nicht zu jeder Zeit anwend­

bar, und wir hoffen,

der Kanzler wird dem Publicum jene allerdings

wünschenSwerthe Belehrung nicht

ertheilen, sondern bedenken, welches

Unheil sein Rücktritt eben jetzt, da die Verhandlungen mit dem römischen

Stuhle noch schweben, über unser Land bringen kann. Bleibt der Reichskanzler im Amte, so kann er selbst unternehmen,

eine conservativ-clericale Regierung zu bilden.

Aber auch dieser Weg er­

scheint schwierig, ja, zum Glück für Deutschland, fast ungangbar.

Auf

die Beseitigung der Maigesetze wird ihr Urheber nie eingehen, nur um

diesen Preis ist die Unterstützung der Clericalen. zu erlangen; und selbst

dann noch verspräche der unnatürliche Bund keine Dauer, da ein Drittel deS Centrums aus Männern besteht, welche mit dem preußischen Staate

und seinem protestantischen Herrscherhaus« sich niemals ernstlich versöhnen können.

So scheint nur noch ein dritter Weg offen zu stehen.

Man mag

versuchen, bis auf Weiteres ohne eine sichere Dkehrheit auszukommen, da eine parlamentarische Regierung unter deutschen Parteiverhältnifsen doch

unmöglich bleibt.

Die Stärke der neuen liberalen Opposition liegt in

der souveränen Kritik; wenn man diese nicht ohne Noth herausfordert

und nur wenige, vollkommen ausgereifte Gesetzentwürfe vorlegt, so mag

532

Die Lage nach den Wahlen.

man vielleicht einige bescheidene Erfolge erreichen, zumal da das Centrum

auf keinen Fall die Rolle einer systematischen Opposition spielen wird. Die ersehnte „Ruhe" freilich kann den Liberalen nicht zu theil werden,

denn daS einmal begonnene Reformwerk läßt sich nicht mehr zum Stillstand bringen.

Schon in den nächsten Wochen wird der Reichstag vor der Frage

stehen, ob er es verantworten darf den verfassungsmäßigen Eintritt Ham­ burgs in den Zollverein zu verhindern; und obgleich dem Deutschen nichts

schwerer fällt als daS Eingeständniß eines Irrthums, so

kann doch in

diesem Falle mindestens die Störung der gewohnten Ruhe kaum umgangen

werden. Die Zukunft wird lehren, ob eine Versammlung, welcher die Mittel­

und Bindeglieder fast gänzlich fehlen, überhaupt lebensfähig ist.

Nur so

viel scheint sicher: eine reiche, fruchtbare Thätigkeit ist von diesem Reichs­ tage nicht zu erwarten, und je weniger die Nation von seinem Dasein erfährt, um so wohler wird sie sich befinden. — 10. November.

Heinrich von Treitschke.

Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G Reimer in Berlin.

Ueber das Wesen und die Bedeutung der mensch­ lichen Freiheit und deren moderne Widersacher. Daß der Mensch frei und deßhalb für sein Handeln verantwortlich

sei, wurde Im praktischen Verlause deS Lebens niemals ernstlich

bezweifelt.

Alle Einrichtungen deS geselligen und staatlichen Leben», alle

Moral- und Rechtsbildungen beruhen auf dieser Ueberzeugung.

Ja, die

menschliche Freiheit galt von jeher als der specifische Ausdruck des wahren Menschwesens, und ihre Bedeutung wurde deßhalb stets um so höher geschätzt, je mehr die Entwickelung und individuelle Ausgestaltung

deS wahren Menschwesens als höchstes Ziel des Strebens und der Bildung anerkannt wurde, das heißt: je mehr die Humanität überhaupt im Laufe

der Zeiten erstarkte und wuchs.

In den Anfängen der Cultur, wo das

Interesse deS Lebens blos mit der Sorge um dessen Erhaltung erfüllt

war, sehen wir den Werth deS Lebens und der Freiheit der Einzelindi­ viduen gering geachtet.

Das FreiheitSbedürfniß wuchs bei allen Völkern

mit dem Steigen der Cultur, eS wächst noch jetzt innerhalb der Staaten bei allen Einzelindividuen mit dem Grade ihrer Bildung.

Humanität

und FreiheitSbedürfniß sind Correlate, die man nicht trennen kann, ohne

das Wesen der ersteren zu zerstören. Diesen Sachverhalt offenbaren unS die Erfahrung deS täglichen

Lebens

und die Geschichte so unwiderleglich, daß eS trivial erscheinen

müßte, wollte ich ihn hier noch näher begründen oder beleuchten.

Hätten

wir eS mit der Geschichte und mit dem Leben allein zu thun, so könnte die Frage nach dem Wesen und nach der Bedeutung

der Menschlichen

Freiheit nicht in einem Zeitalter wie das gegenwärtige noch als „Streit­

frage" behandelt werden; in einem Zeitalter, welches das Banner der Humanität nicht blos dem Namen nach hochhält, sondern die Principalen Forderungen derselben thatsächlich in den Haupteinrichtungen deS geselligen

und staatlichen LebenS bereits zur Geltung gebracht hat. Proipischk Jahrbuch«». Bd.Xl.VIlI.

6.

39

Aber wir haben eS in diesem Zeitalter der Humanität nicht blos mit dem Leben, sondern auch mit der Wissenschaft zu thun, welche die

Erscheinungen des Lebens ihrem wahren Wesen und ihrem Ursprünge nach zu begreifen, und

die scheinbar widersprechenden zu dem Ganzen

einer systematischen Weltansicht zu vereinigen sucht. Die Wissenschaft hat viele Erscheinungen, welche wissenschaftlich un­

entwickeltere Zeiten im Laufe deö praktischen LebenS unbesehen und auf gut Glück wie Realitäten behandelten und verwendeten, als bloßen Schein Sie hat die wahren Sachverhalte aufgedeckt, welche jenen

aufgewiesen.

Schein warfen und dadurch der Entfaltung deS Lebens selbst Grundlagen gegeben und neue Bahnen eröffnet.

festere

Wir leben anders auf

dem Planeten, der sich mit den ewigen Sternen nach festen Gesetzen durch den Weltraum bewegt, wie die Alten auf der vom OceanoS umflossenen

Erdscheibe.

Unsere ganze Weltansicht hat durch den Einfluß deS philo­

sophischen Nachdenkens, in letzter Zeit insbesondere durch die Reformbe­ wegung deS Kant'schen KriticiSmuS, durch die Einsicht in die Subjektivität

alles Erkennens tiefeinschneidende Veränderung sehender Tragweite erfahren.

von noch nicht

abzu­

ES bedarf keiner weiteren Beispiele, um

den Satz zu begründen, daß heutzutage die Wissenschaft, und zwar nicht blos die Naturwissenschaft, sondern auch die Philosophie eine respektable

Macht

ist, mit der man

rechnen

muß,

deren Ergebnisse nicht ohne

Weiteres durch Berufung auf den Augenschein unmittelbarer Lebenser­ fahrung zu widerlegen sind. Wir haben eS daher bei der Erörterung unserer Frage nicht blos

mit den Erscheinungen unmittelbarer Lebenserfahrung sondern auch mit den Einwendungen zu thun, welche sich von Seiten der Wissenschaft auS

rein theoretischen Erwägungen gegen das Vorhandensein und die Bedeu­ tung der menschlichen Freiheit erheben.

ob die auf dem Boden des

DaS heißt, wir haben zu prüfen,

praktischen Lebens und

der Ge­

schichtsbetrachtung erwachsene Ansicht, welche das Vorhanden­ sein der menschlichen Freiheit als unabweiöliche Forderung

der Humanität htnstellt,

auch vor dem Forum der strengen

Wissenschaft als gerechtfertigt erscheint;

sich selbst widerspruchsvoller Begriff

ob Freiheit kein in

ist, und ob daS Vor­

handensein der Freiheit nicht in Widerspruch

steht

mit den

theoretischen Anforderungen der Vernunft und mit denjenigen Thatsachen,

welche

nach

dem

heutigen Stande

der Wissen­

schaft als zweifellose Ergebnisse der Untersuchung über daS wahre Wesen der Dinge betrachtet werden müssen? Die Einwendungen dieser Art beruhen nun in der That, wie ich

zum Voraus bemerke, theils auf einem Mißverständnisse des wahren Wesens der menschlichen Freiheit, theils auf einer verkehrten Auffassung derjenigen Bernunfterwägungen und Thatsachen, respective auf der Un­ haltbarkeit derjenigen systematischen Feststellungen, auf Grund deren sie erhoben sind.

Es ist meine Absicht, dieselben zu widerlegen, indem ich

zunächst daS wahre Wesen und die wahre Bedeutung der menschlichen

Freiheit jenen mißverständlichen Auffassungen gegenüber darlegen und so­ dann die Unhaltbarkeit der dagegen erhobenen thatsächlichen, systematischen und Vernunftbedenken nachweisen werde.

I.

Wesen und Bedeutung der menschlichen Freiheit.

Freiheit im ursprünglichen positiven Sinne bedeutet die Fähigkeit,

sich

nach

inneren

Motiven

selbst

zu

bestimmen,

unter mehreren sich dem Bewußtsein gleichzeitig darbietenden Motiven zu wählen, das heißt, überhaupt etwas Bestimmtes

zu wollen.

Freiheit im positiven Sinne ist der allgemeine specisischc

Charakter des Wollens überhaupt.

Wollen können wir nur, was uns im

Gefühl und in der Vorstellung bewußt geworden ist, und durch den Werth,

den wir ihm beilegen, Motiv zur Bestimmung unseres Willens wird. Der positive Begriff der Freiheit bedeutet also ein Wollen nach inneren Motiven, nicht ein grundloses Wollen.

Die Freiheit, die Fähigkeit

zur Selbstbestimmung nach inneren Motiven, setzt also ein Wesen voraus,

welches irgendwie für sich ist und eigene LebenSintereffen hat, nach welchen

es die relativen Werthe der sich ihm gleichzeitig im Gefühl und in der Vorstellung darbietenden Motive zu schätzen und abzuwägen vermag.

Die praktischen Bedürfnisse des Lebens bieten keine Veranlassung dar, jenen positiven Allgemeinbegriff.der Freiheit auS den concreten WillenS-

acten zu abstrahiren und zum gesonderten Gegenstände der Reflexion zu machen, wohl aber nöthigten dieselben, wie sich aus dem Folgenden er­

geben wird, sehr bald zur Aufstellung eines negativen FreiheitSbegrtffS. Die Menschen lassen sich nämlich bekanntermaßen thatsächlich durch

Motive der verschiedensten Art zum Wollen bestimmen, und zwar nicht immer durch solche, welche ihrem wahren wohlverstandenen bleibenden Lebensinteresse entsprechen, sondern häufig durch

solche Motive,

deren

Werth sie blos nach vorübergehenden Neigungen und Bedürfnissen be­ messen, welche ihrem wahrem Lebensinteresse vielfach widerstreiten.

In

Anbetracht der nachtheiligen Folgen solches unüberlegten Wollens mußte

daher das

praktische

Lebensbedürfniß schon

sehr

früh

dazu anleiten,

zwischen der Selbstbestimmung nach solchen inneren Motiven, welche 39*

dem wahren bleibenden Lebensinteresse

des Wollenden ent­

sprechen und der Selbstbestimmung nach solchen Motiven zu unter­ scheiden, welche nur auf vorübergehenden, dem wahren LebenSinteresse deS Wollenden widerstreitenden Neigungen und Affecten beruhen. Auch die letzteren machen wir zwar zu unseren Motiven, indem wir unS durch sie zum Wollen bestimmen lassen, sie sind aber nicht unsere Motive im wahren Sinne des Worts, d. h. nicht

solche, welche unserem wahren Wesen entsprechen, wenn wir dieses mit dem Soll in uns, mit unserer sittlichen Bestimmung identificiren. Jene unsittlichen Motive entfremden uns unserem wahren Wesen, sie stören und beeinträchtigen uns in dem Bestreben der Erreichung unserer sittlichen Lebensbestimmung; wir suchen unS von ihnen frei zu machen und nennen im Hinblick auf dieses praktische Bedürfniß nur den wahr­ haft frei, der sich in seinem Wollen nicht durch Motive dieser Art be­ stimmen läßt. So führt das praktische Lebensbedürfniß zuerst zur Auf­ stellung eines negativen Freiheitsbegriffs. Freiheit in diesem Sinne bedeutet die Fähigkeit, sich in seinem Wollen von Mo­ tiven frei zu halten, welche unserem wahren Wesen, d. h. un­ serer sittlichen Bestimmung widerstreiten.

Bedeutet der durch theoretische Abstraction gebildete Allgemetnbegriff: Freiheit die Selbstbestimmung nach inneren Motiven überhaupt, ohne

Rücksicht darauf, ob die entscheidenden Motive unserer wahren Natur entsprechen oder nicht, so verstand man doch im praktischen Leben unter

Freiheit sehr bald nur die sittliche Freiheit, d. h. die Selbstbestimmung nach Motiven, welche unserer wahren Natur gemäß sind. Unfrei in diesem

Sinne pflegt man nicht blos den. zu nennen, welcher durch physischen oder psychischen Zwang, sondern auch ben„ welcher durch Sinnenlust, Furcht, Bosheit oder ähnliche der wahren Menschennatur widerstreitende Motive zum Wollen bestimmt wird. Wenn wir nun erwägen, daß die Menschen, wie die tägliche Er­

fahrung lehrt, in ihrem Wollen leider sehr vielfach durch Motive der letzteren Art beeinflußt werden, so ist es erklärlich, daß eine gedankenlose Erweiterung jenes negativen Freiheitsbegriffs ganz allgemein dazu ver­ leiten konnte, unter Freiheit schlechthin die Freiheit von allen Mo­

tiven zu verstehen, wodurch denn die eigentliche positive Bedeutung der Freiheit ganz aufgehoben, und die Erinnerung daran ganz in den Hinter­ grund gedrängt wurde.

Auf diese Weise bildete sich ein total falscher Allgemein­ begriff der Freiheit, derjenige des sogenannten liberum arbitrium indifferentiae, der Unbegriff einer Freiheit ur-

sachloser Selbstbestimmung, welcher

als

mehr

alles andere dazu

beigetragen hat, die theoretische Erörterung der großen Frage nach dem Vorhandensein und der Bedeutung der menschlichen Freiheit zu verwirren und in ganz verkehrte Bahnen zu lenken.

Der thatsächliche Boden, auf dem sich die wissenschaftliche Erörterung dieser Frage bewegen muß, wenn sie nicht in reine Gedankenspeculation

ausarten soll, sind die einzelnen Acte des Wollens, welche wir unmittelbar in uns erleben.

Kein einziger dieser Acte des Wollens besteht in ursach­

loser Selbstbestimmung.

Nur durch etwas, was uns wünschenSwerth er­

scheint, also im Gefühl oder der Vorstellung uns gegenwärtig und bewußt geworden ist, werden wir zum Wollen angeregt, und der größere oder ge­

ringere Werth, den wir der Vorstellung deS Gewollten beilegen, ist daS einzige denkbare Motiv des Wollens.

Die menschliche Freiheit besteht

daher erfahrungsmäßig nur in der durch das Gefühl der sittlichen Ver­

antwortung charakterisirten Fähigkeit zur selbständigen Entscheidung über mehrere solche dem Bewußtsein sich gleichzeitig darbietende Motive, welche

nie grundlos, sondern stets durch den höheren Werth motivirt ist, welchen wir der Vorstellung deS Gewollten im Momente der Entscheidung bei­ legen.

Jeder dieser Acte des freien Wollens ist ein ursprüng­

liches Factum, welches eben deßhalb deS Beweises nicht be­

darf, welches seinem inneren Wesen, seiner Natur und Ent­ stehung nach nicht weiter beschrieben und nur erlebt werden kann.

deftnirt,

sondern

Es verhält sich damit nicht anders, wie mit

allen ursprünglichen Erlebnissen, welche der letzte factische Grund aller

unseren Gesichtskreis erfüllender Vorstellungen und Begriffsbildungen sind,

aus denen sich die Vorstellung unseres eigenen Wesens und daS Bild der uns umgebenden Außenwelt zusammensetzen.

Wir können diese ursprüng­

lichen Erlebnisse wohl mit Namen bezeichnen, aber nicht erschöpfend definiren, sondern nur dadurch zum Gegenstände der Mittheilung an Andere

machen, daß wir diese durch Nennung des NamenS auffordern, jene Er­ lebnisse in sich selbst nachzuerzeugen.

Wollen.

So ist eS insbesondere mit dem

Denken wir uns jemand, dem die

Fähigkeit

des

Wollens

mangelte, so würde einem solchen nie begreiflich zu machen sein, was

Wollen sei und bedeute. Wir setzen bei unsern Lesern diese Fähigkeit voraus und fordern sie auf, sich den Inhalt dessen zu vergegenwärtigen, was sie in sich erleben,

indem sie wollen.

Jeder, der diesen Versuch macht, wird unmittelbar inne

werden, daß er dann nicht mehr will und nichts mehr wollen kann, wenn es ihm gelingen sollte, alle Motive aus seinem Innern auszutilgen, die ihn zum Wollen anregen könnten.

Wir zerstören vielmehr den Begriff

deS Wollens von Grund aus,

wenn wir uns eine Freiheit ursachl»ser

Selbstbestimmung vorzustellen suchen.

Eine solche ist ein in sich selbst

widerspruchsvoller Begriff, denn wir können unS in der That auch für nichts entscheiden, wenn wir durch nichts zum Wollen angeregt werden. Wir würden auch nach der gewöhnlichen Borstellungsweise lediglich ge­

dankenlos in den Tag hinein aber nicht frei handeln, wenn wir unS einmal ernstlich den Fall auSdenken, wir würden dabei durch gar keine Motive bestimmt.

Bestände in Wahrheit das Wesen der Freiheit in ur­

sachloser Selbstbestimmung, und wären alle Menschen in diesem Sinne frei, so würde sofort ein Wirrwarr ohne Ende entstehen, alle Ordnung,

alle Sittlichkeit, alle Vernunft aus dem Leben schwinden. hat eö sich nie und nirgends so verhalten.

Thatsächlich

Immer haben die Menschen,

wenn sie überhaupt gewollt haben, irgend etwas gewollt, stets wurden sie durch Motive zum Wollen bestimmt, niemals haben sie bedingungslos

frei gehandelt.

Der Begriff der bedingungslosen absolliten Freiheit hat daher In

der unmittelbaren Lebenserfahrung gar keine Wurzeln.

Er ist auf die

angegebene Weise durch einseitige und falsche Uebertreibung der negativen

Bedeutung der Freiheit unter Beiseilesetzung jeder Erinnerung an die eigentliche positive Bedeutung derselben entstanden, sein Wesen beruht auf der gedankenlosen Verwechselung einer Bedingung zur zweckentsprechenden

Ausübung des freien Wollens, nämlich der Negation des Zwanges und AffectS, mit dem wahren positiven Inhalte des Freiheitsbegriffes selbst. Jene negative Bedingung der gedeihlichen Freiheitsausübung läßt aber,

wie jedermann einsieht, den positiven Inhalt dieser völlig unberührt, sie schafft gewissermaßen nur Platz für die Stelle, wo der Begriff der wahren sittlichen Freiheit stehen soll, ohne diese Stelle selbst auszufüllen.

Wo

kein Zwang herrscht, kann man sich frei entschließen, wo kein Affect den

Menschen beeinflußt, kann er sich frei seiner wahren sittlichen Natur gemäß

entfalten.

Die Hauptsache ist hier, daß der Mensch sich über­

haupt zu irgend etwas entschließen, daß er überhaupt irgend

etwas wollen könne, und eine specifisch bestimmte Natur habe, eine innere Norm in sich trage, welcher gemäß er sich ent­ falten kann.

Diese specifisch bestimmte Natur des Menschen allein kann

uns über die eigentliche positive Bedeutung der Freiheit aufklären. Ich hoffe, durch diese scharfe Trennung der negativen und positiven

Bedeutung deS Freiheitsbegriffs

und die

gänzliche Ausscheidung des

liberum arbitrium indifferentiae, dessen Hereinzi'ehung diese hochwichtige Frage so sehr verwirrt hat, endlich einiges Licht in den Wirrwarr der

widerstreitenden Ansichten zu bringen und den wahren einfachen Kern der

Sache, wie die durch theoretische Vorurtheile unbeirrte unmittelbare Lebens­ erfahrung ihn der Beobachtung darbietet, klar und sicher herauszuschälen. Die

unmittelbare

Lebenserfahrung

offenbart uns

mit

zweifelloser Evidenz, daß wir frei sind in unseren WtllenSentschließungen, daß wir uns in

all unserem Wollen selbst

bestimmen können nach inneren Motiven, welche sich unserem

Bewußtsein

gleichzeitig,

wenn auch

in verschiedenen

Klar-

heitSgraden, sei eS im Gefühl, sei eS in der Vorstellung dar­ bieten.

Dies erleben wir unmittelbar, dies ist die gegebene faktische

AuSgangSbasiS aller wissenschaftlichen Untersuchungen über das Wesen der

Freiheit,

der zuerst gewisse Punkt, welcher nicht erwiesen zu werden

braucht, weil er als unmittelbar gewiß erlebt wird.

Die weitere Unter­

suchung kann nur den Zweck haben, durch Verdeutlichung der in diesem ursprünglich gegebenen Sachverhalte stillschweigend enthaltenen Voraus­

setzungen sich daS wahre Wesen und die wahre Bedeutung der Freiheit nach allen Richtungen hin klar zu veranschaulichen und senen zuerst ge­

wissen Punkt mit den scheinbar widersprechenden sonstigen Thatsachen der Erfahrung in Einklang zu bringen.

Um diese manchem Leser bei ihrem Beginn vielleicht überflüssig er­ scheinende und doch, wie sich bald herausstellen wird, so hochwichtige Untersuchung im vollen Umfange sachgemäß erledigen zu können, muß ich

mit einer kurzen Uebersicht des ganzen Gebiets unmittelbarer Lebenser­

fahrung beginnen.

Es erscheint mir dies um so nöthiger, als die leider

noch wenig bekannten und doch so sehr wichtigen Untersuchungen Lotze'S

in der Auffassung und rechten Würdigung jenes Gebiets jetzt eine funda­ mentale Umgestaltung herbeigeführt haben, deren Ergebnisse über unsere

Frage ein Helles Licht verbreiten.

Den ersten Anstoß zu dieser heilsamen Umgestaltung gab Kant, indem er auf den subjektiven Ursprung aller den menschlichen Gesichtskreis

erfüllenden Erscheinungen und Vorstellungen hinwies, und die Sondirung dieser subjektiven Erkenntnißquelle als das Hauptproblem aller Philosophie

hinstellte.

Aber Kant konnte sich von den Irrungen der alten Metaphysik

noch nicht vollständig loSmachen.

Sein Denken war von dem, mit einer

der wahren Sachlage nicht entsprechenden Wichtigkeit behandelten Gegen­ satze zwischen „Erscheinung" und „Ding an sich" und von dem Vorur­

theile, daß das Wesen des letzteren das eigentliche Ziel des Erkennens,

und die innere Welt der Erscheinung lediglich zum Abbilden jenes be­ stimmt sei, noch zu sehr beherrscht, als daß er auf den Gedanken hätte kommen können, der Thatbestand der inneren Erlebnisse repräsentire an

sich selbst schon einen so bedeutsamen Inhalt und so bedeutsame Momente

deS Geschehens, daß daraus allein schon der Werth des Wirklichen und das Ziel des Weltprocesses erkannt werden könne, und daß die Verdeut­

lichung dieses Ziels und die rechte Würdigung jenes Werthes überhaupt den vornehmsten und letzten Zweck alles Erkennens und Wissens bilden

müsse.

Er betrachtet die von ihm zuerst in vollem Umfange constatirte

Subjectivität alles Erkennens vielmehr als einen Mangel, der alle Meta­

physik unmöglich machen soll.

Lotze steht,

wie ich kürzlich an anderer

Stelle ausführlicher dargelegt habe*), zu Kant in eiyem ähnlichen Ver­ hältniß wie Newton zu Kepler.

Wie jener durch die Entdeckung

GravitationSgefetzeS den Entstehungsgrund und

des

inneren Zusammenhang

der von diesem alS thatsächlich vorhanden entdeckten Bewegungsgesetze der Himmelskörper darlegte, so gelang es Lotze, den von Kant hervorgehobenen

Thatbestand der Subjectivität alles Erkennens in seiner gesetzlichen Noth­ wendigkeit als eine Folge deS allgemeinen Gedankens der Wechselwirkung

zu erklären, von welcher das Erkennen, insoweit eS durch äußere Anreize bedingt ist, nur einen Specialfall bildet. Während Kant die Unerkennbarkeit deS

eigenen Ich deßhalb be­

hauptete, weil er im Ich etwas suchte, was der menschlichen Einsicht aller­

dings ewig verschlossen bleiben wird, nämlich einen substantiellen Kern,

vermöge dessen eS dem Ich gelinge, überhaupt dazusein, und weil er nur

durch die Erkenntniß dieses eigentlichen Was im Ich das wahre Wesen deS letzteren verstehen zu können wähnte, hat Lotze überzeugend entwickelt,

daß diese Erkenntniß zum Verständniß unseres wahren Wesens in der That nichts beitrage, sondern nur die Frage betreffe, wie Sein und Da­

sein überhaupt gemacht werde, wie eS dem schaffenden Weltgeiste gelinge, unser und

alles Leben in der Wirklichkeit zu befestigen, und daß die

Beantwortung

dieser Frage nur

dann unabweisbares Bedürfniß

der

Metaphysik fein würde, wenn eS unsere Aufgabe wäre, die Welt zu schaffen, anstatt Werth und Bedeutung der Geschaffenen zu würdigen und zu verstehen.

Nur ein altes,

in seinen Consequenzen-sehr verhängniß-

volleS Borurtheil hat daher Lotze beseitigt, indem er darauf hinwieS, daß

unS in dem, was wir unmittelbar erleben, bereits der volle Inhalt und das wahre Wesen unseres Ich in allen denjenigen Beziehungen offenbar

und anschaulich wird, welche für das wahre Ziel deS menschlichen Lebens und Wissens überhaupt in Frage kommen.

Lotze hat uns zuerst das

wahre Verständniß deS Unmittelbaren

eröffnet und dadurch

die Reformbewegung des KriticiSmuS vollendet. Während Kant,

noch mitten auf dem Oceane metaphysischer Vorurtheile schwimmend nur *) Preußische Jahrbücher Bd. XL VII. S. 177—195.

den Compaß richtete und mit zwingenden Gründen die Gegend bezeichnete, wo daS gesuchte Land, welches die Grundlage aller späteren metaphysischen

Forschung bilden sollte, zu finden sei, hat Lotze dieses Land wirklich ent­

deckt.

DaS Land lag nicht in der Ferne, wo man eö vergeblich suchte;

eS lag fest unter uns, wir standen längst darauf; der unabsehbare Ocean nur, auf dem wir zu schwimmen schienen und doch nicht schwammen, war ein Meer von Borurtheilen und Irrlehren, welches uns scheinbar empor­ gehoben und von dem Boden des Wirklichen getrennt hatte.

Lotze hat

diese Borurtheile beseitigt und uns klar und offen dargelegt, daß das­ jenige, was wir unmittelbar in uns erleben, die einzige und ganze ur­

sprünglich gegebene thatsächliche Basis

alles unseres WiflenS und Er­

kennens sei und daß wir keine Wissenschaft anders und tiefer begründen

können, als dadurch, daß wir ihre Wurzeln in dem Gebiete der unmittel­

baren Lebenserfahrung aufsuchen. Alle inneren Erlebniffe sind Formen des Geschehens, nicht Ausdrücke eines veränderungslosen ruhenden Seins; sie sind Erlebnisse, Momente

deS Lebens, Zustände unseres lebendigen Ich, nicht Qualitäten einer be­ harrenden Substanz.

Soweit unsere Erfahrung reicht, ist nur daS Leben­

dige wirklich, das Todte,

Unlebendige kann für

uns nur in der Vor­

stellung erscheinen, nicht unmittelbar von unS als wirklich erlebt werden.

Gegenstand der Wahrnehmung und Reflexion können ferner nur solche Zustandsänderungen unseres Wesens werden, welche uns direct oder in­ direkt zum Bewußtsein kommen, und

bewußte Zustandsänderungen

kann nur ein Wesen erleiden, welches in irgend welcher Weise für sich ist.

Alle unsere Zustandsänderungen haben daher das Gemeinsame, daß

sie Momente des Fürsichseins ein und desselben Wesens sind,

eines Wesens, dessen Realität eben deßhalb, so wett unsere Erfahrung

unser Nachdenken reicht, nur im Fürsichsein

und

bestehen kann.

Wir würden ferner die nacheinander erlebten Zustände

nicht als unsere Zustände bezeichnen, wir würden sie nicht von einander unterscheiden, mit einander vergleichen können, wenn wir sie nicht in der

Erinnerung festzuhalten und in der Einheit ein und desselben Be­ wußtseins mit einander verknüpfen könnten.

Wenn wir alle diese charakteristischen Dierkmale unserer inneren Er­ lebnisse zusammenfassen, so werden wir uns unmittelbar bewußt, daß wir

einheitliche Wesen sind, daß mithin jede erlebte Zustandsänderung eine

Aenderung

unseres ganzen Wesens ist, denn wenn sie sich

blos gleichsam auf einzelne Provinzen unseres Wesens erstreckte, andere dagegen ganz unberührt ließe, so zerfiele unser Wesen in einzelne Theile,

welche nichts von einander wüßten; wir wären dann nicht ein, sondern

eine Vielheit von Wesen, und die verschiedenen Erlebnisse der letzteren

würden sich nicht, wie eS doch die Beobachtung thatsächlich lehrt, in der Einheit ein und desselben Bewußtseins verknüpfen lassen.

Eine einfache Selbstbeobachtung lehrt nun, daß alle unsere inneren

Erlebnisse sich vorwiegend als Momente des Fühlens, Vorstellens und Wollens darstellen.

Der Inhalt dessen, waS mit diesen Begriffen

gemeint ist, läßt sich, da er etwas rein thatsächliches bedeutet, welches die

ursprüngliche Basis aller Vorstellungen und Begriffsbildungen ist, nicht beschreiben,

sondern nur erleben.

Es

ist die ursprüngliche specifische

Natur unseres Wesens, welche sich in diesen Formen des Fühlens, VorstellenS und Wollens offenbart.

Der oft gemachte Versuch, dieselben auf

einander zurückzuführen und aus einander abzuleiten, scheiterte stets an der Eigenartigkeit ihres specifischen Charakters, der das wahre Wesen des

Geistes in jeder dieser Formen auf eine ganz besondere Weise zum Aus­ druck bringt.

Ich darf mir die nähere Darlegung dieser Verschiedenheiten

wohl ersparen, nachdem Lotze dieselbe

(Band I Buch 2 Cap. 2) so

bereits

in seinem Mikrokosmus

meisterhaft entwickelt hat.

Verhalten sich

diese Grundsunktionen alleö individuellen Geisteslebens nun auch inkom­ mensurabel zu einander, so folgt doch aus obiger Betrachtung, daß sie nicht von einander unabhängige Seelenvermögen sein können, welche be­

ziehungslos unter einander mit getrennten Wurzeln verlaufend fick in den

Boden der Seele nach gesonderten Provinzen theilen könnten.

Alle Acte

des Fühlens, Vorstellens nnb Wollens sind vielmehr lebendige Erregungen unseres ganzen Wesens, die nur vorwiegend einen besonderen specifischen Charakter in einer der drei bezeichneten Richtungen an sich tragen.

Keine

Vorstellung verläuft ohne alle Theilnahme des Gemüths oder des BeKein Gefühl bewegt uns, ohne die intellectuelle

gehrungsvermögenö.

Sphäre irgendwie zu berühren und sich in einem wenn auch noch so un­

bestimmten Vorstellungskreise gedanklich oder bildlich zu formuliren. können endlich, und

nicht durch den

Wir

das ist hier die Hauptsache, nichts wollen, was

gefühlten Werth, den wir seiner Vorstellung

beilegen, uns eben zum Wollen angeregt hätte. Also auch im Wollen tritt die ganze Natur des wahren MenschwesenS in bestimmter Form hervor.

Zwei Momente sind eS besonders, in denen der specifisch menschliche Charakter deS Wollens offenbar wird und sich von dem bloßen Geschehen nach rein mechanischer Abfolge, welches wir in den Vorgängen der äußeren

Natur beobachten, in höchst bedeutsamer Weise unterscheidet. Alle Vorgänge der letzteren Art erscheinen determinirt, das heißt

alle Factoren, welche zu den Erscheinungen des äußeren Naturlebens zu-

sammenwirken, erscheinen ihrer qualitativen und quantitativen Natur nach

unwandelbar fest bestimmt, und die Art, Form und Gestalt ihres Wirkenist durch ausnahmslos geltende Gesetze geregelt.

Letzteres gilt nun zwar

auch von allem psychischen Geschehen, aber die Faktoren, welche die Er­

eignisse desselben bedingen, erscheinen hier in einer ganz eigenthümlichen

Weise variabel, in einer Weise, welche eben durch die specifische Natur

deS Lebendigen charakterisirt und nur erlebbar aber nicht weiter definirbar ist.

Während bei dem Zustandekommen der rein physischen Ereigniffe

alle Faktoren für das Zustandekommen deS Enderfolges gleichwerthig und

durch die einfache Natur einfacher Wesen bedingt erscheinen, ist bei allem

Wollen der eine Factor,

die Entschließung deS Wollenden,

stets von

mehreren verschiedenen gleichzeitig einwirkenden Motiven beeinflußt und der freien Wahl

deS Wollenden unter diesen

gleichzeitig

einwirkenden

Motiven anheimgestellt. In dieser freien Wahl zwischen mehreren dem

Bewußt­

sein sich gleichzeitig darbietenden Motiven besteht der specifische

Charakter deS Wollens, welcher sich eben dadurch von der strengen Determi­ nation aller Factoren in den Vorgängen der äußeren Natur unterscheidet.

Eö unterscheidet sich dadurch von dieser Determination, daß dieser eine Factor, der Wille des Wollenden sich selbst itt dem Mo­

ment der Entschließung das Gesetz giebt, während die Mitwirkung aller übrigen Factoren, wie diejenige aller Factoren beim rein physischen

Geschehen, durch die unwandelbare Natur der letzteren vorher bestimmt ist. ES ist aber die specifische Natur des Meusche», welche in der Variabilität jenes einen ausgezeichneten Factors beim

Willensentschlusse zu Tage tritt, eS ist der freie Wille eines Wesen-,

dem die Fähigkeit inne wohnt,

sich selbst daS Gesetz zu geben und der

ausgezeichnete Charakter, nicht blos, wie die willenlosen Geschöpfe, dem Zwange einer festbestimmten Natur seines Wesens

blind zu gehorchen,

sondern selbständig einzugreifen in den Lauf der Ereignisse. Soll daS wollende Wesen sich selbst daS Gesetz geben, nach welchem

eS auf Anregungen reagirt, die es von anderen Wesen empfängt, so muß eS eine für sich seiende eigenartige Natur besitzen, eine innere Norm, welche ihm die Richtung seines Wollens giebt.

Soll eS selbsthandelnd

in den Lauf der Dinge eingreifen, selbständig mitwirken zu dem Ziele

deS Weltprozesses,

so muß jene Norm in dem umfassenden Plane deS

Ganzen mitvorgesehen sein, so

muß dieselbe durch daS Ziel des Welt-

prozesseS selbst mitbestimmt sein — vorausgesetzt natürlich, daß überhaupt

alles Geschehen zu dem einheitlichen Ziele eines einheitlichen Weltpro­

cesses zusammenwirkt. Umgekehrt: Giebt eS in uns, dem wollenden Wesen,

eine solche Norm, deren Gebote sich uns als unbedingt verpflichtend bar« stellen, so kann solche Unbedingtheit nur darin begründet sein, daß der Weltproceß ein einheitlicher, und jene Norm durch ihn

selbst als ein Moment seiner selbst'mitbestimmt ist.

WaS zunächst die eigenartige Natur der wollenden Wesen betrifft, so ist solche allerdings vorhanden, und ihr Vorhandensein wird un­

mittelbar und unwiderleglich bezeugt durch das Gefühl der Ver­

antwortlichkeit, welches bei allen Willensentscheidungen mehr oder weniger stark empfunden wird und in seiner Totalität den Grundcharakter unseres specifischen Menschwesens bildet. Ver­ suchen wir daS, was wir bei allem Wollen unmittelbar erleben und was

den gemeinsamen specifischen Grundcharakter alles Wollens auSmacht und, wie gesagt,

seinem vollen

wahren Wesen nach als letztes thatsächliches

Moment der Wirklichkeit nur erlebt werden kann, nichts destoweniger auf Begriffe zu ziehen, in Begriffsform zu übersetzen, so müssen wir es eben als jenes Gefühl der Verantwortlichkeit bezeichnen, das zweite der beiden

Momente, welche alles Wollen von der blos mechanischen Abfolge des Geschehens in den Naturvorgängen specifisch und charakteristisch unter­

scheidet. DaS Gefühl der Verantwortlichkeit bezeugt uns unwiderleglich, daß

wir frei sind in unseren Willensentschlüssen, denn wären wir nicht frei, so könnten wir unS eben nicht für das, was wir wollen, verantwortlich

fühlen.

Freiheit und Gefühl der Verantwortlichkeit sind Correlate, die

sich gegenseitig bedingen.

Wollen wir das wahre Wesen und die

wahre Bedeutung der Freiheit verstehen, so müssen wir unS

vor Allem das Gefühl der Verantwortlichkeit näher betrachten, wir müssen uns dessen wahres Wesen, dessen wahre Bedeutung und die

in diesem Gefühle seiner specifischen Art und Gestaltung nach enthaltenen

und mit ihm gegebenen und als unmittelbar gewiß bezeugten Voraus­

setzungen klar und deutlich zu veranschaulichen und zu entwickeln suchen. Eine Voraussetzung ist es besonders, welche sich sogleich als unabweiSlich aufdrängt und den Begriff der Verantwortlichkeit selbst erst zum

Abschluß bringt.

Verantwortlich für unser Wollen können wir nur dann

sein, wenn wir nicht blos frei sind, sondern zugleich eine innere

Norm von unbedingt verpflichtendem Charakter in unS tragen.

Solche Norm ist nun in der That vorhanden und jedermann in der

Stimme des Gewissens offenbar.

Das Gewissen galt von jeher als der hervorstechende Charakterzug des wahren Menschwesens.

Dasselbe charakterisirt zwar daS ganze Mensch­

wesen nach allen Richtungen hin, findet aber seinen bedeutsamsten und

wichtigsten Ausdruck in der Gefühlssphäre, im Gefühl des Sollens.

DaS Gefühl ist die eigentliche Geburtsstätte des Gewissens, welches erst von hier aus die Gebiete des Vorstellens und Wollens beherrscht.

Der

klarste Beweis hierfür ist, daß das Gefühl des Sollens längst in uns lebendig zu sein pflegt, bevor wir das, waS wir sollen, uns klar zum

Bewußtsein gebracht haben, bevor wir entschloffen find, eS zu wollen.

DaS Gefühl des Sollens ist als solches von jeher in der Menschheit

lebendig gewesen, die Vorstellung dessen, was wir sollen, hat im

Laufe der geschichtlichen Entwickelung vielfach gewechselt, indem es in ge-

wtffen Grenzen von den wechselnden Bedingungen und Umständen ab­ hängig war, unter denen das individuelle Leben sich entfaltet.

Seine

allgemeine Formulirung ist in mancher Beziehung noch immer Gegenstand

des Streits und des Zweifels.

Das Gefühl des Sollens bleibt selbst

dann noch lebendig, wenn der Wille durch die Gewohnheit des Lasters in ganz andere Bahnen gelenkt ist, eS läßt sich selbst in der Seele des hartgesottensten Sünders nicht völlig ertödten. WaS verleiht nun der Stimme des Gewissens diese wunderbare ver­

bindliche Kraft, welche eS im Leben der Menschen thatsächlich auSübt, welche den sittlichen Menschen in den Stand setzt, selbst den stärksten Ver­ lockungen der Sinnlichkeit oder anderer Gelüste rein aus Pflichtgefühl zu widerstehen? Wie kommt eS, daß die Nichtbeachtung jener Stimme uns

mit bitterer Reue erfüllt, unser ganzes Wesen bis in das Innerste hinein aufregt und verstört, uns intensivere Pein verursacht, als alle anderen

Arten des Weh, unser besseres Ich gleichsam auö den Angeln hebt? Es kann nur daher kommen, weil das eingeborene Gefühl des Sollens der wahre und volle Grundcharacter unseres Wesens

ist, weil unser Wesen sich in dem Soll erfüllt, weil wir so veranlagt

sind, daß unser ganzes Leben,

Dichten und Trachten nur aus diesem

Mittelpunkte unserer Existenz begreiflich ist, nur aus ihm seinen specifischen Inhalt, seine Richtung und Kraft schöpfen kann, weil die Verwirklichung

des sittlichen Ideals unsere ganze und wahre Bestimmung ist.

Nur weil

der Schwerpunkt unserer ganzen Lebenswirklichkeit sich im Gefühle des Soll

concentrirt, deßhalb

gerathen wir außer uns selbst, deßhalb

kommen wir in Widerspruch mit unserem eignen Wesen, wenn wir un­

sittlich handeln. Darin scheint zunächst die verbindliche Kraft der Gebote deS Gewissens zu bestehen, daß wir sittliche Wesen sind. Erinnern wir uns jedoch sorgfältiger, waS wir eigentlich'im Gewissen erleben, so wird die ganz eigenthümliche, über alle anderen Empfindungen

weit erhabene Hoheit deS Pflichtgefühls, welche der wahre leuchtende

Kern der im Gewissen offenbarten Norm des Handelns ist, uns doch nicht entfernt daraus allein erklärlich scheinen, daß das Sittliche einfach der Grundcharacter unserer Natur ist.

Wir fühlen, es bleibt der Erklärung

noch ein Rest übrig, welcher uns erst darüber aufklären muß, daß jener eigenthümliche Grundcharacter unseres Wesens eben ein sittlicher sei.

Wir fühlen, daß dieser Rest der Erklärung uns erst die ganze Hauptsache begreiflich machen müsse.' Wäre unser Leben inhaltlos, oder unser Gesichts­

kreis nur mit nichtigen Dingen

erfüllt,

wäre der Pessimismus eines

Schopenhauer oder Hartmann eine Wahrheit und es gäbe in der That

keine achtbaren Ziele, für welche wir uns begeistern könnten, was würde

unsere Jammerseele dann viel Aufhebens davon machen, wenn sie wirklich einmal mit ihrem elenden Selbst in Conflict geriethe?

Was könnte sie

so außer sich gerathen lassen, wenn sie ihre nichtigen Ziele auch wirklich verfehlte? ES ist ganz offenbar, daß daS, was wir sollen, uns nur durch seinen inneren Werth so bedeutungsvoll und wichtig erscheinen kann.

Erwägen wir die unvergleichliche und unbedingte Heiligkeit und Würde

deS Sittlichen, so kann jener Werth auch nicht ein relativer, er muß viel­ mehr ein absoluter, ganz unbedingter Werth sein.

Wäre er daS

nicht, so wäre die unbedingt verpflichtende Kraft der Gebote des Gewissens durch ihn nicht erklärt, so gäbe eS keine Sittlichkeit, sondern nur Utili­ tarismus oder Eudämonismus.

Darin besteht also die verbindliche Kraft der Gebote deS

Gewissens, daß

der Eigenwerth dessen, was wir sollen, ein ganz

unbedingter ist. Etwas unbedingt Werthvolles kann eS aber nur dann geben, wenn

alles Geschehen in der Welt zu einem einheitlichen Ziele zusammenzuwirken

bestimmt ist, denn wenn eS unberechenbare Momente des Geschehens gäbe, welche den thatsächlichen Lauf der Welt beeinflussen und seine Richtung verändern, seine Ziele zweckwidrig durchkreuzen könnten, so wären alle denkbaren Werthe nur von relativer Geltung und Bedeutung.

Unbedingt

was den Inhalt des Weltzwecks selbst ausmacht oder ihn zu fördern bestimmt und ge­ eignet ist. Soll daher die im Gewissen thatsächlich gegebene werthvoll kann ferner nur dasjenige sein,

Norm unseres Handelns durch ihren unbedingten Werth ver­

bindliche Kraft erlangen, so muß die Erfüllung unserer indi­ viduellen Lebensbestimmung auch den einheitlichen Zweck des Weltprocesses zu ihrem Theile zu fördern bestimmt und ge­

eignet sein. Freiheit und Gewissen, die specifischen Grundthatsachen deS wahren

Menschwesens enthalten daher höchst bedeutsame Aufschlüsse über unsere

eigene WesenSnatur, über das Ganze der Welt und unsere Bestimmung

in derselben, Voraussetzungen theils metaphysisch formaler, theils specifisch inhaltlicher Natur, welche die Grundzüge unserer gesammten Weltansicht

in den wichtigsten Beziehungen unwiderleglich bestimmen; Voraussetzungen, deren Verdeutlichung uns auch umgekehrt erst über die wahre Bedeutung der Freiheit und des Gewissens aufzuklären vermögen. ES ist daher für die Beantwortung der letzteren Frage von der höchsten Bedeutung, daß

wir uns jener Aufschlüsse und Voraussetzungen ihrem vollen Umfange nach bewußt werden, daß wir uns ihren Inhalt verdeutlichen und eine klare Einsicht in die Unbedingtheit ihrer Geltung erlangen. Ich will dieselben zunächst hier in der Reihenfolge aufführen, wie

sie sich zwanglos aus der obigen Untersuchung ergeben, und sodann näher auf die Betrachtung der einzelnen eingehen:

1. Wir selbst sind fürfichseiende einheitliche Wesen von eigen­ artiger Natur und eigenen Lebensinteressen, durch welche wir uns die Ziele unseres Wollens selbst bestimmen. 2. Unser Leben steht mit allem übrigen Geschehen, mit der Gesammtheit des ganzen Weltprocesses, in einem nnmittelbare»

Zusammenhänge. 3. Der ganze Weltproceß ist ein einheitlicher, zweckbe­ stimmter, dessen Einheitlichkeit eben durch die Richtung auf

einen einheitlichen Endzweck bestimmt und bedingt ist. 4.

Der einheitliche Endzweck des Weltprocesses ist auf

Herstellmng eines Guts von unbedingtem Werthe gerichtet. 5. Die specifische Natur unseres Wesens besteht darin, daß totr durch unser Leben eine Bestimmung zu erfüllen haben, deren Erreichung von uns selbst als höchstes Gut gefühlt wird, und deßhalb von unbedingtem Werth ist, weil sie bestimmt

und geeignet ist, de« einheitlichen Zweck des ganzen Weltprocefses

zu ihrem Theile zu fördern. Alle diese Aufschlüsse sind, ich wiederhole eS, und darin beruht der Schwerpunkt der ganzen Ansicht, nicht Hypothesen von problematischer Geltung, oder Voraussetzungen, welche noch deS Beweises durch Ableitung ihrer Geltung aus der Gewißheit anderer Thatsachen bedürften, sondern sie find Offenbarungen rein thatsächlicher Natur, welche in und mit den unmittelbar als wahr und gewiß erlebten Grundthat­ sachen unseres specifischen Menschwesens, mit dem Vorhanden­ sein der Freiheit und des Gewissens selbst schon gegeben und

deßhalb unmittelbar von uns als wahr und gewiß erlebtwerden. Sie werden ihrem wahren und vollen Wesen nach nur durch Verdeut-

lichung dessen gewonnen, was wir thatsächlich in unS erleben, durch

Verdeutlichung und Schlußfolgerung

auS Thatsachen, welche in ihrer

Gesammtheit die alleinige faktische Grundlage alles Wissens und Erkennens bilden.

ES ist der erste und wichtigste Schritt aller wissenschaftlichen Unter­ suchung, sich die ursprünglich gegebenen faktischen Daten rein und unver­

fälscht von theoretischen Voreingenommenheiten zum Bewußtsein zu bringen

deren

wahre Bedeutung klar zu

und sich

deren wahren Inhalt und

machen.

Diesem ersten Schritte gehören die obigen Betrachtungen an,

indem sie unS die in den Thatsachen der menschlichen Freiheit und des

davon unzertrennlichen Gefühls der sittlichen Verantwortung unmittelbar gegebenen Aufschlüsse über unser eigenes Wesen und die Gesammtheit alles Geschehens klar zum Bewußtsein bringen.

Der zweite Schritt besteht dann darin, daß wir die in jenen Sätzen

niedergelegten thatsächlichen Aufschlüsse unter einander und mit unseren übrigen Erkenntnissen in Einklang zu bringen suchen und zusammen mit

diesen zu einer systematischen Weltansicht auf ethischer Basis erweitern. Erst dadurch wird eS uns gelingen, den in jenen Sätzen verborgenen

Wahrheitsschatz voll zu heben, und umgekehrt auch die volle Einsicht in das wahre Wesen und die wahre Bedeutung der menschlichen Freiheit zu

gewinnen.

Das Ergebniß dieser weiteren Untersuchung wird dann meine

Behauptung wahren

rechtfertigen,

daß

die

großen Grundthatsachen deS

specifischen Menschwesens, Freiheit und Gewissen,

die lebendigen Keime sind, deren Ausgestaltung und Entfal­ tung die Grundlinien und

den festen Rahmen unserer ge-

sammten Weltansicht unwiderleglich

feststellen, daß Stamm,

Wurzel und festes Gezweig des gesammten ErkenntnißbaumS auS jenen Keimen hervorwachsen und aus ihnen Leben, Festigkeit und Inhalt schöpfen,

welche durch keine Zweifelsstürme zerstört werden können, da die that­

sächliche Grundlage, der sie entstammen, über alle Zweifel erhaben ist. Bevor ich jedoch zu diesem zweiten Schritt übergehe, schalte ich, theils

zur Rechtfertigung des Gesagten, theils zur Abwehr sich leicht zudrängender Einwendungen noch einige Bemerkungen über

das Kriterium der

Wahrheit all unseres Wissens und Erkennens ein, welche sich direkt an die vorhin gegebene Uebersicht des Gebiets unserer unmittelbaren Lebens­

erfahrungen anschließen und die Wichtigkeit des dort Gesagten in das

rechte Licht setzen sollen. Schon damals erwähnte ich, der gemeinsame Charakter aller inneren Erlebnisse bestehe darin, daß sie Momente des Fürsichseins eines für sich seienden Wesens seien.

Unmittelbar erleben können wir daher nur

das, was wir selbst sind, was in unS selbst vorgeht: die wechselnden Zustände unseres eigenen Wesens.

Nur auS der specifischen Natur,

auS der Art des Auftretens und dem Wechsel dieser inneren ZustandS-

änderungen unseres eigenen Wesens schließen wir auf das Vorhanden­ sein anderer Wesen außer unS, auf das Vorhandensein einer Außenwelt

und das Geschehen anderer Ereignisse, welche mit unseren eigenen Erlebnifien nicht identisch sind.

All unser Misten von dem Dasein und der

Natur der Dinge und von dem Geschehen der Ereignisse außer unS ist durch Schlußfolgerungen aus der Art und Reihenfolge unserer inneren

Erlebnisse vermittelt.

Diese bilden den thatsächlich gegebenen Bestandtheil,

die faktische Basis, das einzig und allein Wirkliche in unserer Erkenntniß. Was wir nicht selbst unmittelbar erleben, kann nur als Vorstellung

Gegenstand und Bestandtheil unseres Wissens sein.

Alle anderen Wesen,

die ganze Welt der Außendinge können unS nur insoweit zur Wahrnehmung gelangen, als sie auf unS einwirken, d. h. als sie Veranlassung von Zustand-änderungen unseres eigenen Wesens werden und als wir vermöge

unserer inneren Geistesanlage aus diesen erlittenen Zustandsänderungen unseres eigenen Wesens Bilder jener Außendinge und der in ihnen vor­

gehenden Veränderungen in unS erzeugen können.

Ob die auf solche

Art in uns erzeugten Vorstellungen von Dingen und Vorgängen in der

Außenwelt diesen selbst kongruent, oder auch uur ähnlich, ob sie nach der gewöhnlichen Vorstellung wahr, oder nur Trugbilder und Fiktionen sind, welche mV der wirklichen Beschaffenheit der vorgestellten Dinge gar nichts

gemein haben, können wir jedenfalls nicht durch eine Vergleichung beider, der Vorstellungen von den Dingen einerseits und dieser selbst andererseits, erfahren, denn wir können den Act solcher Vergleichung nicht vollziehen, da wir der Dinge selbst nicht habhaft werden können.

Wäre eS daher Aufgabe unseres Erkennens, die Dinge und Vor­ gänge außer uns nur noch einmal in uns abzubilden, sie genau so ab­ zubilden, wie sie außer unS an sich wirklich sind, wären also

unsere Vorstellungen jener Dinge und Vorgänge nur dann wahr, wenn sie diesen genau kongruent wären, so würde eS überhaupt kein Kriterium

der Wahrheit geben können, eS bliebe dann ewig in der Schwebe und wäre gar nicht zu entscheiden, ob überhaupt und in wie weit die solcher­

gestalt formulirte Aufgabe unseres

Erkennens

ihr Ziel

erreicht hätte.

Wirklich erreicht werden könnte solches Ziel in der That auch nur dann, wenn die Dinge und Vorgänge außer uns auch in Wirklichkeit an sich

selbst weiter nichts wären als Vorstellungen, denn nur dann könnten sie sich mit unseren Vorstellungen von ihnen vollständig decken.

In diesem Falle würde es dann aber wieder völlig unbegreiflich sein. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft t>.

40

wie die Dinge außer uns als Vorstellungen wirklich existiren könnten, denn Vorsteyungen können doch nur wirklich sein als innere Vorgänge in

den lebendigen Wesen, welche sie haben.

Die Consequenz eines solchen

Idealismus würde mithin doch nur zu der Annahme führen, daß nur die

lebendigen Wesen an sich selbst wirklich wären, alle sonstigen außer uns

vorgestellten Dinge und Ereignisse aber nur als Vorstellungen in den lebendigen Wesen existiren könnten.

Nehmen wir einmal an, die Sache

verhalte sich wirklich so, eS existirten nur lebendige Wesen, welche einander

gegenseitig vorstellten, so würden dieselben stets doch nur ihre eigenen Zustandsänderungen unmittelbar in sich selbst erleben,

die Zustands­

änderungen in allen übrigen Wesen aber nur vorstellen können, und die vorzestellten Zustandsänderungen in diesen

anderen Wesen würden

mit diesen Zustandsänderungen selbst niemals zusammengehalten-und ver­ glichen werden können.

Selbst die Annahme der Geltung eines solchen

Idealismus würde daher kein Kriterium der Wahrheit als möglich er­

scheinen lassen, wenn die Aufgabe des Erkennens blos auf Uebersetzung dessen, was außer uns geschieht, in die Welt unserer Vorstellung ge­

richtet wäre. In der That ist dieses letztere die gewöhnliche Ansicht, alber eine kurze Ueberlegung schon genügt, uns von der Verkehrtheit derselben zu überzeugen.

„Könnte eS der menschlichen Forschung", sagt Lotze (Mikrokosmus Bd. I Vorrede VII), „nur darauf ankommeu, den Bestand der vorhandenen

Welt erkennend abzubilden, welchen Werth hätte dann doch ihre ganze Mühe, die mit der öden Wiederholung schlöffe, daß, was außerhalb der

Seele vorhanden war, Welche Bedeutung

nun nachgebildet in ihr noch einmal vorkäme?

hätte das leere Spiel dieser Verdoppelung,

welche

Pflicht der denkende Geist, ein Spiegel zu sein für das, was nicht denkt,

wäre nicht die-Auffindung der Wahrheit überall zugleich die Erzeugung

eines Gutes, dessen Werth die Mühe seiner Gewinnung rechtfertigt?" Darauf kommt es in der That bei allem Erkennen in letzter Instanz

allein an, den Werth und die Bedeutung dessen zu erkennen, was wir in uns erleben,, respective durch diese Erlebnisse ange­

regt werden, außerdem noch in der Welt als vorhanden anzu­ nehmen. Dieses Ziel können wir aber schon durch bloße Ueberlegung und Verknüpfung alles -dessen erreichen, was in uns selbst vor­

geht, ohne dazu nothwendig einer Congruenz unserer Vorstellungen-mit

den vorgestellten Dingen zu bedürfen.

Darauf wird eS daher bei allem

Erkennen in erster Linie ankommen, daß wir die inneren Erlebnisse richtig

auffassen, ihrer wahren Bedeutung nach verstehen und würdigen, sie richtig

verbinden und die in ihnen enthaltenen Voraussetzungen unS klar zum

Bewußtsein bringen; nicht darauf, ob unsere Vorstellungen von den Dingen und Vorgängen außer unS mit diesen selbst kongruent oder ähnlich seien?

DaS letztere ist eine Nebenfrage, welche an Bedeutung weit hinter der ersteren zurücksteht, weil der Werth dessen, waS wir erkennen, nicht noth­

wendig durch eine bestimmte Art der Beantwortung jener Frage be­

dingt ist. Die gewöhnliche Ansicht, daß daS Erkennen blos zum Abbilden einer

Wirklichkeit außer uns bestimmt sei, beruht auf der Naiven,

vor dem

Beginn alles PhilofophirenS durch daS bisherige Leben in unS entwickelten

Vorstellungsweise, wonach unS die Produkte unserer eigenen GeisteSthätigkeit wie fertige selbständige Realitäten, als Dinge in einer uns ringS

umgebenden Außenwelt entgegentreten.

ES erscheint nicht wunderbar, daß

auf dieser Stufe der geistigen Entwickelung sich daS nächste Interesse darauf richtet, die Dinge kennen zu lernen, welche unS anscheinend so

plastisch und klar entgegentreten; daß wir über diesem nächsten praktischen Ziele unS selbst vergessen und nicht bedenken, daß wir selbst eS gewesen

sind, welche die Bilder aller jener Dinge in unö hervorgebracht haben, daß mithin unser eigenes Leben, unsere eigene Thätigkeit bei der Her­

stellung jener Bilder, mit zu dem Ganzen der Wirklichkeit gehören, deren Anschauung sich aus jenen Bildern zusammensetzt; ja:, daß diese unsere eigene Thätigkeit den Hauptfactor bei der Herstellung jener Bilder

und der ganzen unS scheinbar umgebenden Außenwelt bildete, und daß die subjektiven Verfahrungsweisen bei der Zusammenfaffung der Erschei­

nungen zu fertigen Bildern, bei der Gruppirung und Verbindung dieser

zu dem Ganzen unserer Weltansicht die ersten Grundlinien und Theil­ striche in die unabsehbare Menge unserer Empfindungen und Gefühle bringen halfen und dadurch zu Keimen unserer Begriffe über die letzten wirkenden

Principien alles Seins und Geschehens wurden.

Je mehr die Erkenntniß

dieses wahren Sachverhalts wächst, je mehr wir einsehen lernen, daß eS

nur Principien und Bedürfnisse unserer eigenen erkennenden Vernunft

find, welche uns antreiben, einzelne Empfindungen gruppenweis zu Vor­

stellungen gesonderter Dinge zusammenzufassen, diese in gegenseitige Re­

lation zu setzen, das Gemeinsame in den Dingen zu übergeordneten Be­

griffen auSzusondern und alle Dinge und Ereignisse zu dem Ganzen eines

einheitlichen Weltprocesses zusammenzufassen,

daß

mithin alle

Dinge,

welche unseren Gesichtskreis erfüllen, alle Eintheilungen, alle Gesetze und Beziehungen zwischen jenen Dingen,

die wirksamen Keime ihrer Ent­

stehung in Bedürfnissen und ursprünglichen Veranlagungen unseres eigenen

Wesens haben, um so mehr tritt die Bedeutung und der Werth dieser

40*

ursprünglichen Grundzüge unseres subjektiven Geisteslebens für die Ge­

staltung unserer gesammten Weltansicht hervor; um so mehr werden wir inne, daß das Ziel alles Erkennens wesentlich und in erster Linie auf

daS

genaue Verständniß

und

die Verdeutlichung dessen

gerichtet sein

müsse, waS wir sollen, wozu wir überhaupt da seien, welcher Werth und welche Bedeutung dem Dasein überhaupt und un­

serer Bestimmung in demselben beizumessen sei. Je mehr wir uns dieses Alles zur Klarheit bringen, um so mehr werden wir einsehen, daß die in den Formen des Fühlens, Wollens und

Borstellens erlebten inneren Vorgänge in den lebendigen Wesen nicht nur

mit zu dem Ganzen des Weltprocesses gehören, sondern, daß sie in der That daS allein wahrhaft und an sich Wirkliche sind, die leben­

dige Grundlage,

aus der alle Formen, Gestalten, Bilder, Gesetze und

Verhältnisse unserer ganzen Weltansicht, der ganzen Weltwirklichkeit über­ haupt hervorwachsen, daß die subjektiven Erscheinungen und Vor­

stellungen der realen Processe des Geschehens außer uns nicht bloße Nebenproducte dieser sind, welche nur bestimmt wären, uns begreiflich zu machen, was um uns her in einer uns.umgebenden Außenwelt vor­

gehe, daß wir nicht deshalb sehen, hören, riechen und schmecken, um nach

den Ursachen dieser subjektiven Erscheinungen in

einer vorausgesetzten

Außenwelt zu forschen, sondern um unser Herz an dem Gesehenen und Gehörten zu erfreuen und diese Eindrücke zur Erreichung unserer indi­ viduellen Lebensbestimmung zu verwenden. Die Erscheinungen des Wirk­ lichen in der Vorstellungswelt lebendiger Wesen sind daher nicht als

gleichgültige Nebenproducte, sondern eher als Hauptproducte derjenigen realen Processe zu betrachten, welche dieselben in uns anregen; in ihnen entfalten sich jene realen Processe erst zu voller Blüthe und Frucht.

Processe der

Die

äußeren Natur erscheinen nur als Vorbedingungen und

Mittel zur Entfaltung und Erhaltung des geistigen Lebens, in welchem

das wahre Wesen, die wahre Bedeutung, der wahre Werth

und die wahren Ziele alles Geschehens erst wirklich und offenbar werden. Wir erleben unmittelbar in uns, was Sein, Wirken, Leiden, Fühlen, Denken und Wollen in Wahrheit sei und bedeute, welchen Sinn, Inhalt

und Zweck das Leben habe,

und diese Selbstoffenbarung des eigenen

Wesens, welche sich durch die fortschreitende Arbeit deS Lebens und Er­

kennens zu einer mehr oder weniger umfassenden Weltansicht in uns er­ weitert, ist nicht blos Erscheinung, welche auf ein Sein hindeutet, welche

zur Abbildung und Reproduktion eines hinter der Erscheinung belegenen noch wahreren Seins bestimmt wäre, sondern offenbart unS das Wirk-

liche

selbst in seiner Blüthe und höchsten Potenz, in seiner

wahren an sich seienden Gestalt, wie eS in unserem Fürstchsein unmittelbar zur Realität gelangt.

Die Aufgabe des Er­

kennens ist daher nicht, aus dem innerlich Erlebten als einem Scheine das wahre Sein eines solchen Schein erregenden Wirklichen mittelst irgend

welcher Erkenntntßtheorte zu enträthseln, sondern das innerlich Erlebte

seinem wahren Werthe und Zusammenhänge nach zu würdigen, um von

ihm zum Zwecke unseres Lebens Gebrauch zu machen.

Wenn das Wirk­

liche sich uns in Farben, Klängen und Gerüchen offenbart, so sind diese

nicht etwa ein bloßer Schein, der unS das Wirkliche in verkürzter und verstümmelter Weise zur Anschauung brächte, so sind sie eben die Art,

wie daS Wirkliche in uns offenbar und wirklich wird, wie es in uns

aufblüht zu wahrem vollem' Leben.

In diesem wahren vollen Leben erst

werden die Werthe des Wirklichen offenbar und wirklich, sie werden als

solche von unS gefühlt und in diesem Gefühl besteht ihr wahres Wesen.

Entfaltung der in unserer Naturanlage enthaltenen Keime ist der Zweck des Lebens und diesem Zwecke ist auch die Aufgabe des Erkennens unter­

geordnet.

Erkennen ist Verdeutlichen dessen, was wir unmittel­

bar in unS erleben, waS in unserer Naturanlage gegeben ist

und durch Einwirkungen anderer Wesen in unS angeregt wird,

Verdeutlichung und consequente Ausgestaltung der faktisch ge­ gebenen Grundlage unmittelbarer Lebenswirklichkeit.

Da wir mit zu dem Ganzen der Welt gehören und durch die Er­ füllung Mserer Lebensbestimmung den Zweck des Weltprocesses fördern sollen, so können wir unsere Lebensaufgabe nicht verstehen, ohne eine be­ stimmte Ansicht über die Welt im Ganzen und daS Ziel deS WeltproceffeS

in unö zu bilden.

Diese Weltansicht wird sich in den verschiedenen Wesen

verschieden gestalten, je nach dem Grade und der Art ihrer individuellen Entwickelung und nach dem Standpunkte, auf welchem sie sich in den ver­ schiedenen Stadien ihrer Entwickelung befinden. Da jedenfalls die letzteren für alle verschieden sein werden, so können die Weltbilder in der Auffassung

der verschiedenen Wesen sich nie vollständig decken, wohl aber kann

in allen der wesentliche Sinn der Wirklichkeit in mehr oder weniger vollständiger, individuell gefärbter Weise zum Aus­ druck gelangen; sie können alle zu einander und zum Ganzen

in

einem

bestimmten

gesetzlich

geregelten

Zusammenhänge

stehen.

Daß dieses letztere wirklich der Fall sei, lehren die Aufschlüsse, welche wir oben aus der näheren Betrachtung der in uns vorhandenen sittlichen

Norm unseres Wollens erhielten.

Soll der ganze Weltproceß ein ein-

heitlicher, zweckbestimmter sein, so müssen die einzelnen dazu mitwirkenden

Factoren, die lebendigen Wesen, deren Gesammtheit das Universum constituirt, sich unter einander verständigen, auf einander wirken, sie müssen

überhaupt die Erfolge ihres Wollens

können.

und Handelns vorausberechnen

Dieses ist nur möglich, wenn alles Geschehen überhaupt in einem

ausnahmslosen gesetzlichen Zusammenhänge steht.

Erwägen wir nun, daß

die Naturanlage aller das Weltall constituirenden Wesen mitinbegriffen

ist in die Einheitlichkeit deS teleologisch bestimmten WeltprocesseS, so er« giebt sich als weitere Consequenz, daß alle Vorgänge in allen Wesen, also auch alle Erscheinungen in ihnen unter einander in einem

ganz bestimmten gesetzlichen Zusammenhänge

stehen müssen.

Ist dieses aber der Fall, so leisten die Mittel unseres Erkennens in der That alles, was wir billigerweise von ihnen verlangen können, so reichen

sie vollkommen aus, um die Aufgabe des Erkennens zu ermöglichen, wenn

wir die letztere in dem angegebenen Sinne richtig verstehen.

Sie reichen

aus, uns eine Ansicht der Welt im Ganzen zu verschaffen, welche unserem individuellem Standpunkte, unserem individuellem Gesichtskreise und unserer individuellen LebenSbesttmmung entspricht, sie reichen aus, die Erfolge

unseres Wollens in beschränktem

aber doch zureichendem Maße zu be­

stimmen. Berücksichtigen wir alle diese Erwägungen, um uns klar zu machen,

was Wahrheit sei und bedeute? worin das Kriterium der Wahr­ heit bestehen könne?

Da der Zweck deS Erkennens nicht auf ein bloßes Abbilden dessen gerichtet ist, was außer unS geschieht, so kann die Wahrheit unserer Vor­ stellungen der außer unS gesetzten Dinge und Ereignisse nicht darin be­

stehen, daß jene diesen in allen Beziehungen kongruent oder auch nur im

mathematischen Sinne ähnlich seien.

„Nichts ist einfacher*) als die Ueber­

zeugung, daß jeder erkennende Geist Alles nur so zu Gesicht bekommen kann, wie eS für ihn aussieht, wenn er es sieht, aber nicht so wie eS

auSsieht, wenn eS Niemand sieht; wer eine Erkenntniß verlangt, welche

auf mehr als ein lückenlos in sich zusammenhängendes Ganze von Vor­ stellungen über die Sache wäre, welche vielmehr die Sache selbst erschöpfte,

der verlangt keine Erkenntniß mehr, sondern etwas völlig Unverständ­

liches.

Man kann nicht einmal sagen, er wünsche die Dinge nicht zu

erkennen, sondern geradezu sie selber zu sein; er würde vielmehr auch so sein Ziel nicht erreichen; könnte er es dahin bringen, das Metall etwa

selbst zu sein, dessen Erkenntniß durch Vorstellungen ihm nicht genügt, nun *) So sagt Lotze: Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen und vom Er­ kennen. Leipzig. Hirzel 1874. S. 485.

so würde er eS zwar sein, aber um so weniger sich, als nunmehriges

Metall, erkennen; beseelte aber eine höhere Macht ihn wieder, während er Metall bliebe, so würde er auch als dies Metall sich gerade nur so erkennen, wie er sich in seinen Vorstellungen vorkommen würde, aber nicht so, wie er dmn Metall wäre, wenn er sich nicht vorstellte."

Wahr sind unsere Vorstellungen vielmehr dann, wenn sie das, was

in uns vorgeht, seinem Inhalte und seinen Consequenzen nach adäquat zum Ausdruck bringen, wenn sie folgerecht das zusammenfaffen, waS zu­ sammen gehört und eS mit dem Ganzen unserer Weltansicht in consequente

Uebereinstimmung bringen. Congruenz

Wahrheit besteht daher nicht in einer

unserer Vorstellungen

von Dingen

nissen außer uns mit diesen selbst,

und

Ereig­

sondern in der sachge­

mäßen Auffassung des unmittelbar Gegebenen, in der inneren Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit unserer Vorstellungen und

deren Verhältnissen zu einander.

DaS einzige Mittel, die Wahrheit unserer Vorstellungen und Schluß­

folgerungen zu constatiren, besteht in ihrer Zurückführung auf einfache

Thatsachen, welche wir unmittelbar erleben und auf Axiome von zwetfe^ loser Geltung.

Die Wahrheit dieser Axiome läßt sich freilich nicht mehr

beweisen, sondern nur durch ein Gefühl unmittelbarer Evidenz als richtig constatiren, welches in dem Jnnewerden ihrer Allgemeinheit und Noth­ wendigkeit besteht.

DaS

Gefühl der Allgemeinheit und Noth­

wendigkeit, welches unS die letzten Axiome alles Wissens und Erkennens als apriorisches Besitzthum des Geistes,

als un­

mittelbar-gewiß und selbstverständlich erscheinen läßt, ist das letzte und einzige Kriterium aller Wahrheit. Wie es eine sittliche Norm in unS giebt, welche den charakteristischen Grundzug unseres Wesens in ethischer Beziehung bildet, so finden wir

in unS gewisse apriorische Wahrheiten, deren Gewißheit wir ebenso un­

mittelbar mit dem Gefühle der Allgemeinheit und Nothwendigkeit in uns erleben, wie das Vorhandensein jener sittlichen Norm.

Wie diese ist die

Selbstverständlichkeit des Inhalts jener apriorischen Wahrheiten ein letztes

gegebenes thatsächliches Moment, welches nur erlebbar aber nicht

weiter beweisbar ist und die Grundvoraussetzung alles Erkennens bildet. Ich wende mich nun zu dem zweiten Schritte meiner Untersuchung,

zu dem Versuche, die mit dem Vorhandensein der verantwortlichen Frei­

heit deS Wollens unmittelbar gegebenen Aufschlüsse, welche ich in den früher aufgestellten Sätzen zusammengefaßt habe, unter einander und

mit unseren übrigen Erkenntnissen in Einklang zu bringen und mit diesen zu der Einheit einer sittlichen Weltansicht auszugestalten.

Alle jene Sätze verhalten sich, wenn man sie genauer betrachtet, zu einander wie Radien eine- Kreise-, die alle nach demselben Mittelpunkte gerichtet sind.

E- gilt nur, diesen Mittelpunkt zu bestimmen, um deren

innere Zusammengehörigkeit und da- Gesetz ihrer Bildung zu begreifen. Dieses Centrum ist das absolute Weltwesen, der reale Grund alles Bestehenden, durch dessen richtige und sachgemäße Auffassung sich die Welt­

anschauung, deren

Grundlinien jene Sätze vorzeichnen, vollständig zu

einem einheitlichen Ganzen zusammenschließt.

Erst die richtige Auffassung

jenes höchsten Wesen- kann der ganzen Weltansicht inneren Halt geben, sie erst kann die in jenen Sätzen nur dürftig skizzirten Grundgedanken

durch Offenbarung de- wahren Inhalt- dessen ergänzen, was jene nur

in formaler und abstrakter Weise ausdrücken.

Die gemeinsame Richtung

auf den gesuchten Mittelpunkt ist in jenen Sätzen schon so deutlich aus­ geprägt, dieselben enthalten so deutliche Hinweisungen auf das, waö wir

unter jenem höchsten Wesen zu denken haben, daß wir nur die dort ge­

zogenen Linien zu verlängern, daS in jenen Sätzen Gedachte nur consequent bis zu Ende zu denken haben, um das gesuchte Centrum zu finden und einznsehen, daß nur die

Idee Gottes, das ist die Idee einer

alle Weltwirklichkeit in sich schließenden leb endigen Persön­

lichkeit von absolutem Charakter dem Begriffe jenes höch­ Nur die Idee Gottes genügt den meta­

sten Wesens genügen könne.

physischen und ethischen Anforderungen, welche in jenen Sätzen enthalten sind.

In dieser Idee finden jene Sätze ihren Schlußpunkt, der ihren

gegenseitigen Zusammenhang erklärt und die formalen Anforderungen der­ selben mit den erwärmenden Strahlen eines positiven Inhalts von über­

irdischem Glanze erfüllt. Um diese wichtige und höchste Consequenz unserer bisherigen Be­

trachtungen gegen alle Einwendungen sicher zu stellen, will ich die Gründe,

welche mit zwingender Nothwendigkeit zu ihr hinleiten, jetzt entwickeln. Ich habe bereits erwähnt, daß wir die letzten metaphysischen Grund­ begriffe alles Seins und Geschehens nur aus dem schöpfen können, was

wir unmittelbar in uns als wirklich erleben, nicht aus anderen Begriffen, welche erst aus diesen Erlebnissen abstrahirt sind und an sich

nichts Wirkliches mehr bedeuten.

Der allgemeine wesentliche Grund­

zug aller inneren Erlebnisse ist die lebendige Rückbeziehung auf uns selbst im Bewußtsein.

wahre Wesen aller Realität.

Das Fürsichsetn ist daher das

Realität ist Fürsichsetn. Fürsichsein

in diesem Sinne ist aber nur ein anderer Ausdruck für das, was wir unter Lebendigkeit und Geistigkeit verstehen.

Nur das Lebendige

kann für sich wirklich, real sein, alles Todte, Unlebendige, alles ruhende

unbewegte Sein kann nur als Vorstellung in den lebendigen Wesen, nicht aber für sich selbst irgendwie wirklich sein. Giebt eS daher ein einziges höchstes Wesen, welches der wahre und

letzte Grund aller Realität ist, von dem alle Einzelwesen, welche das Uni­ versum constituiren, ihr eigenes Dasein gleichsam zu Lehen tragen, so kann auch dieses höchste Wesen nicht als todte Substanz oder gar als Be­

griff, sondern nur als lebendiges fürsichseiendeS geistiges Wesen gedacht

werden. Betrachten wir nun den Verlauf unserer inneren Erlebnisse näher,

so werden wir alsbald inne, daß dieselben zum großen Theile durch Ver­ anlassungen angeregt werden, welche nicht spontan in unS selbst entstehen

oder durch vorangegangene Zustände unseres eigenen Wesens allein be­ dingt und hervorgerufen sind.

Wir müssen daher jene Veranlassungen

als Einwirkungen anderer Wesen auf unS betrachten und der Verlauf des

Lebens überzeugt uns bald, daß auch wir unsererseits auf andere Wesen cinzuwtrken vermögen.

Unser Leben verläuft in steten Wechsel­

wirkungen mit unzähligen anderen Wesen und diese Wechselwir­ kungen erscheinen als das einzige Band, welches unS mit jenen anderen Wesen und der Welt überhaupt verbindet.

Den Hergang und die Denkbarkeit dieser Wechselwirkungen zu er­ klären, war das vornehmste Problem der neueren Philosophie seit Car-

tesiuS, dessen Wichtigkeit um so mehr erkannt wurde, je mehr sich das

philosophische Nachdenken auf Anregung der Naturforschung der Erklärung der thatsächlich beobachteten Vorgänge des Lebens überhaupt zuwandte. Lotze hat dieses Problem zuerst scharf präcisirt und in einer Weise

gelöst, welche die höchste Beachtung verdient.

Die Wechselwirkung kann,

wie Lotze sehr scharfsinnig und klar entwickelt, nicht darin bestehen, daß die Zustandsänderung des einen Wesens a auf das andere b unmittelbar

übergeht, denn ein Zustand des Wefenö a kann sich nicht von diesem loslösen und losgelöst von a für sich sein, er könnte, selbst wenn dies

denkbar wäre, nicht die Richtung auf b finden und dort eine correspon-

dirende Zustandsänderung des anderen Wesens b werden. nannte influxus

Der soge­

physicus ist eine den metaphysischen Begriffen deS

Wesens und Geschehens widersprechende Vorstellung.

Ebensowenig genügt

die occasionalistische Erklärung, daß dem Zustande deS a der correspondtrende Zustand in b nach einem das Geschehen in beiden Wesen für den

besonderen Fall oder nach einer allgemein verbindlichen Regel ordnendem göttlichem Machtgebote blos thatsächlich folge.

Nur dadurch kann die

Thatsache der Wechselwirkung erklärt werden, daß alle durch sie verbun­

denen Wesen als Momente deS FürsichseinS einer einzigen einheitlichen

Substanz betrachtet werden, welche den alleinigen wesenhaften Kern der

Wirklichkeit aller Einzelwesen bildet.

Jede Zustandsänderung des einen

Wesens a ist dann zugleich eine Bewegung jenes ganzen einheitlichen

substantiellen Weltgrundes, welcher in allen übrigen Wesen, das ist in

allen

übrigen

Momenten

des FürsichseinS

jener

einen

Weltsubstanz,

schwächer oder stärker wiederklingt und mithin zugleich als correspondirende

Zustandsänderung des Wesens b hervortritt, welches auf solche Art die Einwirkung von a erleidet.

Diese Erklärung beseitigt nicht nur alle Schwierigkeiten, welche das Problem der Wechselwirkung bisher zu einer crux philosophorum machten, sondern erweitert und erleuchtet zugleich unsere theoretische Einsicht in die Verhältnisse der Einzelwesen zu einander und zu dem absoluten Weltwesen

und unsere ganze Auffassung des letzteren und aller Einzelwesen in einer Weise,

wie

es

keiner früheren Philosophie auch

nur annähernd ge­

lungen ist.

Wir begreifen nun auS der unleugbaren Thatsache der Wechselwirkung, einer Thatsache, worauf aller Weltzusammen­

hang und die Möglichkeit alles Erkennens beruht, daß nur ein einziges

einheitliches lebendiges Wesen den realen sub­

stantiellen Grund aller Weltwirklichkeit bilden könne, daß die Realität aller daS Weltall constituirenden Einzelwesen nur

in Arten des Fürsichseins jenes einen Wesens bestehen könne. Wir begreifen nun mit einem Schlage, wie zwischen allem Geschehen in

allen Wesen ein ausnahmsloser gesetzlicher Zusammenhang bestehen, wie der ganze Weltproceß ein einheitlicher, auf ein einheitliches Ziel gerichteter, wie die Natur und Bestimmung aller Einzelwesen auf die Mitwirkung

zu diesem einheitlichen Ziele berechnet und veranlagt sein könne, wie end­ lich in den Einzelwesen, indem das eine absolute Weltwesen in ihnen

allen auf eine gewisse,

wenn auch noch so beschränkte Weise doch mit

seinem ganzen Wesen für sich ist, durch fortschreitende Verdeutlichung der

in ihrer thatsächlichen Naturanlage offenbarten Daseillsmomente eine Er­ kenntniß jenes einheitlichen Ziels des ganzen Weltprocesses entstehen könne.

Ich habe in der letzteren Beziehung bereits entwickelt, wie sich aus einer zwanglosen Deutung der Grundthatsachen des wahren Menschwesens,

aus den Thatsachen der Freiheit und des Gewissens, die Grundzüge einer Weltansicht ergeben, welche den wesentlichsten bedeutsamsten Inhalt alles

Geschehens wenigstens in allgemeiner Begriffsform zum Ausdruck bringt. Diese allgemeine Begriffsform ist allerdings noch zu abstrakt, um auf

eigenen Füßen stehen zu können.

Sie erfüllt sich erst in dem Maße mit

concretem Inhalt, als eS uns gelingt, den Begriff jenes höchsten ein­ heitlichen

Wesens, welcher den Schlußstein unserer Weltansicht

bildet,

durch fortschreitende Erkenntniß zu vervollständigen und — wie ich der

späteren Darstellung vorgreifend zur vorläufigen Orientirung einschalte — durch Erfüllung mit dem, waS uns das religiöse Gefühl offenbart, abzu­ schließen und zu der Idee des lebendigen Gottes zu steigern. Erwägen wir nur die wichtigsten jener vorangeführten Thatsachen, da- Gelten einer ausnahmslosen Gesetzlichkeit alles Geschehens und das

Vorhandensein eines einheitlichen Weltzwecks von unbedingtem Werthe, so betzarf eS gar keiner weiteren Umwege mehr, um zu begreifen, daß

Zwecke und Werthe nur in einer lebendigen Persönlichkeit existent werden können. bei,

Persönlichkeit legen wir einem lebendigen Wesen dann

wenn eS seine wechslenden Zustände in der Erinnerung ein und

desselben Bewußtseins zusammenzufassen, wenn eS daher eigene LebenSintereffen zu hegen, selbständige Ziele zu verfolgen, Ueberlegungen anzu­ stellen und sein Wollen und Handeln wechslenden Umständen anzupaffen vermag.

Durch die zusammenfassende

Erinnerung

knüpft ein

solches

Wesen die Einzelmomente seines Daseins erst zu einer Einheit von höherer

Bedeutung zusammen.

Die vergangenen Phasen seines Daseins gehen

dann nicht mehr verloren, sondern werden in der Erinnerung erhalten

und bilden in dieser Gestalt mitwirkende Factoren seines ferneren Lebens,

während auch die in der Zukunft erwarteten Erlebnisse bestimmend auf die Gestaltung der gegenwärtigen einwirken.

Nur in einem lebendigen

Wesen, welchem Persönlichkeit eignet, kann der Begriff der Zeit entstehen.

Es unterscheidet sich dadurch von allen Wesen, welchen jene höhere Form

der Einheit nicht zukommt, welche nur dem Augenblicke leben und daher ein unzeitliches Leben führen.

Nur ein persönliches Wesen kann daher

auch den Begriff der Zukunft und Vergangenheit bilden, nur ein solches

kann Zwecke verfolgen und seinem Leben eine bestimmte Direktion geben,

selbsthandelnd nach eigenen Interessen und Principien in den Lauf der Ereignisse eingreifen.

Es wird dieses alles in um so höherem und inten­

siverem Maße vermögen, je weiter eS in seiner Erinnerung zurückgreifen,

je erfolgreicher eS die zukünftigen Ereignisse zu berechnen vermag, je um­ fassender, weitgreifender und fester sich die wechselnden Zustände seines Lebens zur Einheit bewußter persönlicher Existenz zusammenschließen, in

je höherem Grade ihm Einheit und Persönlichkeit eignet.

Denken wir

unS endlich ein höchstes Wesen, welches allen Phasen seiner

ganzen Existenz, sowohl denen, die eS bereits realisirte, als auch den confequenl aus dem gegenwärtigen Zustande zu er­ wartenden zukünftigen, gleich mehr wäre, so würde für ein

560

Ueber da« Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit

solche- der Begriff der Zeit wiederum aufgehoben werden

und verschwinden, alle Momente seines Lebens würden sich

zu

einer Einheit höchster Potenz, zum Begriffe einer abso­

luten, vollkommenen Persönlichkeit zusammenschließen. Nur diese höchste denkbare Form der Wirklichkeit, dieser umfassendste

und doch zugleich concentrirteste Ausdruck des EinheitSbegriffs, nur der Begriff absoluter, vollkommener Persönlich­

keit erscheint geeignet, uns eine Vorstellung von dem wahren

Wesen Gottes zu machen. ES ist einer der verhängnißvollsten Irrwege in der Geschichte der Philosophie, daß

man das Wesen Gottes,

um diesem vor Allem den

Charakter der Schrankenlosigkeit und Absolutheit zu wahren, stets nur aus

den durch Abstraction von allen concreten Erscheinungen des Lebens ge­

wonnenen letzten Allgemeinbegriffen zusammensetzen zu müssen glaubte.

Man bedachte nicht, daß jene obersten und allgemeinsten Begriffe zugleich die inhaltlosesten und leersten sind, wenn man nicht die concrete Fülle

deS Wirklichen stets ergänzend hinzudenkt, von denen sie abstrahirt worden sind.

Man verwechselte hier, wie so häufig, die Umwege, welche das

Denken braucht, um sich eine Uebersicht über die Inhalte des Wirklichen zu verschaffen, indem dasselbe die gemeinsamen Merkmale der Dinge abstrahirte, diese zu Allgemeinbegriffen formulirte und in Gattungen und

Arten systematisch zusammenstellte, um ihnen dann die Vorstellungen der concreten Einzeldinge nach verschiedenen Gesichtspunkten wieder zu sub-

sumiren, mit den Entstehungsprocessen deS Wirklichen selbst und ließ sich dadurch verleiten, die höchsten Allgemeinbegriffe als das erste und ursprünglich Wirkliche zu denken, aus dem dann die concrete Fülle der Dinge und Ereignisse hervorgegangen fei.

Aber jene Allgemetnbe-

griffe sind in der That weiter nichts als Geschöpfe der Abstraction, sie haben nirgends Wirklichkeit, als in dem Geiste dessen,

der sie gebildet

hat und sind völlig ungeeignet, den Inhalt dessen, was wir unter dem höchsten Weltwesen zu denken haben, entsprechend auszudrücken.

Man

ließ sich durch jene gedankenlose Verwechselung zu dem verhängnißvollen Irrthume verleiten, daß alle concreten Bestimmungen des höchsten Wirk­

lichen nur ebensoviele Schranken desselben bedeuten würden und machte,

um Gott den Charakter der absoluten Schrankenlosigkeit zu wahren, ihn

zu dem inhaltärmsten und dürftigsten Geschöpfe der Abstraction, indem man sein Wesen durch die leeren Begriffe einer absoluten unbeweglichen Substanz, einer regungslosen höchsten Idee u. s. w. auszudrücken suchte.

Die negativen Begriffe der Schrankenlosigkeit und Unendlichkeit enthalten an sich noch gar keine positive Inhaltsbestimmung des

höchsten Wesens, welches doch nur durch den specifischen positiven Inhalt seiner Natur, durch seine eigene Würde und Erhabenheit allem Endlichen

gegenüber den Charakter der Unendlichkeit erlangen könnte.

Jene negativen

Bestimmungen machen nur die Stelle frei, wo der positive Begriff Gott stehen soll, ohne diese Stelle selbst auszufüllen.

Irgend welche positive

Inhaltsbestimmungen müssen wir Gott doch beilegen, wenn er nicht zur

leeren Unendlichkeit, zum reinen Nichts werden sdll.

Wir müssen ihm

solche Inhaltsbestimmungen beilegen, welche ihn geeignet machen,

als

Grund alles Wirklichen, als erhaben über alles Endliche gelten zu können. Sind wir daher auf dem angegebenen Wege durch Verdeutlichung

der in der Freiheit und im Gewissen gegebenen Voraussetzungen zu der

Ueberzeugung gelangt, daß der ganze Weltproceß auf ein einheitliches Ziel von unbedingtem Werthe gerichtet fei, so muß Gott, der Grund jenes Processes, in einer Form der Wirklichkeit gedacht werden, welche begreiflich macht, daß er Zwecke hegen und Werthe em­

pfinden könne, wir müssen ihn in der höchsten denkbaren Form aller Wirklichkeit als absolute vollkommene Persönlichkeit auffassen, und dieser Begriff enthält nicht eine Beschränkung, sondern lediglich eine adäquate

Bestimmung des wahren Wesens Gottes, dessen vorausgesetzte Unend­

lichkeit dadurch keineswegs alterirt, sondern insoweit, als dieses Prädicat überhaupt vernünftigen Sinn hat, nur näher präcisirt und begreiflich ge­ macht wird.

DaS Wort unendlich bedeutet streng genommen etwas, das

kein Ende hat, im gewöhnlichen Sprachgebrauche versteht man jedoch

darunter nur etwas, dessen Ende man nicht sieht, etwas für uns Un­ ermeßliches und verbindet damit den Nebenbegriff des Erhabenen, deS im

höchsten Grade Jmponirenden.

Die erstere eigentliche aber negative Be­

deutung des Wortes ist lediglich den Anschauungen des Raumes und der

Zeit entlehnt, und trägt wie diese einen blos phänomenalen Charakter, vermöge dessen das Wort in diesem Sinne sich nur auf Objekte der

Vorstellungswelt in den

lebendigen Wesen, nicht auf die an sich

seiende wahre Natur dieser selbst anwenden läßt, welche wir unauSgcdehnt denken müssen.

Nur die tropische und uneigentliche aber positive

Bedeutung deS Wortes beruht auf einer Werthschätzung des Gefühls

und kann auf die wahre Natur des Wirklichen angewendet werden.

Nur

im letzteren positiven Sinne können wir daher von Gott als einem un­

endlichen Wesen reden, das sich uns nicht sowohl wegen seiner Unerforschlichkeit und Unermeßlichkeit, als vielmehr wegen der sonstigen positiven, nur im Gefühl erlebbaren Werthbestimmungen, welche wir ihm beilegen, als über alle Maßen groß und erhaben darstellt.

Object der Werth­

schätzung und Verehrung in diesem Sinne kann Gott aber selbstverständ-

lich nur dann werden, wenn er als lebendige Persönlichkeit und nicht als

abstracte Substanz oder leblose Idee gedacht wird.

Nur der Begriff

der lebendigen Persönlichkeit genügt daher dem Prädicate der

Unendlichkeit,

welches

Gott

wir

beizulegen uns

gedrungen

fühlen. Nichts ist daher verkehrter als der leider so oft gehörte Einwand,

daß Gott in seiner über alles Menschliche unendlich erhabenen Würde dadurch herabgesetzt und vermenschlicht werde, daß man ihn als persön­

liches Wesen betrachte, weil Persönlichkeit eine Schranke sei, welche nur dem Endlichen zukomme.

Es ist zwar richtig,

der Persönlichkeit überhaupt

daß wir den Begriff

nicht fassen könnten, wenn wir

nicht selbst Personen wären und unmittelbar in uns erlebten, was Persönlichkeit sei und bedeute.

Aber das charakteristische Moment,

welches uns zur Persönlichkeit macht, die Fähigkeit, erlebte Eindrücke fest­ zuhalten, in demselben Bewußtsein mit einander zu verbinden und mit

gegenwärtigen und in der Zukunft erwarteten Erlebnissen zu der Einheit

unseres Wesens zusammenzuschließen, dieses charakteristische Moment der Persönlichkeit ist bei uns doch nur in sehr unvollkommenem Maße

entwickelt.

Viele Erlebnisse vergessen wir ganz, der übrigen können wir

unS nur in abgestllften KlarheitSgraden entsinnen; selbst der gegenwärtigen

Erlebnisse können wir je nach unserer momentanen Stimmung und Auf­ merksamkeit bald stärker, bald schwächer und immer nur in dem Rahmen

eines engbegrenzten Horizonts uns

bewußt werden; die Consequenzen,

welche auS den erlebten und gegenwärtigen Eindrücken folgen, können wir nur in sehr mangelhafter Weise voraussehen.

Unsere Persönlichkeit ist

daher eine höchst beschränkte und höchst unvollkommene SpecieS deS All­

gemeinbegriffs Persönlichkeit, weil wir das, was in uns vorgeht, nur in sehr mangelhafter und unvollkommener Weise zur Einheit unseres Be­

wußtseins, zu dem eigentlichen einheitlichen Kerne unserer wahren Natur, worin das Wesen unserer Persönlichkeit besteht, zusammenzuschließen ver­

mögen.

Diese Mängel sind aber nur Mängel, die derjenigen Art von

Persönlichkeit anhaften, welche unS zu Theil geworden ist,

Mängel,

welche den Begriff der Persönlichkeit in uns beeinträchtigen, nicht aber constituirende Momente dieses Begriffes.

Die End­

lichkeit und die Unvollkommenheiten des MenfchwefenS beruhen nicht in

dem, was den Begriff der Persönlichkeit im Bkenschen constituirt, sondern

allein in der mangelhaften Entwickelung dieser die Persönlichkeit in unS bedingenden Eigenschaften, welche mangelhafte Entwickelung bewirkt, daß unser Wesen nicht ganz Einheit und Persönlichkeit, sondern zum großen Theil Zerfahrenheit ist, daß der Persönlichkeitsleim in lins nicht

voll zur Reife gelangt.

Eine konsequente Steigerung des Begriffs der

Persönlichkeit hilft jene Mängel und Unvollkommenheiten, welche nur den menschlichen Persönlichkeiten

anhaften, schrittweise beseitigen und die

höchste denkbare Stufe der Entfaltung dessen, was das Wesen der Per­

sönlichkeit ausmacht, führt zu dem Begriffe der vollkommenen Persönlich­ keit, welche von allen jenen Mängeln frei ist und nur Gott eignet.

Ein Blick in das Leben wird sofort die Richtigkeit dieser Behauptung wenigstens für die unteren Stufen des Persönlichkeitsbegriffs bestätigen.

Je mehr es einem Menschen gelingt, alle Vorerlebnisse festzuhalten, je weiter sich seine Erfahrungen ausbreiten und je konsequenter er alle er­

lebten Eindrücke fach- und zweckgemäß mit einander zu verbinden, je fester

er mithin alle Phasen seines Lebens im Bewußtsein zur Einheit seiner Persönlichkeit zusammenzuschließen vermag, um so höher steigert und ent­ wickelt sich in ihm der Begriff der Persönlichkeit, um so mehr wird er

befähigt sein, die menschlichen Schwächen zu meiden,

sein Wollen und

Handeln seiner wahren Bestimmung gemäß einzurichten, um so geschickter wird er sein, alle Nach- und Borgedanken, welche die Bedürfnisse der

Gegenwart erfordern, fehlloS und sicher zu erreichen und bei seinen Ent­ schließungen zu berücksichtigen, um so mehr wird er die Schranken von

Zett und Raum überwinden und daS Vergangene und Zukünftige in eine

concentrirtere, inhaltreichere Auffassung der Gegenwart vereinigen. Ein Blick ferner auf den Gedankenkreis, den wir in unS anregen,

wenn wir uns die Idee Gottes veranschaulichen wollen, wird daS Gesagte auch von oben her ergänzend bestätigen.

DaS Bedürfniß der Erklärung der Wechselwirkungen aller Einzel­ wesen führte zuerst von theoretischer Seite her mit Nothwendigkeit zur

Aufstellung des Begriffs eines höchsten Wesens, welches als der reale Grund

aller Einzelwesen gedacht werden mußte.

Die Wechselwirkung

konnte nur darin bestehen, daß jede Veränderung deS einen Wesens a zu­

gleich als eine Bewegung des ganzen WeltgrundeS gedacht wurde, welche

vermöge der Einheitlichkeit dieses in allen übrigen Momenten dessen FürsichseinS schwächer oder stärker wiederklingend die correspondirende Veränderung in b bewirken mußte.

Diese Annahme hat zur Voraus­

setzung, daß daS höchste Wesen sich nicht nur aller Momente seines Für­ sichseinS, gleichzeitig bewußt, sondern, daß ihm auch alle kausalen und

teleologischen Beziehungen aller gleich offenbar und gegenwärtig seien, denn nur daraus ist erklärlich, daß jedem Grunde seine Folge, jeder Ur­ sache ihre Wirkung in den wechselwirkenden Einzelwesen folge, nur daraus

ist ein kausaler und teleologischer Zusammenhang alles Geschehens über­

haupt erklärlich.

Nur dadurch kann Gott über Zeit und Raum erhaben

gedacht werden, daß er alle Momente deS Geschehens für sich im Ganzen und in allen Einzelwesen in der Einheit seines Bewußtseins zusammen­

schließt, allen gleich nahe und in allen gegenwärtig.

Nur daraus ist seine

Allgegenwart, seine Allmacht, seine Allwissenheit und Allweisheit erklärlich,

nur daraus seine Allgüte und Allliebe, durch welche Prädicate man sich

gewöhnlich das Wesen Gottes zu veranschaulichen sucht, nur daraus die

Einheit deS Weltzwecks und dessen unbedingter Werth.

Also auch von

oben herab kommen alle Anhaltspunkte, welche das Leben und die Wissen­

schaft zur Feststellung des Gottesbegriffs liefern, darin überein, daß nur die Idee vollkommener Persönlichkeit den Anforderungen, welche wir an jenen Begriff stellen, genügen können.

Aber alle die bisher erwähnten Anhaltspunkte zur Feststellung deS Gottesbegriffs bilden in ihrer Gesammtheit doch nur ein dürftiges Ge­

rippe, sie enthalten eine Reihe formaler Anforderungen, welche sich zwar in dem EinheilSgedanken absoluter Persönlichkeit Gottes theoretisch zu­

sammenschließen und zu einem selbständigen Begriffe abrunden, diesem Begriffe fehlt doch

aber

die ganze Hauptsache, der lebendige Inhalt, welcher die Heiligkeit Gottes und den unbe­ noch

dingten Werth deS Weltzwecks begründen soll, vermöge deren

Gott

für

uns

erst zum

Gegenstände

der Verehrung

und

Anbetung

werden kann.

Ich habe schon erwähnt, daß die letzten Inhalte der Begriffe, in

denen sich unser Denken bewegt, nur im Gefühl erlebt werden, nicht aber sich vollständig in Begriffsform übersetzen lassen können.

fühl erst offenbaren sich die Inhalte, die Werthe deS Lebens.

Im Ge­

Das Denken

dient nur dazu, diese Inhalte in daS richtige gegenseitige Verhältniß zu setzen, dieselben zu vergleichen, zu verbinden, und durch diese und alle

sonstigen Denkprocesse die relative Bedeutung jener zu ermessen, und zu den Zwecken unseres Lebens den richtigen Gebrauch von ihnen zu machen.

Die nur erlebbaren Inhalte selbst, alle Momente deS Empfindens, Füh­ lens und Wollens können nur dadurch Gegenstand der Mittheilung werden,

daß wir den Anderen durch Nennung der Namen, mit denen sie bezeichnet werden, auffordern, jene inhaltlichen Momente deS Lebens selbst in sich nachzuerzeugen

oder sich ihrer zu

erinnern und dadurch

werden, waS wir mit jenen Namen meinen.

erst inne zu

So ist eS mit den einfachen

sinnlichen Empfindungen, so mit all den unabsehbar verschiedenen stets für sich specifisch bestimmten Gefühlen, welche in den mannigfaltigsten

Combinationen und Formen, meist verbunden mit sinnlichen Empfindurigen und Bildern, und gleichsam in daS Gewand dieser gehüllt, die wahren

Inhalte aller unserer Begriffe von Dingen und Ereignissen und unserer

wechselnden Beziehungen zu diesen bilden, welche eben durch ihre specifisch

bestimmte inhaltliche Natur all unseren Vorstellungen erst Leben und Farbe

geben.

Stellen wir un- z. B. eine geliebte Person vor und überlegen,

worin unser Interesse an derselben besteht, so ist eS nicht die Begriffs­ form, in der wir sie auffaffen, nicht das System der Linien, in das wir

ihre Gestalt zusammenfassen, waS uns zu derselben hinzieht; eS sind viel­ mehr die mannigfachen Gefühle der Werthschätzung und Theilnahme, welche

ihr eigenartig specifisches Leben in uns erweckt, daS wir unter der Hülle

jener Begriffsform und Gestalt voraussetzen.

Es ist das eigenartig spe­

cifische Leben, welches alle einzelnen Merkmale des Begriffs Mensch grade in diesem Individuum auf besondere Art bestimmt und in den Linien

seiner äußeren Gestalt nur wiedererscheint, welche- alle Lebensmomente grade dieses Individuums, all sein Fühlen, Wollen und Denken, die Art

seines Benehmens nach

allen Richtungen hin charakteristisch bestimmt.

Die Totalität dieser Gefühle, unzertrennbar freilich verknüpft mit

den Formen der Begriffe und Vorstellungen, welche daS Bild jener Person constiluiren und gehüllt in daS Gewand der sinnlichen Empfindungen, in

denen jenes Bild uns äußerlich erscheint, ist der lebendige Inhalt dessen, was die Erscheinung jener Person belebt, wenn sie uns begegnet, was

den wahren, nur erlebbaren Inhalt ihrer Vorstellung bildet, wenn wir sie unS in der Erinnerung vergegenwärtigen. So verhält sichS nicht nur mit den Personen, mit denen wir ver­

kehren, sondern mit allen Dingen, welche unS umgeben und daS Bild einer uns umgebenden Außenwelt zusammensetzen, so mit allen BegriffS-

complexen, in welche wir jene Dinge und die Ereignisse des Lebens zu­

sammenfassen, so auch mit unserer Auffassung des Weltganzen, des Welt-

zweckS, so endlich mit unserer Idee des höchsten Wesens. Der Begriff dieses höchsten Wesens

würde leer und in­

haltlos bleiben wie die Begriffsform und Gestalt eines uns

gleichgültigen fremden Menschen, wenn wir nicht den Inhalt

dessen, waS wir in ihm vorstellen, bestimmte Art erleben könnten.

im Gefühl auf specifisch

In der That ist dieser Inhalt und

solches Gefühl mehr oder weniger ausgeprägt in jeder Menschenbrust vor­

handen; eS ist vorhanden nicht nur gleichwerthig neben den sonstigen Gefühlen und Empfindungen, welche unseren Gesichtskreis füllen, sondern

eS überstrahlt alle anderen, eS ist die wahre Lebenssonne, welche

allen anderen Inhalten unseres Gesichtskreises erst Licht, Leben und Farbe giebt; eS ist der concentrirteste Inhalt unseres Lebens, der wahre JnhaltS-

stamm, aus dem alle anderen Lebensinhalte hervorwachsen, von dem sie gewissermaßen ihre Jnhaltlichkeit zu Lehen tragen. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 6.

41

Um den specifischen Charakter dieses Gefühls, oder vielmehr dieses

ComplexeS von Gefühlen, welcher den Begriff des höchsten Wesens in uns erst belebt und

zu der Idee deS lebendigen Gottes steigert,

näher zu bestimmen, knüpfe ich an die Aufschlüsse an, welche uns die Ver­ deutlichung des wahren Wesens der verantwortlichen Freiheit offenbarte. Wir fanden, daß die unbedingt verpflichtende Kraft der Gebote des

Gewissens in letzter Instanz nur in dem unbedingten Werthe des durch

die Erreichung unserer sittlichen Bestimmung zu fördernden Endziels des gesammten Weltprocesses beruhen könne.

Ueberlegen wir nun, wie eS

möglich fei, daß jenes uns scheinbar so fernliegende Endziel von uns

überhaupt als Werth, wie es möglich sei, daß dieser Werth uns sogar als unbedingter, absoluter Werth gefühlt werden könne?

Suchen wir

uns den specifischen Inhalt dessen zn verdeutlichen, was wir als Unbe­ dingtheit jenes Werthes eigentlich in uns fühlen und erleben?

Indem

wir diese Frage erwägen und uns das soeben Gesagte vergegenwärtigen, werden wir inne, daß

jene früher zusammengestellten BorauSsetzlingen

der verantwortlichen Freiheit in der That noch weiter nichts als blos

formale Anforderungen dessen zum Ausdruck gebracht haben, was das Gefühl deS Soll in uns begründet.

Wir forderten die Voraussetzung

eine- unbedingten Werthes, ohne anzugeben, worin er bestehe, ohne den

Inhalt dessen anders als nur andeutungsweise zu bezeichnen, was wir eigentlich damit meinten.

Jetzt erst, riachdem wir eine bestimmte Vor­

stellung darüber gewonnen haben, wie und wo überhaupt ein letzter End­

zweck deS Weltprocesses existent werden könne; jetzt erst, nachdem wir ein­ gesehen haben, wie ein solcher Endzweck nur in einem lebendigen persön­ lichen Wesen existent werden könne,

welches den realen Grund aller

Weltwirklichkeit ausmacht, jetzt erst fällt ein Helles Licht in jenen VorstellungSkreiS, der bis dahin nur unklar ausdrückte, was wir nichts beste«

weniger deutlich empfanden.

Wahrhafte Theilnahme können wir nur für das empfinden, was in lebendigen Wesen vor sich geht und von unS als bedeutungsvoll, erhaben und heilig im Gefühl erlebt wird, nicht für die Herstellung irgend welcher

blos factischer Thatbestände von blos formaler Geltung und Bedeutung. Dadurch, daß wir genöthigt wurden, das höchste Wesen, welches den End­ zweck deS WeltprvcesseS setzt, alö lebendiges persönliches Wesen zu be­

greifen, wird eS Licht in unserem Innern.

Ein anderes Gefühl, welches

längst in unS lebendig und wirksam war, kommt uns nun mit einem

Schlage als der noch fehlende Schlußstein unserer ganzen Ansicht ins

Bewußtsein.

Wir erinnern uns des religiösen Gefühls, welches noch

über dem sittlichen Gefühl steht und die Quelle dieses ist, welches dem

bis dahin unklaren und unbestimmten Gefühle deS Soll nun mit einem

Mal feste Richtung, festen Inhalt, Leben und Wärme giebt.

ligiösen Gefühl

Im re­

erleben wir den wahren vollen Inhalt dessen,

waS wir mit der Idee des höchsten Wesens meinen, durch das religiöse Gefühl erst verklärt sich der Begriff eines höchsten Wesens zur Idee des lebendigen Gottes. Wir erleben im reli­ giösen Gefühl, wenn auch nur ahnungsvoll und unbestimmt, so doch in

gewaltiger, erhabener, unser Innerstes mit heiligem Schauer durchdrin­ gender Tiefe das wahre Wesen des Höchsten, den Inhalt und die Be­ deutung des Göttlichen.

Wenn auch das Jnnewerden dieses Höchsten uns

blendet wie der Anblick der Sonne, so erfahren wir doch in unsagbarer Seligkeit die belebende und erneuernde Kraft dieses Urquells alles Lichts

und alles Lebens.

Die theoretischen Begriffsradien, welche sich concentrisch

in den aufgestellten Sätzen zum Jnnewerden dieses höchsten Lebensinhaltes vereinigen, beleben sich nun rückwärts durch das nur im Gefühl religiöser

Begeisterung sich vollendende Bewußtwerden jenes Inhalts; es wird Licht in allen Sphären unseres Daseins, der Eigenwerth aller Dinge und Er­

eignisse tritt leuchtend hervor in dem Maße, als er durch das Verständniß des Zusammenhangs dieser mit jenem Endzweck alles Lebens erhellt und aufgeklärt wird.

Jetzt erst verstehen wir das Leben, Zweck und Dasein

der Welt, den unendlichen Werth unserer sittlichen Bestimmung, durch

welche wir zu dem Endzweck des Ganzen mitzuwirken bestimmt und ge­ würdigt sind. Erlebten wir im Gewissen, daß wir moralische Wesen seien, so erleben wir nun im religiösen Gefühl, daß wir göttlichen Wesens sind.

Offenbarte uns das Gewissen die Hoheit deS Sittengesetzes, so lehrt unS das religiöse Gefühl den tieferen wahren Grund jener Hoheit erkennen,

indem es unS die Heiligkeit und Erhabenheit Gottes zum Bewußtsein bringt.

ES offenbart uns, daß wir Gott und dem Ganzen der Welt

nicht kalt und theilnahmlos gegenüberstehen, sondern daß wir in unend­ licher Liebe mit ihm verbunden sind, der unser ganzes Wesen und das­

jenige aller Weltwesen bedingt.

Wir verstehen dies in um so höherem

Maße, je mehr wir unser wahres Dienschwesen erkennen; je edler und

vollendeter wir unser Leben gestalten, um so voller und tiefer durchklingt unS daS religiöse Gefühl, der heilige Born aller Sittlichkeit und Hu­

manität, aller wahren Werthe deS Lebens.

Es offenbart uns, daß

der Inhalt deS Weltzwecks die Liebe ist, und daß alle übrigen

Werthe nur diesem göttlichen Urquell alles Lebens entspringen

können, denn nur die Liebe kann als das Gute an sich betrachtet werden.

„Die Liebe indem sie Wirklichkeit hat alS eine Bewegung deS

41*

ganzen lebendigen Geistes, welche sich selbst weiß, sich fühlt und sich will, ist eben deswegen nicht nur eine formale allgemeine Bedingung, unter der irgend einem Anderen, das sie erfüllte, zukäme gut zu sein, ohne daß

sie cS selbst wäre; sondern sie ist das Einzige, das im eigentlichen Sinne diesen Werth hat. oder dieser Werth ist, und alles Andere, Entschlüsse, Gesinnungen, Handlungen und besondere Richtungen des Willens, alles

dies trägt nur abgeleiteter Weise mit ihr denselben Namen des Guten.

Wir, die endlichen Wesen, in einer Welt befaßt, deren Plan unserer Ein­ sicht nicht offen liegt, können die wohlwollende Liebe nicht unmittelbar in der Hoffnung wirken lassen, daß jede Richtung, die unsere mangelhafte

Voraussicht ihr gäbe, zu dem Gute führen werde, daö sie erstrebt; unS

hält unser Gewissen in einer Mehrheit sittlicher Gebote die allgemeinen

Gesetze vor, nach denen geleitet unser Handeln unter den verschiedenartigen Veranlassungen, die ihm gegeben werden, des rechten Weges sicher ist:

dem göttlichen Wesen steht nicht in gleicher Weise ein an sich Gutes als

ein auch ihm geltendes Gebot gegenüber.

Keinerlei wesenlose, unwirkliche

und dennoch an sich ewig giltige Nothwendigkeit, weder ein Reich der Wahrheiten, noch ein Reich der Werthe, ist früher als das erste Wirk­

liche, sondern das Wirkliche, welches die lebendige Liebe ist, entfaltet sich in eine Bewegung, die dem endlichen Erkennen sich in die drei Seiten­ kräfte des Guten, welches ihr Ziel ist, des Gestaltungstriebes, der eS

verwirklicht, und der Gesetzlichkeit zerlegt, mit welcher dieser die Richtung nach seinem Zwecke innehält*)."

Blicken wir noch einmal auf das Gesägte zurück, so begreifen wir jetzt erst in vollem Umfange, was es heißt: frei zu sein, d. h. mit dem

Gefühle der sittlichen Verantwortung sich nach inneren Motiven zum Wollen bestimmen zu können.

Die wissenschaftliche Analyse dessen, waS

in und mit der Thatsache der menschlichen Freiheit unmittelbar gegeben ist, hat unS darüber aufgeklärt, daß wir es hier in der That mit einer

Grundthatsache alle- Lebens und Erkennens zu thun haben, welche ihre

Wurzeln tief in den Boden deS Allerheiligsten der gesammten Welt­ wirklichkeit hinabsenkt, mit einer Thatsache, in welcher die Grundlinien unserer sittlich-religiösen Weltansicht fest und

sicher vorgezeichnet

sind.

Wir haben gesehen, daß Freiheit so, wie sie in uns wirklich ist, nur dadurch in uns wirklich sei, daß der ganze Weltproceß auf ein einheitliches Ziel von unbedingtem Werthe gerichtet

ist, und daß wir selbst zur Mitwirkung an diesem Ziele be­ rufensind, daß ein lebendiger persönlicher Gott, dessen Wesen

*) Lotze: Mikrokosmus Bd. III S- 608.

die Liebe ist, der Grund aller Weltwirklichkeit und also auch unseres eigenen Lebens ist und daß ein aus dem Grunde des

Merheiligsten aller Weltwirklichkeit entspringendes Lebensintereffe von unbedingtem Werthe die normgebeitde höchste treibende Kraft unseres Wesens ist, denn nur daraus kann der characteristische Grund­ zug unseres freien Wollens, das Gefühl der Verantwortlichkeit,

erklärt

werden.

Die wissenschaftliche Analyse zerstörte nicht, sondern bestätigte und befestigte nur in allen wesentlichen Punkten jene auf dem Boden deS

practischen Lebens und der Geschichtsbetrachtung erwachsene Ansicht, welche daS Vorhandensein der menschlichen Freiheit von jeher als unabweiSliche

Forderung der Humanität hinstellt.

Anstatt das wahre Wesen der Frei­

heit zu alteriren, führte sie unS erst zum vollen Verständnisse desselben und überzeugte unS zugleich, daß in der Thatsache der menschlichen Frei­ heit eine sichere Bürgschaft für die Realität der höchsten Güter deö Lebens, tine Bürgschaft für die Wahrheit derjenigen Vor­

aussetzungen gegeben sei,

welche die sittliche und religiöse

Grundlage unseres Lebens bilden.

Im Wollen besteht die active progressive Seite unseres Lebens, im freien Wollen tritt unser wahres

specifisches autonomes Menschwesen

hervor, in ihm entwickelt sich unser Leben, schreitet eS vorwärts, greift eS

selbstthätig ein in den Lauf der Ereignisse, auf ihm beruhen alle positiven

Werthe des Lebens, alle Moral, alles Recht, alle Religion, weil alle durch die freie Selbstentwickelung des Individuums, durch die

selbständige, verantwortliche Lebensführung bedingt sind. Wären wir in all unserem Handeln determinirt, so wären wir nicht Merischen, sondern Automaten.

Wir wären dann nur passive Zuschauer

eines Lebens, welches in uns und nicht von unS gelebt würde — oder

vielmehr, nicht eines Lebens, sondern eines blinden mechanischen Processes. Unerklärt blieben das Gewissen, die Reue, alle Gefühle der Befriedigung,

Hoffnung und Sorge, welche durch den activen Lebensproceß deS verant­ wortlichen Wollens bedingt sind.

Alle Religion, alle Moral, alles Recht

würden zu bloßen Namen ohne Inhalt, denn eS ist vergeblich, diese Grund­ pfeiler aller menschlichen Ordnung auf ein anderes Fundament zu stellen als auf die menschliche Freiheit. (Fortsetzung folgt.)

Hugo Sommer.

R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807-1815. (Schluß.) Am 8. Januar fand die Antrittsaudienz bei Napoleon statt.

„Im

Allgemeinen hat mich der Kaiser" — schreibt der Prinz Tags darauf an

seinen königlichen Bruder — „mit Güte ausgenommen und mir im Laufe der Unterredung mehr als ein Zeichen seiner persönlichen Gunst gegeben." Von einer mehr als höflichen Aufnahme konnte freilich keine Rede sein.

Für die patriotische Begeisterung, mit der der lebhaft erregte preußische

Prinz die Leiden seines Vaterlandes schilderte und Napoleon beschwor denselben ein Ende zu machen, hatte der

ein Verständniß.

letztere kein Mitgefühl, kaum

Und als der Prinz schließlich, in einem letzten Versuch

an die Großmuth des Kaisers appellircnd, sich selbst als Geißel für die getreue Erfüllung der von seinem Lande übernommenen Pflichten anbot,

schien allerdings Napoleon einen Augenblick von so viel Heroismus be­

troffen, an dem endlichen Resultat der Unterredung wurde dadurch nichts

geändert.

Die Mission, an welche

Friedrich Wilhelm III.

und

seine

Räthe so große Erwartungen geknüpft hatten, konnte als gescheitert be­ trachtet werden.

Denn die Verweisung des Prinzen an den Minister des

Aeußern Champagny war völlig nichtssagend, da dieser nur wieder an

Daru in Berlin als

den eigentlichen Bevollmächtigten und Vertrallten

Napoleons in der Kriegsentschädigungs-Angelegenheit verwies.

Weitere

Audienz bei Napoleon zu

erlangen,

Versuche des Prinzen, eine neue blieben erfolglos.

Nur daS eine glaubte Prinz Wilhelm aus all den

halben Andeutungen und versteckten Winkelzügen der französischen Mi­ nister entnehmen zu dürfen, daß nämlich dem Verhalten Napoleons Preußen

gegenüber eine ganz bestimmte Absicht zu Grunde lag und zwar die be­

reits

oben erwähnte Rücksichtnahme auf die von Rußland der Türkei

gegenüber befolgte Politik, namentlich soweit dabei die dauernde Besetzt­ haltung der Donaufürstenthümer in Frage kam.

Es war deutlich: Na-

poleon wollte sich Preußens, wenigstens eines Theils desselben als ComprnsationsmittelS bedienen, falls Rußland seine orientalische Politik eigen­

mächtig durchkreuzen wollte.

Noch ein anderer Umstand trat hinzu, ihn

in seinem Hasse gegen Preußen zu bestärken: die Sympathie, welche sein

Todfeind England der unglücklichen Lage des preußischen StaateS in zahl­ reichen Aeußerungen der Presse entgegentrug,

obschon der letztere die

diplomatischen Beziehungen mit dem Jnselreich vollständig abgebrochen

hatte.

Gerade an dem Tage, an dem Prinz Wilhelms erste Audienz in

den Tuilerien statthatte, war in dem Journal de l’Empire die Uebersetzung der Declaration erschienen, die das Cabinet von S. JameS, unter Bezeugung tiefer Sympathie für daS von Rußland aufgeopferte Preußen,

als Antwort auf die russische Kriegserklärung veröffentlicht hatte.

In

zornigen Worten machte Napoleon gegenüber dem Prinzen seinen Haß

gegen England, seinem Mißtrauen gegen Preußen Luft.

„Er werde sich

nie auf Preußen verlassen können, er wisse sehr gut, daß alle Preußen

ihn haßten; allenthalben breche diese Empfindung durch, jedekl Tag er­ halte er davon neue Beweise aus aufgefangenen Briefen.

Eine Regie­

rung, die nicht einmal Herr der öffentlichen Meinung zu werden und sich

im eigenen Staate nicht Gehorsam zu verschaffen wisse, könne ihm nie­ mals Zutrauen einflößen: immer werde er gezwungen sein, gegen Preußen

unter den Waffen zu stehen und eine hinreichende Truppenmacht in der

Nähe von Berlin in Bereitschaft zu halten." wieS

Mit ähnlichen Argumenten

er auch das Bündniß Preußens zurück:

die Allianz

mit einem

schwachen Staate sei ohne Nutzen für ihn.

Die hinhaltende Politik Napoleons äußerte sich namentlich auch in

der Frage der militärischen Räumung der preußischen Provinzen.

Am

7. Dezember war endlich die letzte der Elbinger Conventionen unterzeichnet worden, ber Vertrag wegen der Grenzen des neuen Freistaats Danzig. Auch hier ließen eS Napoleon und seine Creaturen natürlich nicht an Akten

der brutalsten Gewaltthätigkeit fehlen.

Schon früher hatte es Soult

durchzusetzen gewußt, daß das Wort Heu nicht in französischem, sondern

in deutschem Sinne gefaßt und für den französischen Schutzstaat dadurch

ein doppelt so großes Territorium, worden war, gewonnen wurde.

als im Tilsiter Frieden festgesetzt

Jetzt wurde diese Grenzlinie noch einmal

um ein bedeutendes dadurch weiter hinausgeschoben, daß nicht die Enceinte,

wie dies der Frtedensvertrag wollte, sondern die Außenwerke als Aus­

gangspunkt der Berechnung angenommen wurden.

Die Räumung des

rechten Weichselufers machte Soult von der sofortigen Zustimmung Preu­

ßens zu diesem neuen Gewaltakt abhängig, ja — setzte er drohend hinzu

— er toejbe bte Leiben Preußens wie einen Schneeball anwachsen laffen.

R. Hassel, Geschichte der preußische» Politik 1807—1815.

572

wenn ihm der König nicht rasch zu Willen handele. nach.

Und der König gab

Trotzdem aber blieben noch mehrere französische Regimenter auf

dem rechten Weichselufer zurück.

Doch wurde die Räumung Ostpreußens

jetzt wenigstens soweit bewerkstelligt, daß der König seine Residenz Mitte Januar von Memel nach Königsberg verlegen konnte.

Im Uebrigen stockten die Verhandlungen mit Frankreich.

Napoleon

wollte erst einmal abwarten, welchen Eindruck sein neuester Plan eines Eintausches Schlesiens gegen die Ueberlassung der Donaufürstenthümer an Rußland auf Alexander machen würde.

Er hatte die bezüglichen Eröff­

nungen bereits in Paris gegen den neuernannten russischen Gesandten

Tolstoi gemacht;

jetzt

ließ er sie durch seinen Botschafter Savary in

Petersburg wiederholen.

Wie vorauszusehen war, lehnte Alexander das

Angebot weit ab; mit einer Art von sittlichen Entrüstung, die seine ohne­

dies sympathische Persönlichkeit gut kleidete, erklärte er dem französischen Gesandten, daß er lieber die türkischen Provinzen niemals besitzen wolle, als daß er dulde, daß dem preußischen Staate auch nur ein Dorf ent­

rissen werde.

In doppelter Beziehung wird man berechtigt sein, dieser

Aeußerung Alexanders keinen allzu großen Werth beizulegen.

Einmal

dachte er nicht an eine Aufgabe seines Plans einer Erwerbung der Donau­

fürstenthümer, ja dieser Gedanke ist einer der wenigen festen Punkte in der unruh- und wechselvollen Politik dieses Fürsten, der hauptsächlichste Kitt gewesen, der ihn an Napoleon festhielt;

andererseits lag der Ab­

lehnung einer neuen Beraubung Preußens weit weniger ein wirkliches

Mitgefühl für die unglückliche Lage des ehemaligen Bundesgenossen, als vielmehr die sehr reelle Befürchtung vor

einer dadurch herbeigeführten

nächsten Nachbarschaft mit dem gefährlichen Gegner zu Grunde.

Schon

die Errichtung eines selbständigen HerzogthumS Warschau hatte Alexander

mit tiefem Unbehagen erfüllt: denn dachte Napoleon dabei auch nicht an eine politische Restauration des alten Polenreichs — wie alle Menschen

und Völker, die jemals ein Gegenstand seines CalculS gewesen sind, war

ihm auch Polen und die phantastisch-leidenschaftlichen Bestrebungen seiner Führer lediglich eine Rechnungsziffer in seinen gigantischen Weltumstür­

zungstheorien, ein Werkzeug, daS man bei Seite warf, wenn man seiner nicht mehr bedurfte — so lag doch die Gefahr nahe, daß dieser künstlich geschaffene Popanz eines Staatswesens aus sich selbst heraus die Mittel

fand, sich zu einer festeren und dadurch Rußland jedenfalls gefährlichen Gestaltung fortzubilden.

Und wenn nun gar dieses Herzogthum Warschau

durch Zulegung Schlesiens noch einen weiteren Zuwachs nach Westen er­

hielt, so lag darin nicht blos eine unmittelbare Bedrohung des russischen Ostreichs, das ja nur dadurch groß geworden ist, daß es ihm gelang,

Polen nach und nach von seiner alten Höhe herabzustoßen und schließlich

zu vernichten, sondern auch eine weitere Stärkung des französischen Ein­ flusses in den Angelegenheiten des Ostens, deren Leitung Rußland eifer­

süchtig zu wahren bemüht war.

„Davoust in Warschau und Schlesien

sind zu starke Bedrohungen für Rußland", hat Alexander später einmal dem französischen Gesandten gesagt.

So hatte Rußland allerdings ein

starkes Interesse daran, daß die Stipulationen deS Tilsiter Friedens auch Preußen gegenüber endlich einmal ihre Verwirklichung fanden, nur daß

dieses Interesse weit weniger von einem Mitgefühl für den unglücklichen

Nachbarstaat, wie Alexander gerne die Welt glauben machen wollte, als vielmehr von der Rücksichtnahme auf die eigene Selbsterhaltung dictirt

Gerade deshalb, weil Alexander bei seinen JnterventionSversuchen

wurde.

für seinen früheren Verbündeten egoistische Nebenzwecke verfolgte, lag die Gefahr eines Scheiterns derselben näher, als wenn er sie mit derselben vertrauensvollen Offenheit und Uneigennützigkeit, die Friedrich Wilhelm III.

ihm stets entgegentrug, betrieben hätte; indem er den Freund an die Fort­ dauer seines guten Einvernehmens mit Napoleon, ihrer

Interessen glauben ließ, hat

er dem

an die Solidarität

preußischen Staate einen

schweren Schaden beigefügt: die Politik desselben gegenüber dem französi­ schen Machthaber würde eine völlig andere gewesen sein, wenn seinen Staatsmännern die wahre Stimmung des Petersburger Hofs gegen Na­

poleon bekannt gewesen wäre.

Inzwischen war der Stand der Verhandlungen zwischen Daru und der Friedenscommission dadurch ein noch verwickelterer geworden, daß gleichzeitig mit den Kriegsentschädigungsansprüchen Frankreichs auch die

verschiedenartigsten Forderungen anderer Dritter an die preußische Staats­ kasse von Daru gleichsam unter die Fittiche deö französischen Adlers ge­

nommen und wie die eigenen Forderungen behandelt wurden.

Napoleon

hatte durch Daru in Berlin erklären lassen, daß seine Truppen nicht eher

das preußische Staatsgebiet räumen würden, als bis, außer den eigenen Forderungen, auch diejenigen der dermaligen Landesherren in den Preußen

entrissenen Gebietstheilen und ihrer Unterthanen ihre Befriedigung ge­ funden hätten.

ES waren die fränkischen Fürstenthümer, die zu dem

Königreich Westfalen geschlagenen Gebiete jenseits der Elbe und vor allem

die Landestheile polnischer Nationalität, die jetzt das Herzogthum Warschau bildeten,

auf welche die Reclamationen des Intendanten sich

bezogen.

Friedrich Wilhelm III. hatte aus letchtbegreiflichen Gründen eine getrennte Behandlung dieser beiden Kategorien von Forderungen gewünscht, aber nur die fränkischen Fürstenthümer hatten noch so viel alte Anhänglichkeit bewahrt, daß sie in eine direkte Verhandlung mit der preußischen Re-

574

R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.

gierung eintraten; alle übrigen hatten ihre Ansprüche unter französischen

Schutz und Vermittlung gestellt.

Allen voran die Polen.

Es ist kaum

zu glauben, welche Rechtstitel, Ansprüche und Vorwände jetzt hervorge­

sucht wurden, um dem ohnedies schon völlig erschöpften Staatssäckel die Daumschrauben aufzusetzen.

Da kamen z. B. die Theilnehmer des Auf­

standes von 1794 und verlangten von ihrem früheren Souverain die Wiederherausgabe nicht nur ihrer confiscinen Güter, sondern auch der

durch richterlichen Spruch verwirkten Strafgelder.

Da verlangten die

polnischen Grundbesitzer die theilweise Wiedervergütung der von ihnen gezahlten Steuern, indem sie bchaupreten, daß ihnen die preußische Re­

gierung bei der Besitzergreifung Südprcußens 1793 und 1-795 die Nicht­ erhöhung der altpolnischen Ofiara feierlich gewährleistet habe, während

in Wirklichkeit ein solches Versprechen nicht bei der Besitzergreifung, son­ dern erst später und nur mit dem Vorbehalt gegeben worden war, daß zuvor eine Regulirung der Ofiara nach stattgehabter Aufstellung eines

neuen Katasters vorgenommen worden sei, da jene ein Hohn auf jede billige Ausgleichung der Steuerlast sei.

Jetzt stellte Daru Namens seiner

polnischen Committenten die ungeheure Forderung, daß Preußen denjenigen Steuerbetrag, der sich aus der Differenz der Ofiara und des preußischen

Katasters ergab, herausgeben solle.

Die sächsische Regierung in Warschau

reclamirte die beim Ausbruch des Krieges von 1806 in den öffentlichen

Kassen deS jetzigen Herzogthums Warschau befindlich gewesenen Bestände, die städtischen und ländlichen Communen forderten Ersatz für die von der

preußischen Regierung während des Krieges

ausgeschriebenen Natural­

lieferungen; selbst für die Requisitionen deS russischen HeereS, von denen ein Theil unbezahlt geblieben war, verlangten sie nachträglich Schadlos­ haltung von Preußen.

Mehr als hundert Millionen wurden auf diese

Weise allein auS Polen von Daru der preußischen Schuld zur Last ge­ schrieben.

Nach den preußischen Forderungen an die im Tilsiter Frieden

abgetretenen Gebietstheile fragte Niemand.

Die preußische Bank, die

Seehandlung, die allgemeine Wittwenkasse, das Potsdamer Waisenhaus und zahlreiche andere weltliche und geistliche Institute,

die theils vom

Staate ressortirten, theils selbständige Korporationen waren, hatten vielfach Capitalien ans den polnischen Gütern hypothekarisch eingetragen, und wir werden sehen, wie Napoleon späterhin, ohne nur einen Augenblick darüber Gewiffenöscrupel zu

hegen,

mit einem

Federstrich diese Forderungen

wenigstens für die berechtigten Inhaber aus der Welt schaffte und dadurch zahllose Existenzen vernichtete oder an den Bettelstab brachte.

Und gerade jetzt mußte ein von Canning dem neuzusammengetretenen

Parlament vorgelegtes Exposs über die auswärtige Politik, in dem Preußens

mit warmer Sympathie gedacht ward, neues Oel in das Feuer des Hasses gießen, den der Imperator gegen den preußischen Staat hegte.

Preußen

sollte — so drohte Napoleon in einer im Moniteur abgedruckten Antwort — die ihm von seinem Todfeinde

entgegengebrachte Theilnahme und

Hochachtung schmerzlich büßen.

Und dem Erbprinzen von Mecklenburg-

Strelitz sagte er tiefergrimmt:

„wie kann ich mich auf das preußische

Gouvernement verlassen, nach allem, waö ich gesehen habe! seinen Sitz wieder in Berlin nimmt,

Wenn eS

wird eS Intriguen gegen mich

spinnen, seine Häfen werden den Engländern geöffnet werden, und ich kann nicht immer eine Armee dagegen in Bereitschaft halten."

ES war

in jenen Tagen, wo er zum ersten Male von einer Reduction der Armee

sprach, die er dem König auferlegen werde:

denn solange Preußen eine

starke Truppenmacht unter den Waffen habe, werde immer die Neigung

zum Kriege gegen Frankreich vorhanden sein. Gegenüber einer solchen Sachlage ließ eS sich Prinz Wilhelm aufs eifrigste angelegen sein,

langen.

eine nochmalige Audienz bei Napoleon zu er­

Der Kaiser hatte nach dem resultatlosen Verlauf der

ersten

Audienz eS geflissentlich vermieden, mit dem Prinzen persönlich zusammen­ zutreffen,

obschon er ihn sonst mit ausgezeichneter Aufmerksamkeit be­

handelte.

Nicht nur zu den großen Hoffestlichkeiten, sondern auch zu den

kleinern Gesellschaften, unter denen namentlich die Soireen bei der Königin Hortense und der Großherzogin von Berg die Elite der Pariser vor­

nehmen Welt vereinigten, hatte er Einladungen erhalten, allerdings mit

dem Vorbehalt, daß er unaufgefordert sich jedes politischen Gesprächs zu enthalten habe.

Seine ernste, gemessene Haltung, der schwermüthige Aus­

druck, der sein jugendlich schönes Antlitz überschattete, trugen ihm in den

Gesellschaftskreisen der französischen Hauptstadt allenthalben die lebhaftesten Sympathien ein.

das ihm

Jetzt ertrug seine Vaterlandsliebe nicht länger mehr

auferlegte Schweigen.

Aus der Heimath waren Nachrichten

neuer arger Bedrückungen seitens der französischen OccupationStruppen

angelangt.

Ganze Wälder waren für die französische Marine devastirt,

der Pferdestand auf den ländlichen Gütern durch zwangsweise Aushebung der Remontepferde für die französische Cavallerie furchtbar herabgebracht worden.

Endlich, am 23. Februar, glückte eS dem Prinzen, eine zweite

Audienz bei Napoleon zu erlangen.

Ganz im Gegensatz zu seiner bei

der ersten Audienz beobachteten Reserve erging sich Napoleon diesmal über seine Pläne und Absichten Preußen gegenüber.

„Die Erledigung Eurer

Angelegenheiten" — äußerte er sich auf die lebhaften Klagen des Prinzen über die trostlose Lage seines Vaterlandes — „hat ihren Platz unter den

großen Combinationen der allgemeinen Politik, die sich demnächst entfalten

R Hassel, Geschichte der preußische» Politik 1807—1815.

576 werden.

ES handelt sich nicht um eine Geldfrage, sondern um eine Frage

so

der Politik; und

beruht die Schwierigkeit auch nicht auf

Millionen mehr oder weniger.

einigen

Ich will meine Versprechungen erfüllen,

daß auch die Anderen die ihrigen erfüllen.

— da ist es billig,

Der

Tilsiter Friedensvertrag mit Preußen ist abhängig von dem Vertrage, der mit Rußland unterzeichnet wurde.

Die Russen aber fahren

fort, die

Moldau und Wallachei besetzt zu halten; ihr Friede mit den Türken ist

Hiervon sowie von der Gestaltung der allgemeinen

noch nicht geschlossen.

Die einzige Con­

Angelegenheiten hängt die Räumung Preußens ab."

cession, die Napoleon machen wollte, bestand in der Erklärung, er werde seine Truppen aus den preußischen Landen zurückziehen,

Alexander seinen

Verzicht

sobald Kaiser

auf die Donaufürstenthümer ausspreche



woran freilich bei den bekannten Gesinnungen desselben nicht zu denken war.

Am Hofe zu Königsberg einer optimistischeren Auffassung

gab

man sich trotz alledem noch immer

der Dinge hin.

Namentlich war es

Stein, der merkwürdig genug von dem Aufenthalt des Prinzen Wilhelm in Paris das Beste erwartete und daher nicht müde wurde, den möglichst

engen Anschluß

an Frankreich

künftige bessere

Gestaltung

als den einzig richtigen Weg für eine

der Verhältnisse anzupreisen.

Die ganze

Staatsverwaltung sollte nach seiner Meinung nach französischem Muster umgestaltet werden, um dadurch auch äußerlich das freundschaftliche Ein­ vernehmen mit dem westlichen Kaiserstaate anzudeuten.

Als solche noth­

wendigen Reformen benennt er die Bildung eines Staatsraths neben den

Ministern, für die Provinzen Departementalräthe und Umgestaltung der alten Landstände,

Monarchie.

endlich

eine Repräsentativverfassung

für die ganze

Um die gute Meinung des Imperators auch durch persön­

liche Aufmerksamkeiten zu gewinnen, schlägt er dem Könige vor, bei der bevorstehenden Entbindung der Königin dem Kaiser oder der Kaiserin die

Pathenstelle anzutragen.

Hier aber stieß er auf deu hartnäckigen Wider­

spruch Friedrich Wilhelms III.

Wie dieser Fürst überhaupt mit seltener

Zähigkeit an den traditionellen Anschauungen der alten Zeit mit ihrer Auffassung von den Begriffen deS Rechts und der guten Sitte festhielt, so war er namentlich niemals auch nur zu der leisesten Nachgiebigkeit in

dem zu bewegen, was er unter fürstlicher Würde verstand.

Angesichts des Stillstands, der in den Verhandlungen zwischen Daru

und der Berliner Friedenßcommission herrschte, rieth Sack — und es ist dies gewiß ein glänzendes Zeugniß für seine opferbereite, uneigennützige

Vaterlandsliebe



Berlin zu entsenden.

zur Weiterführung der Unterhandlung Stein nach Der gleiche Patriotismus ließ den letzteren ohne

langes Schwanken sich einer der dornenvollsten und schwierigsten Aufgaben

unterziehen, die jemals den Fähigkeiten und dem Charakter eines Staats­ mannes gestellt worden sind.

Eine Schreckensnachricht aus Petersburg

brachte noch jede etwa vorhandene Bedenklichkeit zum Schweigen.

Durch

irgend eine Indiskretion war der von französischer Seite trotz der energi­

schen Abweisung durch Kaiser Alexander noch immer in Vorschlag gebrachte Plan einer Erwerbung Schlesiens gegen die Ueberlieferung der Donau­

fürstenthümer an Rußland zur Kenntniß des preußischen Gesandten Grafen Lehndorf gelangt, der natürlich nicht säumte, seinem königlichen Herrn

unverzüglich weitere Mittheilung zu machen.

So rasch wie möglich mußte

man jetzt in Berlin zum Abschluß zu gelangen suchen, man mußte na­

mentlich dort sondiren, was Napoleon im Schilde führe.

Stein die geeignetste Persönlichkeit.

Und dazu war

Mit den weitreichendsten Vollmachten

versehen — der König hatte sich verpflichtet, allen Abmachungen seines

Ministers, beträfen dieselben die Kriegscontribution oder irgend welche andere streitigen Punkte, ohne alle und jede Beanstandung die königliche

Sanction zu ertheilen

— reiste Stein am 29. Februar aus Königs­

berg ab. Schon am 9. März wurde von Stein und Daru ein Vertragsent­ wurf unterzeichnet.

Derselbe enthielt im Wesentlichen die preußischen Vor­

schläge vom 2. Dezember 1807.

Die Gesammtschuld wird auf 101 Mill,

festgesetzt, abzüglich der seit dem 12. Juli zurückbehaltenen Revenüen und

der auf Abschlag geleisteten Zahlungen oder Naturallieferungen, und sollte mit Baargeld, Wechsel und Pfandbriefe bezahlt werden.

Bis zur Ein­

lösung der Pfandbriefe bleiben die Festungen Stettin, Cüstrin und Glogau

im Besitz der französischen Armee, doch wird die Stärke der OccupationS-

truppen nicht mehr als 9000 Mann betragen; nach Zahlung deS ersten Drittels der Contribution soll Glogau, nach Zahlung des zweiten Drittels Cüstrin geräumt werden; binnen 30 Tagen nach erfolgter Ratification des

Vertragsentwurfs räumt die französische Armee daS preußische Staats­ gebiet.

Freilich war man — wie sich sofort zeigen sollte — noch lange

nicht am Ziele.

Napoleon war weit entfernt, seinerseits die Ratification

rasch zu vollziehen, während man in Königsberg unverzüglich daran ging,

die nothwendigen Geldmittel herbeizuschaffen, damit, wenn erst in Paris die Ratification erfolgt sei, der Perfektibilität deS Vertrags von preußi­

scher Seite nichts im Wege stehe. Die wichtigste Finanzmaßregel war die Verpfandbriefung der Do­

mänen.

Wir haben bereits oben den Plan SteinS kennen gelernt, durch

Vereinigung der Domänen mit den ritterschaftlichen Kreditverbänden in den Provinzen zu einer solidarischen Genossenschaft dem Staate die Theil­

nahme an den Rechten jener Affociationen zu ermöglichen.

Denn wenn

R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.

578

auch die zu creirenden Pfandbriefe auf die einzelnen Domänen eingetragen

wurden, so sollten doch jene Kreditvereine neben dem Staate eine Haft­ pflicht übernehmen.

Hiezu sowie überhaupt zu der hypothekarischen Be­

lastung der Domänen war nun aber die Zustimmung der einzelnen Pro­

vinzialstände nothwendig.

Mit opferfreudiger Bereitwilligkeit wurde jene

denn auch allerseits gegeben.

Der ostpreußische Landtag, zu dem zum

ersten Male die Vertreter des nicht adeligen Grundbesitzes (die sogenannten bewilligte 7 Millionen Thaler,

Kölmer) zugezogen worden waren,

die

Stände der Kur- und Neumark 8, die von Pommern etwas über 3, die Schlesiens etwas über 1 Million Thaler.

Zu diesen 19 Millionen Thlr.

kamen noch 8 Millionen Franken, über die man an baarem Gelde ver­

fügte.

Die noch restirenden 22 Millionen Franken hoffte Stein zuver­

sichtlich durch

weitere Emission von Pfandbriefen oder durch

größerer kaufmännischer Firmen aufbringen zu können.

Wechsel

Der Kurfürst

von Hessen, von dem man — wie wir gesehen haben — einige Millionen Thaler leihweise erhalten zu können geglaubt hatte, machte das Zustande­ kommen dieses Geschäfts

von einer

dahin gehenden Zusage Friedrich

Wilhelms III. abhängig, bei den künftigen Verhandlungen des allgemeinen Friedens für die Wiederherstellung Hessens eintreten zu wollen, wie er ein Gleiches auch von Kaiser Alexander erwartete.

Der König seinerseits

zeigte sich nicht abgeneigt, dem Verlangen nachzukommen, und bewirkte auch bei dem Czaren die nöthigen Schritte, dieser aber weigerte die Ueber­

nahme irgend welcher für die Zukunft verbindenden Verpflichtungen.

Was halfen freilich alle Abmachungen, so lange dkapoleon der zwischen Dar» und Stein vereinbarten Stipulation seine Genehmigung nicht er­ theilte.

Und gerade jetzt, wo man am Ende der schweren Trübsal ange­

langt zu sein wähnte, erfolgte wie ein Blitz aus heiterer Luft zu Bayonne,

wohin sich Napoleon begeben hatte, um der Entwicklung der spanischen

Angelegenheiten nahe zu sein, der Abschluß jener berüchtigten Convention,

durch welche Napoleon die preußischen Geldforderungen im Herzogthum Warschau in einem Betrage von 18 — 20 Millionen Thalern, nachdem diese schon im Januar unter Sequester gelegt worden waren, dem Könige

von Sachsen gegen eine Abfindungssumme von 20 Millionen Franken zum Eigenthum überwies.

Und damit war eö noch nicht genug.

Am 6. April kündigte Bignon,

der Generaladministrator der Finanzen in Berlin, der Kriegs- und Do­

mänenkammer an, daß das französische Gouvernement die Absicht hege, in der Nähe von Berlin ein festes Lager für 25,000 Mann zu errichten,

dessen Bau und Fouragirung die Kammer im Verein mit den märkischen Ständen auf sich zu nehmen habe.

Nicht daß diese Zusammenziehung der

Truppen in ein festes Lager an und für sich gegenüber der bestehenden

Bedrängung als eine weitere Verschlimmerung angesehen worden wäre —

sie mußte sogar im Vergleich mit der bisherigen Verstreuung der fremden Truppen über das ganze Land, namentlich auch mit Rücksicht auf die jetzt einfacher und billiger werdende Verpflegung als ein Vortheil be­

trachtet werden —, aber einmal sollte nicht die Gesammtmasse der Truppen, sondern nur die Infanterie und ein Theil der Artillerie die Garnisonen verlassen, der Rest dagegen,

namentlich

die

ganze Cavallerie in den

CantonnementS verbleiben; sodann stand zu befürchten, daß bei der Nähe

der Hauptstadt die Officiere und Beamten der Armee eS vorziehen würden,

ihre bequemen Stadtquartiere nicht mit den Baracken des Lagers zu ver­ tauschen.

Der Widerstand der Kammer und der Stände gegen die

drohende neue Bedrückung mußte noch dadurch neue Nahrung bekommen, daß gerade in jenen Tagen die erste Aeußerung des französischen Kaisers

auf die Bertragöstipulationen vom 8. März bekannt wurde, die nicht nur

jeden Gedanken an die Wiedererstattung der eingezogenen StaatSrevenuen weit von sich wieS, sondern auch die gesammten Unterhaltungskosten der

französischen Truppen bis zum Tage ihres Abmarsches den preußischen

Kassen aufbürdete.

Demgegenüber blieb den preußischen Behörden Ange­

sichts der völligen Erschöpfung des Landes nichts übrig, als den französi­ schen Forderungen einen zähen passiven Widerstand entgegenzusetzen.

Daru und Bignon ließen sich dadurch nicht irre machen. die Kammer das Ansinnen,

Aber

Sie stellten an

die Erfordernisse im AuSlande anzukaufen.

Die Contracte mit den Lieferanten sollten von den Vertretern der Stände

unterschrieben und der Betrag auf die Provinz vertheilt werden.

Aber

hiezu waren wieder größere Geldmittel oder wenigstens Credit nothwendig, und beide waren nicht vorhanden. drungen, daß

Ganz von der Nothwendigkeit durch­

nur noch ein vorsichtiger, aber fester und konsequenter

Widerstand Preußen vom Untergang retten könne, erließ Sack am 12. April

ein Reskript an Kammer und Stände der Mark, worin er sie bei ihrer eigenen Verantwortlichkeit zu unerschütterlichem Festhalten ermahnte.

Er

hatte zu diesem Schritte vorher die Zustimmung SteinS und Gerlachs,

des Präsidenten der Berliner Kammer, eingeholt.

Aber nur

um so

drohender gestaltete sich die Haltung der französischen Machthaber. Am 18. April veröffentlichte Bignon ein neues Dekret, worin er die zwangs­ weise Ausschreibung der Lieferungen ankündigte, wenn ihm nicht binnen drei Tagen eine willfährige Erklärung von Kammer und Ständen zuge­

gangen sein werde.

Im Falle der Weigerung drohte er mit dem Ein­

schreiten der Militärmacht.

Aber die Ausschüsse blieben standhaft.

Jetzt

erschien das Publicandum, durch welches die Lieferungen öffentlich auSge-

R. Haffcl, Geschichte der preußischen Politik 1807 -1815.

580

boten wurden, in den Zeitungen.

Auch dies blieb wirkungslos.

Die

Franzosen versuchten nun den Weg einer Verständigung mit einzelnen an­ gesehenen Fremden.

Die Kammer wurde aufgefordert, eine Liste von fünf­

undzwanzig der reichsten Grundbesitzer der Provinz aufzustellen.

wurden nach Berlin berufen und vor die Alternative gestellt,

Diese

entweder

Bürgschaft für die Aufbringung der Lagerkosten zu stellen oder mit ihrem

Vermögen zu büßen.

Die Versammlung lehnte jedes Eingehen auf die

Dar» sah sich zu einer Art Nachgiebigkeit,

französischen Forderungen ab.

allerdings sehr verfänglicher Art, genöthigt.

Er schlug der Versammlung

vor, die Lagerkosten auf ihren Credit zu übernehmen, wohingegen die

Vorschüsse den einzelnen Gläubigern von der Provinz wieder vergütigt

Bei Ablehnung dieses Vorschlags werde er sich an die

werden sollten.

Person der Notablen halten, daS Geld von ihnen eintreiben, eventuell

ihre Güter mit Beschlag belegen. Ein Theil derselben unterzeichnete

Die Versammlung wurde schwankend. allerdings

eine protocollarische Er­

klärung, in der der ganze alte Widerstand aufrecht erhalten wurde, ein

anderer aber enthielt sich der Unterzeichnung und suchte behufs einer Ver­ ständigung mit Dar» die Intervention des den französischen Kreisen nahe­ stehenden

Fürsten Hatzfeld

zu

gewinnen.

Inzwischen war aber jenes

Schreiben Sacks an Kammer und Stände, worin diese zum zähen Wider­

stand gegen die französischen Zumuthungen aufgefordert wurden, in einer Abschrift zur Kenntniß DaruS gelangt.

Seine Wuth gegen den Urheber

desselben kannte keine Schranken, er forderte von Stein die sofortige Ent­

lassung Sacks und Stein, der gerade jetzt jede Ungelegenheit mit den

französischen Behörden im Hinblick auf die diplomatische Thätigkeit des Prinzen Wilhelm in Paris möglichst zu vermeiden trachtete, entschloß sich,

wenn auch schweren Herzens, dem Könige die Rückberufung Sacks nach

Königsberg zu empfehlen.

Durch den Abgang Sacks wurde auch das

Haupthinderniß einer Verständigung in der Lagerunterhaltungsfrage be­ seitigt, um so eher, als Napoleon darin keineswegs das Vorgehen seiner

Beamten billigte.

„Ich bin ganz und gar nicht zufrieden mit dem, was

man in Berlin macht", schreibt er am 21. Mai an Dar».

„Wozu be­

durfte eS so vieler Ceremonien, um wenige Divisionen inS Feldlager zu

bringen?

Das Publicum brauchte davon erst zu erfahren, nachdem eS

Ich habe bereits kundgethan, daß eS meine Absicht ist,

geschehen war.

die ArmeecorpS nicht im Ganzen, sondern nach Divisionen ihre Lager be­ ziehen zu lassen.

Ich wollte daS so, um Europa nicht in Alarm zu setzen

und so wenig Aufsehen wie möglich zu machen.

Kaufcontracte abzuschließen,

Kindereien?"

Wozu war eS nöthig,

Magazine anzulegen und Tausend ähnliche

Freilich bedeutete diese Rüge noch keine Billigung deS

Vorgehens der preußischen Behörden.

Im Gegentheil, in einer Note an

Brockhausen macht Napoleon wieder einmal seinem tiefen Groll gegen Preußen Luft.

Man habe die märkischen Stände verleitet,

mit allen

Kräften dem ftanzösischen Gouvernement entgegenzutreten, indem man ihnen den Widerstand als einen Act der Unterthanentreue hinstellte.

Eine solche

Aufreizung zur Revolte könne dem preußischen Hofe nicht unbekannt ge­ blieben sein.

Die Regierung

möge

ihre Beamten im Zaume halten,

wenn sie nicht Gefahr laufen wolle, durch herausfordernde Handlungen ähnlicher Art die Dinge soweit zu treiben, daß Napoleon den Friedens­ vertrag von Tilsit für aufgehobm erkläre.

In

der Lagerversorgungsangelegenheit

war

Steins folgendes Abkommen getroffen worden.

nach

den Weisungen

Aus Mitgliedern der

Kammer, der Ritterschaft und des städtischen BerwaltungSrathS bildete sich eine Commission, welche den Ankauf des Proviants und die Herbeischaffung

der Geldmittel übernahm.

Beinahe sämmtliche Lebensmittel mußten von

Lieferanten besorgt werden;

nur den Bedarf an Fleisch vermochte die

Provinz noch aus ihren eigenen Vorräthen zu decken.

Zur Aufbringung

der Kosten diente eine besondere Lagersteuer, zu welcher die Städte von jeder Feuerstelle, das Land von jedem Gute, jedem Gehöfte, nach dem

Werth des lebenden Inventars oder dem Betrage der jährlichen Aussaat, eine gewtffe Quote zu entrichten hatten.

Statt der Zusammenziehung

der Armeekorps bei Berlin verfügte Napoleon eine Vertheilung in drei

CampementS: zwischen Charlottenburg

und Spandau, bei Neu-Ruppin

und in der Gegend von Havelberg. Inzwischen hatten auch die Constellattonen des politischen Himmels

eine für Preußen günstigere Gestalt angenommen.

Die Zusammenkunft

der beiden verbündeten Kaiser stand in sicherer Aussicht, und von einer

solchen glaubte Friedrich Wilhelm III. die endliche Beilegung der KrtegSkostenentschädigungSfrage und

damit die Befreiung seines unglücklichen

Landes von den französischen OccupationStruppen hoffen zu dürfen.

Dazu

schien eS jetzt, als würde Napoleon ohnedem baldigst genöthigt sein, seine Armee aus dem preußischen Staatsgebiet zurückzuziehen.

Dir Verhältnisse

in Spanien, wo jetzt die bourbonische Dynastie des Thrones

entsetzt

worden war, ließen sich keineswegs nach den Wünschen und Erwartungen

Napoleons an.

Man erwartete allgemein den Ausbruch eines großen

Kampfes auf der Halbinsel und hielt dafür, daß alsdann Napoleon alle feine Streitkräfte nach diesem Punkte werde werfen müssen.

Auch aus

Oesterreich kam Kunde von neuen Zerwürfnissen mit dem französischen Imperator, von der Wahrscheinlichkeit eines neuen Krieges mit demselben.

Der König, Stein, die Minister, alle Patrioten schöpften neue Hoffnung. Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1II. Heft 6.

42

R. Hassel, Geschichte der Preußischen Politik 1807—1815.

582

Die österreichische Regierung suchte, nachdem sie seit dem Tilsiter Frieden

gegen Preußen eine sehr teferbitte Haltung eingenommen hatte, jetzt wieder nähere Fühlung mit dem Königsberger Hofe zu gewinnen.

Die Haltung

Preußens bei einem etwa ausbrechenden Kriege mit Frankreich war schon wegen der schlesischen Festungen, die im Besitz des Königs geblieben waren,

von höchster Wichtigkeit für den Ausgang desselben.

ES war kein Zweifel,

daß die in Schlesien stehenden französischen Truppen

alsbald sich der

Festungen bemächtigen und durch sie gedeckt in Mähren und Böhmen ein­ Friedrich Wilhelm III. hielt auch die Situation für ernst

brechen würden.

genug,

einen

seiner vertrauten Offtciere, den

Flügeladjutanten

Graf

Götzen, der sich im letzten Kriege durch die Vertheidigung Schlesiens aus­ gezeichnet hatte, nach Oberschlesien zu entsenden, um hier von Cudowa

aus, wo er sich angeblich der Bäder wegen aufhielt, das Commando über die Festungstruppen zu führen.

Für den Kriegsfall lautete jeine In­

struction dahin, die Festungen an keinen der kriegführenden Theile zu

übergeben.

Strikte Neutralität erschien dem Könige Angesichts des trost­

losen Zustandes seiner Lande als das einzig Richtige.

Er hielt daran

fest trotz der Lockungen, die an ihn seitens der auf den engsten militäri­ schen Anschluß an Frankreich hindrängenden französischen Partei in seiner

Umgebung ergingen.

Ihren Wortführer fand diese in dem General von

Zastrow, der im November 1806 gemeinschaftlich mit Lucchesini die vom Könige nachmals verworfenen Charlottenburger Waffenstillstandsbedingungen

ausgearbeitet hatte und der, später mit der interimistischen Führung der auswärtigen Geschäfte betraut, durch seine Unentschlossenheit und Schwäche einen großen Theil der Schuld daran trug, daß die befreundeten Höfe kein

rechtes Vertrauen zu der Politik Preußens zu fassen vermochten.

der König blieb dem einmal erfaßten Princip treu.

Aber

Zu seinen Vorzügen

gehörte ein stilles Sichbescheiden gegenüber dem von ihm als überlegen

anerkannten Verstand und Willen Anderer.

So sehr unter den Männern

der patriotischen Partei ihm gerade die Führer, vor allem Stein, wenig sympathisch waren, er horchte im entscheidenden Augenblicke doch immer nur auf ihre Stimme.

Nun waren allerdings auch diese für einen engen

Anschluß an Frankreich, aber lediglich im Drange des Augenblicks, in der

dadurch ermöglichten Hoffnung besserer Zeiten, für französisches

Wesen, auS

Selbständigkeit des Vaterlandes.

einem

nicht aus Bewunderung

feigen Preisgeben

der Ehre und

In einem Jmmediatbericht Scharnhorsts

vom 13. Mai wird der König gebeten, sich an Napoleon anzuschließen, so sehr dies auch die Gefühle, zumal in einem Kriege mit Oesterreich,

empören würde.

Aber wie sehr würde es der Wahrheit widersprechen,

wenn man im Hinblick auf diese Ausführungen den Vorwurf der Jncon-

sequenz

gegen Scharnhorst erheben wollte.

Seine Thätigkeit in der

Reorganisationscommission für die Armee zeigte, worauf sein unablässiges

Sinnen gerichtet war: jeder neue Entwurf, den er der Commission unter­ breitete, legte Zeugniß dafür ab, wie sich die monumentalen Grundzüge der preußischen Wehrverfassung in seinem Geiste immer reifer und ziel­

bewußter gestalteten, — die Ideen des VolkSheereS, die unter dem ersten Frühlingshauch der Bölkerbefretung zu unvergänglichem Leben erblühen

sollten.

Allein seitdem Napoleon dem Prinzen Wilhelm gegenüber daS

drohende Wort von der Reduction dev Armee, die er dem König aufer­ legen werde, hatte fallen lassen, seitdem er ihm in maßlosem Hochmuth

die Frage entgegengeschleudert hatte:

wozu braucht der König ein Heer?

lebte man in steter Sorge, daß ein solches Gebot erlassen werden würde,

dem man sich widerstandslos hätte fügen muffen.

Die Armee war der

letzte Rettungsanker des SlaateS: sie mußte man um jeden Preis zu er­

halten suchen, selbst wenn man mit zusammengepreßtem Herzen, bis einst

die Stunde der Vergeltung schlüge, die Truppen unter das Joch des ver­ haßten Siegers gehen ließ.

Nur dürfe — meint Scharnhorst — diese

Verbindung mit dem Sieger keine feste und dauernde sein.

„Geht man

in der Ausführung dieser Allianz zu weit, tritt man mit dem Franzosen in eine engere und nähere Verbindung, so bemächtigt sich Napoleon höchst

wahrscheinlich unserer inneren Angelegenheiten durch seinen Einfluß auf eine Menge feiger, schlechter, oder doch halb schlechter Menschen, die da­

durch an'S Ruder zu kommen hoffen, und dann wird so wenig auf die Nation, als auf die Armee gerechnet werden können.

Kommt ein Antrag

von französischer Seite, so bleibt freilich nichts übrig, als ihm in aller Hinsicht entgegenzukommen, sich zu stellen, als wenn man sich glücklich halte, um womöglick unsere wahren Gesinnungen so zu verschleiern, daß sie selbst den auSgelernten Betrügern eine Zeit lang verborgen bleiben."

Und wohin diese Gesinnungen drängten, das zeigen die Worte Scharn­

horst'-:

„durch Ströme von Blut haben unsere Vorgänger dem preußi­

schen Staat Eigenthümlichkeit und der Nation Ruhm

erworben; wir

würden unwürdige Nachfolger sein, wenn wir das erworbene Eigenthum

muthloS hingeben wollten."

Wir eilen über die nächsten Begebenheiten hinweg, um mit unserm Herausgeber einen vorläufigen Abschluß der Untersuchung zu gewinnen. DaS endliche Zustandekommen der Convention vom 8. September 1808

war in erster Linie durch den Verlauf deS spanischen Krieges bedingt.

Die französischen Truppen hatten weder Saragossa noch Valencia zu be­ zwingen vermocht, vielmehr bet Bahlen die Waffen strecken müssen;

Madrid hatte geräumt, die französische Armee hinter den Ebro zurückge42*

R- Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.

584

zogen werden müssen.

Nach solchen Unfällen blieb Napoleon nichts übrig,

als seine gestimmten Streitkräfte nach Spanien zu werfen, d. h. Preußen

zu räumen.

Jetzt endlich, am 11. August, wurde dem Prinzen Wilhelm

Aber Napoleon war weit entfernt,

ein Vertragsentwurf vorgelegt.

in

demselben irgend welche Zugeständnisse zu machen, im Gegentheile, die Forderungen wurden jetzt noch um ein beträchtliches erhöht.

194 Mill.

Francs sollten entrichtet, die Oderfestungen Stettin, Cüstrin und Glogau

in der Hand Frankreichs bleiben, die preußische Armee auf 42,000 Mann reducirt werden und die Staatseinkünfte Preußens bis zum Tage des

Abschlusses dieses Vertrags Frankreich zustehen.

Für

den Fall eines

Krieges zwischen Oesterreich und Frankreich habe Preußen Napoleon ein

HülfScorps von 8000,

späterhin

von 16,000 Mann zu stellen.

Alle

Einwendungen des Prinzen und des preußischen Gesandten Brockhausen blieben fruchtlos.

Am 3. September sagte

ihnen Champagny':

„der

Kaiser müsse wissen, ob Preußen Freund oder Feind sei, um dadurch die Bewegungen seiner Armeen regeln zu können.

Nach dieser Correspondenz

— hier legte er einen von Soult aufgefangenen Brief Steins an den Fürsten Wittgenstein vom 15. August vor — sei Preußen Frankreichs

Feind.

Der Kaiser bedürfe hiernach Gewißheit, eines einfachen Ja oder

Nein unter dem Vertrage."

Kaum daß noch einige Tage für die Unter­

handlungen, die Herabsetzung der Geldforderung auf 140 Millionen und die Beseitigung eines Steins Entlassung fordernden Artikels durchgesetzt

wurde.

Da Alexanders Zustimmung zu der von Napoleon vorgeschlagenen

Zusammenkunft in Erfurt in Paris bereits eingelangt und bekannt ge­

worden war, anderseits Oesterreich sichtbarlich wieder abrüstete, so blieb

dem Prinzen nichts übrig als zu unterzeichnen.

„Es sind sechs Monate"

— schrieb er dem Könige am Tage nach der Unterzeichnung — „daß die Ausfangung der Briefe des Freiherrn vom Stein, von deren Authenticität

ich unglücklicher Weise nur zu sehr Ursache gehabt habe mich zu über­ zeugen, fast den Untergang der Monarchie zur Folge gehabt hätte.

Heut

vermindern die gegenwärtigen Conjuncturen vielleicht diese Gefahr, aber

sie beseitigen sie nicht.

Bei der ungeheuren Truppenzahl, über welche der

Kaiser verfügt, bleiben ihm immer noch genug, die gewaltsamsten Maß­

regeln gegen Preußen ins Werk zu setzen, und der Inhalt der aufgefan­

genen Briefe gab ihm sehr ausreichende Mittel, deren Ungerechtigkeit in den Augen seiner Nation, seiner Armee und der Alliirten Frankreichs, ja sogar in denen Rußlands zu beschönigen.

Indem er diesen Briefen einen

officiellen Charakter gab, hätte er sich darauf gestützt, den Vertrag von Tilsit für gebrochen zu erklären.

entfernen hatte."

DaS, Sire, war die Gefahr, die ich zu

Jedenfalls sei durch die Unterhandlung Zeit gewonnen.

die Gefahr zu beschwören.

neue Vorschläge machen.

Der König möge entscheiden, ratificiren. oder Brockhausen fügte hinzu:

„der Kaiser ist auf

daS äußerste erbittert und entschlossen. Alle- an Alles zu setzen.

Ich

hatte die heftigsten Angriffe zu bestehen, um einen Artikel abzuwehren,

der den König zwingen sollte, Stein zu entfernen.

Stein muß Deutsch­

land auf einige Zeit verlassen; er darf sich der Gefahr nicht auSsetzen, den Franzosen in die Hände zu fallen."

„Ich habe Briefe aufgefangen;

ich werde schnell sein wie der Blitz", sagte Napoleon einige Tage nach der Unterzeichnung zu Brockhausen,

ersticken.

„jeden AuSbruch bösen Willens zu

Aus den Briefen eines Eurer Minister weiß ich, mit welchen

Gedanken man umgeht, welche Hoffnungen man auf die spanischen Er­ eignisse setzt.

Man irrt sich; Frankreich besitzt eine so ungeheure Macht,

daß eS überall die Stirn bieten kann.

Ich weiß Alles, ich kenne die

Denkungsart Eurer Minister; eS ist unmöglich mich zu täuschen." Vergebens, daß Friedrich Wilhelm III. den Kaiser Alexander auf seiner Durchreise nach Erfurt in Königsberg um seine kräftige Intervention

bei Napoleon zu Gunsten Preußens anging.

Alexander glaubte lediglich

zu möglichster Nachgiebigkeit gegen Frankreich, zum Anschluß an daS fran­ zösische System rathen zu müssen.

Mit genauer Noth ließ sich Napoleon

noch zu einem Nachlaß von 20 Millionen von der geforderten KriegScon-

tribution bereden, verweigerte dagegen jede Verlängerung der Zahlungs­ fristen, die Belassung der Oderfestungen und der Aufhebung der Be­ schränkung der Stärke der preußischen Armee.

Ebenso hielt Napoleon

SteinS Entlassung fest, und Friedrich Wilhelm III. genehmigte dieselbe,

wenn auch erst nach längerem Zögern und schweren Herzens. Mit der Entlassung SteinS schließt der erste Band unserer Publi­

kation.

Posen.

Chr. Meher.

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein. Die Armee, welche König Philipp II. von Spanien im Frühjahr des

Jahres 1567 unter Führung des Herzogs Alba in die Niederlande schickte

war keineswegs bloß dazu bestimmt, den Widerstand der Opposition in

den spanischen Erblanden zu brechen, sondern sie hatte auch die Aufgabe, die tief erschütterte Herrschaft der römischen Kirche in den benachbarten

deutschen Ländern wieder zur Geltung zu bringen.

Wie viel der spanischen Regierung

an der Aufrechterhaltung der

katholischen Kirche gerade an den Gränzen ihrer niederländischen Herr­

schaft gelegen war hatte der Krieg Karls V. gegen den Herzog Wilhelm

von Cleve im Jahre 1543 gezeigt.

Der Friedensvertrag von Venlo vom

7. September d. I. legte dem besiegten Herzog

ausdrücklich die Ver­

pflichtung auf,

daß er der katholischen Kirche treu bleiben solle.

jülich-clevischen

Territorien

lagen,

nach

Die

dem Ausdruck Herzog Albas,

welchen dieser in einem Brief an den Herzog von Cleve gebrauchte, „derart

gedrängt und vermengt mit den Niederlanden, daß zutragende Gefährlich­ keiten ohne Eines und des Andern Schaden nicht wohl ablaufen konnten"*).

In der That hatte Herzog Wilhelm, welcher auch im I. 1567 noch regierte, das Versprechen, welches Karl V. ihm abgenommen hatte, inso­ fern gehalten, als er die neue Lehre nicht formell angenommen und in feinen Ländern publicirt hatte.

Indessen stand er persönlich durchaus

nicht auf dem religiösen Standpunkt, welchen die römische Kirche als den

rechtgläubigen ansah, sondern er billigte nach seinen eigenen Aeußerungen die Augsburgische Confession in manchen Punkten und war von dem

Streben nach einer angemessenen Reform der Kirche, wie sie damals auch *) Die Briefe und Akten, welchen diese Aeußerung sowie das übrige Material zu vor­ liegendem Aufsatz entnommen ist, werden demnächst als Neunter Band der „Publi­ kationen aus den K. Preuß. Staats-Archiven" unter dem Titel: „Die Gegenre­ formation in Westfalen und am Niederrhein, Aktenstücke und Erläuterungen, zusammengestellt von Ludwig Keller" in Leipzig bei S- Hirzel erscheinen.

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

587

von Kaiser Maximilian II. und anderen Reichsfürsten geplant und erhofft wurde, tief durchdrungen.

Er wollte bis zur völligen Trennung von der

alten Gemeinschaft, wie eS Seitens des. LutherthumS geschehen war, nicht vorgehen, vielmehr glaubte er, daß eS möglich sein werde, auf legalem und geordnetem Wege zu einzelnen wichtigen Reformen zu gelangen. Als

Papst PiuS IV. durch die Bulle vom 16. April 1564 dem Kaiser die

Einführung deö LaienkelcheS zugestand, schien eS, als ob die Reform, wie

der clevische Hof sie sich dachte, sogar mit Zustimmung deS Papste- zu erreichen sein werde.

In dieser Hoffnung hatte sich der Herzog dazu bestimmen lassen, für sich und seinen Hof (noch bevor er für seine Länder allgemeine Anordnungen

erlassen hatte) in der Verwaltung deS Gottesdienste- gewisse Neuerungen einzuführen.

Das Sakrament deS Altars wurde

sub utraque specie

ausgetheilt und dem Hofprediger Gerhard VeltiuS gestattet, sich zu ver-

hetrathen.

Dieser Geistliche vermochte die feinen Unterschiede, welche dem

Herzog in Bezug auf die gemäßigte Reformation vorschwebten, nicht ebenso

deutlich zu erfassen und eS wird uns berichtet, daß er bei Hofe ganz im

Sinne der evangelischen Partei.gepredigt habe.

Ja, er setzte eS zuletzt

durch, daß auch die Messe bei Hofe nicht mehr gehalten wurde. ES steht fest, daß der Herzog damals die Absicht hegte, die An­

ordnungen wie er sie für sich getroffen hatte, auch für seine Unterthanen inS Leben zu rufen.

Er schreibt darüber am 19. Sept. 1558 an den

Landgrafen Philipp von Hessen, daß er schon längst dasjenige gern habe

ins Werk bringen wollen, „was zur Beförderung der Ehre Gottes dienlich

fei".

Er finde aber leider, daß „der Teufel und die Pfaffen dasselbe nicht

erleiden können", sondern sie sprächen, „solches solle ihm (dem Landesherrn)

nicht gebühren".

Trotzdem wolle er bedacht sein, daß „Gottes Ehre ge­

wahrt werde und die Gewissen seiner Unterthanen nicht beschwert würden". Sobald diese Verhältnisse im Lande bekannt wurden, erhob die evan­ gelisch gesinnte Partei im Lande ermuthigt das Haupt, und da sie die

Majorität der Landstände, deren Einfluß hier ein größerer war alS in den meisten anderen deutschen Territorien, für sich hatte, so ergriff der

Wunsch nach Reformen alsbald die weitesten Schichten der Bevölkerung. Die Form, unter welcher die Unterthanen sich die Vollziehung der Neu­ gestaltung dachten, war natürlich fast überall nicht mit den Plänen deS

Herzogs, sondern mit den evangelischen Grundsätzen übereinstimmend und wenn auch in den Gemeinden deS Landes einstweilen der vollständige

Uebergang zu dem Ritus der neuen Lehre noch nicht stattfand, so vollzog sich doch langsam der Austritt aus

der katholischen Kirche im

Gebiet der niederrheinischen Gegenden.

ganzen

588

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

ES lag in der Natur der Dinge, daß beim Ausbruch der religiösen

Kämpfe in den Niederlanden sich rasch eine Art von Cooperation der kirchlichen Opposition diesseits wie jenseits der spanischen Grenze gegen

die Unterdrücker des Evangeliums einstellte.

Die Hauptstädte der cleve­

märkischen Länder, besonders Wesel und Duisburg, aber auch Emmerich, ReeS, Xanten u. A. empfingen

die spanischen Flüchtlinge mit offenen

Armen, unterstützten die Bewegung, an deren siegreichem Vordringen sie ja selbst lebhaft betheiligt waren, mit Geld und Gut, stellten den Führern

ihre junge Mannschaft zur Verfügung und waren mit einem Wort die Stützpunkte der Aufständischen.

ES hieß damals ganz allgemein in den

Niederlanden, daß Herzog Wilhelm von Cleve die Anhänger der neuen

Lehre beschütze und es war eine allgemein bekannte Thatsache, daß er der persönliche Freund Wilhelms von Oranien war*).

Auch stand soviel fest,

daß der Durchzug von Landsknechten, welche in den deutschen evangelischen Territorien, besonders in Westfalen, in Hessen und in Nassau für die

Aufständischen angeworben wurden, durch das clevtsche Gebiet seitens der herzoglichen Beamten nicht immer verhindert worden war.

Unter diesen Umständen mußte dem neuen Oberbefehlshaber in den

Niederlanden, welcher um die Mitte August 1567 dort angekommen war,

sehr viel daran gelegen sein, den Herzog von Cleve in den Gehorsam Spaniens und der Römischen Kirche zurückzubringen und das Verhältniß wiederherzustellen, welches im Jahre 1543 zwischen den beiden benachbarten

Reichen begründet worden war. Mark und Jülich-Berg

umfaßten

Die vereinigten Herzogthümer Cleveum

jene Zett einen Ländercomplex,

welcher denjenigen der meisten übrigen selbständigen Reichsgebiete Bevölkerungszahl und Reichthum wett übertraf.

an

Innerhalb des Nieder-

rheintsch-Westfälifchen Kreises, dessen „ausschreibender Stand" der Herzog von Cleve war, war die Stimme dieses Fürsten die ausschlaggebende und an der Spitze dieser kleinen deutschen Gemeinwesen würde Cleve ein ge­ fährlicher Gegner gewesen sein, wenn das Regiment in der Hand einer

klugen und energischen Persönlichkeit lag, welche die Schwierigkeiten, die

der niederländische Aufstand der spanischen Monarchie bereitete, in ge­ schickter Weise zum Vortheile der Nachbarländer zu benutzen wußte.

Ein

Bund Cleves mit Oranten würde — das kann man mit Sicherheit sagen — nicht nur den raschen Sieg der Opposition, sondern die Verdrängung des

aus dem deutschen Nordwesten

zur Folge gehabt

Die nachfolgenden Zeilen haben den Zweck,

die Ereignisse zu

spanischen Einflusses

haben.

*) Wilhelm von Oranien war Taufpathe des clevischen Prinzen Johann Wilhelm, welcher am 28. Mai 1562 geboren worden war.

schildern, welche die Wendung der Dinge zu Gunsten der katholischen Kirche herbeigeführt haben.

ES war ein besonderes Unglück, daß der körperlich leidende Zustand,

in welchem Herzog Wilhelm seit langen Jahren sich befand (er litt an

einer Art von epileptischen Anfällen) allmählich seine Wirkungen auch auf

daS geistige Gebiet geltend machte.

Bereits im Jahre 1558 baten die

cleve-märkifchen Landstände ihren Landesherrn in einer amtlichen Eingabe auf daS dringendste, daß er „auf seines Leibs Gesundheit bester als bisher

geschehen, Acht haben möge".

„Denn", fügten sie hinzu, „eS sei daran

nicht nur dem Fürsten selbst, sondern auch den Unterthanen merklich ge­ legen" — eine Wendung, in welcher die Besorgniß vor den Ereignissen

wie sie später wirklich eintraten, sich deutlich ausspricht.

In den folgenden

acht Jahren war der Herzog, wie uns berichtet wird, fünfmal tödtlich

krank, so daß er mehrmals sein Testament machte, indem er in jedem

späteren Falle daS ftühere widerrief. Trotz seiner erschütterten Kräfte wagte eS der Fürst, sich im Jahr 1566

der schwierigen und langwierigen Reise nach Augsburg auszusetzen, wohin er eine Einladung zum Reichstag erhalten hatte.

Die Beschwerden der

Reise äußerten sofort ihre verderblichen Wirkungen, gleich am Tage des

Einritts bekam er einen schweren Anfall, der sich von da an in wenigen Monaten 11 mal wiederholte.

Die Folge davon war, daß er, nach Hause

zurückgekehrt, nicht nur an einer einseitigen Lähmung daniederlag, sondern

auch deS freien Gebrauchs der Sprache sich beraubt sah. Unter diesen Umständen gerieth der Fürst in eine solche Abhängig­

keit von seiner Umgebung, daß er fast nur noch dem Namen nach Regent war und wenn er auch in einzelnen Augenblicken sich zur selbständigen Leitung der öffentlichen Angelegenheiten aufzuraffen suchte, so hemmten doch die stets wiederkehrenden Anfälle, die ihn für ganze Tage unzurech­ nungsfähig machten, jede dauernde Durchführung seiner Vorsätze.

Bet Hofe gab eS damals zwei Parteien, eine evangelische und eine katholische, welche sich schroff gegenüberstanden.

Die unmittelbare Umge­

bung deS Herzogs, zumal die weiblichen Familien-Mitglieder standen auf

der Seile deS Evangeliums.

Der einflußreichste Beschützer deS Letzteren

war der Leibarzt deS Fürsten, Dr. Weier, welcher seiner Instruktion ge­

mäß fortwährend in der Umgebung deS Herzogs sich aufhielt.

Die Her­

zogin scheint sich im Ganzen mit den Anschauungen ihres Gemahls in Uebereinstimmung

befunden zu haben, denn sie ließ eS zu, daß ihre

Kinder, zumal ihre Töchter, in der evangelischen Lehre auferzogen wurden.

Der evangelische Geistliche Walther von OS hatte die Prinzessinnen Maria

Eleonora, Anna und Magdalena in dem neuen Glauben unterrichtet und

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

590

eS dahin gebracht, daß die jungen Mädchen demselben leidenschaftlich an­

hingen.

Auch ein Theil der Hofdamen bekannte sich zu protestantischen ES scheint, daß des Herzogs evangelische Schwestern, be­

Auffassungen.

sonders die Gemahlin des Churfürsten Johann Friedrich von Sachsen, Sibylle, sowie die unglückliche Gemahlin Heinrichs VIII., Anna, auf ihre

Verwandten bei Hofe einen großen Einfluß auSgeübt haben.

Jedenfalls

steht soviel fest, daß des Herzogs dritte, unverheirathete Schwester Amalie,

welche bei Hof weilte, auf die Erziehung ihrer Nichten eingewirkt hat.

Unter den Herren von Adel aus des Herzogs Umgebung ist besonders Johann von Ketteler zu nennen, welcher für die Sache des Evangeliums thätig war. Neben diesen reformfreundlichen Elementen existirte von jeher bei Hofe, besonders unter den fürstlichen Räthen, eine streng katholische Partei,

welche die allmähliche Abwendung deS Fürsten und seiner Kinder von der alten Kirche zu verhindern bestrebt war. Einer der

entschiedensten Vorkämpfer derselben war der clevische

Landhofmeister Heinrich von der Recke, ein Mann, dessen Bedeutung für die geschichtliche Entwicklung der niederrheinischen Länder noch nicht ge­ nügend bekannt geworden ist.

Er hatte seine Ausbildung (er war Doctor

beider Rechte) zu Rom erhalten und nachdem er in sein Vaterland zurück­

gekehrt war verschafften ihm seine Kenntnisse und sein Eifer die Beachtung der maßgebenden Persönlichkeiten.

Der Herzog zog den jungen Adligen

an seinen Hof und verwandte ihn seit 1559 häufig in diplomatischen

Missionen.

Die auswärtigen Angelegenheiten des mächtigen Fürsten­

hauses lagen damals in der Hand Heinrich OlislägerS, welcher den Titel

eines clevischen Kanzlers führte. Frage ziemlich reservirt,

Derselbe verhielt sich in der religiösen

da aber der erste Zielpunkt seiner Politik die

Aufrechterhaltung des Einvernehmens mit Spanien-Burgund

war, so

konnte er sich nicht für die weitgehenden Reformen, welche der Herzog

So kam es, daß er auf die Intentionen Reckes all­

plante, erwärmen.

mählich einging und vor Allem die Annäherung zwischen dem Herzog und

Wilhelm von Oranien, welche sich seit dem Jahre 1562 vollzog zu hinter­ treiben bemüht war.

Die beiden Männer erreichten auch in der That

soviel, daß jedes Zusammenwirken unterblieb. Wenn nun

auch in dieser Thatsache für Herzog Alba, der

den

clevischen Staat in seinem schwankenden, isolirten Zustand im Jahr 1567 vorfand, bereits ein wesentlicher Vortheil lag, so war ihm doch sehr viel daran gelegen, die Gefahr, welche in einer plötzlichen Schwenkung Cleves

zu Gunsten OranienS gelegen haben würde, endgültig zu beseitigen.

Die

Erwägung, daß bei dem jederzeit zu erwartenden Ableben des alten Her-

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

591

zogS sein bis dahin evangelisch erzogener Sohn Carl Friedrich zur Re­

gierung gelangen würde, gab zu ernsten Bedenken Veranlassung.

Kurz nach seiner Ankunft trat Alba mit den Absichten, die er Cleve gegenüber hegte, hervor.

Wir erhalten Kenntniß von denselben aus einem

Schreiben der Jülichschen Räthe vom 21. September 1567.

Darin heißt

eS, am clevischen Hoflager sei von zuverlässiger Seite die vertrauliche Mittheilung eingegangen, daß Se. Majestät der König von Spanien mit

Vorwissen und Zustimmung des Kaisers

entschlossen sei, den Herzog

Wilhelm wegen seiner geistigen und körperlichen Unzurechnungsfähigkeit, welche ihn zur ferneren Regierung seiner Länder unbrauchbar mache, in spanische

„Tutel"

ES werde spantscherseitS als beson­

aufzunehmen.

derer Grund außerdem angegeben, daß der Herzog in der Zett seiner

„vernünftigen

Regierung"

sich

zu

habe, jetzt aber davon abgefallen

der sei

katholischen und

Religion gehalten

seine Kinder,

namentlich

den Erbprinzen und seine älteste Tochter tot evangelischen Glauben er­

ziehen laste. ES ist sehr wahrscheinlich, daß diese oder eine ähnliche Drohung in

der That von Brüssel aus nach Cleve übermittelt worden ist und die fürstlichen Räthe entschloflen sich, dem Herzog in schonender Weise davon

Mittheilung zu machen.

Die Wirkung, welche Herzog Alba beabsichtigte,

trat denn auch sofort insofern ein als toi CabinetSrath beschlossen wurde,

daß, um zu Unruhen keine Ursache zu geben, allenthalben den „Pastoren und Prädikanten aufzulegen und zu befehlen sei, keine Neuerungen in

Religionssachen oder Ceremonien der Kirche vorzunehmen noch zu ge­ statten, sondern alle Dinge in jetzigem Stand und Wesen beruhen zu

lasten".

Gleichzeitig wurde die strenge Ausweisung der niederländischen

Flüchtlinge tnS Auge gefaßt.

Indem die clevtsche Regierung in dieser Art einerseits den Wünschen AlbaS entgegenkam, ergriff sie doch auf der anderen Seite Vorsichtsmaß­

regeln, um einer eventuellen spanischen Occupation wie sie der Ausdruck

„Tutel" anzudeuten schien, entgegenzuwirken.

Hierzu war vor Allem der

Beistand und die Intervention deS Kaisers nöthig und da der Herzog demselben als Schwager nahe stand, so war zu erwarten, daß trotz der

angeblichen Uebereinstimmung zwischen dem König Philipp und dem Kaiser Letzterer keine Maßregel billigen werde, welche zur Einverleibung CleveS in die spanische Monarchie und damit zur Thronentsetzung seines Neffen führen konnte.

Deßhalb

ward vom clevischen Hoflager aus Heinrich

von der Recke, welcher beim Kaiser in besonderem Ansehn stand, nach Wien geschickt und

beauftragt für die Aufrechterhaltung

Selbständigkeit zu wirken.

der clevischen

ES schien um so mehr Gefahr im Verzüge,

592

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

als sich das Albasche Kriegsvolk in drohender Haltung unmittelbar an

den clevischen Gränzen eingelagert hatte. Zu Ende September (also wenige Wochen nach dem Eintreffen AlbaS

in den Niederlanden) erschien am clevischen Hof Franz von Halewhn als

Gesandter des Herzogs Alba und der Regentin Margaretha.

Er hatte

den Auftrag, im Namen deS neuen Oberbefehlshabers der spanischen

Armee in den Erblanden an den Herzog Wilhelm „das Begehren und die Bitte" zu stellen, daß „Ihre fürstl. Gnaden die vorigen vor Venlo

und sonst aufgerichteten Verträge und Einigungen halten und sich den­ selben allenthalben gemäß erzeigen möchte".

Ferner sei eS AlbaS und

der Regentin Verlangen, daß der Herzog den niederländischen Flüchtlingen

den Aufenthalt in seinen Ländern nicht gestatte und ihnen auch keinen

Beistand leiste.

Besonders lasse die burgundische Regierung um die Er­

greifung und Auslieferung mehrere Häupter der Bewegung bitten. Auf diese Werbung erfolgte am 2. October seitens der herzoglichen

Regierung die Antwort, daß der Fürst seiner Pflicht gemäß durchaus auf dem Boden des Venloer Vertrags stehe und sich danach richte.

Die Aus­

lieferung der spanischen Unterthanen aber müsse er verweigern und könne nur soviel zugestehen, daß sie nach den clevischen Gesetzen bestraft werden

sollten.

Wegen der Grafen Egmont und Horn, deren Gefangensetzung

Halewhn hatte erläutern müssen, sprach der Herzog die Hoffnung aus,

daß Alba denselben Gelegenheit geben werde, sich zu rechtfertigen; man erwarte, daß Alba nach Recht und Billigkeit gegen sie verfahren werde. Wenn demnach die spanische Gesandtschaft ihr Ziel auch nicht voll­

ständig erreicht hatte, so bewirkten die Forderungen AlbaS doch soviel,

daß ein CabinetSrath, welcher am 4. October am clevischen Hoflager ab­

gehalten wurde,

beschloß,

in der Beobachtung

deS Venloer Vertrags

„etwas mehr Ernst zu gebrauchen" und besonders die früher ergangenen

Befehle wegen Ausweisung der Flüchtlinge mit Strenge zu exekutiren. Da bei dieser Gelegenheit deS Gerüchtes Erwähnung geschah, daß Alba sich

womöglich der Person deS Herzogs und des Erbprinzen bemächtigen wolle, so wurde den Letzteren besondere Vorsicht beim Ausreiten u. s. w. anem­

pfohlen.

Endlich ward der Beschluß gefaßt,

daß „in ReligionSsachen,

welche die vornehmste Ursache zu solcher und dergleichen Gefährlichkeit

geben, die Bescheidenheit gebraucht werde, daß alle Dinge in vorigem

Stand und Wesen beruhen bleiben".

In der That erging unter dem

7. October ein verschärftes Edict gegen die kirchlichen Neuerungen. In der Voraussetzung, daß man sich trotz dieser Concessionen Seitens

AlbaS auf das Schlimmste gefaßt machen müßte, erfolgte unter dem 1. No­ vember 1567 der Befehl zur Mobilmachung des Landesaufgebots.

593

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

Die Lehnsleute, heißt es, sollen sich „einheimisch und in guter Rüstung

halten, um auf fernere- Ersuchen stracks auf zu sein".

In der That war Alba von den Zugeständnissen CleveS so wenig befriedigt, daß er sich entschloß, mit Gewaltmaßregeln vorzugehen.

Am

14. Mai 1568 überschritten spanische Truppen die clevischen Gränzen und bemächtigten sich einer größeren Anzahl clevischer Unterthanen, die sie in

Gefangenschaft schleppten.

Man beabsichtigte, dieselben so

lange al-

Geißeln zu behalten, bis der Herzog in allen Dingen gehorcht habe.

An

den deutschen Höfen erzählte man sich damals die Aeußerung AlbaS, „Spanien werde feine Widerwärtigen nicht allein in des Herzogs Land,

sondern auch an dessen Hoflager, ja an des Fürsten Tafel verhaften und wegführen lassen".

ES ist nach den Nachrichten, welche sonst vorltegen,

sehr wohl möglich, daß Alba eine ähnliche Bemerkung gemacht hat.

In Brüssel erkannte man indesien wohl, daß man so lange nicht weiter kommen werde, als eS nicht gelungen sei, die Gegner der spani­

schen Politik auS der Umgebung des Herzogs Wilhelm zu entfernen und andere Elemente an deren Stelle zu setzen. In dieser Richtung ward bereits im Herbst des Jahres 1567 inso­ fern ein wichtiger Erfolg erzielt, als es gelang, das HauShofmeisteramt

im spanischen Sinne durch den bisherigen Hofmeister Schwarzenberg zu

besetzen.

Die Befugnisse dieses Beamten waren auf Grund der damals

neu entworfenen Dienstinstruktion ziemlich ausgedehnter Art.

Er hatte

vor Allem die Aufsicht und Disciplinargewalt über das gefammte untere

Hofpersonal und seine Instruktion schrieb ihm ausdrücklich vor, dafür zu sorgen,

komme.

daß keine „unchristliche Handlung" bei einem Hofbeamten vor­

Dieser

allgemeine Ausdruck gab dem Schwarzenberg für die

Erreichung der verschiedensten Zwecke eine passende Handhabe;

in dem

Zustande, in welchem sich der Herzog befand, waren es gerade dke unteren

Hofchargen, die Kammerdiener und Sekretäre, welche gefährlich werden

konnten und nachmals wirklich einen großen Einfluß ausgeübt haben.

Schwarzenberg gehörte zu der streng katholischen Partei bei Hofe, die wir schon erwähnt haben.

Dieselbe hatte sich seit dem Jahre 1565

in ostentativer Weise von der evangelischen Partei losgesagt und über die Vorgänge, welche zur offenen Trennung der beiden Gruppen führten, sind

wir zufällig durch die Erzählung eines Augenzeugen genauer unterrichtet.

Der Hofprediger Gerhard Veltius, der in diesen Kämpfen insofern sehr stark betheiligt war, als sie zum Theil wegen seiner Person geführt wur­ den, berichtet, daß die Umgebung deS Herzogs zwar bis zum Jahre 1565

einmüthig mit ihrem Fürsten sub utraque specie communicirt habe, von da an aber seien einzelne, wie der Marschall Hardenberg, der Hofmeister

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischeu Kirche am Rhein.

594

Schwarzenberg, der Kanzler OliSläger und Werner v. Gymnich, abge­ fallen.

Eines Tages habe Gymnich „über Tisch" sich wegwerfend über

die evangelische Form der Communion ausgesprochen; darauf sei eS zu

einem Wortwechsel gekommen und der Hofprediger, welcher sich das Ver­

halten Gymnichs nicht gefallen lassen wollte, habe lebhaft Partei ergriffen. „Da that Gymnich wie Lucifer", sagt VeltiuS, „und nahm etliche Junker

mit sich und gingen zur Communion ins Kloster zu Düsseldorf". war das erste Schisma bei Hofe."

„DaS

Der Herzog nahm die Partei feines

Predigers und ließ die Herren vom Adel einstweilen ihren eigenen Weg gehen.

Die Schwenkung, welche ein Theil des Hofstaates hiermit vollzogen

hatte, konnte indessen um so weniger ohne Rückwirkung auf den Herzog bleiben, als gerade Werner v. Gymnich dem Letzteren persönlich sehr nahe stand.

Er war Altersgenosse und ehemaliger Studiengefährte seines

Fürsten und hatte von Kind auf am Hofe gelebt.

Conrad von Heresbach

hatte die beiden Jünglinge zusammen erzogen; nach Absolvirung der Studien war Gymnich in die Welt hinausgezogen und hatte am Hofe

Kaiser Karls V. einige Jahre verlebt.

Die Anschauungen und Neigungen,

welche hier vorherrschten, blieben nicht ohne Einfluß auf ihn und während

Herzog Wilhelm sich in den späteren Jahren mehr zur evangelischen Con­ fessio» neigte, scheint sich in Gymnich eine entschiedene Hingabe zum ka­

tholischen Glauben angebahnt zu haben.

Als er an den clevischen Hof

zurückkehrte, war er besonders auch deßhalb ein ausgezeichneter Anwalt

der spanischen Wünsche, weil ihn enge Beziehungen mit den einflußreicheren

Personen des spanisch-burgundischen HofeS verbanden. ES lag in der Natur der Dinge, daß in der Zeit, wo der Einfluß

Herzog AlbaS sich am clevischen Hofe mächtig geltend machte, auch ein so

zuverlässiger Parteigänger wie Gymnich zu wichtiger Mithülfe herange­ zogen wurde und eS gelang in der That, es durchzusetzen, daß er zum

Haushofmeister und Erzieher der Prinzen Karl Friedrich und Johann

Wilhelm befördert wurde.

Dieser Posten war im damaligen Moment

insofern der bedeutsamste bei Hofe,

als von der katholischen Erziehung

des Erbprinzen die ganze zukünftige Haltung des StaatS abhtng; zugleich aber brachte diese Stellung den Gymnich in eine nahe Berührung mit

dem Herzog selbst, dem die Erziehung seiner Kinder außerordentlich am Herzen lag. Dem steigenden Einfluß der katholischen Gruppe gelang eS zwar, die Entfernung des VeltiuS dnrchzusetzen — derselbe wurde evangelischer Pre­ diger in Wesel —, aber der Herzog selbst war einstweilen nicht zu ge­

winnen.

Noch im Jahre 1569 äußerte er sich in einer Unterhaltung,

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

595

welche er zu Büderich mit VeltiuS hatte, in Gegenwart des Hofmeister-

Schwarzenberg und anderer katholischer Räthe sehr heftig gegen die Messe, indem er sagte, daß da-, was der Pfaffe in der Messe aufhebe, der Teufel

sei, worauf VeltiuS bestätigend antwortete, die Messe sei eine „schändliche Abgötterei".

Auch in politischer Beziehung war er nicht zu bewegen, allen

Anforderungen AlbaS Genüge zu thun und Letzterer sah sich genöthigt,

auf wettere Maßregeln zu denken. Herzog Alba glaubte seinen Freunden in Düsseldorf eine besondere Stütze verschaffen zu können, wenn er einen spanischen Bevollmächtigten

zu dauerndem Aufenthalt an den dortigen Hof sende.

Er hoffte zugleich

durch die regelmäßigen Berichte eines solchen Gesandten seine Freunde und seine Feinde besser kennen zu lernen und auf die Letzteren eine wirk­

same Pression auSzuüben.

Auch

mußte der Vertreter einer so großen

Macht beim Herzog selbst eine Aufmerksamkeit und Beachtung finden, die einen direkten Einfluß auf die Entschließungen des Fürsten hoffen ließ.

AuS diesen Gründen wurde im Jahre 1568 der spanische Edelmann Jo­

hann Baptista de TaxiS nach Düffeldorf geschickt und ihm vom Herzog Alba der Auftrag ertheilt, am clevischen Hoflager dauernden Aufenthalt

zu nehmen.

In jener Zeit, wo man in Deutschland ständige Gesandt­

schaften an den Höfen noch nicht kannte, befremdete dies Vorgehen AlbaS

die deutschen Fürsten weit und breit und nicht am wenigsten war Herzog Wilhelm selbst hierüber verwundert.

Er sandte deßhalb im Juni 1568

seinen Rath Andreas Masius nach Brüssel, um Vorstellungen zu erheben.

Der Präsident VigliuS, welcher den MasiuS zuerst empfing, erklärte die

Sendung deS Taxis mit den Worten: Herzog Alba sei „in gewisse Er­ fahrung gekommen, daß, sobald er etwas Schriftliches an den Herzog

Wilhelm habe gelangen taffen, solches von Stund an den Geusen und des Königs von Spanien Widerwärtigen mitgetheilt werde".

Um dies zu

verhindern, sei Taxis abgeordnet worden. Der Erfolg der clevischen Sendung

war in jeder Richtung ein negativer; die Informationen, welche Masius sich in Brüssel verschaffte, hatten nur die Wirkung, die spanische Partei, zu welcher MasiuS selbst gehörte, in ihren Tendenzen zu bestärken.

Die letzten Ziele der albaschen Politik erhellen deutlich auS den Vor­

schlägen, welche der Präsident VigliuS dem MasiuS machte.

Letzterer

machte in der erwähnten Conferenz, die am 15. Juni 1568 stattfand,

darauf aufmerksam, daß die clevische Regierung, selbst wenn sie den besten

Willen habe, außer Staude sei, die Städte, welche eine große Selbständig­ keit besäßen und die Landsassen vom Adel in derselben Weise zum Ge­ horsam zu zwingen, wie Spanien eS bei seinen Unterthanen thue.

Darauf

antwortete VigliuS „Laßt uns Euch helfen, wir wollen sie Euch wohl ge-

596

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

horsam machen" und wiederholte diese Worte mehrere Mal.

denken, daß MasiuS

Man sollte

ein derartiges Anerbieten weit von sich gewiesen

hätte; aber so sehr war die Leitung der auswärtigen Politik bereits im

Fahrwasser Spaniens angelangt, daß Masius diesen Vorschlag im Auf­ trag OliSlägerS mit einem anderen erwiderte, welcher etwa denselben

Effect gehabt haben würde.

Er proponirte nämlich, nachdem er seiner

Instruction gemäß betont hatte, daß dies seine Privatmeinung sei, „der

König von Spanien möge einige Regimenter Reiterei besolden und in Cleve-Mark aufstellen; diese sollten zwar clevische Unterthanen sein, aber

dem König Philipp den Fahneneid leisten.

Viglius schien Gefallen hieran

zu haben, allein er war vorläufig ebensowenig ermächtigt, eine bestimmte

Zusage zu machen wie MasiuS und man ging auseinander, indem man sich die weitere Erwägung der Sache vorbehielt. MasiuS, der sich die Gesichtspunkte des Brüsseler Gouvernements in jeder Richtung aneignete, begann schon von dort aus durch ein vertrau­ liches Schreiben an OliSläger vom 19. Juni die Agitation gegen die

evangelische Umgebung des Herzogs.

Besonders erbittert war er gegen

den Leibarzt Dr. Weier, der allerdings die vornehmste Stütze der antikatholischen Partei war.

Er habe bereits wiederholt darauf hingewieseu,

sagt er, daß „der Arzt" mit Drohungen in seine Schranken zurückgewiesen

werden müsse.

Dies sei die Aufgabe derer, welche die politischen Ange­

legenheiten leiteten. licher Dinge.

Aber man sei zu milde bei der Behandlung öffent­

Viglius habe ihm vertraulich gesagt, daß die spanische Re­

gierung besonders die Beseitigung dieses Dr. Weier wünsche und haupt­

sächlich seinetwegen sei Taxis an den Hof geschickt.

OliSläger müsse den

letzteren Umstand beim Herzog geltend machen, um dadurch auf ihn zu

wirken. handeln.

Wenn OliSläger nicht zu reden wage, so werde MasiuS selbst

In solchen Sachen dürfe man auch den eigenen Bruder nicht

schonen.

Während man sich auf diese Weise bemühte, den Herzog von seinen Gesinnungsgenossen

Neigung

zu trennen, war vorläufig des Fürsten persönliche

eine den Wünschen Herzog AlbaS durchaus zuwiderlaufende.

Herzog Wihelm blieb dabei, daß er die Flüchtlinge, welche bei ihm ein Asyl gesucht hatten, ihren Verfolgern nicht ausliefern wollte.

Er hatte

sie freilich gefangen gesetzt und der burgundischen Regierung anheimge­ stellt, vor clevischen Richtern gegen sie Klage zu erheben.

Aber hierzu

konnte sich Alba nicht entschließen, indem er sagte, daß die clevischen

Richter sie schwerlich verurtheilen würden. war,

Wie erregt Alba hierdurch

ersieht man aus der Drohung, welche Masius seiner Regierung

übermittelte, daß die Spanier sich ihrer Feinde, wenn man sie nicht aus-

liefere, in deS Herzogs Landen bemächttgen würden.

Auch hierdurch in­

dessen ließ sich Herzog Wilhelm nicht einschüchtern und die Rüstungen, welche Wilhelm von Oranien im Jahre 1568 betrieb, fanden unter den

Augen deS Herzogs seitens der clevischen Städte lebhafte Unterstützung.

Auch in anderen Beziehungen ließ sich der Fürst vorläufig noch nicht von der spanischen Politik ins Schlepptau nehmen.

Seit dem Jahre 1569

bemühten sich die katholischen Mächte die nordwestdeutschen Fürsten zum Eintritt in den sogenannten „Landsberger Bund" zu bewegen, welcher eineStheilS zur Aufrechterhaltung deS ReligionS- und Landfriedens, be­

sonders aber zur Förderung katholischer Zwecke gegründet worden war. Die Verhandlungen wurden im größten Geheimniß geführt und die ersten Anträge gelangten im August 1569 durch den Bischof von Würzburg an

dm Bischof von Münster, Johann v. Hoya.

Dieser machte seinen Ein­

tritt von demjenigen CleveS abhängig und im September wurden darüber

am clevischen Hofe Berathungen gepflogen.

Allein unter dem 13. October

mußte der Würzburgische Kanzler, Balthasar von Hellu, welcher die Ver­

handlungen führte, dem Bischof Johann melden, „daß er die Sache auf diesmal nicht habe fertig machen können".

Dies möge wohl daran liegen,

fügt er hinzu, daß „er seine Männer, welche ihm in diesem Anliegen hätten dienen sollen, nicht habe können bestätigt und zur Stelle erhalten".

„Aber", heißt es am Schluß, „die Sache stehe doch auf solchen Wegen, daß er sich keines Abschlags versehen könne; es werde auch von Bielen

dafür gehalten, wenn der Herzog Wilhelm über alles menschliche Versehen

nicht

wolle, daß

„der Mann da"

Paaren bringen".

(Herzog Alba)

ihn wohl könne zu

Mehr taffe sich auf diesmal nicht schreiben.

Die Antwort, welche Herzog Wilhelm auf die Bündniß-Anträge er­ theilte, lautete dahin,

daß er einen neuen Bund zur Aufrechterhaltung

deS ReligionS- urd Landfriedens nicht nothwendig halte.

Der letztere sei

von den deutschen Fürsten „so stattlich verfaßt und betheuert, daß man

sich billig darauf zu verlassen habe".

Separatbündnisse einzelner Fürsten

hätten selten im heiligen Reich gute Frucht oder Nutzen geschaffen. Auf diese Ablehnung hin wandten sich die süddeutschen katholischen

Mächte wirklich an Alba in der Hoffnung, daß dessen Machtwort den Herzog gefügig machen werde.

In der That erließ Ersterer am 22. Mat

1570 ein Schreiben nach Düsseldorf, worin er auseinandersetzte, daß der

Landsberger Bund eine heilsame Einrichtung sei, welche vorrzehmlich zur Erhaltung der Kaiserlichen Autorität dienen solle.

Er (Alba) wolle mit

den Burgundischen Provinzen dem Bunde gleichfalls beitreten.

Da nun

des Herzogs Wilhelm Gebiet und das spanische so nahe an einander gränzten und das eine von des anderen Zufällen mitberührt werde, so PrruKische Jahrbücher. Bd. XLVIIL Heft 6.

43

598

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

wünsche er nichts mehr,

als daß auch Herzog Wilhelm Mitglied des

Bundes werde.

AIS dieses Schreiben in Düsseldorf anlangte, hatte der Herzog die Bündnißfrage gerade vor die Landstände gebracht und ihnen mit Bezug auf die Rechte, welche ihnen in solchen Fällen zustanden, die Frage vor­

gelegt, ob sie geneigt seien, darauf einzugehen.

Sowohl der Jülich-Ber­

gische Landtag, welcher in Düsseldorf versammelt war, wie der clevtschmärkische, der in Essen tagte, verneinte diese Frage und am 14. Juli 1570

wußte Herzog Albrecht von Baiern, der sich besonders für den Eintritt seines Schwagers in den Bund intereffirte, daß alle Bemühungen umsonst

gewesen seien. Er schrieb damals an den Würzburgischen Kanzler, die clevische Regierung habe einen Beschluß gefaßt, den sie zu bereuen haben werde.

Diese Ablehnung war indessen die letzte selbständige politische That, zu welcher sich der Herzog im Gegensatz zu Spanien und den katholischen

Mächten aufraffte.

Gerade in den Monaten, wo die Verhandlungen über

diese Frage schwebten,

erreichte die katholische Umgebung des Fürsten

dadurch einen großen Erfolg, daß sie den Herzog in der Frage des AltarSakramentS, welche dem Fürsten bis dahin am meisten Anstoß gegeben

hatte, zu Gunsten der katholischen Auffassung umzustimmen wußte. DeS Herzogs Stimmungen waren unter dem Einfluß seiner Krank­ heit, die ihre Wirkungen auf den ganzen geistigen und körperlichen Or­

ganismus immer unheilvoller geltend machte, einem fortwährenden Wechsel unterworfen.

Je mehr er in Folge der stets repetirenden Anfälle sich

hinfällig fühlte, um so mehr war er der Beeinflussung derer zugänglich,

welche ihn im rechten Augenblick von der richtigen Seite zu fassen wußten.

ES war bekannt, daß er seine Krankheit häufig als einen Ausfluß der göttlichen Strafe für fein Verhalten in den kirchlichen Fragen ansah und früher nicht selten sich eingeredet hatte, Gott züchtige ihn, weil er nicht

den Muth habe, die neue Lehre, die er doch in wesentlichen Punkten als die bessere ansah, in seinen Ländern einzuführen.

Natürlich war er von

dieser Seite her auch vom umgekehrten Standpunkt aus zugänglich.

Wie

dem nun auch sei — jedenfalls gelang es Gymnich, in der Zeit, wo

die erste Communion seines Zöglings, des Erbprinzen Karl Friedrich, herannahte, den alten Herzog von der Ueberzeugung abzubringen, daß

der evangelische Gebrauch des Abendmahls der Einsetzung Christi gemäß sei und zu £)ftern 1570 erlebte Gymnich den Triumph, daß Vater und

Sohn mü ihm zusammen das Abendmahl nach der Vorschrift der katho­ lischen Kirche nahmen und der Messe beiwohnten.

Ja, der Fürst war

plötzlich so sehr für diese Form deS Gottesdienstes eingenommen, daß er

nach Art der Convertiten mit Leidenschaft die neue Weise ergriff und nun

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

599

auch von seiner ganzen Umgebung, besonder- von seinen Angehörigen, die Befolgung der katholischen Vorschriften verlangte.

Der Widerstand,

auf welchen er bet seiner Schwester und seinen Töchtern stieß, zeigte sich

freilich bald als unüberwindlich. Wenn es gelang, den Fürsten auf dieser Bahn zu erhalten, so war der Wendepunkt der clevischen ReligionSpolitik und Geschichte gekommen. In der Umkehr deS Herzogs lag zugleich ein Symptom für die Thatsache, daß die katholische Partei vollständig die Oberhand besaß und wenn man eS durchsetzte, den Fürsten standhaft zu erhalten, so bedeutete dies zugleich

die Fortdauer ihrer Herrschaft.

Gymnich, welcher wohl erkannte, daß die

Möglichkeit eines abermaligen Umschlags nicht ausgeschlossen war, setzte sofort alle Mittel in Bewegung, um auch von anderer Seite her auf den

Herzog in katholischem Sinne einzuwirken und faßte hierbei namentlich die Mitwirkung der katholischen Verwandten, deS Kaisers und des Herzogs Albrecht sowie diejenige des Königs von Spanien ins Auge.

Zu dem soeben in Speier zusammentretenden Reichstag hatte auch

Herzog Wilhelm seine Gesandten geschickt.

Dieselben hatten von einigen

katholischen Hofrüthen, namentlich von Gymnich, eine geheime Nebenin­ struction empfangen, welche sie beauftragte, den Kaiser zu bitten, daß er

sobald als möglich einen Botschafter nach Düsseldorf abordne, um den

Herzog wegen seiner guten Gesinnungen zu beglückwünschen und ihn zu bitten, daß er auf dem eingeschlagenen Wege beharre.

Wirklich erklärte

sich der Kaiser bereit und versprach, den Freiherr» von Winnenberg zu

senden.

Da sich dessen Ankunft indessen länger, als man am clevischen

Hofe für gut hielt, verzögerte, so schrieb Johann Baptista de TaxiS, der an der Entwicklung der Dinge fortwährend thätigen Antheil nahm, an

den König Philipp, daß Letzterer schleunigst seinerseits eine Botschaft mit

gleichem Auftrag an den Herzog senden möge.

Man wußte wohl, daß der

Fürst auf Aufmerksamkeiten so hoher Potentaten einen großen Werth legte. Ganz besonders war Werner v. Gymnich bestrebt, die abgebrochenen Beziehungen zur Partei der Landsberger Verbündeten wiederaufzunehmen

und ihren Beistand für seine Zwecke zu gewinnen.

Unter dem 15. Sep­

tember 1570 schrieb er an den bisherigen Agenten dieses Bunde-, den

Würzburgischen Kanzler Hellu einen langen Brief, in welchem er die Ver­ hältnisse bei Hofe eingehend schilderte und den Wunsch au-sprach, Baiern

und

„alles was daran hinge",

möge den Herzog nicht verloren geben,

sondern die katholischen Hofräthe unterstützen.

Der Kanzler, sagt er, habe

ihm seiner Zeit erklärt, daß die clevische Ablehnung dem Herzog von Baiern

alles Vertrauen

in

den Fürsten raube.

Schon damals habe

Gymnich erwidert, die Schuld davon liege nicht am Hofe, sondern daran,

43*

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

600

daß man hier wie anderwärts in deutschen Landen mehr zum Schlimmen als zum Guten geneigt sei.

Deßwegen möge man aber doch „bad Kind

nicht mit dem Bade ausgießen"; er „trage keinen Zweifel, wenn Kaiser­

liche Majestät und der Herzog von Baiern dessen berichtet wären, wie es mit Herzog Wilhelm, den zwei jungen Herrn und in diesen Landen eine

Gestalt der Religion hätte, so würden Ihre Majestät und seine fürstliche Gnaden den Sachen auf anderen Wegen nachdenken".

Allerdings hätten

einige „unftiedsame und unerfahrene Leute es dahin getrieben", daß die Messe eine Zeit lang bei Hof abgeschafft gewesen sei; jetzt aber habe der

Fürst selbst die Messe wieder gehört und er habe nebst seinem Sohn,

dem Erbprinzen, letztvergangene Ostern das Sakrament des Altars unter der Form einer katholischen Messe empfangett.

Augenblicklich ständen die

Sachen so, daß, wenn der Kaiser und Baiern sich den Handel zu Herzen

gehn ließen, die Religion bald wieder auf die alten Wege zu richten sein werde. Er könne sich nicht genugsam verwundern, daß die genannten katholi­

schen Mächte bei der Bedeutung, welche Cleve für ganz Westfalen und den Niederrhein

besitze, sich

des Herzogs nicht sorgfältiger annähmen.

Der Würzburgische Kanzler möge bei Baiern interveniren, daß dieses den

Kaiser zur Abordnung der bereits in Speier erbetenen Gesandtschaft be­ wege.

Dieser Bevollmächtigte müsse Befehl haben, bei Herzog Wilhelm

fleißig anzuhalten, daß letzterer mit seinem „guten Vorhaben fortfahre"

und darauf dringen, daß in seiner Gegenwart die Messe bei Hofe wieder

feierlich eingeführt werde. Gymnich bitte dringend um Hülfe und Beistand.

„Ew. Gunsten

werden meines Verhoffens fleißig sein, daß der Herzog von Baiern sich

diese Sache will anliegen lassen, denn wenn man die katholische Religion diesen Orten erhalten kann, so soll sich keiner von all unsern Nachbarn einiger anderer Religion unternehmen dürfen." Dieses Schreiben, welches der Würzburgische Kanzler sofort abschrift­

lich nach München gelangen ließ, hatte denn in der That die bedeutsame

Wirkung, daß Baiern von nun an seinen ganzen Einfluß aufbot, um den

Herzog in der katholischen Religion zu erhalten — ein Bestreben, welches

von um so rascherem Erfolge gekrönt wurde, als der Herzog selbst unter der Leitung Gymnichs den Wünschen seiner Verwandten auf halbem Wege

entgegenkam. Die wichtigste Concession, welche er gleich vom Jahre 1570 an

machte, war die streng katholische Erziehung seiner Söhne, besonders des

Erbprinzen Carl Friedrich.

Bis zu. seinem 16. Jahre hatte dieser (er

war am 24. April 1555 geboren) in Matth. Venraidt aus Broichhuysen

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

601

(PaludanuS) einen Lehrer gehabt, welcher die vermittelnde Richtung des Herzogs theilte und von den beiden sich bekämpfenden Hofparteien bisher

wegen seiner geistigen Inferiorität als unschädlich angesehen worden war.

Jetzt, nachdem die katholische Partei ein entschiedenes Uebergewicht erlangt hatte, mußte er nicht nur weichen, sondern man faßte den Plan, den

Prinzen ganz und gar auS einer Umgebung zu entfernen, welche soviel

akatholtsche Elemente zählte, daß leicht von irgend

einer Seite uner­

wünschte Einwirkungen stattfinden konnten.

DaS Bestreben der römischen Partei,

die deutschen Prinzen und

Thronerben an katholischen Höfen erziehen zu kaffen war ein ganz allge­ meines; am liebsten sah eS die Curie, daß die jungen Fürsten nach Rom kamen und eS ist kein Zweifel, daß schon damals die Absicht bestand, den

clevischen Jungherzog nach Rom zu bringen, allein vorläufig schien die

Zustimmung deS Vaters zweifelhaft und man schlug deßhalb dem Herzog Wilhelm vor, daß Carl Friedrich zunächst nur eine größere Reise unter­ nehmen solle und zwar in erster Linie zu seinem Onkel, dem Kaiser

Maximiltän.

ES scheint,

als ob man hierbei im Einverständniß mit

letzterem gehandelt habe und eS gelang, den Herzog für den Plan zu ge­

winnen.

Schon am 23. Januar 1571 erfahren wir aus einer spanischen

Relation, daß eS beschlossene Sache sei, den Erbprinzen nach Wien zu senden.

Man habe zugleich die Absicht, den jungen Herrn mit einer

katholischen Frau zu verheirathen und man hege die Hoffnung, daß er alSdann ein treuer Anhänger der katholischen Kirche sein und bleiben werde.

Natürlich kam hierbei sehr viel auf die Begleitung an, welche man dem jungen Manne mitgab.

Gymnich ließ eS sich nicht nehmen, als

Haushofmeister mitzuziehen; als Erzieher trat an die Stelle des PaludanuS Stephon Winands aus Camven in Overyffel, welcher seine Bildung in

Italien erhalten hatte, wo er acht Jahre lang gewesen war.

Ehe man

ihn nach Cleve berief war er in burgundischen Diensten gewesen.

Sein

Verwandter, der Cardinal Granvella hatte ihn als Sekretär der lateini­

schen Correspondenz im niederländischen StaatSrath beschäftigt und diese

Thätigkeit, welcher er vierzehn Jahre lang obgelegen, hatte ihm nicht nur eine große Erfahrung in der Behandlung politischer Geschäfte, sondern auch eine genaue Kenntniß der Ziele der spanisch-römischen Partei ver­

schafft.

Da er außerdem Priester war so schien er die geeignete Persön­

lichkeit, um

einen jungen Fürsten in Hingebung für den katholischen

Glauben zu erziehen.

ES war im Sinne der römischen Partei gewiß ein

Zeichen von guter Gesinnung,

daß Herzog Wilhelm

die Wahl dieses

Mannes zum Erzieher seines Sohnes bestätigte und nachdem man um

dieselbe Zeit dem Fürsten in der Person deS Winand Thomasius StralensiS

602

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

einen Hofprediger gegeben hatte, in dessen katholische Haltung man Ver­

trauen setzen zu können glaubte, durfte Gymnich den Hof in der Ueber­ zeugung verlassen, daß der Herzog auf der eingeschlagenen Bahn beharren

werde.

Den wichtigen Posten deS Haushofmeisters

bei dem jüngeren

Sohn Johann Wilhelm, welchen er bisher gleichfalls inne gehabt hatte,

legte er in die Hände seines treuen Gesinnungsgenossen Rauschenberg nieder und so durfte er um so mehr von dieser Reise gute Früchte hoffen als seine persönliche Intervention bei den fremden Höfen den Zwecken,

die er verfolgte, nur förderlich sein konnte.

Am 15. October 1571 ward

die Reise nach Wien angetreten und unter dem 8. Januar 1572 schreibt

Ghmnich an Godfried von Schwartzenberg, daß die Angelegenheiten am

kaiserlichen Hofe nach Wunsch verliefen und giebt seiner Freude Ausdruck, daß der Herzog „sich so beständig erzeige". In der That hatte die katholische Partei von nun an den Fürsten vollständig an sich gefesselt und sie konnte nunmehr auch daran denken, die Wiederherstellung der alten Kirche in den jülich-clevischen Ländern zu beginnen.

Hier befand man sich freilich einer sehr schwierigen Aufgabe gegen­

über.

Nahezu der einzige feste Halt, welchen die strenge römisch-katholische

Richtung inne hatte war die fürstliche Autorität und einzelne einflußreiche Hofämter.

Die überwiegende Majorität

der Unterthanen

stand

den

Tendenzen des spanischen Katholicismus, der durch die Strenge, mit

welcher er seine Gegner in den Niederlanden verfolgte, soeben überall in

den Nachbargebieten Schrecken verbreitet, halte, in heftigem Gegensatz. Selbst diejenigen Gegenden, welche sich von der alten Kirche bisher nicht formell getrennt hatten, wollten von den „Hispanisirten", wie man die

strengen Katholiken zu nennen pflegte, nichts wissen und der Wille deS Einzelnen, selbst deS Fürsten, war einstweilen wirkungslos gegenüber der entschlossenen Opposition deS Landes.

Vorläufig mußte das Streben der

Regierung dahin gerichtet sein, sich eine Partei zu schaffen und hierzu war eS nothwendig, daß man die Mittel, welche die landesfürstliche Autorität

an die Hand gab, mit Energie und Geschick zur Anwendung brachte.

AlS der Herzog plötzlich von der Richtung abschwenkte, die er Jahre

lang eingehalten hatte, lag eS in der Natur der Sache, daß feine Beamten, welche bisher sich mit ihrem Fürsten ein» gewußt hatten, nicht sofort zur gleichen Umkehr sich entschließen konnten und so kam eS, daß bet Beginn deS Kampfes die Majorität sowohl der weltlichen wie der geistlichen

Beamten und Organe die neuen Anschauungen der Regierung nicht theilte.

So hatte, um nur einzelne Beispiele anzuführen, der fürstliche Amt­ mann zu Elberfeld, Johannes Ketteler, den katholischen Pastor daselbst

zur Niederlegung seines Amtes gezwungen und einen

evangelischen an

dessen Stelle gesetzt. Der Amtmann von Solingen, Wilhelm von Bernsau,

gehörte zu den offenen Anhängern der neuen Lehre und als PetniS Lo wegen seiner religiösen Anschauungen von der herzoglichen Regierung ge­

fangen gesetzt worden war, bewirkte er dessen Freilassung.

Der Amt­

mann zu Brüggen, Franz von Holtmullen, zog die protestantischen Prediger, welche auf Befehl der Regierung vertrieben worden waren, an sich und

gewährte ihnen Unterkunft.

Ein Spezialbefehl mußte ihn darauf auf­

merksam machen, daß fürstliche Beamten sich nicht in Gegensatz zu ihrer Obrigkeit zu setzen hätten. Auch die Mehrzahl der Geistlichen wirkte einstweilen, wenn nicht in

evangelischem, so doch in jenem vermittelnden Sinne, welcher seit dem Augsburger ReligionSfrieden unter fürstlicher Begünstigung allmählich

das ganze Land durchzogen hatte, fort.

Besonders war die Ordination,

wie die katholische Kirche sie vorschrieb, ganz und gar vernachlässigt worden.

Die katholischen Hofräthe

erkannten

sofort, daß

gerade bei den

Pastoren zuerst der Hebel angesetzt werden müsse und eine der ersten

Maßregeln, welche nach der Wiederaufnahme der Messe bei Hofe er­ folgte, war das Edikt vom 18. Juli 1570, welches an die Landdechanten

gerichtet war.

Die Letzteren sollen, heißt es darin, die Geistlichen ihres

Sprengels Vorbescheiden und sich von jedem Einzelnen „das Dokumentum oder den Beweis, wonach er zum priesterlichen Stande ordinirt fei" vor­

zeigen

lassen.

Der Herzog habe vernommen, daß viele Priester den

Kirchendienst ohne ordnungsmäßige Ordination versähen;

Willens, dies nicht länger zu dulden.

er sei

aber

Daher solle Allen, welche genügende

Legitimationspapiere nicht besitzen, die Kirche verboten werden.

Ueber

die Anordnungen, die zur Ausführung des Mandats von den Dechanten

gemacht worden seien, verlangt der Herzog eingehenden Bericht.

Wie sehr der Fürst sich persönlich für diese Maßnahmen interessirte, geht daraus hervor, daß er das uns erhaltene Concept der Verordnung eigenhändig

corrigirt und mit verschärfenden Zusätzen versehen hat.

In der That konnte vermittelst der Landdechanten, welche die geistliche

Gerichtsbarkeit (die sogenannten Archidtakonalrechte) in ihrem Bezirk auS-

übten im Sinne der Restauration vieles erreicht werden und das Streben

der katholischen Räthe ging dahin, diese wichtigen Posten mit zuverlässigen Personen zu besetzen. Um dieser geistlichen Aufsichtsinstanz die Mitwirkung des weltlichen

ArmS zu sicheren, erschien einige Tage später, am 16. Juli 1570, eine

entsprechende Verordnung an die herzoglichen Amtleute.

Die Letzteren

sollen auf die Beobachtung der alten Ceremonien in den Kirchen halten

604

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

und diejenigen Geistlichen der Regierung namhaft machen,

welche sich

ander- erzeigen. Der Herzog hatte neben seiner Sympathie für eine kirchliche Reform

von jeher einen großen Widerwillen gegen alles dasjenige besessen, was er „Sekten" nannte, besonders gegen die Calvinisten („Sakramentirer")

und Baptisten.

AuS dieser Antipathie war schon int Jahre 1565 ein

Edikt hervorgegangen, welches die schärfsten Strafen allen denjenigen Re­ ligionsparteien

androhte,

einbegriffen waren.

welche nicht im Augsburger Religionsfrieden

Die märkischen Städte, welche wohl einsahen, daß um sie gegen jede kirchliche

die Bestimmungen dehnbar genug waren,

Neuerung anzuwenden, hatten sofort nach dem Erlaß ihren Besorgnissen Ausdruck gegeben und die Entwicklung der Dinge sollte bestätigen, daß

ihre Furcht begründet war.

Seit der Umkehr des Fürsten hatte sich sein

Haß gegen die Sekten natürlich noch mehr gesteigert und es hielt nicht

schwer, ihn davon zu überzeugen, daß auch diejenigen Gemeinschaften, die er früher nicht dafür gehalten hatte, unter jenes Strafgesetz fielen. der That erfolgten denn auf Grund desselben Pönalmandate,

sungen u. s. w.

In

Auswei­

Sobald diese Maßregeln in den benachbarten deutschen

Territorien bekannt wurden säumten die evangelischen Fürsten nicht, für ihre Glaubensgenossen Fürbitte einzulegen.

Am

5. September

schrieb Churfürst Friedrich von der Pfalz an unseren Herzog,

1571

er habe

von Mandaten vernommen, in welchen den clevischen Unterthanen, die sich zur Augsburgischen Konfession bekennen, entweder von der

ganz ernstlich geboten sei,

erkannten Wahrheit abzustehen oder aber innerhalb

ganz kurz bemessener Zeit „beneben Berlassung und Confiscirung ihrer

Hab und Güter" daS Land zu räumen.

Da durch dieses Edict die An­

gehörigen der „wahren christlichen Religion" vornehmlich getroffen würden,

so wolle der Churfürst, ohne dem Herzog in seine obrigkeitlichen Rechte einzugreifen, freundliche Fürbitte für jene einlegen.

Die Antwort, welche

unter dem 20. September erging, lautete durchaus ablehnend.

Die her­

zoglichen Mandate, hieß eS, seien vornehmlich „auf die verdammten Sekten gestellt, die dem Religionsfrieden nicht einverleibt seien". kümmere sich der Herzog nicht um daS,

Im Uebrigen

was der Churfürst in seinen

Landen bezüglich der Religion thue und er hoffe, daß „auch ihm sein

Bedenken hierin freistehe".

Trotz dieser Abweisung erließen die drei Churfürsten von der Pfalz,

von Sachsen und von Brandenburg sowie die Herzöge von Braunschweig und Pommern nebst den Landgrafen Wilhelm und Ludwig von Hessen am 20. November desselben Jahres ein weiteres Gesuch an den Herzog,

worin sie sich sowohl für die niederländischen Flüchtlinge wie für alle An-

gehörigen ihrer Confession angelegentlich verwendeten.

Die Fürsten könnten

nicht unterlassen, heißt es darin, dem Herzog zu Gemüth zu führen, daß

eine Reihe von Jahren hindurch die christlichen Religionsverwandten in

Cleve den obrigkeitlichen Schutz genossen hätten und als treue und gehor­

same Unterthanen erkannt worden seien.

Jetzt werde über dieselben großer

Jammer, Angst und Bedrängniß verhängt, welche sie auS ihrem natür­ lichen Vaterland und ihren Wohnungen vertreibe.

Die Fürsten bitten,

der Herzog möge zu solchem Unheil keine Ursache geben und sich so gegen

die Armen erweisen wie er eS am jüngsten Tag von der Wiedervergeltung

GotteS für sich erwarte.

Doch blieben alle Vorstellungen unwirksam und

der Herzog beharrte mit Ernst auf dem Wege, den er eingeschlagen hatte. Am 29. März 1572 wurde das Edikt vom 16. Juli 1571 erneuert und

den Amtleuten streng befohlen, daß sie bei dem» bevorstehenden Osterfest auf die katholische Feier deS Gottesdienstes in allen Kirchen Aufsicht haben

sollten.

„Das hochwürdige Sakrament des Altars solle mit vorgehender

Beichte und Absolution unter dem Amt der katholischen Messe" gehalten werden.

geben.

Nur die Communio sub utraque wurde nach tote vor frei ge­ Diejenigen Kirchendiener und Geistlichen, welche den Gehorsam

weigern, sollen namhaft gemacht und alsdann ihres Amtes entsetzt werden.

Dabei blieb man aber nicht stehen; eine ganze Fluth von Verord­ nungen schloß sich im Laufe desselben JahreS an.

Am 17. Mai erging

ein Befehl ay den Amtmann zu Goch, worin ihm aufgetragen ward, die Versammlungen von Sektirern, welche angeblich dort gehalten wurden, zu

verhindern; am 22. desselben MonatS ward ein Edikt wegen Aufrechter­ haltung der hergebrachten Festtage erlassen und am 17. November wurden

die bisherigen Edikte sowohl gegen die fremden Flüchtlinge wie gegen die

ungehorsamen Unterthanen unter verschärfenden Bestimmungen erneuert. Gerade in den Tagen deS November zeigte sich die Regierung ent­

schlossen, die äußersten Mittel anzutoenden, um sich den Wünschen Herzog AlbaS gemäß der Fremden zu entledigen.

Der Drost Heinrich v. d. Recke,

dessen Eifer für die katholische Sache bekannt war, erhielt Befehl gegen diejenigen Emigranten Gewalt zu gebrauchen, welche in der Stadt Emmerich

eine Zuflucht gefunden hatten.

Eine kleine HeereSabtheilung ward beor­

dert, die Execution in der Stadt zu vollstrecken.

Gleichzeitig wurden an

anderen Orten (z. B. in der Stadt Rees) die früher verbotenen Pro­

zessionen auf Befehl der Obrigkeit wieder eingeführt, denjenigen, welche nicht im Glauben der katholischen Kirche gestorben waren, wurde das Be-

gräbniß auf geweihten Friedhöfen verweigert und die Geistlichen, deren

Ungehorsam fortdauerte, auS dem Lande vertrieben.

Alle diese Maßregeln erfolgten unter den

Augen Herzogs Alba,

606

Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.

welcher der Entwicklung der clevischen Dinge fortdauernd die größte Beachtung schenkte.

ES war ihm gelungen, den Herzog Wilhelm in die

Interessen der spanischen Politik htneinzuziehen, indem er ihm die Erwer­

bung deS HochstiftS Münster für seinen zweiten Sohn Johann Wilhelm in Aussicht stellte.

Da gerade hieran dem Herzog Wilhelm sehr viel ge­

legen war, daS Ziel aber ohne die Unterstützung AlbaS und der römischen

Curie nicht

erreicht werden konnte, so hielt diese Aussicht den Herzog

ebensosehr im Gehorsam deS Königs von Spanien wie die Drohungen

AlbaS, dessen Truppen fortwährend an den clevischen Gränzen in starken

Abtheilungen concentrirt waren.

Die Beziehungen zwischen dem Hof zu

Düsseldorf und dem spanischen Gouvernement in Brüssel wurden seit dem Jahre 1570 immer intimer; mehr als einmal ging Andreas MasiuS mit vertraulichen Werbungen hin und her und er konnte jetzt dem Herzog Alba mit besserem Gewissen als früher versichern, daß sein Fürst ein be­ sonderes Wohlwollen für den König von Spanien und die katholische

Kirche hege.

Allmählich wagte eS Herzog Alba sogar auf die Familien-

Angelegenheiten deS fürstlichen Hauses einzuwirken.

Im Frühjahr 1572

hatte er vom Wiener Hofe die Nachricht bekommen, daß der clevische Erb­ prinz Carl Friedrich, der eben dort weilte, zu Weihnachten daS Abend­

mahl sub utraque specie genommen habe.

Sofort ließ der Herzog den

MasiuS nach Brüssel kommen und eröffnete ihm, daß er verlange, Herzog Wilhelm solle seinem Sohne derartige Dinge untersagen.

Er wünsche

eine schriftliche Erklärung deS Herzogs, daß er seine beiden Söhne nach den Vorschriften der römisch-katholischen Kirche unweigerlich erziehen lassen wolle.

MasiuS, der tief bestürzt diese Forderungen seinem Fürsten über­

brachte, wurde alsbald darauf abermals nach Brüssel abgefertigt, um die verlangte schriftliche Erklärung dem spanischen Gouverneur zu überreichen.

In und mit diesem Schritte gab die clevische Regierung zu erkennen, daß sie sich den Befehlen Herzog AlbaS rückhaltlos unterordne und der Letztere war somit am Ziele der Politik, die er Cleve gegenüber mit Klug­

heit und Energie seit der Uebernahme deS Oberbefehls in den Nieder­ landen zur Geltung gebracht hatte.

Als er im Jahre 1573 die burgundi­

schen Länder verließ, war zwar der Aufstand der Provinzen keineswegs

bezwungen, aber das mächtigste der deutschen Nachbarländer, welches die Haltung der kleineren Territorier durchaus bestimmte, war in den Ge­ horsam Spaniens und unter den Einfluß der römischen Curie vollständig

zurückgebracht und die Nachwirkungen dieses Erfolgs find von weittragender historischer Bedeutung geworden.

Münster i. W.

Ludwig Keller.

Melchior von Diepenbrock. Stahl hat es beklagt, daß der Protestantismus dem Katholizismus

gegenüber fast nur die Stellung des borghesifchen Fechters einnehme. Diese Klage war damals unbegründet, sie ist es gegenwärtig noch mehr. Der Kirche deS unfehlbaren Papstes, die in Marpingen und DtetrichSwalde die Absurditäten auf Bäumen thronender Madonnen und Wunder

wirkenden Wassers dem katholischen Volk als Seelenspetse bietet, kann der Protestantismus nur die entschiedenste Antipathie entgegen bringen, und Kampf auf Tod und Leben ist für ihn daS einzige pflichtmäßige Verhalten.

ES war nicht immer so.

Es hat Zeiten gegeben, in denen auch der

Katholizismus, oder doch wenigstens kräftige Strömungen in der katholi­

schen Kirche, vor allem für evangelische Frömmigkeit etntraten und in der Predigt der christlichen Heilswahrheit ihre wichtigste Aufgabe erkannten.

In diesem Sinne wirkte am Ende des vorigen, in den Anfängen dieses Jahrhunderts der ausgezeichnete Bischof Sailer und seine Schule.

das ist schon lange, lange her. ein

andres

Ziel gesteckt:

Aber

Der gegenwärtige Katholizismus hat sich

Die unbedingte Herrschaft der hierarchischen

Autorität, die Erstickung jeder selbständigen Regung des Geistes und Ge­

wissens.

Wie diese Wandlung stattgefunden hat, zeigt uns das Lebensbild

Melchior von DiepenbrockS, dessen eingehende Biographie, mit Sorgfalt

und großer Liebe verfaßt, jüngst erschienen ist, ein Werk deS altkatholischen Bischofs Reinkens*).

Wenn wir im Anschluß an dasselbe das Lebensbild DiepenbrockS zeichnen, kommt eS uns vor allem darauf an, eS als einen Spiegel der allgemeinen kirchlichen Bewegungen darzustellen, und beschränken wir uns

daher in Bezug auf die äußeren Erlebnisse und Beziehungen auf die Mittheilung der wesentlichsten Thatsachen und Verhältnisse.

*) Melchior von Diepenbrock. Ein Zeit- nnd Lebensbild von Dr. Joseph Hubert ReinkenS, kath. Bischof. Mit dem Portrait DiepenbrockS in Original-Radirung. Leipzig. Verlag von L. Fernau. S. 499.

Melchior von Diepenbrock, einer westphälischen ÄdelSfamilie ent­ stammend, wurde am 6. Januar 1798 geboren.

Seine Erziehung bot

viele Schwierigkeiten. Eine sittlich reine, tief angelegte, phantasievolle Natur war in ihm mit einer Unstetigkeit, Wildheit und Zügellosigkeit

verbunden, welche es ihm sehr erschwerte, in fest geordneten Verhältnissen auszuhalten. Mancherlei pädagogische Versuche endeten mit einem Miß­ erfolg. Als Jüngling trat er in die Armee, aber nur, um sie bald wieder zu verlassen. Aller Subordination widerstreitend, gerieth er bald in Collisionen, die seinen Abschied aus dem Dienst herbeisührten. Es folgte nun eine Zeit ländlichen Stilllebens auf dem älterlichen Gut. In Folge

des lebhaften kirchlichen Interesses, von welchem beide Eltern erfüllt waren, fanden sich hier unter ihrem gastlichen Dach häufig Männer und Frauen ein, welche für eine geist- und gemüthvolle Wiederherstellung katholischer Frömmigkeit wirksam waren, die Fürstin Gallitzin, Luise Hensel, die Brüder Brentano. So kam im Herbst 1818 auch Sailer hierhin zum Besuch. Er sollte für Melchior Diepenbrock entscheidend

werden. Sailer gelang eS, des unsteten, mit sich und der Welt zer­ fallenen Jünglings Herz für eine harmonische Lebensgestaltung nach Maßgabe christlicher Frömmigkeit zu gewinnen. Die Innigkeit, Heiter­ keit, Milde, die schöne Vereinigung von Glaubenskraft und Liebesfülle, welche Sailers ganzes Wesen durchdrang, fesselte Diepenbrock mit un­ widerstehlicher Gewalt. Er glaubte, von ihm sich nicht trennen zu können, und folgte ihm nach Landshut, um dort unter seinen Augen Kameralia zu studieren. Aber bald vertauschte er dies Studium mit dem theologi­ schen; sein Entschluß, Priester zu werden, stand fest. Ging derselbe we­ sentlich aus Innern Drange hervor, vor allem vermöge der unmittebaren,

aber von diesem nicht beabsichtigten Einwirkung der idealen Priestergestalt

SailerS, so ist doch auch Clemens Brentano'S und der ekstatischen Dülmener Nonne, Katharina Emmerichs Einfluß darin spürbar. In Re­

gensburg, wohin er Sailer, der dorthin als Domkapitular übergesiedelt, nachgezogen war, absolvirte er seine theologischen Studien. Am 27. De­

cember 1824 wurde er von Sailer, der inzwischen Weihbischof und Coad­ jutor geworden war, zum Priester geweiht. Er zog nun in das Haus SailerS, um in verehrungsvoller, kindlicher Liebe ihm bis zu seinem Tode zur Seite zu stehen, wie er auch von diesem mit väterlicher Zärtlichkeit

geliebt wurde. Vergegenwärtigen wir uns,

bevor wir Diepenbrock- LebenSgang

weiter verfolgen, die religiöse und theologische Grundrichtung deS jungen

Priesters. Den größten Einfluß auf dieselbe übte Sailer. Dieser aus­ gezeichnete Christ, Priester und Theologe hat oft seine Weisheit in dem

Dreifachen „Licht, Leben und Liebe" zusammengefaßt.

Grunde.

Und dies mit gutem

Unter seinen Händen verwandelte sich alles Todte in Leben, er

wandte der Scholastik den Rücken und gestaltete das Dogma zum Aus­

druck unmittelbarer, persönlicher Heilserfahrung; sein System — wenn wir dies Wort auf seine Gesammtanschauung anwenden dürfen — war durchaus ethisch; an der allgemeinen wissenschaftlichen Bewegung nahm

er unbefangen Theil und suchte ihre Ergebnisse für die Theologie zu verwerthen.

Seine Darstellung war warm, innig, geistreich; ein feiner

Humor gab ihr einen eigenthümlichen Reiz.

Schriften an Matthias Claudius.

Mitunter erinnern uns seine

Aber auch mit Lavaters Gesammtan­

schauung und Schreibweise haben sie eine gewisse Verwandtschaft*). ES war kein Wunder, daß

ein so wenig

mancherlei Anfeindungen ausgesetzt war.

ultramontaner Mann

Es widerfuhr ihm sogar die

Ehre, in Folge der Denunziationen eines borntrten Fanatismus als Freund der Jlluminaten zeitweise — 1794—1799 — entsetzt zu werden.

Diepenbrock hat nun mit voller Hingebung dem Geist Sailers sich

erschlossen und denselben soweit in sich ausgenommen, als er vermöge seiner Individualität eö vermochte. Aber diese schloß allerdings gewisse Schranken in sich, die ihn von Sailer trennen mußten.

Diepenbrock war

Romantiker und Mystiker; Sailer stand der Romantik fern und kann nur in weiterem Sinn als Mystiker bezeichnet werden.

Diepenbrock trug einen

mönchischen Zug in sich, die Neigung zur Weltverneinung war oft so stark

in ihm, daß er in Schwermuth verfiel; Sailer dagegen war eine kind­

liche, heitere, Welt offene Natur.

Diepenbrock mußte stets gegen die

Disharmonie seines Wesens streiten, Sailer dagegen war ein klarer,

harmonisch geschaffener Geist.

Für Sailer erwuchs das Priesterthum auf

dem Boden des allgemeinen Christenthums, für Diepenbrock trug es einen

ganz spezifischen Charakter; und so war auch für beide die Werthschätzung der Hierarchie nicht dieselbe.

Indessen trotz dieses Unterschiedes zwischen

beiden Männern war, was sie vereinigte, stark genug, um daS Siegel

des Geistes SatlerS Diepenbrock aufzuprägen und diesen für alle Zeit, wenn auch nicht von den Bahnen, so doch von dem Geiste deS Ultra-

montanismuS fern zu halten. Wir werden eö begreifen, daß bei dieser Eigenthümlichkeit Diepen­

brock keine Neigung hatte, die Staffel der Hierarchie zu erklimmen, der Zug seines Herzens trieb ihn vielmehr in die Stille einer Landpfarrei,

und es kostete viel Mühe, ihn zur Annahme einer Domherrnstelle zu be­ wegen.

Dieser Gemüthsstimmung entsprach

auch die Richtung seiner

*) Bgl. des Referenten Biographie Sailers in „Zwei evangelische Lebensbilder aus der katholischen Kirche". Bielefeld 1864, besonders S. 110—147.

literarischen Studien, er gab die Schriften Heinrich Suso'S, des Mystikers aus dem vierzehnten Jahrhundert, heraus, die, mit einer Einleitung von GörreS versehen,

1830 erschienen; ein Jahr früher veröffentlichte er den

„Geistlichen Blumenstrauß aus spanischen und deutschen Dichtergärten",

deren größten Theil Uebersetzungen und Nachbildungen spanischer Dichtungen

von DiepenbrockS Hand bildeten; daran schlossen sich Gedichte von Eduard von Schenk und von Luise Hensel.

Inzwischen war Sailer wirklicher Bischof von Regensburg geworden

und sein Einfluß in allen Angelegenheiten der katholischen Kirche Bayerns

entscheidend.

Auch als er am 20. Mai 1832 gestorben war, blieb seine

Autorität maßgebend.

Sailers Nachfolger Wittmann und Schwäbl leiteten

die Diözese in seinem Geist; und Diepenbrock, 1835 Domdechant geworden,

übte in demselben Sinne segensreichen Einfluß. In der Mitte der dreißiger

Jahre aber erhob der UltramontaniSmuS auch in Bayern das Haupt und suchte mit Erfolg sich der Herrschaft zu bemächtigen.

Die Schule SatlerS

war ihm anstößig, Diepenbrock wurde ihm ein Gegenstand deS Aerger­ nisses.

Der Ernst, mit welchem dieser auf die sittliche Reinigung und

geistige Belebung deS Klerus drang, erweckte ihm Feinde.

Man konnte

ihm so manche Worte nicht verzeihen, welche er von der Kanzel aus ge­

sprochen hatte.

Einige derselben theilen wir mit.

In der Sylvester-

Predigt deS Jahres 1840 „Die Zeichen der Zeit" hatte er die prophetische

Mahnung an den Klerus gerichtet:

„Ihr Hirten und Priester christlicher

Völker! seid wahrhaft das Salz der Erde, das ihrer Fäulniß wehrt; selb

eS durch innere geistige Belebung, nicht bloß durch euer Sitzen auf MosiS Stühlen!

Lernet unterscheiden

die Geister und widerstrebet nicht dem

Geiste aus Gott, der auch in der Geschichte weht.

Thuet hinweg aus

dem Heiligthume allen Anstoß, alles Aergerniß, allen Gräuel.

Mischet

euch weder herrschsüchtig in die Dinge dieser Welt, noch schleichet mit

gekrümmtem Rücken auf ihren Wegen, sondern schreitet aufrechten Hauptes

und festen, reinen Fußes durch sie hindurch, unbemakelt von dem Kothe ihrer schimmernden Pfützen; in demüthigem Herzen das Bewußtsein eurer überirdischen Sendung bewahrend."

In derselben Predigt gedachte Diepen­

brock auch in versöhnlichem Sinne deS Gegensatzes der Confessionen:

„Ihr Christen insgesammt endlich, sagte er, die ihr in unseliger Span­ nung und Zerrissenheit einander anfeindet und lästert, bedenket, daß die Liebe der Brüder das höchste Gesetz und seine Erfüllung das alleinige

Zeichen des wahren Jüngers Christi ist.

Um der Sünden eurer Väter

willen hat Gott die unselige Trennung zugelassen; um eurer Sünden

willen dauert sie fort.

Tilget daher unter euch alles Böse, allen Hader-

geist, alle Feindseligkeit, alles Aergerniß, allen Gräuel und wähnet nicht,

daß die Rechtgläubigkeit oder vermeinte Reinheit eures BekenntnisieS euch retten wird am Tage des Zornes, wenn euer Wandel euer Bekmntniß

Lügen straft.

Schaffet hinweg

aus eurer Mitte allen Sauerteig deS

Pharisäismus und des SadducäiSmuS, dessen faule Gährung den Himmel

mit Qualm und Dunst bedeckt; dann erst dürfet ihr hoffen, daß euch die Sonne des ersehnten schönen TageS scheine, da Ein Hirt sein wird und

Eine Heerde."

DaS war allerdings ein andrer Geist, als ihn die Münchener histo­

risch-politischen Blätter verkündeten und die in ihrem Geiste thättgen Prediger.

Der erste Feldzug deS UltramontaniSmuS war gegen die ge­

mischten Ehen gerichtet; in München war es der Hofprediger Anton Eber­ hard, der ihn von der Kanzel aus in einem CycluS von Predigten über

die Ehe unternahm.

Die maßlosesten und gemeinsten Schmähungen gegen

den Protestantismus und die Reformatoren durchzogen diese Predigten, unsere Feder sträubt sich, sie zu wiederholen.

Um aber den Geist zu

charakterisiren, den diese Predigten athmen, theilen wir einige Apostrophen

an die Frauen mit, welche eine gemischte Ehe etngehen, ohne die Erziehung

aller Kinder in.der katholischen Confession zu sichern.

„Unnatürliches

Weib!" ruft er, also soviel an Dir liegt, hast Du Dein Kind, noch eh' eS geboren wurde, dem ewigen Verderben verkauft.

Du verdienst den

Namen einer Mutter nicht, da Dir nicht einmal die Gefühle der Natur

heilig sind."

„DaS Gesetz der Natur verbietet sogar in der Thierwelt

der Mutter, ihre Jungen freiwillig einer Gefahr preiszugeben; um so

mehr verbietet daS Gesetz der Natur dem Katholiken eine Ehe zu schließen,

durch die er seiner eignen Seele und der Seele seiner Kinder Gefahr be­ reitet, die ewige Seligkeit zu verlieren."

„Katholik, der Fluch wird auf

Deiner Ehe sein und nicht der Segen! Denn Du fügest zu jener furcht­ baren Sünde, durch die Du Deiner Kinder Seele und Seligkeit verkauft

hast, noch die Sünde eines Sacrilegiums hinzu, indem Du das Sakrament

der Ehe im Zustande einer Todsünde empfängst." Die Erregung, welche diese auf daS zahlreichste besuchten Predigten

hervorbrachten, war eine große.

Mitglieder der protestantischen Gemeinde

Münchens wandten sich, Beschwerde führend, an den König.

Dieser be­

auftragte darauf, wie eS scheint, daS Ministerium, den Bischof Schwäbl,

der früher Domkapitular in München gewesen war und allgemeine Ver­

ehrung genossen hatte, vertraulich aufzufordern, er möge Eberhard von dieser

maßlosen Polemik

abzulenken suchen.

folgte dieser Aufforderung.

Schwäbl,

Leider wurde aber

Todes

sein Schreiben,

krank,

sehr

gegen seinen Willen und ohne seine Schuld, in die Oeffentlichkeit gebracht. Eberhard antwortete mit triumphirender Selbstgerechtigkeit.

Acht Wochen

darauf starb Schwäbl.

Diepenbrock hielt ihm die Trauerrede.

Er sprach

hier als Apologet Schwäbls und der Sailerschen Schule und wurde des­

halb von den Gegnern derselben verdächtigt.

Sie konnten eö ihm nicht

verzeihen, daß er Sailers Wort citirt hatte:

„Der Geistliche, der das

Evangelium in der Hand und im Herzen hat, Liebe predigt und Liebe

übt, Gottesfurcht mit Worten lehrt und Gottesfurcht mit Thaten beweiset, wird aber nicht nur von den rohen, sinnlichen Menschen und von den

selbstsüchtigen denkenden Köpfen zu leiden haben; das Meiste wird er

leiden müssen von seinen Mitgeistlichen, die ihn entweder auS Unkenntniß

verfolgen werden, weil sie seinen Geist nicht haben, also auch nicht richten können, oder, auS eigennützigen oder ehrgeizigen Absichten, sein Licht in

den Schatten und die Finsterniß auf den Leuchter setzen werden."

Sie

konnten ihm nicht vergeben, daß er von neuem gegen den konfessionellen Fanatismus seine Stimme erhoben hatte:

„Vergiftet nicht die traurige

Wunde, die seit drei Jahrhunderten durch daS Herz der Christenheit und

durch daS Herz eines feden wahren Christen klafft, vergiftet sie nicht aus'S

Neue durch leidenschaftlichen Streit und geifernden Hader; streuet nicht, in dem Wahn, sie zu heilen, den ätzenden Höllenstein des Fanatismus

hinein, und holet nicht auS der Rüstkammer der Vergangenheit die schar­ tigen Waffen ergrimmter Polemik hervor, damit sie nicht noch einmal in

euern Händen sich in blutige Mordwaffen verkehren und, in den eigenen Eingeweiden deS Vaterlandes wühlend, mit neuem dreißigjährigem Blut­

bade und Feuermeere Deutschland, Europa verwüsteni

Nur im Frieden,

in der Liebe ist Verständigung möglich, nur in der Verständigung Eini­ gung, nur in der Einigung Heil; der Hauch der Leidenschaft aber raubt

dem Worte der Wahrheit die überzeugende Kraft.

Um diesen Frieden,

diese Einigung fleht ja täglich die katholische Kirche in ihren heiligsten Gebeten; die edelsten Geister haben darnach gerungen, indem sie, von der

gemeinsamen Grundlage deS Christenthums ausgehend, durch friedliche

Beseitigung der Mißverständnisse und Irrthümer den Riß zu heilen sich

bemühten.

WaS vergangener Zeit nicht gelungen, eS kann, eS soll, es

muß der künftigen aufbehalten fein, alles mahnet zu dem großen Werke." Diese Rede besiegelte die Jsoltrung DiepenbrockS in Bayern.

Die

Schule Sailers war auf den Aussterbeetat gesetzt worden, König Ludwig, bis dahin derselben mit htngebender Begeisterung zugethan, hatte sich von

ihr ab und der neuen kurtalistischen Strömung zugewandt.

SchwäblS

Nachfolger, Riedl, gehörte nicht mehr der Sailerschen Schule an, wenn

er auch nicht aus der Zelotenpartei hervorgegangen war.

Denn die Ge­

fahren, die von dieser letzteren drohten, erkannte auch der König und selbst

der Minister Abel, ihr Protektor.

DaS Ministerium erließ ein Reskript

— vom 23. Juni 1842 —, in welchem es erklärte, nicht dulden zu wollen „daß auf der Kanzel oder in öffentlichen Druckschriften der Religions­ friede unter den im Königreiche bestehenden christlichen Kirchengesellschaften

durch böswillige Angriffe gestört, Haß gegen Andersgläubige aufgeregt

oder genährt, durch Schmähungen gegen die eine oder andere der erwähnten Kirchengesellschaften

oder in

irgend einer sonstigen Beziehung den be­

stehenden Gesetzen und Verordnungen zuwider gehandelt, der Streit über

abweichende Glaubenslehren in das Gebiet der Parteiwuth und der Lei­

denschaft herabgezogen und auf solche Weise unchristliche Gesinnung ge­ pflanzt und gefördert, der unter dem Schirme der Gesetze stehende RechtSzustand verletzt und die innere Eintracht untergraben werde." charakteristischer

für den Geist,

Nichts ist

der daS erzbischhöfliche Ordinariat in

München erfüllte, als die Antwort, mit der es dieses Reskript erwiederte.

Die „Andersgläubigen" deS Reskripts werden hier zu „Irrgläubigen", die Annahme, daß Protestanten und

Katholiken die Grundlehren deS

Christenthums gemeinsam haben, erscheint als gefährlichster JndifferentiS-

Am empörendsten ist die Beurtheilung der Reformatoren.

muS.

„Man

könnte nämlich, heißt eS, protestantischer Seit» fordern, daß die Per­ sonen der sogenannten Reformatoren geschont,

ihre Widersprüche,

sittlichkeiten und endlosen Zwiste nicht erwähnt werden sollen.

Un­

So sehr

nun auch die oberhirtliche Stelle wünscht, daß die persönliche Bekämpfung der Urheber der Glaubenstrennung nicht allzu oft vorkomme, so kann sie doch den Predigern dieselbe nicht unbedingt verbieten, denn abgesehen

davon, daß diese Personen der Geschichte und ihrem strengen Urtheil an­ gehören, ist ihr sittliches Nichtbesähigtsein zu Reformatoren gerade einer

der schlagendsten Beweise für die Unrechtmäßigkeit ihres Unternehmens und somit für die Wahrheit der katholischen Kirche." Es ist begreiflich, daß, als die geistige Strömung, die unS in dieser

Aeußerung der höchsten geistlichen Autorität Bayerns entgegen tritt, maß­

gebend wurde, die Stellung Diepenbrockö eine immer peinlichere werden mußte.

Aber

auch schon hatte sich auf ihn der Blick König Friedrich

Wilhelm IV. gerichtet, ihn für Preußen zu gewinnen.

Wenn auch die

vertraulichen durch Radowitz geführten Unterhandlungen, Diepenbrock zum

Coadjutor deS Erzbischofs von Köln zu ernennen, zuerst an der eignen entschiednen Abneigung deS letzteren, dann aber auch an den Diepenbrock feindlichen Münchener Einflüssen scheiterten, so sollten doch bald darauf neue Beziehungen mit ihm von derselben Seite aus angeknüpft worden,

welche schließlich zum Ziele führten.

Er wurde Fürstbischof von Breslau.

Um die Aufgaben, die hier seiner warteten, zu würdigen, müssen wir der letzten Vorgänger Diepenbrockö gedenken. Pnuiische Jahrbücher. $b. XLV1II. Heft 6.

Im Jahre

1836 hatte den

44

fürstbtschöflichen Stuhl Graf Leopold Sedlnttzkh von Choltitz bestiegen

ein tieffrommer, auch im katholischen Sinne tieffrommer Mann, vielseitig Von ganzem Herzen seiner Kirche

gebildet und freien, offenen Geistes.

zugethan, stand er doch der ultramontanen Richtung fern.

liche Natur, war

Eine inner­

er vielmehr jenen Männern verwandt, die in den

großen Conzilien des fünfzehnten Jahrhunderts an einer Reformation der

Kirche gearbeitet hatten; fühlte er sich vielmehr zu den geistigen Bestre­ bungen, durch innere Vertiefung die Kirche zu reinigen, hingezogen, wie wir sie bei einem Pascal, Fenelon, Sailer, Overberg und anderen finden.

Und so sehr er auch die katholische Kirche als die Kirche der Zukunft

ansah, war er doch zu fromm, um sich nicht auch in den Schriften der Protestanten Claudius, Lavater, Stilling, Moser, Tersteegen, Hamann

zu erbauen, und in Folge dessen auch wohlwollender über den Protestan­

tismus zu urtheilen.

Von diesem Standpunkt aus sah er mit Betrübniß

auf die Ziele, welche die herrschende kirchliche Richtung verfolgte, auf die

Uebertreibung des Heiligen- und Bilderkultus, das Ablaßwesen, die Wall­ fahrten, die Bibelverbote.

Als werthvolle Reformen erschienen ihm die

Einführung der deutschen Sprache bei dem Gottesdienste und die Auf­ hebung des CölibatS.

Doch wünschte er, bevor an diese Reformen ge­

gangen werde, Vorbereitung der Gemüther, und trat daher, als einige

katholische Geistlichen den Fürstbischof von SchtmonSkh um Einführung dieser Reformen baten, diesem Verlangen entgegen, daS übrigens auch

von der preußischen Regierung sehr energisch

abgelehnt wurde.

Ministerialreskript vom 13. Februar 1827 erklärte:

Ein

„solchen Neuerungs­

versuchen müsse mit dem größten Nachdruck begegnet werden;

von Ab­

schaffung der lateinischen Sprache bet der Messe und Einführung neuer Ceremonien dürfe gar keine Rede fein."

Ueberhaupt war das Verhalten

der Regierung in Angelegenheiten der katholischen Kirche mitunter schwer

begreiflich.

Gleich nach AntrUt seines Amts wurde von den Ultramon­

tanen eine Anklage gegen Sedlnitzkh erhoben, daß er in seinem AmtStitel sich nur auf GotteS Gnade, nicht

Stuhles Gnade bezogen habe. Verantwortung.

aber zugleich auf des apostolischen

Das Ministerium zog ihn deshalb zur

Sedlnitzkh entgegnete, daß die Gleichordnung des Papstes

mit Gott hinsichtlich der Gnadenquelle seiner Würde ihm nicht schicklich erscheine, auch die meisten seiner Vorgänger, weil sie ihr Amt unmittelbar

von

den Aposteln

herleiteten,

die Beziehung

auf

die Autorität

deS

Papstes unterlassen hätten; daß er endlich seine bischöfliche Stellung auch der Wahl deö Kapitels und der Bestätigung deS Landesherr» verdanke. ES folgte nun eine Zeit friedlichen Wirkens, der größte Theil des Klerus

war dem neuen Fürstbischof zugethan.

Aber er selbst sollte, wenn auch

schlildlos, seine Stellung erschüttern.

Da seine Kränklichkeit ihn am Pre­

digen hinderte, wünschte er einen homiletisch begabten Mann nach BreStou zu ziehen.

Förster.

Sein Auge fiel auf den Pfarrer in Landshut, Heinrich

Es empfahl ihn feine friedfertige Stellung zu den Protestanten.

Der Pfarrer Falk, Vater des späteren Ministers, war mit ihm durch

nahe Freundschaft verbunden.

Als dessen Vater, der Superintendent Falk,

starb, nahm Förster am Begräbniß im Talar Theil und hielt auch eine

hemach gedruckte Trauerrede, die dem Gedanken Ausdruck gab: Wo der Glaube trennt, einigt die Liebe. evangelische Bischof Dräseke.

Sein homiletisches Vorbild war der

So berief Sedlnitzkh Förster zum Domherr.

Er hatte sich in ihm getäuscht.

Der neue Domherr wurde bald eine

Säule der ultramontanen Bewegung.

Die milde Praxis bei gemischten

Ehen, die er selbst befolgt hatte, verurtheilte er jetzt, forderte vom Dom­

kapitel und dem Fürstbischof ein gleiches, und erklärte, er werde zur Auf­ rechthaltung der alten Praxis nicht mitwirken, man möge ihn seiner RathS-

stelle entbinden.

Weder daö eine noch das andere geschah.

auf andere Weise operirt.

Jetzt wurde

Der Jesuitenpater Beckx, der jetzige General

der Jesuiten, erschien in BreSlau, logirte inkognito bei Förster und ver­

faßte hier eine Anklage gegen den Fürstbischof, die er in Rom übergab.

Bald darauf erhielt letzterer eine päpstliche Anklageschrift auf geheimem

Wege; ebenso empfing das Domkapitel unter Försters Adresse ein päpst­

liches, gegen Sedlnitzkh gerichtetes Schreiben. den Inhalt.

Die Anklage hatte folgen­

Erstens, der Fürstbischof habe seit zwei Jahren noch keinen

Hirtenbrief erlassen; er begünstige die Hermesianer; er verfolge eine un­ gesetzliche Praxis

bei gemischten Ehen.

Um den Ton des päpstlichen

Schreibens zu charakterisiren, theilen wir mit, daß es Sedlnitzkh vorwarf,

er sei faul und gähne.

Dieser Ton fand in der Behauptung der histo­

risch-politischen Blätter einen Wiederhall: „Die Diözese regiert sich selber, da das Haupt in geistiger Erstorbenheit liegt; und die Glieder müssen sich nothgedrungen vom Haupte lossagen, damit sie nicht die gleiche Krank­ heit erfasse." Hören wir nun die Vertheidigung SedlnitzkyS.

Da der Inhalt seines

ersten Hirtenbriefs, noch bevor ihn jemand gesehen haben konnte, in Par­

teischriften auf daS gehässigste beurtheilt sei, habe er den Erlaß eines zweiten Hirtenbriefs nicht für heilsam erachtet.

Den HermesianiSmuS

habe er immer bekämpft, wenn er sich auch bemüht habe, in den Personen­ fragen gerecht zu verfahren.

Was endlich die gemischten Ehen anlange,

so befolge er die seit mehr als hundert und zwanzig Jahren in Schlesien

übliche und zwar mit Vorwissen und ohne Einspruch deS Papstes übliche

Praxis.

„Kaiser Karl VI. hat ausdrücklich verordnet, daß in Schlesien 44*

Melchior voll Diepeabrock.

616

nach dem Muster des heiligen Römischen Reichs in gemischten Ehen die

Söhne der Confession des Vaters, die Töchter jener der Mutter folgen

sollen.

Hiernach ist auch in der Regel verfahren worden, und es haben

eine Menge solcher Ehen, welche jederzeit von katholischen Geistlichen etngesegnet worden, stattgefunden.

Im Jahre 1750 verordnete Friedrich II.,

daß der schlesische Minister mit der geistlichen Behörde zusammentreten und ein Gesetz über die kirchlichen Verhältnisse zur Vermeidung aller Collisionen entwerfen solle.

Nach einer monatelangen Berathung ist im Ein-

verständniß mit dem Bischof und Capitel daS bekannte Gesetz (durch daS Landrecht) publicirt worden, in welchem dieselben Grundsätze festgehalten werden, nach welchen schon lange Zeit unter Kaiserlicher (Landes-) Hoheit

verfahren werden mußte.

Ueber dieses Gesetz hat der Ordinarius (Bischof)

der Diözese dem römischen Stuhle Mittheilung gemacht, und von letzterem ist

So sind seit mehr als hun­

erwiedert worden, daß er conniviren wolle.

dert Jahren die gemischten Ehen mit Borwissen des römischen Stuhls von allen Geistlichen--------- eingesegnet worden, ohne ein vorhergehendes

Versprechen zu fordern, und ohne eine bloße assistentia passiva anzu­ wenden."

Die Berufung auf die päpstliche Zustimmung war durchaus

begründet.

Benedict XIV. hatte erklärt, daß er das Edikt des Landrechts

vom 8. August 1750 nicht positiv approbiren, aber doch dissimuliren könne.

„Dieses unser Wissen muß genügen, um Dein Gewissen sicher zu stellen, da ja in der Materie, um die es sich handelt, ein Widerspruch mit dem

göttlichen oder natürlichen Rechte nicht eintritt, sondern nur mit dem kirch­ lichen Rechte." Nach zehn Monaten antwortete der Papst in einem Schreiben „voll Jetzt war der Entschluß

Leidenschaft, Unwahrhaftigkeit, Ungerechtigkeit".

des Fürstbischofs gefaßt; er resignirte und legte am 10. Mai 1840 sein Amt nieder.

Wie bekannt, ist Sedlnitzkh 1863 zur evangelischen Kirche

übergetreten; damals aber war er noch von ganzem Herzen Katholik, wenn auch nicht im Sinne des UltramontaniSmuS.

Dieser letztere suchte jetzt

vergeblich, seinen Candidaten Förster auf den erledigten bischöflichen Stuhl zu setzen.

Der König strich seinen Namen und setzte es durch, daß der

sieben und siebenzig Jahre alte Großdechant Joseph Knauer aus der Graf­

schaft Glatz gewählt wurde.

Am 23. April 1843 wurde er konsekrirt,

aber schon nach dreizehn Monaten starb er.

Jetzt trat der König für die

Wahl DiepenbrockS ein, und am 15. Januar 1845 erwählte ihn das Dom­ kapitel.

Aber Diepenbrock lehnte ab. ES fanden neue Verhandlungen statt,

endlich erklärte Diepenbrock, daß er nur die Wahl annehmen werde, wenn

der Papst es ausdrücklich wünsche. ES unterliegt keinem Zweifel, daß Diepen­

brockS Sträuben durchaus ehrlich gemeint war,

daß er keine Komödie

spielte.

An seine Freundin, die Malerin Emilie Linder, eine Schweizerin,

die von der reformirten zur katholischen Confessio« übergetreten war, schrieb er:

„Die Stellung in Breslau ist so grandios; der Bischof müßte sich

fortwährend wahren, nicht von dem Fürsten verschlungen zu werden.

Das

Äußerliche überwuchert nur zu leicht mit Dornengestrüppe den inneren Acker des Lebens.

Denken Sie sich nur den Anfang.

Etwa hier oder

in München oder in Bamberg geweiht, müßte ich nach Berlin an Hof

zum Könige, allen Prinzen, Ministern u. s. w.; nach

acht Tagen am

in die Kathedrale und Jnthronisirung in

Hoflager feierlicher Einzug

Breslau; dann ein paar Tage Diners u. f. w. dann nach Oesterreich, zuerst zum Gouverneur nach Brünn, dann an's Wiener Hoflager, Huldi­

gung, Aufwartungen u. f. w.

Ist das nicht ein erbaulicher Anfang des

Apostolats für einen kaum geweihten Bischof?

Und wie der Anfang so

auch nach Verhältniß der fernere Verlauf deS HirtenlebenS.

Der Pastor

fido von Guarini gleicht kaum weniger dem Hirtenleben Ihrer Schweizer­ berge als ein solches fürstbischöfliches Leben dem Apostolate."

An eine

andre Freundin, Charlotte von Neumaher, schrieb er: „Ich gestehe Ihnen,

daß allerdings der Drahtzug der g6ne, der Conventen; und äußern Re­ präsentation, durch den mein ganzes Wesen, und jeden Tag, jede Stunde

meines Lebens aufs neue, hätte hindurch passiren müssen, daß dieser

Drahtzug mir wohl als eine Art von Folter erschien; allein um eines großen, hohen Zweckes willen hätte ich mich darein gefügt, auf die Macht

der Gewohnheit und auf den Umstand zählend, daß doch in jedem Augen­

blicke nur ein Opfer zu bringen sei.

Aber die Ueberzeugung konnte ich

nicht gewinnen, daß zur Erreichung des hohen Zweckes selbst, zur Lösung

der schweren Aufgabe, der erforderliche Stoff in mir stecke, daß sohin der Ruf wirklich als ein hoher, göttlicher, und nicht als ein bloßes Resultat

menschlicher Abkartung, an mich ergehe; konnte den Glauben nicht fassen,

daß Gott mich dorthin sende und mir also auch die erforderliche Mitgift von Kraft und Weisheit nicht versagen werde."

ES war der Zug zu pastoralem Stillleben, zu beschaulich literarischer Thätigkeit, der Diepenbrock vom BreSlauer Bischofsstuhl zurückhielt; er war eine zu innerlich angelegte Natur,

schaft und Glanz ihn hätte reizen können.

mayer erkennen wir aber

als daß die Aussicht auf Herr­

AuS dem Brief an Ch. v. Neu­

auch, weshalb er sich

Wunsche des Papstes folgen zu wollen.

bereit erklärte, dem

„Hätte man mich, schreibt er,

als Soldaten der Linie einfach hinkommandirt, dann wäre ich gegangen; als Volontair hingehen, erschien mir im gewissenhaften Ueberblick meiner

Munition als eine Vermesfenheit."

Hier tritt uns die Gestalt spezifisch­

katholischer Frömmigkeit entgegen.

Ueber die lebhaftesten Zweifel an

seinem inneren Beruf hebt ihn der gehorsame Glaube an die kirchliche

Im Gehorsam gegen das Wort des Papstes gewinnt

Autorität hinweg.

er einen Muth und eine Freudigkeit, welche ihm aus inneren Quellen nicht entspringen wällten.

Und dies Wort des Papstes wurde gesprochen.

Da man in Rom mit einer gewissen Besorgniß auf die deutsch-katholische

Bewegung sah, die damals begonnen hatte, glaubte man, daß jetzt ein ultramontaner Bischof in BreSlau nicht opportun sei; und da man des

Gehorsams DiepenbrockS gegen Rom gewiß sein konnte, so wie auf seine sittliche Energie

vertrauen,

so erschien Diepenbrock als

der geeignete

Candidat.

Der Papst sprach sich in diesem Sinne aus, und Diepenbrock

gehorchte.

Am 27. Juli 1845 trat er sein bischöfliches Amt in BreSlau an.

Diepenbrock hat die große Aufgabe, die ihm hier gestellt war, mit

hingebender Treue und Gewissenhaftigkeit zu lösen gesucht, und der ge­

hoffte Erfolg ist nicht auSgeblieben.

In der Herrschaft, die ihm anver­

traut war, hat er eifrig für den Wohlstand seiner Untergebenen gesorgt; besonders hat er durch Errichtung von Spinnschulen die bis dahin dar­

nieder liegende Garnfabrikation gehoben.

Als Bischof

hat er

durch

Gründung von EnthaltsamkeitS- und Mäßigkeitsvereinen daS körperlich

und moralisch zerrüttete oberschlesische Volk gerettet. dem römischen sich anschließendes Ritual hergestellt.

Er hat ein neues,

In demselben, gemäß

der von Anfang an in Schlesien bestehenden Sitte, ist für die Taufe,

Krankenkommunion, Einsegnung der Ehe, Aussegnung der Wöchnerinnen, Ertheilung der letzten Oelung,

diktionen

Begräbnißgebete und mancherlei Bene­

der Gebrauch der Muttersprache, also neben der lateinischen,

der deutschen und polnischen Sprache, gestaltet.

Erloschne Kirchen wurden

wieder hergestellt, die Pfarreien neu organisirt.

Diepenbrock erwarb sich

durch die Treue in seinem Wirken, durch den sittlichen Adel seiner Per­ sönlichkeit bald

die

allgemeine Sympathie des katholischen Volks und

Klerus; und auch die Protestanten konnten ihm ihre Hochachtung nicht

versagen.

In den politischen und kirchlichen Stürmen, die während seiner

Verwaltung über Deutschland hinbrausten, hat er sich als einen mannhaften

und umsichtigen Kämpfer bewährt, der auch da, wo er Widerstand leistete, für die Forderungen der Zeit Verständniß zeigte.

Zuerst war es der Deutsch-Katholizismus, den er bestreiten mußte, und

über den er auch leicht den Sieg davon trug.

Der Anlaß zur

deutsch-katholischen Bewegung, die Wallfahrt zum heiligen Rock in Trier,

war ihm

aber durchaus nicht sympathisch.

schreibt er an seine Freundin, lassen gesehen.

„Die Trierer Wallfahrt,

Frau Tiedemann, hätte ich lieber unter­

JstS auch erfreulich, daß Hunderttausende ihren Glauben

an JesuS Christus durch die Wallfahrt zu seinem angeblichen Rock kund

geben, zumal in unserer gldubenskalten Zett, so wäre doch ein würdigerer,

wesentlicherer Anlaß und Grund zu solcher Manifestation zu wünschen, als diese Reliquie, deren Echtheit zweifelhaft, wenigstens nie historisch zu

Und die Reliquienverehrung, so menschlich, so rein und edel

erweisen ist.

sie an sich ist, liegt doch zu sehr an der Peripherie des wahren Katholi­ zismus, als daß sie für das Centrum, für die Hauptsache je gelten könnte. Die Ronge'sche und Czeröki'sche Erscheinung ekelt mich an.

Da ist kein

Hauch wahrer Religiosität; nur burschikoses, rationalistisches, radikales

Lärmschlagen.--------- Für die Uebel, woran wir leiden, ist daS kein Hei­ lungsprozeß: eS ist wildes Fleisch in unseren Wunden." Schmerzlich bewegte Diepenbrock daS zu öffentlichem Aergerniß ge­

wordene Verhältniß König Ludwigs I. von Bayern zur spanischen Tänzerin

Lola Montez.

Diepenbrock hatte dem König seiner Zeit nahe gestanden,

hatte früher mit ihm gemeinsam verehrungsvoll zu Sailer emporgeblickt und glaubte deshalb berechtigt zu sein, ein ernstes Wort an den Fürsten

zu richten.

AuS der Antwort des Königs theilen wir die wichtigste Stelle

„Auf Schreiben des Gegenstandes, von welchem das Ihrige vom

mit.

29. Jänner handelt, pflege ich nicht zu antworten, mache jedoch hinsichtlich

Diepenbrocks, an deffen guter Meinung mir gelegen, eine Ausnahme. Der Schein trügt.

Maitresfenwtrthfchaft mochte ich nie und mag sie nicht;

Bekanntschaften hatte ich aber fast immer, welche meine Phantasie ange­ regt; und gerade sie waren mein bester Schutz gegen Sinnlichkeit.

Ich

besitze ein poetisches Gemüth, was nicht mit dem gewöhnlichen Maßstabe gemessen werden darf.

Wie der Schein trügt, will ich Ihnen sagen, in­

dem ich hiermit mein Ehrenwort gebe, daß ich ... .--------- Brechen kann ich nicht, vermöchte nicht mehr, mich selbst zu achten, man begehre

von mir nicht das Unmögliche."

Bon neuem schrieb Diepenbrock an den

König, erinnerte ihn an die Vergangenheit jenes Weibes und legte ihm die Frage an das Herz, wie die Welt an ein reines Verhältniß zu einer

Person glauben könne, die in aller Welt als Buhlerin bekannt und be­ rüchtigt sei. König.

Auch noch ein drittes Schreiben richtete Diepenbrock an den

ES ist bekannt, daß erst im Februar 1848 Lola Montez aus

Bayern ausgewiesen wurde.

Bald darauf legte König Ludwig seine Krone

nieder.

Das Jahr 1848 brach herein, die Throne wankten, ein Umsturz aller Verhältnisse drohte.

In einem Hirtenbrief mahnte Diepenbrock zur Treue

gegen den König, zur Achtung gegen Obrigkeit und Gesetz.

Bor allem

trat er den sozialistischen Elementen in der Bewegung entgegen.

Im

Sommer 1848 nahm er als Deputirter an den Arbeiten des deutschen Parlaments Theil; mißgestimmt, von schwerer Krankheit sich langsam er-

Melchior von Diepenbrock.

620

Von der Unhaltbarkert der durch

holend, kehrte er nach Breslau zurück.

die Revolution beseitigten Verhältnisse war Diepenbrock überzeugt.

„Wie

fest und sicher, schrieb er an Charlotte von Neumaher, wähnte man sich in diesem mit Protokollen und Bayonnetten aufgerichteten und gestützten europäischen Staalenbau!

Da fliegen einige Zeitungsblätter über den

Rhein, und der ganze Bau stürzt zusammen wie ein Kartenhaus.

Es

hätte ganz so ohne den Verlust eines Menschenlebens vor sich gehen

können; denn die Straßenkämpfe in Berlin und Wien waren doch eigentlich nur eine zufällige Zugabe; die Dinge wären auch ohne sie so geworden,

sie waren schon so gut wie geworden."

wartete er mit Bestimmtheit,

Die Einigung Deutschlands er­

aber er hielt ein Erbreich für unwahr­

scheinlich; einer Hegemonie Preußens sah er freudig entgegen, nachdem

er der katholischen Träumerei, Bayern an der Spitze Deutschlands zu sehen, entsagt hatte. Die schwersten Tage sollten noch kommen. hatte die Nationalversammlung

Am 15. November 1848

in Berlin die Steuerverweigerung

be­

schlossen; ein Schritt, der von den verhängnißvollsten Folgen sein konnte.

In BreSlau erklärte sich der Magistrat, ja selbst der Oberpräsident Pinder Da war es Diepenbrock, der am

für den Beschluß der Abgeordneten.

18. November durch einen Erlaß an die Katholiken mit aller Bestimmt­

heit für die Autorität des Königs als der von Gott gesetzten Obrigkeit

eintrat und die Steuerentrichtung

als unerläßliche Pflicht bezeichnete.

Dieser Erlaß hatte durchschlagenden Erfolg.

Das Ministerium ließ sofort

30000 Abdrücke in allen Provinzen verbreiten.

Diepenbrock war

der

einzige Bischof, der mit solcher Entschiedenheit die Revolution bekämpfte

und für daS Königthum eintrat.

Der UltramontaniSmuS, der gern im

Trüben fischt und, wenn es ihm oppertun scheint, auch mit Liberalismus und Revolution liebäugelt, fühlte sich nicht veranlaßt, Diepenbrocks Be­

strebungen zu unterstützen.

lotte von Neumayer:

Am 27. Dezember schrieb letzterer an Char­

„Leider hat keiner der andern Bischöfe ein Gleiches

gethan; am Rheine wäre es fast wohl eben so nothwendig gewesen wie

hier, und, wie ich höre, haben die Wohlgesinnten den Erzbischof Geißel

förmlich, selbst in Zeitungen, zu einer ähnlichen Erklärung aufgefordert, allein ohne Erfolg

Die Herren mögen mir nun nicht besonders hold

sein; allein ich habe meine Pflicht gethan, und mein Domcapitel, das ich zu Rathe zog, war vollkommen einverstanden und dankte mir sehr für den

Schritt."

Die größten Sympathien gewann Diepenbrock jetzt bei König

Friedrich Wilhelm IV., der ihm mit bewegtem Herzen dankte und seitdem

eine unveränderte Freundschaft bewies. Kein größerer Gegensatz war denkbar, als zwischen dem Erlaß Diepen-

brocks und dem Hirtenbrief, den Geißel am 30. November erließ.

In

diesem kritischen Momente hatte er kein Herz für die Noth des StaatS,

der fein Vaterland geworden war; kein Wort, in dem er gegen den Auf­ ruhr, der hier drohte, gesprochen und zum Gehorsam gemahnt hätte. ist ausschließlich der römische Aufstand, dessen er gedenkt.

ES

Diepenbrock

that beides, der Hirtenbrief des WethnachtSfesteS 1848 ist ebensowohl den römischen Wirren wie den Interessen seines Vaterlandes gewidmet.

Vermöge der Loyalität und des Patriotismus, die ihm eigen waren, mußten sich DiepenbrockS Wege von denen des UltramontaniSmuS auf dem politischen Gebiet im engern Sinne trennen.

Dagegen ging er mit

dem UltramontaniSmuS in kirchenpolitischer Beziehung Hand in Hand. Diepenbrock war Idealist. Staat.

Er schwärmte für die freie Kirche im freien

Beide sollten volle Selbständigkeit genießen und selbständig zu­

sammen wirken.

Rom und das Papstthum erschienen ihm im idealen

So gingen seine Bestrebungen dahin, allen Einfluß des StaatS

Licht.

auf die Gestaltung des katholischen KirchenthumS zu beseitigen, und be­

nutzte er alle ihm zu Gebote stehenden Mittel, dies Ziel zu erreichen. Es zeigte sich dies auch in seinem Verhalten zu der theologischen Fakultät

in BreSlau.

Er forderte die Mitwirkung bei der Ernennung der Pro­

fessoren, er forderte und erlangte, daß den Professoren nur ein bedingter

Eid auf die Verfassung abgenommen werde.

Sie hatten schriftlich zu er­

klären, daß der neue Eid die Rechte der Kirche und ihre Verpflichtungen

gegen dieselbe nicht beeinträchtigen, folglich auch ihre kirchliche Stellung in nichts ändern könne.

In innerlicheren, das Glaubensleben betreffenden Fragen

blieben

aber nach wie vor DiepenbrockS und des UltramontaniSmuS Wege ge­ trennt.

Als am 2. Februar 1849 der Papst Bericht erforderte,

„von

welcher Andacht der Klerus und daSj gläubige Volk zu der Empfängniß der unbefleckten Jungfrau beseelt sei, und von welcher Sehnsucht brenne,

daß diese Angelegenheit vom apostolischen Stuhle entschieden werde", beauf­ tragte Diepenbrock Professor Baltzer, der als Güntherianer in heterodoxem

Rufe stand, das Gutachten abzufassen, das verneinend lautete. Und bald trat

er zugleich mit Cardinal Schwarzenberg für Günther ein. dies nicht seinem Renommö bei der Curie.

Doch schadete

Sein erfolgreiches Wirken

für die Selbständigkeit der katholischen Kirche, für ihre Unabhängigkeit vom Staat, seine hingebende Verehrung für den Papst, von dem er nur die besten Entschließungen erwartete, machten seine dogmatische Abweichung vom UltramontaniSmuS verzeihlich; und der Papst trug daher kein Be­ denken, die Anerkennung seiner Verdienste durch die Verleihung der Car-

dinalSwürde, die gleichzeitig Erzbischof Geißel von Köln zu Theil wurde,

Melchior von Diepenbrock.

622

Am 4. November 1850 überreichte ihm der Wiener Nuntius

zu besiegeln.

den CardinalShut.

Gewiß, Diepenbrock war kein Ultramontaner geworden, aber manche innere Wandlungen hatten in ihm stattgefunden.

Der weite Blick, der

den Regensburger Domherrn auszeichnete, der weite Blick über die Grenzen der eignen Confession, er fehlte dem Auge des Fürstbischofs.

Das römische

Element des Katholizismus, daS früher zurückgetreten war, hatte immer mehr Macht über ihn gewonnen.

Seine Gefammtanfchauung hatte sich

verengt und vergröbert, die Impulse der Sailerschen Theologie waren im Lauf der Jahre immer schwächer geworden. dazu entschließen,

Konnte er sich doch sogar

im Frühjahr 1852 Jesuitenmissionen zu veranlassen,

wenn auch mit der Weisung, „von aller Polemik sich fern zu halten, und nur die sittlichen und dogmatischen Grundlehren des Christenthums zu predigen".

Diepenbrock war vor allem eine poetisch und mystisch ange­

legte Natur, entbehrte zu sehr der Schärfe des Gedankens, der Klarheit

des Blicks, um der Zeitströmung dauernd Widerstand zu leisten.

Ein

asketischer Zug, der ihn in Passivität und Resignation daS Wesen christ­

licher Frömmigkeit erkennen ließ, steigerte seine Neigung, im Gehorsam

gegen die päpstliche Autorität die Selbstverleugnung zu bewähren.

Und

eS ist kein Zweifel, Diepenbrock würde auch den neuen Dogmen RomS sich gefügt haben, er hätte nicht die Energie gehabt, sie anhaltend zu be­

kämpfen.

Durch einen frühen Tod — er starb am 20. Januar 1853 —

ist Diepenbrock vor dem

worden, dem

trüben und

Siegeswagen des

Herzen zu folgen.

demüthigenden Geschick bewahrt

UltramontaniSmus

mit zwiespältigem

BiS an die Pforten des Sieges hat er die ultra­

montanen Schaaren geleitet, ohne es zu wollen, ihren SiegeSzug fördernd;

die letzten Triumphe derselben hat er nicht erlebt.

So umfließt noch seine

Gestalt der Jugendglanz des Sailerschen Geistes; und nur eine schärfere Beobachtung zeigt uns, daß dieser Glanz im Schwinden war und die

dunklen Schatten einer andern Zeit ihn schon umhüllten.

Diepenbrocks

Lebensbild zeigt uns den Gang des Katholizismus von evangelischer Ver­ tiefung und Innerlichkeit zu römischer Veräußerlichung und Verflachung.

Wann wird der Katholizismus den entgegengesetzten Weg gehen? Königsberg i. P.

H. Jacoby.

A n t i n o u s. Der historische Roman „AntinouS", dessen Verfasser sich Georg Taylor nennt, ist dem Publikum bereits hinlänglich bekannt und von

der Kritik mit Wohlwollen ausgenommen; über seinen Inhalt etwas mttzutheilen, ist deshalb nicht mehr nöthig, und da ich mich dem allgemeinen

Urtheil mit Vergnügen anschließe, bleibt mir nur übrig, an die Aufgabe, die sich der Verfasser gestellt, und die Art, wie er sie zu lösen gesucht,

einige allgemeine Betrachtungen anzuknüpfcn.

ES war ein Zufall, daß gleichzeitig der berühmte Aeghptolog Georg EberS denselben Gegenstand wählte.

Wenn man die beiden Romane

mit einander vergleicht, so wird man dem letzteren in mancher Beziehung

den Vorzug geben müssen.

EberS mit seiner geschickten und sehr geübten

Hand weiß seinen Figurm Platz zu schaffen, sie bewegen sich bequem, ich möchte sagen geräumig; die Gruppen ordnen sich um so klarer und sinn­

licher, da EberS mit seinen Studien in der Gegend zu Hause ist.

ES

ist wieder eine ägyptische Landschaftsstudie von kräftigem Colorit, mit breitem Pinsel auSgeführt.

Taylor stellt unS nur wenig Personen vor,

trotzdem kommen sie zuweilen inS Gedränge.

Sieht man indessen von diesem Aeußerlichen ab, so verdient die

Arbeit Taylors in weit höherem Sinn die Bezeichnung eines historischen Romanö als das Werk von EberS.

EberS hat sich daran gewöhnt, uns

Zeiten vorzuführen, von denen Niemand anders etwas weiß als er selbst

und ein Dutzend Fachgelehrte.

Mit welchem Geschick er diese höchst un­

bekannten Zeiten geschildert hat, würde feine Romane

das zeigt der Erfolg: das Publikum

nicht verschlingen,

wenn

sie nicht unterhielten.

Aber die Genremalerei, die er sich bei diesen fernliegenden Gegenständen angewöhnt hat, überträgt er nun auch auf eine wirklich historische Zeit:

wir werden durch belebte Gruppen anmuthig unterhalten, aber wir dringen

nicht in die Tiefe der Charaktere ein. Taylor faßt seine Aufgabe emster und strenger.

Hinter diesem

Pseudonym versteckt sich, wie man wohl als ziemlich ausgemacht annehmen

kann, ein berühmter Kirchenhistoriker; ich halte es indessen nicht für er­

laubt, den Namen, den er sich selbst beigelegt, zu ändern; doch glaube ich

den Umstand erwähnen zu sollen, da er die Zuverlässigkeit deS Romans erhöht, der sich, freilich nur für einen beschränkten Zeitraum, die Frage stellt: wie ging eS zu, daß die christliche Lehre sich in einem fremden

Boden

auSbreiten und gedeihen konnte?

Der Dichter kann hier den

Historiker ergänzen, der nur das mittheilen darf, was ihm feine Quellen überliefern oder was sich aus der Zusammenstellung und Vergleichung

seiner Quellen ergiebt: dem Dichter ist eS erlaubt, sich mit seiner Seele in die Zeit zu vertiefen und was dabei in der Seele vorgeht, in die

Außenwelt zu projieiren. DaS Christenthum ist von allen Wundern der Weltgeschichte daS größte.

Die beiden andern modernen Weltreligionen, der Buddhismus

und der Islam, sind verhältnißmäßig viel einfacher: sie gingen ursprüng­ lich, wenn auch als Reaction, aus einer nationalen Richtung hervor und

waren in dieser Besonderheit bereits eine geschlossene Macht geworden,

ehe sie sich andern Völkern mittheilten. DaS Christenthum dagegen trat zuerst auf alS Ausdruck der Empfin­

dungsweise eines kleinen und von den großen Culturvölkern verachteten Volks; es wandte die Verheißungen, die sich ursprünglich nur auf eine

bestimmte Nationalität zu beziehen schienen, auf die großen Weltverhält­ nisse an, und die Anwendung erwies sich als möglich.

Erst hauptsächlich

nur von geringen Leuten bekannt, drang eS mehr und mehr in die Kreise

der Gebildeten ein, machte sich ihr Denken und Empfinden dienstbar, und

bereicherte sich mit demselben.

AlS daS römische Weltreich zerbröckelte,

hatte daS Christenthum alles was von der alten Culturwelt übrig war, in sich zusammengefaßt und trat als Träger dieser Cultur den nordischen

Barbaren gegenüber.

Auch diese wußte eS nicht blos zu bezwingen, nicht

blos als fremde Macht zu belehren und zu bilden, sondern eS verstand in einem gewissen Sinn sich ihrer sittlichen Bildung. anzubequemen und

sie in sich aufzunehmen.

Die christlich-römische Cultur war den germani­

schen Sitten nicht weniger entgegengesetzt als früher die christlich-jüdische Messiasverheißung der griechisch-römischen Cultur: — aber man soll ein­

mal versuchen, in der Blüthezeit des Mittelalters daS eine Element vom andern zu scheiden!

Freilich fahren sie fort einander zu bekämpfen, aber

nur wie zwei Principien, die eigentlich zusammen gehören und ihre Zu­ sammengehörigkeit fühlen. Auch damit war daS Wunder noch nicht erschöpft.

AlS nun die

reinen griechischen Formen wieder aufgegraben wurden, wußte daS Christen­

thum sich ihrer zu bemächtigen, sich mit ihnen zu schmücken und ihnen

dadurch einen höheren Adel zu verleihn.

Dante bekannte den Virgil als

feinen Meister, und Rafael wäre ohne die Antike nicht denkbar: und doch

erscheinen uns beide heut mit Recht als eine Metamorphose des christ­ lichen Wesens.

Und weiter.

AIS das alt-germanische Blut wieder in Gährung kam

und gegen die römische Herrschaft aufschäumte, kleideten sich seine dunklen sittlichen Volksgestalten in die alt-testamentllchen Formen, die daS Christen­

thum überliefert hatte: Luther, Milton, Cromwell sind ebenso gewiß Typen der germanischen Bildung als Typen deS Christenthums.

DaS sind Wunder, deren sich keine der andern Weltreligionen rühmen Buddhismus unb. Islam sind nicht im Stande gewesen andere

kann.

BildungS-Motive in sich aufzunehmen oder neue Bildungs-Formen In sich zu erzeugen, sie suchten eine Zeit lang sich mit dem Wissen wohl oder übel abzufinden, bald aber erwiesen sie sich als kulturfeindlich.

Der Sieg

der abendländischen Bildung über die deS Morgens ist erfolgt unter der

Signatur deS Christenthums. Diesem Wunder nachzugehn und wenn nicht gerade es zu begreifen doch eS wenigstens zur sinnlichen Anschauung zu bringen, ist eine Auf­ gabe, die den Dichter wohl ebenso reizen darf als den Geschichtschreiber.

Sie zerfällt in zwei kleinere; die erste:

wie muß die Zeit beschaffen

fein, die einer Lehre wie das Christenthum war, bedarf und sie gleichsam provocirt? die zweite: waS für Elemente waren im Christenthum vor­ handen,

die sich dem Gemüth der Zeit verständlich machten und auf­

drängten?

Beides hat sich Taylor in seinem Roman vorgesetzt.

In der

ersten Ausgabe hat er Befriedigendes geleistet, in der zweiten nicht. Für die Charakteristik der Zeit, in welcher der Roman spielt, konnten kaum

zwei

AntinouS.

so sprechende Typen

gefunden werden als Hadrian und

Ob sie streng der Geschichte entsprechen, ob namentlich bei

der Zeichnung deS Kaisers, der Hofklatsch, den Taylor ganz richtig beur­

theilt, nicht mehr als billig mitgewirkt hat, lasse ich dahingestellt sein. Soweit der Dichter zur historischen Treue verpflichtet ist, hat Taylor seine

Schuldigkeit gethan.

Hadrian ist wirklich eine poetisch gedachte und künst­

lerisch ausgeführte Figur.

Ein starker nach allen Seiten umschauender

Geist, Ueberschuß an Lebenskraft, die sich freilich früh verbraucht hat; Ueber-

legenheit der äußern Macht und Ueberlegenheit deS Verstandes, der sich eben deswegen überhebt, sich nicht weiter fortbildet und in sich selbst ver­

trocknet; maßlose Verachtung aller Menschen und zugleich Mißtrauen gegen alle, Sehnsucht nach dem Tode, in dem die Mühsal des Lebens endlich

aufhören soll, und doch das krankhafte Verlangen, bis zum letzten Augen­ blick willkührlich zu herrschen; lucianischer Hohn und Spott gegen jede

Ueberlieferung religiöser Art, und doch daS tiefe Bedürfniß nach religiösen

Bestimmungen, vermeintlich aus Gründen der StaatSklugheit, in der That aber durch einen geheimen Aberglauben zu erklären, dem in bestimmten

historischen Zeiten

auch der Hochgebildete ausgesetzt ist:



daS sind

Elemente, deren Combination mit Geist und Scharfsinn erdacht und mit einem wirklich poetischen Geschick durchgeführt ist. Noch größeres Lob verdient die Figur deS AntinouS, die dem Dichter

besonders am Herzen zu liegen scheint.

leicht gemacht.

Er hat sich die Aufgabe nicht

AntinouS ist nach ihm ein beschränkter Kopf, eine schläfrige

gewissermaßen umschleierte Natur, gutartig aber schwerfällig zum Ent­

schluß, persönlich dem Kaiser gegenüber in einer Lage, die, durch die sitt­

lichen Vorstellungen deS Alterthums nicht gerade verdammt, ihn doch dem Spott und bis zu einem gewissen Grade der Verachtung der andern auSsetzt; vom Gefühl dieser Lage niedergedrückt, dem Kaiser grollend und doch

ihm innig ergeben.

Daß Taylor diese Elemente zu einer anschaulichen

und interessanten Figur verwebt hat, ist keine Kleinigkeit.

AntinouS begeht seinen Selbstmord auS Aberglauben, aus Liebe, aber auch aus stiller Verzweiflung.

Man hat ihm eingeredet, der Kaiser sei

zu retten, wenn Jemand sich freiwillig für ihn opfere; er will dies Opfer bringen, aus Liebe, aber auch weil er des Lebens satt ist.

Man hat ihm

seinen Glauben geraubt, an die Menschen, an die Götter, und in der

glaubenlosen Einöde zu leben kann er nicht ertragen.

Der TodeSgang ist

meisterhaft auSgeführt.

Um sich nun dankbar zu erweisen, läßt der Kaiser seinen Liebling

unter die Götter

versetzen.

Warum sollte er auch nicht?

Ihm selbst

werden längst göttliche Ehren erwiesen, und im Publikum wird der neue schöne Gott mit Beifall ausgenommen, er wird Mode.

Der Kaiser lacht

im Stillen über seinen eigenen Einfall, aber er ist böse, wenn ein an­

derer zweifelt, und bildet sich ein, selber zu glauben.

So hat er eö be­

reits mit den andern Culten gemacht, mit dem ägyptischen, mit dem griechi­ Er wacht streng ja pedantisch über die äußerste Correctheit, daß

schen.

die fremden Götter so erscheinen wie sie sind; er freut sich aber, wenn

er

die Betrügereien der Priester entdeckt, und betrügt selber gern die

Andern. So, will der Verfasser sagen, war die Zeit beschaffen, welche dem Christenthum Zugang verstattete: von dem tiefen Bedürfniß verzehrt, an

irgend Etwas zu glauben, und unfähig an etwas UeberlieferteS zu glau­ ben oder sich selbst einen lebendigen Glauben zu schaffen.

So

gründlich

unsere Gelehrten das Alterthum durchstöbert haben

und so nah uns namentlich die römische Zeit zu liegen scheint, so bekenne

ich doch, daß ich mir von dem religiösen Leben der Römer keine rechte

Vorstellung machen kann.

Bei den Griechen ist es anders.

Wir haben den

Homer, den sie lasen wie wir die Bibel lesen, und die Homerischen Götter­ bilder waren ihrer leicht beweglichen Phantasie Wirklichkeiten, wobei sie

keinen Anstand nahmen, mit freier Willkühr weiter zu erfinden.

Wir haben

die Tragiker, die auf diesen Götterglauben gestützt in ihrem Gemüth tief­ sinnig daS allgemeine Menschenschicksal durchdachten.

Wir lesen in den

platonischen Dialogen, wie die gebildete Gesellschaft auf eigene Hand nach

dem Göttlichen suchte und sich darüber unterhielt, immer aber mit hoher

Achtung vor der Religion der Väter.

Wir lesen im Aristophanes, wie

dreist ja chnisch man mit dieser Religion zu spielen wagte, und doch nicht

von ihr abfiel.

Der Marmor endlich zeigt unS, wie das höchste künst­

lerische Bedürfniß sich an die Religion anlehnte, und wie bei allen Wider­

sprüchen die idealen Vorstellungen deS Volks eine schöne Harmonie der

Farben fanden. WaS aber wissen wir von den Römern?

fahren wir gar nichts.

Aus ihren Dichtern er­

Die griechischen Götterbilder, die Ovid oder Pro­

per; anführen, waren dem Römer wohl gerade so verständlich, wie unS unser Schiller verständlich ist, wenn er erzählt: „AuS der Ströme klarem

Spiegel lacht der unumwölkte Zeus!" Die Gebildeten glaubten nicht blos nicht mehr, sondern was in ihrem Gemüth noch Idealistisches lebte, suchte die Nahrung anderwärts. Wir find hauptsächlich auf die Inschriften an­ gewiesen, aus denen sich ergibt, daß alle bürgerlichen Verrichtungen mit

religiösen Ceremonien begleitet waren, daß also in diesem Sinne die Römer fromm blieben bis ans Ende ihrer Tage. in ihnen vorging, wissen wir nicht.

zeigt

sich schon

früh:

wenn

Was innerlich dabei

Ihre Toleranz gegen fremde Culte

auf Senatsbeschluß neue Götter recipirt

wurden, hatte man nicht leicht etwas dawider, die Widerstandsfähigkeit

ihres religiösen Lebens lag in den Staatseinrichtungen, sie mußte immer

schwächer werden, je mehr diese auseinander fielen.

Das erklärt bis zu

einem gewissen Grade den Eingang, den daS Christenthum in Rom fand. ES kommt noch ein anderer Umstand dazu.

Nur im römischen Welt­

reich konnte die Idee der Menschheit, zu deren Erlösung der Sohn GotteS in die Welt kam, Verständniß finden.

Die Idee der Menschheit war den

Griechen gerade so unbekannt wie den Juden: jenen waren die Nicht­

griechen Barbaren, diese waren überzeugt, daß nur für den Saamen Abra­ hams Gott die Vorsehung sei.

DaS römische Reich bei seiner ungeheuern

Ausdehnung konnte sich dem Begriff der einheitlichen Gattung wenigstens

nähern. Aber damit, daß der Widerstand gegen daS Wunder gering war, ist

das Wunder des Christenthums noch lange nicht erklärt.

Der Glaube ist

nicht die Aeußerung einer Schwäche, sondern einer Kraft: das verkennt

der Dichter des „AntinouS" gerade so wie eS die meisten Historiker ver­ kannt haben.

Dem Historiker wird eS freilich schwer werden, einen Tag von Damas­ kus so zu schildern, daß man ihn mit fühlt, denn darin lassen ihn die

Quellen im Stich; aber der Dichter ist eS im Stande, vorausgesetzt daß er in seiner eigenen Seele eine Analogie findet.

Und das scheint bei

G. Taylor nicht der Fall zu sein. Er erschwert sich seine Aufgabe, indem er in den Mittelpunkt seiner

Gemeinde eine halb verrückte Greisin und verschiedene ausgemachte Hal­ lunken stellt.

DaS konnte Absicht sein: wenn es ihm gelang ein kräftiges

Gegengewicht zu finden, so war ja der Sieg der Idee über die zufällige

Erscheinung desto glänzender.

Aber das gelingt ihm nicht.

Sein Bischof

von Rom ist ein schlichter Biedermann, so wacker wie eS die Bieder­

männer unserer Zeit zu sein Pflegen, aber gewiß nicht im Stande, einer

aufgeregten Menge zu imponiren.

Dessen Bruder HermaS, halb Phantast,

halb Spaßvogel, der nur durch einen wunderbaren Zufall Märtyrer wird, ist wiederum kein Typus: dergleichen Figuren gab eS wohl damals in

der Gemeinde, aber unmöglich konnten sie dieselbe repräsentiren, noch weniger sie leiten.

Die Hauptaufgabe, die sich also Taylor stellt, ist

eine nüchterne, eine Verstandesaufgabe: er schildert einengebildeten wohl­

gesinnten an Character nicht gerade tactfesten Griechen, der ursprünglich daS Christenthum für gerade so einen Aberglauben hält wie das Heiden­

thum, allmälig aber durch verschiedene Umstände, Beispiele, LebenSgewohnheiten, Enttäuschungen, auch etwas Studium u. s. w. sich bekehrt.

Auch

das war gewiß ein häufig sich wiederholender Vorgang, namentlich wenn erst die Sache in Gang gekommen war, aber nicht das, worauf es unS

zum Verständniß des Wunders ankommt. Man mißverstehe mich nicht. zumuthen, die er nicht lösen kann.

Man darf dem Dichter keine Aufgabe Der Dichter so wenig als der Ge­

schichtschreiber und Philosoph kann nachweisen, wie in diesem bestimmten

Individuum Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken sich erzeugen.

In

den dunkeln Zeiten versuchten so etwas die Astrologen, in dem sie dem

Neugebornen die Nativität stellten, in unseren Tagen hat eS ein höchst talentvoller aber einer falschen Doctrin verfallener Dichter versucht: in­

dem er, um daS Individuum zu erklären, den ZeugungSact belauschen wollte, gerieth er ins Absurde.

Individuum est ineffabile!

Erklären kann der Dichter das Individuum nicht, aber er muß eS anschaulich machen.

Wenn der Dichter eine Zeit darstellen will, in der

Pwpheten vorkommen, und er kann

einen Propheten nicht so schildern,

daß man ihn vor sich sieht, daß ihm eine Resonanz antwortet, so verfehlt er seine Aufgabe.

Alles Große in der Geschichte wird nicht von Nüchter­

nen gemacht, sondern von dämonischen Naturen oder von Menschen, die der Dämon ergriffen hat.

Die mächtigsten Factoren für die Emwtckelung

des Christenthums sind die Menschen, welche die Kraft besaßen, zu glau­ ben und bei Andern Glauben zu

erregen.

Die Art wie Taylor die

chrfftliche Gemeinde schildert, ist nicht Historienmalerei sonderen Genre; dämm fehlt seinem Gemälde die richtige Perspective.

Die eine Gruppe ist vortrefflich ausgeführt,und man versteht auch wol, welchen Sinn sie im Zusammenhang haben sollen: der Schuldlose

der sich

opfert, der dann dafür zum Gott erhoben wird.

Aber diese

Fratze des christlichen Gedankens verlangte ein starkes Gegenspiel.

Auf der

einen Seite die Willkühr, die im Reich der sittlichen Kräfte keine Schranke

kennt und daher im Uebermuth oder gar aus Langeweile nach dem Un­ glaublichen greift, ohne doch je das Gefühl der innern Leere betäuben zu

können; auf der andern eine zwingende Gewalt: die Hingebung an ein Höheres, die dem Individuum Kraft, Gehalt und Frieden giebt.

ES ist nicht leicht, in unserer Zeit einen Tag von Damaskus zur Anschauung zu bringen, aber unmöglich ist es nicht.

Die Quellen des

ersten, zweiten Jahrhunderts bieten freilich nicht viel, den frommen Vätern

kam eS mehr darauf an, sich

durch Raifonnement mit ihren Gegnern

auSetnanderzufetzen als ihre eigenen Erfahrnugen mitzutheilen.

Aber wir

haben höchst sprechende Erfahrungen aus späterer Zeit, wir Deutsche na­

mentlich auS der Zeit deS aufblühenden Pietismus, aus dem Uebergang des 17. zum 18. Jahrhundert.

Ich erwähne nur zwei Beispiele:

August Herrmann Francke

und Johann Jacob Moser, beides Männer von unerschütterlicher Wahr­

heitsliebe und Aufrichtigkeit, nichts weniger als phantastisch angelegt, nicht schlecht gebildet von einer eisernen Energie deS Willens.

Beide hahen

die Geschichte ihrer Erweckung und Wiedergeburt mit einer Anschaulichkeit

dargestellt, daß der Leser nicht gerade mit geht, aber mit Erstaunen sich

sagen muß: das ist wirklich Etwas! schwächter

das ist eine Existenz!

In abge­

gebildeter Form hat es Goethe in den Bekenntnissen einer

schönen Seele nachgebildet.

In dieser Weise hat eS der historische Roman, der eS unternimmt den Leser in die ersten Zeiten deS Christenthums einzuführen, gleichfalls zu machen. Er muß unS das Phänomen des Glaubens zeigen, nicht des lammfrom­ men nüchternen Glaubens, der mitgeht weil auch andere mttgehen, sondern deS Glaubens der stark ist wie der Tod, und der sich nicht scheut, an die Preußisch« Jahrbücher. Bb. XLVIU. Heft «.

45

630

Antinou«.

Pforten der Hölle zu klopfen.

Freilich wird der Gläubige des zweiten

Jahrhunderts, den ein großes wenn auch sehr krankes Leben berührte und gewaltsam in seine Kreise zog, für seine Empfindungen andere Bilder

suchen als der verkümmerte Spießbürger aus Deutschlands jämmerlichster

Zeit: die stolzen Töne der alttestamentarischen Propheten, der Apokalypse werden in ihm nachklingen.

Aber der Vorgang in seinem Innern wird

sich nach ähnlichen Gesetzen vollziehen wie bei Francke und Moser. Erst so wird das Bild des alten Christenthums Blut und Knochen

gewinnen; die Masse der nüchternen Leute, die bloß dem allgemeinen Zuge folgen, geben lediglich die äußere Hülle.

Julian Schmidt.

Das neue Exil von Avignon.

DaS häßliche Schauspiel der Lügen und Verhetzungen deS jüngsten

Wahlkampfs mag ängstliche Gemüther wohl zu der Frage veranlassen: ob nicht auch in Deutschland dereinst, wie schon längst in Amerika, die

Zeit kommen wird, da die anständigen Männer sich angeekelt von dem

parlamentarischen Leben zurückziehen?

wir doch sehr

Inzwischen sind

fühlbar daran erinnert worden, daß Deutschland vor der Republik des

Westens noch eine lebendige politische Kraft voraus hat,

die von dem

Verfalle unseres Parlamentarismus ganz unberührt geblieben nationale Monarchie.

ist: die

Wie ein reinigendes Gewitter fuhr die kaiserliche

Botschaft vom 17. November in den Dunst und Stank deS Parteistreites. Sie schlug wieder jene stolzen, kräftigen Töne an, die uns Allen noch von

den ersten glücklichen Zeiten des Deutschen Reiche- her in der Seele widerhallen; sie zerstörte mit einem Schlage das Lügengewebe, das be­ flissene Demagogen, über die Absichten der deutschen Krone gebreitet hatten;

sie gab der Nation die Gewißheit, daß der deutsche Reichskanzler niemals

eine andere Politik treiben kann als die Politik deS Kaisers, daß diese Staatökunst, unbekümmert um den Mißerfolg deS Augenblicks, ihre Ziele fest im Auge behält, und daß sie frei ist von reaktionären Hinterge­ danken.

Im nämlichen Sinne sprach Fürst BiSmarck vor dem Reichs­

tage; er warnte zwar, und mit Recht, vor der Unersättlichkeit des modenien Radikalismus, aber er erklärte auch unumwunden, daß er nicht gesonnen sei sich zum Werkzeuge einer reaktionär-clericalen Reaktion zu erniedrigen.

Seine Absicht ist offenbar, diesen Reichstag, von dem sich

doch kaum etwas Heilsames erwarten läßt, kurz zu halten, ihm nur wenige, schwer abzuweisende Entwürfe vorzulegen und dann von Fall zu Fall die

Bundesgenossen da zu nehmen, wo sie sich finden. In einer ruhigeren Zeit würde diese Haltung der Regierung vollauf

genügen um alle die wunderbaren Parteimärchen von der nahenden großen Reaktion zu beseitigen.

Aber unser Volk hat sich schon allzu sehr an die

45*

tägliche Wiederkehr einer künstlichen politischen Aufregung gewöhnt; die

einfachen Worte der kaiserlichen Botschaft sind bereits vergessen über den unheimlichen Gerüchten, welche die Presse der Opposition beharrlich auSsprengt.

Immer wieder wird an die Wahlbündnisse der Hochconservativen

und deS Centrums erinnert; und doch sind auch tausende von national­

liberalen und fortschrittlichen Stimmen bei den Stichwahlen dem Centrum

zugefallen; und doch ist es leider nur zu natürlich, daß die Zerklüftung der

politischen Parteien allein der kirchlichen Partei zu gute kam, die von allen

verschieden und mit allen verwandt mitteninne zwischen ihnen steht.

In

den Zuständen unserer Verwaltung läßt sich schlechterdings nichts entdecken,

was an die Zeiten HinckeldehS erinnerte; so

bleibt denn nur übrig ge­

heimnißvolle finstere Andeutungen über die kirchenpolitischen Pläne deS Reichskanzlers zu geben, da das Schelten und Lästern nun einmal als das Kennzeichen liberaler Gesinnungstüchtigkeit gilt.

WaS an Thatsachen vorliegt berechtigt freilich nicht zu der Vermuthung,

daß der tausendmal mit Schadenfreude angekündigte Gang nach Canossa be­ reits angetreten sei.

Die allerdings zu weit bemessenen Vollmachten, welche

die Krone im Sommer vorigen Jahres für ihre kirchenpolitischen Verhand­ lungen forderte, haben durch den Landtag eine genügende Einschränkung er­ halten, und wer den Kampf wider Rom nicht gradezu als Selbstzweck betrachtet,

muß zngestehen, daß die Regierung diese Befugnisse klug und behutsam gebraucht hat.

Zwei der verwaisten BiSthümer sind durch das Etnver-

ständniß der Krone und der Curie mit neuen Bischöfen besetzt, deren ge­ setzlicher Sinn bisher noch nirgends angezweifelt werden konnte; die viel­

gescholtene Erhebung des Prinzen Radziwill dagegen erweist sich, wie jeder Unbefangene vorher wissen mußte, als ein boshaftes Parteimärchen. Doch

daS patriotische Bedürfniß der Lästerung deS Vaterlandes muß um jeden Preis befriedigt werden; in Ermangelung von Thatsachen greift die Presse

der Opposition daher zur Weissagung und verkündet, daß der Papst dem­ nächst in Fulda sein Asyl aufschlagen und mit Deutschlands Hilfe sein

Patrimonium zurückerobern würde — worauf denn Jeder im Voraus verflucht wird, der an solchen Gräueln theilnehmen könnte, möchte, dürfte. Da alle diese Gerüchte unverkennbar den zweifachen Zweck verfolgen, nicht

blos das Mißtrauen gegen den Reichskanzler zu nähren, sondern auch die öffentliche Meinung festzunageln, ein „liberales" Vorurtheil über mögliche

Ereignisse der Zukunft zu bilden, so lohnen sich vielleicht einige Worte ruhiger Prüfung.

Der römische Stuhl hat bekanntlich allezeit die Kunst verstanden

seine Gegner zu isoliren; er pflegte seine Kämpfe gegen die weltliche Staatsgewalt immer auf einen Staat zu beschränken, und er ist diesem

Brauche auch unter dem gegenwärtigen Papste treu geblieben.

Während

der ersten Monate der Regierung Leo'S XIII. schien eS noch zweifelhaft,

ob der neue Papst sich nicht wie sein Vorgänger gegen Deutschland wen­

den würde.

Seitdem ist längst ein Umschwung eingetreten.

Die Curie

sucht, wie es dem friedfertigen Sinne Leo'S XIII. entspricht, mit allen großen Mächten auf gutem Fuße zu stehen lind richtet ihre ganze Kraft auf die Bekämpfung deS Königreichs Italien, auf die Wiedergewinnung

drS Patrimonium Petri. Die Auseinandersetzung zwischen Papstthum und Königthum ist in anderer, radikalerer Weise erfolgt als Cavour sie sich dachte, und eben

darum erscheint die römische Frage noch heute als eine Frage.

Cavour

erstrebte, wie alle italienischen Patrioten, die Vereinigung der ewigen

Stadt mit dem nationalen Staate, aber er wollte den König nur als

Bicar des Papstes über das Patrimonium Petri regieren lassen; er er­ hob den Ruf Roma Capitale! nur um der radikalen Partei eine furcht­

bare Waffe aus den Händen zu winden,

und

soweit seine behutsamen

Aeußerungen einen klaren Schluß gestatten, läßt sich mit Sicherheit sagen,

daß der große Staatsmann das dauernde Nebeneinanderwohnen der bei­ den Höfe in einer Stadt niemals wünschte.

Gegen die einfache Annexion

hat freilich nur ein Staat, die Republik Ecuador, protestirt; aber das italienische Garantiegesetz, das die neuen Verhältnisse ordnen sollte, ist auch noch von keiner auswärtigen Macht anerkannt worden, obgleich die Krone

Italien selbst bei der Besitzergreifung ausdrücklich erklärte, daß die römische

Frage eine europäische, eine allgemeine Frage sei und nur durch Verstän­

digung mit den andern Mächten gelöst werden könne.

Eine solche Ver­

ständigung ward nie versucht, und die neue Ordnung erscheint leider noch

immer als

ein

Provisorium,

deffen Mißstände mit jedem Tage

wachsen.

Alle Sicherheit des Völkerrechts beruht auf der klaren, scharfen Unter­

Ein Souverän, der in allen Ländern

scheidung von Krieg und Frieden.

Steuern erhebt, über ein Heer von Diplomaten und tausende ergebener Priester gebietet, der sich jederzeit wirksame Feindseligkeiten gegen andere

Staatsgewalten erlauben kann und gleichwohl nicht nach den Regeln des Völkerverkehrs zur Rechenschaft gezogen werden darf — ein solcher Souverän ist eine völkerrechtliche Unmöglichkeit, zumal da er den Schutz einer welt­

lichen Macht genießt, welche ihrerseits jede Verantwortung Thaten ablehnt.

für

seine

Und sollten die Italiener jemals das Schwert eines

mst dem Vatikan verbündeten Siegers über ihrem Nacken sehen, würden

sie

die

bösen

Folgen

dieser

Alle die ernsten Bedenken, welche

Unwahrheit

schwer

so

empfinden.

einst Massimo d'Azeglio gegen die

Hauptstadt Rom

aufführte, sind durch die Erfahrung von elf Jahren

durchaus bestätigt worden.

Kein Unbefangener kann heute noch leugnen,

daß Florenz mit seiner hochgebildeten und

damals noch wohlhabenden

Bevölkerung eine bessere Hauptstadt für Italien war als dies Rom, das

seit Cäsars Tagen immer einen weltbürgerlichen Charakter trug und ein

selbständiges Bürgerthum

weder besitzt noch je besitzen kann.

den grandiosen Erinnerungen

Neben

einer die Welt umspannenden Geschichte

erscheint das neue Königthum hier so klein wie der Quirinal und daS Parlamentshaus auf Monte Citorio neben dem Vatikan und der Peters­ kirche, oder richtiger, wie der anspruchsvolle und doch so jämmerliche Palast

deS

neuen Finanzministeriums,

der sich heute über den gigantischen

Trümmern der diokletianischen Thermen

erhebt.

Durch

die rathlose

Schwäche der weltlichen Gewalt ward das peinliche Verhältniß zwischen den beiden Kronen nur verschlimmert.

Die Regierung that

nichts um

die auswärtigen Mächte gegen die Aufwiegelungsversuche PiuS des Neunten

zu schützen, und sie that ebenso wenig um dem Papste die ihm nach dem Garantiegesetze gebührenden königlichen Ehren zu erweisen. Ferne

AuS der

läßt sich nicht beurtheilen, ob die pöbelhafte Beschimpfung der

Leiche Pius XI. in der Nacht deS 13. Juli wirklich durch die herausfor­ dernde Haltung deS Leichengefolges hervorgerufen wurde; unbestreitbar

bleibt doch, daß eine starke, ihres Ansehens sichere Regierung ihre Ehre darein hätte setzen müssen, den Sarg eines von ihr anerkannten Souveräns selber mit fürstlichem Pomp zu umgeben.

Leere Erfindung ist es nicht,

wenn die Clericalen heute behaupten, der Papst sei nicht sicher vor per­

sönlicher Beleidigung, falls er wagen sollte nach altem Brauche von der Loggia von St. Peter herab den Segen zu ertheilen. Allerdings besitzt der römische Stuhl ein Mittel um ohne Kampf

seine heutige widerwärtige Lage allmählich zu bessern.

Wenn er das

Garantiegesetz stillschweigend anerkennt, wenn er zu dem Hose des Quirinals in ein leidliches Verhältniß tritt und seinen Anhängern gestattet als

Wähler und Gewählte an dem parlamentarischen Leben der Nation theil­

zunehmen, dann kann die Bildung einer starken clericalen Partei, die mit den Jahren wachsen würde, kaum ausbleiben,

und vielleicht gelingt es

dem Papst im Laufe der Zeit den weltlichen Hof unter seinen Einfluß zu bringen, so daß er in Wahrheit die Halbinsel beherrschte, während dem

Könige nur der Name bliebe.

Dies war es, was Cavour immer be­

fürchtete; auf diesen Weg der versöhnlichen Klugheit hat noch neuerdings Pater Curci mehrmals hingewiesen. danken weit von sich.

Aber der Vatikan stößt solche Ge­

ES liegt im Wesen jeder großen Macht, daß sie

ihre Niederlagen zu sühnen sucht, und Rom am Wenigsten versteht zu ver-

DaS drohende Dernier mot sur la question romaine, das so­

geffen.

eben an die europäische Presse vertheilt wird,, fordert kurz und gut die

Herrschaft über Rom und den Hafen von Civita Becchia. würdige Schrift verfährt nach der bekannten Methode der

Die merk­ vatikanischen

Publtctstik; sie setzt kurzerhand voraus was zu beweisen ist und zieht dann mit Geschick und Feinheit ihre Schlüsse.

Sie deutet an, daß dem Papste

noch zwei Bundesgenossen bleiben, die Schrecken deS Exils und die

wachsende Macht des Radikalismus.

Wenn die Anarchie über Italien

hereinbricht — so scheint sich der Verfosser die Zukunft vorzustellen — dann wird der Papst als Friedensstifter aus dem Exile heimkehren in

das Erbe des heiligen Petrus. Daß die italienische Krone mit solchen Gesinnungen nicht verhandeln kann, bedarf keines Beweises.

ES wäre einfach ein Selbstmord, wenn

sie die schlechteste Regierung, welche außerhalb der Türkei je bestanden, wtederherstellen wollte, wenn sie inmitten deS nationalen Staates eine kosmopolitische Macht wieder aufrichtete, die beim besten wie beim schlech­ testen Willen auf auswärtige Hilfe nie verzichten kann.

Aber selbst die

Rückverlegung der Hauptstadt nach Florenz, dergestalt, daß Rom eine ita­

lienische Stadt bliebe und nur die leidige Nachbarschaft der beiden Höfe beseitigt würde, selbst dies scheinbar so nahe liegende Compromiß ist,

nach Allem was geschehen, für Italien jetzt unannehmbar.

Eine starke

Krone mag einen falschen Schritt gelassen zurückthun, eine schwache kann Ein solcher Rückzug würde einen Sturm der Entrüstung in

eS nicht.

der Nation hervorrufen und am letzten Ende nur den Boden ebnen für

die Herrschaft deS Radikalismus, der mit seinem Garibaldi ruft: „nieder mit den Garantien und mit dem Garantirten!" Ohne jede Möglichkeit der

Versöhnung stehen die beiden Kronen einander gegenüber.

Der Gegensatz

verschärft sich von Tag zu Tag, und unmöglich ist es nicht mehr, daß

der Papst doch noch zu dem letzten Mittel greift, daS seine Vorgänger

nach dem Verluste der weltlichen Herrschaft bisher regelmäßig gebraucht haben, zum freiwilligen Exile.

Tritt eine solche Wendung ein, so werden alle Mächte mit katholi­ schen Unterthanen sich der Thatsache erinnern, daß Italien selbst im Jahre

1870 eine gemeinsame Verständigung über die römische Frage als noth­

wendig anerkannt hat, und auch Deutschland wird dem Oberhaupte der

katholischen Kirche seine Vermittlung nicht versagen können.

einem

Kreuzzuge

nationale

Politik,

für die

die Legitimität für die

deS

Papstes wird

orientalische Frage

nicht

Aber zu

unsere rein einmal die

Knochen eines pommerschen Grenadiers opfern wollte, sich gewiß nicht herbetlasscn.

Schwieriger erscheint die Frage: ob Deutschlaud dem Papste

DaS neue Exil von Avignon.

636

seine Bitte abschlagen kann, falls er in dem berufenen Lande der diokle-

tianischen Kirchenverfolgung sein Asyl aufzuschlagen wünscht?

Fanatismus wird hier kurzweg mit einem päpstlich antworten.

Nur der

non possumus

Die ernsten Bedenken springen in die Augen. Wir brauchen

den confessionellen Frieden wie die Luft zum Athmen; der Aufenthalt deS

Papstes auf deutschem Boden würde von dem strengprotestantischen Volke deS Nordens mit dem höchsten Unwillen ausgenommen werden und die

Verwirrung unserer inneren Lage nur vergrößern. ist nicht leicht für ein Reich,

Doch auch das Nein

das über fünfzehn Millionen katholischer

Unterthanen zählt und den Streit zwischen Staat und Kirche endlich bei­ zulegen wünscht.

Ob diese möglichen Vortheile oder jene sicheren Nach­

theile überwiegen, darüber läßt sich nicht a priori entscheiden, sondern nur nach

genauer Prüfung der

augenblicklichen Weltlage und — erst

wenn die Frage wirklich gestellt sein wird. Zum Glück sind wir noch nicht so weit.

Die Waffe deS Exils hat

im Verlaufe der Jahrhunderte viel von ihrer Schärfe verloren.

Schon

unter Napoleon I. wurde der Papst in Rom kaum noch vermißt, und nur eine europäische Coaliiion, wie sie heute ganz außer Frage steht, konnte

seine weltliche Herrschaft wieder aufrichten.

Seitdem ist die Schaar der

offenen Feinde und der gleichgiltigen Verächter des Papstthums in Italien

unzweifelhaft gewachsen.

Auf dem

großen Kirchhofe von San Lorenzo

steht noch das häßliche Denkmal, das Pius IX. den bei Mentana ge­

fallenen fremden Söldnern errichtete; nach dem Einzuge der königlichen Truppen ließ der römische Stadterath dies Grab mitsammt seinen auf­

reizenden Inschriften unberührt und setzte nur eine Marmortafel darunter,

worauf geschrieben steht: das befreite Rom erhalte dies Werk als eine

ewige Erinnerung an die unheilvollen Zeiten der theokratischen Regierung.

Die kalte Geringschätzung, die aus diesen Worten spricht, wird von un­

zähligen Italienern getheilt, und nichts erscheint unsicherer als die Erwar­ tung, daß die Abreise deS Papstes das Signal zu einem Bürgerkriege

geben müsse.

Gewiß vermag die Halbinsel der alten gloria italiana,

deS Papstthums, nicht leicht zu entbehren; aber auch die Curie ist so fest mit dem italienischen Leben verwachsen, daß sie außerhalb ihres heimath­

lichen Bodens kaum bestehen kann.

Und unter allen möglichen Asylen

ist sicherlich keines den Monsignoren deS Vatikans so ein

deutsches

Avignon.

Martin Luthers.

Die

Luft

weht

scharf

in

furchtbar, wie

dem

Vaterlande

Eine wohlwollende und feste Regierung kann der Curie

vielleicht auf einige Zeit

eine Zufluchtstätte in Deutschland gewähren;

aber eine bleibende Niederlassung deS römischen Stuhles in diesem Lande

der Parität ist schlechthin unzulässig.

Darüber wird man sich im Vatikan

DaS neue Exil von Evignon.

637

nicht täuschen; und wer bürgt dafür, daß ein neues Exil nothwendig mit einer neuen Heimkehr endigen muß? Die Presse übt nur ihr gutes Recht, wenn sie ihre Leser auf das wahrscheinliche Wiederaufleben der römischen Frage vorbereitet. Aber gegen entfernte Möglichkeiten, die vielleicht niemals wirklich werden, im Voraus ein Veto einlegen, das heißt die öffentliche Meinung verwirren, nicht sie belehren. 10. December. Heinrich von Treitschke.

Notizen. (Altpreußische Geschichten. — Wanderungen durch die Mark Brandenburg.)

Unter verschiedenen Neuigkeiten deS Büchermarkts erregten die

„Alt­

preußischen Geschichten" meine Aufmerksamkeit, weil sie mich in eine Ge­

gend führten, die von erster Jugend her mir wohlbekannt, lieb und werth, aber

jetzt durch eine Entfernung von vielen vielen Jahren auS den Augen gerückt Ich blätterte erst, dann las ich mit inimev steigendem Interesse fort, und

war.

darf jetzt die Ueberzeugung aussprechen, daß diesen Geschichten inmitten un­ serer Tagesliteratur ein recht bedeutender Rang gebührt. Ich glaube nicht, daß bei diesem Urtheil das landsmannschaftliche Jntereffe zu stark in Anschlag kommt.

Freilich werden die Feinheiten der Darstellung

nur von demjenigen gewürdigt werden, der die Copie mit der Erinnerung an

das Urbild vergleichen kann.

Grade weil der Verfasser nie auf eigentliche

Naturschilderung ausgehl, aber mit allen seinen Sinnen in der eigenartigen Natur unserer Provinz lebt, regt er den Leser an ihm mit eigenen Erinnerungen

zu Hilfe zu kommen, und alles voller und farbiger zu sehn.

Wir haben Gott sei Dank seit Errichtung des Deutschen Reichs die poli­

tischen Sondergelüste

möglichst niedergekämpft,

aber ich halte es für höchst

wünschenswerth, daß die Eigenart der Provinzen mehr und mehr zur Geltnng

komme.

Wie viel Eigenes wir Altpreußen haben, das merken wir erst, wenn

wir unsere Provinz verlassen.

Ein Bekannter meinte einmal: wenn sich zwei

Preußen treffen, auch ohne sich zu kennen, werden sie nicht müde sich von ihrer

Heimath zu unterhalten.

Merkwürdigerweise ist das in der belletristischen Lite­

ratur im Ganzen wenig zur Anschauung gekommen.

Der Erste, der meines

Mistens unsere provinziellen Eigenthümlichkeiten zum Gegenstand nahm, Lenz im „Hofmeister", (auch die Schwänke, die er nach Halle verlegt, spielen in der That in Königsberg), war ein Livländer.

Hippel, ein enormes realistisches Ta­

lent, verlegte den Hauptbestand seiner „Lebensläufe" nach Kurland, Hoffmann hat sich nur sehr selten mit seiner Heimath abgegeben.

In späterer Zeit haben

zwei geborene Schlesier unserer Provinz ihre Thellnahme zugewandt, Willibald

Alexis in einer Novelle, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts spielt, und Gustav Freytag im „Markus König".

Die „Allpreußischen Geschichten",

ohne Zweifel von einem geborenen Preußen geschrieben, füllen eine merkliche

Lücke aus.

Es sind zwei Geschichten „An der Passarge" und „Die Treue".

Beide

spielen in der Zeit, die für unsere Provinz die schwerste, drückendste, aber auch

die ruhmvollste war; die Zeit, an die jeder Preuße mit Stolz zurückdenkt und

von der uns Allen noch durch Familientradition die sinnlich bestimmtesten Bilder vorschweben, die Zeit von 1807 — 1813.

Der bittere furchtbare Ernst dieser

Zeit tritt uns hauptsächlich in der ersten Geschichte entgegen, die in ihren Einzel­

heiten sicher auf Ueberlieferungen beruht, vielleicht auf Aufzeichnungen.

Der

Berfaffer erzählt mit strengem Ernst, ohne alles Aufgebot belletristischer Mittel; er scheint mitunter mit einer ungeübten Hand zu schreiben; aber da er ganz in seinem Gegenstand lebt, so tritt das Gefühl des Gewaltigen, was vorgeht, dem

Leser in voller Kraft entgegen.

Es handelt sich um kein Kinderspiel, es handelt

sich um das Wohl und Wehe eines Volks, das sich männlich gegen den drohenden Untergang wehrt. Die zweite Geschichte, „Die Treue", ist leichter in ihrem Gehalt, aber in der Darstellung runder, künstlerisch freier ausgearbeitet; ich würde dem Leser rathen, mit ihr anzufangen.

Ein Humor, wie ich ihn liebe, ohne alle Osten­

tation, ruhig und gelaflen, aber aus dem innersten Behagen am Leben hervor­ gehend.

Den Inhalt der Geschichte bilden die Abenteuer eines kleinen Kriegs­

fahrzeugs, das 1807 zur Deckung des frischen Haffs ausgerüstet war.

kommen nur ein paar Figuren vor,

ES

aber Figuren von einer unglaublichen

Drolligkeit, die man lieb gewinnt und von denen man sich ungern trennt. —

Ich glaube, die Leser werden es mir Dank wissen, sie auf dies anziehende Buch

aufmerksam gemacht zu haben. DaS zweite Buch.

„Spreeland" — Beeskow-Storkow und Barnim-

Teltow, der vierte Band der Wanderungen durch die Mark Branden­ burg von Theodor Fontane bedarf meiner Empfehlung nicht; die drei

ersten Bände sind in alle Kreise unserer Gesellschaft eingedrungen; diesmal haben sick die Märker wirklich dankbar erwiesen,

Und sie haben allen Grund

dazu, denn sie kommen sehr gut heraus. Das ganze Buch hintereinander durch­

zulesen ist freilich unmöglich, es ist eben eine Reihe beschreibender FeuilletonArtikel, aber jeder einzelne derselben ist ebenso anziehend wie belehrend.

dem vorliegenden Band nimmt

Mit

der Wanderer von seinen treu ergebenen

Freunden Abschied.

Beide Bücher sind in der Besserschen Buchhandlung erschienen.

Julian Schmidt.

Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.