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German Pages 641 [644] Year 1881
Preußische Jahrbücher. Herausgegeben
von
Heinrich von Treitschke.
Achtundvierzigfter Band.
Berlin, 1881. Druck und Verlag von G. Reimer.
Inhal«. Erstes Heft. Sächsisch-polnische
Beziehungen
während
des
siebenjährigen
Krieges
russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.
zum
(Schluß.)
(Ernst Herrmann.)............................................................................... Seite BerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
1
(R. Schleiden.)
—
Die Zukunft des deutschen Reichsgerichts................................................................ — Die Tiefseeforschung der Neuzeit. Die Verlegenheiten Gambetta's.
50
(Dr. M. Alsberg.)....................................... — (Politische Correspondenz)
(n.) .....
24
60
—
Notizen................................................................................................................................—
87
96
Zweites Heft. Verfassungsgeschichte
der
Vereinigten
Staaten
von
Amerika.
(Schluß.)
(R. Schleiden.)................................................................................................... Raphael'S Skizzenbuch in Venedig.
Die Unterdrückung der Deutschen in Siebenbürgen.
.........................................
Ein Werk aus Kampfeszeit.................. .............................................................................
Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.
Russische Aussichten.
99
(Schmarsow.)..................................................... —
(Politische Correspondenz.)
(Fritz Kalle.)
(tt.).........................................
122
— 150 — 171 —
178
— 191
Drittes Heft. Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte. Die Beschränkung der Wechselfähigkeit,
(Chr. Meyer.)............................................ — (v. Borries.)
Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie. Helfrich Peter Sturz.
............................................ —
(Dr. Ferdinand Schultz.)
—
(Dr. G. Zimmermann.).......................................................... —
Italien und das deutsch-österreichische Bündniß. (Politische Correspondenz.) (tc.)
207
227 260 273
—
307
—
321
Viertes Heft. Karl Wilhelm Nitzsch.
(Richard Rosenmund.)....................................................
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.
Studien zur alten Gesellschastsgeschichte.
(Schluß.)
(Dr. Dziatzko.)
(Christian Meyer.)
.
.
—
346
—
377
Inhalt.
IV.
Die Kritik der reinen Vernunft.
(Julian Schmidt.)........................................... Seite 386
Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig.
(Politische
(ir.)............................................................................. —
Eorrespondenz.)
406
Notizen. (D.)............................................................................................................ —
422
Fünftes Heft. Karl Wilhelm Nitzsch.
(Richard Rosenmund.).............................................. —
Philosophie und Naturwissenschaft.
425
(Th. Achelis.).......................................... —
449
(H. d. G.)............................................................ —
Der Boer im Transvaal.
R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.
(Chr.Meyer.)
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseitdes Meeres.
.
...
474 — 493
— 510
(Heinrich von Treitschke.)................................. —
Die Lage nach den Wahlen.
525
Sechstes Heft. Ueber das Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit und deren
moderne Widersacher.
(Hugo Sommer.).................................................. —
R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.
(Schluß.)
533
(Chr.
Meyer.)........................................................................................................... —
570
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
(Ludwig Keller.).............................................................................................. — Melchior von Diepenbrock.
AntinouS.
(H. Jacoby.)...............................
—
(Julian Schmidt.)..................................................................................... —
Das neue Eril von Avignon. Notizen.
586
(Altpreußische
Brandenburg.)
(Heinrich von Treitschke.).................................... —
Geschichten.
— Wanderungen
durch
(Julian Schmidt.)............................................
dje Mark —
638
607
623 631
Sächsisch-polnische Beziehungen während des sieben jährigen Krieges zum russischen Hof und insbeson dere zum Großkanzler Bestuschew. Von
Ernst Herrmann.
(Schluß.)
3.
Unterm 9. März 1758 schrieb Prasse an Brühl:
„Ew. Exc. insbe
sondere büßen durch diesen Fall (des Großkanzlers Bestuschew) ihren besten und einzigen Freund und größte Stütze ein und ich bin bange, daß wir
diessen Verlust in folgenden drei Stücken absonderlich ressentiren werden: in Ansehung unseres dedommagemens, in unsern Absichten auf Preußen
und in Bezug auf unsere künftige Succession in Polen.
Gleichwie nun
aber dieser Fall einmal geschehen und nicht leicht zu repariren ist, also
kommt eS nun darauf an, daß man auf Mittel bedacht sei, den vor unser
Interesse daraus entspringenden Schaden, wo nicht gänzlich zu evitiren,
Und auf das, was nun zu thun fei,
doch wenigstens zu verringern."
übergehend, fährt Prasse fort:
„zuvörderst muß ich anführen, daß der
Graf Poniatowski und ich gewissermaßen in die disgrace des GroßkanzlerS enveloppirt sind.
Jener, weil er ein vertrauter Freund des Groß-
kanzlerS und am jungen Hof in großem Ansehen gewesen, ich aber nur in so weit, als man mich als einen Vertreter deS Großkanzlers an
sieht.
Da nun aber der Graf Poniatowski jetzt'angezeigtermaßen als ein
Anhänger des jungen HofeS angesehen wird, so ist natürlich, daß er am großen Hof allezeit suspect und mithin zu Ausrichtung gewisser Sachen ungeschickt bleiben wird und wenn auch dieses nicht wäre, so wird ihm doch allemal der französische Ambassadeur, der jetzo einen so großen Credit
und den Woronzow in seinen Händen hat, int Weg treten." Preu fr schc I.thrducher. Bd. XLVIIL Heft 1.
Sollte in-
Sächsisch-Polnische Beziehungen während de« siebenjährigen Krieges
2
dessen von Seiten des russischen Hofes sowohl auf Poniatowskis als auf
seine, Prasses, Abberufung gedrungen werden, so schmeichele er sich mit der Hoffnung, wenn das beiläufig zu bemerken ihm erlaubt sei, „daß Se. kgl. Mas. ihn als einen alten treuen Diener, der seit neun Jahren in
Rußland Jugend, Gesundheit und sein bischen Vermögen bei vieler Arbeit und Mühe zugesetzt, nicht Noth leiden lassen, sondern auf andere Weise
zu versorgen geruhen würden."
Als das vor der Hand Dringlichste
möchte nach seiner geringen Einsicht sich empfehlen, daß er, so lange er noch in Petersburg und kein anderer Minister deS Königs zugegen sei,
sich bemühe deS VtcekanzlerS Woronzow Gewogenheit zu erwerben.
Und
damit flattire er sich auch zu reufsiren, wenn er anders nur vom Hofe
aus so weit unterstützt werde, daß man ihm Gelegenheit verschaffe, sich mit ihm öfters in Affairen einzulassen, und daß man ihn mit etwas Geld
unterstütze um von den Sptelpartien sein zu können, welche in seinem
Hause etablirt seien.
WaS diesen Punkt betreffe, so berufe er sich auf
den Grafen Kayserling, der durch dieses Mittel seine Sachen alle gut ge
macht habe. Und eS dauerte in der That nicht allzu lange, so glaubte Prasse in
Woronzow, der noch in demselben Jahr zum Großkanzler erhoben wurde, einen
dienstfertigen
Freund
gewonnen zu
30. Januar 1759, 12. December 1759).
haben (2. December 1758,
Das Hauptziel aber auf welches
der sächsische Geschäftsträger jetzt loSsteuerte, war die damals von August III. eifrigst betriebene Candidatur seines dritten Sohnes, deS Herzogs Karl, um das Herzogthum Kurland durchzusetzen, und die diesen Bestrebungen
entgegengesetzten Bemühungen einerseits des Großfürsten Peter, anderer
seits der CzartorhSki-PontatowSkischen Fraction, zu vereiteln.
Poniatowski
mußte zwar auf ausdrückliches Verlangen der Kaiserin selbst Petersburg endlich verlassen (15. August 1758, R. G. V, 154); allein auch von Polen aus unterhielt er doch noch ganz im geheim fortwährend die intimsten Beziehungen zu dem jungen Hof (22. September 1758, 2. April 1759),
und zwar nicht nur zu der Großfürstin, sondern auch zu dem damals mit seiner Gemahlin wieder ausgesöhnten Großfürsten, so daß dieser selbst
verschiedentlich, wenn gleich vergeblich, sich für seine Rückkehr verwendete (2. und 22. December 1758), und gegen die vereinigten Umtriebe sowohl
deS jungen Hofes, wie der von diesem unterstützten polnischen Partei anzukämpsen, war um so weniger eine leichte Sache, da seit dem Sturz
Bestuschews, wie schon bemerkt, jener auch die Schuwalows und namentlich den Kammerherrn Iwan sich dienstbar gemacht hatte.
(3. Jan., 18. März,
5. Juni, 26. Juni, 16. Juli 1759.) Unter solchen Umständen kam es denn dem Herzog Karl ganz be-
sonders zu statten, daß die Kaiserin, auf die er Lei seiner persönlichen Anwesenheit im Sommer 1758 in Petersburg (R. G. V, 154) den vortheilhaftesten Eindruck machte,
einmal aus
eigenem Impuls
sich
zum
Handeln entschloß und so konnte der Vicekanzler schon Ende August Prasse die erfreuliche Mittheilung machen, daß bereits an den Kanzleirath Stmolin in Mttau die Ordre ergangen sei, den Ständen von Kurland zu erklären, daß e» der Kaiserin lieb und angenehm sein werde, wenn sie des Prinzen Karl kgl. Hoheit zu ihrem Herzog ausersehen wollten (30. August 1758).
Die Stände von Kurland wählten hierauf den Herzog Karl ohne Wider
spruch (12. December 1758) und huldigten ihm (Prasse 13. Nov. 1759); ohne sich darum zu kümmern, daß der Großfürst Peter seinen dritten
Onkel, den Herzog Georg Ludwig mit diesem Fürstenthum hatte bedacht wisien wollen (15. September 1758).
Dem Großfürsten aber blieb nichts
übrig, als über das Fehlschlagen seiner Wünsche in der ohnmächtigen Drohung sich Luft zu machen,
daß wenn der Herzog Karl wieder nach
Petersburg kommen sollte, er ihm den Degen durch den Leib jagen werde. (3. Januar 1759, vgl. 12. December 1759 P. S. IV.)
Und ebensowenig
drangen in Polen die Czartoryskis mit ihrem Protest durch, daß der König nicht befugt gewesen sei, durch einen bloßen Senatsbeschluß statt
durch den Reichstag sein Recht, das Herzogthum Kurland als polnisches
Lehen zu verleihen, sich bestätigen zu lassen (vgl. R. G. V, 153).
Zwar
trieben sie eö in ihrem widrigen Betragen und in ihrer Verbitterung wegen der kurländischen Sache so weit, daß man königlich polnischerseits
schon befürchtete, sie möchten zunächst in den Woiwodschaften Plozk und
WitebSk eine Confoederation anspinnen und für diesen Fall gegen das russische Ministerium den Wunsch aussprach, „daß die dortiger Gegend am nächsten stehenden russischen kaiserlichen Truppen, sobald sich wirklich
etwas äußern sollte, daS Feuer gleich in der ersten Asche zu ersticken
beordert würden (4. December 1758), doch ließen sie selbst eS nicht dahin kommen, daß die in dieser Beziehung von dem Großkanzler Woronzow dem Grafen Brühl gemachte Zusage hätte wirklich in Anspruch genommen
werden müssen (30. Januar 1759).
Für den Herzog Karl aber handelte
eS sich in der kurländischen Angelegenheit bei dem von Seiten Rußlands ihm nicht weiter bestrittenen Besitz dieses Herzogthums demnächst vor
nehmlich noch darum, wie weit er im Stande sein würde, von den durch
dreißigjährige und neunundfunfztgjährige Zinseszinsrechnungen
auf die
Summe von drittehalb Millionen Rubel sich erhebenden Ansprüchen der russischen Krone an die ihm persönlich als Herzog von Kurland zustehenden
Einkünfte, sich frei zu machen (vgl. R. G. V, 151).
Rußland nämlich
hatte die kurländischen Domainen, sowie die Privatgüter des removirten 1*
Sächsisch-Polnische Beziehungen während de« siebenjährigen Kriege«
4
Herzogs Biron mit Beschlag belegt auf Grund all der noch unberichtigten Forderungen, die eS theils kraft der vom Herzog Friedrich Wilhelm mit Anna Iwanowna geschloffenen Ehepakten, theils wegen der von Peter dem
Großen für diese Fürstin und hernach von dieser selbst und vom Herzog Biron mit russischem Geld erkauften Güter erhob (30. Jan., 12. Febr. 1759)
und wollte sich zur Aufhebung deS Sequesters nur gegen Berichtigung seiner Schuldforderung verstehen, wobei es außerdem noch verlangte, daß der neue Herzog für den Unterhalt der Btronschen Familie Sorge zu
tragen auf sich nehmen solle.
Dagegen war Prasse bereits in einem
Promemoria vom 8. August 1758 mit dem Gesuch eingekommen, „daß
die Kaiserin das auf die herzoglichen Domainen sowohl als auf die von
dem Herzog Biron an sich gebrachten und von ihm besessenen Güter und übriges Vermögen gelegte Sequester
aufheben und zugleich declariren
lassen möchte, daß man sich zur Schadloshaltung der vor diesem von
dem Herzog Biron seines eigenen Vortheils halber erschöpften russischen
Lasse mit den aus der Sequestration bisher erhobenen Revenüen begnügen wolle und daß demnach die Kaiserin dem Prinzen Karl als Herzog von
Kurland alle Rechte und übrige Anforderungen auf die herzoglichen Do
mainen und das Vermögen des Herzogs Biron gänzlich zu cediren geruhen möge, wogegen eS der Prinz Karl auf sich zu nehmen hätte, dem Herzog
Biron und seinen Kindern eine jährliche Pension nach Verhältniß
der
Einkünfte deS Landes und nach Beschaffenheit der Bedürfnisse der Bironschen Familie festzusetzen und Lu entrichten."
Auf
dieses
Gesuch
erfolgte
endlich
in einem Promemoria
vom
5./16. März 1759 eine Antwort, die zwar im Wesentlichen demselben zu
stimmte, aber doch nur unter äußerst lästigen Bedingungen, die weder mit der Unabhängigkeit eines völlig souverainen StaateS noch mit den Ver pflichtungen eines, wie daS in Bezug auf Kurland der Fall war, zu einem anderen Staat im Lehensnexus stehenden FürstenthumS sich wohl verein
baren ließen.
Die Kaiserin erklärte nämlich-allerdings, daß sie von allen
bisher erhobenen Forderungen völlig abstehen, daS auf die herzoglichen Domainen gelegte Sequester aufheben und selbige dem Herzog Karl zu völligem Besitz etnräumen wolle, dagegen aber sollte der Herzog Karl im Einvernehmen mit der kurländischen Regierung als dem russischen Kaiser-
thum nothwendige reservata anerkennen:
1) die förmliche Befugniß Rußlands zu militärischen Zwecken und namentlich während der ganzen Dauer deS
gegenwärtigen Krieges in
Bezug auf Durchmarsch, Einquartierung und Berproviantirung der russi schen Truppen daS ganze Herzogthum mit sammt seinen Seehäfen im
Grunde nicht anders denn ein ihm unterthäntgeS Land betrachten und be-
zum russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.
5
nutzen zu dürfen (Promemoria vom 5./16. März 1759 Punkt 3—6), wie
eS ja freilich auch bisher schon dasselbe factisch kaum ünderS angesehen und benutzt hatte (vgl. Punkt 4 und 5); außerdem sollte 2) dem russischen Reich der Besitz aller der Güter, welche der Herzog Biron vor und nach seiner Erhebung zum Herzog noch
während seines Aufenthalts am russischen Hof, für russisches Geld von particuliers aufgekauft, gelassen werden
3) soll ein Theil der Güter, welche von dem Sequester befreit und
dem neuen Herzog eingeräumt worden, noch auf sechs Jahre denjenigen kur ländischen Edelleuten zur Anende übergeben werden, welchen die russische Regierung den Genuß derselben durch Borcontracte bereits zugesagt hat.
4) Da das Herzogthum Kurland dem Prinzen Karl schon vollkommen
zu Theil geworden, mithin der vorher gewesene Herzog Biron und seine Kinder deS Besitzes besserten auf immer verlustig gehen, so möge ohner-
achtet der Bironschen Familie von der Gnade der Kaiserin ihre Subsistenz gereicht werde, der neue Herzog, wie darauf auch bereits vom LegationSrath Prasse in seinem Promemoria vom 8. August a. p. hingewiesen
worden, derselben eine proportionirte jährliche Pension festsetzen und zahlen.
Wie zu diesen Forderungen Rußlands der Herzog Karl sich zu ver halten habe, wurde demselben hierauf vom sächsischen Ministerium in
einem durch Prasse übersendeten Promemoria nebst den dazu gehörigen Ausführungen vom 2. April 1759 an die Hand gegeben.
Dasselbe nahm
indessen, ganz der sächsischen Politik entsprechend gerade an dem an sich
bedenklichsten von unS unter 1) zusammengefaßten Punkt durchaus keinen erheblichen Anstoß.
Zur Beseitigung der bet dem Verharren Rußlands
auf seinen Ansprüchen an die Bironschen Güter kaum zu vermeidenden politischen Collisionen, gab es dem Herzog den Rath, nöthigenfallS sich zum allmähligen Abtrag der auf den Ankauf derselben verwandten Summe
In Bezug auf die für gewisse
von 280,000 Albertsthalern zu erbieten.
kurländische Edelleute hinsichtlich der Verpachtung von Domanialgütern ausbedungenen Vergünstigungen war es der Ansicht, daß falls eS hiebei
auf die Beftiedigung nur weniger Personen ankomme, die als Pensio-
naires oder Creaturen des russischen Ministeriums anzusehen seien, welchem man in dieser Sache soviel verdanke,
eS am rathsamsten sein möchte,
darüber keine Schwierigkeiten zu machen.
Und in Bezug auf die der
Bironschen Familie zu leistende jährliche Pension sprach diese Denkschrift sich dahin auS, daß fürs erste bei. Herzog Karl sich bereit erklären möge,
btefe in beut ben jährlichen Einkünften ber Bironschen Privatgüter gleich kommenden Betrage von 15,000 Rubeln zu entrichten, falls ihm unent geltlich der Betrag dieser Güter überlassen würde.
Am 28. April langte der Herzog Karl selbst in Petersburg an; durch
seine persönliche Gegenwart beabsichtigte er den Abschluß der Verhand lungen zu beschleunigen (1. Juni 1759).
Zwar fehlte es von der einen,
wie von der anderen Sette nicht an noch mancherlei Weiterungen, so daß der Großkanzler Woronzow gegen Prasse äußerte (24. Mai 1759), seine
College» hätten in der Conferenz den Einwurf erhoben, daß wenn man Alles einginge, was der Herzog verlange, man keinen Fuß in Kurland be halten würde, worum es doch Rußland durchaus zu thun fein müsse, in dessen gelang eS gleichwohl den beschwichtigenden Bemühungen PrasseS,
den noch vorhandenen Widerspruch im russischen Ministerium so zu be seitigen, daß es bereits durch einen Conferenzbeschluß vom 4. Juni alle vom Herzog gewünschten Modifikationen ihm zugestand (5. Juni 1759). Am 6. erging an den Herrn von Simolin in MUau der Befehl, daß das
Sequester sofort aufzuheben und von Johannis an dem Herzoge von den ihm einzuräumenden Gütern wirklichen Besitz zu ergreifen zu gestatten sei.
Und endlich am 29. Juni fand in Peterhoff die Auswechselung der von der Kaiserin und vom Herzog unterzeichneten Urkunden statt, durch welche die in dieser Angelegenheit getroffenen Vereinbarungen sollten „definitiv
regulirt worden" sein.
Und so hatte denn die sächsische Schmiegsamkeit
unter die russische Schutzmacht diesen einen Erfolg wirklich errungen, nur daß trotz alledem das so mühsam Erhaschte doch nicht von Dauer war.
Kaum hatte der Großfürst Peter den Kaiserthron bestiegen, so traf er auch schon zu Gunsten des Prinzen Georg Ludwig von Holstein die ener
gischesten Anstalten, um den Herzog Karl zu verdrängen (R. G. V, 253).
Und gleich nach PeterS Entthronung stellte auch Katharina II. an August III. unumwunden das Ansinnen, seinen im anerkannten Besitz des HerzogthumS
Kurland sich befindenden Sohn, den Herzog Karl zur Verzichtleistung zu nöthigen (R. G. V, 345).
Schon im ersten Jahr ihrer Regierung setzte
sie auf die gewaltsamste Weise seine Vertreibung wirklich durch, zwar nicht zu Gunsten Georg Ludwigs, den sie
als Vormünderin ihres Sohnes
Paul mit der Statthalterschaft von Holstein entschädigte, (R. G. V, 211),
sondern um durch Wiedereinsetzung des ganz von ihrer Gnade abhängigen
alten Herzogs Johann Ernst Biron auf das vollständigste ihrem Rußland die in diesem Grenzfürstenthum schon in früheren Jahren fast mit unbe
dingter Willkür ausgeübte Macht wieder zurückzugeben.
4. Viel mißlicher stand es mit der Erfüllung der an die beabsichtigte
Demüthigung
Preußens
sich
anknüpfenden
Entschädigungshoffnungen,
welche Sachsen auf die russische Freundschaft setzte und
die es immer
und
immer wieder laut werden zu
lassen,
sich nicht versagte.
So
schrieb Praffe (31. Januar 1758), nachdem noch vor dem Sturz des Großkanzlers am 28. Januar in Petersburg die Nachricht angelangt war,
daß am 21. Königsberg nebst der Festung Pillau sich der russischen Armee
ergeben habe, an Brühl:
„da nunmehr das ganze Königreich in russi
schen Händen sei, werde er (Praffe) nicht ermangeln, das russische Mini
sterium und besonders den Großkanzler zu sondiren, und wenn ja die Abtretung deffelben an den König von Polen und dessen Nachkommenschaft
nicht sogleich und noch vor einer generalen Pacification zu erhalten sein
dürfte, versuchen, ob nicht wenigstens ein Theil oder die Hälfte der Re venuen zum einstweiligen soulagement des königlichen Hofes werden könnte."
erhalten
Brühl aber ermuthigte ihn, bei so löblichen Vorsätzen
auszuharren durch die Ermächtigung für den Fall des Gelingens auch dem Vicekanzler Woronzow mindestens ein dem Betrag nach von diesem selbst
festzusetzendes douceur in Aussicht zu stellen (13. Februar 1758). noch vor dem Empfang dieses Schreibens hatte Praffe
zu
Doch
berichten
(17. Februar), der Großkanzler sei auch jetzt der Ansicht, daß diese An
gelegenheit nur mit der größten Vorsicht berührt werden dürfe, vor nehmlich weil man der Kaiserin gleichsam anS Herz greifen würde, wenn
man ihr zumuthete, zu declariren, daß sie das Königreich Preußen, das sie nun einmal habe, für Sachsen in Besitz genommen habe, dann aber
auch, weil er selbst sich dem Verdacht gar zu großer Parteilichkeit auS-
setzen würde, wenn er gleich jetzt für Sachsen das zu thun anriethe, was er für Oesterreich zu thun, kürz zuvor schriftlich und mündlich abgerathen habe*), ja selbst in Bezug auf die von Sachsen beanspruchte Theilung
der Einkünfte sei eS nicht mehr res integra, indem schon vor wenigen
Tagen an den General Fermor der Befehl ergangen, eine Million für die russische Krone dort auszuschreiben.
Mußten hiernach die
dem endlichen Ausgang deS Krieges zufolge
ohnehin auf Sand gebauten Entschädigungsansprüche Sachsens einstweilen
wieder vertagt werden, so dauerte eS doch nicht lange, daß Rußland von diesem Hof mit der zwar herabgestimmten aber desto dringenderen Forde-
*) In Bezug auf diesen Punkt heißt eS in PrafleS Depesche vom 31. Januar: „Ew. Exc. habe schon in meinem letztem gehorsamsten Berichte anznzeigen die Ehre ge habt, daß der Ambassadeur Esterhazy einige Anwürfe gethan, um zu erhalten, daß daS Königreich Preußen im Namen der Kaiserin-Königin in Besitz genommen werden möchte. Diesen Antrag hat er seit Erlangung der Nachricht von dessen Occupirung wiederholt nnd dabei vorgestellt, daß die Polen vielleicht darüber ombrage nehmen oder auch gar die Pforte jaloux werden könnte, wenn sie erführen, daß dieses Königreich von denen Russen in Besitz genommen worden wär« und darinnen behalten würde." Vgl. die geh. Depesche an Esterhazy vom 13. November 1756 bei Arneth V, 61 und 479.
8
Sächsisch-Polnische Beziehungen während des siebenjährigen Krieges
rung um eine jährliche Subsidienunterstützung angegeangen wurde. Noch im December desselben Jahres 1758 (25. Dec.) nämlich gab die Er schöpfung SachsenS durch die unerschwinglichen preußischen Auflagen dem Grafen Brühl Anlaß, Zuflucht zu den alliirten Mächten zu nehmen, um bei ihnen zusammen um ein gemeinschaftlich auszuwerfendes subsidium von 500,000 Thalern anzusuchen. Er zweifelt nicht an der Bereitwilligkeit der Kaiserin, zur Versorgung der königlichen Familie mit einer convenablen Aushülfe den Höfen von Wien und Versailles, an die man sich in dieser Sache bereits gewendet, beizutreten, und wenigstens auf so lange würden sämmtliche Alliirte den Abgang aller Landeseinkünfte aus den Erblanden feines Königs auf eine angemessene Weise zu ersetzen sich ent schließen, als dieselben in Feindes Hand sich befänden. Aber auch in dieser Beziehung blieb eS, wie es scheint, russischerseits nur bei guten Vertröstungen (23. Januar 1759). Rußland dagegen nahm keinen Anstand, nachdem faktisch gleich nach der Einnahme von Königsberg die Kaiserin Elisabeth selbst dort sich hatte huldigen lassen, endlich ohne weiteres für sich an Oesterreich den formellen Antrag zu stellen, dasselbe möchte feine Zustimmung dazu geben, daß zum Ersatz der sich unbeschreiblich hoch belaufenden Kriegskosten ihm, dem russischen Reich „das eroberte Königreich Preußen als eine conquestirte Provinz gänzlich und auf alle Zeiten zugeschlagen würde oder doch wenigstens 20 Jahre laug als eine Hypothek in dessen Besitz bleibe (24. December 1759). Und Prasse wußte dem Grafen Brühl auf diese letzterere direct von Wien aus gemachte Mittheilung nichts Tröstlicheres zu antworten, als daß, so sehr auch er die russische Intention, Preußen zu occupiren, für eine ganz Europa gefahrdrohende halte, er doch um so mehr von dem hartnäckigen Festhalten Rußlands an derselben überzeugt sei, als eS dieser Macht nicht nur um einen Ersatz der enormen auf den Krieg verwendeten Summen, sondern auch namentlich für feine Kriegs flotte um den Besitz der Häsen von Memel und Königsberg zu thun fei, weil es feine Fregatten und Galeeren, wenn sie in diesen Häfen über winterten, zwei Monate länger würde in See halten können als in Kron stadt oder Reval (7. Januar 60). Kurz je länger der Krieg dauerte, um so mehr trübten sich die Aus sichten Sachsens. In seiner Depesche vom 8. Februar 1760 klagt Prasse darüber, daß die drei Hauptmächte der Allianz in ihren Vereinbarungen das größte Geheimniß vor ihm beobachteten, da „wir die größten Forde rungen haben und man uns unfehlbar als-diejenige Puissance ansieht, die der Vergrößerung der anderen, oder wenigstens der beiden kaiserlichen Höfe damit im Wege steht. Wir haben ein Absehen auf Preußen gehabt
zum russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew. und Rußland will eS auch haben.
9
Wir wollen ein Stück, obwohl ein
kleines, von Schlesien haben und Oesterreich will solches ganz allein be
sitzen.
Wir wollen zu einer gewissen Macht und Ansehen gelangen und
Oesterreich will allein das Haupt in die Höhe halten."
Er findet, daß
Sachsens BergrößerungSabfichten nur mit Frankreichs Interesse nicht in
Widerspruch ständen, „vielmehr dürfte Frankreich, wenn eS nun auf den Umsturz des preußischen Hauses angesehen ist, gern sehen, daß wir her nach
eine gewisse Figur spielen und Oesterreich respectable werden
könnten", allein Frankreich befinde sich leider nicht in der Lage den beiden Kaiserhöfen die Wage halten zu können, mithin bliebe Sachsen nicht-
übrig, als fortdauernd sich an die ganze Allianz zu halten, und zugleich die äußersten Anstrengungen zu machen, um sich möglichst selbst zu helfen.
5. Mit der Selbsthülfe Sachsens aber war und blieb es übel bestellt und so suchte Brühl denn nochmals seinen Vergrößerungsgelüsten ver
mittelst der Unterstützung Rußlands Bahn zu brechen und zwar jetzt durch die Vorstellung, daß wenn Rußland daö mit Polen verbundene Sachsen
stärker mache, eS in diesem seinem treuesten und zuverlässigsten Bundes
genossen nur sich selber verstärke.
Er kommt darauf zurück, daß, „da die
ConquGte von Preußen vor Rußland allem Ansehen nach nicht durchzu
setzen sein dürfte", eS am angemessensten sein möchte,
„wenn sothaneS
Königreich dem Hause Sachsen entweder ganz oder halb zu Theil würde" (13. August 1760).
Prasse jedoch, der die Lage der Dinge aus nächster
Anschauung beurtheilte, hielt dies Anbringen für ein zur Zeit so wenig einen günstigen Erfolg versprechendes, daß er, sich demselben zu unter
ziehen ablehnend, entgegnete (4. September 1760),
„er sehe sowohl in
Ansehung der russischen Macht als der entfernten Lage deS Landes nicht ab, wer Rußland solches abnehmen könne, sobald eS sich in den Kopf setzet,
solches behaupten zu wollen, so als eS allem Ansehen nach schon wirklich
den Gedanken hat".
Auch müsse er dahin gestellt sein lassen, ob daS
von Sr. Excellenz hervorgehobene Motiv, eine namhafte Vergrößerung Sachsens werde dasselbe in Stand setzen, mit um so größerem Nachdruck die nur allzu unzureichend ausgestattete polnische Krone zum Nutzen Ruß
lands mit dem Kurhut zu vereinigen, auf die russische Krone einen über
zeugenden Eindruck machen werde, denn „man sei jetzo mit seiner eigenen Hoheit so sehr beschäftigt und auf seine Macht und bisherigen success
so stolz, daß man alle dergleichen grrangemens vorläufig gleichsam für
überflüssig ansehe und in der Einbildung stehe, daß zu seiner Zeit ein
10
Sächsisch-Polnische Beziehungen während des siebenjährigen Krieges
Fingerzeig von Rußland genügen werde, um Alles nach eigenem Gefallen
einzurichten".
In der That mußte die natürliche Consequenz seiner bisherigen Po litik in Polen Rußland mit Nothwendigkeit zu dem Bestreben führen, seine schon so lange vermittelst der Vasallenschaft des sächsischen Hauses indirekt über dieses Königreich ausgeübte Herrschaft in eine so weit möglich dtrecte
zu verwandeln und mithin für die Zukunft nicht auf die Befestigung deS deutschen Fürstenhauses, werdenden
dieses
ihm
seines
Zwischenträgers
allmählich
lästig
und hinderlich
Machtgebots, sondern vielmehr auf
dessen Beseitigung Bedacht zu nehmen.
Befand sich doch schon jetzt ganz
Polen so gut wie widerstandslos in seiner Gewalt, seine Armeen nahmen ihre Winterquartiere Jahr für Jahr auf polnischem Grund und Boden und nährten sich von polnischem Brod und auch die vornehmste Machtbefugniß, die dem verfassungsmäßig gefesselten König de jure noch zu
stand, die Befugniß der Gnadenverleihungen von hohen, mit reichen Ein künften dotirten StaatSämtern, wurde ihm dadurch geschmälert, daß er eS nicht wagen durfte, die von den polnischen Magnaten selbst beim Peters
burger Hof nachgesuchten Recommandationen, wenn sie ihm auch noch so mißfällig waren, zurückzuweisen oder unbeachtet zu lassen. Wir wollen zunächst den zuletzt berührten Punkt durch einige Bei
spiele erläutern: Als zu Anfang August 1758 Prasse den Vicekanzler Woronzow in
Bezug auf die polnischen Magnaten ersuchte (4. August), solche Einrich
tungen zu treffen, daß nicht gleich ein Jeder, der darum anhielte, mit Recommendationsschreiben versehen würde, versprach derselbe zwar diesem
durchaus begründeten Begehren in Zukunft nachkommen zu wollen, zu gleicher Zeit aber eröffnete er ihm, daß für jetzt davon noch nicht die
Rede sein könne, sondern daß demnächst der Graf Sapieha unfehlbar eine solche Recommandation behufs einer ihm vom Könige zu ertheilenden Starostei erhalten werde.' Ebenso versicherte Woronzow später in Bezug
auf den gleichfalls in Petersburg anwesenden jungen Fürsten Adam Czar toryski (28. September 1759), er für seine Person würde zwar gern be
reit sein, zu verhindern,
daß demselben fernerhin keine weiteren Re-
commandationsschreiben ertheilt würden, doch habe der Fürst für jetzt
bereits durch andere Kanäle bei der Kaiserin den Auftrag an ihn, den
Großkanzler, ausgewirkt, zu seinen Gunsten an den Envoyö WojKow nach
Warschau zu schreiben, daß
der König ihm die Anwartschaft auf das
Commando der Garde, welches fein Vater, der Fürst August habe, sowie
auf gewisse Starosteien zu geben und, daß derselbe überhaupt einer Aus söhnung mit der CzartorySkischen Familie sich nicht abgeneigt zeigen möge
(vgl. 17. August 1760). — Am beleidigendsten war für August III. jeden falls
die ihm vom russischen Hof gemachte Zumuthung, den Fürsten
Alexander Joseph SulkowSki mit der erledigten Woiwodschaft von Posen zu bedenken, da derselbe gegen ihn, den König, persönlich sich in der Art vergangen hatte, daß dieser ihn lebenslang nicht wieder vor seine Augen
kommen zu lassen fest entschlossen war (19. März 1760).
Allein die eigen
mächtige, völkerrechtswidrige Schilderhebung dieses polnischen Magnaten
zu Gunsten Rußlands gegen Preußen, durch die er sich die gefängliche
Einziehung von Seiten Friedrichs II. zuzog (R. G. V, 659), mochte für Rußland nur ein Grund mehr sein, ihn um so wärmer zu halten und mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln sich seiner anzunehmen (vgl. 18. und 28. März 1760).
Je länger man aber in Polen die Erfahrung machte, wie wirksam die russische Protection sei,
um so methodischer wurde gerade von den
Magnaten die Kunst betrieben, auch die kleinsten Mittel nicht zu ver
schmähen, um durch Aufmerksamkeiten aller Art sich die Pforten der russi schen Machthaber zu öffnen.
So hält unter Anderm der Krongroßkanzler
Malachowski, der mit dem Großkanzler Woronzow „in directer und öfterer
Correspondenz stehet" eS für angebracht, letzterem ab und zu Präsente von ungarischem Wein zu übersenden,
womit er wie Prasse sich ausdrückt
(16. October 1760), „nach dem gemeinen Sprichwort ohnfehlbar die Wurst nach der Speckseite wirft und eine gute Pension von hier ziehet".
Und
gleich in der folgenden Depesche vom 21. October fügt Prasse hinzu: Woronzow habe ihm ein Schreiben Malachowskis mitgetheilt, in dessen
Nachschrift derselbe sich „für das ihm bezahlte ansehnliche Geschenk des russischen Hofes mit der Versicherung bedanke, daß er solches Geld nicht
aus Interesse annehme, sondern Willens sei, solches zum Besten des
Vaterlands, des Königs und seiner Alliirten anzuwenden".
Freilich
aber galt als selbstverständliche Bedingung solcher Ver
günstigungen, daß dafür auch das polnische Interesse nur in russischem
Sinn ausgelegt werden durfte und wer anderer Ansicht war und dennoch sein Anliegen durchsetzen wollte, zog den Kürzeren.
dem Starost Grafen RogalinSki.
So z. B. erging es
Dieser hatte im Namen deS groß
polnischen Adels sich nach Petersburg begeben, um über die auf den Gütern deffelben von den russischen Truppen verübten Excesse Klage zu führen.
Man ließ eS indessen bei dem Versprechen, die Sache zu untersuchen, be wenden, und Woronzow verhehlte Prasse nicht, daß dergleichen Beschwerden zu unterstützen, eben nicht der Weg sei, sich dem russischen Hof zu empfehlm, indem er namentlich in Bezug auf den Primas gerade heraus
sagte (13. November 1789), „man wisse recht gut, daß dieser eS eigentlich
fei, der die Anherschickung des RogalinSki veranlaßt, allein wenn er ge
dächte, dadurch viel auszurichten oder die PensionS zu erhalten^ die sein Vorgänger gehabt, so werde er sich betrogen finden.
Man wäre nicht ab
geneigt, ihm eine solche Pension zu gewähren, allein dies sei nicht der Weg dazu (vergl. 2. und 26. November 1759, 28. März 1760).
Statt
durch eine schleunige Vergütung die durch das russische Militär Geschä
digten zufrieden zu stellen, zog man es vielmehr vor, der weiteren Ver
folgung
ihrer Rechtsansprüche
von Seiten
des
polnischen Reichstags
durch das bei dem permanenten inneren Hader so leichte und bequeme Mittel der Sprengung desselben zuvorzukommen (10. und 16. Oct. 1760*).
Polen mußte eben, wehrlos wie es war, seine gefälschte Neutralität noch härter von Freundes als von Feindes Hand büßen, am rücksichts
losesten aber sprang Rußland mit der reichen, auf ihre besonderen Privi legien eifersüchtigen HandelS-
und Hafenstadt Danzig
um.
Unterm
16. October 1758 berichtet Prasse, daß man in der Conferenz auf einmal
wieder auf den Gedanken gekommen sei, von der Stadt Danzig schlechter dings zu begehren, daß sie russische Garnison einnehmen solle.
Mit dem
allergrößten Eifer habe Peter Schuwalow diesen seinen Antrag verfochten, unter dem Vorwand, daß man in Pommern und der Mark Brandenburg nichts auSrtchten könne, so lange man nicht Danzig habe, jedenfalls aber
spiele dabei auch Schuwalows Privatinteresse eine große Rolle, denn eS sei ja bekannt, daß derselbe nunmehr fast alle Branchen des HandelS mittelst erhaltener Monopole an sich gebracht habe, wie er denn namentlich
den Korn-, Fleisch-, Stockfisch-, Thran- und TabakShandel ganz allein führe, daneben aber auch noch verschiedene Schiffe in See habe, welche Wein,
Branntwein und andere Waaren für seine Rechnung ab- und zuführten,
und so möge er denn wohl Danzig zu einem debouchS für die einen und zum entrepot für die anderen sich auSersehen haben**). Brühl beeilte sich, diesen so gefahrdrohend übergreifenden Absichten *) „Soviel ich aus verschiedenen DiScursen abnehme» können, (und der Großkanzler hat mir daraus kein Geheimniß zu machen begehret) hat man von hier aus Maß regeln genommen, den jetzigen Reichstag in Polen zu zerreißen, namentlich aus Furcht, daß wegen der von Seiten der russischen Armee vorgenommenen und un vergütet gebliebenen Exccffe gar zu viel und zu laut geschrieen werden möchte. ES wird mich Dieses aber nicht abhalten, auf die wirkliche Austelluug der deshalb niederzusetzen versprochenen Commission auzudringen." Praffe. **). Dgl. 20. Oktober und 26. Juni 1759: „ES ist Idiese Familie und besonder« der Kammerherr Iwan Jwanowiz noch immer mit dem jungen Hof in genauer liaison. Bis dato hat diese liaison in denen Affairen aber noch nichts geschadet, hingegen greift der Graf Peter Schuwalow hier im Lande täglich weiter um sich und ziehet allen Wandel und Handel an sich, wie er denn unter Anderm durch einen Handel, den er mit Ochsen nach der Ukraine und hier mit geschlachtetem Fleisch treibet, den Preis dieser unentbehrlichen Waare so hoch getrieben, daß man jetzo daS Pfund Fleisch zu 6 Kopeken bezahlen muß, was sonst nur Eines kostet."
Rußlands entgegenzuarbeiten und äußerte bei dieser Gelegenheit (3. No vember 1758): man könne sich kaum deS Gedankens erwehren, daß ent
weder Rußland überhaupt nicht mit seinen Bundesgenossen
eS redlich
meine, sondern nur der Küsten der Ostsee sich auf Feindes- oder Freundes
Unkosten zu bemeistern suche, oder daß, falls die Kaiserin und den Vice
kanzler ein solcher Verdacht nicht treffe, doch wenigstens eine Intrigue der Schuwalows und des jungen Hofs dahinter stecke, „welcher vielleicht Eng land und Preußen Danzig als ein sacrifice versprochen" (vgl. R. G. V, 155). Einstweilen schien zwar nach den Versicherungen Woronzows (28. Oct.
1758) die der Stadt Danzig drohende Gefahr der Einnahme und Besetznng durch die Russen beseitigt werden zu sollen, allein gleich darauf trug doch
der russische Resident Puschkin kein Bedenken, eben dieser Stadt das Recht, sich auf ihre Neutralität zu berufen, geradezu in Frage zu stellen und
Danziger Unterthanen mußten nicht nur die bei ihnen eingerückten russi schen Truppen,
ohne die vertröstete baare Bezahlung zu erhalten, be
köstigen, sondern auch noch Fouragelieferungen einige Meilen weit leisten, ohne für die Fuhren einige Vergütung zu bekommen, wie denn auch die Fourage selbst entweder gar nicht, oder doch weit unter dem gewöhnlichen
Preis bezahlt wurde (6. December 1758).
Und als im folgenden Jahr
Praffe in Bezug auf Danzig Anlaß zu ähnlichen Beschwerden gegeben war, wurde er von dem Großkanzler mit der kurzen Antwort abgespeist,
er könne, wie die Verhältnisse einmal lägen, der Stadt nur den guten Rath geben, sich ruhig zu verhalten und so viel als thunlich sich gefällig
zu bezeigen (18. December 1759). 6.
Zur Vervollständigung des Bildes von der während der ganzen Zeit deS siebenjährigen Krieges hervortretenden Ohnmacht des sächsisch-polnischen Könighauses, den Glanz seiner erborgten Wahlkrone von den Verun
glimpfungen der russischen Freundschaft frei zu halten, müssen wir neben
diesen andeutungsweise bemerklich gemachten Drangsalen, die der Stadt Danzig aufgebürdet wurden, zunächst noch der über alle Maßen furchtbaren Erpressungen gedenken, welche unter den fortwährenden Einlagerungen
russischer Truppen die andere deutsche Weichselstadt zu erdulden hatte, die seit ihrem Entstehen durch ihren Antheil an dem Fortgang und der Ent wicklung deutscher Colonisation in den preußischen Landen vorzugsweise geschichtlich denkwürdig gewordene Stadt Thorn.
Ein dem russisch-kaiserlichen Abgesandten von WojÄow im Namen
der kgl. Stadt Thorn unterm 26. October 1761 überreichtes Promemoria
beginnt mit den Worten:
„ES hat die Stadt Thorn, da sie unter den
Beschwerden, welche sie bei dem Aufenthalte und denen Durchmärschen der russisch-kaiserlichen Truppen betreffen, nunmehr» seit einigen Jahren seufzet,
unter der Zeit zu wiederholten Malen und auf verschiedenen Wegen ihr Elend vorstellig
gemacht und
dessen
Erleichterung zu erflehen gesucht,
nachdem sie aber keine Hülfe erlangen können, sondern vielmehr neue Be lästigungen dazu gekommen, so findet sie sich noch immer genöthigt, ihre Be
schwerden aufS neue zu wiederholen."
In 13 Punkten werden hierauf diese
Beschwerden auseinandergesetzt in Bezug auf Einquartierung, Licht und Feue
rung, Krankenpflege,
die Artillerie,
Feuerschäden, Schädigung der Weichselbrücke durch
Entziehung des Gebrauchs der Schiffbrücke zum Handel
und Verkehr, der Stadt von dem Proviantcommissariat durch Anlegung
der ansehnlichen Magazine verursachten Schaden, Einbußen aus den der
Stadt gehörenden Landgütern durch die beständige Einquartirung, die häu figen Durchzüge und den Untersassen auferlegte Podwoden rc.
Insbesondere
wird im 8 1 bemerkt: „Die Last der Einquartirung empfindet die Stadt um so viel mehr, da sie ohne Unterlaß davon gedrücket wird.
Bei den
Winterquartieren ist sie noch niemalen übersehen worden, sondern hat viel mehr insgemein das Standquartier Eines von der hohen Generalität sein
müssen und wenn die Armee ins Feld gegangen, so ist allezeit eine Be satzung zurückgelassen worden.
Diese mochte noch so schwach eingerichtet
sein, so diente eS zu keiner Erleichterung, weil währenden Feldzugs jenseit
der Weichsel alle die häufigen Commando und Offieiers, welche zu oder
von der Armee gehen, da sie hier die Brücke passiren, in der Stadt Rast
tag halten und Quartier bekommen müssen.
Hierzu kommt noch, daß
nicht allein viele sogenannte Zeughäuser allhier angelegt sind,
sondern
auch daS Proviant-Comissariat seine Magazins hieselbst errichtet hat, mit
hin die große Anzahl der Offiziere und Bedienten, welche dabei zu thun haben, anhero gezogen und die Einquartirung dadurch vergrößert worden. Noch überdies haben sich besonders dieses Jahr ungemein viele russische
Damen und Officiersfrauen, sogar derer Officier, die nicht ihr Stand quartier in dieser Stadt gehabt, anhero eingefunden, welche, da sie sogar
im Königreich Preußen die Logis bezahlen müssen,
allhier unentgeltlich
Quartier haben, und denen größtentheilS der Wirth noch das Holz und alles übrige, was sie benöthigt sind, ohne Bezahlung geben muß, aller Vorstellung und Einwendung ohngeachtet aber die Stadt solcher Gäste nicht entledigt werden tonn."
Unterm 6. November 1761
richteten Bürgermeister ujib Rath der
Stadt Thorn auch an den König und den Grafen Brühl dringliche Bitt schriften, bei der russischen Regierung für Erleichterung von der sie der
Vernichtung preisgebenden Bedrückung sich zu verwenden.
Bereits unterm
21. October hatte Brühl an Prasse geschrieben: „Soviel ist gewiß, daß der verschiedenen Mißhandlungen und Excesse, welche mit aller Schärfe
zu reprimiren sind, nicht zu gedenken, die russischen Anforderungen und
PrestationeS an verschiedenen Orten über die Maße gehen und bei Ent stehung einer billigen, auch zum Theil wirklich erfolgenden Vergütung,
denen, die sie betreffen, noch sensibler werden.
Die Noblesse klagt nicht
allein darüber, sondern die Städte leiden öfter- eben so viel und noch
mehr, wie denn zum Exempel die Stadt Thorn, daß man durch Weg-
nehmung aller ihrer Schiffsgefäße und begehrte Einräumung ihrer Speicher ihr ganzes die Stadt allein unterhaltendes Commercium hemmt, öfters
flehentlich angezeigt und um Hülfe und ernstliche Befehle gebeten hat." Darauf erwiderte Prasse am 3. November:
„Der Kanzler, dem ich die
Gerechtigkeit widerfahren lassen muß, daß er die Sache zu Herzen nimmt,
versicherte mich, daß deshalb an die russischen Befehlshaber schon die behörigen Ordres ergangen wären, und bezog sich zugleich auf das, was er mir vorhero schon darüber gesagt hätte.
Er zog gewaltig auf die Ge
nerals los und bediente sich der eigenen Worte: daß nichts übrig bliebe, als einige davon zu henken, wenn sich anders nur die Kaiserin dazu ent
schließen könnte, oder doch wenigstens sie zu degradiren. daß
Er sagte dabei,
die Conduite dieser Herren so irregulatr wäre, daß außer solcher
Schärfe, worzu aber leider seine Souveratne gar zu wenig geneigt sei,
sonst kein Mittel übrig bliebe, diese Herren zu besserer Beobachtung ihrer Schuldigkeit zu bringen.
Er klagte besonders über den Abgang hinläng
licher Rapports von ihnen und äußerte, daß es nun schon fast dahin ge kommen sei, daß er fast von Allem, was bei der Armee vorgtnge, durch den Ambassadeur (Grafen Mercy) oder mich tnformiret werden müsse rc.
Keine Rechnungen würden auch nicht abgelegt.
Es wäre nicht zu be
greifen, wo die vielen Millionen hingekommen, die man zur Armee ge schickt, wo cS doch an Allem fehle und Niemand bezahlt werde."
„Eben
dasselbe wiederholte er mir gestern als ich ihm zufolge Ew. Exc. neuesten
Depeschen vom 21. praet. abermals dieser Sachen wegen angeredet hatte und wo er die Ausdrücke über das Chapitre der Generals so wenig me-
nagirte, daß er sogar öffentlich und in Gegenwart vieler Personen mit Verachtung von ihnen sprach."
So also, stand eS damals, nach den eigenen Aeußerungen des russi schen Großkanzlers mit den Aussichten durch die russischen Feldherrn gegen die von ihren Truppen in Polen verübten Unbillen sich Schutz verschaffen
zu können.
Im Uebrigen blieb die Politik aller nachfolgenden russischen
Oberfeldherren im Wesentlichen dieselbe, wie die ihres Vorgängers, des
Feldmarschalls Apraxin, eine durch die Rücksichten, die sie auf den jungen
Sächsisch-Polnische Beziehungen während des siebenjährigen Krieges
16
Hof zu nehmen hatten, ihren Willen für das zur Zeit ihnen Obliegende lähmende.
Insbesondere war man zur Zeit des eben erwähnten Berichts
PrasseS vom 3. November mit dem Feldmarschall Butturlin in Petersburg durchgängig so mißvergnügt, daß man im Begriff stand, ihm das Com-
mando zu nehmen.
Ausführlichere Auskunft über diese Verhältnisse gibt
unS PrasseS Depesche vom 22. December 1761.
„Die Abfertigung deS
CurierS", heißt es da, „der nach meiner jüngsten Anzeige die Ordre zur Anherkunft Butturlins überbringen sollte,
ist wegen der dazwischen ge
kommenen Krankheit der Kaiserin noch unterblieben, mithin weiß Niemand,
ob er endlich noch anhero kommen wird oder nicht.
Unterdessen gibt unter
der Hand der Kammerherr Schuwalow sich viele Mühe,
dem Grafen
Soltykow das Commando der Armee wieder zu verschaffen, welches, wenn
es geschehen sollte, ein groß Unglück wär, da dieser Feldmarschall wider die sämmtlichen Höfe der Allianz, besonders über den Wienerischen, denen
er seine Absetzung zuschreibt, sehr aufgebracht ist und weder den Willen, noch die Geschicklichkeit hat, etwas zu thun.
Es ist dahero der Ambaffadeur
und ich, mit dem ich darunter de concert gehe, darauf bedacht, so weit es
mit guter und unschädlicher Art geschehen kann, alles Dienliche anzuwenden, um den Feldmarschall Butturlin bei dem Commando zu erhalten, welcher,
ob er wohl vielleicht auch nicht habiler als jener, doch geschmeidiger ist, und wenigstens den Willen hat, etwas zu thun, auch sich sonst den guten
Absichten der Alliirten nach Möglichkeit pretiret hat und noch pretiret." „Der General Rumiänzow hat auch einen starken Anhang hieselbst,
der sich bemühet, ihm das Commando zu verschaffen und zwar arbeitet außer seiner Familie, der junge Hof selbst daran und eS scheint, daß sich der Baron Breteuil
auch unter der Hand mit darum bemühe, und be
sonders auf sich genommen habe, den Kammerherrn Schuwalow darzu geneigt zu machen, wie denn überhaupt ernannter Baron, da er von der Kaiserin nicht gouttret ist, sich
Prinzessin attachiret, zu gewinnen.
an den jungen Hof und besonders die
auch bereits ziemlich reussiret hat, ihr Wohlwollen
Ob der Baron Breteuil daran gut oder übel thut, lasse
ich dahin gestellt sein, im Grunde aber taugen alle diese TripotageS nichts.
Der Großkanzler selbst, der die Decision wegen deS Commando seiner Souveräne selbst, tote billig, überlässet, hält sich außer dem Spiel und diesem Exempel folgen der Ambassadeur und ich, tote denn, wenn nur anders Soltykow das Commando nicht erhält, eher dabei gewonnen als verloren werden dürfte, wenn es dem Grafen Rumiänzow
würde.
Das
einzige Bedenken
ist, daß dieser, der
übertragen
da wissen muß,
wie sehr der großfürstliche Hof und besonders der Großfürst persönlich vor Pre.ußen und England portiret ist, sich vielleicht nicht getrauen wird.
zutt russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.
17
mit einer gewissen vigueur wider Preußen zu agtren, wiewohl er darunter durch die OrdreS seiner Souveraine rectificiret werden kann."
„Das Schlimmste bet allen diesen Umständen ist diese-, daß die Ge
sundheit der Kaiserin täglich ab- und des Großfürsten Ansehen oder viel mehr die Furcht vor ihm, denn er ist nichts weniger als geliebt, bei
Jedermann zunimmt.
Vorgestern ist die Kaiserin so schlecht gewesen, daß
man um ihr Leben besorgt war rc."
„Gott wolle uns doch diese Prin
zessin noch einige Zeit erhalten, allein überlebet sie diese Krankheit, so
müssen auch die alliirten Höfe keine Zett mehr verabsäumen, sondern ein jeder da- äußerste anwenden, um den jetzigen Krieg zu Ende zu bringen, als der ein ganz anderes Ansehen erhalten würde,
wenn diese wohlge
sinnte und sanfte Prinzessin die Schuld der Natur bezahlen sollte."
Die der Kaiserin gestellte Lebensfrist sollte nur eine vierzehntägige
noch sein.
Elisabeth starb am 5. Januar 1762.
So lange sie lebte, bis
zu ihrem letzten Athemzuge stagnirte in Rußland Alle- durch die Lähmung
deS höchsten StaatSwillenS, der nicht einmal in irgend welcher, an sich auch noch so verfehlten Richtung perfekt zu werden und das vorgesteckte Ziel zu erreichen vermochte, wegen des inneren Widerspruchs zweier sich durchkreuzender Potenzen, von denen die Eine berechtigte, von der Kaiserin vertretene in den wichtigsten Fragen der Politik eine zwar zur Schau ge
stellte, aber nur scheinbare Obedtenz fand, die andere dagegen, der junge Hof. wenngleich einer nur heimlichen, so doch zugleich in den wichtigsten
Dingen den AuSschlag gebenden Unterwürfigkeit sich zu erfreuen hatte. Es bleibt unS schließlich übrig, noch besonders in Betracht zu ziehen, wie denn die in Polen gründlich verfahrene Brühlsche Politik, deren sächsi
schen AcquisitionSgelüsten eS auch bisher schlecht genug ergangen war, die letzten Stadien der Regierung Elisabeths noch dazu benutzte, das in dieser
Beziehung Mißglückte durch erneute Versuche, soweit irgend thunlich, ein zuholen und gut zu machen. 7. Am unverfänglichsten schien eS, auf Rußlands Schutz zu rechnen, wo
eS nur darauf ankam, feine Großmuth in Anspruch zu nehmen, ohne daß man dabei Gefahr lief, der eigenen Eroberungssucht dieser Großmacht
entgegen
treten zu müssen, mit anderen Worten, ihre Unterstützung in
Anspruch zu nehmen, um dem sächsischen Kurhause, abgesehen vom König reich Preußen im engeren Sinne, Entschädigungen auf Kosten und ver
mittelst preußischer und sonstiger Territorien deutschen Reichsgebietes zu-
zuweUden, wie namentlich durch die Einverleibung Erfurts in daS Kurfürstenthum
Sachsen und durch eine angemessene Versorgung der kgl.
Preußische Jahrbücher. 58b. XLVIII. Heft 1.
2
Sächsisch-Polnische Beziehungen während des siebenjährigen Krieges
18
polnisch-kurfürstlich-sächsischen Prinzen Albert und Clemens durch Verleihung geistlicher Vacanzen. versucht gelassen.
Und auch diesen Weg einzuschlagen, wurde nicht un
Zwar war Prasse auf eine neuerdings unterm 2./13. De
cember 1760 eingereichte Denkschrift „über die dem Könige von Polen als
Kurfürsten von Sachsen bei dem künftigen Frieden zu Seiner Entschädi
gung und Sicherstellung zu. verschaffenden hohen Bundesgenossen festzusetzenden
und zum voraus unter den
Bedingungen"
vom
Großkanzler
Woronzow bereits unterm 29. December 1760 (9. Januar 1761) die im Wesentlichen dahin gehende Antwort ertheilt worden:
„daß die Kaiserin
darüber, was die eigentlich für den König von Polen zu bestimmenden Friedensbedingungen betreffe, sich nicht eher erklären könne, als bis je nach dem Ausschlag der Waffen die Beschaffenheit der Umstände zulassen
werde,
das Nöthige deshalb
mit den Ministern der übrigen alliirten
Mächte in besonders anzustellenden Conferenzen zu verabreden."
Trotzdem
aber glaubte Brühl unmittelbar nach diesem Bescheid nicht zögern zu dürfen, gleich jetzt wieder den russischen Hof als Minimum der sächsischen
Forderungen nachdrücklichst jene bereits im Jahre 1757 auf Grund des russisch-österreichischen TractatS vom 2. Februar des genannten Jahres dem
sächsischen Hof wenigstens indirect, wenn auch nicht formell von diesen beiden Mächten in Aussicht gestellten Entschädigungen in Erinnerung bringen zu lassen (Warschau, 28. Januar 1761).
ES drängte ihn um so mehr seine
Wünsche nicht zurückzuhalten, als ihm soeben durch den Grafen Flemming in Wien war mitgetheilt worden, daß höchst unerwartet der französische
Hof dem dortigen Hof,
sowie dem dortigen russischen Gesandten seine
Dispositionen und Anträge zu einem baldigen Generalfrteden zu erkennen gegeben hatte (vgl. Arneth VI, 217 ff.).
Und wenngleich nach den Aeuße
rungen Flemmings sowohl der Graf Kaunitz wie die Kaiserin-Königin über dieses unzeitige Verlangen und befremdende Verhalten des Königs
von Frankreich sich einigermaßen bestürzt gezeigt und dabei Kaunitz sehr
entschieden hatte merken lassen, daß des dortigen Hofes erstes Anrathen bei dem russisch-kaiserlichen Hof darauf gerichtet sein solle, zu der stand
haften und vigoureusen Fortsetzung des Krieges bundesmäßig zu animiren, so hielt Brühl es doch auch bei einer kaum zweifelhaften Geneigtheit der Kaiserin von Rußland
rathsam,
zur Fortsetzung des Krieges auf alle Fälle für
unverweilt das sächsische. Interesse in Ansehung einer billigen
Entschädigung
dem dortigen Hofe inständigst anzuempfehlen.
Er über
sendete daher (21. Febr. 1761) Prasse die Copien der ihm von diesem und vom Grafen Poniatowski im Jahre 1757 zugefertigten Aktenstücke, mit dem Auftrage, sich jetzt
derselben am Petersburger Hofe für das dem
sächfffchen schon damals in Aussicht Gestellte als beweiskräftiger Docu-
zum russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschewmente zu bedienen.
19
Dabei motivirte er in eigenthümlicher Weise, warum
Sachsen, abgesehen von dem damals bestimmt namhaft Gemachten auf Gmnd des gleichfalls in Aussicht gestellten Mehr jetzt zunächst, um ein
schickliches dedommagement durch Erfurt zu erhalten, die guten Dienste
Rußlands in Anspruch nchmen müsse: Frankreich, ließ er sich verlauten, habe zwar sogleich die Idee goutirt, daß der Kurfürst zu Mainz die Stadt
und Zugehör von Erfurt an Sachsen abtreten könne, worauf das sächsische Kurhaus ohnehin älter gegründete Ansprüche habe, wogegen dem Erzstiste
Mainz Paderborn auf beständig etnzuverletben sei, ja, der französische Hof habe daS auch bereits dem kaiserlichen Hof zu Wien im Vertrauen zu er
kennen gegeben, dieser aber behandele alle die Verfassung deS deutschen Reichs berührenden Sachen mit allzugroßer Vorsicht, als daß von seinem Beitritt viel zu hoffen sei.
Der sächsische Hof sei wegen seiner eigenen
Verbindlichkeiten bet der deutschen Reichsverfassung nicht in der Lage, der gleichen in Anwurf zu bringen.
DaS beste würde also sein, wenn die
Krone England dieses Anliegen als schickliches ExpedienS bet den FriedenSconditionen an die Hand geben wollte und der russische Hof würde am
allerunbedenklichsten und nachdrücklichsten an daS englische Ministerium dergleichen Insinuationen und Ideen gelangen lassen können, da selbiger
mit den deutschen Gesetzen in keiner Verbindlichkeit stehe, daS Beste der Sachen bei einem künftigen Frieden allein zum Augenmerk habe und
Sachsen besonders nach Billigkeit zu favortsiren und zu möglichster Ent schädigung zu verhelfen sich großmüthig geneigt declarirt habe (9. April 1761).
Prasse wurde dabei ausdrücklich zur Pflicht gemacht, wenn er zu
nächst in geheimer Mittheilung den Großkanzler ersuche, diese Angelegen heit besonders durch die russischen Gesandten in Wien und Versailles be
treiben zu lassen, nicht zu verrathen, daß sie ursprünglich vom sächsischen Hof sei in Anregung gebracht worden (6. April 1761).
Inzwischen hatte
Prasse sich bereits in der Lage gesehen, eine vom 16./27. März 1761 datirte Note Woronzows zu übersenden, des Inhalts, „daß man betreffend die diesseitige Mitwirkung beim Wienerischen und ftanzösischen Hofe" zur
Erreichung des Endzwecks, den königlich polnischen und kursächsischen Prinze» Albert und Clemens und zwar ersterem zur Erhaltung des durch Absterben
des Kurfürsten von Köln erledigten Hochmeisterthums von dem teutschen Orden im Römischen Reich, dem zweiten aber zu einem oder anderen derer vacanten geistichen b'eneficiorum zu verhelfen, hiesigerseits nicht unterlassen wird, die an gedachten Höfen stehende russisch-kaiserliche Mi-
nistres mit solchen Verhaltungsbefehlen zu versehen, die dem Verlangen
des Königs von Polen Majestät vollkommen gemäß sind."
Darauf wurde
Praffe belobt für sein kluges Verhalten, „die schickliche Art, womit er bet 2*
Sachfisch-Polnische Beziehungen während deß stebenjährigen Krieges
20 dem
die Versicherung Ihre Kgl. Maj. jetzo und künftiger
Großkanzler
effektiven Erkenntlichkeit angebracht habe.
Er solle nicht unterlassen, bei
sich ergebender guter Gelegenheit zu bekräftigen, daß der Herr Großkanzler „auf diese wohlverdienten kgl. Gnadenbezeigungen in Proportion derer
uns durch seinen Hof uns zufließenden soulagemens allemal große Rech nung machen kann; man verhoffe, daß die dermalen seiner Frau Gemahlin
zugedachte Galanterie einer Porcelcin-Service wenigstens von der Realität unserer Gedenkungsart einen kleinen Vorgeschmack geben und nicht unan genehm sein dürfte" (6. April 1761).
Zunächst handelte es sich vor Allem darum, wie viel von den gewün schten Entschädigungen auf den FriedenSconferenzen sich würde durchsetzen
lassen, welche in dem Zeitraum vom 1. bis zum 15. Juli zu Augsburg eröffnen zu wollen die zu Paris anwesenden Gesandten der verbündeten
Brächte
dem Herzog
mit
von Choiseul sich verständigt hatten (Arneth
VI, 225).
Zu den Vertretern Rußlands auf diesem Congreß waren der dama lige Gesandte in Wien Graf Keyserling und der Kammerherr Tscherny-
schew auSersehen worden. tersburg
wie
für diese Minister gehabt.
Die sowohl von der StaatSconferenz zu Pe
der
von
Kaiserin
hatte
Elisabeth
genehmigten Instructionen
der Geheime Rath
von
Groß zu verfassen
Es war seine letzte Arbeit im Collegium der auswärtigen An
gelegenheiten gewesen, vor seiner Entsendung nach dem Haag, wohin er
sich mußte schicken lassen trotz seiner vorzüglichen Befähigung zu den so viel wichtigeren in Augsburg bevorstehenden Verhandlungen, weil er für
den Kammerherrn Schuwalow nicht genehm war als seinen Wünschen sich nicht genugsam anschmiegend und schon als Ausländer (12. und 17. Juni
7. Juli 61).
Nach diesen Instructionen sollte daS sächsische Jntereffe
namentlich dadurch gewahrt werden, daß dem Kurfürsten-König, wenn ein
MehrereS nicht zu erhalten stünde, der Saalkreis und in der Lausitz der CotbuS'sche
und
der
Peitz'sche
Kreis
nebst
brandenburgschen Landen abgetreten würde, die
Stadt Erfurt
betreffenden Punkt
den
übrigen
daselbstigen
wie man denn auch den
in derselben
aufzunehmen nicht
Unterlasten hatte (12. und 21. Juni. 61). Daneben versprach Woronzow Prasse noch
besonders,
auch die an die russischen Gesandten zu Wien
und in Frankreich ergangenen OrdreS, wegen eines vor dem Prinzen
Clemens
zu erlangenden BiSthumS in Westphahlen und besonders von
Münster nychmalS zu wiederholen und etnzuschärfen.
Aber abgesehen von
den an erster Stelle maßgebenden Kriegsereignissen, konnte Prasse doch erst recht von der damaligen bundesgenossenschaftlichen Beschaffenheit der
russischen Protection für daS sächsische Interesse sich einen nur im höchsten
Grad unsicheren Gewinn versprechen, und sehr deutlich drückt sich das
schon in der Schilderung aus welche er seinem Prinzipal von den Persön lichkeiten entwirft, auf die eS zunächst bei den diplomatischen Verhandlun
gen wesentlich ankommen werde.
„Bon den beiden nach Augsburg ernann
ten Ministern, berichtet er (17. Juni 61) hat der erste, der Graf Kahserling überhaupt in Ansehung des
gegenwärtigen Krieges so sonderbare Ge
danken, daß sie theils schon Schwäche und Alter verrathen, theils aber vorher sehen lassen, daß man auf ihn eben nicht sonderlich werde rechnen
AlS letzthin der Baron von Fersen durch Wien gegangen, hat
können.
er ihm auS dem Propheten Jesaia zu beweisen gesucht, daß dieser Krieg
ein unrechter Krieg auf unsrer Seite wäre.
Er ist nächstdem wider die
Franzosen bis zum Lächerlichen eingenommen und aus diesem Grunde ist er auch den ganzen Krieg hindurch von dem secreto der Affairen ausge schlossen geblieben und nur seit ohngefähr sechs,
seine Activttät wieder erhalten.
acht Monaten hat er
Die Perspective, daß er nach geendigtem
Congreß gänzlich abgerusen und nicht weiter werde employiret werden,
wird ihm unfehlbar sehr unangenehm sein.
Der Graf Tschernyschew ist
Ew. Exc. seines feurigen und etwas leichten Charakters wegen schon be kannt.
Auf seine Worte kann man selten Staat machen.
Vor uns möchte
er wohl ganz gute sentimens haben, allein da er nur mit seiner eigenen
Größe und der Vermehrung seines Glückes beschäftigt ist, so wird er sein Benehmen lediglich darnach auSmessen.
Er ist sehr wohl mit dem Groß
kanzler daran, noch besser aber mit dem Kammerherrn Schuwalow und
man glaubet, daß er den ersteren oftmalen dem letzteren aufopfert.
Uebrt-
genS hat er von Affairen wenig oder keine Kenntniß, auch keine Erfah rung, aber desto mehr sufficanse; ob er wohl unter beiden Ministern der
letzte, so wird doch hauptsächlich Alles auf ihm couilliren".
„Es sind
ihm zu seiner Reise 10,000 Rubels und ein monatlicher Gehalt von 5000 Rub. (soviel auch der Graf Keyserling erhält) und zur Unterhaltung einer griechischen Kirche noch besonders eine beträchtliche Summe zuge
standen ,
auch ihm verschiedene
(12. Juni).
hiesige CavalierS
betgegeben worden"
Und weiter heißt es dann unterm 23. Juni 61..
„Der
Graf Tschernyschew ist am verwichnen Sonnabend nebst seiner Gemahlin
und sehr ansehnlicher suite von hier (von Augsburg) abgegangen.
ES
hat ihm sein guter vertrauter Freund der Kammerherr Schuwalow alle seine Brillanten mitgegeben, um desto mehr Figur machen zu können,
„man habe sich von ihm nicht viel Gutes zu versehen, um so weniger als er auch nicht die besten prineipia zu haben scheine".
Und schon jetzt, ein halbes Jahr vor dem Tode der Kaiserin ließ
Prasse insbesondere darüber, was man von den in Augsburg bevorstehen-
den Verhandlungen zu Gunsten des Königs-Kurfürsten in der russischen Metropole selbst zu erwarten habe, sich wörtlich folgendermaßen dahin
aus, daß „tanitzo in allen Sachen mehr als jemals schwer etwas auSzurichlen sei, da die Kaiserin seit einiger Zeit eine gewisse einsame Lebens
art, welches wohl von ihren öfteren Unpäßlichkeiten Herkommen mag, er wählt haben und Niemand
bringen
könnte.
Sowie
vor sich lassen, aber
der etwas in Erinnerung
solchergestalt Alles langsam
hergehet,
eine gewisse Lethargie die Oberhand gewinnt, so frisch und herz
und
haft gehet der junge Hof zu Werke und suchet durch seine Vorsprache Recommandalton
und
und seine Anhänger
daß
Jedermann
sich
desselben Hülfe und
indenen
höchsten
Collegien
einzuschieben, woraus die
nach
Alles durchzusetzen
übele Folge entstehet,
der ausgehenden Sonne wendet und unter
Unterstützung
zu
kommen
sich bemühet.
Hierzu
kommt die Furcht und Rücksicht auf das Zukünftige, dergestalt daß Nie
mand sich unterstehet am allerhöchsten Ort die reine Wahrheit zu sagen, vielmehr bedacht ist, sich nur dem jungen Hof angenehm zu machen, welches
Spiel sonderlich der Kammerherr Schuwalow aufs höchste treibt." einzige Großkanzler"
„Der
(den man ja sächsischersetts für sich zu gewinnen
wenigstens die Worte nicht geschont hatte) „gehet seinen geraden Weg fort, allein er kann nicht durchdringen, und mag denn auch nicht auf sich nehmen
allzu offenbar dem Strom zu widerstehen" 17. Juni 61).
Und unter so bewandten Umständen kann der sächsische Geschäftsträger
auf die in Augsburg bevorstehenden Verhandlungen zurückkommend schließ lich selbst der Bemerkung sich nicht erwehren: „ob nun wohl diese puncta als ein Ultimatum und in dem Fall angenommen werden wollen, wenn
ein Mehreres nicht zu erhalten fein sollte, so werden doch Ew. Exc. selbst erleuchtet einsehen, daß unsere Alliirten und darunter vornehmlich Rußland sich jetzt selbst nicht in Stande zu sein erachten uns diejenigen äsävrn-
magemens zu verschaffen, die wir in unseren letzt übergebenen Memoiren gefordert oder auch die man uns theils in der Generalität (im allgemeinen) theils
mittelst der von beiden kaiserlichen Höfen ao. 1757 geschehenen
Declaration solemniter versprochen und »erhoffen gemacht (17. Juni 1761).
Auch schon früher, hin und wieder, hatte Prasse nicht Unterlasten, den wenig ermuthtgenden Erfolgen bezüglich der ihm vorgesteckten Zielpunkte Ausdruck zu geben, so unter Anderen am 5. October 1758 mit den Wor
ten:
„durch diesen (den russischen) Hof müssen wir diejenigen Vortheile
erlangen, die wir bei einem künftigen Feinden erhoffen, haben wir diese
erlangt und mithin mehrere Macht gewonnen, so wird auch das daher entstehende Ansehen uns in Stand setzen, die Absichten, die wir wegen
des Künftigen haben, größtenthetls durch uns selbst auszuführen.
zum russischen Hof und insbesondere zum Großkanzler Bestuschew.
23
wenigstens wird unser Schicksal nicht mehr wie bisher von dem Eigen sinn unserer Feinde noch von der Unthätigkett unserer Freunde einzig und
allein abhängen". Die Brühlsche Politik aber freilich hatte mit ihren eben so unpatrtotischen, wie unnatürlichen sächsisch-polnisch-russischen Berzwickungen den
Grund und Boden der zu fortschreitender nationaler Machtentwtckelung berechtigten sächsisch-deutschen Eigenthümlichkeit unwtederherstellbar unter
graben, zu Gunstm des großen Gegners der hoch über seiner Zett stehend, seine Macht sich schuf, auS dem festen, auf keinen fremden Beistand fußen
den Willen heraus, das für die die deutsch- europäische Bedeutung seineStaateS als
nothwendig erkannte durch die opfermuthige Kraft seines
Volks ihm auch wirklich zu erringen. Im Bunde mit der Anhaltinerin, die als Kaiserin für Rußland in die Fußtapfen Peters des Großen trat,
zogen beide sich, Friedrich der
Große und Katharina II., die großmachtlichen Consequenzen, welche ihrer politischen Einsicht an die Hand gegeben wurden einerseits von dem kur
sächsischen ParticulariSmuS Brühtschen Angedenkens, der mit dem Purpur der polnischen Wahlkrone verbrämt war, sowie andererseits von dem in
dividuellen SouveränetätSdünkel der polnischen Magnaten, der sich kleidete in jene vaterlandverrätherischen, dem Zarthum des russischen Hofs unter breiteten RecommandationSgesuche.
Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika*). Selten sind
einem deutschen Gelehrten solche
Zeichen der Aner
kennung zu Theil geworden, wie dem Dr. von Holst für seine Ver fassungsgeschichte der Vereinigten Staaten.
Wenige Monate nach dem
Erscheinen des ersten Bandes derselben (des zweiten Bandes von „Ver
fassung und Demokratie der Vereinigten Staaten") verlieh ihm die Kgl. Preußische Akademie der Wissenschaften ein Reisestipendtum von 9000 Mk.,
um in den Amerikanischen Bibliotheken neues Material für die Fortsetzung
zu sammeln und
durch Bereisung der ihm noch nicht aus eigener An
schauung bekannten Theile der Union neue und weitere Gesichtspunkte zu
und die Großhzl. Badische Regierung entband ihn zu dem
gewinnen,
gleichen Zweck in liberalster Weise für ein volles Jahr seiner Pflichten als akademischer Lehrer.
Ehrenvoller noch war eS für den deutschen Pro
fessor, daß eine Amerikanische Universität — die Hopkins University in Baltimore — zweimal unter den glänzendsten Anerbietungen eine Beru
fung an ihn ergehen ließ, und daß die Badische Regierung ihn erfreulicher
Weise vermochte, dieselbe beidemale abzulehnen.
In sechszehn vom September 1878 bis dahin 1879 in der „Allg. Zeitung"
und der
öffentlichten
„literarischen Beilage der Karlsruher Zeitung" ver
interessanten und
lehrreichen „Briefen aus Nord-Amerika"
hat Dr. v. Holst einen Theil seiner Eindrücke und Beobachtungen auf seiner letzten Amerikanischen Reise
veröffentlicht.
Beinahe anderthalb
Jahre nach seiner Heimkehr bietet er uns in der Fortsetzung seines Werks die ersten Proben davon, wie er die ihm gewordene Gunst des Schicksals
wissenschaftlich verwerthet hat.
Zahlreiche Citate aus Biographien, Corre-
spondenzen, Zeitschriften, Broschüren und anderen Drucksachen, die, wenn *) BerfafsungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika seit der Administration Jackson'S, von Dr. H. v. Holst. 2. Band. Auch unter dem Titel: Verfassung und Demokratie der Bereinigten Staaten von Amerika. I. Theil, 3. Abtheilung. Berlin, Jul. Springer 1881. XV und 474 S.
überhaupt, jedenfalls nur in ganz vereinzelten Exemplaren nach Europa gelangt und selbst in unseren reichsten Bibliotheken nicht zu finden sind, beweisen, wie nothwendig ein neuer längerer Aufenthalt des BerfafferS in den Vereinigten Staaten war, um manche dunkle Punkte in der von
ihm geschilderten Periode aufzuklären.
Freilich will es mir scheinen,.als
ob seine anhaltende Beschäftigung mit den Schristett und Reden Ameri kanischer Politiker und sein persönlicher Verkehr mit denselben in einer
Beziehung auch einen nachtheiligen Einfluß geübt habe.
Denn nur daraus
vermag ich eS mir zu erklären, daß er, namentlich in der ersten Hälfte des neuen Bandes, häufig In dieselbe übele Gewohnheit verfällt, die diesen eigen ist: durch ungemessene Anhäufung von Bildern und sonstigem Rede
schmuck daS Interesse, welches schon die Thatsachen selbst und eine ruhige
Beleuchtung derselben bieten würden, noch steigern zu wollen.
WaS beim
rasch verhallenden und mündlichen Bortrag ganz am Platze und sogar rathsam sein mag, ist es deshalb noch nicht bei der Geschichtsschreibung,
deren erstes Erforderniß, meines Erachtens, Klarheit und Einfachheit der
Anordnung und des Stils ist.
Friedrich Kapp*), Pauli**) und Andere,
die, wie ich, dem wissenschaftlichen Werth von Holst'S Arbeit volle Aner kennung zollen, haben bereits seine Schreibweise in den ftüheren Bänden
einer noch schärferen Kritik unterziehen zu müssen geglaubt.
ES ist er
freulich diesem tadelnden Wort gleich einen entschiedenen Vorzug gegen
über stellen zu können, welcher den neuen Band vor den vorangegangenen
aus zeichnet.
Er ist, obgleich wett weniger umfangreich, statt in 7, in
17 Capitel eingetheilt; die Seiten sind zum ersten Male mit Ueberschristen versehen, und ein ausreichend vollständiges JnhaltSverzeichniß erleichtert
in wiMommener Weise das Nachschlagen, bis das für den Schluß des
Werks vom Verleger in Aussicht gestellte Sachregister erscheint.
Leider
hat daS Bestreben des Verfassers, mit kurzen Worten ein wettschichtiges
Thema prägnant zu charakterisiren, ihn hier und da verleitet, Ueberschristen zu wählen, die gesucht erscheinen und theilweise nichts weniger als ge schmackvoll sind.
Es mag genügen, beispielsweise auf die Ueberschristen
der drei das „Doppelspiel gegen England und Mexico" behandelnden Ca pitel, hinzuweisen, von denen diejenige deS 8. Capitel lautet: „Der Theater donner verhallt und das Gewitter bricht loS." Ich erbitte mir um so lieber Raum für eine eingehende Besprechung
deS neuen Bandes von Holst'S großem Werk, weil eS dazu des Zurück
gehens auf den Inhalt der beiden voraufgegangenen Theile desselben nicht bedarf, und weil ich durch mehr oder weniger intime Bekanntschaft mit *) v. Sybel'S historische Zeitschrift. N. F. V S. 265. ** ) Göttingische Gelehrte Anzeigen 1878. N. 25 S. 771.
fast allen darin hervortretenden bedeutenden Persönlichkeiten — nur die
drei großen Amerikanischen Staatsmänner John C. Calhoun, Henry Clay und Daniel Webster, so wie die beiden Präsidenten James K. Polk und Zach. Taylor waren bereits gestorben, ehe ich nach Amerika kam — in der Lage zu sein glaube, einige Beiträge zu deren richtiger Beurtheilung
und zur Beleuchtung der behandelten Vorgänge zu liefern. Der
vorliegende
Band
umfaßt
nur
den
kurzen
5 7a Jahren, vom Frühjahr 1845 bis zum Herbst 1850.
Zeitraum
von
Aber in den
selben fallen die Differenzen mit England über die Oregonfrage,
der
Mexikanische Krieg und die durch diesen hervorgerllfenen innern Kämpfe über die Sklaverei in den neuerworbenen Territorien, welche durch das
unrühmliche Compromiß von 1850 ihre vorläufige, nur scheinbare Erle digung fanden.
Hätte v. Holst nicht neben dem neuen Titel „Verfassungs
geschichte" auch den alten „Verfassung und Democratie" beibehalten und
in dem Vorwort zum zweiten Bande die Nothwendigkeit betont, den Ent
wicklungsgang der Amerikanischen Democratie auch dorthin zu verfolgen, wo er nicht in ganz direktem Zusammenhänge mit der verfassungsrecht
lichen Entwicklung steht,
so würde man es allerdings schwer begreifen,
wie er der Geschichte der Oregonfrage und des Mexikanischen Kriegs die
größere Hälfte eines Bandes widmen konnte.
Denn wenn auch einzelne
Verfassungsfragen, namentlich in Betreff der Rechte des Präsidenten, deS
CongreffeS und der militärischen Führer, eingehend darin erörtert sind,
so treten dieselben doch gegen die Darstellung der Ereignisse, sie auftauchten, völlig zurück.
bei denen
Aber eine ausführliche Besprechung der
einschlagenden Vorgänge war zum Verständniß der Zunahme der Dema
gogie und der damals beginnenden Zersetzung der Parteien,
so wie zu
dem meines Wissens von dem Verfasser zum ersten Mal versuchten Nach weis des inneren Zusammenhangs der Oregonfrage mit dem Mexikanischen
Kriege unentbehrlich.
Ob der reichhaltige Stoff nicht übersichtlicher und
knapper hätte behandelt werden können, ist freilich eine andere Frage.
Ehe ich'übrigens auf die Sache selbst eingehe, ist es nöthig,
mit dem
Verfasser einen Blick auf die Lage der Dinge beim Regierungsantritt deS
Präsidenten Polk, die Zusammensetzung seines CabinetS und seine ersten
RegterungShandlungen zu werfen. Polk würde niemals von der demokratischen Partei als Candidat auf gestellt und zum Präsidenten gewählt sein, wenn die Parteiführer nicht in
ihm ein williges Werkzeug für ihre Zwecke zu finden geglaubt hätten. Er hatte das Losungswort der Partei: Anschluß von Texas an die Union
und Geltendmachung
des
„klaren und
unzweifelhaften"
Anspruchs auf
„ganz" Oregon bis zum 54° 40' acceptirt, war den südlichen Sklaven-
DerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
27
Haltern als ein eifriger Vertheidiger ihrer „häuslichen Einrichtungen"
bekannt, und hatte die Stimmen PennshlvanienS dadurch gewonnen, daß er, obgleich im Herzen Freihändler, die Auflage von Schutzzöllen nicht nur
für ein Recht, sondern unter Umständen sogar für die Pflicht der Bun desregierung erklärt hatte.
Das Alles klingt denn auch in der Rede wieder,
mit der er am 4. März 1845 sein hohes Amt antrat.
Die Möglichkeit,
ja Wahrscheinlichkeit ernster Differenzen mit Mexiko über die völlig un
bestimmten Grenzen von Texas, dessen Annexion er als durch die Be-
schlüffe des CongresseS bis auf einige Formalien für erledigt anzusehen schien, blieb darin unerwähnt.
Dem Auslande wurde die Versicherung
ertheilt: daß die Welt nichts von Eroberungsgelüsten und militärischem
Ehrgeiz der Amerikanischen Regierung zu besorgen habe,
den Bedenken
mancher Mitbürger wurde mit der zweideutigen Bemerkung begegnet: daß die Union sicher bis zu den äußersten Enden ihrer territorialen Grenzen
ausgedehnt werden könne und dadurch nur um so fester werden würde. Die Rechtsansprüche der Vereinigten Staaten
auf Oregon wurden —
jedoch ohne das Wörtchen „ganz" zu gebrauchen — stark accentuirt, daran
aber die beruhigende Erklärung geknüpft: „gleiche und sorgfältige Gerech tigkeit sollte unseren gesummten Verkehr mit fremden Ländern charakteri-
siren."
Die Rede schloß mit einer an die Gegenpartei gerichteten cap-
tatio benevolentiae, der Zusicherung unparteiischer Handhabung der Ge
setze und achtungsvoller Berücksichtigung ihrer Rechte und ihrer Ansichten. v. Holst charakterisirt den Präsidenten als einen Mann von makel
losem Privatleben, von frostigem Ernst und kalter Höflichkeit, der nichts
vom Volksmanne an sich hatte, und dem es, wenngleich Gehorsam gegen daS Parteigebot
ein Hauptstück seines politischen Glaubensbekenntnisses
gewesen sei, nicht an hochgradigem Selbstbewußtsein gefehlt habe, weshalb
er denn auch nicht nur dem Namen und Rechte nach, sondern thatsächlich daS Haupt seiner Partei sein wollte.
Die Wahl der Mitglieder seines
CabinetS, die Besetzung der übrigen Aemter und manche seiner späteren Regierungshandlungen scheinen die Richtigkeit dieser Charakteristik zu be stätigen.
Kapp macht in seiner Geschichte der Sklaverei einmal die richtige
Bemerkung: eS gehe democratischen Präsidenten wie revolutionären Prä tendenten, beide hätten vor der Erlangung der höchsten Gewalt zu viel Hülfe in Anspruch zu nehmen und nach Erlangung derselben zu viele
Verdienste zu belohnen.
Man kann hinzufügen: daß ein Präsident der
Vereinigten Staaten, der eS seit Jackson'S Zeit nicht länger wie ein kon
stitutioneller Monarch als seine erste Pflicht ansehen darf, über den Par teien zu stehen, sondern gerade als Repräsentant einer bestimmten Partei
BerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
28
an die Spitze gerufen wird, sich billiger Weise bei der Bildung seines Cabtnets zunächst fragen müßte: welches Ziel die Partei im Auge hatte, als sie ihn auf den Schild erhob, und welche Männer am erfolgreichsten
und eifrigsten dazu beigetragen hatten, ward.
daß gerade dieses Ziel erstrebt
Polk hielt sich nicht unbedingt an solche Rücksichten gebunden.
Er
behielt Tyler'ö ihm selbst weit überlegenen Staatssecretär Calhoun, in
dessen Person sich das Parteiprogramm am bestimmtesten verkörperte, nicht
bei, weil er wußte, daß dieser sich niemals einem Andern völlig unter und weil er selbst nicht gewillt war, sich mit der Rolle
ordnen werde,
eines Statisten in der auswärtigen Politik abfinden zu lassen.
Er ließ
die angesehensten Männer des van Buren'schen Flügels der democratischen
Partei, ungeachtet der ihm für seine Erwählung gewährten Unterstützung, unberücksichtigt und
eigenen Partei.
säte auch noch in anderer Weise Zwietracht in der
Aber er berief immerhin sehr hervorragende Demokraten
in seinen Rath, auf deren kräftiges Zusammenwirken zur Durchführung
des Parteiprogramms er, wie verschieden auch die einzelnen Persönlichkeiten geartet sein mochten,
rechnen durfte und deren politische Capacität auch
der Verfasser anerkennen muß,
obgleich er dieselben, meines Erachtens,
nicht alle richtig charakterisirt.
Bis auf den politisch nicht hervortretenden Generalpostmeister Cave
Johnson — denselben, der im August 1860 eine seltene Unabhängigkeit
des Charakters bewies, als er als Vorsitzender der auf Grund der Con vention vom 4. Februar 1859 eingesetzten Commission sämmtliche Rekla
mationen gegen Paraguay,
wegen deren Präsident Buchanan das Land
beinahe in Krieg verwickelt hätte, für unbegründet erklärte — habe ich
alle Mitglieder von Polk's Ministerium persönlich gekannt.
Ich glaube
deshalb Holst'S Urtheil über dieselben nicht mit Stillschweigen übergehen
zu dürfen. Was den Staatssecretär James Buchanan betrifft, der wohl nur deshalb
an die Spitze
des Cabinetö gestellt ward, um Pennsylvanien
einigermaßen dasür zu entschädigen, daß das Electoralvotum des StaatS
durch Trug für Polk erschlichen war, so glaube ich mich auf die Bemer kung beschränken zu können,
daß der Verfasser die kurze Charakteristik,
welche er bereits in dem vorangegangenen Bande (S. 451) von demselben
gegeben hat, so viel wahres dieselbe auch enthält, voraussichtlich noch we sentlich modificiren wird, wenn er im weiteren Verlauf seiner Arbeit die
Geschichte der Administration Buchanan'S als Präsidenten der Vereinigten Staaten (1857 bis 1861) erst in allen Einzelheiten zu prüfen Veranlassung
haben wird.
Er wird dann wahrscheinlich einige Schatten in dem Cha-
racterbilde noch mehr vertiefen, andererseits aber auch sich überzeugen, daß
Verfassung-geschichte der Bereinigten Staaten von Amerika. Buchanan bei
29
allen großen Schwächen mehr vom Staatsmann an sich
hatte als irgend einer seiner Vorgänger seit der Zeit von John Quincy Adams. In dem Bilde, welches der Verfasser von dem tüchtigen Finanzsecretär
Robert I. Walker von Mississippi, einem ebenso gescheuten wie schlauen
und heißblütigen Politiker, entwirft, vermisse ich nur die Erwähnung des Umstandes, daß Walker ein geborener Pennsylvanier war und durch sein
ganzes Verhalten die notorische Thatsache bestätigte, daß nördliche Männer,
wenn sie lange im Süden lebten, sich fast ausnahmslos mehr oder we
niger mit der Sklaverei auSzuföhnen pflegten, häufig zu deren eifrigsten Fürsprechern wurden.
Völlig verschieden von Holst beurtheile ich dagegen den KrtegSsecretär Wm. L. Marcy.
ES gehört zu meinen angenehmsten Erinnerungen an
meinen Aufenthalt in Amerika, mit diesem höchst bedeutenden Mann wäh
rend seiner vierjährigen Amtsführung als Staatssekretär deS Präsidenten
Pierce genau bekannt geworden zu sein und im Kreise seiner liebenswür digen
Familie,
wo seine Brummbären-Natur häufig
einem
köstlichen
trockenen Humor Platz machte und seine schöne allgemeine Bildung in
erfreulichster Weise zur Geltung kam, freundschaftlich verkehrt zu haben, v. Holst behauptet: der festgefügte Charakter, den Marcy znr Schau trug,
sei nicht seine wahre Natur, sondern eine angenommene Rolle gewesen; seine edele Naturanlage habe auf der politischen Bühne Schaden gelitten;
die centrale sittliche Idee, welche dem wirklichen Staatsmann unentbehrlich sei, habe ihm gefehlt, und er sei deshalb nie über den eminenten Parteipolitiker hinausgewachsen; sein Ehrgeiz, den Präsidentenstuhl zu besteigen,
habe ihn zum Schacher mit dem Moloch der Sklaverei verführt. scharfe VerdammungSurtheil, daö durch das Zugeständniß:
Dieses
Marcy
sei
später als Staatssecretär in seiner Thätigkeit bisweilen durch moralische und patriotische Motive mitbesttmmt worden, nicht wesentlich abgeschwächt wird, ist mir ein neuer Beweis dafür, daß der Verfasser häufig Gefahr
läuft, die Stellung, welche die von ihm besprochenen Personen zur Sclaven-
ftage einnehmen, zum einzigen oder doch zum hauptsächlichsten Maßstab
seines Urtheils zu
machen und dadurch ungerecht zu werden.
völlig unbeachtet, daß
Er , läßt
die Sclavenfrage doch immer nur eine einzelne,
wenn auch die wichtigste und ernsteste Frage für jeden Amerikanischen Po litiker jener Zeit war, und daß dieselbe neben der ethischen auch eine ju
ristische Sette hatte, an welche sich gerade diejenigen Patrioten am festesten hielten, die, wie March, durchaus konservativ gesinnt waren, und deren klarem Blick es nicht entging, mit welchen Gefahren die steigende Agita
tion der Freiheitsfreunde und die zunehmende Verschiebung deS Gleich-
30
BerfassluigSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
gewichts zwischen den freien und den Sklavenstaaten den Bestand der Union bedrohte.
Unleugbar war March aus der Schule der „Albany-
Regentschaft" hervorgegangen und hatte sich während seiner dreimaligen Amtsführung als Gouverneur des Staates New-Dork nicht gescheut, die
„Parteimaschine"
in vollem Maße zu benutzen.
Aber seine persönliche
unbestechliche Integrität ist selbst von seinen entschiedensten Gegnern nie mals angezweifelt, ihm vielmehr immer als höchste Tugend angerechnet. Den Ehrgeiz, nach der höchsten Würde in der Republik zu streben, hat
Marcy mit der Mehrzahl seiner hervorragendsten Landsleute, die das Ziel
ebenso wenig wie er erreichten,
mit Calhoun, Clay, Webster, Seward,
Chase, Sumner und vielen Anderen, getheilt, aber es wird sich nicht nach weisen lassen, daß dieser Ehrgeiz ihn verleitet habe, gegen seine bessere
Ueberzeugung dem Sclaveninteresse Concessionen zu machen.
Die Ehre,
die Macht und daö Ansehen seines Vaterlandes waren seine Leitsterne. Er war ein ganzer Mann,
den Willensstärke,
umfassende
Kenntnisse,
seltene Arbeitskraft, klares Urtheil, große Geschicklichkeit und unbedingte
Zuverlässigkeit auch für die höchste Stelle befähigten.
So ist er denn
auch später ein ausgezeichneter Minister des Auswärtigen geworden und
er würde in noch höherem Maße ein solcher gewesen sein, Formen,
wenn rauhe
über die man sich freilich der Sache wegen leicht hinwegsetzte,
ihm nicht den mündlichen Geschäftsverkehr mit den fremden Diplomaten
erschwert hätten, weshalb er es auch lieber sah, wenn diese schriftlich mit
ihm verhandelten.
Bei allen Völkerrechtslehrern hat Marcy'S Name einen
guten Klang; um die Förderung des Seerechts in Kriegszeiten hat er sich
große Verdienste erworben, und ihm in erster Linie ist die Beseitigung deS Sundzolls zu danken. — AIS ich Fünfvierteljahre nach seinem Tode,
im Herbst 1858, seinen Schwager H. George W. Newell, in Albany be suchte, fand ich denselben mit der Ordnung von Marcy'S reichhaltigem literarischen Nachlaß beschäftigt, und waS er mir damals aus dessen Tage büchern, vertraulichen Correspondenzen rc. vorläS, konnte nur dazu bei
tragen, meine Hochachtung für den geschiedenen Amerikanischen Staatsmann
zu erhöhen.
ES scheint, daß Newell seine damalige Absicht, die Biographie
seines Schwagers zu schreiben und eine Auswahl aus jenen Schriftstücken zu veröffentlichen, nicht ausgeführt hat.
Mir ist eine solche Publication,
wenigstens nicht bekannt geworden, und auch v. Holst kann sie nicht gekannt
haben, sonst würde er anders über den sittlichen Werth deS Mannes ur theilen.
Zum Marineminister ernannte Polk den Historiker George Bancroft,
obgleich derselbe bis dahin seine Qualification für einen solchen Posten durch nichts dargethan hatte.
Der Verfasser meint deshalb auch: er sei
für eine diplomatische Mission geeigneter gewesen.
Schon im folgenden
Jahre wurde H. Bancroft zum Gesandten in London ernannt und später hat er lange in gleicher Eigenschaft in Berlin fungirt.
Holst'S Bemerkung
hat mich daran erinnert, daß H. Bancroft an beiden Orten bei den Ge lehrten den Ruf eines ausgezeichneten Diplomaten genoß, während Diplo
maten mir sagten: er gelte für einen großen Gelehrten.
Seine persönliche
Liebenswürdigkeit habe ich von Niemand bestreiten hören.
DaS letzte Mitglied des CabinetS, den Generalanwalt John G. Mason
von Virginien, der bis dahin Tyler'S Marinemintster gewesen war und
1846, an Bancroft'S Stelle, abermals dieses Departement übernahm,
hat der Verfasser in seinen vielen vorzüglichen Eigenschaften wie in seinen Schwächen, glaube ich, durchaus richtig charaktertsirt.
Gerade so erschien
er mir, als ich ihn später als Gesandten des Präsidenten Pierce in Paris
kennen und schätzen lernte, wo er Marcy'S tüchtigster Mitarbeiter bei Be handlung der SeerechtSfrage war.
Die Namen aller dieser Männer waren an sich kein Programm, und Holst vergleicht das Cabinet deshalb mit einem Europäischen Beamten ministerium.
Ein Vorwurf, soll in dieser Bezeichnung nicht liegen.
Denn
bei der während des letzten Wahlkampfs hervorgetretenen inneren Zer rissenheit der democratischen Partei würde eS wohl nahezu unmöglich ge wesen sein, eine Regierung aus gleich befähigten Männern zu bilden, in
der die verschiedenen Schattirungen derselben ebenso gut vertreten gewesen wären, ohne
bei den Andersgesinnten noch größeren Anstoß zu erregen.
Daraus und aus der Persönlichkeit deS Präsidenten, der den Ausschlag
gegeben haben soll, erklärt sich denn auch die Rücksichtslosigkeit, mit welcher nach dem 13 Jahre früher (1832), bei Gelegenheit der Ernennung Martin
van Burens zum Gesandten in London, von Marcy so prägnant formulirten Grundsätze: „dem Sieger gehört die Beute", jetzt unter den Bun
desbeamten aufgeräumt wurde.
Holst hat sein scharfes Urtheil über Polk'S
KriegSsecretär nicht attf jene Maxime begründet, die längst in weiten Kreisen bekannt war; aber er entwickelt in trefflicher Ausführung (©. 115) die Gefahren, die nothwendiger Weise im Laufe der Zeit auS dem vier
jährigen Aemterwechsel für die Republik erwachsen mußten.
Läßt sich
doch ein guter, wenn nicht der größte Theil der tiefen Schäden deS heu
tigen Amerikanischen StaatSwesenS darauf zurückführen, daß die AemterRotation immer mehr zum Angelpunkt der ganzen Politik geworden ist, die Beamten sich nicht länger als Beamte des gesammten Volks, sondern
als solche einer Partei ansehen, deren Interessen zu fördern sie für Pflicht
halten, die Politiker ihre Gefolgschaft durch die Aussicht auf die Spolien zusammenhalten und zu vermehren suchen.
Fast hat eS den Anschein, als
32
VerfassnngSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
ob man drüben zu spät zur Erkenntniß dieses Grundübels gelangt sei,
und daß weder die von guten Patrioten begründete „civil Service reform association“ *), noch die warme Empfehlung der Rückkehr zu den früheren
gesunden Grundsätzen der Aemterbesetzung,
welche Präsident HaheS in
seiner letzten Jahresbotschaft vom 6. December ausgesprochen hat, Erfolg
haben werde.
Hatte doch der neue Präsident, General Garfield, kein Be
denken getragen, seinen Wählern in Ohio zu erklären, daß es für sie
nächst den von Gott selbst auferlegten Pflichten des Gehorsams keine hei
ligern gebe als die, bei der Präsidentenwahl für den von der Partei auf gestellten Candidaten zu stimmen. — Doch ich will diesen Gegenstand und
die von dem Verfasser daran angeknüpften beachtungswerthen Bemerkungen
über den Zug zur Radikalisirung der Democratie, der sich darin wie in
den Bestrebungen äußerte, die Grundsätze der reinen Democratie auf die richterliche Gewalt anzuwenden, nicht weiter verfolgen,
Versuchung ist,
so groß auch die
die unlängst in Frankreich erfolgte Suspendirung der
Jnamovibtlität der Richter damit in Parallele zu stellen.
ES ist Zeit dazu
überzugehen, wie Präsident Polk die in seiner JnaugurationSrede ange
deutete Politik praktisch zur Ausführung brachte. Die ungemeine Fülle des zum großen Theile neuen Details, welche v. Holst über die Entwicklung der Verhältnisse in Texas, die Oregonfrage,
den Ausbruch und den Verlauf des Mexikanischen Krieges, sowie die be züglichen Verhandlungen beibringt, ohne von Zeit zu Zeit den Gang der Ereignisse in großen Zügen zusammenzufassen, erschwert es dem Leser,
der mit den officiellen Actenstücken nicht bekannt ist oder vielleicht nicht
einmal
eine allgemeine Kenntniß der Hauptmomente besitzt,
sich ein klares Bild davon zu entwerfen.
ungemein,
Das ist um so mehr der Fall,
weil der Verfasser sich nicht nur naturgemäß bald auf diesem, bald auf
jenem Gebiete bewegen muß, sondern, um manche andere Vorgänge — die Zunahme der feindseligen Gesinnung gegen die Sclaverei im Norden; die Gesetze Süd-CarolinaS gegen farbige Seeleute'; die Aufnahme Jowa's
und Florida'« als Staaten; die Tariffrage rc. — nicht unberücksichtigt zu laffen, diese zwischendurch bespricht.
Ich will es versuchen, die Punkte,
auf die eS, meines Erachtens, vorzugsweise ankommt, in möglichster Kürze
zusammenzustellen und dabei diejenigen besonders hervorheben, rücksichtlich
deren ich nicht, oder doch nicht völlig, mit dem Verfasser einverstanden bin. Eine gemeinschaftliche Resolution vom 1. März 1845, durch welche
der Congreß die Annexion von Texas beschloß, hatte im Senat nur auf die Voraussetzung hin die Majorität erhalten, daß der Präsident keinen *) Siehe deren treffliches Statut (Constitution) in „the Nation“, Nr. 804 vom 25. November 1880 S. IX
Gebrauch davon mache, sondern in Gemäßheit der ihm zugleich ertheilten
Ermächtigung einen förmlichen Vertrag mit Texas zu vereinbaren suche und denselben dem Senat zur verfassungsmäßigen Mitgenehmigung vor Unbekümmert darum, instruirte Präsident Tyler am letzten Tage
lege.
seiner AmtSperiode,. 3. März, den Geschäftsträger bei der Regierung von
TexaS: dieser die Annexionsresolution zur Annahme zu unterbreiten,, da
er sich dafür und nicht für den Abschluß eines besonderen Vertrags ent
schieden habe.
Polk befand sich also bei seinem Regierungsantritt einer Daß er da
vollendeten Thatsache gegenüber und er beruhigte sich dabei.
durch ein den beiden Senatoren, von deren Stimmen die Annahme der Resolution abgehangen hatte, gegebenes bestimmtes Versprechen unerfüllt ließ, ist nach Holst's Darstellung mehr als wahrscheinlich.
Ich bezweifle,
daß eS in jenem Augenblicke noch in seiner Macht gestanden haben würde, die von Tyler ertheilte Ordre wieder rückgängig zu machen.
Offenbar
hätte er daS aber, wenn er sich nicht der Beschuldigung des Wortbruchs auSfetzen wollte, thun mässen, sobald es bekannt wurde, daß Texas, welches
in Folge der langen Verzögerung seiner Angelegenheit schon vorher daS
Vertrauen auf die Vereinigten Staaten verloren hatte und nicht geneigt war, sich, ohne irgend welche Bedingungen stellen zu können, annectiren zu lassen, wegen Anerkennung
handlungen getreten sei.
seiner Unabhängigkeit mit Mexico in Ver
Wirklich kam eS am 29. März, unter der Ver
mittlung von England und Frankreich,
zu einem Präliminarfrieden mit
Mexico, durch welchen die Unabhängigkeit von Texas anerkannt ward, dieses auf Annexion an einen- anderen Staat verzichtete, die Bestimmung
der Gränzen dem definitiven Frieden Vorbehalten und bestimmt ward, daß Gränzstreitigkeiten und sonstige Differenzen von Schiedsrichtern entschieden werden sollten.
Intriguen der Amerikanischen Partei
und völlig unbe
rechtigte und unausführbare Versprechungen, welche die Bundesregierung
durch ihre officiellen und unoffictellen Agenten machen ließ, führten jedoch dazu, daß der Senat von Texas den herbeigewünschten und von Mexico
bereits ratificirten Frieden einstimmig verwarf, beide Häuser der Texa nischen Legislatur die Annexionsresolution des Amerikanischen CongresseS pure annahmen, und eine eigens M Entscheidung gewählte Convention
diesen Beschluß am 4. Juli ratihabirte. Damit würde die Texanische Frage bis auf den rein formellen Act
der Aufnahme des Staats in die Union durch Gesetz,
sein, wenn man sicher gewesen wäre, werde.
erledigt gewesen
daß Mexico sich dabei beruhigen
Trotzdem, daß dieses bereits im März den diplomatischen Verkehr
mit den Vereinigten Staaten abgebrochen hatte und nach verschiedenen früheren und jetzt erfolgenden Proclamationen und Erlassen der Regierung Preußische Jahrbücher. Bd. XLV11I. Heft 1.
3
34
BerfassnngSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
entschlossen schien, sich der Annexion mit Aufbietung aller Kräfte zu toibtr« daß diese Drohungen
setzen, glaubte doch im Grunde Niemand daran, ernstlich gemeint seien.
Die einzige wirkliche Gefahr lag in der Unbe
stimmtheit der Gränzen von TexaS.
Nach Präsident Polk's zweiter JahreS-
botschaft vom 8. December 1846 und dessen specieller Botschaft an das
Repräsentantenhaus vom 24. Juli 1848 (StateSman'S Manual, Ausgabe
von 1853, III. S. 1655 und IV. S. 1747)£ hatte die Amerikanische Re gierung zwar gute, von v. Holst völlig ignorirte Gründe, den Rio Grande del Norte für die richtige Westgränze von Texas anzusehen; aber, abge sehen von dem Vertrage, welchen Sta. Anna während seiner Gefangenschaft
in Texas im Mai 1836 mit der dortigen Regierung abgeschlossen hatte,
war diese Gränze niemals von Mexico,
das
sogar militärische Befesti
gungen am linken Ufer des Stromes unterhielt, anerkannt, und die Texa nischen Ansiedlungen erstreckten sich auch im Jahre 1845 noch nicht weit über die Linie des Flusses NueceS hinaus.
Die gemeinschaftliche Reso
lution deS Amerikanischen CongresseS vom 1. März 1845 hatte deshalb
auch weislich die definitive Feststellung der Gränze den Verhandlungen der Bundesregierung mit anderen Regierungen vorbehalten, und — wie erwähnt — hatte auch der nicht ratifictrte Präliminarfrieden zwischen
Mexico und TexaS die Gränzfrage offen gelassen.
Daß das Amerika
nische Kriegsdepartement schon im März, und von Neuem im Mai, den
in Lousiana stationirten General Zacharias Taylor instruirt hatte, sich mit Rücksicht auf die bevorstehende Annexion von TexaS zum Einmarsch in
den Staat und zur Vertheidigung desselben gegen Invasionen fremder Mächte und gegen Jndianereinfälle bereit zu halten, war sicherlich nicht
mehr als eine gebotene Vorsicht, wie sie unter ähnlichen Umständen von
jeder Regierung für Pflicht gehalten wäre.
Ich wenigstens vermag weder
darin noch in der am 24. Juni, unter emphatischer Betonung deS Wunsches, den Frieden erhalten zu sehen, an den Befehlshaber der Flottille im stillen
Meere erlassenen Instruction, sich auf die erste Kunde von der Kriegser
klärung Mexico's sofort San Francisco'- und anderer Häfen zu bemäch tigen — wie Holst daS thut — ein sicheres Zeichen davon zu erblicken,
daß die Herbeiführung
eines Kriegs mit Mexico zum Zweck weiteren
Landerwerbs im Sclaveninteresse dadurch angebahnt werden sollte.
Noch
am 30. Juli erhielt Taylor den Befehl: Texas, soweit es von den Texa nern in Besitz genommen sei, zu besetzen, zu schützen und zu vertheidigen, bei seinen Maßnahmen aber von denjenigen Posten und Ansiedlungen ab
zusehen, die
von Mexikanischen Truppen besetzt oder zur Zeit der An
nexion nicht im Besitz von TexaS gewesen seien.
Die hinzugefügte Wei
sung, sich dem Rio Grande, der schon in einer Ordre vom 15. Juni als
Gränze bezeichnet war, so weit zu nähern als die Klugheit es angezeigt ersckeinen lasse, welche der Verfasser damit nicht in Einklang zu bringen weiß, erklärt sich, meines Erachtens, auch abgesehen von einer gleich zu
erwähnenden politischen Erwägung, aus der bereits angeführten Ueber zeugung der Regierung, daß das Gebiet von Texas sich wirklich bi- an
diesen Fluß erstrecke.
Bon demselben Gesichtspunkte auS kann ich auch
den Bedenken kein Ausschlag gebendes Gewicht beilegen, welche Holst gegen
zwei weitere, dem General am 23. und 30. August 1845 ertheilte In structionen erhebt, durch welche derselbe benachrichtigt ward: daß der Uebergang ansehnlicher Mexikanischer Truppentheile über den Rio Grande oder
der Versuch dazu als Beginn der Feindseligkeiten anzusehen sei, und der
General solchenfalls, wenn er sich stark genug dazu fühle, nicht nur TexaS
zu vertheidigen, sondern den Feind über den Fluß zu verfolgen und wenn möglich MatamoraS zu nehmen habe.
Unzweifelhaft ist der Präsident der
Vereinigten Staaten verfassungsmäßig nicht berechttgt, auf eigene Hand zu bestimmen, was die Gränze derselben sei, — wie das auch Polk'S un
mittelbare Nachfolger, Taylor und Fillmore, in besonderen Botschaften an den Senat vom 17. Juni und 6. August 1850 ausdrücklich anerkannt haben. Äber mir scheint, daß Polk das auch garnicht versucht hat, sondern nur nach richtigen politischen Grundsätzen verfuhr, als er sich den Vor
theil, im Besitz deS Gebiets zu sein, über dessen Gränze mit Mexico zu verhandeln war, nicht entgehen lassen wollte.
Er konnte auch in diesem
Falle um so eher so verfahren, weil Mexico bis dahin noch nicht gerüstet und nicht einmal Einspruch dagegen erhoben hatte, daß General Taylor bereits Anfangs August sein Lager westlich vom NueceS bei Corpus Christi
aufgeschlagen hatte. Schon am 17. September ließ der
StaatSsecretatr Buchanan in
Mexiko ansragen, ob man bereit sei, einen „Gesandten" zu empfangen, um über „alle" schwebenden Fragen zu verhandeln.
Die Mexikanische
Regierung erwiderte am 15. Oktober: sie sei bereit einen „Commissair" (commissioner) zu empfangen, „um den gegenwärtigen Streit in fried licher, vernünftiger und ehrenhafter Weise zu schlichten", müsse aber zu
gleich verlangen, daß das vor Vera Cruz liegende Amerikanische Ge
schwader während der Verhandlungen zurückgezogen werde, damit eS nicht den Anschein habe, als ob Mexico unter dem Druck einer Bedrohung
handle.
Dem letzteren Verlangen entsprach — was v. Holst unerwähnt
läßt — die Amerikanische Regierung sofort (vergl. Jahresbotschaft vom 8. December 1846, StateSman'S Manual 1. c. IV. 1660), ließ dagegen die anderen Claufeln der Mexikanischen Antwort vollständig unbeachtet,
als ob ihr Vorschlag unbedingt angenommen wäre.
Bereits am Tage 3*
VerfafsungSgeschichte der Bereinigte» Staaten von Amerika.
36
nach Eingang der Mexikanischen Note, am 10. November, ernannte der
Präsident John Slidell — einen der späteren Helden der Trent-Affaire —
zum außerordentlichen Gesandten bei der Mexikanischen Regierung mit der
Vollmacht, alle Streitfragen zwischen den beiden Staaten, diejenige der Gränzen eingeschlossen, endgültig zum Austrag zu bringen.
Slidell'S In
struction ging dahin: die älteren Geldforderungen Amerikanischer Glättbiger an Mexico in der Art mit der Frage der Gränzregulirung zu verbinden,
daß er der Mexicanischen Regierung das Anerbieten mache: die Ver einigten Staaten übernehmen selbst die Berichtigung dieser Forderungen
und
zahlen überdies
5 Millionen,
an Mexico für die Abtretung von Neu Mexico
oder für die Abtretung Nell Mexicos
und Californiens
25 Millionen Dollars.
Wie der Verfasser den angegebenen Inhalt der Instruction mit der Bemerkung begleiten kann: „diese Ausdeutung der Annexionsresolutionen ist vielleicht die glänzendste Leistung der JnterpretationSkunst, die die ganze
Weltgeschichte aufzuweisen hat", verstehe ich nicht.
Ich würde ihm Recht
geben, wenn es sich für die Vereinigten Staaten lediglich um die Regulirung der Gränzen von Texas
gehandelt hätte.
Die Amerikanische
Regierung würde aber offenbar geradezu pflichtwidrig gehandelt haben,
wenn sie diese Gelegenheit nicht benutzt hätte, seit langen Jahren be stehende, von Mexico in wiederholten Conventionen ausdrücklich als be
gründet anerkannte und
nur theilweise noch angezweifelte Forderungen
Amerikanischer Bürger im liquiden Betrage von mehr als zwei Millionen
und im illiquiden von 3 bis 4 Millionen Dollars endlich definitiv aus zugleichen.
Daß der Wunsch, über die Gränzfrage nicht unabhängig von
der Frage der Schuldforderungen zu unterhandeln, berechtigt war, erkennt denn auch der Verfasser an einer späteren Stelle beiläufig an; aber er
unterläßt eö, näher auf die in Betracht kommenden Verhältnisse einzu
gehen, obgleich Präsident Polk dieselben in seiner ersten JahreSbotschaft
vom 2. December 1845 und ungleich vollständiger noch in seiner zweiten vom 8. December 1846, unter Bezugnahme auf die betreffenden Verträge von 1831, 1839, 1840 und 1843 unwiderleglich klar dargelegt hat.
So
viel geht allerdings aus den an Slidell ertheilten Instructionen deutlich
hervor, daß Polk die Verhältnisse für günstig hielt, um Mexico zugleich
ein Kaufgeschäft über gewaltige Länderstrecken auf die Gefahr hin anzubteten, daß dies zum Kriege führen konnte, wenn die Mexicanische Re gierung es mit ihrer Ehre unvereinbar fand, darauf einzugehen, ohne vorher besiegt zu sein.
ES fehlt jedoch an allen und jeden Beweisen da
für, daß der Präsident sich bei seinem Vorschläge, den ich weit davon ent
fernt bin seinem ethischen Gehalte nach vertheidigen zu wollen, durch irgend
ein anderes Motiv als den Wunsch leiten ließ, die Macht und das An sehen der Vereinigten Staaten in großartigem Maße zu vermehren. — Einstweilen kam es übrigens noch garnicht zu eigentlichen Verhandlungen,
weil die Mexicanische Regierung sich am 21. December mit Recht weigerte,
H. Slidell als „Gesandten" zu empfangen.
Unmittelbar darauf wurde
der Präsident der Mexicanischen Republik Herrera durch General Paredes
deshalb gestürzt, weil man ihn im Verdacht hatte, eine Verständigung
mit den Bereinigten Staaten gesucht zu haben.
Slidell wurde nun zwar
beauftragt, bet der neuen interimistischen Regierung den Antrag auf Zu
lassung zu
erneuern,
aber im März 1846' abermals aus demselben
Grunde zurückgewiesen.
Der bereits vor dem Eintreffen der Nachricht
von der ersten Abweisung deS Gesandten, in Voraussicht derselben am
13. Januar an General Taylor erlassene Befehl:
mit seiner gesammten
Macht an den Rio Grande vorzugehen, hatte Mexico nicht, wie Slidell, der das empfohlen, erwartet hatte, nachgiebiger, sondern nur einen güt
lichen Vergleich vollends unmöglich gemacht.
Mexico wußte, daß es einen
Krieg mit den Bereinigten Staaten nicht zu scheuen brauchte, so lange diese sich nicht mit England wegen der brennend gewordenen Oregonfrage
auf welche ich nunmehr kurz eingehen muß, auseinandergesetzt hatten, oder mindestens eine Verständigung mit der Britttschen Regierung zuversichtlich
erwartet werden durfte. Als Präsident Polk in seiner Antrittsrede vom 4. März 1845 die
Rechtsansprüche der Vereinigten Staaten auf Oregon so scharf betonte,
hatten bereits seit langen Jahren Differenzen mit England über die Be sitzverhältnisse im Nordwesten Amerikas bestanden.
ES ist nicht nöthig,
hier die mehr alö zweifelhaften Rechtsmittel, auf welche beide Theile ihre Ansprüche stützten, und von denen die Amerikanischen jedenfalls die besseren
waren, näher zu erörtern.
Eine größere Bedeutung erhielten jene Gebiete
ohnehin erst 1805, als eine von der Amerikanischen Regierung ausge rüstete Expedition den mächtigen Columbia-Strom entdeckte, an welchem unser LandSmann I. I. Astor 1811 die nach ihm benannte und manchen
Lesern wahrscheinlich aus Washington Jrving'S gleichnamigem Buche be kannte erste Ansiedlung, die Bestand hatte, Astorla, gründete, um dort wenn
möglich den Pelzhandel und den Thee- und Seiden-Jmport auS China
und Japan zu monopolisiren.
Im October 1818 verständigten sich die
beiden Regierungen über eine Convention, nach welcher alles Land westlich vom Felsengebirge zehn Jahre lang den Angehörigen beider Länder, un
beschadet ihrer Rechtsansprüche,
„frei und offen" stehen sollten.
Nach
manchen vergeblichen Zwischenverhandlungen wurde diese Convention am 6. August 1827, mit beiderseits freigelassener zwölfmonatlicher Kündigung,
Verfassluigsgeschichtc der Bereinigten Staate» von Amerika.
38
auf unbestimmte Zeit verlängert.
Thatsächlich war damals die Englische
Hudson'S Bay Company die einzige wirkliche Macht in jenem Gebiete;
aber die Gesellschaft suchte nicht das Land zu entwickeln, sondern nur eS auszunutze'n, und „die Tage der staatlichen Coloniegründungen waren be
reits vorüber".
Bessere Keime der Entwicklungsfähigkeit zeigte eine 1832
im fruchtbaren Thäte des Wallamette gegründete Amerikanische Ansiedlung.
Immer deutlicher
erkannte man den Werth jener Gegenden
Fremont einen Paß
über daS Felsengebirge entdeckt,
eine
und seit
erfolgreiche
Caravane von Missouri nach Oregon 1844 die Ausführbarkeit einer Ver bindung mit dem fernen Westen erwiesen hatte, so daß sogar daS Project
der Anlage einer Eisenbahn nach Oregon an den Congreß gelangte, wurde der Wunsch, die Oregonfrage endlich definitiv erledigt zu sehn, allgemeiner
und stärker.
Alle gesetzgeberischen Anläufe, Maßregeln zum Schutz der
Amerikanischen Ansiedler zu ergreifen oder die Kündigung deS Vertrags von 1818/27 herbeizuführen, waren bis dahin vergeblich gewesen.
Nun
verlangte, wie schon erwähnt, die demokratische Partei bei der Präsidenten wahl von 1844 „ganz Oregon oder Krieg".
Präsident Tyler ließ im
Januar 1845 einen Antrag Englands, die Sache zür schiedsrichterlichen Entscheidung zu verstellen, ablehnen, und kaum zwei Monate später schien
der neue Präsident durch seine erste officielle Erklärung allen weiteren
Unterhandlungen ein für allemal ein Ende zu machen.
So wurde ganz
allgemein in England wie in den Vereinigten Staaten die Jnauguraladresse verstanden, Lord Aberdeen aber sprach im Englischen Oberhause
die feste Zuversicht aus, daß die Sache friedlich werde ausgetragen werden,
und er irrte sich darin nicht.
„Vielleicht wollte Polk, bemerkt von Holst,
nur alle Augen auf die große Faust lenken, die er nach Westen (England) hin machte, um unbemerkt zu einem Schlage nach Osten (Mexico) hin ausholen zu können."
Unmöglich ist das nicht, doch bin ich keineswegs
überzeugt davon.
Die Amerikanische Regierung hatte wiederholt den Versuch gemacht,
sich auf der Grundlage mit England zu vergleichen, daß der 49 Breite grad als Scheidelinie des beiderseitigen Gebiets
angenommen werde.
Alle diese Versuche waren jedoch daran gescheitert, daß die Englische Re gierung die freie Schiffahrt auf dem südlich von dieser Linie belegenen
Theile des Columbia verlangte und man sich nicht über die damit in Ver bindung stehenden weiteren Bedingungen verständigen konnte.
Polk hielt
sich durch die Politik seiner Vorgänge gebunden, im Sommer 1845 noch einmal einen friedlichen Ausgleich vorzuschlagen.
Er bot abermals die
Dheilungslinie des 49. Grades, jedoch ohne daS Recht der freien Schiff fahrt auf dem Columbia, und zugleich die Abtretung eines oder einiger
südlich von dieser Linie am Cap Quadra und auf Vancouver Island be
legenen Häfen an.
Als dieser Vörschlag, wie nicht zu verwundern war,
ohne langes Besinnen Englischer SeitS M'ückgewiesen wurde, kehrte der
Präsident auf seinen früheren Standpunkt zurück.
Die Art, wie er dem
nächst in seiner ersten Jahresbotschaft vom 2. December die ganze Sache dem Congreß vorlegte, an die Monroe-Doctrine erinnerte und — da er wußte, daß die verfassungsmäßige */3 Majorität des Senats für diesen
Schritt nicht zu erlangen war — die Kündigung des Vertrags von 1818/27
durch Gesetz beantragte, bald nachher zwei neue Anträge Englands auf schiedsrichterliche Entscheidung ablehnen ließ, und wie sofort Anhänger der Regierung.die Frage' der Wehrkraft der Vereinigten Staaten in Anrege brachten, versetzte die Börse und das Land in Schrecken.
An einen Krieg
mit England war übrigens schon deshalb nicht zu denken, weil die Vexeinigten Staaten thatsächlich nicht im Stande waren, einen solchen zu
führen, die Demokraten, trotz des stritten Wortlauts ihres letzten WahlprogrammS, in ihren Ansichten streng geographisch geschieden und auch
die Whigs nicht länger unter sich einig waren. — Man wußte längst,
daß Polk,
im Widerspruch mit allen seinen früheren hochtönenden Er
klärungen, ganz bereit sei, die weitgehendsten Concessionen zu machen, als beide Häuser deS CongresseS sich nach endlosen Reden am 27. April über eine in der mildesten Form abgefaßte Resolution verständigten, wodurch der Präsident auctorisirt ward, „nach seiner DiScretion" die Convention
von 1818/27 zu kündigen.
Schon am folgenden Tage ward von dieser
Auctorisation Gebrauch gemacht, und bereits am 6. Juni legte der Eng
lische Gesandte dem Staatssecretair Buchanan einen ConventionSentwurf vor, durch welchen sich England mit dem 49. Grade als Gränze und der freien Schiffahrt auf dem Columbia zufrieden erklärte.
Hätte man in
London gewußt, daß der Krieg mit Mexico inzwischen bereits ausgebrochen
war, so würde man wahrscheinlich mehr verlangt haben.
Dieses Krieges
wegen konnte andererseits auch Polk nicht zweifelhaft darüber sein, daß er
die Proposition annehmen müsse.
Er suchte seinen Rückzug dadurch zu
decken, daß er sich, statt selbst zu entscheiden, unter Berufung auf Präcedenzfälle aus den Zeiten Washingtons, den Rath des Senats erbat und sich mit dem Bemerken, daß seine eigenen Ansichten unverändert geblieben
seien, bereit erklärte, diesem Rathe gemäß zu handeln,
Polk habe nur Komödie gespielt.
v. Holst meint,
Auch ich bin kein Bewunderer seiner
Politik, aber mir scheint, man kann die ganze Art, wie der Präsident die
Oregonfrage behandelt hatte, mit gutem Grunde tadeln und dennoch an erkennen, daß er wie ein Patriot handelte, als er in diesem ernsten Augen blick seine eigene Ansicht zum Opfer brachte.
Am 12. Juni sprach sich
BerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
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der Senat mit 38 gegen 12 Stimmen für den Abschluß der Convention
auS; am 15. wurde dieselbe unterzeichnet, und damit war für jetzt die
letzte große Streitfrage zwischen England und den Vereinigten Staaten bis auf wenige Formalien erledigt.
Wenn die Achtung vor Polk als
Staatsmann durch den getroffenen Ausgleich auch nicht erhöht werden
konnte, nahm das Amerikanische Volk doch keinen Anstoß daran, weil der
selbe dem wahren Interesse des Landes vollkommen entsprach. Nuitmehr kann ich den unterbrochenen Faden der Darstellung der Mexikanischen Verwicklung wieder aufnehmen. In Folge des Befehls vom 13. Januar 1846 war General Taylor
am 11. März von Corpus Christi aufgebrochen und, ohne auf Widerstand
zu stoßen, am 28. MatamoraS gegenüber, am linken Ufer des Rio Grande
eingetroffen.
Bei den sofort eingeleiteten Pourparlers mit dem in Ma
bezeichnete dieser das
tamoraS commandirenden Mexikanischen General
Vorrücken Taylors bis an den Fluß Amerikanische Delegirte
ankündtgte:
als FrtedenSbruch, daß
jeder
Versuch
während der
Mexikanischer
Truppen, den Strom „in feindseliger Haltung" zu überschreiten, mit Ge walt werde zurückgewiesen werden.
Beide Theile
waren aber deßun
geachtet darin einverstanden, daß man sich noch im Frieden befinde.
Als
jedoch General Ampudia am 12. April die peremtorische Aufforderung an
Generol Taylor erließ:
Binnen 24 Stunden sein Lager abzubrechen und
an den Nueces zurückzuziehen, beantwortete der Amerikayische General, der bis dahin stets Tact und Mäßigung bewiesen hatte, dieselbe mit einer
kriegerischen Maßregel, zu der er weder durch seine Instruction noch nach der Amerikanischen Verfassung berechtigt war.
Obgleich der Befehl vom
13. Januar ihm ausdrücklich vorgeschrieben hatte, nicht ohne weitere An
weisung zu versuchen, das gleiche Recht auf Beschiffung deS Rio Grande mit Gewalt durchzusetzen, that er noch mehr als dies und sperrte die
Mündung deS Stroms, um so durch Abschneidung
aller Zufuhr die
Mexikaner zu zwingen, entweder MatamoraS zu räumen oder ihrerseits
die Offensive zu ergreifen.
Das war der Beginn deS Krieges, der frei
lich, auch wenn Taylor nicht die Initiative ergriffen hätte, schon wenige
Tage später von Mexikanischer Seite eröffnet worden wäre, da — waö Holst auffallender Weise unerwähnt läßt — Ampudia unzweifelhaft schon
vor Erlaß seiner Sommation vom 12. April einen vom 4. datirten Be fehl des Mexikanischen Kriegsministers in Händen hatte, der ihn anwteS sofort zum Angriff zu schreiten, und Präsident ParedeS am 18. in einem
direkten Schreiben an den Oberbefehlshaber der Mexikanischen Gränz armee die fernere Ordre gab, ohne Verzug „die Initiative gegen den
Feind zu ergreifen".
(Vgl. StateSman'S Manual 1. c. III. 1658).
Als
Ampudia die Wiederaufhebung der völkerrechtswidrigen Blockade verlangte, machte Taylor dies von dem vorgängigen Abschluß eines „Waffenstill
standes" abhängig, weil Mexico für den „quasi Kriegszustand" verant wortlich sei.
Auf diesen wunderlichen Vorschlag ohne specielle Autori
sation seiner Regierung einzugehen würde der Mexikanische General, auch
abgesehen von seiner erwähnten Instruction, wohl schwerlich in der Lage gewesen sein, und General Arista, der ihn am 24. April im Commando ersetzte, kündigte denn auch sofort General Taylor an: daß er die Feind
seligkeiten als angefangen betrachte.
Schon am folgenden Tage floß bei
einem unbedeutenden Vorpostengefecht zwischen recognoScirenden Truppen theilen am linken Stromufer, welches die Amerikaner als ihr Gebiet be trachteten, das erste Blut.
Wie willkommen der Amerikanischen Regierung
das
eigenmächtige
Verfahren ihres Generals auch fein mochte, vermag ich nach allem Vor
stehenden doch nicht zuzugeben, daß der Verfasser den von ihm versuchten Beweis dafür, daß Polk eS von Anfang an darauf abgesehen habe, den Congreß vor eine vollendete Thatsache zu stellen, in überzeugender Weise
erbracht hat. In einer speciellen Botschaft vom U. Mai 1846 kündigte der Prä
sident dem Congreß an: daß sich die Vereinigten Staaten „durch die That Mexico'S im Kriegszustände befänden" („war exists by the act of Mexico
heraelf“), und beantragte „zur weiteren Behauptung unserer Rechte und
Vertheidigung unseres Gebiets" durch rasches Handeln das Vorhandensein
dieses Kriegszustandes anzuerkennen und der Executive die nöthigen Mittel zur Disposition zu stellen, um den Krieg kräftig fortzuführen und so den
Abschluß deS Friedens' zu beschleunigen,
v. Holst unterzieht diese Bot
schaft einer scharfen, meiner Ansicht nach, einer zu scharfen Kritik.
ES
ist richtig, daß TaYlor'S eigenmächtiger Act, der zur Krisis geführt hatte, unbegreiflicher Weise darin nicht ausdrücklich erwähnt wird, und ich ver
mag nicht zu sagen, ob die der Botschaft hinzugefügten Aktenstücke die
nöthige Aufklärung über diesen wichtigen Punkt gaben, da mir dieselben nicht zur Hand sind.
Andererseits enthält die Botschaft aber alle zur
Gewinnung eines Urtheils über die Sachlage nothwendigen Momente in ausreichender Vollständigkeit, wobei allerdings auf die auch nach meinem
Dafürhalten völlig gerechtfertigte Zurückweisung deö Gesandten Slidell
durch die Mexikanische Regierung ein ihr nicht zukommendeö Gewicht ge
legt wird.
Unter Anderem
erwähnt
die Botschaft auch
die von dem
Verfasser mit Stillschweigen übergangene bedeutsame Thatsache, daß der
Congreß bereits selbst durch Gesetz vom 31. December 1845 anerkannt
habe:
daß das Gebiet jenseits des Nueces als Theil der Bereinigten
42
BerfassungSgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.
Staaten in deren Steuersystem einbegriffen, und daß mit Zustimmung deS Senats ein Steuerbeamter (ein „surveyor to collect the revenue“), der
seinen Wohnsitz in diesem District habe, ernannt sei.
Daraus ergiebt
sich, daß die in der Resolution wegen der Annexion von Texas offen ge
lassene Gränzfrage schon im Sinne der Regierung gesetzlich erledigt war, und der
Congreß,
wenn
er gleich
nach völkerrechtlichen
Grundsätzen
sicherlich nicht zu einem solchen einseitigen Beschluß berechtigt gewesen,
jedenfalls die Verantwortung mit der Regierung theilte.
Da dem Con
greß allein das Recht zustand, darüber zu entscheiden, ob die Union sich in
Folge der am Rio Grande begonnenen Feindseligkeiten bereits im Kriege mit Mexico befinde, so würde, wie Holst bemerkt, in Polk'S Erklärung:
„war exists“, unzweifelhaft eine „unbefugte Anmaßung" liegen, wenn diese Erklärung nicht dadurch einen wesentlich anderen Charakter erhielte,
daß, nur durch wenige Zwischensätze davon getrennt, der schon erwähnte
Antrag darauf folgt: der Congreß möge den Kriegszustand anerkennen.
In der Verurthetlung deS unwürdigen Verhaltens des Congresses bei dieser Gelegenheit muß ich freilich dem Verfasser unbedingt beistimmen.
Ohne auch nur den Druck der Anlagen der Botschaft abzuwarten, und
fast ohne alle DiScussion, wurde, ungeachtet der gewichtigen Einwendungen einer Anzahl der hervorragendsten Männer gegen die beliebte Fassung, in
beiden Häusern mit überwiegender Majorität ein Gesetz beschlossen, wo durch für den „durch die That Mexico's" herbeigeführten Krieg 50,000 Freiwillige unb 10 Millionen Dollars bewilligt wurden.
Run begann der Krieg im Ernst und mit glänzenden Erfolgen für die Amerikaner.
Am 27. Juli wurde der Mexikanischen Regierung die
Anzeige gemacht: die Vereinigten Staaten seien zu Friedensverhandlungen bereit, und am 4. August ward dies dem Senat mit dem Bemerken mit»
getheilt: daß es richtig sein dürfte, Mexico für daS im Frieden abzu tretende Gränzland einen angemessenen
Preis zu bewilligen
und den
Präsidenten zu ermächtigen, einen Theil dieser Summe — der nach einer
ferneren Botschaft vom 8. zwei Millionen Dollars betragen sollte — schon vor der Ratification deS Friedensvertrags auszuzahlen.
ES würde
den Anhängern der Regierung gelungen sein, eine entsprechende Bill noch in aller Eile durchzudrücken, wenn nicht in Folge eines von dem demo kratischen Abgeordneten Wilmot von Pennshlvanien vorgeschlagenen und auch im Repräsentantenhause angenommenen Amendements, wornach in
allen von Mexico zu erwerbenden Gebieten die Sklaverei für immer aus
geschlossen sein sollte, — daS sogenannte „Wilmot proviso“, auf das ich
später zurückkommen muß — am 10. August der Schluß deS Congresses
eingetreten wäre, ehe eS darüber im Senäte zur Abstimmung gekommen war.
Als der Congreß am 7. December 1846 wieder zusammentrat, be
fand sich bereits die größere Hälfte Mexicos in Amerikanischen Händen.
General Taylor war, nachdem er Matamoraö genommen, siegreich bis Monterey vorgerückt.
General Kearny hatte von ganz Neu Mexico Besitz
ergriffen und sich auf Grund seiner keineswegs klar gefaßten Instructionen
angemaßt, in einer Proclamation vom 22. August sämmtliche Einwohner deS Gebiets ihrer Treupflicht gegen Mexico zu entbinden und sie „als
Bürger der Bereinigten Staaten in Anspruch zu nehmen".
Als er nach
Californien weiter marschirte, erreichte ihn am 6. October die Nachricht,
daß auch dieses bereits erobert sei.
Die dortigen Amerikanischen Befehls
haber hatten eS ähnlich wie er selbst gemacht und resp, am 7. Juli und 17. August proclamirt: daß Californien — welches bereits am 4. Juli
auf den ittath Fremonts von einer Handvoll Amerikaner für eine unab hängige Republik erklärt war — hinfort ein Theil der Vereinigten Staaten
fein werde.
Daß sie damit den Wünschen ihrer Regierung, wenn auch
nicht dem Wortlaut ihrer Instructionen, entsprochen hatten, und daß der Erwerb jener Gebiete bereits seit der Unabhängigkeits-Erklärung Mexicos von Vielen erstrebt war, hat v. Holst, der dabei freilich die Ausführungen
in der früher erwähnten Botschaft vom 4. Juli 1848 unberücksichtigt läßt, unter Beibringung reichhaltigen neuen Materials in hohem Grade wahr
scheinlich gemacht.
Seine Behauptung: daß „daö Verlangen nach Neu
Mexico und Californien der einzige Grund und der einzige Zweck deS
Krieges" gewesen sei, scheint mir freilich damit noch nicht erwiesen zu sein. Der Verfasser mißbilligt übrigens den Mexicantschen Krieg nicht deshalb,
weil er ein Eroberungskrieg gewesen, sondern wegen der Art, wie der
selbe seiner Ansicht nach herbeigeführt und betrieben worden.
Er führt
aus: trotz aller ethischen und sonstigen Bedenken, die sich erheben ließen, hätten die Vereinigten Staaten nur eine große Culturaufgabe gelöst, als sie die Küste deS stillen MeereS eroberten, dadurch ihr Gebiet von Ocean
zu Ocean ausdehnten und das Bindeglied zwischen Europa und Asien wurden.
DieS sei ihre „offenbare weltgeschichtliche Bestimmung" (mani
fest destiny) gewesen, und die Geschichte könne nicht nach der Privat moral urtheilen, sondern müsse es als Gesetz anerkennen, daß abgestorbene
Völker das Feld zu räumen hätten, wo sie in einem Jnteresienwtderstreit
mit Völkern zusammenstießen, die sich mit ihrer Culturmission in auf steigender Linie bewegten. — Sollten die Europäischen Großmächte sich
diese verführerisch klingende Theorie aneignen, so werden die Tage der
Türkei wohl gezählt fein.
In der Hoffnung, daß Sta Anna sich leichter als jeder andere Mexicanische Führer durch Geld und sonstige Mittel zum Abschluß eines vor-
Bersassmigsgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
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thetlhaften Friedens werde gewinnen lassen, hatte Polk schon am 13. Mai, bei Anordnung der Blockade der Mexikanischen Küsten, zugleich den Be fehl ertheilt, den in Havana in der Verbannung lebenden General unbe
hindert nach Mexico zurückkehren zu lassen. sich getäuscht.
In dieser Hoffnung hatte er
Statt an die Spitze einer noch nicht existirenden Friedens
partei zu treten, hatte Sta Anna als Haupt der Kriegspartei die Regie
rung von Mexico übernommen und am 31. August die Friedensvorschläge vom 27. Juli zurückgewiesen.
ES war deshalb klar, daß eS vorläufig
noch einer sehr entschiedenen Fortsetzung deS Krieges bedürfe, und darauf wurde denn auch in der Jahresbotschaft vom 8. December 1846 und in
verschiedenen besonderen Botschaften an den Congreß hingewirkt.
Zugleich
begegneten sich aber der Präsident und die Opposition in dem Wunsche,
bald möglichst Frieden zu schließen, und die Bewilligung der nunmehr, statt der früheren zwei, gewünschten drei Millionen Dollars würde daher auch keine Schwierigkeiten gehabt haben, wenn man sich über die Friedens
bedingungen und deren Einfluß auf die inneren Verhältniffe hätte ver ständigen können. kraten,
Die große Majorität deS Volks, Whigs wie Demo
verlangte Ausdehnung deS Gebiets;
aber bei der eigenartigen
Zwiespältigkeit der Vereinigten Staaten fragte es sich bei jeder Gebiets erwerbung, ob dieselbe zu Gunsten der freien oder der Sklavenstaaten erfolgen solle, und es fehlte auch nicht an angesehenen südlichen Whigs,
welche gegen jede Eroberung waren, weil sie darin eine Gefahr für die Sklavokratie erblickten. noch weiter
Ich werde nicht umhin können, diese Frage später
ztt berühren.
Erst unmittelbar bevor der Congreß
am
4. März 1847 sein gesetzliches Ende erreichte, kam das Gesetz wegen Be
willigung der drei Millionen Dollars ohne weiteren Zusatz zu Stande. Damit war die Frage entschieden, daß im Frieden Territorialerwerbungen
gemacht werden sollten,
aber die Entscheidung der anderen Frage, wie
über dieselben hinsichtlich der Sclaverei disponirt werden solle resp, müsse,
war vertagt. Im November 1846 war der älteste, General, Winfield Scott, zum Oberbefehlshaber der im Felde stehenden Armee ernannt.
Wenn man,
wie Holst anführt, annahm, daß dies nur deshalb nicht schon früher ge schehen sei, weil der General als möglicher PräsidentschaftScandidat der Whigs bei der nächsten Wahl bezeichnet war, so hatten — waS ich, da
der Verfasser cs nicht thut, erwähnen zu müssen glaube — nur der Ver hältnisse Unkundige Polk in dieser Weise verdächtigen können.
Denn eine
specielle Botschaft deS Präsidenten an den Senat vom 8. Juni 1846
(Statesman'S Manual 1. c. III. 1629) ergiebt, daß derselbe dem General
bereits beim Ausbruch des Krieges am 13. Mat den Oberbefehl über-
diese Ordre nur in Folge eines Schreibens Scotts
und
tragen
25. Mai wieder zurückgenommen hatte.
vom
Biel wahrscheinlicher ist es, daß
Rücksichten auf den verdienten General Taylor, der gleichfalls von den
Whigs als Candidat inS Auge gefaßt war, davon abgehalten hatten, schon früher auf diese Ernenmlng zurückzukommen. — Am 29. März 1847 nahm General Scott Vera Cruz und daS Fort San Juan d'Ulloa und nach
mehreren siegreichen Schlachten hielt er am 14. September seinen Einzug in die Hauptstadt Mexico.
Der Friede war damit noch nicht erkämpft.
Die bisherigen Versuche, dazu zu gelangen, waren an der noch nicht gcbeilgten
Hartnäckigkeit
der
Mexicanischen
Regierung
gescheitert.
Im
Februar hatte dieselbe das Eingehen auf ihr von dem StaatSsecretair
Buchanan gemachte neue FriedenSanerbietungen an die unzulässige Vor bedingung der vorgängigen Aufhebung der Blockade und Räumung des
Mexicanischen Gebiets geknüpft.
Bei den unmittelbar vor der Einnahme
der Hauptstadt während eines kurzen Waffenstillstands mit dem als Bevoll mächtigten in das Hauptquartier entsandten ersten Beamten des Staats departements N. P. Trist gepflogenen Unterhandlungen stellte sie abermals
unannehmbare Bedingungen.
Während das Amerikanische Ultimatum und
die conditio sine qua non die Abtretung von Nen-Mexico und Ober-
Calisornien war, Falls nicht auch Nieder-Californien und das Wegerecht
über den JsthmuS von Tehuantepec zu erlangen sein sollte, war die Ab tretung Ober-CalifornienS bis zum 37. Grade das einzige Opfer, welches
Mexico bringen wollte, wobei es obendrein noch Entschädigung für seine
Bürger und Rückgabe deS Gebiets zwischen dem NueccS und Rio Grande verlangte!
Jetzt entstand eine neue Schwierigkeit dadurch, daß eS —
ähnlich wie eS den Deutschen 1871 vor Parts erging — nach der Ein nahme der Hauptstadt an einer Regierung fehlte, mit welcher eS über
haupt möglich war einen dauerhaften Frieden
abzuschließen.
General
Scott mußte zur Bildung einer provisorischen Regierung die Hand bieten. Erst im November ward General Anaya in verfassungsmäßiger Weise
vom Mexicanischen Congreß zum interimistischen Präsidenten der Republik erwählt — wie später, im Februar 1871, Thiers von der Nationalver
sammlung in Bordeaux zum Chef der Executive Frankreichs. Für den Präsidenten Polk mußte eS um so peinlicher sein, dem am 6. December 1847 zu
30. Congreß
seiner ersten Session zusammentretenden neuen,
nicht die glückliche Beendigung
deS Krieges anzeigen zu
können, weil die bisherige sehr erhebliche demokratische Majorität im Re präsentantenhause bei den letzten Wahlen zur Minorität herabgesunken war.
ES ist jedoch nicht richtig, wenn v. Holst behauptet: die Congreß-
wählen seien
„ein emphatisches Verdammungsurtheil über das hinter-
VerfassungSgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.
46
haltige, unwahre und intriguengesättigte Wesen gewesen, das die ganze
In völlig gleichem
auswärtige Politik der Administration charakterisirte".
Maß, wie die Unpopularität des Krieges in einigen Staaten, hatte in anderen, namentlich in Pennshlvanien, die durch Gesetz vom 30. Juli 1846
erfolgte Umwandlung des bisherigen Schutzzolltarifs in einen Finanzzoll tarif bei den Wahlen den Ausschlag gegeben, und in demjenigen Staat, der die meisten Repräsentanten stellte, in New-Aork, hatte die Uneinigkeit der Demokraten unter sich den Whigs eine ganze Reihe von Sitzen ver
schafft.
Da übrigens — wie der Verfasser selbst bemerkt — ein „be
trächtlicher Theil" der Whigs ebensowenig wie die landsüchtigsten Demo
kraten geneigt war, Neu-Mexico und Californien wieder fahren zu lassen,
konnte der Präsident immerhin noch auf eine zuverlässige Majorität für die Durchführung seiner Mexikanischen Politik rechnen. freilich nicht gegen schmerzhafte Nadelstiche.
Das schützte ihn
Man warf ihm Uebergriffe
in die verfassungsmäßige Competenz des Congreffes vor und nahm sogar am 31. Januar 1848 mit 85 gegen 81 Stimmen ein Amendement zu
einer Dank-Resolution für General Taylor an, wodurch — im direkten Widerspruch mit den Beschlüssen vom 12. Mai 1847 — erklärt wurde:
„der Krieg sei vom Präsidenten unnöthiger und verfassungswidriger Weise
(unnecessarily and unconstitutionally) begonnen".
ES wird den einen
oder anderen Leser vielleicht interessiren zu hören, daß — was der Ver fasser zu erwähnen keine Veranlassung hatte — auch der spätere Präsident
und damalige Abgeordnete von Illinois, Abraham Lincoln, mit der Ma jorität stimmte, wie er denn überhaupt zu den entschiedensten Gegnern von Polks KriegSpolttik gehörte.
Er hatte bereits am 22. December den
Antrag gestellt: den Präsidenten um Aufklärung darüber zu ersuchen: ob
der Punkt, wo das erste Blut geflossen, Amerikanischer Boden gewesen sei oder nicht, und am 12. Januar dem Gedanken deS erwähnten Amen
dements in scharfer Rede Ausdruck gegeben, womit er freilich in der eigenen Heimath keinen Beifall fand*).
Unter diesen Umständen war eS ein großes Glück für die Regierung und das
Land, daß Trist sich
einer ungeheuerlichen Insubordination
schuldig machte, über deren Motive — ob dreiste Eitelkeit, ob einsichtsvoller
PatttotiSmuS — Unklarheit herrscht. Statt den ihm am 6. und 25. Oktober ertheilten sehr bestimmten Befehlen, nach Washington zurückzukehren, Folge zu leisten, war er in Mexico geblieben, hatte sich auf eigene Hand mit
von dem General Anaya ernannten Bevollmächtigten in Verhandlungen eingelassen und konnte am 2. Februar 1848 melden: daß in Guadalupe
*) Vgl. M. W. Cluskey, the political text-book. New-Uork 1858. S. 317 ff. und Lamon's Life of Abr. Lincoln S. 283 ff.
Htdalge der Friede unterzeichnet sei, wodurch Neu-Mexico und Ober-
Californien gegen eine Zahlung von 15 Millionen Dollars an die Ver
einigten Staaten abgetreten wurden, und diese die Berichtigung der Forderungen Amerikanischer Bürger übernahmen.
Da damit in der
Hauptsache alles erreicht war, was man erstrebt hatte, nahm der Präsi
dent an der ordnungswidrigen Art, wie der Vertrag zu Stande gekommen war, keinen Anstoß, sondern beantragte am 22. Februar die verfassungs
mäßige Zustimmung des Senats zu demselben, welche nach fangen und lebhaften Debatten am 13. März ertheilt wurde.
Nachdem die Ratifica
tionen am 30. Mai in Queretaro ausgetauscht waren, übersandte der
Präsident dem Congreß am 6. Juli den Friedensvertrag mit dem Anträge: die zur Ausführung desselben erforderlichen Beschlüffe zu fassen und vor
allem bei der Organisation der neuerworbenen Territorien
im Geiste
gegenseitiger Zugeständnisse, der Versöhnung und der Compromisse zu ver fahren und der einst von Washington so eindringlich ertheilten Mahnung
eingedenk ;u sein:
sich vor einer Scheidung
nach geographischen und
sectionellen Interessen zu hüten. Diese weisen Rathschläge fanden keinen Widerhall im Congresse.
Nur die Organisation des Territoriums Oregon, welche der Präsident be reits am 5. August 1846 und von Neuem in seinen beiden letzten JahreS-
botschaften sowie in einer speciellen Botschaft vom 29. Mai 1848 dringend empfohlen hatte, kam noch in dieser Session, und zwar erst wenige Stunden
ehe dieselbe am 14. August geschlossen ward, zu Stande.
Auch sie würde
gescheitert sein, wenn nicht im Herbste die nene Präsidentenwahl bevorge
standen hätte, und wenn nicht alle Parteien es in ihrem Interesse ge funden hätten, diese Frage noch vorher aus der Welt zu schaffen.
Ob
wohl der Süden nicht verkannte, daß Oregon sich seiner geographischen
Lage nach nur für freie Arbeit eigne, hatten südliche Repräsentanten doch die Vertagung der Organisirung des Territoriums gewünscht, um dem
Norden im Interesse der Sklaverei in Neu-Mexico, Californien und künftigen Landerwerbungen, einen Handel aufzuzwingen.
Auf dieses Vor
haben mußten sie, aller Anstrengungen ungeachtet, schließlich verzichten,
und durch den § 14 deS Organisationsgesetzes vom 14. August 1848 wurde indirect die Sclaverei auS dem Territorium ausgeschlossen.
Ich
werde im Uebrtgen auch hier auf die später folgenden Bemerkungen über
die Sclavenfrage verweisen dürfen und will zunächst flüchtig angeben, wie
sich der Kampf um die Präsidentenwahl gestaltete. Darüber, daß die principielle Frage in Betreff der Sclaverei in den
Territorien für den Augenblick weitaus die wichtigste war, waren wohl alle politischen Männer einverstanden; aber fast alle hatten auch zugleich
DerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
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instinctlv das richtige Gefühl, daß dies ein uoli me tangere fei, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, die eigene Partei zu zersplittern.
So
kam es, daß die am 22. Mat 1848 in Baltimore eröffnete demokratische Nationalconvention — in welcher der mächtige Staat New-Aork garnicht
vertreten war, weil sich dort die für das Wilmot Proviso günstig gestimmte
Reformpartei, die sogenannten „Barnburners", und die den südlichen An schauungen geneigteren sogenannten „Hunkers" scharf geschieden hatten —
sich in ihrem Programm über die Rechtsfrage garnicht aussprach, so daß
also Jeder während des Wahlkampfs seiner inneren Ueberzeuglmg folgen konnte.
Der Name ihres Candidaten für die Präsidentschaft, des Generals
Lewis Caß von Michigan, ließ allerdings über ihre Intentionen keinen Zweifel, da es bekannt war, daß derselbe seine früher dem Wilmot Proviso
günstige Ansicht aufgegeben und dem Süden ein ziemlich bedingungsloses Treugelöbniß geleistet hatte.
Die Whigs überboten die Demokraten noch, indem sie überhaupt kein
Programm aufstellten und einen möglichst farblosen Candidaten nominirten,
der eS ausdrücklich abgelehnt hatte, sich im voraus auf ein bestimmtes Programm zu verpflichten, und von dem man mit Sicherheit nur wußte, daß er ein Whig, wenn auch kein extremer, sei.
Recht, wenn er sagt:
v. Holst hat gewiß
„eine Partei ohne Programm ist keine Partei mehr,
ein Mann ohne politische Vergangenheit und ohne politische Ueberzeugungen ist kein Programm".
Die Convention der Whigs, welche am 7. Juni in
Philadelphia zusammentrat, schien das jedoch nicht einzusehen.
Sie warf
daS bedeutendste Mitglied ihrer Partei, Henry Clay, dessen Name ein
Programm gewesen sein würde, sowie dessen zweiten militärischen Rivalen, General Scott, über Bord und ernannte General Taylor, einen geborenen Virginier, zu ihrem Candidaten für die Präsidentschaft, Millard Fillmore
von New-Aork für die Vice-Präsidentschaft. — General Zacharias Taylor, den der Norden nach einem früheren allgemein gehaltenen Briefe für einen Freund des Wilmot Proviso,
der Süden dagegen,
als reichen
Sclavenbesitzer in Louisiana, für einen Gegner desselben hielt, war durch
seine Erfolge auf dem Schlachtfelde, seinen kalten Muth und seine schlichte
Ehrenhaftigkeit in hohem Grade populär geworden, hatte sich aber nie um Politik bekümmert.
Holst erwähnt (S. 293 Note 2): „es hieß, Taylor
habe nie sein Stimmrecht auSgeübt".
Das allein würde nun freilich wohl
nichts dafür beweisen, daß er kein politisches Glaubensbekenntniß gehabt
habe, denn viele Amerikanische Generale scheinen es, wenigstens früher, mit ihren mUttärischen Pflichten unvereinbar gehalten zu haben, sich bet
Wahlen zu betheiltgen.
Als Präsident Lincoln ein Paar Tage vor seiner
Inauguration mit General Scott bet mir dinirte, sagte dieser zu jenem:
BerfaffungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
49
„ich habe nicht für Sie gestimmt, Herr Präsident, denn ich habe niemals
votirt!" worauf Lincoln rasch erwiderte: gestimmt General!"
„aber ich habe einmal für Sie
— nämlich 1852 als Scott der PräsidentschaftS-
candidat der Whigs war. — Gewiß ist übrigens, daß es General Taylor
an allen Vorbedingungen fehlte, welche das StaatSinteresse an einen Prä
sidenten stellen mußte, weshalb er denn auch in richtiger Selbsterkenntniß Anfangs selbst seine Nomination nicht gewünscht hatte, bis die ihm sogar
von
demokratischen Volksversammlungen entgegengebrachten Sympathie
erklärungen seinen Ehrgeiz weckten.
Seine einzige Eigenschaft, welche für
die Candidatur geltend gemacht werden konnte, war sein fester ehrenhafter Charakter, von dem er denn auch später während seiner kurzen Regierungs
zeit glänzende Proben gegeben hat.
Die völlige Nichtbeachtung der brennenden Frage Seitens der WhigConvention erregte aber doch bei vielen
große Verstimmung.
hervorragenden Parteigenossen
Henry Wilson von Massachusetts — später von
1873 bis 1875 Vicepräsident der Bereinigten Staaten — ging so weit, seine Gesinnungsgenossen, Behufs Aufstellung anderer Candidaten, zu einer Convention auf den 9. August nach Buffalo zu berufen.
Dort entstand
aus einer Verschmelzung aller Gegner der Machtvergrößerung der Sklavokratie eine neue Partei, „die Freiboden-Partei" (Free Soil Party).
Ihr
Programm erklärte es für die Pflicht der Bundesregierung, überall dort, wo ihre verfassungsmäßige Competenz sie für das Bestehen und die Fort
dauer der Sklaverei verantwortlich mache, sich dieser Verantwortlichkeit zu entledigen; forderte das Verbot der Ausdehnung der Sklaverei in zur
Zeit freies Territorium durch Bundesgesetz; und verkündete: keine wettere
Sklavenstaaten und kein weiteres Sklaventerritorium mehr zulassen wollen.
zu
Freilich beraubte sich die Partei zugleich von vornherein selbst
jeder Aussicht auf unmittelbaren Erfolg,
als sie den
„unzuverlässigen
nördlichen Mann mit südlichen Grundsätzen", den Expräsidenten van Buren, als ihren Candidaten für die Präsidentschaft aufstellte.
Bei der Wahl im November erklärten sich 15 Staaten — darunter 8 Sklavenstaaten mit 163 Electoral- und 926,016 BokSstimmen für Ge neral Taylor, 15 andere Staaten mit 127 Electoral- und 812,256 Volks
stimmen für General Caß.
Auf van Buren fielen beinahe 300,000 Volks
stimmen aber keine Electoralstimmen.
Taylor war also zum Präsidenten
R. Schleiden.
erwählt. (Schluß folgt.)
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 1,
4
Die Zukunft des deutschen Reichsgerichts. Die öffentlichen Dinge, so scheint eS, wollen sich in Deutschland immer ruheloser gestalten.
Die Reichsinstitutionen wie das Reichsrecht,
die Reichsregierung wie die politischen Parteien, der constitutionelle wie der wirthschaftliche Status deutscher Nation, Unitarismus wie Particu-
lariSmuS, dies alles in seinen ziellos durcheinander wirbelnden Wechsel beziehungen
läßt
täglich
weniger
erkennen,
was
als
Ausgangspunkt,
Grundsatz, Richtung und System noch einigermaßen feststeht, was bereits
einer unsteten, schwankenden Bewegung anheimgefallen ist.
nicht ES
mehren und häufen sich die offenen Fragen, deren Lösung eine ungewisse Zukunft erbringen soll.
Manche der verwirrenden Erscheinungen des TageS
mögen, wie man zu sagen pflegt, auf nur zwei Augen stehen, mögen ihren
Grund lediglich
in dem eigenthümlichen Temperament, dem besonders
gearteten Naturell dieses oder jenes im Kaiserlichen Regiment herrschenden Mannes haben und nach dem kurz bemessenen Lauf menschlichen Daseins
sich mit den Menschen von selbst wandeln.
Andere Zukunftsfragen sehen
stark darnach aus, als griffen sie in weite, unbemessene Fernen kommender Geschlechter voraus, als sei für sie innerhalb des gegenwärtigen Kreises
von Bewegungskräften überall keine Antwort zu erhoffen, und als sollten
sie mit ihrer ganzen problematischen Gestalt die zweifelsreiche Erbschaft
unserer Nachfahren werden.
Vielleicht, daß auch wir etwas zu schnell deS
neuen Reiches froh geworden sind.
Vielleicht, daß auch unS, den Ita
lienern ähnlich, der glatte, fast mühelose Lauf der ersten einheitsstaatlichen Gründung, das erste flotte Jahrzehnt umfassendster unificirender und re-
formirender Gesetzgebung denn doch darüber weggetäuscht hat, mit dem inneren Ausbau deS Reichs
was eS
auf sich hat, was in Wirklichkeit
Jahrhunderte alte historische Hemmnisse nationaler Consolidation bedeuten.
Auch das deutsche Reichsgericht, die stolze, langersehnte Schöpfung der großen Justizgesetze, trägt noch immer mehr fragwürdige Gestalt, als der Patriot wünschen möchte.
Ich will hier nicht reden von seiner ver
fassungsmäßigen Zuständigkeit, und was darin schon jetzt als änderungs-
bedürftig hervorgehoben werden könnte.
So zwiespältig und willkürlich,
wie die deutsche Strafprozeßordnung die Ordnung der deutschen Strafge
richte mit ihren Competenzgrenzen
und
dem System der Rechtsmittel
aufgebaut hat, so völlig im Fluß, wie sich auf dem Gebiet einheitlichen
bürgerlichen Rechts die Reichsgesetzgebung befindet, wußten wir alle, daß der erste grundlegende Versuch des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes,
die Competenz deS höchsten Gerichtshofes zu regeln, eben nur ein vor läufiger sein solle.
Dieses Provisorium, wenn man eS so nennen will,
ist nicht nur erträglich, sondern wohlthätig.
An Gedächtniß und Fassungs
kraft der älteren GeneraÜon deutscher Juristen sind ohnehin diese letzten
15 Jahre ganz ungebührliche Zumuthungen gestellt worden: daS Bedürf
niß, in dem Gegebenen, eS sei wie es sei, einstweilen zu beharren, macht sich hier zweifellos stärker fühlbar, alö jeglicher Anspruch an folgerichtige
organische Fortentwickelung des Bestehenden.
Mehr aber bedeutet, daß
auch der Sitz deS Reichsgerichts, seine Residenz in Leipzig, nicht über das
Prekäre, Vorläufige der ersten Etablirung herauskommen zu
Unfertige,
wollen scheint.
Wie und nach welchen Kämpfen daS Reichsgericht nach Leipzig ge kommen ist, ist männiglich bekannt.
Nachdem die Mehrheit im Bundes
rath und Reichstag darüber mit sich einig geworden, Berlin wegen Ver dachts der Befangenheit zu perhorreSciren und deßhalb Berlin nicht zu
wählen, war die Entscheidung für Leipzig ohne Weiteres gegeben.
Nicht
in den für Leipzig positiv geltend gemachten, schon durch die Anknüpfung
an daS ReichSoberhandelSgericht sich naturgemäß ergebenden Gründen,
sondern in den gegen Berlin laut und leise ausgesprochenen Ablehnungs motiven lag das Merkwürdige jener Controverse.
rückerinnert
zu haben.
ES genügt, hieran zu
Also verkündete unter dem 11. April 1877 das
Reichsgesetzblatt in Lapidarstyl: „Das Reichsgericht erhält seinen Sitz in Leipzig."
Schade nur, daß, was in Worten so monumental Hingt, sich
nicht ebenso rasch in die entsprechende lapidare Architektonik umbilden läßt. Bier Jahre besteht jener Rechtssatz bereits in Gesetzeskraft und noch immer
darf man fragen: hat daS Reichsgericht wirklich seinen Sitz in Leipzig
erhalten?
Daß seit dem 1. October 1879 acht Präsidenten, sechszig Räthe,
vier Reichsanwälte, so und so viel Rechtsanwälte, Hülfsrichter, Unter beamte des Reichsgerichts in Leipzig wohnen, daß, irre ich nicht, auch bereits sechs Bände Leipziger Reichsgerichtsentscheidungen gedruckt vorliegen, ist fteilich unbestreitbare Thatsache.
Aber ist damit die Frage schon end
gültig entschieden, ob daS Reichsgericht in Wahrheit in Leipzig residirt? Wer heute fremd nach Leipzig kommt und die Sehnsucht empfindet, das
deutsche Reichsgericht von Angesicht zu Angesicht zu schauen, wird
4*
einige entmutigende Ueberraschungen erfahren.
Man sollte glauben, in
einer Stadt von etwa 150,000 Einwohner müsse der Sitz einer an äußerem
Umfang und hervorragender Würde so bedeutenden Körperschaft denn doch nicht allzuschwer zu ermitteln sein.
Das Adreßbuch belehrt uns, daß wir
es unter drei Straßennummern suchen können: Brühl 42, Ritterstraße 15, Goethestraße 8.
Das klingt recht tröstlich, die Goethestraße und den
Augustusplatz kennt ja jedes Kind in Leipzig, dieser letzten Straßennummer zuzusteuern kann unmöglich mißlingen. was
Schnell genug stehen wir vor dem,
die städtische Topographie Goethestraße Nr. 8 nennt.
Hinter uns
der Schwanenteich und das neue Theater, vor und ein kolossaler, schmutzig
gelber, häßlicher Gebäudeklotz mit einer Unzahl von Thüren und Fenstern.
Keine Aufschrift, kein Enblem deutet dem Fremden an, daß an dieser Stelle eine der größten Reichsinstitutionen deutscher Nation zu Hause ist.
Da indessen alle Wege nach Rom führen, so wird doch wohl auch eine
der vielen Thüren uns den Eingang in's Reichsgericht verschaffen.
Wir
denken, introite, nam et hie Dii sunt, und versuchen es getrost erst mit
einer, dann mit einer zweiten und dritten, schließlich der Reihe nach mit fünf oder sechs an der Gocthestraße 8 vorhandenen Eingangspforten — vergeblich!
Entweder treffen wir auf außerordentlich diebesfest verschlossene
Thüren, und ein Blick durch die Glasfenster belehrt uns, daß wir un8
vor irgend einem Speichereingang befinden, oder, was noch schlimmer ist, eS wird uns mit dem bekannten Donnerworte aufgethan „die Ihr suchet"
trägt zwar nicht den Schleier, wohnt aber hier keinesfalls.
Während wir
rathloS noch einmal das unheimliche Gebäude von der Straße aus über schauen, kommt ein höflicher Sachse
unserer Verlegenheit zu Hülfe und
versichert uns, wir seien trotzdem an der richtigen Stelle, wir sollten nur die Goethestraße in Rühe lassen, und von dem an der Ritterstraße bele
genen Flügel aus eintreten; dort, Nr. 15, wohne, wie er bestimmt wisse, auch Excellenz Simson, der unter allen guten Leipzigern ebenso bekannte,
wie beliebte Präsident des Reichsgerichts.
dem freundlichen Wegweiser.
Frischen Muthes folgen wir
Zwar ist zunächst der äußere Eindruck dieser
neuen Seite des Reichsgerichts von der Ritterstraße aus um kein Haar bester, als es der von der Goethe-Seite aus war; dieselbe trostlos leere Fatzade, dieselbe verwirrende Menge bald verschlossener, bald mit „Eich-
Amt" und dergleichen befremdlichen Schildern versehener, ganz gleichartiger
Ladenthüren.
Aber die eine derselben besitzt einen Klingelzug und das
Läuten dieses gastfreundlichen Instruments führt uns glücklich in die Hände eines Portiers, der wirklich zum Reichsgericht gehört. wir unserem Ziele noch immer nicht näher.
Nur leider sind
Denn hier ist lediglich der
Eingang zur Wohnung des Herrn Präsidenten, und, um zum Reichsgericht
zu gelangen, unterweist uns der sorgliche Thürhüter, müßten wir, um daS Gebäude herum, vom Brühl aus einzudringen versuchen.
Dankbar treten
wir die Wanderschaft von Neuem an, gelangen auch richtig auf den Brühl,
genießen zum dritten Male die uns jetzt schon hinreichend bekannte immer gleiche Front deS Gebäudeviereckö, absolut nicht ansehnlicher, vielleicht noch etwas schäbiger, als die beiden früher durchforschten; wiederum die gleiche Symmetrie zahlloser Ladenthüren mit Glasfenstern, darunter einige zweifel
lose Eingänge in Kramläden, Weinstuben u. bergt, und wiederum die
eine, nur durch einen Klingelzug ausgezeichnete Thür, welche dem energisch vorwärts dringenden Manne nunmehr endlich den Zutritt zum eigentlichen
Portier des Reichsgerichts und zu den heiligen Hallen dieses erlauchten,
nur leider so geheimnißvoll waltenden Gerichtshofes eröffnet.
Hast Du,
wißbegieriger Fremder, aber gar das Unglück, zur Meßzeit Deine Ent deckungsfahrt zu schlimmer.
unternehmen, dann sind die Aspekten noch viel, viel
Dann ist das ganze Gebäude bergehoch umthürmt von übel
duftenden Häuten,
der ganze Unterstock ist ein ungeheures Ledergeschäft,
und eS wird Dir ohne Hülfe eingeweihter, kundiger Führer schwerlich ge
lingen, durch daS betäubende Getös all dieser aufgeregten Fellhändler und
den nicht weniger betäubenden Gestank ihrer Waare zu den Lords-Ober-
richtern Deutschlands zu
gelangen. — Im Innern des Baus sieht eS
einigermaßen erträglich aus.
Es sind wirklich vier leidliche Sitzungssäle
vorhanden, in welche sich die, einschließlich der beiden HülfS-Senate, zehn fungirenden Senate des Reichsgerichts ohne erhebliche gegenseitige Besitz
störungen friedfertig einreihen können, es fehlt auch sonst nicht an einer
erklecklichen Zahl von Stuben für die Präsidenten, Reichsanwälte, Biblio thek,
Bureaux rc., kurz die Art dieses inneren Hauses bleibt immerhin
nichts weniger als stattlich, verletzt aber doch nicht gradezu durch Würde
losigkeit.
Die deutsche Justiz ist in diesem Punkte nicht verwöhnt, Justiz
paläste gehören bei uns der allerneusten Architekten-Aera an und so braucht über die Schlichtheit, Bescheidenheit, Dürftigkeit auch dieser reichsgericht
lichen inneren Daseinsformen werden.
keine übermäßig
laute Klage erhoben zu
Das Aeußere freilich ist und bleibt abscheulich.
Nun kann gewiß Niemandem ein Borwurf daraus gemacht werden, daß in der kurzen Frist von 2'/t Jahren, die
zwischen der legislativen
Entscheidung für Leipzig und dem Beginn der amtlichen Thätigkeit deS Reichsgerichts dazwischen lagen, nicht ein monumentales Debäude aufge
führt worden ist.
Das wäre allenfalls angängig gewesen, wenn es sich
um die Errichtung eines PalaiS für Post-, Eisenbahn- oder militärische Zwecke gehandelt hätte.
Man konnte also vorläufig damit zufrieden sein,
daß sich in guter Stadtgegend irgend ein geräumiges Kaufmannshaus auf-
treiben ließ, dessen Unterstock man dem Handel und Wandel überlassen
und dessen obere Etagen man miethweise für die Gerichtszwecke erwerben konnte.
Mit diesem prekären Miethsbesitz zweier oberer Etagen mochte eS
denn wohl auch zusammenhängen, daß man Anstand nahm, durch Auf
schrift, Reichsadler oder sonstiges Zeichen der Gerichtshoheit die neue Re sidenz dem Auge kenntlich zu machen.
Neben den übrigen am Gebäude
haftengebliebenen Firmenschildern würde daS Schild des deutschen Reichs gerichts kaum zu einer anständigen Geltung gelangt sein.
auch hierüber nicht weiter rechten.
So wollen wir
Aber inzwischen sind seit dem 1. Oc
tober 1879 wiederum über 17, Jahre ins Land gegangen, und noch immer ist nicht einmal der Anfang deS Endes in diesem lokalen Provisorium ab
Bon Zeit zu Zeit erlaubt sich in der Leipziger Tagespresse irgend
zusehen.
ein müßiger Reporter eine Notiz, wonach dieser
oder jener Platz von
diesem oder jenem offiziellen Architekten als ausgezeichnet geeignet für den
Neubau bezeichnet worden sei,
— der Rest ist Schweigen.
Daß der
Neichsetat für 1881 keinen Pfennig für reichsgerichtliche Bauzwecke auS-
wirft, daß wegen Erwerbs eines Bauplatzes, Entwerfung eines Bauplans, Veranschlagung der Baukosten mindestens außerhalb der in der Kanzlei deS Reichsjustizamts verborgenen Vorgänge amtlich noch gar nichts fest» Daß daS deutsche Reichs
steht, muß als Thatsache hingenommen werden.
gericht nicht für alle Zeit dazu verurtheilt sein kann, anonymer MiethSbewohner der St. Georgs-Halle Brühl Nr. 42 zu bleiben, erscheint ebenso
Die Frage steht also noch offen:
wird überhaupt in Leipzig
der ZukunftSbau das Licht der Welt erblicken?
Oder deutlicher gesprochen:
zweifellos.
wird überhaupt das Reichsgericht endgültig in Leipzig verbleiben, oder
nicht?
DaS ist das eigentliche to be or not to be, das hinter dem ar
chitektonischen Probleme steckt.
ES wird erlaubt sein, die Vermuthung auszusprechen, daß die ReichSregierung selbst die Frage alS eine noch offene ansieht, daß man in Berlin
noch zu keinem bestimmten Entschlusse gelangt ist und einstweilen weitere Erfahrungen abgewartet werden sollen.
Die bisherigen Erfahrungen, so
scheint eS, haben noch nicht dazu beigetragen, die alten Gegner des Leip
ziger Domizils zu versöhnen, dem bestehenden Zustande neue Freunde zu
gewinnen, die mit der leidigen Angelegenheit verknüpften, politischen, ju
ristischen, persönlichen Gegensätze auszugleichen.
WaS sich darüber nach
den flüchtigen Eindrücken eines Uneingeweihten sagen läßt, was darüber in Leipzig und anderwärts unter Betheiligten und Unbeteiligten hin und
her geredet wird, möchte auf folgendes hinauslaufen.
Die Politiker, die ja immer das erste Wort haben müssen, betonen nachdrücklich, wie es schon jetzt für den Blindesten erkennbar sei, daß der
verhängnißvolle Fehler, in diesem unfertigen, zwiespältigen Reich eine der fundamentalsten Reichsinstitutionen willkürlich von der Mitte weg in eine beliebige Provinzialstadt zu verlegen, nur schädlich wirke.
Jeder Tag er
bringe neue Beweise für das Anwachsen, die Verstärkung der centrifugalen DaS Reichsgericht in Leipzig, statt dem ein
Kräfte deutscher Nation.
Gegengewicht zu bieten, trage nur dazu bei, dem ParticularismuS Nahrung
zuzuführen.
Das Reichsgericht habe die Erbschaft der, bis auf Bayern,
überall von ihm verdrängten obersten Landesgerichtshöfe angetreten; man
hätte hoffen dürfen, daß kraft dieser Universalsuccession im Reichsgericht der trotz alledem doch legitime Gedanke einheitlicher Justizhoheit von Kaiser
und Reich Fleisch und Blut gewinnen müsse.
Leider Gottes sei das Reichs
gericht in seiner Zuständigkeit so organisirt, daß es, ohne Imperium, ohne alle Prärogative
einer aktuellen
Justizaufsicht
nur als Spruchbehörde,
etwa wie eine Juristenfakultät oder ein Schöffenstuhl, auf die Abgabe von Sentenzen beschränkt sei.
Da fehle jede Möglichkeit unmittelbarer Ein
wirkung aus Geschäftsgang,
Gerichtsordnung,
Geist und Charakter der
deutschen Landesgerichte, jeder Schatten eines greifbaren Subordinations verhältnisses, jede wirksame Autorität der obersten Instanz über die unteren. Das beschauliche Dasein an der Pleisse verleite daS Reichsgericht immer
bedenklicher, sich in die Vorstellung einzuspinnen, als sei sein erhabener
Beruf darin erschöpft, täglich so und so viel responsa prudentium feier lich zu verkündigen, in allem Uebrigen aber die deutsche Justiz gehen zu
lassen, wie es Gott gefällt.
Die Folge davon liege auf der Hand: zunächst
sei trotz gleichartiger Gerichtsverfassung der organische Zusammenhang im deutschen Gerichtswesen nur weiter zersplittert und zerfahren, der StaatS-
gedanke darin nicht gestärkt sondern geschwächt, und die Neigung, einen ganz ungebührlichen SouveränetätSdünkel
in sich groß zu ziehen, unter
deutschen Amtsrichtern, Landrichtern, Oberlandesrichtern deutlich genug in der Entwicklung.
Eine kühle, ironische, von viel kritischen Vorbehalten
begleitete conventionelle Hochachtung
sei die vorherrschende Empfindung,
die man für daS Leipziger Reichsgericht und seine Rechtsprüche übrig
Alles dies, so meint man, hätte nicht geschehen, hätte mindestens
habe.
so schnell, so ausgeprägt nicht emporschießen können, wäre das deutsche
Reichsgericht geblieben, wohin es gehört, in Berlin, am Sitze der ReichSregierung, unmittelbar getragen von dem Ansehen Kaiserlichen Regiments,
in stetiger Berührung
mit den übrigen höchsten Gewalten der Reichs
justiz!
Eine mehr gemüthvolle, als klar verständige Sinnesart, die grade
unter den Juristen stark vertreten gewesen, hat vordem viel Wesens davon
gemacht, wieviel günstiger in Leipzig die Aussichten für menschliches Zu-
sammenleben, korporatives Zusammenwachsen der disparaten Elemente des Reichsgerichts gelegen seien, als in der Weltstadt Berlin.
Kann davon
die Rede sein, daß wenigstens diese Erwartung ihrer Erfüllung gewiß ist? Der äußere Anschein der Dinge und das Urtheil nüchterner Beobachter
sprechen vorläufig mit aller Entschiedenheit dagegen.
Dazu ist denn doch
Leipzig wieder nicht klein genug, um etwa schon durch die Enge des Beiein
anderwohnens die Menschen persönlich einander besonders zu nähern.
Auch
ist der Körper deS Reichsgerichts von vorn herein viel zu groß, zu viel
gestaltig angelegt, um unter irgend welchen, noch so günstig gedachten ört lichen Verhältnissen eine derartige organische Einheit überhaupt zu ermög lichen.
Thatsächlich wohnen die Mitglieder des Reichsgerichts in Leipzig
erst recht nach allen Windrichtungen der weitläufigen Vorstädte in West und Ost, Nord und Süd zerstreut, den Kilometern, wie den städtischen KommunikationSverhältnifsen nach durchschnittlich weiter von einander ge trennt, als dies im Berliner Geheimrathsviertel je hätte der Fall sein
können.
Allgemeine Vereinigungspunkte fehlen so gut, wie ganz.
Jeder
Senat bildet amtlich, wie gesellschaftlich eine selbstständige Genossenschaft
für sich, hört und sieht der Regel nach von den anderen Senaten gar-
nichtS.
Daß ein paar Collegen desselben Gerichtshofs zehn Jahre neben
einander dahin leben, ohne von einander mehr, als ihre Namen, zu kennen,
ist in Leipzig vollkommen ebenso natürlich, wie in einer anderen großen
Stadt.
Die wenigen dürftigen Fäden und kahlen Formen breiterer Ge
selligkeit, die durch zufällige persönliche Beziehungen oder offizielle Ver anlassungen getragen, daneben das Ganze schwächlich durchziehen, bedeuten
Und um Nichts besser steht das Reichsgericht
schlechterdings garnichts. zur Bevölkerung Leipzigs.
An Entgegenkommen und gutem Willen hat
eö sicherlich von beiden Seiten nicht gefehlt.
Wenn trotzdem das ganze
Corps des Reichsgerichts von der großen Mehrzahl der Leipziger noch
heute angesehen wird, wie eine Kolonie eiugewanderter Fremdlinge von absonderlicher Distinktion, und wenn diese Körperschaft sich selbst s.o em
pfindet als ein ftemdartiges Element der Stadt, durch Schicksalsfügungen hierher verschlagen, daö Land der Heimath mit der Seele suchend, so be
weist das eben nur, daß die Verhältnisse großstädtischen Lebens mächtiger
find, als alles gemüthliche Wünschen und Wollen.
Nur in einem wichtigen
Punkte zeigt sich Leipzig nicht groß und mächtig genug für das Reichs gericht.
Eine Weltstadt, wie London, Paris, Wien, Berlin prägt Allem,
was auch nur einige Zeit in ihre Kreise gezogen ist, ihren, nur ihr eigen thümlichen, gleichartigen Stempel auf.
Der Eingeborene mag die Signatur
in schärferen Zügen an sich tragen, auch der Eingewanderte wird sich ihr nicht lange
entziehen.
In diesen
ungeheuren Brennpunkten
moderner
wird allem Besonderen die individuelle Farbe mehr
Civilisation
weniger aufgezehrt, und
allem gleichmäßigere Färbung gegeben.
oder Die
Menschen kennen sich hier vielleicht weniger, aber sie verstehen sich schneller, intuitiver untereinander, als in Städten mittlerer Größe.
Solche unbe
wußte, elementare Einwirkung vermag Leipzig auf seine Bestandtheile nicht Leipzig hat kein geschichtlich fest gewordenes Gefüge, keine ge
auszuüben.
schlossene Eigenart seines Wesens.
ES steckt ein gewisser universeller, man
könnte sagen, kosmopolitischer Grundzug in der Stadt, der eS Jedem ge stattet, nach seiner Fayon nicht allein im Himmel, sondern schon auf Erden selig
zu werden.
Staaten und
Hier können
alle Partikularitäten deutscher
Stämme, die zum Reichsgericht vereinigt worden sind,
fröhlich fortgedeihen, und sie thun es nach Kräften.
Jeder konfervirt nach
Möglichkeit alte heimathliche Gewohnheit in der äußeren Lebensführung, wie
in Geist
und Gesinnung; trinkt thunlichst den gleichen Schoppen
säuerlichen Weines, ißt sein Mittags- und Abendbrod zur gleichen Tages
stunde, liest die gleiche Zeitung, die ihm am Neckar oder an der Isar, am Rhein oder Main lieb geworden find.
Die landsmannschaftlichen Zu
sammenhänge erhalten sich, gut Würtembergischer, Bayerischer, Sächsischer, Preußischer Patriotismus findet im Zusammenkliquen der engeren Bater-
landsgenossen seine fortdauernde Kräftigung, und unitarisch bleibt nur der stille gemeinsame Groll im Herzen gegen das Verhängniß der Leipziger Residenz.
sein.
So ist es heute, so könnte eS in hundert Jahren auch noch
Stoff genug ist für solche Buntscheckigkeit in Deutschland noch für
unabsehbare Zeit vorhanden, und Leipzig wird niemals den Schmelztiegel
abgeben, der solches Gemenge zu einem einheitlichen Guß zusammen ar
beitet. — Ist das nun wirklich der Boden und die Lust, sind das die ge
sunden, die vernünftigen Lebensbedingungen für die naturgemäße Ent wickelung unserer ohnehin so spärlichen Reichsinstitutionen?
Heißt das
nicht, sie vor der Zeit der Reife zur Verkümmerung verurtheilen?
Diese
Zweifel wollen nicht verstummen, wollen sich auch nicht zur Ruhe bringen
lassen durch die Gegenrede, das Alles sei von keinem Belang, und werde
mehr, als genügend, ausgewogen durch die ganz evidente größere Unab hängigkeit, deren sich das Reichsgericht grade in Leipzig erfreue.
Denn
die gegen Leipzig nun einmal flepttschen Gemüther weisen darauf hin, daß
Titel und Orden, wie die verflossenen anderthalb Jahre gezeigt, ihren
Weg recht beqnem auch hierher zu finden wissen, daß, wenn man derartige, durch
daö Weihwasser
der Höfe vermittelten Beeinflussungen fürchten
wolle, es denn doch gradezu komisch sei, die vier Stunden Eisenbahnent
fernung von Berlin nach Leipzig als besonderes Erschwerniß der Ansteckung anzusehen.
Richterliche Unabhängigkeit, so meinen Leipzigs Widersacher,
sei überall kein unmittelbar zu greifendes und zu erzwingendes Ding und
jedenfalls kein Gewächs dieses oder jerzes Orts.
EineStheils wurzele sie
allerdings in gewissen äußeren Garantien, welche das deutsche Gerichts-
verfassungSgesetz reichlich vorgesehen habe, und welche an jedem Ort genau die gleichen seien.
Anderentheils bleibe es
immer eine rein
ethische
Qualität, eine Charaktereigenschaft deS inneren Menschen, das langsam heranreifende Ergebniß individueller Lebensentwickelung.
In den Lebens
jahren, in denen durchschnittlich deutsche Richter zur purpurnen Robe ge langen, ist in der Regel die Charakterentwickelung längst abgeschlossen. Wer sich wahrhafte Unabhängigkeit deS Urtheils, der Gesinnung, deS
Denkens und Wollens zu erwerben gewußt hat, wird den mühsam ge wonnenen Schatz allerwärts zu wahren wissen.
Wem das nicht gelungen
ist, bleibt derselbe kümmerliche Geselle in Leipzig, wie in Berlin: die Ver
suchungen von Menschengunst und Ungunst werden ihn überall aufzufinden
wissen, und überall wird er sich als ein schwaches, bestimmbares Menschen
geschöpf erweisen. Dieses Für und Wider der Meinungen ließe sich noch ein Unendliches
Wer soll innerhalb solcher, schlechterdings nicht nach irgend
fortsetzen.
welchen Grundsätzen der Logik zu entscheidenden Gegensätze schließlich be stimmen, was hier Einbildung, waS Wahrheit ist?
Schlimm genug, daß
überhaupt ein derartig unausgetragener Gegensatz noch besteht, daß er fortgesetzt fortwuchert, und die endgültige Lösung noch nicht abzusehen ist. Unter der fortdauernden Unsicherheit leiden die Menschen, wie die Sachen; jede äußere, jede innere Consolidation wird zur Unmöglichkeit.
Wie wäre
eS, wenn man dem Reichsgericht selbst die Alternative stellte: Leipzig oder Berlin, und einen Plenarbeschluß, oder, sagen wir zur Schonung aller constitutionellen Bedenklichkeiten vorsichtiger, eine gutachtliche Aeußerung des
Plenums dieser höchstbetheiligten Körperschaft zur Grundlage weiterer Ent
schließungen machte?
Oder traut man dem Reichsgericht keine genügende
Unbefangenheit zu, in eigener Sache darüber ein wohlerwogenes, autori
tatives Urtheil abzugeben, was dem Reichsgericht Noth thut, was die
Interessen der Nation, was die heiligen Interessen der deutschen Justiz erheischen?
Freilich würde es auch hier
ohne einen kritischen Moment
höchst erregter Gährung zwiespältiger Meinungen nicht abgehen, und ein schwaches Majoritätsvotum bliebe immer in solcher Angelegenheit ein be
deutungsloses Ergebniß.
Aber ein nahezu einmüthiger Spruch in dem
einen oder anderen Sinne wäre ebensowenig ausgeschlossen, und ein der
artiger Ausspruch, sollte man glauben, müßte auf allen Seiten Beachtung
finden.
Es käme eben auf die Probe an.
Doch ich will den Vorschlag
zur Güte, hinter dem man um Gottes Willen keine teuflischen Hinterge-
danken wittern mag, nicht weiter verfolgen, und ihn als einen willkürlichen
Einfall dahin gestellt sein lassen.
Viel wichtiger erscheint eS mir, daß dem
jetzigen unleidlichen Provisorium in irgend einer Weise ein baldiges Ende bereitet wird, daß der gegenwärtige fatale Zustand nicht einrostet, daß
man sich entschließt, einen Entschluß zu fassen.
Ohne budgetmäßige Mit
wirkung deS Reichstags ist in der Baufrage nun einmal nicht vorwärts
zu kommen, kann weher ein Bauplatz erworben, noch ein Bauplan in An
griff genommen werden. gesprochen werden.
Bei diesem Punkte muß das entscheidende Wort
Man kann eS voMommen verstehen und billigen, daß
die Reichsregierung Anstand genommen hat, den jetzigen Reichstag auch
noch mit dieser Frage zu belasten.
Dazu gehört allerdings eine etwas
frischere Farbe der Entschließung, als sie dem heurigen, in voller Fraktions zersetzung dahin wesenden Reichsparlamentarismus beiwohnt.
Aber der
nächste Reichstag, er sei nun, wie er sei, sollte durchaus vor die Entschei
dung gestellt werden, ob es bei dem Reichsgericht in Leipzig sein Bewenden behalten und ihm hier baldthunlichst ein würdiges Dasein bereitet werden
soll, oder ob man dafür hält, eS sei die höchste Zeit, einen falschen Schritt zurückzuthun, das Andenken des Berliner Obertribunals sei nunmehr zur
Genüge gesühnt, und man solle dem Kaiser wiedergeben, was deS Kai sers ist!
Die Tiefseeforschung der Neuzeit. Von
Dr. M. Alsberg.
Da unten aber ist's fürchterlich Und der Mensch versuche die Götter nicht Und begehre nimmer und nimmer zu schauen, Was sie gnädig bedecken mit Nacht und mit Grauen. Schiller.
Wenn das Menschengeschlecht die Maxime, die in den obigen Worten enthalten ist, stets befolgt hätte, so würde uns mancher interessante Ein
blick in die geheimnißvolle Werkstätte der Natur entgangen sein.
licherweise ist dem nicht so.
Glück
Die Wissenschaft, welche die fernsten Fix
sterne und Weltennebel mit dem Fernrohr und Spektroskop prüft, welche die Erdveste mit Allem, was darauf lebt,
tungen zieht,
in den Kreis ihrer Betrach
hat sich neuerdings mit besonderer Vorliebe dem flüssigen
Theil unseres Planeten, jenen oceanischen Abgründen zugewendet, die vor nicht allzulanger Zeit für völlig unzugänglich galten und demgemäß von
der Phantasie mit den wunderbarsten Gebilden bevölkert wurden.
Wäh
rend wir sonst im Allgemeinen die Beobachtung machen, daß die wissen
schaftliche Thätigkeit
dem praktischen Leben zu Gute kommt, so ist hier
insofern der umgekehrte graphenkabel,
Fall
deren Legen
eingetreten,
als die unterseeischen Tele
eine genauere Kenntniß von der Tiefe der
Oceane, von den Hebungen und Senkungen des Meeresbodens erfor derte, vor Allem zu den submarinen
Forschungen
Anregung
gegeben
haben. — Während im Gebiete der eigentlichen Meeresphysik die neue Welt der alten den Rang abgelaufen hat, während bereits in den fünf ziger Jahren dieses Jahrhunderts der hochverdiente Amerikaner Maury
Seewarten und
Wetterstationen errichtete, die durch den
Telegraphen
mit einander verbunden das Herannahen der Stürme signalisirten, wäh
rend er durch Sammeln und Vergleichen der Logbücher von fast 200,000 Seefahrern einen festen Codex für die Schiffahrt niederlegte, so sehen
wir im Gebiete der Tiefseeforschung Engländer, Amerikaner, Deutsche, Schweden und Norweger in einem friedlichen Wettstreit begriffen,
der
bereits hochwichtige Resultate zu Tage gefördert hat und noch über viele dunkle Punkte Aufklärung
Oceane,
die
Meeresbodens, ferner mische Beschaffenheit
Ueber die Tiefe der
zu schaffen verspricht.
Bodenbeschaffenheit,
die
Hebungen
und Senkungen des
über Temperatur, Schwere, Salzgehalt und che
deS MeerwasserS in
verschiedenen Niveaus
deS
OceanS und in verschiedenen Klimaten, über die Strömungen, welche die Vertheilung deS MeerwasserS reguliren, Aufschlüsse zu erhalten, die organischen Wesen, welche die submarinen Abgründe bevölkern und von
denen wir bis vor Kurzem nur eine höchst oberflächliche Kenntniß be saßen, genauer kennen zu lernen — das sind, um eS mit wenigen Worten
zu sagen, die Aufgaben, welche dieser Zweig der naturwissenschaftlichen
Forschung sich gestellt hat. DaS eigentliche Aufblühen der Tiefseestudien datirt vom Ende der
sechziger Jahre, wo die zum Zwecke der Durchforschung der Meere aus gerüsteten Expeditionen sich fast Jahr für Jahr wiederholten.
allerdings schon
Man hat
auf früheren Reisen, insbesondere soweit die Meeres
fauna hier in Betracht kommt, einzelne interessante Funde gemacht.
So
brachte John Roß bei Aufsuchung der westlichen Durchfahrt (1818) im nördlichen Polarmeer eine Anzahl von bis dahin unbekannten Seewürmern
und das interessante Medusenhaupt (Euryale)
aus 1600 bis 2000 M.
mit dem Schleppnetz ans Tageslicht empor, so fand James Roß
auf
seiner Forschungsreise im südlichen Eismeer (1841) auch dort eine reiche Tiefseefauna und darunter einen großm Asselkrebs (Arcturus Baffinii),
von dem man bis dahin glaubte, daß er ausschließlich dem hohen Norden angehöre — ein Factum, das zusammen mit
der schon damals be
kannten Thatsache, daß auch in tropischen Meeren das Wasser in großen Tiefen stets eine niedrige Temperatur beibehalte,
auf eine Verbindung
zwischen der arktischen und antarktischen Meeresfauna hinzudeuten schien.
Den bedeutenderen englischen Expeditionen gingen im Jahre 1857 die Lothungen des Capitän Dahman, im Jahre 1860 die des Dr. Wallich
voraus, von denen ersterer in dem KriegSdampfer „Cyklop" zum Zwecke der Kabellegung zwischen der alten und der neuen Welt die LothungS-
linie zwischen Irland und Neufundland, letzterer in dem „Bulldog" daS
Meer zwischen Island, Grönland und Neufundland untersuchte.
Hierauf
folgten in 1868 die Untersuchungen, welche Gwyn Jeffreys in seiner
Dacht „OSprey" in der Nähe der Hebriden, diejenigen, welche Wyville Thomson und Carpenter In dem Schiffe „Lightning" zwischen dem Butt
of Lewis und den Faer-Oer, sowie diejenigen, welche dieselben Forscher
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
62
darauffolgenden Jahren an Bord deS „Porkupine" Vornahmen,
in den
bei welcher Gelegenheit der Ocean westlich und südlich
von
Irland,
längs der Küste von Portugal und das Mittelmeer bis Malta hin durch
forscht wurde.
Ihren Gipfelpunkt erreichte die englische submarine For
während Lücken
schung in der epochemachenden Reise deS „Challenger,"
in den bisherigen Untersuchungen durch die Lothungen der „Sheerwater",
„BalorouS" und „Knight-Errant" ausgefüllt wurden. Thätigkeit reihen sich
An die englische
die Untersuchungen der Amerikaner würdig an.
Letztere durchforschten in der „TuScarora" den westlichen Theil des stillen Oceans, in den Schiffen „Corvin" und „Bibb" die Küsten von Neu england, die Floridastraße und den zwischen dem amerikanischen Festland,
Cuba und den Bahamas gelegenen Theil des atlantischen Meeres, später in dem „Haßler" das südwärts bis Barbados sich erstreckende nach dem
Grafen PourtalsS benannte submarine Plateau, in der „Blake"
den mexikanischen
ferner im Jahre 1878
Golf und die Mississippimündung.
Zum Theil ergänzt, zum Theil bestätigt, wurde die Arbeit englischer und
amerikanischer
Forscher
durch
die
Untersuchungen
„Gazelle",
unserer
welche im südwestlichen Theile deS stillen Oceans, östlich von Australien,
zwischen Australien und Neuseeland, sowie im südlichen Theile des atlan tischen MeereS ausgedehnte Lothungen vornahm, die Untersuchungen, welche die
Commission
während
andererseits
für Erforschung Deutscher
Meere in dem Aviso „Pommerania" (1871 und 1872) in der Nord-
und Ostsee ausführte, sich durch große Exaktheit auszeichneten.
bereits
erwähnten Tiefseeforschungen kommen
Zu den
endlich noch jene, welche
der Norweger F. Mohn im nördlichen Theile deS atlantischen Oceans und
tat arktischen Meeresbecken vornahm, sowie diejenigen, welche von schwe discher Sette ebenfalls in den hochnordischen Meeren auSgeführt wurden.
Die wichtigste unter den aufgezählten Expeditionen ist zweifelsohne die bereits
erwähnte Forschungsreise deS
„Challenger",
welche
durch fast
3'4 Jahre ununterbrochen fortgesetzt, mit Ausnahme deS nördlichen PolarmeereS sich über alle Oceane der Welt erstreckte, die in die entlegensten Winkel unseres Erdballes eindrang und ein Material lieferte, das trotz
angestrengter Arbeit bis zum heutigen Tage noch nicht völlig gesichtet und
bearbeitet worden ist.
Um dem Leser einen Begriff zu geben von der
großartigen Thätigkeit, welche Ausrüstung schildern.
diese Expedition entfaltete, will
ich die
und die Reiseroute deS Schiffes hier mit einigen Worten
Der „Challenger"
war durch die Muntficenz der englischen
Regierung mit allen nur denkbaren wiffenschaftlichen und technischen Hülfs mitteln versehen.
Ein chemisches und
ein
zoologisches
Laboratorium,
besondere Kartenztmmer, um Durchschnitte und Pläne der Meerestiefen
photographische Apparate, um alle interessanteren Objekte
zu zeichnen,
vervielfältigen zu können, sowie alle jene Apparate, deren ich im Nach
folgenden Erwähnung thue, waren im reichsten Maaße vorhanden.
Der
„Challenger" hatte eine Reihe der namhaftesten Gelehrten an Bord, so vor Allem den bereits erwähttten Professor Whville Thomson, den wissen
schaftlichen Leiter des Unternehmens, den Geologen Murrah, den Che miker Buchanan, den Zoologen Moseley und unseren LandSmann Dr.
von WtllemoeS-Suhm, der von einer tückischen Krankheit in der Blüthe
der Jahre dahtngerafft nicht weit von den Sandwichinseln in jenem Ocean, den zu erforschen er rastlos bestrebt war, ein nasses Grab fand.
Das Schiff, welches am 23. Dezember 1872 den Hafen von Sherneß
verließ, wandte sich zunächst der Küste von Portugal, der Straße von
Gibraltar und dem lieblichen Madeira zu, steuerte sodann unter fort währendem Lothen und „Dredgen" (d. h. mit Anwendung des Schlepp
netzes), die beiden Tiefseebecken und den dazwischen befindlichen unter seeischen Bergrücken
des atlantischen OceanS quer durchschneidend nach
St. Thomas, von dort nach den Bermudas,
Halifax.
nach Sandy Point
und
Bon dort wurde die Reise zurück nach den Bermudas, nach
den Azoren und den Cap-Berde-Jnseln, dann südwärts entlang der afti-
kanischen Westküste bis Cap Mesurado fortgesetzt.
Abermals wurde dann
der atlantische Ocean durchschnitten, der St. Pauls Fels und Fernando Norontha besucht und an der brasilianischen Küste ausgedehnte Lothungen
vorgenommen.
Nachdem die Insel Tristan d'Acunha und die Jnaccessible
Islands angelaufen waren, und der atlantische Ocean zum vierten Male durchkreuzt war, wurde gegen Ende 1873 das Cap der guten Hoffnung
erreicht,, woselbst nothwendige Reparaturen einen mehrwöchentlichen Aufent halt zuerst in der Simons-, dann in der Tafelbay nothwendig machten. Die während des ersten Jahres der Challengerreise gewonnenen Resul tate liegen uns in dem von Wyvtlle Thomson herausgegebenen Werke:
Voyage of the Challenger: The Atlantic, in vollständigem Zusammen
hänge vor, während die auf der folgenden Reiseroute gemachten Beobach tungen erst bruchstückweise veröffentlicht sind.
Vom Cap der guten Hoff
nung setzte das Schiff seine Reise fort nach den im südlichen indischen Ocean gelegenen Marionö-Prince Edwards- und Crozetinseln, von dort nach der Kerguelengruppe und der MacdonaldSinsel/
In 78° östlicher
Länge von Greenwich wurde der Polarkreis überschritten, aber kein Land
angetroffen.
(Die Existenz des Landes, welches der Amerikaner WtlkeS
hier entdeckt haben will, welches nach ihm WilkeSland benannt wurde und
auf allen Karten des SüdpolarmeereS angegeben ist,
erscheint nach
der
Expedition des Kapitän Roß und den Beobachtungen des „Challenger"
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
64
als höchst unwahrscheinlich.)
Da Packeis in 65° 42' S. Br. und 79°
49' O. L. dem weiteren Vordringen große Schwierigkeiten entgegmstcllte, wandte sich das Schiff, einem furchtbaren Sturme und der gefährlichen
Nachbarschaft der Eisberge nur mit Mühe entgehend, der Süffc SüdAustraliens. zu.
Hier wurde Melbourne und Sydney angelaufen, dann
ging eS nach Neuseeland, nach dem Fidschiarchipel,
den wenig besuchten
Kermadecinseln und Neuen Hebriden und von dort zur TorreSstrcße, der
Arafura-, CelebeS- und Minderorosee.
Nach
einem
Aufenthalt in Hongkong wurden die Philippinen,
Admiralitätsinseln besucht.
nesischen Jnselreich
und
sechSwöchmtlichen
Neu-Guinea unb die
Von dort wurde die Reise nach dem Japa-
über die ungeheure Tiefe östlich von der Küste
Japans nach den Sandwichinseln, von da südlich nach Tahiti, denn öst
lich nach Juan Fernandez und Valparaiso fortgesetzt.
Nachdem an der
Küste von Chile ausgedehnte Untersuchungen vorgenommen waren, wurde die Rückreise durch die MagelhaenSstraße zurück in den atlantischen Ocean
angetreten, die Falklandstnseln und Montevideo besucht, um von dort in
weitem 8-förmigen Bogen noch einmal die AtlantiS in der Richtmg von
Norden nach Süden zu durchschneiden, bei welcher Gelegenheit die Insel AScension, die Cap Verdeinseln und Vigo an der spanischen Kiste an gelaufen wurden.
Am 25. Mai 1876 traf der „Challenger" wuder Im
Hafen von Sheerneß ein, nachdem er im Ganzen die ungeheure Distanz
von 69,000 engt. Meilen — nahezu die dreifache Länge deS ErdäzuatorS — zurückgelegt und 96,000 Centner Kohlen verbraucht hatte.
Ehe ich nun dazu übergehe, die durch diese Expedition in Veründung
mit den zuvor erwähnten wissenschaftlichen Forschungsreisen gewmnenen Resultate — soweit dieselben bis jetzt mit Sicherheit festgestellt sind —
dem Leser klar zu legen, muß ich zuvor jener Apparate Erwähnurg thun,
vermittelst deren eS allein möglich war, innerhalb verhältnißmäßh kurzer Zeit diesen neuen Zweig der physischen Geographie zu begründen und
zugleich eine Lösung mannigfacher anderweitiger Probleme vorzuiereiten. Die in erster Linie zu beantwortende Frage war, wie bereits crwähnt, die von der Tiefe der Oceane, von den Hebungen und Senkunzen des
Meeresbodens
und handelte eS sich hier vor Allem darum gemue Lo
thungen zu erzielen.
Man hat allerdings schon vor langer Zet, noch
ehe die eigentliche Tiefseeforschung tnS Leben trat, durch Ausweisen des
Senkbleis — wie dies die Vorsicht dem Schiffer in der Nähe wn Un tiefen gebietet — sich über diese Verhältntsie Aufklärung zu schüfen ver
sucht; aber einerseits waren diese Lothungen nicht genügend an Zrhl und auch nicht
nach einem bestimmten System vorgenommen,
andrerseits
konnten die mit den früheren unvollkommenen Apparaten vorgencmmenen
Lothringen
auch
auf annähernde Genauigkeit keinen
Anspruch machen.
Der Moment, wo das mit Gewichten beschwerte Seil den Meeresboden berührt, konnte bei den Lothen,
wie sie früher zur Anwendung kamen,
in tieferen Oceanen niemals mit einiger Sicherheit festgestellt werden;
denn selbst wenn das Gewicht bereits auf dem Meeresgrunde angelangt
war, pflegte die Leine durch die Strömungen getrieben von der an Bord
deö Schiffes befindlichen Rolle sich noch eine Zeit lang abzuwickeln und so kam es, daß die mit den älteren Apparaten vorgenommenen Lothungen
meist zu große Resultate ergaben, daß — um nur ein Beispiel hier an zuführen — die Lothungen deS „Challenger" und der „Gazelle" im süd
lichen atlantischen Ocean übereinstimmend nur 4400—5300 M. ergeben
haben an Stellen,
wo Denham
und Parker in 1852 noch 14,000 bis
15,000 M., also nahezu die dreifache Tiefe gelothet hatten.
Der neuesten
Zeit war es, wie schon gesagt, Vorbehalten, diese Irrthümer durch ver besserte Apparate, welche genaue Lothungen
Das von dem
Amerikaner
ermöglichen, zu beseitigen.
Brooke konstruirte,
Ticfseeloth besteht aus einem metallenen Stab, wicht — entweder
angewandte
allgemein
der durch ein Metallge
ein chlinderförmigeS Eisenstück oder eine durchbohrte
Kanonenkugel — gesteckt wird.
Dieses Gewicht wird durch einen Metall
draht in seiner Lage gehalten, der wiederum an 2 federnden Haken, die
auS der Spitze deS Stabes hervorstehen, befestigt ist.
Solange das Loth
sich abwärts senkt, bleibt daS Gewicht mit dem Stabe verbunden; sobald
aber nun der Meeresboden erreicht ist, schnellen in Folge des erhaltenen StoßeS die beiden federnden Haken abwärts, der Draht gleitet ebenfalls
hinab und das Gewicht nicht länger gehalten, fällt auf den Meeresboden,
während der Stab, nachdem sich eine an seinem unteren Ende befindliche Aushöhlung mit Proben des Meeresbodens gefüllt hat, mit einem Rucke
emporschnellt.
Selbst wenn die Leine durch die oceanischen Strömungen
getrieben von der an Bord des Schiffes befindlichen Rolle sich noch eine
Zett lang abwickelt, so tritt doch in Folge der Entlastung des Lothes von
dem beschwerenden Gewichte eine so bedeutende Verlangsamung deS Ab rollens ein, daß schon hierdurch der Moment,
in welchem das Loth den
Meeresboden berührt, an Bord des Schiffes deutlich erkennbar wird und
man hat dann eben nichts weiter zu thun als die Leine wieder aufzu
rollen und ihre Länge zu messen, waS durch die von 50 zu 50 Meter in das Kabel etngesponnenen farbigen Fäden bedeutend erleichtert wird.
(Neuerdings benutzt Professor Thomson statt der Leine Clavierdraht, und wird die Länge, bis zu welcher derselbe sich von der Rolle abwickelt, durch die Umdrehung eines Zeigers auf einem Zifferblatte markirt.)
Auf
einem ähnlichen Prinzip, wie das Brooke'sche Tiefseeloth beruht daS deS Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLV11L Heft 1
5
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
66
Engländers Bailey, während der sinnreiche Apparat des Amerikaners Fitzgerald aus mehreren durch Charniere mit einander verbundenen Me-
tallstangen besteht, von denen eine mit einem Schöpskästchen — dazu be stimmt Proben deS Meeresbodens emporzubringen — und einer Einrich tung zur Selbstauslösung des Gewichtes versehen ist.
Eine für die Tief
seeforschung besonders wichtige Aufgabe war die Construktion von Ther mometern, welche den Forscher in den Stand setzen sollten, die Temperatur
deS Meerwassers in den verschiedenen Niveaus des Oceans ohne Schwie
rigkeit festzustellen.
Die gewöhnlichen Thermometer sind zu diesem Zwecke
unbrauchbar, da der gewaltige Druck der Wassermassen in den oceanischen Abgründen regelmäßig einen zu hohen Quecksilberstand bewirkt.
Diesem
Uebelstande haben Miller und Casella dadurch abgeholfen, daß sie die
Quecksilber-Kugel und -Röhre in eine zweite mit Weingeistdämpfen ge
füllte Röhre dermaßen einschmolzen,
dem
Drucke
äußeren
daß die Spannung dieser Dämpfe
Wafsermassen
der
entgegenwirkt.
Miller-
DaS
Casellasche Tiefseethermometer bietet außerdem den Vortheil, ein selbst-
registrirendeS Maximal-
und Mintmalthermometer zu sein,
d. h. die
niedrigste und höchste Temperatur deS MeerwasserS, durch die cS passirt, durch einen auf der Quecksilbersäule ruhenden Schwimmer zu verzeichnen.
Ein Apparat, der bei der Tiefseeexploration eine große Rolle spielt, ist
das bereits erwähnte Schleppnetz (dredge der Engländer und Amerikaner), eine Vorrichtung, welche der Däne O. F. Müller bereits um die Mitte
des vorigen Jahrhunderts
von den Austernfischern entlehnte.
Dieselbe
besteht aus einem 4 bis 6 Fuß langen eisernen Rahmen, an welchem ein aus starkem Tauwerk geflochtener Beutel befestigt ist. auf dem Meeresboden hin-
Der Sack wird
und hergeschleift und dient dazu größere
Thiere in sich aufzunehmen, während kleinere Mollusken u. bergt, mehr durch
am
die
Beutel
befindlichen
Quasten
aufgefischt werden.
DaS
Schleppnetz eignet sich übrigens nicht überall zur Grundfischerei; in flachen Meeren
kommen
Tteffischnetze von mannigfacher Gestalt und daS an
einem Stabkreuz befestigte Netz, welches die Korallenfischer mit Vorliebe benutzen und das den alten Phöniciern vermuthlich schon bekannt war, zur Anwendung.
Zum Emporschasfen von Wasserproben dienen Metallcylinder,
nach Capitain SigSbee, die durch Ventile verschließbar sind und die während
sie beim Htnabsinken offen stehen und das Meerwasser ungehindert hin durch passiren kaffen, sich, sobald daS Aufwinden der Leine beginnt, sofort
schließen und somit die Proben auS jeder beliebigen Tiefe ans Tageslicht empor befördern. — Ich kann hier nicht alle jene Apparate besprechen,
welche der Tiefseeforschung wichtige Dienste geleistet haben und will nur noch deS
„Accumulators"
gedenken.
Bis zur Anwendung dieser höchst
einfachen Vorrichtung konnte man die Lothungen und sonstigen Unter
suchungen nur bei völlig windstillem Wetter und spiegelglatter See vor
nehmen, weil der Wellenschlag deS Meeres, das Rollen des Schiffes von einer Seite auf die andere, Zerningen, bisweilen auch Zerreißungen der
Lothleine
hervorrief und die Thermometer und
fährdete.
Diesem Uebelstand hat man dadurch abgeholfen, daß man zwei
sonstigen Apparate ge
runde Holzscheiben vermittelst j60 bis 80 fingerdicken Guttaperchaschnüren mit einander verband.
Während das obere Ende des „AccumulatorS"
an einer SchiffSraae befestigt wird, ist am unteren Ende die Rolle an
gebracht, über welche die Leine vor ihrem Eintauchen in die Fluth hin läuft.
Der Accumulator, der in unbelastetem Zustande nur 3 brö 4 Fuß
lang ist,
dehnt sich bei einer Belastung von 50 Centnern bis zu einer
Länge von 20 Fuß und durch die Einschaltung dieser Vorrichtung, welche
die Schwankungen und Zerrungen der Lothleine bis zu gewissem Grade aufhebt, ist der Forscher in den Sland gesetzt auch bei einigermaßer be
wegter See seine Untersuchungen anzustellen. Soviel über die wichtigsten Apparate und Hülfsmittel der Tiefsee
forschung. — Fassen wir nun die gewonnenen Resultate ins Auge und zwar zunächst soweit dieselben daS organische Leben der MeereStiefe be
treffen, so muß ich von vornherein bemerken, daß schöpfende Darstellung
in
nicht angestrebt werden kann.
müssen,
eine irgendwie er
dem engbegrenzten Rahmen dieser Zeitschrift Wir werden unS vielmehr damit begnügen
hier nur einige der wichtigsten Thatsachen zu einem Gesammt-
bilde zusammenzufassen; insbesondere den wichtigen Einfluß, welchen das Studium der submarinen Welt auf den Fortschritt der Naturwissenschaften
im Allgemeinen auözuüben verspricht,
ins
gehörige Licht zu setzen. —
Bemerken will ich hier sogleich, daß jene Ansicht, die noch vor Kurzem
allgemein verbreitet war, die größten Tiefen des Meeres
seien unbe
wohnt, da bei dem dort herrschenden Drucke der Wassermassen organisches Leben
nicht
existiren
könne
—
daß
diese
Ansicht vom
„lebenSlosen
AbyssuS", wie der Engländer ForbeS die Tiefen bezeichnete, sich als eine durchaus irrige herausgestellt hat.
Der Tiefgrund deS MeereS be
herbergt vielmehr überall — unter der Sonne der Tropen wie im Eise der Polargegenden — organisches Leben, wobei
allerdings die mit dem oben erwähnten SigSbee'schen Chlinderapparat
angestellten Untersuchungen eS unwahrscheinlich machen, daß zwischen der Fauna der oberen Wasserschichten und der Abgrundfauna eine von leben
den Wesen bevölkerte Zwischenzone extstire. — Bemerkenswerth ist ferner die Thatsache, daß in den Tiefen deS Oceans noch heutzutage
zahlreiche niedere Thiere leben, die auf der Oberfläche der
5*
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
68
Erde zwar nicht lebend angetroffen werden, deren Ueberreste
wir aber in den Gesteinen vergangener geologischer Epochen vorftnden.
So hat z. B. die globigerina bulloides, welche gegenwärtig
den Boden ganzer Oceane mit ihren 1 mm großen Kalkschalen bedeckt, schon vor Hunderttausenden von Jahren wenn nicht auf der Oberfläche der
Erde so doch im Meere existirt und bei der Bildung ungehellrer Ge steinsschichten
mitgewirkt.
„Kein
Mikroskopiker
kann
—
wie K. Vogt
(Stand und Aufgaben der heutigen Paläontologie) sehr treffend bemerkt — an den runden winzigen Schälchen dieser niedersten Klasse von Thieren erkennen, ob sie dem heutigen Ttefseeschlamme oder den weißen Kreide
klippen der englischen und französischen Küsten entnommen sind.
Diese
in Tiefen von 3000 M. und mehr sich ablagernden Thierchen haben also
von der weißen Kreide durch die ganze Tertiairperiode hindurch fortge lebt, sie haben gelebt während der Ablagerung der Nucumulitengesteine,
des Grobkalks, der Molasse,
deren jede an manchen Orten mehr als
1000 M. mächtig ist, sie haben die letzten Erhebungen der Pyrenäen, der
Alpen und Karpathen überdauert." — Die Globigerina steht nicht etwa vereinzelt da; auch in höheren Thierklassen findet man ähnliche Erschei nungen.
So hat bereits Forbes
in 1843 das Fortleben von Muscheln
auS der Tertiairperiode im Mittelmeer nachgewiesen; so wissen wir jetzt,
daß die Familien der Crinoiden (Meerlilien) — zur Klasse der Echinodermen gehörig — die in den älteren Gesteinsschichten so zahlreiche Re
präsentanten hat, noch heute am Meeresboden in gewissen Tiefen ganze Waldungen bildet. — Welch' unendlich wichtige Aufschlüsse die Geologie
durch solche Thatsachen erhält, liegt auf der Hand.
Vor 30 bis 40 Jahren
gab es noch zahlreiche Geologen, welche an die Lehre von plötzlichen Erd umwälzungen und Kataklyömen, an das plötzliche Zugrundegehen und un mittelbar darauf folgende Auftreten einer neuen Schöpfung glaubten.
Heutzutage hat die Tiefseeforschung, indem sie nachweist, daß Organismen, die während längst entschwundener geologischer Epochen einst auf der Erde
lebten, noch heutzutage den Tiefgrund bevölkern, diesem Glauben an scharf begrenzte geologische Epochen den Gnadenstoß ertheilt und die Lehren eines
Lyell und anderer Geologen, denenzufolge
auf
samen Revolutionen, sondern nur langsame,
der Erde keine gewalt
allmählige Veränderungen
vor sich gehen und vor sich gegangen sind, aufs Glänzendste bestätigt.
Noch in
anderer Weise verspricht daS Studium der Tiefseefauna
einen Einblick in die Vergangenheit unseres Erdballs zu eröffnen.
Car
penter hat im nördlichen atlantischen Ocean eine Linie nachgewiesen, wo in den Tiefen des Meeres kalte und warme Strömungen an einander
grenzen, Strömungen, welche verschiedene Materialen mit sich führen, so
daß
die
Schichten,
welche
am Meeresboden
sich
niederschlagen,
den
Schwemmassen dieser Strömungen entsprechend einen verschiedenen Cha
rakter tragen.
Auch die Thiere, welche mit diesen Strömungen die See
durchwandern, repräsentiren völlig verschiedene Typen; westlich von der soeben erwähnten Scheidelinie Carpenter'S
finden sich Thiere deS nörd
lichen Eismeeres, welche die kalte Polarströmung vom hohen Norden heranführt;
östlich
von dieser Scheidelinie bringt daS Schleppnetz Be
wohner der tropischen Meere anS Tageslicht empor, welche mit dem
Golfstrom nordwärts wandern.
Nahe der Küste von Florida hat Pour-
taleS eine Anzahl von Zonen nachgewiesen, innerhalb deren verschiedene
Strömungen und verschiedene Temperaturgrade deS MeerwasserS eine völlig verschiedene Fauna ins Leben
gerufen haben.
Ziehen wir diese
Thatsachen in Erwägung und bedenken wir, daß in vergangenen Epochen unseres Erdballs
die für die Thierwelt gegebenen Existenzbedingungen
ebenso mannigfaltige gewesen sein müssen wie heutzutage, so kommen wir
zu dem Schluß, daß die gegenwärtig noch ziemlich allgemein verbreitete geologische Anschauung, Verschiedenartigkeit der organischen Einschlüsse in gewissen Ablagerungen beweise ein verschiedenes Alter derselben, wesent lich eingeschränkt werden muß.
In dem Gesagten ist zum Theil schon daS enthalten, was ich über die Existenzbedingungen der submarinen Thier- und Pflanzenwelt zu sagen
habe.
Temperatur, Salzgehalt und GaSauStausch im Meereswasser, so
wie die Beschaffenheit des Meeresbodens beeinflussen daS Auftreten der
oceanischen Organismen in derselben Weise,
wie die Verbreitung der
Thiere und Pflanzen an der Erdoberfläche durch die Verschiedenheit der klimatischen Verhältnisse und
bedingt wird. wohin der
durch die Bodenbeschaffenheit der Länder
In den größten Tiefen, wo der Druck ein sehr hoher ist,
goldene Lichtstrahl nicht zu dringen vermag, leben
andere
Wesen, als in jenen Regionen des Meeres, die dem Licht noch bis zu
gewissem Grade zugänglich sind.
grundes
Die Fauna und Flora des Schlamm
ist wesentlich verschieden
Andererseits
von der deS felsigen Meeresbodens.
spielen lokale Verhältnisse hier mitunter eine große Rolle.
An der Außenseite des Korallenriffs, welche von der Brandung gepeitscht
wird, Hausen
andere Bewohner als auf der Innenseite in der flachen
Lagline, wo die mit dünnen, zerbrechlichen Schalen auSgestatteten Thiere eine sichere Zufluchtsstätte finden.
Schmelzende
Küstengletscher, welche
dem Ocean fortwährend Süßwassermassen zuführen, submarine Vulkane, die den Meeresboden mit Lavamassen bedecken
und mächtige Ströme,
welche ihre Schlam »lassen meilenweit hinaus in die See führen, beein flussen ebenfalls das organische Leben der Tiefe. — Niveauveränderungen,
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
70
Sinken deS Meeresbodens, Hebungen der Küste, üben, indem sie die Druck- und Temperaturverhältnisse in gewissen Theilen des OceanS und
somit die Lebensbedingungen verändern,
gleichfalls einen wichtigen Ein
fluß auf die oceanische Organiömenwelt aus.
(Einen interessanten Beleg
hierfür bietet Lophelia prolifera, eine biegsame Koralle, welche in der
Nähe der norwegischen Küste
erhält,
in bedeutenden Tiefen sich noch am Leben
während diejenigen Korallenbäume, die mit der Küstenerhebung
Skandinaviens bis nahe zum Meeresspiegel emporstiegen, längst abge storben sind.) — Andererseits sind die Resultate der Tiefseeforschung
die Evolutionstheorie
bis jetzt noch wenig verwendbar, wie
für
aus den
Worten W. Thomfon'S hervorgeht: „In allen jenen Fällen, wo eS mög
lich gewesen ist, Beobachtungen mit Bezugnahme auf diese Frage anzu stellen, hat die Tiefseefauna Beweise beizubringen versagt für jene Theorie,
welche die Entstehung der Arten der mannigfaltigsten Formengestaltung verbunden mit natürlicher Zuchtwahl zuschreibt." —
Die großartige Bereicherung, welche die biologischen Wissenschaften,
insbesondere die Zoologie, der Tiefseefauna verdanken, im Einzelnen zu betrachten, darauf müssen wir hier verzichten.
Während in Tiefen von
bis zu 30 M. — in der Strandzone und der Zone der Bandalgen, wie
Austen diese MeereSniveaux bezeichnete — ein unendlicher Formenreichthum und eine Farbenpracht, würdig des Pinsels eines Markart, unS begegnet,
so hat In einer Tiefe von 100 M., wo der Einfluß des Lichtes schon fast vollständig geschwunden ist — (nach den von Forel im Genfersee ange stellten Versuchen wird in dem soeben bezeichneten Niveau Silberchlorür
vom Lichte nicht mehr angegriffen) — die organische Welt einen großen Theil ihres Farbenschmuckö verloren.
An die Stelle der grünenden Ge
wächse sind hier Kalkalgen getreten.
Die Ansicht, daß alle in beträcht
licheren Tiefen lebenden Thiere blind und farblos seien, hat sich übrigens nicht bestätigt; denn ein Pleurotoma, welches das Schleppnetz des „Challen
ger" aus einer Tiefe von 4000 M. emporschaffte, hatte vollkommen ent wickelte Augen, ebenso ein Fusus, der aus 2200 M. emporgeholt wurde
und einzelne Arten, die in bedeutenden Tiefen leben, sind recht lebhaft gefärbt. — Die tiefsten MeereStheile dienen bekanntlich jenen einfachsten
Formen organischen
Lebens zum Aufenthalt, die
wir gemeiniglich als
„Protisten" (Erstlinge der organischen Welt) bezeichnen. der MeereStiefe zerfallen in 3 Klassen,
Diese Protisten
nämlich: 1) in die bereits er
wähnte globigerina bulloides und die ihr nahe verwandte orbulina Uni
versa — beide zur Familie der „Polhthalamien",' einer Klasse der „Rhizopoden" oder „Wurzelfüßler", gehörig — (ihren Namen Polythalamien
verdanken diese winzigen Geschöpfe dem Umstande, daß sie kuglig gewölbte
an einander abgeplattete Kammern darstellen, auS deren Poren die eiweißartige Ursubstanz in Form von Fäden hervorquillt) — 2) in Diatomeen, 3) in Radiolarien.
— Was die Globigerina anlangt, so werden ihre
winzigen Kalkschaalen allerdings irt fast allen Meeren in Tiefen von über 3000 M. angetroffen, jedoch ist die Frage nach den Wasserschtchten,
in
denen diese winzigen Geschöpfe, während ihre-Lebens sich aufhalten,
zur Zett noch ungelöst.
Während Thomson, Jeffreys und andere Forscher
der Ansicht sind, daß diese Organismen ausschließlich der Oberfläche an
gehören und erst nach ihrem Tode auf den Meeresboden hinabsinken,
nimmt Carpenter an, bis
daß die Globigerina, nachdem sie schwimmend 12
16 Kammern hergestellt hat, zu wachsen aufhöre, sich mit einer
äußeren Kalklage umhülle und zum Zwecke der Vermehrung lebend auf
den Meeresboden niedersinke. — Die zweite Protistenklaffe, die Diato meen, sind bemerkenSwerth durch ihre zierlichen Kieselskelette — sogenannte
Kieselpanzer — sowie durch die Schnelligkeit ihrer Fortpflanzung. Ehrenberg
kann
(Nach
ein einziges Individuum binnen 4 Tagen eine Nach
kommenschaft von 140 Billionen
erzeugen.)
Die fossilen Ablagerungen
der Diatomeen finden sich bekanntlich in den Polirschteferschichten bei Bilin in Böhmen, als Kieselguhrmassen bei Oberlohe im Lüneburgtschen,
sowie an mehreren anderen Punkten. — WaS die Radiolarien angeht,
so sind sie nach Haeckel die formenreichsten aller organischen Wesen.
Sie
haben mit den Diatomeen das Kteselskelett, mit den Polythalamien die Fadenfüße gemein, unterscheiden sich aber von Letzteren durch eine Cen
tralkapsel und Nester gelber Zellen.
Sie erreichen ihre höchste Entwick
lung bei hohem specifischem Gewichte des MeerwasserS und sind im süd westlichen Theile des stillen Meeres, sowie im malayischen Archipel be
sonders verbreitet, während sie in hohen Breiten nicht angetroffen wer den. — WaS endlich den seiner Zeit vielbesprochenen Bathybius Haeckelii
oder „lebendigen Schlamm der Meerestiefen" anlangt, der von Huxleh
(1857) zuerst genau untersucht, dessen Existenz von Wallich, Thomson und Haeckel bestätigt wurde, so existirt derselbe in Wirklichkeit nicht, hat sich vielmehr als ein Kunstprodukt, hervorgerufen durch Zusatz von Al
kohol zum Meerwasser herausgestellt. Analog der Pflanzenwelt der Erdoberfläche, welcher die Aufgabe zu
gefallen ist, die durch den BerbrennungS- und AthmungSproceß fortwäh rend entstehende Kohlensäure zu absorbiren, Sauerstoff von sich zu geben
und somit die Zusammensetzung der Atmosphäre stets
als die nämliche
und für den thierischen Respirationsproceß geeignet zu erhalten — analog dieser Function hat die Thier- und Pflanzenwelt deS Meeres die Be
stimmung jene Mafien aufgelöster Kiesel- und Kalkerde, welche dem Ocean
72
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
fortwährend durch die Flüsse zugeführt werden und die im Laufe der Zeit den Charakter des Meerwassers verändern müßte», zu verarbeiten und auf
diese Weise die chemische Zusammensetzung desselben zu erhalten. den Pflanzen sind eS hauptsächlich die kieselschaaligen Algen,
von
Don
den
Thieren: Polypen, Mollusken und Schwämme, die in Verbindung mit den zuvor erwähnten Protisten die richtige chemische Beschaffenheit des MeerwasserS stets auf'S Neue wiederherstellen und zugleich, indem sie ihre
Kalkschalen und Kieselskelette auf dem Meeresboden ablagern, zur Bildung
unserer Erdrinde beitragen.
Man kann wohl mit Burmeister behaupten,
daß alle Kalkgebirge unserer Erde einmal buchstäblich von diesen zum
Theil so kleinen Geschöpfen gefressen, verdaut und ausgeschwitzt worden
sind. — Unter den Bewohnern des Oceans, welche den Kalk verarbeiten, verdient die Koralle hier noch eine besondere Erwähnung und auch über
diese kleinen Baumeister des Meeres hat unS die Tiefseeforschung manche interessante Aufschlüsse geliefert.
Das eigenthümliche Verhalten der Ko
rallenriffe und Koralleninseln des stillen Oceans ist bekanntlich schon durch
Darwin dahin erklärt worden, daß man dort einen im Meere versunkenen Kontinent vor sich habe, dessen höchste Spitzen nach dem Untersinken der niedrigeren Landmassen noch als Inseln auS dem Meere emporragten,
während, sobald auch diese Inseln unterzusinken anfingen, die Koralle, die hier günstige Lebensbedingungen vorfand, ihre stille Thätigkeit begann. Die riffbildenden Steinkorallen — Madreporen und Asträen — können allerdings in einer Tiefe von mehr als 36 M. nicht weiter fortleben;
aber das hindert nicht — vorausgesetzt, daß das Hinabsinken des Landes ein allmähliges ist — daß das Thterchen an der Spitze des unten abge
storbenen Stockes nicht weiter fortknospen sollte. — Je tiefer die Inseln
sinken, um so höher baut die Koralle und so bewirken eS diese kleinen
unscheinbaren Wesen, deren Bauten hier als „Strandriffe" die Küste um
säumen, dort als „Wallrisfe" zwischen Insel und Riff einen Kanal frei lassen, dann wieder als „Lagunenriffe" (Atolle) eine Salzwasserlagune
umschließen — so bewirkt eS die rastlose Thätigkeit dieser kleinen Ge
schöpfe, daß diese höchsten Spitzen eines versunkenen Kontinents nicht längst
dem allverschlingenden OkeanoS zum Opfer gefallen sind, daß wenigstens die an ihrem Strande aufgerichteten Korallenbauten über Wasser bleiben.
Freilich da, wo das Sinken des Landes rasch vor sich geht, da vermag die emporbauende Koralle mit der Abwärtsbewegung nicht gleichen Schritt
zu halten und muß gänzlich absterben.
Ein solches Depressionsgebiet haben
wir durch die Lothungen der „TuScarora" kennen gelernt, welche im stillen
Meere zwischen Sandwich- und Bonininseln in 2200 bis 4000 M. Tiefe
die Existenz von 7 unterseeischen Erhebungen nachwies.
Auf und zwischen
diesen submarinen Bergen kam Korallenschlamm, Stücke von Korallen,
Kalk und Lava mit dem Tiefseeloth und Schleppnetz anS Tageslicht empor und diese Thatsachen
in Verbindung
zuerst von Darwin aufgestellten,
gesetzt mit der soeben erwähnten
später von Dana bestätigten.Theorie
über daS Wachsthum der Korallen lassen es als zweifellos erscheinen, daß
zwischen den bezeichneten Inselgruppen eine mächtige und schnelle Senkung
des Meeresbodens respect. ein Versinken des Landes während einer nicht weit zurückdatirenden geologischen Epoche stattgefunden hat.
Anscheinend
geringfügige Thatsachen sind eS, aus denen der Naturforscher seine Schlüsse zieht und ebenso wie die oben erwähnte lophelia prolifera durch ihr
Abstcrben einen neuen Beweis liefert von der Erhebung der skandinavi schen Westküste, so sind es die Korallen des stillen MeereS, welche unS
von den Umwandlungen berichten, die in der Vertheilung deS flüssigen und festen Theiles unseres Planeten dort vor sich gegangen sind. —
Wir gehen nunmehr dazu über, die geologische Beschaffenheit
des Meeresbodens einer kurzen Betrachtung zu unterziehen. — Unter
den Schichten, welche den Meeresboden bedecken, unterscheiden wir nach Murrah, dem Geologen der Challengcrexpedition, 3 verschiedene Gruppen
nämlich: 1, Küstenablagerungen, 2, schlammartige Ablagerungen im engeren Sinne, 3, rothe und grüne Thonmassen.
Erstere
finden sich wie der Name besagt, nahe den Gestaden der Kontinente und
größeren Inseln und bestehen aus den Trümmern des Landes, welche durch die Flüsse dem Meere zugeführt werden.
In einigen Fällen er
strecken sich diese Küstenablagerungen auf beträchtliche Entfernungen in den Ocean hinein, so z. B. an den Küsten Südamerikas, wo die Schlicktheile
des Amazonas und Orinoko durch den Aequatorialstrom des atlantischen Meeres weit nach Nordwesten fortgetragen werden, so an der chinesischen Küste- wo die gelben Schwemmtheile des Hoangho soweit hinaus in die
See geführt werden, daß das gelbe Meer davon seinen Namen erhalten
hat.
Am verbreitetsten unter den Ablagerungen in der Nähe der Küsten
sind grüne und blaue Schlammassen; hier und da treten wohl auch rothe tinb graue — nicht zu verwechseln mit den rothen und grauen Thon massen der größten Meerestiefen — auf.
Aus den Küstenschichten lassen
sich mitunter wichtige Schlüsse in Betreff der angrenzenden Länder ziehen. So berechtigt daS Auftreten grüner und blauer Schlammassen in der
Nähe der antarktischen Eiöbarriöre zu der Annahme, daß sich im südlichen Polarmeere außer dem bereits bekannten Land noch unerforschte Länder«
massen oder Inseln befinden. — Erwähnt sei bei dieser Gelegenheit der anscheinend geringfügige Umstand, daß daS Schleppnetz deS „Challenger"
an der Küste Nordamerikas — 300 Seemeilen von Halifax entfernt —
74
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
einen kleinen Granitblock anS
Tageslicht empor brachte,
der sich
bei
näherer Untersuchung als ein Stück „Shelburne-Granit", wie er sich an
der Küste von Neuschottland vorfindet, erwies. submarinen FindltngSsteines in
so
Das Auftreten dieses
beträchtlicher Entfernung
von der
Küste — nur durch eine schwimmende Eisscholle oder einen losgelösten
Küstengletscher konnte derselbe so weit hinaus in's Meer getragen werden — legt die Vermuthung nahe, daß analog der Glactalperiode Europa'S
auch im nördlichen Amerika in den Breiten Neuschottlands einst eine Eis zeit bestanden hat. — Dies nur im Vorübergehen. — Als zweite Gruppe
der Ablagerungen am Meeresboden müssen die vorwiegend auS den Ueber-
resten niedriger Organismen bestehenden Schlammassen betrachtet werden und haben wir
entsprechend den drei obenerwähnten
Globtgerinen - Diatomeen-
und
Radiolarienschlamm
Protistenklassen: unterscheiden,
zu
ersterer vorwiegend aus den Kalkschalen der Globigerina, letztere auS den
Kieselskeletten der Diatomeen und Radiolarien bestehend. — Die dritte und am Weitesten verbreitete Gruppe der oceanischen Ablagerungen bilden die rothen und grauen Thone, welche in der Regel die größten Tiefen
der Oceane einnehmen, während die aus den Resten der Globigerina, der
Diatomeen und Radiolarien zusammengesetzten Schlammassen mehr in den mittleren Tiefen — zwischen Küstenablagerungen und Tiefseethonen — sich vorfinden.
Die rothe Farbe der Thonschicht ist die vorherrschende,
geht jedoch häufig in Folge des Gehaltes an Mangan- oder Eisenoxyd ins Chocoladenbraune über.
Die meisten Tiefseethone
enthalten
eine
Beimischung von Resten kieseliger Organismen, jedoch nur eine geringe
Beimengung von Globigerinenschalen. DaS seltenere Auftreten deS letzteren Bestandtheils erklärt sich wohl daraus, daß die im Seewasser enthaltene
Kohlensäure unter dem durch die Tiefe bedingten Druck den Kalk auflöst
und nur die nicht kalkigen Bestandtheile der niederen Organismen zurück läßt, auS denen dann das Mangan durch einige verwesende Substanzen
auSgefällt wird. — Knochen und Zähne von Haifischen und Cetaceen, die mit Braunstein (Manganhyperoxyd) tncrustirl sind, finden sich wohl hier
und da in dem rothen Thon und beweisen nach Murray, daß sich die
Manganmafien sehr langsam niedergeschlagen haben.
—
Da wo der
Globigerinenschlamm unter dem Thon angetroffen wird — (an einzelnen Stellen ist dies Fall, während an anderen ^aS umgekehrte Verhältniß sich
vorfindet) — ist vermuthlich eine Senkung des Meeresbodens vor sich gegangen, nachdem die Globigerinen bereits abgelagert waren. — Feinere Mineralpartikelchen, aus Quarz, Glimmer, Bimstein und Lava bestehend,
fehlen selten unter den Tiefseethonen.
Die beiden letzteren Bestandtheile
scheinen bei der Bildung dieser Schichten eine hervorragende Rolle zu
spielen.
Sie entstammen zum Theil wohl den Festländern und Inseln,
von denen, wie bereits erwähnt, die Flußläufe und Ströme die Trümmer zersetzter und verwitterter vulkanischer Gesteine hinab ins Meer schwemmen, zum größeren Theile jedoch submarinen Vulkanen.
ES ist ja
bekannt, daß die unterseeischen vulkanischen Ausbrüche noch immer fort
dauern, daß sie bisweilen sogar weite Meeresflächen mit Bimstein und
Asche bedecken und der Schiffahrt Gefahren und Hindernisse, bereiten. —
In Betreff der Temperaturverthetlung im Ocean hat man auSgeheild von der irrigen Anschauung, daß das Salzwasser ebenso wie daS Süß wasser bei -b 4° C sein Dichtigkeitsmaximum erreiche, und gestützt auf die
Beobachtungen, welche JameS Noß auf seinen Nordpolfahrten (1840—1843) mit ungenauen Thermometern angestellt hat, bis gegen die Mitte der sechziger
Jahre noch völlig irrigen Anschauungen gehuldigt. Während nun die Versuche
von DepretSz und Zöppritz ergeben haben, daß das Meerwasser abweichend vom Süßwasser im bewegten Zustand bei — 2° 55 C, im ruhigen erst
bei — 3° 17 C gefriert,
ist zugleich
die Methode
der
Temperatur-
messungen in letzterer Zeit bedeutend vervollkommnet worden. — Diese
Messungen werden so vorgenommen, daß eine Anzahl der oben erwähnten Miller-Casella'schen Tiefseethermometer oder daS Umkehrungsthermometer
von Negretti und Zambra in bestimmten Abständen an der Lothleine be festigt und in daS Meer hinabgelassen werden.
Man erhält auf diese
Weise für jede einzelne LothungSstelle eine Zahlenreihe, auS der man dann über die Lage der MeereS-Jsothermen d. h. über die Temperaturverthei-
lung in vertikaler, wie in horizontaler Richtung Schlüsse ziehen kann.
Die auf solche Weise festgestellten Thatsachen lassen sich in folgende Sätze zusammcnfassen: Im Allgemeinen nimmt die Temperatur deS MeerwasserS von der Oberfläche bis zu einer Tiefe von 700 bis 1100 M. ab und zwar zuerst rasch, dann langsamer.
In dem soeben bezeichneten Niveau
herrscht eine Durchschnittstemperatur von 4- 4° C.
Abwärts von 1100 M.
ist die Temperaturabnahme eine nur ganz langsame und allmählige.
Am
Meeresboden selbst — wenigstens in allen tieferen Oceanen — hält sich die Temperatur stets innerhalb sehr enger Grenzen. schwankt in den Aequatorialgegenden, sowie in
Sie
der gemäßigten Zone
zwischen + 2° und 0° C, während sie in den Polargegenden nicht tiefer als — 3° C herabsinkt.
Die geringen Unterschiede zwischen den Tempe
raturen der tiefsten Wafferschichten in hohen und niedrigen Breiten fallen um so mehr auf, als an der Oberfläche des Oceans bekanntlich sehr be
deutende Schwankungen zwischen Extremen von + 32° C (der höchsten Wärme
des
MeerwasserS
unter
dem
Aequator)
und — 30 C (der
niedrigsten Temperatur int Polarwasser) existiren. — Fragen wir nach
der Ursache der allgemeinen Temperaturerniedrigung
mit zunehmender
Tiefe, so rührt dieselbe nicht etwa von oberflächlichen Polarströmungen her — welche auch existiren, aber nicht ausgedehnt genug sind, um die
Wärmevertheilung im Ocean bedeutend zu beeinflussen — sondern viel mehr von einer langsamen,
summten
aber mächtigen Bewegung der ge
unteren Wasserschichten
Polen nach dem Aequator.
Wichtigkeit.
in
der Richtung
von
den
ES ist dies eine Thatsache von großer
Durch die stärkere Verdunstung
deS Meerwassers in den
Regionen der Passatwinde — (in einzelnen MeereStheilen verdunsten im Durchschnitt täglich '/< Zoll, also
im Jahre eine 22 bis 23 Fuß
dicke
Wasserschicht) — durch diese Verdunstung wird daS Meerwasser mehr concentrirt d. h. salzhaltiger als in solchen Zonen, wo die Verdampfung eine
geringere ist.
Andererseits überwiegt in gewissen Breiten die Menge der
feuchten Niederschläge*)'die dort stattfindende Verdunstung in einem solchen
Grade, daß sehr bedeutende Differenzen zwischen dem Salzgehalt der
einzelnen Oceane — (daß solche Differenzen des Salzgehalts bis zu ge
wissem Grade wirklich existiren, werden wir später sehen) — sich heraus bilden müßten, wenn nicht durch die soeben erwähnte Bewegung der un teren Meeresschichten vom Pol zum Aequator diese Unterschiede wieder ausgeglichen würden.
Diese langsame Strömung, welche eö bewirkt, daß
daS kalte Polarwasser unter dem Aequator bis nahe an die Oberfläche herandringt, ist auch insofern von hoher Bedeutung, als durch sie eine Stagnation der unteren Wasserschlchten verhindert, Gasauötausch ermög
licht und somit der submarinen OrganiSmenwelt die für ihre Existenz
nothwendigen Bedingungen gewährt werden. — Der kalte Grundstrom ist natürlich um so ausgiebiger, je freier die Communication zwischen den Oceanen ist und es liegt auf der Hand, daß derselbe auf der südlichen
Hemisphäre eine bet Weitem größere Ausdehnung erlangt, da hier der
atlantische, stille und indische Ocean mit dem antarktischen Meere im un mittelbareren Zusammenhang stehen, als auf der nördlichen Halbkugel, wo
die Ländermassen Asiens, Europas, Grönlands und Nordamerikas eine freie Communication deS nördlichen atlantischen und stillen Oceans mit
dem arktischen Meere verhindern. — Auf diese Weise erklärt es sich auch, daß im stillen und indischen Ocean in correspondirenden Bretten und
Tiefen die Temperaturen im Allgemeinen niedriger sind, alö in der von Ländermassen umgürteten AtlantiS.
Um über die Bodentemperaturen deS
♦) Capital» King hat an den Anden von Patagonien den »ngeheureii Regensall von 151 Zoll in 41 Tagen beobachtet und Darwin berichtet, daß die Oberfläche deS Meeres an diesem Theile dec südalnerikanischen Westküste von dem enormen Quantum der feuchten Niederschläge oft fast ganz süß ist.
MeereS in verschiedenen Breiten hier noch einige genauere Mittheilungen
zu machen, so beträgt dieselbe in den beiden Polarmeeren — 2 bis — 3° C, jenseits der Polarkreise, aber noch nahe denselben 0° bis — 1,5° 6, in
den mittleren und niederen Breiten in Tiefen
von 3600—5500 M.
1 bis 2° C, dagegen am Aequator eigenthümlicher Weise wieder etwas weniger, nämlich etwas über 0°. — DaS Gesetz von der Abkühlung des
Meerwassers nach der Tiefe zu erleidet nur hier und da Ausnahmen,
welche durch lokale Verhältnisse bedingt sind.
So kommt eS vor, daß das
Oberflächenwasser kälter ist als die tieferen Meeresschichten, herrührend
von schmelzenden Eisbergen, welche die Temperatur herabsetzen und deren salzfreies Wasser wegen seiner großen Leichtigkeit sich längere Zeit auf der Oberfläche erhält. — Eigenthümliche Temperaturverhältnisse herrschen auch in solchen Meeren, die wie das Mittelländische Meer durch eine
unterseeische Barriere von der freien Communication mit dem offenen abgeschnitten sind.
Ocean
Tiefe von 220 bis 360 M.
Jener submarine Höhenzug, der in
einer
Cap Trafalgar an der Südküste Spaniens
mit Cap Espartel an dem gegenüberliegenden Gestade Nordafrika'S ver bindet,
bewirkt eS, daß abwärts von letzterer Tiefe dem Wasser der
Atlantis der Eingang ins Mittelmeer nicht gestattet ist und so erklärt eS sich, daß von der Oberfläche bis zu dem besagten Niveau das Wasser des
Mittelmeers dem allgemeinen Gesetze folgend sich abkühlt, daß eS jedoch
von 360 M. abwärts bis zn seiner größten Tiefe (3110 M.) stets die nämliche Temperatur, nämlich 12° 8 0 im westlichen, 13° 6 C im öst lichen Mittelmeerbecken beibehält, entsprechend der mittleren niedrigsten
Wintertemperatur in den beiden Theilen dieses Meeres. Wir müssen unS bezüglich der Temperaturvertheilung im Ocean auf
diese allgemeinen Angaben beschränken, indem wir unS Vorbehalten, Einiges, was bisher noch nicht erörtert wurde, bei der nun folgenden Uebersicht
über
die Tiefe und
decken nachzutragen.
Bodengestaltung der
einzelnen
MeereS-
WaS diese letzteren Verhältnisse anlangt, so haben
erst die innerhalb der letzten 15 Jahre angestellten Untersuchungen
zu
richtigen Vorstellungen geführt; eS wurde ja bereits erwähnt, daß die mit den früheren unvollkommenen LothungSapparaten vorgenommenen Messungen unzuverlässig waren.
Auch glaubte man damals noch, daß die größten
Meerestiefen sich in der Regel fern von den Küsten in der Mitte der Oceane befänden, eine Anschauung, die der Wirklichkeit durchaus nicht
entspricht.
Währeyd Maurh noch das atlantische Meer als einen mulden
förmigen Trog betrachtete, der die neue Welt von der alten trennt, so ist
jetzt durch zahlreiche Lothungen als unzweifelhaft dargethan, daß sich die größte Tiefe der Atlantis wenige Meilen nördlich von St. Thomas, also
an der Ostküste Amerikas befindet;
ebenso wurde die größte Tiefe des
nördlichen stillen Meeres östlich von Japan, also im westlichsten Theile
des Pacific, die größte Tiefe des Indischen Oceans nahe der Küste von Australien, also im östlichsten Theile dieses MeereSbeckenS vorgefunden und nur in der Südhälfte deö stillen Meeres, scheint soweit wir unS nach
den gerade dort noch unvollständigen Lothungen ein Bild entwerfen können,
die größte Tiefe ziemlich in der Mitte zu liegen.
Obwohl hier und da
mächtige Abstürze und plötzliche Senkungen vorkommen, obwohl langge streckte Höhenzüge und Plateaux ebensowohl existiren wie durch vulkanische
Action emporgehobene PeakS, so besitzt der Meeresboden im Ganzen nur geringe
lokale
Hebungen
und
Bertiefungen,
so
daß
derselbe
zwischen 2 Punkten, die nur etwa 100 Seemeilen von einander entfernt
sind, in der Regel alS eine vollständige Ebene erscheint und dement sprechend ist der Charakter der submarinen Landschaft im Allgemeinen
ein sehr monotoner. WaS nun zunächst das Becken des
atlantischen Oceans an
langt, so wird dasselbe seiner ganzen Längenausdehnung nach von einer
unterseeischen Bergkette oder genauer gesagt von einer Anzahl zusammen
hängender Landrücken durchzogen.
Dieser Höhenzug, welcher eine 8-Form
besitzt und im Ganzen die Umrisse der östlichen und westlichen Küsten
dieses MeereS wiedergiebt, hängt mit seinem Nordende mit jenem unter seeischen Plateau zusammen, welches Europa mit Island und Grönland verbindet und besten südlichster Theil von dem transatlantischen Kabel, daS über ihn verläuft, den Namen „Telegraphenplateau" erhalten hat.
Südlich von den Azoren bildet die Bergkette der Atlantis die schon früher bekannte Untiefe des „Dolphin-rise“ (Delphinrücken) und nachdem sie
unter 10° N. B. einen Ausläufer hinüber nach Cap Oranje (an der Küste
Südamerikas) geschickt hat, biegt sie schmaler werdend nach Südosten um und schlägt endlich in der Nähe des Aequator eine rein südliche Richtung
ein.
Unter 35° S. B. zweigt sich ein zur Westküste Südafrikas verlau
fender Höhenzug von ihr ab, dann erstreckt sie sich südlich bis zur Insel
Gough.
Ob sie dort endigt oder ob sie mit dem submarinen Plateau deS
antarktischen MeereS zusammenhängt, läßt sich zur Zeit noch nicht mit Bestimmtheit entscheiden.
Als die höchsten über daS MeereSniveau empor
ragenden Bergspitzen dieses unterseeischen HöhenzugS sind auf der nörd
lichen Halbkugel die Azoren, unter dem Aequator der St. Paul'S Fels, weiter südlich die Inseln Ascension und St. Helena und endlich in 37°
und 40° S. Br. die Insel Tristan d'Acunha und daS bereits erwähnte Gough zu bezeichnen.
Die Atlantis wird durch diese Bergkette in ein
östliches und westliches Becken getheilt, von denen das erstere, von der
Westküste Irlands bis in die Nähe des Kaps der guten Hoffnung ver laufend, ein tiefes Thal mit einer DurchfchnittStiefe von 4000 bis 4500 M. darstellt, während die zuvor erwähnte Abzweigung, welche der atlantische Höhenzug zur Küste Südamerikas sendet, daS westliche Becken in eine
nordwestliche und südwestliche Hälfte theilt.
Beide haben eine Durch-
schnittStiefe von 5500 M., jedoch befindet sich im nordwestlichen Theil,
wie bereits erwähnt, die größte atlantische Tiefe, da zwischen St. Thomas und den Bermudasinseln von dem Challenger 7086 M. gelothet wurden.
Welch' einen hohen und auf schmaler Grundlage schroff emporsteigenden Bergkegel die letztere Inselgruppe darstellt, beweist die Thatsache, daß
rings um die Bermudas die Tiefe der Atlantis fast nirgends weniger
als 6000 M. beträgt und daß die Inseln auf einer Basis, deren Durch
messer nur 27 deutsche Meilen mißt, aus den oceanischen Abgründen ans Tageslicht emporsteigen. — Daß Hebungen und Senkungen des Meeres
bodens durch vulkanische Kräfte im atlantischen Meere noch in der neuesten
Zeit vorgekommen sind, beweist jene Bank, die der Amerikaner Gorringe, Befehlshaber der „Getihsburg", in 1876 in einiger Entfernung von der Küste Portugals entdeckt hat, während andere Untiefen, die früher in der
Nähe von Kap St. Vincent existirten, dort neuerdings nicht mehr aufzufiitden find. — Um über jenen Theil des atlantischen Meeres, der die
Nordküsten Europas bespült, hier noch ein Paar Worte zu sagen, so liegen
die briltischen Inseln nach den Untersuchungen des Norwegers Mohn auf
einer Bank, t>ie sich westwärts in seichtem Wasser noch eine Strecke weit fortsetzt, dann aber steil gegen die atlantische Tiefe abfällt, die sich in
nördlicher Richtung allmählig gegen den zwischen Fäer-Oer und Shetlandinseln befindlichen Meereseinschnitt senkt, östlich die ganze Nordsee — (be kanntlich ein sehr flaches Meer) — einnimmt und nur int Nordosten zu
jener 700 bis 800 M. tiefen Rinne herabfällt, welche die Küsten deö südlichen Norwegens umgiebt und einen Theil deS Skager-Rak bildet.
Auch über den Golfstrom, den Vater der europäischen Kultur — denn in der Erwärmung der Küsten unseres Welttheils durch diese be
rühmteste aller Meeresströmungen erkennen wir die Hauptursache unseres gemäßigten Klimas und somit die wichtigste Vorbedingung für die Ent
stehung der Civilisation — auch über diese Strömung hat die Tiefsee forschung unser Wissen in mancher Beziehung erweitert.
Durch die Engen
von Florida heraustretend aus dem Golf von Mexiko stellt er einen Strom heißen Waffers dar, dessen Bett kaltes Wasser bildet.
Bis zur Küste
von Karolina behält er die schöne indigoblaue Farbe seines Wassers bei, welche durch hohen Salzgehalt hervorgerufen ist und mit dem Grün der be nachbarten Mecrestheile lebhaft contrastirt, Sandyhook gegenüber besitzt er
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
80
eine Breite von 60 eine Tiefe von 20 Seemeilen; die Temperatur seines
Wassers, die dort nach den vom Challenger angestellten Messungen an der Oberfläche im April und Mai noch 20 bis 26° C beträgt, ist in
einer Tiefe von 200 bis 300 M. bereits auf 14 bis 18 ° C herabge sunken.
Den Küsten Neufundlands gegenüber, das durch feine Wasser-
dünste in die bekannten „Silbernebel" gehüllt wird, hat sich der Golf
strom bereits in mehrere Arme gespalten. — Jene sich nach Nordosten
fortbewegende Wassermasse, die allein zwischen 30 und 40“ N. Br. einen Flächenraum von 7500 geographischen Quadrat-Meilen mit einer 600 M. dicken Wasserschicht von 15“, 6 C bedeckt,
zunächst einen Zweig in die
DavieSstraße sendet, dann in ihrem weiteren Verlaufe sich in 4 Aeste
spaltet — (einen der die Westküste Islands, einen zweiten, der das west
liche Spitzbergen, einen dritten der die Westufer Skandinaviens bespült und in einen vierten, der sich südwärts wendet) — diese warme Meeres
strömung wird gemeiniglich mit dem Namen „Golfstromtrift" bezeichnet, obwohl ihr Ursprung streng genommen nicht im Golfstrom selbst, sondern
in der durch die Erwärmung der tropischen Gewässer hervorgerufenen oceanischen Ctrculation, in der Strömung des stark erhitzten Wassers nach Norden und in der weiterhin durch die Achsendrehung der Erde bewirkten
Ablenkung dieses Stromes nach Nordosten zu suchen ist. — Ohne hier auf die Strömungen des atlantischen Meeres näher etnzugehen, sei hier
nur noch bemerkt, daß der soeben erwähnte südliche Arm der Golfstrom
trift, nachdem er die Westküsten Großbrittanniens, Frankreichs, Spaniens
und Nordafrikas berührt und die schwimmenden Meercsgewächse (vorwie gend : fucus natans, eine Tangenart), die er mit sich führt, in der Nähe
der Azoren zum Kräutermeer (wäre de Sargasso) zusammengespült hat,
in den von Osten nach Westen verlaufenden Aequatorialstrom und mit diesem zunächst ins Caraibische Meer, von da durch die Straße von
Dukatan wieder in den Golf von Mexiko eintritt und somit den Kreislauf der Gewässer der nördlichen Atlantis vollendet. —
Wenden wir uns vom atlantischen zu seinem Annexum, dem mittel ländischen Meer, so wurde bereits jener unterseeischen Barriöre Er wähnung gethan, die abwärts von 220 bis 360 M. diesem Gewässer
alle Eigenschaften eines Binnensees verleiht und eben sowohl die Tempe ratur des Wassers wie die Fauna in diesem Meeresbecken beeinflußt. —
Erwähnt sei hier auch jene Landverbtndung, die, wie die Tiefseeforschung
nachweist, ehedem Sicilten mit der nordasrikanischen Küste (dem heutigen Tripolis) verbunden Hal.
Das Mittelmeer bestand allem Anschein nach,
während einer im geologischen Sinne nicht weit zurück datirenden Zeit aus 2 getrennten, einem östlichen und westlichen Meeresbecken, welche durch
die soeben erwähnte Landverbindung sowie durch das Zusammenhängen StcilienS mit Italien von einander getrennt waren, während zu jener Zeit die iberische Halbinsel ebenfalls noch mit Nordafrika zusammenhing
und eine Straße von Gibraltar damals noch nicht existirte. — Die ehe
malige Landbrücke zwischen Sicilien und Nordafrika erklärt auch eine an
dere naturwissenschaftliche Thatsache auf die einfachste Weise, nämlich das Verhalten unserer Zugvögel, die, wenn sie über Italien und Sicilien nach Nordaftika fliegen, statt den kürzesten Seeweg von Sicilien hinüber
nach Tunis zu wählen, die entferntere Route via Malta nach der tripolitanischen Küste einschlagen.
Route,
wo
Die Vögel wählen
in der Regel jene
sie Land unter sich behalten und zur Nachtzeit auöruhen
können, und so schlugen sie denn bereits vor Jahrtausenden jenen Weg
ein, den die damalige Landverbindung als den Naturgemäßesten erscheinen läßt.
Später versank das Land an dieser Stelle; jedoch ging das Ver
schwinden desselben so langsam und allmählig vor sich, daß die Zugvögel, von denen die jüngere Generation stets der älteren folgt, von dieser Ver
änderung Nichts bemerken konnten und daß sie in Folge der durch Ver
erbung sich fortpflanzenden Gewohnheit ihre alte Flugrichtung
bis auf
den heutigen Tag beibehalten haben. — Dies nur im Vorübergehen. — Während wir auf eine Schilderung der Tiefenverhältnisse und Boden-
beschaffenheit des MittelmeereS verzichten müssen, wollen wir nur nach
der Thatsache gedenken, daß im westlichen Theile dieses MeereSbeckenS, in welchen keine sehr bedeutende Flüsse einmünden, der Salzgehalt deS
SeewasserS ein erheblich bedeutenderer ist als im östlichen Theile des selben Meeres, in welchen der Nil seine Gewässer ergießt, wo Donau,
Dniepr, Dniestr und Don dem Schwarzen- und Asowschen- und somit
indtrect dem östlichen Mittelmeer fortwährend Süßwaffermaffen zuführen und dadurch den Einfluß der Verdunstung
Meerwaffers wieder aufheben. DaS nördliche Polarmeer
auf die Concentration
des
stellt eine von den Ländermassen
Asiens, des nördlichen Europas, Grönlands — dessen Jnselnatur durch die Gezeitenbeobachtungen der „Polaris" und der letzten Englischen Nord
polexpedition erwiesen wurde — und Nordamerikas eingeschlossenes Becken
dar.
Während die den amerikanischen und asiatischen Küsten nahe gele
genen Theile dieses Meeres als allmählig sich abflachende Fortsetzungen
der angrenzenden Continentalebenen betrachtet werden müssen, erreicht das
Eismeer zwischen Grönland, Island, Norwegen und Spitzbergen seine größte Tiefe (4846 M.), von welcher auSgetiefte Rinnen — darunter die
bereits erwähnte Bodensenkung an der Südküste Norwegens und der 1100 M. tiefe Kanal zwischen den Fäer-Öer und Shetlandinseln ihren Preußisch« Jahrbücher. 8b. XLVIII. Heft 1.
6
Ursprung nehmen.
Letzterer Kanal bewirkt den WasserauStausch zwischen
der Eismeertiefe und dem atlantischen MeereSbecken, welche durch das
zuvor erwähnte submarine Schottland-JSland-Grönland-Plateau fast voll ständig von einander geschieden sind. In der Fäer-Öer-Shetlandrinne,
sowie im nordöstlichen Theile deS atlantischen Beckens hat Carpenter zuerst jene beiden in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Tiefseeströmungen — einen von Nordost nach Südwest verlaufenden Strom kalten Wassers und
östlich davon, aber unmittelbar angrenzend, einen in entgegengesetzter Rich tung verlaufenden warmen Strom beobachtet, die entsprechend ihrem verschie
denen Ursprung eine völlig verschiedene Fauna mit sich führen (S. oben).
An die Oberfläche steigt die warme atlantische Strömung (Golfstromtrift) bis in hohe Breiten hinauf, breitet ihr Wasser über die Bänke aus,
welche die Westküste Skandinaviens umgeben, und bewirkt es, daß wäh rend des Winters der constante Ueberschuß der Meeres- über die Luft
temperatur bei den Shetlandtnfeln 3° 4 C nahe dem Nordkap
6° 6 C beträgt.
sogar
Auf diese Weise erklärt es sich auch, daß die durch
schnittliche Temperatur der Meeresoberfläche bei den soeben bezeichneten Inseln im Januar noch 70 C — (gleich der Temperatur von Rom in
demselben Monat) — daß sie bei Truholm (nahe dem Nordkap Europas), wo in diesem Monat die Sonne gar nicht mehr sichtbar ist, noch + 3° C
beträgt.
In
Folge der Erwärmung seiner Küsten durch das warme
Wafler ist Norwegen das nördlichste Land der Erde, wo Ackerbau noch betrieben wird, da Weizen dort bis zu 64°, Gerste sogar bis zu 70° N. Br. gezogen wird*).
Der Stille oder Große Ocean (von Engländern und Ameri
kanern Pacific genannt), zu dessen Betrachtung wir nun übergehen, be sitzt in seinem Charakter.
östlichen und westlichen Theil einen völlig verschiedenen
Die östliche, Amerika zugewandte Hälfte stellt eine große un
unterbrochene Wafierfläche fast ohne Inseln dar, während die Asien und Australien zugekehrte Seite zwischen 30® N. Br. und 30° S. Br. auS einem Gewtrre von einzelnen Meeren besteht, die durch Jnselreihen (die höchsten Spitzen unterseeischer Bergketten) von einander geschieden sind.
Obwohl einzelne Theile des stillen Meereö noch nicht genügend unter« *) Mit Bezug hierauf sagt Schleiden (das Meer S. 67), indem er einen Vergleich anstellt zwischen dem nördlichen Europa und den correspondirenden Breiten in Asien und Amerika: „Während in Hammerfest noch glückliche Menschen leben und eine lustige Sommermeffe Tausende von Fremden vereinigt, sind wir in Asten in derselben Breite fast 4° nördlicher als die furchtbare Behringstraße von ewigem Eis umschloffen; dem Korn- und Gartenbau Drontheim's entspricht etwa das Kap Navarin im Land der elenden Tschnktschen, denen Fische und Rennthiere die einzige Nahrung sind und wer möchte wohl die blühenden Fluren von Holstein mit PetropawloSk in Kamschatka vertauschen?" —
sucht wurden, so vermögen wir doch aus den Lothungen deS „Challenger",
und unserer „Gazelle" ein ziemlich klares Bild von
der
„TuScarora"
der
Bodengestaltung
dieses
OceanS
(Mittlere Tiefe des großen Oceans.
uns
zu
entwerfen.
Dr. Supan
Geographische Mittheilungen 1878
S. 213—215) hat sogar eine Art Triangulation des Meeresbodens vor
genommen, indem er aus den besagten Lothungen zunächst für jedes Viereck
von 10° Breite und 10° Länge zwischen 50° N. Br. und 50” S. Br. und
zwischen 130® O. L. und 70° W. L. die mittlere Tiefe bestimmte und aus diesen Zahlen die Durchschnittstiefe sowohl des nördlichen und südlichen, wie deS ganzen stillen Oceans — (letztere zu 1842 Faden — 3370 M.) — herausgerechnet hat.
Was die mittlere Tiefe des nördlichen Pacific
anbetrifft, so gelangte S. durch seine Berechnungsmethode genau zu dem
selben Resultat, das man anderweitig aus den großen Erdbebenfluthen, die von Zeit zu Zeil über das stille Meer sich hinwälzen und deren Fort
pflanzungsgeschwindigkeit ebenfalls
einen Anhaltepunkt giebt,
um
die
mittlere Tiefe des Oceans zu bestimmen, herausgerechnet hat. — Die
Westküste Nordamerikas fällt dermaßen steil inS Meer ab, daß beispiels
weise schon 60 Seemeilen von dem Gestade CalifornienS entfernt 3000 M., in einer Entfernung von 150 und 190 Meilen 4000 respect. 4500 M.
gelothet wurden.
Ebenso haben die Lothungen an den Ufern Chiles und
Perus Resultate ergeben, die beweisen, daß dort die Anden Südamerikas steil inS Meer abfallen.
Von der Küste CalifornienS bis zu der Gruppe
der Sandwichinseln besitzt der Meeresboden eine fast ebene, westlich von dieser Inselgruppe — zwischen Honolulu und Bonininseln — eine mehr unregelmäßige Gestaltung, indem dort die oben erwähnten 7 unterseeischen Erhebungen, die höchsten Spitzen versunkener Ländermassen, mit Ver
tiefungen abwechseln.
Daß es vulkanische Action gewesen ist, welche das
Versinken deS Landes in diesem Theile des Pacific bewirkte, dafür spricht
außer den oben angegebenen Gründen auch der vulkanische Charakter der soeben erwähnten Inseln. — Nördlich von den Bonininseln und östlich
von der Küste deS Japanischen JnselreichS und der Kurilen hat die TuScarora die ungeheure Tiefe von 8513 M. gelothet.
tiefste Bodensenkung
auf
ES ist dies die
unserem Planeten,
ein
Abgrund,
dessen Tiefe nur 327 M. weniger beträgt als die Höhe deS
Gaurifankar, des höchsten Berges der Erde.
Nördlich von dem
zuvor erwähnten Gebiet der 7 unterseeischen Erhebungen erstreckt sich die
„Tuscarora-Tiefe" bis zum 140° W. L. wenn auch mit etwas geringerer
Depression deS Meeresbodens wie weiter westlich. — Was für gewaltige unterseeische Abstürze hier und da existiren, beweist die Thatsache, daß
100 Seemeilen von Sendai-Bah (an der Südostküste von Nipon) das
6*
84
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
Loth bis zu 6267 M., in etwas weiterer Entfernung von der Küste bis 8490 M. hinabsank, während unmittelbar vorher — etwas näher an dem
Ufer Japans — nur 3352 M. gelothet wurden.
Wir haben hier also
eine Senkung von mehr als 5000 M. auf geringer Flächenausdehnung des Meeresbodens. — Die Meeresbecken, welche den mittleren und süd lichen Theil des westlichen Pacific einnehmen (Melanasia-CelebcS-Banda-
Sulusee u. s. w.), zeigen insofern eine Uebereinstimmung mit dem mittel ländischen Meer, als sie durch unterseeische Riffe von der Communication
mit dem freien Ocean abgeschlossen sind und in Folge dessen ganz eigen artige Temperaturverhältnisse und eine besondere Fauna aufweisen. — Im
südlichen stillen Ocean haben einerseits die dort vorgenommenen Lothungen die Existenz eines untergesenkten Plateaus,
welches
die Gruppen der
Marquesas, der GesellschaftS- und Niedrigen Inseln mit dem südlichen
Chile und Patagonien verbindet, nachgewiesen;
andererseits zeigen
die
Untersuchlmgen der „Gazelle", daß sich weiter südlich, im Westen von
Neuseeland und den Freundschaftsinseln, im Norden von den Cook- und Tubuaiinseln, im Osten von der Südspitze Amerikas begrenzt, eine aus
gedehnte Senkung des Meeresbodens befindet, die sich erst jenseits 50° S. Br. wieder zum antarktischen, submarinen Plateau erhebt.
Im Indischen Ocean
erstreckt
sich zwischen den Parallelen von
35 bis 55 ® S. Br. und den Meridianen von 35 bis 80 O. L. ein unter seeisches Plateau mit einer Durchschnittstiefe von 2700 M., als
dessen
über Wasser befindliche Spitzen die Inseln St. Paul, Neu-Amsterdam,
die Prince Edwards- und Crozetinseln, die Kerguelengruppe und Macdo naldinseln zu betrachten sind.
Besagtes Plateau scheint nur die Fort
setzung des großen antarktischen Plateaus zu sein.
Das eigentliche Tief
becken des Indischen Meeres dehnt sich vom Meridian der Insel Mau ritius bis zu der Ecke zwischen Java und dem nördlichen Australien aus. Die größte Tiefe des Indischen Oceans wurde im östlichsten Theile dieses Beckens unweit der Küste Nordwestaustraliens
mit 5523 M. gelothet.
An der Südküste Australiens befindet sich eine zweite Bodensenkung, die sich
über die Südspitze von Tasmanien hinaus erstreckt und einerseits
mit einer tiefen Einsenkung des Meeresbodens zwischen Australien und
Neuseeland, andererseits mit dem zuvor erwähnten Depressionsgebiet des südlichen stillen Meeres zusammenhängt. — Die Meerbusen, welche der
Indische Ocean bildet, sind im Allgemeinen flach; am flachsten ist das rothe Meer, welches außerdem noch die Eigenthümlichkeit besitzt, daß sich von der Straße Babel-Mandeb nach dem Golf von Suez hin der Salz
gehalt des MeerwafferS allmählich steigert — eine Thatsache die durch die bedeutende Verdunstung, die dort stattfindet und die geringe Wasser-
zufuhr vom Indischen Meere her zu erklären ist. — Eine besondere Er wähnung verdienen wohl noch jene StrömungS- und Temperaturverhält
nisse, welche sich in den das Cap der guten Hoffnung begrenzenden Meerestheileil vorfinden.
An der äußersten Südspitze des afrikanischen
ContinentS nahe Cap Agulhas (Nädelcap) begegnet hier der mit der
afrikanischen Ostküste parallel laufende heiße Mozambiquestrom — hier bereits Agulhasstrom genannt — einer vom Südpol heranziehenden kalten Oberflächenströmung und durch die plötzliche Abkühlung der Wassermaffen
und die damit verbundene Erniedrigung des barometrischen Druckes, wie
sie hier stattfindet, werden jene furchtbaren Unwetter erzeugt, die das Cap der guten Hoffnung zum Schrecken der Seefahrer machen. südlich von
Nördlich und
dem eigentlichen Vorgebirge der guten Hoffnung zeigt das
Meerwasser in
seiner Temperatur sehr bedeutende Unterschiede.
So ist
z. B. daö Wasser der Tafelbai in der Regel um 10° F. kälter als das
der benachbarten SimonSbat, die südlich vom JsthmuS der Cap-Halbinsel
gelegen
ist und noch vom heißen AgulhaSstrom berührt wird.
Sobald
aber der Nordwestwind hier nur einige Stunden weht, treibt das Waffer deS allantischen Meeres daS Waffer des Indischen Oceans aus der St-
monsbat heraus und innerhalb weniger Stunden sinkt alsdann die Tem peratur deS MeerwafferS in jener Bai um 10 bis 12° F.
Die Kenntniß des lückenhafte und
JameS Roß
südlichen PolarmeereS
beruht im Wesentlichen
ist noch
eine sehr
auf jenen Untersuchungen, die
auf seinen Südpolarfahrten dort vorgenommen hat.
Auf
die Erhebung deS Meeresbodens nach dem Polarkreise zu, sowie auf die
Wahrscheinlichkeit der Existmz von Ländermassen nahe dem Südpol un serer Erde — außer dem bekannten Victorialand — wurde bereits im
Vorhergehenden hingewiesen. Nachdem wir unS einen Ueberblick über die Tiefe und Bodengestal
tung der einzelnen Oceane verschafft und einige damit in Zusammenhang
stehende Verhältnisse erörtert haben, wollen wir daS, was in Betreff des Salzgehaltes und specifischen Gewichtes deS Meereswassers
durch die Tiefseeforschung festgestellt wurde — soweit es nicht schon in dem Vorhergehenden enthalten ist — hier noch mit einigen Worten er
läutern.
Die Ursachen, welche eine Vermehrung oder Verminderung deS
Salzgehaltes und somit der Schwere des MeerwafferS bedingen, sind identisch mit jenen, welche eine Veränderung deS Aggregatzustandes des flüssigen Elementes Hervorrufen.
Während
einerseits hohe Temperatur
und Trockenheit der Atmosphäre die Verdunstung deS MeerwafferS be
fördert und somit eine größere Concentration desselben bewirkt, hat an dererseits die Kälte, indem sie das salzarme Eis aus dem salzreicheren
Die Tiefseeforschung der Neuzeit.
86
Wasser auSscheidet, die
nämliche Wirkung.
Neben lokalen Einflüssen,
größerer oder geringerer Wasserzufuhr in abgeschlossenen Meerestheilen
— ich erinnere nur an das, was bezüglich des Salzgehaltes im Wasser
deS
mittelländischen und rothen Meeres gesagt wurde — sind es vor
Allem die Passatwinde, welche die Verdampfung und somit die Concen
tration des MeerwasserS
beeinflussen.
Dem
entsprechend unterscheidet
Buchanan 5 zwischen den beiden Polarzonen gelegene Zonen verschiedenen Salzgehaltes,
nämlich erstens die beiden Zonen, worin letzterer
sein
Maximum erreicht, entsprechend der Region deS NordostpassatS auf der nördlichen, des SüdostpasfatS auf der südlichen Halbkugel, ferner die
zwischen diesen beiden Zonen gelegene Region der Salmen, innerhalb deren daS specifische Gewicht und der Salzgehalt deS Seewassers durch die ge
waltigen atmosphärischen Niederschläge verringert wird und endlich die
nördlich und südlich von den Passatzonen gelegenen MeereStheile, in denen
eine mittlere Höhe der Concentration und der specifischen Schwere deS
MeerwasserS vorherrscht.
Was die Aenderung dieser Eigenschaften nach
der Tiefe zu anlangt, so wurde constatirt, daß daS specifische Gewicht im
Allgemeinen von der Oberfläche oder vielmehr von einer dicht unter der
selben befindlichen Wasserschicht bis zu einem Niveau von 1500—2000 M.
ab- und von da bis hinab bis zum Meeresboden wieder zunimmt. Daß
die einzelnen Oceane in Bezug auf die Vertheilung deS specifischen Ge wichts — sowohl an der Oberfläche wie nach der Tiefe zu — unter sich erhebliche Verschiedenheiten aufweisen, beruht ebensowohl auf der mannig faltigen Gestaltung der MeereSbecken — (in offenen Meeren haben die
ausgleichenden Grundströmungen größeren Spielraum) — wie auf der Verschiedenheit der dort vorherrschenden Luftströmungen und deS Quan
tums der feuchten Niederschläge. In Betreff der verschiedenen chemischen Zusammensetzung deS MeerwasserS — (man glaubte früher, daß der Gehalt an Kalk- und Kieselsalzen in dem Waffer der einzelnen Oceane bedeutend variire) —
haben die Untersuchungen, welche Professor Jacobsen in Rostock an den von der „Gazelle" in verschiedenen Meeren und in verschiedenen Breiten gesammelten Wafferproben angestellt hat, erwiesen, daß die Mischung ter chemischen Bestandtheile des MeerwasserS eine sehr gleichmäßige ist unb
daß das Wasser der MeereStiefe nicht, wie man früher annahm, in Folge
des dort herrschenden Druckes einen Luftüberschuß aufgelöst enthalte. — Ein genaueres Studium der Chemie des MeerwasserS bleibt aber ebenso,
wie die Beantwortung so vieler anderer Fragen der Zukunft vorbehallln.
Die Verlegenheiten Gambetta's. (Politische Correspondenz.)
Berlin, 11. Juli 1881. Der Prozeß „Gambetta gegen Grävy" wird ungefähr um dieselbe Zeit in daS entscheidende Stadium treten, wo in Deutschland die Wähler
berufen sein werden, die Frage:
worten.
„Für oder gegen Bismarck" zu beant
Auf dieses äußerliche Zusammentreffen freilich beschränkt sich die
Bergleichbarkeit der deutschen und der französischen Zustände.
Bei rmS
ist die Macht der Initiative auf der Seite des Staatsmannes, der die Zügel der Politik in der Hand hat und der durch beispiellose Erfolge auf dem Gebiete der auswärtigen Politik seine Popularität
begründet hat.
Der AuSgang des deutschen Wahlkampfs würde unter allen Umständen die
Grundlinien der auswärtigen Politik deS Reichs unberührt lassen, und wenn man die Gegensätze ins Auge faßt, zwischen denen Frankreich aufund abschwankt, so ist man versucht,
die Fragen der innern Politik,
welche die politischen Leidenschaften in Deutschland in Bewegung setzen,
als verhältnißmäßig unbedeutend zu charakterisiren.
Kein Wunder, daß
daS Ausland mehr mit Neugierde als mit lebendigem Interesse die Ent
wickelung unserer innern Politik verfolgt.
gensatz persönlicher Rivalitäten.
Bor Allem fehlt uns der Ge
Die Rtesenfigur deö Mannes, der seit
nahezu 20 Jahren die preußische und die deutsche Politik leitet, läßt alle
Gegner klein erscheinen.
In Frankreich kommt der Nimbus der Popu
larität nicht der herrschenden, sondern der nach der Herrschaft ringenden
Partei zu Gute, um so mehr als es selbst einem Franzosen schwer werden
würde, den Antheil deö Präsidenten und denjenigen deS Prätendenten an den Erfolgen deS bestehenden RegierungSfystemS zu sondern.
Unglück
licher Weise entspricht der Stärke der Initiative in keiner Weise die Klar heit und Offenheit deS politischen Programms — und darauf beruht offenbar die Schwäche des Prätendenten.
Wenn morgen Gambetta an
Stelle Grövy'S ble Präsidentschaft übernähme, würde fretltch „der Kampf um die Beute" in erster Linie stehen; aber Niemand, vielleicht sogar
Gambetta nicht, hat eine deutliche Vorstellung von dem Einflüsse, welchen
dieses Eretgniß auf die republikanischen Institutionen auSüben würde.
Nur das ist zweifellos, daß die Gambetta'sche Republik auf dem Gebiet
der europäischen Politik nicht nur eine andere Nummer,
sondern auch
einen andern Faden spinnen würde; aber gerade diese Ueberzeugung ist
eS, welche dem Exdictator von Tours den Sieg erschwert.
Darin liegt
ohne Zweifel die Erklärung der räthselhaften Tactik deS Kammerpräsi
denten.
Niemand weiß besser als er, daß sein Name allein schon ein
Programm ist, aber ein Programm, welches das Frankreich deS gesättigten
RepublikanismuS verleugnen wird, bis eine glückliche oder unglückliche Verkettung von Umständen ihm dasselbe aufzwingt.
In der That kämpft
Gambetta nicht gegen Personen, sondern gegen die Nation, gegen den
besseren Jnstinct der Nation, und deshalb scheut er sich, in die Arena der praktischen Politik herabzusteigen. Wenn man den zahlreichen und beredten Freunden Gambettas im
Parlament und in der Presse Glauben schenken will, so muß man an nehmen, daß es nur von ihm abgehangen hätte, die Präsidentschaft der
Deputirtenkammer mit derjenigen der Republik oder doch mit dem Vorsitz
im Ministerrath zu vertauschen. Zeit noch nicht gekommen.
Aber Gambetta ist der Ansicht, daß seine
Er verschmäht eS, von der zweiten Stelle aus
sich die erste zu erkämpfen; er fürchtet das „hart im Raume stoßen sich
die Dinge"; er schmeichelt sich mit der Hoffnung, in dem entscheidenden
Moment wie ein deus ex machina auf die Bühne treten zu können. Seiner leidenschaftlichen Natur widerstrebt eS, die opportunistische Politik, die Politik der Compromisse praktisch zu bethätigen,
sehen, siegen".
er will „kommen,
Ob der Plan gelingen wird, ist nicht nur für Frankreich,
sondern auch für Europa und vor Allem für Deutschland von größtem
Interesse.
DaS erste unerwartete Erelgniß, welches die Cirkel Gambettas störte, war der Staatsstreich vom 16. Mai, der den vorzeitigen Rücktritt Mac
Mahon'S nach sich zog.
Mac Mahon war am 24. November 1873 zum
Präsidenten gewählt worden; sein Mandat lief also erst an dem Tage deS November 1880 ab und dieser Termin würde in sehr günstiger Weise
zusammengetroffen sein mit dem Ablauf deS Mandats der auf Grund der Verfassung vom 25. Februar 1875 gewählten zweiten Kammer.
Noch
ein drittes Datum mußte das Jahr 1880 als geeignetsten Zeitpunkt für den Beginn der neuen Aera erscheinen lassen: die Vollendung der neuen Militärorganisation.
Hinderlicher noch als die Verschiebung der Daten
hat sich für die Aspirationen Gambetta'S der Umstand erwiesen, daß die Präsidentschaft Grövy'S (gewählt 30. Januar
1879) eine Periode re
publikanischer Entwickelung einleitete, welche nur den Extremen der Linken
unbefriedigend erschien, aber die breite Masse der Bevölkerung mit den neuen Institutionen auSsöhnte.
Vergebens wird man in den zahlreichen
Reden, mit denen Gambetta im Laufe der letzten Jahre seine Zuhörer
begeistert hat, auch nur den ersten Ansatz zu einem praktischen und den uilbefriedigten Bedürfnissen der Gegenwart entgegenkommenden Regierungö-
programm suchen.
Nur in der Frage der auswärtigen Politik besteht ein Gegensatz zwischen dem, was Gambetta erstrebt und dem, was Grevh gethan hat; aber es trifft sich schlecht, daß die Zukunftspolitik Gambettas
mit dem Friedensbedürfniß der Nation in allzu offenem Widerspruch steht. Seit dem Fiasco seiner Rede in Cherbourg hat freilich auch Gambetta
aber gerade dieser scheinbare Rückzug
Wasser in seinen Wein gethan;
auS einer zu weit vorgeschobenen Stellung war dem Prestige deS Kammer präsidenten wenig günstig
Unter diesen Umständen war die Aussicht, bei
den für den Herbst in Aussicht genommenen Neuwahlen zur Deputirtenkammer
eine gambettistische Majorität zu schaffen, eine sehr geringe.
So versuchte Gambetta eine Aenderung der Verfassung.
Die Wieder
einführung deS ListenscrutiniumS bei den Wahlen zur zweiten Kammer
sollte
ihin
den Wahlsieg
sichern.
Die Wahlen zu der Nationalver
sammlung von 1871 fanden nach Departements statt;
durch die Ver
fassung von 1875 trat die Wahl nach Arrondissements an die Stelle. Beide Wahlsysteme schließen
sich demnach
den
bestehenden
und nach
Flächeninhalt und Einwohnerzahl sehr verschiedenen administrativen Be zirken an.
Von Algier abgesehen, wählt Frankreich 526 Abgeordnete in
die Deputirten-Kammer,
70,000 Seelen.
also
durchschnittlich
einen
Abgeordneten auf
Bei der Wahl nach Arrondissements aber kommt es
vor, daß einmal 15,000 Einwohner, ein anderes Mal über 180,000 Ein wohner einen Deputirten wählen.
Die Ungleichheit der Vertretung ist
frappant; aber die Verknüpfung der politischen Repräsentation mit den Verwaltungsbezirken giebt dem Deputirten einen stärkeren Rückhalt gou-
vermentalen oder auch Partei-Zumuthungen gegenüber.
Je größer der
Wahlkreis, um so weniger finden die Minoritäten Berücksichtigung, um
so unabhängiger wird der Deputirte von den Wählern und um so ab hängiger von den Parteiführern, welche die Candidatenliste aufstellen. Wenn in allen zu einem Departement gehörigen Arrondissements die Abgeord
neten, welche bis jetzt in den einzelnen Arrondissements gewählt wurden, von sämmtlichen wahlberechtigten Einwohnern in der Weise gewählt- wer den, daß jeder Wähler für 6—10 Candidaten, also für eine Liste stimmt.
so fällt die auf persönlichen Beziehungen zu den Wählern beruhende Aus wahl der Candidaten fort; in einem Departement von 4 oder 500,000 Ein
wohnern tritt bei der Aufstellung der Candidaten die Thätigkeit der Partei führung in den Vordergrund.
Die Liste kann ebensogut in dem Hauptort
deS Departements wie in der Hauptstadt des Landes aufgestellt werden.
Der Gesetzentwurf Bardoux aber beschränkte sich nicht darauf, daS De partement als Wahlcollegium an die Stelle deS Arrondissements zu setzen;
eS sollte auch ein Bruchtheil von 70,000 Einwohnern einen Deputirten haben, mit anderen Worten die Zahl der Deputirten um 55 vermehrt
werden. Der Zweck dieser Wahlgeographie konnte kein anderer sein, als die Candidaten Gambetta'S zu vermehren.
Die Gambetta unbedingt ergebenen
Gruppen der jetzigen Kammer zählen etwa 180 Mitglieder; die Aussicht, diese Minorität zur Majorität zu machen, schien nur gesichert, wenn der
leitenden Stelle ein unbedingter Einfluß auf die Aufstellung der Candidaten d. h. auf die Anfertigung der Listen etngeräumt würde. In der Presse wurde als besonderes Verdienst deS Listensystems gerühmt, daß dasselbe der FractionSpolitik ein Ende machen und
eine einige republikanische
Partei schaffen werde; was freilich kein Wunder sein würde, wenn sämmt liche republikanische Candidaten der Approbation eines EentralcomitSS be
dürfen und also diesem gegenüber sich bezüglich ihrer politischen Haltung
verpflichten müssen.
Der principielle Streit, ob daS Listensystem den
Vorzug vor dem System der ArrondissementSwahlen verdiene, war ange
sichts der Tendenz des Antragstellers uud seiner Freunde ein ganz über flüssiger; die Absicht, Gambetta in möglichst vielen Departements wählen
zu lasten und somit ein Plebiszit für oder gegen Gambetta zu veran
stalten, dessen Ergebniß, im Falle der Plan gelang, den Vertrauensmann der Nation sofort auf den Präsidentensitz gebracht haben würde, war so
oft und so deutlich ausgesprochen worden, daß die akademischen Erörte rungen über das bessere System völlig werthloS waren.
Begreiflicher
Weise weigerte sich denn auch Präsident GrSvy, die Regierung für den Antrag Bardoux eintreten zu lassen, ohne indesten auS der Ablehnung
destelben eine CabinetSfrage zu machen.
Der Präsident der Republik ließ
sich nur zu dem Zugeständniß herbei, dem Anträge gegenüber Neutralität zu beobachten, offenbar mit dem Hintergedanken, auf alle Fälle seinen
Platz solange als möglich zu behaupten. Der Erfolg hat die Berechtigung dieses CalcülS erwiesen.
Allerdings nahm die
Deputirtenkammer am
19. Mat den Bardoux'schen Gesetzentwurf unter dem Eindruck einer Rede
Gambetta'S mit großer Majorität an, nachdem der Eintritt in die Special-
dtScussion nur mit 8 Stimmen beschlossen worden war; der Senat aber, der sehr wohl wußte, daß der erste Schritt einer Kammer von Gambetta'S
Gnaden eine Revision der Verfassung im Sinne deS Einkammersystems
sein würde, lehnte das Gesetz mit einer eben so starken Majorität ab. Wie wenig Gambetta einen solchen Ausgang für möglich gehalten hatte,
beweist die übermüthige Reise nach CahorS, seiner Heimathstadt, wo er verkündete:
„Bald werden wir wieder das allgemeine Stimmrecht br-
ftagen und wir werden es, obwohl der Senat seinen Beschluß noch nicht gefaßt hat, nach dem weitesten, aufrichtigsten, würdigsten und entscheidendsten WahlmoduS thun."
Im übrigen schienen die Reden von CahorS nur
dazu bestimmt, die Absichten des Prätendenten zu verhüllen. Er protestirte
gegen die Verläumdungen, deren Opfer er sei, er hob Grövy in alle Himmel, lobte sogar die Verfassung von 1875, an der man nicht vor der
Zeit rütteln dürfe und erklärte ausdrücklich, man müsse die dritten Er neuerungswahlen zum Senat abwarten und werde sich dann überzeugen,
daß diese Institution den gegen sie gerichteten Tadel immer weniger ver diene.
Nach dem Gesetz von 1875 besteht der Senat auS 75 von der
Kammer gewählten lebenslänglichen Mitgliedern und auS 225 von den
Departements auf 9 Jahre gewählten Mitgliedern, von denen alle drei
Jahre ein Drittel neu gewählt wird. Die erste Wahl hat im Januar 1876 stattgefunden; die erste Erneuerungswahl 1879, die Erneuerung des zweiten
Drittels wird also Anfang 1882, diejenige deS letzten Drittels 1885 er folgen.
Ganz anders freilich ließen sich die Freunde Gambettas
ver
nehmen, nachdem der Senat am 9. Juni die unerhörte Kühnheit gehabt
hatte, den Wahlgesetzentwurf mit 148 gegen 114 Stimmen a limine ab zuweisen und zwar nach
einer Rede des früheren Ministerpräsidenten
Waddington, der als Berichterstatter deS Ausschusses den Senat warnte,
der Furcht vor der Revision der Verfassung Gehör zu geben. abstimmung
Die Listen
bewilligen, hieße den Weg deS Plebiscits betreten;
eine
Persönlichkeit könne mit diesem Wahlsystem dem Präsidenten der Republik
Schach bieten und sogar dem Congreß im Falle einer Präsidentenwahl (diese erfolgt durch Senat und Kammer zusammen).
„Ich bin überzeugt,
schloß Herr Waddington, daß Frankreich die parlamentarische Republik
verlassen und in die cäsarische eintreten wird, wenn Sie die Leute in
Versuchung führen; eS wäre zu verwundern, wenn sie schließlich nicht der
Versuchung erlägen.
An unheilvollen Anzeichen fehlt eS nicht; aber der
Senat hat die Pflicht, das Gesetz Bardoux abzulehnen, um seine Würde und daS allgemeine Stimmrecht zu schützen."
Kaum war die Entscheidung
gefallen, so schrieb daS Organ Gambetta'S, die Rtipublique frangaise:
„Die Kammer muß fortgehen und das Ministerium bleiben, um Frank
reich das Wort zu ertheilen, und dieses muß möglichst schnell geschehen."
Aber der neue Antrag Bardoux wegen Auflösung der Kammer und so-
Die Verlegenheiten Gambettas.
92
fertiger Neuwahl im Juli erhielt in den Bureaux nur 69 Stimmen! Am 20. Juni hielt der Ministerpräsident Ferry bei der Preisvertheilung der landwirthschaftlichen Ausstellung in Epinal eine Rede, in der er der gemäßigten Republik eine warme Lobrede hielt und ihre Verdienste —
den Feldzug gegen den ClericaliSmuS und die Unterrichtsreform, die Re
form des Richterstandes und die Steuerreform, durch welche die Steuern in vier Jahren um 280 Millionen Francs — nicht vermehrt, sondern —
vermindert worden seien — aufzählte.
In bitterster Weise tadelte er die
Kurzsichtigen, die in die Wahlschlacht gehen wollten, ohne die monarchischen
Parteien zu beachten.
„Ihr Bündniß mit der äußersten Linken wäre eine
Gefahr für die Republik.
Ich trage hier keine transscendente Politik vor,
keine fertigen Formeln, wie man das an gewissen anderen Stellen thut."
Die Niederlage, welche Gambetta in dieser Wahlreform-Campagne erlitten hat, ist offenkundig; die Tragweite und die Wirkung dieser Nieder lage abzuschätzen, erscheint wichtiger als eine Thatsache zu constatiren, die
Niemand bestreitet, Gambetta am wenigsten.
Am 19. Juni erschien er,
wie alljährlich, auf dem Jahresbauquet der Pariser Kammdrechsler in der Vorstadt St.-Mand6, die zu seinem Wahlkreise Belleville gehört.
Die
Sorgen der Politik, sagte er, oder wie es allzu empfindliche Freunde
nennen, die Verlegenheiten der parlamentarischen Lage habe er vor der
Thür gelassen.
Jeder Tag habe seine Mühe und wenn die Mühe nicht
mit dem Erfolge belohnt werde, gebe man sich von Neuem an die Arbeit
und
mit größerem Eifer.
Die Gambettistischen Blätter haben in der
That die neue Parole schon ausgegeben; sie lautet auf ein gemeinsames Wahlprogramm der republikanischen Parteien, die Radikalen, die wüthendsten
Gegner der opportunistischen Politik nicht ausgenommen. Den Kern der Frage aber berührt eine andere Aeußerung Gambetta'S.
Er protestirte gegen den Gedanken, als ob die angeblichen „par
lamentarischen Verlegenheiten"
ihm schaden könnten.
„Man muß ge
stehen, daß diejenigen, die also sprechen, uns nur schlecht kennen.
kenne Euch und Ihr kennt mich.
Ich
Wir sind zusammen vor bald zwölf
Jahren zu einer langen und schönen Reise auSgezogen, haben schwierige Stunden durchgemacht, den Sturm tapfer bestanden und nicht jetzt,
wo
Alles dem Glücke der Republik lächelt, werden elende persönliche Händel
gegen die öffenlliche Freude in die Wageschaale fallen können."
ES ist
keine Frage, die Quelle der Popularität Gambetta'S und seines Einflusses auf die Massen ist die That des Dictators von Tours, der nach dem schmachvollen Zusammenbruch des zweiten Kaiserreichs durch die Proclamirung des guerre ä outrance wenigstens die Ehre der französischen
Nation rettete.
Daß die Regierung der nationalen Vertheidigung, welche
Parts für uneinnehmbar erklärte, die ihr gestellte Aufgabe, den Eindring ling zu vertreiben, nicht gelöst hat, ist nach französischer Auffassung nicht
die Schuld der Männer, welche im September 1870 auf den Trümmern deS Kaiserreichs die Fahne der Republik aufpflanzten. In magnis et voluisse
sat est, heißt es auch hier. Ob und unter welchen Umständen aber Gambetta in der Lage sein wird, diese Popularität, welche ihm schon jetzt eine Stellung sichert, die eine thatsächliche Grundlage nicht hat, zum Hebel einer großen politischen
Action zu machen, ist eine andere Frage.
Parlamentarische Mißerfolge
werden bas nicht verhindern und deshalb werden Stege der Ferrh und
Genoffen immer nur ephemerer Natur fein.
Daß sich für Gambetta sehr
bald eine Gelegenheit bieten werde, die Zügel der französischen PolUik Herrn Grsvy aus der Hand zu nehmen, ist freilich wenig wahrscheinlich. Die militärische Promenade nach Tunis hat sich — ähnlich wie diejenige
von 1870 nach Berlin — als eine verhängntßvolle erwiesen.
Der Ver
trag mit dem Bey von Tunis vom 12. Mai hat nicht den Abschluß der Action, sondern den Ausgangspunkt der Verwickelungen gebildet.
„Der
wirkliche Gegner Frankreichs, schrieben wir im Mai, ist nicht der Bey und noch weniger der Sultan, sondern der muhamedantsche Fanatismus, der einmal entflammt, leicht auch die algerischen Stämme zum Aufruhr
gegen die französische Herrschaft treiben könnte."
Was damals nur eine
Möglichkeit war, ist heute gefahrdrohende Wirklichkeit geworden.
Der
Protest des Sultans gegen den Vertrag vom 12; Mai hat nicht die Groß
mächte, wohl aber die muhamedanische Welt in Aufregung versetzt und
wieder einmal erkennen lassen, daß der „dunkle Continent" seit der Zeit Jngurtha'S seinen Charakter nicht verändert hat.
An die Stelle der
mythischen KhrumtrS sind Araber mit Fleisch und Blut getreten, welche
bald hier bald dort die französischen Ansiedelungen, ohnehin Oasen in der Wüste überfallen. DaS. ist der Bödensatz jener Phantasien von der Er
schließung Mittelafrika'S und dem Eisenbahnbau durch die Sahara!
Der
Bey hat sich dem französischen Protectorat unterworfen, aber daS tunesische Gebiet wird Schritt für Schritt erobert, die aufständischen Hafenplätze nach
dem Beispiele von Sfax bombardirt werden müssen.
Mit den
Soldaten einer.Nation unter dem System der allgemeinen Wchrpflicht
führt man nicht Krieg, wie mit den Söldlingen, die nach Abenteuern lechzen.
Kaum haben sich die Truppen an das Klima gewöhnt, so müssen
sie aus Gesundheitsrücksichten abgelöst werden und der Kriegsminister, glücklicher Weise einer der Gambettistischen Minister findet eS immer
schwieriger, den Nachschub zu beschaffen, ohne zu mobilisiren und die Cadreö zu decimiren.
Wie bald werden die Lobredner der Colonialpolitik
Die Verlegenheiten Gambetta'S.
94
ä la Leroy-Beaulieu verstummen. Continental- oder besser gesagt,
Es war ja sehr verdienstlich, die
die Revanche-Politik zu diScreditiren;
aber es zeigt sich, daß „die einzige ernsthafte Mission Frankreichs", die
Colonialpolitik, schwere Opfer fordert.
Und in welche Verwirrung hat die Expedition nach Tunis die aus wärtigen Beziehungen Frankreichs gebracht!
Die italienische Diplomatie
ließ sich mit Phrasen abspeisen; das Anerbieten, den Italienern zum Ersatz für den in Tunis verlorenen Einfluß Tripolis zu überlassen, konnte nichts
anderes sein.
Aber der Uebermuth deS Siegers provocirte sogar auf dem
gastlichen Boden Frankreichs eine Jtalienerhetze.
Als am 19. Juni bei
dem Einzuge der Sieger über die KhrumirS in Marseille der dortige italienische Club „zu flaggen vergaß", als die französischen Truppen sogar
mit Pfeifen, angeblich seitens der Italiener begrüßt wurden, rächte der süße Marseiller Pöbel die beleidigte Nationalehre Frankreichs mit FLusten und Messern.
Die tunesische Frage ist das
Signal zur
Abrechnung
zwischen Italien und Frankreich geworden, trotz des Widerstreben» der Rndicalen, deren Herrschaft durch diese „Reaction" in Gefahr kommen
könnte.
Ist eS doch schon so weit gekommen, daß das Journal des Du
bais die Betheiligung des französischen Capitals an der italienische» An leihe, welche die Beseitigung des ZwangscurseS bezweckt, als inopportun und unpatriotisch bezeichnet, solange Italien seine Politik Frankreich gegen über nicht ändere.
Die Plünderung der spanischen Colonie in Sada in
dem algerischen Departement Oran durch aufständische Araber uno die Weigerung der französischen Regierung, den Spaniern eine Entschäd'gung
zuzusichern, hat in Spanien eine gleiche Bewegung hervorgerufen, die ebenfalls der konservativen Strömung zu Gute kommt.
Die Allianz der
lateinischen Racen, welche das Kaiserreich zum Hebel seiner „Contimntalpolittk" machen wollte, die Gambetta zu benutzen gedachte, als er sch zu dem Worte verstieg: „die Republik muß Propaganda macken",
droht zu einer inhaltlosen Phrase zu werden.
Die Beziehungen zu Eng
land sind nicht besser geworden; daß dieselben sich nicht noch mehr ver schlimmeren, daran tragen die irischen Verlegenheiten Gladstone»
Hauptschuld.
Die englische Einfuhr beherrschte bisher den
die
tunesischen
Markt — damit ist alles gesagt.
Die französische Oppositionspresse schöpft aus diesen Nachwirkungen der tunesischen Expedition den Muth, die Regierung als von dem Firsten
Bismarck düpirt lächerlich zu machen.
Fürst Bismarck hat natürlich alle
die für Frankreich unangenehmen Folgen der Expedition vorauSgisehen und in dieser Voraussicht die französische Regierung zu dem Unternchmen ermuthigt. Vielleicht hatte er auch seine Hand in dem Gemetzel von Saida
und dem Tumult in Marseille.
Indessen war auch die ftanzösische Re
gierung im Voraus nicht im Zweifel darüber, daß die Expedition nach
Tunis weder in London noch in Italien oder Spanien Beifall finden
würde.
Aber in Frankreich war man nun einmal nicht gewillt, eine
Politik der Abenteuer zu treiben.
Der Aufständischen in Algier und
in Tunis wird man etwas früher oder etwas später Herr werden und
dann hoffentlich sich
ernstlich mit der Frage der Colonisation Nord-
afrika'S beschäftigen.
Vielleicht ist eS nach den neuesten Erfahrungen der
Republik vorbehalten, endlich dem AuSbeutungSshstem, welches unter der Militär- wie unter der Civilverwaltung in Algier in Blüthe steht, ein
Ende zu machen, vorausgesetzt, daß die Expedition nach Tunis noch einen anderen Zweck hatte, als für den Augenblick auf dem am wenigsten ge
fährlichen Terrain dem wiedererwachten Bedürfniß der Franzosen nach der Bethätigung ihrer Kraft im Auslande zu genügen — und Gambetta die Karte aus der Hand zu nehmen.
Wer weiß, auf wie lange.
k.
Notizen. Die Gemäldegalerie des Museo del Prado zu Madrid in Braunschen Nachbildungen. Die Firma Ad. Braun & Co. in Dornach hat soeben -begonnen, ein künst
lerisches Unternehmen ins Werk zu setzen, das ganz ihrem alten Ruhm ent
spricht.
Ein Unternehmen, daS man unbedenklich zu den feit geraumer Zeit
bedeutendsten dürfen.
auf
dem Gebiete der vervielfältigenden Künste
wird
zählen
Sie veröffentlicht eine erste, 50 Blatt umfassende Lieferung der Ge
mäldegalerie deS Museo del Prado in Madrid, in der lhr eigenthümlichen Art photographischer Nachbildung direct nach den Originalen. Nun weiß jeder, wenn er sich auch nur oberflächlich mit bildender Kunst be
schäftigt, daß die Madrider Gemäldegalerie zu den ersten Europas gehört. Nicht nur, daß sie hervorragende Werke der großen Italiener, vor Allen Raphaels und
Titians enthält, und auch von Andrea del Sarto, Giorgione, Guido Reni und vielen sonst sehr werthvolle Gemälde aufweist: die großen spanischen Maler des 16., die größeren des 17. Jahrhunderts, insbesondere Murillo und Velasquez, kann man in ihrer vollen Bedeutung nur auf Grund der Schätze würdigen, die
sie von ihnen besitzt.
Wie auch hätte eine Sammlung, angelegt in einem
Lande, in dem die Malerei schon seit Jahrhunderten blühte, dessen Monarchen
und Granden mit der Kirche in ihrer Begünstigung und Beförderung wett eiferten, daS jährlich von den Goldschätzen des neuentdeckten Amerika über-
fluthet wurde, und das in engen Beziehungen zu Italien, der Wiege und dem Thron der modernen Kunst stand, — wie hätte
eine Vereinigung der in
Spanien seit Alters verstreuten Gemälde nicht ein Sammelplatz des vorzüg lichsten, was je gemalt wurde, werden müssen?
Während man in Dresden und
Berlin, in London und Petersburg aus der Ferne zusammenkaufen mußte,
brauchte man in Madrid die überwältigende Fülle kostbarster Schätze, die man längst besaß, nur zusammenzustellen. Wer kannte sie bisher?
Während das gastliche Italien jährlich eine
Völkerwanderung von Fremden erlebt, die sich an dem Doppelzauber von Natur und Kunst erquicken wollen, liegt Spanien seitab, unersehnt, unbetreten, wie vom Mittelpunkt der Welt den es einst gebildet, nach ihrer Peripherie gedrängt; die Ultima Thule unter den romanischen Ländern.
Einzelne der berühmtesten
Kunstwerke die sich dort finden, haben freilich in immer neuer Gewandung den Weg über die Pyrenäen gefunden: Raphaels Kreuztragung, feine Madonna
mit dem Fisch, Murillos Immaculata u. a. wurden wieder und wieder gestochen;
die namhaftesten Kupferstecher, (Denoyers, Steinla, P. Toschi u. a.) haben sich Aber um sich dem Eindruck von bet ganzen Fülle
an ihrer Wiedergabe versucht.
der Madrider Kunstschätze hinzugeben, war man bisher auf die Laurentschen Photographien angewiesen, die nicht einmal den Vergleich mit den bekannten
italienischen (Fratelli Alinari, Brogi, Naja u. a.) aushalten.. So ist denn nun endlich der Bann gelöst. Da wir nicht zu jenen Kunstschätzen kommen, kommen sie zu und, Dank der Firma Braun & Co.
Und
sie, die unter allen die photographische Nachbildung pflegenden Kunstanstalten, was technische- Verfahren und Größe
des Verlags aber auch was Opfer-
willigkeit betrifft, den unbestritten ersten Rang einnimmt, hat sich an das
Unternehmen gemacht, ganz in dem ihrer würdigen Geist deS noblesse oblige.
Nicht weniger als 397 Blatt Nachbildungen kündigt sie an; von ihnen 270 in großem Format (Bildgröße 40:50Str.), 127 in mittlerem (Bildgröße 24 :30Str.).
Darunter 34 Murillo, 48 Velasquez, 11 Raphael, 25 Titian, 16 Ban Dyk,
32 Rubens, 21 Teniers.
Aber auch die anderen großen Meister früherer Jahr
hunderte und aller Schulen fehlen nicht.
Da finden wir von den Italienern
Correggio, Fr. Francia, Giorgione, Luini, Mantegna, Parmigianino, Pordenone,
Gmdo Reni, A. del Sarto, P. Veronese u. a., von den Deutschen und Nieder ländern, Dürer (5 Bl.) und H. Holbein, Memling und R. van der Weyden, Rembrandt, I. Breughel (14 Bl.), Jordaens u. a.; von den Franzosen Claude
Lorrain, Poussin, Lebrun.
Und dazu dann die Spanier!
Gleich die erste Lieferung enthält 4 Raphaels in großem Format. unter die Kreuztragung und die Madonna mit dem Fisch.
wirken durchaus bildartig.
Dar
Beide Blätter
Selbst die tiefsten Partieen — so oft bei Photon
graphien im Sinn deS Worts der „dunkle Punkt" — kommen mit größter
Klarheit und Schärfe heraus.
Der satte mild-bräunliche Ton, der über dem
Ganzen ausgebreitet ist, und ihm etwas von der Wärme des farbigen Ge mäldes verleiht, gewährt einen Reiz, der selbst dem vollendetsten Kupferstich
fehlt, da bei ihm daS kalte Weiß deS Papiers immer mit einer gewissen Schärfe gegen die nicht minder kalten schwarzen Strichlagen der Zeichnung contrastirt. Wer kennt nicht die vorzügliche nach dem Original selbst genommene große Photo graphie der Sixtinischen Madonna (von der photographischen Gesellschaft in Berlin), der man jetzt so häufig auch als Zimmerschmuck begegnet?
Ich stehe
nicht an diesen Braunschen Nachbildungen selbst vor ihr den Vorzug zu geben.
Unter Glas und Rahmen würde die Madonna mit dem Fisch, eins von Ra phaels großartigsten Madonnenbildern, eine wahre Zierde deS Wohnraumes
sein. — Von den Gemälden des Velasquez ist der Kopf des Aesop besonders
gut herausgekommen, er wirkt förmlich plastisch; mit Bewunderung folgt man der breiten genialen Pinselführung bis ins Detail.
Gradezu entzückend ist das
Porträt des Don Balthasar Carl, wohl eins der liebenswürdigsten und origi
nellsten Bildnisse, die je gemalt wurden.
Wie der kleine Prinz hoch zu Roß
gradeswegS auf den Beschauer lossprengt, mit seinem anmuthig ernsten Kinder-
Preußische Jahrbücher. Bd. XLV11I. Heft 1.
7
Notizen.
98
köpfchen, seiner stolzen Feldherrnruhe und dem gewaltig aufstampfenden lang
mähnigen Roß, das sich abmüht, als trüge es, wer weiß welche Last.
Gegensätze, die sich zu einem äußerst feffelnden Ganzen fügen.
production ist untadelhaft.
Das sind
Und die Re-
Man trennt sich nur schwer von dem köstlichen Blatt.
Vom technischen Standpunkte die meisterhafteste der vorliegenden Braun'schen Meisterleistungeu dürfte wohl die Nachbildung der TenierS'schen „Gemälde
galerie des Erzherzog Leopold Wilhelm v. Brüffel" sein.
Von den etwa vierzig
Bildern, die theils an den Wänden des dargestellten Cabinettes hängen, theils auf der Erde umherstehen, ist jedes aufs schärfste wiedergegeben, so daß man gar unschwer manchen alten Bekannten wiederfindet: Titian, Palma Vecchio,
Dominicino, Pordenone u. a.
Alle sind sie bis ins Detail genau zu erkennen
und mit wahrem Genuß ergeht man sich umherschauend in dem behaglichen
Raum, als gehöre man zu der anwesenden Gesellschaft.
Man braucht nur die
unansehnliche Photographie desselben Gemäldes von Laurent neben die Braunffche
zu Hallen, um deren Vollkommenheit ganz zu würdigen.
Genug der Einzelheiten; denn nicht darauf kann es ankommen, das gleiche
Lob, das all diesen Nachbildungen gebührt, jeder einzelnen im Besonderen zu spenden. Schönes ist in würdiger Form geboten. Reichlich, und daß ich es hin
zufüge, um einen nicht eben theuren Preis.
Wenn man bedenkt, daß eine Ab
theilung deS Braunffchen Ateliers nach Madrid hat übersiedeln müssen, um die
Blätter an Ort und Stelle anzufertigen, wenn man die complicirte und kost spielige Art der Herstellung dieser Kohle drucke, aber auch bedenkt, daß sie nicht
wie gewöhnliche Photographien mit der Zeit durch die Einwirkung des Lichts einbüßen, so wird man den Preis von 12 resp. 4 Mk. 80 Pf. (in Subscription von 10 und 4 Mk.) für die elegant ausgestatteten Blätter nur angemeffen
finden. Soeben erscheint die zweite Lieferung, gleich der ersten 50 Blatt enthaltend; darunter wieder köstliche Stücke: von Raphael die heilige Familie genannt „die Perle", und die heilige Familie mit dem Lamme; das Dürersche Selbstportrait
(ganz vorzüglich wiedergegeben); die Uebergabe Breders („die Lanzen") von Velasquez und sein prachtvolles Reiterbildniß des Herzog von Olivarez.
Dazu
wieder eine ganze Reihe von Murillos, die gleich denen der ersten Lieferung in
der Reproduction besonders gut gerathen sind. Halle a./S.
G. Droysen.
Verantwortlicher Redacteur:
H. v. Treitschke.
Druck und Perlag von G. Reimer in Perlin,
Verfaffungsgeschichte der Vereinigten Staaten
von Amerika.
(Schluß.)
Am 4. December 1848 trat der 30. Congreß zu seiner zweiten und letzten Session wieder zusammen und, da alle großen Fragen der aus
wärtigen Politik nunmehr erledigt waren, lag es in der Natur der Sache, daß Hinfort die Frage der Organisation der neuerworbenen Gebiete und damit zugleich die brennende Frage, ob und wie weit die Sklaverei in
denselben für zulässig erachtet werden solle, den Hauptgegenstand aller Debatten bildete.
Von welcher Bedeutung dies aber war, ergiebt sich
schon aus der einfachen Thatsache, daß das Gebiet der Vereinigten Staaten
durch die Annexion von Texas und die Erwerbung von Neu-Mexico und
Kalifornien um mehr als den dritten Theil vergrößert war.
Rechnet man
Oregon, für welches die Sache schon erledigt war, noch hinzu, so betrug die Vergrößerung sogar mehr als die Hälfte.
Es liegt mir daher nun
mehr ob zu versuchen, einige allgemeine Gesichtspunkte und thatsächliche Vorgänge zusammenzustellen, welche es erklärlich machen, wie doch noch beinahe zwei Jahre vergehen konnten,
ehe man zu einem vorläufigen,
immerhin kläglichen Ausgleich gelangte.
Ich werde dabei natürlich, wenn
diese Anzeige nicht selbst zu einem Buch anschwellen soll, viel Interessantes völlig mit Stillschweigen übergehen müssen, aber ich darf mir doch Vor
behalten, hier und da meine von denen des Verfassers abweichenden An
sichten in ähnlicher Weise zum Ausdruck zu bringen, wie ich das bei Be sprechung seiner Darstellung der auswärtigen Politik des Präsidenten Polk
gethan habe.
Wir nehmen in mehrfacher Beziehung eine
etwas ver
schiedene Stellung zur Sklavenfrage ein; aber ich habe das Vertrauen zu dem geehrten Verfasser,
daß eS ihm selbst nur willkommen sein wird,
wenn ein Mann, der durch seine frühere amtliche Thätigkeit und seine
Studien mehr als die meisten Anderen darauf hingewiesen war, sich ein
gehend mit Amerikanischen Dingen zu beschäftigen, ihm durch eine frei« Prkußischt Jahrbücher. Vd. XLVI1I. Heft 2.
8
BerfassungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
100
müthige Kritik seine- verdienstvollen Werks den Beweis liefert, wie sehr
er dasselbe würdigt.
Es ist mir eine angenehme Pflicht hinzuzufügen,
daß die wissenschaftliche Bedeutung und der Werth deS neuen Bandes
vorzugsweise gerade in der Vollständigkeit und Gründlichkeit liegt, mit
welcher v. Holst den zur Frage stehenden wichtigen und schwierigen Gegen
stand bis in die entferntesten Einzelheiten verfolgt und klar zu stellen sucht. Die Schwierigkeit, sich von der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der
Sclaverei in den Territorien einen richtigen Begriff zu machen, hängt, meines Erachtens, wesentlich damit zusammen, daß die Territorien selbst eine Anomalie und ein Compromiß mit der Constitution sind.
hören sicherlich nicht den Einzelstaaten,
Sie ge
sondern bilden einen wirklichen
Theil des souveränen Staatswesens der Amerikanischen Nation.
Sie sind
Staaten im Kindesalter, die unter der Vormundschaft der Vereinigten Staaten stehen, und daraus ergab sich für den Congreß die Pflicht, un
bekümmert um die Wünsche der alten Staaten, für ihr Wohl zu sorgen und ihrer Zukunft nicht durch ihren temporären und vorübergehenden Zu
stand zu präjudiciren.
zu machen,
als indem
Ich weiß dem Leser die Sachlage nicht besser klar ich ihn auf die Deutschen Reichslande Elsaß-
Lothringen Hinweise, deren Stellung zum Deutschen Reich sich nur dadurch
von derjenigen der Amerikanischen Territorien zur Bundesregierung unter scheidet, daß es lediglich politische Gründe sind, welche eS unmöglich machen,
sie sofort als autonomen selbständigen Staat anzuerkennen.
Die Ameri
kanische Verfassung setzte, wie Holst nachgewiesen hat, nichts hinsichtlich der Sclaverei in den Territorien fest, und nach der Natur der Sache, nach dem übrigen Inhalt der Verfassung und Entscheidungen des Ober-
bundeSgerichts, so wie nach dem
—
allerdings nicht immer — bisher
beobachteten Verfahren war es das Recht und die Pflicht des Congresses, ihnen in diesem Punkte das Gesetz zu dictiren.
Nach dieser meiner Auf
fassung würde, auch wenn, was Neu-Mexico und Californien betrifft, nicht noch besondere Gründe dafür gesprochen hätten, die einzig richtige Lösung
der großen Streitfrage darin bestanden haben:
daß der Congreß die
Sclaverei ganz von den Territorien ausgeschlossen hätte, bis sie als Staaten constituirt waren und als solche selbst über die Frage entschieden.
Ja, ich meine, der Congreß hätte sogar noch einen Schritt weiter gehen und
auch die freien Farbigen von den Territorien ausschließen müssen.
Denn ich bin von jeher der Ansicht gewesen, daß das Zusammenwohnen
zweier ganz verschiedener Racen auf demselben Boden ähnliche Gefahren mit sich führt, wie das Bestehen der Sclaverei, und die Erfahrungen,
welche die Amerikanischen Südstaaten
nach der Emancipation
gemacht
haben, und welche man jetzt in einzelnen Theilen Californiens mit den
Chinesen macht, haben mich in dieser Ansicht bestärkt.
So aber wurde
die Sache zu jener Zeit in den Vereinigten Staaten noch keineswegs auf gefaßt, und bekanntlich ist erst durch die Congreßakte vom 16. Mai 1862
— ein Gesetz, welches der Ex-Präsident Buchanan nicht Anstand nahm in seinem Buche über seine eigene Amtsführung für unconstitutionell zu er
klären — bestimmt, daß in keinem Territorium Sclaverei bestehen dürfe. Daß es so war, lag in der Natur der Verhältnisse.
Die führenden
Politiker der Sclavenstaaten, von der Rechtmäßigkeit der Sclaverei völlig überzeugt, sahen schon längst mit Schrecken den Augenblick herannahen, wo ihr bisheriges politisches Uebergewicht,
auf welches sie stolz waren,
mehr und mehr an den Norden übergehen und damit ihr Einfluß auf die Bundesregierung zu Gunsten der Interessen Sclavenhalter ein Ende nehmen müsse.
der von ihnen geleiteten
Diese Rücksicht wog bei ihnen
viel schwerer alö der Wunsch, das unrühmliche Privilegium, Sclaven zu
besitzen, aufrecht zu erhalten.
Die Aussicht einer plötzlichen Vergrößerung
des freien Gebiets der Union um hunderttauscnde von (englischen) Qua dratmeilen schien den gefürchteten Augenblick imminent zu machen.
Mit
ihnen im Bunde stand eine große Anzahl einflußreicher Männer im Norden, welche, wie sie, keinerlei ethische Scrupel bei der Sclaverei und seit Jack-
son's Zeit viel Vortheil von ihrem Zusammengehen gehabt hatten.
Kaum
minder groß war die Zahl derjenigen gewissenhaften nördlichen Männer, welche, bei allen Bedenken, die sie im Princip gegen die südliche Insti
tution haben mochten, sich um so lieber an die einer verschiedenen Aus
legung fähigen Bestimmungen der Verfassung hielten, welche zu deren
Gunsten zu sprechen schienen, weil ihnen vor Allem die Erhaltung der Union am Herzen lag, deren Bestand sie für gefährdet hielten.
Ihnen
gegenüber stand eine in den letzten Jahren rasch herangewachsene Partei,
welche ihre religiöse und ethische Ueberzeugung von der Verwerflichkeit der
Sclaverei über die Verfassung stellte, so wie eine andere, vielleicht noch zahlreichere, welche aus gleichen principiellen Gründen die Constitution so strict interpretirt wissen wollte,
wie der Wortlaut das irgend gestattete.
Der Einfluß Beider auf die großen Massen gewann dadurch an Stärke, daß die Unverträglichkeit der beiden Arbeitssysteme deS Nordens und deS
Südens
im Laufe der Zeit zu vielfach ganz entgegengesetzten Interessen
der freien und der Sklavenstaaten, so wie zu einer Entfremdung der Ge müther geführt hatte und führen mußte.
Zwischen den beiden antago
nistischen Parteien aber bewegte sich eine Anzahl ehrgeiziger nördlicher Politiker, welche beiden Theilen so wett Rechnung zu tragen suchten, als möglich und resp, nöthig war, um, klug manövrirend, ohne die Unterstützung
der freien Staaten zu verlieren, diejenige der Sclavenstaaten zu gewinnen.
Aus diesen Gegensätzen erklärt sich die Behandlung, welche die Terri tortalfrage im Songreffe fand. Da Neu-Mexico und Califoruien durch die gemeinsamen Anstren gungen des bei der Aufrechthaltung und Ausdehnung der Sclaverei in-
terefsirten Südens und des freien Nordens für die Union gewonnen waren, würde eö — wenn man von dem Interesse der Territorien selbst
absehen wollte — an sich gewiß am Meisten der Billigkeit entsprochen haben, diese neuen Erwerbungen beiden Theilen in gleichem Maße zu
Gute kommen zu lassen. die Regierung
Compromiß
Von diesem Gesichtspunkte auS hatte denn auch
wiederholt warm befürwortet, die durch das Misfourt-
von
1820 als Scheide zwischen dem freien und Sclaven-
Gebiet bestimmte Linie deö 36° 30' auch auf die neuen Gebiete für an
wendbar zu erklären.
Denn ohne weiteres konnte jene Linie deshalb keine
Anwendung auf die neu erworbenen ausgedehnten Landstrecken finden,
weil dieselben niemals zu Louisiana gehört hatten.
Dieser Idee, so plau
sibel sie auch erschien, stand aber darin ein ausschlaggebender Grund ent gegen, daß die Sclaverei bereits durch ein Mexikanisches Gesetz vom 15. September 1829 für ganz Neu-Mexico und Califoruien definitiv auf
gehoben war, also nicht, ohne eine schreiende Ungerechtigkeit zu begehen, dort wieder eingeführt werden konnte.
Wesentlich aus diesem Grunde
waren und wurden alle darauf gerichteten Anträge in beiden Häusern des
CongresseS abgelehnt. Dadurch veranlaßt brachte „der Mephistopheles der Sclaverei" — wie Chas Sumner Calhoun später einmal characterisirt hat — schon 1847
Resolutionen im Senate ein,
die darauf hinausliefen:
daß alle Terri
torien gemeinsames Eigenthum aller Staaten seien; kein Gesetz diese volle Gleichberechtigung beeinträchtigen dürfe; ein Gesetz, welches die Bürger
gewisser Staaten verhindere, sich mit ihrem Eigenthum (Sclaven) in den
Territorien niederzulassen, dies thun würde; eine republikanische Verfassung die einzige zulässige Bedingung der Aufnahme eines neuen Staates in die Union sei.
Damals kam es freilich nicht zu einer DiScussion dieser
Resolutionen, die im Grunde mit der ganzen bisherigen Politik der Bun desregierung brachen und ein neues Zukunftsprogramm aufstellten, aber
sie fanden auch später noch wiederholt ein Echo in den Debatten, v. Holst erklärt Calhoun'S Doctrin für logisch, historisch und verfassungsrechtlich
absolut unhaltbar, erkennt jedoch an, daß daS Oberbundesgericht bereits zweimal — das eine Mal sogar durch den Mund des berühmten, frei
heitliebenden Story — entschieden habe: daß die Verfassung Sclavm als
Eigenthum anerkannt habe, und sucht nachzuweisen, daß diese gerichtlichen Entscheidungen völlig unbegründet gewesen seien.
Ich lasse es dahin ge-
stellt, ob ihm dieser Beweis gelungen ist, halte eS aber für ein Glück,
daß zu jener Zeit noch Niemand an den Entscheidungen des höchsten Ge«
richtS zu rütteln und dadurch die ohnehin ernste Lage noch weiter zu er schweren suchte. Ein Ausgletchsvorschlag, welchen der gemäßigte und verständige Se
nator Clayton von Delaware machte, fand zwar im Senat, jedoch nicht Er ging dahin: die Frage, ob der
im Repräsentantenhause Annahme.
Congreß hinsichtlich der Sclaverei in den Territorien kompetent sei, offen zu lassen, Neu-Mexico und Californien als Territorien zu organisiren,
aber deren Legislaturen das Recht vorzuenthalten, irgend etwas über die
Sclaverei zu entscheiden, und es durch Gestattung der Appellation an das Oberbundesgericht zu ermöglichen, daß die Rechtsfrage gerichtlich entschieden werde.
Im Norden
erregte dieser Compromißvorschlag vielfach deshalb
Anstoß, weil derselbe wenigstens vorläufig der Sclaverei den Eingang in
die Territorien öffnete, so gering die Gefahr auch mit Rücksicht auf die geographische Lage sein mochte.
3)Ht größter Entschiedenheit erhob sich
aber einer der bedeutendsten und ehrenhaftesten Verfechter der Sclaverei,
Alex. H. Stephens von Georgia, dagegen, indem er den Nachweis führte: daß das Oberbundesgericht jedenfalls gegen die Zulässigkeit der Sclaverei entscheiden müßte, weil das Mexicantsche Gesetz von 1829, wodurch die
Sclaverei in jenen Gebieten aufgehoben ward, nach völkerrechtlichen Grund sätzen bei deren Abtretung an die Vereinigten Staaten in Kraft geblieben
sei und in Kraft bleibe, bis es abgeändert werde, die Amerikanische Ver fassung
aber die Sclaverei nur dort anerkenne und garantire, wo sie
»lach Ortsgesetz (local law) existire, dieselbe aber nirgends einführe, wo sie verboten sei.
Eine andere Lösung hatte schon vorher Senator Dickinson von NewDork in Vorschlag gebracht, indem er erklärte: daß eS den Principien der Selbstregierung,
dem Geiste der Verfassung und dem wahren Interesse
der Union am Besten entspreche, die Regelung aller Angelegenheiten der
Territorien, die Sclaverei eingeschloffen, den TerrttoriallegiSlaturen zu überlassen, und daß in dieser Beziehung die Bevölkerung eines Territo
riums „dieselben souveränen Rechte",
wie diejenige der Staaten habe.
Das war, wie v. Holst mit Recht bemerkt, die klare Lehre von der später
so viel besprochenen „Squattersouveränetät", für deren ersten Urheber ge
wöhnlich Senator Douglas von Illinois gehalten wird.
Es war evident,
daß dem Süden mit dieser an sich unhaltbaren Lehre nicht gedient sein konnte, und ebenso klar, daß eS unmöglich war, eine verfaffungSrechtliche Doctrln hinsichtlich dieser Frage auszuklügeln,
welche sowohl von der
Sclavokratie als von deren BundeSgenoffen im Norden als eine definitive
BersassnngSgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.
104
Lösung angenommen werden konnte.
Ohne die Hülfe des Nordens war
eS aber für den Süden unmöglich, feine Wünsche durchzusetzen, zumal da er auch unter sich weder über die Rechtsfrage noch über das Wie der Er ledigung einig war. — In der Winter-Session nahm Douglas den Ge
danken der Squattersouveränetät in modificirter Form in einem Anträge wieder auf, wonach Californien sofort als Staat zugelassen werden sollte. Der Vorschlag mußte schon an dem formalen Einwande scheitern, daß
Californien noch nicht das Vorstadium eines Territoriums durchgemacht habe, das in diesem Falle um so nothwendiger erschien, weil dem größten Theil der alten Bevölkerung des erst eben erworbenen Gebiets die Insti
tutionen, Anschauungen und Sitten der Union, ja sogar die englische Sprache, unbekannt waren, die seit der Erwerbung eingeströmte neue Be
völkerung aber meistens aus Abenteurern bestand.
UeberdieS mußte der
Antrag auch bei denjenigen, sowohl nördlichen als südlichen,
Männern
auf Widerstand stoßen, die sich nicht bloß der Nothwendigkeit einer Ent
scheidung
der principiellen Frage entziehen wollten,
sondern eine solche
noch in ihrem Sinne zu erzielen hofften. — v. Holst entwirft bei dieser
Veranlassung ein Charakterbild von Douglas, der schon damals anfing eine Macht im Senate zu werden, das ich nicht unbesprochen lassen darf.
Ich bin ganz mit ihm darin einverstanden, daß „der kleine Riese" — so wurde der Senator, dessen Gestalt seiner geistigen Bedeutung nicht ent
sprach, später vielfach genannt — der Sclaverei als ethischer Frage gleich
gültig gegenüberstand,
daß sein
ehrgeiziges Streben nach dem höchsten
Ziele eines Amerikanischen Politikers, der Präsidentenwürde, ihn versuchen ließ, den Süden zufrieden zu stellen,
derben, daß
er aber zugleich wußte:
ohne eö mit dem Norden zu ver er werde
im Norden den Boden
unter den Füßen verlieren, wenn er in seinen Concessionen an den Süden über die Fortführung
der Linie des Missouri-CompromisseS bis an den
Stillen Ocean und über die Squattersouveränetät hinausgehe.
Man er
hält jedoch eine keineswegs richtige Vorstellung von Douglas, wenn man weiter liest:
daß er,
bet allen seinen GeisteSgaben und seiner Redege
wandtheit, im Grunde doch nur von Profession, von Natur und auS Nei gung ein Demagoge von unbegränztem Selbstvertrauen gewesen sein soll,
der „mit dem ganzen plumpen Aplomb des dreisten, einflußreichen, halb gebildeten StreberS" auftrat, und der in seinem Aeußeren und seinen Ma nieren „die Rohheit und Halbcultur der untersten Bevölkerungsschichten
deS Westens scharf und bisweilen bis zum Ekel drastisch zu Tage treten ließ."
Für Letzteres beruft sich der Verfasser auf ein Zeugniß von
Adams auS dem Februar 1844, und es wäre ja nicht zu verwundern,
wenn der damals 30jährige Mann in seinem Aeußern noch starke Spuren
davon gezeigt hätte, daß er seine Laufbahn als Tischlergeselle anfing und
seit zehn Jahren im damals erst halbcivilisirten Westen lebte, wo er sich vom Commis in einem Auctionsgeschäft zum Schullehrer, zum Advocaten und zum Mitglied des höchsten Gerichts seines Staates hinaufgearbeitet
hatte.
Als ich ihn im Dezember 1853 kennen lernte, war wenig mehr
von dieser Vergangenheit an ihm zu bemerken.
Er hatte bereits eine
gewisse Gewandtheit in den gesellschaftlichen Formen und in der Unter
haltung über die verschiedensten Interessen gewonnen und entwickelte sich auch in dieser Beziehung mit jedem Jahr mehr, zumal nachdem er Europa
besucht und das Glück gehabt hatte, in einer der liebenswürdigsten und
gebildetsten Damen Washington'», Miß Cutts, eine Frau zu erhalten, die es nicht nur verstand, in hübschester Weise die Honneurs seines gastfreien HauseS zu machen, sondern in jeder Beziehung einen veredelnden Einfluß auf ihn übte.
Unleugbar hatte Douglas viel vom Demagogen und vom
ehrgeizigen Streber an sich, aber seine Haupteigenschaft war doch ein
wahrer Patriotismus.
Davon gab
er den glänzendsten Beweis, als
er nach dem Scheitern aller seiner lange gehegten Hoffnungen, im Wahl
kampf um die Präsidentschaft, beim Ausbruch des Bürgerkriegs alle Partei
rücksichten zur Seite warf und seinen ganzen Einfluß nur dazu verwandte, daß Illinois einig zur Vertheidigung der Union unter die Waffen trat. Für dieses Urtheil könnte ich viele Belege beibringen, aber es wird ge nügen, an die ehrende Ordre zu erinnern, wodurch der KrtegSsekretär
seines glücklicheren Rivalen Lincoln, Simon Cameron, am 4. Juni 1861,
dem Tage nach Douglas' unerwartet frühem Tode, öffentliche Trauer für den Heimgegangenen Patrioten anordnete.
Kehre ich nach dieser Abschweifung zu den im Kongreß ventilirten Ausgleichungsvorschlägen zurück, die für die verschiedenen dort herrschenden
Strömungen charakteristisch sind, so bleibt darüber nur noch wenig zu be
merken.
Das Repräsentantenhaus hielt in seiner
Majorität an dem
wiederholt beschlossenen Wilmot Proviso, der Ausschließung der Sklaverei
aus den Territorien, fest, und es wurde dort sogar ein vergeblicher Ver
such gemacht,
aggressiv gegen die Sclavokratie vorzugehen und die Ab
schaffung deS Sklavenhandels im District Columbia, dem Sitze der Bun desregierung, durchzusetzen.
Der Senat dagegen blieb in seinem Wider
streben gegen das Wilmot Proviso konsequent. — Zwei hervorragende Männer, denen noch eine große Rolle in der Geschichte ihres Vaterlandes bevorstand, und deren
gerade damals (Dezember 1848) gleichzeitig er
folgter Eintritt in den Senat ein Ereigntß von nationaler Bedeutung
war, Wm. H. Seward von New-Iork und Salmon P. Chase von Ohio, hatten naturgemäß noch nicht die Stellung gewinnen können, um einen
Berfassungsgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
106
entscheidenden Einfluß auf die Beschlüsse zu üben.
Ungern verzichte ich,
um diese Anzeige nicht noch weiter auszudehnen, darauf, die kurze,
im
Ganzen zutreffende Charakteristik, welche Holst von meinen beiden längst
verstorbenen Freunden giebt, hier noch etwas zu vervollständigen und meiner Verehrung
Nur das glaube ich nicht uner
für sie Ausdruck zu geben.
wähnt lassen zu dürfen, daß Seward mir einst selbst ausführlich erzählt hat, wie er damals mit seinen anti-slavery-Gesinnungen im Senat fast
völlig allein gestanden und garnichts durchzusetzen vermocht habe, bis er
an dem 1856 verstorbenen ersten Senator von Texas, T. I. NuSk, einem
geborenen Süd-Carolinier, obwohl in den meisten Beziehungen sein po litischer Gegner, einen Freund gewonnen, mit dem gemeinschaftlich, häufig
in Folge eines CompromisseS, er fast alles, was er wünschte, und was
zur Zeit überhaupt erreichbar war, durchbringen konnte. So standen die Sachen, als die Session, ohne daß man bis dahin
zu irgend einem eittscheidenden Beschluß gelangt war,
näherte.
sich ihrem Ende
Selbst die Versuche, welche gemacht wurden, von außen her eine
Pression auf den Congreß zu üben — ein Protest aus Neu-Mexico gegen
Wiedereinführung der Sclaverei, eine von Calhoun angeregte, aber ihren Zweck völlig verfehlende Adresse südlicher Vertreter an ihre Constituenten,
sowie dessen Plan, eine südliche Partei zu bilden — änderten nichts an der Sachlage. fasser darüber,
Man kann die eingehenden Mittheilungen, welche der Ver über die Stimmung in den verschiedenen Landestheilen
und über die zunehmende Zersetzung der Parteien macht, nicht ohne leb
haftes Interesse lesen.
Der Süden erkannte immer deutlicher, daß der
Kampf für das von ihm verfochtene Prinzip zugleich ein Kampf für seine Zukunft war.
Bis zuletzt hielten seine Vertreter an der Hoffnung fest,
daß es ihnen doch noch gelingen werde, mehr zu erreichen, als bloß zu verhindern, daß das Recht der Bundeölegislative, die Sclaverei aus den Territorien auszuschließen, ausdrücklich anerkannt werde.
Am 19. Februar
1849 machte Walker von Wisconsin einen letzten Versuch in dieser Rich tung, indem er ein später noch etwas modistcirteS Amendement zum EtatS-
gesetz (general appropriation Bill) stellte,
wodurch der Süden auf in
direktem Wege seine Ziele rücksichtlich der Sclaverei in den Territorien erreicht haben würde.
Der Senat nahm dieses Amendement mit großer
Majorität an, das Haus verwarf eS.
Andererseits wurde die mit 126
gegen 87 Stimmen vom Hause beschlossene Bill, wodurch die Sclaverei aus den Territorien ausgeschlossen ward,
vom Senate verworfen.
Conferenz-AuSschuß konnte sich nicht verständigen.
Ein
Die Aufregung war in
beiden Häusern so groß, daß eS sogar zu Schlägereien kam.
Erst in der
Nacht vom 3. auf den 4. März, Morgens gegen 4 Uhr, ließ der Senat
sein Amendement zum ElatSgesetz fallen, und dieses passirte beide Häuser, ohne
eine
Bestimmung
über die neuen Territorien zu enthalten. —
v. Holst erwähnt, ohne selbst eine bestimmte Ansicht darüber auszusprechen,
daß der Congreß nach der Meinung mehrerer Senatoren rechtlich bereits mit der Mitternachtsstunde des 3. März sein Ende erreicht habe mtb also garnicht mehr befugt gewesen sei, Beschlüsse zu fassen, und daß vermuth
lich die große Majorität des Volkes dafür gehalten haben werde, daß
Polk eigentlich mit der letzten Minute des 3. März aufgehört habe, Prä
sident der Vereinigten Staaten zu sein, wenn man es auch allgemein gut geheißen habe, daß er das Gesetz deSungeachtet noch approbirt habe. Wenn man wirklich zu jener Zeit der Ansicht gewesen, daß die Legislatur periode deS CongresseS und die Amtsperiode des Präsidenten schon mit
der Mitternachtsstunde des 3. März ablaufe, so muß daS in DrightlY'S
„Digest of the Laws
of the United States“ (Philadelphia 1857) I
p. 2. Note m. leider ohne Anführung des Datums erwähnte Statut, wo
nach die Legislaturperiode erst am 4. März Mittags 12 Uhr zu Ende
geht, erst später erlassen sein. gang
Vielleicht hat gerade der geschilderte Vor
die Veranlassung dazu gegeben,
jeder Ungewißheit ein Ende zu
machen.. Ich selbst habe vom 33. bis 37. Congreß (1855—1863) den Schlußsitzungen beigewohnt, die jedesmal erst am 4. März um 12 Uhr
Mittags Statt hatten, während man meistens noch bis unmittelbar vorher wichtige Gesetze berieth und beschloß.
(Vgl. auch Hickey, the Constitution
of the United States 7. Ausgabe 1853. S. 312.) — Dasselbe gilt auch
rücksichtlich des Beginns und des Endes der Amtsperiode des Präsidenten, wenngleich die Congreßakte vom 1. März 1792 sec. 12, welche in Con sequenz deS Beschlusses vom 13. September 1788 dafür den 4. März be
stimmt, die Stunde nicht näher angiebt.
Wäre es ander-, so würde auch
faktisch alle vier Jahre ein Interregnum von zwölf Stunden eintreten, da
der Präsident nach art. II sec. 1. § 7 der Verfassung nicht fungiren kann, ehe er den vorgeschriebenen Eid geleistet hat, und die- — ich selbst habe zweimal, 1857 und 1861, dem feierlichen Akte beigewohnt — erst am
4. März Mittags 12 Uhr geschieht.
Ich erinnere mich denn auch daß,
alö ich in der Nacht vom 3. auf den 4. März 1857 um 1'/, Nachts die Sitzung deS Senats verließ, Präsident Pierce, der nach wenigen Stunden
sein hohes Amt an H. Buchanan übergeben sollte, noch in einem Zimmer des Capitols anwesend war, um die noch fortwährend gefaßten Beschlüsse
mit seinem „approved“ zu versehen oder zur Seite zu legen.
Nur ein
in jener Nacht von beiden Häusern deS CongresseS beschlossenes Gesetz, betreffend die Zurückzahlung deS Zolls für bei einem großen Brande in liew-Dork zerstörte Güter, kam bei der herrschenden Unordnung nicht mehr
108
Verfassiingsgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
zur Vollziehung durch den Vicepräsidenten, den Sprecher und den Präsi
denten, was viel besprochen wurde. Obwohl sich schließlich die große Majorität des Volks um der er
reichten unermeßlichen Vortheile willen
völlig
mit dem
Mexicanischen
Kriege auSgesöhnt hatte, war Präsident Polk, der jetzt ins Privatleben zurücktrat, doch niemals ein populärer Dkann geworden.
Man ließ eS
ihn entgelten, daß man guten Grund hatte, sich in mehrfacher Beziehung der Errungenschaften zu schämen, die man in erster Linie seiner Politik
verdankte, und man schob ihm auch in unverdientem Maße vielfach die Verantwortung dafür zu,
gefährliche Steigerung des inneren
daß die
Zwiespalts eine natürliche Folge des gemachten großen Landerwerbs war. Wie man übrigens auch darüber urtheilen mag, gewiß ist, daß die Ne
gierung Polk'S sich durch die endliche Erledigung der Oregonfrage und
drei unter ihr zu Stande gekommene wichtige Gesetze Anspruch auf den Dank dcS Landes erworben hat.
Die Congreßakte vom 30. Juli 1846
brach mit dem bisherigen Schutzzollsystem und führte für eine längere Reihe von Jahren ein wohldurchdachtes Finanzzollsystem ein, von dessen segensreichen Wirkungen die beiden letzten Jahresbotschaften und mehrere spezielle Botschaften des Präsidenten lautes Zeugniß ablegen.
Durch Gesetz
vom 6. August 1846 wurde daS unabhängige Schatzamt begründet, die Erhebung der Abgaben in Gold, Silber oder Schatzkammerschetnen ohne
Vermitilung einer Bank angeordnet und dadurch den Amerikanischen Fi
nanzen zum ersten Male eine feste Basis gegeben.
Endlich wurde durch
das namentlich von Calhoun stark bekämpfte Gesetz vom 3. März 1849
ein Ministerium des Innern geschaffen.
Die Bedeutung der beiden letzten
Maßnahmen würde es, meines Erachtens, wohl verdient haben, daß der Verfasser ihrer mit wenigen Worten erwähnt hätte.
Am 5. März 1849 leistete Taylor den AmtSeid als Präsident der Vereinigten Staaten.
Es ist nicht nöthig, die Mitglieder seines Cabinetö,
an dessen Spitze Clayton von Delaware als Staatssekretär stand, näher zu charakterisiren,
da sie, so tüchtige Männer sich auch unter ihnen be
fanden, während seiner nur kurzen Regierungszeit nicht in der Lage waren, einen Ausschlag gebenden Einfluß auf den Congreß zu üben, bei dem in letzter Instanz die Entscheidung lag.
Im Senat hatte die Opposition
schon beim Regierungsantritte Taylors eine entschiedene Majorität, und durch die Herbstwahlen erhielt auch das Repräsentantenhaus einen oppo sitionellen Charakter.
Die persönliche Popularität des Präsidenten erstreckte
sich nicht auf dessen politische Freunde; die Anhänger Clah's waren ihm von Anfang an mißgünstig; die Art, wie man bet der neuen Aemterbesetzullg verfuhr,
befriedigte weder
Whigs noch Demokraten;
und
die
Selbständigkeit, mit welcher Taylor die große Streitfrage zu lösen ver suchte, sowie die Energie, mit der er durch eine Proklamation vom
11. August einem Freibeuterunternehmen gegen Cuba entgegentrat, hatte den südlichen Sclavenhaltern im höchsten Grade mißfallen. Taylor wünschte seine Versicherung: daß er die Interessen der Par
teien denen der Gesammtheit unterordne, an der Sclavenfrage wahr zu
machen und dem Congreß die Entscheidung über diese durch eine vollendete
Thatsache zu entziehen.
Er hoffte durch eine Combination der erwähnten
früheren Vorschläge Clayton'S und Douglas' die Territorialfrage aus der Schon am 3. April 1849 entsandte er den bisherigen
Welt zu schaffen.
Abgeordneten T. Butler King von Georgien, einen geborenen Neu-Engländer,
mit dem Auftrage nach Caltfornien, die Bevölkerung zu veranlassen, sich selbst eine Staatsconstitution zu geben und dann um sofortige Aufnahme als Staat in die Union nachzusuchen; zugleich aber sollte King dafür
Sorge tragen, daß die Organisirung des Staats in jeder Hinsicht das eigene Werk der Bevölkerung sei.
Die bewundernswerthe Fähigkeit der
Amerikaner für Selbstregierung, und die — wie der Präsident später in seiner speziellen Botschaft vom 21. Januar 1850 ausdrücklich anerkannte
— noch von Polk ernannten Beamten kamen dem Abgesandten bei seiner Aufgabe sehr zu Hülfe.
Alle verständigen Männer in Californien em
pfanden lebhaft die Nothwendigkeit, so rasch wie möglich eine starke Local regierung zu begründen, um des bedenklichen Abenteurer-Elements, welches
durch die am 19. Januar 1848 gemachte Goldentdeckung massenhaft herbei gelockt war, Herr zu werden.
Am 1. September trat in Monterey eine
zur Entwerfung einer Staatsverfassung berufene Convention zusammen, die schon am 13. Oktober ihre Arbeit beendigte.
Obgleich 15 Mitglieder
der Convention aus Sclavenstaaten stammten, hatte man einstimmig be
schlossen: daß keine Sclaverei geduldet werden, die Einwanderung freier Farbiger verboten sein solle. Verfassung
in
allgemeiner
Am 13. November wurde die vereinbarte Volksabstimmung
angenommen,
und
am
20. Dezember traten die durch dieselbe geschaffenen neuen bürgerlichen
Gewalten in Wirksamkeit.
Ermuthigt durch den in Californien erzielten Erfolg ließ der Präsi
dent am 19. November an den Höchstkommandirenden in Neu-Mexico die Instruktion ergehen: die Wünsche der Bevölkerung zu fördern, wenn diese
ihre Angelegenheiten selbst zu reguliren versuchen sollte. So lagen die Sachen, als am 3. Dezember 1849 der 31. Congreß
zu seiner ersten Session zusammentrat.
aus 105 Whigs, Partei.
Das Repräsentantenhaus bestand
112 Dcmocraten und 13 Vertretern der Freiboden-
Schon die Sprecherwahl zeigte, wie wenig bei dieser Zusammen-
110
Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.
setzung auf eine rasche Verständigung zu rechnen sei, wenn auch damals
wohl schwerlich Jemand voraussetzen mochte, daß die Session sich zur längsten, die jemals Statt gefunden hat, ausdehnen und bis zum 30. Sep
tember 1850 dauern werde.
Erst am 22. Dezember wurde Howell Cobb
von Georgien — damals noch ein verhältnißmäßig gemäßigter Demokrat, den Präsidei>t Buchanan 1857 gerade deshalb zu seinem Finanzminister
ernannte, weil er zu jener Zeit als Führer der Unionisten seines Staats den immer lauter hervortretenden SecessionSgelüsten mit Entschiedenheit
entgegengetreten war — bei der 63. Abstimmung mit Pluralität
Stimmen zum Sprecher des Hauses erwählt.
der
Ich habe es später erlebt,
daß die Sprecherwahl im 34. Congreß erst am 3. Februar 1856 bei der
133. Abstimmung durch Pluralität, und im 36. Congreß am 1. Februar
1860
bei
der
44. Abstimmung
mit
einer
Stimme
Majorität
zu
Stande kam.
Die Jahresbotschaft deS Präsidenten, welche unter diesen Umständen erst am 24. Dezember an den Congreß gelangte, konnte noch nicht das definitive Resultat seiner Bemühungen in Californien und Neu-Mexico
melden, sondern nur Andeutungen darüber enthalten; aber, wie sein Vor
gänger, so wiederholte auch er die Mahnung
Washington'S:
„keinen
Grund zur Charakterisirung der Parteien nach geographischen Unterschei dungen" zu geben.
Diese Mahnung war auch jetzt vergeblich; denn ehe
er noch in einer vortrefflich gefaßten speziellen Botschaft vom 21. Januar
1850 dem Congreß die von ihm in den beiden Territorien eingeschlagene
Politik klar darlegte und demselben am 13. Februar mit einer ferneren Botschaft die neue Verfassung von Californien überreichte,
hatten die
Verhandlungen in beiden Häusern bereits den Beweis geliefert, daß aber mals die ganze Sclavenfrage auf der Tagesordnung stand.
v. Holst giebt eine sehr drastische Schilderung der damals herrschenden Aufregung und verweilt namentlich auch bei einem widerlichen Wortgefecht
zwischen den Senatoren Foote von Mississippi und Benton von Missouri am 16. Januar.
Ich wundere mich, daß er nicht des viel bedenklicheren
Zusammenstoßes zwischen diesen beiden Senatoren am 17. April gedenkt,
um so mehr weil dadurch die Voraussagung des Washingtoner Correspon-
denten deS „New-Uork Herald" vom 28. Februar: „wir stehen am Vor
abend von Blutvergießen auf dem Capitol" — über die er sich lustig macht — ihre volle Erklärung findet.
An jenem Tage richtete nämlich
Foote eine Pistole auf Benton, welche Senator Dickinson ihm entriß.
Daß Benton, wie die Sage erzählt, bei dieser Gelegenheit eine seltene Probe mannhaften Muths gegeben, seine Weste aufgerissen und gerufen
habe: „Schieße Mörder!" ist freilich eine lächerliche Uebertreibung.
Auf
einem charmanten Diner bei Seward, an dem Douglas, Houston und andere Augenzeugen Theil nahmen, wurde mir 1858 unter herzlichem Ge
lächter erzählt, wie Benton das erst gethan habe, als die Pistole längst bet Seite geschasst war.
Die Lage war übrigens ernst genug.
Nicht Uebermuth und Macht
durst, sondern daS Bewußtsein der Schwäche riß die Partei der Sclaven halter zu immer größerer Maßlosigkeit hin.
Wenn auch die ^ahl derer,
welche die Auflösung der Union wünschten, noch gering war, so wuchs doch die Ueberzeugung
stätig, daß die Secession zur Nothwendigkeit werden
könne, und die südlichen Whigs waren die Vorkämpfer dieser Ansicht.
ES
würde natürlich viel zu weit führen, wenn ich dieS durch Anführung einiger
der vielen interessanten Einzelheiten näher belegen wollte, welche der Ver fasser auS den Beschlüssen der Legislaturen mehrerer Einzelstaaten, den
im Congreß gestellten Anträgen und gehaltenen Reden, so wie auS den Correspondenzen
hervorragender
Abgeordneten
dafür
beibringt.
Der
Süden, noch nicht im Stande, seine Drohungen, an welche der Norden nicht einmal glaubte, zur Ausführung zu bringen, hatte das größte In
teresse daran, zu einem Ausgleich zu gelangen, und vor Allem hatten dies die Gränzstaaten.
Henry Clay begründete darauf einen Compromißplan,
den er am 29. Januar im Senat einbrachte.
Er schlug vor: Californien,
ohne über die Sclaverei Vorschriften zu geben, als Staat aufzunehmen;
in dem
übrigen von Mexico erworbenen Gebiet Territortalregierungen
einzurichten, ohne die Sclaverei dort ausdrücklich einzuführen oder auszu schließen ; die streitige Gränze zwischen Neu-Mexico und Texas festzustellen
und letzteres für das Aufgcben seiner weiter gehenden Ansprüche mit Geld
zu entschädigen; den Sclavenhandel im Distrikt Columbia abzuschaffen, aber im Uebrigen die Sclaverei dort unberührt zu lassen, weil dieselbe nicht ohne die Zustimmung der Bevölkerung und Maryland'S aufgehoben
werden könne; das Gesetz wegen Auslieferung flüchtiger Sclaven zu ver
schärfen und endlich auszusprechen: daß der Congreß nicht berechtigt sei, den Sklavenhandel zwischen den Einzelstaaten zu verbieten oder zu be schränken.
v. Holst verdammt natürlich von seinem Standpunkte aus diesen Compromißvorschlag, weil derselbe den prinzipiellen Gegensatz ignorirte, die drohende Katastrophe zum moralischen Schaden des Volks hinauöschob.
Südliche Senatoren
erhoben biete Einwendungen gegen den Plan, die
nördlichen schienen bereit, auf dieser Basis zu verhandeln.
Das Reprä
sentantenhaus leistete schon durch einen Beschluß vom 4. Februar auf daS
Wilmot Proviso Verzicht. ließ nach.
Das Geschrei über Zerreißung
Vom Ziele war man aber noch sehr weit entfernt.
der Union Fast zwei
Berfaffungsgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
112
Monate vergingen, ehe der Senat, dem seiner Bedeutung nach die Ini
tiative zufiel, am 18. April die bereit- am 21. Februar von Foote bean
tragte Einsetzung eines besonderen Ausschusses von 13 Mitgliedern be schloß, um den Vorschlag eines GesammtcompromisseS auszuarbeiten.
Ich muß eS mir versagen, der von dem Verfasser gegebenen werth vollen Darstellung und Kritik der gepflogenen Debatten, die in drei bemerkenSwerthen Reden Calhouns, Websters und SewardS gipfelten, im
Einzelnen zu folgen und
dieselbe von meinem theilweise abweichenden
Standpunkt aus zu beleuchten.
Ich beschränke mich auf wenige Bemer
kungen über jene drei großen Reden, von denen ich glaube, daß sie zur Vervollständigung seiner Ausführungen, zur Charakteristik der Persönlich
keiten und zur Gewinnung eines unbefangenen Urtheils dienen.
Calhoun legte in seiner Rede, die er, dem Tode nahe — er starb schon
am 31. März —
am 4. nur noch von einem College» verlesen
lassen konnte, sein politisches Testament nieder. die Sklaverei
„ein positives Gut", und
In seinen Augen war
er erblickte in der politischen
Herrschaft der Sclavokratie die Vorbedingung des Bestandes derselben in der Union.
Ihn konnten deshalb weder die Vorschläge Clay'S noch der
Plan der Regierung zufrieden stellen; für ihn bestand das einzige Mittel
zur Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts zwischen den freien und
den Sclavenstaaten darin, daß dem Süden gleiches Recht an den neu erworbenen Territorien eingeräumt und durch ein Amendement zur Con stitution die Macht verliehen werde, sich selbst zu schützen.
Dieses Amen
dement, dessen Inhalt er in seiner Rede nicht näher bezeichnete, sollte, wie man aus einer seiner Schriften weiß, in nichts Geringerem als in
der Ungeheuerlichkeit bestehen, daß die Executivgewalt in die Hände zweier
Präsidenten gelegt und dem Süden ein Veto gegen alle Beschlüsse der Bundesregierung gegeben werde.
Aber obgleich die Annahme dieses Vor
schlags die thatsächliche Auflösung der Union bedeutet haben würde, ist es doch nicht zweifelhaft, daß Calhoun dieselbe liebte und erhalten zu sehen wünschte.
Er würde, wenn er die Zeit erlebt hätte, auch niemals, ohne
mit sich selbst in Widerspruch zu treten, im Stande gewesen sein, den
gewaltsamen Secessionöversuch der Südstaaten gutzuheißen.
Mir liegt
ein im „National Intelligencer“ vom 28. November 1861 abgedrucktes Schreiben des großen Süd-Caroliniers vom 3. Juli 1843 vor, in welchem
er, als damaliger Staatssekretär deS Präsidenten Tyler, dessen Recht, die Dorr'sche Revolution in Rhode Island nieder zu schlagen, damit begründet,
daß eS die verfassungsmäßige Pflicht der Bundesregierung sei, jede An wendung
physischer Gewalt zur Herbeiführung einer Aenderung prompt
zu unterdrücken.
Daniel Webster gab in seiner großen Rede, welche Holst „den dun kelsten Fleck in dessen politischem Leben" nennt, im Grunde nur der kon
servativen Stimmung Ausdruck, die mit Macht im Norden eingesetzt hatte,
indem er die Lösung deS Problems zur Zeit für unnöthig erklärte und den ganzen Kampf wie einen thörichten Zank Verblendeter darstellte, der durch größere
könne.
Leidenschaftslosigkeit
Patriotismus beseitigt werden
und
Ich will die Rede, in welcher sowohl die ethische als die rechtliche
Seite der Streitfrage mit Stillschweigen übergangen ward, um so weniger vertheidigen, als Webster nicht so weit, wie er es that, mit seiner Ver
gangenheit gebrochen haben würde, wenn dieselbe nicht unverkennbar darauf berechnet gewesen wäre, die Gunst deS Südens zu gewinnen und
sich doch gleichzeitig den guten Willen deS Nordens zu erhalten, was ihm freilich Beides nicht gelang.
Aber ich meine, daß die maßlos scharfe
Kritik, welcher Holst dieselbe unterzieht, doch kaum berechtigt ist, da er selbst später (S. 447) einräumt: daß die Zahl derer, welche jedes weitere
Pactiren mit der Sclavokratie — wie er selbst das thut — unbedingt verurtheilten, damals noch
„verschwindend klein"
und daß „die große
Majorität deS Volks, im Norden wie tat Süden", davon überzeugt ge wesen sei,
„daß es billig, vernünftig und patriotisch sei, sich gütlich zu
vergleichen."
Denn das war eS gerade,
empfahl, die mit den Worten begann:
was Webster in seiner Rede
„Ich will heute nicht als Mann
von Massachusetts oder deö Nordens, sondern als Amerikaner reden." —
DeS Verfassers Kritik der Rede ist mir überhaupt nur dadurch erklärlich,
daß er die ganze Sclavenfrage einseitig vom prützipiellen Standpunkte
aus betrachtet.
Ein einziges Beispiel mag zur Begründung dieses viel
leicht zu streng erscheinenden Urtheils genügen.
Mit großer Entrüstung
macht er dem Senator von Massachusetts einen Vorwurf aus seiner Be merkung: daß die Abolitionisten „nichts Gutes oder Werthvolles" gethan
und lediglich die Sclaven fester gebunden hätten. rüstung insofern,
als
Ich begreife diese Ent
die Abolitionisten unwidersprechlich daS Verdienst
haben, die Gewissen im Norden rücksichtlich der Verdammlichkeit der Sclaverei aufgerüttelt zu haben.
Aber andererseits habe ich auch nicht den
geringsten Zweifel darüber, und ich glaube auch vollgültige Beweise dafür zu besitzen, daß die Agitation der Abolitionisten nicht das allergeringste zur Verbesserung der Lage der Sclaven beigetragen, dieselbe vielmehr
vielfach noch wesentlich verschlimmert hat; daß der vorher im Gange be
findlichen EmancipationSbewegung in den Gränzstaaten dadurch Einhalt gethan, der Werth der Sclaven für ihre Besitzer dadurch erhöht, und die
bereits vorhandene Entfremdung zwischen Norden und Süden dadurch aufs Aeußerste gesteigert ist.
Nur für die Politiker hat diese Agitation
114
VerfaffungSgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.
bald Erfolge, bald Niederlagen mit sich geführt.
DaS einzige wirklich
staatsmännische Wort, welches v. Holst in Websters Rede gelten läßt, ist die mit Emphase abgegebene Erklärung: daß „friedliche Secession" eine
Unmöglichkeit sei und immerdar eine Unmöglichkeit bleiben werde. Im direktesten Gegensatz zu Webster erklärte Seward sich gegen alle
legislativen Compromisse, da sie nur die Hände für die Zukunft bänden, während sich die künftigen Bedürfnisse des Staatswohls nicht voraussehen ließen.
Er verlangte, daß die Sclavenfrage, gleich allen anderen gesetz
geberischen Problemen, von Fall zu Fall behandelt werde,
womit jeder
Grund wegfallen werde, der Sclaveret die in den verschiedenen Compro-
mißvorschlägen enthaltenen Zugeständnisse zu machen.
Sein ganzes Auf
treten bewies, daß die Auflösung der Whig-Partei eine vollendete That sache war und die Sclavenfrage die Basis der Neubildung der Parteien
werden würde.
Seward's Rede hat aber auch dadurch eine historische
Bedeutung erhalten, daß tischer Zweckmäßigkeit
er sich darin nicht auf ein Räsonnement poli
beschränkte, sondern
„höheren Gesetzes" konstatirte. als ob
zugleich
die Existenz
eines
Seine Gegner legten dieses Wort so aus,
er von der Constitution an ein höheres Gesetz appellirt habe.
Aber in Wahrheit wollte er nur die volle Uebereinstimmung jener mit diesem behaupten, nur die Thatsache feststellen:
daß die Verfassung ein
todter Buchstabe sei, soweit das Volksbewußtsein sie für im Widerspruch mit dem höheren Gesetz stehend halte; und daß der Gesetzgeber dies nicht
ungestraft außer Acht lassen könne. magogie beschuldigte, vergaß,
Wer den Redner deshalb der De
daß selbst die fanatischsten Partisanen der
Sklaverei zugaben: sie müsse und werde fallen, wenn sich aus der Bibel
beweisen
ließe, daß
sie gegen Gottes Gebot sei, — was freilich nicht
möglich ist. Am 8. Mai brachte Clay als Vorsitzender des Compromiß-AuSfchusseS
und Namens desselben drei Bills ein.
Die erste derselben, welche in nicht
weniger als 39 §§ die heterogensten Gegenstände umfaßte, um durch deren Verbindung
auch das
dem einen oder dem
anderen Mißliebige
leichter durchbringen zu können, und welche deshalb von Benton mit bitterem Spott die „OmnibuS-Bill" getauft wurde, bestimmte: Californien
wird unter seiner Verfassung als Staat ausgenommen; für Utah und Neu-Mexico werden Territorialregierungen organisirt, doch dürfen deren
Legislaturen kein die Sclaverei betreffendes Gesetz beschließen; Texas wird für seine Zustimmung zu der beliebten Regulirung seiner Gränzen gegen
Neu-Mexico eine Geldentschädigung angeboten. Die zweite Bill verschärfte das Gesetz wegen Auslieferung flüchtiger Sclaven (fugitive slave law), die dritte schaffte den offenen Sclavenmarkt im Distrikt Columbien ab.
Diese Vorschläge enttäuschten den Norden und befriedigten noch we niger den Süden.
Der Versuch, den Norden durch eine schon im vorigen
Jchre von Mississippi aus angeregte Convention der südlichen Staaten, die am 3. Juni in Nashville zusammentrat, einzuschüchtern und zu weiteren
Conzessionen
geneigt zu machen, verfehlte, trotz des im Hintergründe
stehenden Gespenstes der Bildung eines unabhängigen südlichen Staaten-
bundes, völlig seinen Zweck.
Die Convention gab nur von der inneren
Uneinigkeit des Südens Zeugniß, und das Zustandekommen eines CompromiffeS auf der Clah'schen Grundlage wurde dadurch nur wahrschein
licher.
ES erregte daher bei den Freunden eines solchen Ausgleichs einen
Sturm des Unwillens,
als eS sich herausstellte,
daß der Präsident von
der „Omnibus-Bill" nichts wissen wollte, sondern an dem Gedanken fest
hielt, daß die Territorialfrage durch die Wünsche der Bevölkerung selbst entschieden werden müsse.
Noch ungeberdiger als der Congreß zeigte sich
TezcaS, weil der Staat seine vermeintlichen Ansprüche aus einen Theil
von Neu-Mexico so hoch wie möglich zu verkaufen wünschte und nunmehr, in Folge der Instruktion Taylors vom November 1849, dort eine konsti-
tuirende Versammlung berufen war. Einmarsch
der
StaatStruppen
14. Juni Aufklärung
Der Gouverneur drohte mit dem
in das Territorium und verlangte am
vom Präsidenten.
Mann sich einfchüchtern zu lassen.
Taylor war jedoch nicht der
Er maßte sich nicht an zu entscheidm,
welcher Theil von Neu-Mexico zu Texas gehöre, aber er erklärte, daß die Bereinigten Staaten durch Eroberung', Kauf und Vertrag in den Besitz
des Gebiets gelangt feien, und er sie darin erhalten werde, bis das Ober bundesgericht oder der Congreß anders entschieden oder beschlossen habe. Er blieb auch dann noch fest, als die südlichen Whigs ihm, in Gemäßheit
eines am 1. Juli gefaßten Beschlusses,
ankündigten: daß sie sich völlig
von ihm loSsagen müßten, wenn er nicht eine wohlwollendere Haltung gegen TexaS annehme und darauf verzichte, auch die sofortige Aufnahme
Neu-Mexicos als Staat zu empfehlen.
Durch seine entschiedene Weige
rung, in irgend einem Punkte nachzugeben, spitzten sich die Verhältnisse
zu einer Krisis zu.
Da änderte ein völlig unerwartetes Ereigniß aber
mals die ganze Situation, indem Präsident Taylor am 9, Juli 1850 nach einer Krankheit von nur wenigen Tagen, treu seiner Pflicht bis zum letzten Augenblick, verschied und der Biceprästdent Millard Fillmore an
seine Stelle trat. v. Holst bemerkt: daß Fillmore für einen schlichten, ehrenhaften und
patriotischen Mann gegolten habe, der als Mitglied des Repräsentanten hauses Fleiß, Gewissenhaftigkeit und gutes Urtheil gezeigt hatte.
Man
habe angenommen, daß er die breite sichere Mittelstraße einhalten werde, Prrußische Jahrbücher. Bd. XLV1II. Heft 2.
9
116
BerfaffungSgeschichte der Bereinigten Staaten von Amerika.
und die Conservaiiven hatten von vornherein gehofft, daß er, obgleich er früher daS Wilmot Proviso befürwortet hatte, für das Compromiß ein treten werde.
Da ich daS Glück gehabt habe, den stattlichen Mann von
angenehmen Formen während eines gleichzeitigen Aufenthalts in Saratoga Springs im Sommer 1857 persönlich kennen zu lernen, wird
es mir
wohl gestattet sein, diese Charakteristik noch etwas zu vervollständigen.
In
ärmlichen Verhältnissen
herangewachsen und in seiner Jugend vier
Jahre lang als Tuchwalker und Wollkämmer beschäftigt, war Fillmore Autodidact, und seine Bildung blieb auch dann noch mangelhaft, als er sich später der Rechtswissenschaft widmete und, um sich seinen Unterhalt
zu erwerben, abwechselnd als Schullehrer
fungirte.
Als Beweis dafür
mag dienen, daß er, als ihm, nachdem er den Präsidentenstuhl bestiegen,
der damalige Abgesandte Bremens von den „hanseatischen" Freistaaten sprach, immer von Neuem seine Freude darüber äußerte, einen Vertreter einer der „Asiatischen" Republiken in Washington zu sehen.
Von früheren
College», die zu jener Zeit bei ihm akkreditirt waren, habe ich gehört,
daß seine Administration, wie er selbst, sich durch äußere Würde und An stand ausgezeichnet,
eS ihm jedoch an hervorragendem Talent und der
nöthigen Entschiedenheit des Charakters gefehlt habe.
Daß eS übrigens
nicht der Mangel an dieser, sondern andere Gründe waren, welche ihn
seine früheren, jeder Ausdehnung der Sklaverei feindlichen Gesinnungen — die er namentlich in zwei berühmt gewordenen Briefen vom 17. Ok
tober 1838 und 31. Juli 1848*) ausgesprochen hatte — während seiner Präsidentschaft verläugnen ließen, ergiebt sich aus einer Rede, die er nach
seiner Rückkehr von einer Reise nach Europa im Juli 1856 in Albany hielt **).
Er sagt darin: daß er sich genöthigt gesehen habe, lang gehegte
Ansichten zur Seite zu schieben und Ansprüche seiner Partei unberücksichtigt
zu lassen, weil er es für seine Pflicht gehalten habe, sich über sectionelle Vorurtheile zu erheben und nur das Wohl der ganzen Nation ins Auge
zu fassen, wobei ihn ausgezeichnete Whigs und Demokraten gleichmäßig
unterstützt hätten.
Daß er damit im Sinne der großen Majorität des
Volks gehandelt hatte, läßt sich, glaube ich, nicht bestreiten. Der Regierungswechsel mußte insofern einen günstigen Einfluß auf die Verhandlungen des CongresseS üben, als seit Webster'S Ernennung
zum Staatssecretär ein Veto gegen Compromißmaßregeln nicht mehr zu besorgen war.
Allerdings gelangte bei der Abstimmung über die Clay'sche
„OmnibuS-Bill" am 31. Juli nur der § in Betreff Utah's zur Annahme, und Benton erregte allgemeine Heiterkeit, als er bei dieser Gelegenheit *) Abgedruckt in ClnSkey: the political text-book. **) Daselbst S. 212 ff.
S. 211.
den Senat mit der webenden und wieder auflösenden Penelope verglich. Aber die Majorität war bereits über die Principien einig, so daß im
Grunde nur noch Detailfragen zu erledigen blieben, und so wurden denn
im Laufe des August drei Hauptgesetze wirklich vom Senat beschlossen. Durch das erste derselben wurde die Grenze von Texas regulirt und diesem für den Verzicht auf weiter gehende Ansprüche eine Entschädigung von
10 Millionen Dollars bewilligt.
Damit wurde die Bill wegen der Or-
ganifirung von Neu-Mexiko in Verbindung gebracht, welche hinsichtlich der Sklavenfrage bestimmte, daß das Territorium seiner Zeit mit oder
ohne Sklaverei, wie eS seine Verfassung festsetzen möge, als Staat aus genommen werden solle, während bis dahin in allen Sklaveneigenthum
betreffenden RechtSstreitigkeiten die Appellation an das Oberbundesgericht für zulässig erklärt ward.
Mit Recht bemerkt Holst, daß dadurch dem
Richter eine Entscheidung und Verantwortlichkeit zugeschoben wurde, die nach der Verfassung dem Congresse oblag. — DaS zweite Gesetz erklärte
Californien für einen Staat der Union, das dritte, für welches nur zwei nördliche Senatoren stimmten, während sich 15 der Abstimmung enthielten, war daS berüchtigte neue Gesetz über die Auslieferung flüchtiger Sklaven.
Die verdiente Kritik, welcher Holst dieses Gesetz — über dessen Ver fassungsmäßigkeit kein Zweifel obwaltet — unterzieht, glaube ich noch etwas vervollständigen zu müssen. Der Verfasser unterläßt es
auffallender Weise einer principiellen
Entscheidung des OberbundeSgerichtS zu gedenken, welche, meines Erachtens, allein daS Verlangen des Südens nach Abänderung und Verschärfung deö
früheren Flüchtlingsgesetzes vom 12. Februar 1793 erklärt und zugleich die von ihm erwähnten sogenannten Liberty Laws, welche den nächsten
Anlaß zu allen Beschwerden gegeben hatten, gerechtfertigt erscheinen läßt.
Nur auS einer beiläufigen Aeußerung in einer (S. 437 Note 1) citirten Rede erfährt der Leser, daß einmal irgend ein Erkenntniß abgegeben sein
muß, ohne daß gesagt wäre, worauf dasselbe hinauslief.
hält sich so:
Die Sache ver
Im Januar 1842 halte Story, gegen das Votum des Ober-
richterS Taney und dreier anderer Richter, durchgesetzt, daß daS OberbundeSgericht in dem dadurch berühmt gewordenen Falle Prigg vs the
Commonwealth of Pennsylvania (16 PeterS 539) entschieden hatte: daß die obrigkeitlichen Behörden der Einzelstaaten (State magistrates) nicht verpflichtet seien, zur Wiederergreifung flüchtiger Sklaven mitzuwirken, «S
vielmehr ganz von ihrem Ermessen abhänge, ob sie daS thun wollten, da eine Verpflichtung dazu nur den Bundesgerichten (Federal Courts) ob
liege.
Auf Grund dieser Entscheidung hatten die Legislaturen mehrerer
freier Staaten durch die sogenannten Liberty Laws ihren Magistraturen 9*
jede solche Mitwirkung untersagt.
DaS neue „Sklavenjagdgesetz" sollte
nun die Bundesgerichte ermächtigen, eine beliebige Anzahl von Commissären (commiseioners) in den Einzelstaaten zu bestellen, um mittelst eines höchst summarischen Verfahrens die dort verweigerte Rechtshülfe
zu leisten.
Zugleich enthielt die Bill die bedenkliche Bestimmung: daß diese Commissäre eine höhere Vergütung erhalten sollten, wenn sie die Auslieferung
eines Flüchtlings erwirkten, als wenn das nicht der Fall war, so wie die
Androhung scharfer Strafen für jede einem flüchtigen Sklaven gewährte Hülfe rc.
Mir ist von allen Vorschriften des Gesetzes immer diejenige
des § 9 als die bedenklichste erschienen, wornach die Kosten der zur Ueber windung von Widerstand requirirten Hülfe, so wie des Rücktransports der wieder eingefangenen Sklaven aus dem Bundesschatz bezahlt werden sollen, denn dadurch ward die Sklaverei gewissermaßen zu einer nationalen
Angelegenheit gemacht.
Seinen Zweck, der politischen Agitation entgegen
zuwirken, mußte das Gesetz deshalb nur um so sicherer verfehlen.
Stand
demselben doch, ganz abgesehen von allem Anderen, ohnehin schon das
gewichtige Bedenken entgegen, daß es eine Polizeimaßregel war, die in Staaten ausgeführt werden sollte, welche keinerlei Vortheil davon haben
konnten.
Gewiß würde der Süden weiser gehandelt haben, wenn er nur
auf ein
Gesetz gedrungen hätte, wodurch
ihm
ohne Mitwirkung
der
Bundespolizei eine reichliche Geldentschädigung für flüchtige Sklaven ge sichert wäre.
Darüber daß daö Gesetz in der Hauptsache ein todter Buch
staben bleiben werde, täuschten sich denn auch viele hervorragende südliche
Männer nicht.
Aber sie legten größeren Werth auf die moralische Ge
nugthuung, gesetzlichen Schutz für ihr Sklaveneigenthum zu erhalten, als auf wirkliche reelle Resultate,
die sie davon erwarteten, und man darf
nicht unbeachtet lassen, daß ein gewisser Stolz für alle Bewohner des Südens charakteristisch und fürwahr nicht deren schlechteste Eigenschaft war. Nachdem die erwähnten drei Gesetze beschlossen waren,
hielt
der
Senat mit seiner Abstimmung über die gleichfalls zu den Compromiß-
maßregeln gehörige Bill wegen Abschaffung deS Sklavenhandels im District Columbia einstweilen noch zurück, um dadurch eine gewisse Pression auf
das Repräsentantenhaus, Behufs Annahme der übrigen drei Gesetze, zu üben, weil diese Bill die einzige war, welche den nördlichen Anschauungen
eine gewisse Concession machte.
Auch an sonstigen Einwirkungen, um
eine Majorität im Hause zu erzielen, ließ man es nicht fehlen.
Wir
haben ja im Deutschen Reichstage erlebt, wie sich Conservative und Centrum
bei der Tarifrevision verbrüderten und dafür bei anderen Gelegenheiten gegenseitig Handdienste leisteten.
ES kann daher einen Deutschen Leser
nicht überraschen, daß man auch in Amerika Stimmen dadurch für daS
Verfassung-geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.
119
Compromiß zu gewinnen suchte, daß in Aussicht gestellt ward, der Süden werde geneigt sein, zum Dank für dessen Annahme zu einer Revision deS Tarifs im schutzzöllnerischen Sinne die Hand zu bieten.
Die in dieser
Beziehung erweckten Hoffnungen erwiesen sich freilich als illusorisch, aber
der Verfasser macht es wahrscheinlich, daß — wozu wir glücklicher Weise
im Deutschen Reiche noch kein Seitenstück haben und hoffentlich auch nie mals eines erhalten werden — nicht weniger als drei Millionen Dollars von der für Texas ausgesetzten Entschädigung von 10 Millionen in die
Hände von Regierungsbeamten, Congreßmitgliedern und Agenten aller Art
flossen,
um den letzten Widerstand zu beseitigen.
Am 6. September
passirte nach schweren Kämpfen die TexaS-Btll, an den folgenden Tagen
die California- und die Utah-Bill und am 12., unter dem Druck der jede DiScussion ausschließenden Vorfrage, mit 109 gegen 76 Stimmen auch daS Gesetz über die Auslieferung flüchtiger Sklaven das Repräsentanten
haus.
Am 20. September erhielt schließlich das Gesetz wegen Abschaffung
des Sklavenhandels im District Columbia, das nunmehr ausgenommen und rasch erledigt war, die Approbation deS Präsidenten. Damit war nach Jahre langen Kämpfen endlich ein vorläufiger Ab
schluß der Sklavenfrage erreicht.
An die Permanenz des
geschlossenen
Friedens werden unter den urtheilSfähigen Männern wohl nur wenige ernstlich geglaubt haben.
Aber so laut daS Compromiß auch vielfach im
Süden wie im Norden verdammt und einzelne Bestimmungen desselben
kritisirt wurden, schuf eS doch für längere Zeit Ruhe, und noch bei der Präsidentenwahl im Jahre 1852 ward eS sowohl von der Whig- als von der demokratischen Convenrion von Neuem ausdrücklich acceptirt.
Gerade
in der selbstzufriedenen Zuversicht, womit die große Majorität im Norden jetzt der Zukunft entgegensah und geneigt war, die Secession der Sklaven staaten, mit der man gedroht hatte, nur für ein Phantom zu halten, lag aber der Keim einer neuen Gefahr.
Die südlichen Radikalen zogen daraus
den Schluß, daß man mit größerer Festigkeit noch mehr hätte erreichen
können, und das Gefühl ihrer immer rascher zunehmendm Schwäche trieb die Sklavokratie vorwärts, wenn sie diese Thatsache auch natürlich nicht
zugestand und sich derselben wahrscheinlich selbst meistens nicht klar bewußt war.
Damit war es wohl vereinbar, daß sie ehrlich überzeugt war und
dem Norden immer von Neuem vorrechnete, dieser habe ungleich mehr als sie selbst bei einer Zerreißung der Union zu verlieren und verdanke
seinen Reichthum vornehmlich dem Vortheile, den er in legitimer und in
illegitimer Weise aus dem Süden ziehe.
Daß, wie v. Holst anzunehmen
scheint, sich Biele bis zu dem Unsinn verstiegen hätten, „mit salbungs vollem Ernste" zu verkünden:
„daß der Süden an der Spitze der Cultur
VerfaffuiigSgeschichte der Bereinigte» Staaten von Amerika.
120
aller Zeiten und aller Zonen stehe", muß ich allerdings bezweifeln.
Der
durch seine Eitelkeit in Washington fast zu einer lächerlichen Person her abgesunkene langjährige Abgeordnete des sprichwörtlich gewordenen Buncombe County (Nord Carolina), Clingman, auf dessen Zeugniß er sich
hier wie bei anderen Gelegenheiten mit Vorliebe beruft, war zwar ein Mann von leidlicher allgemeiner Bildung
und guten
gesellschaftlichen
Manieren, auch ein tüchtiger Geologe, aber kein Politiker, den man ernst haft zu nehmen pflegte.
Die erwähnten Verhältnisse und die angeführte
übrigens dem Verfasser Veranlassung zu einem der
Aeußerung geben
werthvollsten und besten Abschnitte des ganzen Buchs. Auf Grund der statistischen Ergebnisse deS 7. Census von 1850, ver
schiedener anderer Quellen, unb namentlich auch der tüchtigen Arbeiten deS südlichen Fanatikers De Bow, weist Holst schlagend nach, daß die
Sklaverei nicht ein positives Gut, sondern die Hauptursache des Rückgangs der Sklavenstaaten im Vergleich mit den freien Staaten war.
Ich muß
diese überaus lehrreiche Erörterung der besonderen Aufmerksamkeit des
Lesers um so dringender empfehlen, weil ich diese Anzeige nicht durch das Eingehen auf irgend welche Einzelheiten ober Hervorhebung meiner Be denken gegen einige baraus gezogene Schlüsse noch mehr verlängern bars.
Nur bie Bemerkung kann ich nicht unterbrücken, baß ber Verfasser über
bem Bestreben, ben verberblichen Einfluß ber Sklaverei barzustellen, verschiebene anbere wichtige Gesichtspunkte völlig unberücksichtigt läßt. bleibt z. B. bei Besprechung ber
So
traurigen inbustriellen Zustände im
Süden der Einfluß der klimatischen Verhältnisse unbeachtet,
welche die
Bevölkerung des Südens zur Beschäftigung in freier Luft, diejenige des
Nordens zur Concentrirung treiben mußten.
ihrer Thätigkeit in geschlossenen Räumen
In ähnlicher Weise liefert die Art, wie der Verfasser
den Rückgang des Handels der bedeutendsten Städte deS Südens bespricht, einen neuen Beweis dafür, daß er, der offenbar Centralist, nicht Föderalist ist, nur freie und Sklavenstaaten, nicht Einzelstaaten kennt.
Sonst hätte
er nicht unterlassen können, kurz die Gründe zllsammenzustellen, welche im Laufe der Zeit New-Aork zum Mittelpunkt der Industrie und zum billigsten und reichsten Markt für die Erzeugnisse nicht nur der Vereinigten Staaten,
sondern
der entferntesten Welttheile
machen
mußten
und Baltimore,
Philadelphia und Boston rc. in eine ähnliche, wenn auch geringere Ab
hängigkeit von sich brachten, als die Städte des Südens, denen überdies die geringe Zahl der Konsumenten in ihrem nächsten geographischen Ge
biet jede Concurrenz unmöglich machte.
Am Meisten vermisse ich aber
in diesem im Uebrigen so belehrenden Capitel jedes Wort über die Lage
der Sklaven selbst.
Wenn eS überhaupt eine Rechtfertigung der Sklaverei giebt, so liegt
sie, meine ich, darin, daß der aus einem Freien zum Sklaven gemachte
Mann in diesem Zustande glücklicher, besser und civilisirter werden mußte und ward, als er es jemals unter den barbarischen Verhältnissen seiner
heidnischen Heimath geworden wäre.
Fast scheint eS, als ob die Sklaverei
von der Vorsehung als ein Uebergang vom wilden zum Cultur-Zustande
der Völker zugelassen sei.
Gewiß ist, daß niemals in der Welt 3 bis
4 Millionen Neger zusammen gelebt haben, die so
civilisirt und im
Ganzen so glücklich waren wie die Amerikanischen Sklaven.
Der Fluch
der Sklaverei lastete jedenfalls weniger auf ihnen als auf der ganzen weißen Bevölkerung der Vereinigten Staaten und als vorzugsweise auf
ihren Herren, welche dieselbe bis zum Beginne der unseligen Streitig keiten, von denen ich hier nach Anleitung des vorliegenden Werks ein
schwaches Bild zu geben versucht habe, selbst als ein Uebel
hatten.
betrachtet
Erst durch diese politischen Kämpfe, an denen meiner Ueberzeugung
nach Norden und Süden gleiche Schuld tragen, wurden die moralischen
und Humanitäts-Gesichtspunkte, welche bis dahin leitend gewesen waren, mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, bis die Herren die Sklaven
frage schließlich nur noch vom Nützlichkeits-Standpunkt aus und als eine ökonomische Frage beurtheilten.
Doch genug davon.
Nur meine Ueberzeugung, daß es immer wichtiger für jeden Deut
schen wird, sich gründlich über Amerikanische Verhältnisse zu unterrichten,
kann ich als eine Entschuldigung dafür anführen, den neuen Band von v. Holst'S Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten so ausführlich be
sprochen zu haben.
Je mehr ich selbst aus dem Buche gelernt habe, desto
mehr wünschte ich daS Verständniß desselben auch Anderen dadurch zu er
leichtern, daß ich die wichtigsten Ergebnisse möglichst übersichtlich zusammen
faßte und dabei namentlich diejenigen Punkte scharf betonte, die ich auf Grund eigener Studien oder einer theilweise abweichenden Auffassung der
Sklavenfrage anders oder doch nicht völlig so wie der Verfasser beurtheile. Wenn, wie ich hoffe, nunmehr Viele, die meinen ab und zu etwas po lemisch klingenden Bemerkungen freundlich gefolgt sind, das Buch selbst zur Hand nehmen, so werden sie mir, glaube ich, dankbar dafür sein, daß
ich sie darauf aufmerksam gemacht habe, und mit mir wünschen, daß nicht abermals beinahe drei Jahre verfließen, ehe die Fortsetzung erscheint.
R. Schleiden.
Raphael's Skizzenbuch in Venedig. Eine Reihe von Federzeichnungen in der Kunstakademie von Venedig,
welche wir unter dem Titel „Raphaels Skizzenbuch" zu begreifen pflegen, hat neuerdings wieder die Aufmerksamkeit der Forscher und Liebhaber auf sich gezogen: es ist versucht worden die Zusammengehörigkeit dieser Blätter zu bestreiten und die Autorrechte an verschiedene Meister zu vertheilen*). Ein Skizzenbuch Raphaels, das von seinen Anfängen bis in seine Flo
rentiner Zeit hinein reichen soll, mithin für die ersten zwanzig Jahre des Künstlers ein unschätzbares Material zu intimsten Beobachtungen darböte, wäre doch ein köstliches Besitzthum der Kunstgeschichte, ja der Geschichte
menschlicher Entwicklung überhaupt; wir könnten nicht dankbar genug sein, daß es auf uns gekommen, wo so viele der werthvollsten Denkmäler ver schwunden, so schmerzlich entbehrte Zeugnisse auf immer verloren sind. —
Solch ein Hort wird angegriffen und von keiner Sette erschallt ein Videant Consulesl Mag sich sonst
das
persönliche Gefühl des Einzelnen in seinem
Kämmerlein mit dem Widerspruch Andersgläubiger abfinden, In diesem
Fall ist es mit subjektiven Meinungen nicht gethan.
Wo so viel auf dem
Spiele steht, haben die Wenigen, die berufen sind, jedenfalls die Pflicht,
unverweilt durch
gewissenhafte Kritik eine Entscheidung herbeizuführen.
Die nachfolgenden Zeilen sollen den Antrag auf Dringlichkeit stellen und ihn mit einigen vorbereitenden, aus unmittelbarer Anschauung geschöpften
Bemerkungen motiviren.
I. Die Federzeichnungen in Venedig, um die es sich handelt, sind so häufig publicirt worden, daß es Jedermann leicht ist, sich mit ihnen be kannt zu machen.
Sie sind von Scotto und Rosaspina gestochen**), von
*) Lermolieff, Die Werke ital. Meister in den Gall, von München, Dresden und Berlin. Leipzig 1880. 8°. S. 310 ff. **) Celotti, Disegni original! di Raffaello per la prima volta publicati, esistenti nella imperial regia Accademia di Belle Arti di Venezia. 1829.
Altnart, Perini und Braun photographirt, von Onganta in Heliotypie
facfimilirt worden; aber grade diese bequeme Zugänglichkeit ist eine Haupt
ursache, weshalb die neueste Forschung so vielen Zweifeln Raum gegeben
und in diesem Augenblick unsicher hin und her schwankt.
Keine dieser
Reproduktionen, 'selbst die Photographieen von Braun und von Perini nicht, geben einen nur annähernd richtigen Begriff von dem überaus
zarten Charakter der Originale.
Die Blätter sind bis auf wenige Aus
nahmen mit fehlen Federstrichen auf nicht ganz leimfestem Papier ge-
gezetchnet; die Tinte hat einen hellbräunlichen fast blonden Ton, der in der Photographie unfehlbar schwarz wird; Stellen, wo die Flüssigkeit ins
Papier ausgelaufen oder die ursprüngliche Schärfe des Striches zerrieben ist, werden durch den chemischen Prozeß völlig karikirt.
Grade der ge
wissenhafteste Forscher, der täglich mit den Photographieen verkehrt, ist so
der schlimmsten Infektion deS Erinnerungsbildes ausgesetzt, daS er aus Venedig von der Betrachtung der Originalzeichnungen mitgebracht und als
unveräußerliche Habe zu besitzen wähnt.
Je genauer er daheim
die
Zweifel prüft, die man gegen diese Blätter äußert, desto zugänglicher dafür
muß er werden; denn die vielgepriesene Photographie läßt die leichtesten Federzüge derb und ungeschickt erscheinen oder leiht flüchtig hingeworfenen
Skizzen ein ängstlich pedantisches Aussehen.
Tritt man jedoch, vollständig
fleptisch, auf jede Resignation gefaßt, wieder vor die Zeichnungen hin, sv
erschrickt man wie völlig falsch die Vorstellungen sind, die man mitbringt, und
muß
angesichts einer solchen unbewußten Vergiftung deS Gedächt
nisses erklären, daß ein Urtheil über diese Blätter überhaupt nur vor
den Originalen selbst gefällt werden kann.
Hier, bet unmittelbarer Anschauung erledigen sich leicht einige Vor fragen, deren sichere Beantwortung den Standpunkt für die unbefangene
Untersuchung wesentlich mttbestimmt.
Vom Maler Giuseppe Bossi, dem einstigen Besitzer, stammt die An nahme, diese Zeichnungen hätten zusammengehört und ein Skizzenbuch ge
bildet.
„ES war ein Bund von 53 Blättern, die etwa eine Spanne in
der Höhe und weniger in der Breite maßen"*). — Wenn das richtig wäre, so würden von vornhetn manche Hypothesen eingeschränkt oder aus
geschlossen, die mit losen Blättern ein leichtes Spiel treiben. Eine Anzahl gemeinschaftlich ausgestellter und tapfer mitpublicirter
Zeichnungen der Venezianer Akademie scheidet sich ohne Mühe aus.
Die
wunderschöne Darstellung Apoll und Marshas hat mehr als doppelte Di
mensionen; die Rötelzeichnungen MoseS vor dem feurigen Busch nach dem
*) Memorie inedite di Giuseppe Bossi im Archivio storico lotnbardo Anno V. (1878) S. 287 f.
124
Raphael'S Skizzenbuch in Venedig.
DeckenfreSko der Stanza dell' Eliodoro und S. Paulus nach dem Cäcilienbilde in Bologna, dieselbe Figur von der Hand eines Kupferstechers,
Tritonen nach dem Triumph der Galatea und eine Kampfscene (Rahmen XXXV Nr. 12), die auf die Constantinsschlacht zurückgehen mag, gehören
offenbar nicht hierher. Nr. 10.
Ebenso wenig ein ChristuSkopf im Rahmen XXVII
Ein schmales Blatt mit einer stehenden und einer knieenden
Frau in verehrender Haltung gehört dem Mariotto Albertinelli, während
ein Jüngling mit gefalteten Hände», vielleicht ein Hirt aus der Anbetung deS Kindes (XXXV, 8), bis auf Weiteres in die Klaffe der florentinischen
Raffaellinos zu verweisen wäre*).
Einzelne Blätter,
die in Frage kommen, sind offenbar beschnitten
word.en; sonst aber bestätigt der Augenschein Bossi's Annahme vollkommen. Das Papier hat durchgehends die nämliche Farbe und, soweit dies bei
der Einspannung zwischen zwei Glasplatten konstatirbar, auch Textur.
dieselbe
Mehr noch als die gleichen Dimensionen spricht die gleichartige
Behandlung für die Zusammengehörigkeit, und der Zustand ihrer Erhal tung läßt keinen Zweifel übrig, daß sie einem Buche angehörten und ge
meinsamer Abnutzung und Beschädigung ausgesetzt waren.
An der einen
Seite sind die beiden Ecken durch Abstoßen gerundet, während die andere
Seite, unversehrt und grade abgeschnitten, damals int Buchrücken geschützt
saß.
Außerdem trägt noch fast jedes Blatt, so gerichtet in der Ecke rechts
oben, die fortlaufende Nummer, welche den Schriftzügen nach bis ins sieb
zehnte Jahrhundert zurückreichen mag.
vor; denn er erzählt
Jedenfalls fand Bossi diese Ziffern
ausdrücklich beim Ankauf der Sammlung
habe
Fol. 48 gefehlt, das er hernach unter andern, bereits zwei Jahre früher
in Paris,
aus dem Nachlaß von Le Grand,
erworbenen Zeichnungen
auffand**).
Bei so vielen Anhaltspunkten muß man doch sofort darauf verfallen,
ob und in wie weit eine Rekonstruktion der ursprünglichen Reihenfolge
möglich sei? — Natürlich wird man sich von vorn herein über den Werth *) Die beiden in der Bibliothek ausgestellten Zeichnungen, welche Aktfiguren von Pollajuolo enthalten, habe ich diesmal leider nicht sehen können; nach der Photo graphie erscheinen sie mir wie Copieen. ** ) „Per combinazione veramente singolare trovo mancarvi il foglio 48 e osservo tra i fogli vicini alcune figure panneggiate nello etile d’una figurina di Raffaello, ehe feci acquistare a Parigi due anni sono alla morte di Le Grand. La cerco nel volume della Scuola antica e romana, e riconosco non solo essere della stessa mano, ma essere lo stesso foglio 48 ehe mancava al libro“ a. a. O. S- 288. Lermolieff verschweigt diesen Um stand. Allerdings laust die noch vorhandene Paginirung von 6 bis 55; doch scheint Bösst die einzelnen Blätter des losen Bündels, er sagt 53 Stück, gezählt zu haben, wozu denn noch das nachträglich gefundene Fol. 48 als Nr. 54 zuzurechnen wäre; dann hätten wir unsrerseits von Fol. 55 rückwärts gezählt bis Fol. 2, d. h. ohne den Titel, 54 Stück.
einer solchen Einordnung der Blätter nicht täuschen.
Es handelt sich ja
nicht um den Text einer Handschrift, dessen innerer Zusammenhang von Seite zu Seite, von Blatt zu Blatt dadurch wiederhergestellt würde. Im Gegentheil, fast jede Zeichnung besteht für sich, nur selten ist direkte Auf
einanderfolge mehrerer gefordert.
Und der Maler benutzt die weißen
Blätter ganz wie es ihm beliebt, zeichnet bald hier bald dort hinein, hier wird eine Reihe von Vorderseiten benutzt, deren andere Hälfte er vielleicht
nach geraumer Zeit gelegentlich auSfüllt; dort greift die eifrige Hand nach
der ersten besten Stelle, um eine vorübergehende Erscheinung in flüchtiger
Skizze zu fesseln; ein ander Mal wird wenigstens nach einem Platz ge sucht, wo nicht allzu heterogene Dinge dazwischen kommen.
Genug, die
Herstellung der örtlichen involvirt nicht ohne Weiteres auch die zeitliche Folge.
Für die Bestimmung der letzteren müssen die Gegenstände der
Darstellung, durchgehende Vorbilder, Stil und Technik u. dgl. zu Hülfe
kommen.
Jedenfalls aber wird Eins gewonnen: in ursprünglicher Reihe
angeschaut müssen sich, wenn irgendwo, die natürlichen selbstredenden Com binationen ergeben; nur so kann man auf legitimem Wege die Vorstellung erwecken, als folge man beim Durchblättern dem Meister selbst in seinen Studien nach.
Um ganz objektiv zu verfahren, lassen wir für die Herkunft der ein zelnen Zeichnungen alle Möglichkeiten offen, die bei einem solchen Taccuino statthaben.
Vor allen Dingen darf nicht abgewiesen werden, daß mehrere
Hände das Buch benutzt, sei eS zur Zeit des EigenthümerS selbst, also
etwa von Lehrern oder Genossen, mit denen er arbeitete, sei eS von spä teren Besitzern.
Nur so viel darf wohl ohne Widerspruch vorab erklärt werden: die
Mehrzahl der Zeichnungen geht mit Bestimmtheit auf die umbrische, oder wenn man will umbroflorentinische Schule beim Uebergang auS dem XV. ins XVI. Jahrhundert zurück.
Mit Fol. 6, wo die heute noch lesbare Paginirung beginnt, setzt so gleich eine Folge von Studien ein, Signorelli htnweist.
deren Stil unzweifelhaft auf Luca
ES sind größtentheilS Mfiguren, deren Stellungen
ganz ähnlich oder doch mit unmittelbar einleuchtender Modifikation in be
kannten Werken des Meisters vorkommen.
Ein junger Mann mit erho
bener Posaune nach links gewendet (Fol. 6a); ein Jüngling, der auf der linken Hand eine Schale, in der Rechten einen Krug zu halten scheint, mit dem Fuß eines Knieenden daneben (7 a); zwei nackte Jünglinge von hinten gesehen, mit einem Kind im Laufkorb zur Seite (8 a); ein stehender
Krieger nur mit einem Helm auf dem Kopf, in Rückansicht (8 b); eine Gruppe von vier jungen Leuten, deren Mittlerer gekrönt wird, während
ein Kind zu feinen Füßen spielt (11a); ein nackter Mann, der eine Keule
schwingt um
ein neben ihm liegendes Rind zu treffen (12 a), gehören
jedenfalls in den Kreis der Erfindunden Signorelli'S, welche in den WeltgerichtSscenen zu Orvieto (1500ff.), in den Geschichten des Totilas zu
Montoliveto maggiore (1497) und in mythologischen Darstellungen wie die Erziehung des Pan, int Palazzo Petrucci zu Siena (1498) verwerthet
wurden.
Auch die fliehende Frau, die ihren Säugling vor dem Schergen
des HerodeS schützt (7 b), verräth die charakteristischeit Merkmale Signorelli's in den Bewegungen, besonders der Beinstellung, wie in der Ge wandung und im Kopfputz.
Im Dom von Orvieto, links über der Thür
zur Capella S. Brizio begegnen uns ähnliche Motive.
Hirt nach
links hinten gewendet,
Der flötenblasende
mit einer Armstudie daneben (14a),
kehrt fast ebenso auf dem Tafelbilde der Erziehung deö Pan int Museum zu Berlin wieder,
und Fol. 16 bringt eine verwandte Figur, mehr in
Profil nach links schreitend.
Selbst in den tanzenden Putten (8 b), einem
Frauenkopf (8 a) und der eingerahmten Halbfigur der Madonna mit dem
Kinde, das an einem Kreuze spielt (13 a), zeigen sich noch hinreichende Spuren der Auffassung
und deS Geschmacks, die wir an gleichzeitigen
Werken Signorelli'S wahrnehmen*). Grade diese Zeichnungen, wie besonders die beiden Figuren aus dem Kindermord, beseitigen indeß andrerseits jeden Gedanken, als hätten wir
Signorelli selbst zu erkennen.
Mehrfach treten Anzeichen hervor, daß wir
es mit einer jüngeren Hand zu thun haben, die nach Vorlagen des Cortonesen sich übt, vielleicht unter persönlicher Leitung des Meisters, welcher am Ende der neunziger Jahre, wohin diese Darstellungen ohne Zweifel
gehören, auf der Höhe seiner künstlerischen Kraft und seines Ruhmes stand.
Eine andere Folge von Skizzen führt uns noch weiter zurück und zwar nach Urbino.
Hier befand sich im herzoglichen Schlosse eine Reihe
von Jdealbildnissen berühmter Dichter und Philosophen, weltlicher und geistlicher Schriftsteller, welche der Herzog Federigo von Montefeltre für seine Bibliothek halte
malen
lassen.
„Quod non
fecerunt barbari,
fecerunt Barberini“, sagt man in Urbino: auch unsre 28 Porträts sind
durch diese geistlichen Herrn von ihrem ursprünglichen Standort entfernt und befinden sich heute zur Hälfte noch zu Rom im Palast Barberini,
zur andern Hälfte im Louvre zu Paris.
Zwölf solcher Bildnisse sind im
venezianischen Skizzenbuch nachgezeichnet, das erste Fol. 21 b stellt Quintus
Curtius dar, das nächste Fol. 25 a ist ohne Namen, die folgenden haben *) Grotteskenornamente auf den Rückseiten einiger Blätter können ebenso wohl mit der Decoration deS Signorelli z. B. in Orvieto, als mit Arbeiten perusischer Maler um 1500 Zusammenhängen. AuS Sta. Maria del Popolo zu Rom stammen ste nicht.
die Unterschriften:
PLATONI. - ARISTOTELI.
ANNAEO SENECAE CORDVE.
—
STAGIRITAE —
M. TVLIO. CICER. — HO
MERO SMYRNAEO. - CL. PTOLOMAEO. ALEX. - FI. BOETIO
(beide auf Fol. 29b) — P. VERG. MARONI. MANTVANO. — VITO
RINO. FELTRINO und endlich ANAXAGORA, Bildern in Rom
und Paris
ebenso
den wir unter den
wenig wie Quintus Curtius ge
nannt finden. Die Gemälde zeigen ein Gemisch von flämischer Auffassung und
einem dem Melozzo und dem Giovanni Santi gemeinsamen Stil, Ele mente die auch in der malerischen Ausführung an einzelnen mehr ge
sondert, an andern enger verquickt hervortreten.
Sie sind um das Jahr
1474 gemalt, und ihre Nachzeichnungen können nur in Urbino selbst ent
standen sein.
Kleine Abweichungen der letzteren von den ausgeführten
Malereien und sonstige Eigenthümlichkeiten machen es wahrscheinlich, daß auch diese Studien nach den Originalzeichnungen der Meister, nicht nach
den Bildern selbst, copirt wurden, und so werden wir wohl direkt in das Atelier der Urheber, zu Giovanni Santi und Jost van Gand, oder deren Erben gewiesen.
Auf
diese
älteren
urbinatischen
Lokalmeister
gehen
noch
andere
Blätter des Sktzzenbuchs zurück: so die runzlige Hand auf Fol. 49 a und eine andre mit Cirkel auf Fol. 12b; das Abenteuer mit dem Löwen, der
einen starken Mann zu Boden geworfen und brüllerid über dem Schreien
den steht, während eine mächtige Dogge bellend assisttrt, und ein Hirt in
der Ferne ruhig sitzend kaum
seine Dudelsackpfeife vom Mund absetzt.
Die Erfindung dieser Scene ist noch ebenso naiv wie die Darstellung des
Kindermordes auf einem der allerersten Blätter; zeigt den
großen Fortschritt der nämlichen Hand,
aber die Ausführung
die jenen kindlichen
Versuch gewagt.
Als vorbereitende Skizzen mögen die Löwen bezeichnet
welche
sich auf den Rückseiten von Fol. 47 und 48 finden.
werden,
Hierher gehören ferner:
ein knieender Geistlicher, der sich anbetend im
Profil nach rechts wendet (Fol. 23b) und ein Alter,
der in gebückter
Haltung sinnend nach rechts gewendet dasitzt, während ein Genius hinter ihm Blumen über ihn auSstreut.
Dies Motiv erinnert an SignoreM'S
Engel in Orvieto, die Formgebung dagegen bereits an Perugia.
End
lich pflanzt sich dieselbe Technik noch in anderen Blättern fort, wie in einer Madonna mit dem schlafenden Kinde, in mehreren Frauenköpfen, in der Kinderschaar, die mit einem Schweinchen spielt, und in dem Por
trätkopf eines jungen Mannes mit Malerkappe, einmal in grober Hal tung nach links, und nochmals auf die Hand gestützt nach oben blickend (18 b), mit der Aufschrift: d vnz B.— L. paro.
RaPhael'S Skizzenbuch in Venedig.
128
Dazwischen treffen wir auf kindlich behandelte Stadtansichten, Berg gehänge, Felsen und dgl. landschaftliche Stücke, die oft ganz flüchtig skizzirt, aber unverkennbar auf Wanderungen in der Nähe von Urbino
aufs Papier geworfen wurden: wenn Urbino selbst auch nicht auftritt, so
begrüßen wir Motive, die uns Castel Durante und Plan de Meleto,
Cagli und Fossombrone ins Gedächtniß zurückrufen und dürften somit die bemannten Galeeren dazwischen nur auf die nächstgelegenen Hafenorte wie
Fano und Pesaro beziehen können.
Wer wollte sich darnach dem Gedanken
verschließen, daß die jugendliche Hand und Phantasie eines urbinatischen Künstlers viele dieser Blätter mit Versuchen gefüllt, die bald mehr, bald
minder gelungen, doch einen durchgehenden Charakter zeigen, und mit den
früher besprochenen Studien nach Luca Signorelli sehr wohl verträglich wären! Nun aber
tritt nach der Mitte des Buches noch eine dritte Reihe
von stilistisch zusammengehörigen Zeichnungen auf, nach welcher man bis her vorwiegend das Ganze beurtheilt und datirt hat.
mit Bestimmtheit
auf Perugia und
Sie führt uns
den Stil der beiden Hauptmeister
dieser Schule an der Scheide des 15. und 16. Jahrhunderts Bernardino
Pintoricchio und Pietro Vannucci genannt Perugtno.
Das Wappen der
Stadt, der Greif, auf einem dieser Blätter, mag. als Ortsangabe zuerst erwähnt werden.
Die Richtung selbst setzt entschieden ein mit zwei Pro
pheten auf Fol. 13 b und 14b, welche noch einen älteren großartigeren
Stil repräsentiren
als jene matte Nachblüthe im Cambio, bei der
die
Auch der heil. Andreas ist ohne Frage dem
letzte Kraft verbraucht ward.
Fiorenzo di Lorenzo verwandt und streift nahe an seine Apostelgestalten auf dem Altarstück der Galerie von Perugia, das neben seinem vollen Namen die Jahreszahl 1487
enthält.
Recht hölzern erscheint dagegen
der heilige Sebastian, den der Zeichner mit auffallender Geduld stückweise auf drei Seiten wiedergegeben (45 a, 46 a und 46 b). Ganz anders gedacht,
ganz im Sinne der kleinlichen Verhältnisse,
und mit der Vorliebe für hagere Körper, enge puppenhafte Gesichter und konventionelle Gebärden, welche dem Pintoricchio seit seiner Rückkehr aus
Rom (1498) eigen sind, ist die Figur eines langbärtigen Greises mit
Turban behandelt, der in schleppendem Gewände nach rechts schreitend
den Kopf auf die andere Seite dreht (16 b). man bei Pintoricchio
Individueller belebt als
damals erwartet ist wenigstens eine Gruppe von.
Köpfen, die augenscheinlich Zuschauern eines Vorgangs gehören.
Auf
eine Arbeit desselben Meisters müssen die zwei Reiter zurückgehen, deren
einer nach rechts, der andre nach vorn gewendet ist; doch geht auch hier daS Verständniß, besonders in den Köpfen, bereits über Bernardinos
Leistungen hinaus (47 a).
Von Fol. 48 bis ans Ende des Buches schließen sich gleichartige
UebungSblätter an, deren Herkunft letztlich ins Atelier Perugino'S zurück
verfolgt werden muß*).
Eine junge Frau, die knieend nach rechts ge
wendet, die Hände zu irgend einer Manipulation erhebt, verräth uns, in welchem Umkreis wir die Vorbilder zu suchen haben: es ist die Frau,
welche die Beschneidung Mosis vollzieht, auf einem Fresko der Capella Sistina deS Vatikans; Perugino hat es unter Beihülfe des Pinturicchio ums Jahr 1482 gemalt**).
Vergleicht mau die vorliegende Zeichnung
mit der Figur des Wandgemäldes, so wird man die naheliegende Ver
muthung, als hätten wir eine vorbereitende Studie des Meisters selbst vor uns, doch baldigst aufgeben.
ausführenden
Die Haltung stimmt in
Zufälligkeiten, die sich nur erklären, wenn man bereits die zugehörigen
Figuren der Gruppe daneben hat, mit dem auSgeführten Fresko überein; die Stellung der Finger ist zu sicher,
zeichnet; andrerseits trägt die immerhin
ohne jegliches PentiMento, ge ziemlich
oberflächliche
durchaus nicht den Charakter ursprünglicher Erfindung, sondern
Skizze ist viel
zu regelmäßig, berechnet und befangen. — Ganz ähnlich verhält eS sich
mit dem Frauenkopf auf Fol. 17 b links unten; man hat gemeint, eS sei die Studie zum Kopf der Ziporah, die ihren Knaben führt,
diesem Fresko der Reise MosiS. in Nebensächlichem zu genau,
handen.
eben auf
Die Uebereinstimmung ist auch hier
in den feineren Qualitäten garnicht vor
So durste man auch den Kopf daneben als den der sitzenden
Frau zu äußerst rechts im Fresko bezeichnen und in den oberen Versuche für die Krugträgerin links im selben Bilde erkennen;
aber nur ganz
äußerliche Beobachtung kann sich dabei beruhigen.
Bestimmter noch als diese beiden Zeichnungen von der „Reise MosiS" sind andre aus der „Einsetzung des Schlüsselamtes" herzuleiten, die Pe
rugino in einem andern Fresko derselben Capelle dargestellt***).
Der
Jünger rechts vom knieenden Petrus, der die eine Hand auf seine Brust
legt und mit der andern eine Schriftrolle hält, ist im Skizzenbuch ohne dieses Papier gegeben und mit Quadratnetz überzogen; desgleichen sein
älterer Nachbar zur Rechten.
Der nämliche Jüngling kehrt, wenig ver
ändert von der Gegenseite genommen, auf dem nächsten Blatte wieder.
Die letzte Skizze dann stellt den Jünger zu äußerst links im Fresko dar und neben ihm eine andre gleichartige Gestalt,
durch eine Porträtfigur ersetzt ward.
die im Wandgemälde
Alle diese Umstände führen darauf
hin, daß wir eine frühere Redaktion, Theile eines hernach veränderten *) Vgl. zum Folgenden Preuß. Jahrb. XLVII. S. 49 ff. **) Photogr. v. Alinari. Nr. 14359. ***) Photogr. v. Alinari, 14365.
(Januar 1881.)
Entwurfes für bie Schlüsselübergabe vor uns haben.
So erklärten sich
auch zwei ganz analoge Figuren auf Fol. 54 a als solche für die rechte Sette bestimmte, bei der Ausführung durch Porträts verdrängte Zuschauer*).
Es bliebe also nur die Alternative: diese Blätter des Skizzenbuches fhib entweber bie Originalentwürfe beS
ausführenden Meisters von 1483,
oder aber spätere Reproduktionen des ursprünglichen Entwurfes, Studien
eines Schülers nach dem
Carton Peruginos.
Die Mehrzahl ist mit
Quadratnetz überzogen, man könnte meinen zur Uebertragung in größerem Maßstab; doch wäre dies bei Blättern, die im Buche festsitzen, mindestens
unbequem gewesen.
Da nun allen diesen Skizzen durchaus der originäre
Charakter frischer Erfindung abgeht, vielmehr eine gewisse Nachlässigkeit
und Aeußerlichkeit anhaftet, so erklären wir uns für die letztere der beiden
Möglichkeiten, um so mehr als die nämlichen Figuren in zahlreichen Va riationen auf späteren Arbeiten Perugino's, Pintoricchio'S, Raphaels und
der ganzen perusischen Schule vorkommen. — Pietros Cartons zur „Uebergabe der Schlüssel", zur „Reise Mosis" und zur „Taufe Christi" waren
jedenfalls neben andern Vorbildern aus seiner fruchtbarsten Periode zum Studium seiner Schüler und zur Benutzung seiner Gehülfen im Atelier
aufgestellt.
Solche Uebungsblätter eines Lehrlings sind auch diese Zeich
nungen im venezianischen Skizzenbuch, und zwar aus einer Zeit, wo mit
diesem Schulgut bereits recht mechanisch umgegangen wurde.
Gleichartige
Gewandfiguren dazwischen mögen aus andern Cartons herrühren; z. B. die knieende Jungfrau, die offenbar das Kind verehrt,
auf Fol. 51b,
dankt ihren Ursprung vielleicht jener Darstellung der „Geburt Christi", die Perugino an der Altarwand der Sixtinischen Capelle gemalt hatte, wo hernach ein Befehl Pauls III. dem Weltgericht Michelangelos Platz
schuf, und wir hätten in dieser Skizze eine Wiederholung desselben Ori
ginals, das Pintoricchio in den neunziger Jahren in der ersten Capelle von Sta. Maria del Popolo benutzt hat.
Andre Jünger- und Frauen
gestalten dürften sich in gleicher Weise auf die
„Findung MosiS"
oder
die „Himmelfahrt Mariä" zurückführen, wären diese Gemälde der Altar wand nicht ebenso dem großen Fresko Michelangelos zum Opfer gefallen.
Perugino's Schöpfungen für die Sixtinische Capelle sind jedenfalls als die Musterleistungen zu betrachten, an denen Pintoricchio so gut wie die ganze Schule von Perugia seitdem gezehrt hat.
II. Auf die letztbesprochene Reihe von perugineSken Figuren und ihre oberflächliche
Jdentificirung
mit
den Freskomalereien in der Capella
*) Verwandt ist auch das Blatt in Lille, Braun 60.
Sistina gründet Ivan Lermolieff seinen sogenannten Beweis, daß die bei
weitem größte Zahl dieser schönen Federzeichnungen in Venedig, welche der verstorbene Professor Bossi zuerst für Raphaels Eigenthum erllärt „keinem andern gehören als dem armen verkannten Bernardino
hat,
Pinturicchio", und daß sich indem Band, den wir das venezianische Skizzenbuch nennen, außerdem nur „noch zwei Zeichnungen von Ra phael, ein paar von Antonio del Pollajuolo nebst einigen andern
unbedeutenden aus der Peruginischen Schule" befänden.
Wie wenig die letztgenannten
Gewandstudien den Charakter von
Originalentwürfen, oder auch nur von sorgfältigen Ausarbeitungen Pinturicchio's nach flüchtigen Skizzen des Perugtno an sich tragen, ist dar Ebenso wenig aber wie diese Ankleidepuppen um 1482, kann der
gethan.
Altersgenosse Perugino'S „in viel späterer Zeit" die Nachbildungen nach
Luca Signorelli gemacht haben.
Die Erfindungen des Meisters
von
Cortona gehören, wie wir nachgewiesen, in die zweite Hälfte der neun ziger Jahre, vielleicht gar an den Eingang des Cinquecento, in eine Pe
riode also, wo Bernardino Pinturicchio ebenfalls in seiner besten Kraft und als Hofmaler Papst Alexanders VI.
auf einer Höhe des Ruhmes
stand, wo er wenig aufgelegt war, die Skizzen des Cortonefen nachzu-
studiren.
Diese Blätter des venezianischen Albums zeigen außerdem die
unverkennbaren Merkmale einer ungeübten Hand, welche unmöglich einem
fünfzigjährigen, vielerfahrenen und damals anerkannter Maßen routinirten Maler zugemuthet werden dürfen.
Bon einer Beziehung PinturicchioS
zu den urbinatifchen Localmeistern,
oder gar von einem Aufenthalt in
Urbino und Umgegend, welche bei der zweiten Reihe von Skizzen noth
wendig vorausgesetzt werden mußten, wissen wir garnichtS. Indessen, eS ist nicht meine Absicht dieser Controverse jetzt schon näher zu treten, ehe wir eine gründlichere Charakteristik deS Bernardino Pinturicchio besitzen.
Auch die Lösung der Skizzenbuchftage kann nur mit
gewissenhafter Berücksichtigung deS gesummten hierher gehörigen, in andern
Sammlungen vorhandenen Zeichnungsmaterials vollbracht werden.
Eine
solche genaue Verwerthung der verwandten Denkmäler würde, davon bin
ich fest überzeugt, durch streng methodische Arbeit auch über die Autor frage eine befriedigende Entscheidung herbeiführen, die gegen leichtfertige
Angriffe und das willkürliche Spiel subjektiver Kennerurtheile gesichert wäre.
Resultate, die auf legitimem Wege und mit anerkann
tem Verfahren
erbracht sind, können ja durch ein einfaches
Decret nicht cassirt werden;
sondern
Jedermann
muß sich
redlich mit ihnen abfinden.
Solange jedoch diese Arbeit nicht gethan ist, mag wenigstens ein Preußische Jahrbücher. Bd. XLV11I. Heft 2
10
Urtheil berechtigt erscheinen, das aus eingehender Beschäftigung erwachsen
ist.
Ich vermag nur meine bereits früher ausgesprochene Ueberzeugung zu
wiederholen, daß dies venezianische Skizzenbuch keinem Andern als dem
jungen Raphael von Urbino gehört haben kann. Den Ausschlag
giebt
hierbei zunächst natürlich der unmittelbare
Eindruck der Zeichnungen selbst.
Während alle bisherigen Reproduktionen
ein vielfach entstelltes Ansehen darbieten, indem sie die Abstufungen des
Farbenauftrags nicht getreu wiedergeben, die Unterschiede zwischen den
leichten und den kräftigen Zügen verwischen, die Klarheit und Schärfe des Striches abstumpfen, übt der Anblick der Originale, obschon der Zu
stand ihrer Erhaltung zu wünschen übrig läßt, doch einen Reiz, der alle Zweifel überwindet, mag man auch — wie es mir erging — mit noch
so skeptischen Gesinnungen gekommen sein.
Gleicht ihr AuSsehn doch aufs
Haar der Doppelzeichnung im Berliner Kupferstich-Cabinet,
mit dem
Entwurf zur Madonna Connestabile auf der einen und dem Entwurf zur
Madonna del Duca di Terranuova auf der andern Seite*).
Außerdem haben wir für einige dieser Blätter bereits früher einen
so engen Zusammenhang mit unbezweifelten Gemälden und zahlreichen in andern Sammlungen befindlichen Zeichnungen Raphaels nachgewiesen,
daß dadurch auch die nächstverwandten Blätter des Skizzenbuches dem
selben Meister zufallen. Nur auf ein Hauptstück mag hier mit allem Nach
druck hingewiesen werden: das Selbstporträt des höchstens fünfzehnjährigen Raphael in der Zeichnungssammlung zu Oxford, in dem wir doch sicher einen Maßstab dafür besitzen,
was wir diesem Künstlerknaben zutrauen
dürfen und müssen**). — Gewiß Niemand wird die herrliche Studie nach einem antiken Relief anzweifeln, die auf der einen Blattseite den Kampf
zweier Fußgänger gegen einen Reiter, auf der andern einen Fahnenträger nach linkshin schreitend, in nackter Schönheit darstellt, — oder die ganz
verwandten Speerträger, die nach rechts einen Angriff machen, und zu
der im Louvre befindlichen Darstellung eines Sturmes auf Perusia Au
gusta gehören***).
Endlich haben wir in der Gesammtheit dieser Skizzen einen so reich haltigen Entwicklungsgang vor uns, daß die Auswahl unter den um*) Bergt, über diese Zeichnung LiPpmann'S Aufsatz im Jahrbuch der Königl. Preuß. Kunstsammlungen II, 1, wo die denselben Gegenstand darstellende Federzeichnung in Lille mit Recht als späte Topie verworfen wird: sie ist eine nicht allein fehler hafte, sondern auch der umbrischen Kunstweisc garnicht mehr kongeniale Variation. **) Ich darf mich hierfür auf daS Urtheil des Nestors deutscher Kunstforschung in Venedig, des Herrn Baron von Liphart berufen. Man vergleiche doch den weibl. Kopf der Sammlung Malcolm (Br. 116) und den heil. Thoma» in Lille. ***) Venedig, Rahmen XXXV, 9 mit der Nadel durchstochen und auf der Rückseite nachgezogen. Vgl. außer dem Louvreblatt auch Wien, Albertina, Braun 154.
Krischen Malern beim Uebergang deS Quattrocento ins Cinquecento wahr haftig nicht groß bleibt und die Entscheidung nicht schwer.
Ueberblicken wir also diese Reihen von Studien einmal unter der Voraussetzung, daß sie dem jungen Raphael gehören*).
Vielleicht wird
man merken, daß sich dann Alles wie von selbst in die bekannten That
sachen seines Bildungsganges einordnet, ja, daß hier erst, an der Hand dieses
Einsicht in
Skizzenbuches eine beftiedigende
Wachsen,
sein Werden
und
eine Vorstellung über die Hauptfaktoren gewonnen wird, die
zusammenwtrken und ineinandergreifen
mußten,
um eine solche Erschei
nung hervorzubringen. Man hat so oft das Kind Raphael in seiner Umgebung zu fassen
gesucht und mit hausväterlicher Phantasie geschildert, wie ihn Papa und
Mama geliebt, Ohm und Base miterzogen u. s. w.
Unmittelbarer als
irgendwo begegnen wir dem Heranwachsenden Knaben hier, wo
er auf
Spaziergängen um Urbino, auf weiteren Ausflügen in die Gebirgsthäler
ringsum das neue Taccuino an der Seite führt.
Im ersten Eifer sind
die weißen Blätter verschwenderisch mit landschaftlichen Skizzen zweifel
haften Werthes gefüllt,
deren Motive in manchen seiner ersten selbstän
digen Gemälde wiederkehren.
Daneben könnte man sich kein Zeugniß
wünschen, das charakteristischer für die Bethätigung kindlicher Einbildungs kraft spräche, als
eine Scene
frühesten Versuchen antreffen.
des Kindermords, die wir unter diesen Unschuldig wie die Kindlein ist die Seele
des Erfinders; er hat noch keine mörderische That gesehen, keine Krieger, die mit dem blutigen Handwerk Ernst machen, keine Mütter, die ver
zweifelnd ihr Liebstes vertheidigen.
Hier wird ein Dolchstoß geführt, ein
Degen gezückt; aber es fließt kein Blut.
Fantini des Herzogs von Ur
bino**) spielen zur Uebung eine Pantomime.
Die eine der Mütter sieht
dem drohenden Verderben deS Säuglings in ihrem Schooße wehrlos zu, indem sie nur die Hände erhebt, wie jede junge Anfängerin als Thecla
im Wallenstein; die andre will wenigstens davon eilen, wird aber am Haarschopf festgehalten; ihr Bübchen verzieht eben das Gesicht zum Weinen,
während eine Alte den unhöflichen Knappen mit ihrem Pantoffel ohrfeigt.
Man würde die- Scene nur humoristisch nehmen, wenn sich nicht trotzdem
verriethe, wie ernstlich die Erfindung gemeint ist, wie intensiv die knaben*) Zu Gunsten dieser Annahme darf für die Tradition des Skizzenbuches dann die Stelle (bei-Paffavant) in Anspruch genommen werden, wo Bellori als im Besitz des Carlo Maratta citiert: Un Libro di alcuni avanzi de’ Studj giovanili di Baffaelle, ehe approvano le ane prime fatiche con un esattiasima imitazione a maggior finimento terminato. **) Wir begegnen ihnen in der nämlichen Tracht in der Auferstehung Christi des Giov. Santi zu Cagli, auf den Galeeren im Skizzenbuch und mehrfach bei Ra phael sonst.
Raphael'S Skizzenbuch in Venedig.
134 hafte
gearbeitet.
Phantasie
Die
naive
Sinnesart
der
ostumbrifchen
Künstlergeneration muthet uns an, wie in Raphaels Heimat aus jenen
Fresken des Lorenzo und Jacopo da San Severino im Kirchlein S. Gio
vanni Battista.
Es ist Empfindung ohne Affectation, angeborene Grazie
und eine köstliche Reinheit des Geschmacks in dieser instinktiven Aeuße
rung einer Natur, welcher künstlerische Production zum Lebensbedürfniß gehört.
Dieser eigenen Leistung des Knaben darf wohl zunächst eine Reihe
von Studien angeschlossen werden, deren Vorbilder in den Arbeiten seines VaterS Giovanni Santi selbst oder im Kreise der localen Kunstunterneh
mungen zu Urbino gesucht werden müssen.
Die enge Zusammengehörig
keit mit dem Flamänder Jost van Gand, wie mit Melozzo da Forli be stimmt den Stilcharakter der Schule, in welcher Raphael unbewußt seine ersten Schritte that.
Wenn wir bei dem frühen Tode des Vaters (1494)
ein gut Theil dieses Einflusses auf bloße Vererbung schieben müssen,
so zeigen unS diese Skizzen andrerseits, wie sich auch die Eindrücke der urbinatischen Kunstschätze, die Bilder, welche den erwachenden Genius um geben, laut und entschieden zur Geltung bringen.
Die Malereien, mit
denen Herzog Federigo seine Residenz geschmückt,
sind ohne Frage als
Lehrmeister des Knaben mitzurechnen; es kommt nur darauf an, nicht blos
Namen aufzuzählen, sondern eine Charakteristik dieser Erscheinungen als lebendigen
Factor
in
die
Jugendzeit
Raphaels
einzuführen*).
Das
Skizzenbuch lehrt uns, daß entweder im Atelier Santi'S welches auf seinen Schüler Bangelista da Pian de Meleto übergegangen scheint, oder sonst
an zugänglicher Stelle in Urbino mancherlei Zeichnungen zu Malereien vorhanden waren,
welche von Melozzo, Giovanni Santi und Jost van
Gand gemeinschaftlich ausgeführt sein müssen.
Reproductionen solcher Vorlagen sind jene Phantasieporträts berühmter Männer, die wir oben besprochen.
Einzelne sind höchst sorgfältig, nicht
nur mit der Feder sondern auch mit Tusche ausgeführt,
andre minder
genau oder nur theilweise, einzelne gar flüchtig bis zur Carikatur, wie
z. B. Bittorino da Feltre.
Der Zeichner ist offenbar ein Knabe, dem die
Aufgabe deS CopirenS mit der Zeit langweilig geworden; aber feine Hand
ist bereits geschult, und, wo nur die Geduld auSreicht, schon ganz sicher
in der Wiedergabe des eigenthümlichen halb flämischen, rentinischen StileS.
halb umbroflo-
Sie sind mit derselben Fertigkeit und zur selben Zeil
gemacht, wie die Propheten nach einem Meister von Perugia und andre Köpfe, die von Luca Signorelli Herkommen.
*) Auch das neueste Leben Raphaels von Eugen Müntz läßt in dieser Beziehung den Mangel eigentlich kunstgeschichtlicher Auffassung bedauerlichst hervortreten.
Die voraufgehenden Studien müssen uns den Weg weisen, wie und wo
sich diese Fertigkeit
allSgebildet.
Luca Signorelli ist eS, den wir
diesen zahlreichen Blättern zufolge, als einen der ersten und einflußreichsten Lehrer deS jungen Raphael aufzustellen haben, und zwar grade in einem
Lustrum wo die Spezialforschung bis heute ziemlich rathloS gestanden ist. Man hat ausgerechnet, daß Raphael nicht vor 1499 in das Atelier
des Pietro Vannucci nach Perugia gekommen sein kann, und glaubt als
einzigen bedeutenden Meister in Urbino den Timoteo della Bite zu haben, auf den aller Inhalt dieser wichtigen Jahre zurückgeführt werden müsse.
DaS Sktzzenbuch belehrt uns eines Bessern.
DaS Blatt mit dem fliehen
den Weibe, das ihr Kind gegen den Schergen des HerodeS vertheidigt, kann nur von einer knabmhaft ungeübten Hand gezeichnet sein; die Vor lage dagegen gehört dem Luca Signorelli.
Signorelli aber kam, wenn nicht schon öfter bei früherer Gelegenheit,
im selben Jahre nach Urbino, in dem Raphaels Vater gestorben ist. Im Juni 1494 wird mit ihm abgemacht,
er solle für die Brüderschaft
von Sto. Spirito in Urbino ein Prozessionsbild malen, mit der Kreuzi
gung
auf der
einen und der Ausgießung des heiligen Geistes auf der
Zur Ausführung werden drei Monate bedungen.
andern Seite.
Diese
Darstellungen von Signorelli'S Hand sind noch heute in der kleinen Kirche
Sto. Spirito, wenig Schritte vom Geburtshause Raphaels, zu sehen und wir dürfen annehmen, daß der Meister sie zu Urbino selbst gemalt; denn
von CittL di Castello, wo wir Luca damals vornehmlich beschäftigt finden, würde der Transport
über die hohen Gebirgspässe schwierig und kost
spielig*) gewesen sein, — eine Voraussetzung, die um so wahrscheinlicher
wird als wir sichere Belege besitzen, daß Signorelli die Kunstschätze Ur binos gekannt hat.
Bei seinen Decorationen in der Capella di S. Brizio
des Doms zu Orvteto haben ihm bei den Bildnissen berühmter Männer unverkennbar die Darstellungen in der herzoglichen Bibliothek von Urbino vorgeschwebt,
eben jene JdealporträtS, die auch Raphael um diese Zeit
gezeichnet hat.
Andererseits jedoch stünden einem zeitweiligen Aufenthalt Raphaels beim Luca in CittL di Castello die Präsenzzeugnisse in Urbino durchaus
nicht im Wege.
Wie dem auch sein mag, ein directer Verkehr mit dem
Meister von Cortona, und zwar daS Verhältniß eines Lernenden zu dem
anerkannten Vorbilde, ist unS in dem Skizzenbuch documentirt**).
Außer-
*) Die Brüderschaft von Sto. Spirito stipulirte ausdrücklich, der Meister solle sie aufstellen „Omnibus suis sumptibus et expensis, excepta tela seu panno lini“. (Pungileoni, Elogio Stör, di Giov. Santi S. 77.) **) Ich weise mit Vergnügen aus die schätzenswerthen Bemerkungen Rob. Vischers über
dem besitzen wir ja in der Sammlung Wicar
zu Lille eine Zeichnung
Raphaels nach zwei Bogenschützen auf dem Martyrium des heiligen Se
bastian, welches Luca Signorelli 1496 für die Kirche von S. Domenico In Cittä, di Castello gemalt hat, eine Skizze, die durchaus die Hand eines
Anfängers verräth.
Von den frühzeitigen Aufträgen,
die dem jungen
Maler in dieser Stadt zu Theil wurden und persönliche Beziehungen ver muthen lassen, ganz zu schweigen.
Genaue Betrachtung der einzelnen Studien nach Signorelli ermög licht bald eine Sonderung zweier, nach ihrer Qualität, besonders ihrer
technischen Vollendung
auseinander gehender Reihen:
wir haben eine
ältere vor uns, in welcher wir die Härten der urbinatischen Localschule,
die Ungeübtheit des jungen Schülers zugleich mit sorgfältiger Nachahmung des Cortonesen erkennen, und eine spätere Gruppe von weit vorgeschrittener Feinheit, wo die Nachbildung bereits in überlegte Aneignung mit selb ständiger
Auswahl
congenialer
Elemente
übergeht.
Zwischen
beiden
Gruppen scheint ‘ bereits eine Berührung mit dem zarten Geschmack der
Meister von Perugia stattgefunden zu haben, oder eine ausgesprochene Richtung des eigenen Naturells hervorgetreten.
Die trefflichsten Studien
nach Luca führen uns in einen Gedankenkreis, welcher festdatierte Arbeiten in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre umschreibt; aber keines der
Blätter fordert die persönliche Gegenwart Raphaels bei diesen Malereien in Montoliveto, Siena und Orvieto; desto entschiedener dagegen setzt die
Bekanntschaft mit den vorbereitenden Versuchen des Meisters vertraulichen Umgang voraus: der liebenswürdige Urbinate nimmt an dem innersten
Schaffen Signorelli'« Theil, grade in einer Periode, welche die Vorstufe für jene höchsten Leistungen bedeutet.
Zahlreiche Anregungen der Antike, stoffliche wie formelle, werden hier von einem
echten Quattrocentisten verarbeitet.
Eine Beschäftigung mit
heidnischer und christlicher Poesie, besonders mythologischen Inhalts, eifrige
Studien nach römischen Skulpturen liegen zu Grunde.
Vor Allem aber
ist es immer die menschliche Gestalt, nackt, in Ruhe und mancherlei Be wegung, die hier verstanden, bewältigt, vollständig angeetgnet werden soll.
Wie weit diese Gemeinschaft gegangen sein muß, erhellt auch daraus, daß einige Rundbildchen in Orvieto z. B. jene HerculeSarbeiten, als Varia
tionen anderer Skizzen Signorellis zu denselben Gegenständen angesehen
werden müssen, welche den Studien Raphaels, hier im Buche, zum Vor bild dienten, so z. B. Herkules Kämpfe mit dem Stier, mit dem nemeischen
Löwen, mit dem zu Boden geworfenen Riesen. den bedentenden Einfluß dieses Meisters aus Raphael, in seiner Monographie über Luca Signorelli (Leipzig 1879) S. 332 ff.
Das Jahr 1497, in dem Signorelli dann von CittL bi Castello nach
Montoliveto bei Chiusuri übersiedelte, um die Fresken aus dem Leben
deS heiligen Benedikt auszuführen, ist der früheste Termin für eine direkte
Berührung
mit Perugino.
Pietro'S Bilder in Sta. Maria nuova oder
delle grazie zu Fano tragen das Datum 1497 und 1498.
Fano aber ist wenige Stunden von Urbino entfernt und bequem er reichbar; ja der Meister von Perugia wird sicher den kürzeren Weg über
Cittit bi Castello unb Castel Durante gewählt haben, ber unmittelbar an Urbino entlang führt, statt beS weit beschwerlicheren über Gubbio unb Cagli,
bet burch ben Furlüpaß kurz vor Fossombrone auf bte andre Straße mündet. Mehr jedoch als diese äußerlichen Verhältnisse erzählen uns bte Ge
mälde Perugino'S in Fano selbst.
Es fehlen ihnen die dunkelvioletten
unb bräunlichen Töne, welche Perugia eigenthümlich finb; das Ganze ist Heller, kühler gehalten,
gleich allen Bildern die um diese Zeit an der
Ostseite Italiens entstanden. Und die Predellenstückchen unter ber thro nenden Madonna, welche die Geburt Mariä, die Darstellung im Tempel,
das Sposalizio, bte Verkündigung vor einer langen perspektivisch verkürzten Säulenhalle und
die Himmelfahrt der Jungfrau enthalten, haben mich
bei jedem Besuche birect an Raphael gemahnt.
Die Aehnlichkeit einzelner
Gestalten unb Motive mit Venen in Raphaels frühen Gemälden, beson ders mit den Staffelbildchen zu seiner Krönung Mariä (im Vatican), ist so
groß, daß eine genaue Bekanntschaft mit ihnen vorausgesetzt werden muß.
Ich kann angesichts dieses sorgfältig, aber nicht fehlerfrei ausgeführten
Gradins die Vermuthung nicht unterdrücken, daß wir von 1497 in Fano die Verbindung Raphaels mit Perugino datiren sollten.
Jedenfalls müssen
wir in jener Reihe feiner unb feiner wiedergegebener Zeichnungen nach Signorelli ein neues Moment in der Entwicklung Raphaels constatiren.
Ein schwebender Engel mit einem Reif oder Tamburin in ben Händen
(Fol. 10 b), ein nach links schreitender Hirt, bet die Dudelsackpfeife bläst, eine wunderschöne Darstellung des Herkules, der dem nemeischen Löwen
den Rachen aufreißt wie Simson, sind sprechende Beispiele des Ueber«
gangö zum perusischen Geschmack. wie die Behandlung der
Aber die Zeichnung der nackten Theile,
Gewandfalten erinnern noch vollständig
an
Signorelli z. B. an die blumetiftreuenben unb krönenden Engel in Orvieto.
Jener Greif, der uns als Wappen der Stadt, Raphaels Anwesen
heit in Perugia bestätigt, ist in der nämlichen, durchaus nicht perugineSken Handweise gezeichnet, aber schon zarter, echt umbrischer als manche
Studien nach dem Cortonesen*). *) Nach den Anmerkungen zum Vasari (Opere III S. 605) bewiese ein Tontrakt, in dem Perugino al« Zeuge auftritt, seine Anwesenheit in Fano am 21. April 1498
Hat Raphael bei Perugino in Fano die Behandlung des Bister pinsels gelernt, und die weiche Modellirung im Sinne der verrocchioschen
Schule?
Sie zeigt sich zuerst auf den ebengenannten Blättern, an einem
liegenden Knäbletn, das sonst nichts PerugineSkeS hat (Fol. 21 a), an
einem liegenden Kinderkopf (22 a), einem segnenden Jesus (24 a) und an
den Galeeren, die uns wieder an den Hafen von Fano erinnern. Darnach erscheint die Reihe manierirter Copieen nach perugineSken
Schulfiguren
wie
ein
Rückfall
in
banausische
Pedanterie.
Ist
eS
Perugino selbst, der den jungen vielversprechenden Urbinaten auf diese
Weise zum brauchbaren Ateliergehülfen umzustempeln sucht****) ), oder sollen wir bereits in Manier und Geist dieser AsstmilationSübungen die Ober leitung des Pinturicchio erkennen?
Jedenfalls nach einer Vorlage des
letzteren sind jene beiden Reiter gezeichnet, deren einer nach rechts um biegt, während der andre gradeaus vom Hintergründe herzukommt.
Noch
verrathen uns die Halbmonde im Geschirr, daß sie aus Bernardinos Ge schichten vom Prinzen Djem in der Engelsburg herrühren, oder für die
PiccolominifreSken in Siena bestimmt waren.
Aber die flüchtige Skizze
hält sich offenbar nicht genau an das Vorbild: wo er an den Kopf der
Pferde kommt, fängt des jungen Künstlers selbständige Beobachtung an wie unwillkürlich hineinzusptelen; besonders der höchst lebendige und ana tomisch genaue Kopf deS vorderen Gaules
hölzernen Rumpfe.
sitzt ganz fremd
an dem
Hier haben wir nicht die Lehre Signorellis zu er
kennen: seine Pferdeköpfe sind miserabel gegen diesen; auch nicht PeruginoS
bessere Einsicht: eS fehlen uns Beispiele bei ihm.
Vielmehr Raphaels
persönliche Eigenart ist eS, der Sinn für dies edelste Thier, der ihn unter allen Umbrern auSzeichnet, und den größten Maler feuriger Rosie, den diese Zeit neben Lionardo hervorgebracht, schon in feinen Anfängen ver
kündet.
In einer Skizze zum Cartoncino deS ersten Fresko der Librerka
zu Siena, welche sich neben dieser Tuschzeichnung selbst in den Uffizien befindet*), giebt den Beleg für die spezifische Beobachtung der nämlichen
Race.
Vollends diesen Entwurf mit Raphaels Handschrift darauf schreibt
nur der nicht dem künftigen Schöpfer des AttilazugeS zu, dem die Grenzen
d'eS Kunstvermögens der Localmeister von Perugia überhaupt verschwimmen. Die Blätter am Schluß deS Skizzenbuches dagegen sind die uner
quicklichsten deS Ganzen, und ihnen gegenüber wird man kaum mehr den
(so ist offenbar statt 88 zu lesen). Im Januar 1497 ist er noch in Florenz, und wiederum im Ium 1498. *) Hier wäre stilistisch der einzige Anknüpfungspunkt für den, der die Frage »ach Raphaels Theilnahme an den Deckenmalereien des Lambio exact untersuchen wollte. **) Die Reiterskizze Braun Nr. 605, die fertige Compofltion Br. 510.
Eintritt Raphaels in die perusifche Künstlersippe als besonders glückliches
Schicksal preisen können.
Hier tritt, im Vergleich zu dem unter Signorelli
Erstrebten, allzu deutlich hervor, daß wenig frisches Leben in den Malern
des Cambio keimte, daß vielmehr die ganze trtebkräftige Organisation Raphaels, der sicherste Jnstinct dazu gehörte, um die fruchtbaren Elemente vergangener Tradition unter dem Wust leerer Formen und Manieren für sich auSzufnchen und zu verwerthen. Zwischen den drei Hauptreihen im Skizzenbuch verstreut deuten nur
ganz vereinzelte Spuren auf Florenz.
Es sind etwa vier bis fünf frei
gebliebene Seiten, die hernach gelegentlich benutzt worden.
Drei Köpfe
nach Ltonardo da Vinci (Fol. 33 a) überraschen am meisten:
oben ein
kahlköpfiger Imperatorenschädel, unten zwei karikirte Alte im Profil gegen
einander über.
Den oberen dieser Typen hat Raphael auf einer Zeichnung
in Oxford (Br. 15) freier umgestaltet, um ihn endlich in seinem Fresko zu
San Severo in Perugia (1505) als Camaldulenserhetltgen auszuführen. Indessen
muß
gesagt werden,
daß wir verwandten Köpfen auch bei
Signorelli z. B. in Orvieto auf der Predigt des Antichrist unter den Zuhörern rechts, neben dem reichgckleideten Jüngling begegnen.
Mehr
wie Vermittlungen zwischen Lionardo und Raphael durch Signorelli sehen die Athleten aus, die nackt und kahlköpfig fast nur in Umrissen mit starker
Betonung der Muskulatur gezeichnet sind.
(Fol. 39a 39b 40a 43b.)
Direct auS Florenz stammt natürlich die Studie nach dem rothen MarshaS*), der aus altem Besitz der Medici in die Uffizien gekommen
fein muß.
Wir finden sie auf der Rückseite eines der ersten Blätter; der
Charakter der Zeichnung erlaubt indeß nicht bestimmt genug eine Ent
scheidung, ob sie unmittelbar vor dem Originale selbst entstanden ist, oder etwa nach
einer solchen Aufnahme Signorelli'S
copirt wurde.
Ganz
florentinische Freiheit athmet dagegen die Ausführung der Gruppen nackter
Männer im Streit, die von antiken Reliefs entlehnt fein müssen.
Die
Schwierigkeiten welche die sienesifche Marmorgruppe der Grazien dem
umbrifchen Meister noch bereitete (Fol. 28 a), sind hier vollständig über wunden: die ganze Schönheit antiker Formgebung wird angeeignet, in den nackten Leibern der Jünglinge wie in dem herrlich bewegten Rosse.
Nur
ein Schritt liegt zwischen der Reiterstudie zum Cartoncino des
ersten
Fresko in der Dombibliothek von Siena und diesem Kampf deS Reiters
gegen zwei Fußgänger, und doch, welch ein Schritt!
Hat sich an dem
selben antiken Vorbild zu Florenz etwa Lionardo zu seinem Kampf um die Fahne begeistert?
*) Ich verdanke diese Jdcntificirung Herrn Director Dr. Ad. Bayersdorfer.
III.
Die Einblicke in Raphaels Jugendzeit, welche das Skizzenbuch zu Venedig eröffnet, sind so entscheidend und der herrschenden Meinung gewiß
unerwartet, daß es wohl rathsam erscheint, zuletzt noch einige seiner in dieser Zeit auSgeführten Gemälde vergleichender Prüfung zu unterziehen,
um dem Zweifel gerecht zu werden, ob denn der soeben constatirte Ent wicklungsgang des Zeichners auch der anerkannten Laufbahn des MalerS
entspreche?
Vielleicht ergänzt die letztere noch einige Lücken, die sich im
ersteren fühlbar machen: werden doch z. B. definitive Entwürfe für Ma
lereien kaum in einem Skizzenbüchlein von diesen Dimensionen Platz ge funden haben! Vor Allem fragt man unS mit Recht, wo bleibt bei dieser neuen
Zusammensetzung der Einfluß des Timoteo della Vite?
Passavant hat
auf ihn als ersten Lehrer Raphaels hingedeutet; neuerdings hat eS Lermolieff energischer wiederholt und mit einer erklecklichen Reihe von Be
legen zu llnterstützen versucht.
Seinem Hinweis konnten wir mit Ver
gnügen zustimmen; sein Beweiömaterial wäre zu prüfen.
Die Einführung Signorelli'S als Hauptfaetor neben Pietro Perugino,
welche nach den obigen Ergebniflen unerläßlich wurde, restringirt schon von selbst die Mitwirkung deS Timoteo Viti.
Da wir indessen das alte
Schachtelshstem nicht aeeepiiren, daS nur den Aufenthalt im heimathlichen
Nest bis 1499 und daS definitive Ausstiegen nach Perugia in Betracht
zieht, so bleibt uns immerhin mancherlei Gelegenheit übrig zur Berück
sichtigung des seit 1495 in Urbino ansässigen Meisters, der seine be stimmende Richtung zu Bologna in der Schule deS Lorenzo Costa und
FranceSco Francia empfangen hat.
Wir suchen Raphael um diese Zeit
auf der ganzen Linie zwischen Urbino und Perugia; denn er hat nach
weislich, solange er im Atelier Perugino'S oder selbständig in Perugia, CittL di Castello und Umgegend thätig war, mit Urbino in persönlichem
Verkehr gestanden und sich mehrfach in der Vaterstadt aufgehalten, wie wir auch andrerseits für spätere Wanderungen nach Siena, vielleicht gar nach Montoliveto bei Chiusuri, Belege genug besitzen*). *) Den Widersachern der „BeeinflussmigStheorie" mag bei dieser Gelegenheit «in treffendes Urtheil Rumohrs in Erinnerung gebracht werden, das der «inseitigen Provinzialsperre gilt, mit der man die 'Kunstgeschichte unlängst wieder beglücken wollen: „WaS sie Schule nennen, ist eigentlich nur Geburtsland; denn ob ein Künstler dieser oder jener andern Schule angehöre, wird bei ihnen nicht durch Lehre, oder Unterweisung in technischen Dingen entschieden, sondern ganz allein durch den nackten und bloßen Taufschein. Wer diese grobe Handhabe einsührt, wo man den Meistern selbst gegenüber tritt, der ist nothwendig ein . . . unge lenker . . . Kopf. Den Gemälden gegenüber will und soll man sehen in welchen
Dir Lehrerschaft Timoteo'S bei dem jungen Sohn des Giovanni Santi tonnte erst 1495 eintreten**), und hat jedenfalls nicht lange ge
dauert.
Neben einem so energischen Meister wie Luca Signorelli ver
mochte dne intensiv wie extensiv so wenig ausgiebige Kraft, tote dieser
Schüler deS Francia nicht aufzukommen bei Raphael.
LennolieffS Urtheil über feine Bedeutung als Künstler ist weitaus übertrieben, kein Wunder allerdings, da er ihn mit manchen fremden Federn zu
schmücken
weiß.
Die Majolikateller im Museo Correr in
Venedig, deren Zeichnungen er ihm zuschreiben möchte, sind nicht in Ur
bino entstanden und gehören ihrer technischen Behandlung, besonders den Farben nach, frühestens in die Zeit um 1515—25.
Selbst wenn die
verdächtige Jahreszahl auf einem dieser Teller die Zeichnung dazu In die neunziger Jahre des Quattrocento zurückdatirt, so erkennen wir In den
zugehörigen Darstellungen doch bereits eine Richtung der bolognesischen
Schule, welche erst im vollen Zuge deS Cinquecento möglich war und be stimmte Anregungen von der Kunstweise der venezianischen terra ferma
in sich ausgenommen hat, ja Compositionen im Geschmack deS Giorgione, des Giulio Campagnola und ähnlicher Repräsentanten arranglrt.
Jeden
falls liegt dieser Ausläufer der Franciafchrile, welchen diese TellerzeichNlMgen repräsentiren, vollständig jenseits der Richtung, die Timoteo bis
1495 in Bologna annehmen konnte; ein flüchtiger Vergleich seiner Form
gebung und Gewandbehandlung auf den beglaubigten Bildern mit denen dieser 17 Majoliken sollte genügen den Anachronismus klarzulegen. In demselben Bemühen zu. Gunsten seines Lieblings hat sich 8er«
molieff auch einen wirklich tiefgreifenden Beweis für die Beziehungen Tt-
moteoS und Raphaels entgehen lassen,
indem
er nämlich das Gemälde
Apoll und MarfyaS bei Mr. Morris Moore in Rom seinem Timoteo vindicirt.
Betrachten wir die Zeichnung zu diesem Bilde in der venezia
nischen Akademie, ein Blatt deffen unbeschreibliche Schönheit in jeder Re
produktion völlig entstellt wird**), so treten uns Elemente, die unzweifel haft auf Timoteo zurückgehen, neben andern entgegen, die man grade bei ihm durchaus nicht erwarten darf.
Rechts steht der junge Gott in aufrechter Haltung; mit der erhobenen Linken faßt er einen langen Stecken, stützt den andern Arm In die Seite
und blickt mit vornehmer Ueberlegenheit auf den eitlen Flötenbläser gegen über, der auf einem Stein sitzend ganz in sein Spiel vertieft ist.
Neben
Stücken, in welchen Zeiten und Persönlichkeiten die verschiedenen örtlichen Schulen einander entgegenkommen, mit einander auölaufchen, sich gegenseitig berühren, oder ganz verschmelzen." (Drey Reisen nach Italien, Leipzig 1832. 12°. S. 285.) *) Unterm 4. April 1495 verzeichnet Francia die Abreise seine« Timoteo. **) Braun, Venedig Nr. 146 und in sonstigen Publicationen de« Skizzenbuche».
Apoll, zu seiner Rechten, ragt ein schlanker blätterloser Baumstamm empor,
während sich zwischen beiden Figliren eine Flußniederung öffnet, mit einem Hügelkranz und einem
Städtchen im Hintergründe.
Die Composition
zeigt den bolognesisch-ferrarischen Geschmack der Schule des Costa und Francia, den wir z. B. auf den frühen Stichen des Marc Anton ebenso antreffen; die Landschaft erinnert wohl an Timoteo Viti; die Köpfe jeden
falls zeigen in ihrer kugligen Schädelform eine Verwandtschaft mit diesem Meister, die Beachtung fordert: man vergleiche nur die heilige Magdalena
Aber die Zeichnung der beiden nackten Körper
in Bologna*).
völlig
aus TimoteoS Geleisen heraus,
geht
und weist unS von der glatten,
eleganten Formgebung des Francia vielmehr auf florentinische Kenntniß der Anatomie.
Wenn man das Skizzenbuch geprüft hat, muß man auf
daS Richtige verfallen: eS ist der Schüler deS Luca Signorelli, den wir
vor uns
haben.
Die Behandlung der Gelenke, der Muskulatur, die
meisterhafte Beobachtung der Bewegungen, frei von jeglichem Arrangement und theatralischer Pose, in lebendiger Elasticität erfaßt, sprechen deutlich
genug für sich selber.
Sogar die eigenthümliche Form der Gliedmaßen,
der Hände mit dem Spiel der Finger, der Füße mit dem starken Ballen der großen Zehe, verräth ihre Herkunft von dem Cortonesen, mit dem
sie auch Pietro Perugino in einer Periode gegenseitiger Annäherung gemein
hat, wie z. B. auf dem großen Fresko in Sta. Marta Maddalena bei Pazzi zu Florenz (1493 f.).
Nicht minder charakteristisch ist die Behand
lung der inneren Theile des Gesichtes und der Haare beim Apoll, wenn auch eine Vermischung der Schönheitsideale des Luca mit dem des Ti
moteo bet Raphael ganz natürlich erscheint. Eine Vergleichung einerseits mit Adam und Eva und den blumen streuenden Engeln aus dem Fresko zu Orvieto, nebst dem nackten Jüng ling in der Darstellung der „letzten Tage Mosis" in der Capella Sistina
deS Vatican, sowie andererseits mit der genannten Magdalena in Bologna und dem heiligen Sebastian auf dem Brerabilde TimoteoS muß die Ab
rechnung zwischen den beiden Lehrern und das Facit bei ihrem Schüler klarstellen. Entscheidend ist endlich Wahl und Auffassung des Gegenstandes: die Erfindung dieser Scene schließt sich unmittelbar an den mythologischen
Gedankenkreis an, den wir in zahlreichen Blättern des Skizzenbuches ver treten sahen, und ist ganz im Sinne jener Darstellungen des Luca Signo
relli, wie die Erziehung des Pan und Ihresgleichen.
Selbst der lange
Stecken mahnt als unvermeidliches Requisit an seine Modelle.
*) Photogr. v. Alinari.
Den letzten Zweifel an dem EigenthumSrecht Raphaels, welcher bei
Beurtheilung deS Entwurfs in Venedig noch übrig bleiben könnte, be seitigt die Confrontation mit dem Gemälde selbst *).
Bei der Ausführung
in Farben Hal eine Metamorphose stattgefunden, welche für unsre Einsicht
in Raphaels Stilentwicklung höchst bedeutsame Resultate ergiebt.
Trägt
die Zeichnung den Stempel von Luca'S Kenntnissen und von Timoteo's
Geschmack, so gewahrt man im Bilde eine Annäherung an die Ausdrucks
weise der Perusischen Meister.
Am auffallendsten ist diese Veränderung
im Kopf deS jungen Gottes, der den edelsten und reinsten Typen PeruginoS angeglichen ist, zartere Formen, sorgfältiger arrangirteS Lockenhaar
mit einem Knoten über der Stirn bekommen, aber den Kranz abgelegt
hat.
Der schlanke Baumstamm L la Viti ist abgehauen und nur ein
Stumpf mit der Leyer Apolls erinnert noch an gleiche Staffagen auf dem Magdaleirenbild in Bologna.
Zierliche Bäumchen mit dünnem Laubwerk
stehen nach umbrischer Weise im Mittelplan, während Vorder- und Hinter grund mit liebevollem Detail geschmückt sind; Pinturicchio'S Vögel, die vom
Falken verfolgt durch die Luft schießen, nicht zu vergessen.
Nur noch die
Landschaft bleibt in der farbigen Ausführung der Art Timoteo's näher; die beiden nackten Leiber strahlen in bräunlichem Goldton,
warm und
lebendig, wie es nur die vollendete Technik Perugino'S ermöglichte.
Wie
man angesichts dieser echt perugineSken Malerei noch an Timoteo della Vite denken mag, wird wohl Allen unbegreiflich bleiben, denen der Unter
schied zwischen Perugia und Bologna richtungen aufgegangen ist. neben dem
als Centralstättcn zweier Kunst
Ich wenigstens kenne kein Werk, das ich
bezeichneten Spofalizio
so ohne Zögern Raphael zuweisen
müßte als dieses trefflich erhaltene Bildchen
bei Mr. Morris Moore.
Daß überhaupt Zweifel daran aufgekommen,
erklärt sich nur aus der
Vergessenheit, in welche die Werke in CittL di Castello gefallen sind.
Man vergleiche doch nur den vortrefflich hingelagerten Adam in der
Schöpfung des Weibes auf jener Kirchenfahne daselbst, die jetzt endlich in die städtische Galerie gerettet worden.
Außer der Farbe ist doch an
dem herrlichen Akt nichts PerugineskeS; ebenso wenig an dem vornübergebeugten Schöpfer, dessen Kopf an Giovanni Santi gemahnt, während die Stellung völlig der Art Signorelli'S entspricht.
Engel zeugen auch in der Zeichnung Schule an Perugia.
Nur die schwebenden
für einen Durchgang durch die
(Abbildg. bei Förster Denkm. ital. Mal. III, 48.)
Einen ähnlichen Compromiß zwischen (bolognesisch)-urbinatischen und perugineSken Elementen haben wir in dem verwandten Gemälde Ra*) Leidlich gestochen in der Gazette deS Beaux-ArtS.
Paris 1859.
III, 1.
phaels „Der Traum des Ritters" in der Nationalgalerie zu London, wo sich auch die Zeichnung dazu befindet*).
In der Mitte, unter
einem
Lorbeerbäumchen, schlummert in beinahe sitzender Lage, den rechten Arm
auf seinen Schild lehnend, aber ohne rechte Stütze
für daS behelmte
Haupt, ein junger Ritter, dem im Traum zwei allegorische Frauen er
scheinen.
Die Gestalt zu Häupten trägt Schwert und Buch, die zu Füßen
ein Blumensträußchen; den Hintergrund bildet eine umbrische Gebirgs
landschaft, die man am trasimenischen See begegnet, oder nach den Auf nahmen des Skizzenbuches erwartet. Die Zeichnung, knabenhaft wie sie ist, hat noch mehr vom Gepräge
Timoteoö als die Ausführung.
Die allegorische Figur zur Linken ist
ganz timoteisch, wie Lermolieff richtig bemerkt:
die rundliche Kopfform,
die Faltengebung, das kurze bis an die Knöchel reichende Gewand, ent sprechen Gestalten wie jene Magdalena und eine hl. Margaretha im Besitz
des Herrn Senatore Morelli zu Mailand.
Auch der Kopf ihrer Rivalin
zur Rechten führt auf die nämliche Kunstweise; die Haare sind ähnlich wie die der Jungfrau auf dem Verkündigungsbild in der Brera arrangirt.
Aber schon das Gewand zeigt fremde Motive, die von Perugia Herkommen. Im Gemälde ist diese Gestalt vollends perugineSk geworden und auch der ThpuS der Ersteren in dem nämlichen Sinne verändert.
Ihr Gewand
und der Lorbeerbaum erinnern noch an Timoteo Viti; der Kopf des
jungen Ritters ist bereits von N. Helbig zu dem schlafenden Wächter in
Perugino's Auferstehung Christi in Beziehung gebracht werden**).
Zeich
nung und Gemälde documentiren uns demnach einen UebergangSproceß in Raphaels jugendlicher Kunstentwicklung, wie wir ihn nicht klarer und
verständlicher erwarten können.
Die frühe Skizze zum Traum des Ritters
gehört neben dem vollendeten Entwurf zum Marshaöbilde zu den wich tigsten Zeugnissen, die wir außer dem Skizzenbuch, gleichsam als nöthigste Ergänzungen, für das Verständniß dieser Periode besitzen.
Die liebliche Frauengestalt zur Rechten im Gemälde kündigt bereits im Voraus ihre Schwestern im Sposalizio an und mag uns zu einem andern verwandten Bildchen hinüberleiten.
Sie trägt einen auffallenden
Schmuck: Perlenschnüre von rothen Korallen sind hier um Brust und
Taille geschlungen; „die drei Grazien" bet Lord Ward in Dudleyhouse
sind mit ähnlichen Ketten um Hals und Haar herausgeputzt, die uns an
den nackten Göttinnen um so merkwürdiger vorkommen.
*) Das Bild ist bezeichnet. Lermolieff bespricht beide a. a. O. S. 350 und 360 f. wo auch eine Abbildung der Skizze gegeben wird. DaS Gemälde ist von der Photog. Gesellschaft photographirt, bei Passavant gestochen v. L. Gruner, Atlas Tab. IX. **) Zeitschrift für bildende Kunst. VIII, S. 302 ff.
Zu diesem Gemälde liefert uns das venezianische Skizzenbuch nicht
sowohl den ausgeführten Entwurf des Ganzen, den wir als verloren be trachten müssen, als vielmehr eine vorbereitende Skizze, welche direct vor dem Urbilde, der antiken Marmorgruppe in Siena entstand.
Die nackten Gestalten sind absichtlich in eine flache Landschaft gestellt, um den harmonischen Fluß der Linien nicht durch fremde Formationen, schroffe Felsen oder aufragende Kirchthürme, zu stören.
Die Gesichter
haben bei der Ausführung in Farben vollständig den Typus der gleich zeitigen Frauenköpfe von Raphaels Hand bekommen und verrathen nichts mehr von der antiken Herkunft.
Wenn die Figuren sogar noch etwas
gedrungener scheinen als wir sonst bei ihm erwarten, so mag darin ein letzter Nachklang der Schönheitsideale Signorellis
erkannt werden; ein
Blick in das Skizzenbuch erklärt das.
Ueberhaupt muffen noch manche Elemente, die auch Raphaelkennern
in den Arbeiten dieser Zeit zu schaffen machen, auf ihren Ursprung von Luca Signorelli und Timoteo della Vite
zurückgeführt werde».
Man
denkt bisher eben nur ausschließlich Perugino^ wennS hoch kommt
ein
Bischen Giovanni Santi zu Anfang und vielleicht Pinturicchio am Ende (1503) zu finden; mag es erlaubt sein, wenigstens einige Ingredienzien
auszuweisen, die der Schüler Francia'S und der Meister von Cortona hinzugethan.
Am wenigsten beachtet, aber für den allgemeinen Eindruck der Werke
oft sehr bedeutsam sind zahlreiche Gcwandmotive, Costüme u. dgl., die
Raphael theils von Timoteo, theils von Signorelli angenommen und bis in seine florentinische Zeit, ja weiter hinaus beibehalten hat.
So steht
jene allegorische Figur zur Linken im Traum des Ritters nicht allein, sondern Mancherlei in der Zeichnung zum fünften Fresko der Libreria
von Siena*), im Cartoncino zum ersten Fresko daselbst, erklärt sich nur, aber auch unmittelbar, wenn wir Gestalten von Timoteo wie die heil.
Margaretha und S. Vitalis in Mailand**), sowie das Altarbild in der Sakristei des Domes von Urbino herbetziehen, oder andrerseits Gewänder von Signorelli mit ihren bauschigen Falten und schweren Stoffen
als
Vorbilder in Rechnung bringen.
Darnach sind es die Köpfe mit dem runden fast völlig halbkugeligen
Schädel und dem reinen Oval des Gesichts, da- in ein spitzes vorn etwas abgeplattetes Kinn auSläuft, — eine LiebltngSform Raphaels, die er auf
Anregung des Timoteo, oder vielmehr nach dem durchgehenden Localthpus
seiner Heimath, um diese Zeit ausbildet, und selbst in der ganz perugt*) Publ. in m. Raph. & Pinturicchio. Taf. VI. **) Publ. b. Lermolieff a. a. O. S. 345 und 347.
nesken Periode nur eine kurze Weile mit der Atelierschablone Vannucci's
vertauscht.
Ueberall wo keine absichtliche Nachahmung der Manier Peru-
gino'S vorliegt, — welche wir in manchen beim Meister selbst bestellten und von Gehülfen ausgeführten Arbeiten entschieden annehmen müssen — bleibt er diesem Typus getreu.
Wir können ihn beinahe in seiner Ent
stehung verfolgen, wenn wir auf die frühesten Zeichnungen zurückgehen;
wenigstens giebt eS kein besseres Mittel den Sinn für das ächt Raphae-
lifche in dieser Jugendepoche zu schärfen als solche Vergleichung charak teristischer Beispiele, welche auch an sich höchst lehrreich ist.
Man lege
sich nur den Kopf deS vorderen Fantino in jenem kindlichen Kindermord
neben den schematisch behandelten ersten Reiter auf der florentiner Skizze zum Cartoncino der Reise deS Enea Silvio; den zweiten dort neben den zweiten hier;
dazu
den Engel im
Berliner
Entwurf
zur Madonna
Terranuova, den Marshas in Venedig, den Enea Silvio auf dem Car
toncino der Uffizien und den träumenden Ritter in dem Bilde der Na tionalgalerie.
Dann betrachte man das Porträt mit der Malerkappe im
Skizzenbuch Fol. 18b und die beiden oberen, fein modellirten JünglingS-
köpfe auf Fol. 13 a, den Pagen dicht hinter Enea Silvio im Cartonctno zu Florenz, endlich Apoll auf der venezianischen Zeichnung zum MarsyaSbilde, den Kaiser und Heinrich Leubing
auf der Zeichnung in Casa
Baldeschi zum fünften Fresko der Libreria, — ferner den schwebenden Engel mit Tamburin (Fvl. 10 b) und die nackten Jünglinge (Fol. 11b) dicht dahinter, und ziehe dann Beispiele von den Lehrern wie Signorelli's
strammen Söldling hinter dem falschen TotilaS zu Montoliveto nebst dem heiligen Sebastian TimoteoS aus der Verkündigung in Mailand heran*).
Zu einer ähnlichen Vergleichung fordern die Frauenköpfe deS SkizzenbucheS (Fol. 17 b), eine Madonna mit dem schlafenden Kinde, die Köpfe
der Grazien auf dem Gemälde und auf der Skizze, die allegorischen Er scheinungen im Traum deS Ritters, die Hofdamen der Eleonore
von
Portugal in der Zeichnung der Casa Baldeschi, sowie die Madonna
Connestabile und andere Marienbilder dieser Zeit heraus.
Außer dem Kopf sind eS dann die Hände, die in ihrer allgemeinen Form und momentanen Bewegung beachtet sein wollen.
Lermölieff macht
mit Recht auf das breite viereckige Metacarpium mit verhältnißmäßig
kurzen Figuren aufmerksam, daS Raphael von Timoteo Viti angenommen. Er giebt die Hand des träumenden Ritters als Beispiel; man lege sich
daneben jene spezielle Handstudie neben den Modellfiguren zu musicirenden Engeln auf einem köstlichen Blatte zu Oxford, welche für die Krönung *) Diese Aufforderung zur Consequenz richtet sich besonders an die Adepten der neuesten Chiromantie und Otognostik.
Mariae im Vatikan bestimmt waren, ferner die Hand des Heinrich Leu-
btng auf dem Entwurf in Cafa BüldeSchi zu Perugia und die des Engels mit Tamburin im ^kizzenbuch. Die Hand mit dem weitabstehenden, ganz gestreckten oder leise gekrümmten kleinen Finger läßt sich ebenso von
Timoteo's hl. Vitalis und Margaretha zu den Oxforder Engeln, zur Krönung des hl. NicolauS v. Tolentino in Alle, sowie zu Heinrich Leu-
bing verfolgen.
Eine andere Reihe bilden: die Hand der allegorischen
Figur mit dem Schwert im Traum des Ritters, die des Pagen hinter Enea Silvio im florentiner Cartoncino und andere im Skizzenbuch wie
auf Gemälden Raphaels vorkommende Stellungen.
Auf dem Entwurf zur
Madonna Terranuova in Berlin haben wir die kleine breite fleischige
Hand, die von Timoteo stammt, beim Johannesknaben, neben der großen, langfingrigen steifgestellten, die auf Luca Signorelli zurückweist, unmittelbar
neben einander.
Auch die Finger der Madonna Connestabite, auf der
Rückseite deflelben. Blattes werden durch die übermäßigen Vorderglieder und breiten Nägel entstellt.
Die Fingerstudien auf dem Oxforder Blatte
betont in auffallender Weise die Muskelbänder zwischen den Gelenken; sie
Dasselbe findet sich in zahl
sind gleichsam unter der Haut angedeutet.
reichen Blättern des Skizzenbuches besonders in den Reproduktionen der berühmten Männer aus der urbtnattschen Bibliothek, sowie in den Copieen nach Signorelli, — ein Fingerzeig, woher Raphaels Sinn für anatomische
Richtigkeit erwachsen. Ist es doch dieses Streben nach Naturwahrheit, das man als sicheres Merkmal Raphaelischer Arbeit während zeichnen muß.
der perugineSken Periode be
Selbst bei geflissentlicher Nachahmung der Gefühlsmasken,
welche daS Atelier Perugino's damals lieferte, erkennen wir überall den
gewissenhafter erzogenen Sohn des Giovanni Santi, dem unter Signorelli's
Anweisung daS Verständniß der menschlichen Körperformen aufgegangen war, so daß er seitdem keine Figur hinstellte ohne sich über jede Bewegung angesichts der Natur Rechenschaft zu geben.
Sowohl im Skizzenbuch als
in anderen Zeichnungen tritt uns ein fortgesetztes Studium am nackten
oder leicht bekleideten Modell, meistens von Knaben und Jünglingen ent
gegen.
Kein Wunder, daß sich solche Nachwirkung Signorelli's auch in
auSgeführteren Arbeiten dieser Zeit verräth.
Im Anschluß an die Modell
studien zu Engeln in Oxford und zu Christus mit der Jungfrau in Lille für die Krönung Mariae, sowie an jene Figuren einer Auferstehung,
ebenfalls in Oxford, dürfen wir die Knappen auf dem Staffelbildchen der tre Re Magi und die vorzüglich bewegte Gestalt des stabbrechenden Freiers, rechts im Spofalizio hervorheben.
Zu diesen aber gehören nothwendig
die prächtigen Reiter auf dem Entwurf zur Reise des Enea Silvio, im Preußische Jahrbücher. Vd. XLVIII. Heft r.
11
Gang der Uffizien zu Florenz, und der ihnen voranschreitende Pikenträger, dessen Beine uns auf mehrere Blätter des Skizzenbuches znrückweisen. Den Letzteren haben zweifellos Vorbilder von Luca Signorelli selbst zu
Grunde gelegen,
eben jene Arbeiten Raphaels für Pinturicchio's
und
Fresken in Siena, deren nahe Verwandtschaft mit dem Sposalizio in die
Augen fällt, führen uns abermals direct auf einzelne Figuren Signorelli'-. Ich meine jene Landsknechte
auf einer Skizze Raphaels in Oxford*),
welche für das Fresko der Dichterkrönung bestimmt waren, und ihre Ge nossen auf der Zeichnung in Casa Baldeschi zu Perugia, welche die Be gegnung Kaiser Friedrichs III. mit Eleonora von Portugal darstellt.
Die
zeugungskräftigen Urbilder dieser Figuren sind Signorelli'S Prachtexemplare
auf den TotilaS-FreSken zu Montoliveto Maggiore.
Wir finden sie fast
alle ganz ähnlich oder in geläufigen Variationen, im selben Sinne oder von der Gegenseite wieder.
Dieselben Landsknechte haben auch in dem
letzten großen Fresko in Siena, über dem Eingang der Libreria im Dom, ausgiebige Verwerthung gefunden.
Die Masse der Zuschauer bei der
Krönung Pius'III. wird von der Schwkizerwache in Ordnung gehalten: eine Scene, deren Ausführung, im Gegensatz zu dem oberen, von Pintu-
ricchio selbst gemalten Theil, die Beihülfe des Eusebio di San Giorgio
erkennen läßt**).
Wie weit die Beliebtheit und Verbreitung dieser Ge
stalten von Signorelli reichte, bezeugt uns auch die große Passion Albrecht
Dürers, wo wir u. a. auf dem Eccehomoblatte ganz rechts am Rande einen Söldling gewahren, der augenfällig genug auf Seinesgleichen in
den TotilaSfreSken zu Montoliveto zurückgeht***); dies ist wenigstens der nächstliegende Schluß, da Signorellis Fresko 1497 entstand und wir von der Holzschnittfolge Dürers nur das Datum der Publication 1510 wissen.
Genug, der durchgreifende Einfluß Signorellis, den wir im Skizzen buch vorfanden, verräth sich auch in anderweitigen Arbeiten Raphaels aus
dieser Zeit mit hinreichender Bestimmtheit. Die Verwandtschaft der Typen,
wie einzelne Handgriffe und Gewohnheiten,
leiteten zugleich auf frühe
Unterweisung durch Timoteo Biti, jedenfalls auf wiederholte Berührung mit ihm in Urbino.
Nehmen wir dazu die Tradition, welche Raphael
im Atelier Perugino's und in persönlichem Verkehr mit diesem einstigen Schüler des Verrocchio
aneignete,
endlich noch jene contraktliche oder
freundschaftliche Abhängigkeit von Bernardino Pinturicchio, welche an an« *) Bei Ottley, Station School cf Design, u. Fisher, Foc-simile« II, 5. **) E« ist wohl diese Leistung, für welche Pinturicchio sich am 24. März 1506 ver pflichtet dem Eusebio hundert Goldgulden zu zahlen. ***) Nur die Beinstellung ist dem Platze gemäß verändert. Bei Signorelli haben wir übrigen« bereit« auf dem Wandgemälde in der Cap. Sistina zu Rom, also 1483, ganz ähnliche Gestalten zu coustatireu.
derer Stelle erörtert worden sind, so haben wir eine Reihe beisammen, welche die wichtigsten Elemente für Raphaels Jugendbildung enthält.
Daraufhin eine sorgfältige Analyse vorzunehmen upd eine offenbar, je nach den Oscillationen der eigenen Produktivität, variable Synthesis zu
constatiren, scheint die einzige adäquate Auffassung, welche dem vorliegenden
Material — da- wir glücklicher Weise für Raphaels Werden besitzen — gerecht zu werden vermöchte.
ES würde doch jedenfalls mehr befriedigen,
wenn ein organisches Gebilde aus den hier bezeichneten Elementen an die Stelle jenes unbeschreiblichen liebenswürdigen Etwas träte, das man als
einziges untrügliches aber völlig subjektives Erkennungszeichen der Jugend werke Raphaels immer noch hinstellt. Sind wir mit den obigen Andeutungen, die ja keineswegs den An
spruch abgeschloffener Forschungsresultate erheben, nicht gänzlich auf Ab wege gerathen, so wird auS alledem wenigstens soviel erhellen, wie tief die Frage nach der Echtheit des Skizzenbuches in Venedig in die wich-
tigstm' Angelegenheiten der ganzen Jugendgeschichte Raphaels eingreift, tote zahlreiche Beziehungen zwischen diesen Blättern und seinen
aner
kannten Arbeiten, Gemälden wie Zeichnungen, hinüber und herüber spielen. Möchte mit dem Nachweis dieser Zusammengehörigkeit nur das Eine er reicht werden,
das wir beantragen wollten,
nämlich eine gründlichere
Prüfung und methodische Umarbeitung dieses bedeutsamen Abschnitts in
Raphaels Leben. Göttingen, Mai 1881.
Schmarsow.
Die Unterdrückung der Deutschen in Siebenbürgen.
Si fecisti, nega — nach diesem Grundsatz hat die neue „ungarische
Revue" es unternommen, die Verfolgung deutschen Wesens in Ungarn und „die Bedrückung der Sachsen", in Siebenbürgen einfach hin
wegzuleugnen.
„Die Siebenbürger Sachsen" scheut daS Blatt sich nicht
zu behaupten, „sind in ihrem Culturleben, in ihrer nationalen Eigenart,
in
ihrer
historischen Entwicklung
völlig
unangetastet
geblieben;
ihre
Schulen sind deutsch, ihre Verwaltung ist deutsch, ihre Sprache im Hause, in der Kirche, in der Gemeindestube ist deutsch.
Genommen wurde ihnen
ein veraltetes Privilegium, welches ihre Gemeinschaft zu einem Staat im
Staate machte und welches noch halbwegs berechtigt war, so lang Ungarn
selbst in Folge seiner Municipalverfassung dem Wesen einer föderalisti schen Ordnung viel näher stand, als den Bedingungen eines einheitlichen
StaatSlebenS, aber schlechterdings sinnlos und unhaltbar geworden war in dem Augenblick, als auf den Trümmern der aristokratisch-föderalistischen
Verfassung der neue Staat mit seinen Prinzipien
der
bürgerlichen
Gleichberechtigung und seinen parlamentarischen Institutionen aufge richtet wurde." Horaz, der treffliche Meister, wie hat er eS doch so wunderbar vor-
auSgesagt:
quae desperat tractata nitescere posse, relinquit, atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet ! Die „Revue" muthet uns also zu, an „die Prinzipien der Gleichbe rechtigung" zu glauben, in dem „neuen Staat", der im Jahr 1874 ge
setzlich aussprach (Artikel 33, § 2), daß das alte Privilegium, welches dem Adel als solchem das active und
passive Wahlrecht verleiht, noch ein
Menschenalter zu dauern habe, in dem Staat, dessen „Parlamentarische
Institutionen"
ein Oberhaus erhalten, das alle Fürsten, Grafen und
Barone des Landes umfaßt — so 31 Zichh, 17 Esterhazy, 14 Teleki —
und keinen einzigen Mann znr Vertretung bürgerlicher Freiheit; dabei
alle katholischen und griechischen Bischöfe, ohne einer andern Kirche irgend eine Vertretung zu gewähren, das endlich alle von der Regierung er
nannte Obergespäne in sich schließt, ohne daß aus Ungarn und Sieben bürgen ein einziger Vertreter auf Grund einer Volkswahl darin sitzt! Und das ist ein Faktor der Gesetzgebung, und Ungarn ein „neuer Staat
mit Prinzipien der bürgerlichen Gleichberechtigung"!
Aber
der Borwurf
bezüglich
der Bedrückung
Siebenbürger
der
Sachsen, sagt die „ungarische Revue", ist nicht begründet.
Hören wir
dagegen die Geschichte der letzten 14 Jahre, Thatsachen, nicht Phrasen, Gesetze, parlamentarische Akte, Verfügungen der Regierung!
Zum rechten Verständniß, zur vollen Würdigung derselben ist eS
jedoch nothwendig den RechtSstaud zu kennen, mit welchem die Sachsen in
die Zeit der neuen magyarischen Vergewaltigung eintraten. Jedes Handbuch der Geographie lehrt,
daß das Großfürstenthum
Siebenbürgen in das Land der Ungarn, der Sekler und der Sachsen zer falle, daß diese drei die „recipirten", das ist im siebenbürgtsch-staatSrecht-
lichen Sinne des Wortes die politisch vollberechtigten „Nationen" des Landes seien. Es gehört wesentlich zum Verständniß auch der gegen wärtigen Frage, zu wissen, daß diese „sächsische Nation" nicht als Bettler
oder Flüchtlinge in das Land gekommen, sondern gerufen von ungarischen
Königen unter der Bedingung thumS,
eines vertragsmäßig zugesicherten Frei-
das insbesondere dem deutsch-nationalen Leben vollkommensten
Schutz bot, gerufen zur Besiedlung und Bebauung des in diesen Theilen
damals noch menschenleeren Landes und zur Vertheidigung desselben, das
die bisher nicht gesicherte Grenze des Reiches bildete („ad retinendam coronam“).
Durch diese deutsche Colonisation wurde Siebenbürgen aus
einem dubiae possessionis solum zu einem gesicherten Besitzthum der ungarischen Krone; ihrer Bedeutung
entsprechend
erscheinen die neuen
Bürger des Reichs schon unter den Arpaden auf den ungarischen Reichs
tagen,
auf die sie fortan als Sachsen gerufen werden,
als specialis
ramus sacrae coronae et membrum regni, ohne deren Theilnahme,
wie König Matthias in seinem Einberufungsschreiben 1454 sagt, über die
Angelegenheiten deS StaatS nicht beschlossen werden könne. Bon den eignen LandeSgenossen, dem ungarischen Adel und dem Volk der Sekler, schon
durch ihren geschlossenen Boden getrennt, noch mehr durch Recht, Sprache,
Sitte, Culturziele gesondert,
als Gesammtheit unmittelbar der Krone
untergeordnet, berührten sie sich mit ihnen auf dem Boden der gemein samen Landesangelegenheiten als von einander unabhängige gleichgestellte
politische Korporationen, nur daß die Sachsen den
andern durch ihre
Burgen und Städte, durch Wehr und Waffen, durch ihren Wohlstand die
wünschenSwertheren Genossen erschienen.
So kommen vom Jahre 1437
an Einigungen zwischen den drei Völkern zu Stande, die die Berührungs
punkte zwischen ihnen vermehren und sie häufiger auf Landtagen zu sammenführen, während ein Jede- seine inneren Angelegenheiten in seiner
Mitte nach dem eignen Rechte gestaltet, biö nach dem Fall deS ungari schen Reiches durch die Schlacht bei Mohatsch (1526) für daö von Un garn nun getrennte Fürstenthum Siebenbürgen der neue Vertrag seinen
drei ständischen Nationen 1542 das Grundgesetz schuf, daß alle Angelegen
heiten deS Landes nach dem Rath und der Einwilligung aller — „pari consilip et consensu“ — zu ordnen feien, woran jede Nation gleich
mäßig Antheil zu nehmen habe.
Die Autonomie in dem Innenleben der
selben dauerte fort; auf dem Boden jenes öffentlichen und Privatrechtes
schuf sich die sächsische Nation ein eignes Partikularrecht und namentlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (1583 bestätigt vom Fürsten Stephan Bathort) ihr „Eigen-Landrecht", daö daS codifictrte bürgerliche
und peinliche Recht umfaßte, von dem der anderen Nationen wesentlich
verschieden war und unter Anderem auSsprach:
„damit der Angeklagte
verstehen und wissen könne, waS auf ihn geklagt und er verantworten soll,
ist eS vonnöthen, daß ein jeder Kläger im sächsischen Gericht seine Pro
position und
Klagen
in
deutscher Sprache
klärlich und bescheiden
führen soll".
So in Sprache und Sitte, in Gericht und Verwaltung, in Schule
und Kirche — diese zur Zeit, der Reformation evangelisch geworden und zwar so, daß im ungarischen Volksmund die evangelische Kirche der „sächsische Glaube" hieß und heißt — durchweg deutsch und als deutsche
(sächsische) Nation, in dieser ihrer nationalen Eigenart und Berechtigung durch die Verträge mit den andern Nationen, durch die Verfassung und die Gesetze des Landes anerkannt und durch die Eide aller Fürsten wäh
rend zweier Jahrhunderte gesichert, kam die sächsische Nation am Ende de» 17. Jahrhunderts mit Siebenbürgen unter da» Erbfürstenthum Oesterreich.
Der feierliche Staatövertrag, den da» Land mit Kaiser Leopold abschloß
— da» Leopoldinische Diplom vom 4. December 1691 — gewährleistete diesen Rechtsstand der sächsischen Nation und betonte dabei ausdrücklich auch die unverletzliche Geltung des sächsischen MunicipalrechtS, wie er an
erster Stelle den, durch keinen Einspruch je veränderlichen Rechtsstand „contradictionibus quibuscunque sive sacri sive profani ordinis nihil
unquam
in contrarium valentibus“
Schulen bestätigt hatte.
— der recipirten Kirchen und
Die bürgerliche
und kirchliche Rechtslage der
sächsischen Nation dauerte dann im 18. Jahrhundert gesetzlich fort; sie war die dritte ständische „Nation" deS Landes, nahm an den ge-
meinsamen Angelegenheiten desselben durch ihr Curatvotum Theil, ver
waltete und regierte sich im übrigen nach ihrem Partikularrecht durch eigne gewühlte Beamte und Vertretungen selber und hatte als höchste nationale
Spitze den, nach dem Gesetze gleichfalls zu wühlenden „Comes", der zu gleich Königsrichter von Hermannstadt und Mitglied des königlichen Lan-
deSgubcrniumS war, als höchstes Organ der nationalen Verwaltung, Rechtspflege und Municipalgesetzgebung die „sächsische Nationsuniversität",
die neben dem Hermannstädter Rath mit dem Bürgermeister (consul provincialis) an der Spitze, aus gewählten Abgeordneten der andern acht
sächsischen Stühle und zwei Distrikte bestand.
Als Josephs II. weitauö-
schauende Reformversuche wie die ganze siebenbürgische, so auch die sächsische Verfassung zu Gunsten einer StaatSeinheit und deutschen Verwaltung der
ganzen Monarchie umgestoßen hatten,
stellte sein RestitutionSedikt vom
28. Januar 1790 beide wieder her und der siebenbürgische Landtag von
1790—1791 sanctionirte die Aufrechthaltung der letzten in dem hochbe deutenden XIII. Artikel seiner Gesetze durch folgende Bestimmung: „Artikel XIII. und den
Von der Universität der sächsischen Nation
andern in der Mitte derselben Nation bestehenden
Communitäten der Stühle, Städte und Märkte, welche in ihrer gesetzlichen Amtswirksamkeit und Freiheit zu bewahren sind.
Mit gnädiger Genehmigung Sr. Majestät wird auch die sächsische Nation, ihre Universität wie auch die Communitäten und Magistrate der
Stühle und Distrikte, der königlichen Freistädte und privilegirten Märkte, sowohl was die nach dem Gesetz ihnen zukommende Wahl der Beamten,
als auch die politische, ökonomische und juridische Verwaltung betrifft in
ihrem gesetzmäßigen, mit dem Leopoldinischen Diplom
über
einstimmenden Stande erhalten." Schon auf diesem Landtag fing im Rückschlag gegen die Josephintschen Reformen der magyarische Chauvinismus an, im Bunde mit auf
fälliger Geringschätzung des Adels gegen das deutsche Bürgervolk daö Haupt zu erheben; sie setzten durch, daß das alte Curiatvotum der drei „Nationen" zu Gunsten individueller Abstimmung fiel;
aber es mußte
wenigstens die Sondermetnung der Minderheit den an die Krone gehenden Akten beigeschlossen werden und jeder Beschluß entbehrte der Beglaubi
gung, dem nicht die Siegel aller drei Nationen beigedrückt waren.
ES
hat sich getroffen, daß die sächsische Nation als letztes Mittel gegen Ver gewaltigung das ihre verweigerte.
In der Folge verbreitete sich die in Ungarn entstandene „neue Lehre, daß man magyarisch sprechen müsse um der Heimath würdig zu sein",
Adel und Sekler wurden eifrige Anhänger der hier unerhörten Doctrin,
daß magyarisch die Nationalsprache deS Landes sei oder doch werden solle, in Verwaltung und Gericht allein herrschend.
Aber der Widerspruch der
sächsischen Nation und die standhafte Rechtsachtung der Krone verhinderte daS Attentat mindestens in der ganzen geplanten Ausdehnung.
Wenn der
I. Gesetzartikel von 1847 auch festsetzte, daß fortan die Gesetze (statt wie
früher in lateinischer) in ungarischer Sprache abzufassen seien, so fügt er zugleich hinzu:
„übrigens wird Allerhöchst Se. Majestät dafür Sorge
tragen, daß eine unter öffentlicher Autorität besorgte Uebersetzung derselben
in die Muttersprache der sächsischen Gerichtsbarkeiten denselben zum Ge brauch in ihrer Mitte durch das königliche Gubernium zugleich mit den Landtagsartikeln seiner Zeit zugemittelt werde."
Ebenso bestimmt § 4
desselben Artikels: „alle Gerichtsbarkeiten, ferner alle Gerichtsstellen und Civilämter haben sowohl bei den Verhandlungen und bei Abfassung der
Protokolle, als auch in ihren Berichten und Erlässen in dem Mittel der ungarischen und
sächsischen
die
Seklernation
ungarische,
deutsche
im Mittel
Sprache
der
zu
ge
In diesem Rechtsstand' traf Siebenbürgen das Jahr 1848.
Die
Nation
hingegen
die
brauchen". folgenschwere Bewegung in Ungarn, die unter dem, das Ausland täu
schenden Aushängeschild deö Liberalismus und ConstitutionaliSmuS, die Alleinherrschaft
der
magyarischen Race und
möglichste Trennung von
Oesterreich erstrebte, fand hier unter dem Adel und den Seklern jubelnde Heeresfolge. Der VII. ungarländische Gesetzartikel beschloß die Vereini
gung Ungarns und Siebenbürgens, weil „die Einheit der Nation und die
Rechtsidentität die
Vereinigung des
zur ungarischen Krone gehörigen
Siebenbürgens mit Ungarn unter eine Regierung erheischt" und erklärte: „Ungarn
ist
bereit,
alle
verschiedenen
Gesetze
und
Freiheiten
Siebenbürgens, welche nebst dem, daß sie die vollkommene Vereinigung nicht hindern, die Freiheit der Nation und die Rechtsgleichheit begünstigen,
anzunehmen und aufrecht zu erhalten."
Der siebenbürgische, in Klausen
burg versammelte Landtag nahm diesen Gesetzartikel „mit heißem Mitge
fühl" auf und die Vereinigung beider Länder unter Aufrechthaltung des
in der pragmatischen Sanction garantirten ReichSverbandeö an; die Reichs vertretung in Pest sollte das Weitere machen. Dieses von den siebenbürgischen Ständen beschlossene Unionsgesetz ist nach den Forderungen deS siebenbürgischen StaatSrechtS in dem Sturm
der sofort hereinbrechenden Revolution nie perfect geworden, indem eS nicht alle jene Stadien durchlaufen hat, die zur vollen Gesetzlichkeit eines
Landtagsartikels nothwendig sind.
Als daher nach dem Jahrzehnt des
Absolutismus von 1850—1860 das „Octoberdiplom" die alten Landesver-
fassungen heilweise wieder herstellte,
trat auch Siebenbürgen und das
Sachsenlaw dem entsprechend auf seinen frühern Rechtsboden zurück; da bei war ek ein Akt der Krone würdig und dem natürlichen Recht aller
VolkSstämne des Landes entgegenkommend, wenn das kaiserliche Hand
schreiben vim 21. December 1860 als Regel aussprach, „daß den städti schen und öndlichen Gemeinden aller Nationalitäten und Confessionen die
Wahl der Geschäftssprache ihrer Gemeinde-, Kirchen- und Schitlangelegen-
heilen frei 'tehe; daß es Jedermann unbenommen bleibe, in den ComitatSden städtiscken und den Gemeindeverhandlungen sich jeder im Lande üblichen
Sprache zr bedienen und in jeder Eingaben an die Behörden einzu
reichen, devn Erledigung in derselben Sprache zu geschehen haben wird; daß endlich die politischen und Justizverwaltungsbeamten jede Art Ver ordnungen und Befehle, welche unmittelbar an die Gemeinde ergehen, in
jener Sprcche erflteßen lassen sollen,
welche die Geschäftssprache ihrer
Gemeindealgelegenheiten ist."
Auch wr siebenbürgische Landtag, der 1863/1864 in Hermannstadt tagte, sprah in dem am 5. Januar 1865 sanctionirten Gesetzartikel, be treffend der Gebrauch der drei Landessprachen — der magyarischen, deut schen und wmänischen — im öffentlichen amtlichen Verkehr, deren Gletch-
bnechtiguns aus.
In den Landtagssitzungen selbst wurde in allen drei
Sprachen gesprochen, das Protokoll in allen drei Sprachen geführt.
das königliche LandeSguberntum
gingen
An
aus der Mitte der sächsischen
Nation alle Vorstellungen, Berichte, Zuschriften, deutsch und wurden von seiner Seit« deutsch erledigt, ohne daß diesbezüglich irgend eine Schwierig
keit hervorgetreten wäre.
So kam nach der Slstirung der Februarverfassung, während welcher in den Jalren 1863, 1864, 1865 die vom Hermannstädter Landtag ent sandten Vertreter, fast ausschließlich Sachsen und Romänen, ihren Sitz
im Abgeortnetenhause des ReichSrachS in Wien eingenommen hatten, die Zeit des Ausgleichs mit Ungarn.
Sie wurde für Siebenbürgen einge
leitet durch die Einberufung eines neuen Landtags auf den 19. Nov. 1865 nach Klausenburg.
Derselbe bestand nach der Analogie der vormärzlichen
siebenbürgischen Landtage In seiner großen Mehrheit aus
Magyaren.
Bon 190 „Regalisten" d. h. solchen Mitgliedern, die die Krone berufen, gehörten 132, von 106 Abgeordnete» der Jurisdictionen in Folge der
Wahlordnung, die allen Adligen als solchen das, Nichtadligen gegen über an eine directe Steuer von 8 Gulden ohne Kopfsteuer und Zuschläge
geknüpfte Wahlrecht verlieh, 61 dem magyarischen Stamme an.
Doch
beträgt bei einer Landesbevölkerung von etwa 2,102,000 Seelen die Zahl der Magyaren nicht einmal ein Drittheil (611,581 Seelen, demnach 29 %)
während die Zahl der Deutschen im ganzen Land 211,490 (10%), die der Romänen 1,249,447 (59%) nach einer auf die Zählung von 1870
gegründeten statistischen Berechnung erreicht. Bet solcher Sachlage, bei der Strömung, die aus Ungarn herüber schlug, und bet dem in Wien immer mehr und mehr hervortretenden ge dankenlosen Fahrenlassen der Idee des Einheitsstaates war das Ergebniß
Die Mehrheit beschloß eine Repräsentation an den
leicht vorauszusehen.
Kaiser um Einberufung der Vertreter Siebenbürgens aus den Reichstag
nach Pest, daß sie hier, „die im Jahr 1848 unterbrochenen Verhandlungen wieder aufnehmend, an der alle Interessen befriedigenden Durch
führung der Union, an her Lösung der die Gesammtmonarchie betreffenden
Lebensfragen, an der Vorbereitung der Krönung, sowie an der gesammten Gesetzgebung deS gemeinsamen Vaterlandes Theil nehmen könne."
Dabei ist überaus bemerkenswerth, wie die beschließende Majorität sich den Sachsen gegenüber stellte.
im Landtag vertreten.
Seitens dieser waren zwei Ansichten
Die Mehrzahl (28) hielt, übereinstimmend mit
wiederholten früheren Erklärungen der Krone, dafür, der Unionsartikel des Klaufenburger Landtags von 1848 fei mit voller Gesetzeskraft niemals zu Stande gekommen und stellte daher in ihrer Sondermeinung die Bitte an Se. Majestät: es möge der, in dem Allerhöchsten königlichen Rescript
vom 6. October 1865 enthaltenen Aufforderung gemäß die Revision jenes Unionsartikels zu dem Zweck vorgenommen werden, damit die Bedingungen einer Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn nach allen Richtungen hin,
insbesondere aber auch zur Sicherung der Rechtslage der ver schiedenen Nationen und Kirchen in Siebenbürgen näher festgestellt,
und durch einen unter Sanction der Krone gegenseitig abzuschließenden StaatSvertrag zwischen den beiden Ländern bleibend verbürgt werden. —
Die Partei, — die der Altsachsen hieß sie —, kannte die Geschichte der Ver
gangenheit und sah die dunkeln Schatten der künftigen bösen Dinge mit großer Bestimmtheit schon jetzt.
Getrennt von diesen stellten sich sechs sächsische Vertreter principiell
auf den Boden der magyarischen Mehrheit, sprachen dem Klaufenburger Unionsartikel Rechtsgültigkeit zu, stimmten dem Antrag derselben bei, die Vertretung Siebenbürgens solle sofort auf den Ungarländer Reichstag be
rufen werden und beantragten dazu bloß, eS sollten zu der Adresse an die Krone „folgende Wünsche, Forderungen und Bedingungen der Sachsen
ausgenommen und vom Landtag zur Berücksichtigung bei der königlichen Proposition bezüglich der Union für den Ungarländer Landtag empfohlen
werden", nämlich: fassung"
„die
Aufrechthaltung der sächsischen Municipalver-
mit dem genau detaillirten, wesentlich dem
alten Recht ent-
sprechenden Inhalt derselben —,
„die
Unantastbarkeit
des
sächsischen
Territoriums, die Belassung der deutschen Sprache als Amts- und Ge
schäftssprache bei allen ihren Behörden im Innern sowohl als auch nach
Außen, die Unantastbarkeit des sächsischen National-, Stuhls- und Ge
meindevermögens" u. s. f.
Der Landtag schloß in der That — so wie
die Sondermeinung der 28 sächsischen Vertreter und das Separatvotum der Romänen, auch diese Erklärung seiner Repräsentation vom 18. De
cember mit der Bitte an, Se. Majestät geruhe „ihre (der sächsischen
Dtinorität) durch vaterländische Gesetze und die Muntcipalverfassung be gründbaren Wünsche und Ansprüche dem gemeinschaftlichen Pester Reichstag zur Berücksichtigung zu empfehlen".
Das Ergebniß des Klaufenburger Landtags war das königl. Refcript
vom 25. December 1865, welches „gestattete", daß der auf den 10. De cember nach Pest berufene „Krönungslandtag Ungarns", welcher sich mit
der Regelung der die gefammte Monarchie berührenden staatsrechtlichen Fragen befassen werde, auch vom Großfürstenthum Siebenbürgen „zur
Wahrung der Landesinteressen" beschickt werde.
Ausdrücklich hebt das
Refcript dabei die kaiserliche Willensmeinung hervor:
„indem Wir die
Vertretung Siebenbürgens an diesem Landtag genehmigen, geschieht eö
mit der ausdrücklichen Erklärung, daß hiedurch die RechtSbeständig» keit der bisher erlassenen Gesetze keineswegs alterirt werde.
Die definitive Union beider Länder
machen Wir überdieß
von der gehörigen Berücksichtigung der speciellen Landes« tiiteressen Unsers Großfürstenthums Siebenbürgen und von
der Gewährleistung der, auch durch Euch gewürdigten RechtS-ansprüche der verschiedenen Nationalitäten und Confessionen,
von der zweckmäßigen Regelung der administrativen Fragen dieses Landes abhängig". Auch das letzte Wort des siebenbürgischen Landtags, das derselbe durch den Mund seines Ständepräsidenten, deS Barons Franz Kemeny
sprach, sollte diejenigen, die mit dem Gang der Entwicklung unzufrieden
waren und für ihre unveräußerlichen Rechte Gefahr sahen, beruhigen. „ES dürfte kaum ein nüchtern urtheilender Bürger in unserm Vaterlande sein", sprach der Genannte zum Schluffe des Landtags, „in dessen Sinn
eS gelegen wäre, . . die Institutionen, welche sich auS den eigenthüm
lichen Verhältnissen Siebenbürgens entwickelt haben, die Union nicht hin dern und seit mehr als drei Jahrhunderten in unser Fleisch
und Blut übergegangen sind,
mit einem Mal zu vernichten, oder
die mit der Vereinigung der beiden Länder vereinbarlichen Wünsche der
verschiedenen Nationen unsers Vaterlands nicht zu erfüllen.
Wenn
die sächsische Nation . . dies erwägt, so kann sie für sich keinen Nach
theil darin erblicken, daß sie sich unter den unmittelbaren Schutz der un garischen Krone begiebt.
so kann
faßt,
Denn
Und wenn sie ihre Stellung nüchtern ins Auge
sie auch keine Ursache zu Besorgnissen haben.
ihr Municipium bleibt auch bei der Union intacl; ja
dadurch, daß ihr Recht von ganz Ungarn gestützt wird, wird sie jene glänzende Epoche ihrer Geschichte sich erneuern sehen, welche in die Zeit vor der Trennung unter den ungarischen Königen fällt, aus welcher Zett
ihre schönsten Privilegien und
die festen Grundlagen
ihres
bürgerlichen Wohlstandes herrühren."
Im Hinblick auf ihr gutes Recht, mit der feierlichen Erklärung der Krone von der Rechtöbeständigkeit der bisher erlassenen Gesetze und mit
den Zusicherungen der siebenbürgischen Stände zogen denn die sächsischen Abgeordneten, der „Noth gehorchend nicht dem eigenen Trieb", im Jahr 1866 auf' den Pester Reichstag.
Die Frage ist nun,
wie wurde in
den seither vergangenen Jahren jenes ihr gutes Recht von der ungarischen Legislative und Regierung geachtet; wie wurde das
königliche Wort, die Zusicherung des siebenbürgischen Landtags von 1865 — in Verbindung mit den wiederholten feierlichen Erklärungen deS un
garischen Reichstags betreffend die Achtung der Nationalitätsrechte der Nichtmagyaren — von der ungarischen Gesetzgebung und Regierung den
Sachsen gegenüber elngelöst?
Die beglaubigten Thatsachen, die hierüber vorltegen, beantworten die
Frage: ob eine „Bedrückung der Sachsen" Statt gefunden oder nicht. Und wenn diese Thatsachen kaum etwas anders als eine lange, fast
ununterbrochene Reihe von Nichteinlösung des gegebenen Wortes
und
von Ungesetzlichkeit melden, nun so sind das eben — die Thatsachen.
Schreien doch in gewissen Verhältnissen selbst Steine, wenn die Menschen schweigen!
DaS erste Zeichen der Dinge, die da.kommen sollten, eine Jllustrirung, tote das ungarische Abgeordnetenhaus das königliche Wort von der „Rechtsbeständigkeit der bisher erlassenen Gesetze" verstand, geschah am
8. März 1867.
Anläßlich der Verhandlung über die Regierungsvorlage
betreffend die Regelung der Municipien, beschloß das Haus trotz ernstester Einwendung von siebenbürgischen und namentlich eines sächsischen Abgeord
neten:
„bis zu der, auf Grundlage von § 5 des VII. Gesetzartikels von
1847/1848 zu erfolgenden Regelung der siebenbürgischen Verhältnisse wird daS Ministerium ermächtigt, bezüglich der Regierung, Administration
und Rechtspflege in Siebenbürgen unter seiner Verantwortlichkeit nach
eigener Einsicht die nöthigen Verfügungen zu.treffen".
Damit war das Land und mit ihm die sächsische Nation dem Mi nisterium auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.
Die „freie Hand" der Regierung zeigte ihre Gewalt sofort auch der sächsischen Nation. Der verfassungsmäßig von dieser erwählte, vom Kaiser
in aller Form Rechtens bestätigte „ComeS", Conrad Schmidt, wurde am 8. Februar 1860 seines Amtes, das ihm doch auf Lebensdauer übertragen
war, enthoben, einfach, ohne irgend eine Untersuchung oder eine Begrün dung.
Aber eine Anzahl magyarischer Blätter war seit Monaten gegen
ihn Sturm gelaufen und hatte ihn als entschiedenen Anhänger eines ein heitlichen Oesterreich hingestellt.
Die Petitionen der sächsischen Nations-
Universität, der Hermannstädter Repräsentanz, der Schäßburger Commu-
nität, die sich um Schutz und Wiederherstellung des gesetzlichen Zustandes
an das Abgeordnetenhaus wandten, waren fruchtlos.
Dasselbe erkannte
nach einer stürmischen Sitzung am 14. Mai die That für statthaft, mit
deßhalb, „weil das verantwortliche Ministerium vom Abgeordnetenhause
ermächtigt worden, hinsichtlich der Administrativ- und Justizangelegenheitcn Siebenbürgens nach eigener Einsicht Verfügungen zu treffen",
und die
jenigen, die die Maßregelung gut hießen, begründeten sie unter Anderm auch damit, daß Conrad Schmidt im Wiener Reichsrath gewesen — er
war eine Zeit lang Vizepräsident desselben — und die "Nothwendigkeit
ausgesprochen habe, daß Siebenbürgen sich dem constitutionellen Oester reich anschließe. —
„Der Nothruf eines freien Bürgervolks um Beistand und Schutz
eines verfassungsmäßigen Rechtes, vertrauensvoll gerichtet an die gesetz liche Volksvertretung des freien Ungarn, ist ohne Widerhall verklungen,
wie der Klageton einer ärmlichen Hirtenflöte auf der ungarischen Haide", so sprach daS Siebenbürgisch-Deutsche Wochenblatt über das beklagens-
werthe Ergebniß. Dann kam der 43. Gesetzartikel von 1868 „über die detaillirte Re
gelung der Bereinigung Siebenbürgens
mit Ungarn".
Er nahm der
sächsischen Nation das Recht, ihr Haupt, den ComeS, zu wählen, dessen
Bestätigung nur nach jenem Recht der Krone zustand; nun lautete das
Gesetz:
„den sächsischen NationscomeS wird mit Gegenzeichnung des
Ministeriums der König ernennen".
DaS Unionsgesetz schlug ebenso die sächsische Autonomie in Trümmer. DaS Recht, daS die Nation seit ihrer, auf den Ruf ungarischer Könige
erfolgten Einwanderung besessen und geübt, sich mit Genehmigung der Krone ihre Munictpalverfassung selber zu geben und den Forderungen
des eigenen Rechts- und Culturbedürfnisses, deS eigenen wirthschaftlichen
LebenS entsprechend fortzubilden, wurde, ohne daß man auch nur versucht
hätte, jenen Rechtsstand in die neue StaatSform wohlwollend einzufügen, sofort vernichtet.
„Behufs Sicherstellung des autonomen Selbstverwal
tungsrechtes", verfügte § 10 des Unionsgesetzes, „der Stühle des KönigS-
bodenS, der Distrikte und Städte, ebenso behufs Organisirung der Re
präsentanz derselben und der Feststellung des Rechtskreises der sächsischen
Nationsuniversität wird daS Ministerium beauftragt, nach geschehener Ein vernehmung der betreffenden dem Reichstag einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen, welcher sowohl die auf Gesetzen und Verträgen beruhenden Rechte, als auch die Gleichberechtigung der auf diesem Gebiet wohnenden
Staatsbürger jeder Nationalität berücksichtigen und in Einklang bringen soll." So wurde die sächsische Autonomie zu einer „Einvernehmung der
betreffenden"; der Erfolg lehrte bald, wie wenig auch diese beachtet wurde, wie die „auf Gesetzen und Verträgen beruhenden Rechte" ein leeres in haltloses Wort auf dem Papier blieben.
Doch mit dem, erst in dieser neuesten Zett stabilirten Absolutismus
des Reichstags über das alte Sachsenrecht sollte es nicht genug sein; der selbe 8 ermächtigte „daS Ministerium" bis zu jener Gesetzgebung „hin
sichtlich der Organisirung und des Wirkungskreises der auf dem Königs boden befindlichen Stühle, Diftricte und Städte im Sinn der hier ent
wickelten Principien provisorische Verfügungen zu treffen". Die „freie Hand" über das Sachsenland wurde denn auf'S neue,
und zwar im ganzen Reich über dieses allein in Kraft erhalten. sofort wurde sie in drückendster Welse fühlbar.
Und
Mit Verordnung vom
24. Januar 1869 verfügte der Minister deS Innern „auf Grund der ihm
durch daS UnlonSgefetz ertheilten Vollmacht" die Zuweisung von 16 romäntschen Gemeinden, von welchen drei der ehemaligen Militärgrenze, die andern dem Talmescher und Selischter Dominium, einem Nobilitarbesitz
des alten Hermannstädter GaueS, angehörten,
in den Hermannstädter
Stuhl, ebenso die Zuweisung von zehn magyarischen und romanischen Ge meinden deS Törzburger DominiumS, einem Nobilitarbesitz von Kronstadt, in den Kronstädter District; diese Gemeinden, die gesetzlich ein Bestand
theil deS Albenser ComitateS waren, also nicht zum Sachfenland gehörten,
sollten nach der Verordnung deS Ministers gleiche Municipalrechte auSüben, wie die Gemeinden des Sachsenlandes, demnach auch Einfluß nehmen auf die Wahl der Abgeordeneten in die sächsische Nationsuniversität und der sächsischen Kreisbeamten, ebenso Einfluß nehmen auf die Verwaltung und Verwendung deS sächsischen Kreis- und Nationalvermögens, an dem
sie doch kein EigenthumSrecht hatten.
Noch schwerer fiel in die Wag-
schale, daß der deutsche Charakter der Municipien Hermannstadt und
Kronstadt durch die widerrechtliche Zuweisung eines so zahlreichen andern
nationalen Elementes (beiläufig je 24,000) auf das schwerste gefährdet wurde.
Doch die Vorstellungen und Verwahrungen von Hermannstadt
und Kronstadt gegen diese Verfügung, welche in gradem Gegensatz gegen die „auf Gesetzen und Verträgen beruhenden Rechte" in § 10 deö UnionSartikels stand, waren erfolglos.
ES folgte rasch ein anderer Schlag.
Im März 1869 erließ der
Minister des Innern, wieder in Folge der ihm zugestandenen „freien
Hand" ein provisorisches Regulativ bezüglich der Wahl der Vertretungs
körper, sowie der StuhlS-DistrictS- und Gemetndebeamten auf dem KönigSboden.
Die innere Berechtigung zu dieser Verfügung liege, so verbreitete
man eifrig in der öffentlichen Meinung, in dem „feudalen Zustand", daß
die sächsischen DertretungSkörper der Städte und Dörfer sich nach den, im
Jahre 1805 eingeführten „Regulativpunkten" selbst ergänzten.
Gewiß,
man konnte die Mißbilligung einer solchen „Constitution" Seitens der
ungarischen Regierung, die keinen Schritt that, die 403 Grafen und 137
Barone des.Oberhauses als „geborne Gesetzgeber", die 55 Bischöfe und
65 von der Regierung ernannten und nach deren Belieben absetzbaren Obergespäne desselben hohen Hauses, die ihren Sitz in demselben auch nicht der Wahl deö Volkes verdankten, abzuschaffen: — man konnte, sagen
wir, den größeren Freisinn der Regierung mindestens auf dem kleineren
Gebiete des sächsischen Verfassungslebens principiell nicht tadeln.
Aber
noch weniger kann übersehen werden, daß jene Selbstergänzung der Ge
meindevertretungen nicht von der, zu solchen Municipakgesetzen allein kompetenten Nationsuniversität ausgegangen, sondern den Sachsen in den,
im Jahre 1805 von Oben eingeführten „Regulativpunkten" vorgrschrteben worden war und daß alle Schritte die die sächsische Nation seit einer Reihe von Jahren zur Abschaffung dieses, von ihr selbst als eine Schädi gung des eigenen Lebens schwer empfundenen Anachronismus
im ver
fassungsmäßigen Wege gethan hatte, durch Schuld der Regierung erfolglos geblieben waren, daß insbesondere die diesbezüglichen Vorlagen der NattonSunlversität vom 11. Mat 1863 nie eine Erledigung gefunden
hatten. Dafür kam nun das neue provisorische Regulativ, das über die Zu
sammensetzung der Nationsuniversität, dann der Gemeinde- und Kreisver tretung verfügte, eine Wahlnorm für dieselben brachte, sowie neue Wahlen der Gemeinde- und Kreisbeamten jedoch nur für die Zeitdauer bis zur
„definitiven Organisation" anordnete.
Die Nachweisung juridischer Fach
bildung für die politischen Beamten, bisher Bedingung ihrer Anstellung, wurde fortan für nichterforderlich erklärt, zu den Wahlen für die be treffenden Stellen sollte der von der Regierung ernannte ComeS
Vorschlägen wer ihm beliebte und kein anderer wählbar sein; die gewählten
Oberbeamten mußten vom Minister bestätigt werden.
reichen
Ehrenmännern
langer
tadelloser
So hing über zahl
Beamtenlaufbahn
das
Damoklesschwert der Willkühr des ernannten Regierungsbeamten;
ohne
Verschulden wurden alle plötzlich ihrer Stellen verlustig erklärt.
Und
nach
während die Seklerstühle ihre Beamten nach der Mtnisterialverorvnung vom 26. Juni 1867 ohne Candidation wählten, sollte im Sachsenland das Belieben des Comes zulassen oder abweisen; während dort und in den
Comitaten für die Gewählten keine Bestätigung erforderlich war, sollte hier für die gewählten Oberbeamten noch besonders die Bestätigung des
Ministers nachgesucht werden; die Protokolle der Kreisvertretungen und
der Universität sollten stets dem Ministerium deS Innern vorgelegt werden, waS mit den „auf Gesetzen und Verträgen beruhenden Rechten" allerdings in gradem Gegensatz sich befand.
Darum hätten gewiß die ernsten sach
lichen Darlegungen und Verwahrungen der Stadt Kronstadt vom 12. Mai
1869 und HermannstadtS vom 29. November 1869, welche die im neuen Regulativ
enthaltenen Rechtsverletzungen
und
dessen
wahrer Freiheit und Selfgovernment klar nachwiesen,
Widerspruch
mit
in jedem RechtS-
und Culturstaat Europas Erfolg gehabt; hier konnten sie nur als Proto kollarerklärungen ein Zeugniß für die Geschichte ablegen.
Und doch stand jene Verfügung in unvereinbarem Gegensatz
auch
mit einer anderen Fundamentalbestimmung, mit § 11 des Untonsgesetzes.
Dieser lautet:
„die sächsische Nationsuniversität wird in dem mit dem
siebenbürgischen Gesetzarttkel XIII vom
im
Jahr 1791
Ein
klang stehenden Wirkungskreis, mit Beibehaltung des im Weg des
verantwortlichen ungarischen Ministeriums auszuübenden obersten Beauf-
sichtigungSrechteS Sr Majestät, auch fernerhin belassen, mit dem Unterschied, daß der Nationalcon flux in Folge der im Gerichtswesen er
folgten Aenderung keine Jurisdiction mehr ausüben könne".
Diefemnach
mußte die Nationsuniversität in jenem Wirkungskreis erhalten werden —
und das schloß unter Anderm ebenso die Untheilbarkeit deS Sachsenbodens als die Autonomie über die Gemeindeorganisation zweifellos in sich, oder eS war nur Eins von beiden möglich:
entweder, Regierung und Gesetz
gebung hatten nicht gewußt was der eigentliche Inhalt jener Gesetzesbe stimmung sei, die sie in jenem § in den Grundvertrag Siebenbürgens mit Ungarn aufnahmen, oder — um es milde auszudrücken — die Auf
nahme derselben war von allem Anfang an nicht ernst gemeint.
Da nun
keine dieser beiden letzten Voraussetzungen sittlich zulässig ist, so kann die sächsische Nation nicht beschuldigt werden, wenn sie nicht müde wird zu hoffen, eö werde ihr wiederholt anerkanntes gutes Recht doch endlich zum
Sieze gelangen und zwar umsomehr, da der Bestand eines sächsischen
MunicipiumS nach dem Zeugniß der Geschichte weder der Krone, noch dem
magyarischen Volke,
oder sonst wie der Wohlfahrt deS StaateS zum
Schaden gereichte, im übrigen ganz auf denselben internationalen Rechts
grundlagen ruhte, wie der historische ungarische Staat selber. Diese Hoffnung, aufrechterhalten noch durch den 42. Gesetzartikel von
1870 „über die Regelung der Municipien", wo § 88 festsetzt: „über die Regelung des KönigöbodenS verfügt nach Anordnung deö Gesetzartikels XI^III,
1868, § 10 ein besonderes Gesetz" — wurde vernichtet durch den XII. und XXXIII. Gesetzartikel von 1876.
Wie über eine rechtlose Sache schalteten
und beschlossen beide über das Sachsenland und alle seine gesetzlichen Ein richtungen.
Der erstere verfügte:
„da die Regulirung eines Theiles
des Landesgebietes aus Verwaltungsrücksichten unvermeidlich geworden ist, wird bezüglich des Königsbodens festgesetzt (wir heben nur Einiges hervor):
§ 1.
„Bei der Regelung der Municipalgebiete, über welche ein be
sonderes Gesetz verfügen wird, fallt der Königsboden und seine benach barten Gebiete unter dieselben Rücksichten.
Nach der GebietSregulirung
hören die, hinsichtlich deS Königsbodens bisher bestandenen Verschieden
heiten im Kreise der Verwaltung auf", d. h. das wesentlich den Bedürf nissen des ungarischen Adels entsprechende ComitatSrecht wird auch auf
das rein bürgerliche Sachscnland ausgedehnt und das Jahrhunderte alte,
durch den Unionsartikel neuerdings gewährleistete Eigenrecht desselben ein fach vernichtet.
§ 2.
„DaS sächsische ComeSamt erlischt und dieser Titel geht auf
den Obergespan deS Hermannstädter ComitateS,
als den Vorsitzer der
Generalversammlung der sächsischen Universität über."
DaS Unionsgesetz
hatte das Amt des ComeS aufrcchterhalten. § 3.
„Der Wirkungskreis der sächsischen Universität, als einer aus
schließlichen Culturbehörde, wird hinsichtlich der Verfügung über daS Uni
versitätsvermögen, hinsichtlich der Bewerkstelligung deS widmungsgemäßen Gebrauches der, unter ihrer Verwaltung stehenden Stiftungen und hin sichtlich der Controlle über jene auch weiterhin aufrecht erhalten."
Nach
§ 11 deS Unionsgesetzes ist der Wirkungskreis der Universität der des XIII. Artikels von 1791. § 4.
„Das Vermögen der sächsischen Universität kann lediglich zu
Culturzwecken verwendet werden"; ein Eingriff in EigenthumSrechte. § 7.
„Ueber daS Vermögen der sächsischen Universität verfügt im
Sinn und innerhalb der Schranken der Stiftungen und mit Aufrechter
haltung des Aufsichtsrechts der Regierung die , Generalversammlung der sächsischen Universität."
Doch ihre diesbezüglichen Verfügungen werden
Preußische Jahrbücher. Bd XLVUI. Heft r.
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nur durch die Genehmigung des Ministers rechtskräftig und diese „Ge
nehmigung" ist bereits Beschlüssen ertheilt worden, die als ein MinoritätSvotum blos zweier (romanischer) Mitglieder gegen die einstimmige
Schlußfassung aller anderen sächsischen dem Minister vorgelegt wurde. DaS heißt: die Regierung verfügt selbst, wenn es ihr gefällt, über sächsi sches Nationalvermögen, wie sie ausdrücklich in der Verordnung
vom
14. Juli 1877 ihrem Obergespan in einzelnen Fällen das Verfügungs
recht darüber und das AnweifüngSrecht an die Caffe über das Budget hinaus zuspricht.
So befiehlt sie, daß dem von ihr ernannten uiib nach
ihrem Belieben jederzeit absetzbaren Hermannstädter Obergespan, der den
„Titel" sächsischer ComeS führt — das „Amt" selbst ist nach dem Gesetz erloschen — und nach § 8 des erwähnten Gesetzes Vorsitzer der Generalversammlung der Universität ist, gegen den Willen und ausdrück
lichen Beschluß dieser auS jenem Vermögen jährlich 2000 Gulden gegeben
werden müssen und daß er von dem, der sächsischen Nation in Hermann stadt gehörigen Hause die nicht zu den Zwecken dieser verwendeten Räume
sammt dem Garten daran für sich und die ihm sonst gefälligen Zwecke
benützen darf.
Beide, der Obergespan als TttularcomeS und die Re
gierung handeln, wo eS ihnen gefällt, nach der, sonst allerdings uner
hörten, von ihnen aufgestellten Doctrin, daß eine Sondermeinung, sei es
auch nur von einem oder zwei Mitgliedern, die Rechtswirkung einer Be rufung habe, wornach dann der Minister diese Sondermeinung als Be
schluß der Universität bestätigt. — Die Ergänzung des XII. bildet der XXXIII. Gesetzartikel Jahre 1876 über die GebietSregulirung einiger Municipien.
vom
Das alte
Sachsenland, oder der Königsboden wie sie ihn nennen, wird durch den
selben in Stücke zerschlagen und mit Stücken von ComttatS- und Seklerboden, mit magyarischen und romänischen Territorien zu neuen Comitaten
zusammengeschlagen,
ohne daß irgend Jemand im Stande wäre mit
zureichenden Gründen der Verwaltungsbedürfnisse, der Rechtspflege, des
wirthschaftltchen und Culturlebens grade diese Arrondtrung zu recht fertigen.
Man muß das auf der Karte sehen, oder, noch besser, die
terrestrischen Verhältniffe aus dem Augenschein kennen, um die ganze, ab
gesehen von allem andern, culturverderbliche und die wirthschaftltche Ent wicklung schwer schädigende Ungeheuerlichkeit, dergleichen ohne Uebertrei bung, in keinem Lande der Welt existirt, in ihrem ganzen Umfang zu
begreifen.
Welch ein Geist dem sächsischen Recht gegenüber in dem Abgeord netenhaus herrschte, wie die ganze Frage nicht vom Standpunkt des Rechts staats, der historischen Entwicklung, sondern der ausschließlichen magyart-
scheu Ra?en- und Machttnteressen aufgefaßt wurde, welches Meer von
Hohn sich über die, jenes Recht mannhaft vertheidigenden sächsischen Ab geordneten
ergoß, das
lehren die stenographischen Verhandlungen des
Reichstags, die in deutscher Uebersetzung („Die Zertrümmerung des Sieben
bürger SachsenlandeS".
München.
1876) erschienen sind.
Ackermann.
Wurde ihnen doch der Vorwurf gemacht, daß sie schon unter Ferdinand I. gegen den, die Türken ins Land rufenden Zapolya im Feld gestanden, ja
der Unterstaatssecretär, jetzige Handelsminister Baron Gabriel Kemeny
warf ihnen gradezu inS Gesicht, die sächsische Nation habe ihr Recht ver
wirkt durch ihre Haltung zu Gunsten deS Einheitsstaates im Jahr 1850,
durch ihre Theinahme am Landtag 1863, durch die Entsendung von Ab geordneten in den Wiener Rcichsrath.
Ein einziger Mann, ein einziger,
Freiherr DlonyS Eötvös erhob im MagnatenhauS seine Stimme gegen
die beabsichtigte Vergewaltigung — fruchtlos, wie die Sachsen selbst. Ja, es geschah das Unglaubliche!
Von allen jenen Männern, die
in ihrer Adresse an den Kaiser vom 9. Mai 1857 bezeugt hatten:
„die
Einheit der Monarchie ist der Erwerb von Jahrhunderten, sie ist das Er
gebniß deS Zusammenwirkens der natürlichen Kräfte der Monarchie"; von allen, die dem Freiherrn Josef EötvöS lauten Beifall zugerufen hatten, als dieser in den (Leipzig.
Wigandt.
„Garantien der
Macht
und
Einheit Oesterreichs"
1859.) jene Einheit definirte und zu den Macht
habern das ernste Wort sprach:
„für eine Monarchie, welche weder durch
daS Band eines gemeinsamen Volksthums, noch durch feste geographische
Grenzen zusammengefaßt wird, ... ist alles, wodurch daS historische Recht geschwächt, alles, wodurch in Hinsicht der Nationalität JndifferentiSmus erzeugt wird, statt eines Mittels den Staat zu kräftigen, blos ein Element der Auflösung"; von jenen Männern, die auf dem Pester Reichstag 1861 die feierlichsten Versicherungen gegeben hatten, allen Nationalitäten gerecht
zu werden; von allen jenen Männern endlich, die auf dem Klausenburger Landtag 1865 so freigebig mit den Betheurungcn der Unverletzbarkeit des sächsischen Municipiums gewesen waren und 1867 den XIII. Artikel von
1791 aufS neue hätten inarticuliren lassen —:
von Allen erinnerte sich
nach so wenigen Jahren Keiner an sein Wort und seine Pflicht, gedachte
Keiner, daß mit dem sächsischen Recht auch das seine hinfällig werde, so bald nur der Wille und die Gewalt dazu vorhanden ist!
So wurde denn daS
Sachsenland, daS
148 Quadratmeilen mit
381,500 Seelen umfaßte, im Wesentlichen in die vier Comitate Hermann
stadt, Großkokeln, Kronstadt und Bistritz zerstückt, zusammen 217 Quadrat
meilen mit 586,000 Seelen. Das magyarische Element betrug im Sachsen
land 6,69°/,; eS wird auch in den neuen Comitaten bisher nicht viel
12*
höher sein; der Zuwachs besteht in der Mehrzahl aus Nomänen.
Sofort
hatte es denn mit der alten sächsischen Verwaltung, die, wenngleich nicht
ohne Mängel, doch allgemein als die beste im Land anerkannt war,
Das ganze Elend der „KomitatSwirthschaft", die das
ein jähes Ende.
geflügelte Wort des Barons Senyey als „asiatische Zustände" geißelt, und die seither im Reichstag, in der Presse, im Lande fortwährend nur ein Wort der Berurtheilung erfahren, brach nun auch hier über Land
und Leute herein.
Fachstudien sind nur für den Obernotar, den Präses
der Waisencommission, den Fiskal erforderlich, für die anderen Stellen,
selbst für den ersten Komitatsbeamten, den Vicegespan, nicht; das that sächlich von dem Obergespan ausgeübte ausschließliche Candidationsrecht macht die Wahlen zu leerem Schein. Die Jnnerverwaltung der Komitats
ämter in Protokoll- und BerathungSsprache ist nur magyarisch, die Ver waltung nach unten fast ausschließlich ebenso; die Grundbuchämter amtiren
magyarisch, wiewohl mehr als neun Zehntel der Grundbesitzer die Sprache nicht verstehen.
ausgestellt.
Selbst die Dienstbotenbücher werden nur in diesem Idiom
Die Mehrzahl der Beamten gehört nicht der Nationalität
der Bevölkerung an, steht ihr kalt und fremd gegenüber und wird dlirch
die Kluft der Sprache und anderer Lcbensanschauung weit von ihr ge
trennt.
An jeder Gemeindcstube jedes sächsischen Dorfes sind Verord
nungen angeschlagen, deren Sprache dort kaum ein Mensch versteht und die dennoch — befolgt werden sollen.
Und das Alles geschieht zu einer Zeit, da die orientalische Frage das Unhaltbare solcher Verhältnisse doch ernst genug zeigt, geschieht, nachdem
die Conferenz in Konstantinopel die ganz gleichen Uebelstände, die auf der gedrückten Rajah lasteten, 1876 beseitigt hat.
Beschloß sie doch unter der
Mitwirkung und Zustimmung der österreichisch-ungarischen Conferenzmit-
glieder, des Botschafters Grafen Zichy und des Barons Calien — die auswärtigen Angelegenheiten werden
aber nach dem XII. Gesetzartikel
von 1867 im Einverständniß mit dem ungarischen Ministerium und mit dessen Zustimmung geleitet — daß in Bosnien und Bulgarien in Gericht
und Verwaltung die Landessprache gleichberechtigt sein solle mit der türki schen. (Vgl. Documents diplomatiques. Affaires d’orient.
Appendice S. 50, 55.)
Paris 1877.
Doch in Siebenbürgen wird das uralte Recht
der sächsischen Nation, daß in ihrer Mitte Verwaltung und Rechtspflege
deutsch sei, aufgehoben.
Ist das Deutsche im ungarischen Reich schlechter
und weniger werth, als das Bosnische und Bulgarische im türkischen?
Ob solche Zustände mit der Landeswohlfahrt vereinbar sind, ob sie
den Forderungen des Rechtsstaats entsprechen, ob daS eine Politik im Geiste Deak'S ist, der am 23. Januar 1872 im Abgeordnetenhaus sprach:
„Wenn wir die Nationalitäten gewinnen wollen, müssen wir das nicht so anstellen, daß wir sie um jeden Preis magyartsiren, sondern daß wir ihnen die ungarischen Verhältnisse lieb machen —" daS
mag der verständige und billig denkende Mann selbst beurtheilen.
So ist die sächsische Nation, vor kurzem die dritte ständische Nation in Siebenbürgen, die in ihrem Munictpalleben und den dasselbe, reprä-
sentirenden Verwaltungskreisen durchweg deutsch war, entgegen dem Funda mentalvertrag — der Union zwischen Siebenbürgen und Ungarn — durch
eine, diesen Vertrag und ihre eigenen früheren Zusicherungen nicht achtende Gesetzgebung Schritt vor Schritt von dem Boden ihres deutschen Parti-
cularrechteS abgedrängt worden, bis aus dem deutschen Landstand und den deutschen Municipien eine atomistische Anzahl deutschredender Individuen
wurde, denen die magyarische Presse,
nachdem allerdings die deutsche
Sprache am Herdfeuer des HauseS noch, nicht verboten ist, den Gebrauch derselben und die Beibehaltung der deutschen Namen als staatsfeindlich vorzuwerfen nicht müde wird.
Auch die Zahl der Vertreter, die das Sachfenkand ehemals in daS
Abgeordnetenhaus entsandte, ist durch den X. Gesetzartikel von 1877 von 22 auf 15 herabgesetzt, und die Wahl deutscher Männer durch die neue
Grupptrung der Wahlkreise überdieß wesentlich erschwert worden.
Wie
auch hier einseitig nationale, nicht wirkliche StaatSinterefsen obgewaltet,
daS
beweist,
daß dasselbe Gesetz dem Bistritz-Naßoder Komitat (mit
212,000 Seelen) zwei Abgeordnete zuerkennt, dagegen dem benachbarten
Solnok-Dobokaer (auch mit 212,000 Seelen) fünf und außerdem den,
in demselben liegenden Orten Samosch-Ujvar (5100 Einwohner) und Szek (3500 Einwohner) je einen Abgeordneten, dagegen der sächsischen Stadt Bistritz (7200 Einwohner) keinen.
So entsendet nach demselben Gesetze
der Großkokler Komitat, der die alten Stühle Reps, Schenk, Schäßburg, Mediasch umfaßt, welche acht Deputirte ins Abgeordnetenhaus entsandten,
fortan nur vier, der Haromßeker Komitat — ehemaliges Seklerland —
gleichfalls viere,
außerdem aber die in seiner Mitte gelegenen Land-
städtchen Beretzk (4400 Einwohner), KeSdi-Vasarhelh (4500 Einwohner), Sepsi-S.-György (4300 Einwohner) je einen, während
die
sächsischen
Städte Schäßburg (8200 Einwohner) und Mediasch (4600 Einwohner)
die in der letzten Zeit eigene Wahlkreise gebildet hatten, dieses Recht ver loren haben.
Und doch zählt der
Großkokeler Komitat 146,000, der
Haromßeker nur 124,000 Einwohner.
Wo bleibt da die vielgepriesene
„Gleichberechtigung" ?
So sind denn die Municipien des freien „Königsbodens", die sächsi
schen Stühle und Districte, und ihr Gesammtmunicipium, die „sächsische
Nation"
und „die sächsische NattonSuniversität",
Schöpfungen worden.
die großen politischen
der größten ungarischen Könige in Trümmer geschlagen
Die deutsche Nation in Siebenbürgen, hier so gut berechtigt
wie die ungarische, in ihrer nationalen Bildung und Eigenart nie ein Hinderniß der Landeswohlfahrt, wurde depossedirt, widerrechtlich aus dem
Recht gesetzt, ihr nationales Leben auch auf dem Gebiet der municipalen und
staatlichen Organisationen zur Geltung zu bringen.
Was würde
Schlözer dazu sagen, der im Jahre 1797 schrieb sKritische Sammlungen Göttingen 1797]:
zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen.
„Wenn
Franz II. an dem, Gott gäbe, späten Abend seines, für die Ruhe des Welttheils theuern Lebens mit seinen deutschen Altgästen trans silvas etwa um das Jahr 1850 ihr siebentes Jubiläum feiert: wie schmerzend
würde es für ihn sein, wenn er an ihnen nicht mehr suum genus, wie
sein kaiserlicher Ahnherr Rudolf (4. Nov. 1600) erkennen könnte, sondern
ein walachisirteS,
altmagharisirtes,
slovakisirtes
Bolksgemengsel fände,
wenn er daS herrliche Monument, das seine großen Vorfahren auf dem ungarischen Thron ihrer Weisheit, ihrer Sorge für ihrer Völker Glück
und der Menschheit selbst am Ende der
europäischen Cultur für die
Ewigkeit errichtet und so lange unterhalten haben, in Ruinen fallen sähe; wenn ihn dieser Anblick in seinem treuen und geliebten Siebenbürgen an Spanien- Schicksal erinnerte, wo das Ende der rührigen Mauren und
Maranen der Anfang des Verfalls eines vorhin blühenden Königreichs
wurde?"
Und das wird das Ergebniß des gegenwärtigen, kein anderes Recht achtenden magyarischen Chauvinismus und
seines,
insbesondere alles
Deutsche mit Zerstörung verfolgenden Fanatismus sein, unter dem Nie
mand mehr leidet als die sächsische Nation in Siebenbürgen.
Kein Staat,
der sich dauernd auf solche Grundlagen stellt, kann gedeihen. Wir können damit vor der Hand schließen.
Der denkende Leser wird
nun von selbst beurtheilen, was von der verblüffenden Behauptung der
„Ungarischen Revue" zu halten sei: die Siebenbürger Sachsen würden nich-t bedrückt, und:
sie seien in ihrer nationalen Eigenart, in ihrer
historischen Entwicklung völlig unangetastet geblieben.
Damit wird
wohl auch daS in die richtigen Grenzen zurückgeführt sein, was Herr
Dr. Schwicker — den wir übrigens ja nicht auf die gleiche Linie mit dem Artikelschreiber der „Revue" zu stellen bitten — im zweiten Heft des laufenden Jahrgangs von „Unsere Zeit" über „Die nationale Stellung
der Siebenbürger Sachsen" zweifellos wohlwollend, doch nicht in Allem
gut unterrichtet, oder nicht
überall das
Richtige voraussetzend, sagt.
Erkennt er doch an, daß den Sachsen gegenüber „auf Seiten der Re-
gierung ein nationalistischer Chauvinismus übermäßigen Raum gewonnen",
daß der „Gegner der Sachsen" (Regierung und Reichstag) „sich zu Ge waltmaßregeln Hinreißen ließ,
welche im Interesse
der Wohlfahrt des
sächsischen Volkes, wie in dem des ganzen Landes auftichtig beklagt werden müssen".
Daß die sächsische Nation irgendwie vom Wege deS Rechtes
und des Gesetzes — und darauf kommt es doch zunächst an — abge wichen, wird nicht behauptet; wo man es zunächst am „Entgegenkommen", am „Wohlwollen", am „Vertrauen" habe fehlen lassen, darauf gibt Ant
wort die dem Minister am 8. März 1867 über daS Sachsenland ertheilte „freie Hand", und der Gebrauch, den die Regierung hievon machte, so
namentlich die Entfernung deS gesetzlichen ComeS im Februar 1868, ins
besondre, wenn man weiß, auf wessen Einfluß und zu wessen Gunsten das Alles geschah.
gung ist.
Wer aber mit Herrn Schwicker gleich unS der Ueberzeu
„Das Deutschthum stammt in Ungarn nicht von gestern und
heute; eS ist so alt, ja älter, als das ungarische Königreich selbst, in
welchem eS nun eine mehr als achthundertjährige bedeutsame und folgen reiche Rolle spielt.
Dasselbe verdrängen, oder gar
auSmerzen wollen
wäre in politischer und cultureller Hinsicht ein herostratischeS Be
ginnen": der wird nicht umhin können, mitzuhelfen, daß an der sächsi schen Nation daS ihr im Namen des ungarischen Staates zugefügte schwere Unrecht möglichst bald wieder gut gemacht werde.
Es mangelt heute der Raum, um darzulegen, wie außer der Zer
störung der politischen Organisation derselbe Geist auch die gerichtliche Verfassung der Sachsen allmälig vernichtet und damit wieder ebenso wohl neue Mächte der Magyarisirung als schwere Hindernisse der gemeinen
Wohlfahrt über daS unglückliche Land und Volk loSgelaffen hat; wie selbst fünfhundertjähriges Privateigenthum der sächsischen Nation im Urbartal
gesetz von 1871 dem ordentlichen Richter entzogen und legislativer Ent scheidung vorbehalten wurde, die zu großer Schädigung jenes heute noch
immer droht; welch ein gefährlicher, die deutsche Cultur bedrohender Feind dieser im XVIII. Gesetzartikel von 1879 erstanden ist, der jeder deutschen
Volksschule, auch der einklassigen, die magyarische Sprache als obligaten Lehrgegenstand aufzwingt, auf Kosten anderer weit nothwendigerer, selbst in Gegenden, wo auf Meilen weit kein magyarisches Wort gehört wird;
wie derselbe Feind die Magyarisirung der Mittelschule durchführen und den
Zusammenhang der sächsischen Nation mit der deutschen Wisienschaft durch Verhinderung des Besuchs deutscher Universitäten tödtlich treffen will; wie
endlich unter diesem fanatischen Geiste deS magyarischen Chauvinismus,
der es zu rettenden Gedanken,
die dem
allgemeinen Wohl dienen
wollen, gar nicht kommen läßt, das wirthschaftliche Leben insbesondere des
Die Unterdrückung der Deutschen in Siebenbürgen.
170
sächsischen Volkes von Tag zu Tag tiefer getroffen wird, so daß es nahe jener Todesgrenze ist, an der es einst Oesterreich antraf, als dieses das Land von den Türken befreite.
Zum Schluffe nur noch Eines:
„Unsere Zeit" gibt in ehrenhafter
Weise zu, daß „in einem Theil der magyarischen Presse und Gesellschaft eine Anfeindung deS Deutschthums abermals Mode geworden ist".
fügt sie hinzu:
Doch
„die anständige Presse hat an diesen oft knabenhaften,
stets aber muthwilligen und ungerechten Angriffen keinen Antheil;
na
mentlich muß das eigentliche magyarische Volk gegen den Vorwurf des unduldsamen Chauvinismus in Schutz genommen werden".
Hiegegen ist
zu erinnern, daß „die Bedrückung der Sachsen" doch im Parlament und in der Regierung ihren Sitz hat; daß in keinem Theil der magyarischen
Presse, ob sie auf der Seite der Regierung oder einer der oppositionellen Parteien steht, der Sachsen gutes Recht je Schutz, die leidenschaftlich höhnischen Angriffe auf dasselbe je Zurechtweisung gefunden haben; daß endlich die Mißhandlung des deutschen Wesens unter vollständigem Still
schweigen der „magyarischen Presse und Gesellschaft" gegenüber
solcher
Unbill selbst in Kreisen betrieben wird, die gradezu an der Spitze der „Gesellschaft" stehen.
So schreibt Graf Alexander Teleki, Mitglied der Magnaten tafel, in dem zu Klausenburg erscheinenden, regierungsfreundlichen Magyar
Polgar in Nr. 15 vom 20. Januar 1881 wörtlich Folgendes:
„Einen
Feind haben wir, einen Feind, wie es der Hagel der Saat ist, wie der Reif der Melone, der Gurke, dem Kürbisblatt, die Katze der Maus, der
Geier der Taube, die Krätze der Haut, der Grind dem Kopfe, — unser Tyrann, unser Ausbeuter und unser Verwüster, der für uns zugleich Laus,
Wanze und Phyloxera ist; und dieser unser Feind ist der .. . Deutsche!"
Gewiß, man muß um Entschuldigung bitten, solche rohe, unflätige Worte der deutschen Leserwelt vorzulegen, aber es ist um der Wahrheit willen,
und illustrirt in erster Reihe das Geschick auch der Sachsen.
Welch ein
Umschwung der Dinge der Zeit gegenüber, da die Stände der drei Na
tionen in Siebenbürgen,
also auch die Ungarn und Sekler, die Be
stimmung des Leopoldintschen Diploms im 17. Artikel dankbar entgegen
nahmen, daß der commandirende General in Siebenbürgen immer — ein Deutscher (caput germanum) sein solle!
Ein Werk aus Kampfeszeit. Eines der letzten Gesetze auS der Aktionsperiode des sogenannten
Kulturkampfes ist das vom 20. Juni 1875 mit dem Titel „über die Ber-
mSgenSverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden".
Dasselbe greift
tief in daS kirchliche Leben der preußischen Katholiken ein, eS wird, mäßig gerechnet, von 50—60000 Staatsbürgern als kirchlichen Ehrenbeamten
fortwährend angewendet und gelangt doch, merkwürdig genug, äußerst selten
zu einer Besprechung in den öffentlichen Blättern; da liegt eS wohl nahe
in Anwendung des Schillerschen Kriteriums für die beste Frau und das beste Staatswesen dieses Gesetz unter die gelungeneren Akte der Legis latur zu zählen.
Einheitliche Normen zu geben für Berhältntsse, welche
in langen Jahren sich ganz verschieden entwickelt haben, ist immer schwierig, höchst gewagt aber, wenn eS in Zeiten eines schweren Konflikts geschieht;
und doch läßt sich nach fünfjähriger, unter den mißlichsten Umständen be
gonnener
Wirksamkeit
dieses
Gesetzes
sagen:
DaS
Unternehmen
ist
geglückt. Man vergegenwärtige sich die Aufgabe, welche im Frühjahr 1875
unter der leidenschaftlichen Aufregung aller Parteien zu lösen war.
Die
verschiedenartige Gestaltung der kirchlichen Vermögensverwaltung in den verschiedenen Landestheilen war entschieden vom Uebel, daS Allgemeine
Landrecht, welches im größten Theile der Monarchie galt, paßte überhaupt
nicht mehr
für die
jetzigen komplizirten Verhältniffe und die anderen
Rechte, an der Spitze daS linksrheinische, waren nicht geeignet eS zu er setzen.
ES galt eine Form für die Verwaltung des katholischen Kirchen-
vermögenS zu finden, welche in ganz Preußen durchgesührt werden konnte,
den Gemeinden die erwünschte freie Bewegung gab und die nothwendige Aufsicht deS StaatS und der kirchlichen Oberen bestehen ließ.
Die neue
Form durfte nicht prinzipiell bedenklich, nicht so gewählt sein, daß die
Bischöfe mit mehr oder weniger Recht ihre Mitwirkung hätten ablehnen können, und doch lag es in der Natur der Sache, daß die neuen Ein
richtungen in vielen Punkten von den alten abweichen, Staunen erregen
und eine wenig wohlwollende Kritik herausfordern mußten.
DaS Gesetz
war, wie Mintsterial-Dlrektor Förster mit Recht im Abgeordnetenhause sagte, kein Kampfgesetz, aber eS wurde doch von Vielen als solches aufgefaßt und stand im Widerspruch mit den bisherigen Anschauungen, denn eS führte moderne, wir können fast sagen, konstitutionelle Einrichtungen in
die Kirche ein, welche zwar den Parlamentarismus für ihre Zwecke zu
gebrauchen versteht,
in ihren eigenen Angelegenheiten aber als etwas
Fremdes, Antipathisches betrachtet.
In der That waren auch die Bischöfe
Preußens anfangs durchaus nicht geneigt daö Gesetz „anzuerkennen", wie man sich in naiver Ueberhebung auf ultramontaner Seite auszudrücken
beliebt, und nur die Erkenntniß, daß das Gesetz dann ohne sie durchge führt werden, ihr Einfluß auf den nervus rerum also gänzlich verloren
gehen würde, vermochte die geistlichen Oberen schließlich dazu ihre Mit wirkung bei der Ausführung nicht zu versagen
Politisch klug war dieser
Entschluß jedenfalls, denn die Opposition auch auf diesem Gebiete würde daS katholische Volk, namentlich daS Landvolk, das in Eigenthumsfragen
bekanntlich keinen Spaß versteht, der Hierarchie rasch entfremdet haben.
Wenn auch die bisherigen gesetzlichen Verwaltungsnormen, die ge setzlichen Rechte der Aufsicht und der Zustimmung der bischöflichen Be
hörde zu gewissen Handlungen nicht geändert werden sollten, so lag doch in der ganzen Organisation eine gewaltige Veränderung.
Nicht mehr,
wie bisher großentheils, durch Ernennung oder Kooptation sollten die
Verwalter des kirchlichen Vermögens bestellt werden, sondern durch direkte, demokratische Wahl der Gemeinde ohne höhere Bestätigung.
Nach freiem
Ermessen dürfen die neugeschaffenen Organe sich versammeln*), zu ge richtlichen Klagen ist die Ermächtigung der Aufsichtsbehörde nicht mehr
erforderlich.
Sache der Kirchenvorstände ist
eS einem Mitgliede die
Kaflenführung zu übertragen oder einen besonderen Rendanten anzustellen, daS Archiv mit den Geldern und Werthpapieren auf eigene Verantwortung, aber auch nach eigenem Ermessen, unterzubringen; Umlagen auf die Ge
meindeglieder bedürfen zwar der höheren Genehmigung, welche aus wirthschaftlichen
Gründen
oder wegen ihres
gesetzwidrigen Zweckes versagt
werden kann, aber schon seit Jahren steht fest, daß die Versagung der Genehmigung für eine Umlage deßhalb, weil einem Geistlichen das in Folge deS sogenannten SperrgesetzeS entzogene StaatSgehalt daraus ersetzt
werden soll, nicht erfolgen darf.
Anderer Befreiungen nicht zu gedenken
ist die Verwaltung nach dem ganzen Geist des Gesetzes derart in die *) DaS französische Kirchenfabrikdekret vom 30. Dezember 1809 flir die linke Rhein seite hat die seltsame Bestimmung, daß die Kirchenvorstände zu außergewöhnlichen Sitzungen die bischöfliche Ermächtigung bedürfen.
Hände der Gemeinde-Organe gelegt, daß die Aufsichtsbehörden wohl noch
UebleS hindern können, selbstständig Handlungen anzuordnen aber nur
in wenigen Ausnahmefällen befugt sind.
Vornehmlich ist dieß der Fall,
wenn die Gemeinde-Organe sich weigern nothwendige Ausgaben zu leisten, dagegen kann ein Zwang für blos nützliche oder zweckmäßige Aufwendungen
nicht stattfinden, auch darf eine solche Anordnung ebenso wie die zur An
strengung einer Klage nur von der bischöflichen und staatlichen Aufsichts behörde im gegenseitigen Einvernehmen getroffen werden.
Die Staatsaufsicht endlich ist keine allgemeine, sondern auf ganz be stimmte Punkte beschränkt.
Nun kann man wohl fragen, ob so erhebliche Befreiungen zweckmäßig
waren; die Antwort hierauf wird sich aus der Beobachtung der Wirkung deS Gesetzes ergeben, jedenfalls aber war der Schritt ein nothwendiger.
Bei dem Umfange, den die kirchliche Vermögensverwaltung in sehr vielen
Gemeinden mit der Zeit erlangt hat, konnte unabhängigen, ernsten Diännern nicht länger zugemuthet werden sich mit der mühe- und verantwortungs
vollen Thätigkeit eines Verwalters fremden Vermögens ohne Besoldung
zu belasten, wenn ihnen nicht die entsprechende Selbstständigkeit gewährt wurde.
Durchschlagend ist aber, daß die Aufsicht nach dem alten Style
ohne rin Heer bureaukratischer Beamten an den Centralstellen nicht mehr gehandhabt werden konnte, daß bei den alten Ressortverhältnissen die Ge
fahr eines schroffen, autokratischen Hineinregierens in die Gemeinden oder
eines ebenso schädlichen GehenlassenS, einer Scheinaufsicht, ungemein nahe lag; die entweder ungenügende oder unnöthige, also nachtheilige Kontrolle der Oberbehörden mußte daher durch andere Einrichtungen ersetzt werden.
Die
neue Organisation war nicht nur offenbar auf solche Erwä
gungen gegründet, sie beruhte auch auf dem der möglichst freien Selbst verwaltung zugewandten Zuge der Zeit; nicht zwar in dem unS wenig
sympathischen Sinne, welcher womöglich überall debattirende Versamm
lungen mit zungenfertigen Fraktionsführern konstitutren möchte, sondern sie basirt vielmehr auf dem liberalen und dabei echt konservativen Grund sätze die Interessenten selbst zu der nach Möglichkeit selbstständigen Ver
waltung ihrer Angelegenheiten zu berufen und ihnen mit dem Gefühl der
Selbstständigkeit auch das erforderliche Pflichtgefühl zu sichern, indem ihnen die Verantwortlichkeit für ihre Handlungen, die Nothwendigkeit dieselben
zu vertreten, unmittelbar vor Augen gestellt wird.
Diese» Ziel konnte
nur errercht werden, indem einerseits der Gemeinde die freie Wahl ihrer Vertreter gegeben wurde, andererseits aber die Gemeinde selbst in größerem
Umfange als vordem an der gesammten Verwaltung thätigen Antheil er hielt; die ß letztere geschieht — abgesehen von der größeren Mitgliederzahl
des die Verwaltungsgeschäfte führenden „Kirchenvorstandes" — vorzugs weise durch die „Gemeindevertretung", welche (dreimal so stark als der Kirchenvorstand)
bet den wichtigsten Akten sowohl der laufenden
Ver
waltung (Etats, Rechnungswesen) als auch in außerordentlichen Fällen kontrolltrend mitwirkt, indem sie ihre Zustimmung zu den Beschlüssen deö
Kirchenvorstandes ertheilt oder versagt, aber — eine weise Beschränkung — selbst keine Ausführungbefugnisse besitzt.
ES war ein glücklicher Griff deS Gesetzgebers die größere Bethei ligung der Gemeinde nicht durch bloße Verstärkung des eigentlichen Ver waltungsorgans, des Kirchenvorstandes, sondern durch das eben genannte
Kontrollorgan herbeizuführen;
ein
stärkeres Hinaufschrauben
der Mit
gliederzahl deS Kirchenvorstandes würde dieses Kollegium mit einer Zahl unnöthiger, sich selbst als unnöthig fühlender Männer, welche sich bald
daran gewöhnten sich führen zu lassen oder in den Sitzungen durch ihre
Abwesenheit zu glänzen, belastet haben, während zu erwarten war, daß die weniger beschäftigte, kontrollirende Versammlung der Gemeindevertreter
geneigt sein würde einen nützlichen Wissensdurst zu zeigen.
Immerhin
war die Konstruirung zweier neben einander bestehenden Kollegien ein
Wagniß.
Eine ähnliche Einrichtung findet sich in dem Magistrat und
der Stadtverordnetensammlung der Städte in den alten Provinzen, neu
aber war sie für Kirchengemeinden, namentlich für ländliche; das Ver
hältniß des Kirchenraths zu der Kirchmetsterstube auf der linken Rhein seite war ein ganz anderes, die nur in ganz besonderen Ausnahmefällen
berufenen landrechtlichen „Repräsentanten" können mit der jetzigen Ge meindevertretung gar nicht verglichen werden.
Nun war es wohl fraglich,
wie in der Praxis die Dinge gehen würden, zumal in den ländlichen Ge meinden mit einer, gelinde gesagt,
völkerung.
parlamentarisch ungeschulten
Be
Besonders nahe lag die Gefahr, daß zwischen beiden Kollegien
unausgesetzte Konflikte entstehen würden, namentlich daß die Verwaltung
durch Zänkereien, durch Hemmungen Seitens der Gemeindevertretung ge
lähmt werden würde oder daß diese, nachdem sie, vielleicht in Folge unge schickter Führung, des Kampfes müde geworden, sich auf unbedingtes Ja sagen verlegte.
Nun läßt sich nach fünfjähriger Anwendung deö Gesetzes
einigermaßen übersehen, wie die Dinge sich gestaltet haben.
Richtig ist,
daß ab und zu lebhafte Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Körper schaften stattfinden und die Aufsichtsbehörden mitunter in die Lage kommen
den fehlenden Willen deS einen Organs durch ihre Entscheidung zu er
setzen.
Aber äußerst selten tritt der Fall ein, daß, wo die Aufsichtsbe
hörden nicht kompetent sind einzuschreiten,
konstatiren wäre.
ein wirklicher Uebelstand zu
Dagegen kann ein unbefangener Beobachter nicht ver-
kennen, daß die weniger wichtigen Reibungen, die ja ohnedteß unter den Bewohnern kleinerer Ortschaften häufig
sind, ein belebendes Element
bilden, welches im Augenblick dem Einzelnen ärgerlich ist und die Ober
behörde mit mancher lästigen Arbeit behelligen kann, aber die Theilnahme der Gemeinde an der Verwaltung rege erhält.
Sache der Oberbehörde
ist eS in solchen Fällen, auch wenn der Fall einer durchgreifenden Ent scheidung nicht gegeben ist, durch ihren Einfluß die Unebenheiten zu be
seitigen, Mißverständnisse aufzuklären, nicht einschläfernd, aber begütigend zu wirken; mehrfach werden solche Bemühungen mißlingen, wir glauben aber in der Annahme nicht zu irren, daß sie im Großen und Ganzen mit
Glück angestellt werden.
Nicht ausgeschlossen ist ferner, daß Trägheit sich
einschleicht, aber ungemein selten müssen die Träger kirchlicher Ehrenämter an ihre Pflicht zum Besuch der Sitzungen erinnert werden.
Unbequem
ist vielfach für den Kirchenvorstand wie für die Aufsichtsbehörde, daß für manche Geschäfte die Gemeindevertretung
mit ihren relativ zahlreichen
Mitgliedern, welche immer schriftlich einzuladen sind, berufen werden muß,
namentlich in Gemeinden mit zerstreuter Lage z. B. im Gebirge;
auch
fehlt eS mitunter an der nöthigen Zahl geschäftskundiger Männer.
In
dessen ist hier daS Mittel der Abhülfe gegeben, indem, wo das Bedürfniß
wirklich vorliegt, die Zahl der Gemeindevertreter mit Genehmigung des
Ober-Präsidenten herabgesetzt werden kann, die Geschäftskunde bildet sich
mit der Beschäftigung und sichtlich wächst die Routine der Vorsitzenden
die Sitzungen zur geeigneten Zeit anzuberaumen, die Berathungsgegenstände rechtzeitig
auf die Tagesordnung zu bringen.
Wenn nicht ge
leugnet werden kann, daß das Verständniß für rechnungsmäßige Ver waltung, für die ganz vorsichtige, auf Gesetzeskenntniß und wissenschaftlicher Ausbildung beruhende
Sorgfalt
zur Verhütung
jedes Nachtheils
bei
manchen Geschäften z. B. Kapital-Ausleihungen, Bauten und dergleichen, welches der Aufsichtsbehörde beiwohnen muß, den Gemeinde-Organen —
namentlich auf dem platten Lande — mehr oder weniger mangelt, so be sitzen diese dafür die erforderliche Lokal- und Personalkenntniß und nicht
selten eine ganz unschätzbare Erfahrung; daher wird man z. B. von der
Gemeindevertretung eine vollständige, zuverlässige Prüfung der JahreSrechnung nicht leicht erwarten können, wohl aber, sofern nicht persönliche Zu- und Abneigungen sich einmischen, häufig ganz verständige, auf per
sönliche Kenntniß der Dinge gegründete Bemerkungen finden.
So wird
die Kontrolle der Aufsichtsbehörde in wirksamster Weise ergänzt und schon
das Bewußtsein, daß der Nachbar Vieles weiß, was der Centralstelle ver borgen bleiben kann, und daß er aus seinem Amte veranlaßt ist von
diesem seinem Wissen Gebrauch zu machen, ist ein werthvoller Schutz
gegen allerhand Unregelmäßigkeiten.
In der That, die Befreiung von
manchen Schwanken, die stärkere Heranziehung der Gemeinde hat sich be
währt.
Mit über Erwarten richtigem Blicke haben die verschiedenen Or
gane ihre Aufgabe und Stellung erfaßt und sich rasch in die neuen Vor
schriften gefunden. Pfarrhäuser werden
Reges Leben herrscht in der Verwaltung, Kirchen und gebaut,
reparirt,
verschönert,
Fonds für künftige
Bauten, soweit es möglich ist, angesammelt, der Vermögensstand wird verbessert, zahlreiche Stiftungen werden errichtet und mit Befriedigung sehen die Oberbehörden, mit welch' freudigem, warmem Interesse die Ge
meinden ihrer Angelegenheiten sich annehmen.
Triumphirend verkündeten die Redner und Blätter der CentrumSpariei nach den ersten Wahlen 1875, das katholische Volk habe durch
seine im ultramontanen Sinne ausgefallenen Wahlen sich unzweideutig
auf die Seite der Hierarchie oder, vielleicht richtiger gesagt, der Centrums fraktion im Land- und Reichstage gestellt. Mag damals noch nach der politischen Parteirichtung gefragt worden sein, bei den Ersatzwahlen 1878
war dieß jedenfalls nur in viel geringerem Maße der Fall, vielfach aber
sind
ohne
Beachtung der kirchenpolitischen Meinungen an Stelle
un
geeigneter Männer tüchtigere gewählt worden.
Auf ultramontaner Seite glaubte man den Pfarrer durch die Be stimmungen des Gesetzes absichtlich zurückgedrängt, der Macht beraubt, welche seiner Stellung gebührt. wiesen.
Die Erfahrung hat das Gegentheil er
Wohl emanzipiren die Gemeinden sich nach und nach, mitunter
sogar recht rasch, von der unberechtigten geistlichen Gewalt, sie legen sich auch die Frage vor, ob der die Seelsorge ausübende Geistliche — na mentlich ein heißgespornter Kaplan bei vakanter Pfarrstelle — zu dieser
oder jener Maßnahme befugt ist, ob dieselbe nicht vielleicht dem Kirchen
vorstande zukommt, aber verständige Priester,
wahre Hirten ihrer Ge
meinde, üben immer noch den vollen Einfluß aus, der ihnen nach ihrem Amte, ihrer Bildung und Intelligenz zukommt, während andere allerdings
zu der Erkenntniß gelangen müssen, daß der allzu straff gespannte Bogen bricht. Ausnahmen einer unberechtigten politischen Gegnerschaft sind äußerst selten, sie würden noch seltener sein, wenn der Klerus nicht in der zucht
losen ultramontanen Presse,
in den strebsamen Hetzkaplänen sich seine
Geißeln selbst geschaffen und groß gezogen hätte.
Das Gesetz ist nicht vollkommen, jedem irdischen Dinge haften ja Mängel an.
Aber mit voller Sicherheit kann als Ergebniß hingestellt
werden, daß der eingeschlagene Weg im Großen und Ganzen zu einem
glücklichen Resultate geführt hat; da braucht auch nicht verschwiegen zu
werden, daß Unbehülflichkeiten und Mißverständnisse, namentlich Ungeschick
Ein Werk aus KampfeSzeit.
177
In den unerläßlichen Förmlichkeiten, noch mannigfach Hemmnisse bereiten; ist es doch höher gebildeten Staatsbeamten nicht leicht sich in ein ganz neues Organisationsgesetz cinzuleben, wie viel Mühe und guter Wille ge
hört bet Bauern und Kleinbürgern dazu ein solches Gesetz richtig durch
zuführen!
Sache der Aufsichtsbehörden ist eS den Gemeinde-Organen den
besten Weg zu weisen, ihnen zu rathen und über die Schwierigkeiten der Form hinwegzuhelfen; daß das geschieht, ist an den Resultaten zu sehen.
Auf diesem kirchlichen Gebiete arbeiten Behörden und Bürger trotz des Grollens der Fanatiker einträchtig zusammen, auf dem von den Kämpfen
des Kirchenkonflikts durchwühlten Boden ist ein Friedenswerk in eminentem Sinne erwachsen.
Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-
Verstaatlichung*). Von
Fritz Kalle.
Als vor zwei Jahren die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetcnhause
stattfanden, stand allerorts die Eisenbahnverstaatlichungsfrage im Vorder gründe der Erörterung.
In privaten Kreisen wie in den politischen und
wirthschastlichen Vereinigungen wurde sie auf das lebhafteste besprochen
und wahrlich mit Recht, denn noch nie hatte ein Staat eine finanz- und wirthschaftSpolitische Operation von solcher Tragweite unternommen. Die
Preußische Staatsschuld sollte um Milliarden vermehrt, das das wirlhschaftliche Leben der Nation so tief beeinflussende Eisenbahnwesen sollte der Herrschaft der freien Konkurrenz entzogen und dafür durch staatliche Fürsorge geregelt werden.
DaS politische Moment, das in der mit der
Eisenbahnverstaatlichung verknüpften Machtcrweiterung der Regierungs gewalt, durch Vermehrung der vom Staate besoldeten Personen und durch
den verstärkten Einfluß ihrer Verwaltungsorgane lag, trat gegenüber jenen beiden Punkten beinahe in den Hintergrund. Unser früheres Eisenbahnwesen hatte unleugbar seine Schattenseiten,
und das durch die wirthschaftliche Krisis der letzten Jahre enlmuthigte Publikum, wurde durch die Hoffnung auf energische Förderung seiner ma
teriellen Interessen für die Idee der Verstaatlichung gewonnen. Die Privbteisenbahnen, mitleidend unter dem allgemeinen wirthschastlichen Rückgang und dem Druck der Konkurrenz der Staatsbahnen und in der beständigen
Furcht,
durch einen noch stärkeren Druck der Staatsverwaltung ihre
Existenzfähigkeit zu verlieren, drängten selbst zum Verkaufe an den Staat.
Diese Strömung konnte und durfte der praktische Politiker nicht tgnoriren, *) Die Redaction stellt hiermit die wichtige Frage zur DiScusflon, ohne sich alle An sichten des Hrn. Derf. anzueignen. D. R.
sein Bestreben konnte, nachdem sie einmal eine solch überwältigende ge worden, lediglich dahin gehen, Garantien dafür zu schaffen, daß der ge
plante große Schritt nun wirklich auf die Dauer den in Aussicht gestellten Vortheil für das Publikum habe,
indem den Staatsbahnen mehr wie
dies bei Privatbahnen möglich ist, der Charakter von im „öffentlichen Verkehrsinteresse verwalteten Anstalten" gegeben wird, andererseits, die
Staatsfinanzen nicht dadurch erschüttert werden.
Dementsprechend bildeten
denn die sogenannten wirthschaftlichen und finanziellen Garantien bet der Berathung der ersten großen Verstaatlichungsvorlage deS Jahres 1879
im
Abgeordnetcnhause
einen
der
Hauptpunkte der Debatte
und
es
machte die Majorität ihre Zustimmung zu jener Vorlage gradezu ab
hängig von dem Versprechen der Staatsregierung, eine Reihe bezüglicher Forderungen in kürzester Frist zu erfüllen.
Wie kommt es nun, daß die
von der Staatsregiernng im engsten Anschluß an die Forderungen des Abgeordnetenhauses ausgcarbeitcten Gesetzentwürfe über die Einsetzung von
Eisenbahnräthen und die Verwendung der Jahresüberschüsse der Ver waltung der Eisenbahnangelcgenheiten, unerledigt liegen blieben?
erklärt sich diese Jnconsequenz?
Wie
Ich will eS versuchen, diese Frage, so
weit eS sich uni die sogenannten finanziellen Garantien handelt, zu beant
worten,
hoffend damit
einen kleinen Anstoß zur Wiederaufnahme der
meines Erachtens sehr zu Unrecht in's Stocken gekommenen wichtigen An gelegenheit zu geben.
AIS der Gesetzentwurf betreffend den Ankauf der Berlin-Stettiner,
Magdeburg-Halberstädter, Hannover-Altenbeckener und Cöln-Mindener Bahn in den Tagen vom 11. bis 13. November 1879 im Abgeordneten hause zur ersten Lesung stand, da sagte der Abgeordnete von Rauchhaupt
als Wortführer der konservativen Partei:
„Die 2. Klausel,
welche wir erstreben, beabsichtigt unsere
Tinanzverwaltung vor bedenklichen Schwankungen zu bewahren und eine Amortisation und Verzinsung deS in den Staatseisen bahnen künftig steckenden großen Kapitals zu sichern.
ES könnte
dies durch Bildung eines besonderen Eisenbahnfonds geschehen, der nicht bloß die Aufgabe hat, sich in sich zu amortisiren und zu verzinsen, sondern auch gleichzeitig einen Reservefond für mög liche Ausfälle zu schaffen."
Und der Abgeordnete Dr. Miquöl wieS auf die Einrichtung hin, wie sie in Haunover durch das Gesetz vom 4. Mai 1843 gebildet worden
war, imb welche in der vollständigen finanziellen Loslösung der Eisenbahn
verwaltung von der übrigen Staatsverwaltung durch Errichtung einer be sonderen Eisenbahnkaffe mit sehr weit gehenden Verpflichtungen der RePnußisch« Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 2.
13
180
Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.
servenbildung und Tilgung der aufgenommenen Eisenbahnanleihen bestand.
Diese beiden im Wesentlichen übereinstimmenden Vorschläge*), deren Haupt gedanke also die Ausscheidung des EisenbahnetatS aus dem Staatshaus
hallsetat war, wurde damals weder vom Minister der öffentlichen 2lr-
beiten noch vom Finanzminister bekämpft und auch aus dem Hause trat ihnen Niemand entgegen als der Abgeordnete Richter (Hagen), der da
meinte,
„daß eS nun einmal nicht möglich fei, innerhalb deS politischen StaatS einen besonderen Eisenbahnstaat zu konstrutren", daß die obligatorische Schuldentilgung aufgehoben werde, sobald die all gemeine Finanzlage deS StaatS eine ungünstige werde, daß die ange
sammelten Fonds in Zeiten der Noth, besonders bei einem Kriege, vom Staate in Anspruch genommen würden.
Was würde Herr Richter zu
der Logik eines Privatmanns sagen, der seine ganze Einnahme aufzehrt
*) Denselben Standpunkt hatte ich in einem kurz vor den betreffenden Verhandlungen in der „ Nationalzeitung" veröffentlichten Artikel vertreten, indem ich schrieb: „Wenn sich in den beiden vorgeschlagenen Maßnahmen die nöthige Garantie dafür finden würde, daß die Bahnen wirklich in einer den öffentlichen BerkehrSinteressen entsprechenden Weise verwaltet werden, so bliebe, nachdem diesem Verlangen Rech nung getragen ist, als zweite Forderung die Sicherstellung der Finanz wirthschaft des StaatS und andererseits des Budgetrechts. ES ist un leugbar, daß in unserm StaatShauShaltsetat schon jetzt die Betriebsverwaltungen eine die Stetigkeit in hohem Grade gefährdende Rolle spielen, schwanken doch dre Ueberschüffe allein der Bergwerksverwaltung innerhalb des letzten Dezenniums nm etwa 50 Millionen Mark. Bei den preußischen Staatsbahnen haben in demselben Zeitraume die Ueberschüffe variirt um zwei Prozent des Anlagekapitals und dabei lag noch zwischen den guten und schlechten Jahren eine bedeutende Tariferhöhung, daS würde aber, wenn man letzteres, nach Uebergang aller Privatbahnen an den Staat, nur zu 5 Milliarden anschlägt — viel zu niedrig — eine Differenz von 100 Millionen ausmachen. Denjenigen, welche die Exemplifizirung auf die Ver hältnisse der letzten Zeit bestreiten möchten mit der oft gehörten Behauptung, die Periode seit 1870 sei eine abnorme, denen gebe ich zu bedenken, daß die durch immer noch weiter gehende ArbeitStheilung, durch Maschinenbetrieb rc. noch in der Zunahme begriffene quantitative Leistungsfähigkeit der Industrie, der mehr und mehr sich entwickelnde spekulative Zwischenhandel, die Verbesserung deS Verkehrs wesens selbst, lauter Momente sind, welche uns, wenigstens noch auf absehbare Zeit hinaus, eher mit einer Zunahme der wirthschaftlichen Krisen bedrohen. Führte nun schon jetzt der nach 1873 eingetretene wirtschaftliche Rückgang zu einer feit zwei Jahren recht bedenklich in die Erscheinung tretenden Unterbilanz in unserm Staatshaushalt, indem die glänzenden BetriebSüberschüffe des Anfangs der siebenziger Jahre zu einer Ueberschätzung der Leistungsfähigkeit deS Staatssäckels veranlaßten, was wird erst werden, wenn die Eisenbahnverwaltung die geplante Ausdehnung gewonnen hat? Ich glaube, daß wir unS jetzt zu einer radikalen Kur entschließen müssen, wir behandeln den Eisenbahn-Etat für sich, die sich ergebenden UeberschÜsse stellen wir nicht in das allgemeine Staatsbudget ein, sondern verwenden sie in erster Linie z^ur Verzin sung und Amortisirung (soweit letztere nöthig ist) der Staatsschuld, der Rest wrrd zur Bildung eines Reservefonds benutzt, indem ein entsprechender Betrag von StaatSschuldverschrelbungen angekauft wird, die dann zur Deckung deS in ungünstigen Jahren entstehenden Defizits be nutzt werden."
ihm Ersparnisse gestohlen werden könnten?
lediglich aus Furcht, daß
Ich glaube kaum, daß er ihr beistimmen würde, und doch wäre sie, auf
daS tägliche Leben angewandt, die seine.
Ich gebe ja zu, daß sich die
gesetzgebenden Faktoren mitunter dazu Hinreißen lassen können, Fehler zu
begehen, wie der Abgeordnete Richter sie im Hinblick auf frühere Vor kommnisse befürchtet, sollen wir aber, weil diese Möglichkeit vorltegt,
gleich selbst die Fehler machen?
Uebrigenö ist auch zu hoffen, daß die
wirthschaftliche Einsicht mit der Zeit so
stark wird, daß dadurch die
Wiederkehr ähnlicher Irrthümer wie wir sie früher erlebt haben,
ver
mieden wird, und wenn dies auch nicht der Fall sein sollte, haben wir
nicht bis ein solcher Mißgriff erfolgt — und das kann ja recht lange dauern — ein Stück Arbeit geleistet, daS uns nicht mehr verloren gehen
kann?
Und was kann denn schließlich in dem von Herrn Richter vorge
sehenen Fall überhaupt verloren werden?
Der aus den Jahresüber
schüssen zur Amortisation bestimmte Betrag wird entweder — das wird aber sobald nicht vorkommen —, zum Ankäufe von alten eigenen Obliga
tionen benutzt, welche dann in der Regel wohl vernichtet werden dürften, oder er wird — und das wird voraussichtlich noch während einer langen Reihe von Jahren die Regel bilden — wieder als
Kapital in neuen
Bahnbauten angelegt, oder er kann endlich, wenn der Staat als solcher zur Zeit Anleihen aufzunehmen genöthigt ist, zur Uebernahme eines ent sprechenden Theils derselben verwandt werden.
Bei den beiden zuletzt
genannten Arten der Anlegung kann eine Ausfertigung von Obligationen,
wie die für den Verkauf auf dem Markt bestimmten, unterbleiben, eine
einfache Buchung genügt.
Daß diese Modalitäten, bei welchen jede un-
nöthige Beunruhigung des Effektenmarktes und kostspielige ObligationenRückkäufe vermieden werden, so lange die aufgenommenen Anleihen nicht
zu einer Beeinträchtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit der Eisenbahn verwaltung resp. deS Staats führen, im Erfolge dem gleichkommen, was
man gewöhnlich unter Amortisation versteht, bedarf wohl keines beson
deren Nachweises.
Aehnlich wird denn auch der Reservefonds gebildet, nur mit dem Unterschiede, daß hier bei Uebernahme von Anleihebeträgen jedesmal die
Auslieferung der Summe in verkäuflichen Obligationen stattfinden muß,
und daß diese ebenso wie die freihändig zurückgekauften älteren Obliga
tionen, aufbewahrt werden.
DaS einzige, was sich für den Staat deS
Wegnehmens lohnt, wäre demnach die noch nicht angelegte, noch in baarem Gelde in der Cisenbahnkaffe befindliche Summe, während Amortisations und Reservefond auch den begehrlichsten Finanzminister kaum reizen können,
denn der erstere von ihnen besteht zum großen Theil nur in BuchungS13*
182
Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.
posten und ble vorhandenen Effekten können nur auf Grund eines beson deren Gesetzes annektirt werden.
Muß man aber so wie so ein Gesetz
erlassen, so thut man doch besser, sich gleich die Ermächtigung zur Auf nahme einer Anleihe in der dem Bedürfnisse entsprechenden vollen Höhe ertheilen zu lassen.
käuflich sein,
Die neuen Obligationen werden grade so gut ver-
als die alten aus den beiden genannten Fonds und die
Mehrkosten für Papier und Druck fallen doch wahrlich nicht in'S Gewicht. Wenn Herr Richter ferner sagt:
„Sie bringen den Staat in die Lage, nach der Verschiedenheit der AmortisationSperioden eine große Vielheit von Papieren zu
schaffen und dadurch den Kreditmarkt sich weniger gut zu ge
stalten"
so faßt er die "bei Eisenbahnverwaltung aufzulegenbe Amortisationsver pflichtung als eine solche auf, wie sie die Staaten in ber Regel bei Auf nahme von Anleihen, ihren Gläubigern, ben Obligationenbesitzern gegen über eingehen.
Die Staatcn können daS, weil sie sich stützen auf bie
Steuerkraft ber Bevölkerung, bie sie im Nothfalle, behufs Deckung ber Verpflichtungen aus ben Anleihen mehr anspannen; nicht so bie Ver
waltung eines wirthschaftlichen Unternehmens wie ble Eisenbahnen eS sind. Hier kann und darf eine Verpflichtung regelmäßiger Tilgung gegenüber dem Obligationenbesitzer überhaupt nicht übernommen werden, obligatorisch kann die Amortisation nur Insofern sein, als bie Eisenbahnverwaltung
gezwungen wird, etwaige Ueberschüsse, sei eS ganz, fei es theilweise unb innerhalb gewisser Grenzen, zur Tilgung zu verwenden.
Ist aber bie
Uebernahme einer Amortisationsverpflichtung gegenüber ben Obligationen» Inhabern von vorn herein ausgeschlossen, so hat eS auch keinen Sinn,
von „einer großen Vielheit von Papieren" zu teben. So unhaltbar demnach die von Herrn Richter gegen den Gedanken der Selbständigmachung des Eisenbahnetats erhobenen Einwände waren,
so sind sie doch bei den wetteren Verhandlungen wiederholt in'S Gefecht
geführt worden und haben das ihrige zur Verschleppung der gesetzlichen
Regelung der Angelegenheit beigetragen. schleppung sind sie aber nicht.
Der Hauptgrund für diese Ver
Der liegt darin, daß man sich, je länger,
je mehr von dem ursprünglichen Grundgedanken „vollständige finanzielle
Loslösung der Eisenbahnverwaltung von der übrigen Staatsverwaltung", abdrängen ließ, daß man statt an diesem allein richtigen Principe festzu halten, sich auf Compromiffe einließ, die schließlich zu einer Niemand be friedigenden Halbheit führten.
Daß Herr Bitter, als Leiter der StaatSsinanzen dafür
eintrat,
daß letztere nicht durch die Verstaatlichung der Eisenbahnen leiden, wird
ihm Niemand verübeln, damit that er nur seine Pflicht als Ressort
minister.
ES wäre Nichts dagegen einzuwenden gewesen, wenn er, nach
dem in der betreffenden Kommission der Antrag gestellt worden war, die Eisentahnverwaltung solle die Verzinsung der gesammten Staatsschuld, wie sie sich nach dem Etat am 1. April 1880 stellte, übernehmen, seiner
seits verlangt hätte, daß die Verpflichtung der Eisenbahnverwaltung auch
ausgedehnt werde auf die auf jener Schuld lastenden TilgungSverLtnd-
lichkeiten.
Ein solches im Princip berechtigtes Verlangen, hätte weder die
Eisenbahnkommission noch die Volksvertretung ganz ablehnen können, so
bald sich die für die praktische Durchführung nöthigen Cautelen in daS
Gesetz bringen ließen und letzteres war leicht zu machen.
Damit wäre
ein klares Verhältniß zwischen Eisenbahn- und StaatShauShaltS-Rechnung
geschaffen.
DaS Staatsbudget wäre günstiger wie vor den großen Eisen
bahnankäufen gestellt und den zukünftigen Schwankungen des Eisenbahnetatö ein für allemal entrückt worden.
Statt dessen war aber daS Streben
des Finanzministers fortwährend darauf gerichtet, sich oder vielmehr dem allgemeinen Staatshaushalt für die Zukunft den Mitgenuß etwaiger Ueberschüsse der Eiscnbahnverwaltung zu sichern; daß er sich dabei stützte auf die
zeitige ungünstige Lage der Staatsfinanzen, machte einen gewissen Eindruck,
und so drang er schließlich durch und durchbrach damit daS ganze Princip. Die von der Eisenbahnkommission dem Abgeordnetenhause vorgeschlagenen Resolutionen stellten die Selbständigurachung des Eisenbahnetats nicht mehr
als leitenden Grundsatz voran und verloren damit den festen Kern. Und als dann bei der Berathung dieser Resolutionen durch daS Plenum, der
Abgeordnete Richter einer derartigen Selbständigmachung der Eisenbahn verwaltung gradezu entgegentrat und sie für gefährlich erklärte, da erging
eS dem Abgeordneten Dr. Miquöl wie dem Apostel Petrus, er verleugnete die Shmpathie für die früheren Hannoverschen Einrichtungen und betonte
ausdrücklich, daß die Resolutionen durchaus nicht die Bildung einer be sonderen Eisenbahnkaffe bezweckten.
Nachdem auf diese Weise das führende Princip gefallen war, hatte
der Bau sein festes Gefüge verloren und zerbröckelte leicht unter dem
Anprall von rechts und links. Die Berathung des sich, wie gesagt, eng an die Resolutionen an
schließenden Gesetzentwurfs in der Budget-Kommission, führte abermals zu einer bedeutenden Schwächung des ersten Plans, indem die Reserve
fondsbildung aufgegeben wurde, so daß nun nur noch eine traurige Ruine übrigblieb,. für die sich Niemand mehr ernstlich interessiren mochte.
Nach
der Gestalt, die der Gesetzentwurf jetzt angenommen hat, würde, sobald die Eisenbahnverwaltung mehr Ueberschuß aufbringt als nöthig ist, um
184
Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Derstaallichung.
die Eisenbahnkapitalschuld zu verzinsen und mit 3/4 % zu tilgen, der Rest zur Verfügung des allgemeinen Staatshaushalts stehen.
Daß, wenn die
Eisenbahnüberschüsse einmal nicht zur Zinsendeckung genügen sollten, um
gekehrt daS Defizit aus der Staatskasse gedeckt werden muß,
steht zwar
nicht im Gesetz, ergiebt sich aber als natürliche Consequenz seines Inhalts.
Der Zweck deö Gesetzes, die Staatsfinanzen zu schützen vor den Schwan
kungen in den Ueberschüssen der immer ausgedehnter werdenden StaatSbahnverwaltung, wird daher in keiner Weise erreicht, man kann daher nur
damit einverstanden sein,
daß nicht durch Annahme des Vorschlags der
Budgetkommission eine die spätere zweckentsprechende Regelung erschwerende gesetzliche Feststellung stattgefunden hat.
Die Frage ist jetzt wieder eine
offene und eS läßt sich hoffen, daß erneute Erwägungen zu einer iefricdtgenden Lösung führen werden. Wie ich mir die Lösung denke, will ich hier kurz andeuten, rorher
aber sei eS mir gestattet, nochmals die Momente hervorzuheben, welche eine solche Lösung als unabweiSlich erscheinen lassen.
Im Jahre 1854 betrug die Verzinsung des im StaatSeisenbahnnetze angelegten Kapitals noch nicht 2 */2 % und 1858 wurden zum erster male die Zinsen herauSgewirthschaftet, indein bei 201 Millionen Mark Kapital
10,1 Millionen Mark Ueberschuß (d. h. lediglich Betriebsüberschuß, ohne Rücksicht auf die Ausgaben für die Centralverwaltung, Zinsgarantien rc.)
erzielt wurden; im Jahre 1862 betrug der Ueberschuß bei 268 Mill. M. Kapital 6,54% von letzterem 321 1865 6,76 ff tt 372 6,20 1867 it 721 6,00 1869 ff 6,38 786 1871 tt tt 6,28 802 1872 H H 5,12 906 ,, f. 1873 972 3,75 1874 tt 1041 4,91 1« 1875 f, ff 5,18 - 1130 1876 1196 5,01 1877/78 ■* tt ,, 1280 4,52 1878/79 ff 1480 4,30 1879/80 ff ,, ff u
AuS dieser Zusammenstellung ersieht man, daß die Ueberschüste von 1871 bis 1874 von 6,38% auf 3,75%, also um 2,63% sanken, das
würde aber bei dem heute in den Staatsbahnen steckenden Kapitale von etwa 3 % Milliarden nicht weniger als 85 % Millionen ausmachen, d. h.
über die Hälfte deS GesammtaufbringenS der direkten Staatssteuern
Er
wägt man mm, daß auch der Bergwerks- und Forstetat Ueberschußdiffe'enzen
von 50 (10 bis 60), beziehungsweise 10 (20 bis 30) Millionen auf weisen und daß die schlechten Perioden dieser verschiedenen Etats sehr wohl zusammenfallen können, so ist wohl (auch davon abgesehen, daß das
Eiseitbahukapital mit der Zeit noch bedeutend wachsen wird) ohne Weiteres klar, daß, wenn man nicht für Abhülfe sorgt, die Aufstellung eines auch
nur einigen Anhalt gewährenden Staatshaushaltsetats gradezu unmöglich
wird, daß man in günstigen Perioden für die StaatSindustrie ungeheure
Ueberschüsse machen und dadurch nicht nur zu unnöthigen extraordinären,
sondern auch zu
Erhöhungen der laufenden Ausgaben verführt wird,
während bei Eintritt des Rückschlags dann die Einnahmen noch hinter
den laufenden Ausgaben zurückbleiben, daß mit einem Worte die in den letzten Jahren hcrvorgetretcne traurige Nothwendigkeit, laufende Ausgaben
auS Anleihen zu decken, sich in kurzen Perioden in noch viel höherem Nlaße geltend machen wird wie bisher, so daß unsere einst so berühmte
Finanzwirthschaft und der damit zusammenhängende Kredit deS Preußi schen StaatS in die ernsteste Gefahr kommen. Daß Staatskredit, wirthschaftliche Wohlfahrt und Macht der Nation
innig Zusammenhängen, brauche ich wohl micht deS weiteren auseinander-
zusetzcn,
ebensowenig, daß der Staat Preußen mehr wie jeder andere
Europäische Großstaat Ursache hat, mit aller Energie dafür zu sorgen,
daß er den mühsam erkämpften Standpunkt nach allen Seiten behaupte, ich glaube, daß ein Hinweis auf diese Verhältnisse genügt, um den Satz
zu rechtfertigen, daß es heilige Pflicht von Regierung und Volks vertretung
ist,
die
zum
Schutze
unserer
Finanzwirthschaft
nöthigen Maßregeln zu ergreifen, insbesondere also, alsbald
die völlige finanzielle Loslösung der Eisenbahnverwaltung von der übrigen Staatsverwaltung zu bewirken.
Den Ausgleich
der Ueberschußdifferenzen der übrigen Betriebsverwaltungen wird man dann auch baldmöglichst herbeizuführen suchen müssen und zwar am besten, zum
Theil wenigstens, durch Quotierung der Personalsteuern. Die „alsbaldige" Loslösung des Eisenbahnetats ist nöthig, weil es nach den
bereits
in die Oeffentlichkeit gedrungenen Nachrichten höchst
wahrscheinlich ist, daß die Eisenbahnverwaltung schon im laufenden Jahre so bedeutende Ueberschüsse bringen wird, daß schon jetzt nicht nur die Ver zinsung der ganzen Eisenbahnschuld
und
die
bereits darauf ruhenden
Amortisationsverpflichtungen daraus gedeckt, sondern daß außerdem ein nicht unbeträchtlicher Betrag zur Reservefondbildung benutzt werden kann,
und die Gefahr nahe liegt, daß ein solcher Ueberschuß zu seinen Zwecken
fremden Dingen gemißbraucht und dadurch nicht nur momentan, sondern
selbst auf die Dauer verhängnißvolle Fehler gemacht werden könnten.
186
Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn^Derstaatlichung.
Man kann nicht oft genug wiederholen, daß der Zweck des entschie
deneren UebergangS zum Staatsbahnsystem nicht der sein kann, Ueberschüsse in die Staatskasse abzuliefern, sondern der, die Volkswirthschaft zu fördern, durch eine ihren Interessen mehr entsprechende Verwaltung der
Bahnen, insbesondere also durch eine rationelle, billige Tarifirung und durch den zweckentsprechenden Ausbau des bestehenden Netzes.
Dagegen
ist es umgekehrt gerechtfertigt, daß die Staatskasse, welche den Vortheil
der durch neue Bahnen gesteigerten Steuerfähigkeit der Bevölkerung ge nießt, für solche Anlagen ihrerseits Opfer- bringt.
Man wird niemals
aus dem Dilemma herauskommen, wenn man nicht die Staatsbahnen in sofern als industrielles Unternehmen behandelt, als man ihnen die Auf gabe auferlegte, sich mindestens selbst zu erhalten.
Daraus folgt dann,
daß der Eisenbahnverwaltung als solcher nicht zugemuthet werden darf, in größerem Maße Neubauten vorzunehmen, welche sich nicht, sei es
direkt, sei eS indirekt rentiren*), eS muß vielmehr, wenn das allgemeine StaatSinteresse solche Anlagen erfordert, der Staat daS Defizit decken,
indem er einen entsprechenden Zuschuß ä fonds perdus leistet.
Daß eine
vorherige Schätzung der Rentabilität, ebenso wie die Bemessung des all gemeinen StaatSintcresseS nicht leicht ist und stets mehr arbiträr bleiben wird, ist nicht zu leugnen.
oder weniger
Meinungsdifferenzen zwischen
Eisenbahn- und Ftnanzmintster und innerhalb des Parlaments werden daher unvermeidlich fein.
Jedenfalls sind die hieraus möglicherweise ent
stehenden Konflikte aber verschwindend gegenüber denjenigen, welche ent
stehen müssen, wenn die Eisenbahnverwaltung aus dem großen Staats säckel wirthschaftet, und die Lage der Regierung gegenüber unvernünftigen Anforderungen an die Etsenbahnverwaltung,
wird durch eine derartige
Stellung der letzteren entschieden erleichtert. Die Forderung der finanziellen Loslösung der Eisenbahnverwaltung ist im Interesse der Gesundheit der Staatsfinanzen unabwendbar,
un
lösbar damit verknüpft ist aber die weitere Forderung, daß die Eisen
bahnverwaltung sich selbst erhalte; da nun aber ihre Reinerträge erfah rungsmäßig in Folge des wechselnden Verkehrs, der Veränderungen in
den Preisen von Material, Arbeitslohn rc., schwankend sind, so ist die Bildung eines Rerservefonds conditio sine qua non des ganzen Plans.
Die Bestimmung der diesem Fonds zu gebenden Höhe ist allerdings nicht ganz leicht und wird stets mehr oder weniger arbiträr bleiben, da *) Uebrigen« glaube ich nicht, daß man aus die Dauer an dem Prinzip überall gleicher Tarife wird festhalten können; bei neuen Anlagen wird man sich meines Erachtens das Recht zu festen Tarifzuschlagen, welche erst mit sich günstiger ge staltenden BekriebSresultateu ermäßigt werden, Vorbehalten müssen.
es aber kaum schadet, wenn man zu hoch greift, wohl aber wenn man hinter dem möglicherweise entstehenden Bedürfnisse zurückbleibt, so wird
man gut thun, nicht unter 4% des ganzen in den Eisenbahnen steckenden
Kapitals zu gehen.
Nach obiger Zusammenstellung wäre ja wohl ein so
großer Fonds nicht grade nöthig, denn seit 1858 wurden nur in zwei Jahren — 1874 und 1879/80 — die zur Verzinsung des EisenbahnKapitals erforderlichen Ueberschüsse nicht aufgebracht, man möge aber er
wägen, erstens daß dort, wie bereits erwähnt, mehrere zukünftig in Rech nung zu stellende Ausgaben fehlen, zweitens, daß im Jahre 1874, mit Rücksicht auf den Rückgang
der Ueberschüsse eine beträchtliche Tarifer
höhung durchgeführt wurde, ein Experiment dessen Wiederholung jeden
falls vermieden werden muß. Daß man den Reservefonds
ans nur 1 % des Eisenbahnkapitals
limitiren wollte, war ein großer Fehler und die Gegner hatten nicht Un
recht, wenn sie deduzirten: da dieser Fonds doch bei der ersten etwas längeren ungünstigen Periode nicht genügt, kann man ihn auch
ganz
streichen.
Wie der Reservefonds
zri bilden ist, habe ich bereits angedeutet;
werden zur Zeit, zu der die Anlegung des UeberfchuffeS erfolgt, keine An
leihen von Seiten der Eisenbahnverwaltung oder des StaatS ausgenommen,
von denen man einen entsprechenden Obligationenbetrag in den Reserve fonds legen kann, so kauft man auf dem offenen Markt.
Auf Einwände einzugehen, tote der, ein auS Schuldtiteln deS StaatS
gebildeter Reservefonds habe nur einen
„eingebildeten" Werth,
erläßt
man mir wohl, ich bestreite ja auch nicht den zum geflügelten Wort ge
wordenen Satz, daß Gold nur Chimäre ist!
Und ebenso wenig ernst
kann ich eS nehmen, wenn man behauptet, der Reservefonds werde zur Verschwendung führen, oder wenn man ihn um deswillen bekämpft, weil
dadurch die Selbständigkeit der Eisenbahnverwaltung gegenüber der Volks
vertretung gestärkt werde; will man sich einem solchen Gedankengang an schließen, so kommt man zu dem Resultate, daß die Stärkung der Macht
deS Parlaments einen mit Defizits arbeitenden Staatshaushalt erheischt,
daß also zwischen Macht der Volksvertretung und gesunden Staatsfinanzen
Gegensätzlichkeit besteht. Die zweite finanzielle Aufgabe, welche der Eisenbahnverwaltung zu
fällt, ist die Amortisation deS Eisenbahnkapitalö.
Thatsache, daß alle Nachbarstaaten bei Ertheilung
ES ist eine bekannte
von Eisenbahncon
cessionen an Private den Vorbehalt machen, daß die Bahn (excl. Be
triebsmittel und sonstigen mobilen Zubehörs, welche bezahlt werden müfien) nach einer gewissen Reihe von Jahren kostenfrei an den Staat fällt. In
188 Frankreich
Die fiiiaiijictten Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.
erfolgt
dieser Anfall in
99
Jahren,
in Oesterreich nach
höchstens 90 Jahren, in Belgien nach 90 Jahren, In Rußland durch schnittlich nach 70 bis 85 Jahren.
(In Rußland wird selbst das Be
triebsmaterial bei der Uebernahme durch vollen Werth bezahlt.)
den Staat nicht nach seinem
In Preußen machte
man dagegen den großen
Fehler, auf ein solches Anfallrecht zu verzichten und wir kämen also gegen über unsern Nachbarn wirthschaftlich in die übelste Lage, wenn wir nicht
dafür sorgten, daß auch wir in 60—65 Jahren unsere Eisenbahnschuldcn so weit abgetragen hätten, daß wir in der Tarifirung mit ihnen konkurriren können.
Wie letztere von der Höhe des zu verzinsenden Kapitals
abhängt, geht daraus hervor, daß unter Zugrundelegung der Zahlen der Rechnungen dcS Staatöbahnverwaltung in den letzten Jahren, wonach die
Ausgaben zwischen 62 und 63% der Einnahmen, und die Einnahmen speciell auS dem Güterverkehr etwa 64% der Gesammteinnahmen aus machten, eine Reducirung der Verzinsung des in den Eisenbahnen steckenden
Kapitals um 2 %, eine Ermäßigung der Gütertarife um ein volles Viertel erlauben würde; was das aber für eine ganze Reihe von Artikeln be
sagen will, brauche ich nicht auSeinanderzusetzen, und man wird mir auch
ohne weiteren zahlenmäßigen Nachweis glauben, wenn ich sage, daß un
sere Landwirthschaft, unsere Industrie und unser Handel und gleichzeitig natürlich
unsere Eisenbahnverwaltung selbst,
auf das schwerste bedroht
tvären, wenn unsere Nachbarstaaten über Eisenbahnnetze verfügten, deren
Anlegekapital per Km. nur % so groß ist wie daS unsere.
Diese Gefahr ist
so groß, daß eS eine unqualifizirbare Kurzsichtigkeit wäre, nicht mit der
größten Energie und allen Mitteln dafür zu sorgen, daß die Amortisation
der Eisenbahnschuld in dem mit Rücksicht auf die Verhältnisse der Nach
barstaaten gebotenen Maße erfolge.
So lange die Erreichung dieses Zieles
nicht gesichert ist, müssen wir sogar meines Erachtens auf allgemeine
Tarifredukttonen verzichten und uns nur
schränken.
auf daS Allerdringlichste be
Trotz der für den Staat günstigen Klausel in den ConcessionS-
urkunden der Privatbahngesellschaften sind doch mehrere Nachbarstaaten in
größeren Umfange nicht nur zum Ausbau der bestehenden Bahnnetze
auf Staatskosten, sondern sogar zum Ankäufe von Privatbahnen über gegangen, lind zwar meist auf Andrängen des verkehrtreibenden Publikums, dessen Interessen von den Eisenbahngesellschaften nicht in befriedigender
Weise Rechnung getragen worden war.
In je größerem Umfange ein
solcher Uebergang zum Staatsbahnshstem stattfindet und je weniger die
konkurrirenden Staaten auf eine rasche Amortisation deS betreffenden Ka
pitals bedacht sind, desto mehr gewinnen wir allerdings mit der Tilgung freie Hand, wie die Verhältnisse aber jetzt liegen, müssen wir, um sicher
zu gehen, dahin streben, die jetzige Eisenbahnschuld (b. h. etwa 3’4 Mil liarden) vom 1. April 1880 ab, für weitere Bahnbauten aufgenommene Kapitalien, vom Tage der Aufnahme ab, innerhalb längstens 65 Jahren,
bis auf löchstenS ’4 zu tilgen, was eine jährliche Tilgung von etwa 1,16 %
des ursprünglichen Kapitals erfordern würde. Die Staatseisenbahnschuld wird, wenn einmal die verstaatlichten
Bahnen in das Eigenthum des StaatcS übergcgangen und für die ganze Prioritälsschuld 4% Eonsols ausgegeben sind, etwa 4'/4 % zu ihrer Ver zinsung bedürfen.
Um die verlangte Amortisation in 65 Jahren zu er
möglichen müßten demnach im Durchschnitt beinah 5 '/3 % Ueberschuß hcr-
auSgewirthschaftet werden.
Nach obiger Zusammenstellung der Uebcrschüsse
wurden nun wohl in den 60gcr und im Anfang der 70ger Jahre über
6 % erzielt, allein bei jenen Berechnungen sind, wie bereits erwähnt, nur Betriebs-Einnahmen und -Ausgaben einander gegcnübergestellt, währeild
in Zukunft die Gesammt-Einnahmcn und Ausgaben der „Verwaltung der Eiscnbahnangclcgcnheiten" bei der Ueberschußberechnung zu Grunde gelegt und zudem die Ausgaben noch um die Beträge der Pensionen für Eisen
bahnbeamte und um die zu wenig für Erneuerung der Bahnkörper und der Betriebsmittel angcsetzten Summen vermehrt werden müßten.
Thut
inan dies aber, so wird eS schon einer außerordentlich tüchtigen Leitung
der Eisenbahnverwaltung und nicht allzu ungünstiger politischer und wirthschaftlichrr Verhältnisse bedürfen, um im Durchschnitt auf 5 ’/2 % Rente
zu kommen. Fasse ich meine Ansichten über die leitenden Gedanken des zu er lassenden Garantiegesetzes in wenigen Sätzen zusammen, so würden diese
also lauten:
Die
Verwaltung
der
Eisenbahnangelegenheiten
wird finanziell selbständig (natürlich
auch in Bezug
auf die Ausgaben deS ExtraordinariumS) unter fol
genden Bedingungen: 1.
Sie übernimmt als Eisenbahnkapitalschuld die gesammte Staats
schuld wie sie sich 1. April 1880 stellt, mit den darauf lastenden Verzinsungs- und Tilgungs-Verpflichtungen, ebenso die nach dem 1. April 1880
auf Grund von laufenden oder noch zu bewilligenden Eisenbahn-Crediten
verausgabten Obligationen-Beträge, wie auch die aus der Verstaatlichung von Privatbahnen erwachsenen Schuldverpflichtungen.
2.
Der nach Abzug der gesetz- resp, vertragsmäßig zu zahlenden
Zinsen, Renten und Amortisationen verbleibende Jahresüberschuß, wird
in erster Linie verwandt, zur Ansammlung eines Reservefonds in Höhe von 4% des gejammten
für die Eisenbahnen
aufgewandten Kapitals.
Die finanziellen Garantien bei der Eisenbahn-Verstaatlichung.
190
Der Reservefond wird gebildet aus freihändig zurückgekauften, oder falls
gleichzeitig Anleihen von Seiten der Eisenbahnverwaltung oder des StaatS aufgelegt werden, auS Obligationen der letzteren.
3.
Der nach Erfüllung der sub 1 und 2 genannten Bedingungen
verbleibende Ueberfchußrest
wird zur weiteren Tilgung
der Eisenbahn
kapitalschuld verwandt, indem er, falls die Eisenbahnverwaltung oder der Staat zur Zeit Anleihen aufnehmen, zur Uebernahme eines entsprechenden Betrags derselben, wenn dies nicht der Fall ist, zum freihändigen Rück kauf von eigenen Obligationen auf dem Effektenmarkt benutzt wird.
Russische Aussichten. (Politische C o rr e sp o nd enz.)
Berlin, 8. August 1881.
Die Reise
der russischen Kaiser-Familie nach Moskau, der alten
Hauptstadt deS Reiches, hat die Aufmerksamkeit weiterer Kreise wieder ein mal auf die Vorgänge in dem östlichen Nachbarstaate gerichtet. Das Geheim niß, mit dem diese Reise umgeben war — in Moskau selbst wurde die bevor stehende Ankunst der Majestäten erst an dem der Ankunft vorhergehenden
Tage bekannt —; die an die St. Petersburger Zeitungen ergangene Aufforde
rung, über die Kaiserreise nur die Mittheilungen des officlellen Regierungs-
anzeigcrs zu veröffentlichen, (selbst die Agence generale Russe wurde bei dieser Gelegenheit als unzuverlässige Quelle bezeichnet) lassen eS be greiflich erscheinen, daß die bloße Thatsache der angeblich nur aus vier Tage
berechneten Ortsveränderung zu
den ausschweifendsten Gerüchten Anlaß
gab, die in St. Petersburg durch mündliche Ueberlieferung
verbreitet
und trotz aller Ueberwachung durch Vermittelung der Petersburger Correspondenzen auswärtiger Blätter der europäischen Presse zugänglich ge
macht wurden. Bald sollte es sich um die Krönung Kaiser Alexander III., bald gar um den ersten Schritt zur Zurückverlegung deS Sitzes der Re gierung nach der alten Kaiserstadt, bald um die Ankündigung von Re formen handeln, da Kaiser Alexander eö nicht wage, sich zu diesem Zwecke nach St. Petersburg zu begeben, welches er am 18. Juni, gewisser Maßen
auf der Flucht vor dem Gespenst des Nihilismus, in aller Stille verlassen hatte.
Die Tendenzen, welche den Kaiser oder diejenigen, die ihn zu der
Reise nach Moskau bestimmt haben, leiten, haben bis jetzt keinen that
sächlichen Ausdruck gefunden.
Der Aufenthalt in Gatschina, in der frei
willigen Gefangenschaft deS dortigen kaiserlichen Schlosses, war dem Selbst herrscher des russischen Reiches nachgerade unerträglich geworden;
ohne
Zweifel geschah eS mit gutem Vorbedachte, daß die altrussische Partei den
Souverain bestimmte, gerade in Moskau Erholung von dem selbstaufer legten Zwang zu suchen. Um das Angenehme mit dem Nützlichen zu ver-
Russische Aussichten.
192
binden, hat der Hof eS für nöthig gehalten, das Kostüm auö der Zeit von Peter dem Großen anzulegen und in dieser antiken Verkleidung das
Nationalheiligthum zu besuchen.
Schon diese Veranstaltung läßt erkennen,
daß die Berather des Kaisers die altnationale Sympathie desselben a»iSzunutzen beabsichtigen, um ihre Pläne zu fördern.
Der officielle Jubel
über den begeisterten Empfang, den die kaiserliche Familie seitens der
„unverdorbenen" Bevölkerung der Hauptstadt des Ostens gefunden hat, kehrt seine Spitze gegen die zweite Hauptstadt, die ihr Gründer als das Fenster
bezeichnete, durch welches Rußland nach dem Westen auöschauen könne. Durch dieses Fenster sind ja nach der Versicherung der ergebenen Blätter
die revolutionären Miasmen eingezogen, welche das Haus zu verpesten drohen.
Das Organ der allrussischen Partei, die „Moskauer Zeitung" und
ihr Prophet, Herr Katkow, welche trotz aller Preßknebelungen das große Wort führt und über die brennenden politischen Fragen sprechen darf,
welche die übrige Presse im Interesse ihrer Selbsterhaltung unberührt läßt, hat die Gelegenheit der Anwesenheit deS Kaisers benutzt, um von Neuem die Lehre von der alleinseligmachenden Kraft der selbstherrscherlichcn Rtgierung deS Czarcn zu verkünden.
Die Theilbarkeit der allerhöchsten
Gewalt deS Czaren ist ihr eine gefährliche Irrlehre.
Der ganze Inhalt
des russischen StaatSbegriffs ist die Herrschergewalt deS Czaren, welche durch keinerlei Zugeständnisse an Richtungen, die den Staat gefährden,
beeinträchtigt werden darf.
Concessionen an die Auffassungen deS Westens
bedrohen die Existenz des russischen Reichs. ES hieße Eulen nach Athen tragen, die Cultur deS europäischen
Westens gegen die Anklagen der Ignatjew, deS augenblicklich allmächtigen Ministers des Innern und seiner Gehülfen zu vertheidigen.
Auch die
europäischen Staaten, neuerdings sogar Nordamerika, sind durch Attentate
auf die Souveräne in Schrecken gesetzt worden; aber wenn auch diese Un thaten als Symptome gewisser politischer und socialer Strömungen an
erkannt werden müssen, in keinem Falle hat irgend eine Partei offen und
schamlos die Verantwortlichkeit für das Werk eines Fanatikers über nommen.
Rußland war die Schmach Vorbehalten, daß die Vertreter der
nihilistischen Partei eine That, wie die Ermordung des Kaisers Alexander II., als die Vollstreckung eines gerechten Urtheils, als die würdige Strafe
für die langen Jahre tyrannischer Regierung proclamirte und dem neuen
Herrscher das grausame Wort zurief: „Der Kaisermord ist in Rußland volköthümlich."
In der Anfang April erlassenen Proklamation des Exe-
kutiv-Comits'S der Nihilisten heißt es wörtlich:' „Nur den Räuber schützt das Gesetz; nur den Ausbeuter deS Volkes die Regierung; der schlimmste
Raub bleibt unbestraft, und welches fürchterliche Schicksal erwartet den
Menscher, der wirklich an das Wohl des Volkes denkt? Sie wissen es, Majestät daß eS nicht die Socialisten allein sind, die man verfolgt, ver
schickt, ermordet....
AuS solcher Lage giebt es nur zwei Auswege: Die
unauSblabliche Revolution, der man durch keine Todesstrafen vorbeugen kann, oder freiwillige Beachtung des Volks seitens der Regierung....
Die Erbitterung ist ja auf unserer Sette eben so groß: Sie haben den Vater, vir haben nicht nur Väter, wir haben auch Brüder, Weiber,
Kinder, Freunde und Eigenthum verloren.
Wir sind bereit, jedes persön
liche Gesihl zu ersticken, wenn es sich um daS Wohl Rußlands handelt." Die Proclamation forderte zunächst eine allgemeine Amnestie für alle
Staatsverbrecher der früheren Zeit; „denn eS waren ja keine Verbrecher, sondern Vollbringer einer harten Bürgerpflicht"; und dann die Berufung von
Vertretern des ganzen russischen Volkes zur Revision der Gesetze des Staates und des bürgerlichen Lebens und zu deren Reform nach dem Wunsche des
Volkes — eine Forderung, in der sich die Nihilisten mit den Aksakow und Genossen, den Vorkämpfern des PanslaviSmuS, begegnen, die heute um die
kaiserliche Gunst buhlen.
„Keinem Denkenden, heißt es in der unlängst
erschienenen vortrefflichen Schrift „Von Nicolaus I. zu Alexander III." (p. 406), auf welche wir im weiteren Verlauf unserer Auseinandersetzung noch
öfter zurückkommen werden, wird in den Sinn kommen, daS Constitutions-
gcschret deS St. Petersburger Preßpöbels in seinen Schutz zu nehmen —
welchen Sinn aber hat die Repression desselben, wo alle Welt weiß, daß die Presse daS bloße Echo dessen ist, was auf allen Märkten und Straßen
laut verkündet wird und daß diese Verkündigungen durch das Geschwätz
jener Aksakow und Genossen provocirt worden sind, die ihre früheren An griffe auf den „Europa nachgeahmten Absolutismus Peters des Großen",
durch daS Ableiern sinnloser Phrasen von der mystischen Bedeutung des „nationalen ZarenthumS" vergessen zu machen suchten."
Heute ist der
„Europa nachgeahmte Absolutismus Peters des Großen" wieder das Ideal der officiellen Politiker.
Die eigentliche Quelle deS Nihilismus ist nicht
der Import der Ideen deS Westens nach Rußland, sondern die System-
losigkeit der russischen inneren Politik.
„In Rußland selbst, sagt die oben
erwähnte Schrift (S. 202), hat unter den Gebildeten niemals eine Mei nungsverschiedenheit darüber bestanden, daß die sinnlose,
streifende Strenge, mit welcher
an Aberwitz
man (unter Kaiser Nicolaus) in den
Jahren 1849 bis 1855 jede Berührung mit dem westlichen Europa und
den dasselbe beherrschenden Jdeenkreisen zu verhindern versuchte, der vornehmlichste Grund dafür gewesen ist, daß bereits die ersten Berührungen,
welche das
jüngere Geschlecht, mit der
während
der folgenden Jahre
wehenden frischen Luft hatte, den RadicaliSmus mit einer Ueppigkeit und
Russische Aussichten.
194
Raschheit in'S Kraut schießen ließen, für die es im übrigen Europa kein
Beispiel giebt.
Wo alles, was nach freierer Bewegung schmeckte, Jahre
lang verboten gewesen war, mußte alles verboten Gewesene für erlaubt und löblich angesehen werden, nachdem an der Starrheit der überkommenen Begriffe und Einrichtungen einmal gerüttelt und die Kritik des Bestehenden für zulässig erklärt worden war. — Wesentlich aus diesem Grunde sind
jene russischen Allerneuesten, die man gewöhnlich als Nihilisten bezeichnet, noch schlimmere, noch fanatischere Radicale geworden, als ihre ihnen im
Uebrigen nahe verwandten Vorläufer, die „Verschwörer" von 1849: seit
der Entdeckung der PetraschewSki'schen Umtriebe hatten der
gegen die
Jugend geübte Druck und die Strenge, mit welcher man alles „west
liche" Wesen alS unheilbar revolutionär verfolgte, sich eben noch gesteigert. Die December-Verschwörer von 1825 waren Kinder eines idealistisch ge
richteten,
von unklaren Humanitätsideen erfüllten Zeitalters,
politische
Schwärmer vom Schlage ihrer burschenschaftlichen und „demagogischen" Zeitgenossen gewesen, — Petraschewski's unter dem Regime der dreißiger und vierziger Jahre großgewordene Genossen nahmen sich bereits wie ge
fährliche, wenn auch noch halb kindische Zerstörungsfanatiker auS, — ihre Epigonen, die modernen Nihilisten, sind unter dem härtesten, überhaupt
denkbaren Druck emporgekommen und danach geartete Meuchelmörder und
Mordbrenner von Handwerk geworden."
Der Verfasser knüpft an diese
Bemerkungen die interessante Frage, weshalb gerade das russische VolkSthum der Sitz der nihilistischen Bewegung geworden ist, weshalb diese
Bewegung, welche nach und nach sämmtliche specifisch russische Universitäten ergriffen hat, heute wie vor 30 Jahren an den Grenzen deS eigentlichen
Rußland stehen geblieben ist und ertheilt darauf die folgende vorläufige
Antwort: „In den westlichen, auf katholischer und protestantischer Grund lage entwickelten Provinzen deS russischen Reiches giebt es ein bestimmtes Bildungsfundament, dessen festgefügter Boden zu hart ist, als daß die
nihilistische Saat können.
auf demselben ohne Weiteres hätte Boden
schlagen
Weil man in diesen Ländern einen gewissen Schatz sittlicher und
intellektueller Bildung zu besitzen glaubte, — weil man noch Etwas
zu verlieren hat, sind die Theorien von der Nothwendigkeit der Zer störung deS Bestehenden bis auf den Grund und eines vollständigen Neu
baues auf Widerstand gestoßen und ohnmächtig zu Boden gefallen.
Das
erstarrte griechisch-orthodoxe Kirchenthum Rußlands hat es zu der Rolle
eines wirklichen Bildungsfundaments nicht zu bringen vermocht, — in den Herzen und Köpfen der von der modernen Bildung berührten russi schen Gesellschaftsklassen ist für die sittliche Bildung, welche diese Kirche
zu vermitteln vermochte, kein Platz übrig geblieben.
Die Mehrzahl der
gebildeten und halbgebildeten modernen Russen hat die Empfindung, daß
sie durch eine Auflösung der vorhandenen BildungS-, Staats- und Ge sellschaftsformen Nichts verlieren würden, was als wirklicher Verlust an gesehen werden könnte.
Daß die Theorie von der Nothwendigkeit einer
dem Neubau vorauszuschickenden vollständigen Zerstörung da die größten
Erfolge gehabt hat, wo (nach Meinung der Betheiligten) gar kein oder ein nur geringer Verlust zu fürchten ist, — das bedarf keiner Erklärung."
Vielleicht wäre eS nach dem Krimkrieg noch möglich gewesen,
die
bösen Keime zu ersticken, welche das Nicolaitische Regime gesät hatte — wenn nicht auch Kaiser Alexander II. und seine Rathgeber in dem nihi listischen Irrthum befangen gewesen wären, daß eS möglich sei, auf dem zerrissenen und schlecht vorbereiteten Boden mit Einem Schlage große und
umfassende Reformgebäude nach europäischem Styl aufzuführen.
Schon
damals verschmähte die russische RcgiernngSpolitik den Weg der histori
schen Entwickelung.
Grade die
Schrift hat trotz der
oben erwähnte
aphoristischen Behandlung der Materie über die Gründe, weshalb eine solche Regierung ein solches Ende nehmen mußte, Helles Licht verbreitet. „Nach ihrem äußern Gang und ihren äußern Ergebnissen betrachtet,
sagt der Verfasser, erscheint die Regierung schmählich
des am
ermordeten Monarchen als eine der
welche die
moderne Entwickelung
13. März d. I.
ersprießlichsten Phasen,
aufzuweisen hat.
Der Umfang der
russischen Retchßgrenze hat sich seit dem Jahre 1855 um 30,000 Quadrat
meilen,
die
Zahl der Unterthanen des russischen Scepters um
etwa
30 Millionen vermehrt, der Vater gebot über 900,000 bewaffnete Männer, der Sohn hatte schließlich 2'/t Millionen Soldaten hinter sich.
Unter
seiner Regierung haben die Staatseinnahmen sich von 264 ans 625 Millionen gehoben, die Zahl der russischen Universitäten ist um die Hälfte, diejenige der höheren Schulen um das Doppelte, die Zahl der Volksschulen gar
um das fünffache gewachsen.
Für Unterrichts- und Bildungszwecke wurde
im Jahre 1880 siebenmal mehr, für die Rechtspflege fünfmal- mehr auf gewendet wie zu den Zeiten des Kaisers NicolauS.
Vor 26 Jahren um
faßte das russische Eisenbahnnetz etwa 700 Kilometer; Mitte deS vorigen Jahres war die Gesammtlänge russischer Schienenwege auf 22,643 Kilo
meter angewachsen.
Die Ausfuhr aus Rußland hat während dieses Zeit
raums eine Vervierfachung, die Einfuhr nahezu eine Verdreifachung er
fahren. — Alexander II. hat die Leibeigenschaft aufgehoben, der ländlichen Bevölkerung Litthauen'S und Polen'S zu Grundbesitz verhelfen, die Erb lichkeit deS geistlichen Standes und die Cantonistenschulen beseitigt, die
Körperstrafe und die Verpachtung deS Branntweinsregals abgeschafft, die Anfänge einer Selbstverwaltung der Kreise und Provinzen tn'S Leben gePrru^schi Iahidüchir. ®t. XLVIIl. Hist r.
14
Russische Aussichten.
196
rufen; er hat die Militärdienstzeit abgekürzt, die Disciplin menschlicher
gestaltet, endlich die allgemeine Dienstpflicht eingeführt.
Unter seiner Re
gierung hat die öffentliche Meinung einen bis dahin unerhörten Spiel
raum,
die periodische Presse anerkanntes
Bürgerrecht in Rußland
er
worben; die frühere Absperrung gegen das Ausland hat ein für alle Mal
ein Ende genommen.
Die Finnländer danken ihm die Wiederherstellung
ihrer fünfzig Jahre suSpendirt gewesenen ständischen Verfassung; die Liv-,
Est- und Kurländer die confessionelle Freiheit der in gemischten Ehen ge borenen Kinder, und daß die Polen ihm nichts zu danken haben, hat nicht
an dem Kaiser, sondern lediglich an ihnen selbst gelegen.
Alexander II.
ist endlich beschieden gewesen, den Krieg im Kaukasus zu beendigen,
die
auf daS Schwarze Meer bezüglichen Artikel des Pariser Friedensvertrags
aus der Welt zu schaffen, daS bei Abschluß deS Vertrags verloren ge gangene Stück Bessarabien wiederzugewinnen und durch die Unabhängig
keitserklärung der drei Donaufürstenthümer und die Befreiung Bulgarien's der Lösung der orientalischen Frage näher zu kommen, als irgend einer
seiner Vorgänger. — Und der Monarch, dem so große und glänzende
Erfolge beschieden gewesen, — er hat sein Reich in einem Zustande hinter lassen, der noch schwieriger, noch gefahrvoller und bedrohter erscheint, als
derjenige,
der seinem inmitten eines unglücklichen Krieges verstorbenen
Vater das Herz gebrochen hatte! Unzufriedenheit, Verarmung, Mißtrauen, Rechtsunsicherheit und leidenschaftliches Verlangen nach einer veränderten
Regierungsform haben so ungeheuere Dimensionen angenommen, daß einer verhältnißmäßig kleinen Zahl entschloffener und in der Wahl ihrer Mittel
rücksichtsloser Fanatiker möglich geworden ist, die Grundfesten einer nach
Jahrhunderten zählenden staatlichen Ordnung zu erschüttern, um
eine
Krisis herauf zu beschwören, wie sie in Rußland noch nicht erlebt worden ist, — daS Leben des Zar-BefreierS zu sechs verschiedenen Malen zu ge fährden und ihn schließlich inmitten seines Volkes, auf offener Straße,
bei Hellem lichtem Tage auf den Tod zu treffen.
Wohl hallt der Ruf des
Entsetzens über diese That von dem einen Ende des weiten Reiches zum
andern wieder, ebenso laut und ebenso nachdrücklich aber wird der Ruf
vernommen, daß eS in Rußland anders, ganz anders werden müsse.
Conscrvative und Liberale, Nationale und Occidentale, expossedirte Herren und emancipirte Knechte stimmen in diesen Ruf ein und eine gewisse Be ruhigung bei dem gegeb.nen Zustande scheint nur noch da obzuwalten, wo man auch von einer Veränderung Nichts erwarten zu dürfen glaubt, — in den europäisch gearteten und wegen ihrer europäischen Art bitter
gehaßten westlichen Theilen der großen Monarchie deS Ostens." Und weshalb Alles das? Weil die Regierung deS menschlichsten und
wohlmenendstkn aller russischen Monarchen niemals, und auch nicht za ihren
besten gelten, aus unlösbaren inneren Widersprüchen herausgekommen ist,
weil sie es niemals zu einem einheitlichen consequent durchgeführten System gebracht, weil sie ihre besten Kräfte vielmehr an die Vereinigung unver
einbaren Gegensätze gesetzt, und in dem Bestreben, dem Entgegengesetzten gerecht zu werden, alle Parteien und alle Ansprüche unbefriedigt ge
lassen hat.
Die Geschichte der Aushebung der Leibeigenschaft, der Justiz- und der Bewaltungsreform
bis zum Jahre 1866
ist
im Grunde nur eine
russische Illustration zu dem französischeu Worte: Ordre — Contreordre
— Desordre,
hervorgerufen durch den Erbfehler aller russischen Herr
scher, durch die unüberwindliche Ueberzeugung, daß trotz aller Reformen
und Gesetze die Kaiserliche Gewalt über
Recht und
Gesetz stehe, weil
sie eigentlich die einzige Quelle alles Rechts und aller Gesetze sei. Eine dieser Ueberzeugung entsprechende Praxis ist unverträglich mit einer bcrufS-
treuen, charaktervollen und intelligenten Beamtenschaft, sowie überhaupt
mit einer geregelten Regierung.
Eine solche ist thatsächlich unmöglich, so
lange der Herrscher sich für berechtigt erachtet, in jedem ihm passend er-
scheineiwcn Augenblick und bei jeder Gelegenheit die regulären Organe zur Austührung seines Willens zu umgehen und besonderen Beauftragten Vollmachten zu ertheilen, welche in die Befugnisse des für die Durchfüh
rung de§ Gesetzes verantwortlichen Beamten eingreifen und diese machtlos
machen.
Dieses System der Shstemlosigkeit zu beseitigen, das wäre die
erste Verbedingung jeder praetisch wirksamen Umgestaltung;
aber
nicht
einmal Kaiser Alexander II. konnte sich zu dieser Beschränkung seiner Selbstherrlichkeit entschließen.
Kein Wunder, daß auch die neuen Gesetze zum größten Theil auf
dem Papier blieben, daß z. B. trotz der principiellen Beseitigung der Verwaltungsjustiz durch die Justizgesetze von 1862 lediglich das Belieben
der höchsten oder auch untergeordneter Stellen darüber entschied, ob po litische Verbrechen oder was dafür gehalten wurde, nach Vorschrift der gewöhnlichen Strafproceßordnung oder auf dem Verwaltungswege abgeurtheilt wurden.
Das System der Verschickung nach Sibirien blieb nach
wie vor bestehen, obgleich die Anwendung desselben während deS ersten
Jahrzehntes der Regierung Alexander's II. eine sparsamere war. Allerdings ist es richtig, daß in einem Staate, wie Rußland, das System der Der-
waltungsjustiz gewisser Maßen unentbehrlich war angesichts einer Justizgesetzgebung, die
einem Volke mit völlig europäischer Bildung
messen gewesen sein würde. der Verwaltung;
ange
Vollständige Unabhängigkeit der Justiz von
Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlungen;
Russische Aussichten.
198
Einführung der Jury in Strafsachen; Aufhebung des privilegirten Ge richtsstandes; Selbständigkeit der vom Staate zu wählenden Richter; Be
gründung eines AdvocatenstandeS — das waren die angeblich unabänder
lichen Grundsätze des künftigen russischen Gerichtswesens, deren sofortige Durchführung selbstverständlich eine absolute Unmöglichkeit war.
Wie die
selbe versucht wurde, kennzeichnet der Verfasser unsrer oben citirten Schrift mit folgenden Worten: „Schon wenige Jahre nach Einführung der Justizre form hatte sich gezeigt, daß dieselbe wie dem Bedürfniß, so der Leistungsfähig
keit der Nation um ein Menschenalter vorausgeeilt war. Magistratur, Staats anwaltschaft und Advocatur mit juristisch vorgebildeten, practisch erprobten
Männern zu besetzen, war bei dem Mangel entsprechender Elemente unmöglich
gewesen. Zu Richtern und Procureuren hatte man, je nach Zufall und Nei
gung, bureaukratische Routiniers der herkömmlichen Sorte und der Schulbank entlaufene DoctrinärS machen müssen.
Die ersteren setzten die alte Miß
wirthschaft unter veränderten Formen fort, indem sie die Selbständigkeit
des Rtchterstandes als Freibrief für die Emancipation von jeder Controle behandelten, die letzteren sahen ihre Hauptaufgabe in der Herausforderung aller Autorität und in grundsätzlicher Opposition gegen die Verwaltung.
Gerade unter dem strebsameren Theile der jüngeren Richter, insbesondere
unter den auS Bezirkswahlen hcrvorgegangenen Friedensrichtern gehörte es zum guten Ton, soweit immer möglich, die Partei des schwächeren Theils zu nehmen und der Regierimg die Zähne zu zeigen.
Die Advo
catur wurde zum Tummelplatz des kecksten Radikalismus und außerdem zur Zufluchtstätte weggejagter Beamten,
—
auf den Bänken der Ge
schworenengerichte aber überboten die verschiedenen Gesellschaftsklassen ein
ander an Frivolität, Popularitätssucht und politischer Gewissenlosigkeit:
daS Vertrauen, das man in die Reife der Nation gesetzt hatte, war auf
allen entscheidenden Punkten getäuscht worden." Nicht viel glücklicher erwies sich der Versuch, in den Gouvernementö-
und KretS-Semstwo'S Organe der Selbstverwaltung unter Betheiligung der Gutsbesitzer,
Bauern und Bürger der kleinen Städte zu schaffen.
Der Bauernstand war der Leibeigenschaft ledig geworden; aber durch die Umwandlung der Frohnden und Naturalprästanden in Zinszahlungen und
durch die Verpflichtung, die Renten für die Loskaufsummen aufzubrtngen, waren die financiellen Lasten erheblich gestiegen, während gleichzeitig die Einführung der Branntwetn-Accise (mit. einem Ertrag von ca. 260 Mill.
Rubel jährlich), die den FtScuS an der Vermehrung
der Branntwein
schänken und des Spirituosenconsums interessirte, die Widerstandskraft der befreiten Leibeigenen gegen die Verlockungen deS national-russischen Lasters
des Trinkens auf eine allzuharte Probe stellte.
„Das Saufen, sagt ein
Kemer der russischen Verhältnisse, ist auS einem Sonntagsvergnügen eine WerktagSbeschäftigung geworden."
„Während Alles unter der Last wlrthschaftlicher Sorgen seufzte, schreibt
der Verfasser deS erwähnten Buchs, und während die Herstellung auch nur
erträglicher Beziehungen zwischen ehemaligen Herren und ehemaligelt Leib eigenen mit den größten Schwierigkeiten verbunden war, sollten Gutsbesitzer,
Bauern und Bürger kleiner Städte gemeinsam Zeit, Anstrengung — und Geld darauf verwenden, ihr Prästanden- und CommunicationSwesen neu und
selbständig zu regeln, die Fürsorge für Gefängnisse und WohlthättgkeitSanstaltcn zu übernehmen und in Bezug auf eine Anzahl wichtiger Functionen an die Stelle der Regierung zu treten. Verglichen mit dem Pflichtenmaß, das die Landschaften übernehmen sollten, waren die denselben ertheilten Rechte nur höchst bescheidene — und daS wichtigste dieser Rechte, dasjenige zur
Umlegung neuer Steuern wurde ihnen verkürzt, sobald sie von demselben
ernstlichen Gebrauch machen wollten.
Die den Landschaften behufs Be
streitung der ihnen übertragenen Verpflichtungen und der Kosten ihres, freilich durch
eigene Schuld vertheuerten Mechanismus regierungsseitig
überwiesenen Summen reichten nirgend auS; sollte Rath geschafft und den beständig
gesteigerten
Forderungen
der
Regierung
amtlich
entsprochen
werden, so mußte man neue Einnahmequellen aufsuchen — und daS in einer Zeit allgemeiner wlrthschaftlicher Bcdrängniß.
Sobald nun die Land
schaft ein Steuerobject ausfindig gemacht zu haben glaubte, legte die Re
gierung Hand auf dasselbe, indem sie die Befugnisse zur Ausbeutung des selben für ihr ausschließliches Recht erklärte.
Daflelbe geschah, sobald
vorgeschrittene oder energische Landschafts-Repräsentationen
auf Gebiete
hinübergreifen wollten, welche politisch bedenklich erschienen und schon
wenige Jahre, nachdem diese so hoffnungsvoll begrüßten Institutionen zu
fungiren angefangen hatten, wurde die allgemeine Klage vernommen, daß
dieselben keine Erweiterung der Befugnisse der Kreise und Provinzen, sondern lediglich eine ökonomische Mehrbelastung derselben bedeuteten.
Wenn es die Absicht gewesen wäre, den Beweis zu führen, daß die so leidenschaftlich verlangten Reformen nach westeuropäischem Muster in
Rußland unanwendbar seien, so hätte die Regierung nicht anders ver
fahren können; in Wirklichkeit wurde freilich nur constatirt, daß Selbst verwaltung der Verwaltungskreise,
Selbständigkeit der Justiz mit dem
traditionellen Begriff des moskowitischen SelbstherrscherthumS, d. h. mit
der
absoluten Berwaltungswillkür unvereinbar sind
—
wozu es denn
freilich eines so schwerfälligen Experiments nicht bedurft hätte.
Die Ent
täuschung deS intelligenteren Theils der Bevölkerung kam selbstverständlich nicht der Regierung zu Gute sondern ausschließlich den radicalen Ele-
Russische Aussichten.
200
menten, welche richtig erkannten, daß eine Umgestaltung nur gegen, nie
aber solange die Gewalt des Kaisers nicht eine Schranke gefunden habe, durch die Regierung zu bewerkstelligen sein werde.
Die besten Absichten
des Kaisers führten demnach nur dazu, die Kluft zwischen Thron und
ES bedurfte nur eines leichten Anstoßes, um der Re
Volk zu erweitern.
gierung den inneren Zusammenhang oder wenigstens die thatsächliche Lage klar zu machen: von dem Mordversuch, den Wladimir Karakosow am
4. Sept. 1866 auf den Kaiser Alexander machte, datirt der Rückfall der russi schen Politik tu das kaum verleugnete System: die Untersuchung gegen Kara
kosow und seine Genossen wurde nicht dem Gerichtshof für Staatsverbrecher, sondern einer außerordentlichen ad hoc berufenen Commission übertragen, an deren Spitze der Todfeind aller liberalen Reform und aller Einschrän
kungen der altväterlichen Willkür, der aus Wilna herbeigerufene Murawjew gestellt wurde.
Damit war das System der Verwaltungsjustiz in aller
Form wiederhergestellt, ohne daß man eS für nöthig gehalten hätte, die
Gesetze selbst zu
ändern.
Dieser Vorgang ist gradezu typisch für daS
Verfahren der Regierung auf allen politischen Gebieten.
Wer begreift
nicht, daß die Mißachtung der Gesetze seitens der Regierung selbst gerade die radicale Strömung stärken mußte, der man entgegenzuarbeiten versuchte,
daß die Systemlosigkeit, mit der die Regierung verfuhr, ihr alle Kreise der Bevölkerung entfremdete und sie schließlich
in eine Jsolirung
versetzte,
welche eS der Umsturzpartei möglich machte, den Kaiser gewissermaßen für vogelfrei zu erklären? „Har, so schließt unser anonymer Verfasser seine Be trachtungen über die Regierung Alexander'- II., nach einer so langen Kette
von Mißgriffen und Widersprüchen, nach so unwidersprechlichen Zeugnissen
für den Umfang und die Tiefe der staatlichen und der sittlichen Auflösung,
nach so zahlreichen und so konsequent überhörten warnenden Zeichen, — von einer Ueberraschung wirklich noch die Rede sein können?
Reichte
nicht vielmehr die bloße Wahrscheinlichkeitsrechnung zu der Annahme auS, daß
auf so
unaufhörlich unternommene,
Kaisermordversuche
so regelmäßig wiederkehrende
schließlich ein Kaisermord folgen
Sicherheit konnte der Untergrund
der Straßen
werde?
Welche
St. Petersburgs noch
bieten, nachdem der Untergrund der russischen Gesellschaft unsicher befun
den und nachdem schließlich selbst daS Fundament des Winterpalastes in
eine Mördergrube verwandelt worden war? Die alten Stützen des ZarenthumS waren über dem Sarge des Kaisers NicolauS zusammengebrochen,
neue Stützen hatte das Regiment seines Nachfolgers nicht aufzurtchten ver
mocht; und für ein Kunstwerk, daö sich durch daS natürliche Gleichgewicht seiner Theile zu halten vermöchte, hat daS russische StaatSgebäude denen,
die eS kannten, niemals gegolten.
Zusammengestürzt ist dieser Bau auch
gegenwärtig nicht; daß die Steine die sich aus dem Gefüge loslösten, zu erst den Herrn des Haufes erschlagen haben,
legt zum Mindesten die
Vermuthung nahe, daß der russische Herrscherstuhl uicht an der richtigen Stelle ftett." Nahezu sechs Monate sind verflossen seit Kaiser Alexander III. die
Erbschaft seines Vaters angetreten hat, nnd da muß man doch fragen: liegt nirgmds ein Anzeichen für die Annahme vor, daß der neue Kaiser die Lehre terstanden hat, welche in dem Ereigniß vom 13. Februar liegt?
Nach langem Schwanken erschien endlich am 11. Mai In dem „Regierungs
blatt" ein kaiserliches Manifest, in dem eS heißt:
„In Unserer großen
Betrübniß befiehlt Uns GotteS Stimme, fest die Zügel der Negierung
zu halten in der Zuversicht auf die göttliche Vorsehung und in dem Glauben an die Kraft
und die Wahrheit
der selbstherrscher-
lichen Gewalt, welche Wir berufen sind zu befestigen und zu bewahren vor jeder Anfechtung zum Wohle dcS Volks.
Indem Wir UnS Unserer
großen Aufgabe weihen, rufen Wir Alle Unsere getreuen Unterthanen auf,
Unö rind dem Staate in Treue und Wahrheit zu dienen, zur .Ausrottung der nichtswürdigen aufrührerischen Bestrebungen, welche die russische Erde
mit Schande bedecken, zur Befestigung von Sittlichkeit und Glauben, zur rechtschaffenen
Erziehung der Kinder,
zur Vernichtung von Lüge und
Veruntreuung, zur Herstellung von Ordnung und Recht, in der Thätig keit der Rußland von seinem Wohlthäter, Unserem vielgeliebten Vater
verliehenen Institutionen."
Deutlicher als es
hier geschehen,
konnte
es nicht documentirt werden, daß auch Alexander III. an dem Wahn fest hält, mit den herkömmlichen Mitteln, mit Mitteln, deren Wirkungslosig
keit durch die Ereignisse der letzten Jahre klar gestellt ist, den bedrohten Die öffentliche Meinung in Rußland und außerhalb
Thron zu retten.
Rußlands sah in dem Manifest den Absagebrief dcS Kaisers an alle Reformprojecte und
den Steg des Grafen Ignatjew,
des Vertreters der
russischen Partei, und der Panslavisten über die LoriS Melikow, Walujew,
Schuwalow u. s. w.
Schon die Umstände, unter denen das Manifest
ohne Vorwisscn Melikow's vorbereitet worden war, zwangen diesen zum Rücktritt und bahnten dem Grafen Ignatjew, dem „Vater der Lüge", wie die Türken ihn nennen, den Weg in das Ministerium des Innern, mit dem auch die gefürchtete „dritte Abtheilung von Sr. Majestät höchst eigener
Kanzlei", d. h. die geheime oder politische Polizei verbunden worden war. Die erste officlelle Kundgebung Jgnatjew'S bestand in einem Erlaß an die
Gouverneure, der in der Hauptsache nur eine Umschreibung dcS Manifest-
vom 11. Mai war.
In dem Munde eines Ignatjew klingt die Berufung
an die staatscrhaltenden Elemente, Adel und Geistlichkeit, wie Hohn. WaS
Russische Aussichten.
202
das panslavistische Programm für die auswärtige Politik Rußlands bedeutet, davon hat der Krieg gegen die Türkei von 1876/77 einen Vorgeschmack ge
geben.
Die Befestigung der landesherrlichen Gewalt, welche Ignatjew als
Minister des Innern sich zur Aufgabe gestellt hat, setzt die Verwischung aller ethnographischen Verschiedenheiten der Völkerschaften voraus, auS denen das russische Reich besteht. Die Phantasien der Aksakow und Genossen von einer
russischen Nationalversammlung gelten demselben Ziel.
„Vierzehn Jahre ist
eS her, schreibt der Verfasser unserer Schrift (a. a. O. S. 420), daß Juri Samarin (der Busenfreund und der intime Parteigenosie desselben Iwan Aksakow, der sich neuerdings als Lobredner des nationalen Zarenthums lind als Todfeind constitutioneller Velleitäten aufspielt) — den „feierlichen Augen blick" als nahe bevorstehend bezeichnete, „in welchem die Regierung das
Volk selbst zu Rathe ziehen, und ihm in der einen oder der andern Form
ein Stimmrecht gegeben werde" und daß derselbe Schriftsteller in der „der ersten
gemeinsamen russischen Landesversammlung" den
Boden zu bereiten,
Volk und Regierung in wahrhaft tumultuarischer
Absicht,
Weise aufforderte,
allen
eigenartigen Institutionen der baltischen Pro
vinzen so rasch und gründlich wie immer möglich ein Ende zu machen.
Das ist seitdem
zu unzähligen
Malen
und
am
lautesten und
nach
drücklichsten da wiederholt worden, wo man die Alt- und Rechtgläubigkeit
des Moskauer Slavophilenthums ebenso chnisch belächelt, wie Alles, was sonst nach russischer Tradition und nach Pietät gegen die bestehende Ord
nung schmeckt.
Wohl wissend, daß eine ernsthaft unternommene De-
centralisation das einzige Mittel wäre, mit dessen Hilfe die souveräne „allgemeine russische Landesversammlung"
entbehrlich gemacht werden
und dem Radikalismus die sichere Beute entrissen werden könnte, treffen Moskauer und Petersburger Doctrinäre der verschiedensten Richtungen
und Farben in dem Wunsche zusammen, durch Einstampfung der den Grenzlanden gebliebenen organischen Einrichtungen, die Dynastie jedes
Rückhalts gegen den nationalen Sturm und Drang zu berauben und die tabula rasa zu beschaffen, auf welcher die semski sobor gebaut werden
Die Panslavtsten haben, natürlich nur vorläufig, die semski
soll."
sobor,
daS
russische
Nationalparlament
strichen, um die „landesherrliche Gewalt" der
den
Grenzlanden
auS
ihrem
Programm
ge
zunächst zur „Einstampfung
gebliebenen organischen Einrichtungen"
nutzen oder, richtiger gesagt, zu mißbrauchen.
zu
be
In den Ostseeprovinzen
ist Graf Ignatjew bereits am Werke. ' Im Mai d. I. wurden dem Kaiser
eine Anzahl von Vertretern des estnischen Volkes vorgestellt, welche in
ihre Loyalitätsversicherungen die Bemerkung einflochten, „daß die Russen
den einzigen den Esten benachbarten Stamm bilden, der dmselben Gutes
und
nichts Böses gethan habe".
Die Esten sind bekanntlich die Urbe
wohner Estlands und des nördlichen Livland; sie bilden den Stamm deö Bauernthums der Ostseeprovinzen, während Adel, Bürgerthum und Städte
ausschließlich deutsch sind.
DaS sogenannte „nationale Bewußtsein" dieses
„Volkes" ist künstlich durch Sammlung von Volksliedern und ähnlichen Agitationsmitteln
genährt worden; der Empfang ihrer Wortführer bei
Hofe war darauf berechnet,
ihnen ihren Angehörigen in der Heimath
gegenüber ein glänzendes Relief zu geben und die Sprache ihrer Zeitungen,
welche unbelästigt von der sonst unbarmherzigen Censur und unter dem lauten Beifall der russischen Presse verkünden, daß die Zeit der deutschen Herrschaft in den Ostseeprovinzen vorbei sei, läßt erkennen, daß sie der
Unterstützung der Regierung sicher zu sein glauben.
„DaS Programm
dieser Jung-Csten und Jung-Letten, so berichtete der „Hamburgische Corre-
spondent" dieser Tage, bildet seit einiger Zeit den Gegenstand der öffent
lichen DtScussion und legt von der Begehrlichkeit seiner Urheber deutliches Zeugniß ab.
Diefenigen Bauern, die noch nicht Eigenthümer ihrer Pacht
höfe sind (der größte Theil derselben ist längst an die Pachtinhaber ver
kauft) sollen gewaltsam zu Eigenthümern derselben gemacht, die Domänen ausschließlich an bäuerliche Gemeinden verpachtet werden, die drei alten
Provinzen, Liv-, Est- und Curland sollen in zwei neue Gouvernements, Est- und Livland, zusammengelegt werden, um die nationale Organisation
ihrer Urbewohner zu erleichtern; an die Stelle der officiellen deutschen
hat die lettische, bzw. estnische Sprache zu treten, deren Kenntniß von jedem
Lehrer, Dorpater UniversitätS-Profesior, Beamten, Prediger u. s. w. nach zuweisen ist; das den deutschen Corporationen der Städte und Ritter
schaften zustehende Recht zur Wahl ihrer Richter und Beamten ist aufzu heben, die officielle Landesrepräsentation der Landmarschälle, Landesbe
vollmächtigten u. s. w. zu beseitigen, — mit einem Worte, das Esten- und Lettenthum in die Erbschaft deS DeutschthumS zu versetzen und NamenS
des demokratischen Majoritätsgrundsatzes in eine herrschende Stellung zu bringen.
Die deutsche Cultur aber wollen die Herren über Bord werfen,
um an Stelle derselben eine von etwa 900, 1000 Esten und Letten im-
provisirte, der russischen möglichst angenäherte neue National-Civilisation zu etabliren."
„Das, fügt der Berichterstatter hinzu, wird unter der Aegide der
kaiserlichen Censur in den lettischen und estnischen Zeitungen gepredigt, von dem Chorus der russischen Presse beklatscht und auf solche Weise eine Agitation inscenirt, deren turbulenter Charakter auf der flachen Hand liegt
und die ausdrücklich dazu bestimmt erscheint, den gebildetsten, wohlhabendsten, friedlichsten und loyalsten Theil des schon erschütterten russischen StaatsPrcußische Jahrbücher. $Jt. XLVIH. Hest r.
15
Russische Aussichten.
204
körperS in einen Heerd von Umtrieben der bedenklichsten und aberwitzig sten Art zu verwandeln!
Und diesem Treiben sieht man regierungsseitig
nicht nur ruhig zu, — man scheint dasselbe begünstigen und im Interesse der sogenannten Nationaleinheit auSbeuten zu wollen, damit das Ost
seegebiet in Bezug auf Wohlstand, Gesittung, bürgerliche Ruhe und kon servativ-kirchliche Gesinnung vor dem übrigen Rußland nichts voraus habe.
— Vergebens schütteln die ruhig und ernsthaft denkenden Leute den Kopf, vergebens mahnen die Freunde einer organischen Gesittung, geschichtlicher
Tradition und monarchischer Ordnung zu einer amtlichen Mißbilligung
dieses Treibens, das die der Residenz zunächst benachbarten Landschaften mit den bedenklichsten Wirren bedroht und direkt darauf auSgeht,
der
Umsturzpartei neue Recruten zuzuführen — das Ministerium des Innern, bet welchem das entscheidende Wort liegt, hat gegen die Verhetzung der
baltischen Minderheit nichts einzuwenden, weil die letztere einen deutschen Charakter trägt.
Unsere nationale Presse aber, die sonst den Mund nicht
aufthun darf, ruft Bravo und giebt den Letten und Esten den Rath, ihr.
Programm noch durch die Forderung einer Landvertheilung an alle Be
sitzlosen und Einführung des russischen ungeteilten Gemeindebesitzes zu erweitern!"
Und während man so die deutschen Ostseeprovinzen mit Mißtrauen
erfüllt, redet man einer Aussöhnung mit den Ländern von dem Stamme
Ljech, d. h. den Polen das Wort, deren „Separatismus" man zugleich bekämpft und schürt, obgleich eine solche Aussöhnung immer nur durch die
Befriedigung der nationalen Bedürfnisse der Polen, durch Herstellung
eines dem Königreich Polen eingeräumten Selfgovernments möglich fein würde.
Mit großer Schärfe und Sachkenntniß erörtert unsere Schrift die Ge fahren einer Namens der Staatseinheit und Regierungssouveränität agitirenben Politik, welche darauf ausgeht, gerade die konservativen Elemente
der Gesellschaft der Negierung zu entfremden und die Dämme abzutragen,
welche im Momente der Gefahr die Sündfluth des national-russischen Parlamentarismus abhalten könnten.
Vor der Hand will der Kaiser von
keiner Beschränkung seiner selbstherrlichen Gewalt zu Gunsten deS Volkes
wissen; die Staatsmänner aber, welche unter seiner Aegide für ihre Zwecke
arbeiten, sorgen dafür, daß im entscheidenden Augenblick, d. h. wenn der Bankerott des absoluten RegierungSsystemS ausbricht, der Kaiser keine andere Wahl haben wird, als die Berufung eines einheitlichen nationalen Par
laments.
„Wenn in dem national geschlossenen, auf alte Bildungstradi
tionen gestützten, von konservativen Elementen nie völlig entblößt gewesenen
Frankreich, heißt eS in dem oft ettirten Buch, Volksvertretungen, wie die
gesetzgebende Versammlung von 1791 und der Convent möglich gewesen
sind, — so kann nur der rllchloseste Leichtsinn darüber in Zweifel sein, waS von einem Lande ju erwarten wäre, dessen Kirche für die Gebildeten
nicht mitzählt, dessen Bildung von Vorgestern datirt, das keinen wirklichen Mittelstand besitzt, dessen herrschende Klassen die Träger der Bewegung sind — und dessen Bevölkerung sich auS einem Dutzend unter einander
tödtlich verfeindeten Nationalitäten zusammensetzt, von denen jede auf einer anderen Bildungsstufe steht.
ES hat seinen guten Grund, daß dasselbe
Wort Constitution, dessen Nennung die nationalen und jungrussischen Kreise wie von neuem Wein erglühen macht, den europäischen Elementen der Hauptstadt und
Bewohnern der
den
europäischen Provinzen deS
Westens das Blut aus den Wangen treibt und daß die Neigung der
letztem, sich an einer Unternehmung solcher Art zu betheiligen, am besten
gar nicht auf die Probe gestellt würde!"
Der Nathlosigkett der
ersten Monate der Regierung deS Kaisers
Alexander III. sind Entschließungen gefolgt, deren Tragweite der Kaiser
selbst offenbar nicht übersteht, über deren bedenklichen Charakter aber Nie mand im Zweifel sein kann.
CS ist ein wahres Verhängniß für Rußland,
daß der Herrscher, dessen Privatleben als ein durchaus tadelloses anerkannt ist, der sich im Krieg wie im Frieden als ein strenger, gewissenhafter und
tüchtiger Heerführer und Verwalter erwiesen hat, gerade der wichtigsten und
unentbehrlichsten Fähigkeit ermangelt, den von Außen auf ihn eindringen
den Eindrücken Stand zu
halten und den nothwendigen Entschluß zur
ES hat fast den Anschein,
rechten Zeit zu fassen.
als ob er in dem
Grafen Ignatjew den Mann gefunden habe, der, gewissen- und rücksichts los die allrussischen Velleitäten deS Herrschers zu seinen Zwecken auS-
beutend, ihn von der Qual des Zweifels befreit und ihn, der zu herrschen Die Fortsetzung der systemlosen Politik Kaiser
glaubt, selbst beherrscht.
Alexander III. wäre ein Uebel gewesen, aber vielleicht noch das geringere Uebel im Vergleich zu einem System,
welches,
blind oder verräthe-
risch, die Zersetzung deS russischen StaatSkörperS beschleunigt.
Die Um«
sturzpartei kann ihre Zeit abwarten In der ruhigen Ueberzeugung, daß die kaiserliche Regierung
breiten
Schichten der
für sie arbeitet.
An Symptomen einer die
russischen Nation immer
tiefer durchdringenden
Gährung fehlt es schon jetzt nicht; eS genügt an die Judenhetze in Süd
rußland und die Ausbreitung deö SectenwesenS, deren Anhänger sich jetzt
schon nach statistischen Angaben auf 14 Millionen belaufen sollen, zu er
innern.
In den höchsten Kreisen der Verwaltung, ja in der nächsten Um
gebung deS Kaisers werden fast täglich Parteigänger der „Nihilisten" ent deckt, so daß man unwillkürlich zu dem Verdacht kommt, die Anklage wegen
Russische Aussichten.
206
Theilnahme an der nihilistischen Verschwörung sei für die jetzigen Macht
haber der bequeme Vorwand, unbequeme Persönlichkeiten aus dem Wege
zu schassen. So wird von unten und von oben der Zündstoff aufgehäuft, den ein Funke, mag er kommen, woher er will, in dem rechten Augenblick zu
einem revolutionären Brande anfachen kann, der vielleicht zugleich der
Selbstherrlichkeit des russischen KaiserthumS und dem Bestände des russi schen KoloffeS ein Ende machen wird.
Wenn die russischen Staatsmänner
heute „Reform" für ein Fremdwort erklären, welches man in Rußland nicht verstehe — daS Fremdwort „Revolution" wird nicht unverstanden
bleiben.
k.
Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte. i.
Die recht- und friedlosen Leute.
Faßt man unsere heutige Gesellschaftsordnung ins Auge, so fällt als bald gegenüber derjenigen der alten Zett eine scharf abweichende. That sache auf, die wir als einen der Cardtnalsätze der modernen sozialen Er rungenschaften zu betrachten berechtigt sind:
ich meine den gleichmäßigen
Schutz des Gesetzes, dessen sich alle Glieder der bürgerlichen Gesellschaft
zu erfreuen haben, dessen sogar diejenigen noch theilhaftig sind, welche sich durch verbrecherische Handlungen irgend welcher Art außerhalb des
Rechts gesetzt haben.
Es gibt heutzutage keine Gesellschaftsklassen mehr,
welche schon durch ihr bloßes Dasein, ohne durch rechtswidriges Handeln
sich gegen die gesellschaftliche Ordnung aufgelehnt zu haben, Kreise der schutzberechtigten Gesellschaft ausgeschlossen sind.
aus dem
Mit solchen
sozialen Mißbildungen gründlich aufgeräumt zu haben, ist eines der haupt
sächlichsten Verdienste der sogenannten Aufklärungöperiode des Jahrhunderts.
Gerade weil die Verfechter derselben
vorigen
mit Waffen des
Geistes und der höheren Bildung gegen die überkommenen sozialen Zu
stände ankämpften, hat sich die Umbildung derselben zwar nur langsam, aber sicher und gründlich vollzogen, und eS ist eine durchaus nicht zu
treffende Behauptung, wenn man das Hauptverdienst daran der mehr
äußerlich und gewaltthätig wirkenden französischen Revolution von 1789 zuschrcibt.
Sie hat nur vollendet und abschließende Form gegeben, nach
dem die Neubildung In der öffentlichen Meinung und vielfach auch in der äußerlichen Gestaltung
schon Jahrzehnte vorher begonnen hatte.
Wie
wäre dies auch anders möglich, da bloß äußerliche Mittel geistige Be wegungen — und zu diesen gehören die sozialen Umgestaltungen in einem
besonders hervorragenden Sinne — zwar unterstützen, aber niemals her
vorrufen können, wie es umgekehrt ebenso richtig ist, daß solche Bewe gungen nur sehr schwer und langsam ohne Zuhilfenahme äußerer Gewalt,
durch rein geistige Mittel sich verdrängen lassen. Preußische Jahrbücher. Bd. XLV111. Heft 3.
Wie der einzelne Dkensch
16
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.
208
und die Gesammtheit der menschlichen Gesellschaft
eine Mischung
von
Geist und Materie, Idealismus und Realismus ist, so vollzieht sich auch daS Wachsen und Werden des Einzelnen sowohl als die geschichtliche Ent
wicklung der ganzen Menschheit unter dem Einfluß theils idealer, geistiger, theils materieller, mechanischer BildungSfactoren.
Beide Elemente er
gänzen sich gegenseitig: die äußere Gewalt — die freilich vorwiegend sich wieder auf innerliche, geistige Motive wird stützen müssen, wenn sie einen
nachhaltigen Erfolg erzielen will — beschleunigt und vollendet den Prozeß
gesellschaftlicher Neubildungen, welche die vorausgeeilte höhere Bildungs stufe Einzelner begonnen hat.
Niemals dagegen vermochte erstere allein
andere als bloß ephemere geistige Umgestaltungen in'S Leben zu rufen; wo ihr dies einmal scheinbar gelungen ist, hat — ich erinnere nur an die josephinischen Reformen in Oesterreich — ein Zufall das ganze Ge
bäude in Trümmer geworfen.
Und wenn eine spätere Zeit wieder an
solche angeknüpft hat, so hat sie dies nur unter Zuhilfenahme der geistigen BewegungSfactoren thun können, wenn nicht überhaupt in Folge jenes gewaltthätigen Eingreifens die Möglichkeit einer Reform für lange Zeit
hinaus verloren gegangen ist.
Als ein charakteristisches Merkmal unseres Jahrhunderts wird man in erster Linie die Auflösung des alten Ständebegriffs hinstellen dürfen.
Zwar ist dieser Prozeß noch nicht völlig zum Abschluß gebracht, aber die Conturen des Bildes sind doch schon so sehr verwischt und die Linien
desselben so in einander übergegangen, daß daS alte Bild kaum mehr er
kennbar ist: noch wenige Jahrzehnte weiter so werden auch diese letzten Reste der früheren ständischen Gliederung der Gesellschaft verschwunden sein.
Gerade auf diese aber baute sich die Möglichkeit eines Ausschlusses
ganzer Gesellschaftsklassen aus der Gesellschaft selbst
auf.
Wie jeder
Stand in sich fest abgeschlossen war und seiner genau bestimmten und ihm durch die übrigen Stände garantirten Rechte genoß, so mußte eS
schließlich auch eine Anzahl Menschen geben, die man nicht unter diesen oder jenen Stand subsumiren konnte, die also außerhalb der ständischen
Gliederung, d. h. nach damaliger Auffassung überhaupt außerhalb der Gesellschaft standen.
Es wäre das an und für sich noch kein erschwerender
UÄstand gewesen, wenn nicht eben das Rechtsgefühl der damaligen Zeit
Leute, welche keiner anerkannten Corporation gehörten, nun auch sofort als ausgeschlossen von dem gesetzlichen Schutz und der standesgemäßen
Ehre betrachtet hätte.
Es ist eine durch die ganze alte Gesellschaftsge
schichte wie ein rother Faden durchgehende Anschauung, daß der Einzelmensch für sich gar nichts gilt, sondern Anerkennung, Schutz und Ehre
erst dadurch findet, daß er sich nicht nur einer Gemeinschaft anschließt,
sondern auch mit seinem gesammten Thun und Treiben in derselben auf geht.
Bis in's Kleinste hinab regelt jene die einzelnen Seiten der Existenz
des Mitglieds: von seiner Geburt bis zu seinem Tode, ja noch über diesen hinaus ist dessen ganzes äußeres Handeln nicht nur, sondern auch seine gesammte Denk- und Anschauungsweise durch einen förmlichen Codex gesellschaftlicher Regeln eng begrenzt und bestimmt.
Nur so weit er inner
halb dieser ihm gezogenen Schranken sich bewegt, hat er Anspruch auf Anerkennung und Schutz Seitens der Corporation und des Staatsganzen,
das dtrect nicht mit dem Einzelnen verkehrt, sondern nur ein mittelbares, durch das Medium der Corporation gehendes Verhältniß zu demselben
hat, wenn überhaupt die Gesammtheit zahlloser größerer und kleinerer, unter einander nur lose verbundener Gemeinschaften ein Staatswesen ge
nannt werden darf.
Wer aus dem GemeinschaftSverbande auStritt, oder
wer von Anfang an keinem solchen angehört, ist vom gesellschaftlichen Standpunkt auS betrachtet nicht mehr vorhanden und steht außerhalb deö
Rechts und der Ehre der Gesellschaft, d. h. ist vogelfrei. ES ist nun eine Thatsache von der schwerwiegendsten Bedeutung, daß
der Eintritt in eine solche Genossenschaft durchaus nicht ein freier Willensact
des Einzelnen gewesen ist.
Wäre dies der Fall gewesen, so wäre nicht
abzusehen, warum nicht jedermann sich beeilt hätte, Schutz und Ansehen einer Corporation sich zu verschaffen.
Von unehrlichen Leuten würde dann
die Culturgeschichte nichts zu berichten haben.
Vielmehr war jener Eintritt
in den Schutzverband irgend einer Genossenschaft wenigstens in der späteren Zeit auch wieder nur ein Recht, daS der Betreffende nur unter bestimmten
Voraussetzungen erwerben konnte.
Ursprünglich mag dies allerwärtS an
ders gewesen sein und der Beitritt einem Jeden offen gestanden haben, späterhin aber haben sich die einzelnen Kreise abgeschlossen und die Auf
nahme an mehr oder minder beschwerliche Bedingungen geknüpft oder auch
ganz unmöglich gemacht.
Wir werden daher auch in den früheren Jahr
hunderten, wie überhaupt keine engere ständische Gliederung, so namentlich auch keinen engherzigen Abschluß der Unterabtheilungen der Stände, eben
unserer Genossenschaften, bemerken, während späterhin dieser CorporationS-
geist sich bis zur Verzerrung ausgebildet hat.
Warum nun jener Aus
schluß gerade diesx und jene Klasse von Menschen traf, darüber läßt sich
ein allgemeines Motiv nicht ausfindig machen, eS sei denn daß wir sagen wollen, daß
die Gesellschaft in ihrem Berufe etwas Unehrliches sah:
warum aber der betreffende Beruf anstößig erschien, daS hat fast bei jedem
einzelnen seine besondere Bedeutung. Theilen wir die vogelfreien Leute der alten Gesellschaft in solche ein,
welche sich durch eine rechtswidrige Handlung außerhalb des Schutzver16*
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.
210
bandeS, dem sie bisher angehört, gesetzt haben, und in solche, welche schon durch ihre bloße Existenz, ohne irgendwie durch ihr Handeln die Rechts
ordnung zu gefährden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, so tritt
unS schon bezüglich der erstgenannten Klasse in der Anschauungsweise der älteren Zeit gegenüber der modernen Rechtsanschauung der principielle
Unterschied entgegen, daß diese letztere auch den schwersten Verbrecher noch als
ein Glied der menschlichen
Gesellschaft
betrachtet
und demgemäß
schützt und ehrt, so weit nicht dieser Schutz und diese Ehre ihm durch
richterliches Erkenntniß abgesprochen worden ist. das gerade Gegentheil der Fall.
In der alten Zeit war
Da konnte der Schutz gegen die Lynch
justiz jedes andern Gesellschaftsglieds nur dadurch einigermaßen erlangt werden, daß sich der Verbrecher sofort nach begangener That freiwillig dem Gericht stellte und sich zu allem dem erbot, was der Beleidigte —
entweder das Gericht oder der thätlich Betroffene oder die Familie des selben — als Sühne forderte.
Entfloh er, so verfiel er in die Acht, d. h.
in den Zustand völliger RechtSlosigkeit, wo ihn jeder ohne weitere Pro zedur wie einen tollen Hund todtschlagen durfte, ohne dadurch gegen daS Strafgesetz zu verstoßen.
war auS
Der Geächtete war eben kein Mensch mehr, er
der menschlichen Gesellschaft und ihrer gegenseitigen Schutz-
garantie auSgeschieden. Ja diese Recht- und Friedlosigkeit ging so weit, daß auch diejenigen, welche dem Geächteten Schutz gewährt oder ihn nicht
ergriffen hatten, wenn sie ihn antrafen, oder späterhin Fürbitte für ihn ein legten, mit einem Wort in irgend eine Berührung mit demselben getreten
waren, in die gleiche Strafe verfielen.
Gerade dieser letzte Umstand, das
Verbot des Nichtverkehrs mit dem Rechtslosen, begegnet unS durchgängig bei den rechtlosen Leuten der alten Zeit und zwar gleichgiltig, ob diese
der ersten oder zweiten Klasse der von unS gemachten Eintheilung ange
hören: nicht nur die Berührung mit dem Geächteten, auch diejenige mit
dem Nachrichter z. B rechtlos zu machen.
genügte, um den Betreffenden ebenso fried- und
Zwar nicht der Rache jedes einzelnen GefellfchaftS-
gliedS, wohl aber derjenigen des Beleidigten wurde der Verbrecher preis gegeben, wenn er nicht seinen Frieden mit diesem machte.
Der Schutz
der Gesellschaft war dann nur ein einstweiliger gewesen; er dauerte so lange, als man glauben konnte, daß der Verbrecher nicht aus seiner Ge
nossenschaft ausgestoßen würde.
Und dabei ist es ein weiterer Beleg für
unsere Annahme eines innigen Zusammenhangs des Einzelindividuums
mit dem zugehörigen Kreis, daß sogar ein so eminent öffentliches Interesse
wie die Strafverfolgung während des ganzen
Mittelalters fast aus
schließlich in die Hand der dem Beschädigten zunächst stehenden Corporation — meist der Familie im weiteren Sinne — gelegt war.
Wenn sich dies
auch für den Fall, daß der unmittelbar Beschädigte faktisch nicht mehr in
der Lage ist, seinen Sühneanspruch selbst verfolgen zu können (z B. bei
Todtschlag), damit genügend erklären läßt, daß dann eben die Erben, wie in die Vermögensrechte, so auch in die Pflichten des Erblassers eintreten, so reicht doch diese Erklärung nicht aus, wenn der Beschädigte z. B. am
Leben geblieben ist und vollkommen befähigt ist, das ihm widerfahrene Unrecht zu verfolgen.
Hier müssen wir vielmehr ein neben dem Rache
recht des ursprünglich Beleidigten hergehendes gleichberechtigtes Recht auf Sühne auf Seiten der Sippe, der engsten und ursprünglichsten Form der
mittelalterlichen Genossenschaft, annehmen, wenn wir nicht überhaupt daerstere nur als einen Ausfluß des letzteren, die Einzelperson auch hier ledig lich als eine Art Mandatar der beleidigten Genossenschaft auffassen wollen. ES würde mich zu weit führen, wollte ich hier den tiefen Unterschied
der alten und modernen Rechtsanschauung bezüglich der Behandlung der
durch eigenes rechtswidriges Handeln aus der Gesellschaft auSgestoßenen Elemente noch weiter verfolgen.
Prägnanter noch ist jener Gegensatz bei
der zweiten von uns gekennzeichneten Personenklafle derjenigen, durch
ihr bloßes Dasein
außerhalb des
welche
ständischen und korporativen
Schutzverbandes stehen, mit andern Worten recht- und friedlos oder, wie
ein sehr bezeichnender VolkSauSdmck sagt,
vogelfrei sind.
Auch hiebei
wird sich wieder eine natürliche Abtheilung derselben dadurch ergeben, daß die Einen lediglich durch zufällige Umstände (wie Geburt, Beruf) in jene
Sonderstellung gedrängt sind, während die andern nicht ganz ohne eigenes
Zuthun sich deS Anspruchs auf Schutz und Ehre begeben haben, wenn freilich dieses Zuthun, wenigstens nach moderner Anschauung, bei weitem nicht htnreicht, die Betreffenden als außerhalb des Rechts stehend zu betrachten.
Beginnen wir mit der ersten Abtheilung, so stoßen wir innerhalb der
alten Gesellschaftsklassen sofort auf eine Reihe von
Berufsarten,
welche den sie Betreibenden auS der menschlichen Gesellschaft auSschlteßen. Die meisten dieser Fälle sind hinlänglich bekannt, so daß ich rasch darüber
hinwegeilen darf.
AIS ehrlos machend wurden vor allem alle diejenigen
Hantierungen angesehen, welche sich mit der Execution verhängter LebenS-
und Leibesstrafen befaßten.
Wir haben oben bereits allgemein hervor
gehoben, daß dem früheren Mittelalter jene Richtung auf Ausschließung
ganzer Gesellschaftsklassen aus dem Rechte und dem Schutze der Gesell
schaft in einem bedeutend geringeren Grade eigen war als den späteren Jahrhunderten desselben.
Bezüglich der Ausschließung der Nachrichter sind
wir nun sogar in der Lage, nachweisen zu können, daß die Ausführung der Todesurtheile bis in das 13. Jahrhundert herein durchaus nicht als
entehrend angesehen worden ist.
Wie bet den alten Germanen die Hin-
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.
212
rlchtungen nur durch die Priester vollzogen wurden, so geschah dies späterhin während längerer Zeit blos durch ehrbare Personen, wie die Schöffen und
Fronboten waren.
Dieser Gebrauch schwand jedoch im Laufe der Zeit;
ja wahrscheinlich war es sogar schon früh der Fall, daß der mit Aus
führung der Todesurthetle beauftragte Schöffe oder Fronbote nicht selbst Hand anlegte, sondern hierfür einen Stellvertreter hatte.
Später wurde
das Amt des Nachrichters nicht nur als ein entehrendes, sondern auch als ein sündhaftes angesehen.
Es geht dies beispielsweise aus einem Schreiben
des Heilbronner an den Ulmer Rath aus der Mitte des 15. Jahrhunderts
hervor, in welchem es bezüglich eines vom ersteren entlassenen Schars richters heißt, derselbe habe sich in seinem Amte, Wandel und Wesen züchtiglich gehalten, sei aber nun durch Einsprache des heiligen Geistes
von seinem sündhaften Amte zur Buße und Besserung berufen worden;
hierzu habe der Bischof von Würzburg ihm eine offene Buße auferlegt;
diese habe er auch noch in Heilbronn begonnen; er wolle aber jetzt den heiligen Stuhl zu Rom besuchen, um sich daselbst durch demüthige Reue Ablaß seiner Sünden zu erwerben.
Und in der Instruction des Frank
furter Nachrichters vom Jahre 1446 heißt es, der Rath wolle diesen fortan nicht mehr für jede einzelne Hinrichtung bezahlen, sondern ihm jede Woche,
er möge richten oder nicht, einen Gulden geben, damit der Rath nicht an der
auf dessen
Geschäfte ruhenden
Schuld mitbetheiligt, sondern der
Züchtiger allein der Diener der Gerechtigkeit sei.
Auch der Vorgänger
deS damals angestellten Nachrichters hatte sein Amt mit der Erklärung niedergelegt, daß er wegen desselben in schweren Sünden gegangen sei und Gott bitte, ihm darum barmherzig zu sein.
Der entehrende Cha
rakter des Nachrichteramts erhellt daraus, daß der Inhaber nicht nur
nirgends in das Bürgerrecht ausgenommen wurde, sondern ihm untersagt war, am geselligen Leben Anderer Theil zu nehmen. erhielt derselbe kein ehrliches Begräbniß.
auch
Ebenso
Schon äußerlich kennzeichnete
ihn vor andern Leuten eine besondere Kleidung, die er selbst dann nicht
ablegen durfte, wenn er sein Amt ntedergelegt hatte.
Meist bestand diese
Kleiderauszeichnung in farbigen Lappen am Rockärmel und Armloch des
Mantels.
Die Berührung
desselben entehrte den Berührenden.
Im
Jahre 1576 strich deßhalb ein Bürger von Oppenheim seinen zum Durch peitschen verurtheilten Sohn eigenhändig mit Ruthen, damit derselbe nicht
dem Henker unter
die Hand komme.
Und 1590 geschah es sogar in
Frankfurt, daß, als dem von andern verfolgten Scharftichter sein Schwert entfiel und ein Ztmmermeister dasselbe aufhob, der letztere deßhalb von
den Mitmeistern und Gesellen für unehrlich gehalten wurde, und daß zu seinem Schutze der Rath bei der Zunft einschretten mußte.
Es gehört
zu den vielen Naivetäten der mittelalterlichen Rechtsanschauung, dem Voll strecker der GerechtigkeitSpflege,
die mit bewußter Absicht zu einer so
blutigen gemacht worden war, dafür gleichsam zum Sündenbock eigener
Schuld zu machen, wenn auch nicht übersehen werden darf, daß die Nach richter der damaligen Zett meist der rohesten Klasse der Bevölkerung an
gehörten und ihr Amt demgemäß auch mit ausgesuchter Brutalität auS-
geübt haben werden.
Dazu kommt noch, daß zu seinen Obliegenheiten
nicht blos das eigentliche Htnrtchten der Deltquenten, sondern auch noch andere Prozeduren gehörten, die als noch entehrender als das Richten selbst angesehen wurden.
Hierher gehört daS Reinigen des Hochgerichts,
das Abnehmen der Leichen der Gehenkten oder das Wiederaufhenken der selben, wenn sie abgefallen oder von fremder Hand abgeschnitten worden waren, das Begraben derselben im Felde, die Execution der Selbstmörder, daS Hinauspeitschen der zu schimpflicher Verbannung Verurtheilten, daS
Ertränken und Erschlagen der frei umherlaufenden Hunde, die Aufsicht über die liederlichen Dirnen u. a.
Gleich entehrend wie die Hantirung
deS Meisters wurde natürlich auch die ihm durch seine Knechte (Stöcker, Schinder) gethane Hilfeleistung betrachtet, wie auch die Familienange
hörigen derselben aus der Gesellschaft der übrigen Menschen auSgestoßen
waren.
Um jede Berührung mit den so Geächteten möglichst zu ver
meiden, baute man ihnen eigene, von den Wohnungen der
Menschen weitabltegende Häuser; das Verlassen
derselben
übrigen
oder ihres
nächsten Umkreises war ihnen verboten oder, wenn sie auch die Stadt be treten durften, so war ihnen hiefür eine bestimmte Zeit- und Raumgrenze
vorgeschrieben.
Die allgemeine Rechtlosigkeit schließt natürlich nicht auS,
daß ihnen nicht in der einen oder andern Richtung gleiches Recht mit
den Uebrigen zuerkannt wurde:
aber — und das ist doch wieder
ein
neuer Beleg für ihre Sonderstellung — diese partielle Ehrltchmachung
erfolgte immer nur durch Einzelprivilegien, meist von kaiserlicher Hand. Der Beruf deS Nachrichters ist nach mittelalterlicher Anschauung ein
seinen Inhaber durchaus entehrender.
Daneben kommen nun auch Be
rufsarten vor, welche die sie Betreibenden zwar machen,
nicht geradezu ehrlos
ihnen aber doch einen Makel an ihrer Ehre anhängen.
diesen gehören z. B. die Bader und Scherer, die Abtrittsreiniger,
Zu die
Hirten, die fahrenden Spielleute (Musikanten) und Gaukler, die lieder
lichen Dirnen u. a.
Bet den Badern, Scherern und Abortreinigern ist
wohl die Rücksicht auf ihren unfaubern Erwerbszweig für ihre geringere Werthschätzung maßgebend gewesen.
Die Pflege eines andern als des
eigenen Körpers galt durchgängig für anrüchig — wiederum ein Beweis der naiven Rechtsanschauung der alten Zeit, da keine andere so sehr der
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.
214
Reinlichkeitspflege obgelegen hat, nichts desto weniger aber diejenigen, welche aus dieser ein Gewerbe gemacht haben, aus dem Kreise ehrbarer Leute ausschließt.
Eine natürliche Folge hievon war, daß meist nur ver
rufenes Gesindel in den öffentlichen Badestuben bediente, und dieselben, was ihren guten Ruf anlangt, nicht viel vor den Frauenhäusern voraus
hatten.
Daß z. B. AgneS Bernauer, bevor sie von Herzog Albrecht von
Bayern entführt wurde, Bademagd war, hat dem Vater deS letzteren das
grausame Vorgehen gegen die Unglückliche leichter und in den Augen der Mitwelt entschuldbarer gemacht, als wenn diese eine Bürgerstochter ge
wesen wäre, wie man früher fälschlich angenommen hat.
DaS Reinigen
der Aborte wurde da und dort für so ehrschädigend angesehen, daß nie mand sich zu diesem Geschäfte hergeben wollte und
der Stadtobrigkeit
nichts übrig blieb, als den Henker damit zu beauftragen.
ursprüngliche
strenge
Hofhörigkeit
der
Straßburger
Und für die
Weinwirthe
des
frühesten Mittelalters spricht kein Zeugniß so zuverlässig und beredt, als daß sie noch im 12. Jahrhundert verpflichtet waren, die Aborte deS Bi
schofs stets rein zu erhalten.
Bei den Hirten ist wohl die große Dürftig
keit Anlaß gewesen, sie gesellschaftlich hintanzusetzen und sie z. B. nur
außerhalb deS eigentlichen Dorfes in eigenen Häuschen wohnen zu lassen. Bet den übrigen von unS namhaft gemachten Erwerbszweigen kommt dann
neben der Verächtlichkeit derselben bereits die criminelle Seite in Betracht. Namentlich wirkt hier die unstete Lebensweise, das beständige Hin- und
Herziehen dieser Leute ungünstig auf die öffentliche Meinung über die
selben.
Das Mittelalter mit seiner fest an dem eigenen Boden haftenden
Seßhaftigkeit empfand kein Bedürfniß, über den engsten LebenSkreiS hin aus fremde Verhältnisse und Zustände kertnen zu lernen.
Ursprünglich
galt nur derjenige, welcher auf eigenem Grund und Boden saß, für völlig frei, wie umgekehrt nur der freie Mann befähigt war, Grundbesitz zu er
werben.
Und nur der Freie genoß damals die volle Ehre.
Späterhin
hat sich diese strenge Anschauung allerdings dahin gemildert, daß Grund besitz nicht mehr die alleinige Bedingung der echten Freiheit sei,
daß
daneben auch der auf fremdem Grund und Boden Sitzende der gleichen Freiheitsrechte theilhaftig sein könne, wenn nur seine Leistungen gegen den
Grundeigenthümer keinen hörigen Charakter hatten.
Immerhin war von
der früheren Anschauung so viel zurückgeblieben, daß Leute, deren Besitz
lediglich in einer geringen Fahrhabe bestand, geringer geschätzt wurden.
Auch das darf nicht übersehen werden, daß die Geschlossenheit und Ge
bundenheit deS mittelalterlichen Gewerbes keinen Genossen neben sich auf kommen ließ, der nicht zu einem bestimmten OrtSverbande gehörte.
sein Gewerbe frei, d. h. außerhalb
deS
Wer
zünftischen Verbandes betrieb,
mochte das Gewerbe und die Führung desselben auch noch so anständig
sein, hatte kein Ansehen in den Augen der Gesellschaft.
Verschloß man
einem solchen auch nach Möglichkeit durch eine Reihe oft der kleinlichsten und engherzigsten Präventivmaßregeln
den einheimischen Markt, ganz
konnte man doch den Gewerbebetrieb solcher unzünftiger Leute nicht hin
dern und rächte sich nun für das Mißverhältntß, daß diese durch keine Zunftschranken eingeengten Elemente ihre Waaren ebenso an den Mann
bringen konnten, dadurch, daß man dieselben in der öffentlichen Meinung herabzusetzen versuchte.
Recht bezeichnend existtrt für alle diese die Be
zeichnung „fahrende Leute", bereits mit einem starken Anklang deS Un regelmäßigen und Unordentlichen ihres Wandels, der an und für sich der
anständigste,
derjenigen der privilegirten Gesellschaft völlig gleiche sein
kann, in der Meinung der letzteren aber nothwendig ein schlechter sein
So oft wir das Adjectiv „fahrend" einem Namen vorgesetzt finden,
muß.
können wir regelmäßig versichert sein, daß damit etwas Verächtliches oder
wenigstens moralisch Zweifelhaftes und Verdächtiges ausgedrückt werden soll.
Die Bezeichnung „Schüler" z. B. weist auf einen Lehrjungen eines
gelehrten Meisters hin, der Beisatz „fahrender Schüler" bezeichnet jene übel berüchtete Klasse von einer Stadt zur andern ziehender, nur nominell
dem Studium, in Wahrheit aber ganz andern Dingen, wie Betteln, Stehlen u. a. sich widmender junger Leute.
„Fräulein" ist ein hoch auS-
zeichnendes Epitheton der unverheiratheten Frauensperson,
„fahrendes
Fräulein" dagegen bedeutet eine der Unzucht gewerbsmäßig ergebene Person. Alle diese fahrenden, d. h. ohne festen Wohnsitz frei umherziehenden
Leute gehören nicht zu der Gesellschaft, entbehren deS Schutzes und der Rechte derselben, die nur die Zugehörigkeit zu einer anerkannten Genossen
schaft einbringt.
DaS schloß jedoch nicht aus, daß ihnen, falls nur da
durch der Stadt irgend ein Vortheil erwuchs, der Schutz der Obrigkeit zu Theil wurde.
Augsburg
insofern
So waren beispielsweise vogelfrei,
als
an
die liederlichen Dirnen in
ihnen
keine Nothzucht — ein
sonst mit Lebendtg-Begraben bestraftes Verbrechen — begangen werden konnte.
Trotzdem erscheinen sie andererseits wieder durch eine Reihe An
ordnungen geschützt, die freilich, wenn man näher zusieht, nicht in ihrem Interesse, sondern lediglich in dem des Publikums getroffen sind, oder
aber auch so verstanden werden können, daß sie nicht einer Person, son dern vielmehr einer kostbaren Sache, an deren Erhaltung viel gelegen ist, gewidmet sind, gerade wie man z. B. ein edleS Zuchtthier mit beson
derer Vorsorge zu behandeln pflegt.
Und es ist dies ein weiterer Beleg
für den naiven Sinn des Mittelalters, daß es die Existenz nicht nur,
sondern auch die Aufpflege der liederlichen Dirnen als ein Bedürfniß
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.
216
gelten ließ, dieselben aber zum rohesten Abschaum der Gesellschaft hinab verbannte und jedem Versuch, sich daraus emporzuarbeiten, einen unübersteiglichen Damm vorschob.
So waren die Augsburger „fahrenden Fräu
lein" der Aufsicht und Pflege deS Henkers unterstellt, der über alle sie betreffenden Angelegenheiten richtet und dafür von einer Jeden wöchentlich
zwei Pfenninge empfängt; weiter hat er darauf zu achten, daß dieselben
zu keiner Zeit, weder des TagS noch des NachtS, die eigentliche Stadt be treten; fand man sie darinnen, so schnitt man ihnen die Nase auS dem Kopfe. Es sei mir gestattet, gleich hier an eine andere Gesellschaftsklasse zu erinnern, die streng genommen nicht unter die von uns gekennzeichneten
Kategorien gehört, aber doch bezüglich der ihr zu Theil gewordenen Be
handlung so viel Aehnlichkeit mit jenen hat, daß ich sie füglich hierher zählen darf.
Die sociale Stellung der
Juden im
Mittelalter war
nämlich gleichfalls eine geächtete, wenn schon die Ursache dazu weniger in
dem Beruf oder in der moralischen Aufführung als vielmehr in der re ligiösen Sonderstellung derselben zu suchen ist, obgleich auch die ersteren
ganz unzweifelhaft zu ihrer Geringachtung mitgewtrkt haben.
Bekanntlich verbreiteten sich die Juden schon bald nach der Zerstörung Jerusalems durch TituS (im Jahre 70 nach Christus) über die südlichen
und westlichen Länder Europa's, insbesondere
auch über die von den
Römern okkupirten Rhein- und Donaugegenden Deutschlands.
Wir übergehen hier ihre Stellung unter der Herrschaft der Römer und
bemerken nur, daß dieselbe eine verhältnißmäßig gesicherte war.
AIS das römische Reich den deutschen Eroberern zur Beute fiel, blieb auch zunächst dieser Rechtszustand noch bestehen, ja besserte sich vielmehr
unter den Karolingern, namentlich unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen.
Ein Wendepunkt tritt erst durch die Kreuzzüge ein.
Während sie bis dahin im Wesentlichen nicht anders, als die übrigen Einwohner der Städte behandelt worden waren, gelang es der durch die
Kreuzzüge zu völliger Entwickelung gelangten Hierarchie, den Pöbel zum wilden Fanatismus gegen die Unglücklichen zu erregen.
Tausende wur
den in dem frommen Wahne hingeschlachtet, daß man durch ihr Blut
das Blut des Heilands rächen müsse.
Damals waren eS die deutschen
Kaiser, die die Verfolgten in ihren Schutz nahmen.
AuS diesem Schlitz
entwickelte sich allmählich die Auffassung, daß die Juden im ganzen Reich sich unter der besonderen Schirmherrschaft des Kaisers befänden und ihm dafür zu Abgaben verpflichtet seien.
Dieses Verhältniß
bezeichnen die
Geschichtsquellen des Mittelalters mit dem Ausdrucke: „Kammerknechtschaft".
Der König ist der allgemeine Herr der Juden, jedoch nicht in dem Sinn, daß die Letzteren Leibeigene sind, über deren Gut und Blut der Erstere
nach Belieben verfügen könnte; daher ist auch der Jude als Kammer knecht nicht der schrankenlosen Willkür des Kaisers preisgegeben, sondern
nur zu Steuern an ihn verpflichtet.
Dieses
Judenschutzgeld wurde als
königliches Regal zum öftern an weltliche und geistliche Fürsten und an
die freien Städte verliehen, welche dann zugleich auch die Verpflichtung
zum Judenschutz übernahmen. Die Juden einer Stadt bildeten nicht bloß eine religiöse Gemeinde, welche in der Synagoge ihren Mittelpunkt fand, sondern auch eine Ge
meinde in kommunaler und rechtlicher Beziehung.
Als solche war sie von
den städttschen Beamten eximirt, stand unter eigener Obrigkeit und be saß auch die Gerichtsbarkeit über ihre Angehörigen.
Diese Organisation
hing mit der Neigung des Mittelalters zusammen, die sozialen Kreise auch juristisch zu trennen und Personen desselben Standes und derselben recht lichen Stellung eine korporative Stellung zu geben.
So wie der Klerus,
sowie Vasallen und Ministerialen, wenn sie in einer Stadt wohnten, von
den regelmäßigen Obrigkeiten eximirt waren, so erhielten auch die Juden ihre abgesonderte Stellung. derung
auch den
Interessen
Dazu kam noch, daß eine derartige Abson
der Juden entsprach, und
daß sie ihre
Streittgkeiten unter einander gerne von Mitgliedern ihrer Nation und Religion entscheiden ließen, um den ihnen übelwollenden Christen keinen
Einfluß auf ihre Rechtsverhältnisse zu gestatten und um ihr nationales
Recht zur Anwendung zu bringen.
An "der Spitze
der Judengemeinde
stand der Judenmetster; diesem zur Sette stand ein von den jüdischen Hausvätern gewähltes Rathskollegium von 12 Mitgliedern, das zugleich
im Gerichte als Schöffenkollegium fungirte.
Der lokale Mittelpunkt der
Gemeinde war die Judenschule; auf ihr wurde Rath und Gericht gehal ten.
Wenn wir oben bemerkt haben, daß die Juden ihre Streitigkeiten
unter einander selbst richteten, so ist hievon die sogenannte blutige Ge richtsbarkeit auszunehmen, d. h. diejenigen Fälle, in denen es dem Be
klagten an Leib und Leben ging. kompetent.
Hier war ausschließlich der Stadtvogt
Bon hohem Interesse sind ferner die Bestimmungen über den
GerichtSeid der Juden.
Nach zwei Setten hin hat sich nicht bloß das
Mittelalter, sondern ebenso sehr auch noch die neuere Zeit darin gefallen, den Judeneid mit Raffinement auszubilden, einerseits was die Worte be
trifft, die der Jude zu sprechen hat, andererseits in Rücksicht auf seine
Kleidung und sein sonstiges Verhalten während des Schwures.
Durch
die abenteuerlichen Formen wollte man den Juden, von dem man fälsch
lich annahm,
daß er nach seinem Gesetz vor der christlichen Obrigkeit
einen Meineid schwören dürfe, von dem falschen Schwur zurückschrecken;
aber ebenso sehr ging man auch darauf aus, ihn zu demüthigen.
Schon
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.
218
in den Gesetzen Karls des Großen heißt eS: „streue Sauerampfer zwei
mal vom Kopf aus im Umkreis seiner Füße; wenn er schwört, soll er da stehen und in seiner Hand die fünf Bücher MosiS halten, gemäß seinem
Gesetz; und wenn man sie nicht in hebräischer Sprache haben kann, so soll er sie lateinisch haben."
Geradezu bis zur Tortur geht eine andere Vor
„ein Dornenkranz soll ihm auf seinen
schrift aus dem 11. Jahrhundert: Hals
gesetzt, seine Kniee umgürtet werden, und ein Dornenzweig von
fünf Ellen Länge, voll Stacheln, soll ihm, bis er den Eid vollendet hat,
zwischen den Hüften durchgezogen werden. — was
Wenn er heil davon kommt"
nur durch ein wahres Wunder geschehen konnte — „hat er sich
von der Anschuldigung gereinigt". Anderwärts waren die Formen weniger grausam, als demüthigend.
Man ließ den schwörenden Juden auf einer
Sauhaut stehen, auf der Haut des Thieres, welches zu essen ihm seine
Religion verbietet, und seine rechte Hand bis an's Gelenk in die fünf
Bücher MosiS hineinstecken.
Oder der Jude mußte auf nacktem Körper
einen grauen Rock und Hosen ohne Vorfüße anhaben, einen spitzen Hut
auf dem Kopf tragen und auf einer in Lammblut getauchten Haut stehen.
In Schlesien sollte der Jude nicht auf einem Thierfell, sondern auf einem dreibeinigen Stuhl stehen, wohl Stellung zu geben.
um ihm eine schwankende,
unsichere
Jedesmal wenn er herunterfiel, zahlte er eine Buße;
fiel er zum viertenmale herunter, so hatte er seine Sache verloren.
Auch im Strafrecht begegnin uns manche Sonderheiten. Sollte z. B.
ein Jude gehenkt werden, so setzte man ihm einen Judenhut mit brennen dem Pech auf's Haupt.
Wurde er gleichzeitig mit einem Christen ge
henkt, so hängte man ihn außerhalb des Galgens an einen Balken auf, um ihn von dem
verurtheilten Christen zu
unterscheiden.
Oder
man
hängte den Juden zwischen wüthenden Hunden auf, öfter mit dem Kopf nach unten.
Am furchtbarsten wurden die Fleischverbrechen zwischen Juden
und Christen bestraft.
Das Stadtbuch von Augsburg bestimmt, daß in
solchen Unzuchtsfällen die Schuldigen über einander gelegt und verbrannt werden sollten, „denn der Christ hat seinen Christenglauben verläugnet".
Man
sah in solchem Umgang das Unchristliche, ähnlich
Bestialität.
wie in der
Später wurde im Jahre 1590 ein Augsburger Jude, der mit
einer Christin Ehebruch getrieben hatte, nur mit Ruthen auögehauen.
Neben der körperlichen Züchtigung werden Gefängniß- und Geldstrafen für dergleichen Fälle erwähnt.
Der Jude Möfli war schon vom Rath
gestraft worden, weil er eine Bürgersfrau in Mannskleidern in's Bad
geführt und dort mit ihr gelebt hatte, „als es ihm dann fügt".
Als er
dessen nicht viel achtete, ward er wiederum gestraft, und zwar um 600 Fl., in den Thurm gelegt und aus der Stadt verwiesen.
Gegen die Frau
wurde erkannt: „man soll sie setzen auf einen Karren und durch die Stadt
führen an alle Orte, da man den Ruf thut, auch ein Judenhütlein von Papier ihro auf das Haupt setzen, und vor ihre durch die Stadt mit
zwei Nachtwacht-Hörnem blasen; danach soll sie ewiglich zwei Meilen von der Stadt bleiben; thäte sie darwider, so soll man sie blenden.
Ihre Mutter soll gleichfalls zwei Meilen von der Stadt bleiben, weil sie ihrer Tochter zu Allem zugeluget, da sie mit Möfli, dem Juden, zu
schaffen gehabt".
In einem anderen Falle, als eine Christin zwei Kinder
von einem Juden gehabt hatte, wurde auch der Pathe des ersten Kindes,
der gewußt, daß es ein Judenkind sei, mitbestraft.
Das Urtheil lautete:
„Seligmann müßte 20 Fl. Strafe zahlen, Elsa Meyerin soll man auf einen Karren setzen, ihre Arme bloß lassen, ihre Haare zerthun, kein Tuch
auf dem Haupte haben, ein Judenhütlein darauf setzen, also durch die Stadt und dann zur Stadt herausführen.
Wichelmann (der Pathe) soll
den Karren führen und auch ein Judenhütlein auf dem Haupte haben,
und soll man vor ihm mit Hörnen blasen." Ueberhaupt trug die ganze soziale Stellung der Juden im Mittel alter den Stempel des Gedrückten.
Es ist ein Zeichen der Rohheit des
Zeitalters, daß der Christ gegen den Juden aus nationalem und kirch lichem Widerwillen den tiefsten Haß hegte und demselben nicht bloß
im Leben bei jeder günstigen Gelegenheit freien Lauf ließ, sondern ihn
auch in seiner Gesetzgebung bethätigte und in der Literatur und Kunst verewigte.
Durch öffentliche Bilder, welche Szenen auS ihrer Leidensge
schichte darstellten, wurden sie verhöhnt.
Zu Deggendorf hat man durch
ein Bild über dem Stadtthor die blutige Bestrafung der Juden im Jahre
1337 für eine angebliche Hosttenschändung verewigt; zu Frankfurt a. M.
hat man auf der Mainbrücke nach Sachsenhausen zu, unter dem Brücken thurm, zum Andenken
an die angebliche Ermordung eines Kindes zu
Trient im Jahre 1475, das Gemälde eines mit Pfriemen zerstochenen KindeS und sonstige die Juden verunehrende Darstellungen angebracht.
Bet Renovirung deS Thurmes im Jahre 1677 waren die Frankfurter
Juden bereit, große Summen zu zahlen, wenn das Bild ganz verlöscht
würde, aber eS ist erst neuerdings beim Abbruch des Thurmes verschwun
den.
Aehnliche erniedrigende Darstellungen fanden sich auch anderwärts;
besonders pflegte man an Orten, welche von den Juden nicht betreten werden sollten, an Kirchen, christlichen Gasthäusern u. s. w., das Bild
einer Sau anzubringen.
MrgendS war man in den Mitteln bedenklich, die außerhalb des Christenthumes Stehenden unter die Herrschaft der Kirche und des christ
lichen StaatS zu ziehen.
In allen Ländern wurde, wenn der Fanatismus
erwachte, den Juden oft nur die Wahl gelassen zwischen der Taufe und den furchtbarsten Todesqualen.
Wenn auch bet vielen Verfolgungen das
eigentliche Motiv Habsucht und andere niedere Leidenschaften waren, so
wurde doch
immer die Fahne des Christenthums hoch gehalten.
Im
Namen des Herrn, um die Anbetung Christi weiter zu verbreiten und die Verräther des christlichen Glaubens zu bestrafen, gab man vor, die
Gräuel zu begehen.
Die Geistlichkeit suchte besonders auch dadurch den
Juden gegenüber zu gewinnen, daß sie in alter, ebenso wie in neuer und neuester Zeit, Kinder der Juden ohne Wissen und Willen der Eltern durch die Taufe für sich in Anspruch nahm. Was ihre Wohnstätten betrifft, so wohnten sie überall in einem be
Der Grund für diese lokale Absondermlg lag zu
sonderen Judenviertel.
nächst allerdings darin, daß in den mittelalterlichen Städten überhaupt
Leute
der
gewerblichen,
sozialen
oder kommerziellen Klasse bestimmte
Straßen einzunehmen pflegten, sodann daß die Juden, wie schon bemerkt,
eine besondere Gemeinde bildeten, deren Mittelpunkt die Judenschule war.
Das
hauptsächlichste
Motiv
bestand jedoch darin,
daß
die
Obrigkeit
wünschte, sie auf einen abgeschlossenen Raum zu beschränken, um möglichst
jede Berührung mit der christlichen Einwohnerschaft vermieden zu sehen. Deßhalb besaß auch jede Judengemeide ihr eigenes BadehauS und ihre be
sondere Fleischbank.
Ließ sich ein Jude außerhalb seines Hauses, nament
lich in den christlichen Quartieren blicken, so waren ihm bestimmte Kleider abzeichen vorgeschrieben.
Die entwürdigende Wirkung solcher Vorschriften
kennzeichnet ein berühmter Geschichtsschreiber unserer Zeit treffend mit fol genden Worten:
„Viereckig oder rund,
von safrangelber oder anderer
Farbe, an dem Hute oder an dem Oberkleide getragen, war das Jude'n-
zeichen eine Aufforderung für die Gassenbuben, die Träger zu verhöhnen und mit Koth zu bewerfen, war ein Wink für den verdummten Pöbel,
über sie herzufallen, sie zu mißhandeln oder gar zu tödten, war eS selbst
für die höheren Stände eine Gelegenheit, sie als Auswürflinge der Menschheit zu betrachten, sie zu brandmarken oder deS Landes zu ver weisen.
Noch schlimmer als diese Entehrung nach Außen war die Wir
kung deS Abzeichens auf die Juden selbst.
Sie gewöhnten sich nach und
nach an ihre demüthige Stellung und verloren das Selbstgefühl und die
Sie vernachlässigten ihr äußeres Auftreten, da sie doch
Selbstachtung.
einmal eine verachtete ehrlose Klasse sein sollten, die auch nicht im Ent ferntesten auf Ehre Anspruch machen dürfe.
Sie verwahrlosten nach und
nach ihre Sprache, da sie doch in gebildeten Kreisen keinen Zutritt er
langen und
unter
machen konnten.
einander
sich
durch
ihr
Kauderwelsch verständlich
Sie büßten damit Schönheitssinn und Geschmack ein
und wurden nach und nach theilweise so verächtlich, wie eS ihre Feinde wünschten.
Sie verloren männliche Haltung und Muth, so daß sie ein
Bube in Angst setzen konnte."
Die dunkelste Partie in der Geschichte des mittelalterlichen Juden-
thums sind jedoch die Judenverfolgungen.
ES wäre eine schauerliche Auf
gabe, durch den Verlauf von Jahrhunderten die Zeugnisse zu sammeln für die Unduldsamkeit, Barbarei, Gewinnsucht und den Aberglauben der Herrscher und deS Volkes und die beispiellose Widerstandskraft, Zähigkeit
und den Opfermuth der Juden, welche mit derselben Energie, mit welcher
sie einst den Römern getrotzt hatten, jetzt die Verfolgungen ertrugen und noch Lebenskraft behielten.
Deutschland steht in dieser Beziehung nicht
niedriger da, als die übrigen christlichen Länder, aber auch nicht über ihnen.
Die erste allgemeine blutige Verfolgung brachte der erste Kreuz
zug mit sich.
In ihrem religiösen Fanatismus erachteten es die Kreuz
fahrer für ihre erste Pflicht, schon in der Heimath mit Feuer und Schwert Propaganda für das Christenthum zu machen.
Vereinzelte Verfolgungen
fanden von da an fast in jedem Jahre statt; aber im Jahre 1298 wälzte
sich ein neuer Sturm unter Anführung des fränkischen Edelmanns Rind fleisch von Ort zu Ort.
anlassung der Verfolgung.
Eine angebliche Hostienschändung war die Ver Die Juden hätten eine Hostie in einem Mörser
gestoßen; auS ihr sei Blut in so großer Menge geflossen, daß sie eS nicht
mehr verbergen konnten.
Diesem albernen Märchen fielen unzählige Juden
in Franken, Bayern und Oesterreich zum Opfer.
Die allgemeinste und
verheerendste Verfolgung fand 1348 und in den folgenden Jahren, be
sonders im Jahre 1349, statt.
Der schwarze Tod, die furchtbare Pest,
war von Asien her wie der nichtSschonende Würgengel über alle Länder
Europas daher gezogen und hatte den vierten Theil der Einwohner hin
weggerafft.
Die tiefste Erschütterung bemächtigte sich der Gemüther.
Wie
erhaben würde die menschliche Natur erscheinen, wenn die tausend edlen
Handlungen, welche in Zeiten so großer Gefahr in der Stille geübt wer den, der Nachwelt aufbewahrt werden könnten!
Sie sind eS indessen nicht,
die in den Gang der Begebenheiten eingreifen; dagegen treten die Nacht
seiten der menschlichen Natur bei solchen Anlässen mächtig hervor.
Tau
sende religiös Fanatisirter zogen in wohlgeordneten Prozessionen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, das Haupt bis zu den Augen bedeckt, den Blick zur Erde gesenkt.
Angethan mit düstern Gewändern, trugen sie
auf der Brust, dem Rücken und dem Hute rothe Kreuze und führten große dreisträngige Geißeln mit drei oder vier Knoten, in welche eiserne Kreuz
spitzen eingebunden waren; Kerzen und prangende Fahnen von Sammet und Goldstoff wurden ihnen vorgetragen, und wo sie kamen, läutete man
mit allen Glocken, und das Volk strömte ihnen entgegen, ihren Gesang
zu vernehmen und ihren Bußübungen beizuwohnen. Geißler
oder Flagellanten.
Das waren die
Jetzt wurde auf einmal in den bis auf'S
Aeußerste erhitzten Gemüthern der Gedanke laut, die Juden hätten die
Brunnen vergiftet, sie allein sollten das große Sterben über die Christen
heit gebracht haben.
Fast allerorts wurden die Unglücklichen hingeschlachtet,
ihre Forderungen vernichtet, ihr baares Geld vertheilt.
Indem wir zu unserer eigentlichen Aufgabe zurückkehren, wollen wir, um den Lesern ein Bild von dem Treiben des fahrenden Gesindels in den alten Städten zu geben, hiezu das Achtbuch der Stadt Augsburg er
wählen, aus welchem unlängst der jetzige Archivar dieser Stadt, Herr Dr. Buff, das Material zu einer ebenso ausführlichen- als interessanten Schrift über das Verbrecher- und Gaunerthum des genannten Orts im
14. Jahrhundert geschöpft hat.
Wir lassen hier den ersten Theil dieser
Publication, welcher von den schweren Verbrechern handelt, bei Seite, ob wohl auch dieser eine Reihe der merkwürdigsten Gesichtspunkte und Auf
schlüsse giebt, und beschränken uns lediglich auf die Darstellung des dort
gekennzeichneten GaunerthumS.
Das hier gewonnene Resultat dürfte so
ziemlich in den meisten größeren Städten bei einer gleichartigen Unter suchung der einschlägigen sozialen Zustände wiederkehren: was Augsburg etwa einerseits an Einwohnerzahl gegenüber anderen Städten mangelte,
das ersetzte es andererseits wieder durch seinen lebhaften Verkehr.
Da
stößt unS nun zuvörderst die große Anzahl liederlichen Gesindels, daö sich in der Stadt herumtreibt, auf.
Eine ohngefähre Schätzung desselben wird
ermöglicht durch die Listen der alljährlich im Herbst unter dem Läuten der Sturmglocke aus der Stadt ausgetriebenen Individuen.
Leute" wurden die so Exequtrten genannt.
„Schädliche
Wir entnehmen daraus, daß
wir es bei ihnen nicht sowohl mit eigentlichen Verbrechern, als vielmehr
mit übelberufenen Personen zu thun haben, bet denen aber immerhin der Verdacht bezüglich ihrer Gemeingefährlichkeit so groß war, daß eine solche
Maßregel wie die obengenannte sich rechtfertigen ließ.
Neben den Kupplern
und Kupplerinnen kommen da große Mengen von Dieben und Diebs
hehlern, Säckelabschneidern, dann verschiedene Sorten von falschen Spielern,
Bettlern und Landstreichern vor.
Ich kann mir nicht versagen, hier einige
Proben dieser einzelnen Classen zu geben; der große Reichthum an Gauner arten und Namen illustrirt besser als eine weitläufige Abhandlung die
sittlichen Zustände jenes Zeitalters. Die Räuber heißen Abbrecher, Abreißer, auch Pfadsuche, die falschen Spieler theilen sich in Scholdrer, Bierharter, Fünfler, Köpper, die Land
streicher nennen sich Senner und Gtler.
Namentlich ist es der aber-
gläubische Sinn nicht bloß des gemeinen Volkes, welcher einer zahlreichen Classe von Betrügern einen mühelosen Erwerb schafft. Wahrsager, Teufels beschwörer, fingirte Priester und Mönche, fromme Pilgrime, die um irgend
welcher Sünden willen vorgeblich im Begriffe sind, nach heiligen Orten zu wallfahrten und die gläubige Einfalt dazu in Contribution setzen.
Auch der moderne Bauernfänger findet hier bereits sein Vorbild in dem Bauernverräther (burenveratter).
Buff nimmt an, daß bei dem regelmäßigen Austrieb tat Herbst oft 70, 80, 90, 100 und mehr Personen auf einmal fortgeschafft wurden. Rechnet man dazu noch diejenigen, die während des Jahres einzeln htnauSgetrieben wurden, dann solche, welche sich freiwillig entfernten oder auch
zurückblieben, so wird man nicht übertreiben, wenn man die Zahl der im Laufe eines Jahres in Augsburg sich
umhertreibenden Vaganten auf
ES ist das im Verhältniß zu heute eine
mehrere Hundert anschlägt.
enorm hohe Zahl, namentlich wenn man erwägt, daß die Stadt damals kaum 20000 Einwohner gezählt hat.
Recht bezeichnend ist dabei, daß
diesem liederlichen Gesindel die Stadt meist nur auf eine verhältnißmäßig
kurze Zeit verboten wurde, so daß sie nach Ablauf derselben ihr Unwesen
wieder
von Neuem
beginnen
konnten.
Eine Verbannung
auf immer
würde allerdings ganz resultatlos geblieben sein: ließen sich doch Biele
auch durch eine zeitweilige Ausweisung nicht abhalten, noch vor Ablauf des Termins wieder in die Stadt zurückzukehren, trotzdem darauf oft die grausamsten Leibesstrafen gesetzt waren.
Wo sollten sie auch anders hin,
da ihnen überall die gleiche Ausweisung drohte?
Es liegt ein wahrhaft
brutaler Egoismus der damaligen Strafrechtspflege darin, des vagirenden Gesindels sich einfach dadurch zu entledigen,
daß man dasselbe seinen
Nachbarn zutrieb, die natürlich die gleiche Praxis beobachteten, so daß schließlich der betreffende Missethäter, nachdem er im ganzen heiligen rö
mischen Reich umhergehetzt worden war, immer wieder bei seinem ersten
Ausgangspunkte anlangte.
Die ganze Theorie der Strafrechtspflege be
stand lediglich darin, den Verbrecher unschädlich zu machen.
Daher die
entsetzlich grausamen Strafen schon bei geringfügigen Vergehen: Henken
bei Diebstahl, Verbrennen bei Sodomiterei (häufig schon bei geschleckt-
lichen Vergehen
zwischen Juden und Christen), Lebendig begraben bet
Nothzucht, Handabhauen bet Meineid und Betrug u. s. w.
Freilich wurde
diese barbarische Strenge dadurch wieder gemildert, daß die meisten Ver
brechen mit Geld gelöst werden konnten, nur daß dadurch der zügellosen Rohheit der Vermögenden gleichsam von ObrigkeitSwegen Thor und Thüre
geöffnet war und der Ernst des Gesetzes nur dem Armen fühlbar wurde, dem keine materiellen Mittel zu Gebote standen, sich von der Strafe loSPnußische Jahrbücher. Bd.
XLVIII. Heft 3.
17
zukaufen.
Wenn überhaupt die Wirksamkeit des Strafgesetzes nicht sowohl
durch die Härte, als durch die Sicherheit der Strafe bestimmt wird, so
befand sich auch hierin das Mittelalter noch in den Anfängen einer ge ordneten Rechtspflege.
Buff rechnet heraus, daß während der Jahre 1338
bis 1368 von 169 in Augsburg verübten Todtfchlägen 164 ungeahndet
blieben, weil man der Thäter nicht habhaft werden konnte; an den fünf
übrigen waren neun Personen betheiligt; davon wurde einer begnadigt,
von einem ist nicht klar was mit ihm geschehen, die sieben andern wurden ausgewiesen.
Aber nur von dreien ist eö unzweifelhaft, daß sie persön
lich vor Gericht gestanden.
Erst späterhin verband man bei der Strafe
mit dem altgermanischen Rachebegriff auch die Absicht, Andere vom Ver
brechen abzuschrecken.
Darüber hinaus bei der Zumessung der Strafe
auch an eine Besserung des Verbrechers zu denken, dazu ist das Mittel alter nie gelangt.
Der Strafvollzug war meist ein rascher, soweit nicht
das rein formalistische Strafverfahren
aufschiebend in den Weg trat;
höchstens Kriegsgefangene, die ein reiches Lösegeld in Aussicht stellten, wurden länger gefangen gehalten, die eigentlichen Uebelthäter dagegen, wenn sie sich nicht mit Geld loskaufen konnten, rasch procedirt. Wie fleißig man dabei von den verstümmelnden Leibesstrafen Gebrauch machte, davon giebt eine Sammlung
von Beinamen, welche Buff auS gleichzeitigen
Quellen gewonnen hat, ein sprechendes Zeugniß: Johann mit dem Buch staben, Claiblin mit dem Mal, Jeckel mit dem Finger, der Vierfinger,
Zwtrggel mit der einen Hand, Walpurg mit dem Stumpf, der handlos
Schneider, das handlos Müllerlin, die ohrloS Elben, die naöloS Anna, die naöloS Metz, die eineugtg Carrnerin, der blind Schneider, der Baier
der Blind u. f. w. *). Die schlechte Polizei, verbunden mit der Rohheit und Abgestumpftheit der Bevölkerung, muß nun ganz erschreckende Zustände geschaffen haben.
Vor allem war die Unsicherheit der Person eine ganz exorbitante.
Mit
unter sind in einem Jahre 9, 10, ja 11 verschiedene Todtschläge ver zeichnet, sämmtlich innerhalb des Stadtftiedens verübt.
Und dabei sind
noch nicht gerechnet die Todtschläge, die auS Nothwehr geschahen oder mit
dem Tode bestraft oder sonst irgendwie gebüßt oder ausgeglichen wurden
oder deren Thäter verborgen blieben.
Und sind weiter nicht gerechnet die
*) Wie derb realistisch daS Mittelalter überhaupt in der Beinamengebung war, davon hier einige Beispiele aus gleichzeitigen Augsburger Quellen: der roth Aermel, Gebhart Dürrbein, der Ezzwadel, der Plerrer, der schielend Diettel von Würzburg, der bös Styesel, Künzlin Bozzwort, daS grindig Bäuerlein, der hupfend Schneider, Johann Mifferat, der Mäusesser, der Kötzer im Loch, die keuchend ElS, das rotzig Diemlin, das kotig Metzlin, die hupfend ElS, der Eilinsgrab, der Zucksmesser, der Leutscherer, der roth Schiffer, Kunz Dremelindemarsch u. s. w.
vielen Hinrichtungen, deren es auch alljährlich eine beträchtliche Summe gab.
Ungleich seltener kommen in dem Achtbuche Fälle von Körperver
letzungen ohne tödtlichen AuSgang vor, wohl nicht deßhalb, weil sie seltener waren, sondern weil sie meist durch Geld geledigt wurden und dann keine Veranlassung existirte, sie im Achtbuche aufzuzeichnen.
Noch charakteristi
scher ist die bloße wüste, rohe Lust am Schlagen, Stechen u. s. w., die aus den Einträgen unseres GerichtSbucheS sich ergiebt.
Und dabei macht
der Stand des Betreffenden durchaus keinen Unterschied.
Bei der gering,
fügigsten Veranlaffnng wurde das Messer gezückt. Frauen standen nicht zurück.
Auch Geistliche und
Bloße Eifersüchteleien der letzteren genügten,
daß sie in der Kirche und auf der Straße gegen einander loSgingen oder gar sich gegenseitig mit Messern verstümmelten.
In der Dunkelheit konnte
man sich ungefährdet nicht mehr auf den Straßen sehen lassen.
Zwar
wurde für die öffentlichen Schenken eine frühe Polizeistunde gehandhabt, aber daS bewirkte nur, daß sich der Skandal auf die Straße fortsetzte. Zwei Momente kommen dabei der angebornen Roheit, namentlich der
unteren Stände, zu Hülfe.
Einmal die Trunksucht, deren Wirkungen noch
dadurch gesteigert wurden, daß die geistigen Getränke weit stärker und un verfälscht consumirt wurden, sodann der dadurch im hohen Grade erregte
Geschlechtssinn.
Trunkenheit und Unzucht erscheinen daher in den meisten
Fällen als die nächsten Ursachen begangener Excesse.
Wir haben schon
oben hervorgehoben, daß die Prostitution im Mittelalter Seitens der
Stadtobrigkeiten nicht nur geduldet, sondern förmlich geschützt und gepflegt
wurde.
Daneben aber muß die nicht concessionirte Unsittlichkeit in allen
Schichten der Gesellschaft eine ebenfalls sehr bedeutende gewesen sein.
Namentlich scheinen die zahllosen Badestuben den öffentlichen Häusern ge
fährliche Concurrenz gemacht zu haben; daß zur Bedienung in denselben vielfach liederliches Gesindel verwandt wurde, erhellt schon aus der That sache, daß alle Augenblicke Badeknechte und -Mägde mit der Rechtspflege in Collision geriethen.
Doch waren auch außerdem Kuppelei und Unzucht
viel betriebene und wie es scheint, einträgliche Geschäfte.
Unter den im
Herbste aus Augsburg Ausgetriebenen befanden sich mitunter auf einmal 20 und mehr Kuppler und Kupplerinnen.
haupt gegeben haben!
Wie viele mag eS da über
Schon der Umstand, daß man eine Menge ver
schiedener Namen hatte, um die Personen, die dergleichen Geschäfte auS-
übten, zu bezeichnen, giebt zu denken.
So sprach man von Ruffianern
und Ruffianerinnen, von Purlierern und Purliererinnen, von Aufmachern und Aufmacherinnen, von Sponsierern, Ausschütterinnen, Einheimerinnen,
Einstößerinnen, Aschenpreteln u. «., alle mehr oder weniger dasselbe be deutend wie das ebenfalls oft gebrauchte Kuppler und Kupplerin.
17*
Ge-
Studien zur alten GesellschaftSgeschichte.
226
legenheitSmacherinnen für verheirathete Männer und Frauen nannte man
„Berwerrerinnen" (Verwirrerin) oder auch Zerstörerinnen ehelichen Lebens,
Häufig begegnen wir dem Worte
mitunter wohl auch Ehebrecherinnen.
„Verrätherin", man verstand darunter eine Person, die Ehemänner, Ehe frauen und Töchter ehrbarer Eltern verkuppelte.
Auf den Ausdruck „fein
lediges Weib" (Maitresse) stößt man alle Augenblicke.
Entführung von Eheweibern sind häufig vorkommende Dinge.
Ehebruch und Am meisten
verstößt aber gegen unser Gefühl die privilegirte Stellung der liederlichen
Sie betheiligten sich an öffentlichen Aufzügen und Festen, an
Dirnen.
Gastmählern und Tänzen, und oft fiel ihnen dabei eine hervorragende Gegen Excesse nach dieser Richtung schritt man nur sehr lau
Rolle zu.
So wurde z. B. ein Bursche, welcher aus den Frauenhäusern der
ein.
Stadt sämmtliche Dirnen zusammengeholt und mit ihnen auf dem Perlach einen Tanz ausgeführt hatte, bloß mit einer mehrtägigen Ausweisung
gestraft.
Bei Verwundungen oder Tödtungen der „schönen Frauen" trat
Bürgermeister und Rath
als Kläger auf.
ES ist daS ein Beleg für
unsere oben ausgesprochene Behauptung, daß die Obrigkeit die liederlichen
Dirnen als einen kostbaren Sachbesitz zu betrachten gewöhnt war, den man für sich zu erhalten möglichst bestrebt sein müsse.
Ebenso schützt die
Obrigkeit den Gewerbebetrieb der „fahrenden Fräulein"
gegen Beein
Letztere sollen z. B. keine seidene
trächtigung Seitens Nichtprivilegirter.
Stürze und Paternoster von Korallen tragen, stets ohne Magd ausgehen und außerdem zur Unterscheidung von ehrbaren Weibern einen Schleier
mit einem zweifingerbreiten grünen Strich tragen.
Der Vogt und seine
Knechte waren angewiesen, jeder, die gegen dieses Gebot verstoßen werde, die verbotenen Gegenstände oder ihren Mantel abzunehmen.
Ein ander
mal wird den „freien Fräuleins" sogar gestattet, ihre heimlichen Con-
currentinnen, die sie zur Winterszeit nach 7 Uhr und zur Sommerszeit nach 9 Uhr „ohne Licht und gefährlich" aus der Gasse betreten, in das
offene Haus zu führen und zu pfänden.
Eine Besserung dieser unsicheren und unsittlichen Zustände in den
Städten brachte erst daS 16. Jahrhundert mit seiner erstarkenden Polizei gewalt
und der Kirchenreformation
mit sich.
Von da an hörten die
Städte auf, Sammelpunkte des liederlichen Gesindels zu sein.
Das letztere
zog sich jetzt mehr und mehr auf das platte Land zurück, wo eS für sein Gebühren sowohl in der hier noch wenig entwickelten Polizei, als in der
allverbreiteten Unbildung und Roheit den nöthigen Hintergrund und Stütz punkt fand.
DaS Leben und Treiben dieser Landvaganten gedenke ich in
einem zweiten Artikel zu schildern. Posen.
Chr. Meyer.
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit. Eine wirthschaftliche Studie*).
Durch die bekannte Reichstags-Resolution vom 7. Mai v. I., welche
die Einschränkung der allgemeinen Wechselfähigkeik und die Einführung von Registern über die wechselfähigen Personen in'S Auge faßt, ist eine
Frage in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt, welche, durch
die deutsche Wechsel-Ordnung einmal entschieden, nach mehr als 30jäh-
rigem Schlummer in jüngster Zeit wieder an das Tageslicht öffentlicher Diskussion gezogen war.
Es war kein Zufall, sondern ein bedeutsamer
Hinweis auf den Kern der ganzen Frage, daß sie, wie sie überhaupt im engsten Zusammenhang« mit den auf Unterdrückung deS Wuchers gerichteten
Bestrebungen behandelt wurde, so auch im Reichstage bei Gelegenheit der
Berathung deS Wuchergesetzes einen prägnanten Ausdruck fand.
Wie die
Wuchergesetzgebung, so hat auch die Einschränkung der Wechselfähigkeit die
verschiedenartigste Beurtheilung erfahren.
In großen Schaaren stehen sich
Freunde und Feinde gegenüber, mit den mannigfaltigsten Gründen wird gestritten und in buntester Verschiedenheit erscheinen die vielfachen Vor
schläge Behufs Einführung einer Beschränkung.
Wenn wir diesen Vor
schlägen im Folgenden einen ferneren hinzufügen, so glauben wir unS hierzu berechtigt, weil derselbe unseres Wissens neu ist, den mit dem zu
behandelnden Stoff so vielfältig verwachsenen Privatinteressen in vollem
Maße gerecht wird, und der gesetzgeberischen Formulirung und Ausfüh rung nur geringe Schwierigkeiten entgegensetzt.
Wir stellen uns dabei
vollkommen auf den Boden des Wuchergesetzes und der für seinen Erlaß
maßgebend gewesenen Erwägungen; ja unser Vorschlag will nicht nur ge sundere Credttverhältnisse, namentlich innerhalb des nichtkaufmännischen
Verkehrs,
anbahnen,
sondern
Zweck, unter Vermeidung
verfolgt zum großen Theil gerade den
einer Beeinträchtigung berechtigter Interessen
dem Wuchergesetze auf dem Gebiete deS Wechselverkehrs eine möglichst um
fassende Anwendung zu sichern. *) A. d. R. Wir stellen die in einem Hauptpunkt neuen Vorschläge, welche der Herr Verfasser dieser Studie macht, zur DiScusflon.
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.
228
Der Zwiespalt zwischen dem Allg. Landrecht und dem Rheinischen Civil-
Ges.-Buch, von denen ersteres die Wechselfähigkeit als Ausnahme, letzteres als Regel hinstellte, drängte zu einheitlicher Neuordnung.
floß ein Menschenalter, ohne daß Abhülfe geschaffen wäre.
Trotzdem ver Erst der der
leipziger Conferenz vorgelegte preußische Entwurf einer Wechsel-Ordnung
stellte als allgemeine Norm für die Wechselfähigkeit die DarlehnSfähtgkeit hin; die betgelegten Motive befassen sich nicht damit, diese Ausdehnung principiell zu begründen, sondern begnügen sich mit einer gelegentlichen Be
merkung über die Schädlichkeit von Beschränkungeen und mit einer Wider legung der landrechtlichen Auffassung von der Personalhaft.
Auch die
Protokolle der Conferenz, welche der Darlehnsfähigkeit die allgemeine Ver pflichtungsfähigkeit substituirte, gehen mit einer gewissen Leichtigkeit über
die ganze Frage hinweg: bezüglich der Ausdehnung der Wechselfähigkeit war die größte Einigkeit vorhanden und nur über die Beibehaltung des eigenen Wechsels wurde gestritten.
Man lebte in einer Zeit, die rechtlichen Unter
schieden zwischen verschiedenen Klassen der Bevölkerung durchaus abhold war und die Beschränkung der Wechselfähigkeit auf die Kaufleute wäre
wohl allseitig als die ungerechtfertigte Bevorzugung eines Standes em pfunden worden.
Die philosophische Strenge dieser Anschauungsweise hat sich nach Ab lauf eines Menschenalters in etwas gemildert.
In den bewegten Zeiten
seit der Revolution haben wir einsehen gelernt, daß eö nun einmal nicht
geht, das im Geiste folgerichtig konstrutrte Staatsgebäude ohne Weiteres in die Wirklichkeit zu übersetzen.
Unsere Bausteine sind die realen Ver
hältnisse, die sich nicht umformen lassen; nach ihnen müssen wir uns richten
und ändern, hier und dort, Großes und Kleines, und schließlich sind wir ganz zufrieden, wenn wir nur einigermaßen behaglich wohnen und sorgen uns nicht groß darum, wenn unser Bau nicht von tadellosem Stil. Darum
kann eS uns auch nicht allzuschwer fallen, für die Wechselfähigkeit bestimmte
Einschränkungen festzustellen, sobald wir uns von dem Nutzen und dem segensreichen Erfolge einer solchen Maßnahme vergewissert haben.
Wir
könnten einer solchen Einschränkung also das Wort reden vom Stand
punkte derjenigen, welche die Wechselfähigkeit als unmittelbaren Ausfluß
der Rechtsfähigkeit ansehen, als ein Naturrecht, mit dessen Anwartschaft der Mensch geboren wird.
Dieser Ansicht ist aber nicht beizustimmen.
Nur die Rechtsfähigkeit ist es, welche der Mensch mit auf die Welt bringt, welche das Recht an die Persönlichkeit als solche anknüpft.
Die Wechsel
fähigkeit dagegen, — bet welcher sich eine Trennung der aktiven und passiven
Seite nicht durchführen läßt —, ist eine Art der Verpflichtungsfähigkeit und für diese bestehen besondere, und in den verschiedenen Rechtsgebieten
verschiedene Erfordernisse, deren Zweck eS ist, ganze Klassen — die nach
Alter, Geschlecht, Stand u. s. w. bestimmt werden — zu schützen, sei eS vor eigener Unerfahrenheit und Leichtherzigkeit, sei es vor der Selbstsucht Anderer.
Freilich hat unsere neuere Gesetzgebung diese Beschränkungen,
mit Ausnahme der durch die Allmähltgkett der körperlichen und geistigen Entwicklung gebotenen, fast ganz beseitigt.
Aber doch nur um deßwillen,
weil die mit der Gleichstellung verbundenen Nachtheile nicht bedeutend
genug erschienen, um eine Ungleichheit vor dem Gesetz zu rechtfertigen. Wo wirklich erhebliche Nachtheile in Frage stehen, welche das Prinzip der
Gleichheit vor dem Gesetz Im Gefolge hat, da muß die Bedeutung beider
abgewogen werden.
Die Erkenntniß der Richtigkeit dieses Satzes ist nicht
nur bet Erlaß des Wuchergesetzes ausschlaggebend gewesen, sie tritt auch
auf anderen Gebieten der Gesetzgebung bereits deutlich hervor.
Jenes
Prinzip muß endlich seinen bedingungsweisen Werth für die vorliegende
Frage gänzlich verlieren, wenn nachgewiesen wird, daß daS Rechtsinstitut des Wechsels seinem inneren Wesen nach sich auf den kaufmännischen Ge werbebetrieb beschränkt; daß die eigenartige Entwickelung,
welche dem
Wechsel sein modernes Gepräge aufgedrückt hat, Schritt für Schritt der
Entwickelung des kaufmännischen Verkehrs gefolgt ist; daß die besonderen Bedürfnisse, denen der Wechsel bestimmungsgemäß dient, lediglich Bedürf
nisse des Kaufmannsstandes sind; ja daß die vielfachen Nachtheile, welche mit dem Wechsel namentlich innerhalb der ntchtkaufmännischen Kreise ver bunden sind, zum größten Theile ihren Grund haben in einer Anwendung
des Wechsels auf Verhältnisse, für die er seiner Natur nach nicht bestimmt und nicht geeignet ist.
den.
Dieser Nachweis soll im Folgenden versucht wer
Dabei muß dann der Streit seine Erledigung finden, ob für die
Beibehaltung des Wechsels außerhalb des kaufmännischen Verkehrs ein
wirkliches Bedürfniß vorliegt, oder nur ein eingebildetes.
Die Frage, ob im wirthschaftltchen Leben überhaupt so schwere Miß stände vorliegen, daß ein legislatives Einschreiten zugleich gerechtfertigt und geboten ist, wird von Manchen zur Zeit nicht für spruchreif gehalten.
Na
mentlich wird hingewiesen auf das jüngst erlassene Wuchergesetz und be
tont, daß zunächst die a priori unbestimmbare Wirkung dieser so ganz
neuen Vorschriften abgewartet werden müsse, daß erst einzuschreiten sei, wenn die Fruchtlosigkeit derselben sich herausgestellt habe.
müssen wir auf das Entschiedenste widersprechen.
Dieser Ansicht
Die Summe der Er
fahrungen, die wir in mehr denn 30 Jahren in Bezug auf den Wechsel gesammelt haben, ist bedeutend genug, um auf'S Deutlichste vor die Augen zu führen, daß der derzeitige Rechtszustand für große und wette Klassen
unseres Volkes Gefahren in sich birgt, die nur zu häufig zu wirthschaft-
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.
230
llchem und sittlichem Verderben führen.
Man sollte meinen, es genüge
ein Blick auf die heutigen Lebensverhältnisse, namentlich deS kleinen Hand werkers und Landwirths, nicht minder der militairischen und studentischen,
weniger der beamtlichen Kreise, um die traurigen Folgen der allgemeinen Wechselfähigkett zur Evidenz hervortreten zu lassen.
Wie viele blühende
Existenzen sind zu Grunde gegangen und gehen täglich zu Grunde an der Ausstellung eines Wechsels über einen anfänglich vielleicht geringfügigen
Betrag!
Wo sich ein rapider wirthschaftlicher Verfall zeigt, fast immer
läßt er sich zurückführen auf Wechselgeschäfte. sich dies
in nichtkaufmännischen
Kreisen.
Und am auffälligsten zeigt Hier hält
sich der gröbste
Wucher, die gröbste Ausbeutung, unter dem undurchsichtigen Kleide des Wechsels verborgen, weil hier sich die größte Wehrlosigkeit, verbunden mit der größten Unerfahrenheit und Unbedachtsamkeit, findet.
In kaufmänni
schen Kreisen ist der Wucher aus erklärlichen Gründen seltener.
Der
Kaufmann besitzt eine größere geschäftliche Einsicht, einen genaueren Ueber-
blick über seine jeweilige Geschäftslage; sobald er seine Wechsel nicht mehr prompt honortren kann, ist er, von Ausnahmsfällen abgesehen, verloren;
denn sein Kredit ist dahin und ohne Kredit kann er nicht bestehen. läßt sich
so
leicht
nicht durch den Wucherer aus
nissen in den Abgrund ziehen;
Er
blühenden Verhält
sein Geschäftskredit und die durch und
in sein Geschäft fließenden Baarmittel ermöglichen es ihm, an einer
anderen Stelle sich Kredit zu eröffnen, wenn er von einem Kreditgeber gedrückt wird.
Ganz anders der Nichtkaufmann.
Bei ihm fehlt eS regel
mäßig an der kaufmännischen Geschäftskenntniß und Vorsicht, vielfach an
dem klaren Einblick in die eigene wirthschaftliche Lage und meistens an
dem ausgebreiteten Kredit.
Und gerade da, wo eS in einer dieser Be
ziehungen fehlt, gerade bei solchen Existenzen, in denen nicht mehr Alles gesund ist, sucht der gewissenlose, nur von gemeiner Habsucht getriebene Gelddarleiher, der Wucherer, mit Vorliebe seine Beute.
Der Bedrängte
bedarf Geld; eS wird ihm gegen einen Federzug; und nun ist er, den
man nach Möglichkeit zu retten und zu rehabilitiren suchen sollte, mit ge
bundenen Händen dem Verderber überliefert, der in ihm nur ein Werthob jekt sieht, daS auf jede Weise auszunutzen ist. Man meine aber nicht, solches
geschehe nur am dürren Holze — es geschieht auch am grünen.
Auch in
wohlgeordneten Verhältnissen mag eS einmal vorkommen, daß ein plötz
licher Geldbedarf eintritt.
Darauf lauert der Wucherer: ist er erst im
Besitze eines Wechsels, so sucht er die Zahlung hinauszuschieben und als bald zieht sich die Schlinge fester und fester.
So kommt es, daß heutzu
tage in weilen Kreisen der nichtkaufmännischen Bevölkerung eine Scheu und Furcht herrscht vor dem Wechsel, daß derselbe betrachtet wird als
Todfeind häuslicher Zufriedenheit und blühenden Wohlstandes, ja daß
von kompetenter Seite öffentlich gewarnt wird vor dem Ausstellen von Wechseln.
Als neueste Beispiele führen wir nur an den in der Monats
schrift für deutsche Beamte vom Jahre 1880 abgedruckten Vortrag deS
Geh.
„den Beamten
RegierungSrath Bosie über
Proklamationen der
als Ehemann", die
landwirthschaftlichen Vereine in Cassel und Fulda,
und daS Gutachten des General-Comitsö des landwirthschaftlichen Vereins
in Bayern über die Wechselfähigkeit des Bauern, bearbeitet vom Kgl. Regierungs-Direktor v. Jodtbauer. Der caffeler Aufruf ist so charakteristisch, daß wir ihn seinem ganzen
Wortlaut nach wiedergeben: „Bauersleute, Handwerker, Arbeiter!
Wechsel!
Warum nicht?
1)
Unterschreibt nie einen
Ihr könnt eure einmal gegebene Unter
schrift nicht wieder zurücknehmen, so gern ihr eS vielleicht thätet.
2) Der
Wechsel muß am Verfalltage ohne Weigerung bezahlt werden und zwar
an den, welcher denselben in Händen hat.
Dieser hat gar nicht zu fragen,
ob ihr die Schuld wirklich gemacht habt oder nicht.
3) Seid ihr in der
That nicht imstande, zu bezahlen, so folgt sofort der Protest, Wechsettlage
und Beitreibung, alles mit vielen Kosten verbunden.
In wenigen Tagen
habt ihr die gerichtliche Exekution zuhause und was das zu bedeuten hat, braucht wohl nicht erklärt zu werden.
Bezahlen nicht retten.
4) Einreden können euch vor dem
Es kann auch nichts helfen, daß ihr sagt, ihr
wäret gar nichts oder ihr wäret nicht so viel schuldig; auch nicht einmal, daß ihr sagt, ihr hättet nicht so viel unterschrieben.
Ihr habt euren
Namen unter den Wechsel geschrieben und müßt zahlen, so viel darauf
steht.
Und wenn eS auch versprochen wäre, der Wechsel solle nicht in
Umlauf gesetzt oder er solle am Verfalltage prolongirt werden, so nützt
eS euch nichts, auf dieses Versprechen euch zu berufen.
5) Wenn ihr eine
Schuld habt, versuchet alles Mögliche, sie zu tilgen; verkauft oder entzieht
euch lieber- etwas, sollte eS euch schreibt keinen Wechsel dafür.
auch hart ankommen — aber unter
Ihr übergebt euch in den meisten Fällen
einem wildfremden Menschen auf Gnade oder Ungnade.
6) Sprecht euch,
über eure Lage aus und fragt ehrliche Leute um Rath; Schulden schänden
nicht, wenn sie nicht auf schlechte Weise gemacht sind.
Wenn der Wechsel
eigenthümer auch Wort hält und nicht über eure Geldverlegenheit spricht, am Ende, wenn euch HauS und Hof verkauft wird, wird eure Lage doch aller Welt offenbar.
7) Unterschreibt also keinen Wechsel, stellt aber auch
keine, nach § 702 der Civilprozeßordnung
vollziehbare
Urkunde
8) Sucht Hilfe bet den Sparkassen und Vorschußveretnen.
aus.
Könnt ihr
von diesen auf einen einfachen Bürgschaftsschein einen Vorschuß nicht er-
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.
232
halten, so dürft ihr diesen Vereinen ausnahmsweise einen Wchsel auSstellen, weil von ihnen ein Mißbrauch deS Wechsels nicht zu befürchten ist."
Der landwirthschaftliche Centralverein
für dm Regie
rungsbezirk Cassel.
Alles dies können wir nur Wort für Wort unterschreiben und die
Zahl solcher Stimmen, bei denen weder die Einsicht noch die Unantast barkeit deS Strebens dem geringsten Zweifel unterliegt, ließe sich leicht vermehren.
Wir glauben nun aber,
bei einer bloßen Warnung
nicht
stehen bleiben zu dürfen: wir fühlen uns verpflichtet, unsere Stimme zu
erheben für das Eingreifen der Gesetzgebung, von welchem wir unS wirk samere Abhülfe versprechen, als das gesprochene und geschrikbene Wort
bringen kann.
Daß hier ein Krebsschaden vorliegt, der dringend der
Heilung bedarf, muß Jeder zugeben, der mit offenen Augen in Stadt und Land gelebt hat; und
dies wird auch von unbefangenen Gegnern deS
Wuchergesetzes nicht bestritten.
Es wird auch von den Meisten derer nicht
bestritten, welche die Sache nicht sür spruchreif halten: denn diese wollen eben abwarten, ob nicht eine Besserung der gekennzeichneten Nachtheile in
Folge deS Wuchergesetzes eintreten wird.
An die Möglichkeit einer solchen
Besserung, überhaupt an eine ausreichende Wirkung des Wuchergesetzes
auf dem Gebiete deS Wechselverkehrs vermögen wir nicht zu glauben.
Der Eingangs erwähnte RetchStagS-Beschluß gründet sich auf die Ueber
zeugung, daß mit dem Wuchergesetze allein eine genügende Abhüife nicht
geschaffen ist. treffend.
Und diese Ueberzeugung
erweist sich als durchaus zu
DaS Wuchergesetz ist in der That ein Torso, welcher der Er
gänzung bedarf.
Gewiß werden seine Strafbestimmungen, im Anfänge
namentlich, wohlthätig wirken, den handgreiflichsten Wucher zurückdrängen.
Aber alsbald wird der, durch die Strafbestimmungen gewarnte md vor sichtiger gemachte Wucherer neue Wege suchen, das Gesetz zu »«gehen,
und da bietet sich ihm als das bequemste Mittel der Wechsel.
Denn
einmal ist der Wechsel vermöge seiner völligen Loslösung von dem ma
teriellen Schuldverhältniß wie gemacht dazu, daS zu Grunde liegende Schuldverhältniß mit einem dichten Schleier zu überziehen; sodam aber, — und das ist hier daS Wichtigste — bietet selbst nach Eraß deS
Wuchergesetzes die in daS Indossament gelegte Kraft noch
immer die
Möglichkeit einer Umgehung deS Gesetzes, der durch dasselbe gevährten
Rückforderungsklage
zum Trotz.
Diese Möglichkeit
erkennt auch
der
scharfsinnige Referent deS letzten deutschen JuristentageS über die Frage einer Beschränkung der Wechselfähigkeit an.
(Freilich zieht er die Mög
lichkeit einer Inanspruchnahme deS Wucherers aus § 302 c Str-G.-B. nicht in Betracht und die Zulässigkeit einer EideSzuschiebung über die
wucherlichei Thatsachen nicht in Zweifel.)
Seine rechtlichen Eigenthüm
lichkeiten befähigen das Indossament im denkbar höchsten Maße, den durch die Wechsetform, das nackte Summenversprechen, über das materielle Schuldverhältniß gebreiteten Schleier undurchdringlich zu machen,
oder,
um den treffenden Ausdruck in dem eben erwähnten Referate zu ge brauchen, als Hehler des Wuchers zu dienen.
Dadurch wird die sonstige,
pekuniäre und rechtliche Ueberlegenheit des Wucherers über sein Opfer
noch unendlich verstärkt: die Hereinziehung insolventer oder fingirter Per sonen in den Wechsel, die Benutzung des Blankoindossaments zur Aus
beutung, und andere Praktiken können sowohl nach der kriminellen, wie nach der civilen Seite die Rechtöverfolgung sehr erschweren oder ganz
unmöglich machen.
Alle jene Möglichkeiten bilden die Defensivwerke der
rechtlichen Position des Wucherers.
Der Schlüssel dieser Position ist und
bleibt die Abschneidung der Einreden gegen den Indossatar.
Gegen diesen
gewährt das Wuchergesetz eine Handhabe nur unter der Voraussetzung der Schlechtgläubigkeit; dazu gehört aber Kenntniß von dem ganzen Thatbe
stände de« wucherlichen Geschäfts; es genügt nicht etwa, daß der Indossatar
weiß, sein Girant sei ein Wucherer.
Zudem muß auch noch das Valuten-
verhältniß zwischen beiden Personen deS Indossaments bewiesen werden.
Daß alle diese Nachweise sich nur in seltenen Ausnahmefällen erbringen lassen, kann nicht bezweifelt werden.
Auch durch die NückforderungSklage
gegen den Wucherer wird wenig gebessert an der schlechten rechtlichen Lage deS dem Wucher zum Opfer Gefallenen. dosiatarS sofort verurtheilt und cxequirt,
In der Wechselklage deS Jnsteht
er auSgeplündert
und
mittellos da; wie mag er dann die Rückforderungsklage anstellen, einen
Anwalt gewinnen, die Klage gehörig instruiren und vorbereiten, Kosten vorschüsse erlegen und die Klage durchführen, bevor er dem völligen Ruin
verfallen ist und den traurigen Anspruch auf Gewährung deS ArmenrechtS hat?
Alles in Allem ist nach jetzigem Rechte die Durchführung deS
Rückforderungs-Anspruchs mit Schwierigkeiten verbunden, welche dieselbe in nicht seltenen Fällen ganz vereiteln werden.
Bei Geltendmachung der
Einrede dagegen verringern sich diese Schwierigkeiten um ein Bedeutendes,
durch die sofortige Einbringung im Wechselprozesse werden Zeit und Kosten erspart und eS ist ein nicht zu unterschätzender Vortheil für den Ver
klagten, wenn ihm außer dem Wucherer jeder Kläger, der von jenem sein Recht ableitet, auf Rückgabe verhaftet ist. — Bei alledem glauben wir
doch nicht hierauf,
sondern auf einen anderen Punkt das Hauptgewicht
legen zu sollen: das ist die Leichtigkeit, mit welcher heutzutage der Wucherer Unterstützung
in seinen
Unterstützung
bewußt
verwerflichen Bestrebungen findet,
oder unbewußt gewährt werden.
mag diese
Die
günstige
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.
234
Stellung des Indossatars gegenüber dem Schuldner bringt es mit sich, daß jener sich nicht eben großen Skrupeln darüber hinzugeben braucht, ob
das zu Grunde liegende Geschäft zweifelsohne und unanfechtbar sei; so lassen sich neben den reellen auch die Wucherwechsel ohne allzu große
Schwierigkeiten an den dritten Mann bringen, der dann absichtlich oder
unwillkürlich Helfershelfer des Wucherers wird.
Wucher erleichtert wird, liegt auf der Hand.
Wie sehr dadurch der
ErfahrungSmäßtg beschreitet
der Wucherer selbst nicht gerne den Prozeßweg; und nach Erlaß des Wuchergesetzes wird er es noch weniger gern thun als früher, weil selbst
wenn er der Strafe entschlüpft doch semper aliquid haeret, die Maske des Menschenfreundes ein wenig gelüftet wird.
aufzutreten
Selbst mit der Klage
aber wird der Wucherer gezwungen, wenn die Wirkung des
Indossaments abgeschwächt und der
materielle Rechtsverhältniß
Indossatar
gezwungen
einer Prüfung zu unterziehen.
wird,
das
Schon bei
Abschluß des wucherlichen Geschäfts steht dann dem Wucherer die Even tualität vor Augen, das Object selbst einklagen und sich der Wucherein rede aussetzen zu müssen, während er zur Zeit mit Bestimmtheit hoffen kann, die Wechselsumme durch Vermittelung eines Dritten zu erhalten,
und zu der Annahme berechtigt ist, mit der Rückforderungsklage habe es gute Wege. —
Die unbeschränkte Zulassung
der Einreden gegen den
Indossatar
würde somit ein äußerst wirksames Schutzmittel gegen den Wucher bilden und zugleich in hohem Maaße geeignet sein, Solidität und Reellität im Wechselverkehre zu festigen und zu fördern.
Mit dem Wuchergesetz allein
ist eS nicht gethan. Man wähne doch nicht, mit einer Norm von vorwiegend
strafgesetzlich-repressivem Gepräge, deren practische Anwendbarkeit zudem nicht ungerechtfertigten Zweifeln unterzogen wird, erfolgreich gegen eine so
mächtige Triebfeder des menschlichen Wollens und Handelns ankämpfen
zu können, wie die Habsucht.
Immer und immer wieder wird „das
Drängen nach Golde" Wucherer erzeugen, solche, die dem Gesetz frech in's Gesicht schlagen, und solche, die eS auf Schleichwegen zu umgehen
suchen.
Und
dieser Zustand kann und wird erst dann aufhören oder
doch sich bessern, wenn die lockende Aussicht auf Gewinn fortgefallen oder doch beschränkt ist.
Man kann mit Fug nicht behaupten, daß die jetzigen
wirthschaftlichen Zustände überhaupt anormale seien, daß der Eintritt einer allgemeinen Besserung alsbald zu erwarten stehe.
Je reger sich das
wirthschaftliche Leben gestaltet, je rascher sich der Güterumlauf vollzieht, je mehr die vermeintlichen und wirklichen Lebensbedürfnisse wachsen, um so weniger werden alle die Umstände schwinden, welche den jetzigen Zu
stand herbetgeführt haben, Habsucht und Geldgier so wenig auf der
einen, wie wirthschaftliche Bedrängtheit oder Unvernunft auf der anderen
Darum ist eS notwendig — und dies ist unser ceterum censeo
Sette. — daß
eine Aenderung des bestehenden Rechts erfolge für diejenigen
Kreise der Bevölkerung, in welchen sich die bezeichneten Schäden am auf fälligsten zeigen.
Eine Aenderung des bestehenden Rechts wird man natürlich nur be fürworten können auf Grund der Ueberzeugung, daß mit der Aenderung
nicht Nachtheile verbunden sind, welche die erhofften Vortheile überwiegen. Und damit nähern wir uns dem Kernpunkte unserer Untersuchung.
„In
welchem Umfange ist ein unabweisbares Bedürfniß für die Beibehaltung
des Wechsels in seinem dermaltgen Bestände anzuerkennen?" Wir antworten:
Ein solches Bedürfniß besteht nur für den Kaufmannsstand.
Bevor wir
aber diese Ansicht auS der wirthschaftltchen Natur deS Wechsels heraus
zu begründen versuchen^ bleibt ein Punkt aufzuklären, dessen unrichtige Auffassung in hohem Maße zur Verwirrung der ganzen Frage betgetragen
hat.
Man pflegt zu sagen, der Handwerker bedarf deS Wechsels, oder
der Grundbesitzer, Beamte u. s. w. bedarf deS Wechsels.
Bedürfnißfrage in eine falsche Position gerückt.
Damit ist die
Nicht der Handwerker,
nicht der Grundbesitzer bedarf deS Wechsels sondem der Gläubiger deS Handwerkers
und Grundbesitzers.
Der Schuldner
Credit, der Gläubiger der Sicherung des Credits.
bedarf Geld
oder
Die Erörterung der
Bedürfnißfrage muß mithin von der Gläubigerseite, nicht von der Schuld nerseite, ausgehen.
Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnt die Frage so
gleich eine ganz andere Gestalt.
Es kann sich nicht darum handeln, die
einzelnen Klassen der modernen Gesellschaft durchzugehen und ihre speciellen Verhältnisse zu untersuchen, sondern die Betrachtung muß sich richten
auf die allgemeinen Kategorien wirthschaftltcher Bedürfniffe, denen der Wechsel dient. Der Wechsel kann zur Befriedigung des Creditbedürfnisses in der doppelten Weise dienen, daß er
1) die Sicherung des gewährten Credits bewirkt, 2) die Uebertragung des Credits ermöglicht.
In seiner ersten Function dient er einem allgemeinen, in seiner zweiten einem specifisch kaufmännischen Bedürfniffe; in jener zeigt er keinen wesentlichen inneren Unterschied von anderen Sicherungsmitteln
des Credits, in dieser hat er sich zu dem
wichtigsten Werkzeug deS
modernen kaufmännischen Geschäftsverkehrs ausgebildet.
Die bezeichnete Verschiedenheit ist zurückzuführen auf den Unterschied deS kaufmännischen Credit-VerkehrS und deS nichtkaufmännischen.
Infolge
der großartigen Entwickelung des heutigen Weltverkehrs und
des von
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit-
236
diesem nicht zu trennenden kaufmännischen Verkehrs überhaupt trat zu nächst die Baarzahlung in den Hintergrund; ein Surrogat wurde gesucht
und gefunden in einem ausgedehnten CreditirungSshstem, sodann aber
auch in der umfangreichsten Tilgung eigener Schulden durch Ueberweisung eigener Forderungen.
Beides
ermöglichte der Wechsel
in
einfachster
Weise: das bloße Giro überträgt die Forderung an den Giratar mit einer Machtvollkommenheit, welche die deS Giranten möglicherweise noch über steigt und zugleich verpflichtet es den Giranten wechselmäßtg.
So wird
unter Vermeidung der Baarzahlung eine Ausgleichung von Forderungen und Schulden, Compensation und Skontration, im größten Maßstabe her
beigeführt.
Um dieser seiner Eigenschaft als kaufmännisches Zahl- und
Circulationsmittel willen bezeichnet man den Wechsel mit Recht als „kauf
männisches Papiergeld" und die ältere Theorie hat sogar von dieser rein wirthschaftlichen Seite aus den Wechsel juristisch zu konstruiren unternommen. Ist diese Konstruktion auch heute mit Recht verworfen, so ist doch die wirth-
schaftliche Funktion geblieben und wird von Niemandem bezweifelt.
Wechsel
ist
und
bleibt
kaufmännisches
Papiergeld,
ein
Der
negociableS
Werthpapier für den Kaufmann und wie die Bezeichnungen alle heißen, welche man erfunden hat, um die vorhin unter Nr. 2 genannte Funktion
auszudrücken. Der Wechsel hat diese Function nur im kaufmännischen Ver kehr; denn nur in diesem tritt jenes eigenartige Bedürfniß einer beson ders leichten Uebertragbarkeit des Credits, einer vereinfachten Umsetzbar-
barkeit der creditirten Forderung auf. Wenn mit dem Fortfalle der Baarzahlung im großen kaufmännischen
Handel und Wandel die Gepflogenheit, Credit zu geben und zu nehmen,
in immer umfangreicheren Maße sich ausbildete, so konnte sich diese Ge
pflogenheit mit der bloßen Sicherung der gestundeten Forderung auf die
Dauer nicht begnügen; es bedurfte noch einer Ergänzung. — Wer Credit giebt, substituirt dem greifbaren BermögenSobjekt ein unsichtbares, die Forderung; dadurch tritt nach zwei Seiten eine wirthschaftliche Benachtheiligung ein.
Zunächst ist eine Forderung an sich nicht so sicher, daher
auch nicht von so hohem Werthe, wie ihr Objekt; bei einer befristeten Forderung, wie der Wechselforderung, muß überdies von dem Nominal beträge der Betrag der Zwischenzinsen in Absatz gebracht werden (Jnterusurium, Diskonto); die Zinsen zerfallen wieder in solche, welche als Er
satz für den Verzicht auf eigene Fruktificirung deS Objects erscheinen,
und solche, welche zur Ausgleichung deS Credit-Risikos dienen.
Neben
diesem besteht noch ein anderer Nachtheil, auf welchen es hier speciell an
kommt; trifft jener jeden Creditgeber, so trifft dieser fast allein den Kauf mann.
Dieser Nachtheil hat seinen Grund darin, daß das an die Stelle
des
Baaren Geldes
gesetzte Vermögensobjekt, die Forderung,
gleicher Weise verkehrsfähig und verwerthbar ist, wie jenes.
nicht in
DaS Credi
tiren hat die Folge, daß es einen Theil des Vermögens der unumschränkt
freien Verfügung entzieht, daß eS ihn wirthschaftlich festlegt, oder doch
die Disposition darüber mehr oder minder erschwert.
Diese Consequenz
deS CreditgebenS trifft wesentlich nur den Kaufmann, diesen aber in schärfster Weise. DaS kaufmännische Vermögen ist werbendes Vermögen durch den
ununterbrochenen Umsatz, dem eS unterworfen wird; was nicht mehr fähig ist, an diesem Umsatz theilzunehmen, kommt als werbendes Vermögen
nicht in Betracht, eS fällt aus dem Geschäfte heraus; das Geschäftsver
mögen, mithin auch die Creditfähigkeit und Creditwürdigkeit des Geschäfts, vermindert sich.
Ist also eine Forderung nicht, oder nicht genügend um-
satzfähtg, so muß ihre Einlösung abgewartet werden; damit aber geht Zeit verloren und Zeit ist Geld, zumal für den Kaufmann.
Diejenige
Umsatzfähigkeit nun, welche zufolge den Bestimmungen deS bürgerlichen
Rechts jede Forderung besitzt, genügt für den Kaufmann in keiner Weise. Umlauf und Umsatz vollziehen sich innerhalb seines Geschäftsbetriebes in raschestem Tempo und in endloser Reihe.
Die Baarzahlung erweist sich
als ein zu schwerfälliges und unzureichendes Mittel, um diesen Betrieb
in ununterbrochenem Gange zu halten.
In umfangreichstem Maße wird
Credit begehrt und gewährt, und der begehrte mittelst des gewährten aus
geglichen.
Diese Ausgleichung des einen Credits
durch
den anderen,
Deckung der eigenen Schuld durch Uebertragung der eigenen Forderung,
bildet die Signatur des modernen kaufmännischen Verkehrs.
Ein solcher
Geschäftsbetrieb ist aber nur möglich, wenn die Kreditforderung ein be
sonders hohes Maß von Cirkulationsfähigkeit besitzt. weglichkeit ist, um so
Je größer ihre Be
größer wird nach dem bezeichnenden Auödrucke
RoscherS der Multiplikator, mit welchem der Kaufmann auf dem Wege deS Kredits seine wirthschaftliche Kraft zu steigern vermag.
Zu der Noth
wendigkeit, die kaufmännische Kreditsorderung mit einer besonderen Umsatz fähigkeit auSzustatten, gesellt sich daher das lebhafte Jntereffe des Kauf
manns, diese Umsatzfähigkeit auf das höchstmögliche Maß zu erheben. Denn daS Kapital, welches sich im kaufmännischen Betriebe verzinst, sind die im Geschäfte umgesetzten Summen, welche daS Kreditkapital bilden, mit dem der Kaufmann arbeitet.
Regelmäßig übersteigt dieses daS eigent
liche Geschäftsvermögen sehr erheblich, und daraus erwachsen dem Kauf mann Gefahren, denen nur bei größter Disponibilität der Kreditforderung
begegnet werden kann.
Nirgends auf wirthfchaftlichem Gebiete haben
kleine Ursachen so große Wirkungen, wie in diesem Kreditverkehre, nirgends
kann eine nur zeitweilige Verlegenheit, eine kurze Stockung, so vernichtend und zerstörend wirken, wie hier.
Hier dient die erhöhte Umsetzbarkeit des
Kredits als wirksamstes Remedium.
Der Kaufmann disponirt über die
in seinem Pulte liegenden Wechsel wie der Feldherr, der an den bedrohten Punkt zuerst die leichten Truppen wirft und dann mit der Kerntruppe
nachrückt; ohne diese vermögen jene auf die Dauer nicht zu widerstehen, und so muß auch der Kaufmann den wankenden Kredit durch Baarzahlung
unterstützen. Ein wirthschaftlicheS Interesse und Bedürfniß, wie das soeben in kurzen Umrissen gezeichnete, besteht für den Nichtkaufmann nicht.
Dieser
befindet sich nicht in der Zwangslage, nach allen Seiten Kredit gewähren und Kredit in Anspruch nehmen zu müssen.
Eine so besonders qualificirte
Umsatzfähigkeit der Kreditforderung, wie sie der Wechsel durch das In
dossament gewährt, ist für ihn nicht nothwendig; denn er kann und wird regelmäßig nur insoweit Kredit geben, als er in dem Kreditgeben selbst
seinen Vortheil sucht oder als er des Objekts der Kredttforderung zur Zeit nicht bedürftig ist.
ES fehlt ihm daS allgemeine Interesse des Kauf
manns, dem eigenen Kreditbedürfniß durch leichte Uebertragung der eigenen
kreditirten Forderung Befriedigung zu verschaffen; es fehlt ihm auch daS
fernere Interesse, sein Vermögen in dem unablässigen und rapiden Um
lauf zu erhalten, durch den sich daS kaufmännische Geschäftsvermögen ver zinst; es fehlt ihm endlich daS Bedürfniß freiester Disponibilität, weil eine Schmälerung seines Kredits seine wirthschaftliche Existenz nicht so
unmittelbar gefährdet und in Frage stellt, wie die des Kaufmanns.
Zu
dem ist der Kredit, den der Nichtkaufmann giebt, in den weitaus meisten Fällen ein von dem vorher besprochenen kaufmännischen wesentlich ver
schiedener;
es handelt sich regelmäßig nicht um Stundung der Gegen
leistung auS einem Geschäft, daS beiden Theilen Leistung gegen Leistung
auflegt, sondern um Stundung der Leistung aus einem einseitigen Ge schäfte, dem Darlehn.
Die Verschiedenheit beider Fälle auf wirthschaft-
lichem Gebiete liegt zu Tage.
Im ersten Falle haben wir eine Gegen
leistung, die nach der Natur der Sache Zug um Zug mit der Hauptleistung
erfolgen sollte, aber nicht sofort erfolgen kann aus Gründen, die in den Verhältnissen des Verpflichteten liegen und denen sich der Berechtigte hat
fügen müssen.
Der hieraus
für den Kaufmann sich ergebende beson
dere Nachtheil, daß die ausstehende Forderung weniger umsatzfähig ist,
kann durch Wechselziehung und Begebung fast völlig beseitigt werden. Im zweiten Falle findet freiwillige Entäußerung baaren Geldes gegen
eine Forderung statt; hier geht die Intention des Geschäfts darauf, durch den Umtausch von Geld und Forderung beiden Kontrahenten Nutzen zu
schaffen und die wesentliche Voraussetzung für den DarlehnSgeber ist dabei gerade, daß er des Geldes zur Zeit nicht benöthigt ist; sein Interesse be
steht in dem Erwerb der Forderung und der mit dieser etwa verknüpften Vortheile, nicht in der sofortigen Einziehung
Forderung. leihen.
oder Verwerthung der
Denn wer seines Geldes selbst bedarf, der soll eS nicht ver
Der DarlehnSgeber hat demnach kein dringendes Interesse, an
Stelle deS baaren Geldes eine Forderung zu gewinnen, die mehr al-
andere Forderungen umsatzfähig ist.
Diese Grundsätze gelten nicht blos
für Nichtkaufleute, die als DarlehnSgeber auftreten, sondern auch für Kaufleute in gleichem Falle.
Sollte man sich dem gegenüber auf da-
Lombardgeschäft berufen, so ist zu erwidern, daß dasselbe ein spezifisch
kaufmännisches Geschäft nicht ist; eS ist ein solches nicht, weil ihm der kaufmännische Umsatz fehlt.
Dieser Umsatz geht hervor aus der Mittel
stellung, die der Kaufmannsstand
einnimmt.
Der Kaufmann
ist der
Vermittler deS Güterumlaufs, er giebt nach der einen, empfängt von der anderen Seite, bald Waare (Gut), bald Geld, und die Differenz zwischen beiden Seiten ist sein Geschäfts-Verdienst oder -Verlust.
Diese
Doppelseitigkeit in dem kaufmännischen Geschäftsbetriebe ist es gerade,
welche die Mobilisirung deS kaufmännischen Vermögens erheischt und die CirkulationSfähigkeit deS Wechsels geboren hat; beim Lombardgeschäft aber
fehlt sie gänzlich.
Da-diese Doppelseitigkeit dem DarlehnS- und Lombard-
Geschäft nicht innewohnt, da dem Seitens des DarlehnSgebers gewährten
Kredit nicht ein anderer gegenübersteht, den er selbst genommen, so ist für ihn auch das Bedürfniß nicht vorhanden,
die Kreditforderung ein
facher und leichter übertragen zu können, als Forderungen der nach übertragen werden.
Regel
Wird der Lombard-Kredit gesichert durch einen
Wechsel, oder über das einfache Darlehn ein Wechsel ausgestellt, so tragen
diese Wechsel den Charakter der Depotwechsel; nach der Natur des Ge schäfts sind sie für den Umlauf gar nicht bestimmt, sondern dienen nur
zur Sicherung dereinstiger Rückzahlung.
Dieser wirthschaftliche Charakter
der DarlehnSwechsel zeigt sich besonders deutlich in dem Geschäftsverkehr
der Kredit-Institute und Kredit-Genossenschaften. Bedarf demnach der DarlehnSgeber, er mag Kaufmann oder Nicht kaufmann sein, eines in erhöhtem Maße umsatzfähigen Papieres nicht, so
ist noch zu prüfen, ob nicht der Nichtkaufmann in denjenigen Fällen deS Wechsels, d. h. deS indossablen Wechsels, benöthigt ist, in welchen er einen eigentlich kaufmännischen Kredit, Frist für eine ausstehende Gegenleistung,
gewährt hat.
Solche Fälle werden namentlich vorkommen im Verkehre
zwischen Nichtkaufmann und Kaufmann, wenn Ersterer als Producent,
Letzterer als Abnehmer auftritt, weil dann der Kaufmann den in seinem Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVIII. Hest 3.
18
Stande üblichen Credit beanspruchen wird.
Beim Verkaufe landwtrth-
schaftlicher Erzeugnisse wird vielfach nach dem Geschäftsbräuche, der von
den kaufmännischen Käufern eingebürgert ist, Kredit gewährt, so daß der
auf Baarzahlung Bestehende weniger günstige Chancen hat.
Dazu ist
zunächst zu bemerken, daß es zum Mindesten fraglich erscheint, ob ein solcher Zustand wünschenSwerth ist, ob nicht auch hier die unbedingte An
wendung der Baarzahlung vorzuziehen ist, welche — gewiß zum Vor
theil aller Betheiligten — mehr und mehr Boden gewinnt.
Allein selbst
wenn man so wett nicht gehen will, das Kredittren hier grundsätzlich zu
bekämpfen, so wird man doch auch hier kein Bedürfniß anerkennen können, den Kredit durch ein ausnehmend cirkulationSfähiges Papier zu decken.
Der Landwirth, der Nichtkaufmann überhaupt, steht dem ununterbrochen
fluktuirenden, kaufmännischen Geschäftsbetriebe fern.
Für ihn handelt eS
sich um einzelne, in ihrer wirthschaftlichen Bedeutung und Wirkung meist unschwer zu übersehende Geschäfte.
Er muß im einzelnen Falle ermessen,
ob seine Verhältnisse ihm gestatten, einen Kredit, und wie weit reichend, zu gewähren.
Gestatten ihm die Verhältnisse dies nicht, d. h. würde er
einen Wechsel nur nehmen mit der gewissen Aussicht, ihn bald weitergeben zu
müssen, so wird er den Wechsel überhaupt nicht annehmen, sondern Baar
zahlung verlangen und einen kleinen Preisverlust nicht achten.
Ihm ist
der Wechsel lediglich Sicherung seiner Forderung;- er empfängt ihn als eventuell zu brauchende Waffe gegen den Schuldner, nicht aber als ein
negotiableö Werthpapier, daS ihm die Forderung liquide und mobil er hält; er würde sich keinen Augenblick besinnen, ein nicht indossables Papier
zu nehmen, daS gleiche Vortheile bietet gegen den Verpflichteten.
Wird
er durch unvorhergesehene Umstände zur Veräußerung seiner Kreditforde
rung genöthigt, so genügt die einfache Rechtsübertragung, wie unten näher nachgewiesen werden soll.
Steht in dem zweiseitigen Geschäft, aus dem
die Kreditforderung entspringt, dem Nichtkaufmann ein Nichtkaufmann
gegenüber, so gilt natürlich daS Gleiche, daß nämlich der Wechsel lediglich
Stcherungsmittel deS Kredits ist. Wir resumiren, daß eine besondere Erleichterung der Uebertragung
von Kreditforderungen nur im Bereiche deS kaufmännischen Geschäftsver kehrs ein wirkliches Bedürfniß ist und wenden uns zu dem Nachweise, daß nur innerhalb dieses Bereiches der Wechsel die Funktion, den Kredit
zu übertragen, erfüllen kann. Die einfachen Formen deS Indossaments befähigen den Wechsel im
denkbar höchsten Maße, dem Zwecke, das Vermögen in fortwährender Li quidität und Disponibilität zu halten, gerecht zu werden.
Es fragt sich
aber, welchen materiellen Erfordernissen der Wechsel genügen muß, um
jeweilig diesen Zweck gehörig erfüllen zu können.
Der Wechsel soll als
kaufmännisches Papiergeld verwandt werden, er soll die Baarzahlung ver treten durch Ueberweisung einer Forderung.
Zu dem Ende ist eS er
forderlich, daß sein Werth für diejenigen Kreise, in denen er cirkuliren
soll, bestimmbar sei.
Forderung.
Der Wechsel enthält eine Forderung, er ist eine
Der Werch einer Forderung bestimmt sich einmal nach ihrem
Nominalbeträge, sodann nach der Sicherheit, mit welcher die Befriedigung
derselben erwartet werden darf; diese Sicherheit setzt sich wieder zusammen aus den Garantien, welche das Recht, und denen, welche die pekuniären
Verhältnisse deS Verpflichteten dem Gläubiger bieten.
Daß in jener Be
ziehung der Wechsel mit jeder nur erwünschten Garantie auSgestattet ist, wird von keiner Seite bestritten; eS giebt keine Privaturkunde, welche die
materielle und formelle Wechselstrenge auch nur annähernd erreichte.
Als
einziger Faktor, welcher bet der Berechnung deS Werthes eines Wechsels aus diesem an sich nicht sogleich bestimmbar ist, bleibt also die Zahlungs
Diese aber ist in so hohem Maße entschei
fähigkeit des Verpflichteten.
dend, daß ohne ihre Kenntniß der Werth der Forderung überhaupt nicht
veranschlagt werden kann.
Der Gläubiger, welcher von seinem Schuldner
zahlungshalber daS Giro eines AcceptS annimmt, ohne die wirthschaftliche Lage deS Acceptanten auch nur annähernd zu kennen, kreditirt in Wahr
heit nur seinem ursprünglichen Schuldner, dem Indossanten, auf dessen durch daS Giro begründete bürgschaftsähnliche und doch selbständige Wechsel verpflichtung; die Verpflichtung deS Acceptanten, die überwiesene Forderung,
tritt gänzlich in den Hintergrund; die Erwartung, daß der Acceptant
seinen Verpflichtungen nachkommen werde, sinkt zu einer völlig vagen Aus
sicht herab, deren Verläßlichkeit den Indossatar wegen seines Vertrauens
auf die Solvenz des Indossanten wenig kümmert.
Für den Indossatar,
der den Acceptanten und dessen Verhältnisse nicht kennt, liegt demnach
die Sache im Grunde nicht anders, als wenn sein Schuldner ihm einen
„Wechsel von der Hand" gegeben hätte, als wenn das Accept gar nicht vorhanden wäre; und ebenso werthloS wird in solchem Falle die leichte Uebertragbarkeit der durch das Accept begründeten Wechselforderung für
den ersten Wechselgläubtger.
Kein reeller Kaufmann wird dem Schuldner,
dessen eigener Wechsel ihm nicht genügt, kreditiren gegen daS girirte Accept unbekannter Personen.
Nur solche Forderungen, deren Werth be
stimmbar ist, gewähren die Möglichkeit, den Kredit zu übertragen, nur
solche vermögen den kreditirten Vermögensbestandtheil flüssig und verwend
bar zu erhalten.
Soll also der Wechsel seine Berkehrsfunktion erfüllen,
so muß der Gläubiger, der ihn als „gemachtes Papier", d. h. durch Giro, erhalten soll, mit den Verhältnissen des Dritten, der ihn ausgestellt oder
18*
acceptirt hat, insoweit bekannt sein, daß er eine Werthprüfung vornehmen kann; um es kurz auszudrücken, der Werth deS Wechsels ist abhängig von
dem „Namen" des Verpflichteten.
Der Wohlkang dieses Namens in kauf
männischen Ohren bestimmt sofort den Werth des Wechsels, auf den er
geschrieben.
Nach Maßgabe der Kreditwürdigkeit, welche diesem Namen
allgemein beigelegt wird, variirt der Kurs deS Wechsels.
Die kauf
männische Verkehrssprache besitzt eine große Menge von Ausdrücken für die verschiedenen Abstufungen der Kreditwürdigkeit; bei „feinsten" Wechseln
kommt die Kreditwürdigkeit und das Kredit-Risiko kaum noch in Frage; sie
werden in der kaufmännischen Welt überall und ohne Anstand angenommen
und diSkontirt.
Aber nicht nur diese, sondern auch die mit einem gerin
geren Feingehalt auSgestatteten Wechselbriefe haben ihren Kurs.
Kurs
und Umlaufsfähigkeit erstrecken sich bald über die ganze Erde, bald nur über einen kleineren Theil der Geschäftswelt.
Der Kreis, in welchem der
kaufmännische Name Geltung hat, bestimmt sich einmal nach dem Um
fange, sodann nach der Natur deS Geschäftsverkehrs und Geschäftsbetriebes.
Der Geschäftskreis des Bankiers ist naturgemäß ein größerer, als der des Kaufmanns,
der nur mit einer einzelnen Waarengattung arbeitet.
Und demgemäß ist denn auch der Umfang verschieden, in welchem sich der Kaufmann über die Zahlungsfähigkeit seiner Geschäftsfreunde vergewissern und
auf dem Laufenden erhalten muß.
Bei aller Verschiedenheit im
Einzelnen bleibt aber der allgemeine Satz bestehen, daß jeder Kaufmann
innerhalb seines Geschäftskreises informirt sein muß über die Verhältnisse
der in demselben stehenden oder in denselben hineintretenden Personen,
denen er Kredit geben will, deren Accepte er sich giriren läßt.
Dem Be
dürfnisse einer möglichst sicheren und genauen Orientirung hat man in
neuerer Zeit durch die Errichtung
von Auskunftsbureaux Rechnung zu
tragen versucht; doch kann der Zweck bei dem privaten Charakter dieser Bureaux und bei der materiellen Unverbürgtheit sowohl der ihnen zu
gehenden, als der von ihnen ausgehenden Nachrichten nur sehr unvoll kommen erreicht werden; zudem ist in nicht zu unterschätzendem Maße die
Gefahr vorhanden, daß unter dem Deckmantel deS Vertrauens und der
Verschwiegenheit geltend machen.
allerlei
verwerfliche
und selbstsüchtige
Interessen sich
ES ist daher im kaufmännischen Verkehr regelmäßig
eigene selbständige Kenntniß, oder zuverlässige und verbürgte Nachricht,
welche den Kaufmann veranlaßt, Kredit zu gewähren.
Diese Kenntniß
stützt sich in den meisten Fällen auf die Beobachtung der allgemeinen, äußerlich hervortretenden Lage deS Kreditnehmers, namentlich seiner Ge
schäftsverbindungen und seines Geschäftsbetriebes;
insbesondere ist die
Pünktlichkeit, mit welcher die eingegangenen Verbindlichkeiten bisher erfüllt
wurden, von Bedeutung.
Alles dies setzt entweder unmittelbare und
dauernde geschäftliche Beziehungen voraus,
oder doch zuverlässige Mit
theilungen von solchen Personen, welche ihrerseits in jenen Beziehungen
stehen.
Solche Beziehungen, welche eine Beobachtung der GeschäftSver-
hältniffe und damit eine Kenntniß der Kreditwürdigkeit ermöglichen, sind
nach der Natur der Sache regelmäßig gerade in demjenigen kaufmänni schen Kreise vorhanden, innerhalb dessen der einzelne kaufmännische Wechsel
seinen Umlauf nimmt.
Schon die Anknüpfung einer Geschäftsverbindung
setzt ja eine gewisse Bekanntschaft mit den Verhältnissen deS neuen Ge schäftsfreundes voraus; bei der Dauer dieser Verbindungen, bei der Regel mäßigkeit der Bahnen, in denen der Güterumlauf und diesem entsprechend
der Wechselumlaus sich vollzieht, kann eS nicht fehlen, daß jeder Kaufmann von der Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit der übrigen Kaufleute,
mit denen er direkt oder indirekt in geschäftliche Verbindung tritt, ein mehr oder weniger detaillirteS und genaues Bild sich macht, daß er einen
Kreis von Geschäftsfreunden zieht, denen er Kredit gegen Wechsel zu ge währen bereit ist und deren Wechsel er von Dritten zahlungshalber an
nimmt.
Von großer» Wichtigkeit ist dabei natürlich der Wechselverkehr
selbst, der jeden Kaufmann mit einer großen Anzahl anderer in Verbin
dung bringt und bei dem die Promptheit der Einlösung den besten Prüf
stein bildet für die geschäftliche Lage deS Verpflichteten.
So kommt es,
daß jeder Kaufmann innerhalb eines größeren oder kleineren KreifeS, und
zwar jedenfalls innerhalb desjenigen Kreises, für den die seinem Geschäfts betriebe dienenden Wechsel zumeist bestimmt sind, einen „Namen" hat, der seine Kreditwürdigkeit ausdrückt; der Anfänger in geringerem Umfange
und weniger volltönend, der Inhaber eines altbegründeten, soliden Ge schäfts in weitester Ausdehnung und vom besten Klange.
Und dieser Name,
diese Notorietät der wirthschaftlichen Lage deS einzelnen Kaufmanns ist eS, welche bei den von ihm ausgestellten Wechseln eine Werthbestimmung ermöglicht und damit ihnen die UmlaufSfähigkeit sichert. Alles dies findet sich nur im kaufmännischen Geschäftsverkehr; bei
den Nichtkaufleuten hat sich ein Analogon nicht ausgebildet und nicht auS-
bilden können.
Man darf sich darüber nicht wundern, denn der erste
Blick zeigt, daß hier kein einziger von all' den Gründen vorwaltet, welche
die Verhältnisse deS Einzelnen durch einen großen Theil der Bevölkerung verbreiten. dürfniß
Es fehlt vor Allem, wie schon oben ausgeführt, das Be
nach
einem Umlaufspapier,
weil
ein
ununterbrochmer
rascher Vermögens- und Krpditumsatz nicht stattfindet.
und
Es fehlen ferner
die dauernden Geschäftsverbindungen, welche allein das dringende Interesse
Hervorrufen, über die Solvenz der Geschäftsfreunde im Klaren zu sein
und auch zu bleiben.
Damit soll nicht gesagt sein, daß dem Privaten
dauernde Geschäftsbeziehungen überhaupt fehlen; allein bei solchen erscheint
derselbe regelmäßig als Wechselgläubiger, weil er Producent, und eS kann sich auS diesem Grunde durch die Geschäftsverbindung ein festes Urtheil über seine wirthschaftliche Lage nicht bilden; wo dies aber nicht der Fall ist,
wo der Nichtkaufmann als Schuldner auftritt, pflegt doch die Geschäfts
verbindung nach Zweck und Wesen nicht über die Person des Geschäfts
freundes hinauSzureichen, weil sie eben die Gewährung und Uebertragung kaufmännischen Kredits nicht umfaßt.
ES fehlt beim Nichtkaufmann so
dann das wichtige Moment des Zwanges, Kredit zu geben; denn dieser
Zwang beruht im letzten Grunde auf dem eigenen umfassenden Kreditbe dürfniß, wie eS beim Kaufmann besteht.
Es fehlen also alle die Trieb
federn, welche im kaufmännischen Verkehr so mächtig dahin wirken, daß
Jeder innerhalb seines Geschäftskreises sich über die Verhältnisse der für diesen in Betracht kommenden Personen fortlaufend im Klaren erhält, und eS fehlen die Mittel und Wege,
leichtern.
welche dies ermöglichen und er
Es sollte billig nicht bestritten werden, daß beim Nichtkaufmann
jene Notorietät seiner Verhältnisse, welche allein den'von ihm ausgehenden
Wechseln eine CtrkulationSfähigkeit verleihen kann, nun einmal nicht vor handen ist.
ES ist ja möglich, daß die Verhältnisse eines NtchtkaufmannS
weithin bekannt sind; aber auch dann werden sie nicht oder nicht genügend
bekannt sein in denjenigen Kreisen, in denen der Wechsel deS Betreffenden
umlaufen soll; denn dies sind in letzter Linie immer kaufmännische, weil eben ein dringendes Umsatzbedürfniß und ein regerer Umsatzverkehr außer
halb deS Kaufmannsstandes nur sporadisch auftritt.
Der Fabrikant, dem
ein Geschäftsfreund das Accept eines in seiner Gegend als solvent be kannten Privaten girirt, wird Bedenken tragen, hierauf Kredit zu ge
währen — wenn er dem Geschäftsfreund gegen dessen Wechsel allein nicht kreditiren würde; denn ihm, dem in einem anderen LebenSkreise Stehenden, sind die Verhältnisie jenes dritten unbekannt.
Dem Kaufmann ist eS
möglich, nicht nur die großen Häuser von Weltruf und internationaler Bedeutung, sondern auch innerhalb seiner Geschäftsbranche eine große, ja die überwiegende Anzahl der für diese und für ihn in Betracht kommen
den Geschäfte nach ihrer wirthschaftlichen Lage und kommerziellen Bedeu tung ausreichend kennen zu lernen, um darnach ihre Kreditwürdigkeit zu
beurtheilen; dieses Urtheil wird sich um so mehr festsetzen, je länger die
Geschäftsverbindung, die Knüpfung und Lösung der Verpflichtungen dauert, eS wird um so günstiger ausfallen, je pünktücher die Erfüllung der Ver
pflichtungen bisher erfolgt ist.
Es ist unschwer einzusehen, daß die Mög
lichkeit einer solchen Beurtheilung der Kreditwürdigkeit Anderer geknüpft
ist an die Beschränkung auf eine nicht allzu große Anzahl von Personen oder Firmen.
Und eben darum kann die Fähigkeit zu solcher Beurthei
lung und Feststellung nach der aktiven wie nach der passiven Seite nur dem Kaufmannsstande innewohnen, weil nur hier eine solche Beschränkung
gegeben ist.
Außerhalb des kaufmännischen Verkehrs extstirt eine solche
Beschränkung und Begrenzung der in Betracht kommenden Personen nicht;
immer neue und wieder neue Namen sind es,
welche die angebotenen
Wechselschriften tragen; zugleich fällt mit dem stetigen Geschäftsverkehr auch die Controlle darüber fort, ob den Verpflichtungen regelmäßig ge nügt wird.
Daß aber der Wechsel ein Umlaufspapier auch dann bleibe,
wenn der Gläubiger von Fall zu Fall Recherchen anstellt über die Sol venz, muß als eine baare Unmöglichkeit bezeichnet werden.
Wird dem
Wechsel nicht durch den Namen des Verpflichteten von vornherein der Stempel eine- bestimmten Werthes ausgeprägt, so qualificirt er sich nicht als negociables Werthpapier, sondern verbrieft nur eine besonders strikte Schuldverpflichtung, wie manch' anderes Papier auch; seine Umlaufsfähig keit ist verschwunden und nur die Einfachheit und Bequemlichkeit der UebertragungSform zurückgeblieben.
Für alle solchen Fälle könnte daher
der Wechsel füglich ersetzt werden durch ein Papier, daS zwar im Uebrtgen
Wechsel, jedoch nicht indossabel, sondern nur cessibel wäre.
Wir wiederholen: der Wechsel, sofern er nicht blos die Sicherung, sondern auch die Uebertragung deS Kredits bezweckt, sofern er also in dossabel ist, dient wesentlich nur zur Befriedigung eines rein kaufmänni schen Bedürfnisses und vermag demselben wesentlich nur zu dienen, sofern der Wechselverpflichtete ein Kaufmann ist.
Daraus folgt: der von einem
Nichtkaufmann ausgestellte Wechsel hat für den Kaufmann wie für den Nichtkaufmann wesentliche Bedeutung, sofern er Sicherung, unwesentliche, fofent er Uebertragbarkeit des Kredits gewährt; und ferner: in der Hand
des Nichtkaufmanns hat jeder Wechsel wesentlich nur die Bedeutung, den Kredit zu sichern, nicht aber, die Uebertragung desselben zu erleichtern. Ist demnach für den Kaufmannsstand die Beibehaltung des indoflablen Wechsels unbedingt geboten, so besteht für dieselbe hinsichtlich der nicht
kaufmännischen Bevölkerung ein unabweisbares Bedürfniß nicht.
Wir
sagen, kein unabweisbares Bedürfniß, um anzuerkennen, daß auch im nichtkaufmännischen Verkehr der Wechsel indossirt wird, daß er nicht selten
indossirt wird, ja daß Fälle vorkommen mögen, in denen die leichtere Uebertragbarkeit deS Wechsels mit ihren eminent strengen Consequenzen höchst zweckmäßig erscheint.
Aber diese allgemeine Anerkennung schließt
die Ueberzeugung nicht aus, daß die von uns angestrebte Beseitigung deS Indossaments der davon betroffenen, nicht zum Kaufmannsstande gehörigen
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.
246
Bevölkerung nicht nur keine Wunden schlagen, sondern schwere Schäden
bessern und heilen wird.
Diese Ueberzeugung wollen wir im Speziellen
zu begründen suchen durch Betrachtung des Wechselbedürfnisses der Grund besitzer und der Handwerker, welche Klassen hergebrachtermaßen gegen die
Einschränkung der Wechselfähigkeit ausgespielt werden.
Zeigt sich hier die
unbeschränkte Wechselfähigkeit nicht unumgänglich erforderlich, so ist der
entsprechende Rückschluß auf die übrigen Klassen der Nichtkaufleute unab weisbar
Von den Grundbesitzern sind hier natürlich zuvörderst alle diejenigen auSzuscheidcn, die einen kaufmännischen, oder Fabrik-Betrieb führen, also
Kaufleute sind und in'S Handelsregister gehören.
Diese sind bei Durch
führung unseres Vorschlages nicht blos im Kreise ihres kaufmännischen
Betriebes, sondern unbeschränkt wechselfähig.
Für die Uebrigen sich auf
Produktion der Bodenerzeugnisse Beschränkenden, bedingt die Größe oder
Kleinheit des von ihnen bebauten Feldes eine Unterscheidung in Bezug
auf unsere Frage nicht.
Bei allen ist der Umsatzverkehr ein gleich ein
facher: der Bruttoertrag der Produkte dient der Bestreitung der Produk
tionskosten, der Lebensbedürfnisse, und,
sofern ein Ueberschuß bleibt,
Meliorationen oder Kapitalienansammlungen. Die Verschiedenheit zwischen
dem landwirthschaftlichen Groß- und Klein-Betrieb beruht lediglich auf
dem Unterschiede in der Quantität, nicht der Art deS Umsatzes. Umsatz-Verkehr
kann
in kleinen
Der
ländlichen Verhältnissen, namentlich
beim Bauernstande, auf ein Minimum reducirt werden; der Umsatz voll zieht sich dann größtentheils
innerhalb der einzelnen Privatwirthschaft,
der Producent ist selbst Consument des überwiegenden Theils der Pro
dukte. — Bedarf nun der Grundbesitzer des indossabley Wechsels? Wir
haben schon hervorgehoben, daß strenge genommen nur auf der Gläubiger Daß nun
seite von einem solchen Bedürfniß gesprochen werden kann.
der Grundbesitzer in den Fällen, in denen er Gläubiger ist, eines sofort
umzusetzenden Papiers dringend bedürftig sei, wird wohl kaum ernstlich be hauptet.
Zum Beweise des Gegentheils dürfen wir auf unsere obigen
Ausführungen über das wirthschaftliche Bedürfniß der Nichtkaufleute beim
eigentlichen (kaufmännischen) Kreditgeschäft Bezug nehmen. argumente pflegt aber
die
entgegengesetzte
Ansicht nicht
Ihre Haupt
aus
diesem,
sondern aus dem umgekehrten Verhältnisse zu entnehmen, in welchem der
Grundbesitzer als Schuldner auftritt, so wenig auch die Argumentation aus diesem Verhältnisse vollbeweisend sein kann.
Man sagt,
der Land
wirth, namentlich der Großgrundbesitzer, komme bisweilen, oder häufig, in die Lage,
plötzlich Geld leihen zu müssen, und dann wird concludirt,
daß er solches nur gegen Wechsel zweckmäßig erhalten könne;
als Bei-
spiele
finden
sich
vornehmlich
dabei
bedeutendere Meliorationen
Bodens, Ankauf landwirthschaftlicher Maschinen u. s. w. angeführt.
deS Die
Thatsache, daß der Grundbesitzer bisweilen eine größere Summe Geldes brauche, wollen wir gerne zugeben; nicht dagegen die auS dieser That sache gezogene Schlußfolgerung.
Man kann wahrlich für die Unrichtigkeit
derselben kaum beffere Beweismittel beibringen, als eben die Beispiele, welche für die Richtigkeit beweisen sollen.
Welcher einsichtige Landwirth
kauft theure landwirthschaftliche Maschinen gegen Wechsel, ohne sich zuvor
des erforderlichen Kapitals — und zwar
ohne Wechselztehung —
ver
sichert zu haben? Welcher einsichtige Landwirth leiht die für Melioratio
nen nöthigen Kapitalien gegen Wechsel?
Keiner, denn die Wechselschuld
ist rasch und unerbittlich fällig, die in die Wirthschaft „hineingesteckten"
Kapitalien dagegen verzinsen und amortisiren sich nur allmählig; erst im Verlauf langer Jahre erweist sich der Boden dankbar für besondere Pflege, zeigt sich daS Uebergewicht rationell angewandter Maschinen über die Ar
beit der Menschenhand; und vielfach lassen sich Nutzen und Erfolg deS
Versuchs
erst nach geraumer
Dementsprechend wird zu
Zeit mit einiger Sicherheit bestimme».
solchen Zwecken, wie die genannten, jeder
verständige Landmann ein zinsbares Darlehn, eine Hypothek aufnehmen. Man kann der Behauptung, der Landwirth bedürfe des Wechsels,
mit
Fug die Thatsache entgegenhalten, daß für kaum einen Stand der Wechsel solche Gefahren bietet,
wie für den
Grundbesitzer.
Diese Gefahren
liegen in dem Kontraste zwischen der Natur der Wechselforderung und
dem Befriedigungsmitteln, welche der landwirthschaftliche Betrieb dem Grundbesitzer zur Verfügung stellt.
Langsam und unter den mannigfach
sten Gefahren reifen die Früchte des Feldes heran; lange dauert es, bis
sie zum Verkauf hergerichtet sind; bald früher, bald später fällt die Ernte
zeit, bald reichere, bald minder reiche Erträge bringt sie; die Möglichkeit deS Verkaufs ist eine nach Tagen nicht zu bestimmende, die Conjuncturen müssen abgewartet werden.
Alles das sind Thatsachen, die in ihrem
Jneinandergreifen es dem Landwirth unmöglich machen, mit Sicherheit
im Voraus zu bestimmen, welche Summe baaren Geldes er an einem bestimmten Tage, sei's auch nach der Ernte, disponibel haben wird; und darum hat für den Landwirth der Wechsel etwas so Hochgefährliches, wie
wohl für keinen anderen Stand.
Ist er infolge FehlschlagenS seiner
Hoffnungen, Unrichtigkeit seiner Berechnungen,
am Verfalltage außer
Stande, seinen Verpflichtungen nachzukommen, so erleidet er durch Pro
test und Prozeß, oder durch wucherliche Prolongation, die schlimmsten
Einbußen. Und wie leicht wird gerade er dem Wucherer in die Arme ge trieben!
Nach einem schlechten Jahre braucht er zur Bestreitung
der
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.
248
nächstjährigen Produktionskosten baareS Geld, leiht eS gegen Wechsel in der Hoffnung auf ein besseres Jahr und wird nun, wenn er am Zahl
tage keine Deckung hat, mit Prolongationen und neuen Wechseln so lange Man könnte hiergegen ein
auSgesogen, bis Haus und Hof verfallen ist.
wenden, daß eS nicht nur ein unbedenkliches, sondern auch ein alltägliches Vorkommniß fei,
daß der Landwirth kurz vor der Ernte ein Darlehn
gegen Wechsel nehme, um die erhöhten Kosten der Einerntung zu decken. Wir wollen zugeben, daß diese Operation in vielen Fällen mit Gefahren nicht verbunden sei;
aber dadurch wird unsere Behauptung nicht wider
legt, daß der indossable Wechsel für die Verhältniffe des Grundbesitzes nicht erforderlich fei.
Denn das Indossament kann nur für den Kredit
von Werth sein, den wir als
den eigentlich kaufmännischen bezeichnet
haben; und dieses Kredits bedarf der Landwirth nicht.
Sein Kreditbe
dürfniß weist ihn auf daS Darlehn, auf den Kapitalisten: der Kapitalist
aber bedarf nicht eines indossablen Papiers, sondern nur größtmöglicher
Sicherung seiner Forderung.
ES mag noch hinzugefügt werden, daß regel
mäßig die Wechselziehung nicht bei dem in bescheidenen, aber auskömm lichen und
geordneten Verhältnissen lebenden Grundbesitzer sich findet,
sondern bei dem, dessen Verhältnisse die Wechselziehung entweder ganz unbedenklich, oder aber in hohem Grade bedenklich machen und leider am
häufigsten und unheilvollsten bet letzterem. Beim Kleingewerbe dagegen findet sich der Wechsel auch in geord neten Verhältnissen, und namentlich sehr häufig als StcherungSmtttel kauf
männischen Kredits.
Der Kaufmann, der an den Handwerker einen
größeren Posten Waare, besonders Rohstoffe, abgegeben hat, läßt sich nach stehendem Brauch von diesem Accepte geben, die er dann seinem Lieferanten,
dem Großhändler und Fabrikanten, girirt.
gebilligt werden?
Aber kann dieses Verfahren
Wir haben bereits gezeigt, daß die Wechselunterschrift
deS kleinen Gewerbtreibenden für den Großhändler keine Bedeutung hat, weil das werthbestimmende Moment, die Bekanntschaft mit den Verhält
nissen deS Verpflichteten, fehlt, daß also der Großhändler, wenn er kredttirt, nicht der Acceptverpflichtung, sondern der Giroverpflichtung kreditirt.
Die
Gepflogenheit, Jemandem Wechsel von Personen anzubieten, deren Ver hältnisse er weder kennt noch genügend kennen lernen kann, ist ein kauf
männischer Unfug geworden, deffen Beseitigung der Sicherheit und Reellität
deS Geschäftsverkehrs nur förderlich sein kann.
ES ist nicht in der Ord
nung und bringt auch keine geschäftliche Vereinfachung mit sich, wenn dem
fernstehenden Großhändler zugemuthet wird, bevor er seinen Contrahenten
angehen kann, eine Menge Wechsel an den verschiedensten Orten und bet
den verschiedensten Personen protesttren zu lassen.
Damit wird dem
Wechsel des kleinen Gewerbtreibenden ein Gepräge aufgedrückt, das seinem inneren Wesen widerspricht.
Er besitzt von Natur keine CirkulationS-
fähtgkeit; darum ist eS Unnatur, ihm eine solche beizulegen.
auch auf Setten des Kaufmanns, der dem Handwerker
ES kann
eine Waaren-
forderung kreditirt, kein dringendes Interesse anerkannt werden, sich diesen VermögenStheil zu beliebiger Verwendung besonders liquide zu halten.
Denn einmal vermag auch der Wechsel einen Anspruch nicht umfatzfähig zu machen, der dies materiell, d. h. zufolge der Stellung deS Verpflichteten,
nicht ist; sodann aber fehlt hier das wichtige Moment
des Zwanges.
Gestatten seine Verhältnisse dem Kaufmanne nicht, den verlangten Kredit zu gewähren, so mag er auf Baarzahlung bestehen oder nur kleinere Quantitäten abgeben.
Dazu kommt, daß er im Stande ist, die Verhält
nisse seiner Abnehmer zu übersehen; er wird daher dann nicht in Nach theil gerathen, wenn er nicht leichtfertig, blos um des Absatzes willen,
Kredit gewährt hat; dies um so weniger, als ihm von seinem Lieferanten
ebenfalls Kredit gewährt wird.
Es muß überhaupt als durchaus wün-
schenSwerth bezeichnet werden, daß der Grundsatz der Baarzahlung im
Verkehr zwischen Kaufmann und Ntchtkaufmann immer mehr zur Regel werde.
zahlung
Mehr und mehr bricht sich die Erkenntniß Bahn, daß die Baar für beide Betheiligte die größten Vortheile mit sich bringt.
Nimmt nun daS Kleingewerbe eine Stellung ein, welche es nöthigt, von dieser goldenen Regel abzuweichen?
Man pflegt die Bejahung dieser
Frage durch den Hinweis auf die GeschäftSetablirungen und
Rohstoffankäufe zu rechtfertigen.
größeren
Daß hierzu Kredit nothwendig, weiß
Jeder; denn wer von Hause aus mit dem nöthigen Kapital versehen ist, begnügt sich heutzutage nicht mehr mit dem Handwerk oder Kleingewerbe.
ES muß aber mit Energie darauf hingewiesen werden, daß gerade in den bescheidenen Verhältnissen deS Kleingewerbes und gerade von Anfängern mit der Inanspruchnahme deS Kredits vielfach ein grober Mißbrauch ge trieben wird.
Der kaum der Schule deS Meisters entwachsenen Anfänger
benutzt die Gewerbefreiheit, sich sofort selbständig zu etabliren ohne wei teres Kapital, als seine eigene Tüchtigkeit und Geschicklichkeit oder deren
Mangel.
Aber damit nicht genug! nun soll daS Geschäft blühen und sich
auSbreiten, bevor eS einmal recht Wurzel gefaßt hat, es werden größere Ankäufe der zu verarbeitenden Stoffe gemacht, kurz der Kredit wird nach
allen Seiten auf'S Stärkste angespannt, bevor noch die Lebensfähigkeit des
ganzen Betriebes feststeht.
Inzwischen hat sich der Inhaber vielleicht ver-
heirathet, hat Kinder, und in Folge dessen Ausgaben, die über den Er
trag von seiner Hände Arbeit weit htnauSgehen.
Und wo eS nicht die
nothwendigen Ausgaben sind, da sind eS in vielen Fällen die durch
manche Setten moderner Anschauungsweise so hoch geschraubten
einge
bildeten Lebensbedürfnisse, welche die Ausgaben zu unnatürlicher Höhe
anschwellen lassen.
Die unerbittliche Konsequenz ist in beiden Fällen, daß
nach kurzer Blüthe Alles jäh zu Grunde geht.
Dazu hat neben der
Ueberspannling der Hoffnungen und Erwartungen auch die Ueberspannung
des Kredits zum großen Theil beigetragen. und fordern unzählige Opfer.
Beide gehen Hand in Hand
Darum, sagen wir, ist eS vom Uebel,
wenn der kleine Gewerbtreibende Waaren gegen Wechsel nimmt, deren Betrag sein Jahresbudget schwer belastet, wenn er sich in seinen Einkäufen nicht weise Mäßigung auflegt, wenn er Geschäftserweiterung anstrebt, ohne
durch den bisherigen Gang deS Geschäfts hierzu berechtigt zu sein.
Nicht
nützlich, sondern schädlich ist ihm dann der Kredit, für die überflüssige, nicht zu verarbeitende oder abzusetzende Waare, die noch dazu allmähltg
verdirbt, zahlt er hohe Zinsen.
Wenn heute vom Handwerke leider nicht
mehr gesagt werden kann, eS habe einen goldenen Boden, so liegt der Grund nicht zum Geringsten an den vorbezeichneten Momenten, an der
Täuschung über die eigene Kraft und die Aussichten für die Zukunft, an
der Bestärkung dieser Täuschung durch allzu freigebige Gewährung deS Kredits gegen Wechsel. So hinsichtlich deS kaufmännischen Kredits; weitaus schlimmer noch,
wenn es sich um Gelddarlehen handelt.
Denn dann steht dem kleinen
Gewerbtreibenden nicht mehr der Kaufmann, sondern der Geldverleiher
und Wucherer gegenüber; ist eS jenem nur darum zu thun, zu dem
Seinigen zu gelangen, so will dieser sein Opfer möglichst auSnützen. Und so zeigen sich denn die vorhin geschilderten Nachtheile hier in ver
stärktem Maße.
Im Uebrigen gilt auch hier, daß das DarlehnSgeschäft
nur Sicherung des Gläubigers, nicht aber auch Umsatzfähigkeit der Darlehnsforderung verlangt.
Schließlich mag noch darauf hingewiesen werden,
daß für das Kleingewerbe aus ähnlichen Gründen, wie wir sie bet dem Landwirth gefunden haben, die Wechselziehung überhaupt bedenklich und
gefährlich ist, auS Gründen, welche sich aus der größeren Langsamkeit deS Umsatzes gegenüber dem kaufmännischen Betriebe, und auS dem im besten
Falle nur allmählig fortschreitenden Steigen deS Verdienstes, sowie auS
der mancherlei Unsicherheit dieses Verdienstes überhaupt ergeben.
Und
gleichermaßen gilt, daß der Wechsel deS kleinen Gewerbtreibenden nicht umlaufsfähig ist und dies auch durch die Möglichkeit, ihn zu indofstren,
nicht wird.
Gelangen wir durch diese nähere Betrachtung der Verhältnisse zweier Bevölkerungöklassen,
für welche vorzugsweise
die Unentbehrlichkeit deS
Wechsels betont wird, zu der Erkenntniß, daß für die Angehörigen dieser
Klaffen das Kreditnehmer« gegen Wechsel überhaupt große und besondere
Gefahren hat, und daß andererseits für die Benutzung eines im höchsten Maße umlaufsfähigen Papiers, wie der indossable Wechsel, ein dringendes
Bedürfniß nicht obwaltet, so glauben wir damit auch abgesehen von un serer vorhergehenden, principiellen Erörterung der ganzen Frage darge
than zu haben, daß in der That für die nichtkaufmännische Bevölkerung
in ihrer Gesammtheit kein erhebliches Interesse vorhanden ist, daß ihren Forderungen und Verpflichtungen eine besonders qualificirte,
über das
gewöhnliche Maß hinauögehende Uebertragbarkeit, wie sie der indossable Wechsel gewährt, verliehen werde oder verliehen werden könne.
Wenn wir dieses Resultat mit den Ergebnissen unserer,
von der
allgemeinen Betrachtung der wlrthschaftlichen und Kreditverhältnisse, sowie
der Natur des Wechsels ausgehenden Untersuchung zusammenfassen, so glauben wir unS zu dem Schlüsse berechtigt, daß die Nachtheile, welche mit der Beschränkung des indossable» Wechsels auf die in das Handels
register Eingetragenen verbunden sind, nicht in'S Gewicht fallen können
gegenüber den Vortheilen einer solchen Maßregel, sofern nur gleichzeitig demjenigen wirthschaftlichen Bedürfnisse der Nichtkaufleute, welchem der Wechsel bisher gedient hat, ausreichend in anderer Weise Rechnung ge
tragen wird.
Dieser Punkt ist eS, welcher gewöhnlich für die auf Ein
schränkung der Wechselfähigkeit gerichteten Bestrebungen die Klippe bildet, an der sie scheitern.
Es darf behauptet werden, daß überwiegend ein
Etnverständniß über die Nothwendigkeit legislativer Maßregeln vorhanden ist; sobald eS aber gilt, die vorzunehmenden Aenderungen positiv anzu
geben, finden sich tot capita, tot sensus und Jeder bemängelt die Vor
schläge deS Anderen mit mehr oder weniger Grund.
Der im Folgenden
gemachte Vorschlag ergiebt sich in seinen Grundzügen aus den von unS
aufgestellten Sätzen.
Wir haben gezeigt, daß von den beiden wirthschaft
lichen Funktionen deS Wechsels die auf Uebertragung
des Kredits ge
richtete fick im Wesentlichen auf den Kaufmannsstand beschränkt; für den
übrigen Theil der Bevölkerung bleibt demnach die andere
Funktion,
nämlich die Sicherung des Kredits, und dieser Funktion entspricht das für
den Nichtkaufmann anzuerkennende Bedürfniß.
Dieses Bedürfniß, dem
der Wechsel bislang gedient, ist noch näher festzustellen; eS muß geprüft werden, ob die durch Einschränkung der Wechselfähigkeit entstehende Lücke
genügend auSgefüllt wird durch diejenigen Sicherungsmittel des Kredits,
welche daS bestehende Recht bietet, oder ob nicht vielmehr diese Sicherungs
mittel als unzureichend zu bezeichnen sind. Zuvörderst wird kein Einsichtiger bestreiten wollen, daß auch in nicht kaufmännischen Kreisen ein weitreichendes Creditbedürfniß vorhanden ist.
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.
252
Diese Thatsache nehmen die meisten Proteste gegen die Einschränkung
der Wechselfähigkeit zum Ausgangspunkte und mit den mannigfachsten Gründen wird der Nachweis versucht, daß die Creditverhältnisse des ge-
sammten Volks die Beibehaltung des Wechsels dringend erheischen, daß mit der Entziehung der Wechselfähigkeit gerade denjenigen Klassen, denen geholfen worden solle, die empfindlichste Schädigung zugefügt werde. So steht eS zumeist zu lesen in den Handelskammerberichten, die sich mit der vorliegenden Frage beschäftigen. Wunderbar nur, daß gerade der Kaufmanns
stand sich so uneigennützig für daS Wohl der sogenannten kleinen Leute,
der Handwerker und kleinen Landwirthe, erwärmt; daß aus den Reihen dieser selbst keine gleichlautende Stimme ertönt.
Daß vielmehr große und
weite Kreise der Bevölkerung die Entziehung der Wechselfähigkeit nicht als
Entziehung eines unveräußerlichen Menschenrechts perhorreSciren, sondern
als Erlösung von einer drückenden Last begrüßen! daß der verständige und
wohlwollende Mann den, der eS nicht nöthig hat, vor Eingehung wechselmä ßiger Verbindlichkeiten nach Kräften warnt; daß solche Warnungen öffentlich und in eindringlichster Form erlassen werden; daß vielfach der ordentliche
Hausvater in dem Wechsel ein Schreckgespenst sieht welches seine geord neten Verhältnisse zu verwirren und sein häusliches Glück über den Haufen
zu
stürzen droht! dergleichen Erscheinungen sollten doch stutzig
machen
und Anlaß geben zu unbefangener Prüfung, ob es denn wirklich gerade die ntchtkaufmännische Bevölkerung ist, der von einer Beschränkung der
Wechselfähigkeit Nachtheil droht.
Wir haben schon oben darauf hinge
wiesen, daß derjenige, dessen Interesse bei der Beschränkung der Wechsel
fähigkeit vornehmlich in Frage steht, der Gläubiger ist, daß der Schuld ner nur mittelbar getroffen wird.
Hieraus erklären sich jene Reklama
tionen der allgemeinen Wechselfähigkeit zur Genüge: sie sind pro domo
des Kaufmannsstandes geschrieben;
sie sollen zum Theil auch den Miß
brauch rechtfertigen, der mit Girirung von Wechseln, die an sich nicht umlaufsfähig sind, getrieben wird, ein Mißbrauch, unter welchem in Folge
des mit der Girirung verbundenen Verlustes der Einreden der Schuldner zu leiden hat.
Jene Auslassungen sind daher mit um so größerer Vor
sicht aufzunehmen, je einseitiger und parteilicher der Standpunkt erscheint von welchem
aus sie allgemeine Interessen zu vertreten vorgeben, je
weniger dieser Standpunkt als ein richtiger angesehen werden kann. Der Wechsel des Nichtkaufmanns ist nun einmal kein Umlaufspapier; darum
ist auch das gemeinsame Interesse des Kaufmanns, dem ein Nichtkauf mann schuldet, kein anderes als das gemeinsame Jntereffe aller Gläubiger. Dieses Interesse geht dahin, mit möglichst umfangreicher RechtSmacht
gegen den Schuldner ausgestattet zu sein.
Gesunde Creditverhältniffe
können da nicht bestehen, wo der Schuldner gegen den Gläubiger, son dern
nur da, wo dieser gegen jenen umfassenden Rechtsschutz genießt.
Der Creditgeber, dem das Gesetz nicht genügend zu Hülfe kommt, sieht sich gezwungen, für daS größere Rtsico deS Credit- von vornherein sich
größere Vortheile auszubedingen, und der ehrliche Schuldner trägt somit
den Nachtheil der von dem unehrlichen untef dem Schutz des Gesetzes
geübten Chikanen; wo umgekehrt das Gesetz dem Gläubiger die sichere
Aussicht giebt, in kurzer Frist zu dem Seinigen gelangen zu können, da fällt mit dem Risico auch der Preis des Credits.
Rigoroser Schutz des
Gläubigers dient, wie Kulturgeschichte und Nationalökonomie unwiderleg lich beweisen, nicht nur seinem, sondern auch des Schuldners wohlver
standenem Jntereffe.
Diesem Interesse, das in allen Schichten der Be
völkerung gleichmäßig vorhanden ist, wird der Wechsel im höchsten Maße gerecht; er vereinigt in sich die größte Leichtigkeit und Billigkeit Schöpfung
mit
der
größten Strenge der geschaffenen
der
Verbindlichkeit.
Die einzelnen Setten der materiellen und formellen Wechselstrenge sind bekannt genug, um hier nicht speciell aufgezählt zu werden.
In der
Strenge der Verpflichtung sind dem Wechsel nur die im § 702 unter Nr. 5 in der
Civ.-Proz.-Ordn,
erwähnten
Urkunden zu vergleichen,
deren Wirkung allerdings eine noch unmittelbarere und einschneidendere ist.
Die Umständlichkeit und Kostspieligkeit aber, mit welchen die Aus
stellung dieser gerichtlichen oder notariellen Urkunden verknüpft ist, machen
dieselben ganz ungeeignet, den Wechsel zu ersetzen und dem Bedürfnisse deS
täglichen Lebens zu genügen; das liegt so auf der Hand, daß eS
keiner weiteren Beweisführung bedarf.
Infolge einer Beschränkung der
Wechselfähigkeit auf die Kaufleute würde mithin der Gläubiger deS NtchtkaufmannS zur Geltendmachung seiner Forderung regelmäßig auf den ge
wöhnlichen Prozeßweg angewiesen sein.
So sehr nun auch anzuerkennen
ist, daß die Ctv.-Proz.-Ordn. weitreichende Handhaben zur Sicherung des
Rechts bietet, so ist es doch zweifellos, daß der Wegfall des so schnell zum Ziele führenden Wechsel-Verfahrens als eine erhebliche Schädigung
berechtigter Interessen empfunden werden und eine Erhöhung des Preises
deS Credits als unabweisbare Folge nach sie ziehen würde.
Um daher
die entstandene Lücke auszufüllen, würde, unter Beibehaltnng deS be
stehenden Rechnungszustandes in Ansehung der Kaufleute, für die Nicht
kaufleute ein Rechtsinstitut zu schaffen sein, daS ohne die specifische Ge fährlichkeit deS Wechsels einen, namentlich prozessualisch energischen, Rechts
schutz gegen den Schuldner gewährt.
Dasjenige nun, was wir als daS
specifisch Gefährliche, und gerade beim Nichtkaufmann Gefährliche, deS Wechsels erkannt haben, ist daS Indossament.
Wir haben ferner er-
tonnt, daß das Indossament dem Ntchtkaufmann entbehrlich ist, weil dieser
keine
erhöhte CirculationSfähigkeit
seiner Forderungen
braucht;
ebenso dem Gläubiger deS Nichtkaufmanns h weil des Letzeren Schuld eine
höhere CirculationSfähigkeit
nicht erhalten kann.
nicht besitzt und durch den Wechsel
Hieraus ergiebt sich, daß dem Creditbedürfniß deS
Nichtkaufmanns jedenfalls' genügt werden würde durch eine Schuldver schreibung, welche, im Uebrigen dem Wechsel ganz gleich, sich von dem selben nur dadurch unterscheidet, daß die verbriefte Forderung nicht durch
Indossament, sondern nur durch Session übertragbar ist, daß also die gegen den ersten Wechselgläubiger begründeten Einreden, und namentlich auch die Wuchereinrede,
auch dem Cessionar entgegengesetzt werden können.
Diese Fixirung deö ursprünglichen Rechtsverhältnisses, diese Erhaltung
der einmal entstandenen Einreden ist der springende Punkt für eine Ge setzgebung, welche dem Wucherverbot auf dem Gebiete des Wechselverkehrs
Geltung und Wirkung verschaffen will.
Jedem Erwerber des Wechsels
muß die Wuchereinrede entgegengesetzt werden können.
Ist sie auch im
Wechselprozeß nicht sofort erweislich, so kann sie doch gegen den jedes
maligen Kläger in einem sich an den Wechselprozeß anschließenden Ver fahren geltend gemacht werden und nach Umständen auch vor dem Erkennt
niß zur Sistirung der Zwangsvollstreckung oder zur Erwirkung provisori
scher Sicherungsmaßregeln führen.
Diese Ausdehnung der Einreden ist
die einzige, zur wirksamen Bekämpfung des Wuchers geeignete Waffe.
Der Wucher kann und wird fallen nicht durch Strafgesetze oder Repressiv
maßregeln, sondern einzig und allein dadurch, daß das ihm zu Grunde liegende Interesse beseitigt wird; und dies geschieht am wirksamsten durch die Zulassung der Einreden.
Die Lage des als Kläger auftretenden
Wucherers wird dadurch natürlich nicht geändert: feiner Klage stand bis her und steht auch ferner die Wuchereinrede entgegen.
Aber in Zukunft
kann der Wucherer — und darauf eben kommt es an — nicht mehr feine
obskuren Helfershelfer vorschieben und durch ihre Vermittelung den schnöden Gewinn einheimsen.
Fortan ist weder für für ihn, noch für jene Dritte,
in der bloßen Weiterbegebung ein Gewinn zu suchen, da der Schuldner
nun nach
allen Richtungen hin geschützt ist.
Allerdings muß er, im
Wechselproceß regelmäßig verurtheilt, zlinächst zahlen; allein er kann von
jedem Kläger das Gezahlte im Separatverfahren zurückfordern, wenn er
den Wucher beweist.
Daß dieser Beweis nicht leicht zu führen ist, liegt
in der Natur der Sache.
Aus diesem Umstande aber mag zwar ein
Einwand gegen die Vorschriften des Wuchergesetzes selbst entnommen wer
den, nicht jedoch gegen den Versuch, diese Vorschriften auf den Wechsel verkehr auSzudehnen. — Zu den genannten Vortheilen würde noch der
fernere treten, daß Jeder die ihm angebotenen Wechsel von Nichtkaufleuten nur nach vorsichtiger Prüfung der einschlägigen Verhältnisse annimmt,
daß überhaupt die Girirung — nun Cession — von Wechseln, durch welche nur zu häufig die materiellen Schuldverhältnisse zum Nachtheil des Schuldners ganz verwischt wurden, sich beschränkt, daß der Wucherer zum
persönlichen Hervortreten gezwungen wird, daß der schwindelhafte Handel mit Privatwechseln, das mannigfache Hineinztehen fingirter Personen, die
Kellerwechsel,
und die viel Täuschung und
Trug bezweckenden Finten
und Practiken auS dem Wechselverkehr zum Wenigsten der Nichtkaufleute Ebenso würde auch die Möglichkeit einer
mehr und mehr schwinden.
Ausbeutung des Unerfahrenen und Leichtsinnigen auf das geringste zu lässige Maß reducirt sein.
unthunlich.
Ein weiteres Vorgehen in dieser Richtung ist
Wir können den, der Schulden machen will, mit Erfolg nicht
hindern, wir können dem Leichtsinn und der Unbesonnenheit nicht weiter entgegentreten, als durch die Gesetzgebung über Geschäftsfähigkeit Minder jähriger und Entmündigung in Verbindung mit den Vorschriften über
strafbaren Eigennutz gegenüber Minderjährigen und Wuchergesetz geschehen.
endlich durch das
Und ebensowenig vermögen wir den Ungebildeten
und Rechtsunkundigen über die allgemeinen Grundsätze für die RechtS-
gültigkeit von Willenserklärungen hinaus zu schützen; die Wiedereinführung
des RechrsbegriffS der rusticitas ist mit der modernen Anschauungsweise unverträglich.
wahren,
daß
Es bleibt daher nur übrig, den Schuldner davor zu be
er auS formellem Grunde zahle, was er materiell nicht
schuldet. — Ein fernerer Vortheil würde auch in der regelmäßigen Er
sparung der Protestkosten liegen.
Wie aber ist dies durchzuführen? Wie die Gefahr der RechtSunsicherheit zu vermeiden?
Wie der Unterschied erkennbar zu machen zwischen
dem kaufmännischen indossablen und
dem nichtkaufmännischen,
nichtin-
dossablen Wechsel? Wir antworten: „dadurch, daß einerseits der ge zogene Wechsel
ganz
auf den eingetragenen Kaufmann
be
schränkt wird und daß andererseits bei dem eigenen Wechsel daS Indossament beseitigt und nur die Cession zugelassen, oder
daS
Indossament
mit
der
bloßen
Wirkung
der
Cession begabt wird. — Damit ist die Möglichkeit gegeben, aus der Form deS vorliegenden Wechsels selbst unmittelbar zu ersehen, ob man
eS mit einem indossablen Papier, oder mit einer allen Einreden unter liegenden Forderung zu thun hat.
Dadurch ist die namentlich für den
kaufmännischen Verkehr so unumgänglich nothwendige Rechtssicherheit im höchsten Maße hergestellt.
daß,
Zwar ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen,
auS Versehen oder bösem Willen, auch ein Nichtkaufmann einen
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 3.
19
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.
256
kaufmännischen Wechsel unterschreibt; daraus kann aber gegen die vorge schlagene Neuerung kein Einwurf entnommen werden; denn auch heutzu
tage ist es möglich, daß der Name eines nicht Verpflichtungsfähigen auf
den Wechsel gesetzt wird.
Unser Vorschlag sieht ab von der Aufstellung
eines neuen, aprioristisch konstruirten Rechtsinstituts, um ein für den Ge setzgebungspolitiker immer bedenkliches Experimentiren zu vermeiden; er schließt sich vielmehr an ein durch Wissenschaft und Praxis festgestelltes Rechtsinstitut an und will dasselbe nur, dem erkannten Bedürfnisse gemäß,
umbilden. Der Vorschlag nimmt dem Kaufmannsstande in gewisser Weise den eigenen Wechsel, nämlich in seiner bisherigen Eigenschaft als besonders
einfaches Mittel des Creditumsatzes; die Durchführbarkeit des Vorschlages hängt daher ab von der Beantwortung der Frage, ob der Kaufmanns
stand den eigenen Wechsel in seiner erwähnten Eigenschaft entbehren kann. Wir stehen nicht an, diese Frage zu bejahen.
Dasjenige, worauf allein
es für den Kaufmann ankommt, ist die Mobilifirung des Kredits.
Diesem
Zwecke trägt der gezogene Wechsel in vollem Umfange Rechnung; eS giebt
kein kaufmännisches Kreditverhältniß, welches nicht in der Form der Tratte, sei es durch Ausstellung, Accept, Aval, Indossament, Wechsel an eigene
Ordre u. s. f. den seiner Besonderheit entsprechenden Ausdruck fände; es
kann kein solches Verhältniß konstruirt werden, für das der eigene Wechsel geeignet,
der gezogene dagegen ungeeignet wäre.
Den besten Beweis
gegen die angebliche Unentbehrlichkeit des eigenen Wechsels liefert seine eigene Geschichte:
fast beiläufig ist er in die Wechsel-Ordnung ausge
nommen; man fand ihn einmal vor und sah keinen besonders triftigen
Grund, ihn zu beseitigen.
Dabei konstatiren die Protokolle — und das
Gleiche läßt sich auch heute konstatiren —, daß der eigene Wechsel im Handelsverkehr wenig benutzt wird.
Wenn heute hier und da die Er
haltung des eigenen Wechsels für den Kaufmannsstand gefordert wird, so tritt dieser Anspruch doch regelmäßig ohne besonderen Nachdruck auf und
wird, waS das Wichtigste ist, regelmäßig nicht unterstützt durch bestimmte
Gründe, sondern durch den allgemeinen Hinweis dararif, daß in gewissen
Fällen der eigene Wechsel bequemer zu handhaben sei.
Bequemlichkeiten
aber, deren Vorhandensein überdies sehr wenig feststeht, können nicht aus
schlaggebend sein, wo eine umfassende Reform in Frage steht.
Man wird
auf Auslassungen, die in so allgemeiner und wenig präciser Form auf
treten, um so weniger Gewicht legen dürfen, als feststehendermaßen im heutigen kaufmännischen Verkehr der eigene Wechsel durch die Tratte fast gänzlich verdrängt ist.
Den Grund hierfür setzt der große HandelsrechtS-
lehrer Thöl wohl nicht mit Unrecht in das Bestreben, den Trattenkredit
zur Schau zu stellen und aufrecht zu erhalten.
ES findet sich auch wohl
die Behauptung, der eigene Wechsel sei unentbehrlich als Depotwechsel,
Sicherheitswechsel, im Verkehr deS kleinen Mannes mit BolkSbanken und
ähnlichen Kreditinstituten.
Dabei ist zunächst nicht abzusehen, weshalb
denn hierzu z. B. ein Accept ungeeignet sein sollte, das gerade im kauf
männischen Verkehr häufig genug als Depotwechsel gegeben wird.
WaS
sodann speziell den so wichtigen Verkehr des kleinen Mannes mit der Volks bank, der Kreditgenossenschaft, angeht, so will unser Vorschlag hier den eigenen
Wechsel belasten und nur die Wirkung seiner Uebertragung beschränken. Die Beseitigung deS Indossaments wird sich gerade in dem Verkehr dieser Kreditinstitute schwerlich fühlbar machen, da dieselben nur der Sicherung
ihrer Forderungen bedürfen, nicht aber auf Erlangung besonders umsatzfähiger Papiere angewiesen sind, wie denn im Ganzen der Giroverkehr hier ein äußerst geringer ist; auch wird bei den Wechselforderungen solcher Kreditinstitute die Ersetzung deS Indossaments durch die Cession um deß
willen ganz unbedenklich sein, weil gerade hier am wenigsten der Gläubiger die Annahme des Wechsels aus Furcht vor Einreden des debitor cessus
weigern wird. Kann hiernach der Kaufmannsstand den eigenen Wechsel als indossableS
Papier entbehren, so bedarf es nur weniger Aenderungen, um den jetzigen eigenen Wechsel nach den von uns bezeichneten Gesichtspunkten umzuge stalten.
Der Haupt- und Kernpunkt dieser Umgestaltung ist die Beseiti
gung des Indossaments mit all' seinen strengen Consequenzen und die Ersetzung desselben durch die Cession, welche die einmal begründeten Ein
reden nicht zerstört.
Eine eigentlich wechselmäßige Verpflichtung soll also
nur zwischen den ursprünglichen Contrahenten bestehen; jeder spätere Er werber deS Wechsels übt Wechselrecht gegen den Verpflichteten nicht aus eigenem, sondern kraft abgeleiteten RechtS; mithin ist ein Ordre-Wechsel
ferner nicht zulässig.
Mit der Aufhebung der jetzigen Wirkung deS In
dossaments dürfte indeß diese so einfache und bequeme Form der Rechts übertragung selbst nicht zu beseitigen sein; sie ist vielmehr mit der Wir kung der Cession nach landesgesetzlichen Vorschriften auszustatten.
Blanko-Indossament muß jedoch in Wegfall kommen.
Das
Die Frage, ob
jede sonstige Form der Cession zuzulassen ist, mag als
mehr neben
sächlich
hier
verneinen
sollen.
Mit dem Recht des Indossaments fällt selbstverständlich das
nur
berührt
werden.
Wir
glauben
sie
zu
Wechselregreßrecht und das bürgerliche Regreßrecht tritt an die Stelle. Als entbehrlich
für den eigenen Wechsel in seiner neuen Gestalt sind
ferner zu bezeichnen die Vorschriften über Ehrenzahlung, Kopien, falsche Wechsel, Verjährung deS Regreßanspruchs, die zugelassenen Einreden; zu-
19*
Die Beschränkung der Wechselfähigkeit.
258
gleich dürfte es sich empfehlen, bei dem eigenen domizilirten Wechsel die Hauptstreitigkeiten über seine RechtSnatur legislativ zu entscheiden, besser
noch denselben ganz aufzuheben. Wir haben hiermit die einzelnen Punkte, um die eS sich bei Aus
führung unseres Vorschlages wesentlich handeln würde, kurz berührt und auch den Vorschlag selbst nur kurz in seinen Hauptpunkten skizzirt.
Denn
eS liegt nicht im Sinne dieser Zeilen, mit einem motivirten Gesetzesent
wurf hervorzutreten; sie sollen nur Anregung zur näheren Prüfung eines Gedankens geben, den wir für fruchtbar und weiterer Ausbildung und Entwickelung fähig erachten.
Wir haben nur einen neuen Weg für die
Gesetzgebung aufzeigen wollen, welcher dem von vielen Seiten erstrebten
Ziele direkt zuführt; und wir hoffen nachgewiesen zu haben, daß das Be treten dieses Weges nichts Bedenkliches oder Gefährliches hat.
Wir geben
auch der Hoffnllng Naum, daß uns diejenigen beistimmcn werden, welche
auf dem Boden dcS Wuchergesetzes stehen, und nicht minder, daß uns auS den Reihen eben derjenigen Beifall zu Theil wird, denen wir die
Tratte nehmen wollen. — Zwei Punkte wollen wir schließlich noch kurz besprechen.
Der erste betrifft ein Bedenken, welches etwa bei denen aufsteigen könnte, die im Uebrigen die Richtigkeit unserer Ausführungen über kauf
männischen und nichtkaufmännischen Kredit und über die Voraussetzungen
der Begebbarkeit des Wechsels zugeben.
Man könnte die vorgeschlagene
Beschränkung und Aenderung aus dem Grunde beanstanden, weil die Ver
hältnisse des realen Lebens schwer oder gar nicht zu übersehen und daher eine Schädigung berechtigter Interessen im einzelnen Falle wohl möglich
sei.
Hierauf erwidern wir, daß allen berechtigten Interessen Rechnung
getragen werden kann auf einem kleinen Umwege; dadurch nämlich, daß an Stelle des früheren Indossaments jetzt dem Gläubiger
außer dem
«bitten fremden ein eigener Wechsel vom Cedenten zur Deckung gegeben und dadurch, nur unter Hinzufügung der unbedeutenden Stempelkosten,
auch der Cedent wechselmäßig verpflichtet wird.
Ueberall da, wo reelle
und erlaubte Zwecke verfolgt werden, wird dies einen genügenden Ersatz
des Indossaments bilden und wird namentlich der Kredit nicht versagt werden um der Möglichkeit willen, daß der dritte Wechselschuldner das
Gezahlte auf Grund einer ihm gegen den Cedenten zustehenden Einrede zurückfordere.
Sodann wollen wir unö mit wenigen Worten gegen die Beschreitung
desjenigen Weges aussprechen, welcher in der Reichstags-Resolution an gedeutet wird, nämlich die Anlegung von Wechselregistern.
Diese sind
natürlich vom Standpunkte unseres Vorschlages entbehrlich.
Wir halten
Die Beschränkung der WechselfLhigkeit.
259
sie aber auch abgesehen davon für positiv schädlich, weil sie die Folge
haben müssen, daß im Wechselverkehr mehr und mehr Unsicherheit Platz greift und derselbe dadurch gelähmt wird.
Man mag das Wechselregister
gestalten wie man will, man mag die Eintragungen in noch so ausge
dehntem Maße veröffentlichen, man wird doch nie auch nur annähernd
diejenige Notorietät der Eintragungen erzielen, welche für die UmlaufSfähigkett der von dem Eingetragenen ausgehenden Wechsel unentbehrlich ist.
Man wird durch die Eintragung niemals dem einen Namen als
werthbestimmenden Factor des Wechsels schaffen, welchem ein Name nach
unserer obigen Ausführung an sich nicht beiwohnt.
Und je mehr Vor-
bedingnisse man für die Eintragung selbst aufstellt, um so mehr wird die Unsicherheit wachsen, um so empfindlicher der Wechselverkehr geschädigt
werden.
ES ist auch nicht einzusehen, daß daS Register zur Verminde
rung des Wuchers in erheblichem Maße beitragen kann; die nächste Folge der Einführung von Registern würde fein, daß alle diejenigen, bei denen
der Wechsel heutzutage gebräuchlich ist, sich eintragen laffen, soweit sie die Vorbedingungen erfüllen können.
Man bemerke auch, daß vielleicht
in der Mehrzahl der Fälle der Wucher nicht sofort bet Ausstellung deS ersten Wechsels beginnt oder vorhanden ist, sondern daß vielfach gerade
die Nothlage, in welcher der Schuldner sich am Verfalltage deS Wechsels befindet, zu wucherlichen Zwecken benutzt wird.
daß derjenige,
Und glaubt man denn,
der ohnehin in die Hände des Wucherers fallen würde,
durch die kleine Erschwerung, die in der Erfüllung einer Formalität wie
die Eintragung liegt, sich wird hindern lassen?
Hier kann
auch durch
Aufstellung besonders strenger Normen für die Eintragungsfähigkeit nicht geholfen werden.
Das wirkliche Bedürfniß läßt sich von dem scheinbaren,
der unschädliche von dem schädlichen Wechsel nicht scheiden Kriterium
einen
das
allgemeiner Vorschriften in Betreff des Alters, Vermögens,
Höhe der Wechselsumme u. s. w. auf hin,
durch
Die ganze Sachlage weist vielmehr dar
daß. nicht durch eine Anzahl künstlicher Mittel, sondern durch
einzigen
großen Schnitt die Heilung versucht werde und dieser
Schnitt ist nach unserer Diagnose deS wirthschaftlichen KrankheitSzustandeS unbedenklich.
Posen, 9. März 1881.
v. BorrieS.
Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie. Bou
Dr. Ferdinand Schultz.
DaS Verhällnis Herman» und Dorotheas zur Antike hat, wenigstens in Bezug auf Homer, A. W. Schlegel treffend dargestellt; für Iphigenie, dieses wunderbare Gedicht, dessen friedeatmende Ruhe, dessen stille Größe
und edle Einfalt seinen Zauber bei keinem fühlenden Menschen verleugnen
wird, scheint trotz der gewaltig angeschwollenen Literatur über dieselbe das Verhältnis noch keineswegs so klargelegt als man meinen möchte.
Hatte
schon ein Schiller geurteilt, Iphigenie sei so erstaunlich modern und un
griechisch, daß man nicht begreife, wie eS möglich gewesen sei, sie jemals einem griechischen Stücke zu vergleichen, so dürfte für die Meinung der Jetztzeit im allgemeinen wohl das Wort des Engländers Lewes zutreffen:
„Deutsch ist das Stück. Empfindungen."
Es ist nicht griechisch, weder an Gedanken noch
Gewiß wird niemand diesen Worten eine gewisse Be
rechtigung abzusprechen vermögen; in solcher Ausdehnung aber ist jene
Behauptung geradezu falsch, und sie beruht auf Unkenntnis oder Nicht beachtung von Momenten, die allerdings in der deutschen Literatur noch
wenig zur Geltung gebracht sind, die sich aber dem Auge des Kenners griechischer Tragiker nicht entziehen können. Für diese Betrachtung die Augen zu öffnen und so dem Ursprung
des Hauches von Anmut
und Würde,
welcher in dem Gedichte weht,
näher zu kommen, sei der Zweck unserer Ausführungen.
Lewes stellt die Behauptung auf, die leidenschaftslose Einfachheit der scenischen Darstellung bei den Griechen habe ihren Grund in der sceni schen Notwendigkeit,
Theaters,
welche
sich
aus
den
riesigen
aus dem Kothurn, der Schallmaske
Dimensionen
ergab.
des
In Wahrheit
zeichne das griechische Drama gerade Mangel an Ruhe aus.
In jenem,
was nebensächlich, was ein Bedürfnis der Zeit war, habe Goethe die Griechen nachgeahmt,
im Wesentlichen, Charakteristischen nicht.
Tiefe,
sittliche und Seelenkämpfe träten bei ihm an die Stelle der leidenschaft
Aber, so fragen wir, haben die
lichen Kämpfe in den alten Mythen.
Griechen denn nur jene Kämpfe des Menschen mit dem hohen, giganti schen Schicksal, wie sie im König Ödipus so ergreifend zur Darstellung kommen,
nur
jene
Verirrungen
deS
vermessenen,
auf eigne
Kraft
trotzenden Menschen, welchen die Gottheit selbst mit Verblendung straft,
wie sie etwa im Ajax in die Erscheinung treten, zum Vorwurf ihrer
Dramen gemacht, oder kennen auch sie „tiefe, sittliche und Seelenkämpfe"? In der That kennen sie diese, und nicht nur im allgemeinen finden fich
dergleichen Kämpfe im griechischen Drama, sondern es begegnen unS in denselben sogar ganz ähnliche, ja fast gleiche Kämpfe, wie in der Iphigenie. Offenbar hat dieselbe Unkenntnis, welche eine so
wichtige Seite deS
griechischen Dramas übersehen ließ, auch Goethes Bekanntschaft mit der griechischen Literatur viel zu gering angeschlagen und zu der Meinung
geführt, Goethe habe sich begnügt, die den Namen der Iphigenie tragenden Dramen deS Euripides in Übersetzung zu studieren, wenn er nicht etwa
gar nur das Fabelbuch des Hygin aufgeschlagen, und habe dann den Be
griff, den er sich aus der antiken Plastik gebildet, auf die antike Tragödie übertragen.
So kam man dazu, fast nur den Euripides zur Vergleichung
heranzuziehen, von dem Goethe nicht einmal die Fabel, ohne sie umzuge-
stalten, aufnahm.
Ja man ging noch weiter und glaubte beide Dichter
sogar als dramatische Bearbeiter ein und desselben Stoffes vergleichen
zu dürfen, wo denn das Urteil gegen Goethe ausfiel und nach LeweS lautete, als Dramatiker stehe Euripides höher.
Der Ort, wo Iphigenie
mit der Antike sich deckt, ist in ganz anderer Richtung zu suchen.
Schon in die Leipziger Zeit Goethes fällt der große Eindruck, den Lessings Laokoon auf ihn machte, jener „Lichtstrahl,
den der vortreff
lichste Denker durch düstere Wolken auf „„den Jüngling"" Goethe her
ableitete".
Durch Laokoon wurde die Vorstellung von edler Einfalt und
stiller Größe der griechischen Plastik, wie sie ihm Winckelmann eingeprägt
hatte, erweitert und vertieft mit dem Hinblick auf antike Dramen.
hier an der Schwelle desselben steht Philoktet, und ein Lessing
Und nimmt
keinen Anstand, dies Drama des Sophokles, welches er einer genaueren
Besprechung unterzieht, ein Meisterwerk der Bühne zu nennen.
Der so
gewonnene Eindruck gerade von diesem Drama mußte verstärkt werden,
als Herder, von dem ja so viele Anregungen dem jungen Goethe zu
flossen, sein Drama Philoktet schrieb.
Und wieder sehen wir, nach jener
„schrecklichen Campagne" in Frankreich, zu Pempelfort im November 1792
die alten Freunde Goethes, um seinen „verhärteten Sinn" wieder in den
Strom früherer Gefühle zu leiten, ihm nach der Iphigenie den OedipuS
ColoneuS reichen, gleich als wäre dessen „erhabne Heiligkeit", wie Goethe selbst sie bei dieser Gelegenheit nennt, so recht der Ton griechischen Ge
sanges, den Goethe in der ersteren habe anstimmen wollen. An diese Dramen, an Philoktet und Oedipus ColoneuS, müssen wir
anknüpfen, wollen wir wissen, welche Seite des Griechentums sich in Goethe wiederspiegelte und welche er durch seinen Gesang wiederzugeben
gedachte. Die Verwandtschaft des Grundgedankens der Iphigenie, die zwar nicht mit dem ganzen Philoktet, jedoch mit einem sittlichen Hauptkonflikt
in demselben stattfindet, macht es erforderlich, daß man sich die Fabel
dieses Dramas vergegenwärtige. Philoktet, der Freund und Begleiter des Herakles, welcher von diesem bet seinem Tode mit dem nie fehlenden Bogen beschenkt war, wurde auf
der Insel Chryse in der Nähe von Lemnos durch eine Schlange der
Nymphe Chryse, deren Altar er sich, ohne Ehrerbietung zu zollen, genaht hatte, in den Fuß gebissen.
Auf der Weiterfahrt nach Troja fiel seine
eiternde Wunde und daS wilde Jammergestöhn deS Helden dem Heere
so zur Last, daß man sich seiner zu entledigen suchte.
OdysseuS veran
staltete eS nun, daß man ihn während eines tiefen Schlummers, wie er den heftigsten Schmerzensausbrüchen zu folgen pflegte, vom Schiff hinweg
trug und auf der wüsten Insel Lemnos aussetzte.
eS nicht, uns die Leiden des Augen zu führen.
Der Grieche unterläßt bis aufs einzelste vor
armen Dulders
Er zeigt uns den alten Recken in der kahlen Fels
grotte mit der eiternden Wunde
am
Fuße,
Schmerzensgeschrei die Lüfte erfüllen läßt.
welche ihn
mit wildem
Um kühlende Kräuter aufzu
lesen, um einen Trunk Wassers zu schöpfen, muß er mühsam den Felsen
pfad sich dahinschleppen.
Kein Gefährte, kein Nachbar steht ihm zur Seite,
dem er seine Not klagen,
von dem er Trostesworte hören kann;
sein
Bogen bleibt ihm sein einziger Freund, mit welchem er die flüchtigen
Bewohner der Luft erlegt, die ihm zur Speise dienen. losen Lage verbringt er neun lange schwere Jahre.
In dieser hilf
Da veranlaßt eS die
Gottheit selbst, daß man sich im Griechenlager deS armen schmählich ver lassenen Genossen erinnern muß.
Schon sind die edelsten Helden der
Achaier vor Troja gefallen, schon glaubt das Heer weichen zu müssen,
da erfährt eS durch KalchaS, daß der Seher HelenoS, der Sohn des
PriamoS, die Orakelsprüche kenne, an denen das Schicksal Trojas hänge. Von OdysseuS gefangen, erklärt dieser, ohne Philoktet und den nie feh
lenden Bogen des Herakles könne Troja nicht genommen werden.
So
müssen die Griechen sich entschließen, die alte Schuld zu lösen; sie müssen
Philoktet wieder unter Menschen bringen, ja ihm die höchste Ehre zuge-
stehen, daß durch ihn daS Ziel des langen Krieges, die Eroberung TrojaS, herbeigeführt werde. Dies etwa die Vorfabel des Stückes, aus welcher sich die sittlichen
Konflikte, um die es sich hier handelt, entwickeln.
Zur Vollführung deS schwierigen Unternehmens wird nun OdhffeuS
auserlesen, der Todfeind Phtloktets, der einst sein Unglück verschuldet hatte, der aber zugleich einzig und allein für ein solches Beginnen ge wandt und schlau genug war.
Er übernimmt die Leitung desielben und
wählt zu diesem Zwecke den jungen Helden NeoptolemoS, den Sohn des
edlen, damals bereits vor Trvja gefallenen Achilles, einen reinen offnen
Jüngling, der kein Arg kannte.
Dieser wird von Odysseus angestiftet,
sich mit List in das. Vertrauen Philoktets einzuschleichen.
Zwar sträubt
sich daS edle Herz desselben, eine solche Rolle zu spielen, doch die Aussicht auf Heldenehre bestimmt den jungen feurigen Streiter auf die Pläne deS
erfahrenen altbewährten Griechenfürsten einzugehen. Durch daS Versprechen, ihn auf seinem Schiffe in die Heimat zurückzusühren, gewinnt er daS
Vertrauen PhiloktetS, so daß dieser ihm arglos beim Herannahen eines Anfalls seiner Krankheit den nie fehlenden Bogen übergiebt.
Jetzt war's
Zeit zu handeln, als Philoktet, von der Krankheit überwältigt, in tiefster
Ohnmacht darniederliegt, und der Chor sucht ihn dazu zu drängen; aber
bei NeoptolemoS bricht seine edle Natur durch.
Er harrt aus,
bis
Philoktet aus dem Schlummer erwacht ist, und enthüllt nun dem er schreckten Dulder, was der Götterspruch fordere, indem er ihm zugleich
seine eigne Pflicht, den anvertrauten Bogen zu behalten, vor die Seele
führt.
Die Ausbrüche der Verzweiflung und die ergreifenden Bitten des
Armen wenden nun daS Herz des jungen, in Listen nicht geübtm Mannes
noch weiter um.
Schon ist er im Begriff, den Bogen zurückzugeben, da
tritt OdyffeuS dazwischen und will mit Gewalt das durchführen, was
NeoptolemoS in seiner JünglingSunschuld nicht vermocht, ja er droht, Philoktet, seines Bogens beraubt, elend auf der Insel zurückzulassen. Der Gedanke an die jammervolle Lage deS hilflos Verlassenen, welche diesem die rührendsten Klagen neben wilden Verwünschungen auSpreßt,
führt nun NeoptolemoS gänzlich zu seiner wahren Natur zurück.
Er er
klärt dem OdyffeuS, den Bogen zurückgeben zu wollen, und beharrt auch
gegenüber den Drohungen desselben mit der Rache der Griechen fest bei diesem Entschlusse.
Noch einmal versucht er, den Philoktet zu bewegen,
freiwillig zum Heil seiner Landsleute nach Troja zu gehn.
Als er aber
sieht, daß alle seine Vorstellungen an dem Starrsinn deS alten verbitterten Helden scheitern, da übergiebt er ihm, der inneren Stimme folgend, den Bogen.
264
Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie.
Wir müssen eS uns versagen, auf die meisterhaft durchgeführte Cha rakterzeichnung der Personen und den reichen, psychologisch spannenden
Wechsel der Situationen, sowie auf die endlich durch einen deus ex machina herbeigeführte Lösung des Konflikts näher einzugehen.
interessiert hier nur der sittliche Konflikt deS NeoptolemoS.
Uns
Denn dieser
ist es, an den Goethe anknüpfte.
Zunächst werden wir feststellen dürfen,
daß in der Iphigenie ein
solcher von ganz gleicher Natur enthalten ist, wie der im Philoktet.
Die
reine, schöne Seele der Iphigenie läßt sich dazu bestimmen, zur List ihre
Zuflucht zu nehmen, um dem heißesten Wunsch ihres Innern, ihren ge
liebten Bruder zu retten und in die langersehnte Heimat zurückzukehren, zur Erfüllung zu bringen.
Im Andenken an die Wohlthaten des Mannes,
den sie zu hintergehen gedenkt, kehrt sie zu ihrer wahren Natur zurück: Der Durchbruch
der Wahrheit in
einer edlen
unverfälschten
Seele — das ist also das in beiden Stücken Analoge.
Davon ist nun die natürliche Folge, daß auch die Charaktere dieser
beiden Träger der sittlichen Ideen inS Auge springende Analogieen dar bieten müssen. NeoptolemoS ist ein Jüngling, Iphigenie eine Jungfrau.
Beiden
ist aber gemeinsam daS Edle einer wahren und offnen Natur, die sich
eher dem Schlimmsten unterwerfen als wie der gemeine, feige Mensch der Lüge hingeben will.
NeoptolemoS spricht (Phil. 88):
„Denn nicht geschaffen bin ich, trau», für Hinterlist"
und Iphigenie (V, 1): „Ich habe nicht gelernt zu Hinterhalten,
Noch jemand etwas abzulisten."
NeoptolemoS, der Heldenjüngling, ist ebenso bereit, daS, was man
von ihm verlangt, mit Gewalt auszuführen, wie Iphigenie, die Helden jungfrau, den äußersten Widerstand zu leisten, wollte man sie am Altare
zu blutigen Opfern zwingen.
Wie dem NeoptolemoS (94): „Erwünschter ist
Der edlen That Mißlingen als unedler Sieg",
so will auch Iphigenie (V, 3) lieber ein kühnes Unternehmen wagen, bei dem sie „großem Vorwurf nicht entgeht,
Noch schwerem Uebel, wenn es ihr gelingt",
als den König, der ihr zweiter Vater ward, tückisch betrügen und be
rauben. Bei beiden Charakteren ist es ein edles Motiv, welches sie aus der
ihrer Natur eignen Bahn der Wahrheit und Offenheit auf kurze Zett
herauStreibt.
Bet Neoptolemos ist es der Ehrtrieb eines feurigen Jüng
lings und das Gefühl, daß von der Erfüllung seiner Aufgabe die Rettung
seiner Landsleute abhänge, bei Iphigenie die Hoffnung auf Rettung des
Bruders, welche ihre reine Seele den Versuch der Unwahrheit wagen läßt.
Bei dem ersten Antrieb von außen werden aber beide sich bald
deS betretenen Irrweges bewußt, Neoptolemos beim Anblick der Leiden
PhiloktetS, Iphigenie bei der Erinnerung an die dem ThoaS schuldige Dankbarkeit.
Beide gewinnen ihre ursprüngliche reine und wahre Natur
wieder und theilen ihre Anschläge selbst gerade den Personen mit, die den Zweck, der ihnen am Herzen liegt, vereiteln können, denselben, welche sie
durch ihren Trug aufS tiefste gekränkt.
Und das thun sie in Voraussicht
der schlimmsten Gefahren, die ihnen drohn.
Neoptolemos verzichtet nicht
nur auf den Ruhm, Troja erobert zu haben, sondern läuft auch Gefahr, die Freunde ins Verderben zu stürzen und sogar von ihnen getödtet zu
werden, Iphigenie entsagt nicht nur der heißersehnten Rückkehr in die ge liebte Heimat, sondern muß auch befürchten, ihren eben erst gewonnenen Bruder zu opfern.
Und beide werden sich in ähnlicher Weise bewußt,
daß sie, indem sie den Irrweg der Lüge betreten, auch ihre eigne innerste
Natur verleugnen, wie denn Iphigenie (IV, 1), die hier sich „leiten lassen muß, wie ein Kind", sagt: „O weh der Lüge! sie befreiet nicht,
Wie jedes andre wahrgesprochne Wort,
Die Brust; sie macht unS nicht getrost, sie ängstet" u. s. w-
und Neoptolemos (872): „Alles ist uns lästig, weun wir, unsrer Art
Untreu geworden, üben, was uns nicht geziemt."
Springt diese Verwandtschaft der Charaktere schon in die Augen, so wird die Annahme, daß dem Dichter bei seiner Nachbildung eines griechi
schen DramaS gerade Philoktet in wesentlichen Zügen vorgeschwebt habe,
zur Gewißheit, wenn wir einen Blick werfen auf die Personen, welche jenen zur Seite stehen und einen bestimmenden Einfluß auf sie üben.
In
Philoktet ist dies Odysseus, in der Iphigenie PyladeS. Während Homer das Heldenideal seines Zeitalters vorzugsweise in
dem jugendlichen Helden Achill verkörpert, stellt er ihm den ausharrenden Mut und die ungeschlachte Tapferkeit eines Ajax, den wilden Ungestüm
deS Rufers im Streit Diomedes an die Seite.
Während er das könig
liche Auftreten des Heerführers Agamemnon feiert, der an Haupt dem ZeuS, an Brust dem Poseidon, an Wuchs dem AreS gleiche, preist er die Süßigkeit der Rede an Nestor, dem helltönenden Redner der Pylier, dessen
auf Klugheit
und Erfahrung
beruhender Rat viele Männer aufwiege.
Diesen Helden gegenüber ist nun Odysseus mit mannigfachen und eigen artigen Zügen ausgestattet. doch einer der Recken,
Auch ihm fehlt eS nicht an Tapferkeit; ist er
die sich erbieten,
mit dem Hektor zu kämpfen.
Wird ihm andrerseits wegen seiner Standhaftigkeit im Leiden der Name des „Dulders" gegeben, so ist eS doch wesentlich die Schlauheit,
welche
ihn auSzeichnet, und welche ihm den Namen des „Vielklugen" verschafft. Als Jnselgrieche, der mit den gewandten und rücksichtslos auf ihren Vor teil bedachten
Phöniziern in Berührung
gekommen ist,
prägt er eine
Eigenschaft des griechischen Volkscharakters in sich aus, die zwar wenig
dem hohen Jdealbilde entspricht, welches wir von diesem Volke aus seinen Kunstwerken gewinnen, die aber in Wahrheit auch bei vielen der edelsten Griechen nicht fehlte:
er ist auf seinen Vorteil bedacht und scheut um
des Gewinnes willen kein Mittel der List, welches ihm seine angeborne
Schlauheit an die Hand giebt; gewandte, auf Täuschung berechnete Rede ist eins der hauptsächlichsten.
Dabei ist seine Gestalt würdevoll.
Zwar
überragt ihn Menelaos an Höhe und Breite der Schultern, wenn beide
stehen, doch beim Sitzen erscheint OdysseuS ehrwürdiger.
Aber er weiß
seine Miene zu verstellen, so daß niemand Worte, wie sie gleich dem Ge stöber von Schneeflocken seinem Munde entströmen,
bei ihm auch nur
vermutet, ja er erscheint bald wie ein Einfältiger oder gar ein Blöd sinniger, bald wie ein Ingrimmiger.
Während Sophokles nun die edleren
Züge des gereiften Menschenkenners Odysseus in seinem Ajax zusammen faßt, wo derselbe durch Gerechtigkeit und Selbstverleugnung dem eignen
Todfeinde gegenüber den wohlthuenden Schlußakkord des Dramas ein leitet, sind es jene zuletzt aufgesührten, welche im Philoktet einseitig betont
sind.
Odysseus hat hier, wie wir sagen würden, eine chargirte Rolle.
Der Krieg hat ihn abgehärtet und die Regungen des Mitgefühls zum
Schweigen gebracht.
Die Grenzen der Moralität sind vorgerückt, die Be
griffe von Heldenehre verblaßt; List erscheint als ein im Kriege durchaus
erlaubtes Mittel.
Erfahrung hat ihn gelehrt, die Menschen zu benutzen.
So umstrickt er denn leicht die junge Seele des Neoptolemos durch seine Sophismen.
Kühl spricht er eS aus (99), daß er, durch Erfahrung ge
reift, einsehen gelernt habe: „es ist Der Menschen Zunge, nicht die That, die alles lenkt".
Als Menschenkenner hat er zwar mit den Schwächen menschlicher Natur gerechnet und den brennenden Ehrgeiz deS Neoptolemos anzustacheln
gewußt; ein solcher OdysseuS kennt aber die edlen Regungen deS MenschenherzenS nicht.
Das Exempel stimmt nicht, seine Pläne mißlingen;
die Lösung muß auf andere Weise herbetgeführt werden.
Dem Odysseus entspricht in der Iphigenie PyladeS.
durch die rauhe Schule des Krieges gegangen. nachtroischen Zeit.
Er ist nicht
Er ist ein Jüngling der
Auch er hat mit seinem Freunde Orest den Jugend
traum von künftigen großen Thaten geträumt, in dem jede That so groß war, „wie sie wächst und wird,
wenn Jahre lang durch Länder und Geschlechter Der Mund der Dichter sie vermehrend wälzt",
Wie auch einem Odysseus (96) als Jüngling „die Zunge langsam und die Hand zu Thaten schnell" war.
Aber er, welcher mit seinem armen,
von den Erinnyen verfolgten Freunde die Welt durchirrt,
ihm, als Griechen, nicht fremde List und Schlauheit.
braucht die
Da wählt er sich
denn zu seinem Helden, dem er die Wege zum Olymp nacharbeitet, den
Odysseus, und fast mit den nämlichen Worten die dieser braucht, (Phil. 109): „nicht schändet Trug den Helden,
wo er Rettung bringt",
spricht er (Jph. II, 1): „mir scheine» List und Klugheit nicht den Mann Zu schänden, der sich kühnen Thaten weiht".
Auch er rechnet, wie Odysseus, und gewinnt auch wirklich die reine
Seele der Iphigenie für seinen Plan, aber auch er kennt die Tiefen des menschlichen Herzens nicht.
Selbst der Iphigenie.
Sein Anschlag scheitert
besseren
an dem
Die Lösung muß auf andre Weise herbeigeführt
werden. Ebenso wie die Personen, bietet auch die ganze Anlage deS Truges erkennbare Analogieen dar.
Wie NeoptolemoS auf Anstiften deS Odysseus
Wahres mit Falschem mischt, so begegnet sich auch in den Erfindungen deS PyladeS Thatsächliches mit Erdichtetem — alles Züge, welche Goethe in sich ausgenommen hatte und in seiner Nachbildung verwertete.
Aber freilich das Interesse an dem Stücke deS Sophokles beruht
außer auf diesem Seelenkampf auch noch auf anderen Motiven.
Bei dem
antiken Dichter galt es vor allem, die eigentümliche Wirkung der Tra
gödie zu erzielen, Mitleid und Furcht zu erwecken.
Daher gipfelt er
alles in den Zügen, welche uns das Leiden des Philoktet vor Augen
führen.
Der ungebeugte Titanentrotz des alten Recken im Angesicht des
furchtbarsten Elends ist es denn, der auch wirklich die höchste tragische
Wirkung erzielt und ein Drama ersten Ranges entstehen läßt.
Freilich
mußte der Dichter auf diesem Wege dahin gelangen, die Lösung durch einen deus ex machina herbeizuführen.
Der verklärte HeroS Herakles,
der Freund PhiloktetS, erscheint und überwindet den Widerstand deS alten
Dulders. Den großen deutschen Dichter interessierte vermöge seiner innersten Natur nur jener erste Seelenkampf, und so konnte er den geschürzten Knoten
durch die innere Wandlung der Menschen selbst lösen.
Den Kampf freilich
vertiefte er in seinen psychologischen Zügen, ohne doch sein Vorbild aus
den Augen zu verlieren, und so
schuf er jenes herrliche Ganze, welches
zwar die dramatische Kraft des antiken Dichters vermissen läßt, dieselbe
aber reichlich durch seine edle Harmonie,
stille Größe und würdevolle
Weihe ersetzt. War eS hier die Schürzung des Knotens, welche die nahe Beziehung
beider Dramen begründet, so ist es mehr die Lösung, welche eine innere
Verwandtschaft der Iphigenie mit Oedipus ColoneuS erkennen läßt. haben schon oben gesehen, daß Goethe die „erhabne Heiligkeit" Stückes wohl kannte.
Wir
dieses
Und gerade eine Dichtung, welche eine so hohe
Stufe der Humanität bezeichnet, in ihren religiös-sittlichen Jdceen eine hohe Weihe atmet und dabei jene olympische Ruhe antiker Klassizität
bewahrt, entsprach recht eigentlich dem Kunstideal, welchem Goethe nach
strebte. Auch in dieser Dichtung handelt es sich um die Lösung ciiteS Fluchs. Hatte ÄschyluS in seiner Orestie die Lösung desselben für Orestes durch einen Richterspruch herbeigeführt, durch welchen er dem altehrwürdigen
Institut deS Areopag neue Weihe zu erteilen suchte, hatte Euripides die
Lösung rein äußerlich an die Zurückbringimg deS Götterbildes geknüpft, so finden wir bei Sophokles in analoger Situation eine innere Lösung und die sittlichen Jdeeen, welche durch diese ausgesprochen werden, sind eö,
die Goethe sich assimiliert und in seiner Iphigenie zum Ausdruck bringt. Ödipus stammt, wie Orest, aus einem jener alten Geschlechter,
welche sich den Zorn der Himmlischen durch ihre Thaten zugezogen haben. Furchtbar ist die Strafe, durch welche die Schuldigen
gefällt werden.
Aus dem eignen Blut derer, die dem Verderben geweiht sind, muß der Vollstrecker derselben erstehen. Ein ÖdipuS muß seinen Vater, ein Orest seine Mutter erschlagen.
Aber das Werkzeug der Strafe soll, wenngleich
eS mit dem Willen der Gottheit gehandelt, doch nicht straflos ausgehen. Ödipus irrt als blinder Flüchtling infolge deS von ihm selbst ausge sprochenen Bannes ruhelos umher, ähnlich Orest, dem die verfolgenden
Erinnyen keine Ruhe gönnen.
Der alte Fluch soll sich, so scheint es, von
Geschlecht zu Geschlecht forterben, bis das ganze von der Gottheit ge haßte Geschlecht vernichtet ist.
Ist doch auch der Gott der älteren griechi
schen Volksvorstellung ein starker, eifriger Gott, der die Sünde der Väter heimsucht an den Kindern bis
inS dritte und vierte Glied.
Griechengott straft die Vermessenheit deS Menschen,
Ja der
welcher sich
über
menschliches Maß erhebt, sogar dadurch, daß er selbst ihn verblendet und zu Thaten hinreißt, die ihn in Schuld verstricken, eine Vorstellung, welche, in vollster Herbigkeit ausgesprochen, als die vom Neide der Gottheit aus
Schillers Ring des PolhkrateS bekannt ist.
Sie tritt uns auch in der
Iphigenie und zwar in vollster Schärfe im Liede der Parzen entgegen
(IV, V): „ES fürchte die Götter Da« Menschengeschlecht l Sie halten die Herrschaft In ewigen Händen Und können ste brauchen, Wie'S ihnen gefällt. Der fürchte ste doppelt,
Den je ste erheben" u. s. f.
sie ist eS auch, welche der Borfabel bei OedipuS ColoneuS zu Grunde liegt und im König Ödipus den dunklen Hintergrund bildet, auf dem
sich jene dämonischen Peripetieen abspielen, deren tragische Gewalt den Zuschauer noch heute mächtig ergreift.
Aber giebt es keinen Ausweg aus diesem Labyrinth der Schrecknisse, ist der Mensch zu ewigem Leiden verurteilt? Die Frage löst die Gott heit selbst. Dem ÖdipuS ist die Weissagung geworden, daß er bei den
Erinnhen, denselben Gottheiten, deren Zorn er wachgerufen, einst die er
So irrt er umher.
sehnte Ruhe finden werde.
Zur Seite steht ihm, in
kindlicher Aufopferung alle Leiden teilend, Antigone. Obdach
und Nahrung.
Ihrer rührenden Bitte
Sie verschafft ihm
gelingt eS,
ihm
eine
Stätte der Rast bei den von Abscheu vor ihm ergriffenen Bewohnern von Kolonos zu bereiten.
Sie tröstet ihn und richtet ihn auf bei seinem
Leidenswege. Und wie finden wir ihn wieder? Der einst so stolz auf seine Kraft pochende ÖdipuS, er erscheint nach langer Prüfung geläutert;
demütig
unterwirft er sich
unter die allmächtige Hand der Gottheit.
Und diese selbst, sie löst den Fluch und führt den geprüften Dulder in geheimnisvoller Weise in ihr eignes Reich.
Die alte Fluchgottheit der
Erinnyen — sie hat sich in die der segenspendenden Eumeniden verwan delt, und ÖdipuS bringt noch im Tode dem Lande, wo ihn die Gottheit
aufnahm, Segen.
gnädig:
Die Gottheit aber, das ist der Kern des Mythos, ist
sie liebt den Menschen und führt ihn durch Prüfungen zur
Läuterung, um ihn endlich zu erhöhen.
Auch bei Orest ist die Lösung des Fluchs Götterwerk. Seele muß den Weg innerer Prüfung gehen.
Auch seine
Die Gottheit, welche ihn
einst zur blutigen Greuelthat bestimmte, zeigt ihm selbst den Ort an, wo er nach der Prüfung von seinen GewissenSqualen Erlösung finden
Nach Tauris soll er — so will es Apollo —, um von dort aus
soll.
dem Heiligtum die Schwester nach Hellas zu bringen. was er sucht.
Dort findet er,
Die Schwester, welche der Gott doppelsinnig bezeichnete,
ist nicht die Schwester Apollos, es ist die eigne, längst verloren geglaubte,
und mit der Wiederfindung derselben im Tempel der Gottheit ist auch die schwere Last der Gewissensqualen von ihm genommen. schweigen, sie sind zu Eumeniden geworden.
eine edle Jungfrau, welche den Weg dazu bahnt.
höherem Sinne als Antigone.
Die Erinnyen
Und auch hier ist es wieder
Aber freilich in weit
Die Gestalt der Iphigenie ist keine Nach
bildung mehr, sie ist eine Umbildung, in welcher der moderne Dichter fast ganz aus dem Kreis der antiken Anschauung heraustrilt.
Alle Züge
einer NeoptolemoSseele, die edle Weiblichkeit einer Antigone, sie sind nur
einige Striche zu der wunderbar lieblichen Gestalt, wie sie uns in der reinen schönen Seele der Iphigenie vor Augen tritt. Sie ist es denn auch, der dieselben hohen und heiligen Jdeeen, welche im Ödipuö ColoneuS
zu Tage treten, in den Mund gelegt werden. (I, 4):
Hören wir nicht hier das
„die Unsterblichen lieben der Menschen weitverbreitete gute Ge
schlechter"; die Götter sind gnädig und wollen Menschen menschlich er retten?
Ist eS nicht der grade Gegensatz zu jenen Vorstellungen von der
alten neidischen Gottheit? Gotteserkenntnis lehrt:
Ein neuer Morgen bricht an; eine reinere
der Mensch soll der Gottheit vertrauen und sich
ihr demütig unterwerfen, sie wird ihn zum Frieden führen.
So ist eS also nicht nur die Lösung des Knotens an sich, welche eine innere Verwandtschaft zwischen Iphigenie und OedipuS ColoneuS begründet,
sondern die Beziehung wird noch enger dadurch,
daß dieselbe sittlich-
religiöse Idee bi beiden Dramen zu Grunde liegt.
Zu untersuchen, wie
weit Goethe auch hinsichtlich der Form
auf antikem Boden wurzelte,
würde über das Ziel unsrer Ausführungen hinausreichen. Erinnern wollen wir nur daran, wie manches Wort an homerische Ausdrucksweise streift, und wie ferner eine wohlgelungene Übersetzung*) einzelner Scenen tnS Griechische beweist, daß der Ton sophokleischen Gesanges in der That in ihnen wiederklingt.
AuS unseren Darlegungen geht wohl soviel zur Evidenz hervor, daß
daS schillersche Urtheil, Iphigenie sei so erstaunlich modern und un*) Von Th. Kock, deren erste Verse lauten:
’Ec tiqvSe 8ev8pcov u^iygWiqtcdv axtdcv aupatc yepatov ßaia xivouvtcdv xtitpa that t äcpuüvov dXaog, daxetTTTOv ßpOTOtc, TT^cpptx’ del arel/ouaa xat Tapßä) cppevl, die fyV/ Ipov KpÄTOv etaeßijv xdöe, QT^pyetv 8'ö #up,o; xdvtkxS’ oö 8i8cfox6Tat.
Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie.
271
griechisch, daß man nicht begreife, wie es möglich gewesen sei, sie jemals
einem griechischen Stücke zu vergleichen, hinfällig ist.
Allerdings mußte
die dionysische Natur Schillers im geraden Gegensatz zu Goethe an die ge
waltigen Leidenschaften, die sich in den griechischen Tragödien abspielen,
anknüpfen.
Der Schicksalsbegriff, dem er bereits im Wallenstein eine
Rolle zugewtesen hatte, mußte ihm verwandt erscheinen dem, welcher im König ÖdipuS zu Tage tritt. An dieses so ergreifende Drama knüpft
er daher an, als er den Plan faßte, ein Drama im Geist „antiker Ein
fachheit und Idealität" (die Braut von Messina) zu schreiben.
Allerdings
sind auch hier die Analogieen mit dem antiken Drama, welches ihm als
Vorbild diente, bedeutend, und man merkt ihnen an, daß sie nicht, wie bet Goethe, der in Fleisch und Blut übergegangenen antiken Anschauung
entstammen,
sondern
nommenen Studium.
einem sorgfältig
eigens zu diesem Zweck vorge
Jene Zweideutigkeit der Orakel, jene Ironie des
Schicksals, welche den Menschen so führt, daß er, „waS er denkt klüglich
zu wenden, selbst schaffend vollenden" muß, würden schon zur Genüge auf die direkte Anlehnung an König ÖdipuS schließen lassen, wenn auch gar nicht übereinstimmende Aussprüche im Munde der Hauptpersonen die engste
Beziehung zu demselben in die Augen springen ließen, wie z. B. die
Worte der Jokaste: „nie befand sich noch Ein sterblich Wesen im Besitz der Seherkunst"
und die der Isabella: „Die Kunst der Seher ist ein eitles Nichts"
so wie ferner die der ersteren: „Warum denn, mein Gemahl, beachten wir
Den Seherherd im Pytho, was die Vögel noch,
Die droben rauschen?"
und die der letzteren: „Warum besuchen wir die heil'gen Häuser
Und heben zu dem Himmel fromme Hände? ....
Ob rechts die Vögel fliegen oder links, Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur"
den Stempel nächster Verwandtschaft bewahrt haben: Aber Schillet glaubte mit dem Schicksalsbegriff, wie er ihn aus König Ödipus erfaßte,
das Wesen der Antike zu treffen, und so begegnete es ihm, daß er, der in seinen sonstigen Schöpfungen gerade den Triumph des Menschen über
das Schicksal feiert, in der Braut von Messina ein gekünsteltes Drama schuf, in welchem der Mensch dem Schicksal vermöge seiner eignen Natur
und der ihm
gewordenen Lebensbedingungen unterliegt.
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIH. Heft 3.
20
Ein
solche.S
272
Die Nachbildung der Antike in Goethes Iphigenie.
Unterliegen dürfen wir aber geradezu als unanttk bezeichnen, da es in sich jenes „Gräßliche (p.tapiv)" einschloß, welches dem Alten die tragische
Wirkung auszuschließen schien.
Schiller gelangte eben als sentimentalische
Natur auf dem Wege der Reflexion in die antike Welt, ohne sich, wie Goethe, von derselben durchdringen zu lassen. Daher entging ihm, daß der antike Zuschauer die Perspektive des „König ÖdipuS" weit über das
Dargestellte hinaus verlängerte und jenes Lied voll hoher Heiligkeit „den Ödipus auf Kolonos" als wohlthuenden Schlußakkord im Geiste bereits voraus vernahm.
So gelangte Schiller denn auch zu jenem schiefen Ur
teil über Iphigenie. Aber auch Lewes behält nicht Recht, da er der Antike tiefe sittliche und Seelenkämpfe abspricht, während gerade auf ihnen das antike Mo
ment in der Iphigenie beruht. Wie sehr wir nun auch die Gestalt der Iphigenie selbst als über die Antike hinausgewachsen bezeichnen und zugeben müssen, daß der um
bildende Einfluß einer schönen Seele mit ihrem, so zu sagen, magischen Hauch nicht hat den Gegenstand antiker Darstellung bilden können, so
glauben wir doch so viel gezeigt zu haben,
daß Iphigenie sowohl in
Schürzung wie Lösung des dramatischen Knotens auf antikem Grunde ruht
und endlich auch den religiösen Grundgedanken diesem verdankt.
Wir werden daher daS Verhältnis Iphigeniens zur Antike
nicht
treffender zu bezeichnen vermögen als mit den Worten Schlegels, sie sei
ein Echo griechischen Gesanges.
Helfrich Peter Sturz*).
Im 17. Jahrhunderte war unsere Prosa mehr und mehr in ge lehrtem geschmacklosem Pedantismus erstarrt.
Ihre langsame Wiederbe
lebung knüpfte sich besonders an die deutschen Zeitungen, deren erste Christian Thomasius im Jahre 1688 unter dem Titel: „Scherz- und
ernsthafter, vernünftiger und einfältiger Gedanken über allerhand lustige
und nützliche Bücher und Fragen erster Monat oder Januarius in einem
Gespräche vorgestellt
von
der
Gesellschaft
derer
Mäßigen"
eröffnete.
Thomasius und seine zahlreichen Nachfolger traten aus dem engen Kreise
der Gelehrsamkeit und strebten das größere Publikum heranzuziehen.
So
entstand eine populäre ControverSliteratur, die, wenn sie dem Be*) Bgl. H. P. Sturz, von I. F. L. Theodor Merzdorf, im Archiv für Literatur geschichte, herausgegeben von Schnorr von Carolsfeld, 7. Band, Leipzig 1878, S. 33 ff. H. P. Sturz nebst einer Abhandlung über die SchleSwigtschen Literaturbriefe mit Benutzung handschriftlicher Quellen von Max Koch, München 1879. (Dazu: E. Türkheim, I. P. Sturz, Im Neuen Reich 1879, Nr. 21.) — Die bis jetzt dem Druck übergebenen Schriften des berühmten Essayisten sind nicht zahlreich. Davon erschienen einzeln in Buchform 1767 „Die Menächmen" in Kopenhagen und das Trauerspiel „Julie", mit einem „Brief über das deutsche Theater in Kopenhagen und Leipzig", 1777 die „Erinnerungen aus dem Leben des Grafen I. H. E. von Bernstorf" in Leipzig. Die meisten übrigen Schriften wurden zuerst in Boje'S „Deutschen Museum" 1776—1779 veröffentlicht. Die erste Sammlung von Stürzens Schriften erschien, von ihm selbst besorgt, 1779 bei Weidmannes Erben und Reich in Leipzig, eine zweite 1782 bei Cramer in Bremen und, von Boje besorgt, von der Bremer Ausgabe wenig unterschieden, in demselben Jahre bei Weidmanns Erben und Reich. (Wir citiren die genannte Leipziger Ausgabe. Ueber spätere Ausgaben s. Merzdorf S. 69 ff.) Aus der Oldenburger Stadtbibliothek wurden vier von Sturz eigenhändig geschriebene Foliobände aufbe wahrt, die zumeist Auszüge aus einer Menge von Schriften der verschiedensten wissenschaftlichen Gebiete, aber auch eigene Arbeiten enthalten. (Merzdorf S. 72 ff.) Einzelnes daraus findet fich bei Merzdorf und bei Koch im Texte seines Buches und im Anhänge. — Ueber die dänische Geschichte in der Zeit, wo Sturz in Kopenhagen lebte, wirkte und litt, vergleiche- Die Verschwörung gegen die Kö nigin Karoline Mathilde von Dänemark, geb. Prinzessin von Großbritannien und Irland, und die Grafen Struensee und Brand, nach bisher ungedruckten Origi nalakten und nach E. S. Flam and in selbständiger Bearbeitung von P. F. von Jenssen-Tusch, Leipzig 1864. Struensee von Karl Wittig, Leipzig 1879. Geschichte von Dänemark mit steter Rücksicht auf die innere Entwickelung in Staat und Volk, von C. F. Albe, gekrönte Preisschrift, aus dem Dänischen übersetzt von Dr. Falck, Kiel 1846.
dürfnrß und Geschmack ihres Publikums entsprechen und die beabsichtigte
Wirkung erreichen wollte, den Ballast compilatorischer Gelehrsamkeit ab werfen, die Behandlung ihrer Themata auf das Wesentliche zurückführen und ihre Gedanken in knappen und präcisen Worten ausdrücken mußte,
auf diesem Wege reiste der Sinn und Takt für eine ansprechende Form der prosaischen Darstellung
und
schlang sich das Band zwischen dem
Schriftsteller und dem Leser, dem Buch und dem Leben immer fester. Eine besondere Anregung empfieng unser Journalismus durch die
moralischen Wochenschriften der Engländer, die in den Jahren 1709—1714 hervorlraten und auf daS geistige und sittliche Leben der Inselbewohner eine tiefgreifende Wirkung übten.
ES waren der Frische
des äußeren, der Gesundheit des inneren Lebens entstammte Produktionen, gestaltungskräftige Bilder, tiefe Betrachtungen in classischer Form. Steele und namentlich Addison erwarben sich dadurch unsterbliche Verdienste.
Solchen Meisterwerken können wir freilich ihre deutschen Nachahmungen
nicht ohne Beschämung gegenübcrstellen.
im
dritten
Jahrzehnt des
vorigen
Was in dieser Gattung bei uns
Jahrhunderts von Bodmer
und
Breitinger, Gottsched u. a. versucht wurde, blieb hinter den Englän dern weit zurück.
Die deutschen Wochenschriften, mit dem Laufe der Zeit
immer werthloser, bewegten sich meist in langweiligen,
moralisirenden
Betrachtungen, in Charakterzeichnungen und Erzählungen von flacher All
gemeinheit in engem Gesichtskreise, in platter und beschränkter Darstellung. Aber sie trugen wesentlich zur allgemeinen Bildung deS Volkes und zur Ausfüllung der zwischen den Schriftstellern und dem öffentlichen Leben
eingerissenen Kluft bei. Unsere Zeitschriften bewegten sich bis in die siebenziger Jahre deS vorigen Jahrhunderts zumeist
auf dem
literarisch-kritischen Felde.
Lessing bildete seine prosaische Kunst, die für unsere Nationalliteratur
bahnbrechend wurde, schon seit der Mitte deS Jahrhundertes hauptsächlich in journalistischen Arbeiten.
Seine Darstellung näherte sich dem Essay,
der die Aufgabe verfolgt, in einer edel-populären und anziehenden Form
sich mit dem Leser über Fragen des inneren und äußeren LebenS, mehr
schildernd als zergliedernd zu unterhalten und ihn dadurch zu belehren und anzuregen.
Die künstlerische Gestaltung dieses ganz eigentlichen Essay
begannen in unserer Literatur etwa gleichzeitig Möser, Herder und
Sturz.
Möser gab seine ersten vereinzelten Aufsätze in den Jahren 1756, 1760, 1761, 1765, seine Jntelligenzblätter (Patriotischen Phantasien) seit dem I. 1767 heraus.
Und dieses Jahr brachte auch Herder'S große Erst
lingschrift, die „Fragmente über die neuere deutsche Literatur", die aus
einer langen Reihe von Essah'S bestehen, und Sturzen- erste Veröffent« lichungen. Von keinem jener beiden Schriftsteller sind Einwirkungen auf SturzenDagegen erinnert er durch die Klarheit und Schärfe,
Form erkennbar.
durch die Beweglichkeit und Eleganz, auch öfter durch die Natürlichkeit seine- Vorträge- an Lessing, von dem er sich aber, neben einer Art
von Mißtrauen in die Kritik, durch den vorwaltenden Sinn für positive Darstellung unterscheidet.
Ja er beweist in mehreren seiner Schriften,
namentlich in seinen Aussprüchen über Werke der bildenden Kunst und über die Leistungen hervorragender Bühnenkünstler, eine an Winckel
mann erinnernde Gabe congenialer, mit Begeisterung hervorströmender
Nachgestaltung.
Auch Klo pflock'- gedrängte, nervige Ausdrucksweise ging
an der seines Freunde- nicht spurlos vorüber.
Oester, besonders in den
Erinnerungen an Bernstorf nimmt man die stilistische Bildung an römi
schen Mustern wahr.
Noch fleißiger ging Sturz bei Franzosen und
Engländern in die Schule.
Er nahm die ganze formale Bildung der
ersteren in sich auf, und die reiche, nur von der späteren Verdüsterung seines Gemüthes im vollen Ergüsse gehemmte Ader seines Humor- öffnete
sich
zumeist
Swift.
durch
die
Beschäftigung
mit
Fielding,
Sterne
und
Aber die Selbständigkeit und Eigenart seine- literarischen Pro
files hat durch den geistigen, zum Theil auch persönlichen Verkehr mit allen diesen Vorgängern und Zeitgenossen keine Einbuße erlitten.
Bei allem Reichthums seiner gelehrten Kenntnisse schrieb er doch zu meist aus dem Leben und für das Leben; er schrieb als ein Mann, der die große Welt gesehen und fein beobachtet hatte, als ein Virtuose der
Gesellschaft, mit dem Blicke des Diplomaten und mit der HerzenSgüte und dem Adel der Gesinnung, die ihm das nur Wenigen beschiedene Glück
erwarben, von.allen Redlichen geschätzt und geliebt zu werden.
Wir versuchen eS, freilich nur mit Benutzung der bis jetzt durch den Druck veröffentlichten Quellen und Hilfsmittel, das Leben des berühmten
Prosaikers, der zugleich eine hervorragende diplomatische Stellung einnahm und in dieser den Wechsel der menschlichen Geschicke
auf eine tiefet«
schüttelnde Weise erfuhr, im Zusammenhänge mit seiner politischen und literarischen
Umgebung
darzustellen
und
in
die
bedeutendsten
seiner
Schriftm einzuführen.
Helfrich Peter Sturz (Stürz)*) wurde am 16. Februar 1736 *) Aus den Universitäten Jena und Gießen wurde Sturz unter dem Namen Stürz immatrikulirt. Dieselbe NamenSbilduug führen seine von dem seligen Kirchenrath Hoffmann, dem Vater de« OberappellationsgerichtSrathes Hoffmann in Darm stadt, ermittelten Verwandten, die mit der zweiten Hälfte des 17 Jahrhunderts beginnen.
in Darmstadt geboren, der ältere Sohn des landgräflichen KabtnetS-
kassierers Joseph Peter Friedrich Stürz, den er schon im Jahre 1741 durch den Tod verlor.
Daß Helfrich Peter an seinem Oheim Johann Christian
Stürz, der als Kriegsrath in Darmstadt
gestorben
ist, einen zweiten
Vater gefunden habe, ging aus einem an diesen gerichteten, von Pietät und Dankbarkeit erfüllten, leider abhanden gekommenen Schreiben des
Neffen hervor, das schon den künftigen trefflichen Prosaisten verrieth*). Helfrich Peter besuchte daS Gymnasium seiner Vaterstadt, wo I. H. Merck
zu seinen Mitschülern gehörte, in den Jahren 1753—1759 die Univer sitäten Jena, Göttingen und Gießen.
Nur in der Matrikel von Göttingen
ist der Gegenstand seines Studiums, nämlich die Rechtswissenschaft an
geführt.
Er wurde noch im Jahre 1759 Secretär des Barons Widmann,
des kaiserlichen Gesandten an mehreren deutschen Höfen, besonders in München, erwarb sich dessen Zufriedenheit, vertauschte aber, da er als Fremder und Protestant keine Aussicht auf Beförderung hatte, 1760 diese
Stelle mit einer ähnlichen bei dem Meining'schen Geheimrath und Kanzler von Eyben in Glückstadt.
Hier bewährte er sich als ein vorzüglicher Po
litiker und fand Gelegenheit, die verschiedenartigsten Personen und Zu
stände kennen zu lernen.
Die Empfehlungen und die großmüthige Unter
stützung von Eybens, wohl auch die Gunst des Erbprinzen Friedrich August von Anhalt-Bernburg, eröffnete ihm den Weg nach Dänemark, und dem
Grafen Schack Karl zu Rantzau-Ascheberg hatte er es wohl zu verdanken, daß er nach Kopenhagen als Sekretär im Departement der auswärtigen
Angelegenheiten berufen wurde.
Er trat in diese Stelle zu Anfang des
Jahres 1764 ein, 1765 wurde er Kanzleirath und Sekretär in der deut
schen Kanzlei.
Der leitende dänische StaatSminister Johann Hartwig
Ernst von Bernstorf (später in den Grafenstand erhoben) nahm ihn, ohne ^hn hierdurch dem öffentlichen Amte zu entziehen, in seine Dienste und sein HauS.
Die sechs Jahre, in welchen Sturz mit Bernstorf zu
sammen arbeitete, waren die glücklichsten seines Lebens.
„Hier entwickelten
sich", wie es in dem biographischen Vorworte zu der zweiten Sammlung
seiner Schriften heißt, „seine Talente, er arbeitete unter den Augen eines großen Staatsmannes, und noch größeren Menschenfreundes, bekannt mit
Hof und Welt, vertraut mit den Musen, in stetem Umgang mit dem feinern und aufgeklärtern Theil der Welt bildete ihn sein Genie schnell zum Staats- und Weltmann, zum Künstler, Dichter, Schriftsteller."
Den
*) Nach bett gefälligen Mittheilungen des Herrn OherapPellatiouSgerichtSratheS Hoff mann.
Geist, in welchem Sturz die ihm übertragenen öffentlichen Aemter be kleidete, können wir, so weit die gedruckten Quellenschriften reichen, fast nur aus den „Erinnerungen an I. H. E. von Bernstorf*)" erschließen, in denen Sturz die Grundlinien eines Lebens- und Charakterbildes mit
ebenso feinem Sinne als künstlerischer Meisterschaft, freilich auch mit ver klärender Liebe gezogen hat**). Friedrich V. hatte im Jahre 1746 den Thron der vereinigten Kö nigreiche Dänemark und Norwegen, der ebenfalls vereinigten Herzogthümer Schleswig und Holstein und der Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst bestiegen. Durch das im Jahre 1660 erlaffene KöntgSgesetz hatte die Bürgerschaft und die Geistlichkeit einem übermüthigen und in sich entzweiten Adel die Theilnahme an der Regierung entzogen und den Königen die schrankenloseste Souverainität verliehen. Friedrich V. übte diese in den christlichen Staaten Europa's alleinstehende Gewalt mit
väterlicher Milde und Liebenswürdigkeit, die ihm den Beinamen des Guten erwarb. Doch blieb er in königlicher Selbstthätigkeit hinter seinen zwei nächsten Vorgängern zurück, und seine Regierung, die von ausge zeichneten Männern, wie Schulin, Holstein, Bernstorf geleitet wurde, kam bei vielem Trefflichen und Heilsamen, was von ihr ausging, auf manche
sehr bedenkliche Fehlgriffe. 1750 erhielt Johann Hartwig Ernst von Bernstorf die Leitung deS StaatSministeriumS. Die Verwaltung der einheimischen und auswärtigen Geschäfte durch Bernstorf nennt Sturz „eine Reihe menschenfreundlicher Thaten", und fügt hinzu: „Sein System in der Politik war . . . Friede, gutes Ver nehmen, wechselseitige Dienstfertigkeit, Wohlfahrt und Ruhm für'S Vater land, Vortheile auch für fremde Staaten. ...
Nie ward von ihm die
Heiligkeit der Verträge beleidigt und die gesetzmäßige Verfassung irgend eines Staates untergraben. Er erlaubte sich nie Unterdrückte zu verfol gen, um den Mächtigen zu schmeicheln, sich zum Sieger zu gesellen, um die Beute des Ueberwundenen zu theilen. . . . Dänemark hatte unter Bernstorf's Verwaltung mehr Einfluß, als zu irgend einer Zeit, in die
Selbst Staaten suchten seine Freund schaft, die kein natürliches Interesse dazu antreiben konnte; des Königs Name war ehrwürdig, auch an größeren Thronen, sein Rath wurde nie
großen Angelegenheiten der Welt.
ohne Achtung gehört und gab öfters zum Wohl fremder Völker den AuS*) Zuerst 1777 einzeln in Leipzig, dann ebendaselbst 1782, in der 2. Sammlung der Schriften veröffentlicht. **) Vergl. über Bernstorf die allgemeinen Urtheile von Wittig S. 55 — 57 und von Jenssen-Tusch S. 74.
schlag. ...
So lange Friedrich regierte, war Europa mit Dänemark
einig, dieß Reich genoß einer ungestörten Ruhe."
Zur Erhaltung der
selben diente noch besonders der nähere Vertrag mit Katharina II. von Rußland, den Bernstorf nicht lange nach Christian's VII. Thronbesteigung (22. April 1767) herbeiführte.
Was die inneren Angelegenheiten betrifft, überflügelte Friedrich V. in der Sorge für Manufacturen, Fabriken, Handel und Schiffahrt seinen
Vater Christian VI. und
fand
hierin die eifrigste Unterstützung durch
Der Weg, den man zur Förderung der Industrie einschlug,
Bernstorf.
— derselbe, den die vorausgegangene Regierung verfolgt hatte, konnte freilich vor einer strengen nationalökonomischen Kritik nicht wohl bestehen. Man berief Ausländer und begünstigte sie auf alle Weise, man unter stützte sie durch Vorschüsse Schutzregal,
Privilegien,
aus der Staatskasse und bewilligte ihnen Aber die Nahrungsquellen des
Monopole.
eigenen Landes blieben unbeachtet, dagegen wurden strenge Verbote gegen die Einfuhr ausländischer Seidenzeuge, wollener Waaren, baumwollener Zeuge, fremden Getreides und vieler anderen Gegenstände erlassen, die
doch weit besser und billiger als die inländischen befunden wurden.
Hier
durch kamen zwar die inländischen Fabriken und Manufakturen eine Zeit lang in bedeutenden Schwung; aber dieser Glanz war blendend und er künstelt und lastete schwer auf der allgemeinen Handels- und Nahrungs
freiheit.
Die Handwerker blieben hauptsächlich durch das Zunftwesen auf
niedriger Stufe zurück; aber die Regierung begann, dieses Joch zu er leichtern.
Auch dem Handel und der Wissenschaft widmeten Friedrich V.
und Bernstorf ihre eifrige Fürsorge.
Bernstorf erlebte nach Sturz „die
Freude, daß Dänemark seine Geschäfte immer mehr unmittelbar trieb und
sich aus der Gewalt eigennütziger Unterhändler riß.
Es hört zu seiner
Zeit auf, den Hansestädten zinsbar zu sein; es holt nun seine Bedürfnisse selbst auS allen Häfen der Welt, und Norwegen führt seinen Ueberfluß
auf eigenen Schiffen fremden Käufern zu.
Auch die Frachtschiffahrt nahm
unter seiner Verwaltung durch seine Aufmunterung zu. . . .
Kein Zweig
deS Handels hat sich schneller in dieser Zeit auSgebreitet, als der west indische Handel.
Die dänischen Inseln dieses
Welttheils schmachteten
unter der auszehrenden Gewalt einer Compagnie, die gemeiniglich ihre Colonien wie eroberte Länder behandelt, und sich mit keiner Ernte be
gnügt, sondern Beute verlangt.
Der Zuckerbau gieng langsam von statten,
und der größte Theil dieser freigebigen Erde lag unbevölkert imb öde,
als Friedrich V. sich zur königlichen Handlung ohne Beispiel entschloß,
der Gesellschaft ihr ausschließendes Recht abzukaufen und seinen Unter thanen die Freiheit dieses Handels zu verleihen.
Nun erwachten die ver-
schlossenen Kräfte der Natur; die Freiheit goß neues Leben in die Ge schäftigkeit der Colonisten
und der Kaufleute des mütterlichen Landes.
Der Anbau und die Ausfuhr nahmen verhältnißmäßig zu."
Aber im
Allgemeinen fehlte es gerade an dieser Freiheit, dem Nerv des Han dels, und man beeinträchtigte ihn durch vorwaltend monopolistischen Be trieb.
Kopenhagen wurde auf Kosten deS Landes künstlich gehoben, aber
schlecht verwaltet. Friedrich V. und sein Staatsminister gründeten WohlthättgkeitSan-
stalten, und Bernstorf leitete die Versorgung der Armen.
Vortrefflich
war daS von Friedrich gestiftete HoSpital, das von Bernstorf und den
durch ihn gewonnenen Arzt von Berger,
„den Freund aller leidenden
Menschen", eingerichtet und mit einer Anstalt zur unentgeltlichen Geburts Zu ChristianShaven wurde ein dem Unterrichte
hilfe verbunden war.
dürftiger Knaben gewidmetes ErziehungShauS von Friedrich'S Regierung
in'S Leben gerufen.
Christian VII. gesellte diesen Anstalten das allge
meine Hospital unter Bernstorf'S Verwaltung zu.
Auch die prächtigen
und bequemen Heerstraßen in Seeland und die Postanstalten in Holstein
verdankte man Bernstorf'S Anregung.
Die ihm insbesondere übergebene
Verwaltung der deutschen Provinzen wurde von allen Ständen gesegnet. —
In seiner Zeit erschien eine Menge von heilsamen Verordnungen über Gerichtsbarkeit, Handel und Medicin.
Bon den Richtern verlangte er die
Ausgleichung der Gerechtigkeit mit der Humanität, und nie erlaubte er
sich, in ihre Entscheidungen einzugreifen. Ueber die Stellung des Ministerpräsidenten zu den Fragen der Re
ligion, die in Dänemark durch herrschsüchttge lutherische Priester vertreten wurde, bemerkt Sturz:
„Er verlangte, daß die herrschende Religion in
ihrer Reinigkeit gehalten werden sollte, weil Bernünftelei und Polemik den großen Haufen nicht bessert; aber darum war er keinem Zweifler ge
hässig, nicht gegen ihre Verdienste unempfindlich.
ES fiel seinem Herzen
nicht schwer, Orthodoxe und Irrende zu ehren, den erleuchteten Cramer zu
lieben und den redlichen Basedow zu schätzen, die aufrichtigen Anhänger
aller Religionen als seine Brüder zu ertragen." Eine düstere von Sturz unerwähnt gebliebene Seite der dänischen
Zustände gewährt immer noch daS Schicksal der unter Christian VI. auf
alle Weise gedrückten Bauern (von denen allein die norwegischen ausge nommen waren).
Sie hatten es unter Friedrich V. in Hofdienst und
persönlicher Freiheit nicht besser; ja die Gebundenheit an die Scholle wurde im Jahre 1764 noch verstärkt, und zur Verschlimmerung des von
den Bauern zu erduldenden Looses trug der 1765 begonnene und bis 1776 fortgesetzte Verkauf der Krongüter bei,
der viele Pachthauern auS den
milden Händen der Könige in den Besitz unbarmherziger Gutskäufer übet*
gehen ließ.
Die Bauern, also der größte Theil des Volkes, schmachtetm Der Hofdienst, die Feldgemeinschaft, die Em-
in Armuth und Elend.
richtung des Zehnten in Garben stellten der Verbesserung des Ackerbaues unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. nahm
Die Bevölkerung des Landes
freier Grundbesitzer wurde
von Jahr zu Jahr ab; die Anzahl
immer kleiner; mit der Armuth wuchsen Laster, Aberglaube, grobe Un wissenheit, Sklavensinn, stumpfe Gleichgiltigkeit.
Die Vorschulen blirbe»,
großentheils wohl durch die Schuld der adeligen Grimdbesitzer, trotz dein
guten Willen der Regierung sie zu heben, auf der niedrigsten Stufe. —
Doch regte sich unter Friedrich V. im Volk und in der Regierung ein Geist, der an den Ketten des Bauernstandes rüttelte.
Nach dem schönm
Vorgänge der verwittweien Königin Sophia Magdalena, die hierin dm
Eingebungen des älteren Grafen Stolberg folgte, ließ Bernstorf im ?ahre
1764, von
seinem Neffen Andreas Peter
bewogen,
auf seinem Aule
Bernstorf bei Kopenhagen die Länder auftheilen imb gab sie den Bauem
in erblicher Pacht,
mit Dienst- und Zehntenfreiheit.
„Schnell dickten
sich", wie Sturz bemerkt, „Heiden mit fröhlichen Saaten; neue Pflanzmgen
stiegen hervor; anstatt dürftiger Hütten in elenden Dörfern würd« die
Gegend mit angenehmen Wohnungen geschmückt, in welchen glückliche Säter ihre Kinder den Namen ihres Wohlthäters lehrten."
Andere
ahmten
diese würdigen Beispiele nach. Der Bürgerstand entwickelte in dieser Zeit eine viel geringere Le
bendigkeit und Selbständigkeit, als in irgend einer früheren Period, der
dänischen
Und
Geschichte.
daneben
ging
unter
Christian VI.
und
Friedrich V. eine außerordentliche Ueppigkeit in der Lebensweise, in der
Kleidung und im Hausgeräthe von Hof und Adel auf die reichen und
vornehmen Klassen des Bürgerstandes über.
Erschreckend ist
die unter Friedrich'S V.
wachsende Staatsschuld.
Regierung
lawinemrtig
Die Gründe hiervon lagen in den außerorvenl-
lichen Anstrengungen, die in der letzten Zeit dieses Königs zum Shutze
des Reiches nicht vermieden werden konnten, in unüberlegten und ver
schwenderischen Ausgaben und in der mangelhaften Erhebung und Über wachung der Einnahmen.
der
Gesammteinnahme.
Der prächtige Hofhalt verschlang ein Finftel
Beim
Tode Friedrich'S V.
beliefen sich die
Passiva des Staates auf zwanzig Millionen Thaler, wobei die schwelende Schuld nicht mitgerechnet ist und die Zinsen waren von Hunderttalsend
auf Neunmalhunderttausend Thaler gestiegen. Das Heer befand sich
in einer traurigen Verfassung.
Die mge-
heuere Menge von StaatSdienern rekrutierte sich aus dem Lakaienyum,
wobei auf höhere Bildung, wie sich
nommen wurde.
denken läßt,
wenig Rücksicht
ge
Die Mehrzahl der Besoldungen war lächerlich klein; die
der hohen Beamten stieg bis zu einem riesigen Umfange.
Diese Männer
verstanden es, bei der geringen persönlichen Theilnahme des Königs an den eigentlichen StaatSgeschäften eine Oligarchie zu bilden, die sich im thatsächlichen Besitze der Souveränetät befand.
Der bis in die untersten
Schichten verbreiteten Titel- und Rangsucht wurde von oben mit der
größten Bereitwilligkeit nachgegeben. Der Adel, hauptsächlich der zum Staatsdienste neugeschaffene und der
herbeigczogene deutsche, erhob sich unter Friedrich V. zu einem seit dem
I. 1600 unbekannten Ansehen und Einflüße. folgte er dem Beispiele des französischen Hofes.
In seiner Art zu leben Ueber die Stellung, die
Bernstorf zum Adel einnahm, drückt sich Sturz in diplomatischen Wen dungen auS: „Der Adel war ihm ein ehrenvoller Stand, der den Thron
eines Monarchen verherrlichte.
Er vermuthete gern erbliche Tugend bei
den Nachkommen berühmter Vorfahren, und er gab ihnen früh Gelegen heit, um die Ansprüche ihrer Geburt zu erfüllen, aber er verlangte Proben
eines feurigen Eifers, des großen Namens würdig zu fein, der, wenn er die Verdienste deS Enkels umstrahlt, gewiß auch kein schwächeres Licht über seine Fehler verbreitet.
Doch ehrwürdiger erschien ihm der Mann,
der durch rühmliche Thaten der erste eines dunkeln Geschlechts war, der
allein,
ohne Reize der Geburt und des Beispiels die hohe Bahn der
Tugend ging, der, nach unbekannten Vorfahren, großen Nachkommen die Laufbahn der Unsterblichkeit öffnete." Daß eS einem hochverdienten Manne wie Bernstorf nicht vergönnt
war, die im Staate aufgehäufte Centnerlast von Uebelständen auf einmal hinwegzuräumen, kann ihm nicht zum Vorwurfe gemacht werden.
vielseitige und tiefe Einsichten,
Er hatte
wurde vom besten Willen geleitet und
schaffte mit rastloser, aufopferungsvoller Hingebung für das Vaterland.
Er folgte einem besonnen voranschreitenden, von religiösen und sittlichen Ideen, von Menschenliebe und Gewissenhaftigkeit durchdrungenen Libe ralismus, der mit den bestehenden Verhältnissen vorsichtig bis zur Aengstlichkeit, aber uneigennützig rechnete.
Unter den Zierden seines HerzenS und Lebens finden wir eine groß
artige im Stillen geübte Wohlthätigkeit.
und Zärtlichkeit,
ergeben war.
Auch gedenkt Sturz der Treue
mit der Bernstorf seiner Gattin und seinen Freunden
Die ganze Liebenswürdigkeit deS cdeln Mannes entfaltete
sich in dem engeren Kreise, der sich spät Abends nm ihn versammelte.
„Klopstock und Cramer", sagt Sturz, „gehörten mit zu diesem glücklichen
Cirkel.
Wir hingen alsdann an Bernstorf'S Mund und labten uns mit
Sokratischer Weisheit.
Hier entfaltete sich sein Herz und sein Geist; der
Schleier der Würde fiel nieder und die erhabene Seele glänzte in ihrer eigenthümlichen Schönheit; wir verließen ihn nie, ohne wärmer für die Tugend zu empfinden, ohne unterrichtet und gebessert zu sein." Durch diese Abendversammlungen wurde Sturz dem deutschen Lite
raturkreise Dänemark's zugeführt.
Im PalaiS des Ministers, auf
dem nach ihm geheißenen Landgut, und im nahegelegenen Lingby verkehrte Sturz mit Klopstock, dem
Bernstorf'S,
I. A. Cramer,
Gerstenberg,
I. E. Schlegel,
Hausgenossen
von Berger, G. Chr. Oeder,
Basedow,
Schönborn, den Jünglingen K. F. Cramer, Christian und Friedrich Leo pold Grasen zu Stolberg u. a. m.
Die Wissenschaften und Künste wurden von Friedrich V., Bernstorf,
I. E. Holstein, A. G. Moltke und Erich Pantoppidan mit Liebe gepflegt und gefördert.
Eine Menge ausländischer, namentlich deutscher und fran
zösischer Gelehrten wurde von Bernstorf in Dänemark angestellt und er
freute sich in wichtigen Unternehmungen seines Beistandes.
Mil den be
rühmtesten unter ihnen führte er einen lebhaften Briefwechsel. Am Hofe und überhaupt in den vornehmen Ständen herrschte lange
schon deutsche Sprache, deutscher Geist und Ton.
Die Armee wurde
nach deutschen Dienst- und ExercierreglementS gedrillt und commandirt,
und die Kriegsverhöre und Kriegsgerichte wurden
protokollirt.
in deutscher Sprache
Schon vor Struensee, zu dessen Untergang die Mißachtung
der Landessprache wesentlich beitrug, finden wir dänische Minister, wie
Schulin, Berkentin, Ahlefeld-Dehn und Bernstorf selbst, viele hohe Beamte
und Offiziere, die kein Dänisch verstanden; nur die Angestellten der Ma rine bildeten hierin eine durchgreifende Ausnahme*).
nünftig und so
gescheidt,
Sturz war so ver
sich das Dänische in Zeit von einem halben
Jahre anzueignen**). — Aber schon unter Friedrich V. begann der fran
zösische Geschmack die Oberhand zu gewinnen.
Auch der König und
Bernstorf waren ihm zugelhan.
Dennoch schaarten sich um Bernstorf die Häupter deS in Dänemark eingebürgerten deutschen LiteratenthumS. Von seiner Gesandtschaft in Paris
zurückgekehrt, empfahl er den Messias dichter dem Grafen von Moltke und durch ihn dem Könige.
Nach Kopenhagen mit einer Pension berufen,
ließ Klopstock sich dort im I. 1751 nieder.
Auf seine Empfehlung bei
dem "Grafen Moltke wurde sein Jugendfreund Johann Andreas Cramer 1754 als Hofprediger des Königs nach Kopenhagen berufen.
*) Vgl. v. Jenssen-Tusch S. 72 s. 124. *») Merzdorf S- öl.
Eine her-
vorragende Stellung nahm in dem dänisch-deutschen Literatenkreise Hein
rich Wilhelm von Gerstenberg aus Tondern in Schleswig ein, der bis zum I. 1766 als Rittmeister im dänischen Heere diente,
1768 von
Bernstorf in die deutsche Kanzlei ausgenommen wurde und bis zum I. 1775 verschiedene Beamtenstellen in Kopenhagen bekleidete*).
In dieser literarischen Colonie erstarkte,
besonders auf Anregung
Klopstock's, die Liebe zum deutschen Vaterlande im Gegensatze der
Fremde.
Wenn auch Männer wie Gerstenberg, Klopstock und Sturz den
altskandinavischen Literaturdenkmälern, besonders den beiden Edden (an
deren Entstehung Dänemark übrigens keinen Antheil nachweisen kann) ihre
lebhafte Aufmerksamkeit zuwandten, und jene beiden Dichter sie in einzel nen ihrer Werke reproducirten, so schienen die eingebürgerten deutschen
Schriftsteller sich doch um die neuere dänische Literatur wenig bekümmert zu haben, und, so viel unS bekannt, war Johann Elias Schlegel (seit
dem I. 1743 in -Kopenhagen) der einzige von ihnen, der von dem unter Friedrich V. neuauflebenden inländischen Theater Notiz nahm. Aus den Umgang mit Klopstock legte Sturz einen vorzüglich hohen Werth; „als ich im Hause des unsterblichen Bernstorf'« mit ihm lebte",
sagt Sturz in seinem trefflichen Aufsatze über den Dichter**), „mein Herz mit ihm theilte, über alle Wünsche glücklich war unter den besten edelsten Menschen — heiterer Morgen einer trüberen Zukunft! — Meine Be
kanntschaft mit Klopstock bildete sich schnell, und in sieben unvergeßlichen Jahren
(1764—71)
sind,
außer
einer achtmonatlichen Reise,
Tage verflossen, worin wir uns nicht sahen.
wenige
Nie hat in dieser Zeit ein
Wölkchen Laune unsere Freundschaft umdämmert; denn auch als Freund ist Klopstock Eiche, die dem Orkan steht.
Gegenwärtig, fern von ihm, oder in täuschenden Schatten, er verkennt seine Freunde nie."
Sturz trat im I.
1767 mit seinen zwei ersten Schriften in die
Oeffentlichkeit ***), den „Menächmen", worin er eine schlechte Kopenhagener Wochenschrift verspottete, und dem fünfaktigen Trauerspiele „Julia" mit
einem „Briefe über das deutsche Theater an die Freunde und Beschützer desselben in Hamburg".
In den „Menächmen" finden wir nichts als
einen schülerhaften Versuch im komischen und humoristischen Gebiete; doch
enthalten sie einzelne literarhistorisch nicht uninteressante Ausfälle auf die
*) Vgl. Sturz' Schriften I, 184. **) Sturz' Schriften I, 180 ff. ***) Schriften II, 21 ff. 153 ff.
hereinbrechende Genieperiode.
„Julia" ist ein mittelmäßiges Stück; aber
der ihm vorausgehende Brief über das deutsche Theater zeigt den Pro saisten in seiner vollen Reife und ist ein sehr beachtenSwerthes Denkmal
unserer Literaturgeschichte, auf das wir zurückkommen werden. Das folgende Jahr entrückte den geistvollen Schriftsteller auf eine Reihe von Monaten der gewohnten amtlichen Thätigkeit in Kopenhagen
und dem literarischen Freundeskreise und eröffnete ihm einen weiteren
Spielraum für die Gewinnung von Lebenserfahrungen, von geistigen An
regungen und namentlich für die Einleitung bedeutender persönlicher Be
kanntschaften.
In den Verhältnissen Dänemark's war inzwischen eine un
glückliche Wendung eingetreten, die im weiteren Verlaufe auch für Sturz
beklagenöwerthe Folgen herbeiführte.
Am 14.Januar 1766 starb Friedrich V. Dessen Sohn Christian VII. bestieg, erst 17jährig, den Thron, — ein talentvoller, aber physisch und moralisch tief heruntergekommener Mensch, der mit Caligula verglichen worden ist.
Die Minister seines Vaters, denen er die Regierung über
ließ, hofften, durch eine passende Ehe ihn sittlich zu retten und das Land vor großem Verderben zu bewahren.
Bernstorf in
guter Absicht
Die Wahl, die hauptsächlich von
geplant wurde, fiel
auf die Cousine deS
Monarchen, die schöne, geistvolle und edelangelegte, um zwei Jahre hinter
ihm zurückstehende Prinzessin Karoline Mathilde, Schwester deS engli schen Königs Georg III. Aber in der Ehe, die Christian VII. im Spät
herbste 1766 mit ihr schloß, enthüllte der junge König erst recht seine Er bärmlichkeit, stürzte daS Land in die größte Verwirrung und zerstörte daS LebenSglück, die Seelenreinheit und die Gewissensruhe des an ihn ge schmiedeten tiefunglücklichen Wesens.
Den lasterhaften, haltlosen, durch und durch blasirten, dem partiellen
Wahnsinn verfallenen Jüngling schickten die Minister auf Reisen, in der eiteln Hoffnung, ihn dadurch zu erfrischen und auf würdigere Gegenstände
hinzuleiten.
Die mit ihm versuchte moralische Kur schlug, obgleich sie
dem armen Land wenigstens anderthalb Millionen deutsche Thaler kostete,
gänzlich fehl.
Die Königin weinte bitterlich, als der neunzehnjährige
— Greis mit einem glänzenden Gefolge, in dem sich auch Sturz befand, am 6. Mai 1768 von ihr Abschied nahm.
Der wichtigste Vorgang auf
dieser Reise, von der Christian VII. und dessen Begleiter am 14. Januar
1769 nach Kopenhagen zurückkehrte, war die verhängnißvolle Bekannt
schaft deS vr. Johann Friedrich Struensee, die der König am 6. Juli
1768 machte.
An diesem Tage wurde Struensee zu Flensburg in das
Gefolge Christian's VII. ausgenommen und erhielt einen Platz in dem
Wagen unseres Essayisten, hierdurch leitete sich zwischen beiden Männern
ein gesellschaftlicher Verkehr ein, der jedoch nie freundschaftlichen Charakter annahm. Sturz legte seine Erinnerungen an den längeren Aufenthalt, den die Reisegesellschaft in London und Paris nahm, in 12 geistvollen Briefen
nieder, die er wahrscheinlich nach manchen Umarbeitungen,
zuerst int
Deutschen Museum 1777, dann in der ersten Sammlung von Schriften
1779 veröffentlichte.
Zu den hervorragendsten
Bekanntschaften,
die Sturz in London
machte, gehörten Samuel Johnson, „der Koloß der englischen Literatur",
Garrick, mit dem er in eine nähere freundschaftliche Beziehung trat,
und Angelika Kaufmann.
Seine Aussprüche über Garrick, sowie in den
späteren Briefen über die Tragödie Clairon und über Preville,
„den
König der Crispine", in Paris zeugen von eingehendem Verständnisse und
feiner Beurtheilung der Schauspielkunst. Der fünfte in London geschriebene
Brief enthält sehr interessante Bemerkungen über den politischen Zustand
Englands unter Georg III.
In Paris besuchte Sturz
das Kabinet
Mariata'S, wo ihn zwei Federzeichnungen Rafael'S besonders
anzogen.
Er beschreibt sie, er beschreibt auch andere Stücke der Sammlung und
auf den früheren Blättern die Kunst Angelika'S mit congenialem, Winckel mannartigem Geist.
Er kam in die Cirkel der Madame Geoffrin, wo
sich d'Alembert, HelvetiuS, Marmontel, Marieta, Cohen, Soufiot, Bernet
und der liebenswürdige neapolitanische GesandschaftSsekretär, Abt Galiani
einzufinden pflegten.
Sehr lebendig ist die Schilderung D'Alembert'S, den Sturz in einem auserlesenen Cirkel der Mademoiselle de l'Espinasse näher kennen und von Herzen bewundern lernte*). Sturz begleitet diese Schilderung mit einer
Art von liberalem politischem Glaubensbekenntnisse:
„Unter Männern
dieser Gattung, und ihre Anzahl ist nicht klein, lernt man die Franzosen
anders schildern, als es unsere schreiblustige Jugend gewohnt ist.
Ge
sunde nervige Philosophie, aufgeklärte Menschenliebe erheben
jetzo dreist ihre Stimmen, die Nation thut Riesenschritte, und
bebt, im Patrioteneifer, nicht vor dem Despotismus zurück. Freilich fällt es auf, daß die Regierung Wahrheit vorträgt, und ihr nicht
folgt. . . .
Aber die Aufklärung steigt nur allmählich empor;
lange harrt sie in der niedern Gegend.
Manche Staaten gleichen
den Alpengebirgen, wohlthätige Furchtbarkeit weilt in der Mitte, und die Gipfel bleiben kahl**)". Ebenso fesselnd, wenn auch nicht ganz klar, sind
*) S. 69 — 73. **) S. 73 f.
die Bemerkungen über HelvetiuS*), den Verfasser des materialistisch
empirischen Werkes „vom Geiste".
Sturz ist über die Ungerechtigkeit des
Clerus gegen diesen ausgezeichneten Mann
empört.
Mit Lebhaftigkeit
versetzt er sich in dessen Ideen. Es ist aber nicht recht deutlich, inwieweit
Sturz ihnen beipflichtet oder sie bloß darstellt. Er gibt ihnen wenigstens
eine freundliche Auslegung, indem er sagt: „HelvetiuS, der Apostel des Eigennutzes, hat auch durch sein Leben die Meinung seiner Sätze erklärt: er ist ein wohlthätiger, großmüthiger Mann. . .
Ich will darum sein
Werk nicht vertheidigen; aber eins ist gewiß, nicht wenn er Eigennutz predigt, sondern nur alsdann ist er unleidlich, wenn er sich seiner Dialektik
überläßt, wenn er Witz und Paradoxie auskramt, wenn er Menschensinn und Erfahrung durch Anekdoten und Reisefabeln bestreitet; und so hat er
beinah, wider eigenes Vermuthen, alles justum und honestum von der Erde weg vernünftelt."
Nun folgt die Behauptung des HelvetiuS, der
sittliche Werth oder Unwerth einer Handlung richte sich nach deren Ge
meinnützigkeit und stelle sich nach den Zeiten und Umständen verschieden dar. Sturz dagegen — und es ist doch wohl seine Ansicht, die sich nun
mehr geltend macht — beruft sich auf die Unentbehrlichkeit gewisser Tu
genden zur Erhaltung jeder Gesellschaft, auf die Werthschätzung, die ge wisse ihr zur Förderung dienende edle Eigenschaften auch bei jeder die Wüste durchziehenden Horde finden müsse.
mit Nothwendigkeit
Er verweist also auf einen
und Allgemeinheit unter den Menschen
sich geltend machenden sittlichen Trieb, zunächst als den Trieb
gesellschaftlicher
Selbsterhaltung.
Wir
empfangen
aber damit
nicht den vollen Ausdruck seiner auf religiösem Grunde stehenden Welt anschauung.
Ueber HelvetiuS' politisches Verhalten bemerkt Sturz:
„Wenn HelvetiuS in die Laune geräth, SarkaSmen zu sagen, so hört es sich angenehm zu, aber endlich wird er zu bitter, und ist ungerecht gegen
die Regierung und sein Vaterland.
Die Nation strebt augenschein
lich empor; ihre besten Schriftsteller haben sich mit britischer
Kühnheit gegen Vorurtheile und Knechtschaft erklärt; Erleuch tung und Verträglichkeit nehmen zu.
Hingegen, wenn HelvetiuS
Recht hat, so ist die Nation zertreten unter'm eisernen Fuße der Tyrannei;
eine traurige Hilfe stehe ihr bevor, delenda est Carthago; sie muß die Beute eines fremden Eroberers, und ganz von Neuem gebildet werden." Auf Stürzens religiöse und politische Weltanschauung werden wir zurück
kommen.
Die Gesellschaft, die HelvetiuS um sich versammelte, war ur
sprünglich die der Madame Geoffrin; doch fanden sich bei ihm außerdem *) S. 75 ff.
noch der Chevalier Jnaucourt, der Abt Rahnal, der Dichter Saurin, Duclos, der Ritter Chatalz und Ausländer ohne Zahl ein.
Der Besuch deS Theatre Fran$ais, der das in dem
„Briefe
über daS deutsche Theater" gefällte Urtheil über das französische mehr zu Gunsten desselben, namentlich in Bezug auf die tragischen Leistungen
stimmte,
veranlaßt den Essayisten zu einigen werthvollen Bemerkungen
über die Comödie dieser Nation:
„Ich versäume Moliöre'S Stücke
nie, und finde das HauS gewöhnlich einsam und leer; ein schlimmes
Zeichen für den heutigen Geschmack.
In jeder Kunst giebt'S eine höhere
Stufe; dann wandert sie wieder bergab. DaS Lustspiel gehet nun zurück; keine neue Arbeit ist mit dem Menschenfeinde, dem Geizigen und dem
Tartuffe zu vergleichen.
Man hat zuweilen diese Meinung die Schutz
rede der Ohnmacht genannt; die Sitten, sagt man, ändern sich täglich, und bieten also neuen Stoff zur Schilderung dar; aber wenn auch Ton und
Lebensart und Witz und Mode ewig wechseln, so erhält sich dennoch die Natur, welche immer die nämliche war; ihre großen Züge sind verbraucht.
In Frankreich trifft man jetzt nur auf Nuancen, auf Eigenheiten kleiner Cirkel, auf einzelne seltene Varietäten. Der Wohlstand richtet alle Geister
und Herzen nach Einem „Bierstückchen" ab.
Fülle gepflückt; sie lesen jetzt nur Früchte.
Ihre Meister haben in der
dürftig nach, und sammeln taube
In England ist noch die Menschengattung mannichfaltig, wie
Ihre*) Gärten; dennoch fehlte nicht viel, so hätte man auf der Bühne Ihre thätigen Briten in flache gallische Schwätzer verwandelt.
Darum
verdienen Sie den Dank Ihrer Zeit, daß Sie die elende Gattung ver drängen, und Shakespeare's nervige gesunde Natur wieder belebten durch ihre schöpferische Kunst."
Zu den hervorragendsten Bekanntschaften die Sturz in Paris machte, gehörte auch der spätere französische Minister Necker, damals Resident
deS Freistaates Genf, über den er sich mit großer Verehrung ausspricht
und Necker'S rühmlich bekannte Gemahlin.
Auf die Schilderung dieser
beiden Persönlichkeiten und ihrer sie umgebenden „Colonie aus Liliput" folgt ein beachtenSwertheS Urtheil über die Franzosen. Mit Garrick, Riccoboni,
HelvetiuS
und den Frauen Necker
und
Geoffrin unterhielt Sturz einen Briefwechsel.--------------Sturz wurde auf der Reise zum LegationSrath mit dem Rang eines
JustizratheS, 1769 zum Direktor im Generalpostamte mit 2500 Thalern Gehalt ernannt, behielt aber zugleich die ihm so liebe Stellung in der deutschen Kanzlei unter Bernstorf, der sich aus seinem Posten mehr als
*) Sturz' Schriften an Garrick. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 3.
je befestigt zu haben schien. Für Sturz eröffneten sich die Aussichten auf
eine glänzende Zukunft.
Bernstorf war ihm sehr geneigt; bei Hofe war
er durch gesellige und künstlerische Talente beliebt und er befand sich unter
anderem auf der am 18. Juni 1770 nach den Herzogthümern angetretenen Reise in dem herrschaftlichen Gefolge. Inzwischen hatte sich Struensee dem armseligen Könige so unent behrlich gemacht, daß ihn derselbe nach der Heimkehr zu seinem bestän digen Leibarzt ernannte. Im Frühjahr 1769 erfolgte die Ernennung zum
wirklichen Etatsrath. Im Sommer gewann Struensee das Vertrauen der
jungen Königin und wurde nun zum Vermittler zwischen ihr und ihrem
Gatten.
Die ursprüngliche Abneigung der hohen Frau gegen Struensee
verwandelte sich in schwärmerische Liebe. gewandten,
thatkräftigen
Durch
die Bemühungen deö
Emporkömmlings gelangte die bisher
Unter
drückte zu einer schrankenlosen Herrschaft über den König. Struensee wurde
im Frühjahr 1770 an Einem Tage zum Vorleser des Königes und zum
Kabinetssekretär der Königin, gleich darauf zum Conferenzrath ernannt.
Sein familiäres, ja keckes Benehmen gegen beide Majestäten, die ausge
lassene Heiterkeit der von dem Umgänge mit ihm entzückten jungen Frau weckten mit gerechter sittlicher Entrüstung zugleich alle bösen Geister deS
Neides und der Bosheit auf. Der König schloß die Augen zu der schmäh
lichen Rolle, die man ihn spielen ließ.
Struensee's Verhalten zu der
Königin war um so frevelhafter, je weniger es von leidenschaftlicher Zu
neigung, je mehr
es von den Berechnungen des Ehrgeizes
bestimmt
wurde*).
Struensee unternahm eS, den an vielen und schweren Wunden krank
darniederliegenden Staat zu heilen; er that dieß nicht langsam und mit besonnener Anknüpfung an die vorhandenen Zustände, sondern rasch und gewaltsam.
Für diesen Zweck verband er sich mit einem nichtswürdigen
und höchst gefährlichen Manne, dem Grafen Karl Schack von Rantzau-
Ascheberg, durch
den Sturz wohl nach Kopenhagen berufen war und
den zu Staatsgeschäften unfähigen Kammerherrn Enevold von Brandt, für den die Beschäftigung des physisch und moralisch zerstörten Königes
und
die Absperrung der Unterthanen von
partement auSersehen war.
ihm
als eigentliches
De
Hauptsächlich von den beiden ersteren wurde
Bernstorf, den sie auf dem Wege ihrer kühnen Unternehmungen als
den härtesten Stein des Anstoßes betrachteten, auf die Seite geschafft.
Während Strumsee bei diesem Gewaltstreiche von persönlichem Haffe frei blieb, folgte Rantzau der Todfeindschaft gegen den Mann, durch den er
*) Wittich S. 51. 103. 109 f.
1768 in Ungnade gefallen und entlassen worden war, und der wilden Rachsucht gegen Katharina II., Bernstorf'S diplomatische Bundesgenossin.
Unter dem 4. September 1770 wurden drei königliche CabinetSbefehle er lassen,
die man später
nicht mit Unrecht Struensee'S Manifest gegen
Bernstorf genannt hat. Einer von diesen Befehlen verkündigte das Recht uneingeschränkter Preßfreiheit.
Bernstorf,
erzählt Sturz,
„hatte schon
lange die Absicht seiner Feinde entdeckt, ihn durch wiederholte Angriffe zu
reizm und zu irgend einem Schritt zu verleiten, der sie von dem Mann,
den sie haßten, befreite.
Endlich konnte er sich nicht verbergen, daß eS
ihnen gelungen, ihm das Vertrauen feines Monarchen zu entziehen. Aber sollte er ruhig sein Schicksal erwarten, oder dem Sturm, der ihm drohte,
entfliehen?"
Er beschloß, „den Posten nicht feig zu verlaffen, auf welchem
er als ein auserwähltes Werkzeug der Vorsehung stand, keinen Augen
blick, der in seiner Macht war, zu verlieren, wo er dem Staat, oder auch nur einem Gliede desselben durch seine Arbeit nützlich sein konnte ...
Der Schlag kam seiner Erwartung zuvor.
Ich war der einzige Zeuge
dieses prüfenden Augenblicks." Durch ein königliches Schreiben vom 13. September 1771 wurde
Bernstorf mit einer Pension von 6000 Thalern seiner Ministerstelle ent
hoben*).
Bernstorf hatte sich — fährt Sturz fort — „eben zur Arbeit
niedergesetzt, als er das Schreiben des Königs empfing, welches ihn den Staatsgeschäften entzog.
Er las es mit ernsthafter Stille und stand mit
einem Blick des Schweigens auf.
Ich bin meines Amtes entsetzt, sprach
er mit einem gesetzten bescheidenen Ton und fügte mit gen Himmel er hobenen Augen hinzu: Allmächtiger, segne dieß Land und den König!"
Bernstorf zog am 5. October mit seinem Freund und Hausgenoffen Kl o pflock aus der Hauptstadt; er ging nach Hamburg, später auf sein Gut Borstel in Holstein.
Die wenigen Tage, die er noch in Dänemark
zubrachte, wandte er „wie Sokrates an, um seine Freunde zu trösten.
Ihm entfiel keine Klage, nicht ein empfindliches Wort.
Er beschuldigte
niemand, er vertheidigte sich nicht, sondern ging, wie Scipio, aus der Versammlung seiner Ankläger, und dankte, statt aller Verantwortung,
Gott für alle Dienste, die er dem Staat geleistet hatte."
Er starb am
19. Februar 1772.
Auch die übrigen Minister wurden verabschiedet, keiner an ihre Stelle gesetzt.
Struensee und Rantzau theilten sich in die Geschäfte.
Aber da
Struensee die tollen Rachepläne des Grafen gegen Rußland vereitelte,
warf dieser einen glühenden Haß auf ihn. *) v. Jenssen-Tusch S. 74.
Brandt schmiedete aus ge-
kräiiktem Ehrgeize gegen Struensee verrätherische,
wenn auch ohnmäch
tige Pläne. Durch eine in Uebereinstimmung mit Struensee von Rantzau ent
worfene Akte vom 27. December 1770 wurde die förmliche Aufhebung des
Geheimconseils, „des ersten, des ehrwürdigsten und stolzesten aller Collegien", verfügt.
Dann vermochte Struensee den König, ihn am 14. Juli
1771 zum Geheimen Cabinetsminister mit einer bisher in Dänemark noch keinem Unterthan übertragenen Machtvollkommenheit zu ernennen*). End
lich wurden Struensee und Brandt, nachdem der König jedem von ihnen zum Behufe standesgemäßer Einrichtung die Summe von 60000 Reichs
thalern geschenkt hatte,
am 3. Juli
in den dänischen Grafenstand er
hoben.
Die große Zahl neuer Gesetze und Einrichtungen, die Struensee in
einem Zeitraum
von anderthalb Jahren
mit fieberhafter Schnelligkeit,
ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung und die an ihn ergangenen Warnungen, auf die geschichtliche Entwicklung des Staates, auf die vor
handenen Rechte des Einzelnen,
auf die Vorurtheile der höheren und
mächtigen, auf die Gewohnheiten, das Lebensgefühl, die Sprache der Be
völkerung
von oben herab
dekretirte,
die Verletzung der herrschenden
kirchlichen Gesinnung durch einzelne Verordnungen und durch des liberalen Despoten bekannte enchklopädistische Ansichten, und nicht zum wenigsten die gerechte Entrüstung über sein Verhältniß zur jungen Königin, die
den
öffentlichen Anstand strafwürdig verletzte,
riefen
eine stets weiter
um sich greifende und immer gefährlichere Opposition, zuerst der Geist
lichkeit und des Adels,
dann auch des Offizierstandes, der zahlreichen
CivilstaatSdiener, selbst der untersten VolkSclassen, die dem kühnen Re
formator wohl den meisten Dank schuldeten, gegen ihn hervor.
Vom
Glücke verzärtelt, übersah er die Nothwendigkeit, sich mit einer kräftigen und zuverlässigen Partei zu umgeben, und zuletzt stand er mit der Königin
fast allein. Die von ihm gegebene Preßfreiheit wurde zu den boshaftesten Agitationen gegen ihn benutzt, und als im September des I. 1771 eine königliche Verordnung die bisherige Straflosigkeit für Mißbräuche der
Presse widerrief, die anonymen Drucksachen verbot und die Verfasser oder die Buchhändler einer schweren Verantwortung unterwarf, da war eS zu
spät.
Unerhörte Gerüchte liefen um: Der „gute" König werde als Ge
fangener bewacht, ja geradezu mißhandelt; Struensee gedenke ihn abzu setzen, die Königin zu heirathen und sich selbst der Krone zu bemächtigen.
Die ihm drohende äußerste Gefahr konnte ihm, bei aller Selbstverblen-
*) v. Jenssen-Tusch S. 115 f
düng, nicht immer verborgen bleiben; er wollte ihr trotzen. Aber schon das Wetterleuchten des herannahenden Gewitters fand ihn zaghaft. Graf
Rantzau, durch feine Theilnahme an der mörderischen Palastrevolution gegen den russischen Kaiser Peter III. vorgeübt, zettelte gegen Struensee und die junge Königin mit dem EtatSrath und Professor Guldberg, der Königin-Mutter Juliane, dem Erbprinzen Friedrich u. a. eine Verschwörung zur Rettung der Monarchie an. Sturz hatte die fteundliche Verbindung mit Struensee nicht abge brochen, zumal da auch Bernstorf, trotz den schon im I. 1770 an ihn gerichteten Warnungen, für Struensee eingetreten war. Als der Leibarzt Berger, Stürzens alter Freund, auf der Reife, die der Hof im Juni dieses Jahres in die deutschen Provinzen machte, mit Struensee zerfiel, wurde Sturz nur durch Bernstorf'S ausdrücklichen Befehl abgehalten, den Verkehr mit Struensee gänzlich aufzuheben. Im Sommer des I. 1771 wurde Sturz auf dem Schlosse Hirschholm, wohin sich der Hof zurückzog, fast täglich in die Gesellschaft des Königes und der Königin berufen, gewiß nur um seiner Unterhaltungsgabe und seiner künstlerischen Talente willen. Hier wurde er beauftragt, die junge Königin zu malen, und dieses Bild empfing Struensee von ihr zum Geschenke, — ein Umstand, der später zur Verdächtigung deS Meisters benutzt wurde. Bernstorf, der auf einen baldigen Umschwung der Verhältnisse rechnete, erlaubte seinem Schütz linge nicht, daS Exil mit ihm zu theilen. Aber Sturz gab seiner Miß
billigung deS gegen Bernstorf geführten Streiches unverhohlenen Ausdruck, und er führte mit ihm eine lebhafte Correfpondenz. Er wurde zwar aus der deutschen Kanzlei entlassen, behielt aber die Postdirektion und trat in mehrere Commissionen ein. Die Verlobung, die er noch im I. 1771 mit der dritten Tochter des dänischen Majors de la Garde schloß,
mag ihn hauptsächlich bestimmt haben, mit größerer Vorsicht aufzutreten
und die Erhaltung seiner Aemter nicht auS den Augen zu verlieren. Er suchte den schrankenlos waltenden Günstling und dessen Anhang für seine Person unschädlich zu machen, erwies ihnen künstlerische Gefälligkeiten und folgte ihren gesellschaftlichen Einladungen. Dennoch trat er, sobald er damit nützen zu können hoffte, für seine Ueberzeugung ein. Als Struensee
dem hochverdienten Bernstorf die vom König ihm gewährte Pensioir ent
ziehen wollte, richtete Sturz an den Uebermüthigen ein höfliches, aber nachdrückliches Schreiben, durch das er den empfindlichen Verlust von seinem Beschützer abwandte.
Sturz gedachte den 24. Januar 1770 seine Vermählung zu feiern.
Aber schon in der Nacht vom 16. auf den 17. explodirte die von Struensee'S Feinden gegrabene Mine. Sie zertrümmerte das Glück, das Sturz
in Dänemark sich aufgebaut hatte, und das er unter Struensee'S Regie rung zu bewahren, auch wohl nach Bernstorf'S Wiedereinsetzung zu stei gern hoffte.
In dieser SchreckenSnacht drangen die Verschworenen in daS Schlaf zimmer des Königs ein und erpreßten von ihm Haftbefehle gegen die junge Königin, gegen Struensee und dessen wirkliche
oder angebliche
Freunde. Struensee und Brandt wurden in die Citadelle, Caroline Ma thilde nach Cronborg bei Helsingör gebracht.
Noch in der Frühe des 17.
folgten weitere Verhaftungen.
„In Struensee's Fall", sagt Merzdorf, wurden „Schuldige und Un schuldige, Betheiligte und Unbetheiligte verwickelt",
„mitleidlos rächten
sich politische und persönliche Feinde; der leiseste Verdacht genügte, um den Unvorsichtigen zu Falle zu bringen.
Auch Sturz wurde von diesem
Schicksale erreicht, er, der so wenig sich betroffen meinte, daß er seine
Papiere bei sich behielt und gleich nach Struensee's Fall mit Carstens und Schumacher an die Wiedereinsetzung I. H. E. Bernstorf'S dachte."
Aber gerade seine unvorsichtigen Bemühungen zu Gunsten dieses Mannes scheinen die neue Regierung besonders gegen ihn erbittert zu haben. Am
26. Januar empfing er folgende Cabinetsordre: „Da ich nicht mehr Ihrer Dienste bedarf und schon auf andere Weise über Ihren Posten als Post
direktor verfügt habe, so haben Sie Sich von jetzt an nicht mehr mit den Geschäften zu befassen.
Ich bewillige Ihnen für die Zeit, bis Sie auf
andere Weise in meinen deutschen Provinzen placirt worden, die Pension,
wie solche der Etatsrath Holm bis jetzt genossen hat" (500 Thaler). Am folgenden Tage wurde Sturz von zwei Offizieren auö der Wohnung seiner Braut geholt und bei hellem Tage unter Pöbelgeschrei nach der Haupt wache geführt, wo man ihn und seine Mitgefangenen wie Verbrecher be
handelte.
Die
am
21. Januar
niedergesetzte
Jnquisitionscommission
brachte ihn am 5. Mai, nachdem er vier Monate eine schmachvolle Ge fangenschaft erduldet hatte, in die Rubrik derjenigen Angeklagten, gegen
welche die geringsten Verdachtsgründe vorlagen. Die Kabinetsentschließung
vom 18. Mai erklärte: „Nur auS besonderer Gnade hat der König für dieseSmal Ihr unvorsichtiges, unbedachtsames und strafwürdiges Verhalten
nachgesehen, seien Sie aber hiermit verwarnt, nun nicht durch Wort oder
Schrift Veranlassung zu größerem Verdachte zu geben, da Sie sonst zu weiterer Untersuchung gezogen werden würden und Sie des Königes end
licher Ungnade gewärtig sein müßten."
Am 19. Mai wurden diese am
wenigsten Verdächtigen auf freien Fuß gesetzt, und erhielt Sturz den Be fehl, nach Holstein zu gehen; er sollte aber nicht mehr als das ihm zu erkannte Jahrgehalt von 500 Thalern beziehen, den er an einem seelän-
dlschen Orte zu verzehren habe.
Man gestattete ihm die Uebersiedelung
nach Uetersen in Holstein.
Zu Anfang des April war Karoline Mathilde von Christian VII.
geschieden und am 28. waren Struensee und Brandt schmachvoll hin
gerichtet worden.
Im Mai erhielt die unglückliche Königin ihren Auf
enthalt auf dem Schloß in Celle, wo sie im Frühlinge des I. 1775 starb. Nachdem Klopstock sich im I. 1771 in Hamburg niedergelassen hatte,
I. A. Cramer als Superintendent nach Lübeck übergesiedelt war, verließ auch Sturz die ihm zur Heimath gewordene dänische Hauptstadt.
Der
früher so heitere Mann wurde durch den furchtbaren Umschlag seines Ge schickes bis in die tiefsten und feinsten Lebenswurzeln erschüttert und ver
fiel in einen Trübsinn, den er wohl niemals völlig überwinden konnte.
Seine düsteren Lebenserfahrungen sprechen hauptsächlich
aus
einer
Note zu seinen „Denkwürdigkeiten von Johann Jakob Rouffeau"*): „Wer, in seiner goldnen Mittelmäßigkeit, unbemerkt durch das Leben schleicht, begreift
Rousseau'S Menschenfeindschaft nicht, oder findet sie übertrieben; aber lernt euer brüderliches Geschlecht an Höfen, lernt eure Nebenbuhler im Amt,
im Verstand, im Glücke kennen, erhebt euch durch irgend ein Verdienst, und glaubt in der Unschuld eures Herzens, daß man euch liebt und schätzt,
weil man euch umlächelt und umarmt.
Wenn endlich unter euch der
Boden wegsinkt, durch freundliche Mörder untergraben — dann seht, wie
sich eure Freunde retten, als vergiftetet ihr die Luft; wie eure Clienten euch für genossene Wohlthaten anspeien;
ertragt deS Glücklichen stolzes,
niedertretendes, erwürgendes Mitleid, und liebt die Menschen, wenn ihr könnt."
Einsam trauernd verlebte Sturz den Sommer 1772 in Uetersen. Dann wohnte er bald in Glückstadt, bald in Altona, kam auch von Zeit
zu Zeit nach Hamburg, aber ohne einen dortigen Bekannten aufzusuchen.
1773 wurde er zum Regierungsassessor
mit
einem
Gehalt
von
800 Thalern in Oldenburg, einer Art von dänischem Sibirien, ernannt. Hier trat er noch in demselben Jahre, als der bisherige Fürstbischof
von Lübeck, Herzog Friedrich
August von Schleswig-Holstein-Gottorp
souveräner Herzog von Oldenburg wurde, in dessen Dienste über. Durch zweimalige Zulagen wurde sein Gehalt bis auf 1200 Thaler gebracht. 1775 erhielt er den EtatsrathS-Titel.
1774 hatte Sturz endlich das langersehnte Ziel der ehelichen Ver bindung mit seiner in Kopenhagen zlirückgelassenen Braut erreicht.
Seine
Gattin schenkte ihm zwei Kinder, von welchen das jüngere ein Vierteljahr *) Schriften I, 133 f.
vor ihm starb; die Geburt des dritten sollte er nicht mehr erleben.
Das
Glück dieser Ehe, daö freundschaftliche Zusammenleben mit Gramberg, von Halen, dem Grafen von Holmer, Order in einer und derselben Stadt und die zeitweise Gegenwart Friedrich Leopold Stolberg'S warfen er
heiternde Lichtstrahlen in sein Gemüth.
Aber die Trostlosigkeit seines
Aufenthaltes, die ungestillte Sehnsucht nach einem weiteren Felde staats
männischer, insbesondere diplomatischer Beschäftigung, wie es in Kopen hagen ihm
offen gestanden,
die dort gemachten harten Erfahrungen,
finanzielle Sorgen beugten ihn tief und nagten an seiner Gesundheit.
Im Sommer 1776 machte Sturz eine Privatreise nach Gotha.
Bei
dieser Gelegenheit suchte er den Verfasser des Buches über die Einsam keit, I. G. Zimmermann in Hannover auf, der seine Bekanntschaft mit
und Leisewiz vermittelte,
Brandes
und führte ihn ein kurzer Ausflug
nach Pyrmont mit Boje zusammen, mit dem er schon längere Zeit cor-
respondirt hatte. Amtsgeschäften
AlS er die Monate Mai bis August des I. 1778 in in Hannover weilte,
benutzte
er diese Gelegenheit
zu
einem achttägigen Ausfluge, den er mit Boje nach Braunschweig und Wolfenbüttel machte.
In Wolfenbüttel hielt er sich bei Lessing auf.
In
Hannover lebte er im Kreise Zimmermann'S, Brandes', Rehberg'S, bei
dem er wohnte, u. a. Schon längere Zeit krank,
Bremen.
reiste
Sturz im October 1779 nach
Hier empfing er Briefe aus Dänemark, deren Inhalt ihn bis
zur Ohnmacht rührte; vielleicht hätten sie ihm neue und erfreuliche Aus
sichten eröffnet; zu spät, — nach zwei Tagen ergriff ihn ein bösartiges Fieber.
Am 12. November starb er in Bremen.
Bei den traurigen Vermögensverhältnissen, die er zurückließ, wandte sich Graf Holmer an F. L. von Stolberg mit der dringenden Aufforde rung, der Wittwe des Freundes, den Guldberg zur Wiederberufung nach Kopenhagen ersehen, dort eine Pension auszuwirken.
Stolberg erlangte
diese Unterstützung durch I. H. E. Bernstorf's Neffen Andreas Peter
Bernstorf.
Stürzens Wittwe kehrte mit den Ihrigen nach Kopenhagen
zurück. —
Merzdorf gibt dem unglücklichen Manne das schönste Zeugniß, indem
er sagt*):
„Der Adel seiner Seele und die Güte seines Herzens riefen
für ihn das seltene Glück hervor, allgemein geschätzt und geliebt zu sein."
Daß
er aber die Lieb- und Ehrlosigkeit anderer Menschen erfuhr und
schwer dadurch gekränkt wurde, lehrt uils die oben angeführte Stelle aus seinen: „Denkwürdigkeiten von I. I. Rousseau". *) S. 51.
Das Lebensbild, so wett es nach den bis jetzt durch den Druck zugSnglichen Quellenschriften von ihm ausgeführt werden konnte, zeigt uns
einen ehrenwerthen Staatsmann. Seine politische Gesinnung und Mchtung dürfen wir nach den in seinen Schriften enthaltenen Aussprüchen und nach seinem vertrauten Zusammenleben und gemeinschaftlichen Wirken mit Bernstorf als freisinnig, aber zugleich an daS Bestehende anknüpfend und den allmähltgen Fortschritt erstrebend, als liberal-conservativ be
zeichnen.
Den von einem solchen Geiste durchdrungenen, oben mitge
theilten Aussprüchen seiner Reisebriefe über D'Alembert und HelvetiuS möge zur Ergänzung der kleine Aufsatz „Ueber den Vaterlands stolz"*) beigefügt werden: „Du bist ein Deutscher. Wohlan, sei stolz auf deinen Hermann, auf den Helden Friedrich, aus Katharina, die Wohl
thäterin der Menschen! Nenne Leibniz, Klopstock und Lessing der Nach welt! Nenne Deutschlands Erfinder, wenn England seine Darsteller neben Königen begräbt, und Gallien seine DecorateurS unter die Vierziger setzt! UnS fehlen zwar Geschichtschreiber und Redner, aber weder Dichter noch Thaten. Dennoch laßt uns gerecht sein, und nicht vergessen, daß kaum vor dreißig Jahren noch Gottsched der deutsche Addison war, daß itzt noch Laune, Witz und Grazie im deutschen Boden nur mühsam gedeihen, und daß Vaterland und Freiheit in unserer Sprache nicht viel mehr
als Töne ohne Namen sind. Wenn die AbenakiS und die Mikimakis, die Chawanesen und die Cherokesen bei jedem Krieg ihrer Nachbarn die
Axt gegen ihre Brüder erheben, kämpfen sie für's Vaterland? — Wo ist der lebendige Geist, der unS allgewaltig und zu Einem End zweck ergreife? der uns an Einer Kette halten sollte, wie Jupiter die Schicksale hält? Wo ist ReguluS'Tugend? Leiden
schaft, ein Opfer zu werden für'S Vaterland? — Sprich den Fürsten nicht Hohn, Freiheittrunkener Jüngling, der du viel leicht als Mann zu ihren Füßen kniest! Und sie verdienen auch deinen Bardeneifer nicht, denn viele unter ihnen sind freundlich und gut, und verleihen selbst den Fürstenhassern Brot. Aber träume nicht von
Freiheit, so lange noch an jedem Hof jeder Laut des Muths ver stummt, so lang unser Eigenthum nur von einer Schatzverord nung zur andern sicher ist, so lang unser Blut eine Lands- und Domatnenwaare bleibt, so lang wir auf jeden Wink wie Cäsar'S
Kriegsknechte auSrufen: Pectere si fratrem, gravidare in viscera matris Imperat, invita peragam tarnen omnia dextra. *) Schriften II, 283 f.
Tröste dich damit, daß Freie nicht immer glücklich sind, daß es Sokrates und Phocion nicht waren, und daß eS Sklaven sein können unter Antoninen". — Aehnliche Gedanken spricht der „Brief
über daö deutsche Theater" aus, wovon später. —
In religiöser Beziehung darf Sturz wohl als ein Gesinnungs verwandter Bernstorf's gelten.
physischen und gibt
präcisiren,
theologischen er
seinem
Ohne
seine Stellung
Richtungen
des
lebendigen,
am
Zeitalters
Geiste
der
zu
meta
den
begrifflich Schrift
zu
fest
haltenden, den kirchlichen Buchstaben zwar nicht beseitigenden, aber auch nicht starr behauptenden, liebevollen und duldsamen Offenbarungsglauben
mehrfach einen warmen Ausdruck:
„Es läßt verdächtig, wenn ein roher
Mündling eben da die höchste Klarheit entdeckt, wo die Bayle zweifeln und die Leibnize vermuthen, wenn man da am trotzigsten entscheidet, wo die Rousseau und die Locke ihre Unwissenheit gestehn. Die Grundbegriffe
aller Dinge, das Wie? in den Erscheinungen der Natur, das Warum?
in der moralischen Welt, die Rathschlüsse der Vorsicht, die widersprechenden Schicksale des Lasters und der Tugend sind Geheimnisse deS All
mächtigen. Wir werden selbst in der bürgerlichen Weisheit nur einzelne
Beziehungen
gewahr,
wenn
sie just in unserm
Gesichtskreise
liegen.
Darum überläßt der Weise, wenn ihn keine Offenbarung er leuchtet,
den Olymp den unsterblichen Göttern, erträgt oder
genießt sein Loos, ist nützlich, wenn er kann, und bildet an sich
selbst. Wir sind auch ohne tiefes Forschen durch unsere Vernunft genug aufgeklärt, um unS zu lieben, zu ertragen, um gütig und gerecht zu sein.
Wohlthätigkeit und Menschenliebe sind älter als Systeme, älter alS die goldenen Sprüche des Pythagoras, und es gab freundliche Erdensöhne,
ehe Platon über die Tugend schrieb, ehe Sokrates dafür starb. — War es aber dein Schicksal, Freund der Wahrheit, in einer Religion erzogen zu
werden, die bei ihrer Unerklärbarkeit, doch für deine Einsicht und dein Gefühl unleugbare Spuren eines hohen Ursprungs trägt, so grüble
weniger als Rousseau, hasche nicht so emsig nach Zweifeln, die dich weder
klüger noch glücklicher machen; aber entscheide auch nicht so trotzig und kühn, wie deine Orthodoxen, mäkle nicht zwischen Geheimnissen
und Vernunft, vertrage dich nicht um die Hälfte, demonstrire den einen
Theil nicht weg, um den andern metaphysisch zu erklären*), sondern Dinge, ehre
die du weder verwerfen noch begreifen kannst, ver
mit bescheidenem
Schweigen,
und
demüthige
dich
vor
dem alles erfüllenden Gott, der zu dir spricht, im Herzen, und im *) Bgl. „Ein Rangstreit", Schriften I, 209 f.
lauten Jubel der Natur, der wahrlich ist — weil alles ist, und vor
dem allein die Wahrheit ohne Hülle erscheint*)".
„Religion ist der ehrwürdigste Theil des Unterrichts. furchtsam davon.
Das Christenthum ist leider!
worden, und wer begehrt den Rath eines Laien?
Ich rede nur
eine Wissenschaft ge
Allgemein gibt man zu,
daß eine brauchbare Anweisung, welche die Glaubenslehren dringend und
für die Kinder begreiflich enthält, noch unter die frommen Wünsche ge
Nicht, weil eS nicht
Ein solche- Lehrbuch ist allerdings schwer.
hört.
angeht, die Wahrheiten unsers Glaubens in einen verständlichen Vortrag
zu Neiden, sondern weil man dazu eine Sprache wählen müßte, die den
Wächtern in Zion zu unsymbolisch und darum zu gefährlich klingt.
Wonne dem wohlthätigen Mann, der sich an die bedenkliche
Arbeit wagt!
Ihn müßte Christi Lehrart erleuchten, der wenig Ge
heimnisse predigte, aber innig Liebe empfahl, der gern tröstete, selten
dräute, und sich immer zum Begriffe seiner Zuhörer herabließ, der nichts
tiefsinnig
sprach,
und
erklärte,
Schlüsse bewies. Moral,
sondern
durch
Beispiele
und
der seine himmlische Weisheit nie durch Jn's
Lehrbuch
der
Religion
eine Frucht des nämlichen Baums.
Gleichnisse
schulgerechte
gehört
zugleich
die
Beide sind Gesetze der
Liebe"**).
In dem „Briefe über das deutsche Theater an die Freunde und Beschützer desselben in Hamburg" dringt Sturz vor allem nach dem Vorgänge Lessing'S in den Literaturbriefen (1759 f.) auf na
tionale Selbständigkeit unserer dramatischen Poesie:
„Ich wünsche
zuvörderst eine Hauptverfolgung gegen die deutschen Nachahmer zu erregen,
gegen diesen Geist der Knechtschaft, in welchem wir an das Mittelmäßige gefesselt, schon lange einhergehen; wie können wir ein eigenes Theater
erwarten, wenn wir ewig übersetzen, und wenn unsere Schauspieler fremde Sitten mit deutschen Geberden ausdrücken sollen? Wann wagen wir eS
endlich einmal zu sein, was wir sind? Ist unsere Empfindung des Schönen nicht durch vortreffliche Schriften unserer eigenen Landsleute, durch eine
strenge und richtige Kritik aufgeheitert genug?
Sind uns nur allein
*) „Denkwürdigkeiten von Johann Jakob Rousseau", Schriften I, 178—180. **) „Ueber die Verbesserung der Landschulen", Schriften II, 351. — Vgl. noch den „Auszug eines Briefes", Schriften II, 331 f. Die bedeutendsten unter Stürzens gedruckten Schriften sind neben den „Erinnerungen aus dem Leben des Grafen I. H. E. von Bernstorf" und den „Briefe», im Jahre 1768 auf einer Reife im Gefolge des Königs von Dänemark geschrieben", die wir beide schon besprochen haben, der (S. 22. 43) bereits erwähnte „Brief über das deutsche Theater" nnd ein „Fragment Uber die Schönheit", das zuerst im „Dentschen Museum" des Jahres 1777 und sodann in den Schriften I. 1779. S. 222 ff. erschien.
dre Schätze der Alten verschloffen? Haben nicht Dichter unter uns die
Sprache der Leidenschaft geredet, und die wahren Töne der schönen Natur ausgesprochen?
gelungen?
Ist nicht einem Deutschen in der Epopöe ein Meisterstück
Dürfen wir nicht wenigstens auf zwei oder drei Trauerspiele
stolz sein?" Johann Elias Schlegel hatte 1741 öffentlich Shakespeare gegen
die Angriffe Gottsched's vertheidigt und eine für die Zeit überraschende
Bewunderung jenes Dichters geäußert; er hatte 1747 die Abhängigkeit unseres Schauspieles von dem französischen bekämpft, für das englische ge sprochen und die Wahl deutscher Gegenstände befürwortet.
in den
Lessing war
„Beiträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters" (1750)
scharf und herausfordernd gegen die ausschließliche Nachahmung der Fran zosen aufgetreten. Er hatte unseren Dramatikern die Griechen und Römer als die ersten Muster vorgehalten, unter den Neueren hauptsächlich die
Engländer und die Spanier empfohlen.
Er hatte bemerkt, daß wir durch
unser Naturell mehr auf die englische, als auf die französische Bühne an
gewiesen werden.
Er hatte es in den „Literaturbriefen" tadelnd hervor
gehoben, daß Gottsched an der Stelle unseres kläglich heruntergebrachten
Theaters ein französirendes aufgertchtet habe, ohne zu untersuchen, ob es auch mit unserer Denkart übereinstimme.
Wolle unsere neue Literatur
sich zu einer deutschen, zu einer Nationalliteratur entwickeln, so würde sie
hierzu, wenigstens im Drama, besonders in der Tragödie weit sicherer
und schneller durch den Anschluß an die sinneSverwandten englischen Dichter Johnson, Beaumont, Fletcher und vorzüglich Shakespeare, als durch die
Nachahmung der Franzosen gelangt sein.
Lessing eröffnete in demselben
Jahre mit dem Hervortreten des „Briefes über das deutsche Theater"
gegen die heroische französische Tragödie seinen großen kritischen Feldzug in der „Hamburgischen Dramaturgie". Sturz nimmt in der Beurtheilung
der französischen Tragödie denselben Standpunkt ein; doch ist er im
Tadel maßhaltender: „Ich dächte mit der tragischen Muse sollten wir es
weniger als die Franzosen verderben,
denn noch
sind wir frei,
noch
seufzen wir nicht unter dem Joch eines angenommenen Wohlanständigen,
gegen welches der wirklich erhabene Corneille, der zärtliche Racine und der oft rührende Voltaire sich zuweilen vergeblich aufzulehnen versuchten,
wir haben noch kein Parterre, das, wie ihre Frauen vom Stande, mit Vapeurs geplagt ist, das, ohne übel zu werden, kein Blut sehen kann,
das ihre Helden verdammt, hinter den Coulissen zu sterben, und von
einem Römer oder Griechen Manieren des gesitteten Umgangs der letzten zehn Jahre verlangt.
Wir sind noch nicht genöthiget alle Handlung in
kalte Erzählungen, die Leidenschaften
in Gemälde derselben,
und den
ganzen tragischen Dialog in eine pathetische Conversation zu verwandeln." (Während seines Aufenthaltes in Paris gewann Sturz eine günstigere Ansicht von der französischen Tragik*): den
„Alle Fremde spotten gern über
Man findet darin eine taktrichtige,
französischen Theateranstand.
widernatürliche Zierlichkeit, eine hochtrabende Menuettenmanier, die auf
die Tanzböden gehört. Allerdings übertreiben sie, für den nordischen Ge schmack, Stellung, Gang und Deklamation; aber man überlegt nicht, daß
sie nicht für uns, sondern für ihre Landsleute spielen.
Jedes Volk ist
gewohnt, durch ein eigenes Medium zu sehen; man täuscht und rührt uns
nur, wenn man die Vorstellung in unsern Sehwinkel stellt, und unsern Sitten näher bringt.
Vollkommene Wahrheit alter oder ausländischer
Sitten wird, weder von dem Dichter, noch dem Schauspieler, erreicht; sie ist auch zu fremd für unsere Empfindung.") Sturz hält es für so schwer
nicht, zwischen der weitgehenden englischen Verletzung der Einheitsregeln
und ihrer peinlichen Beobachtung durch die Franzosen ein Mittelmaß zu treffen, wie ja auch Lessing gethan hat. Ueberhaupt aber spricht er gegen
die
Beurtheilung
Muster.
unsere-
Drama'- nach dem
auswärtigen
„ES sei bei dem künftigen Kunstrichter der unterscheidende Cha
rakter der deutschen Theaterscribenten, daß sie nie die Gesetze der Illusion beleidigen, daß ihre Helden die Sprache ihrer Zett geredet, und gehandelt
haben, wie in der Geschichte."
Sturz verlangt von unseren Dramatikern
die Bearbeitung nationaler Geschichte. Die Aussichten auf eine gute deutsche Komödie liegen ihm noch in
der Ferne: Am Lächerlichen fehlt es uns nicht, aber welche Sitten sollen wir schildern? Die Sitten einer einzelnen Provinz? ... Haben wir eine Hauptstadt,
die uns alle versammlet, die uns mit uns selber bekannt
macht? die den Ton angibt, deren Moden Gesetze für die ganze Nation sind? ... Der größte Theil unseres Vaterlandes sind, wie Moser sagt, noch moralische Wälder und Heiden.
Der Witz des Umgangs, der geist
volle Scherz, die lachende Satire, die Urbanität (eine Sache, die unsere Sprache noch nicht nennt), alles dieses sind Kennzeichen der schönsten Zeit
eines Volkes;
Moliäre konnte
boren werden.
auch rauhe Nationen
haben ihre Offiane gehabt, aber
nur unter Ludwig dem Großen, nur in Frankreich ge Wir haben leider eine Originallaune, die, als Karikatur
betrachtet, nicht ohne glückliche Züge ist, ich meine die Possenspiele des
Hanswursts, sobald wir aber die komische Sprache verfeinern wollen, so
werden wir fade oder gekünstelt.
Die höhere Komödie kann uns nicht
wohl besser gelingen; denn in der guten Gesellschaft sind wir meistentheilS
*) Schriften I, 92 f.
keine Deutsche mehr, unsere Sitten sind nachgeahmt und unsere Einfälle übersetzt, unsere ganze Artigkeit ist, wie Haman Böhme weissagt, aus französischer Seide gesponnen, und wenn wir diese schielenden Geschöpfe auf's Theater bringen, so copieren wir die Copie.
Die Regierungs
form in Deutschland trägt unstreitig sehr viel zu der Unfruchtbarkeit un
serer Charaktere mit bei; die deutsche Freiheit ist nicht viel mehr als eine Redensart in dem Stile der Reichs- und Kreistage; wir empfinden nach
drücklich genug die schwere Hand unserer Beherrscher, die bis an die Grenzen ihrer Staaten herumreichen, und sie durch und durch mit ihrer
Gewalt ausfüllen, wir werden nach dem Ton ihrer Höfe unterthänig er zogen, nach kleinen Ansichten gebildet, wie Bäume in geschmacklosen Gärten
in schnörkelhafte Gestalten verschnitten, Staubregen ihrer Wohlthaten erquickt.
und nur sehr sparsam durch den Was Wunder wenn
man
auf
dem deutschen Boden nur ungesunde Stauden und Buschwerk wahrnimmt?
.. . Dem ohngeachtet gibt es auch in Deutschland interessante Charaktere, ich zeichne die Schwierigkeiten nur aus, und spreche dem Genie die Fähig
keit nicht ab, den leblosen Stoff zu beseelen." „Wenn jedoch auch unter uns ein dramatisches Genie aufstände!"
fährt Sturz fort „Wo sind die Acteurs, die eS nicht durch ihre Vor stellung entehren?" Zu den glänzenden Ausnahmen gehörte freilich das Nationaltheater in Hamburg, an deffen Freunde und Beschützer dieser Brief gerichtet ist,
Johann Friedrich Schönemann, der sich hier
1740 mit seiner Truppe
niederließ, hob in derselben Ordnung und Sitte. Unter ihm bildeten sich die großen Mimen Eckhof, Ackermann und Schröder.
Nachdem Schöne
mann 1757 abgegangen war, übernahm Koch die Leitung und führte sie
mit bestem Erfolge. Der drittle Vorsteher (seit dem I. 1763) war Acker mann, unter dem, besonders durch die Verdienste seines Schwiegersohnes
Friedrich Ludwig Schröder, die Hamburger Bühne ihren Glanzpunkt er
reichte und den eigentlichen Anfang des heutigen deutschen Theaters bil dete. Johann Friedrich Löwe errichtete dieser Bühne gegenüber ein stehendes
Theater oder sogenanntes Nationaltheater, dem Ackermann im October 1766 sein Schauspielhaus auf 10 Jahre vermiethete.
Löwe wurde als
Direktor und UebungSlehrer eingesetzt und Lessing als Dramaturg und Consulent berufen. Am 22. April 1767 wurde das neue Theater eröffnet, und an demselben Tage kündigte Lessing die Hamburgische Dramaturgie an.
Löwe gab Vorlesungen und Direktion auf, und sein Nachfolger in
der letzteren wurde Konrad Eckhof, der deutsche Garrick, der Vater unserer
Schauspielkunst, dessen edle Persönlichkeit diesem Stande zuerst seine eigent
liche Würde verlieh.
Nächst ihm sind unter den Mitgliedern des Ham-
Bürger Nattonaltheaters David Borchers und die Frauen Mecoeur, Hensel und Löwen mit Auszeichnung zu nennen.
Das glanzvolle Unternehmen stand freilich auf schwankendem Boden.
Aeußerc Mißverhältnisse, Hader und Ungehorsam unter den Darstellern führten schon am 25. November 1768 das Ende herbei.
So viel über eine großartige Episode in der Geschichte des deutschen Theaters, deren Sturz mit eingehender Aufmerksamkeit hätte gedenken sollen.
In seiner allgemeinen Schilderung heißt es Wetter:
„Wie lange ist
eS her, daß die Neuberin wagte, die gesunde Vernunft-auf hxm deutschen
Theater einzuführen? ...
WaS waren unsere Schauspieler damals, und
was sind sie größtentheils noch? ein Haufen Unglücklicher, die kein Trieb, kein Ruf der Natur, keine unüberwindliche Neigung, nein Verzweiflung,
die auf Ausschweifungen folgte, zu einander versammlet, die wie Aus sätzige von ihren Mitbürgern abgesondert leben, und so wie TheSpiS und sein Gefolge bei dem Anfänge der Kunst auf Karren hin- und herziehen. Setzen Sie hinzu, daß eS unsere Schuld ist, wenn ihre Seele noch immer
niedriger, noch immer unedler wird, daß nur wenige unter uns dem Vor
urtheil Trotz bieten, welches ihren Umgang mit Verachtung bezeichnet....
Moliöre, Baron, Garrik, Quin, die Oldfields, die ChampmZlö, die Le Couvreur, die Gaussin, die Clairon, haben alle in der feinen Welt ihrer Zeit gelebt, die größten Genie's der Nation waren ihre Freunde, und die
Helden des Volkes kehrten von der Bahn des Sieges in ihre Gesellschaft zurück. . . .
Daher der edle Anstand, das Gefühl des Erhabenen, das
die Handlung der Schauspieler belebt, die feine Nuance der Leidenschaft, in der Seele gezeugt, der wahre Ton, den ihr Herz angab, und ihr Blick
aussprach. ...
Wo ist der deutsche Fürst, der nicht lieber fünf franzö
sische Tänzer, als einen deutschen Schauspieler besoldet? wie kann bei
dieser Verachtung, bei dieser Erniedrigung der Kunst ein Genie dazu an gelockt, wie kann eS, wenn eS sich zufälliger Weife findet, entwickelt und
emporgehoben werden? ... Ich habe Deutsche gesehen, die den Sturm der
Leidenschaft, Wuth, Rachsucht, Verzweiflung, Raserei sehr glücklich auSdrückten. . . .
Aber die stille Größe, die heiligen Schauer er
regt, die hohe Simplicität, welche die Werke des Sophokles ganz erfüllt, so wie des Phidias Jupiter seinen Tempel ganz
mit dem Gotte;
der edle Stolz einer
über alles erhabenen
Seele, den auch Corneille zuweilen erreicht, noch öfter aber mit dem
Geiste der Ritterschaft verwechselt, hierzu ist unseren Schauspielern
(mit den oben erwähnten sehr gewichtigen Ausnahmen) auch nicht ein Ton verliehen. . . .
Wie soll es aber der Schauspieler machen, um
sich zum Erhabenen, zum Großen zu bilden, das unter dem freien griechi schen Himmel, und in der schönsten Zeit von Rom, nicht allein die Eigen schaft der Helden, sondern auch der Dichter, der Künstler und der Acteurs war? wo ist die hohe Natur, die er nachahmen könnte?" Hieran reiht Sturz einige Bemerkungen über das Verhältniß der Naturnachahmung zum Ideale, die gleichzeitig von dem Geiste Lessing'S
und Winckelmann'S durchdrungen sind. „Die Erfindung der idealifchen, das ist, der höchsten Schönheit, in jedem Werke des Genie'S ist fern von der Nach ahmung ejneS einzelnen Objekts in der Natur, sie schränkt sich nicht einmal auf die Geschicklichkeit ein, zerstreuete und individuelle Schönheiten zu einem Ganzen zu sammeln, eS gibt Geister, die eS wagen dürfen, um einen Punkt über die Linie der Natur hinüber zu schreiten. Das Ideal ist bei ihnen daS Resultat einer Reihe von Empfindungen und Vorstellun gen, auf welchen der Geist, wie auf einer Leiter, emporsteigt; auf der untersten Sprosse sieht das Genie eine neue Natur, der Schwärmer das Reich der Chimäre. Wer hat den Sänger des Messias in der Sprache höherer Wesen unterwiesen? Niemand sagt du BoiS hat die Musik des Pluton gehört, und in der Oper Alcest Dort Lulli, glaubt man sie zu hören; wurde der Apoll im Belvedere, an welchem nach Winckelmann'S Ausdruck nichts von der menschlichen Dürf tigkeit ist, in der Versammlung der Götter nach den Unsterblichen ge bildet? die Göttin der Liebe war dem Künstler nicht in seiner Werkstatt erschienen; aber, als sie ihr Bildniß erblickte, so fragte sie: wie der Dichter versichert, wo hat mich Praxiteles nackend gesehen?" Hiermit streift der Briefsteller an die von Gerstenberg herauSgege-
benen „Briefe über die Merkwürdigkeiten der Literatur", die Samm lungen, die 1766 und 1767 in Schleswig und Leipzig erschienen und kurzweg als schleswigische Literaturbriefe citiert werden: daß nur ein Werk
deS Genie'S, der unwiderstehlichen Inspiration, der göttlichen Manie auf den Namen der Dichtung Anspruch habe. Nach einer langen Reihe feiner Bemerkungen über die Schauspiel
kunst lenkt Sturz auf das Verhältniß des deutschen Trauerspieles
zum antiken ein:
„Der Verfasser der Literaturmerkwürdigkeiten hat be
reits richtig angemerkt, wie fehlerhaft es sei, die Trauerspiele aller Zeiten und Völker nach griechischen Mustern zu beur theilen und Begriffe, die wir von ihrer Ausführung abziehen, als ewige Gesetze zu verehren. Der Endzweck der Alten im Trauer spiel war, eine tragische Begebenheit in ihrem rührendsten Lichte zu zeigen,
und durch das Ganze, nicht durch das Colorit deS Details, dann zu rühren, dann zu schrecken.
Ihre Stücke sind daher voll von vortrefflichen
Situationen, von großen Sentiments und von der ihnen eigenen hohen unnachahmlichen Einfalt, aber sie sind beinah ohne Contrast, und ganz ohne Charaktere (?), die Helden wurden nach einem bestimmten Ideal,
wie ihre Götter gebildet.
Homer hatte die Außenlinien der meisten ent
worfen und kein nachfolgender Dichter war so kühn, an dem ehrwürdigen
Riß nur einen Zug zu verändern.
Ich tadle diese Weise auch in unsern
Trauerspielen nicht, so bald wir entweder ähnliche, oder nur so allgemein
bekannte Sujet- abhandeln,
daß
eS
ein fruchtloses Unternehmen sein
würde, Costume oder Charaktere zu beobachten.
Ganz anders verhält es
sich aber mit Vorfällen aus der aufgeklärten Geschichte, und noch be
stimmter muß der Verfasser eines aus dem gemeinen Leben genommenen bürgerlichen Trauerspiels verfahren, denn er soll nicht allein rühren, son
dern auch malen." Hiermit sind Lessing'S Bemerkungen in der Hamburgischen Drama
turgie zu Anfang des 59. Stückes zu vergleichen.
Obgleich Stürzens Mitarbeit an den oben erwähnten Schleswig'schen Literaturbriefen*) zweifelhaft
ist, prägen sie doch im Allgemeinen die
Ideen aus, die sich in Sturz unter den Einwirkungen seiner dänisch deutschen Umgebung entwickelten, aber bei ihm einer größeren Maßhaltung
begegneten.
Den literarisch-revolutionären Tendenzen der auftauchenden
Genieperiode erkannte er eine Berechtigung zu, verlor aber dabei nicht
den Sinn für die geschichtliche Entwicklung,
tadelte und verspottete in
demselben Geiste, wie Lessing auf den letzten Blättern der Hamburgischen Dramaturgie den Wahn der jüngeren Generation, daß mit ihr zuerst eine Literatur beginne**).
Sturz' Ideen über die bildende Kunst finden
wir hauptsächlich in einem Fragmente über die Schönheit***) aus gesprochen. Die bildende Kunst war ein Haupttheil seiner Nebenbeschäftigungen und man schätzte hier an ihm nicht bloß die Richtigkeit und Feinheit deS
Geschmackes, er war auch als Zeichner und Maler im Fache des Por-
traitierenS, namentlich als Pastellmaler angesehen.
In Kopenhagen, Ham
burg, Hannover, Gotha findet man Werke der letzteren Art, die von .ihm
*) Vgl. Koch S. 76 ff. **) Vgl. Schriften I, 47 f 213. II, 83. 289 f. ***) Schriften I, 222 ff. — Anregende Ideen, aber mehr fragmentarisch hingeworfen und mit geringerer Präcision, als in dem „Fragment über die Schönheit" ausgedrückt finden sich in den „Ergänzungen" bei Koch @. 265 ff. Sturzen« Brief an Lesstng vom 23. September 1767, bei Koch S. 280 ff. enthält kritische Randbe merkungen zum „Laokoon", die keine besondere Gedankenausbeute gewähren.
Prmßische Jahrbücher, ißt. XLVIII. Heft 3.
22
Helfrich Peter Sturz.
304
herrühren.
Die große Lavater'sche Physiognomik enthält Stiche nach seinen
Zeichnungen, so einen Garrick und vor allen*) eine Beatrice Cenci nach Guido (oder Dolci), von Lips gestochen.
Das „Fragment über die Schönheit"
handelt von der Schön
Allerdings gibt es für diese nach Sturz
heit der menschlichen Gestalt.
„einen Maßstab der Schönheit; er ist aber nicht, wie die Tugend, durch eine Offenbarung
bestätigt,
nicht
vom Himmel,
sondern
aus
Griechenland geholt, wo die Natur in einem gemäßigten Erdstrich, wie Winckelmann sagt, nicht mit ihren äußersten Enden kämpft, keine Formell überzeitigt und keine unreif lassen muß;
und wirklich gelingt
jedes ihrer Produkte nur in einer Zone höchst vollkommen, also wohl die ES gibt ein Gesetz, meint der Essayist, nach dem
Menschengestalt auch."
wir die Schönheit beurtheilen;
aber
es stammt nicht aus Ideen, die
geoffeilbart oder bevorzugten Geistern eingeboren sind; es stellt sich viel mehr in iltatur- und Kunstformen der Griechen dar, von welchen es an dere Völker gelernt haben.
„Unsere höchste Schönheit hat also mit der
Göttin der Liebe ein gemeinschaftlich Vaterland;
erleuchtete Völker
haben ihr gehuldigt, aber noch ist sie nicht durch die Mehrheit der Stimmen anerkannt.
Die Griechen waren ein Völkchen, und der
aufgeklärte Theil von Europa ist es noch, gegen die Millionen, welche den Stumpfnasen, den kleinen, schiefen, eingesenkten Augen, den großen
Ohren und den gemästeten Weibern hold sind."
Die Frage, ob nicht alle
Völker bei unaufgehaltenem Voranschreiten ihrer Geistesbildung mit Noth
wendigkeit dahin geführt werden, die Formen der Griechen als den gesetz mäßigen, mustergiltigen Ausdruck der Schönheit anzuerkennen, läßt Sturz offen.
Es könnte
ja ein und derselbe Geschmack als Keim in allen
Völkern, in der menschlichen Natur überhaupt liegen und einmal in den
verschiedensten Völkern, durch die erwärmenden Strahlen deö Glückes be
günstigt, die Hülle der Barbarei durchbrechen und sich im reinen Glanze der Cultur zum vollen Leben entfalten.
Die Griechen hätten allen übrigen
uns bekannten Völkern gegenüber eine lange Entwicklungsgeschichte des
Geschmackes abgekürzt; ihr Schönheitsgefühl wäre das normale, absolute, wenn auch noch nicht in dem Hervortreten aller seiner Momente, also noch einer weiteren Entwicklung fähig; ihre ästhetische Bildung wäre die, wenn
auch noch nicht abgeschlossene Musterform einer künftigen ästhetischen MAbildung.
Sturz ist
bei
unverkennbarer Idealität der Gesinnung, im
Denken zu viel Empiriker, um ein über allen Völkern schwebendes oder in allen sich aus dem Dunkel emporarbeitendes gemeinschaftliches Gesetz
*) IV, 125, Taf. 5.
der Schönheit auszusprechen*).
Sturz wirft die Frage auf,
ob die
Griechen das Ziel erreicht haben, beantwortet sie aber nicht durch
die Vergleichung mit der späteren Kunstgeschichte, sondern durch Bemer kungen über die malerische Darstellbarkeit des Gottmenschen.
„Verlangt Klopstock zu viel, wenn er unS auffordert:
wir sollten die
Götter der Griechen Übertreffen, und unS den Empfindungen der Religion überlaffen, um des Menschen Sohn würdig darzustellen? ...
den Künstler über seine Grenzen heraus.
dert
Er for
Der Dichter
schwingt sich auf Höhen empor, wohin ihm der Künstler nicht nachfliegen
Jener kann uns für das Wesen, welches erscheinen soll, stufen
kann.
weise zu hohen Empfindungen stimmen;
er kann eS nicht allein fort
schreitend handeln, nicht allein eS reden lassen und selbst mitsprechen; sondern er stellt auch Eigenschaften und Vortrefflichkeiten dar, die ganz außer dem Gebiet der bildenden Kunst sind.
Diese Folge vereinigter Empfindungen
wächst endlich zum Totaleindruck eines hohen Ideals, das unsre ganze
Seele,
wie Jupiter seinen Tempel füllt, aber ohne ein deutliches
Bild; wir können die Erscheinung nicht haschen; sie zerfließt in ihrem
eigenen Lichte.
Was uns in den Gesängen des Messias für den Gott
mensch mit heiliger Bewunderung einnimmt ist keine Größe, die ge
malt werden kann, denn waS findet der Künstler in dem Stoffe seiner
Schöpfung, um den Dichter zu erreichen?
er, der nur Eine Sentenz
sagen, nur Einen Augenblick darstellen kann?
Kann er durch irgend etwas
des Menschen Sohn würdig charakterisiren, als durch die edelste Men schengestalt?
Wie kann er sie hervorrufen, wenn das Bild nicht in
seiner Seele lebte?
Und wie entstand es in seiner Seele, wenn er eS
nicht, entweder ganz
oder theilweise, lebendig, gemalt, oder in Marmor,
mit leiblichen Augen gesehen hatte? „Begetstre dich, junger Künstler, durch die hohen Gesänge des Messias, werde, wenn eS möglich ist seines
ganzen Dichterfeuers
voll, denn es erzeugt dir hohe Wünsche; aber nichts
von dem, was dich so mächtig durchströmte, artet in deiner Vorstellungs
kraft zu irgend einem vollkommnern Auge, einer schönern Nase, feineren Stirne; du wirst ringen nach edler Gestalt, nach Hoheit im Ausdruck; du
wirst alle deine Versuche verwerfen, und doch nichts besseres als die Phidiaster hervorbringen, wenn dir nicht angenehmere Erscheinungen ver
liehen sind." Sturz
wendet
sich
zu
dem
gegenseitigen Verhältnisse
Natur und der Kunst bei den Griechen:
der
„Aber fragt man: Waren
*) Vgl. „Ergänzungen zum Fragmente über die Schönheit" bei Koch S. 265 „Eigent liche absolute Schönheit zu suchen ist ein fruchtloses Beginnen ebenso fruchtlos als aujzusuchen was absolut gut oder übel schmeckt."
die Formen der griechischen Künstler nicht schöner, al- selbst die griechische
Natur?
Allerdings schöner, als eine individuelle Gestalt.
Wenn
Phrhne oder KampaSpe zur VenuS Anadyomene saß, so wählte doch Apell
nur die edelsten Züge der Mädchen, und vereinigte sie mit andern, die ihm sein Gedächtniß wiedergab.
Die schönste Göttin hatte nie unter
den Sterblichen gewandelt, sondern sie war ein Geschöpf deS Künst
lers, der sie rief auS dem Ocean der Natur. . . .
Die Fähigkeit
zu finden, waS in jeder Form vortrefflich und fehlerhaft ist, das letzte zu verwerfen, das erste zu wählen, sich (wie eS niemand besser als Reynolds
auSdrückt über Eigenthümlichkeit, Lokalität und Zufälligkeit zu erheben,
mit einem Worte, nur die Art,
keine besondere Gattung*) zu
malen, das ist hohes Künstlergenie.
Natur
überhaupt die Natur unter
in so
fern wird auch
PhidiaS
übertreffen,
ein
wären
In so fern also die griechische
einem
rauhern Himmel übertrifft,
griechischer Phidias
einen niederländischen
sie auch mit gleicher Fähigkeit
geboren.
Wer aber unter den schönsten griechischen Statuen noch wählen, noch auS solchen ein Ideal zusammensetzen könnte, (eine mehr gelehrte, als freie künstlerische Arbeit I) der würde mehr als Phidias sein.
Wir sind nicht
auf dem Wege zu dieser Veredlung; denn wohin sich der Forscher der Schönheit wendet, findet er Arbeit der griechischen Kunst."
„Ich kenne
nur zwei Maler, (und einer ist ein Deutscher) die noch Strahlen auffingen
von der hohen Kunst, ehe sie ganz unsern Gesichtskreis verließ." — *) Eine Unterscheidung, deren Kritik uns hier zu weit führen würde.
Professor Dr. G. Zimmermann.
Italien und das deutsch-österreichische Bündniß. (Politische Correspondenz.)
Berlin, 11. September 1881.
Die Erörterung der
Möglichkeit,
daß
Italien
sich dem
deutsch
österreichischen Bündnisse anschließen möchte, würde noch vor einem halben Jahre für eine rein akademische gegolten haben.
Ob die Frage wirklich
eine brennende ist, läßt sich auch heute noch nicht mit Sicherheit bejahen;
aber au Symptomen, daß dieselbe auch andere als publicistische Kreise beschäftigt, fehlt es nicht.
Daß die Aussicht auf eine neue Annäherung
an Italien in Deutschland, d. h. in der öffentlichen Meinung Deutsch lands nicht lebhaftere Bewegung hervorruft als thatsächlich der Fall, ist zum mindesten nicht die Schuld der deutschen Politik.
Die Zeit ist vorbei,
wo der ParalleliSmus gleicher nationaler Bestrebungen ein sympathisches
Band zwischen den beiden Völkern knüpfte.
Die Allianz von 1866 hatte
in Deutschland einen bittern Nachgeschmack hinterlassen, der durch daS: „Etwas
mehr Licht"
Lamarmora'S nicht
eben verwischt wurde.
Die
Rücksicht auf Napoleon III., den angeblichen Schöpfer der italienischen
Einheit hat stets die Politik Victor Emmanuel's beherrscht und doch hat
Italien fast jeden Fortschritt in seiner Entwickelung nur im Widerspruch
mit den in Paris herrschenden Absichten erzielt. Der AuSbrsich des französisch-deutschen Krieges trug Italien die Ab
berufung der französischen Besatzung aus Civita Vecchta ein; die Schlacht bei Sedan und der Sturz des französischen Kaiserreichs ermuthigten die
Regierung, von der Hauptstadt Besitz zu ergreifen und der weltlichen Macht
des Papstthums ein Ende zu machen.
Der Sieg der deutschen Waffen hatte
Italien in den Besitz von Rom gesetzt und dennoch waren eö italienische Freischärler unter Anführung Garibaldi'S, welche an der Seite der re
publikanischen Truppen in Südfrankreich kämpften.
ES ist nicht zu viel
gesagt, daß der Protest gegen jede Einmischung in die innere Politik an derer Nationen, welchen
der erste deutsche Reichstag in die AntwortS-
Adresse auf die Thronrede des deutschen Kaisers einflocht, weniger von
der Sympathie für Italien, als von der Antipathie gegen das Papstthum eingegeben war, dessen Vorkämpfer die eitle Hoffnung genährt hatten, das
deutsche Kaiserreich werde in die Fußstapsen Napoleon III. treten.
Und
doch war es nur die Haltung Deutschlands, welche der italienischen Re
gierung den Muth gab, zehn Jahre nach dem Parlamentsbeschlusse, trotz der Abmahnung Frankreichs von der nationalen Hauptstadt Besitz zu er greifen.
Vom Jahre 1871 ab war eS dann die Furcht vor dem fran
zösischen Nachbar, die Italien mehr und mehr an die Seite Deutschlands drängte.
In jenen Jahren war es die Forderung der Restauration deS
Kirchenstaates, hinter welche die französischen Nevanchegelüste sich versteckten.
Bei der Berathung
über das Schulaufsichtsgesetz im Herrenhause am
6. März 1872 verlas Fürst Bismarck einen ihm während der Sitzung zugegangenen „Bericht eines unserer erfahrensten und angesehensten Ge sandten", der sich also äußerte:
„Wenn ich meine persönliche Meinung
aussprechen soll, so gestehe ich, daß ich keinen Augenblick daran gezweifelt
habe, daß die in Frankreich gewünschte Revanche durch religiöse Zerwürf nisse in Deutschland vorbereitet werden soll, und nur auf diesem Wege
Hoffnung auf Erfolg haben kann. Kraft auf diesem Wege lähmen.
Man will die deutsche Einheit und
Ein einflußreicher Theil deS katholischen
CleruS (in Deutschland?), der von Rom aus geleitet wird, ist der fran
zösischen Politik dienstbar, weil mit ihr die Hoffnungen auf die Restauration im Kirchenstaate zusammenfallen.
In Frankreich ist vorübergehende Ver
schmelzung oder vielmehr gegenseitige Düpirung deS clericalen und re
publikanischen Elements möglich, sobald der CleruS Rache an Deutschland und Wiederherstellung französischer Oberherrschaft offen auf seine Fahne schreibt, unter welcher Regierungsform eS sei.
So hofft man wieder zu
erstarken, während in Deutschland durch wohlorganisirte Arbeit deS von Paris, Rom, Genf, Brüssel geleiteten CleruS kirchliche Zerwürfnisse mit aller Anstrengung vorbereitet werden. . . .
Man mache sich keine Täu
schung darüber, daß gleichzeitig mit der Revanche gegen Deutschland der Schlag gegen Italien vorbereitet wird, in der Hoffnung,
daß
Deutschland durch innere religiöse Wirren paralysirt werden solle und daß daS clertcale Element, während es in Deutschland und Polen langsam
zersetzend wirkt, in Italien offen daS französische Banner aufpflanzt und unter seinem Schutze daS Land unter päpstliche, oder vielmehr französische, durch den Papst repräsentirte Herrschaft zurückführen soll."
So standen
die Dinge unter der Präsidentschaft deS Herrn Thiers, der nicht einmal
den Muth hatte, die Bischöfe, die die Regierung zur Einmischung in die italienische Politik drängten, offen und energisch zur Ruhe zu verweisen.
Schon im Februar 1872 trifft Prinz Carl zum Besuch in Rom ein — ein Schritt,
der die französische Republik veranlaßt, den bis dahin
offenen Posten eines Gesandten bet dem König von Italien auszufüllen.
Einige Monate später treten Kronprinz Humbert und seine Gemahlin, Prinzessin Margherita die Reise nach Berlin an.
Mit dem Sturz des Herrn Thiers und der Erhebung des Marschalls Mac-Mahon zum Präsidenten (Mai 1873) steigt die reactionäre-ultramontane Fluth. des
Schon im September geht Victor-Emanuel in Begleitung
Ministerpräsidenten
Minghetti,
des
Ministers
des
Auswärtigen
BiSconti-Venosta und einer glänzenden Suite von Generälen erst nach
Wien, dann
nach Berlin zum Besuche des „alten Allitrten".
Italien jubelt erleichtert auf.
Ganz
Die guten Beziehungen zwischen Italien
und Deutschland veranlaffen Frankreich, endlich das im Hafen von CtvitaBecchta zur Verfügung des Papstes stationirte Kriegsschiff L'Orönocque
abzuberufen (October 1874).
DaS Jahr 1875 war der Höhepunkt der
deutsch-italienischen Freundschaft und zugleich das Jahr, in welchem der
Culturkampf in Deutschland den weitesten Umfang und die denkbar größte Schärfe angenommen halte.
ES ist das Jahr der eigentlichen Kampf
gesetze, der Aufhebung der Verfassungsartikel, der Auflösung der Kloster gesellschaften und der Verhängung der Temporaliensperre in Preußen.
Diese gesetzgeberischen Maßregeln waren gewissermaßen die Antwort auf
die Encyclica deS Papstes PtuS IX. vom 5. Februar an die Erzbischöfe und Bischöfe in Preußen, in welcher der Papst, anknüpfend an die Ab
setzung des Erzbischofs von Gnesen und Posen und deS Bischofs von
Paderborn, klagend die Stimme erhob „gegen jene Gesetze, welche die Quelle jener bereits vermerkten und vieler noch zu befürchtenden Uebel thaten sind" — und für die durch gottloft Gewalt niedergetretene kirchliche
Freiheit mit aller Entschiedenheit und mit der Autorität deS göttlichen Rechtes auftrat.
„Um diese Pflicht Unseres Amtes zu erfüllen", hieß es
weiter, „erklären Wir durch dieses Schreiben ganz offen Allen, welche es angeht, und dem ganzen katholischen Erdkreise, daß jene Gesetze un gültig sind, da sie der göttlichen Einrichtung der Kirche ganz
und gar widerstreiten".
Es wolle scheinen, „als ob jene Gesetze
nicht freien Bürgern gegeben, um einen vernünftigen Gehorsam zu fordern, sondern Sclaven aufgelegt seien, um den Gehorsam durch deS Schreckens
Gewalt zu erzwingen".
In den Motiven zum Sperrgesetz war aus
drücklich auf diese Kundgebung des Papstes hingewiesen, welche den Staat verpflichte, bis dahin, daß der römisch-katholische CleruS zum Gehorsam
gegen die Gesetze zurückkehre, ihm
zunächst alle Mittel zu entziehen,
welche er bisher zur Unterhaltung dieses CleruS beigetragen habe.
Wenn
der Staat das noch länger unterließe, so müßte ihn der schwere Vorwurf
treffen, daß er selbst seine Gegner in ihrem Widerstande stärke.
„Solchem
Vorwurfe darf er sich am wenigsten in einem Augenblicke aussetzen, in
welchem in deutschen und römischen Blättern in lateinischem Text wie in
deutscher Uebersetzung eine bezüglich ihrer Echtheit nirgends angezweifelte Encyclica des Papstes vom
5. Febr. d. I.
veröffentlicht worden ist,
welche jene Gesetze vor der katholischen Welt für Alle, die eS angeht, für ungültig erklärt und den Ungehorsam gegen dieselben sanctionirt hat — und die Erzbischöfe und Bischöfe in Preußen diese an sie gerichtete En cyclica, soweit bekannt,
ohne einen Widerspruch angenommen haben."
Auf einen unmittelbaren Erfolg des Gesetzes rechnete Fürst Bismarck
nicht.
„Der Papst, sagte derselbe im Herrenhause, und zehn Mal mehr
der Jesuiten-Orden sind viel zu reich, als daß es ihnen auf diese Summe ankommen könnte, ich sage nicht ohne Bedacht, der Jesuiten-Orden zehn
Mal mehr als der Papst; außerdem können sie ihre Besteuerungsart, die ihnen bisher gute Dienste leistete, anwenden.
Ich erwarte also keinen
großen Erfolg; aber wir thun einfach unsere Pflicht, indem wir die Un abhängigkeit des Staates und der Nationen gegen diese äußeren Ein
wirkungen schützen, indem wir die Geistesfreiheit der deutschen Nation
gegen die Ränke des römischen Jesuiten-Ordens und des Papstes ver treten; das thun wir mit Gott für König und Vaterland."
Bekanntlich
begnügte sich der Reichskanzler mit diesen inneren Maßregeln nicht. Wie
er schon im Jahre vorher anläßlich der Veröffentlichung der Enthüllungen deS Generals Lamarmora über das Jahr 1866,
welche eine Reihe von
bis dahin unbekannten vertraulichen Aktenstücken an's Licht brachten —
u. A. die bekannte Stoß-in'S-Herz-Depesche deS Grafen Usedom an die italienische Regierung
appellirt
in Form
Strafgesetzbuch,
einer Novelle
zum
und dieselbe veranlaßt
—
hatte,
welche den Mißbrauch
amtlicher Aktenstücke mit schweren Strafen belegte,
ein VerdammungS-
urtheil über das Verfahren deS Generals auszusprechen uud durch das
Parlament bestätigen zu lassen, so stellte er auch jetzt an die italienische Regierung die Frage, wie die italienische Regierung die Einmischung deS
Papstes in die inneren Angelegenheiten Deutschlands beurtheile,
und ob
sie, indem sie dem Papste durch das Garanliegesetz ein den auswärtigen Mächten unzugängliches Asyl gewähre, nicht die Verpflichtung fühle, ihrerseits
Garantien gegen den Mißbrauch des Asylrechtes zu schaffen; eine Frage, deren Beantwortung
die italienische Regierung, wie eS scheint,
unter
Berufung auf den innerpolitischen Charakter deS Garantiegesetzes ablehnte;
während der Papst in seiner Allocution vom 15. März die „Drohungen"
der preußischen Regierung verwerthete, um darauf hinzuweisen, welchen
Werth gewisse Gesetze (d. h. eben das Garantiegesetz) hätten, „welche
Ehrfurcht heuchelnd, um die Gläubigen zu täuschen. Unsere (deS Papstes) Freiheit und Würde zu wahren scheinen". Thatsächlich ging der Zwischen
fall vorüber, ohne die Beziehungen der beiden Regierungen zu erschüttern.
DaS Garantiegesetz, das, je nachdem das Ausland gegen den Papst oder der Papst gegen Italien reclamtrt, einen tnnerpolitifchen oder einen inter
nationalen Charakter hat, blieb unberührt.
Hatte doch Italien eben erst
die Unverletzlichkeit des Papstes für feine Reden selbst in dem.Falle an
erkannt, wo es selbst das Ziel der Pfeile gewesen war.
„Die so reichlich
dem hl. Stuhle gewährte Garantie, heißt eS in einem am 12. Febr. er
gangenen Erlaß deS JusttzministerS Vigliari an den Generalprocurator in Rom, könne nicht ohne Schaden, sobald sie die gesetzlichen Grenzen überschreite, die Controle deS Staates entbehren.
Die Unverletzlichkeit
des Papstes für feine Reden, mögen dieselben sein, wie sie immer wollen
und die ihm zuerkannte Freiheit, an den Pforten der römischen Kirchen die Verkündigungen seines geistlichen Amtes anschlagen zu lassen, schließe nicht
die Verantwortlichkeit derer aus, die durch die Presse oder aus andere Weise diese Erlasse weiter verbreiten, sobald dieselben eine Verletzung
der Einrichtungen und Gesetze deS StaateS enthalten."
Schon im April 1875 hatte Victor Emanuel die Genugthuung, den
Kaiser von Oesterreich auf italienischem Boden zu begrüßen und zwar, auf den eigenen Vorschlag Franz
Josephs, in Venedig, wo die beiden
Fürsten unter den Klängen der österreichischen Volkshymne die Versöhnung
feierten.
Der Gegenbesuch deS Kaisers Wilhelm ließ zunächst noch auf
sich warten; dagegen traf schon Ende April der deutsche Kronprinz mit der Kronprinzessin in Oberitalien zu längerem Aufenthalt ein und stattete
von Florenz aus dem Könige in Neapel einen Besuch ab.
ES war die
Zeit, wo in Frankreich das clerical-reactionäre Ministerium Buffet am Ruder war.
Endlich, im October verwirklichte sich die Hoffnung Italiens: Kaiser
Wilhelm entschloß sich zur Reise nach Mailand, eine Reise, die er selbst in dem telegraphischen Bericht an die Kaiserin als einen
„Der Einzug mit dem König in Mailand spottet aller Be
bezeichnete.
schreibung, so
Lebhaftigkeit. gesehen."
„Trtumphzug"
unaussprechlich
enthusiastisch war er bei der italienischen
Ich habe in meinem ganzen Leben nie etwas AehnlicheS
Bei dem
Galadiner sagte der Kaiser in Erwiderung
des
Toastes Victor Emmanuel's „auf das Heil Sr. Majestät, für das Ge deihen Deutschlands und für die fortdauernde Freundschaft der beiden Nationen", er erkenne in den zwischen Deutschland und Italien bestehenden
Sympathien und der ihn mit dem König verbindenden Freundschaft „eine
der Garantien für den europäischen Frieden."
Leider ging der Wunsch,
daß diese Beziehungen stets dieselben bleiben möchten, nicht in Erfüllung. Mit dem Jahre 1876 ändert sich die Lage.
In Frankreich erlitt die
„konservative und wahrhaft liberale Politik" des Marschalls Mac-Mahon
bei den Wahlen zum Senat und zur Deputirtenkammer, welche auf Grund der neuen Verfassung constituirt wurden, eine entschiedene Niederlage.
Wenigstens in der Deputirtenkammer hatten die Republikaner die Majo
rität.
Die französische Regierung hatte keine Zeit mehr, Italien zu be
drohen.
Die italienischen Patrioten athmeten auf.
„Das Bischen Herze
gowina" war zu einem Feuerbrand geworden, der trotz aller Löschversuche mit diplomatischen Noten die orientalische Frage von dem Scheintode er weckte — und genau ein Jahr nach dem Besuche des deutschen Kaisers in Mailand
den Kronprinzen und die Kronprinzessin von
finden wir
Italien auf der Reise nach St. Petersburg und die italienischen Blätter
— in Rom war inzwischen die Linke in den Besitz der Regierungsgewalt
gelangt — erörtern Annexion
mit unnachahmlichem Ernste die Eventualität einer
von Wälschthrol und Triest oder des Erwerbes
oder der italienischen Ansprüche auf Albanien!
von Tunis
Ein Stimmungswechsel,
der sofort zu einer ziemlich gereizten Polemik zwischen der italienischen
und der österreichisch-deutschen Presse führte.
Die Thronrede, mit der der
König am 20. November das neue, vorwiegend progressistische Parlament eröffnete, betonte in erster Linie die völlig freundschaftlichen Beziehungen Italiens zu allen Mächten, dann das Vertrauen in den Erfolg der Rath
schläge zur Mäßigung, welchen die Regierung ihre wirksame Unterstützung
geliehen habe. Endlich aber hieß es: „Getreu allen seinen Verpflichtungen, wird Italien niemals vergessen, daß es bei Uebernahme seiner Großmacht
stellung gleichzeitig eine Mission übernommen hat, welche dem Fortschritt der Civilisation gewidmet ist."
Damit ist die für Rußland sympathische,
Oesterreich bedrohende Haltung, welche Italien während der weiteren Phasen
der orientalischen Verwickelung einnahm, deutlich bezeichnet.
Aber mehr
als diplomatische Liebesdienste zu leisten, war die italienische Regierung
nicht im Stande, um so weniger,
als während des Jahres 1877 die
Staatsstreich-Politik Mac-Mahon's von Zeit zu Zeit patriotische Beklem mungen hervorrief, welche durch die Arbeiten an der Befestigung Roms
wenig erleichtert wurden.
Der Anfang 1878 erfolgte Tod Victor Em-
manuel'S, dem wenige Wochen später der ebenso plötzliche Tod des Papstes
folgte, blieb auf die italienische Politik ohne Einfluß.
Die Versöhnlichkeit,
welche Leo XIII. anderen Mächten gegenüber zur Schau trug, schien nur
darauf berechnet, die Gegnerschaft gegen Italien schärfer und gefahrdrohender hervortreten zu lassen.
Mit unbeabsichtigter Ironie verkündet die Thron-
rede bet Eröffnung der Parlamentssession (7. Februar):
„Die Mächte
Unsere aufrichtige
wünschen Europa einen dauerhaften Frieden zu sichern.
Unparteilichkeit wird unseren Rathschlägen höheren Werth verleihen und daS Beispiel unserer jüngsten Geschichte unS daS Argument bieten, um die der Gerechtigkeit und
den Rechten der Humanität am meisten ent
Dies ist unsere Ueberzeugung, welche
sprechende Lösung zu unterstützen.
unS die kostbarste Allianz, jene der Zukunft vorbereitet."
Congreß hat diese Prophezeiung bewahrheitet.
Die „Allianz der Zu
mächtigten kamen mit leeren Händen nach Hause.
kunst" war nicht compromittirt.
Der Berliner
Die italienischen Bevoll
ES ist die erste große Verwickelung seit
der Neugestaltung Italiens, bei der dem begehrlichen Südländer kein An»
theil
an der Beute gegönnt wird.
greiflich als verdient.
Die Enttäuschung war eben so be
Selbst wenn die Cairoli, Crispi und Genossen
auf dem Gebiete der auswärtigen Politik freie Hand gehabt hätten —
was bekanntlich nicht der Fall war — so
würden sie die Schranken,
welche die Haltung der deutschen Großmacht den Aspirationen der „Italia irredenta“ setzen mußte, nicht haben überspringen können.
Die „Italia
irredenta“ war im Grunde nichts anderes als eine neue, durch Zweig vereine über ganz Italien verbreitete Organisation der italienischen ActionS-
partei, die ihre Anstrengungen zunächst gegen Oesterreich concentrirte, in
der Hoffnung,
aus den Schwierigkeiten der inneren und äußeren Lage
Oesterreich-UngarnS Nutzen ziehen zu können.
Die Occupation der Her
zegowina und Bosniens auf Grund des Berliner Vertrags gab dieser
Agitation neue Nahrung und die Regierung glaubte schon Großes gethan zu haben, wenn sie der Liga die offictelle Anerkennung verweigerte.
Für
die Cairoli und Genossen war diese Ableitung der radicalen Strömung nach Außen, so heikel dieselbe auch die Beziehungen zu der österreichischen
Regierung gestaltete,
immerhin
eine Erleichterung.
In Frankreich war
Anfang 1879 Marschall Mac-Mahon gestürzt, der Sieg der Republikaner
über die Monarchisten, Bonapartisten und Clericalen eine Wahrheit ge worden.
In dem Moment, wo die ersten Friedenstauben zwischen dem
Vatican und der deutschen Hauptstadt wechselten,
die Aera deö Culturkampfs, der
begann in Frankreich
in seinen Rückwirkungen auf Italien
ungleich erfreulicher gewesen wäre, wenn nicht damals schon der Wett streit um den dominirenden Einfluß auf Tunis den engeren Zusammen
schluß Italiens und
Frankreichs
verhindert hätte.
Zur Zeit aber war
das Hauptaugenmerk beider Mächte noch nach Osten gerichtet.
Seit dem
Berliner Frieden waren die Beziehungen zwischen Berlin und St. Peters
burg sichtlich erkaltet, theils in Folge der Enttäuschung,
das Eingreifen des
„ehrlichen Maklers"
welche Rußland
in die Congreßverhandlungen
bereitet hatte, theils deshalb, weil Deutschland auch nach dem Friedens
schluß sorgfältig darüber wachte,
daß bei Ausführung des Vertrags die
günstige Position, welche Oesterreich-Ungarn
Weise benachtheiligt wurde.
errungen hatte, in keiner
England, das England Lord BeaconSfielb'S
nämlich, sah mit Recht in Oesterreich die Vormauer gegen die russischen, die loyale Ausführung des Berliner Vertrags in Frage stellenden Agitationen
und so bildete sich eine gewisse Solidarität der Interessen zwischen Eng land, Oesterreich und Deutschland heraus, welche Rußland auf das Tiefste verletzte, während Frankreich und Italien gezwungen waren, in einer mehr
passiven Rolle die weitere Entwickelung
Daß damals —
abzuwarten.
Sommer 1879 — Versuche gemacht worden sind, für gewisse Eventuali täten eine Verbindung zwischen den drei Unzufriedenen anzubahnen, ist
zweifellos, so wenig sich auch der Punkt bezeichnen läßt, bis zu welchem
das Einverständniß gediehen war.
Auf alle Fälle haben die künstlich
gesponnenen Fäden dem kühnen Griff, den der Reichskanzler durch den Abschluß des deutsch-österreichischen Bündnisses that, nicht widerstanden.
Im Frühjahr 1880 aber schien ein ganz unvorhergesehenes Ereigniß, der Sieg der Whigs bei den Neuwahlen zlim englischen Unterhause eine den Hoff nungen Italiens günstige Diversion einzuleiten. Die englische Politik schwenkte
mit einer für den Kaiser von Oesterreich persönlich verletzenden Heftigkeit
nach der Seite Rußlands ab, angeblich um die völlige Ausführung des Berliner Vertrages seitens der Türkei zu erzwingen.
Gladstone hoffte
nicht mehr und nicht weniger, als mit Hülfe Frankreichs und Italiens
und unter passiver Assistenz Rußlands über Deutschland und OesterreichUngarn zur Tagesordnung
übergehen zu
können.
Die endlosen DiS-
cussionen über die montenegrinische und die griechische Grenzfrage aber
nahmen ein für Gladstone höchst überraschendes Ende.
Seit der Ber
liner Conferenz über die griechische Grenzfrage war Frankreich, auf dessen Verfeindung mit Deutschland das
ganze Gebäude der
Actionspolitik ruhte, unsicher geworden.
Gladstone'schen
Die Regierung lehnte die ihr
zugedachte ehrenvolle Rolle, als Mandatar Europa's für Griechenland die Kastanien aus dem Feuer zu holen, höflich aber entschieden ab.
Ende
1880 war England auf der einen, Italien auf der andern Seite völlig isolirt; Rußland an die nihilistische Wand gedrängt; die beiden Verbündeten, Deutschland und Oesterreich-Uligarn im Verein mit Frankreich Herren
des
diplomatischen Schlachtfeldes.
Die Türkei sah sich allerdings ge
zwungen, den Berliner Vertrag zu executiren und auch Griechenland eine
sehr
erhebliche
wenigstens
Grenzberichtigung zuzugestehen,
aber sie tauschte dafür
die moralische Unterstützung der Mächte ein.
Die
irische
Frage hatte inzwischen in England jedes andere Interesse zurückgedrängt
und, um das Unglück voll zu machen, strich der Mord am Katharinen-
Kanal für's Erste auch Rußland aus der Reihe der actionsfähigen Mächte. Einen günstigeren Moment, dem Streit um Tunis ein Ende zu machen,
konnte Frankreich nicht finden; wer
will eS ihm verübeln,
daß cS den
selben auSnutzte, ohne Rücksicht auf eine Macht, die, stets in der Furcht, irgend eine Chance zu verlieren,
niemals
einen Einsatz gewagt hatte?
Selbst die Speculation auf die natürliche Eifersucht Englands gegen jeden
Concurrenten
an den Gestaden des Mittelmeers erwies
sich als irrig.
Und heute muß sich Italien sagen lassen, daß daS französische „Protectorat" über Tunis hätte vermieden werden können, wenn die italienischen Staats männer klug genug gewesen wären, Frankreich nicht zu provociren! Und wer
sagt das?
Niemand anders als der frühere Minister Lanza, der in einem
Schreiben an den Herausgeber der „Deutschen Revue" die gegenwärtige
Lage Italiens und die Gefahren seiner Zukunft in möglichst dunkeln Farben
schildert, um zu dem Schlüsse zu gelangen, daß es am Besten thun würde,
absoluten Jsolirung zu verharren.
in der Politik der
keinen Illusionen
darüber hin, daß
Lanza giebt sich
„Protectorat"
daS
Frankreichs
in
Tunis nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, daß Frankreich die neugewonnene Position auSnutzen wirv,
auch
gegen Italien.
In den
Häfen von Biferta und Tunis werde Frankreich Arsenale und Werfte
anlegen, so daß eS im Falle eines Krieges mit Italien bei weitem wirk samere Offcnsivmittel in der Hand haben werde als dieses.
der Zukunft wird in seltsamer Uebertreibung geschildert,
Die Gefahr um die
über
Frankreichs Vorgehen erbitterte Nation von jedem Schritt zurückzuhalten,
der den französischen Machthabern unbequem
Frankreich
einerseits
sein
könnte.
„Zwischen
und Oesterreich nebst Deutschland andererseits ge
legen, war es (Italien) Jahrhunderte lang eine streitige Beute, bot eS
den Antrieb zu langen und hartnäckigen Kämpfen zwischen diesen Mächten, öfter auch
die Veranlassung zu großen Umwälzungen.
Jetzt ist
nicht
allein die Ursache des Streites hinweggenommen, sondern Italien hat auch das größte Interesse, Alles daran zu setzen, damit er sich nicht wieder hole;
auch hat
eö die Macht erlangt,
ihn verhindern zu helfen.
italienische Politik muß daher darnach trachten,
Die
die Freundschaft beider
Mächte (d. h. Frankreichs und Oesterreich-Deutschlands) sich in gleicher
Weise zu verschaffen,
indem eS bei jeder neu auftauchenden Frage die
Vertheidigung des guten Rechts (etwa
rechtigkeit" Gambetta'S?)
auch die der „immanenten Ge
übernimmt und
indem
eS sich fern hält von
jedem irgendwie gewagten Unternehmen und von Tendenzen, welche bet den benachbarten Mächten Verdacht und Mißtrauen erregen können.
Man
hat zum Oefteren die Nothwendigkeit für Italien betont, Bündnisse abzu-
schließen, welche es gegen eventuelle Gefahren im Voraus sichern könnten,
aber in der Regel pflegt man Bündnisse nur in der Voraussicht un mittelbar bevorstehender Conflikte und für einen bestimmten und festen
Zweck abzuschließen.
Glücklicher Weise befindet sich
Italien
nicht in
solcher Verlegenheit, denn es ist von keiner Seite bedroht." Lanza läßt einen Punkt — und zwar den wichtigsten, absichtlich bet
Seite: daß die Freundschaft Oesterreichs nur um einen Preis feil ist, um den Preis des entschlossenen Bruchs mit der Fiction, daß der junge Staat
seine ganze Existenz und die Möglichkeit jeder gesunden innern Entwickelung auf'S Spiel setzen müsse, um die unter dem Joche der „Fremdherrschaft"
schmachtenden Stammesgenossen in Triest und Trient zu befreien und der Ein sicht, daß selbst in dem Falle, wo eS Italien mit Hülfe irgend einer Allianz
gelänge, Süd-Tirol an sich zu reißen, Deutschland nie dulden würde, daß
der Hafen von Triest und das sogenannte Einfallsthor von Trient in die
Gewalt Italiens fielen.
Den genauen Inhalt des deutsch-österreichischen
Bündnißvertrages kennen wir nicht; aber daß nach dieser Seite hin der Besitzstand Oesterreichs garantirt ist, kann um so weniger bezweifelt werden,
als Deutschland schon während des russisch-türkischen Krieges der italieni schen Regierung zu verstehen gegeben hat, es werde einen Angriff auf das
Grenzgebiet Oesterreichs nicht dulden.
Zwischen Oesterreich, Deutschland
und Italien steht nichts als die Italia irredenta, mit einem Worte: die
radikale und republikanische Partei; dieselbe, die jetzt eine Annäherung der Regierung an die Cabinette von Berlin und Wien mit der Phrase
zu hintertreiben sucht, der König von Italien würde an den beiden Höfen
verschlossene Thüren finden, wenn er nicht feierlich vor ganz Europa den absoluten Verzicht auf Trient und Triest verkündige.
Der Erklärungen
bedarf eS nicht, wenn die italienische Regierung endlich Ernst zeigt, einer Agitation ein Ziel zu setzen, welche ihre Autorität im eignen Lande auf daS Bedenklichste erschüttert.
ES bedarf auch nicht der andern Erklärung
daß Italien die Vorherrschaft Frankreichs in Tunis anerkenne.
Die Po
litik der letzten Monate hat die Ohnmacht Italiens in der Tunesischen
Frage zur Genüge coristatirt.
Seine Annäherung an Deutschland ist un
denkbar, wenn dieselbe von dem Hintergedanken
eingegeben wäre, in
Berlin eine Stütze zu finden, die eben erlittene Niederlage wett zu machen.
Niemand kann es für möglich halten, daß Deutschland einer italienischen Allianz zu Liebe Frankreich zu dem Revanchekrieg geradezu herausfordern
könnte.
Wenn die Eventualität einer Verwickelung mit Deutschland nicht
ausgeschlossen wäre, würde Italien sich wahrscheinlich über Frankreich nicht
zu beklagen haben. In Wirklichkeit ist die Lage nicht die, daß Deutschland-Oesterreich der
Allianz Italiens bedürfen, sondern daß Italien daS Bedürfniß fühlt, in vas neue „europäische Concert" ausgenommen zu werden.
Das Gefühl
der Vereinsamung und daS Bewußtsein der daraus entspringenden Gefahr wird durch die Möglichkeit einer Aussöhnung des deutschen Kaiserreichs mit dem römischen Stuhl nicht abgeschwächt werden.
Länger als ein Jahr
zehnt hat der Conflict zwischen dem Vatikan und der deutschen Regierung der letztern die Pflicht auferlegt, Italien zu schützen.
Mit dem Friedens
schluß zwischen Berlin und Rom fällt dieser für Italien so wohlthäige
Zwang fort.
Und noch mehr.
In Italien weiß man wohl am besten, daß Leo XIII.
nicht das Ziel der päpstlichen Politik aufgegeben, sondern nur die Mittel
gewechselt hat, mit denen er die Wiederherstellung des Papstthums er strebt.
Die ersten Kundgebungen deS neuen Papstes haben überall den
Eindruck gemacht, als ob der italienische Papst nur Italien unversöhnlich
gegenüber
stehe.
Und solange eine Aussöhnung deS Papstthums
mit
Italien nicht erfolgt, ist jede Besserung in dem Verhältniß deS Papstes
zu den europäischen Staaten eine indirekte Bedrohung Italiens.
ES war
augenscheinlich kein zufälliges Zusammentreffen, daß gerade in der Zeit, wo die Verhandlungen mit Berlin wieder ausgenommen wurden, die Curie
und Papst Leo XIII. selbst eS unternahmen, die scandalösen Vorgänge der Nacht vom 12. auf den 13. Juli als eine Bedrohung des Papstthums bar«
zustellen und an Europa zu appelliren.
Pius IX. hatte in seinem Testa
mente angeordnet, daß seine Leiche in der Basiltca deS h. Laurentius außerhalb ver Stadt Rom beigesetzt werde.
Anordnung unausgeführt geblieben.
Drei Jahre lang war diese
Jetzt sollte die Leiche PiuS IX., des
Erfinders der Lüge von dem „Gefangenen im Vatican"
mitten in der
Nacht begleitet von Tausenden von Fackelträgern und unter den Klängen
der Todtenlieder die Stadt Rom in ihrer ganze Länge durchziehen.
Und
da beklagt man sich, daß die Gegner des unfehlbaren Papstes, der, wie Mario auf dem Meeting am 6. August auSrief, im Jahre 1848 unsere
Fahnen segnete, um sie 30 Jahre lang zu verfluchen, in jenem nächtlichen Aufzuge nichts anderes sahen, als eine Provokation!
In dem Rundschreiben
Mancini's an die Vertreter Italiens im Auslande heißt es in dieser Be ziehung: „Der italienischen Gesetzgebung sowie auch der Gesetzgebung an derer Länder gemäß sind religiöse Umzüge, selbst zur Tageszeit, außerhalb
der Kirchen und in den öffentlichen Straßen nicht gestattet, wenn die be
hördliche Bewilligung dazu verweigert wird. Nächtliche Umzüge, welche eine beinahe unvermeidliche Gelegenheit zu Unordnungen bieten, sind in Italien
geradezu verboten, selbst wenn sie keinen politischen Zweck und keine po
litische Bedeutung haben sollen.
An die Regierung deS Königs wurde
nicht nur kein Ansuchen um die Erlaubniß zur Abhaltung eines nächtlichen
Umzuges gestellt (welche Erlaubniß nothwendiger Weise verweigert worden wäre), sondern eS wurde überhaupt nicht um die Erlaubniß zur Abhaltung irgend eines Umzuges nachgesucht; ja, in dem Gesuche, welches von dem Architecten des Vaticanö, Grafen Vespignani als Beauftragten der drei
Cardinäle und TestamentSexecutoren des verstorbenen Papstes PiuS IX.
gezeichnet war, wurde die Abhaltung eines Umzuges der Gläubigen durch aus ausgeschlossen; die Uebertragung sollte zur Nacht, ohne die Leichen
wagen von einem anderen Gefolge mit Ausnahme von zwei oder drei
Wagen begleiten zu lassen, vor sich gehen und zwar in durchaus privater Form, gerade um jedwede Oeffentlichkeit auszuschließen und dadurch dem letzten Willen des Papstes selbst Genüge zu leisten.
In diesen Grenzen
und unter diesen Bedingungen gab die Behörde ihre Zustimmung.
In
Folge dessen bildet die einfache Thatsache, daß ein Umzug von Tausenden von Personen, mit Fackeln zur Nachtzeit abgehalten und früher geheimniß voll zusammenberufen und organisirt wurde, nicht nur eine Irreführung
der Behörden und einen Vorgang, der darauf berechnet war, die verein barten Bedingungen zu verletzen; sondern es ist dies schon an und für
sich eine flagrante Verletzung deS Gesetzes und eine strafbare Handlung,
deren Thäter und in erhöhtem Maße die Anstifter mit Fug und Recht der gesetzlichen Ahndung verfielen."
In der Allocution vom 4. August
sagte Leo XIU., aus jenen Vorgängen könne die katholische Welt ersehen,
waS eS mit der Sicherheit des Papstes in Rom auf sich habe.
Wenn
schon die Ueberführung der sterblichen Hülle PiuS IX. die unwürdigsten Ruhestörungen zur Folge gehabt habe, wie könne Jemand Bürgschaft da
für übernehmen, daß die Frechheit böswilliger Menschen nicht ebenso zu Tage treten würde, falls dieselben den Papst in einer seiner Würde ent sprechenden Weise durch die Stadt ziehen sähen.
DaS beweise immer
klarer, daß der Papst gegenwärtig nicht in Rom weilen könne, denn als
Gefangener im Vatican.
Mancini hat in dem erwähnten Rundschreiben
schon im Voraus gegen diese Schlußfolgerung protestirt, indem er be
merkte, wenn eS dem Papste genehm wäre, in den Straßen von Rom sich zu zeigen, so wäre das, weit entfernt, gleich den Vorfällen vom 13. Juli
eine ungesetzliche That und eine politische Provocatton zu bilden, in den Augen der Italiener die erwünschte Ausübung eines eminenten Rechtes
und die unmittelbare Anerkennung der gegenwärtigen Ordnung der Dinge.
Mancini hätte noch
hinzufügen können, daß die Ver
schwörungen gegen das Papstthum, über welche Leo XIII. Klage führt,
provocirt worden sind durch die offene Feindseligkeit deS Papstthums gegen den nationalen Staat.
Auf dem Meeting vom 6. August, an dem sich
übrigens nur Republikaner und von Mitgliedern des Parlaments nur Menotti Garibaldi betheiligten, wurde folgende Motion — deren Ver
lesung die Polizei freilich nicht gestattete — beschlossen:
daß
„In Anbetracht,
daS Papstthum und die italienische Einheit ein politisch-historischer
Widerspruch sind, daß die Päpste 35 Mal Fremdlinge nach Italien riefen,
daß das Papstthum die National-Souveränetät beeinträchtigt, daß das göttliche Recht, worauf daS Papstthum fußt, mit dem italienischen, VolkSrecht unverträglich ist, daß daS Papstthum
als religiöse Institution im
Geist, im Princip und im Zwecke die Selbstständigkeit der Vernunft und
des Gewissens verneint, jedem modernen Rechtsbegriff widerspricht und sich
im Dunkel deS Mittelalters verliert (I),
daß das
Garanttegesetz als
Stützpunkt der souveränen Autorität der Nation jenes Dunkel neu belebt (!): in Anbetracht alles dessen verlangt daS römische Volk die Abschaffung der
Garantiegesetzes und die Besitznahme
aller
päpstlichen
Paläste."
DaS
Greifbare In diesen wahnwitzigen Phrasen, die heute die Runde durch alle größeren Städte Italiens
machen,
ist die Verurtheilung deS Ga
rantiegesetze, über dessen Wirkungslosigkeit dieselbe Curie sich beklagt, die
demselben von Anfang an ihre Anerkennung versagt hat. der
im
Gesetze
Die Annahme
auSgeworsenen Dotation (3,225,000 Franken jährlich)
freilich hat der Papst verweigert,
weil die Annahme derselben
gleichbe
deutend sein würde mit der Anerkennung deS Status quo; von den könig
lichen Vorrechten, welche daS Gesetz ihm anweist,
macht er keinen Ge
brauch, um die Rolle des „Gefangenen im Vatican" spielen zu
im Uebrigen aber nutzt er die absolute Freiheit, mit vollen Händen gegeben hat,
können;
welche der Staat ihm
rücksichtslos aus,
um desto energischer
den Kampf gegen die „Räuber" deS Kirchenstaats fortsetzen zu können.
Auf
Grund der Freiheit, welche daS Garantiegesetz ihm einräumt, hat Pius IX.
den König Victor Emmanuel in seiner eigenen Hauptstadt in den Bann gethan; zahllose Allocutionen, die in der verletzendsten Weise die italienische
Regierung angrtffen, sind an den Thüren der Kirchen Roms angeschlagen worden.
Der Verkehr des Papstes mit den Katholiken aller Länder ist
keiner Controls unterworfen.
Die Regierung
hat sich jedes Einflusses
auf die Anstellung der Geistlichen begeben — und doch diese Klagen über die Unfreiheit, den Mangel an Unabhängigkeit deS Papstes und die be
ständige Drohung, das „Gefängniß" zu verlassen und im AuSlande Schutz
gegen die unerträgliche Tyrannei Italiens zu suchen! gegen das antinationale Papstthum,
Die Agitation
welche heute von den Radicalen in
Scene gesetzt wird, wer anders hat sie angefacht als die Schleppenträger der Curie selbst!
Jetzt, wo der Sturmlauf gegen das Garantiegesetz be
ginnt, möchte die clericale Presse demselben sogar einen internationalen Preußisch« Juhrbüchtr. Bd. XLVIIL Heft 3.
23
320
Italien und das deutsch-österreichische Bündniß.
Character vtndiciren, obgleich das Gesetz aus der freiesten Initiative der Regierung
hervorgegangen ist.
Nichtsdestoweniger wird die italienische
Regierung nie zulassen können, daß das Garantiegesetz in Frage gestellt wird.
Aber sie kann auch nicht hoffen, den h. Stuhl zur Anerkennung deS Status quo und zum Verzicht auf die Wiederherstellung der weltlichen
Macht deS Papstthums zu bewegen, solange sie im Gegensatz zu den
Mächten verharrt, von denen das Papstthum, mit Recht oder mit Unrecht, heute oder morgen eine Unterstützung erwartet.
Schon jetzt fehlt cS nicht
an Symptomen, daß man im Vatikan an eine Aussöhnung mit Preußen
und Deutschland Erwartungen knüpft, die sich zweifellos als gefährliche Illusionen erweisen werden, die aber in der Zwischenzeit Italien in hohem Grade unbequem werden können.
Ein Anschluß Italiens an Deutschland und Oesterreich würde allen diesen Beunruhigungen vorbeugen, den Verzicht
auf
ohne dem jungen nationalen Staate
irgend eines seiner wahren Interessen aufzuerlegen.
Seiner Jsolirung verdankt es die schmerzlichen Enttäuschungen der letzten
Jahre.
In Egypten sind seine Interessen von England und Frankreich
ignorirt worden;
Tunis
hat Frankreich endgültig mit Beschlag belegt;
ein Italien, welches Niemandes Freund ist, wird
auch bei der weiteren
Entwicklung der Mittelmeer-Frage unberücksichtigt bleiben.
Der Militär-Aufstand in Egypten, dessen Consequenzen heute noch nicht zu berechnen sind, möge für Italien eine Mahnung sein, den Ent schluß, den eS einmal fassen muß, bald zu fassen.
Italien kann auch nach der Kaiserzusammenkunft in Danzig, deren
Bedeutung nicht zu unterschätzen, aber angesichts der Probleme der inneren
russischen Politik auch nicht zu überschätzen ist,
zu der Befestigung deS
Friedens Europas, dessen eS für seine innere Entwicklung so dringend bedarf, ein gutes Theil beitragen.
Wird eS auch wollen?
Verantwortlicher Redacteur:
H. v. Treitschke.
Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.
ir.
Karl Wilhelm Nitzsch. Bon Richard Rosenmund.
Am 22. April 1880 las Nitzsch noch bei voller körperlicher Rüstigkeit in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine Abhandlung:
niederdeutsche Kaufgilden.
Ueber
Wenige Wochen später traf ihn ein Schlag
anfall, und bereits am 20. Juni war er aus dieser Welt geschieden.
Der
Philosoph Harms, mit dem ihn die innigste Freundschaft seit den Knaben
jahren verband, war ihm unmittelbar im Tode vorauf gegangen, und die tiefe Erschütterung über diesen schmerzlichen Verlust, wie sie diejenigen,
welche damals Nitzsch zu beobachten Gelegenheit hatten, berichten, mochte mit dazu beigetragen haben, daß Störungen deS Organismus bei diesem zu dem Ausbruch kamen, der ein so schnelles Ende herbeiführte.
Jeden
falls starb Nitzsch unerwartet, und sein Todesfall berührte darum alle die,
welche ihm nahe standen, um so schmerzlicher.
Aber ein weiteres kam
hinzu, das BeklagenSwerthe dieses Ereignisses zu vermehren.
Der Tod
rief Nitzsch mitten in der Arbeit ab, als er gerade Hand daran legte in einer Darstellung der deutschen Geschichte das Resultat seines Gesammt-
wissens zu ziehen und ein monumentales Bild seines Könnens zu schaffen.
Eine solche Leistung fehlt unter den Werken, die er uns als Zeugen seiner Bedeutung für die historische Wissenschaft hinterlassen.
Nitzsch concentrirte
sich nun in seinen Arbeiten stets auf das Thema und trotz weiter Blicke, die er uns in das ungeheure Feld seines historischen Wissens thun läßt,
sehen wir den Gelehrten immer nur von einer Seite; und meist nicht
einmal von der richtigen.
Aber so sehr, wie wir eben meinten, Nitzsch sich
im Einzelfall auf sein Thema concentrirt, so sehr sind doch alle diese einzelnen Arbeiten auf der einheitlichen Basis einer Methode der Forschung
und eines Zieles der geschichtlichen Erkenntniß aufgebaut und sind Aeuße rungen
einer in Geschichtsauffassung und Weltanschauung in sich ge
schlossenen und originalen Persönlichkeit.
Preußische Jahrbücher. Bd.Xl.Vlll. Heft 4.
DaS Einzelwerk gewinnt darum 24
erst im Zusammenhang mit den andern den Werth, den es für die Beur
theilung seines Verfassers enthält. So winkt doppelt gebieterisch die Aufgabe, was er im Einzelnen ge
schaffen, zusammenfassend zu betrachten und unter Berücksichtigung seines LebensgangeS den Versuch zu machen, an Stelle des Monuments, daS
ihm sich selbst zu setzen daS Geschick versagte, ein anderes wenn auch viel bescheideneres Denkmal seiner großen wissenschaftlichen Leistungen in diesen
Blättern ihm zu errichten.
I. Karl Wilhelm Nitzsch war am 22. December 1818 zu Zerbst geboren;
dort und in Wittenberg verlebte er die ersten Kinderjahre.
Er war der
Sprosse eines gelehrten Geschlechts, das seinen Beruf im geistlichen Amte und im akademischen Lehrerstande, seine geistige Arbeit in der theologischen Forschung suchte.
Erst der Vater Gregor Wilhelm hatte die Theologie
verlassen und sich der Philologie zugewandt; ihn hatte daS gewaltige Ta
lent Lobeks, der damals, als Gregor Wilhelm die akademischen Studien begann, in Wittenberg wirkte, angezogen und für dessen Wiffenschaft ge
wonnen.
Man kann nun bei diesem Geschlechte gelehrter Männer dieselbe
Beobachtung machen, die unS in der Geschichte wiederholt entgegentritt, daß da, wo in einer Familie ein bestimmter Wirkungskreis im Leben als der herkömmliche gilt, dem Generation auf Generation sich widmet, nicht
blos bestimmte Anschauungen sich forterben, sondern auch gewisse geistige
Züge und geistige Neigungen sich fortpflanzen.
Betrachten wir die drei
Persönlichkeiten dieses Geschlechts, die uns speciell interessiren, weil sie
geistigen Einfluß auf Karl Wilhelm ausgeübt, nämlich außer dem Vater den Großvater Karl Ludwig, der als Prediger, Professor und Director deS Predigerseminars in Wittenberg gewirkt hat, und den Oheim Karl Immanuel, der als Professor, Probst und Mitglied deS Kirchenrathes in
Berlin eine bedeutsame Thätigkeit entfaltete, so erkennen wir unschwer an ihnen solche charakteristischen gemeinsamen Eigenthümlichkeiten ihrer geistigen
Naturen und gelehrten Interessen. alle drei einen universalen Ztig.
In ihrem Wissensdrange offenbaren
Den Grund dazu hatte wohl die Bildung
gelegt, die sie auf der Schnlpforte und zu S. Afra empfangen. Denker ferner sind sie höchst original.
Als
Es genügt dafür wohl der Hin
weis auf Gregor Wilhelms Erörterungen der homerischen Frage,
auf
Karl Ludwigs Versuch die Mysterien der Offenbarung und die Lehren
der Kantischen Philosophie zu einem Religionssystem vereinen zu wollen.
Dann aber sehen wir auch darin etwas gemeinsames, wie sie sich auf den
verschiedenen Feldern ihrer Geistesarbeit mit Vorliebe den dunkleren und
geheimnißvolleren Gebieten zuwenden.
Bei Gregor Wilhelm herrschte das
Interesse für den griechischen MythoS vor, für Karl Immanuel bildeten die Mysterien der Sacramente den eigentlichen Boden der Spekulation,
und Karl Ludwigs Gedankenkreis nahm das Mystische der Offenbarung doch vor allem gefangen.
Man halte daö nun so zusammen — das alte
Wittenberg gleichsam die Wiege des Geschlechts, die in der Geschichte un seres deutschen geistigen Lebens so gefeierten Orte Meißen und Schul-
pforta die Stätten seiner Bildung, die akademische Thätigkeit der herge
brachte Wirkungskreis, die wissenschaftliche Forschung Lebenszweck, in der Forschung Richtung auf das Universale verbunden mit absoluter Origi
nalität und beeinflußt durch einen spekulativen Zug für daS Geheimniß volle, Dunkle in der Ueberlieferung der Fachwissenschaft — ich denke, die Linien, welche den äußern Lebensgang von Karl Wilhelm umgrenzen sollten, aber auch die, auf welchen sich seine geistige Thätigkeit bewegen
würde, lassen sich erkennen, und ich meine weiter, manche Eigenthümlichkeit
dieses Letzteren, von der zu berichten sein wird, findet in jener Betrachtung die Erklärung.
Aber neben dem, waS der Einzelne durch Geburt, Erziehung und Angehörigkeit an eine durch bestimmten Wirkungskreis gefestigte Familie
überkommt, entwickelt sich der Mensch zu dem eigenartigen Wesen, als welches er schließlich dasteht, abgesehn von individuellen Eigenthümlichkeiten, unter der Einwirkung dessen, waS er erlebt.
Und ein Erlebniß in diesem
Sinne, daS bedeutendste vielleicht für Karl Wilhelm überhaupt, war eS,
daß er 1827, als sein Vater als Professor nach Kiel übersiedelte, die ehemals kursächsischen Lande mit den Elbherzogthümern als Aufenthaltsort
vertauschte.
Hier in Holstein wurde auS dem Nachkommen der Theologen,
dem Sohne des Philologen, ein Historiker.
In Kursachsen um die alte Stätte des Protestantismus, um Witten berg herum, da mochte daS theologische Interesse bei den Vorfahren alle anderen überwiegen und ihrem gelehrten Eifer reiche Nahrung geben; in der neuen Heimath pulsirte lebendiges geschichtliches Leben, da überwogen
denn auch die historischen Interessen.
Holstein war seit 1806 im Ver-
fassungSstreit mit Dänemark, seit dem Wiener Congreß befand eS sich in einer eigenthümlichen Doppelstellung zwischen Deutschland und Dänemark.
Jener fortdauernde Conflikt mit der Regierung, die
fortgesetzten Be
mühungen der Ritterschaft um Herstellung der landständischen Verfassung machten daS Land zum Schauplatz eines regen politischen Lebens.
Gegen
über dem dänischen Patriotismus erwachte daS deutsche Nationalgefühl,
daS Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit Deutschland erstarkte, und eS wurde dieses Bewußtsein gekräftigt, wenn man die Waffen für den
24*
Streit um die Selbständigkeit aus der Rüstkammer der Geschichte holte. Mittelpunkt der ganze»» Bewegung war Kiel und in Kiel die Universität.
Und wenn hier friedliche Männer der Wissenschaft, sie die Freunde stiller
Geistesarbeit im ruhigen Gelehrtenzimmer, in das öffentliche Leben hinaus traten und mannhafte Streiter im politischen Kampfe wurden, waS Wunder,
daß auf diesem Boden und in dieser Atmosphäre Karl Wilhelm, der die neue Heimath inzwischen so lieb gewonnen, daß er durch und durch ein richtiger Holsteiner geworden, zum Historiker heranreifte. Von 1839—1842
studirte Nitzsch Geschichle in Kiel
Lehrer.
und Berlin.
Hier war Ranke sein
Der große Historiker hatte seine Schule bereits fest begründet,
die kritischen
Forschungen wandten sich
energisch dem Mittelalter zu.
Nitzsch lebte sich in die Methode Rankes ein, genoß ganz die vielfachen Anregungen dieses eminenten Geistes
und erfüllte sich
mit lebendigem
Interesse für die mittelalterliche Forschrmg; aber die eigene historische Be gabung versuchte er auf dem Gebiete der alten und speciell der römischen
Geschichte.
Neben Rankes persönlichen Anregungen und schriftstellerischen
Einwirkungen zog ihn übermächtig der Geist Niebuhrs an.
Die deutsche
historische Literatur hatte damals, als Nitzsch seine Studien begann, be
reits eine stattliche Reihe glänzender Namen
und vortrefflicher Bücher
aufzuweisen, die sich dem Mittelalter zugewandt hatten. Wilken, Stenzel, Raumer.
Ich erinnere an
Und Nitzsch machte sich gründlich mit den
Werke»» dieser Männer vertraut.
Aber Niebuhrs römische Geschichte wurde
ihm doch das interessanteste Werk der derttschen historische»» Literatur; unb
dazu wirkte verschiedenes mit.
Einmal blieb es für die historische Kritik
das bahnbrechende Werk; dann war seine Eigenart und ist auch he»»te noch überaus fesselnd; ferner wirkte der JnteressenkreiS des Vaters mit auf den Sohn, und schließlich war es unzweifelhaft das dunkle Gefühl der
individuellen Befähigung, die Geschichte im Geiste NiebuhrS erforschen zn können, was ihn zu diesem hinzog.
Den»» es geht doch in der Wissen
schaft wie in der Kunst, geheimnißvolle Kräfte weisen dem Talente seinen Weg.
Und gerade als Schüler Rankes mußte ihm der Plan kommen,
waS Niebuhr begonnen, fortzusetzen.
Rankes Schriften, von denen auch
bereits die „deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation" erschienen
war, boten dem Jünger der Geschichtswissenschaft das Beispiel einer GeschichtSdarstellung, welche über das quellenkritische Referat hinaus sich zur lebendigen Anschaulichkeit der geschichtlichen Vorgänge erhob. Unter dieser Einwirkung und getrieben von individuellen Neigungen entwickelte sich bei
Nitzsch jene Richtung der Forschung, die rticht bei den aus der Quellen kritik gewonnenen thatsächlichen Erfahrungen stehen bleibt, sondern das
Thatsächliche im pragmatischen Zusammenhänge aufsucht und als geschicht-
liche Leistung bestimmter Zeiten und Menschen verstehen will.
Dazu aber
mußte er eine klare Anschauung der Vorgänge zu gewinnen erstreben.
Der Stand nun des Materials, wie es damals für die Geschichte des
Mittelalters vorhanden war, ließ allenfalls für diese Periode einzelne
Momente weltgeschichtlicher Verwicklungen verstehen, gestattete aber durchaus noch nicht, die Entwicklung der Dinge anschaulich darzustellen.
Wollte
Nitzsch nicht wie Ranke der neueren Zeit mit seinem Versuch sich zuwenden, so sah er sich auf die antike Welt hingewiesen und für diese war denn NiebuhrS Leistung die hellste Leuchte, der er dann auch folgte.
Er setzte
mit seiner Forschung da an, wo Niebuhr aufhörte. II. Die römische Geschichte zerfällt nach dem Stande der Ueberlieferung
in zwei große Abschnitte, die durch den ersten punischen Krieg von ein
ander getrennt werden.
Für den Zeitraum vorher haben wir gar keine
gleichzeitigen Quellenschriften, für den Zeitraum nachher haben wir zwei mal gleichzeitige Quellengruppen,
in dem großen Stück zeitgenössischer
Ueberlieferung in CatoS und PolybiuS' Schriften, sowie in den Schrift
stellern des ciceronianischen Zeitalters.
Nitzsch hatte sich mit seinem Buche
über PolybiuS (1843) über den Stand der Ueberlieferung für die Zeit
des hannibalischen Krieges und die ersten Decennien nachher zu orientiren gewußt.
Das Hinübergreifen über den Quellenvergleich für diesen Zeitraum zu quellenkritischem Studium früherer und späterer Abschnitte der Repu
blik und namentlich der Verfassungsentwicklung in denselben ergab sich dabei von selbst.
Je mehr sich ihm PolybiuS erschloß, je mehr er in
dessen Stellung zum Kreise der Scipionen Einsicht gewann, den doctrinären Zweck seines Werks erkannte, die leitende politische Idee darin
verfolgte, desto mehr stellte sich die Frage nach seiner Glaubwürdigkeit und nach der Richtigkeit seiner Auffassung vom römischen Staate als richtig dar und desto mehr mußte der Kritiker mit der äußern und innern Controlle
bedeutend rückwärts und vorwärts in der römischen Geschichte ausgreifen. Hier nach vorwärts bildete die Revolution der Gracchen den Grenzpunkt.
Und dieser Grenzpunkt bildete bald mehr als den Schlußstein seiner
kritischen Untersuchung über PolybiuS; er wurde der Mittelpunkt der wei teren Studien von Nitzsch und der Vorwurf für eine darstellende Behand
lung eines Jahrhunderts der römischen Geschichte.
Der gelehrte Kenner
deS PolybioS und seiner Zeit bürste sich vor andern dazu berufen fühlen,
die Ursachen dieser Revolution aufzusuchen, ihren Verlauf zu betrachten und daS Ergebniß seiner Studien darzustellen.
Er mußte aber auch vor
andern gerade den Anreiz empfinden, sich diesem denkwürdigen Abschnitt
der römischen Republik zuzuwenden.
So lange es eine wissenschaftliche
Behandlung der römischen Geschichte gab, hatte man daS Eigenartige,
fast Wunderbare und Unerklärliche dieser gracchischen Bewegung empfun den.
Am Ende der ruhmreichsten Periode der Republik, am AuSgang
der Kriege, durch welche Rom sich die Weltherrschaft errungen, am Ab schluß des Jahrhunderts, in welchem Rom mit dem Eintritt in die eigent
liche Interessensphäre der hellenischen Welt sich schnell auch die hellenische Bildung angeeignet, nach dem Verlauf eines Säculums, daS so glän zende Namen, wie die der Scipionen, so sittliche Erscheinungen, um im
Sinne der früheren Geschichtsauffassung zu sprechen, wie die des älteren TiberiuS SemproniuS Gracchus und des älteren Cato in seinen Annalen
verzeichnet, als Endresultat einer Entwicklung, die Rom zu ungeahnter Machtfülle emporhob, geleitet von großen Staatsmännern, gefördert durch die hellenische Kultur,
Revolution.
fand der Forscher in der Geschichte Roms eine
Er stand vor einem Räthsel, und diese gracchischen Bewe
gungen erhielten mit dem Charakter eines solchen auch den ganzen An
Für Nitzsch aber wurde dieser Anreiz, wie
reiz desselben für die Lösung.
schon bemerkt, ein besonders starker.
Unter dem nämlich, was in Nie
buhrs römischer Geschichte ihn so überaus anzog, standen ihm die Be
trachtungen obenan, welche jener über die natürlichen Verhältnisse einer
ackerbauenden Bevölkerung, verkehrs u. ä. anstellte.
über geographische Bedingungen des
See
Sein Buch über Polhbius lehrt uns deutlich, wie
Nitzsch gerade in dieser Richtung seinen Blick in die römische Geschichte zu vertiefen sich bemühte und wie bei dieser Vertiefung seiner geschicht
lichen Anschauung sich seine eigenartige Richtung ausbildete, den natür lichen Einfluß der wirthschaftlichen Verhältniffe auf die politische Ent wicklung der Völker zu beobachten.
Für die Revolution der Gracchen
hatte die bisherige geschichtliche Betrachtung das Verständniß noch nicht
erschlossen, sie war ein ungelöstes Problem jener Art der Forschung, die aus der Willkür der Persönlichkeiten an die Erklärung ging,
wie
auch derjenigen Auffassung, die aus dem Jdeenkreis politischer Partei
kämpfe die Lösung versuchte. eine agrarische, wie man sagte.
Ihrem Charakter nach war sie offenbar
Nitzsch wählte für seine Anschauung statt
dieser so weiten Bezeichnung die festere der wirthschaftlichen Revolution
und damit mußte die Aufgabe, die Umwälzung geschichtlich zu verstehen, nothwendig den höchsten Reiz für ihn erhalten. seiner weiteren gelehrten Studien.
Sie wurde das Centrum
Zur Vorbereitung für diese Arbeit
machte er im Sommer 1843 eine Reise nach Italien und Sicilien.
Ueber-
all war er ein aufmerksamer Beobachter der wirthschaftlichen Zustände in
Ackerbau und Viehzucht, er bemerkte ihre Abhängigkeit von lokalen Ver hältnissen, von Bodengestaltung und Klima; er stellte Vergleiche der Ge
genwart und der antiken Vergangenheit an und brachte eine Fülle von
Anschauungen über das wirthschaftliche Leben UnterilalienS und Siciliens in die Heimat mit.
Dann legte er Hand an das Werk selbst und dieses
liegt uns vor unter dem Titel:
Die Gracchen und ihre nächsten Vor
gänger (1847).
Es ist ein merkwürdiges, aber höchst beachtenswerthes Buch.
Auf
einer Fülle kritischer, politischer, staatsrechtlicher, nationalökonomischer Be trachtungen, an denen wir die Tiefe deS Gedankens, den Scharfsinn der Combination, das Umfassende des geschichtlichen Blickes, den Reichthum
der Analogien bewundern, baut er sein Ergebniß auf.
Und was er
schreibt, ist mehr alS bloße Untersuchung, eS ist durchaus Geschichte.
Die
Kriege Roms und seine Verfassungskämpfe, die wirthschaftlichen und so cialen Verhältnisse deS Centrums der Republik und ihrer Provinzen, Staats
verwaltung und Finanzwesen, Steuer- und Militairshstem, wissenschaft liche politische Theorien und praktische Parteipolitik und inmitten aller
dieser Regungen des geschichtlichen Lebens die einzelnen Persönlichkeiten,
als Leiter deS StaatSwesenS wie als Führer der Parteien, durch Fami-
lientradition, persönliche Erlebnisse und zeitgenössische Vorgänge ein Pro duct ihrer Zeit, in der Art, wie sie sich dies Erbe ihrer Zeit aneignen
und schließlich ihre Ideen gestalten und danach handeln, Schöpfer ihrer Zeitgeschichte:
das alles faßt Nitzsch zur Geschichte des sechsten und eine-
Theils des siebenten
Jahrhunderts der Stadt zusammen.
In der Art,
wie er vermeidet, bekanntes wieder zu erzählen, wie er mit sichtbarer Freude an die Charakteristik der Persönlichkeiten geht,
erkennt man
leicht den
Schüler Rankes;
Zusammenstellen der äußeren und Anhänger Niebuhrs.
im detaillirten Bilde in
dem fortlaufenden
inneren Geschichte der Republik den
So hat er in diesem Buche eine glückliche Fort
bildung dessen, was er von seinen Meistern in der Methode überkommen
zur eigenartigen Form der Geschichtsbetrachtung und Geschichtsschreibung erreicht.
Aber nicht gleich mit der Bedeutung des Buches und nicht ent
sprechend seinem interessanten Inhalt ist der schriftstellerische und in ge wissem
Sinne der wissenschaftliche Erfolg des
Werkes gewesen.
Grund hiervon ist in der Form der Darstellung zu suchen. eine große Schwierigkeit
für
die Anordnung
Der
Es lag schon
des Stoffes darin, daß
Nitzsch äußere und innere Geschichte, wie sie sich im Gang der Ereignisse faktisch stets durchdringen, so auch in der Darstellung in fortlaufenden
Zusammenhang zu bringen gedachte.
Jeder Anhalt einer künstlerischen
Gestaltung deS Ganzen, um diese Bezeichnung zu gebrauchen, fiel dann
Karl Wilhelm Nitzsch.
328
aber weg, als Nitzsch im Interesse der Beweisführung die Darstellung
durch umfangreiche Untersuchungen zu unterbrechen für nöthig erachtete. Jedoch dieses Fehlen der höheren Einheit der Form ist immerhin zu ent
schuldigen und noch heute dürfte durchaus Controverse sein, ob bei einer
mehr systematischen, mehr pragmatischen Durcharbeitung des Stoffes nicht die geschichtliche Wahrheit für die denkwürdigen Zeiten, die daS vorlie
gende Buch behandelt, etwas zu kurz gekommen. in unserer Geschichtsschreibung
so
Auch sind wir Deutschen
an diese Mengung von Darstellung
und Untersuchung gewöhnt, daß deshalb niemand an der Form des Buches
einen Anstoß genommen hätte.
Die Sache liegt aber noch anders.
Schon
das befremdet, daß der Verfasser wiederholt seinen einzelnen Kapiteln In haltsangaben vorsetzt, die den Inhalt doch nur sehr zum Theil decken,
ohne daß wir dabei wie einst Kant für Herder gethan, als Entschuldigung gelten lassen dürften, Nitzsch habe sich bei den Titeln anderes gedacht, als wir dem Wortlaute nach selbst zu denken genöthigt sind.
Nun mußte
man erwarten, daß da, wo jede künstlerische Einheit in der Anordnung des
Stoffes fehlte, der Verfasser um seine Wirkung zu erzielen, sich befleißigt
hätte, die Klarheit der Beweisführung mit derjenigen des Ausdrucks zu paaren.
Aber hierin fehlt es nach beiden Seiten.
Die Beweisführung
ist zerstückelt und gewunden, der Ausdruck schwerfällig, und die Sätze be kommen wiederholt den Charakter eines Aphorismus, wo man ihn nicht
erwartet.
Gegenüber seiner Gedankenfülle, die wir bewundern und gegen
über seiner Gedankentiefe, die uns mit ihrem Zauber gefangen nimmt, übte Nitzsch nicht hinreichend die Concentration auf daS HauptbeweiS-
moment und die Befreiung von allem Nebensächlichen.
ES muß dahin
gestellt bleiben, ob wir eS hier mit einem Mangel an Energie, mit einem Fehler des Talents, oder mit einer Lücke seiner Einsicht zu thun haben, jeden
falls war es ein für die wissenschaftlichen Erfolge des Gelehrten verhäng nißvoller Fehler; er haftet diesem Buche wie seinem späteren so genialen
Werk über Ministerialität und Bürgerthum an, er hemmt den Eifer des
gelehrten Lesers an dem Studium seiner gelehrten Bücher, wie er den Genuß seiner vortrefflichsten Aufsätze stört.
DaS Gediegene des Buches, um nun wieder vom Inhalt zu sprechen
hatten wir schon rühmen können; wir hatten auch die Stellung deS Ver fassers in der historischen Schule charakterisirt, den Umkreis erkannt, den
er der Geschichtschreibung zog.
Es erübrigt nun, und damit kommen wir
zu der wichtigsten Seite unserer Betrachtung dieses Buches, sein Urtheil über die Entstehung der gracchischen Bewegung aufzusuchen.
Ich werde
dabei die leitenden Gedanken des Buches kurz reproduziren müssen.
Jeder
Kenner des Werkes wird mir darin beistimmen, daß bei der Schreibart
und Anordnung deS Verfassers eine solche Mittheilung dessen, waS ich
aus dem Buche herausgelesen, für meine weitere Betrachtungen durchaus nothwendig ist.
Nitzsch greift in seinem Buche bis zum Beginn des sechsten Jahr hunderts der Stadt zurück.
Da war in Rom, so meint er, wie in frü
heren Jahrhunderten noch der Ackerbau für die große Masse der Bürger schaft Hauptbeschäftigung.
Diese Bauernschaft besaß die Majorität in
den Comitien, sie bildete den Kern der Infanterie, auf ihrer politischen Stellung wie auf ihrer kriegerischen Leistung beruhte die Ordnung des römischen Staatswesens im Innern wie die Machtstellung nach außen.
Und in weiser Einsicht dieser Verhältnisse hatten die römischen Staats männer deS vierten und fünften Jahrhunderts sich bemüht, diese Bauern
schaft intakt zu erhalten.
Umfangreiche Aufnahmen latinischer Bauern in
die römische Bürgerschaft, zahlreiche Assignationen an diese waren hiezu die
Mittel gewesen,
und sie hatten sich
Mit dem AuSgang deS
bewährt.
fünften Jahrhunderts kam diese Fürsorge der Regierung für die Bauern
schaft aber zum Stillstand.
Im eigentlichen Italien war nur der picenische
Acker noch für eine etwaige Auftheilung vorhanden. natioN aber trat der Senat nicht heran.
An dessen Assig-
Er machte geltend, daß die
dem römischen Begriff vom Ager PrivatuS innewohnenden Vorstellungen der Limitation eine Ackerauftheilung auf ehemals gallischem Boden auS-
schloffen, vielleicht auch wollte der Senat diese Landschaft dem Großbetrieb offen halten, sicher aber auch bewogen ihn Rücksichten der äußeren Politik;
er befürchtete durch große Assignationen in Picenum die Gallier der Po
ebene zu beunruhigen, und eS lag nicht in seiner Politik weitere kriege rische Unternehmungen dort durchzuführen.
ES hätte nun der Senat für
Assignationen zum Domanialland greifen können. Auf diesem
aber halte sich
unter dem erweiterten Handelsverkehr
Roms, nachdem die römischen Eroberungen sich auch auf die Sommer weiden des Apennin erstreckt,
eine Großwirthschaft alisgebildet, und eö
hätte diesen ganzen Betrieb ruinirt, sobald man zur Assignation geschritten
wäre.
AuS allen diesen Gründen unterblieb dieselbe, und die Sorge für
die Bauernschaft kam damit zum Stillstand.
Die Resultate des ersten
punischen Krieges veränderten an diesem Verhalten des Senats nichts. Derselbe acceptirte in den Neuerwerbungen den politischen Zustand, wie er
ihn vorfand, die Einwohner traten in ein UnterthänigkeitSverhältniß ohne Verlust an Eigenthum, und deren Besitzthum wurde zum Nutzen des AerarS besteuert.
Da gelang eS Flaminius aber gegen den Willen des
Senats die Ackerauftheilung in Picenum durchzusetzen und sogar die Er oberung der Poebene für den gleichen Zweck zu erzwingen.
Und schon
Karl Wilhelm Nitzsch.
330
waren Colonien auf den neugewonnenen Acker deducirt, da störte der Ein fall Hannibals in diese Gebiete wiederum diese Entwickelung.
Nach dem
Kriege jedoch wurde diese Bewegung zur Fürsorge für die Bauernschaft wieder ausgenommen,
und es war die regierende Partei der Nobilität
selbst, die das alte Mittel der Ackerauftheilung im großen Stil auf dem
Gebiet der Poebene wie in kleinerem Maaßstabe in anderen Gegenden
zum Besten der mittleren Volksklasse anwandte.
Und die maßgebenden
Persönlichkeiten der Nobilität wußten ihren Standesgenossen noch weitere Die Lage dieses
Maßnahmen im Interesse der Bauernschaft abzuringen.
Standes war eben eine derartige nach dem hannibalischen Kriege, daß
Ackerweisungen allein ihm nicht mehr aufhelfen konnten.
Die persönlichen
Opfer, die er im Kriege gebracht, waren ungeheuere gewesen.
Seine
militärische Leistung raubte ihn ganz der friedlichen Beschäftigung und ruinirte ihn.
Dabei schien ein Ende dieser kriegerischen Aufgaben nicht abzusehen.
Neue Provinzen mußten in dauernden Besitz genommen werden, im Osten war eine gebietende Stellung zu erstreben, die herrschende Partei ergriff mit Bewußtsein den Gedanken der Weltherrschaft.
Und
da durch die
Knechtung der Campaner, Lucaner, Brutlier die Kontingente dieser Völker
aus der römischen Armee verschwanden, wurde die römische Bürgerschaft immer mehr zum Dienst in den Legionen herangezogen.
Zugleich aber
lastete auf diesem Legionär und zwar auf ihm allein das Tributum, denn
der Proletarier wie die Nobilität waren davon frei. Es war daher neben
den Assignationen nothweildig entweder das Tributum zu erleichtern oder den Dienst in den Legionen zu verkürzen, wenn man der Bauernschaft
helfen wollte. Und wie gesagt,
bei einzelnen maßgebenden Persönlichkeiten ist ein
Verständniß dieser bedauernswerthen Verhältnisse zu Tage getreten und eine gewisse Erkenntniß der Mittel zur Abhülfe derselben offenbar.
Und
sie haben gestüttzt auf einen engeren Kreis ganz ergebener Anhänger die
Nobilität zur thatsächlichen Ausübung einer weiteren Fürsorge für die Bauernschaft zu veranlassen verstanden.
Man muß unter diesem
Ge
sichtspunkt solche einzelnen politischen Maßnahmen wie die Begründung der
Seecolonien,
Truppenzurückziehungen
aus
Gallien,
Sardinien,
Spanien u. a. betrachten, man muß aber ebenso die ganze Orientpolitik
des Flamininus von diesem Gesichtspunkte aus verstehn, und man muß schließlich die Censusreform vom Jahre 565 d. St. zu diesen fürsorgen
den Handlungen rechnen. deutendste Reformakt
Bauernschaft.
Diese
letztere
gerade ist sicherlich
der Partei des älteren Scipio
der
be
im Interesse der
Wenn Rom nach dem Sinne des FlamininuS den Ein-
fluß, den eS im Osten haben mußte, durch Befreiung Griechenlands und
der kletnasiatifchen Städte, durch die Begünstigung von PergamoS nnd
RhoduS
auszuüben suchte,
statt
eine Provinz in Kleinasien und Ma-
cedonien einzurichten, so entzog dieses jährlich viele tausend freie Bauern weniger den Äckern, und eS war somit diese Politik getragen von weiser
Fürsorge für die Republik und diese Maßnahme konnte durchaus förder
lich für das Auflommen der Bauernschaft werden.
Sicherlich förderlicher
mußte aber sein, wenn in der Censusreform vom Jahre 565 d. St. die Liniendienstpflicht von dem Census von 10000 AS auch bis auf den von 4000 As herab erweitert wurde.
Der Classiarier wurde damit ganz be
deutend erleichtert, wenn nun auS der großen Kopfzahl derjenigen, die
unter 10000 AS geschätzt wurden, alle die, welche mindestens 4000 As Census hatten, zum Lintendienste verpflichtet wurden, und indem nun Handwerker und Tagelöhner neben den Bauern zur Linie eingezogen werden konnten,
wurde die Lage der kleinen Grundbesitzer einschneidend verbessert. Diese Reform
wälzte also den
Dienst von der Mittelklaffe der
Bauerschaft auf die kleinen Leute überhaupt, sie ließ aber die Trtbutumfrage
ungelöst.
An diese ging die Consusreform CatoS.
Er nahm von der
Bauernschaft das Tributum und wälzte dessen Last auf die Reichen; die Steuer
freiheit des Ager PrivatuS die hohe Einschätzung städtischen Besitzes waren
durchaus Maßregeln zum Besten der ackerbauenden, mittleren Bevölkerung. ES erscheint damit gewissermaßen geleistet, was von Seiten der Regierung
im Interesse der Intaktheit der Mittelklasse zu leisten war, und sehn wir wie nun daS Aerar die Unterhaltung der Armee leistete, erfahren wir
dann Schritt für Schritt von neuen Assignationen, beobachten wir, wie reich regelmäßig der Legionär aus den Feldzügen dieser Decennien nach dem hannt-
balischen Kriege zurückkehrt,
erfahren wir, daß die Dienstzeit auf sechs
Jahre abgekürzt wird, überschauen wir, wie der römische Staat nach der
Ordnung der macedonisch-illyrischen Verhältnisse eine Periode absoluten Friedens genießt, so müssen wir erwarten, segensreiche Folgen aller dieser
politischen Reformen zu finden und eine Bauernschaft anzutreffen, die im freien Besitz eines größeren oder geringern Ackerlandes durch dessen Bewirthschaftung die alten Tugenden der Sparsamkeit, Tüchtigkeit, Nüchtern
heit des Urtheils, Rechtlichkeit sich bewahrt und darin die Klarheit für politische Aufgaben aber auch die Zähigkeit und Energie
für kriegerische
Leistungen ungeschwächt erhält, sodaß sie, was sie.Jahrhunderte hindurch dewesen, der Kern der Volksversammlung und der Halt der Armee, der
eigentliche Repräsentant des römischen Staatswesens auch jetzt blieb.
Aber
keine dieser Erwartungen sehen wir erfüllt.
Die eigentlich römische Bauernschaft ist im eigentlichen Italien am
AuSgang des sechsten Jahrhunderts der Stadt völlig verarmt und fast ganz verschwunden, die Armee aus unwilligen und untüchtigen Bürgern
Roms und aus Latinern und Bundesgenossen zusammengesetzt, die Volks versammlung überwiegend von einem großstädtischen Proletariat gebildet und dieses Proletariat einer demokratischen Entwickelung der Verfassung
zugewandt, die bereits für die Ruhe und Sicherheit des Staatswesens ge
fährlich ist. Und die Gründe dieser Erscheinungen lassen sich erkennen. Jene CensuS-
reform zunächst vom Jahre 565 d. St. hatte doch auch noch einen andern als gerade segensreichen Erfolg
für den kleinen Grundbesitzer gehabt.
Indem jetzt zur Legion alle Bürger bis zum Census von 4000 As herab, zur Flotte auch diejenigen unter diesem Satz herangezogen wurden, trat
für den Wirthschaftsbetrieb
der Werth des freien Arbeiters gegenüber
dem Sklaven damit ganz bedeutend zurück; der freie Arbeiter konnte durch Aushebung jederzeit der Arbeit entzogen werden, der Sklave, der
von den Leistungen gegen den Staat frei war,
blieb ungestört.
Und
diese Werthsteigerung des Sklaven für den Wirthschaftsbetrieb trat in einer Zeit ein, wo die römischen Eroberungen im Osten den syrischen Sklavenmarkt geöffnet hatten.
Die Ausdehnung des Großbetriebes nahm daneben immer zu. Als die Römer nach dem hannibalischen Kriege die Äcker der Campaner, Lucaner, Bruttier occupirten, fanden sie daselbst Waldwirthschaft, Pechsiede
reien, Viehwirtschaft vor.
Die Ländereien fielen damit von selbst den
Kapitalisten zu, die diesen Betrieb fortsetzen konnten und fortsetzten.
Und
dieser Bewegung zum Großbetrieb schloß sich der altpatricische Grundbe
sitz
schon
seit langem
an.
Der ausgedehnte Handel, die Concurrenz
außeritalischen Getreides legten ein Verlassen des Getreidebaues und ein Versuchen anderer Fructifizirung des Bodens nahe.
Den Auöschlag
aber gab, daß die grundbesitzende Aristokratie im
Gelderwerb es den Publicanen, in deren Hände die römische Finanzver-
waltnng bereits ungeheuere Kapitalien brachte, nachmachen wollte.
Die
römische Aristokratie hatte aus den östlichen Reichen ungeheuere Summen
heimgebracht, aber die Publicanen waren ihr trotz des Cato und deS Tiberius SemproniuS Gracchus Gegenbemühungen im Besitz doch wieder
vorausgeeilt.
Und darum wandte sich die Aristokratie neben der ihr durch
Gesetz wie durch Tradition verbotenen, aber doch mit allerlei nicht gerade
aristokratischen Umgehungen der Gesetze ausgeübten Betheiligung an der
Speculation und neben der in diesem Zeitraum allerdings noch maßvoll geübten Ausnutzung der Provinzialverwaltung einer rücksichtslosen Aus beutung des Grundbesitzes mit Hülfe der Sklavenarbeit zu.
Und diese
Ausbeutung erschien um so rationeller, je ergiebiger sie in Betreff des Geldpunktes wurde, und wiederum um so ergiebiger, je mehr Grundcomplex in einer Hand vorhanden war,
Richtung
nicht
blos
durch
den
Sklaven
so
daß
den
diese wirthschaftliche
freien
Tagelöhner
be
drängte, sondern auch den kleinen freien Bauer befehdete, dessen Terri torium der Arrondirung eines ausgedehnten Besitzes im Wege war. verarmte
So
die Bauernschaft, so verschwand der ländliche Tagelöhner, so
sank der alte Kern deS römischen BürgerthumS zusammen.
Und dieser
Proceß vollzog sich um so schneller und vollständiger, als die Partei der Nobtlität, die durch weise gedachte Maaßregeln diesen Verfall des bäuer
lichen Mittelstandes hemmen wollte, von ihren Reformen zurücktrat, da
neben den Folgen ihrer Fürsorge, wie sie dieselbe in der Orientpolitik, in CensuSreformen u. a. documentirt hatte, die sie erwartete, auch an
dere, nicht erwartete, eintraten. biet.
Diese letzteren lagen auf politischem Ge
Die Heranziehung der ärmeren Klassen bis herab zum Census von
4000 AS zum Dienst in den Legionen hatte diese neuen Legionäre auch mit
neuen politischen Rechten ausgestattet; sie erhielten damit daS Stimmrecht in den Centurien und gegenüber dieser Masse der kleinen Leute trat die
Bedeutung der mittleren Grundbesitzer zurück.
In den Tribusversamm
lungen hatten sie mit denen, die unter der Schätzung von 4000 As waren erst recht die Entscheidung in ihrer Hand.
Und diese Legionäre wie die
neuen Flottenmannschaften waren zunächst wenig der Reformpartei dank bar, sie fühlten unzweifelhaft mehr zunächst das Drückende des Dienstes
als
die Ehre desselben.
Sie wurden dadurch ein fanatisches Werkzeug
für eine geschickte aristokratische Minorität, und diese bereitete auch der
Partei des älteren Scipio mit diesen ausschlaggebenden Elementen der
Volksversammlung eine Niederlage nach der andern. — Dann aber setzte Cato
mit denselben Elementen seine Reformen
durch.
Die gesammte
Nobilität sah sich darin betroffen und schloß sich daher zusammen. Publicanen
Die
litten gleicherweise durch diese gesetzgeberische Richtung, die
sich gegen alle Reichen wandte, und so kam es zu dem Bündniß der bei
den Parteien der Aristokratie unter sich und mit dem Handelstand der
Publicanen, und zum Stillstand von Reformen im Interesse der bäuer lichen Plebs. Das Ergebniß des Bündnisses war die Wahl des LepiduS und Nobilior
zu Censoren für 575 d. St. gewesen.
Durch eine neue Anlage der Tri-
buSrollen legten sie den Grund zu einer bevorzugten Stellung der Be
steuerten innerhalb der Centerialkomitien und dann gingen diese Parteien der Nobilität und der Publicanen an eine feste Organisation gegenüber
der gesammten mittleren und niederen Plebs.
Als den eigentlichen Re-
gulator der VerfassungS- und Verwaltungsverhältnisse hatte sich in dieser Zeit die Censur entwickelt, zweimal hatten in den letzten Jahren Censoren
vermöge ihrer Machtbefugnisse einschneidende Aenderungen des Finanzund Steuerwesens herbeigeführt und zugleich die Ordnung der Comitien
geändert.
Nach der ganzen Entwicklung der aristokratischen Republik war
aber der Senat die Behörde, welche Finanz- und Steuerfragen unbe schränkt durch Nebengewalten zu erledigen hatte.
diese staatsrechtliche Stellung
Die Nobilität acceptirte
des Senats und glaubte überhaupt ihre
Position gegenüber der demokratischen Entwicklung der Plebs zu stärken, wenn der Senat eine möglichst starke Gewalt in seinen Händen vereinte,
d. h. die Beamten der Republik von sich abhängig machte.
Indem die
Censoren Lepidus und Nobilior sich in der Curie die öffentlichen Bauteil verschreiben ließen, führten sie die Abhängigkeit dieses Magistrats vom
Senate herbei; indem die Quästorier Zutritt zum Senat erhielten, wurde
auch dieses Finanzamt in den Jnteressenkreis des Senats hineingezogen, und eS entspricht dieser ganzen Richtung, im Senat den Mittelpunkt der
Nobilität zu festigen, wenn die Gewohnheit der Stufenfolge in den cu-
rulischen Aemtern und der Intervalle zwischen denselben zum Gesetz er hoben wurde.
ES lag eben in dieser so geordneten Carriere von den
unteren zu den höheren Aemtern eine Schule der Beamtenerziehung im
Sinne der Senatspolitik.
Und wenn der Senat dann in dieser Zeit Ver
fügungen trifft, wie die, daß die Bundesgenossen keinem Magistrat Hilfe ohne Senatsschreiben leisten sollen, oder jene, wodurch der Senat An
klagen wegen Bundesbruchs sich allein reservirte, so sind daS eben Zeichen einer starken Position, welche der Senat gewonnen.
Darin und nur in
dieser Richtung bewegte sich also die Politik der Nobilität. satz der früheren Regierungsweisheit,
Der Grund
daß Rom für seine äußere und
innere Befestigung eines bäuerlichen Mittelstandes bedürfe, da dieser allein die Bürgschaft für militärische Tüchtigkeit der Armee biete, wie er denn
auch bei dem aristokratischen Charakter einer solchen bäuerlichen Bevöl
kerung die Gewähr eines starken Einflusses der herrschenden Nobilität in den
Comitien gebe, war somit verlassen, die mit den Publicanen geeinte No
bilität glaubte das Regiment zum Heil des Vaterlandes führen zu können, wenn sie in sich festgeschloffen den Senat mit großen Machtbefugnissen
ausstattete, die Selbständigkeit der Magistrate im Interesse einer starken Centralregiernng brach und durch geschickte Veränderungen in den Tri
busrollen das Schwergewicht in den Comitien in die Hände der Besitzenden zu legen sich bemühte.
Man konnte die
Majorität in den Tribus ja
auch wohl sicher erhoffen, wenn man wegen des beschwerlichen FlottendiensteS die Flotte verfallen und bei Aushebungen zur Legion alle Ent-
schuldiglmgen gelten ließ, und man durfte willige und tüchtige Soldaten auszuheben erwarten, sobald man dem Legionär im Felde den Lohn reicher
Beute in Aussicht stellte. — So erklärt sich der volle Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung in der Zeit des Friedens. Dann trat Rom wieder in eine kriegerische Periode. Das Resultat der Kriege war die
Einrichtung von drei Provinzen. Das Bündniß der Aristokratie mit den Publicanen hatte nach außen hin Früchte getragen. Trotz des Cato und deS Tiberius SemproniuS Gracchus Bemühen that der Senat den Schritt vor dem er sich seit fünfzig Jahren gesträubt, er erwarb neue Provinzen die dann den Kapitalisten nothwendig und unabwendbar zur Ausbeute verfielen. Auch für die neuen Erwerbungen stand somit die wirthschaftliche Entwicklung in Aussicht, die in Italien und Sicilien sich bereits vollzogen hatte. Und diese Entwicklung hatte sich inzwischen schon als staatsgefährlich offenbart. Die Armeen in Afrika, Spanien, Makedonien u. s. w. hatten nichts mehr von dem Geist der früheren Armeen gezeigt. Die Disciplin war gelockert, die Energie fehlte, Mißerfolg häufte sich auf Mißerfolg. Es war der Energie einzelner Feldherrn dann wohl ge lungen, einen Moment die Haltung der Truppen zu bessern und wiederum den Sieg an die römischen Fahnen zu heften, eine dauernde Rückkehr zur alten Leistungsfähigkeit blieb aber fern, und der Staat sah seine äußere Machtstellung vollständig bedroht. Und wie die Nobilität dieses bedauerliche Resultat ihrer negativen Stellung zum bürgerlichen Mittel stände erkennen mußte, wurde ihr ebenso durch die Ereignisse die klare Einsicht aufgedrängt, daß die Meinung, durch die Kräftigung deS Senats als Mittelpunkt der eignen Machtstellung Herr im Staate trotz der ver änderten socialen Lage der Tributen zu sein, eine arge Selbsttäuschung ge wesen. Bei den Aushebungen gerieth der Senat nebst seinen Magistraten wiederholt in die Situation völliger Machtlosigkeit und mußte zu ganz außergewöhnlichen Maßregeln greifen. Und nicht minder mußte er bei andern Gelegenheiten empfinden, daß das durch die Aushebungen immer
wieder in seinem Selbstgefühl als werthvoller Faktor der StaatSgemein-
schaft gekräftigte Volk, das auch durch mancherlei Errungenschaften, seine Rechte vergrößert, auch über den Willen deS Senats hinaus mit Nicht achtung selbst bestehender Gesetzesvorschriften in die Leitung der öffent lichen Dinge eingriff. War dieses für den Senat beunruhigend, so war
es ebenso für den Staat gefährlich, und erneuert trat die Frage als eine brennende in den Vordergrund, wie diesem Zustand abzuhelfen sei.
Die
Partei des Eroberers von Carthago erkannte diese Situation zuerst. LäliuS dachte wieder an großartige Assignationen, das alte Mittel sollte helfen,
um eine neue Bauernschaft zu schaffen.
Den Eingriff, den er dabei in
Karl Wilhelm Nitzsch.
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die Rechte und Besitzungen der Nobilität hätte durchführen müssen, er schien ihm aber zu groß, er stand von seinen Plänen ob und erhielt vom
Senat den Beinamen des Weisen.
Die Partei ließ aber darum im In
teresse für die allgemeine Frage nicht nach.
Aber sie faßte die Sache
doch von anderen Zielpunkten her ins Auge als dem, die alte aristokratisch-
bäuerliche Republik durch Regeneration der Bauerschaft herznstellen und damit die demokratische Entwicklung, welcher Rom zueilte, zu vernichten. Die Theorien hellenischer Staatsweisheit, denen sich dieser Kreis der No
bilität zuwandte, mußten sie vielmehr auf den Gedanken führen, diese demokratische Entwicklung der Verfassung als etwas Positives und Defi nitives hinzunehmen, aber auch zu versuchen, ob sich unter Anerkennung
dieses Zustandes der Volkssouveränität nicht verfassungsmäßige Mittel und Wege fänden, bei voller Aufrechterhaltung der Wirthschaftsentwicklung
Italiens dieser Demokratie alles Staatsgefährliche zu nehmen.
Oie De
generation der Nobilität, wie sie bereits in Verwaltung und Gericht zu Tage trat, schien auch nur auf diesem Wege eine für daS Staatswesen
heilsame Correctur erfahren zu können.
Scipio trennte sich daher von
der Nobilität und den Publicanen, er offenbarte in dem Anlehnen an demokratische Elemente und in seinen censorischen Angriffen gegen No
bilität und Publican seine und seiner Anhänger veränderte politische Rich
tung, aber so schnell konnte er das Mittel der verfassungsmäßigen Reform nicht finden.
Da brach in Sicilien der Sklavenkrieg aus, zu Rom, Min-
turnä, Sinuessa u. a. Orten, in Atlika und DeloS erstanden Sklavenver schwörungen, und es zeigte sich zum Schrecken aller, welch furchtbarer dtrecter Gefahr Rom durch die Sklavenwirthschaft ausgesetzt war.
Scipio
Aemilianus entschloß sich auch jetzt nicht gleich, eine bestimmte Reform anzubahnen; er ging nach Spanien, um dort im Felde dem Vaterlande zu dienen, ihm folgte dorthin die Mehrzahl seiner Genossen, sie mochten
denken, nach der Rückkehr den inneren Zuständen der Republik näher zu
treten; bis dahin, so durften sie hoffen, werde eben wegen der Kriege, die der Staat zu führen, in den inneren Verhältnissen eine gewisse Sta
bilität eintreten.
Aber die Dinge in Rom kamen während Scipios Ab
wesenheit in die allerheftigste Bewegung.
einige in
Von seiner Partei blieben nur
Rom zurück, unter diesen Appius Claudius
Gracchus, und von diesen ging die Bewegung aus.
und
TibevtuS
Persönlich hatten
sie sich bereits vor einiger Zeit von Scipio getrennt, jetzt trennten sie sich
auch politisch von ihm; sie verleugneten dabei nicht die Parteiprincipien die sie mit jenem gemeinsam halten, sie erfaßten dieselben nur radikaler,
wenn sie meinten, schon jetzt wäre die Zeit zum Handeln gekommen.
Der
Umstand, daß der Senat für die Ausrüstung der spanischen Armee eine
Anleihe auf die Vectigalia des nächsten Lustrums bei den Publicanen
hatte machen wollen, um die Nobilität nicht finanziell zu belasten, der weitere Umstand, daß der Senat auf eine förmliche Aushebung verzichtete,
um die mürrische Plebs nicht zu erregen, hatten die Schäden des gegen wärtigen Regiments wie die der gegenwärtigen demokratischen Entwicklung
nochmals in grelles Licht gesetzt, Tiberius Gracchus nahm daraus neuen Anlaß für die Ansicht, daß die Zeit zum Handeln dränge, er glaubte in dem Zurückgreifen auf das alte Mittel der Assignation auch den Weg
zu erkennen, den er zum besten des Staates einschlagen müsse, und er
schritt zur Realisirung seiner Ideen, als er Tribun geworden. —
Tiberius Gracchus
befand sich in Uebereinstimmung
mit Appius
Claudius, wenn er meinte, die Durchführung der Afsignation werde ihm gelingen; auch sonst gab es Persönlichkeiten in hervorragender Stellung, die dieser Anschauung waren; und im geheimen waren viele einem solchen
Unternehmen zugeneigt, die öffentlich dafür einzutreten entweder keinen
Muth hatten oder keine Befugnisse erkannten; von ihnen erhielt Tiberius Gracchus Ermunterungen zu seinem Vorhaben.
Aber die Sache lag doch
weit anders, als alle diese vermuthet, und Tiberius Gracchus sah sich arg getäuscht, wenn er an einen glatten Verlauf der Sache gedacht hatte. Er sah sich bald neben dem Eingriff in die faktischen Besitzverhältnisse
der Nobilität zu einem Angriff gegen die Machtsphäre des Senats auf einem Gebiet veranlaßt, auf welchem dem Senat entgegenzutreten der ganzen Tradition der Republik und seinen eignen Wünschen widersprach;
er mußte dabei die absolute BolkSsouveränität proklamiren.
Aber er
mußte ferner erkennen, daß die städtische Plebs entweder den eigentlichen Zweck seiner wirthschaftlichen Reform verkannte oder zum mindesten doch
derselben sehr kühl gegenüber stand; sie verlangte statt socialer politische Reformen.
Und dann sah er sich, um seine Pläne der Regenerirung einer
mittleren Bauernschaft überhaupt durchzusetzen, gerade auf die Hülfe dieser
städtischen Plebs angewiesen, und er mußte daher in seine Resormpläne
auch
dik Vergrößerung politischer Rechte derselben aufnehmen.
ganze Thätigkeit bekam dadurch einen völlig veränderten Charkter.
Seine
Wäh
rend dann aber die Plebs noch schwankte, ihm ganz ihre Unterstützung angedeihen zu lassen, sanden seine Gegner Gelegenheit durch einen Ge
waltakt sich seiner zu erledigen.
Damit freilich kam die von ihm angebahnte Bewegung nicht zum
Stillstand, ja sie konnte trotz aller Bemühungen der Nobilität nicht ein
mal auf das eigentliche Feld der Assignation beschränkt, auf den Aus gangspunkt zurückgeführt werden.
Ueber die Absichten des Senats, über
die entgegengesetzte Anschauung der eignen maßvollen Anhänger des LiciniuS Preußische Jahrbücher. Bd.
XLVIII. Heft 4.
25
CrassuS, des Scipio AemilianuS hinaus, deren einer zu gelegner Zeit für die radikale Reform starb, deren andrer aus dem Wege geräumt wurde, drängte die Partei des ermordeten Tiberius Gracchus unter des Cajus Gracchus und
deS FulviuS Flaccuö Leitung zu einer Form der Ausführung der Ackergesetze, welche außer der Nobilität und den Publicanen auch die Bundesgenossen erschreckte, und zugleich führten die Cirkellinie der verschiednen Interessen,
welche die Reformpartei zu befriedigen suchen mußte, einerseits und die taktischen Fehler des Senats gegen diese ganze Bewegung andrerseits zu
einer Umänderung in den Rechten des Senats und der Magistrate, in
den Machtbefugnissen der Comitien, in der Stellung der Bürgerschaft, im Steuer- und Militairshstem, die als totale Umwälzung der bestehenden
Staatsordnung gelten mußte.
Gegenüber allen diesen Plänen des Cajus
Gracchus die ihnen gemeinsam nützen sollten, fand unter den Klassen der
städtischen und ländlichen Plebs, der Latiner und Bundesgenossen wiederum
eine kurzsichtige egoistische, darum gegenseitig eifersüchtige und neidische Be
theiligung statt, sodaß die Nobilität geschickt eingreifen konnte, dem Cajus
Gracchus die Hülfe jener entzog, wo er sie brauchte und auch seiner Herr durch eine Gewaltthat wurde. — Soviel vom Inhalt dieses gelehrten Werkes.
Man erkennt, es bietet
mehr als die Geschichte der Gracchischen Reformen, es ist eine Geschichte der römischen Republik vom Ausbau der Verfassung bis zum Eintritt in die Aera der Revolutionen, und indem sie uns von der Größe Roms in
diesem Zeitraum berichtet, deren Ursachen in der eigenthümlichen Organi
sation der älteren Republik zu suchen sind, und zugleich von dem Verfall Roms während desselben Zeitraums erzählt, als dessen Folge der eigen
artige Gang der weiteren Geschichte der Republik bis zur Cäsarischen Mon archie zu betrachten ist, wird sie der Ausdruck der Auffassung, welche der
Verfasser von der Geschichte der Republik überhaupt sich wissenschaftlich
erworben.
Wir brauchen nur an einzelnes auS dem oben mitgetheilten
Inhalt des Buches anzuknüpfen, um hierüber ganz klar zu sehn.
Und
wir sind andrerseits durchaus berechtigt, für eine solche Betrachtung von
diesem Werke auszugehn, denn was Nitzsch sonst auch über den Charakter
der römischen Republik geäußert hat, immer treten uns dieselben Grund
anschauungen entgegen, denen wir hier begegnen. Die Verfassung Roms am Ausgange deS fünften Jahrhunderts der
Stadt hat durchaus den aristokratischen Charakter gewahrt. punkt derselben
Der Schwer
liegt in den Comitien und hier in den Händen einer
ackerbauenden Bürgerschaft.
Diese Bürgerschaft hat unzweifelhaft die
Majorität der Versammlung in ihrem Besitz, aber sie ist darum doch
von aller demokratischen Richtung entfernt.
Gerade als bäuerlicher Stand,
aristokratisch abgeschlossen gegen Handwerker, Tagelöhner, Freigelassene, war die Bürgerschaft dem Einfluß der regierenden Aristokratie zugänglich,
wie stets der Bauer sich willig dem größeren Grundherren unterordnet, wo er auS gleicher Art des Erwerbes auch gleiche Interessen bei diesem voraussetzt und andrerseits ein natürliches Gefühl der politischen und ma
teriellen Ueberlegenhett deS größeren Besitzers anerkennt.
Und wenn das
römische Bürgerthum in seinen politischen Leistungen Weisheit, Mäßigung,
Nüchternheit des Urtheils offenbart, so offenbart sich eben hierin die Folge der bäuerlichen Wirthschaft, die in der strengen Arbeit der Feldbestellung,
in der Sparsamkeit deS kleinen Haushaltes solche Charaktereigenschaften
zeitigte.
Und wie diese Bauernschaft die Grundlage der Staatsordnung
im Innern bildete, so war sie die Basis der Machtstellung nach außen. Die Unwiderstehlichkeit der römischen Armee beruhte darauf, daß eben diese Bauernschaft den Kern der Legion auSmachte.
Die Disciplin der
Armee, die freiwillige Unterordnung des Legionärs unter die Offiziere der
Nobilität, die Anerkennung der Kavallerie als bevorzugter Truppe, die innerliche Geschlossenheit und äußerliche Sonderstellung der Legion gegen
die Alae der Bundesgenossen, der ganze Geist der Legion beruhte auf diesem Ueberwiegen deS aristokratisch-bäuerlichen Elements.
Auf der bäuer
lichen Tüchtigkeit fußte die Zähigkeit, Ausdauer, Energie des Legionärs.
In der Doppelstellung als Bürger und Bauer erwarb sich der Legionär jene moralischen Eigenschaften und physische Tüchtigkeit, ersten Infanteristen der Welt machten.
die
ihn zum
Und auf diesem Zusammenhangs
der Legion und Comitien beruhte überhaupt das ganze Leben der Re
publik.
In dieser doppelten Erziehung politischer Schulung und militäri
scher Zucht reifte die staatsmännische Weisheit, das militärische Genie
einzelner, erwuchs das politische Urtheil und die kriegerische Tüchtigkeit
aller, und eS entwickelte sich daS allgemeine wie das persönliche Interesse jedes einzelnen an den öffentlichen Dingen zu jenem Gleichgewicht nüch terner Erwägung des eignen Vortheils wie begeisterter Hingabe für daS
allgemeine Wohl, welches als Produkt eben jene Erscheinung der älteren Republik ermöglicht hat, die unS in ihrer Einfachheit so großartig und
in ihrer Großartigkeit doch so menschlich schön entgegentritt, weil sie die
Leistung eines einfachen BürgerthumS ist, das in voller Freiheit feine schöpferischen Kräfte entfalten konnte und entfaltet hat, das in seiner Arbeit
den Quell eigner und gegenseitiger Zucht sich schuf und auf dieser Freiheit und dieser Zucht seine wunderbare Dieses Staatswesen erlitt darum
geschichtliche Stellung begründete.
denn auch eine totale Veränderung,
als dieser Träger desselben, das bäuerliche Bürgerthum zu existiren auf hörte.
Warum es aufgehört hat, das hat Nitzsch eben in seinem Buche über die Gracchen dargestellt.
Die neuere Auffassung der römischen Geschichte
geht bekanntlich überwiegend andre Pfade, und sie schlägt diese ein, weil
sie sich zu den Thatsachen, die Nitzsch auö der Geschichte der mittleren Republik für seine Betrachtung heranzieht, ganz anders stellt.
faßt beispielsweise,
Nitzsch
um nur einiges zusammenzustellen, die censorischen
Maßregeln der Nobilität während dieser Periode im Zusammenhänge auf,
diese andre Auffassung
negirt entweder
einzelne censorische Maßregeln
überhaupt oder doch wenigstens diesen inneren Zusammenhang; Nitzsch
will die äußere Politik wiederholt aus Gründen der innern Politik nicht blos erklärt, sondern auch gerühmt wissen, diese Anschauung trennt äußere
und innere Politik, sie findet dabei jene nicht blos unerklärlich, sie findet vielmehr in ihr Planlosigkeit und Schwäche. Und wo Nitzsch noch lebendige
Fortentwicklung
des
Staates
sieht,
erblickt
diese
Auffassung
bereits
Stagnation der schlimmsten Art; wo Nitzsch Regeneration des Bürgerthumö als Heilmittel der Schäden erblickt, erblickt diese Darstellung im
völligen Umbau der Verfassung die Rettung; wo Nitzsch von den Staats männern rühmt, daß sie die Forderungen der Zeit erkannt und sie durch
wirthschastliche Maßnahmen wie auch durch solche der äußeren Politik und
durch Verfassungsänderungen mit Hülfe der Censur zu erfüllen bemüht
gewesen, da spricht diese Behandlung von der Unfähigkeit der Staats
männer, die Rom aus seiner veränderten Weltstellung erwachsenen Auf
gaben zu verstehn, da spricht sie das harte Urtheil von einer Politik von Fall zu Fall, von einem Regiment des GehenlassenS, wie es geht. ES ist eine Welt von Anschauungen, was hier in Betreff der Ge
schichte der mittleren Republik in Gegensatz tritt, und dieser Gegensatz wirkt fort in der Betrachtung der älteren und der jüngeren Republik. WaS Mommsen in seiner römischen Geschichte über Genesis und Ent
wicklung dieser Republik bis Cäsar erzählt hat, ist nun so Gemeingut unserer Bildung geworden,
daß nach obiger Ausführung über die ge
schichtliche Anschauung, die Nitzsch von diesem Staatswesen hatte, eS über
flüssig wäre, von diesem tiefen Gegensatz ihrer Betrachtungen hier aus führlicher zu handeln.
Es kann sich hier nur darum handeln, die Gründe
auszusuchen, die eine so verschiedene Auffassung der Dinge veranlaßten, und da spitzt sich die Frage, da wir es hier doch nur mit den Leistungen
von Nitzsch zu thun haben, so zu: welches war die Stellung dieses Ge lehrten zu den Quellen der römischen Geschichte?
Weiterer Blick, tieferes
Eindringen, schärfere Beobachtungen, kurz Vorzüge der Befähigung für
diese oder jene Aufgabe, die dem Forscher gestellt wird, machen den Vorzug
eines GeschichtSwerkeS vor einem andern in einem bestimmten Falle auö;
neue Gesichtspunkte, andere Methode der Kritik lassen unS bet gleicher
Befähigung geschichtlichen Urtheils Verschiedenheiten im Einzelnen zwischen zwei Werken desselben Inhalts verstehen; totales Auseinandergchen deS GesammturtheilS über ein Staatswesen an der Hand derselben Quellen
läßt sich nur begreifen, wenn die Stellung derjenigen, die über das ge
schichtliche Leben eines Volkes urtheilen, zu den Quellen dieser Geschichte eben eine grundverschiedene ist.
Und bei der Eigenart der römischen
Ueberlieferung ist diese Verschiedenheit eben durchaus möglich.
Wenn die
Geschichte Roms uns direkt erst durch die Geschichtschreiber und Antiquare der letzten Zeit der Republik bekannt ist und vieles, das uns über die
Geschichte dieses Staatswesens berichtet wird, gar erst bei den Schrift stellern der Kaiserzeit zu lesen ist, dann ergibt sich zunächst das Eine: kein Urtheil über irgend einen Abschnitt ist möglich, bevor nicht der Ge
lehrte eine feste Stellung zu dem gesammten Quellenmaterial genommen.
Und diese Stellung zu den Quellen wird mehr sein müssen, als das, was wir so gemeinhin als Urtheil über deren Glaubwürdigkeit bezeichnen.
In erster Linie heißt es den Entscheid darüber treffen, ob was wir sonst in Einzelnachrichten über Institute der Republik, über Censusansätze u. a. irgendwo antreffen, auch Werth haben soll, wo es sich zwischen die An
gabe, die unS ein zweifelloses Denkmal der älteren Republik, und die
Nachricht, die wir bei einem Geschichtschreiber am Ende der jüngeren Re publik antreffen, als Mittelglied nicht einstigen läßt, oder nur da, wo es sich einstigen läßt.
Nitzsch hatte, als er sein Buch über die Gracchen
schrieb, seine Entscheidung bereits getroffen,
er meinte in den Quellen-
fragmenten der mittleren Zeit und sonstigen zerstreuten Nachrichten, so wie in bestimmten Thatsachen seien unS von den Instituten der Republik im
Jahrhundert der punischen Kriege und für die Decennien nachher so positive Erscheinungen vorgeführt, daß sie Gültigkeit haben müssen, auch
wenn sich diese Angaben über Magistrate und Censusänderungen u. a. mit den Denkmälern der älteren Zeit und den Notizen der Historiker der
späteren Zeit zu einem einheitlichen Bilde nicht combiniren lassen.
Die
Geschichtschreiber im Cäsartschen Zeitalter ferner sähen alles, was sie von der früheren Geschichte ihres Vaterlandes erfuhren, mit den Anschauungen
ihrer Zeit an, Menschen, Zustände, politische und sociale Aufgaben, die vor ihnen liegende Periode der Revolutionen habe den Bau wie die Phy siognomie deS StaatSkörperS aber so vollkommen verändert, daß von einer Ähnlichkeit der mittleren und der jüngeren Republik gar keine Rede sein
könne.
So werde, da wir an einer Fülle von Thatsachen die Geschichte
der mittleren Zeit für sich verstehen könnten, dies zur Pflicht, zugleich er halte damit diese Geschichte der mittleren Zeit aber auch einen besondern
Karl Wilhelm Nitzsch.
342
Werth, sie werde der eigentliche Fußpunkt für die Betrachtung der früheren
und der späteren Geschichte.
Mit dieser Anschauung über die Verwerthung
der Quellen erklärt sich nun vollständig die eigenartige Auffassung, die
Nitzsch zunächst über das Jahrhundert vor den Gracchen, dann über die römische Geschichte überhaupt gewann und wir wissen auch, warum er sie festhielt.
Die Kritik der römischen
schwierige Aufgabe zu leisten,
heran treten kann.
GeschichtSquellen
hat noch
eine zweite
bevor der Forscher an die Dinge
selbst
Wenn in der Auffassung, welche die Schriftsteller der
Cäsarischen Zeit von den Jahrhlinderten vorher haben, ein durch die da
zwischen liegenden Revolutionen getrübter, durch zeitgenössische Zustände verdunkelter Blick zu erkennen ist, wie steht eS dann mit der Glaub
würdigkeit, dem Charakter, der Geschichtsauffassung der Geschichtschreiber selbst, aus denen ein LiviuS u. a. schöpften?
Erst mit dieser Recon
struction der römischen Geschichtschreibung konnte die etwaige Sicherheit
des historischen Schlusses erreicht werden, die unS dazu verhilft, aus einer Hülle von Diißverstäildniß und Entstellung daS Wirkliche herauszulösen.
Nitzsch hatte in seinen Büchern und Aufsätzen der vierziger Jahre diese Betrachtung hie und da begonnen, in seinen Vorlesungen früh die Be deutung dieser Aufgabe dargelegt und auch seine Stellung in dieser Frage umzeichnet.
Die Uebungen seines Seminars kamen immer wieder hierauf
zurück, und daß eö mit Erfolg geschah, davon gaben einige vortreffliche
Arbeiten seiner Schüler Beweis.
Das Gesammtresultat in dieser kriti
schen Aufgabe zog dann Nitzsch selbst in dem gelehrten Buch:
Die rö
mische Annalistik von ihren ersten Anfängen bis auf Valerius Antias
(1873). Die römische Annalistik, so legt Nitzsch dar, beginnt nicht erst nach
dem gallischen Brand.
Vielmehr hat gleich nach der Vertreibung der
Sie ist annalistisch, sehr dürftig,
Könige eine Ueberlieferung begonnen. und die Aedilen sind ihre Verfasser.
bis zum ersten punischen Kriege. und weiter die Laudationes hinzu.
Dies ist die einzige schriftliche Quelle Dann kommen die AnnaleS Maximi
Auf diesen Quellen beruht FabtuS
Pictor.
Auf diesem beruht Valerius AntiaS, auf diesen beiden LiciniuS
Macer.
Zu dieser kritischen Ordnung der römischen Geschichtschreibung
fügt nun Nitzsch in dem Buche die Charakteristik der einzelnen Quellen
schriften hinzu, und damit zieht der Verfasser zugleich seine Resultate für die Geschichte Roms.
Charakteristik.
Verweilen wir darum einen Moment bei dieser
Fabius Pictar schöpfte seine Nachrichten auS dem alten
Liber Annalis, aus den Annales Maximi und aus der zur Zeit ihrer
schriftlichen Fixirung
bereits
patricisch
gefärbten Laudationes.
Seine
Arbeit hat den Doppelcharakter eines gelehrten Werkes und einer politi schen Schrift.
Er überträgt die Anschauungen, in denen er und seine
Standesgenossen sich bewegen auf die frühere Zeit und will auf diesem
historischen Hintergründe die Politik und Stellung der Aristokratie in seiner Zeit rechtfertigen.
Ist ihm Fabius Cunctator der Retter des StaateS gegen
Hannibal, so ist ihm derselbe auch der Verfechter der Stellung deS Senats
gegen eine stolze, städtische Plebs gewesen.
Diese Entstellung, die sich In
diesem Bilde geltend macht, ist eine unbewußte, aber sie ist doch vorhanden. Nach FabtuS Pictar dauern die AnnaleS Maximi als Quelle der Geschichte
fort.
Sie werden ohne Scheu gefälscht.
Ebensowenig wahr sind die Leichen
reden, eine andere Form der geschichtlichen Ueberlieferung.
PolhbiuS, der
zu derselben Zeit schrieb, entbehrte ganz der Fähigkeit, eine historische Ent
wicklung zu verstehn, er hatte ferner einen bestimmten Parteistandpunkt, seine Auffassung ist darum nur einseitig und unvollkommen. Stande der Geschichtschreibung baut Valerius Antias auf.
Auf diesem
Er kennt schon
keinen andern Unterschied von Patriciern und Plebejern als den von reich
und arm und dieser Unterschied sei von jeher so gewesen.
Und dieses ab
solute Mißverständniß wird die Grundlange seiner Geschichtsauffassung. Aber diese hat auch noch einen anderen Gesichtspunkt.
Seine Gens soll verherr
licht werden und darum wird die ganze Verfassungsgeschichte umgeändert, werden Thatsachen und Zahlen
älteste Zeit hineingedichtet.
Auf
erfunden, Zustände seiner Zeit in die Valerius
und
Fabius Ptctor beruht
dann LiciniuS Macer; er verfährt kritiklos in der Art, wie er die An
gaben dieser Schriftsteller chronologisch und sachlich verbindet, und er hat ebenfalls eine außerhalb der Geschichtsbetrachtung
liegende Tendenz im
Auge, die Gens Licinia zu verherrlichen.
Die hohe Wichtigkeit, welche diese Quellenkritik für die ganze Ge schichte der Republik hat, leuchtet sofort ein.
Wer hier bemerkt, wie
Nitzsch den Fabius Pector charakterisirt, wird verstehn, warum er nichts
von einer stolzen, machtsüchtigen aber politisch-unfähigen Plebs Urbana in der Zeit des Hannibalifchen Krieges wissen will, warum er die rettende
That deS Fabius Cunctator nicht so hoch schätzt, in dessen tactischen Maß regeln nackten Egoismus für sich und feine Standesgenossen und zugleich
Unehrlichkeit gegen die bäuerliche Plebs sieht, warum er die Errettung RomS aus der Katastrophe der Hannibalifchen Siege nicht einzig der
Weisheit des Senats zuschreibt, warum er der bäuerlichen Plebs den vollen Antheil an der Errettung des Vaterlandes wahrt.
Ebenso schöpfen wir
aber aus diesen Mittheilungen, in denen Nitzsch fixirte, was seit dreißig
Jahren ihn beschäftigt hatte, den weiteren Grund, warum Nitzsch die In stitute der ältern und mittlern Republik und deren Zustände überhaupt.
344
Karl Wilhelm Nitzsch.
soweit irgend thunlich, wo aus gleichzeitigen Thatsachen sich ein Schluß
ergab, und wo gleichzeitige Nachrichten vorlagen, eben aus diesen und unabhängig von der späteren Ueberlieferung zu erklären sich bestrebte.
Das Buch selbst, von dem wir hier sprechen, ist überaus scharfsinnig,
wir staunen über die Fülle der Beobachtungen, die Nitzsch an LiviuS und Dionysius von Halikarnaß macht, um die einzelnen Quellenschriften heraus
zulösen, wir bewundern die Geschicklichkeit in der Handhabung der äußeren und inneren Kritik bei dieser ihrer ganzen Natur nach überaus schwie
riger Aufgabe, die Quellen in dieser Verarbeitung so von einander zu
scheiden, daß die Charakteristik der einzelnen möglich ist: aber das Buch
kommt bei aller Schärfe der Beobachtung und aller Größe der Gelehr
samkeit doch über einen hypothetischen Charakter nicht hinaus und zwar deshalb nicht, weil die gewissermaßen zur Thesis erhobene Behauptung,
auf der die ganze Schlußfolgerung sich aufbaut, nicht den Charakter der Unantastbarkeit hat.
Es
ist das jener Satz,
den Nitzsch von Nissen
acceptirt, daß LiviuS für eine bestimmte Strecke immer nur eine Quelle zu Grunde lege.
Andere Forscher der römischen Geschichte haben zum
Theil sehr erhebliche Gründe gegen dieses sogenannte Einquellenprincip gebracht, sie erschüttern damit auch die Charakteristiken, und es bleibt das Buch darum eben zum Theil hypothetisch.
Aber es bleibt immer ein unvergängliches Denkmal der Gelehrsam keit seines Verfassers.
Und es hat für uns Jüngere doch auch einen
positiven hohen Werth, indem eS uns die Bahnen weist, auf welchen die
Erforschung der römischen Geschichte noch großes zu leisten hat, indem eS ferner gegenüber der römischen Geschichtschreibung uns mit jener Skepsis erfüllt, die zur Vorsicht gegen alles dogmatische Urtheil über diese Ge
schichte mahnt und zugleich doch auch durch eine Reihe interessanter Er
wägungen in uns das Interesse wachruft, über die Skepsis hinaus zur
Wahrheit zu gelangen. Man darf nun nicht aus diesem einschränkenden Urtheil über dieses kritische Werk zu weite Schlüsse für die Gültigkeit oder Ungültigkeit des Urtheils von Nitzsch über daS römische Staatswesen und seine Geschichte
überhaupt ziehn.
Es ist mit den exakten Wissenschaften eben doch etwas an
deres als mit der Geschichte; eine Lücke der Beweisführung in der einheit
lichen Auffassung des Quellenmaterials erschüttert noch nicht die Einzelheiten der mit dieser Auffassung zusammenhängenden Betrachtungen, und wie
Nitzsch gerade vorgeht, neben der Quelle die Institution, die einzelne Thatsache selbst auf die verschiedenartigste Weise zu betrachten, unter neuen Gesichtspunkten der Betrachtung ihr auch neue Seiten für daS geschicht
liche Urtheil abzugewinnen sich bestrebt, in dieser Art wie er Niebuhrs
Karl Wilhelm Nitzsch.
345
Methode fortbildet, da bekommt alles einen mehrfachen Stützpunkt, so daß
wo eine Stütze fällt, andere die Sache aufrecht erhalten.
Seine Eigen
artigkeit und Originalität in der Stellung zur römischen Geschichte tritt außerdem mit dem strengen Gesichte ernstester Gedankenarbeit hervor und findet schon darum die Autorität, daß niemand sein wissenschaftliches
Forschen diesem Gebiete zuwenden kann, ohne seinen Forschungen ein
gehende Beachtung zu schenken. — Soviel an dieser Stelle über die Gesammtletstung von Nitzsch für unsere Kenntniß der römischen Geschichte, es mag nun erst beobachtet werden, was er auf andern Gebieten unseres historischen Wissens geschaffen, dann wird sich Gelegenheit bieten, seine
Stellung unter den Historikern unserer Nation zusammenfassend zu be sprechen und dabei genau auch zu präcisiren, wie er unter die einzureihen ist, die der römischen Geschichtsforschung ihre Lebensarbeit zugewandt.
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums. Fast in der Mitte von London, etwas näher dem Westen der Stadt,
liegt, in einem einzigen monumentalen Bau von gewaltigen Dimensionen fast alle wissenschaftlichen Sammlungen Londons umfassend, das British
Museum.
Es nimmt daö von Great Russell Street (im Südosten),
Montagu Street (im Nordosten), Montagu Place (im Nordwesten), Char
lotte Street (im Südwesten) eingeschlossene Viertel beinahe ganz in An
spruch; seine Hauptfatzade liegt nach Great Russell Street zu frei; zwischen Straße und Porticus befindet sich ein weiter, mit wohlgepflegten Rasen plätzen versehener Raum und zum Abschluß desselben ein stilvolles Eisen gitter.
Gegründet und gefördert durch die erleuchtete Munificenz englischer
Könige und die opferfreudige Begeisterung von Privaten, wie vor Allem
durch die reichen, in Fülle gespendeten Mittel des Staates hat das In
stitut des Brittischen Museums für die eingehendsten Studien auf fast allen Wissensgebieten und zugleich für die Verbreitung vielseitiger Kenntnisse
in den weitesten Schichten der Bevölkerung eine Bedeutung gewonnen,
welche die englische Nation mit gerechtem Stolz, das Ausland mit be
wundernder Anerkennung erfüllt.
Und dabei ist diese Sammlung von
Sammlungen — denn das ist das Brittische Museum — keineswegs gleich andern berühmten Museen oder Bibliotheken Europas das Werk viel
hundertjährigen Sammelns und Ordnens: nein, kaum vier Generationen
genügten, um bei den großartigen Gesichtspuncten, nach welchen die Eng länder Pläne für praktische Schöpfungen zu entwerfen pflegen, bei der Energie und Zähigkeit, mit welcher sie bei der Ausführung vorgehen, bei der regen, immer frischgehaltenen Theilnahme, welche nationale Ideen dort in allen Kreisen des Volkes finden, und endlich bei dem bekannten Reich
thum, über welchen England im Allgemeinen gebietet, jene Stätte ästhe
tischen Genusses und geistiger Belehrung zu schaffen, welche in einzelnen Beziehungen zwar von andern Sammlungen erreicht oder übertroffen wird,
in ihrer Gesammtheit aber und namentlich in Bezug auf leichte Zugäng
lichkeit und ausgedehnte Nutzbarkeit einzig in ihrer Art ist. Der Ursprung deS heutigen Brittischen Museums reicht eigentlich bis ins Jahr 1700zürück. In diesem Jahre wurde von Sir John Cot ton die von seinem Großvater Sir Robert Cotton angelegte, besonders
für Denkmäler der Englischen Litteratur wichtige Handschriftensammlung, welche sein Sohn und Enkel noch vermehrt hatten, der Englischen Nation zum Geschenk gemacht. Im Cotton House zu Westminster aufbewahrt, gerieth sie bei dem Brande dieses Gebäudes (1731) in große Gefahr vom
Feuer zerstört zu werden. Dies veranlaßte die Regierung zu dem Plane, für diese und ähnliche Sammlungen eine eigene Centralstelle zu gründen. Zur Ausführung kam der Plan aber erst im Jahre 1753, als das Par lament (A. 26 George II. C. 22) beschloß, „das Museum, bez. die Samm
lung des Sir Hans Sloane (für 20,000 Pf. St.), und die Harleianische Handschriftensammlung (für 10,000 Pf. St.) anzukaufen; und zur besseren Aufbewahrung und bequemeren Benutzung der genannten Sammlungen sowie der Cotton'schen Bibliothek und der weiteren Vermehrungen eine Centralstelle (one General Repository) zu gründen*)". Sir HanS Sloane (f 1753) hatte nämlich seine sämmtlichen Sammlungen, welche sowohl gedruckte Bücher und Manuskripte als Alterthümer und Natur gegenstände enthielten und einen Werth von etwa 50,000 Pf. St. repriisentirten, dem Staate für die eben erwähnte Summe zum Kaufe angeboten. Im Jahre 1754 wurde das Montagu-Haus, an der Stelle des heutigen Brittischen Museums, (für 10,250 Pf. St.) angekauft, mit einem Kosten
aufwand von beinahe 13,000 Pf. St. baulich hergestellt und die bezeich neten Sammlungen darin untergebracht. Die Mittel hierfür sowie für einen Verwaltungsfonds wurden durch eine öffentliche Lotterie beschafft.
Anfangs waren es nur drei Abtheilungen (departments), je eine für Handschriften, gedruckte Bücher und Naturgeschichte; mit der Bücherab
theilung waren die Bestände an Münzen, Gemmen, Stichen und Zeich nungen verbunden. Schrittweise stieg die Zahl bis auf dreizehn, von denen jedoch eine (dep. of Maps, Charts, Plans and Topographical Drawings) im vorigen Jahre dem department of Printed Books wieder untergeordnet wurde. Ihre Zahl beträgt zur Zeit also zwölf, nämlich die departments of Printed Books, of Manuscripts, of Oriental Manuseripts (seit 1867), of Oriental Antiquities, of Greek and Roman Antiquities (seit 1807), of British and Mediaeval Antiquities and *) Ein übersichtlicher und belehrender Abriß der wichtigste» Ereigniffe an« der Ge schichte de« Brittischen Museums findet sich im IV. Capitel der Biographie Panizzi's von Mr. Fagan (London.1880; I 102 ff ).
348
Die Bibliothek und der Lesesaal deS Brittischen Museums.
Ethnography, of Coins and Medals, of Zoology (seit 1837), of Geology, of Mineralogy (feit 1857), of Botany (feit 1870) und of Prints
and Drawings*). Jede Abtheilung wird durch einen besondern Dirigenten (Keeper) — natürlich innerhalb des Rahmens der gesammten Museums
verwaltung — geleitet. Es wäre ermüdend und würde weit über die Grenzen dieses Auf
satzes hinausgehn, wollte ich alle die Privat- oder öffentlichen Samm lungen aufzählen, welche im Laufe der Zeit an das Brittische Museum ihre Schätze abgaben und dort seitdem ebenso zum Ruhme und Ge deihen des Ganzen beitragen, wie für sich dauernde Beachtung und Ver werthung gewonnen haben. Nur an einige der bekanntesten, mit dem Brittischen Museum nach seiner Gründung vereinigten Sammlungen er innere ich: an die berühmten von Lord Elgin nach England gebrachten Sculpturen des Parthenon, welche das Parlament im Jahre 1816 für die Summe von 35,000 Pf. St. ankaufte und die für sich allein genügen würden, das Museum zum Zielpunkte zahlreicher Künstler, Kunstforscher und Freunde der Kunst zu machen. Fast gleichzeitig mit den Elgin Marbles wurden die Denkmäler von Phigalia erworben (im Jahre 1815), es folgten 1845 die Lycian Marbles, 1856 f. die Reste des Mausoleums
von Halicarnaß, 1863—1875 die von Ephesus. An Vasen, Gemmen, Münzen u. dergl. finden wir dort die bekannte Sammlung BlacaS (1866), und im Jahre 1872 allein wurde die Summe von 10,000 Pf. St. für den Ankauf der schönsten Exemplare griechischer und römischer Münzen aus der Wigan Collection ausgegeben. Einzig in ihrer Art sind die Denkmäler Assyrischen Alterthums, welche Layard von 1849 bis 1851 zu Kuyundjik, dem alten Ninive, und zu Nimrud auSgegraben und deren Studium den Forschungen über Sprache und Geschichte des Orients neue Bahnen eröffnet hat. Nicht minder haben die naturwissenschaftlichen und ethnographischen Sammlungen, welche von den Reisen des Capitän James Cook (namentlich 1772—1775), von der antarktischen Expedition
des Capitän Sir James Clark Roß 1839 f., von der VenuSdurchgangSExpedition (1875) sowie von der Nordpolfahrt des Jahres 1878 her-
stammen, in den Räumen des Brittischen Museums Aufstellung gefunden. *) Schon hier sei erwähnt, daß gegenwärtig, um dem sehr drückend gewordenen Rmimmangel abzuhelfen, die vier naturwissenschaftlichen Abtheilungen aus dem Gebäude deS Britiah Museum entfernt und in einen dazu besonders aufgeführten'Bau (Natural History Museum oder New British Museum), gegenüber dem South Kensington Museum gelegen, übergeführt werden. Der freigewordene Raum soll besonders den Sammlungen der Alterthümer zu gute kommen. Die Verwaltung jener vier departments bleibt übrigens nach wie vor den Trustees des Britti schen Museums unterstellt. Mr. Taylor, der seitherige Secretär de« Principal Librarian, führt die Vertretung deffelben im Neuen Museum.
Die Bibliothek und der Lesesaal de« Brittischen Museum«.
349
Daß bei so raschem und bedeutendem Wachsen der Sammlungen die alten im Jahre 1754 erworbenen Räume des Montagu-HauseS nebst ge legentlichen Erweiterungen nicht lange auSreichen konnten, liegt auf der Hand.
Seit dem Jahre 1823, als die Bibliothek König Georg III.
(The King’s Library), welche in einer Zeit von 50 Jahren mit einem Kostenaufwand von beinahe 200,000 Pf. St. gesammelt worden war, öffent
liches Eigenthum wurde, ward die Frage eines umfaffenden Neubaues ventilirt
und dieser auf dem bisherigen Grundstück nach Plänen von
Sir Robert Smirke ausgeführt.
Erst im Jahre 1845 waren alle vier
Flügel des jetzigen Baues fertiggestellt.
Dieser Hauptbau nimmt einen
Flächenraum von etwa 460 Engl. F. in der Länge und 410 F. in der Tiefe ein (1 Engl. F. — 0,304697 m.); im Innern befand sich ein freier
Raum von 235 F. Länge bei 313 F. Tiefe*).
Man hatte bei jenem Bau
vor Allem die Herstellung von AuSstellungSsälen inS Auge gefaßt, und
die Grenville- und King’s Libraries sind auch jetzt noch in dem stattlichen Parterregeschoß des Ostflügels untergebracht.
Für die geordnete Auf
stellung der beständig wachsenden Büchermaffen aber und für die zu ihrer
Verwaltung nothwendigen Arbeiten, besonders aber für die Benutzung der Bücherschätze durch das Publikum zeigte sich auch jener Neubau als un
zureichend**).
ES war nun ein genialer, allerdings ähnlich schon von
anderer Seite ausgesprochener Gedanke deS damaligen Keeper of the Printed Books, Sir Anthony Panizzi***), den bezeichneten innern Raum
*) Dergl. A List of the Books of Reference in the Reading Room of the British Museum. 2. ed. 1871. Dorrede S. XVII. ** ) Während im Anfang tzaS Brittische Museum, dessen literarische Schätze am 15. Ja nuar 1759 zuerst dem Publikum zugänglich gemacht wurden, für Readers nur 20 Arbeitsplätze enthielt, welche auch durch lange Zeit mehr als ausreichten, bot es vom Jahre 1826 an für 120 und vom Jahre 1838 an für 208 gleichzeitig Arbeitende Raum. ** *) Antonio Panizzi, geboren 1797 zu Breöcello in Italien, studirte in Parma Jurisprudenz, wurde daselbst 1818 Doctor der Rechte und ließ fich darauf in seiner Vaterstadt als Advocat nieder. Als Carbonaro verhaftet (1821), entkam er glücklich aus dem Gefängniß, lebte zunächst in Lugano, wo er seine Processi di Rubiera schrieb; von da auögewiesen, wandte er sich nach England (1823). In seinem Heimathlande Modena in contumaciam zum Tode verurtheilt, lebte er um so freudiger sich in die Verhältnisse seiner neuen Heimath ein, mit deren Interessen er rasch auf daö innigste verwuchs. Nach kurzem Aufenthalte in London, lebte er durch mehrere Jahre als beliebter und angesehener Privatlehrer der Italienischen Sprache und Litteratur zu Liverpool in sehr angenehmen Verhältnissen. Bei Be gründung der neuen Londoner Universität (jetzt University College genannt) er hielt er 1828 dahin einen Ruf als Professor der Italienischen Litteratur, wurde 1831 daneben Extra Assistant Librarian am Brittischen Museum, ließ sich im Jahre 1832 naturalisiren und avancirte 1837 mit Ueberspringung eines Vorder mannes zur Stelle eines Keeper of the Printed Books. In Folge dessen gab er die Lehrthätigkeit an der Universität auf und widmete seine ganze Kraft dem Museum, welches ihm zu einem guten Theile seine großartige und mustergültige Organisation zu verdanken hat. Namentlich sind Bau und Einrichtung der New
350
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.
zum Bau eines großartigen Reading Boom und weiterer Bücher- und
Verwaltungsräume zu benutzen**).
Nach seinen Angaben und nach den
Zeichnungen des Mr. Sidney Smirke wurde ein 258 F. langer und
184 F. breiter Neubau hergestellt, dessen Mitte der Reading Room ein nimmt, ein runder, reich in Gold und Blau decorirter Kuppelbau von
140 F. Durchmesser und 106 F. Höhe. 18. Mai 1857 übergeben.
Der Benutzung wurde er am
Das Oberlicht, welches durch eine Lichtöffnung
von 40 F. im Durchmesser sowie durch 20 Fenster in den Reading Room fällt, die sich in einer Höhe von 35 F. über dem Boden, in gleichen Ab ständen von einander befinden und 27 F. hoch und 12 F. breit sind, ist
an klaren Tagen für die Arbeiten im Reading Room ausreichend, nicht
ganz bei trübem Wetter und in den Stunden des späten Nachmittags; auch werden die Leser zuweilen durch Regentropfen überrascht, welche durch
undichte Fugen dringen.
Rund um die Wand des Reading Room läuft
ein Gang, welcher in bequemer Weise die Verbindung der Lesehalle mit
allen andern Theilen des Museums vermittelt. Room führen nur zwei Thüren:
Aus und in den Reading
eine (südliche), für das Publikum be
stimmt, wird vom Haupteingang des Museums aus geraden Weges er reicht, die andere (nördliche) liegt jener gegenüber und dient nur den
Beamten des Museums.
Bon jenem Rundgang aber außerhalb des Lese-
saaleS führen — abgesehen von den zwei erwähnten Ausgängen — noch sieben weitere nach den inneren Lokalitäten.
Soweit diese zum Neubau
Library und des Reading Room sowie der neue alphabetische Catalog sein Werk. Im Jahre 1856 wurde Panizzi Nachfolger des Sir Henry Ellis als Principal Librarian, von welchem Amt er zunehmender Kränklichkeit halber im Jahre 1866 zurücktrat. Er starb zu London am 8. April 1879. Große Gewandtheit und Leb haftigkeit des Geistes, Ideenreichthum, ungewöhnliche Arbeitslust und Arbeitskraft, vielseitige Kenntnisse, reiche Lebenserfahrungen zeichneten ihn aus und waren ver bunden mit hoher Liebenswürdigkeit und Charakterfestigkeit. Sein bedeutendstes litterarisches Werk ist eine kritische Ausgabe von Orlando innamorato di Bojardo; Orlando furioso di Ariosto mit Commentar (London 1830—1834 in 9 vol.). Die hervorragendsten Staatsmänner, Gelehrten und Litteraten Englands, Frank reichs und Italiens zählten zu dem ausgedehnten Kreise seiner Freunde und Ver ehrer. Zu den ihm erwiesenen äußeren Ehren gehört, daß König Victor Emmanuel ihm im Jahre 1868 die Würde eines Senators von Italien antrug, und die Kö nigin von England ihn im Jahre 1869, was er früher wiederholt abgelehnt hatte, zur Ritterwürde erhob. Bereits ein Jahr nach seinem Tode erschien eine Bio graphie Panizzi's von LouiS Fagan in zwei Bänden, deren erste Auflage schon nach einer Woche vergriffen war. *) Ein Facsimile der Originalskizze (bat vom 18. April 1852) findet sich in dem an geführten Buche A List of the Books etc. nach S. XVI. Bereits am 5. Mai überreichte er den Trustees des Museums einen ausführlichen Plan für den Neu bau, aus dessen Motivirung zugleich die großen Uebelstände des bisherigen Raum mangels erhellen. Ein im wesentlichen vollständiger Auszug aus dem Bericht ist im I. Bande der Biographie Panizzi's S. 350 ff. abgedruckt. Uebrigens waren schon früher von ihm und Andern Vorschläge zu ErweiterungS- oder Neubauten gemacht worden, die stch aber als nicht empfehlenswerth erwiesen (Fagan I 349 ff).
Die Bibliothek und der Lesesaal deS Britüschen Museums. gehören, haben sie eine Höhe von 24 F., bez. 32 F.
351
(rings um den
Reading Boom) und dienen mit vorzüglicher Ausnutzung deS Raumes meist zur Aufbewahrung von Büchern; nur im Süden, auf dem Wege
vom Eingänge des Museums her, befinden sich Garderobe, Dienerzimmer u. bergt.
Der New Reading Room selbst, zu dessen Beschreibung wir uns
jetzt wenden, bildet, wie bemerkt, in seiner Grundfläche einen regelmäßigen
Kreis mit einem Durchmesser von 140 Engl. Fuß*).
In bet' Mitte be
finden sich auf kreisrundem Podium die Arbeitsplätze des Superintendent und feines HülföperfonalS.
Bon diesem Podium aus führt der schon er
wähnte nördliche Gang, von beiden Seiten dem Publikum gegenüber ab
geschlossen, welcher den Zutritt der Beamten zu den Bücher- und sonstigen Verwaltungsräumen vermittelt**).
An zwei Punkten der das Podium
kreisförmig einschließenden Schranke befindet sich, nahe dem in die Bücher
räume führenden Gange, je ein offener Kasten, in welchen die Bestellzettel seitens der Leser gelegt werden.
An drei anderen Stellen wiederum sind
die Arbeitsplätze der Beamten, welche die als Quittungen dienenden Be
stellzettel nach dem Alphabet der Benutzer verwahren und die zurückzuge
benden Bücher in Empfang nehmen.
In zwei eoncentrtfchen Kreisen um
schließen sodann diesen ganzen nur den Beamten zugänglichen Mittelraum
Doppelpulte, auf deren beiden Seiten die schräge, leberüberzogene unb
gepolsterte Pultfläche zum Nachschlagen bet Kataloge unb Schreiben bet Bestellzettel bestimmt ist, wähtenb
bie unteren Fächer in Doppelreihe
übeteinanber ben neuen geschriebenen alphabetischen Katalog,
bie zahl
reichen gebrückten Kataloge über bie Handschriften unb einzelne Theile des Bücherbestandes, kurz Alles dasjenige enthalten, was über die gedruckten
oder geschriebenen Schätze des Museums, ihre Ordnung u. bergt irgend welche Auskunft ertheilt.
Alle diese Hülfsmittel find den Besuchern des
*) Um von der Weite der Wölbung eine Vorstellung zu geben, füge ich aus dem Buche A List of tbe Books etc. S. XVII hinzu, daß nur das Pantheon zu Rom eine um 2 F. größere Spannweite hat, die St. Peterskirche zu Rom aber um 1 F., die St. Paulskirche zu London um 28 F. u. s. w. im Durchmesser zurück bleibt. **) So sehr die Anlage des Reading Boom in der Mitte des ganzen Museumsbaues durch die Umstände geboten war, läßt sich nicht verhehlen, daß damit für die Ver waltung manche Unzuträglichkeiten verbunden sein dürften und daß diese sich stei gern müssen, je mehr die Bücherräume nach dem Süden des Gebäudes sich aus dehnen werden. Da nämlich die Berwaltungsbeamten, um da« arbeitende Publikum nicht fortwährend zu stören, mit Recht auf eine einzige Verbindung (im Norden> mit den außengelegenen Räumen angewiesen sind, so ist es klar, daß der Verkehr nach den südlichen Räumen des Museums ein sehr umständlicher und erschwerter sein muß. Für die Neuanlage eines nur zu Bibliothekszwecken bestimmten Baues dürfte es sich daher meines Erachtens empfehlen, den Lesesaal, falls derselbe von ungewöhnlichen Dimensionen ist, nicht nach der Mitte, sondern möglichst nach der Front hin zu verlegen.
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.
352
Reading Boom nicht blos zugänglich, nein, diese sind sogar genöthigt sich
ihrer zu bedienen, um ein Buch zu erlangen.
Denn anders als unter
Beifügung der vollständigen und richtigen Bibliothekssignatur würde ihnen weder ein Druckwerk noch eine Handschrift verabfolgt werden*); mit An
gabe der press mark auf dem Bestellschein — natürlich wird für jedes Werk
ein besonderer Zettel verlangt — erhält ein Jeder Drucke und Hand schriften in unbeschränkter Zahl.
Bestimmungen, welche ein Maximum
der auf einmal zu entleihenden Bücher festsetzen, gibt es nicht.
Für die
Bestellungen dürfen nur bestimmte gedruckte Formulare benutzt werden,
welche auf den geschilderten Katalogpulten allenthalben zur freien Ver fügung der Leser daliegen.
Die Scheine für Handschriften haben eine
grüne, die für Druckwerke eine weiße Farbe.
Hinsichtlich jener zwei Pult
reihen bemerke ich noch, daß sie durch vier auf den Mittelpunkt zu ge
richtete Gange, von denen zwei längs des wiederholt erwähnten nördlichen
Verbindungsganges hinlaufen, zum Zwecke der Communication in drei Abschnitte getheilt werden und daß ebenso zwischen den Pultreihen und
dem innern Podium Gänge von genügender Breite frei sind. Der ganze weite Raum jenseits des zweiten concentrischen Kreises
und des natürlich vor demselben freigelassenen Ganges bis zur weiten
mit Bücherschränken bedeckten Wandfläche ist zu Sitzplätzen für das arbei tende Publikum bestimmt.
Dieselben sind so geordnet, daß in symmetri
scher Vertheilung 19 lange Arbeitstische strahlenförmig nach der Peripherie zu liegen, jeder etwa einen halben Radius lang.
Nach außen zu halten
sie alle, mit Ausnahme des am Eingang für das Publikum liegenden Tisches, die gleiche Entfernung von der Rundwand inne, nach innen tritt abwechselnd einer um den andern je 4 F. zurück, da sonst die Enden der
Tische einander zu nahe kommen würden.
Diese breiten Arbeitspulte sind
zunächst in der Mitte durch eine ziemlich hohe Brüstung, welche oben und
am Ende zugleich Oeffnungen für die Luftheizung enthält, in zwei Seiten in der Weise getheilt, daß die Gegenübersitzenden sich nicht sehen, also auch nicht in der Arbeit stören können.
Aber auch nach rechts und links
sind die einzelnen Arbeitsplätze in gleicher Größe durch niedrige Brüstungen
abgetheilt.
Die 8 langen Tische enthalten je 8, die 9 kürzeren je 7 Sitz
plätze auf jeder Seite, jeder ist 4 F. 3 Z. breit.
Die zwei Tische auf
den beiden Seiten des Beamtenganges sind nur auf einer Seite mit je 8 Plätzen versehen, und sind dieselben Tische ausdrücklich für Damen re-
servirt, ohne daß solchen übrigens verwehrt wäre anderswo Platz zu
nehmen.
Vor jedem Platze befindet sich ein höchst solider Mahagonisessel
*) Auch diese Einrichtung stammt von Panizzi her (f. Fagan, Life of Panizzi I. 348 f.).
von behaglicher Breite mit Rücken- und Armlehne, mit Leder-, Rohr- oder
Holzsitz versehen.
Da die Stühle zudem auf Rollen sich bewegen, machen
sie auf dem ganz mit Kamptulikon belegten Fußboden ein möglichst ge
ringes Geräusch.
Vor sich, an der Brüstung angebracht, hat jeder Leser
verschiedene Schreibutensilien, sowie zwei zusammengeklappte und zum AuSeinanderschteben eingerichtete Bücherhalter für Bücher unbequemen Formats
oder solche, die man in bestimmter Beleuchtung benutzen muß.
Mir er
schien übrigens diese Einrichtung etwas sehr complictrt.
Zu den beschriebenen Tischen, welche 270 Plätze enthalten, kommen noch 16 flache Tische (square tables) zwischen den weit von einander ab-
ltegenden Enden jener Sitzreihen.
Dieselben sind je 6 Fuß lang und von
ansehnlicher Breite, zunächst zur Benutzung von Werken ungewöhnlich
großen Formats bestimmt.
Zu den zwei Sitzplätzen, welche früher an
jedem der 16 Tische eingerichtet waren, wurde nach 1878 zunächst je ein
dritter hinzugefügt, so daß die Zahl sämmtlicher Arbeitsplätze 318 betrug.
Aus dem Verwaltungsbericht für das Jahr 1879/80 (Ordered, by The House of Commons, to be Printed, 2 June 1880) S. 7 ersehe ich, daß eine weitere Vermehrung der Plätze (um 62 mit Einschluß der erwähnten
16) stattfand.
Sie wurde dadurch erreicht, daß an die erwähnten 16 Tische
weitere nach innen zu angerückt wurden. — Jede der Reihen ist mit einem
großen Buchstaben bezeichnet, die einzelnen Sitzplätze derselben mit fort
laufenden Zahlen; mit diesen zwei Elementen kann ein jeder Platz kurz und übersichtlich bezeichnet werden.
Sie müssen aber auch auf jeden der
Bestellscheine gesetzt werden; nach ihnen bringen die attendants die ge wünschten Bücher dem Leser an seinen Platz.
DaS häufige Ab- und Zu
gehen der attendants — sie entsprechen unsern Bibliotheksdienern —,
vor allem aber die centrale Lage des für die Aufsichtsbeamten bestimmten
Raumes ermöglicht eine fortwährende und durchaus wirksame Controls deS arbeitenden Publikums, welches nicht leicht mit den geliehenen Büchern
oder Handschriften nachlässig umgehen könnte, ohne die Aufmerksamkeit eines Beamten auf sich zu ziehen.
Die Wände der Halle sind bis zur Höhe von co. 35 Fuß mit Repositorien und Büchern bedeckt.
Der obere Theil davon, etwa 40,000
Bände fassend, ist durch eine nur von außen zu betretende Gallerie dem
lesenden Publikum entrückt und gehört also eigentlich nicht zum Reading Room.
Es ist etwas zu bedauern, daß die Rücksicht auf den Raum ein
solches Arrangement nöthig macht; denn
das Hantiren der attendants
auf den Galerien verursacht manches den Leser störende Geräusch.
dem gleichen Grunde hätte es sich empfohlen, die
AuS
mechanischen Vorrich
tungen, durch welche Bücher aus den oberen Etagen nach unten gewunden Preußische Jahrbücher. Bd. XLVI1I. Hefl 4
26
354
Die Bibliothek und der Lesesaal deS Brittischen Museums.
werden, in größere Entfernung vom Reading Boom zu verlegen.
Der
unter der ersten Galerie befindliche Wandraum (8 Fuß hoch) enthält eine umfangreiche Handbibliothek zum beliebigen Gebrauche der Leser, etwa
20,000 books of reference, welche, im Allgemeinen sachlich geordnet, eine leichte Orientirung zulassen.
Katalog dieser Bibliothek, der
Es giebt einen gedruckten alphabetischen auch
in mehreren Exemplaren bei den
übrigen Katalogen im Innern der Halle steht*). Nachdem wir so die äußere Einrichtung des Reading Room, welcher
räumlich und
geistig der Dkittelpunkt deS Brittischen Museums ist, zu
flizziren versucht haben, mögen auch gleich einige Mittheilungen über die
Benutzung desselben und die darauf bezüglichen Bestimmungen ihren Platz
finden.
DaS im Auftrage
I. Winter Jones
der Trustees
vom
Principal
Librarian
unter dem 9. Dezember 1876 erlassene Reglement be
schränkt den Besuch deS Reading Room
auf Zwecke von Studien und
Forschungen (study, reference or research) und schließt somit die Leser von TageSblättern und Unterhaltungslektüre aus. etwas Häufiges gewesen sein, daß
mit einer
Früher soll eS nämlich Eintrittskarte
versehene
Herren im Laufe deS Tages zu ihrer Erholung ein Stündchen im Reading Room sich niederließen, um ihre von der Straße mitgebrachte Zeitung zu
lesen, ein Verfahren,
das die Noth um Arbeitsplätze für die wirklich
Studirenden noch größer machte, als sie schon war**).
Ausgeschlossen
sind ferner alle Personen unter 21 Jahren und können Ausnahmen nur
durch Beschluß der Trustees statuirt werden.
Ohne Zweifel wird dadurch
das Publikum der Lesehalle ein gewählteres, die Benutzung der Bücher schätze eine qualitativ gesteigerte.
Wer nun zu dem angegebenen Zwecke
und im Besitz der nöthigen Lebensjahre im Reading Room zu arbeiten wünscht, bedarf einer vom Principal Librarian auszustellenden Zulassungs karte (ticket), welche
auf ein schriftliches Gesuch im Laufe der nächsten
zwei Tage ausgestellt wird.
Dem Gesuch
muß die Empfehlung eines
Londoner Hausbesitzers oder einer Person von bekannter Stellung beige fügt sein, worin diese erklärt den Gesuchsteller persönlich zu kennen und
*) Bergt. S. 349 *). In dem Bande befindet fich auch ein farbiger OrientirungSplan über die sachliche Ordnung der Handbibliothek. — In neuester Zeit hat man zur Erleichterung des Dienste« damit begonnen in den oberen Galerien solche Bücher unterzubringen, welche erfahrungsgemäß am häufigsten verlangt werden. (S. Monthly Notes of the Libr. Assoc. II S. 52.) **) Daß im Jahre 1859 das Gros der Besucher de« Reading Room nicht „select“ war, bemerkt Mr. Winter JoneS in seiner Einleitung zu A List of the Books of Reference etc. S. IX f. Dieselbe enthält eine gedrängte, ebenso lichtvolle wie intereffante Uebersicht über die Entwickelung aller auf die Benutzung des Brittischen Museums, besonders seiner Bibliothek hinzielenden Einrichtungen, in erster Linie also eine Geschichte des Reading Room.
355
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.
zu wissen, daß er selbst event, von der Karte Gebrauch machen wolle. Scheint das Gesuch ungenügend motivirt, so kann es vom Principal Librarian abgeschlagen oder den Trustees zur Prüfung vorgelegt werden.
Das ticket gilt nur für ein halbes Jahr, kann aber vom BibliothekS-
directorrum
irgendwie
immer wieder
erneuert werden.
über ihre Person sich
Fremden Gelehrten, die
auszuweisen im
Stande sind, wird
übrigens mit größter Leichtigkeit die Benutzung des Reading Boom ge
stattet und sogar für die Zwischenzeit bis zur Erledigung deS Gesuchs ein JnterimS-Einlaßschein gewährt*).
Daß trotz der
erwähnten Beschrän
kungen der Zudrang zur Erlangung der tickets ein sehr großer ist, be weisen die Zahlen der
etwa 11,000.
ausgegebenen Erlaubntßkarten:
Im Durchschnitt arbeiten täglich
Reading Room,
jährlich sind eS
etwa 430 Personen im
ein Theil der vorhandenen Plätze wird also täglich
zweimal benutzt**).
DaS ticket, welches natürlich nicht auf eine andere Person über tragbar ist, soll der Besitzer eines solchen beim Besuch deS LesesaaleS bei
sich führen und nach Bestimmung des Reglements auf Verlangen vor weisen.
Zur Zeit
meines Londoner Aufenthaltes
(Herbst
1878) war,
weil einige Zett vorher einem Leser irgend ein Gegenstand abhanden ge
kommen war (der Verlust eines Buches der Reference Library datirte aus noch früherer Zeit), eine wesentliche Verschärfung dieser Bestimmung eingetreten, und sollte jeder Besucher deS Lesesaales bei jedem Besuche
den am Eingang zum Reading Room Wachd haltenden Dienern seine Einlaßkarte vorzeigen.
Diese ihren Zweck ersichtlich verfehlende Bestim
mung wurde mit einer Rigorosität durchgeführt, welche man an Deutschen als büreaukratische Pedanterie belächeln oder rügen würde; jedenfalls war auch die englische Verwaltung deS British Museum damals wenigstens
einer solchen Pedanterie nicht unfähig.
Nebenbei haben
übrigens die
beiden ostiarii noch die Aufgabe, die Zahl der täglichen Besucher zu notiren für die mit großer Sorgfalt gepflegte Statistik des Museums.
*) Es ist mir eine angenehme Pflicht, an dieser Stelle den Beamten des Brittischen MusenmS für das sehr freundliche Entgegenkommen, welches sie mir im Jahre 1878 während eines längeren Aufenthaltes in London, sowie noch später durch Beant wortung verschiedener aus die Verwaltung des Museums bezüglicher Fragen be wiesen haben, auch öffentlich angelegentlichst zu danken. Insbesondere hatte Herr Dr. Hörning, Assistent am Brittischen Museum, wiederholt die Güte, mir über zweifelhafte Punkte Auskunft zu ertheilen. **) Nach dem erwähnten VerwaltungSbericht vom 2. Juni 1880 S. 6 betrug die Zahl der Besucher deS Reading Room „for the purpoee of study or research“ im Jahre 1874: 104,727, im Jahre 1875: 105,310, im Jahre 1876: 109,442, im Jahre 1877: 113,594, im Jahre 1878: 114,516, im Jahre 1879: 125,594, im Jahre 1880 laut einer privaten Mittheilung: 133,842.
Wer von den wachthabenden Beamten
durchgelassen ist und den
Gang zwischen verschiedenem Nebengelaß, wie Garderobe u. s. w. passirt hat, gelangt endlich zu der nach beiden Seiten geräuschlos sich öffnenden
GlaSthür
des Reading Room
Von
imponirendcr Großartigkeit
er
scheint dieser dem Fremden, welcher ihn zum ersten Male betritt: sowohl überraschen ihn die mächtigen Dimensionen, als die übersichtliche Sym
metrie der gesammten Anordnung ihm wohlthut und die bunte Mannig
faltigkeit des Treibens
ihn fesselt.
Neben
den zahlreichen Vertretern
beider Geschlechter des Landes, in dessen den Musen geweihter Stätte er weilt, und den bekannten Typen anderer europäischer Länder sieht man die Söhne der verschiedensten Gegenden fremder Erdtheile, Araber, Neger
und Mulatten, namentlich viele Hindus, die durch Studien im Britt. Museum die Kluft auszufüllen bestrebt sind, mischen und der europäischen Cultur besteht.
welche zwischen ihrer hei Man würde übrigens fehl
gehen mit der Annahme, daß alle die anwesenden Leser ernst wissen schaftlichen Studien obliegen.
Gerade unter den Besuchern aus London
sollen, wie mir versichert wurde, viele den Reading Room zu praktischen Zwecken aufsuchen: Beamte von Advocatenbureaux, welche alte Zeitungs
annoncen im Interesse
ihrer Clienten nach irgend welchen Personalien
durchstöbern; Industrielle, welche sich nach Zeichnungen für ein Modell
umsehen oder nach der Beschreibung der für irgend eine Branche patentirten Maschinen.
Fremde, welche den Reading Room nur in Augen
schein nehmen wollen, werden blos partienweise und nachdem sie auf dem
Secretariat des
Museums
eine besondere Erlaubniß eingeholt
haben,
unter Führung eines Beamten zugelassen; auch dürfen sie nur von der
EingangSthüre aus den Raum und seine Einrichtung betrachten.
Wer
alS Leser und mit einem bestimmten litterarischen Zwecke den Lesesaal
betreten hat, wird sich zuerst, falls er noch zu wählen hat, eines geeig neten Platzes versichern, wobei — besonders für Handschriftenleser — auf die Beleuchtung zu achten ist und auf die Nähe derjenigen Abtheilung
der Reference Library, aus welcher er zumeist Bücher zum Nachschlagen
entnehmen muß.
Er wird dann seine Bücherbestellung machen und zwar
für Bücher, die Tags zuvor für ihn zurückgestellt worden sind, unter
Benutzung der alten Empfangsscheine, auf welchen nur Datum und event, die Angabe des Sitzplatzes zu verändern sind.
Werden reservirte Bücher
nicht am dritten Tage nach ihrer Aufbewahrung wieder vom Leser bestellt,
so wandern sie in die Bibliotheksräume zurück.
Das Herbeiholen der
gewünschten Bücher, namentlich solcher, welche neu bestellt sind, erfordert zumal in der ersten Stunde nach Eröffnung des Reading Room eine
geraume Zeit.
Da vergehen '/, bis 3/t Stunden, ehe das Gewünschte
zur Stelle ist, und doch kann man den Beamten des Museums, bei welchen wie im englischen Geschäftsleben überhaupt daS „quickly“ eine Hauptrolle spielt, keineswegs den Vorwurf der Lässigkeit machen. Au^h die Manipulation des BüchersuchenS ist richtig organisirt; nur ist in der
ersten GeschäftSstunde der Andrang zu groß und daS lobenSwerthe Princip, die Zahl der Bücher, die Einer verlangen kann,
sehr zeitraubend für die Verwaltung.
nicht zu beschränken,
Ueberhaupt würden manche deutsche
Gelehrte, welche jeden Gang nach der Bibliothek ihres OrteS als einen lästigen Zeitverlust empfinden, deren Verkehr mit diesem Institute sich
häufig darauf
beschränkt, durch Brief
oder Boten Bücher zu bestellen
und diese ebenso durch Andere holen zu lasten,
welche aber anderseits
vom Hörensagen geneigt sind daS Brtttische Museum als Muster be quemster Bücherbenutzung über Alles zu preisen; diese Gelehrten, meine ich, würden an Ort und Stelle bald erfahren, daß ohne wesentliche Opfer an Zeit die Schätze deö Brtttischen Museums für sie nicht zu heben sind.
Der Fremde, welcher nur zu Studtenzwecken und meist in seiner Ferien
zeit in London weilt,
empfindet das wenig; wohl aber haben mir in
London ansässige Gelehrte versichert, daß sie wegen ihrer anderweitigen Berufsgeschäfte nur selten, und dann stets mit Aufopferung eines halben
oder ganzen Arbeitstages das Museum benutzen könnten;
ein Opfer,
welchem der geholte Gewinn nicht immer entspräche.
Will der Leser den Reading Boom verlassen, so liefert er sämmt liche gegen Scheine erhaltenen Bücher oder Manuskripte bei demjenigen
der drei Beamten ab, welcher seine Scheine in Verwahrung hat; die Entleiher sind auf die drei Beamten nach dem Alphabet ihrer Namen vertheilt.
Diejenigen Werke, welche Einer für den folgenden Tag zurück
gestellt haben will, müssen besonders abgegeben werden und je mit einem
JnterimSzettel (Formulare sind nicht vorgeschrieben) versehen sein,
auf
welchem die Signatur des Buches, Datum und Name deS Bestellers
nebst dem Worte „kept“ enthalten sind.
Die Bücher der Reference
Library sollen reglementsmäßig alsbald nach erfolgter Benützung vom
Leser wieder eingestellt werden,
jedenfalls also bevor er weggeht.
An
eine Zeit innerhalb der GeschäftSstunden ist die Rückgabe der Bücher so wenig
wie
ihre Bestellung
gebunden.
natürlich vor Schluß deS Reading Room.
Am
meisten
häuft
sich
jene
Derselbe wird 15 Minuten
vorher mit einer Glocke angekündigt; doch merkt man schon längere Zeit vorher an dem demonstrativen Zurechtrücken der Stühle, Abtragen von
Büchern u. bergt,
von Seiten des Unterpersonals,
daß
die Zeit des
Schlusses nahe ist, falls man sich nicht durch einen Blick auf die große
im Reading Room befindliche Uhr
über die Zeit unterrichtet hat. —
Vor Oeffnung des Reading Room wird täglich die Reference Library
revidirt, was sowohl der Sicherheit wegen als zur Beseitigung der un ausbleiblichen Verstellungen erforderlich ist.
Ueber die Einrichtung der Bücherräume kann ich kürzer sein. Soweit
dieselben nicht zugleich Ausstellungssäle sind, für welche Rücksichten der Repräsentation maßgebend waren, ist das Princip größtmöglicher Aus
nützung des Raumes sowie
im Zusammenhang damit größter Gleich
mäßigkeit der Einrichtung streng durchgeführt. Gänge, sie sind 6 F. breit,
An den Seiten schmaler
befinden sich die Büchergestelle,
alle von
Sie sind, was sehr praktisch ist, aus Eisen
gleicher Höhe und Breite*).
gegossen, in Folge dessen in ihren einzelnen Theilen und unter einander so gleichmäßig, daß die Legeböden (gleichfalls galvanisirte, oben mit Leder
überzogene und an den Ecken mit Holz verkleidete Eisenplatten) weitere Anpassung an jeder Stelle
können.
jedes Repositorii
benutzt
ohne
werden
Letztere sind vorn in ihrer ganzen Breite mit einer herabhän-
genden etwa 2 Zoll breiten Lederklappe versehen, welche die untere Bücher
reihe vor dem Eindringen des Staubs und die einzelnen Bücher beim Einstellen und Herausnehmen vor Beschädigung durch die scharfen Kanten der Legeböden schützen.
Die Böden selbst sind natürlich beweglich, ruhen
aber nicht auf den heutzutage veralteten Zahnleisten, sondern auf messingnen
Bolzen oder Stellstiften**).
Die Büchergestelle sind nur so hoch, daß ein
erwachsener Mann auch aus der obersten Reihe die Bücher ohne weiteres Hülfsmittel herausnehmen kann.
Leitern sind daher hier ganz vermieden.
Natürlich sind nicht nur die Reposttorien, sondern die ganzen Etagen, in
welchen diese stehen, entsprechend niedrig.
Der Fußboden jeder höheren
Etage ist von Eisen, ruht aus den Büchergestellen und ist weit durch brochen, um den darunter liegenden Etagen möglichst wenig Licht zu ent
ziehen.
Galerien kommen nur an der Innenseite des Reading Room
und der Ausstellungssäle vor.
Die zur Verbindung der einzelnen Stock
werke dienenden eisernen Wendeltreppen sind zahlreich (nur 40 F. von
einander entfernt), aber sehr schmal und daher wenig Platz raubend. Alles in Allem
genommen, sind die Bücherräume — von den AuS-
stellungSsälen abgesehen — durchaus nur als Magazin für Bücher ge*) Eine regelmäßige Ausnahme bilden die nur etwa halb so breiten Gestelle, welche die Vorderseite der eisernen Pfeiler in der Rundung des Reading Room bekleiden. **) Diese Einrichtung kam meines Wissens im Brittischen Museum zuerst zur Anwen dung und wurde darauf in der Pariser Nationalbibliothek eingeführt. Innerhalb Deutschlands ist, so viel mir bekannt ist, an den Bibliotheken von Karlsruhe und Halle, für einige Zimmer an der unter meiner Leitung stehenden Königlichen und UniversttätSbibliothek zu Breslau, äußerem Vernehmen nach auch in Leipzig, Berlin (Königliche Bibliothek) und Hamburg von der nachahmenSwerthen Neuerung Ge brauch gemacht worden.
plant und ausgeführt, nicht zugleich, wie daS an den meisten deutschen
Universitätsbibliotheken der Fall ist, zugten Theil der Benutzer.
als Arbeitsplatz für einen bevor
Und in Wirklichkeit ist im Br. Museum der
unbeaufsichtigte Zutritt zu den Bücherräumen absolut nur den Beamten
gestattet. Im Winter wird der gesammte mit Büchern gefüllte Raum gleich
dem Reading Room durch Warmwasserröhren gehetzt bis zu einer Wärme von etwa 12 Grad R.
Die Beheizung der Bücherräume gilt nicht bloß
dem mit Aufsuchen und Etnstellen der Bücher betrauten Personal, sondern dient ebenso zur Conservirung der Bücher; auch befinden sich ebenda an
bestimmten Stellen die Arbeitsplätze für Beamte, (transscriberg), welche in eine Art Ausleihejournal die Titel und Signaturen der aus ihrer Abtheilung geholten Bücher und
den Namen
der Entleiher eintragen,
bevor jene in den Reading Room gebracht werden, ebenso natürlich die
Eintragungen löschen, sobald die Bücher zurückgeliefert sind.
Spätestens
nach Verlauf von 6 Tagen findet eine Uebertragung auf das neueste
Datum statt, wenn ein Werk noch nicht wieder einzustellen ist.
Jede der
Eintragungen geschieht übrigens doppelt, die eine neben der andern. die äußeren werden abgeschnitten und für jeden Tag
besonders
Je
alpha
betisch nach dem Stichwort des Titels geordnet und in ein anderes Aus leihejournal geklebt, aus welchem man event, leicht constatiren kann, ob und an wen
ein bestimmtes Buch verliehen ist.
Die Führung
dieses
zweiten Journals schien mir seiner Zeit, obschon ich mir die Sache mehr fach und genau habe erklären lassen, überflüssig zu sein und das gleiche
Urtheil habe ich heute noch*). andere
Ja, sie ist um so entbehrlicher, als eine
sehr beachtenSwerthe Einrichtung eine treffliche Controle bietet.
Jeder attendant nämlich, welcher aus einem Gestell ein Buch oder mehr bändiges Werk entnimmt, muß an dessen Stelle ein kleines Täfelchen,
deren er eine größere Zahl stets bei sich führt, legen; auf diesem ist die
Signatur, das Stichwort, Zahl der weggenommenen Bände, Datum nebst einer den Beamten kennzeichnenden Note kurz verzeichnet. Die Aufstellung der Bücher in den Bibliotheken des Br. Museums,
zu welcher wir uns jetzt wenden, ist keine streng shstematische.
Anderseits
ist unwahr, was die Fama erzählt, daß dort die Bücher, wie sie kommen,
p61e-m61e nach dem Format aneinander gereiht werden.
Vielmehr giebt
*) Die Signatur und also der Standort eine- bestimmten Buches wird stch stets leicht feststelleu lassen. Findet es stch nun nicht am Platze und will man Näheres über den Entleiher u. bergt feststellen, so wird die Durchsicht der in den letzten 6 Tagen zu einer einzelnen Bücherabtheilung — denn um einen Theil der Bibliothek han delt es sich stets nur — gehörigen Büchertitel, wie sie im obenerwähnten Ausleihe journal stehen, nicht allzu große Mühe verursachen.
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen MnseumS.
360
eS in der großen Sammlung etwa 700 sachlich verschiedene Abtheilungen*), innerhalb deren allerdings die einzelnen Werke nach ihrer Accessio neben einander stehen, die neuerworbenen Bücher also ans Ende kommen, nur
mit Rücksicht auf die Formate je in verschiedene Fächer der Büchergestelle. Fortlaufend
gezählt werden die Gestelle mit
arabischen Zahlen in der
Weise, daß am Ende jeder Unterabtheilung für den zu erwartenden Zu
wachs Zahlen übersprungen sind; zur Bezeichnung der Bücherreihen dienen Buchstaben, zu derjenigen der einzelnen Werke wieder arabische Ziffern.
Weiter auf die Details der Anordnung und Aufstellung will ich
hier nicht eingehen, ebensowenig aber auf den alten Streit mich einlassen,
ob für eine Bibliothek eine streng systematische oder eine auf praktische Rücksichten, wie Raum u. bergt gegründete Aufstellung der Bücher vor zuziehen sei.
Unter Verhältnissen, wie sie das Br. Museum bietet, wo
für den massenhaften Zuwachs mit dem Raum sehr haushälterisch um gegangen werden muß, wo ferner Gelehrten der Zutritt zu den Bücher räumen doch nicht freisteht, anderseits ohne das geringste Widerstreben so
viele Bücher Jedem zugebracht werden,
als er nur bestellen mag; da
wird daS dort eingeführte System der Bücheraufstellung sich als aus reichend erweisen.
Nur ist der nothwendige, ja unentbehrliche Ersatz für
die ihm anhaftenden Mängel ein guter und vollständiger Sachkatalog, und eines solchen entbehrt das Brittische Museum, wie wir sehen werden, vollständig.
Werfen wir jetzt noch kurz unseren Blick auf die Katalogisirung
jener Bücherschätze.
Es giebt im Ganzen vier neue Kataloge über den
des Brittischen
die
gleiche
alphabetische Anordnung haben; einer ist ein Standortskatalog
(shelf-
Bücherbestand
Museums, von denen
drei
index), welcher die Werke nach den Abtheilungen und in der Reihenfolge
verzeichnet, wie sie in den Räumen auf einander folgen, bestimmt für
etwaige Revisionen des Bücherbestandes.
Bon den neuen alphabetischen
Katalogen ist einer, in welchem die Veränderungen zuerst vorgenommen
werden,
nur den
(assistant’s copy).
Beamten zugänglich;
ebenso
das
zweite
Exemplar
Das dritte steht in 1457 Bänden**), wie schon er-
*) Ich entnehme diese Zahl der EinleitungSrede des früheren Principal Librarian Mr. Winter JoneS, welche er auf der Londoner Conferenz Englischer Bibliothekare (im October 1877) hielt (f. Trane actione and proceedinge etc. London 1878 S. 15). Mr. Rich. Garnett in einem bei derselben Gelegenheit gehaltenen Vortrag „On the System of classifying books on the shelves followed at the British Museum“ (a. O. S. 108—114) spricht S. 112 nur von „mehr als 500 solcher Unterabtheilungen", und in einem Anhang zu diesem Vortrag (a O. S 188 ff) werden sie einzeln (bis 515) aufgezählt. **) Dazu kommt der Katalog der Grenville Collection (7 Bde), deren Bücher nur int letzten Theile des New General and Supplementary Catalogue vom Buch-
wähnt, im Reading Room zur Disposition des Publikums.
Der alte
alphabetische Katalog (old copy) ist — wenn auch noch nicht vollständig
— durch die neuen ersetzt worden.
DaS Verfahren bei der Katalogisi-
rung war bis vor zwei Jahren dieses,
daß auf slips (Zetteln) von
feinem,
abgekürzte,
aber
festem
Schreibpapier
der
immerhin
jedoch
ziemlich ausführliche Titel mit seiner Signatur mittelst Copierdinte ge
schrieben und von diesem Originalzettel drei Copteen abgenommen wurden. Die für den Reading Room bestimmten Zettel werden gehörigen OrtS auf den Blättern der Katalogbände aufgeklebt.
gelassen;
auch können noch
werden.
Fehlt eS an freiem Raum,
gefeuchteten slips
ganze Blätter
mag dtesehbe noch so
großer
Zahl eingefügt
so wird durch Ablösen der an
und Einfügen von- Blättern,
lung deS Bandes Raum geschaffen.
dinte,
Freier Raum ist reichlich
in
eventuell
durch Thei
Daß diese Abdrücke von Copier
trefflicher Qualität fein, nicht nur nicht
ewig, nein auch nicht ein Jahrhundert lang die Farbe behalten und leicht
lesbar sein würden,
Zetteln,
die etwas
ließ
sich schon 1878 aus der Beschaffenheit von
über 30 Jahr alt waren, mit Sicherheit schließen.
ES kommt dazu, daß die beschriebene Praxis, so große Vorzüge sie bietet,
allzu viel Raum in Anspruch nimmt,
mit welchem
wenigstens für den
Reading Room im Interesse der Leser entschieden hauSgehalten werden muß.
So war mit mathematischer Sicherheit vorauszusagen,
daß nach
50 Jahren bei gleichem Anwachsen der Bibliothek der Katalog wenigstens
die doppelte Zahl Bände, also ca. 4000 nöthig hätte, eine Zahl, welche
der ihm gegenwärtig zugewiesene Raum überhaupt nicht fassen kann. lag daher der Gedanke nahe,
Es
daß sich für das Brtttische Museum der
Druck der Titel empfehlen würde, da dieser einerseits deutlich und dauer haft sein kann,
andrerseits kaum die Hälfte eines geschriebenen slip an
Raum beansprucht.
Die täglich zu druckenden Titel, im Durchschnitt etwa
200, würden zusammen den Raum von höchstens 14 Quartseiten füllen. Diese von Mr. Winter JoneS,
dem
früheren Principal Librarian des
Brittischen Museums, in seiner bereits erwähnten Rede (Transactions
. .. of the London Conference S. 19) nebenbei ausgesprochene Idee ist durch seinen Nachfolger, Nir. Edw. A. Bond, seit Jahresfrist verwirk
licht worden**).
Der Druck erfolgt in monatlichen Zusammenstellungen
staben N an seit dem Jahre 1848 ausgenommen sind; ferner ein Katalog der Karten (l44 Bde.), der musikalischen Schätze (126 Bde.); ein alter alphabetischer Katalog (82 Bde.), neuere, zum Theil gedruckte Specialkataloge (21 Bde.), die ver schiedenen gedruckten oder geschriebenen Manuscriptenkataloge (im Ganzen 110 Bde). Siehe A list of the books of referenee etc. S. 269 ff. *) Vergl. den Verwaltungsbericht des Brittischen Museums vom 2. Juni 1880 S. 7 und Petzholdt's Anz. f. Bibliogr. u. BibliothekSwiff. S. 343 f.
362
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.
der Titel, die unter 7 Rubriken clasfificirt sind; an Abonnenten werden Abzüge derselben in zwei Exemplaren für 10 Guineas jährlich geliefert;
neuerdings ist der Preis auf die Hälfte herabgesetzt.
Was die innere Anordnung des alphabetischen Katalogs,
seine
Uebersichtlichkeit und somit seine Brauchbarkeit anbetrifft, so verdient an
sich die Riesenarbeit, eine Masse von ca. 1 Million Titel -in handlicher,
gut lesbarer Form nach festem, konsequent durchgeführten Systeme geordnet und dem Publikum vorgelegt zu haben, unbedingte Anerkennung und volle
Bewunderung. Verfasser
Auch wird Jeder, welcher nur die Schriften bestimmter
sucht,
leicht sich zurechtfinden und sichere Auskunft erlangen.
Dagegen läßt sich nicht verhehlen, daß jener Katalog aufhört ein zuver
lässiger Führer zu sein, sobald es sich um Titel von anonymen Schriften
oder Sammelwerken handelt.
Da laborirt er an den Mängeln, welche
der englischen Bibliographie überhaupt eigenthümlich sind, an dem Herein ziehen sachlicher Gesichtspunkte bei dem
unmotivirten
der
alphabetischen Anordnung,
gelegentlichen Aufgeben des formalen Prinzipes zu
Gunsten eines realen.
Frei von diesem Fehler sind zumeist die neueren
französischen alphabetischen Kataloge, im Wesentlichen auch die deutschen, welche
höchstens bei der Auswahl des zweiten oder dritten OrdnungS-
worteS bei
Sammelwerken (z. B.
Jahrbuch oder dgl.)
unter dem
Stichwort
Zeitschrift,
ein recht störendes Schwanken zeigen.
Sehr ge
wöhnlich findet man bei uns den Fehler noch in den alten alphabetischen Katalogen größerer
oder kleinerer Bibliotheken.
Um aus dem Katalog
des Brittischen Museunrs wenigstens ein Beispiel anzuführen, so werden
dort die periodischen Schriften jeder Art, Annalen, Jahrbücher, Journale,
Monatshefte, Zeitschriften, Revüen u. s. w. unter dem Stichwort Perio-
dical Publications eingetragen und zwar ohne Verweis unter den be treffenden Hauptwörtern*).
Das Auffinden der gesuchten Titel wird
aber noch weiter dadurch erschwert, daß daneben in besonderen Katalogen
die Schriften gelehrter Gesellschaften (Academies) und die Tagesblätter
(Ephemerides) verzeichnet sind.
Die näheren Details der Katalogisirung werden die Leser voraus sichtlich ebenso wenig interessiren, wie die vielen geschäftlichen Einzelheiten, *) Man vergleiche zur Bestätigung des oben ausgesprochenen Urtheils die dem Catalogue of printed books in the British Museum (Vol. I) vorausgeschickten Rules for the Compilation of the catalogue, besonders die Regeln 9. 33—35. 37. (38.) 40. 47. (48.) 49. 80 — 82. 85. 88—91. — Einen Umschwung von der jenseits des Kanals üblichen Vermengung sachlicher und formaler Gestchtspunkte für die alphabetische Anordnung von Titeln bezeichnen die von einer besondern Commission der Library Association of the United Kingdom aufgestellten und in den Monthly Notes of the Libr. Ass. vol. I (1880) S. 60 f. zur vorläufigen Kennt nißnahme vor ihrer Discussion durch den Verein veröffentlichten Regeln.
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.
363
Aus einer Prüfung des Geschäftsganges
welche dieser Arbeit vorausgehen.
im Copy right department habe ich die Ueberzeugung von seiner großen
Sicherheit gewonnen, zugleich aber auch von einer übergroßen Genauigkeit Bet Tagesblättern z. B. könnte die tägliche Buchung
und Umständlichkeit.
recht wohl unterbleiben ohne die Controlle zu hindern. — Novitäten von
Büchern läßt sich die Verwaltung, wohl zur Vermeidung der vermehrten Controlle und etwaiger Irrthümer bei Rüch'endung der nicht behaltenen Bücher, nicht zur Ansicht schicken.
Nur die bibliographischen Uebersichten
der neu erschienenen Bücher, Buchhändlerkataloge jeder Art gelangen in
die Hände der Beamten; nach ihnen werden die festen Bestellungen ge macht und ausgeführt.
Die Bindearbeiten werden nur im MuseumSge-
gebäude selbst von besonderen Buchbindern, und 17 weiblichen Arbeitern, ausgeführt.
gegenwärtig 61 männlichen
Die Folge dieser Beschränkung
ist eine große Verlangsamung dieses Geschäftes.
Der Zuwachs des Museums betrug im Verwaltungsjahre 1879/80
laut dem bereits erwähnten Berichte: 31,019 Bände und kleine Schriften (pamphlets) abgeschlossener Werke,
darunter 2,308 Geschenke, 10,219 Pflichtexemplare, 18,782 durch Kauf erworbene;
39,145 Theile von Bänden (oder einzelne Hefte periodischer Schriften) — dieselben
erhalten
AccessionSnummer
—;
im Brittischen Museum je eine besondere hiervon
sind
790 Nummern
geschenkt,
21,594 Pflichtexemplare, 17,761 gekauft; 7,559 Stück einzelne kleine Drucksachen, Theaterzettel, Lieder, Programme,
Flugblätter u. dgl.
Im Ganzen also ein Zuwachs von 77,723 Nummern, in denen ca. 33,329
größere selbständige Werke enthalten sind. Begreiflicher Weise kann ein Institut von solcher Ausdehnung, ein
so großartiger Geschäftsbetrieb nur mit einem großen Aufwand von Ar beitskräften in Ordnung und flottem Gange erhalten werden.
Und in
der That ist die Zahl der Beamten eine recht große, dabei in mancher
Beziehung anscheinend doch nicht ausreichend.
An der Spitze der Ver
waltung steht ein Collegium von 49 Trustees, welche dies Amt als Ehren posten bekleiden und aus hoch- und höchstgestellten Personen der Geistlich keit und Civilverwaltung, Mitgliedern des Ober- und Unterhauses u. s. w.
bestehen*).
Sie vertreten das Museum nach außen, dem Publikum, dem
Parlamente
und allen Behörden gegenüber;
in ihrem Namen werden
Reglements erlassen, sie müssen zu jeder Aenderung im Gange der Ver-
*) ES sind 24 official Trustees, 1 Royal Trustee, 9 Family Trustees, 15 elected Trustees.
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.
364
Wallung, im Beamtenpersonal, zur Einleitung neuer und zu Publikationen ihre Genehmigung geben.
größerer Arbeiten
Der ständige Sekretär
dieser Behörde, welcher zugleich die Ausführung der Beschlüsse leitet, ist der jeweilige Principal Librarian des Museums, der den Trustees gegen über persönlich
Verwaltung
für die Ausführung ihrer Beschlüsse und die geordnete
des Museums verantwortlich ist.
12 departments of Coins,
An der Spitze jedes der
steht ein Keeper; die departments of Manuscripts,
of Greek and Roman Antiquities haben daneben
einen
Assistant Keeper, daS department of Printed Books hat vier Assistant Keepers.
Assistenten und Unterpersonal haben sie nach Bedürfniß.
Ganzen beläuft sich 267,
daS
Im
Beamtenpersonal des Museums zur Zett auf
nämlich 24 Oberbeamte (1 Principal Librarian and Secretary,
2 Assistant Secretaries, 1 Accountant, 1 Superintendent of Natural History, 12 Keepers, 7 Assistant Keepers), 85 Assistenten (33 of the
first, 52 of the second dass), 158 Diener (Attendants, und zwar 65 of the first, 93 of the second dass).
Hiervon wird die Hälfte, 137
Personen (8 Oberbeamte, 47 Assistenten, 82 Diener), durch die Bedürf
nisse der Bibliothek und deS Reading Room (die Abtheilung der Bücher, welchem die Verwaltung deö Lesezimmers unterstellt ist, sowie der beiden für Handschriften) in Anspruch genommen.
Speziell zum Reading Room
gehört als Personal ein Superintendent, zugleich Senior Assistant Keeper of the Printed Books, ein Clerk und 17 Attendants*).
Das Ver
hältniß der Zahl von Ober- zu Unterbeamten ist im Ganzen sowohl wie bei der Verwaltung der Bibliothek gleich 2: 3, wobei ich nicht unterlassen kann zu
bemerken, daß
mir an deutschen Bibliotheken bei einer meist
ausreichend bemessenen Zahl von Oberbeamten daS Dienerpersonal unge nügend
erscheint für Aufrechthaltung der Sicherheit und guten äußeren
Ordnung, sowie für eine angemessene Bertheilung der Geschäfte.
Die
tägliche Arbeitszeit beträgt für die Oberbeamten und Assistenten I. Klasse
6 Stunden**).
Ihre jährlicke Urlaubszeit wechselt nach ihrem Range:
die der Keepers beträgt 8 Wochen, der First Class Assistants 44 Tage,
der
Second
Class
3 Wochen, der
Assistants
36 Tage,
Attendants II. Klasse
der
Attendants I. Klasse
2 Wochen.
Die
Gehälter der
Unterbeamten bewegen sich zwischen 60 und 120 Pf. St., die der Assistenten
*) Schon im Jahre 1859 waren nach Winter JoneS' Bericht (A list etc. Pres S. XXV) allein im Reading Room außer dem Superintendent ein Clerk (Sekretär) und 11 Attendants beschäftigt; die Zahl der Attendants, welche die bestellten Bücher au« der Bibliothek nach dem ArbeitSraume brachten, wechselte den Umständen nach zwischen 10 und nahe an 40. **) Ebenso für die Assistenten II. Classe, welche nur während des erste» Dienstjahres zu 7 Arbeitsstunden verpflichtet sind.
zwischen 120 und 450 Pf. St.; der Gehalt der Assistant Keepers be
trägt 500, bez. 600 Pf. St., der der Keepers 650, bez. 750 Pf. St. Der Principal Librarian hat eine Einnahme von 1200 Pf. St. und ein an das Museum anstoßendes Haus als Amtswohnung.
Ebenso wohnen
5 Keepers, welche die Verantwortung tragen für die Sicherheit ihrer Sammlungen, in den Museumsgebäuden. Bei einem so
nahe,
umfassenden Verwaltungsapparat liegt der Wunsch
die damit verbundenen Ausgaben zu vergleichen mit dem dadurch
geschaffmen Nutzen, bez. mit der Benutzung des Reading Boom.
Nach
dem erwähnten Bericht der Trustees S. 10 sind im Verwaltungsjahre 1879/80 430.
125,594 Leser im Reading Room gewesen, täglich also etwa
An sie
wurden insgesammt
kommen ca. 344,637 Bände,
789,336 Bände auSgeliehen; dazu
die aus der Reference Library benutzt
wurden, was im Ganzen die Summe von 1,133,973 Bänden oder un
gefähr 3,887
geöffnet war.
für jeden der 292 Tage ausmacht,
an welchen die Halle
Jeder Leser benutzte täglich etwa 9 Bände.
Dieser gewiß
auf den sorgfältigsten Zählungen beruhenden Benutzung stehen folgende jährliche Ausgaben gegenüber: ca. 27,000 Pf. St. Gehälter;
„
1,000 Pf. St. Beheizung, Amtsbedürfnisse u. dgl.*);
„
9,000 Pf. St. als Hälfte der für Bücher, Handschriften und
______________________
Bindelohn gezahlten Summen**).
Summe: 37,000 Pf. St. = (rund). 740,000 M., welche Summe der Staat für die Benutzung jener 1,133,973 Bünde
zahlt.
Mit anderen Worten: für jeden zu wissenschaftlichen Zwecken an
einem Tage benutzten Band (groß oder klein) zahlt der FiScuS eine Prämie
von ca. V3 Mark. Mir wurde seiner Zeit 30,000 Pf. St. als runde Summe der jährlichen Berwaltungskosten mit Ausschluß der für Bücher und Bindelohn gezahlten Summen angegeben. — Des Näheren kann ich mittheilen, daß im Finanzjahre 1880/81 am Brittischen Museum ausgegeben wurden: für Gehälter (aller Beamten und Angestellten des Museums) . 61,118 Pf. St. Ankauf vou Büchern................................................................... 7,700 „ „ „ „ Manuskripten ........................................ 2,000 „ „ Bindelohn für Bücher.............................................................. 7,000 „ „ „ „ Manuscripte.............................................................. 600 „ „ Beheizung, Ventilation, elektrische Beleuchtung (einschl. 250 Ps. St. für Aenderungen am Apparat)................................................. 980 „ „ In den Transactions and Proceedings of the Oxford Meeting (1878) S- 124 gibt Mr. Bullen 10,000 Pf. St. als JahreSquvte für den Ankauf von Büchern an. **) Nur die Hälfte der Bücherpreise zähle ich zu den für die Zwecke der Benutzung ausgegebenen BerwaltungSkosten, insofern die Bücher ja einen dauernden Werth behalten. Dagegen laste ich den muthmaßlichen Miethswerth der Räume sowie die baulichen Unterhaltungskosten außer Berechnung, weil die Abschätzung eine allzu unsichere wäre.
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.
366
Eine eingehende Vergleichung dieser Zahlen mit den entsprechenden Leistungen unserer großen deutschen Bibliotheken ist für mich unmöglich, da — entgegen der englischen und amerikanischen Verwaltungspraxis —
die deutsche Bibliotheksstatistik sich noch in den ersten Anfängen befindet, jedenfalls sehr wenig davon in die Oeffentlichkeit dringt.
Bei der hie
sigen Königlichen und Universitäts-Bibliothek indeß würden sich die ent sprechenden Ausgaben und Leistungen so stellen:
24,000 M. Gehälter und Wohnungsgeldzuschüsse, bez. freie Wohnungen.
2,000 M. Beheizung, Amtsbedürfnisse und Insgemein.
10,000 M. Hälfte der Ausgaben für Bücher und Binde löhne.
Summe: (rund) 36,000 M.
Die Benutzung betrug im Verwaltungsjahre 1879/80: 41,150 Bände, die an Hiesige,
2,177
„
„
„
Auswärtige aus der Bibliothek geliehen
_______________________ wurden, Summe: 43,327 Bände. Da diese 4—8 Wochen,
ja
ein
ganzes
Semester
hindurch
in den
Händen der Entleiher bleiben können, darf man annehmen, daß
jeder
jener Bände, wenn die Entleihung nur in ein Lesezimmer stattgefunden
hätte, mindestens viermal zur Benutzung verlangt worden wäre, bez. so oft zu Hause benutzt worden ist.
Bänden
im Jahre.
DkeS giebt eine Zahl von ca. 174,000
Dazu kommen die im hiesigen Lesesaal theils aus
der dortigen Handbibliothek, theils
Bücher mit 50,000 Bänden*)
und
aus den Bücherräumen entliehenen etwa 1000 Bände, welche in den
Bücherräumen selbst von den dazu berechtigten Personen benutzt werden. Alles
in Allem beträgt dies ca. 225,000 Bände im Jahre bei obiger
JahreSauSgabe von 36,000 M.
Auf die gleiche Formel wie oben zurück
geführt, lautet das Ergebniß, daß der Staat für jeden je an
einem Tage
zu wissenschaftlichen Zwecken benutzten Band eine Prämie von ca. 16 Pf.
zahlt.
Dieses für das Brittische Museum
(ca. 65 Pf. pro Band) an
scheinend ungünstige Resultat gestaltet sich für dieses wesentlich günstiger, wenn man den Unterschied deS Geldwerthes für England und Deutsch land erwägt, sowie daß zum Reading Boom nur Personen mit zurück*) In der Handbibliothek stehen etwa 1500 Bände, von denen im Durchschnitt täglich etwa 50 benutzt werden, jährlich also etwa 14,000. Dazu kommen etwa 20,000 aus den Bücherräumen zugetragene Bände, von denen ein großer Theil zur wieder holten Benutzung zurückgestellt wird. Im Ganzen ist für diese die Zahl 36,000 (täglich benutzter Bände) also wohl nicht zu hoch gegriffen.
gelegtem 21. Jahre Zutritt finden, die Benutzung der Bücher also, worauf sehr viel ankommt, eine qualitativ höhere ist.
Endlich ist die Zahl der
vom Brtttischen Museum alljährlich ausgehenden Publicationen eine recht
bedeutende, so daß die Verwaltungskosten nicht blos auf die Benutzung
des Reading Boom
in Anrechnung zu bringen sind*).
Andrerseits
dürfte freilich die Gleichstellung eines nach Haufe geliehenen Bandes mit einer viermaligen Benutzung deffelben eine sehr mäßige und ferner zu
beachten sein, daß hier wie überhaupt an deutschen Bibliotheken die den einzelnen Benutzern Seitens der BtbltothekSverwaltung gewährte per sönliche Hülfe, schon durch Ausführung unsigntrter Bücherbestellungen, weitergehend ist als im Britttschen Museum, das Beamtenpersonal also auch mehr in Anspruch nimmt.
Fasten wir jetzt im Allgemeinen unser Urtheil über die Ver waltung der Bücher- und Handschriftenschätze des Brittischen Museums
zusammen und heben wir zugleich mit den Hauptvorzügen einige Punkte
hervor, in denen die Einrichtungen einer Entwickelung noch fähig, bez.
bedürftig wären, so ist vor Allem daS durchgehende Streben nach voll ständiger, bequemer Nutzbarmachung der vorhandenen Schätze mit größtem Lobe hervorzuheben. schen Museums,
Diesem Grundzug
aller Einrichtungen des Britti
welcher durch die Macht der öffentlichen Meinung stets
wach und wirksam gehalten wird, verdankt die Anstalt sowohl ihre bis herigen Erfolge, wie er auch weitere Fortschritte anregen und befördern
wird.
Die Zeit der Benutzung
Wesentlichen nur durch
der Räume und
ist die denkbar ausgedehnteste und im
die Rücksicht auf die nothwendige Reinhaltung
auf das Tageslicht beschränkt**).
Kaum hatten die
letzten Jahre eine ausgedehntere Verwendung des elektrischen Lichtes als
möglich erwiesen, so drang auch schon die Kunde in die Zeitungen,
daß
Versuche angestellt würden mit elektrischer Beleuchtung des Reading Room, und die kühne Phantasie einzelner Engländer verstieg sich bereits zu der
Hoffnung, es werde wie auf Eisenbahnlinien, in Post- und Telegraphen-
*) Allein in das Verwaltungsjahr 1879/80 fallen folgende Publicationen der hier in Frage kommenden departments: Facsimiles of ancient chartere. P. IV. Edited by Edw. A. Bond. — Facsimile of the Codex Alexandrinas. [Vol. IV.]. Edited by E. Maunde Thompson. — Antotype Facsimile of the Shakespeare Deed. — Catalogne of the Persian Manuscripts. Vol. I. By CH. Rieu. — Guide to the Printed Books exhibited to the Public. By Ge. Bullen. — Der Ladenpreis je eines Exemplares sämmtlicher bis ins Jahr 1879 erschienenen Publicationen derselben Abtheilungen des Britti schen Museum« beträgt etwa 63 Pf. St. **) Mit Ausnahme der Sonntage, je der ersten Wochen des Februar, Mai und October und einiger weniger Festtage ist der Reading Room täglich von 9 Uhr an geöffnet, und zwar vom October bis März einschließlich bis 7, im September bis 5, in den übrigen Monaten bis 6 Uhr.
Die Bibliothek und der Lesesaal deö Brittischen Museums.
368
anftatten,
so
führt werden.
auch Im Reading Room ein geregelter Nachtdienst einge
Und
in Wirklichkeit
ist
der Raum bereits im Winter
1879/80 während der Abendstunden von 4—7 Uhr und sonst in den zu
London nicht seltenen Fällen dunkeln Wetters elektrisch beleuchtet worden*).
Denselben Geist echter Liberalität zeigt die Verwaltung, wenn jedem Be nutzer jedes Buch und jede Handschrift, welche daS Museum besitzt, ohne
Ausnahme und ohne weitere Formalität sowie ohne einen anderen Ver zug,
als die gleichzeitige Befriedigung aller Wünsche so vieler Benutzer
verursacht, zur Stelle gebracht wird.
Daß gewisse sehr kostbare Manu-
scripte nur in einem besondern Raume unmittelbar unter den Augen von
Beamten zu benutzen sind — hier indeß unter Zuziehung deS auS dem Reading Room herbeigeschafften gedruckten Apparates — ist eine durch
dw Rücksicht auf Ordnung und Sicherheit gebotene Vorsicht**). Nächst dieser wahrhaft liberalen Auffassung vom Wesen und Zweck
öffentlicher Bibliotheken unb der darauf beruhenden steten Fürsorge für
die Interessen deS Publikums,
die große Sicherheit und Ordnung,
hat
mit welcher sich die Verwaltung und Benutzung einer so großen Büchcrund Handschriftenmasse vollzieht,
meine Bewunderung erregt.
In den
vollen acht Wochen, während welcher ich daselbst arbeitete, wurde mir nicht
ein einziges der vielen von mir bestellten Bücher noch eine Hand
schrift als nicht auffindbar oder verstellt bezeichnet, ein einziges Buch als zur Zeit beim Buchbinder befindlich.
An Andere verliehen waren aller
dings wiederholt von mir gewünschte Bücher; daß diese Angabe aber nicht eine leere Ausflucht sei zur Verdeckung ungenauen Suchens, davon über
zeugte mich allemal die Thatsache, daß ich bald in den Besitz derselben gelangte***).
Defecte namentlich
den größten Seltenheiten-f).
irgend
welcher Art zählen dort zu
Unterstützt wird die Verwaltung bei Wah
rung dieser guten Ordnung durch das stricte Festhalten an dem Grund sätze,
kein Buch und keine Handschrift aus den Räumen des Museums
herauszugeben.
Diese mit größter Strenge
durchgeführte Regel mag
*) Siehe den Bericht vom 2. Juni 1880 S. 7. **) Wie unbequem ist dagegen die Einrichtung in der Bibliotheqae Nationale zu Paris, wo Druckwerke und Handschriften nur in streng gesonderten Raumen zu benutzen stnd. Wie schwer ist es z. B. den Werth von Handschriften zu bestimmen, wenn Einem nicht die Angaben über andere Handschriften, welche etwa in gedruckten Büchern sich finden, zur Vergleichung zu Gebote stehen. ***) Principiell hängt, falls mehrere Personen dasselbe Buch begehren, die Erreichung desselben alltäglich davon ab, wer eS zuerst bestellt (Bret come first served). Nur für einen Tag wird ihm dasselbe geliehen, und das Zurückstelle« eines Buches für eine bestimmte Person sichert dieser dasselbe für den folgeudm Tag nur dann, wenn er auch an diesem zuerst darnach verlangt. t) Aus Boehmer'S Roman. Studien IV 481 erfahren wir von Herm. Bamhagen, daß in neuerer Zeit — nach Ostern 1878 — eine werthvolle romanische Hand schrift (Reg. 16. E. VIII) auS dem Brittischen Museum verschwunden ist.
freilich unS Deutschen, die wir gewohnt sind,
Bibliotheken vor Allem
durch Entleihen von Büchern zu benutzen, wo von Stadt zu Stadt und Land zu Land in immer ausgedehnterem Maße die Bibliotheken ihre
als
illiberal und zweck
Für die Londoner Verhältnisse
ist die Einrichtung
Schätze zu zeitweiliger Verwerthung hergeben,
widrig erscheinen.
meines Erachtens durchaus angemessen.
Jedenfalls ist eS für den Be
nutzer des Brittischen Museums eine Hauptannehmlichkeit zu wissen, daß
er jede- im Katalog verzeichnete Buch sofort auch benutzen, eventuell eS bei
einem
Leser
anderen
an Ort und Stelle ohne Zeitverlust
ein
sehen kann.
Wenn im Allgemeinen öffentliche
Bibliotheken die doppelte Auf
gabe haben, zunächst die litterarischen Bedürfnisse des Publikums zu befriedigen, sodann aber auch bis zu einem gewissen Grade solche zu
wecken und
anzuregen,
so
stellt sich
je nach dem größeren Gewicht,
welches der einen oder anderen dieser Aufgaben den Umständen nach
beizumessen ist, naturgemäß
auch
ein Verwiegen
der
strengen Ord
nung oder der Liberalität in den Verwaltungsmaximen ein.
verwalteten Bücher- und Handschristenschätze weit größer sind
Wo die als die
Nachfrage darnach, wird die Verwaltung richtig daran thun, die Nach
frage zu fördern durch liberalste Entleihung der ängstliche Gemüther die Sicherheit derselben
Schätze, selbst wenn
in etwas gefährdet sehen.
An Orten aber, wo die litterarischen Bedürfnisse bereits sehr lebhaft
vorhanden sind, wird die Rücksicht auf Ordnung, Sicherheit und gleich mäßige Gerechtigkeit sehr bald dazu führen, für
eine
verschiedene
Behandlung
feste Schranken gegenüber
Derselbe Gesichtspunkt ließe sich
einer regellosen Liberalität zu ziehen.
verschiedener
Arten
und
Gruppen
von Büchern und Manuskripten derselben Bibliothek begründen und ver werthen.
Indem ich nach dieser kleinen Abschweifung zu meinem Thema zu rückkehre, möchte ich als dritten Vorzug der Verwaltung des Brtttischen Museums die Zweckmäßigkeit und Folgerichtigkeit seiner Einrichtungen im
Großen und Ganzen hervorheben.
Auf einige Grundgedanken von durch
schlagender Richtigkeit ist daS ganze complicirte Fachwerk der Verwaltung gebaut, welches Ergänzungen und Ausbesserungen im Großen und Kleinen
wohl zuläßt, daS
aber in seiner Art trefflich gefügt ist und sich in der
Praxis ja auch aufs beste bewährt hat. Wir sind hiermit von selbst auf das Thema etwaiger Mängel ge
kommen.
Einzelnes habe ich bereits in diesem Aufsatz an verschiedenen
Stellen (s. S. 359. 362 f.) berührt.
Als wesentlichsten Mangel muß ich
aber daS vollständige Fehlen eines Realkatalogs der gedruckten Bücher Preußische Jahrtücher. Bd. XLV1II. Hcft 4.
27
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischen Museums.
370
Ihm abzuhelfen ist eine der dringendsten Aufgaben der Mu-
bezeichnen*).
seumSverwaltung, und immer wieder wird auf dieses von vielen Gelehrten
lebhaft empfundene desiderium hingewiesen werden müssen.
genügenden
Ersatz bieten die
gedruckten
Einen un
bibliographischen Hülfsmittel,
welche die neue Verwaltung in reicher Fülle den Benutzern des Reading
Room zur Verfügung gestellt hat (s. Bericht vom 2. Juni 1880 S. 7). ES giebt einen besonderen von Mr. G. W. Porter, Senior Assistant
Keeper in
the Department of Printed Books, verfaßten
gedruckten
von diesen Büchern.
Katalog (Hand-List of Bibliographies etc. 1881)
Daß sie nicht im Stande sind, jeden Leser kurz und vollständig darüber zu unterrichten, was auf dem ihn besonders interessirenden Gebiete an
Litteratur überhaupt ist, leuchtet ein.
oder im Brittischen Museum besonders vorhanden
Sollte eS nun nicht möglich sein — diese Frage drängte
sich mir bei meinen Besuchen im Brittischen Museum auf —, einen der
drei neuen, auS
identischen alphabetischen Kataloge, die ja alle im Grunde
Zetteln
bestehen,
auseinanderzunehmen und
sachlich zu ordnen?
Wenn alsdann Theile des Sachkatalogs, von Gebieten,
im Museum besonders reich vorhanden ist,
würden,
deren Litteratur
durch den Druck publicirt
so würden solche Bände sowohl an den betreffenden Fachleuten
dankbare Käufer finden, als auch der Museumsverwaltung selbst die Mög
lichkeit gewähren, durch Zerschneiden jener gedruckten Kataloge die alten
geschriebenen Titelzettel in ihren alphabetischen Katalogen wiederholt durch gedruckte zu ersetzen.
Den Plan, welcher seit einigen Jahren wieder von
der Museumsverwaltung ventilirt und dessen Ausführung sogar bereits vorbereitet wird, den alphabetischen Katalog drucken zu lassen,
halte ich
für verfehlt und möchte in dieser Hinsicht die von Dr. Ed. Reyer an
der Wiener Universität (s. Petzholdt'S Anzeiger 1879 S. 313 f.) dagegen ins beben gerufene Agitation kräftigst
unterstützen.
Den
Opfern an
Arbeit und Geld, welche ein so kolossales Unternehmen kostet, entspräche der lediglich auf die Räume des Britttschen Museums beschränkte Nutzen durchaus nicht.
Vermuthlich wird die Ausführung auch ebenso im Anfang
stecken bleiben,
wie vor 40 Jahren,
als der erste Folioband eines ge
druckten alphabetischen Katalogs erschien
(London 1841 auf 457 eng ge
druckten Folioseiten den Buchstaben A umfassend).
Etwas anders scheint
dieses Mal allerdings die Sache geplant zu sein: es sollte fürs erste nur ein Katalog der in England oder in englischer Sprache bis zum Jahre
1640 gedruckten Litteratur publicirt werden**). Wenn auf diesem Gebiete *) Von den Handschriften gibt eS Kataloge für die einzelnen Disciplinen, welche in den besonderen Räumen dieses department eingesehen werden können. **) Nach den vor Kurzem in einem Artikel der Academy (1881 S, 280 f.) enthaltenen
das Museum, was wohl der Fall sein dürfte, besonders reiches Material
birgt,
so wäre mit einem solchen Lexikon ein gutes Stück desjenigen
Werkes erledigt, welches seit Jahren in England mit rüstiger Kraft vor--
bereitet wird, nämlich eine« bibliographischen Lexikons der gesammten in
England gedruckten Litteratur.
Eine Vereinigung dieses Unternehmens
mit dem bezeichneten der Museumsverwaltung ist nicht in Aussicht ge nommen.
Vielleicht könnte das Comits für den Generalkatalog sich später
darauf beschränken bis zum Jahre 1640 einen Supplementband, die aus
andern Bibliotheken ermittelte Litteratur umfass mb, zu ediren.
Als das
Nützlichste erschiene mir übrigens, wie ich nochmals hervorhebe, wenn die
Museumsverwaltung auf Anlage eines Sachkatalogs und Publicirung aller oder einzelner Theile desselben ihre Kräfte concentriren wollte.
Zweitens ist es als ein Uebelstand zu beklagen, daß die gesammte
periodische Litteratur den Lesern vor dem Abschluß eines ganzes Jahrganges oder Bandes gar nicht zugänglich ist. sondern,
wie ich glaube,
Nicht etwa im Interesse der fremden,
besonders der einheimischen Gelehrten, welche
doch nicht alle in der Lage sind die sie interessirenden Fachzeitschriften
selbst zu halten oder Mitglied eines reich mit Journalen versehenen ClubS
zu werden, muß es als ein Mangel bezeichnet werden, daß
es in dem
großen, reich ausgestatteten Brittischen Museum dem Forscher unmöglich ist je mit den neuesten Bestrebungen und Anregungen, wie sie in Fach
zeitschriften niedergelegt werden, Fühlung und Schritt zu halten.
Wenn
eS sich ermöglichen ließe, in der Nähe des Reading Room die einzelnen Hefte der periodischen Litteratur in Fächer geordnet und mit Jnterimssignaturen versehen,
aufzubewahren, bis je ein Band abgeschlossen, zur
Katalogisirung und Einstellung in die Bibliothek bereit ist,
anderseits
im Reading Room einen entsprechenden Jnterimskatalog mit regelmäßiger Verzeichnung der neu
eingehenden Hefte zur Einsicht für die Besucher
bereit zu halten, so wären diese in der Lage, die einzelnen Hefte der im Erscheinen begriffenen Journale gleich andern Büchern zu bestellen und
kennen zu lernen.
Drittens habe ich sowohl persönlich
eS als einen Uebelstand em
pfunden, wie auch auf Nachfragen von Andern eS bestätigen hören,
daß
die neu erschienene Litteratur unendlich lange Zeit braucht, bis sie alle
Stadien des Geschäftsganges zurückgelegt hat und für den Leser zur VerNotizen soll der Druck des ganzen Katalogs in 40 Jahren beendet sein. Vorläufig sind Theile des Buchstabens A im Druck; die Abtheilung der mit B beginnenden Pseudonymen ist zur Publication vorbereitet; für Artikel wie Bible, Homer, Shakespeare sind besondere Bände in Aussicht genommen. Im Ganzen wird also der Druck des allgemeinen alphabetischen Katalogs von verschiedenen Seiten her in Angriff genommen.
Die Bibliothek und der Lesesaal de« Brittischen Museums.
372
fügung steht.
Vor mir liegt z. B. ein Zettel, auf welchem ich im Jahre
1878 die Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Philos.-hist. Klasse 1876
und 1877 bestellte und den schriftlichen Bescheid
erhielt, daß Jahrgang
1874 „last available“, der letzte zu benutzende sei.
Ohne Zweifel ist
Arbeitsüberhäufung zum Theil daran Schuld, abgesehen von dem lang samen Tempo, in welchem die Buchbinderei dort vor sich gehen soll;
es
ließen sich aber doch, wie ich an einigen Stetten meines Aufsatzes an deutete, durch Vereinfachung deS Geschäftsganges nicht unwesentliche Er
sparnisse an Arbeitskraft erzielen, welche man zunächst zur Beschleunigung des
Geschäftsganges
auf jenem Punkte verwerthen
könnte.
Oder
eS
müßten andere, zwar sehr wünschenswerthe, aber nicht so dringende Auf
gaben vor jener zurücktreten. Endlich bedarf meines Erachtens die gesammte Reference Library
dringend einer Revision in Bezug auf die Brauchbarkeit der 20,000 Bände nach dem
heutigen Standpunkte der Wissenschaften.
Nach ihrer ersten
unter Sir Panizzi's Aegide erfolgten Auswahl scheint wenig dafür ge
schehen zu sein, diese Handbibliothek auf der Höhe zu erhalten, bez. ver altete litterarische Hülfsmittel durch die neuesten besten zu ersetzen*).
unter der neuen Verwaltung des Museums
Erst
durch Mr. Bond, d. h. seit
dem Herbst des Jahres 1878, ist auch hiermit ein Anfang gemacht wor
den und weist der erwähnte Jahresbericht nach, daß 621 Aenderungen in
den Katalogen der Reference Books
vorgenommen worden sind.
Im
September 1878 sand sich z. B. noch ruhig der erste Band von Pauly'S Realencyklopädie in alter Auflage im Reading Room, während die zwei
Bände der neuen Auflage ungebunden in der General Library aufbe
wahrt wurden (im alphabetischen Katalog übrigens unrichtig als „to be
continued“ bezeichnet).
Von Forcellini'S Lateinischem Lexikon ist im
Katalog von 1871 weder die Schneeberger Ausgabe noch eine der Neu
bearbeitungen (von De Vit, bez. Corradini) verzeichnet; und wie es auf
dem Gebiete der Deutschen Litteratur mit den „leading works“ bestellt
war, möge man darnach bemessen, daß von Lessing's Werken die Lachmann'sche sowie die Lachmann-v. Maltzahn'sche Ausgabe im Reading Room fehlte und von Goethe gar nur ein Pariser Nachdruck (von 1835) in
5 Bänden vorhanden war.
Von Ranke's historischen Werken durfte vor
Allem die „Englische Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert" nicht vermißt *) Die erste Auflage de« gedruckten Katalog« der Reference Booke datirt vom Jahre 1859, die zweite von 1871. Die in dem Borwort der letzteren gegebene Berstcherung, „daß seit 1859 zahlreiche Verbesserungen vorgenommen worden seien durch Einreihung neuer Werke oder neuer Ausgaben, wenn immer diese irgend einen Vorzug boten vor den früher daselbst aufgestellten", stimmt mit dem Bestand der Bibliothek, wie er stch noch im Jahre 1878 vorfand, keineswegs überein.
werden. — Mit diesem Mangel hängt eS zusammen, daß auch sonst der
wenigstens auf dem weiten Gebiete der
Bücherbestand des Museums,
klassischen Philologie, gerade bezüglich der Erwerbungen aus dem letzten Decennium mancherlei zu wünschen übrig ließ.
So sehr bereitwillig ich
die Herren Oberbeamten im Reading Boom fand, die ihnen bezeichneten
Lücken alsbald zu ergänzen; so sollte eS doch für ein Institut wie das Brtttifche Museum nicht erst einer zufälligen späten Anregung von außen
bedürfen, um Werke anzuschaffen wie die Grammatici Latini von H. Keil oder Reiferscheid'S Ausgabe des Suetonius u. a. m.
Wir haben hierin
vielleicht die Folgen eines von dem früheren Principal Librarian Mr. Winter JoneS (1866 —1878, gest, den 7. Sept. 1881) mit voller Absicht verfolgten Principes zu sehen, nach welchem er mit einseitiger Bevorzugung
der bibliothekarischen Geschäftsroutine den fachwissenschaftltchen Studien der Beamten innerhalb des Printed Book Department — natürlich mit
einzelnen hervorragenden Ausnahmen — nicht genügendes Gewicht bei maß und nicht genügenden Spielraum ließ*). Zum Schluffe sei eS gestattet,
den Blick vom englischen Gestade
zurück auf unser Heimathland, insbesondere auf deutsche Bibliotheksver hältnisse zu werfen.
Gerade im Hinblick auf die Bibliothek des Brittischen
Museums ist etwa seit Jahresfrist der Gedanke der Gründung
einer
Deutschen ReichSbibltothek angeregt worden, und zwar von Dr. Karl
Kehrbach aus Halle in einem Artikel der Allgem. Liter. Correspondenz Voraus ging übrigens der Kehrbach'schen Agitation
(vom 1. Juli 1880).
ein Artikel deS Universitäts-Bibliothekars Dr. O. Hartwig aus Halle in der „Post" vom 19. März 1880, worin dieser, anknüpfend an ein Schriftchen
deS Dr. Otto Richter aus Dresden „Ein Nothstand bei den sächsischen
Bibliotheken", die Nothwendigkeit der Sammlung aller deutschen Druck erzeugnisse hervorhebt.
Deutschen
Reichstages
bibliothek
vor
der
beiden,
sehen.
allen
und
Er schlägt als Sammelstelle die Bibliothek deS
und
die
betreffende
Provinzial-
wünscht die Reichspostverwaltung
bez.
LandeS-
mit Einziehung
auf Schreibpapier gedruckten Pflichtexemplare betraut zu
Kehrbach a. O. tritt für ein Reichsgesetz in die Schranken, welches deutschen
exemplares
an
Verlegern eine zu
die
unentgeltliche
begründende
Ablieferung
Reichsbibliothek
eines
Frei-
auferlegen soll.
*) Mit großer Offenheit hat Mr. Winter JoneS diesem einseitigen Grundsatz Ausdruck gegeben an einer Stelle seiner Eröffnungsrede der Londoner Conferenz Englischer Bibliothekare (Transactions etc. S. 8), wo er seine Fachgenoffen vor dem Felsen warnt, sich einem besondern Studienzweige zu widmen, und den Ausspruch Mark Pattison's im wesentlichen adoptirt, welcher in seiner Biographie des Isaac CasaubonuS (London, 1875) S. 207 in Bezug auf deffen bibliothekarische Thätigkeit zu Paris erklärt hat: „Der Bibliothekar, welcher liest, ist verloren."
Die Bibliothek und der Lesesaql deS Brittischen Museums.
374
So wünschenswerth nun auch offenbar das bezeichnete Ziel einer deutschen
Retchsbibliothek ist, so wenig gereift erschien von Anfang an die dafür inS Werk gesetzte Agitation.
Dies zeigt sich vor Allem darin, daß in
einem weitern Artikel (Allgem. Lil. Corresp. vom 15. Juli 1880) ernst
haft als verschiedene Möglichkeiten die Vorschläge discutirt werden, den Sitz jener Reichsbibliothek in spe nach Leipzig oder Frankfurt am Main oder gar nach Nürnberg zu verlegen, während doch nur von Berlin und event,
einer Erweiterung der dortigen Königlichen Bibliothek die Rede
sein kann.
Letzteren Standpunkt allein vertritt mit Recht die von dem
Allgemeinen Deutschen Schriftstellerverein unter dem 30. März d. I. an
den Reichskanzler Fürsten von Bismarck gerichtete Eingabe, worin um
Begründung einer Reichsbibliothek und um ein Gesetz betr. die Abgabe je eines PflichtexemplareS .sämmtlicher Druckschriften an jene nachgesucht
wird*).
Auf ungenügender Bekanntschaft mit dem Br. Museum beruht
jedenfalls die Meinung, daß^das Br. Museum und seine litterarischen Schätze ihre hervorragende Bedeutung allein oder auch nur vorwiegend dem Copyright Law verdanken **).
Außer Acht gelassen sind die gewal-
*) Abgedruckt im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1881 Nr. 89 sowie im 5 Hefte des N Anzeigers für Bibliogr. und Bibliothekswiss. 1881. Dergl. ebenda (Heft 6) den Abdruck einiger Artikel des Preußischen Landtagsabgeordneten Ober lehrer Dr. Kropatschek sowie des Dr. Kehrbach aus dem Deutschen Tageblatt. Ersterer hat das Verdienst in einer Rede vom 15. December v. I. die Frage vor der Kammer mit großer Wärme sowohl nach ihrer nationalen Bedeutung wie nach der praktischen Ausführbarkeit besprochen zu haben. **) Irrig ist die in der erwähnten Eingabe deS Deutschen Schriftstellervereins ent haltene Behauptung, daß die Druckerzeugnisse Englands sich vollständig nicht nur im Brittischen Museum, sondern ebenso in noch vier andern Englischen Bibliotheken vorsänden. Nur an daS Brittische Museum ist nämlich laut Gesetz (A. 5 und 6 Victoria C. 45) ein Freiexemplar aller Drucksachen innerhalb eines KalendermonateS nach ihrer Ausgabe (bez. 12 Monaten aus den außereuropäischen Ländern Englands) uneingemahnt und kostenfrei zu übersenden, und verfallen Säumige einer Geld strafe (bis zu 5 Pf St. für jeden Fall). Dagegen haben vier Bibliotheken, die Bodleiana zu Oxford, die Public Library zu Cambridge, die der Advocatenfacultät zu Edinburgh und die des Trinity College zu Dublin, das Recht, die Einsendung eines Freiexemplares von jedem Druckerzeugniß schriftlich zu ver langen; ein Recht, von welchem schon um dieser Bedingung willen nur ein be schränkter Gebrauch gemacht wird. Daß übrigens selbst das Brittische Museum die neueren Englischen Drucksachen nicht in absoluter Vollständigkeit besitzt, räumte Mr. Bullen, Keeper of the Printed Books, auf der Oxford Librarian Con ference (s. Transactions S. 126) ein und erzählte dabei eine Anekdote aus dem Leben Panizzi's, daß dieser in einem kleinen Englischen Städtchen in einen Bücher laden tretend Verlagsartikel des Besitzers gefunden habe. Auf seine Frage, ob diese auch an das Brittische Museum geschickt worden seien, gestand der Buchhändler, welcher den Fremden natürlich nicht kannte, demselben ein, daß er — ein Vollblutengländer — gegen den Principal Librarian des Museums, eben den Sir Panizzi, als Ausländer eine Abneigung empfinde und deshalb das Institut nicht durch Ein sendung von Freiexemplaren bereichern wolle. — Uebrigens besaß schon seit dem Jahre 1709 (A. 8. Anna C. 19 § 5) die „Königliche Bibliothek" nebst acht andern Bibliotheken Englands das Privilegium ein Freiexemplar von jeder an der engli schen Buchhändlerbörse registrirten Druckschrift zu erhalten, und ging dieses Privi-
Die Bibliothek und der Lesesaal de» Brittischen Museum».
375
tig«n Summen, welche seit Decennien regelmäßig oder bei außerordent
lichen Anlässen zur Vermehrung und Ergänzung des Bücher- und Hand schriftenbestandes verwendet werden; außer Acht vor Allem die unschätzbaren alten Büchersammlungen, welche durch Bermächtniß oder Kauf Eigenthum
deS Museums geworden sind.
Auch wird von Kehrbach ganz übersehen,
daß gerade für die kleinen und kleinsten Drucksachen, Theaterzettel, Ge legenheitsgedichte, Wahlprogramme u. dergl., welche bet Zeiten mit sorg
samer Hand gesammelt werden müsien oder schon nach Jahresftist nicht mehr vollständig zu beschaffen sind; daß für diese ein Gesetz über Pflicht
exemplare von sehr beschränkter Wirkung ist, weil ja jede Controlle über ihr Erscheinen der BibltothekSverwaltung fehlt.
Da muß die Thätigkeit
des Liebhabers und Sammlers ergänzend eintreten, und die Btbliotheksdirection wird nur darauf bedacht fein müssen das Interesse der Sammler wach zu halten und für das Institut
nutzbar zu
machen.
Gleichwohl
würde ich für eine etwaige ReichSbibltothek das Recht der Pflichtexemplare
halten, und zwar wesentlich aus Für England schätzt Mr. Bullen (Trans, of the
gleichfalls für durchaus nothwendig finanziellen Gründen**).
Oxford Cons. S. 140) den den vier Bibliotheken (ohne das Br. Museum)
aus den Pflichtexemplaren erwachsenden Vortheil auf mehr als 1200 Pf. St. Jedenfalls wird nie die Dotation einer deutschen ReichSbibltothek so reich
bemessen sein können, daß die Verwaltung nicht beständig vor die Alter native gestellt wäre, ihre Geldmittel entweder zum Ankauf einer endlosen
Masse von heimischen Drucksachen zweifelhaftesten Werthes oder wichtiger ausländischer, sowie älterer deutscher Werke, kostbarer Handschriften, Jn-
cunabeln u. dergl. zu verwenden.
Wenn jene heimische Litteratur nicht
alö Freiexemplar der Bibliothek zufäflt, würde die Verwaltung gegebenen Falls ihre Ergänzung aller Voraussicht nach um der Befriedigung anderer Bedürfnisse willen vernachlässigen,
und eS könnten so Lücken entstehen,
welche in einer Reichsbibliothek allerdings vermieden werden sollten.
Ich
stimme deshalb dem Verfasser eines Artikels im Deutschen Buchhändler-
Börsenblatt vom 2. August 1880 Nr. 177, K. in M. gezeichnet, welcher legium im Jahre 1757 mit der Bibliothek der Könige England» durch Geschenk König Georg II. auf da» Brittische Museum über. Im Jahre 1815 (A. 54. Georg III. C. 156) wurde die Zahl der zur Entnahme eine» Freiexemplare» berechttgten Biblio theken gar auf elf vermehrt. *) Auch die in England geltende Strafandrohung und kurze Lieferungsfrist zugleich mit Portofreiheit müßten im Gesetz Aufnahme finden; nicht minder endlich wäre, worauf von anderer Seite bereit» hingewiesen worden ist, eine Bestimmung wünschenswerth, nach welcher da« an die Reichsbibliothek zu liefernde Freiexemplar ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit der übrigen Anflage auf gutem, dau;rhaften Papier abgezogen sein muß. Bei einer Erweiterung der Berliner Königlichen Bibliothek zur Reichsbibliothek träte übrigens für die Preußischen Drucker und Ver leger keine eigentliche Neubelastung ein.
376
Die Bibliothek und der Lesesaal des Brittischm Museums.
das Kehrbach'sche Projekt im übrigen einer sehr sachgemäßen Kritik unter«
zieht, in diesem einen Punkte nicht bei, insofern er sich gegen die Abgabe von Pflichtexemplaren
an
eine
zukünftige Reichsbibliothek
ausspricht.
Offenbar thut er dies vom Standpunkte der deutschen Buchhändler aus, welche in jeder gesetzlichen Verpflichtung zur Abgabe von Freiexemplaren
eine Beeinträchtigung der Gewerbefretheit sowie einen direkten materiellen
Schaden für sie selbst erblicken.
Sie bedenken dabei das Eine nicht, daß
jede öffentliche Bibliothek — und um wie viel mehr ein deutsches Reichs institut? — nicht blos die litterarischen Bedürfnisse deS Bücher suchenden Publikums befriedigt, sondern sie auch in hohem Grade weckt und somit
durch die von ihr ausgehende litterarische Anregung dem
Buchhandel
immer neue Consumenten und Producenten zuführt.
BreSlau.
Dr. Dziatzko, Oberbibliothekar.
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte. Die recht- und friedlosen Leute. (Schluß.)
Reichen Aufschluß über das Leben und Treiben dieser Vaganten auf dem Lande gibt eine kleine, kurz nach dem Jahre 1509 erschienene Schrift unter den Titel: „Liber Vagatorum, der Bettlerorden".
In dem Vor
wort derftlben heißt eS wörtlich: „hienach folgt ein hübschS Büchlin . . . dictirt vm eime hochwirdigen Meister nomine expertus in trufis dem
Adone zu Lob und Ere, sibi in refrigerium et solacium, allen Menschen zu einer llnderweysung und Lere, und denen die dise Stuck bruchen zu
einer Besemng und Bekerung.
Und Wirt diß Büchlin geteilt in drei
Teil. Dar erst Teil sagt von allen Narungen, die die Betler oder Lantfarer
brauchen, und Wirt geteilt in xx Capitel et paulo plus, dann es sind xx Narmgen et ultra, dadurch der Mensch betrogen und überfürt Wirt.
DaS etlid Teil sagt etlich notabilia, die zu den vorgenannten Narungen
gehören. DaS dritt sagt von ein Vocabulari, Rotwelsch zu teutsch genannt."
Auch hier begegnet uns wieder dieselbe eingehende Classifikatton der einzelnen Lorten von Landstreichern, wie im Augsburger Achtbuch.
Auch
die Namer sind vielfach dieselben geblieben, nur daß jetzt der Schauplatz
der erster« das platte schwäbische Land ist, während daS Achtbuch vor
zugsweise die Stadt Augsburg im Auge hat.
Zuvörderst werden genannt
die Breger, Bettler, welche keine Zeichen von den Heiligen oder nur
wenige ar sich hangen haben, schlechtlich und einfältiglich vor die Leute kommen md um Gottes und unserer lieben Frau willen Almosen heischen.
Unter ihnn, sagt der Verfasser, ist mancher fromme Mann, der mit Un willen betest und sich vor denen, die ihn kennen, schämt^ und bessere Tage
erlebt hat und, wenn er könnte, daS Betteln gerne aufgäbe; bet solchem ist eine Nabe wohl
angelegt.
Nach ihnen kommen
die Stabüler,
Bettler, de alle Lande mit Weibern und Kindern durchziehen.
Hut und
Mantel hingen bei ihnen voll von Heiligenbildern, sie führen mehrere Säcke, been keiner leer ist, Schüsseln, Teller und andern HauSrath bei
sich und lissen vom Betteln nimmer ab, denn der Bettelstab ist ihnen in
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.
378
den Fingern erwärmt.
Die Loßner sind Bettler, welche Ketten bei sich
tragen und vorgeben, sie hätten Jahre lang in der Gefangenschaft bei den
Ungläubigen geschmachtet, seien aber, da sie Gelübde zur Mutter GotteS
oder zu den Heiligen gethan, erlöst worden und nun auf dem Wege,
ihre Gelübde zu erfüllen.
Sie gehen aber nur mit Lügen und Betrügen
um, und unter Tausenden sagt kaum einer die Wahrhekt.
Noch schlimmer
sind die Klenkner, welche auf Krücken gehen und sich stellen, als fehle ihnen ein Arm oder ein Fuß, was aber lauter Betrug ist; sie setzm sich
vor die Kirchenthüren, stellen das Bild eines Heiligen neben sich und bitten mit jämmerlichklagender Stimme, daß man um dessen Willen ihnen
ein Almosen gebe.
Die Debisser oder Dopfer geben sich für Ordens
brüder aus, gehen von Haus zu HauS, bestreichen die Bauern und ihre
Frauen mit einem Heiligenbild und heischen eine Gabe für ihr Kloster oder ihre Kirche, weisen auch Briefe vor, worin um Beiträge zu einem
Kirchenbau gebeten wird. Die Kammesierer sind Schüler und Studenten, die Vater und Mutter nicht folgen und ihren Meistern nicht gehorsam sein wollen, in böse Gesellschaft gerathen, das Ihrige verschwenden und dann auf den Bettel herumziehen.
Einige geben sich für Priester aus,
andere wollen es erst werden und bittten dazu um eine Beisteuer.
Die
Bagirer sind Abenteurer, welche aus Frau Venus Berg kommen und die schwarze Kunst verstehen.
Wenn sie in ein HauS kommen, so fangen
sie an zu sprechen: hie kommt ein fahrender Schüler, der sieben freien Künste ein Meister, ein Beschwörer der Teufel gegen Hagel, Wetter und alles Unheil.
Darnach machen sie etliche Charaktere, zwei oder drei Kreuze
und sprechen, wo diese Worte werden gesprochen, da wird Niemand er stochen, es trifft auch Niemand ein Unglück, und viele andere köstliche
Worte.
Da meinen dann die Bauern, es sei also, sind froh, daß sie
kommen, und sprechen zu den Vagirern, das und das ist mir begegnet, könnt ihr mir helfen?
Diese aber bejahen eS und betrügen die Bauern.
Die Grantner sind Bettler, welche vorgeben, sie seien mit der fallenden
Sucht behaftet, sie nehmen Seife in den Mund, daß sie recht schäumen, stechen sich in die Nasenlöcher, daß sie bluten, und fallen nieder vor den
Kirchen oder auf öffentlichen Plätzen, sprechen, sie haben zur Erlösung von ihrem Uebel den Heiligen eine Gabe gelobt und sammeln dazu frommer Leute Beisteuer ein.
Auch von den Dützern geben einige vor, sie hätten
wegen einer schweren Krankheit ein solches Gelübde gethan und bedürften
zu dessen Erfüllung einer Beisteuer, andere bitten um Butter, um ihren kleinen Kindern eine Suppe zu kochen, um Wein für ihre krenke Frau u. s. w.
Die Schlepper geben sich für Priester aus und bitten um eine
Gabe für ihre Kirche, oder nehmen für gute Belohnung die Bauern in
eine geisMche Bruderschaft auf.
Zickissen heißen solche, die wirklich
blind sind oder sich doch dafür ausgeben und erzählen, wie sie in einem
Walde überfallen und geblendet worden seien; sie tragen auch gemalte Täfelein und geben vor, sie kommen von fernen Wallfahrtsorten; einige,
die Platschierer genannt, singen auch vor den Kirchen.
Die Schwan
felder oder Blickschlager verbergen ihre Kleider, setzen sich halbnackend und vor Kälte zitternd an die Ktrchenthüren und bitten um ein Kleidungs
stück zur Bedeckung ihrer Blöße.
Die Bopp er und
Bopperinnen
lassen sich an Ketten führen und geben sich für Wahnsinnige oder Be sessene auS; die Dallinger stellen sich vor die Kirchen und geißeln sich,
als ob sie Buße für ihre Sünden thun wollten; die Sönzengänger
geben sich für durch Krieg oder Brand ins Elend gekommene Edelleute,
die Kandierer für ausgeplünderte Kaufleute auö, und beide gehen sauber gekleidet einher.
Die Sündveyer,
starke Knechte,
die
mit
langen
Messern gehen, geben an, sie hätten aus Nothwehr einen Todschlag be gangen und möchten dafür eine Geldbuße zahlen, zu der sie um Beiträge
bitten; öfters führen sie Frauen bei sich, welche reumüthig bekennen, sie hätten früher ein lüderlicheS Leben geführt, jetzt aber sich bekehrt So werden noch einige Arten von Landstreichern beiderlei Geschlechts ange
führt: Weiber, die sich für schwanger (Btlträgerinnen) oder Kind
betterinnen (Dutzbetterinnen), Bettler mit Klappen, die sich für aus sätzig (Jungfrauen) ausgeben, angebliche LollhardSbrüder (Mumsen),
getaufte Juden (Beraner und Beranerinnen), Pilgrime (Christianer
oder Calmierer); Schweiger).
Gebrechliche und Kranke (Burkarte, Seffer und
Im zweiten Theil des Büchleins führt der Verfasser nach
einigen Arten betrügerischen Erwerbs dieser Landfahrer an, daß sie ihre
eigenen Kinder zu Krüppeln machen oder fremde Kinder zum Betteln ent
lehnen, in den Wirthshäusern zechen und
sich hierauf heimlich davon
machen, wo dann gewöhnlich etwas mit ihnen laufe,
und warnt vor
nehmlich vor den Schatzgräbern (Sefelgräbern), die, wenn sie Jemand finden, der sich von ihnen überreden läßt, sprechen, sie müssen Gold und Silber haben, viel Messen lesen lassen u. s. w., womit sie Weltliche und Geistliche betrügen, aber noch nie einen Schatz fanden, vor den umher
ziehenden Spenglern, vor den Krämern, welche in die Häuser laufen, weil sie immer unnütze Waaren hätten, vor den Afterärzten, welche
Theriak und Wurzeln feilbieten und sich großer Kunst rühmen, und vor
den Jonern oder falschen Spielern. Die rücksichtslose Strenge, mit welcher nach dem Bauernkrieg na mentlich der schwäbische Bund gegen das Landvolk verfuhr, vermehrte die
Zahl dieser Leute bedeutend.
Am 22. Dezember 1528 theilte die öfter-
Studien zur alten Gesellschaftsgeschichte.
380
relchische Regierung in Württemberg dem Rath der Reichsstadt Eßlingen mit, eS zögen viele Landröcke und Bettler umher, die sich zum Theil für Landsknechte, Krämer und Handwerker auSgeben, Feuer einlegen, rauben und morden, daher hätten sie ihren Amtleuten befohlen, daß sie künftig
nirgend- solche „Landstreicher, Schmuttirer, Scheiden- und Löffelmacher, Zahnbrecher, Wurzelgräber, Röthelsteinträger und andere Krämer, welche
ihren Kram auf dem Rücken tragen", ohne schriftliche Urkunden von ihrer
Obrigkeit, die aber nur auf ein Jahr gültig wären, aufnehmen sollten.
Auch an andere schwäbische Reichsstädte ergingen Mittheilungen ähnlicher Art und die Regierungen ergriffen verschiedene Maßregeln, dennoch nahm die Mordbrenneret immer mehr zu.
Im Jahre 1540 hielt eine solche
Bande ihre Versammlungen in dem Hause eines Eisenkrämers zu Eß
lingen.
Man entdeckte sie und bekam mehrere von ihnen gefangen, welche
merkwürdige Geständniffe ablegten.
Die Räuber und Mordbrenner seien
vornehmlich daran zu erkennen, daß sie meist grüne oder blaue Hüte trügen; zu ihnen gehörten viele Bettler, Keffelflicker und andere Land
streicher, die bald mit dem Aussatz, bald mit der fallenden Sucht behaftet zu sein vorgäben, und die meisten deutschen und wälschen Krämer, welche mit ihren „kleinen Krämlein" allenthalben die Jahrmärkte besuchten, ge
wöhnlich grüne Mäntel und Hüte, auch große Paternoster oder Kreuze am Halse trügen; sie hätten besondere Zeichen, wodurch sie die Häuser,
in welche Feuer eingelegt werden sollte oder schon eingelegt sei, ihren
Genossen bemerkbar machten; zum Anzünden bedienten sie sich der Brieflein mit Pulver und Schwefel, der Häfelein mit Pulver und der soge nannten Holländerröhrchen.
Einer sagte sogar, er sei einmal zum Brennen
gekommen, und da seien blaue Vögelein zu ihnen und von ihnen geflogen,
diese hätten sich auf die Häuser gesetzt, welche dann sogleich in Brand gerathen wären; ein anderer bekannte geradezu, der Teufel sei ihr Haupt mann, während ein dritter erzählte, wie er und seine Genossen einen
reichen Müller durch Gespenstererschetnungen so sehr und so lange
er
schreckt hätten, bis er seine Mühle verlassen habe, welche dann von ihnen auSgeplündert worden sei.
Einen bedeutenden Prozentsatz dieser vagirenden Bettler bildeten die entlassenen Landsknechte, die zuerst unter Maximilian I. auftauchen und
von da ab das ganze 16. Jahrhundert hindurch eine wahre Landplage namentlich für die ländliche Bevölkerung geworden sind.
Namentlich nach
dem Schluß des fchmalkaldifchen Krieges nahm die Zahl dieser herren
losen, gürtenden Knechte dermaßen zu, daß bereits auf dem Augsburger Reichstag von 1548 strenge Maßregeln gegen dieselben ergriffen werden
mußten.
In ähnlicher Weise suchten die einzelnen Landes-Regierungen
und Kreisstände dem Unwesen zu steuern.
Jeder Ort sollte seine eigenen
Armen selbst unterhalten, Preßhafte, Krüppel und Lahme aber, welche
keine beständige Heimath hätten, sollten von einem zum andern Ort ge führt werden.
„Landröcken", jungen und starken umherstreifenden Bettlern,
gürtenden Knechten und anderem dergleichen leichtfertigen Gesind, welche
„die armen Unterthanen mit großen Beschwerden belästigen und denselben
ob dem Hals liegen", wurde das Umherschweifen und Betteln ganz unter sagt.
Niemand sollte solche Leute beherbergen, sondern sie stets abweisen.
Den Landleuten wurde befohlen, ihnen alles „Zusammenrottiren" zu ver bieten, und wenn sie die Unterthanen beschädigt und ihnen daS Ihrige mit Gewalt abgenommen hätten, oder wenn sie, wie bisher oft geschehen
sei, dieselben bedrohten oder gar ihre Drohungen verwirklichten, sie so gleich gefangen zu nehmen, damit man sie an Leib und Leben strafen oder
auf die Galeeren schicken könne."
Ein württembergischeS Rescripl vom
20. Juni 1604 befahl, Landstreicher und Bettler, welche gesunden, starken LeibeS seien, zu den
öffentlichen Bauarbeiten zu verwenden, die „Preß
haften" aber fortzuschaffen.
Und
1608 wurden die früher befohlenen
Maßregeln aufS neue eingeschärft, weil bet der Regierung Beschwerde an
gebracht worden sei, „waS massen sich jetzt eine gute Zeit her unerschwing
licher Zulauf von einheimischen und fremden Gartknechlen, Landröcken und
allerlei Vaganten, angeblichen Studenten, Musikanten, Schreibern, Schul meistern, Lakaien und andere dergleichen zeige", welche den Unterthanen ganz beschwerlich und überlästig seien, sich an geringen Gaben nicht be
gnügen ließen, sondern böse Reden darüber auSstießen und weil zudem auch „mit schriftlichen Patenten, so von Wälschen und Ausländern vorge
legt werden", nicht geringer Betrug vorgehe.
Zu einer wahrhaft furchtbaren Höhe wuchs aber die Zahl dieses Ge
sindels während und nach dem Ende des dreißigjährigen Krieges.
Auch
die Raubkriege Ludwigs XIV. und der spanische Erbfolgekrieg brachten
immer neue Schaaren solcher Landstreicher hervor.
Ja, die allgemeine
Gefährlichkeit derselben stieg jetzt dadurch höher, daß sich häufig solche ein
zelnen Vaganten zu ganzen großen, oft mehrere hundert Köpfe starken Banden zusammenthaten, die sich in den Wäldern verschanzten und von
hier nicht nur die Landstraßen unsicher machten, sondern häufig ganze Ortschaften überfielen und ausplünderten. daher die schwäbische Kreiöversammlung,
Im December 1705 befahl solche Banden überall
aufzu
greifen und, wenn sie sich widersetzten, niederzuschießen, die Gefangenen
in die härtesten Kerker zu werfen,
aufs schärfste zu
examiniren,
in
Festungen und auf die Galeeren nach Venedig und Genua zu schicken,
oder
„mit härtiglicher Schaffung in opere publico,
pro qualitate
Studien zur allen GesellsihaflSgeschichte.
382
delictorum auch mit Galgen und Rad zu bestrafen" und hiemit fortzu fahren,
„bis die ganze Race von diesem Gesind in allen Theilen des Mit den benachbarten Kreisen
Kreises auf den Grund ausgerottet fei".
trat man zu gemeinsamen Maßregeln zusammen.
beschlossen,
„daß
alle ergriffenen Zigeuner
einige Gnade und Nachsicht,
Unter anderm wurde
und famosen Jauner
sine strepitu judicii
ohne
und ohne weiteren
Prozeß, bloß und allein um ihres verbotenen Lebenswandels und bezeugten Ungehorsames halber mit dem Schwert und nach Befinden mit höheren Leibes- und Lebensstrafe hingerichtet, deren Weiber und erwachsene Kinder
aber, wenn sie auch gleich einigen Diebstahls nicht überwiesen seien, mit Ruthen ausgehauen, gebrandmarkt und deS Landes auf ewig verwiesen
oder in Zucht und Arbeitshäuser gesteckt werden sollten".
Solche und
ähnliche Beschlüsse verfehlten jedoch fast regelmäßig ihre Wirkung, weil
es — wie zeitgenössische Berichte klagen — „an rechtschaffener Execution und Vollziehung der so Heilsamlich gefaßten Dispositionen mangelte und
daher der vorgesetzte Zweck nicht erreicht werden konnte, da ein und an dere Kreisstände dergleichem diebischem
und ruchlosem Gesinde
wissent
licher Dinge entweder auS Furcht oder anderen Prätexten einen Aufenthalt gestatteten, die vorgeschriebenen Strafen nicht anwandten, sogar mit ge
bührender Handhabung nicht an die Hand gingen".
Bei einer Versamm
lung der „verbündeten fünf vordern Kreise" im Jahre 1714 wurde ver ordnet:
„weil dieses leichtsinnige, böse und anderes Herrnlose Gesindel
hie und da an solche Orte zu ziehen beginne, wo eS der Waldungen halber mehrere Bedeckung und Sicherheit zu finden vermeine, auch defien Anzahl sich merklich und zwar dergestalt vergrößere, daß ungeachtet der
da und dort sogar in Dörfern angeordneten Wachen man täglich von Ein-
brcchen und Rauben, auch wohl von Plünderung der Reisenden hören
müsse, dessen Impertinenz auch dahin zu wachsen anfange, daß es dem Landmann, der ihm die Nachtherberge abschlSgt, mit Mord und Brand
zu drohen sich nicht entblöde und dadurch daS Landvolk von Vollziehung der Verordnungen abhalte, so sollten alle nicht in den fünf Kreisen ge-
bornen und
eingebürgerten Landstreicher,
Bettler,
blessirte Soldaten,
fremde Juden, Zigeuner und anderes Gesindel, sie möchten mit Pässen
und Abschieden versehen sein oder nicht, auS den sämmtlichen KreiSlanden verwiesen werden."
1712 wurde auch die Errichtung zweier KreiSzucht-
Häuser beschlossen, aber nur eines tarn 1722 zur Ausführung.
Zwei Momente waren es namentlich, welche der Ausbreitung des Gaunerthums in Schwaben förderlich waren: die vielen Territorien und
der Reichthum derselben an Wäldern und Schluchten.
Der erste Um
stand war natürlich einer energischen, gemeinsamen Verfolgung der Land-
streicher äußerst hinderlich, wie er andererseits eS denselben ermöglichte,
sich immer wieder neue Legitimationspapiere zu verschaffen.
Der letzte
Umstand dagegen gewährte ihnen Schlupfwinkel in reicher Zahl.
Besonders
der Schwarzwald und die engen Thäler der rauhen Alb waren ein be liebter Sammelplatz der Gauner.
Die Bauern sowie die Beamten waren
meist zu feig, bei der Verfolgung der Banden ihrer Pflicht nachzukommen,
ja manche hielten es aus Gewinnsucht heimlich mit ihnen. Ausgang
des
18. Jahrhunderts zeigt
sich
Noch am
keine wesentliche Besserung
der öffentlichen Sicherheit, ja eS fallen sogar gerade in diese Zeit jene noch heute im Munde deS Landvolks fortlebenden Räuberbanden des
SonnenwirtheS — bekanntlich von Schiller in so ergreifender Weise in seiner Erzählung „der Verbrecher auS verlorner Ehre" verwerthet —,
des Constanzer Hans, des großen Baier Sepps, des baierischen Hiesels,
der Gasners Liesel und der Schleiferbärbel.
Erst daS 19. Jahrhundert
mit seiner Umgestaltung der territorialen Verhältnisse deS deutschen Reichs,
der Schaffung großer einheitlich regierter Staatskörper, namentlich einer starken Militär- und Polizeigewalt hat jener Landesplage die Existenzbe
dingungen unterbunden.
Doch zogen noch in den zwanziger Jahren auf
dem Schwarzwald und der Alb die letzten Ueberbleibsel jener verrufenen
Menschenklasse herum, die sogenannten Freimenscher oder Freilente, Landstreicher, die sich mit dem Korb- und Zaunenmachen abgaben und zu zehn bis zwölf, große und oft schöne Leute, die Weiber in besonders auf
fallender Tracht, von Hof zu Hof wanderten.
sie durch die Drohung,
Den Einödbauern preßten
ihnen daS HauS über dem Kopfe anzuzünden,
Mehl, Milch, Schmalz und andere Lebensmittel ab, die
selbst verzehrten oder sich aufS freie Feld bringen ließen.
sie bei
ihnen
Hier wurden
dann Hunde und Dachse gebraten, es wurde geschmaust, gezecht und an
deren sinnlichen Lüsten gefröhnt.
Die Bewohner jener Gegenden aber
hatten eine solche Furcht vor diesen Leuten, daß sie nicht so keck waren,
ihre Besuche der Obrigkeit zu melden oder auch nur zu gestehen. Um hier noch einiges über die Lebensart und die sonstigen Verhält nisse dieser aus der Gesellschaft ausgestoßenen Menschenklasse beizufügen, so sei vorerst bemerkt, daß sie sich auS Angehörigen fast aller Länder
Europas zusammensetzte.
Neben den Eingebornen deS Landes waren die
Franken, Baiern, Elsässer und Schweizer die zahlreichsten, aber auch die Pfalz,
Throl,
Oesterreich, Böhmen und Sachsen, selbst Frankreich und
Italien stellten ihr Contingertt.
Meist waren es die Abkömmlinge von
Bettlern und Landstreichern, die in die Fußstapfen ihrer Erzeuger traten, doch treffen wir unter ihnen auch Söhne deS Bürger- und Bauernstands,
die dem väterlichen Hause entlaufen waren; auch
abgedankte Soldaten
Studien zur alten Gesellschaflsgeschichte.
384
lieferten manchmal einen starken Prozentsatz.
Ihren Namen Gauner oder
Jauner leitet man gewöhnlich vom Worte Gau ab. sich Tschor, Krochumer und Cannoger. neben
Sie selbst nannten
Die einzelnen Jauner führten
ihrem Geschlechtsnamen gewöhnlich noch einen Gesellschafts- oder
sogenannten Spitznamen, welche ihre Kameraden ihnen beilegten.
Der
selbe bestand aus ihrem Vornamen mit irgend einem Beisatz, welcher sich
bezog
auf ihre Abstammung (GasnerS Liesel),
ihren Geburtsort (der
Sulzer Jörgle, der Dillinger Kaspar), ihren Volksstamm (der Baier Sepp,
der Throler Hans), das Gewerbe ihres Vaters (der Schultoni, des krummen
Spielmanns Claus) oder ihrer selbst (der Schleifer Toni, der Hafen Caspar), auf ihre körperlichen Eigenschaften (der schöne Franz, der ein
äugige Joseph, der kropfige Sigmund, der schwarze Toni, der geräucherte Simon svon seiner Magerkeils) u. s. w.
sie ihr Räuberhandwerk trieben,
dkach der Art und Weise, wie
wurden sie in verschiedene Klassen ge
theilt: in Schrendefeger (StubenauSräumer), welche Nachts die Häuser plünderten, Scheinsprenger und Schranzirer, welche ihre Plünde rungen bei hellem Tage verübten, Gschockgänger, welche auf den Jahr
märkten stahlen, Bimuffer und Kißler (Taschendiebe), betuchte (stille) Kochemer und Kochmooren, welche nächtliche Einbrüche verübten, ge
meine und StaatSfelinger
(Quacksalber und Medikaster),
Frei
schupper (falsche Spieler), Markkißler und Markediser (falsche Geld wechsler) und Reisser (Falschmünzer).
zelne auf eine GewerbSart, legenheit sich gerade gab.
Selten beschränkte sich der Ein
meist trieb er deren mehrere, tote die Ge
Um die Polizeibehörden über ihre eigentlichen
Zwecke zu täuschen, betrieben sie nebenbei ein erlaubtes Gewerbe, das ihnen jedoch das freie Umherztehen gestatten mußte, z. B. Kesselflicker,
Korbmacher, Hausirer u. a.
Auch zogen sie, um Aufsehen zu vermeiden,
nur einzeln oder mit wenigen Genossen umher, standen aber miteinander
immer in solcher Verbindung, daß, wenn sie eine größere Unternehmung ausführen wollten, stets schnell eine größere Anzahl beisammen war.
Ihre
Hauptthätigkeit fiel in daS Frühjahr, den Sommer und den Herbst; im Winter, wo die Wege meist unzugänglich waren, zogen sie sich in ihre
Schlupfwinkel Im Schwarzwald und auf der Alb zurück, die sie stets so wählten, daß sie im Fall einer Verfolgung rasch aus einem Territorium in daS andere gelangen konnten.
Nach diesen Winterashlen theilte man
sie auch in Wäl dler und Aelbler ein: die ersteren lebten ausschließlich
von Raub und Diebstahl, während die letzteren sich daneben auch auf den Bettel legten.
Der erstere Bezirk umfaßte daS südwestliche Schwaben
bis tief in die Schweiz hinein
und das Land auf beiden Seiten des
Oberrheins, der letztere das übrige Schwaben bis nach Franken und dem
Odenwald zu.
Ein gemeinsames,
wenn auch noch so loseS Band um
schlang alle diese einzelnen Gruppen, und wo einmal rasches Zusammen
handeln sich nothwendig erwies, da waren sie auch Alle stets zur Stelle und ordneten sich willig den Befehlen ihres freigewählten Oberhauptes
unter.
Im übrigen zogen sie Freiheit und Ungebundenheit manchen äußeren
Vortheilen, die sich ihnen bei einer strammen Disciplin geboten haben würden, vor.
rufs.
Ihr Privatleben war das treue Abbild ihres unftäten Be
Schon frühzeitig schloß der jilnge Gauner eine Ehe, da er zu
kleinen ökonomischen Bedürfnissen einer weiblichen Hand bedurfte.
Den
Ausschlag bei der Wahl gab dann meist nicht etwa körperliche Schönheit,
sondern angeborne List und Behendigkeit — Eigenschaften, die das Weib
zur treuen Gefährtin des Mannes wenigstens beim Rauben und Stehlen machten.
Eine gesetzliche Form bei der Eingehung solcher ehelicher Ver
bindungen verschmähten sie meisten-, daher auch diese sich, rasch wie sie geschlossen wurden, auch wieder lösten.
Die Kinder wurden von frühester
Jugend an zur Jaunerei herangebildet und entzogen sich dem Einfluß der
Eltern, sobald sie Kraft genug in sich fühlten, um sich selbst fortzubringen. Die meisten wuchsen ganz ohne Unterricht auf und blieben daher auch
des Lesens und Schreibens unkundig; dagegen wurde auf die Ausbildung
körperlicher Fähigkeiten starkes Gewicht gelegt.
Zum Verkehr unter sich
bedienten sie sich einer eigenen Sprache, die sie die jenifche nannten und die ein sonderbares Gemisch verschiedener Idiome und von den Jaunern
selbst erfundener Worte war.
welcher sie auch Declination,
Vorherrschend war die deutsche Sprache,
Conjugation und Construction nachbildeten
und aus der sie manche Wörter unverändert, nur mit anderer Bedeutung,
aufnahmen.
Außer der deutschen steuerten die hebräische, französische, ita
lienische, lateinische Sprache und die der Zigeuner aus ihrem Wortschätze
bei.
Daneben war noch eine Zeichensprache in Gebrauch.
Diese bestand,
wenn der, dem sie etwas mittheilen wollten, gegenwärtig war, aus Blicken, Geberden und Bewegungen deS Körpers und aus besonderen Charakteren,
wenn sie Abwesenden
eine Nachricht geben wollten.
Zu diesem Zwecke
führte jeder ein willkührlich gewähltes Wappen, einen sogenannten Zinken:
wenn er nun einem Abwesenden seinen jeweiligen Aufenthaltsort anzeigen
wollte, so zeichnete er mit Bleistift, Kreide oder Kohle seinen Zinken an
die Wand oder Thüre deS HauseS oder desselben oder in einen nahestehenden Baum.
schnitt
ihn in einen Balken
Wenn er fortzog, bezeichneie
er durch einen vom Zinken rechts oder links ausgehenden Strich die Rich tung seines Weges und, wenn er Gesellschaft bei sich hatte, durch Ringe
und Zacken seine Genossen. Preußische Jahrbücher. iBo. XLVIIL Heft 4.
Christian Meyer.
28
Die Kritik der reinen Vernunft. Bor hundert Jahren.
Bet der Jubelfeier eines hervorragenden geistigen Werks
liegt cs
wohl am nächsten, zu untersuchen, waS es uns Nachgeborncn ist? wir noch an ihm haben?
Das macht sich bei einer Dichtung leichter als
bei einem philosophischen Buch. auf festem
sinnlichen Boden
wir gewinnen
bald
was
Die Dichtung, wenn sie echt ist,
und zeigt
steht
sich unS in greifbarer Gestalt,
ein bestimmtes, unmittelbares Verhältniß zu ihr.
Die philosophische Bewegung dagegen bleibt in beständigem Fluß; nicht
blos die Ideen wandeln sich um, sondern auch ihre Ausdrücke, und wir müssen bei einem philosophischen Schriftsteller,
der vor hundert Jahren
lebte, sehr genau zuschn, ob er mit den Worten auch denselben Sinn ver
bindet, wie wir?
In dieser Beziehung ist seit etwa dreißig Jahren für Kant sehr viel geschehn;
früher betrachtete man ihn hin und wieder gar als abgethan,
seitdem studiert
Correctiv
man ihn wieder gründlich und findet in ihm wohl ein
für die maßlosen Ueberschreitungen seiner Nachfolger.
geschieht nicht blos in Deutschland;
Das
noch vor drei Jahren erschien ein
sehr gelehrtes und geistvolles Werk deö schottischen Professor Caird,
das
sich in vierzig bis fünfzig Bogen ausschließlich mit der „Kritik der reinen Vernunft" beschäftigt. Ich
habe mir eine bescheidnere Aufgabe gestellt: ich will nicht den
bleibenden Werth der Kritik untersuchen, soitdern vom Standpunkt der Literaturgeschichte andeuten, was sie ihrer Zeit war.
Wie wirkte sie vor
hundert Jahren? Gewaltiger vielleicht,
als irgend ein Buch aus unserer klassischen
Periode. Was sie als FacultätSwissenschaft geleistet, ist noch daS wenigste.
Die Professoren auS Kant's Schule mußten sich freilich eine andere Ter
minologie aneignen als ihre Vorgänger die Wolfianer, aber der Durch schnitt der Menschen ändert sich nicht so leicht in dem innersten Kern der Gesinnung; die Ausdrücke wurden neu, aber eigentlich sah man daS Leben
in den jungen Facultäten nicht viel anders an als in den alten.
Frei
lich gilt das nicht von Kant selbst, oder von Schülern wie Fichte, Schelling
und Reinhold: ihre feurige Beredsamkeit faßte das Gemüth der Jugend und prägte ihm einen Stempel auf, der sich auch im Lauf deS Alltags lebens nicht wieder verwischte. Die großartigste Wirkung übte die „Kritik" auf die Männer aus,
die zum Theil schon fertig,
angesehen und berühmt in ihrem Fach, sich
dem Zauber der neuen Lehre nicht entziehen konnten und mit gläubigem
und
unverdrossenem Eifer an der völligen Wiedergeburt ihres Denkens
und Empfindens arbeiteten.
Hier steht in erster Reihe Schiller, über dessen Bildungsgang wir
glücklicherweise sehr vollständige und höchst unterrichtende Urkunden haben.
Der Dichter der Räuber, des Don Carlos, des Liedes an die Freude ii. s. w. als Anhänger einer Philosophie, die daS starrste, unerbittlichste Moralgesetz verkündigt, ist eine höchst auffallende Erscheinung!
steht keineswegs allein.
des „Ugolino"
aber er
Auch der Dichter der „Lenore" und der Dichter
suchten sich
in die Kantischen Kategorien einzuarbciten.
Huber und Heinrich v. Kleist hatten vor, für die neue Philosophie in
Frankreich Propaganda zu machen. unzählige anführcn.
Die
Dergleichen Beispiele ließen sich noch
„Kritik der reinen Vernunft"
war für diese
Männer wie ein plötzlicher Blitzstrahl in der Dämmerung, der ihnen die
Welt anders zeigte, als sie sie bisher gesehen,
sie freilich auch zuweilen
blendete und irrte wie Kleist und Jean Paul.
Für sie alle aber war die
neue Lehre nicht eine bloße Beschäftigung deS Verstandes, sie wurde ihnen Herzenssache. Schiller trieb die Arbeit am gründlichsten, vollständig methodisch und
schulgerecht. auch geltend. gehabt.
Er durfte sich zu den Eingeweihten zählen und machte daö
Auf seine Dichtung
hat daS den ungeheuersten Einfluß
AuS der wilden Sturm- und Drangpcriode ging er zu einer
idealen klassischen Richtung über, die für die
ganze Geschichte unserer
Literatur bestimmend war.
Nicht bloß
für Männer wie Fichte, Schelling, Herbart, Berger,
Hegel, Hülsen u. a., die sich mit vollem Bewußtsein auf den Boden der
Kantischen Philosophie stellten, machte die Kritik Epoche, sondern ebmso wirkte sie auf die Gegner.
Herder,
Jacobi und Schleiermacher haben
freilich von sehr verschiedenen Standpunkte» aus die Kantische Philosophie
auf daS leidenschaftlichste bekämpft, aber sie bekämpften sie in den Denk
formen, die Kant ihnen angab, und gewannen dadurch für ihre eigene Anschauung
eine neue Farbe.
Ebenso war eö
mit den Physikern wie
Lichtenberg und Forster, mit den Philologen wie Hermann, mit den 3u28*
Die Kritik der reine» Vernunft.
388 und
risten
Geschichtschreibern.
Die ganze deutsche Literatur, Dichtung
und Prosa, steht von 1781 bis etwa zu Hegels Tod unter dem Bann
der kritischen Philosophie. Freilich gereichte ihr baS nicht durchweg zum Segen.
Während der
Herrschaft der Wölfischen Philosophie setzte man die letzte metaphysische Begründung der Dcnkformen als bekannt voraus; daS ging nicht mehr,
seitdem Kant die Gebildeten nöthigte sich umzudenken, gerade die Grund lagen der bisher
tisch zu prüfen.
auf Treu und Glauben angenommenen Wahrheit kri Wer nun noch gelten wollte, mußte sich der neuen KunstDie deutsche Prosa seit 1781 sieht schwerfälliger und
auSdrücke bedienen.
anspruchsvoller auS als die nächstvorhergehende. Es ist von dem leitenden Mann der Literatur noch nicht die Rede
gewesen, von Goethe, der ja in der berühmten ersten Unterredung mit Schiller sich als Spinozist gegen den Kantianer aufspielte.
KantS Schriften nie ein eigentliches Studium gemacht. ihn die Kritik sehr stark berührt,
Er hat aus
Gleichwohl hat
und er hat mit seinem genialen Blick
für das Wesentliche auch hier häufig das worauf es ankam, richtiger ge
troffen als die Philosophen von Profession. — „Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik,
dem
sich alles unter
werfen muß." — Dieser Ausspruch Kant'S, an dem bedeutenden Wende punkt des Jahrhunderts, bezieht sich sowohl auf die nächste Vergangenheit
als auf die
nächste Zukunft der deutschen Literatur.
In dem geistigen
Aufblühen keines andern Volks hat die Kritik eine so hervorragende Rolle gespielt als bet uns.
Die Kritik hat einen dienenden und subalternen Charakter, so lange sie sich darauf beschränkt, nach
überlieferten Grundsätzen das Publikum
über den Werth einzelner Leistungen aufzuklären.
Sie wird aber herr
schend und schöpferisch, sobald sie die echten Grundsätze findet und fest In diesem Sinn waren für die Periode von 1750 bis 1781 Lessing,
stellt.
Winckelmann, Hamann, Möser, Herder weitaus die productivsten Schrift
steller;
gegen das,
was durch sie der deutsche Geist gewann, kamen die
Dichtungen selbst Klopstocks und Wielands lange nicht auf.
Kunst, Ge
schichte, Rechtswissenschaft, Alterthum und Mittelalter, Christenthum und
Heidenthum, Sprache,
gewann durch sie neues Leben und neue
alles
Gestalt.
Erst seit „Emilia Galotti" und „Götz von Berltchingen" gewann die Dichtung die Oberhand;
die deutsche Literatur,
seitdem fuhr ein gewisser jugendlicher Ton in
die sich
in Sturm und Drang austobte.
Aber
und
rief das dringende Bedürfniß hervor,
sich in dem Chaos der von den
entgegengesetzten Seiten eindringenden
gerade da« ermüdete zuletzt,
Eindrücke durch Kritik zu oricntiren.
alter.
Diesmal
ging
die
Die Literatur trat in ihr Mannes
Kritik inS
Große,
sie
suchte
die
letzten
Gründe auf.
Bisher lagerten im geistigen Leben Deutschlands zwei Hauptgruppen
gegen einander: die Dogmatiker und die Empiriker. Jene — eS waren die Anhänger der Wolfischen Schule — suchten
aus dem reinen Begriff heraus, nach dem Satz des Widerspruchs, alles Wissenöwcrthe in der sinnlichen und übersinnlichen Welt zu construiren: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit, daS höchste Gut, die beste Welt und wo nach sonst der Geist streben mochte: nach der „Prästabilirten Harmonie"
müssen die Folgerungen deS Denkgesetzes auf alles Wirkliche anwendbar sein.
Die Schule traute den Schlüssen deS Verstandes mehr als den
Sinnen und der Erfahrung.
Die Empiriker dagegen wollten nichts von Verstandesschlüssen hören, sondern
nur von den Sinnen und der Erfahrung.
Die Pietisten, nach
ihnen die Wunderthäter und Glaubenöphilosophen beriefen sich mit ihren Behauptungen ebenso auf das, was sie erfahren haben wollten, wie die
Leugner einer göttlichen Weltregierung.
Kant hatte seit einem Menschenalter gegen beide scharmuzirt, gegen Svedenborg nicht weniger alö gegen die Wolfianer;
er hatte schon in
seinem 24. Jahre die Absicht ausgesprochen, eine wissenschaftliche Grund lage zu suchen, die der Unsicherheit ein Ende machen sollte.
Er hatte
diese Versicherung mehrfach wiederholt, und das war nicht unnöthig: das
Volk folgt nur demjenigen Seher, der an sich selbst glaubt.
Die Kritik kam in einem günstigen Moment; es war eine allgemeine
Gährung im Denken,
das
Hergebrachte
hatte
seine Macht
verloren.
„Unsre deutsche Wissenschaft", sagt einmal Lichtenberg, „besteht mehr
darin, inne zu haben, waS zu einer Wissenschaft gehört, und angeben zu
können, waS dieser oder jener darin gethan hat, als selbst auf Erweiterung zu denken.
Bei unserm gar zu häufigen Lesen, wodurch daS Gedächtniß
gewöhnt wird, die Haushaltung für Empfindung und Geschmack zu führen:
da bedarf es einer tiefen Philosophie, unserm Gefühl den ersten Stand der Unschuld wiederzugeben, sich auö dem Schutt fremder Dinge heraus
zufinden, selbst anzufangen zu fühlen und selbst zu sprechen, und ich möchte fast sagen, auch einmal selbst zu existiren." Wenn Kant seinem Volk die Zumuthung stellte, sich
umzudenken,
so entsprach daS dem Verlangen der Pädagogen, dem Unterricht eine neue
Basis zu geben.
Diese Richtung, durch den „Emile" hervorgerufett, war
In vollster Kraft: Pestalozzi'S „Lienhard und Gertrud" zeitig mit der „Kritik der reinen Vernunft."
erschien gleich
Alle Eiferer für die neue
Methode des Unterrichts suchten Fühlung mit Kant,
in dessen System
die Pädagogik eine hervorragende Rolle spielte, und der den Vorzug lang
jähriger Erfahrung hatte.
Als er an die „Kritik" ging, war er 57 Jahr
alt, grade so alt wie Locke, da dieser sein Epoche machendes Werk ver Es war für Deutschland die Zeit gekommen, wo die Jugend,
öffentlichte.
die bisher mit ihren Jnstincten das große Wort geführt, das Bedürfniß fühlte, in die Schule zu gehn.
Erst im 46. Jahre erhielt Kant eine Professur; Vorlesungen 20. August 1770 mit der Dissertation
bilis atque intelligibilis forma et principiis“,
er eröffnete seine
„de mundi sensi-
die bereits
den Keim
seiner neuen Ueberzeugungen enthält.
Ein Jahr darauf entwickelte er seinem Schüler, dem jungen Berliner
Arzt Dr. Marcus Herz,
Mendelsohn'-
Hausfreund — er hatte Kant
bei seiner Disputation respondirt — den Plan
zu
„die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft".
einem neuen Werk:
DaS Thema soll fein:
„woher stimmen die Axiome der reinen Vernunft mit den Gegenständen überein, ohne daß diese Uebereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hülfe entlehnen?"
Binnen etwa drei Monaten hofft er den ersten Band
einer „Kritik der reinen Vernunft" herauszugeben.
Fünf Jahre später schreibt er an Herz:
„Ich empfange von allen
Seiten Borwürfe wegen meiner Unthätigkeit,
und bin doch niemals an
haltender
beschäftigt gewesen.
Die Materien häufen sich unter meinen
Händen, wie es zu geschehen pflegt, wenn man einiger fruchtbaren Prin zipien habhaft geworden; aber sie werden insgesammt durch den Haupt
gegenstand zurückgehalten.
Um den ganzen Umfang des Feldes der reinen
Vernunft nach sichern Principien zu verzeichnen, dazu gehört eine förm liche neue Wissenschaft, zu der man von denjenigen, die schon vorhanden
sind,
nichts
brauchen kann. — In einer Gemüthsbeschaffenheit so zärt
licher Art ist nichts hinderlicher, als sich mit Nachdenken, das außer diesem Feld liegt, stark zu beschäftigen.
DaS Gemüth muß in den ruhigen oder
auch glücklichen Augenblicken jederzeit zu irgend einer zufällige» Bemer
kung, die sich darbieten möchte, offen sein, und in der Beweglichkeit, den
Gegenstand immer von andern Seiten zu erblicken." Eben damals schickte Herz, der in Berlin jährlich Vorlesungen über die Kantische Philosophie hielt — der Unterrichtsminister v. Zedlitz be
suchte sie regelmäßig — „Briefe über die Subjektivität der Empfindungen" an Lessing.
Als er darin Kant mit Lessing verglich, schrieb Jener: „ich
besitze hoch kein Verdienst, das einen solchen Vergleich rechtfertigen könnte, und eS ist als ob ich den Spötter zur Seite sähe, mir solche Aussprüche beizumessen."
Wenn Kant als Schriftsteller zu feiern schien, so setzte er seine Lehr,
thätigkeit ununterbrochen fort;
seine Schule durchgemacht.
zuletzt hatten alle Gebildeten der Provinz
Darum lehnte er ab, als ihm Zedlitz Mai
1778 in den schmeichelhaftesten Ausdrücken eine Professur in Halle anbot. „Eine meinem Bedürfniß angemessene Situation", schreibt er an Herz, „wo mein sehr leicht afficirteS aber sonst sorgenfreies Gemüth, und mein
noch mehr launischer doch niemals kranker Körper ohne Anstrengung in
Beschäftigung erhalten werden, ist alles was ich gewünscht und erhalten habe.
Alle Veränderung macht mich bange, und ich glaube, auf diesen
Jnstinct meiner Natur Acht haben zu müssen, wenn ich den Faden, den
mir die Parcen sehr dünn und zart spinnen,
noch
etwas
in die Länge
ziehn will." Nach langem Zögern entschloß er sich endlich; nach zehnjähriger Vor
bereitung wurde 1781 die „Kritik der reinen Vernunft" naten fertig geschrieben.
in wenig Mo
Man merkt beides: die Ausführung ist sehr un
gleich; Vorarbeiten sind mehr als billig mit ausgenommen.
Die Wid
mung an Zedlitz datirt 29. Mai, ein Vierteljahr nach Lessings Tod. Kant hatte, wie Wolf, sein System auf dem Katheder ausgearbeitet;
er hatte seit 33 Jahren Collegien
gelesen
und sich ein großes Register
von Kunstausdrücken angeeignet, die für den nachschreibenden Schüler sehr bequem und lehrreich, den gebildeten und denkenden Leser nicht selten
stören mochten.
Bisher hatte Lessing den deutschen Stil beherrscht; eS
kam jedem Schriftsteller bet der Arbeit so vor, als ob Lessing ihm über die Schulter sähe; nun, da er todt war, mußte jeder auf eigene Hand im Nebel seinen Weg suchen.
Die Führung einer starken Hand war will
kommen. Es handelt sich in der „Kritik der reinen Vernunft" um den alten Gegensatz der Platonischen und Aristotelischen Philosophie: wieweit ge
hören die Vorstellungen dem Eindruck der Dinge, wieweit den Eigen schaften des denkenden Geistes an? Der Gegensatz hatte sich im 17. Jahr hundert am schärfsten zugespitzt in den Systemen von Locke und Leibniz.
Ülach Locke ist der denkende Geist eine leere Tafel und wird erst be
schrieben durch die Eindrücke der Sinne; nach Leibniz bringt dagegen das denkende Wesen die Vorstellung aus sich selbst hervor, eS ist ein Spiegel des Universums, hat aber keine Fenster, durch welche die Dinge auf eS
eirwringen können.
Daß trotzdem die Dinge den Vorstellungen entsprechen,
ist eben das Geheimniß der Weltordnung (Prästabilirte Harmonie). Locke'S Philosophie war dem großen Publicum bequem und geläufig gewesen.
Die jüngern englischen Philosophen stießen eö vor den Kopf..
Der Idealist Berkeley betrachtete die Außenwelt oder die Dinge als einen
Schein, der
Skeptiker Hume
stellte
die Gültigkeit deS VerstandeSge-
setzeS und seiner Anwendung auf die Welt in Frage.
Der letztere übte
auf Kant einen ganz ungemeinen Einfluß auS.
So wett die Geschichte der Metaphysik reicht, berichtet Kant, hat sich keine entscheidendere Begebenheit zugetragen als der Angriff HumeS.
Hume
forderte die Vernunft, die da vorgibt, den Begriff der Caufalität in ihrem Schooß gezeugt zu haben,
auf: ihm Rede und Antwort zu stehn, mit
welchem Recht sie sich das denkt? Wie ist eS möglich, daß, wenn mir ein Begriff gegeben ist, ich über denselben htnauSgehe und einen andern
damit verknüpfen kann, der in jenem garnicht enthalten ist? und zwar
so als wenn dieser nothwendig zu jenem gehörte? Nur Erfahrung kann unS solche Verknüpfungen an die Hand geben, und alle jene vermeintliche Nothwendigkeit ist nichts als eine lange Gewohnheit, etwas wahr
zu finden.
Daraus schloß Hume, die Vernunft habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen auch nur im Allgemeinen zu denken, weil ihre Begriffe
alsdann bloße Erdichtungen sein würden, und alle ihre vorgeblich a priori
bestehenden Erkenntnisse wären nichts als falsch gestempelte gemeine Er fahrungen; welches ebensoviel sagt alS: es giebt überall keine Metaphysik. „Ich versuchte zuerst, ob sich Hume'S Einwurf nicht allgemein vor
stellen ließe, und fand bald, daß der Begriff von Ursache und Wirkung
bei weitem nicht der einzige ist, durch den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, daß die Metaphysik ganz und
gar auS solchen besteht.
Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern, und
da mir daS auS einem einzigen Prinzip gelungen war, so ging ich an
die Deduktion dieser Begriffe,
von denen ich nunmehr versichert war,
daß sie nicht auS der Erfahrung, sondern aus dem reinen Verstand ent
springen.
So entstand die Tafel der Kategorien, daS Schema der reinen
Derstandesformen.
„Ich erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige
metaphysische Aufgabe sei, zu deren Auflösung hier nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden."
Leibniz hatte ein Alphabet der reinen Verstandesformen gesucht, mit
denselben die Welt zu berechnen; Kant dagegen stellte seine Tafel zu sammen, mit dem klaren Bewußtsein, daß diese Formen zur Berechnung der Welt nicht ausreichen, daß sie einen irrationellen Rest geben.
Der
Satz des Widerspruchs reicht nicht aus für daö Verständniß des Wirk
lichen. Die reine Vernunft behauptet, auch ohne Beihülfe der Erfahrung,
allein durch daö in ihr liegende Gesetz die Dinge, die außer ihr liegen, zu erkennen.
Wo ist der Rechtsanspruch zu dieser Behauptung? — Diese
Frage ist der rothe Faden für die „Kritik der reinen Vernunft". Ferner:
wie kommt die Erfahrung dazu, über irgend etwas ein endgültiges Gesetz
feststellen zu wollen, da sie doch stets durch eine neue Erfahrung tviderlegt werden kann?
Die Aufgabe der Kritik ist also recht eigentlich eine Theorie
deS wissenschaftlichen Erkennens, eine Wissenschaftslehre. Leibniz und viel entschiedener noch seine Schüler, suchten für die
Erkenntniß eine physiologische Basis: ihnen wächst aus der Combination
der fünf Sinne und ihrer Eindrücke auf dem Boden des Selbstbewußt seins das auf, was wir Vernunft im Menschen nennen.
Will man den
Vorgang des Empfindens, Vorstellens und Erkennens in seinem Zusam
menhang untersuchen, so giebt es in der That keinen andern Weg.
Aber
Kant verschmäht ihn: er beobachtet die Vorstellung erst, wenn sie in's Bewußtsein eintritt; was sie vorher war, hat mit den Gesetzen der reinen
Vernunft nichts zu schaffen.
Kant geht der Frage: waö ist das menschliche Erkennen? sorg fältig auS dem Wege; er behandelt nur die andre: waS ist das Erkennen
überhaupt?
Es kommt ihm nicht darauf an, daß vom Menschen, einem
mit fünf Sinnen ausgestatteten Naturwesen die Rede ist.
Die Wechsel
wirkung der Sinne läßt er bei Seite, ihm ist das Medium alles Er kennens die Sinnlichkeit, d. h. das Vermögen,
durch die Gegenstände
afficirt zu werden, und dadurch Vorstellungen zu bekommen.
Sinnlichkeit
ist aber ein abstracter Begriff.
Denken heißt, Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigen.
Das
Selbstbewußtsein, d. h. das Bewußtsein, daß daS, was wir denken, dasselbe ist, waS wir einen Augenblick zuvor dachten, ist die Basis aller Erfah rung, alles UebergangS von der Vorstellung zum Begriff.
Durch den
innern Sinn — d. h., die Reflexion auf sich selbst — ist das Ich, der Träger alles Denken-, genöthigt, alle seine Vorstellungen als der Zeit
unterworfen zu denken, in der sie insgesammt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden, wie eS durch den äußern Sinn — d. h. die Reflexion auf das waS nicht Ich ist — genöthigt ist, alle Gegenstände als außer sich, d. h. im Raum vorzustellen.
Zeit und Raum sind reine
Anschauungsformen des denkenden Subjects; nur durch eine unvermeid
liche Selbsttäuschung halten wir sie für Bestimmungen der Gegenstände, der Dinge an sich.
Der Verstand ist jederzeit geschäftig, die Erscheinungen in der Ab
sicht zu durchspähn, in ihnen ein Gesetz zu finden: dies Gesetz aber ent nimmt er aus seinen eigenen Denkbestimmungen.
Erst durch die An
wendung dieser Gesetze wird Erfahrung möglich, erst aus ihnen entspringt
der Begriff der Natur.
Die Erfahrung beginnt mit der sinnlichen Raum-
394
Die Kritik der reinen Vernunft.
anschauung;
der
Verstand
rubricirt
sie
nach
seinen Kategorien;
die
Einbildungskraft gestaltet sie zu Bildern; der innere Sinn setzt sie in
Rapport zum Selbstbewußtsein und dessen Form, der Zeit: — im Register des Geistes fängt immer einer das andre auf, ohne daß der Geist je aus sich selbst herausträte. — Diese Register hier aufzuzählen, liegt nicht in
der Absicht; eS kommt nur auf die Resultate an. Rein wissenschaftlich ist nur das von der Erfahrung unabhängige ab
solute Erkennen. Mathematik.
Ein zuverlässiges Beispiel dieser
Wissenschaft ist die
Sie borgt nichts von der wechselnden Erfahrung, ihre Re
sultate stehn unumstößlich fest und sind des strengsten Beweises fähig. Der Grund davon liegt darin, daß sie sich ausschließlich auf dem Gebiet
deS reinen Verstandes bewegt.
Sie stellt die Gesetze des Raumes fest,
und der Raum ist lediglich eine Denkform deS Verstandes.
Von den
Außendingen widerlegt zu werden, darf sie nicht fürchten, weil diese sie
gar nichts angehen. Auch in der Naturlehre ist rein wissenschaftlich nur der mathematische
Theil, die Mechanik im großen und im kleinen.
Die reine Mathematik
hat es nur mit den Raumbestimmungen zu thun, die Mechanik fügt die Zeitbestimmung hinzu.
Aus der Combination der beiden ergiebt sich der
Begriff der Bewegung. Dies ist das Gebiet, auf welchem Kant, als Jüngling von 22 Jahren,
35 Jahre vor der „Kritik der reinen Vernunft", zuerst ausgetreten war. Er hat eS einige Jahre darauf in der „Naturgeschichte deS Himmels nach
Grundsätzen Newton's" im größten Stil umfaßt.
Er hatte sich mit allen
Zweigen der Naturwissenschaft, auch der empirischen, unablässig beschäftigt,
Vorlesungen gehalten, alle neuen Entdeckungen ausgezeichnet, er war stets auf der Höhe der Wissenschaft geblieben.
Mit besonderer Aufmerksamkeit
hatte er die scheinbaren Bewegungen, z. B. in Luft und Wasser verfolgt
und mitunter
einen
sehr glücklichen sinnlichen Ausdruck dafür gefunden.
Nur ein Gebiet hat er nie berührt, waS gerade damals von Haller aufs
glänzendste bearbeitet wurde, die Physiologie.
Die Bewegung des Welt
alls glaubt er erklären zu können, vor dem Leben eines Grashalms stand
er still.
So etwas gehörte nur in das Reich der Erfahrung,
der reine
Verstand hatte damit nichts zu thun.
Die Paragraphen in der „Kritik der reinen Vernunft", die sich mit der mathematischen Naturwissenschaft beschäftigen, finden ihre willkommene
Ergänzung in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft", vielleicht dem klarsten und rundesten Buch, das Kant geschrieben.
Er sucht
nach dem Schema seiner Kategorien den Begriff der Materie, von seinem einfachsten Ausdruck (daS Bewegliche im Raum) bis zu seiner vollsten
Bedeutung zu entwickeln.
Er zeigt, daß, wenn man sich ein Ausgedehntes,
ein den Raum Erfüllendes, ein Widerstand Leistendes u. s. w. denkt, man
nothwendig zu dem Begriff der Anziehung und der Abstoßung kommt. Wenn Newton das allgemeine Gravitationsgesetz feststellte, so ließ er sich
auf die metaphysische Erklärung desselben nicht ein; geht eS zu, daß ein Körper auf den andern, leeren Raum wirken könne?
er fragte nicht: wie
aus der Ferne,
durch den
Leibniz, der eine solche Erklärung nicht ent
behren konnte, verhielt sich ablehnend.
Kant zeigt, und zwar mit einem
wunderbaren Scharfsinn, daß mit dem Begriff der Materie diese Wirkung in die Ferne unzertrennlich verknüpft ist.
„Die Möglichkeit der Materie
erfordert eine Anziehungskraft, als die zweite wesentliche Grundkraft der selben."
Kant wollte damit nicht etwas Historisches ausdrückcn, er wußte sehr wohl, daß Newton nicht durch einen Berstandesschluß von dem Begriff
einer Materie zu
seinem Begriff der Schwere gekommen war, sondern
durch Beobachtung, Messung und Rechnung.
Aber er wollte sagen: nach
dem auf empirischen Wege das Gesetz entdeckt ist, kann cS logisch auf die Grundbegriffe zurückgeführt und somit in den Bereich der reinen Wissen schaft ausgenommen werden.
Nicht minder lichtvoll ist seine Kritik der absoluten Bewegung, in sich selbst zurückkehrt.
Widerlegung des
die
Die ganze Untersuchung mündet auS in die
„sonderbareil" Begriffs vom „absoluten Raum", der
eine „bloße Idee" und als solche wissenschaftlich betrachtet leer ist.
„So endet die metaphysische Körperlehre mit dem Leeren, und eben darum Unbegreiflichen.
Dies Schicksal haben alle Versuche der Vernunft,
die ersten Gründe der Dinge zu erforschen: sie kann, ihrer Natur nach,
weder bei dem Bedingten stehen bleiben, noch sich das Unbedingte faß lich machen.
ES bleibt ihr nichts
übrig,
als
von den Gegenständen
auf sich selbst zurückzukehren, um statt der letzten Gründe der Dinge die letzte Grenze ihres eigenen sich selbst überlassenen Vermögens zu er
fassen." Alles was der Verstand aus sich selbst schöpft, ohne eS von der Er fahrung zu borgen, hat er lediglich zum Erfahrungsgebrauch.
Die Grund
sätze des reinen Verstandes enthalten nichts als das Schema zur mög
lichen Erfahrung: und da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegen
stand der Erfahrung sein kann, so kann er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb deren uns allein Gegenstände gegeben werden, schreiten.
niemals
über
Die Erfahrung ist an die Verstandesformen Zeit und Naum
gebunden; was außerhalb derselben liegt, fällt nicht in den Bereich der Erfahrung.
Auf
dem Felde der Erscheinung
löst
die Erfahrung
eine
Schaale nach der andern ab, und was sie dadurch gewinnt, bereichert die Wissenschaft: daS Ding an sich ist ihr verschlossen.
JnS Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, gehn werde.
und man kann nicht wissen, wie weit dies mit der Zeit
Fragen aber, die über die Natur hinausgehn, würden wir
niemals beantworten können, wenn uns auch die ganze Natur aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Bewußtsein mit
einer andern Anschauung als der unsers inneren Sinns zu beobachten. Gleichwohl nöthigt uns das Denkgesetz, hinter
dem Einzelnen daS
Ganze, hinter dem Bedingten daS Unbedingte, hinter der Wirkung die Kraft, hinter der Vorstellung den Gegenstand, hinter der Erscheinung das
Ding an sich zu suchen.
Da die Erfahrung immer nur Bruchstücke giebt,
so bedarf die Vernunft zur Vorstellung dieses Problems, dem die Ber standesbegriffe nicht gewachsen sind, der Ideen.
Diesen Ideen kann eine
Erfahrung nie adäquat sein, sie sind nur Grenzbegriffe, die Anmaßung
der Sinnlichkeit einzuschränken:
gleichsam Fragen, die wir ebensowenig
abweisen als beantworten können. Indem wir nothwendig zu jedem Prädicat sein Subject suchen, ver
wandelt sich daS Gefundene wieder in ein Prädicat, und so inS Unend liche fort: die eigentliche Substanz, daS Absolute, zeigt sich nie, auch wenn
die ganze Natur aufgedeckt wäre, weil eben unser Verstand in der Lage ist, alles nur diScursiv, d. h. durch Begriffe zu denken.
Wie wenig die Kategorien des Verstandes ausreichen, das Absolute zu umfassen, zeigt sich bereits, wenn wir die Summe der sinnlichen An schauungen als Ganzes, als Welt zu denken suchen. Grenze im Raume?
Hat die Welt eine
Hat sie einen Anfang und ein Ende in der Zeit?
— Beides kann mit völlig gleichem Recht bewiesen und widerlegt werden, und wir finden uns in einer Welt des Widerspruchs und des Scheins,
dem wir nicht entgehn können, auch wenn wir alle einzelnen Blendwerke Der Irrthum liegt darin, daß wir die Denkformen Raum und
aufdecken.
Zeit auf eine Totalität übertragen, der nie eine Erfahrung beikommt, die
nur in der Idee liegt.
Die Welt als Ganzes liegt außerhalb unsrer
Denkformen; der Satz des Widerspruchs
verliert ihr
gegenüber seine
Gültigkeit. Noch schlimmrer wird es, wenn wir über die Welt hinauögehn. Die
Wolfianer bewiesen daS Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele
wie einen Congruenzsatz; tragen.
Freilich
liegt
schon
auf den Schulen wurde so etwas vorge
es in der Natur unsrer Vernimft, von der zu
fälligen Existenz auf den unbedingten Grund aller Existenz zurückzugehn.
Aber diese subjective Natur unsrer Vernunft ist niemals Beleg für ein
wirkliches Dasein. formen.
Zudem widerspricht der gesuchte Begriff unsern Denk
Ich kann das Zurückgehn zu den Bedingungen des Seins nie
mals vollenden, ohne als Idee ein nothwendiges Wesen anzunehmen; ich
kann aber von demselben niemals anfangen.
Das unbedingt Nothwendige
ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft.
Selbst die Ewigkeit
macht lange nicht den schwindligen Eindruck: sie mißt nur die Dauer der
Dinge,
aber trägt sie nicht.
Man kann sich des Gedankens nicht er
wehren, man kann aber auch nicht ertragen, daß ein Wesen gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit; außer mir ist nicht«,
als blos durch meinen Willen! Aber woher bin Ich etwa? — Wirsetzen
etwas voraus, wovon wir gar keinen Begriff haben, das wir uns also nur nach der Analogie vorstellen können. Jede Vorstellung GottcS ist
anthropomorphistisch; läßt man diese Analogie fallen, so bleibt nicht« al«
ein Deismus übrig, der zu keinem Fundament der Religion und Sitte dienen kann.
Die Idee eines höchsten Wesens ist unfähig, unsre Erkenntniß in
Ansehung dessen was extstirt zu erweitern.
Wenn man zur Erklärung
von Naturerscheinungen zu Gott seine Zuflucht nimmt, so ist das nur ein Geständniß, man sei mit seiner Philosophie zu Ende. Jene Idee ist nichtandres als ein
regulatives Princip der Vernunft, alle Verbindung
in
der Welt so anzusehn, als ob sie aus einer allgenugsamen nothwendigen Ursache entspränge; sie dient nicht dazu,
den Begriff GotteS positiv zu
geben, sondern nur, die Anmaßungen derer zurückzuweisen, die ihn wider legen wollen.
Unser Ich freilich scheint der gesuchte feste Punkt zu sein: indem ich denke, bin ich, und kann mir absolut nicht vorstellen, wie ich aufhören
soll zu denken.
Aber das Ich ist nur Beziehung der innern Erscheinungen
auf daS unbekannte Subjekt derselben; die Identität meines Selbstbewußt
seins in verschiedenen Zeilen nur formale Bedingung des Zusammenhangs meiner Gedanken.
Wenn wir auS dem Begriff der Seele auf Beharr
lichkeit derselben schließen, so gilt eS nur zum Behuf möglicher Erfahrung. Nun ist die subjektive Bedingung aller unsrer möglichen Erfahrung daS
Leben:
folglich kann nur auf die Beharrüchkeit der Seele im Leben ge
schlossen werden,
denn der Tod des Menschen ist das Ende aller Er
fahrung. Viel wichtiger noch ist die zweite Frage:
eine wirkliche Existenz?
ist daS individuelle Sein
Hat es einen Anfang in sich selbst? oder ist eS
nur ein Phänomen der mannigfach sich ergänzenden Naturkräfte? — Mit andern Worten: ist der Wille frei?
Unter Freiheit versteht die Metaphysik daS Vermögen, einen Zustand
von selbst anzufangen, dessen Causalität also nicht wiederum unter einer andern Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte.
In diesem Sinne
ist die Freiheit eine Idee, welche die reine Vernunft sich schafft, die
nichts von der Erfahrung Entlehntes enthält, und deren Gegenstand auch
in keiner Erfahrung gegeben werden kann, weil die Möglichkeit aller Er
fahrung auf dem Begriff der Causalität beruht.
Ist die Grenze unsers Erkennens — die Erscheinungswelt — auch Grenze des Seins, so ist der Begriff der Freiheit nicht zu retten. dann ist Natur die
Begebenheit.
Als
vollständige hinreichend bestimmende Ursache jeder
DaS Gesetz, daß alles was geschieht eine Ursache habe,
daß diese Ursache, da sie in der Zeit vorhergeht, gleichfalls durch eine
Ursache bestimmt ist: dies Gesetz, durch welches Erscheinungen allererst eine Natur ausmachen und Gegenstände der Erfahrung abgeben können,
ist ein Verstandesgesetz, von welchem es unter keinem Vorwand erlaubt
oder möglich ist, eine Ausnahme zu machen.
AuS dem Naturgesetz folgt, daß jede Handlung, die in einem Zeit punkt vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei.
Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in
meiner Gewalt ist, so muß jede Handlung, die ich auSübe, durch bestim
mende Gründe, die nicht in meiner Gewalt sind, nothwendig sein, d. h.
ich bin in dem Zeitpunkt, darin ich handle, niemals frei.
Einem Wesen,
dessen Dasein in der Zeit bestimmt ist, Freiheit beilegen, ist eine freilich
leicht erklärliche Selbsttäuschung, ein leerer und nichtiger Begriff. Alle Handlungen deS Menschen in der Erscheinung sind aus seinem
Charakter und den mitwirkenden andern Ursachen nach der Ordnung der
Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde eS keine einzige menschliche
Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit Vorhersagen und auS ihren
vorhergehenden Bedingungen als nothwendig erkennen könnten.
Der Charakter Richards des Dritten und die Zeitumstände gegeben, waren alle seine Schurkenstreiche so nothwendig gesetzt, als die Bewegung
eines Körpers infolge eines Stoßes.
Wenn es uns möglich wäre, eines
Menschen Denkart mit allen Triebfedern gründlich zu kennen, ingleichen alle äußern Veranlassungen, so könnten wir sein künftiges Verhalten mit Gewißheit wie eine Sonnenfinsterniß ausrechnen.
Damit scheint alle Zu
rechnungsfähigkeit ausgeschlossen.
So urtheilt aber nicht blos der unbetheiltgte Zuschauer nicht, so urtheilt der Bösewicht selbst nicht, wenn durch irgend eine gewaltige Erschütterung sein Innerstes hervortritt.
Das Gewissen in ihm verurtheilt nicht blos
die böse That an sich, sondern den eignen bleibenden Charakter, den er
mit Schauder erst aus der That erkennt, und den er, ohne zu wissen warum? als eigene Schuld empfindet.
Wenn ihn so der Dichter dar
stellt, zeigt er die Wahrheit des Lebens: der aufgewachte Bösewicht em
pfindet die Erkenntniß, daß alle seine Gräuelthaten mit Nothwendigkeit aus seinem Charakter folgen, nicht als Milderung sondern als Erschwe rung seiner Schuld; er verabscheut sich um so mehr, als ob er seinen
Charakter mit Freiheit gewählt habe.
Hier sind wir an das Urphänomen gekommen.
Das Schuldbewußt
sein erklärt sich nur durch die Annahme einer Doppelnatur im Menschen: sein empirischer Charakter ist nur die andere Seite seines intelltgiblm Charakters.
Diese Scheidung kann nicht begreiflich gemacht, wohl aber
gegen den Widerspruch des Verstandes vertheidigt werden.
Der Begriff der Causalität gründet sich auf eine Anschauungsform deS Verstandes, die Zett; wenn ich sage: eins folgt aus dem andern, so
denke ich an ein Vorher und Nachher; die Zeit zwischen der Ursache und deren unmittelbaren Wirkung kann verschwindmd klein sein, aber das Verhältniß der einen zur andern bleibt immer der Zeit nach bestimmbar.
Die Zeit ist aber nur eine Anschauungsform des Verstandes: und es kann eine intellektuelle Anschauung gedacht werden, die nicht unter dem Schema der Zeit steht.
Die Causalität ist ein BerstandSbegriff, der seine Realität durch Er fahrung beweist; die Freiheit eine Idee der Vernunft, zu der wir ge
nöthigt sind, weil der Fußsteig der Freiheit der einzige ist, auf welchem wir bei unserm Thun und Lassen von der Vernunft Gebrauch machen.
ES wird der subtilsten Philosophie unmöglich sie wegzuvernünfteln. Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine intelltgible Welt hinein denkt, überschreitet sie nicht ihre Grenzen; wohl aber, wenn sie
sich Hineinschauen, hinein empfinden wollte, wenn sie sich zu erklären unter finge, wie Freiheit möglich sei.
Freiheit ist eine bloße Idee, deren objec
tive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen dargethan, die also nie mals begriffen werden kann.
Es bleibt nichts übrig als Abtreibung der
Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben
vorgeben, und die Freiheit dreist für unmöglich erklären. DaS Vernunftwesen betrachtet sein Dasein auch, sofern eS nicht unter
Zeitbedingungen steht: in diesem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung, sondern jede Handlung und überhaupt jede
dem inneren Sinn gemäß wechselnde Bestimmung seines Daseins, selbst
die ganze Reihenfolge seiner Existenz als Sinnenwesen ist im Bewußtsein seiner intelligibeln Existenz nichts als Folge des Charakters, der selbst nicht Erscheinung ist, also auch unter keiner ihrer Bedingungen steht.
Die Causalität der Bernunft im intelligiblen Charakter hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen.
kann von ihr nicht sagen,
Man
daß vor demjenigen Zustand, darin sie die
Willkür bestimmt^ ein andrer vorhergeht, darin dieser Zustand selbst be
stimmt werde.
In ihr gilt kein Vorher und Nachher; sie ist in allen
Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit, sie wirkt, handelt, ohne in der Kette
der Naturursachen durch äußere oder innere, aber der Zeit nach vorher gehende Gründe bestimmt zu sein. In diesem Betracht kann das vernünftige Wesen von einer jeden ge
setzwidrigen Handlung, die eS verübt, ob sie gleich als Erscheinung in
dem Vergangenen hinreichend bestimmt und insofern nothwendig ist, mit Recht sagen, daß eS sie hätte unterlassen können: denn sie mit allem Ver gangenen, daS sie bestimmt, gehört zu einem einzigen Phänomen seines
Charakters, den eS sich selbst verschafft, und nach welchem eS sich die Causalität jener Erscheinungen selbst zurechnet.
Wären wir — was wir
nicht sind — einer intellektuellen Anschauung fähig, so würden wir diese ganze Kette bis zu ihrem letzten Glied sehn: in Ermangelung dessen ver
sichert unS das moralische Gesetz, daß alles, was auS unserer Willkür entspringt, eine freie Causalität zum Grunde habe, welche von früher
Jugend an ihren Charakter in ihren Erscheinungen (Handlungen) auS-
drückt: eine Beschaffenheit des Willens, die wir als Folge freiwillig an genommener böser und unwandelbarer Grundsätze empfinden. Wenigstens eine Art Analogie bietet das wirkliche Leben. — Der Mensch,
Natur,
der sich eines
Charakters bewußt
sondern erworben:
ist,
hat
die Gründung desselben,
Wiedergeburt, macht ihm den Zeitpunkt,
ihn
nicht von
gleich
einer Art
da sie vorging, unvergeßlich.
Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit in Grund
sätzen nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion bewirken.
Erklärt soll damit garntchtS werden.
„Wir begreifen zwar nicht die
Freiheit, aber wir begreifen ihre Unbegreiflichkeit, und das ist alles, waS billigerweise von einer Philosophie gefordert werden kann, die bis zu den Grenzen der Vernunft strebt."
Grade durch die Undurchdringlichkeit ihres Geheimnisses, durch das Erstaunen über ihr Erhabenes, regt die Idee der Freiheit die ganze Seele
auf.
Man wird nicht satt, sein Augenmerk darauf zu richten, und in sich
selbst eine Macht zu bewundern, die keiner Macht der Natur weicht.
Dies
durch Ideen erzeugte Gefühl ist der Punkt des ArchimedeS, woran die
Bernunft ihren Hebel nachsetzen kann, ohne ihn weder an die gegenwärtige
noch eine künftige Welt anzulegen: da die bloße Idee der Freiheit, beim
Widerstand der ganzen Natur, den Willen bewegt.
Es ist etwa« sehr Erhabenes, unmittelbar durch ein reines Ber-
Aber der Rechtschaffene
nunftgesetz zu Handlungen bestimmt zu werden.
darf wohl sagen: ich will, daß ein Gott,
daß außer der Naturver
knüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt sei!
Ich be
harre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen: denn dies ist
das Einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen
darf, mein Urtheil unvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zu
achten, so wenig ich auch darauf zu antworten im Stande bin. — — „Ich will!" sagt Faust.
Mephistopheles.
„Das läßt sich hören" erwidert ihm
Und wenn Jener „das Wort" unmöglich so hoch schätzen
kann, eS „im Anfang" zu Gott zu stellen, und sich am Ende Rath weiß und getrost schreibt: „im Anfang vor die That!" so klingen dem Dichter
Kantische Ideen im Ohr. — — „Weh! weh! Du hast sie zerstört, die schöne Welt! sie stürzt, sie
fällt, ein Halbgott hat sie zerschlagen.
Wir tragen die Trümmer inS
Nichts herüber und klagen über die verlorene Schöne.
Mächtiger der
Erdensöhne! prächtiger baue sie wieder, in Deinem Busen baue sie auf!" — DaS war in der That die Aufgabe, die der „transcendentale Idea
lismus" sich stellte: aus dem Busen, aus dem Gemüth deS Menschen das
Bild deS Göttlichen, das Bild des WeltgemüthS wieder aufzurichten, das sich dem Verständniß der reinen Vernunft entzog.
WaS in dieser Idee,
durch freies Wollen Gott zu fordern, für eine tiefe Mystik liegt, erkennt man mit immer neuer Verwunderung aus Novalis' Aphorismen,
aus
Schleiermachers Monologen, aus Schellings Schrift über die Freiheit. Jede Philosophie hat ihre Mystik, d. h. den Punkt, wo sie mit der
Analyse nicht weiter kommt, und das letzte Problem in einem Bild oder
einem Symbol darstellt.
Für Leibniz lag die Mystik in den Monaden
und der prästabilirten Harmonie: für Kant in der Freiheit.
Wissen
schaftlich aus ihr etwas herzuleiten, ist unmöglich, da sie nur zur intelligibeln, für uns unbekannten Welt gehört. ja sie ist ihm das Gewisseste aus
Trotzdem glaubt Kant an sie,
der.Welt,
obgleich das Unbegreif
lichste. Eine Witterung
von dieser Mystik hatte Hamann,
„Kritik" (6. Aprl 1781) noch im Manuskript laS:
als
er die
„menschlichem Ver
muthen nach wird das Buch Aufsehn machen, im Grund aber möchten sehr wenig Leser dem scholastischen Inhalt gewachsen sein.
Mit dem Fort
gang wächst daS Interesse, und es giebt reizende und blühende Ruheplätze, nachdem man lange im Sande gewatet. Prmßifchk Jahrbüchrr. Bd. XLVIII. Heft 4.
Ueberhaupt ist eS reich an AuS29
Die Kritik der reinen Bernunst.
sichten, und Sauerteig zu neuen Gährungen in und außerhalb der Fa kultät." „Entspringen Sinnlichkeit und Verstand, als die zween Stämme der
menschlichen Erkenntniß, aus
gemeinschaftlichen und unbekannten
einer
Wurzel: wozu eine so gewaltthätige Scheidung dessen, was die Natur zu
sammengefügt hat? — Die Sinne mögen noch so sehr trügen, ich ziehe
sie allen geläuterten, abgezogenen und leeren Worten vor! und Begriffen ist keine Existenz möglich.
In Worten
In den Worten vermuthe ich den
Grund aller Widersprüche, die man der Vernunft zur Last legt. uns
der Baum
des Lebens nicht
Soll
lieber fein als der Baum der Er
kenntniß? — Gott schuf den Menschen sich zum Bilde, der Unterschied liegt blos darin, daß wir noch in der Mache sind und unser Leben noch verborgen ist.
Unsere Vernunft muß warten und hoffen, Dienerin, nicht
Gesetzgeberin der Natur sein wollen."
„Hume ist mein Mann, weil er wenigstens das Prinzip des Glau bens veredelt und in sein System ausgenommen; seine Dialoge schließen
mit der jüdischen und platonischen Hoffnung eines Propheten,
kommen soll.
der noch
Kant ist mehr ein Kabbalist, der einen Aion zur Gottheit Ohne es zu wissen,
macht, um die mathematische Gewißheit festzusetzen.
schwärmt er ärger als Plato in der Jntellectualwelt.
Ich will dem eng
lischer! und preußischen Kritiker auf einmal antworten, mit denen beiden
ich in Ansehung der Kritik völlig einig bin, aber desto mehr von ihrer mystischen oder skeptischen Synthese abweiche."
Aeußerung:
Kant stutzte über diese
„er wüßte garnicht, wie er zur Mystik kam.
Mich hat eS
gefreut, daß Lavater eine gleichförmige Sprache mit Kant führt; ein neuer Beweis für mich, daß alle Philosophen Schwärmer sind, ohne eS zu wiffen." Ein ganz ähnlicher Vorwurf wurde Kant in den Göttinger Gel. Anz. gemacht, von Garve und Feder:
seine Lehre stimme mit dem alten
schwärmerischen Idealismus Berkeleys,
Sinne und Erfahrung
wonach
alle Erkenntniß
auf Schein herauskomme.
durch
Dagegen protestirte
Kant aufs Aeußerste: sein Idealismus verhalte sich zu dem Berkeleys wie
Chemie zur Alchymie.
Er hatt» in seiner Stimme zwei grundverschiedene
Register; auch für die Freiheit fand er eine sehr faßliche Auslegung. Im praktischen Leben versteht man unter Freiheit nur die Unabhän gigkeit des Willens von der Nöthigung
durch Antriebe der Sinnlichkeit,
und diese kann durch Erfahrung bewiesen werden.
Denn nicht blos was
reizt, d. h. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür,
sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was
selbst auf entfernte Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser
sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Ueberlegungen aber von dem, was in Ansehung unsers ganzen Zustands begehrenSwerth, d. h.
gut ist, beruhn auf der Vernunft.
Diese giebt objektive Gesetze der Frei
heit, welche sagen, waS geschehn soll, ob eS gleich vielleicht nie geschieht, und
sich darin von Naturgesetzen unterscheiden.
Ob aber die Vernunft
selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum
durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernter wir
kender Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, das geht unS im Prakttschen nichts an.
Woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich
jetzt handeln soll, gekommen sei, kann mir gleichgültig sein: ich frage nur,
waS ich nun zu thun habe?
Und da ist die Freiheit eine nothwendige
praktische Voraussetzung, unter der allein ich die Gebote der Vernunft als
gültig ansehn kann. ihm
Selbst der entschlossenste Fatalist muß, sobald eS
um Pflicht zu thun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre;
und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige That hervor.
Könnte sich ein Mensch von allem Interesse lossagen, und die Be
hauptungen der Vernunft, gleichgiltig gegen alle Folgen, blos nach dem Gehalt ihrer Gründe in Betracht ziehn: so würde ein solcher, gesetzt, daß
er keinen Ausweg wisse, anders auS dem Gedränge zu kommen, als daß
er sich zu der einen oder der anderen der streitenden Lehren bekennte, in einem unaufhörlich schwankenden Zustand sein.
Heute überzeugt, der
menschliche Wille sei frei, würde er morgen, wenn er die unauflösliche
Naturkette in Betracht zöge, die Freiheit für eine Selbsttäuschung halten.
Wenn eS aber zum Handeln käme, so würde dies Spiel der blos specu-
lirenden Vernunft wie das Schattenbild eines Traums verschwinden und er würde seine Principien blos nach dem praktischen Interesse wählen.
In Ansehung der Ideen Freiheit und Gott ist das blos speculative Interesse der Vernunft sehr gering, weil man von allen Entdeckungen, die hierüber etwa zu machen wären, doch keinen Gebrauch machen kann,
der in concreto, d. h. in der Naturforschung seinen Nutzen bewiese; sie sind, an sich betrachtet, müßige Anstrengungen unsrer Vernunft.
Wenn sie unö demnach zum Wissen garnicht nöthig sind, und unS
gleichwohl durch unsre Vernunft dringend empfohlen werden, so wird ihre Wichtigkeit wohl nur das Praktische angehn. „Zwar wird sich Niemand rühmen können,
er wisse, daß ein Gott
und daß ein künftiges Leben sei: denn wenn er eS weiß, so ist er grade
der Mann, den ich längst gesucht habe.
Ich darf nicht einmal sagen: eS
ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei u. s. w.; sondern: ich bin moralisch
gewiß, u. s. w.; d. h. der Glaube an einen Gott und eine andre Welt ist 29*
mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, ebensowenig besorge ich, daß mir der zweite jemals könne entrissen werden. — An Gott zu glauben, ist moralisches
Bedürfniß, aber nicht Pflicht." „Ist daS aber alles, was reine Vernunft ausrichtet, indem sie über die Grenzen der Erfahrung hinaus Aussichten eröffnet?
zwei Glaubensartikel?
Nichts mehr als
Soviel hätte auch wohl der gemeine Verstand auS-
richten können!" „Allerdings entdeckt die tiefste Metaphysik nur, daß die Natur in dem, was Menschen
ohne Unterschied angelegen ist, keiner
parteiischen
Austheilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und daß in Ansehung der
wesentlichen Zwecke die höchste Philosophie es nicht weiter bringen könne, als waS die Natur auch dem gemeinsten Verstand Hal angedeihen lassen."
— „Nach drüben ist die Aussicht unS verrannt; Thor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet! . . Er stehe fest und sehe hier sich um; dem
Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. zu schweifen?
WaS er erkennt,
Was braucht er in die Ewigkeit
läßt sich ergreifen.. Im Weiterschreiten
find' er Qual und Glück, er! unbefriedigt jeden Augenblick."
'Goethe verhielt sich erst durchaus ablehnend gegen die „Kritik der reinen Vernunft."
„Sie lag außerhalb meines KreifeS.
Der Eingang
gefiel mir, inS Labyrinth selbst konnt' ich mich nicht wagen: bald hinderte
mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte mich nirgend gebessert, wenn ich auch einzelne Capitel zu verstehn glaubte. Ich
wohnte jedoch manchem Gespräch darüber bei, und mit einiger Aufmerk
samkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage sich erneuere: wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu unserm geistigen Dasein bei trage?
Ich hatte beide niemals gesondert,
und wenn ich nach meiner
Weise philosophirte, so that ichs mit unbewußter Naivetät, wirklich, ich sähe meine Meinungen vor Augen.
und glaubte
Gern aber mochte ich
mich auf diejenige Seite stellen, welche dem Menschen am meisten Ehre macht, und gab Kant'S Behauptung recht: wenngleich
alle Erkenntniß
mit der Erfahrung angehe, so entspringe sie darum doch nicht eben auS der Erfahrung... Hatte ich doch in meinem ganzen Leben, dichtend und beobachtend, synthetisch und dann wieder analytisch verfahren; die Systole und Diastole deS menschlichen Geistes war mir, wie ein zweites Athem-
holen, niemals getrennt, immer pulstrend.
Beobachtete doch die Natur
selbst ein analytisches Verfahren, eine Entwicklung aus einem lebendigen
geheimnißvollen Ganzen, und dann schien sie wieder synthetisch zu handeln, indem
völlig fremd scheinende Verhältnisse einander angenähert und in
Eins verknüpft wurden."
„Manchmal wollte mir dünken,
der köstliche Mann verfahre schalk
haft ironisch, indem er bald daS Erkenntnißvermögen aufs engste einzu schränken bemüht war, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen, mit
einem Seitenwink hinausdeutete.
Er mochte freilich bemerkt haben,
wie
anmaßend der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenig Erfahrungen
ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht, und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheften
trachtet.
Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine
reflectirende Urtheilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur
Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Aeußerungen, und überläßt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen,
die er uns einigermaßen zugesteht." Kants „Kritik ber praktischen Vernunft" hat Goethe mit dem System
nicht näher befreundet, sondern ihn durch seine Starrheit eher abgestoßen.
Mit der größten Freude dagegen begrüßt er die Kritik der Urtheilskraft,
die eine wesentliche Bereicherung des Princips enthält. Nach der bisherigen Kantischen Auffassung ruhte die Natur auf ihrem
eigenen unabänderlichen Gesetz; sie hatte keinen Zweck als ihr eigenes Dasein.
Die Kritik der Urtheilskraft suchte den Begriff des Zwecks für
das Naturganze zu retten, indem sie die Erfahrung der Kunst heranzog.
Das Genie wirkt zweckvoll, ohne sich des Zwecks bewußt zu werden;
das Kunstwerk ist zweckvoll, ohne daß der Zweck durchscheint.
auch die Natur gleichsam
So ist
ein großes Kunstwerk, dessen innere Zweck
mäßigkeit aber eine bloße Idee bleibt.
Man kann sie empfinden und
ahnen, aber nicht begründen.
Julian Schmidt.
Die Probe auf die Bedeutung der Kaiser zusammenkunst in Danzig. (Politische Correspondenz.)
Berli-n, 8. October 1881. Frankreich hat sich auch dieses Mal wieder als das Land der Ueber-
raschungen erwiesen.
Was hat man nicht in den letzten Monaten über die
Bedeutung der Neuwahlen zu der Deputirtenkammer declamirt, vor allem
mit Rücksicht auf die Absicht Gambetta'S, aus dem Halbdunkel der Cou-
lissenregierung nur mit einem jener starken Effecte hervorzutreten, welche unsern westlichen Nachbarn unentbehrlich erscheinen.
Am 21. August haben
die Neuwahlen stattgefunden, über 6 Wochen vor dem Zeitpunkt, an dem daS Mandat der letzten Deputirtenkammer abläuft,
aber merkwürdiger
Weise, ohne daß die alte Deputirtenkammer aufgelöst worden wäre, so
daß Frankreich bis zum 14. October im Besitz zweier Kammern ist, der alten, deren Mandat fortdauert und der neuen, die eine Art embryonisches
Dasein führt.
War die Beschleunigung der Neuwahlen dringend, wes
halb macht die Regierung der Scheinexistenz der alten kein Ende?
Oder
wenn man noch weit über den 21. August hinaus ohne neue Vertretung
auskommen konnte, weshalb mußten die Wahlen vor der Zeit stattfinden? Das Räthsel ist nicht gerade schwer zu lösen.
Zur Auflösung der zweiten
Kammer hätte die Regierung der Zustimmung des Senats bedurft und dieser würde schwerlich seine verfassungsmäßige Mitwirkung gewährt haben
zu einer Maßregel, welche von vornherein bestimmt war, den Senat für
die Kühnheit zu bestrafen, mit der er den Gesetzentwurf wegen Einfüh
rung des ListenscrutiniumS, den die Deputirtenkammer beschlossen hatte, ohne Weiteres
ablehnte.
Dem Senat eine Lection zu ertheilen,
freilich nicht der einzige Zweck.
war
Die Regierung hatte schon damals vor
aus gesehen, daß die Lage der Dinge in Tunis sich in nächster Zukunft nicht verbessern, sondern eher verschlimmern, daß es nothwendig sein würde,
die OccupattonStruppen zu verstärken und da sie den Eindruck, den in
Die Probe auf die Bedeutung der KaiserzusammeukuNst in Danzig. einem
407
Lande mit allgemeiner Wehrpflicht diese unliebsame Folge deS
Feldzugs gegen die KrumirS machen würde, zu fürchten Grund hatte, so mußten die Wahlen stattfinden, ehe die Wähler Zeit gehabt hatten, die
Wahrheit über Tunis kennen zu lernen.
ES versteht sich von selbst, daß
Sorge dafür getragen wurde, daß der Telegraph nicht etwa unmittelbar
vor den Wahlen unliebsame Mittheilungen über die Lage der Dinge in
Afrika mache.
In der That hat die Tunesische Affaire keinen erkennbaren
Einfluß auf die Wahlen auSgeübt.
Aber die Schwierigkeiten der Lage
trugen ohne Zweifel dazu bei, die Abneigung der Regierung gegen eine schleunige Berufung der neuen Kammer zu verstärken, der man eine ge naue Auskunft über die Führung des ganzen Feldzugs nicht vorenthalten
könnte.
Daß fettens der Militärverwaltung schwere Fehler begangen
worden sind, ist freilich zweifellos. mit unzulänglichen Kräften begonnen.
Der Feldzug wurde von vornherein Die vorzeitige Zurückberufung eines
Theiles der Truppen nach der Besetzung der Küstenplätze war ein zweiter
Fehler.
Aber bei der Abhängigkeit des CabinetS Ferry von dem Wellen
schläge der öffentlichen Meinung ist eS leicht zu begreifen, daß der Kriegs minister sich mehr vor den Unzufriedenen in Frankreich als vor den Auf ständischen in Tunis und Algier fürchtete.
Der Feldzug in Tunis hat
jetzt schon den auch für uns Deutsche nicht werthlosen Beweis geliefert, daß eine Colonialpolttik im großen Styl ohne eine Modification des Systems der allgemeinen Wehrpflicht unmöglich ist.
Keine Nation — und vor allem
nicht eine so wüthige und reizbare Nation wie die französische — wird
im Falle eines europäischen Krieges die Opfer zu groß finden, welche sie
bei dem System der allgemeinen Dienstpflicht zu bringen gezwungen ist; aber zu einem Feldzug gegen die Krumirs und die Horden eines Bu-Amena unter dem mörderischen Klima des schwarzen Continentö eignen sich die
ChasseurS dÄfrique, die Turko's,
SpahiS und die Berufstruppen deS
Kaiserreichs besser als die Rekruten der allgemeinen Wehrpflicht.
Daß
General Farre diesen Erwägungen Raum gegeben und von der Mobilisirung
eines oder einiger Armeekorps Abstand genommen hat, mögen
seine politischen Gegner ihm zum Vorwurf machen; schwerlich würden sie an seiner Stelle anders gehandelt haben.
Aber das ändert eben nichts
an der Thatsache, daß die endlose Verschleppung der tunesischen Ange
legenheit, die Schlappen, welche den französischen Truppen durch die Auf ständischen in Süd-Algier beigebracht wurden, auch über die Grenzen der
Colonie hinaus den Geist der Empörung gegen das europäische Element
weckten.
Seit der Absetzung
Ismail Paschas
(26. Juni
1879) wird
Egypten gewissermaßen im Interesse seiner europäischen Gläubiger von englischen und französischen Commissaren verwaltet.
Der neue Khedtve,
408
Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunst in Danzig.
Tewfik Pascha hat englischen und französischen Generalcontroleuren die Verwaltung der Zölle und Steuern überlassen müssen; im Uebrigen aber und solange er die sinanciellen Interessen seiner Beschützer nicht gefährdet,
ist er absoluter Herrscher geblieben, mit anderen Worten: auf dem Gebiet
der inneren Verwaltung dauert das alte Willkür-Regiment fort.
Die
Unzufriedenheit im Lande und namentlich in der Armee wendet sich natur gemäß nicht nur gegen die Europäer, sondern auch gegen Tewfik Pascha,
der eine Creatur derselben ist.
Zeichen einer Gährung
Seit
in der
längerer Zeit schon
hatte es an
Armee nicht gefehlt; am 9. September,
am Tage der Kaiserzusamwenkunft in Danzig,
rückten 4000 Mann mit
30 Geschützen vor den Palast des Khedive und
forderten, unter der
Drohung der Absetzung, den Rücktritt des Ministerpräsidenten Riaz Pascha,
Erhöhung des Bestandes der Armee auf 18,000 Mann, der nach dem Firman des Sultans vom 6. August 1879 zulässigen Maximalstärke, die
Einführung der von einer besonderen Commission vorbereiteten Militär-
gesetze
und
endlich
—
die
Berufung
eines
nationalen
Parlaments.
Daß diese Bewegung, der durch die Ernennrmg Schertf Paschas freie Bahn gebrochen
ist,
sich
gleicher Weise gegen die Willkür-Herrschaft
des Khedive wie gegen die Finanzwirthschaft der englisch-französiscken General-Controleure richtet, liegt auf der Hand.
Das schließt aber nicht
aus, daß von englischer Seite die Bewegung nicht ungern gesehen wird, vorausgesetzt, daß England berufen würde, das alleinige Protectorat über den neuen constitutionellen Staat auszuüben.
Schon vor dem Ausbruch
der Emeute vom 9. September wurde in der englisch-französischen Presse die Frage der Zukunft deS Pharaonenlandes sehr lebhaft erörtert.
Die
„Times" bezeichnete eS als fraglich, ob der gebrechliche Zustand der Dinge in Egypten mit der Sicherheit der englischen Interessen verträglich sei, während daS Organ Gambetta'S, die Republique fran^aise ankündigte,
daß an dem Tage, an dem England aus eigner Initiative die Verwaltung EgyptenS ändern würde, Frankreich im Namen seiner Interessen „schwere
Einwendungen" machen werde.
Das Mißtrauen
englische Politik wurde noch verschärft, als
Frankreichs gegen die
englische Blätter nach dem
9. September den Vorschlag machten, die Intervention deS Sultans anzu rufen, um durch eine militärische Occupation EgyptenS dem Uebermuth der SoldateSca ein Ende zu machen.
Man kann es dahin gestellt sein
lassen, in wie fern dieser Vorschlag ernst gemeint war; enthielt er daS Eingeständniß, daß
weder
auf alle Fälle
eine einseitige englische oder
französische, noch eine gemeinsame englisch-französische Occupation für mög lich gehalten wird; der einzige Punkt, über den die Cabinette von Parts und London derselben Meinung sind.
Ob der Militär-Aufstand vom 9. September im Einverständniß mit
dei englischen Politik erfolgte, kann man dahin gestellt sein lassen.
DaS
weitere Verhalten der englischen Regierung beweist, daß der Zwischenfall ihr sehr zur Zeit kam.
England hat ruhig zusehen müssen, als Frank
Sein Alliirter in Egypten hat sich plötz
reich von Tunis Besitz ergriff.
lich — wenn auch nicht unerwartet — als gefährlicher Concurrent
ent
puppt, so daß die Londoner Blätter heute kein Bedenken tragen, den durch
die Convention vom 30. August 1879 geschaffenen Zustand für unhaltbar zu erklären.
Selbstverständlich kehrt das Cabinet Scherif Pascha's,
den
der frühere Khedive im letzten Augenblicke mit der Bildung eines „na
tionalen" Ministeriums beauftragt hatte, des
um dem durch das Eingreifen
erweckten „Nationalgefühl" Rechnung zu
englischen Finanzministers
tragen, seine Spitze ebensowohl gegen England
wie gegen Frankreich.
Sein Ziel kann nur die Befreiung Egyptens von dem europäischen Einfl»lß sein, gleichviel ob hinter Scherif nur die Demonstranten vom 9. Sep
der frühere Khedive Ismail Pascha oder Constantinopolttanische
tember,
Einflüsse stehen.
Es klingt keineswegs unwahrscheinlich, daß der Sultan
die Zeit gekommen glaubt, seine Oberherrschaft über Egypten, die in den letzten
Jahren nur
den
englisch-französischen Generalcontroleuren
als
Sturmdach gedient hat, wieder zu befestigen; aber diese Gefahr schlägt
man in England nicht hoch an.
Wenn die „nationale" Politik Scherif
Pascha's dem gegenwärtigen Zwitterzustand erst einmal ein Ende gemacht
hat, hofft man in London um so leichter das letzte Ziel der englischen
Politik, die ausschließliche Herrschaft über Egypten durchsetzen zn können. Natürlich
wird vor der Hand mit verdeckten Karten gespielt, um den
Rückzug offen zu halten für den Fall, daß sich schließlich doch die Fort
setzung des Compagniegeschäftes
mit Frankreich als unvermeidlich
be
währen sollte.
Frankreich wenigstens wird nichts thun, die Krisis zu beschleunigen; im Gegentheil, die französische Politik kann nur wünschen, Zeit zu ge winnen,
um vor Allem der Schwierigkeiten in Algier Herr zu werden
und Tunis zu verdauen.
Als die französische Regierung den Zug nach
Tunis unternahm, glaubte sie genug gethan zu haben, wenn sie sich der Neutralität Deutschlands versicherte.
Jetzt aber,
wo sich die ausschwei
fendsten Befürchtungen bezüglich der Verwickelungen, welche die tunesische
Expedition nach sich ziehen könnte, zu verwirklichen drohen, gewahrt man mit Schrecken, daß
der englische Freund sich anschickt, aus diesen Ver
legenheiten Nutzen zu ziehen.
Nicht umsonst betont die französische Presse
die Nothwendigkeit, das gute Einvernehmen zwischen England und Frank
reich, welches allein über die Schwierigkeiten der Lage hinweg helfen könne,
410
Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig.
ungetrübt zu erhalten.
Von englischer Seite wird das nicht in Abrede
gestellt; aber mit erstaunlicher Naivetät empfiehlt die „Times", das Ein vernehmen dadurch zu erhalten, daß man die Intervention der Türkei zu Hülfe rufe.
Die
eghptifche Revolte,
antwortete daS City-Blatt, muß
niedergeworfen und die eghptifche Armee auf die ihr zukommende Stärke
permanent reducirt werden, d. h. auf die Stärke,
welche zum Schutze
der südlichen Territorien des Landes und zur Aufrechterhaltung der Ord
nung nothwendig ist.
DaS ist eine bestimmte Ausgabe und die Lösung
derselben wird die Türkei zu keinen weiteren Plänen verleiten.
Die An
rufung des türkischen Beistandes ist ohne Zweifel ein pis aller, aber es
ist dies besser als die Hülfe von Europäern anzurufen, deren Landung in Waffen das Signal sowohl zur Opposition der eingeborenen Bevölkerung als auch zu einer unerträglichen Friction zwischen den zeitwei
ligen Bundesgenossen sein würde. charakteristisch für die neueste Phase der englischen
Außerordentlich
Politik ist die Sprache, welche d»S leitende Blatt der Kaiserzusammen kunft in Danzig zu führen für angemessen hielt.
Am Tage nach der Zu
sammenkunft war die „Times" der Ansicht, Erörterungen über rumänischen und serbischen Ehrgeiz, bulgarische Revolution, österreichisches Weitervor
dringen in die Türkei und die Wache über die Donaumündungen könnten nur ein Schein sein, hinter welchem das Problem verhandelt sein müßte,
mit den Nihilisten
fertig zu werden.
Da aber weder Kaiser Wilhelm
noch Fürst Bismarck das einzige wirksame Mittel, constitutionelle Regie rung, Vorschlägen würden, so könne man daraus abnehmen, wie unbedeutend die Zusammenkunft sei.
England werde von den großen Militärreichen
Europas nicht befragt, welchen Grad von Wärme sie ihren gegenseitigen Beziehungen geben sollten; England wünsche auch nicht befragt zu werden.
Solange die Militärreiche nicht Abmachungen träfen, welche legitime eng lische Interessen beeinträchtigten,
überlasse England es ihnen, sich
Belieben unter einander zu verständigen.
nach
Immerhin, meint die „Times",
die Abwesenheit des Kaisers von Oesterreich zeige an, daß Deutschland
„noch immer" die Vollmacht Oesterreichs in Fragen der europäischen Po litik in Händen halte.
Kaiserliche Alliancen, so schloß die griesgrämige
Auseinandersetzung, durch welche nebenbuhlerische Staaten ihre verschiedenen
Prätentionen und Bestrebungen in einen Mischmasch einrühren, sind nicht
nach englischem Geschmack. Der Engländer vermuthet in solchem Abkommen eine gegen die Rechte Dritter gerichtete Verständigung.
Wege sind nicht Englands Wege!
so weit, ihre Leser über Dritter zu beruhigen.
Aber Fremder
Vierzehn Tage später war die „Times"
die Besorgniß
einer Bedrohung der Rechte
Die Interessen Oesterreichs im Orient, schrieb sie.
sind mit wenigen Vorbehalten conservattv wie die unsrigen.
Die Bande,
welche unS mit unseren traditionellen Verbündeten verbinden, sind hoffent
lich nicht geschwächt worden durch irgendwelche Vorgänge oder Aeußerungen neuerer Zeit.
Oesterreich mag daher fast der Vertreter Englands in dem
Concert genannt werden, welches sich zwischen den drei Kaiserreichen vor
zubereiten scheint.
Der Ausdruck „unser traditioneller Verbündeter", der
an die Zeit der Kriege gegen das napoleonische Frankreich erinnert, war
natürlich auf französische Ohren nicht berechnet.
Die Hoffnung, daß dieses
Band durch Aeußerungen neuerer Zeit nicht geschwächt sein würde, klang
wie eine Abbitte Gladstone'S für das „Hände weg", welches er bei dem Wiedereintritt in die Regierung an die Adresse
hatte.
Oesterreichs gerichtet
Den letzten Gedanken verrieth die Betrachtung: „Ebbe und Fluth
der Umstände wechseln unaufhörlich und haben, das Bestreben, das Dretkaiferbündniß auf den Sand zu setzen." Nach diesen Präliminarien rückte dann die „Times" in den letzten
Tagen des September mit einem Project heraus, welches die innere — wenn auch vielleicht nicht die harmonische — Verbindung der beiden Ereignisse
veS 9. September, der Kaiserzusammenkunft in Danzig und der Militär-
Emeute in Kairo in greller Beleuchtung hervortreten läßt.
In Form einer
Correspondenz aus Prag anticipiren die Betrachtungen des Cith-BlatteS eine neue „Theilung des Orients", um in hypothetischer Sprechweise die
Bedingungen zu fixiren, unter denen England zur Sprengung des Ber liner Vertrags bereit sein würde.
„Es ist klar", so beginnt der frei
willige Mitarbeiter der „Times", „daß die gemeinsame Besetzung EghptenS durch Frankreich und England unausführbar ist und daß die Erhaltung
des gegenwärtigen Zustandes der Dinge mit jedem Augenblick zur Un möglichkeit werden kann.
Diese Gedanken beunruhigen bereits die öffent
liche Meinung und nehmen die Aufmerksamkeit so vollständig in Anspruch, daß man eine andere, gerade so offenbare, Gefahr gar nicht sieht, welche von der anderen Seite deS ägäischen Meeres droht, nämlich die Occupation
des Königreichs Griechenland durch Oesterreich und die durch österreichische Disciplin und griechische Seeleute drohende Bildung einer großen @eemacht längst der Linie der englischen Hauptstraße (nach Indien). Die Intri
guen und Unterhandlungen, welche die Lösung der griechischen Frage be
gleiteten, hatten zum Hauptzwecke die weitere Besitznahme von Prevesa
und Salonichi durch Oesterreich.
Sind Epirus und Macedonien unter der
Botmäßigkeit dieser Macht, dann gelangt Griechenland unvermeidlich unter die
Controle,
die
politische
und
financielle Verwaltung Oesterreichs.
Griechenland befindet sich in einem solchen Zustande der innern Lähmung
und ist so sehr vom Bankerott bedroht, wenn eS in seinem gegenwärtigen
Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig.
412
ungewissen Zustande verbleiben muß, daß eine Catastrophe binnen kurzem eintreten muß;
denn
ohne die Unterstützung einer starken europäischen
Macht kann Griechenland nicht einmal dem Namen nach seine Unabhängig
keit behaupten; und da für alle Griechen die ernste Erwägung besteht und
bestehen muß in der Vereinigung aller Zweige der Race, so wird die un mittelbare Folge die Besetzung von Epirus und Makedonien durch Oester reich, wie das auch von allen vernünftig Denkenden in Athen anerkannt
wird, der Eintritt Griechenlands in das österreichische Verwaltungsshstem
sein.
Die Handelsthätigkeit und die merkantilen Interessen Oesterreich-
Ungarns sind gegenwärtig schon im Osten deS Mittelmeeres bedeutender, als die irgend einer anderen Macht, mit Ausnahme Englands und, durch
Griechenland verstärkt, werden diese Interessen die bedeutendsten werden mit der anwachsenden Leichtigkeit des Verkehrs in den Häfen, durch die
Schienenstraßen und Dampferlinien auf den Wasserstraßen zwischen Europa, Ostafrika und Kleinasien.
Die Stellung einer Macht mit der Fähigkeit
zu organisiren und Fuß zu fassen, wie Oesterreich sie besitzt, welches über die ganze Kraft und die nautischen Hülfsmittel der griechischen Bevölkerung und die Levante in der Flanke, die bedeutendste Station auf dem Wege nach Indien verfügt, ist derart, daß die Engländer die Complicationen
bedenken müssen, welche daraus
entstehen können.
Wir sprechen von
Oesterreich als einem alten unb treuen Alliirten in einem Athem mit un
seren Befürchtungen für Frankreich, den Alliirten Englands par excellence in dem reconstruirten Europa.
Ist irgend eine Allianz vertrauenswürdig,
wenn es sich um die Herrschaftsfrage handelt?
Ist es weise, der Hand
einer Macht, welche ein Feind werden kann, eine solche Gewalt anzuver
Und wenn sich die österreichischen Handelsinteressen so entwickeln,
trauen?
wie heutzutage, wenn sich seine Communicationen bis an den Stillen
Ocean ausdehnen und die französischen Herrschaftsinteressen auf der an deren Seite der Hauptstraße vordringen; wenn überdies die Interessen der einen wie der anderen dieser Mächte activ und schlau durch jede Anwen dung von Intrigue und Diplomatie gefördert werden — heißt es da nicht
die Sorglosigkeit auf's Aeußerste treiben, wenn nichts geschieht, um diese Lebensinteressen des britischen Reichs vor künftigen Eventualitäten zu schützen, wenn man auch von der gegenwärtigen Bedrohung nichts sagen
will?
Ich glaube, es giebt nur eine politische Vorkehrung, um die Un
abhängigkeit EgyptenS und die totale Vertreibung des türki
schen Elements aus den Ländern längs deS Rothen Meeres zu sichern.
Die Egypter sind ein weit gelehrigeres Volk als die Türken,
welche überall ein Hinderniß für eine gesunde politische Organisation sind und wenn einmal ein egyptischeS Königreich wtederhergestellt und seine
Unabhängigkeit von England garantirt ist, wird der Weg nach Indien so sicher gemacht wie durch eine englische Occupation.
DaS türkische Reich
mag sich eines Tages auflösen — aber wie bald das geschehe, kümmert
England nicht im Geringsten,
sobald Egypten gesichert ist — und die
Ruhestörungen und Vorbereitungen aus Anlaß der schrecklichen orientali schen Frage hören für England auf von dem Momente an, wo Egypten sicher ist."
Von Rußland ist, wie man sieht, in dieser Zukunftsphantasie gar
nicht die Rede; aber wenn England von dem Augenblicke an, wo die egyptische Frage in seinem Sinne gelöst ist, an dem Fortbestände der
Türkei kein Interesse mehr hat, so würde die türkisch-englische DefensivAllianz vom 4. Juli 1878 vollständig hinfällig werden und ein weiteres
Vordringen Rußlands auf der Ostfeite des Schwarzen Meeres, welches Lord Beaconsfield damals als Kriegsfall betrachtet wissen wollte, England nicht wieder beunruhigen.
Der Kernpunkt des Programmes ist das selbst
ständige Königreich Egypten unter englischer Garantie.
Der Gedanke, daß
hinter dieser Kundgebung der „TimeS", welche in den übrigen der Gladstone'schen Regierung ergebenen Blättern zustimmend erörtert wird, direct
oder
indirect daS auswärtige Amt stehen könne, ist von einer
wältigenden Komik, wenn man sich deS Schreibens Gladstone
öffentlichte.
am
erinnert,
über
welches
11. März 1880 während der Wahlvorbereitungen ver
„In Beziehung zum Auslande, schrieb der damalige Oppo
sitionelle, haben die Minister (Beaconsfield) die Prärogative der Krone durch groben Widerspruch ungebührlich ausgedehnt, weitn nicht gefährdet, daS Reich geschwächt durch unnöthige Kriege, unvortheilhafte Erwerbungen und unweise Verpflichtungen und dasselbe entehrt in den Augen Europa's
dadurch, daß sie die Insel Cypern der Pforte abgegaunert haben durch einen heimlich
abgeschlossenen Vertrag,
unter Verletzung des
Pariser
Vertrags, welcher letztere einen Bestandtheil deS internationalen Rechts der Christenheit bildet.
Wenden wir uns von principiellen Erwägungen
zu den materiellen Resultaten, so haben die Minister Rußland vergrößert, die Türkei auf den Weg ihrer Zerstückelung, wenn nicht zu ihrem Unter
gänge verlockt und die christliche Bevölkerung Macedoniens wieder unter ein erniedrigendes Joch gebracht."
Und doch hat die autorisirte Presse der beiden Cabinette, an welche die Insinuationen der „Times" entweder direct oder indirect gerichtet waren,
Oesterreichs und Rußlands Veranlassung genommen, sich über die Vorschläge in einer Weise zu äußern, welche für die Bedeutung derselben Garantie
leistet.
Wenn aber der in der „Times" ausgestreckte Fühler auch nur
den Zweck gehabt hätte, die Tragweite der Danziger Zusammenkunft zu
Die Probe aus die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig,
414
erproben, so muß man sagen, daß dieser Zweck vollständig erreicht wor
den ist.
An dieser Danziger Zusammenkunft war alles ungewöhnlich: das Geheimniß, mit dem sie umgeben werden sollte und die JndiScretion, mit der hinterher Berichte vertraulichster Natur der Oeffentlichkeit preisgegeben
wurden.
DaS wirkliche Geheimniß liegt nicht in der Zusammenkunft selbst,
sondern in den Kämpfen, die ihr vorangegangen sind, in der Wandlung der Gedanken des jungen Kaisers.
Oder sollen wir sagen: in der plötzlich
durchbrechenden Erkenntniß, daß die Politik der nationalen Wiedergeburt, deren Ausfluß die Ende Juli erfolgte Moskauer Reise gewesen ist, sich
mit den Gesinnungen uitverlräglich erweisen werde, welche den Sohn be seelten, als er an jenem verhängnißvollen 13. März an der verstümmelten Leiche seines Vaters stand. Die Geschichte der Wandlungen, welche die Gesinnung Alexanders III. in den letzten 15 Jahren erfahren hat,
hängt aufs Innigste mit der
Entwickelung der russischen Politik und den Phasen der deutsch-russischen
Beziehungen zusammen.
Seine Vermählung mit der dänischen Prinzessin
(9. November 1866), zu einer Zeit, wo die Wunden, welche der deutsch
dänische Krieg geschlagen hatte, noch kaum geheilt waren, die jugendliche
Empfindlichkeit des Thronfolgers
über die Machtentwicklung Preußens,
trieben diesen unwillkürlich in den Gedankenkreis der Panslavisten, deren
politische Ideale in so schroffem Gegensatz standen zu der preußenfreund lichen Politik Alexanders II. und zu dessen Abneigung gegen Frankreich.
Man weiß, daß während des deutsch-französischen Krieges Kaiser Alexander II. mit seiner Begeisterung für die wunderbaren Erfolge der deutschen Waffen
am russischen Hofe nahezu isolirt war und daß erst die Heldenthaten der Commune den heißblütigen, aufrichtigen aber bestimmbaren Thronfolger
zum Nachdenken über die Schattenseiten westlicher Cultur zwangen.
Man
weiß auch, daß die Kriegspartei, welche Kaiser Alexander II. in den Krieg
gegen die Türkei trieb, sich der Sympathien des Thronfolgers erfreute. Der Thronfolger selbst hat an dem Kriege thätigen Antheil genommen; aber er kehrte, tief erschüttert durch die Eindrücke des Feldzugs, nach
St. Petersburg zurück.
Was ihn damals noch mit den Panslavisten in
Verbindung hielt, war die gemeinsame Enttäuschung, die gemeinsame Ent
rüstung über die angebliche Treulosigkeit deö deutschen Bundesgenossen,
der auf dem Berliner Congreß das Seinige gethan hatte, den Jgnatiew'schen Frieden von St. Stefano zu zerreißen und das übermüthige Wort
von dem
„Schwimmen Bismarcks im Kielwasser der russischen Politik"
Lügen zu strafen.
Die officiellen Vertreter Rußlands auf dem Berliner
Congreß, Fürst Gortschakow und Graf Schuwalow setzten ihre Unterschrift
Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkuuft in Danzig.
415
unter den Vertrag vom 13. Juli 1878, die russische Nation aber knirschte mit den Zähnen.
Nichts hat zu dem tieferen Eindringen des nihilistischen
Giftes in daS Blut deS russischen Volkes mehr beigetragen, als die Auf
regung über die Nachgiebigkeit, mit der die Regierung sich dem Macht spruche deS im Congreß versammelten Europa'S fügte.
Die Hoffnungen,
mit denen die Massen die Armee auf dem Marsche nach Constantinopel begleiteten,
hatten die unmittelbarste Beziehung
auf die innere Politik.
Der Sieg der russischen Waffen, so calculirte man,
werde
den Einfluß
der Partei, welche den Kaiser ganz gegen seine ursprünglichen Absichten
und im Widerspruch mit den wiederholt abgegebenen Erklärungen zum Kriege gezwungen habe, auch nach dem Kriege befestigen; eine Niederlage
aber den Kaiser zwingen, im Innern Zugeständniffe zu machen.
Auf alle
Fälle also würde eS einen Besiegten gegeben haben: entweder die Türkei und damit auch Europa oder die selbstherrscherliche Gewalt deS Zaren. Die Ablösung deS Friedens von San Stefano durch den Vertrag von Berlin wirkte um so mehr wie eine Verhöhnung der Hoffnungen des Volkes, als ohnehin
der Verzicht auf den Einmarsch der russischen Armee in Constantinopel als ein unbegreiflicher erschienen war.
Die moralische Schwächung der
Regierung Alexander'S II., einmal durch seine Nachgiebigkeit gegen die
Kriegspartei und dann durch das Preisgeben der Ergebnisse deS Krieges auf dem Berliner Congreß, hat nicht am wenigsten zu der Kräftigung
der revolutionären Bewegung beigetragen, deren letzte Ausläufer die Blut that am Katharinen-Canal hervorriefen.
Der Berliner Vertrag
den Bestrebungen der Panflavisten eine neue Richtung gegeben. rend die Regierung sich immer noch mit der Hoffnung trug,
hatte
Wäh
die harten
Friedensbedingungen bei der Ausführung deS Vertrages zu mildern, die
Zweitheilung Bulgariens rückgängig zu machen und Oesterreich an der Besetzung Bosniens zu verhindern, wühlten die Panflavisten gegen Deutsch
land.
Die Hoffnungen, welche
Frankreich setzte,
scheinen bei
der Thronfolger auch damals noch auf
einem Besuch, den derselbe im Sommer
1879 in Paris abstattete, den antipathischen Eindrücken erlegen zu sein,
welche
er
den republikanischen Institutionen und
Personen
verdankte.
Vielleicht hat auch der Thronfolger damals die Ueberzeugung gewonnen, welcher eine geheime Denkschrift auS dem Jahre 1864 in folgender Weise
Ausdruck gab.
„Nach dem Krimkriege schienen die Zeitverhältnisse einer
ernsthaften Annäherung dieser beiden Länder günstig zu sein, welche mehr
durch theoretische Mißverständnisse und durch von beiden Seiten begangene
Fehler als durch ihre wirklichen Interessen von einander getrennt gewesen waren; und doch hat auch dieser Versuch lediglich dazu geführt, daß der
Ausbruch eines neuen Zusammenstoßes vertagt wurde.
Die sich hieraus
Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunst in Danzig.
416
ergebenden
können.
Schlußfolgerungen
werden kaum einem Zweifel unterliegen
Gerade weil diese Versuche zu einer Annäherung höchst ernsthaft
gemeint waren, werden sie als unwidersprechliche Beweise dafür angesehen werden müssen, daß die politischen Tendenzen beider Länder schlechterdings in Einklang zu bringen sind.
nicht
Polen ist nur die Gelegenheit zu
dieser Differenz gewesen; der eigentliche Grund lag tiefer.
Er ist darin
zu suchen, daß die französische Natur von einem beständigen Verlangen nach gewaltsamen Umwälzungen heimgesucht wird, während die russische Nation
vor Allem Ruhe verlangt.
Mit Frankreich werden wir uns voraussichtlich
erst verständigen, wenn wir das Bedürfniß fühlen sollten, in Europa das
Unterste nach Oben zu kehren; aber auch dann wird das auf unsere Un kosten geschehen."
Auf alle Fälle kehrte der Thronfolger damals mit der Ueberzeugung
nach Rußland zurück, daß mit dem republikanischen Frankreich die Allianzen, deren
sein Land unter allen Umständen bedürfe, nicht zu finden sein
würden. In dem Maße, in dem die Erkältung der Beziehungen zwischen Berlin
und
St. Petersburg hervortrat,
Deutschland und Oesterreich
gewannen
an Intensität.
die
Beziehungen zwischen
Der Abschluß des deutsch
österreichischen Bündnisses im Herbst 1879 und die Entrüstung des Thron folgers über diese Wendung der deutschen Politik gaben dem PanslaviSmus noch einmal eine Handhabe, den Thronfolger in der Abneigung gegen die
officielle Politik zu befestigen. Inzwischen war die Vermählung der Prinzessin Thyra, der jüngeren
Schwester der Gemahlin deö Thronfolgers mit dem Herzog von Cumber land (1878) erfolgt, die zunächst die Spannung zwischen dem dänischen und dem deutschen Hofe noch zu verstärken schien und deren Anknüpfung
den Anstoß zu der deutsch-österreichischen Convention vom 11. October 1878 wegen Aufhebung des Artikels V. des Prager Friedens (der nordschleswigschen Klausel) gegeben hat.
Aber ein Besuch, den der König und die
Königin von Dänemark im Spätherbst 1879 in Wien — der Herzog von Cumberland hat bekanntlich seinen Wohnsitz in Oesterreich — abstatteten,
führte auf der Rückreise nach Berlin, und bei diesem Anlaß erfolgte eine Aussöhnung zwischen den beiden Höfen, welche in der Folge auch für die
russischen Verhältnisse bedeutsam werden sollte.
Für den Augenblick freilich
steigerte diese Wandlung nur die Entfremdung, welche den Thronfolger von den ihm am nächsten Stehenden trennte und ihn anscheinend wenig stens ganz in die Arme der Panslavisten trieb.
Erst an der Leiche des
schmachvoll hingemordeten Vaters verflüchtigte sich dieser Schein, um dem
peinigenden Gefühle darüber Raum zu geben, daß der Vater in inner-
Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunst in Danzig.
sicher Entfremdung von ihm geschieden.
417
ES ist begreiflich, daß gerade in
diesem Augenblicke die Kundgebungen deS treuesten Freundes deS BaterS,
des Kaisers Wilhelm, auf den Gramerfüllten einen tiefen, unverlöfchlichen Eindruck machten.
am Abend des 13. März richtete der junge
Noch
Kaiser ein langes Schreiben an den Großoheim, in welchem er rückhaltlos
in die Hinterlassenschaft seines BaterS, in die Freundschaft mit Deutsch
land eintrat.
Man weiß, daß das erste Rundschreiben deS Herrn v. GierS
den Entschluß deS Kaisers ankündigte, auf dem Gebiet der auswärtigen Politik Enthaltung zu üben.
Es hatte indessen den Anschein, als ob die
Rathgeber deS Zaren den Irrthum nährten,
daß die Freundschaft mit
Deutschland nicht unvereinbar sei mit einer russischen Politik, welche, indem sie die centrifugalen Elemente Oesterreichs anzog, das deutsch-österreichische
Bündniß illusorisch machte.
Unter diesen Umständen war eS eine Illusion
zu glauben, daß eS möglich sei, den Grafen Jgnatieff zu dem leitenden
Minister auf dem Gebiet der innern Politik zu machen, ohne daß dadurch
die auswärtigen Beziehungen tangirt würden.
Die Krisis, auf welche der
König von Dänemark wiederholt hingewiesen hatte, konnte nicht auSbleiben; sie trat aber erst ein, als dem Kaiser die Beweise geliefert wurden,
daß der russische Rubel an gewissen Vorgängen in Rumänien und Un garn einen großen Antheil hatte, und als dann Kaiser Wilhelm die be stimmte Mittheilung
nach Peterhof
gelangen ließ, das Bündniß mit
Oesterreich-Ungarn sei für Deutschland die Basis seiner Politik; dieselbe könne nur durch Oesterreich selbst verschoben werden, wenn dasselbe die
gemeinsamen Interessen verflüchtige und den Elementen, mit denen das
Bündniß geschlossen,
fremde Elemente unterschiebe,
die die Jnteressen-
Gemeinschaft mit Deutschland ihrer innersten Natur nach verleugnen würden.
Die Folge dieses entscheidenden Schrittes war der Entschluß deS Zaren „DaS Begrüßungstelegramm", so meldete Kaiser
zur Reise nach Danzig.
Alexander, unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Peterhof, dem Kaiser von
Oesterreich, „welches Du so freundlich warst, mir bei Gelegenheit meines
Geburtsfestes zu senden, hat mich sehr gerührt und ich danke Dir dafür
von ganzem Herzen."
Der Dank war um so bedeutungsvoller, als, wie
eine Vergleichung der Daten ergiebt, das Begrüßungstelegramm des Kai
sers von Oesterreich sechs volle Monate unbeantwortet „Ich habe mich sehr glücklich geschätzt",
geblieben war.
schloß Kaiser Alexander,
„den
Kaiser Wilhelm wiederzusehen, den verehrten Freund, mit dem uns gemeinsame Bande der innigsten Zuneigung verbinden."
Worte
enthalten
die
unbedingte
Anerkennung
schen Allianz seitens deS Kaisers Alexander.
richtete Herr von GierS
der
„Kaiser Wilhelm, so be
am 15. September dem
Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLV111. Heft 4.
Diese schlichten
deutsch-österreichi
österreichischen Sot» 30
schafter
am
russischen
Hofe,
Grafen
Kalnockh,
(in
habe
Danzig)
auch die so befriedigende Aeußerung unseres aüergnädigsten Herrn (des Kaisers von Oesterreich) in Gastein an Kaiser Alexander mitgetheilt und hinzugefügt, daß er darin mit Freude eine Bestätigung der ihm bekannten
freundlichen Gefühle Sr. k. und k. apostolischen Majestät gefunden habe." Die Begegnung
der Kaiser von Deutschland und Oesterreich in Gastein
hat schon Anfang August stattgefunden; die Zusammenkunft in Danzig
bekanntlich
erst
am 9. September.
Die Botschaft des
Kaisers
Fran;
Joseph war also nur für den Kaiser Alexander bestimmt, der in Danzig zum Besuche des Alliirten erschien.
Wie schwer dem Kaiser von Rußland
die Reise nach Danzig geworden ist, verräth die denkwürdige Wendung
deS Berichts des Grafen Kalnockh:
„Kaiser Alexander ist
mit den er
höhten Gefühlen der Beruhigung und inneren Zufriedenheit zurückgekehrt. Namentlich hat die Weisheit und nnerwartete Mäßigung der Sprache
deS Fürsten BiSmarck sowohl auf den Zaren wie auf GierS einen guten Eindruck gemacht und sie darüber beruhigt, daß er (BiSmarck) nach keiner Richtung andere als friedliche Absichten verfolge."
Man kann diese Worte
nicht lesen, ohne den Eindruck zu haben, wie der Seemann, der plötzlich
wird, daß das Schiff glücklich eine gefährliche Klippe passirt
gewahr
hat.
Die „unerwartete Mäßigung", welche Fürst Bismarck an den Tag
legte, äußerte sich darin, daß der deutsche Reichskanzler von Ignatjew,
den Panslavisten und dem Verhältniß zu Oesterreich auch nicht ein Wort sagte.
Kaiser Alexander soll sofort nach der Unterredung mit dem Fürsten
Bismarck sein freudiges Erstaunen über dieses Verhalten ausgesprochen und noch von Danzig aus die Anweisung nach Peterhof haben gelangen lassen, daß die Dankbarkeit gegen Deutschland zur unverbrüchlichen Norm
werden müsse und daß Niemand ungestraft dagegen sündigen dürfe.
„Herr
v. GierS sagt", so berichtet Graf Kalnockh, „daß die bedeutungsvollste Seite der Danziger Reise darin liege, daß der Zar dadurch vor ganz Ruß
land seinen Willen, eine conservative und friedfertige Politik zu verfolgen, in unzweideutiger Weise kund gegeben habe."
Graf Ignatjew und seine
Freunde werden sich demnach entschließen müssen, die Hand zur Durch
führung dieser Politik zu bieten oder —.
Zu der langen Reihe von
Mißerfolgen, welche die diplomatische Carriöre des Grafen Ignatjew kenn
zeichnen,
fügt diese Wendung
einen neuen und vielleicht den größten,
der auch dann nicht wett gemacht werden würde, wenn der jetzige Mi
nister des Innern nach einiger Zeit an die Spitze eines russischen Ca-
btnets nach europäischem Muster treten sollte, in dem freilich der Minister des Auswärtigen immer eine Sonderstellung
behalten würde.
Kaiser
Alexander hat mit den Consequenzen des PanslaviSmuS auf dem Gebiete
der auswärtigen Beziehungen gebrochen; warten wir aber,
ob Graf
Ignatjew der Monk des PanslaviSmuS fein will. Die Probe auf die Bedeutung der Danziger Zusammenkunft hat somit Gladstone mit dem großen Projecl der Theilung des Orients ge
welches daS letzte Ziel der im Frühjahr 1880 mit solcher Be
macht,
geisterung inscenirten Politik der vollen Durchführung der Stipulationen deS Berliner Vertrags mit chnifcher Offenheit enthüllt: das Ziel der Zer-
stönmg der Türkei.
Dieses Mal aber hat England, wie es scheint, keinen
Auf Frankreich kann der interessirte Beschützer
Bundesgenossen gefunden. eines
selbstständigen Königreichs Egypten selbstverständlich nicht rechnen.
Italien, wenn seine Stimme überhaupt ins Gewicht fällt, hat schon daS
französisch-englische Condominat als eine Verletzung seiner Interessen be klagt.
Die Antwort Oesterreichs auf das Angebot des City-Blatteö Hai
wohl am unzweideutigsten und, wie anerkannt werden muß, am schlagfertigsten
daS officiöse „Fremdenblatt" formulirt.
„Den Conjecturen der „Times"
über die zukünftige Gestaltung deS Orients fehlen, um ernst genommen zu werden, viele wichtige Voraussetzungen, während es unzweifelhaft ist,
daß Oesterreich-Ungarn
nicht die geringste Lust verspürt, daS reiche Ge
schenk, welches ihm geboten wird, anzunehmen.
Die Interessen unserer
Monarchie fordern wahrlich nicht, daß Griechenland uns einen Theil seiner
Selbstständigkeit opfert.
Oesterreich-Ungarn will weder Griechenland an-
nectiren, noch kann eS daran denken, über suzeräne Staaten zu herrschen. Sein Augenmerk muß vielmehr darauf gerichtet sein, sich das Vertrauen und die Sympathien der
selbstständigen Balkan-Staaten zu erwerben.
DaS ist auch in der That die Politik des Baron Haymerle, und daß
dieselbe
von Erfolg begleitet ist, zeigt die süßsaure Freundlichkeit der
Engländer nicht minder wie der leidenschaftliche Zorn, womit neuerdings
wieder die panslavistischen Blätter von dem wachsenden Einfluß Oester reich-Ungarns sprechen." sollte,
Daß Oesterreich, wenn es wirklich geneigt sein
auf die Londoner Ideen einzugehen,
Gefahr laufen würde, die
Wahrheit deS Sprichwortes: qui trop embrasse, mal ötreint am eigenen Leibe zu erfahren, und daß eS durch ein Bündniß mit dem welterobernden PanslaviSmuS gegen die Türkei sich
könnte, liegt auf der Hand. Berliner CongresseS
ging
leicht zwischen zwei Stühle setzen
Die ganze Tendenz der Abmachungen deS
offenkundig dahin,
die Stellung Oesterreichs
auf der Balkan-Halbinsel so zu stärken, daß der österreichische Einfluß und daS Interesse Oesterreichs eine feste Vormauer gegen panslavistische Ge lüste bilden können und in diesem Sinne hat auch das England Lord
BeaconSfield'S den Berliner Vertrag
unterzeichnet.
Daß
die russische
Presse eS vermied, bei der Erörterung der Vorschläge der „Times" auf
420
Die Probe aus die Bedeutung der Kaiserzusammenkunst in Danzig.
diese Seite der Frage einzugehcn, ist begreiflich genug; die Abweisung
der Gladstone'schen Versuchung war darum nicht weniger peremptorisch. „Soweit
es sich um den gegenwärtigen Zeitpunkt handelt, schrieb das
„Journal de St. PeterSbourg", können wir uns als einfache Zuschauer
dieser Bewerbung gegenüber stellen, welche durch das Pronunciamento
der Offiziere in Cairo hervorgerufen ist. laubt sein, dem
City-Organ zu
bemerken,
weder eine ausschließlich englische noch
Indessen dürfte eS doch er
daß der Besitz Egyptens
selbst englisch-französische Frage
ist und sein kann und daß diese Frage viel zu eng mit dem gesammten
Status quo im Orient verknüpft
ist,
als daß eine Regierung daran
denken könnte, dieser Frage aus eigener Autorität zn präjudiciren.
Die
Presse kann allerdings mit solchen Phantasien um sich werfen, dieselben
existiren aber nicht für die Regierungen.
Die Cabinette sind umso
weniger geneigt, die Verkettung der verschiedenen Probleme, aus denen sich die Situation im Orient zusammensetzt, außer Augen zu lassen, als
noch die Erfahrung der letzten Jahre ihnen die Wahrheit deS Sprich worts in'S Gedächtniß zurückruft:
discordia maximae dilabuntur“.
„Concordia res parvae crescunt, Diese russische Antwort wahrt zugleich
den Standpunkt, den Deutschland vor zwei Jahren
in der egyptischen
Frage — damals in gleicher Linie mit den französischen Interessen — eingenommen hat.
Und was
an der ersten Erklärung des Organs der
russischen Reichskanzlei noch dunkel sein konnte, klärte eine zweite in be
friedigendster Weise auf:
„Indem wir unS", sagte daS Journal, „an die
officiell bekannt gegebenen Erklärungen von Staatsmännern halten, glauben wir, daß die Aufrechterhaltung des Status quo im Orient und
des Friedens in der Welt deren wahres und alleiniges Bestreben ist, und daß, wenn bezüglich EgyptenS oder anderweit Schwierigkeiten entstehen
sollten, man dieselben durch das Einvernehmen der Mächte und nicht durch
Abenteuerlichkeiten lösen würde von der Art, wie solche neulich die „Times"
predigte."
Natürlich ließ auch die Pforte nicht auf eine Zurückweisung
der englischen Auffassung warten, als ob die Regelung der egyptischen Frage unter Umgehung des Souzeräns des Khedive erfolgen könne.
Mit
einer sonst in Constantinopel seltenen Schnelligkeit des Entschlusses ent sandte der Sultan zwei Commissare nach Egypten, deren Mission an geblich die sein sollte, dem Khedive zur Seite zu stehen.
Indirekt kommt
dieser AuSgang deö Vorspiels zu der egyptischen Frage der Politik Frank
reichs zu Gute, die begreiflicher Weise nicht geneigt ist, dem Nebenbuhler
daS Feld allein zu überlassen. Und doch ist Englands letzte Hoffnung gerade
Frankreich, nicht das Frankreich Grävy's und Barthelemy St. Hilaire'S, sondern daS Frankreich Gambetta'S, der ungeduldig den Zusammentritt
Die Probe auf die Bedeutung der Kaiserzusammenkunft in Danzig.
421
der neuen Kammer abwartet, um mit Hülfe der neuen Majorität die Zügel der Regierung in die Hand zu nehmen. Und Gambetta steht in der Orientpolittk, wenigstens insoweit eS sich um die Vernichtung der Türkei handelt, in vollem Einklänge mit Gladstone. Um so erfreulicher
ist eS, daß die Probe auf die Tragweite der Danziger Zusammenkunft gemacht worden ist, ehe die Karten zu dem gefährlichen Spiel gemischt wurden, bei dem der Friede Europa'S den Einsatz bildet. «.
Notizen. Der ehemalige italienische Minister Minghetti hat ein Buch über Staat und Kirche publicirt*), welches indirect ein interessantes Zeugniß über die Natur auch unseres deutschen „Culturkampfes" ablegt.
Werke die Trennung von Kirche und Staat.
Minghetti fordert in seinem
Nichtsdestoweniger glaubt er, daß
der Staat, auch wenn er sich sonst um alles Kirchliche so gut wie garnicht
kümmere, doch verpflichtet sein werde, von allen Geistlichen in ihrer Eigenschaft als öffentlicher Lehrer ein Examen über ihre allgemeine Bildung zu verlangen. Er verweist dabei auf das preußische von Falk eingeführte Examen. Examen dreht sich,
Um dieses
wie wir wissen, bei uns der ganze Culturkampf.
Der
Staat will sich überzeugen, daß nur Leute von genügender allgemeiner Bildung
eine so wichtige Stelle in der Volkserziehung und im Volksleben einnehmen. Die katholische Kirche will ihm, obgleich alles Kirchliche und Theologische von
jenem Examen ausgeschlossen ist, doch eine solche Controlle ihrer Anstellungen
nicht zugestehen.
Alle anderen Maßregeln auf dem kirchenpolitischen Gebiet sind
nur Consequenzen des über jene Frage entstandenen Kampfes. man den Unterschied.
Nun beachte
Die katholische Kirche hat genossen und genießt noch
heute in Preußen seitens deS StaateS sehr große Vorzüge.
Sie hat einen
großen Einfluß im öffentlichen Unterricht; ihre Einrichtungen, Festtage, Gottes häuser werden respectirt und geschützt; ihre Geistlichen haben das Ansehen öffent
licher Beamter; ihre Anstalten erhalten bedeutende materielle Unterstützungen.
Dafür verlangt der Staat als Gegenleistung unter Anderem auch das Examen. Bei Minghetti sollen alle jene moralischen und materiellen Vortheile, die der
Staat bisher der Kirche zugwendet hat, wegfallen.
Dennoch aber, aus der
bloßen Natur der Sache heraus, glaubt Minghetti dem Staat das Recht und
die Pflicht zu jenem Examen zusprechen zu können.
Wenn man fragt, wer trägt
in Preußen die Schuld an dem mit solcher Erbitterung geführten Kampf, ist es wirklich wahr, daß der Staat die Kirche angegriffen hat, so wird man dieses Zeugniß eines katholischen Ministers, eines katholischen StaateS immerhin an
führen dürfen. Was Minghettis Thesis von der Trennung von Staat und Kirche selbst
betrifft, so ist es ja wohl möglich, daß wir, wenigstens bezüglich der katholischen
*) Kürzlich auch in deutscher Uebersetzung erschienen. „Staat und Kirche". Von Mario Minghetti. Autorisirte Uebersetzung aus dem Italienischen nach der zweiten durchgesehenen Auflage. Gotha, Perthes, 1881.
423
Notizen.
Kirche, einmal dahin gelangen.
Aber man möge sich von vornherein klar machen,
daß das nicht eine Milderung, sondern eine Verschärfung der bisher gegen die
Kirche bei unS getroffenen Maßregeln bedeutet.
dieser Frage ist dasjenige der Jugenderziehung.
Das entscheidende Gebiet in Dieselbe ist bislang noch basirt
auf eine religiöse Grundanschauung, die der ganzen Erziehung zum Fundament dient.
An Stelle dessen würde die Religion in Zukunft nur ein UnterrichtS-
gegenstand sein, nicht anders wie Geographie oder Rechnen; noch dazu ein
Gegenstand, der nicht von der allgemeinen Schulpflicht getroffen, häufig nicht von dem regelmäßigen Lehrer selbst ertheilt wird.
nebenher,
Die Erziehung,
die ein organisches Ganze bilden soll, wäre dadurch in zwei Theile gerissen und
der Autorität und Stellung der katholischen Geistlichkeit in Deutschland damit die wichtigste Stütze entrissen.
D.
Verantwortlicher Redacteur:
H. v. Treitschke.
Druck und Verlag von O. Reimer in Berlin.
Karl Wilhelm Nitzsch. Bon
Richard Rosenmund.
in. In der Vorrede zu seiner Geschichte der rheinischen Pfalz (1845) kommt Häußer auf die Klage zurück, die man so oft vernehme, daß eS an einer tüchtigen Bearbeitung unserer deutschen Geschichte mangle.
Er
fügt dem hinzu, daß aber selten von den Klägern erwogen werde, welche
übergroßen Schwierigkeiten einer Verwirklichung dieses Wunsches entgegen
stehn, und indem er meint, daß die Zett einer deutschen Geschichte „in hellen und großen Umrissen, frei von störender Mannigfaltigkeit" noch
etwas in der Ferne liegen möchte, weist er auch auf den Hauptgrund für diese seine Anschauung hin, daß nämlich erst das provinzielle Leben der
deutschen Nation geschichtlich auSgebeutet werden müsse,
schichte der Nation geschrieben werden könne.
bevor die Ge
Diesen letzteren so treffenden
Gedanken wird niemand antasten, der mit der Eigenart unseres Landes, mit derjenigen seiner Bewohner und der aus beidem entspringenden Eigenart
unserer Geschichte vertraut ist.
Und selbst wer spöttelnd auf einen Scott'S
Antiquarh auf deutscher Erde herabsieht und sich von allem provinziellen
Selbstgefühl frei weiß, der dürfte doch gegen die Richtigkeit jenes Satzes nichts einzuwenden haben.
Aber Häußer hätte die Bemerkung gleich an
fügen können, daß wir erfreulicher Weife auf dem besten Wege zur Aus beutung dieser provinziellen Geschichte seien.
Ueberall in Deutschland
regte es sich für die Erforschung der Vergangenheit; Alterthums- und
Geschichtsvereine bildeten sich in reicher Zahl, die Theilnahme weiterer
Kreise an diesen Zwecken war eine lebhafte, und für die wissenschaftlichen Ziele fanden sich über Erwarten tüchtige Kräfte.
Unter den Gesellschaften
nun, die für den Zweck der Erkenntniß ihrer heimathlichen Vergangenheit
so thätig waren, war eine der regsamsten die zu Schleswig-Holstein mit
dem Mittelpunkte Kiel.
1833 war dieser Geschichtsverein als „Schleswig-
Preußisch« Jahrbücher. Bd. XLVJ1L Heft 5.
31
Karl Wilhelm Nitzsch.
426
Holstein-Lauenburgische Gesellschaft für vaterländische Geschichte" gebildet. Die politischen Zustände der Herzogthümer wiesen immer aufS neue zur historischen Erforschung der staatlichen Rechte derselben hin, in allen Be
völkerungkreisen lebte daS Interesse an der Geschichte des engeren Vater
landes, Kiel selbst, aber auch andere Orte der Lande beherbergten genug intelligente Persönlichkeiten, die den wissenschaftlichen Aufgaben historischer
Forschung gewachsen waren.
Der Boden für einen Geschichtsverein war
also durchaus in den Herzogthümern vorhanden.
In NielS Nikolaus
Falck fand der Verein einen durch feine Persönlichkeit wie seine Kennt
nisse gleich sehr für einen solchen Posten befähigten Präsidenten, seit der
Uebersiedlung von Georg Waitz nach Kiel an diesem einen ganz vorzüg
lichen Mitarbeiter; Müllenhoff, Ratgen u. a. betheiligten sich lebhaft an den Vereinspublikationen; die Mitgliederzahl wuchs und die literarische Production gedieh nach außen und innen.
Als Vereinszeitschrift erschien
daS „Archiv für StaatS- und Kirchengeschichte (1833 ff.)", das in den
„Nordalbingifchen Studien" (1844 ff.) und danach in den „Jahrbüchern für Landeskunde der Herzogthümer Schleswig-Holstein (1856 ff.) feine
Fortsetzung sand.
Daneben gingen die Urkundeneditionen her und zwar
so schnell und so umfassend, daß kaum ein anderer Verein im Verdienst um die Veröffentlichung urkundlicher Denkmäler damals diesem Verein an die Seite treten konnte.
(etwa 1847)
So kam es, daß diese Ge
sellschaft prosperirte und sogar die Unruhen der Jahre 1848—1852 über dauerte.
Riefen diese Zeitverhältnisse auch manchen aus den Rethen des
Vereins und schien er dem Sturm der politischen Verwicklungen zu erliegen,
so war gerade doch manches, was diese Zeit herbeibrachte, dazu angethan,
den Verein mit frischem Leben z»l erfüllen.
Während der Wandlungen der
Politik der Großmächte und nach denselben galt eS in den Herzogthümern nicht blos in der kriegerischen und diplomatischen Arena die Einheit der
Lande zu erhalten, nein eS mußte für diese Einheit auch bereits die Ge schichtswissenschaft eintreten.
Die Kieler Historiker mußten gegen eine als
wissenschaftlich sich geberdende Auffassung ihrer Landesgeschichte auftreten, die darin gipfelte, daß für Schleswig-Holstein keine historische staatliche
Einheit sich nachweisen taffe, daß „Schleswig-Holstein" ein neugemachter Name ohne staatliche Bedeutung sei, der in der That nur eine Partei in
Holstein und Südschleswig bezeichne.
Und wenn diese Ansicht nun nicht
allein in dänischen Schriften oder doch in denen dänischer Parteigänger, wie etwa in dem Buche des Kieler Professor Zimmermann „Ueber daS wahre Rechtsverhältniß der Herzogthümer Schleswig und Holstein" (1854)
sich ausgesprochen fand, sondern bereits von deutschen Gelehrten wieder holt wurde, wie denn Johann Friedrich Böhmer sie in der Vorrede seiner
staufischen Regesten accepttrte, und zwar nach der vorzüglichen Geschichte der Herzogthümer von Georg Waitz und trotz der daselbst in klarster
Uebersicht auf Grund streng kritischer Verarbeitung eines reichen Materials vorgeführten entgegenstehenden und vom jahrhundertlangen VolkSbewußt-
fein getragenen und gefestigten Auffassung über die alte Zusammenge
hörigkeit der Lande Schleswig und Holstein, so galt eS, sie energisch zu bekämpfen, und so mußte das dem wissenschaftlichen Eifer für Erforschung
der eigenen LandeSgeschtchte einen neuen Antrieb und dem Vereine als dem Mittelpunkt solcher Bestrebungen neues Leben zuführen.
Man darf nun von dem Historiker, dem diese Blätter gewidmet sind, entschieden behaupten, daß seine schriftstellerischen Leistungen für die Ge
schichte der Herzogthümer geradezu durch patriotischen Unwillen über jene
absichtliche Verdunklung der LandeSgeschtchte hervorgerufen sind. Zu Kiel war Nitzsch bereits 1845 Mitglied des historischen Vereins geworden.
Seine umfassenden Arbeiten aus dem Gebiet der römischen Ge
schichte schlossen eine Betheiligung an den Vereinspublikationen allerdings zunächst aus.
Aber sein Interesse an der Sache war ein lebhaftes und
1850 finden wir ihn in der Ehrenstellung eines SecretärS der Gesellschaft,
welches Amt er lange Jahre vertreten hat.
Regelmäßige Beiträge für die
Zeitschrift der Gesellschaft lieferte er dann seit 1854.
Die Aufsätze zeigen
mannigfaltigen Inhalt. Er zeigte neuere Arbeiten zur Geschichte Christians IV. und Friedrichs III. von Dänemark an, dann behandelte er eine ganz lokale Aufgabe in dem Aufsatz:
Die Hufen des Amtes Bordesholm im dreißig
jährigen Kriege.
folgten:
Dann
Das
Verhältniß
der
holsteinischen
Ethelinge deS 12. Jahrhunderts zu der Stellung des sächsischen Adels in der Lex Saxonum und im Sachsenspiegel (1856); das sächsische Heergewäte und
die holsteinisch-ditmarsische Bauernrüstung (1858);
schichte der ditmarsischen Geschlechterverfassung (1860).
die Ge
ES ist eine Reihe
liebevoller Untersuchungen zur Heimathgeschichte und zunächst ganz in den Grenzen gehalten, die in der lokalen Beschränkung gezogen waren.
Sie
erfüllen dabei, was sie als lokale Forschungen zu leisten haben, sie sind
eingehend in topographischen Schilderungen, beachten auch das Geringste an Kunstdenkmälern, Bauwerken, erklären Orts- und Geschlechtsnamen,
kurz sie erschöpfen ganz daS Detail.
Und dann sind sie erfüllt von jener
Wärme der Betrachtung und jenem Ausdruck der Freude an der Sache,
die uns an solchen Studien über die HeimathSgeschichte deS Landes, dem
der Verfasser angehört, so anmuthen, weil wir gleiche Wärme erhalten und gleiche Freude empfinden, sobald wir der eignen Heimath in unseren Studien uns zuwenden.
Aber über diesen einzelnen so lokalisirten Be
trachtungen schwebt ein Blick, der in weite Fernen zu dringen vermag,
31*
Karl Wilhelm Nitzsch.
428
und nirgends läßt Nitzsch verkennen, daß daS Besondere in den geschicht
lichen Erscheinungen seines engeren Vaterlandes, so sehr eS ihn mit sicht licher Freude als Bereicherung seines Wissens von der Heimath erfüllt, sogleich wieder im. Vergleich mit ähnlichen Erscheinungen bei
andern
Völkern und in andern Zeiten oder im Vergleich mit ganz unähnlichen Entwicklungen anderer aber in Abstammung nahe stehender und in der Zeit nahe gerückter Völker zur Förderung seiner allgemeinen Geschichts
anschauung dienen muß.
Seine Betrachtung deS holsteinischen Adels leitet
hinüber zu dem Adel jenseit der Elbe, seine Untersuchung über die Ge schlechterverfassung der Ditmarsen gar weit hinein in die antike Welt zur römischen Gentilität.
Und dieses Hinübergreifen in der Betrachtung auf weitere Gebiete
der allgemeinen Geschichte bei aller Wahrung der speciellen Aufgabe hatte nun für den weiteren Entwicklungsgang der wissenschaftlichen Interessen
unseres Historikers die wichtige Folge, daß er eingehend seine Studien der älteren deutschen Geschichte zuwandte. ES war einer seiner frühesten Aufsätze zur schleswig-holsteinschen Geschichte, den er zugleich mit dem
Bewußtsein schrieb,
damit für die allgemeine deutsche Verfassungöge-
geschichte einen werthvollen Beitrag zu liefern.
In der Kieler Monats
schrift (1854) erschien von Nitzsch nach einer Untersuchung zur römischen
Geschichte:
„Q. Fabius Piclor über die ersten Jahre deS hannibalischen
Krieges" jener Aufsatz:
„Der holsteinische Adel im 12. Jahrhundert.
Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte".
Ein
ES war hiebei gerade An
laß zur Untersuchung der patriotische Unwille gegen Entstellungen der
schleSwig-holsteinschen Geschichte gewesen, wie es bereits oben behauptet. Gegenüber jener schon erwähnten Ansicht deS Professor Zimmerman über die Nichtzusammengehörigkeit der Herzogthümer als Staatsverband legte
sich Nitzsch die Frage vor nach der bloßen Möglichkeit einer so bodenlosen
Verkennung der ganzen
geschichtlichen Vergangenheit
im
Angesicht der
reichhaltigen Untersuchungen und der Fülle historischen Materials, welche
im
verflossenen halben Jahrhundert zu Tage gefördert war.
ES er
schien als einzige Möglichkeit die, daß eben die wissenschaftliche Grund
lage der staatlichen Entwicklung der Herzogthümer im 15. und 16. Jahr hundert verkannt war.
Aber die Stellung dieses Adels, der sich noch im
18. Jahrhundert als Vertretung
eines Landes einer Landesherrschaft
gegenüber fühlte, zu verkennen war doch ein absichtliches Jgnoriren dessen,
was die historische Ueberlieferung an Nachrichten brachte.
Zweifelhaft,
weil darin die Quellen lückenhaft, konnte manch einzelne Strecke in der
Politik dieses Adels erscheinen; von dem Verkehr der großen Familien .unter sich berichteten die Geschichtschreiber wenig.
Auch wie der Adel
zu dieser leitenden Stellung innerhalb der Herzogthümer emporgekommen, war nicht ganz klar; und so war eS also gegenüber jenen falschen Auf
fassungen von der Geschichte der Herzogthümer nur nöthig auf die staats
rechtliche Stellung des eingesessenen Adels in den früheren Jahrhunderten hinzuweisen, um damit die ganze Unhaltbarkeit jener Meinung nachzu-
wetsen, für die Anfänge dieses Adels aber war manches geschichtlich noch aufzuhellen.
Im Verlauf der hiezu angestellten Untersuchung ergaben sich nun als eigenthümliche Resultate die, daß der holsteinische Adel in der ersten Hälfte deS
12. Jahrhunderts noch aus freien Bauern bestand, die zur Vertheidigung der Landesgrenze verpflichtet waren; daß dieser Bauern- und Grenzadel Theil
nahme an Landesgericht hatte, daß eine erbliche LandeSältestenwürde vor handen und daß von einer mächtigen Grafengewalt keine Spur nachweisbar.
Und diese Resultate waren zugleich überraschend, wenn man die Zustände jenseit der Elbe damit verglich, die mächtige Grafengewalt dort, die em
Nitzsch warf nun die Frage auf: ist dieser
porstrebenden Ministerialen.
Zustand, der in den Gauen Holstein und Ditmarsen sich fand, so ent
standen in der Zeit der Verlassenheit, im Drange der Verhältniffe, oder sind diese Institute Reste einer älteren Verfaflung, die einst vor den Tagen
der Zerrüttung der sächsischen Verhältnisse dem ganzen sächsischen Stamm gemeinsam waren?
Damit aber war er tief hineingerathen in die dun
keln und verschlungenen Pfade unserer deutschen Verfassungsgeschichte im 10. und 11. Jahrhundert.
Und als er den Nachweis lieferte, daß diese
in Ditmarsen und Holstein vorhandenen Zustände ursächsisch seien und
ursprünglich allen Sachsen gemeinsam, da hatte er allerdings einen hoch wichtigen Beitrag zu der allgemeinen deutschen VerfassungSgeschtchte ge liefert, der uns so manche Nachricht deS Lambert und Bruno, aber ebenso noch manche Angabe späterer Chronisten erhellte und auf die Sonder
stellung der sächsischen Stammesgeschichte sein Licht warf.
Und wie er
dann nun verfolgte, weshalb südlich der Elbe die BerfassungSzustände so ganz andere geworden, stand er mitten in dem schwierigsten Problem der nachkarolingischen Verfassung.
Die Umbildung der alten ständischen Verhältnisse zu erforschen darf eben unzweifelhaft als eine solche Aufgabe bezeichnet werden sowohl was
die Dinge, um die eS sich handelt, anbetrifft, als auch in Hinsicht auf die
Art des Quellenmatertals.
Zugleich ist eS eines der wichtigsten Kapitel
unserer politischen Geschichte; wer eine deutliche und lebendige Vorstel lung über diese Ständeumbildung in uns zu erwecken wüßte, der würde
im besten Sinne unS über die politische Geschichte des 10. und 11. Jahr hunderts belehren.
In dem Gange der historischen Literatur über die
Karl Wilhelm Nitzsch.
430
VerfafsungSgeschichte lag eS sodann, daß Nitzsch diesen UmbildungSproceß
unseres Volkes unter dem GesichtSpunktte der Frage nach Entstehung deS deutschen BürgerthumS verfolgte.
In demselben Jahre 1854 nämlich veröffentlichte Arnold seine BerfassungSgeschtchte der deutschen Freistädte im Anschluß an die Verfassungs geschichte der Stadt WormS; K. Hegel schrieb anknüpfend an diese Schrift
und recensirend einen Aufsatz:
Zur Geschichte der deutschen Städtever
Letzterer Aufsatz erschien in derselben Kieler Monatsschrift (1854),
fassung.
in welcher Nitzsch seinen Aufsatz über den holsteinischen Adel veröffentlicht
hatte.
Die Ansichten Arnolds wichen vollständig von dem ab, was seit
Eichhorn im Allgemeinen, bis auf die bereits allseitig verworfene An nahme von den Ueberresten einer römischen Municipalverfassung, über den Ursprung der deutschen Städte, die Entwicklung des BürgerthumS daselbst und die Entstehung
schauung
galt.
Hegel hielt
des
Sradtraths als wissenschaftliche An
jenen Resultaten Arnolds
gegenüber an
den wesentlichen Sätzen Eichhorns über den Charakter des StadtrechteS
und über das Emporkommen eines Rathes fest.
Seine Geschichte der
italienischen Städteverfassung hatte ihm einen wohlverdienten Ruf erworben, der Anhang seines Buches, in dem er bereits seine Ansichten über die
deutsche Städteverfassung aussprach, hatte ihn als Kenner auch des für diese Frage nach dem Ursprung der deutschen Städteverfassung einschlä gigen Materials gezeigt, der Aufsatz gegen Arnold bewies die Vertraut
heit mit der Sache von neuem, die ganze Art des Angriffs war siegesgewiß, kein Wunder, daß Hegels negative Kritik Anerkennung fand.
Auch
enthält der Aufsatz mancherlei, was ihm einen Werth bis heute verleiht.
Ich rechne dahin die geschickte Gruppirung der Fragen unter vier Haupt punkte, nach denen wir immer werden an diese Städtegeschichten heran treten müssen, die eingehende Besprechung einer Reihe Urkunden, die Er läuterungen zu Burchards Stadtrecht und Friedrichs II. Gesetzgebung. Auch war es doch eben nicht leicht, sogleich im Detail etwaige Irr
thümer Hegels zu erkennen.
Aber Hegel fügte seinen Ausführungen einige
allgemeiner gehaltene Bemerkungen hinzu, und unter diesen war manche, die doch in wetteren Kreisen der Historiker Anstoß erregen mußte; eS
waren eben Behauptungen, die Dinge betrafen, über die sich sicherlich viele
ein Urtheil gebildet hatten und gebildet haben konnten, ohne daß sie Spe cialkenner der Städtegeschichte zu sein brauchten.
So führte Hegel aus,
wie bescheiden die Stellung der deutschen Städte für die allgemeine Welt geschichte sei, wenn man damit die italienische Städtegeschichte vergleiche. Und darum, so schloß er weiter, verdiene auch die Frage nach den ita
lienischen Städteverfassungen
in einem besondern Werke als Thema für
sich behandelt zu werden, nicht aber lasse sich eine gleiche Nothwendigkeit selbständiger Behandlung für diese Entwicklung der deutschen Städte nach
weisen, eS genüge da, wenn in einer deutschen Verfassungsgeschichte unter
den
vielen anderen Kapiteln so nebenbei auch das von den deutschen
Städteverfassungen geschrieben werde. Man kann diese Auffassung von der geringen Bedeutung der deuffchen
Städte für die politische Geschichte begreifen, wenn man erwägt, daß der,
welcher so schrieb, seiner Herkunft nach ein Schwabe, seinem Geburtsort nach ein Matnftanke war.
Und sicher schwebte Hegel, als er dieses schrieb,
das Bild seiner Vaterstadt Nürnberg vor.
Die ehrwürdigen Ueberreste
des geschichtlichen Lebens, die hier den Beschauer empfangen, führen den Gedankengang unwillkürlich auf die Zeiten zurück, in denen dieser Ort ein
Centrum des europäischen Binnenhandels geworden und zugleich als wie derholter Sitz der Reichstage, bei vielfachem Verkehr des Kaisers und der Fürsten in seinen Mauern,
gleichsam zu der Ehre einer Retchsresidenz,
die mit Wien und Brüssel in die Schranken trat, Der
alte Theil des Rathhauses,
emporgestiegen
war.
die Kirchen und die Erdgeschosse der
alten Häuser erzählen allerdings von einer Blüthe der Stadt im 14. Jahr
hundert, aber jenes durch seinen Handel reiche, durch seinen Verkehr weit schauende, im Glanz des Hofes wie der Reichstage lebensfrohe, kunstsinnige
Bürgerthum, das
den Talenten eines Adam Krafft, eines Veit Stoß,
eines Peter Vischer Gelegenheit zur Entfaltung bot, jene geistig beweg
liche, witzige, phantasievolle Bevölkerung, die allein die Entwicklung eines
Talentes
wie das Albrecht Dürers möglich machte,
wunderlicher Mischung
jene Menschen voll
ehrbarer Zucht und Ueppigkeit, voll Freude an
NarrenSpossem und voll Andacht für lutherische Predigten, voll Empfäng
lichkeit für Witz wie voll nachhaltigen Interesses gegenüber der gelehrten Richtung deS Humanismus, unter denen sich die Eigenart eines Hans Sachs herausbildete, kurz die Repräsentanten der Größe und Blüthe
Nürnbergs und diese Größe und Blüthe selbst, wir suchen sie am Ausgang deS 15. und im Verlauf des 16. Jahrhunderts, und da sehen wir die reiche
Entfaltung bürgerlichen Lebens
allerdings ohne politische Machtstellung.
Aber anders als dies Bild der süddeutschen Binnenstadt, die zugleich die Eigenart dieser Städte überhaupt repräsentirt, ist daS Bild der norddeutschen
Seestädte,
und anders urtheilt darum der deutsche Küstenbewohner über
die geschichtliche Bedeutung dieser Städte.
auf das
13. und 14. Jahrhundert zurück.
Er geht da in der Erinnerung
Es sind die Zeiten großer
kriegerischer Unternehmungen gegen die nordischen Reiche, eö sind Zeiten, wo diese Städte im Auslande ihre Bürger zu schützen wissen, wo sie dem
Auslande Gesetze geben, und wo sie mehr noch als durch die Waffen des
Krieges durch die deS Friedens erringen, durch Colonisation sich in den
Osten hineinschie-en und
Bürger,
zugleich durch die überlegene Tüchtigkeit ihrer
die in Skandinavien und Polen Handel und Gewerbe leiten,
jene Uebermacht in diesen Reichen erringen, daß sie daselbst die Entwick lung eines eignen BürgerthumS für lange Zeit hemmen oder ganz ver
hindern.
Und bei diesem Bilde ist es unmöglich, die große geschichtliche
Leistung dieser Städte und der deutschen Städte überhaupt zu negiren. Nitzsch war nun durch und durch Norddeutscher.
Er war sogar, was die
Geschichte der Stadt betraf, die wohl am meisten in ihrer Vergangenheit das Eigenartige dieser nordischen Städteentwicklung offenbart, und die zu
gleich am vollständigsten die stummen Zeugen dieser Vergangenheit in ihren Bauwerken und Kunstdenkmälern bis auf den heutigen Tag bewahrt hat,
durchaus ein competenter Kenner.
Lübecks Chroniken erzählten am meisten
von Holsteins Vergangenheit, eine große Zahl auf Holsteins Geschichte be
züglicher Urkunden beherbergte das Archiv Lübecks, Helmolds und Arnolds Chroniken berichteten von dieser Stadt,
ihre Kämpfe mit Dänemark
waren stets folgenreich für Schleswig-Holstein,
es war natürlich,
daß
der Erforscher der eignen Heimatgeschichte, der Kenner des Helmold, recht vertraut geworden war mit dieser Stadtgeschichte.
Ebenso natürlich war
aber auch, daß er mit Hegels oben dargelegter und als so allgemeingültig hingestellter Anschauung sich in Widerspruch befand.
Und wenn er nun
als die allerdings nicht ganz deutlich gegebene Begründung dieses Ur
theils fand, daß die geringe geschichtliche Stellung der deutschen Städte
in der Abgeschlossenheit des Bürgerthums gegen Fürsten und Adel zu
suchen sei, wohingegen die italienischen Communen Fürsten, hohen Adel und Ritter in ihren Kreis hineinzogen, wenn er sah, wie damit gleichsam
einem rein bürgerlichen Gemeinwesen die Fähigkeit großer politischer Lei stungen abgesprochen wurde, so widersprach auch dies seiner ganzen wissen
schaftlichen Ueberzeugung, und zwar am meisten in dieser Verallgemeine rung, die nicht blos das negirte, was Nitzsch unmittelbar in der Geschichte
Lübecks von den politischen Thaten eines einfachen BürgerthumS vor sich sah, sondern was ihm an der Hand der römischen Geschichte zur Maxime
über die schöpferische Kraft eines
einfachen
Gemeinwesens
geworden.
Verschieden allerdings war das römische Bürgerthum von dem der Stadt Lübeck, verschieden die Welt,
in die eS hineintrat, verschieden die wirth-
schaftliche Thätigkeit, verschieden der kriegerische Dienst, verschieden die po
litischen Ziele, verschieden die Art, an die Dinge heranzutreten; aber ge meinsam war, daß beide, das römische und das Bürgerthum der nord deutschen Seestädte, aus sich heraus die Pläne ihrer Politik, die Maß
nahmen ihrer kriegerischen Organisation, die Ordnung ihrer inneren Ver-
hältnisse schufen. So lebhaft wie Nitzsch diese Ueberzeugung hatte, so lebhaft
empfand er darum den Widerspruch gegen die andre Art der Betrachtung
diese- Theiles der deutschen Geschichte. — Nun liegt es aber in dem Wahrheitötrieb wirklicher Forschernaturen, da wo sie sich mit ihrer wissenschaft lichen Ueberzeugung in Confltkt mit einer anderen ebenfalls streng wissen
schaftlich vorgetragenen Anschauung wissen, der Sache näher zu treten, um über den Conflict zur definitiven Erkenntniß zu kommen, und so bekomm,
wie bereits oben gesagt, die Studien von Nitzsch zur deutschen Verfassungs geschichte jene Richtung auf die deutsche Städtegeschichte.
Ein genaueres
Betrachten des Buches von Arnold und des Aufsatzes von Hegel zeigten,
daß eine wesentliche Lücke nach der Seite noch war, die die Frage be trachtete, welche Stände im deutschen Bürgerthum verschmolzen seien; und die Studien über die Ethelinge Sachsens, die Ministerialen Süddeutschlands,
jene unklaren Ausdrücke Lamberts
über die Bevölkerung, die in Köln
gegen den Bischof rebellirt, alles dieses wirkte zusammen, um dann jene
Studien zur deutschen Städtegeschichte speciell auf die Frage nach Ursprung
des deutschen BürgerthumS hinzulenken.
Das Material, welches für eine
solche Untersuchung vorhanden, war nun ziemlich vollkommen publicirt. Be
merkenswerth aber mußte dem, der an eine solche Arbeit ging, erscheinen, wie gering bei den Geschichtschreibern unseres Volkes im 10., 11. und 12. Jahr
hundert die Nachrichten waren, die sich für eine solche Betrachtung ver wenden ließen.
Er sah sich angewiesen auf königliche und private Ur
kunden, auf Stadtrechte, die aber erst mit dem 11. Jahrhundert auftreten,
und auf noch viel spätere Weisthümer andrer Art.
Zum großen Theil
waren alle diese Quellen in den Werken von Eichhorn, Gaupp, Fürth,
Roth u. s. w. herangezogen, und neuerdings hatten eben Hegel und Ar
nold auf ihnen ihre divergirenden Meinungen aufgebaut.
Dabei trat zu
Tage, daß eben bei diesem Stand der Quellen je nach der Art der Be
trachtung verschiedene Behauptungen zu Tage treten, hie und da bei Heranziehn einer neuen Quelle Berichtigungen eintreten konnten, ohne daß
die neue Anschauung darum mehr bewiesen wäre.
Ferner aber ergab sich
bei Bekanntschaft mit dem Material und mit den auf diesen fußenden Ansichten, daß der Sprachgebrauch der Quellen in den Bezeichnungen von
Beamten- und Ständeklassen, von Rechts- und Abhängigkeitsverhältnissen
in sich und untereinander ein so schwankender sei, daß ein einfaches Sam meln von Nachrichten, die sich an dieselbe Bezeichnung wie etwa Burg
graf knüpften, zu nichts führe, weder zur Erhellung einer dunkeln Stelle, noch zur Veranschaulichung
der Sache selbst.
Es
galt deshalb für die
Kritik erst die Methode zu finden. Das Operiren mit der Analogie nun war
Nitzsch geläufig, und Hegel hatte noch ausdrücklich darauf hingewiesen, wie
sich durch Erkenntniß solch normaler Entwicklungen wie der flandrischen Städteverhältnisse das Mittel biete, dunkle Fragen der deutschen Städte
verfassungen zu erhellen, und er hatte sich mit Leichtigkeit über alle Schwie rigkeiten des ältesten Kölner WeiSthums durch Anwenden dieser Analogie
hinweggeholfen.
Nitzsch hatte aber bereits die feste Methode, Analogien
erst da Heranzuziehn, wo die analogen Verhältnisse sonst bewiesen, und
indem
er nun die bauliche Anlage flandrischer Städte mit derjenigen
deutscher Städte verglich, fand er gerade in dem Burg- und Städtebau hier und dort so große Verschiedenheiten, daß
er glaubte die Ana
logie der flandrischen Städte für Fragen der deutschen Städte-Verhält« nisse zurückweisen zu müssen. schränkt.
So blieb er auf die Quellen allein be
Verfolgte er nun, wie diese benutzt waren, so fand er, daß man
für Aufklärung der Verhältnisse des 10. und 11. Jahrhunderts zusammen zustellen beliebte, was sich aus Nachrichten der Karolingerzeit mit solchen
des 11. Jahrhunderts combiniren ließ.
Es war somit dieselbe Methode,
die Nitzsch, freilich auf anderm Gebiet und anderm Quellenmaterial, an
den modernen Forschungen zur römischen Geschichte bekämpft hatte, wo er, wie oben ausgeführt (Seite 341), zur Erklärung der Institute der mittleren Republik die dürftigen Nachrichten, die über diese selbst gleichzeitig vor
handen, betrachtet wissen wollte und nicht blos das gelten lassen wollte, waS sich zwischen den Nachrichten früherer und späterer Geschichtschreiber einschieben ließ.
Daß diese Methode auch hier bei den Forschungen zur
deutschen Städtegeschichte nicht zulässig sei, darüber war ihm namentlich nach
Einsicht in den sprachlichen Charakter seines Materials ebenfalls kein Zweifel,
und so wurde denn seine Methode wesentlich die, daß er unter Ausscheidung der Analogie außerdeutscher Städteverhältnisse und jener Combination verschtedner zeitlich bedeutend getrennter Nachrichten zu einer These, wenn diese Nachrichten auch nur in einem technischen Ausdrucke übereinstimmen, sich
zweierlei zll lösen bemühte, einmal festzustellen, was in jedem einzelnen Falle die zur Bezeichnung bestimmter Beamten, Ständeklassen, Rechtsverhält
nisse u. s. w. angewendeten Ausdrücke wie Burggraf, Schöffen, Ministerialen bedeute, dann aber was etwa trotz verschiedner Bedeutung in den charakteristi schen Merkmalen der Sache gemeinsam sei.
es möglich zu sichern Resultaten zu kommen.
der Methode
Erst bei dieser Methode schien Aber um diese zwei Punkte
erfüllen zu können, waren Hülfsmittel der Betrachtung
nöthig, und solche glaubte er darin zu finden, wenn er stets lebendig sich vergegenwärtige, unter welchen Wandlungen der politischen Zustände der deutschen Lande sich diese Ausbildung des Bürgerthums vollzogen, zugleich
aber auch, welches die natürlichen Verhältnisse waren, auö denen eine
solche städtische Gemeinde sich entwickeln konnte.
An der Hand dieser Methode ging er an die Aufgabe, die ihm vor lag.
Und als Resultat dieser umfassenden Betrachtung unserer politischen
Geschichte vom 10. bis 13. Jahrhundert und unserer deutschen wirth-
schaftlichen Verhältnisse in demselben Zeitraum,
als Ergebniß seiner
Methode, daS Urkundenmatertal, die Quellenschriften und WeiSthümer für unsere Städtegeschichte zu durchforschen,
beachtenSwertheS Buch:
liegt uns nun vor sein so
Ministerialität und Bürgerthum
im 11. und
12. Jahrhundert (1859). Die Vorgeschichte dieses BucheS ist gleichsam auch seine Kritik, nur
wer diese Vorgeschichte kennt,
eigentlich krttisiren, und die beiden
kann
wichtigsten Recensionen dieses Buches, die von Hegel und Waitz, sind für
diese Behauptung die denkbar klarsten Beweise.
Aber ich muß doch auch
von der Stellung der Kritik zu diesem Buche ausführlicher sprechen. Denn
die Geschichte dieser Kritik ist ein wichtiges Kapitel zur Kenntniß der
wissenschaftlichen Würdigung unseres Historikers.
Das Werk von Nitzsch
ist nun durchaus Forschung, nirgend Darstellung, und diese Forschung ist
entsprechend dem Charakter des Materials und demjenigen der Aufgabe, die zu lösen war, wie auch aus Gründen der mit Bewußtsein angewandten
Methode, von der bereits vorhin gesprochen ist, eine in unendlich viele Einzelbetrachtungen zerstückelte; dabei ist der daS Ganze zusammenhaltende
Faden deS Gedankenganges ein so gewundner, daß eine Wiedergabe dieser
Betrachtungen in Form einer Inhaltsangabe ganz ausgeschlossen ist.
ES
genügt auch für daS Verständniß der weiteren Betrachtungen, die wir an diese» hervorragende Werk zu knüpfen haben, wenn einige der Hauptmo
mente deS Ergebnisses fixirt werden. Die
älteren
Städte
unseres Vaterlandes,
so
behauptet
Nitzsch,
haben sich aus der Btllenverwaltung des fränkischen Reiches entwickelt. Auf einer solchen Villa entstand eine Hofgemeinde unter einem könig
liche» Burggrafen,
einem
Stift-
oder Klostervogt.
Bisweilen lagen
mehrere solcher Hofgemeinden unmittelbar zusammen, und in den Bischofstädten war eS immer der Fall.
Neben der um die bischöfliche Pfalz sich
entwickelnden Hofgemeinde bildete sich eine solche um die königliche Pfalz,
daneben wohl auch noch eine solche auf klösterlichem Territorium.
Die
Einwohner der so gebildeten Stadtgemeinde sind als Hörige oder in nie derer Dienstbarkeit von ihren Herren abhängig, letztere dienstbaren Ein-
wohuer bilden mit denen, die zum unmittelbaren HauS- und Hofdtenst der Herren gehören, die große Klasse der Ministerialen.
Hoftecht, dem
Das verschiedene
die Einwohner dieser so geschiedenen aber räumlich zu
sammenhängenden und sich durchdringenden Gemeinden unterstellt sind, führt zu sehr verwickelten Zuständen, und eS liegt in der Natur der Sache,
daß hier in den Bischofstädten der Bischof darnach trachtet, den Vorstehern der andern Hofgemeinden gegenüber eine höhere autoritative Stellung zu
erlangen.
Das gelingt und allmälig wird der Bischof Stadtherr, ob er
nun die volle Grafengewalt oder eine beschränkte erlangt habe. Inzwischen aber wächst die Stadt, aus der Umgebung ziehen ihr Leute zu, sei es,
daß sie sich mit ihrem Eigen dem Stadtherren übergeben, dessen Schutz sie für einen Zins und für Verzichtleistung auf die Vollfreiheit erhalten, oder sei es, daß sie für die Zwecke des Handels die Ansiedlung ebenfalls gegen eine Abgabe flichen.
Es wird dann für den steigenden Verkehr und
namentlich für die Bedürfnisse eines Großhandels der alte Markt in der
alten Stadtumfriedung, obgleich die Mauer um die Burg nicht bloß zu Zwecken der Vertheidigung aufgeführt war, zu eng, und so entsteht neben
der Altstadt die Vorstadt, die Neustadt.
Ursprünglich gehen die Einwohner
dieser Nellstadt bei dem öffentlichen Beamten des Reiches zu Gericht, dann
stellen sich aber bei den Beziehungen zur Allstadt wieder Unzuträglichkeiten heraus, der Stadtherr sucht sich auch hier zum obersten Herren zu machen
und eS gelingt, auch die Neustadt kommt unter die bischöfliche Gerichts barkeit.
Zur Verwaltung dieses so aus Altstadt und Neustadt gebildeten
Gemeinwesens ist mit dem Bischof ein auS Geistlichen und Ministerialen
bestehender großer Rath thätig, nicht eigentlich eine organisirte und in ihrem Competenzkreis geordnete Behörde, sondern gleich den RathSversammlungen des Königs eine losere Vereinigung hervorragender Personen
zu gemeinsamem Handeln.
Nun macht aber indeß die Ministerialität eine
Entwicklung durch, die zur vollen Trennung jener im unmittelbaren HauS-
und Hofdienst und der im eigentlich städtischen Dienste verwendeten Ele mente führte.
Jene als Begleiter ihrer Herren zu Hof- und Heerfahrten
mußten für die Möglichkeit solcher Dienstleistnngen mit Beneficien auSgestattet werden, ihre wesentlich kriegerische Thätigkeit in ritterlichen Waffen
verschaffte ihnen auch ritterliche Ehre.
auch
außerhalb der Stadt,
Ihre Interessen lagen aber nun
mindestens
gingen sie über diese hinaus.
Anders war es mit den Ministerialen, die als Gewerbetreibende, als Vor steher der Handwerker, als Münzmeister,
als Aufseher der hofrechtlichen
Leistungen der Hörigen, als Erheber deS Zinses und der Abgaben, als Zolleinnehmer u. f. w. in dem Rahmen des städtischen Haushaltes und
Verkehres ihre Beschäftigung und auch ihre Interessensphäre hatten, sie blieben, was sie waren, eine niedere städtische Ministerialität der „Offi-
cialeS"
schlechthin im Gegensatz zu
„Officiales Curiae".
jener höheren Ministerialität der
Aber blieb nun die ständische Stellung dieser niederen
Dienstmannschaft unverändert, so wuchs ihr Selbstgefühl doch, sie erkannten ihre Leistungen für den Stadthaushalt und für den Stadtherren und bei
dem steigenden Ertrag ihrer Verwaltung ihre Bedeutung für den bischöf
lichen Hofhalt und zugleich, wie die Reichsverfassung einmal war, und
wie sie sich in der Politik der Salier und der Staufer fühlbar machte, auch diejenige ihrer Thätigkeit für die Reichslasten, und in dem Moment,
wo diese städtischen Ministerialen die Erkenntniß ihrer Stellung und die jenige ihrer Interessen gegenüber den von den Stadtherren und seinen
ritterlichen Ministerialen beliebten Plänen erfaßt, beginnen sie sich von dem Herrn und seinen OfficialeS Curiae zu trennen, setzen daS Ausscheiden
eine- engeren kleinen Rathes zur Handhabung und Leitung der städtischen
Angelegenheiten auS dem städtischen großen Rathe durch und bilden hierin jenen Stadtrath,
den wir überall in deutschen Städten im 12. und
13. Jahrhundert finden.
Dieser Stadtrath
ergänzt sich selbständig und
nur auS den „OfficialeS", die Mitglieder der höheren Ministerialttät sind
allenfalls in verschwindender Minorität zugelassen und diese zum Rath be rechtigten Geschlechter der „OfficialeS" sind der Ursprung der bevorzugten
Rathsgeschlechter der Patrizier. So ist daher der Ursprung dieser Geschlechter
in der Dienstbarkeit und derjenige der deutschen Städteverfassung über haupt im Hofrecht zu suchen.
liegenden Untersuchung
Hält man von diesen Ergebnissen der vor
nun das fest,
Städten, Ursprung, Entwicklung,
daß nach Nitzsch
alles in den
Ausbildung der Verfassung aus dem
Hofrecht unmittelbar hervorgegangen, so ist der Gegensatz evident, in den seine Resultate mit aller bisherigen Ansicht über den Ursprung des deut schen BürgerthumS und der Städteverfassungen traten.
Die Borsteher
schaften der Reste einer freien Gemeinde, wie sie Eichhorn in den gegen
den Stadtherren sich
erhebenden
bürgerlichen
Elementen
glaubte, finden in der Auffassung von Nitzsch keinen Platz,
zu
erkennen
ebensowenig
wie jene steten Grundeigenthümer, die nach Arnolds Ansicht unter einem die Befugnisse der alten öffentlichen Beamten fortsetzenden bischöflichen
Vogt fortexistirten; denn nirgends
ist nach Nitzsch von den Ueberresten
einer vollfreien Gemeinde eine Spur zu finden.
Und es war nicht dieser Umsturz der bisherigen Anschauungen von den Ueberresten einer vollfreien Bevölkerung in den Städten, was so sehr
Aufsehn erregte, als vielmehr das Ergebniß, welches hier über die Ge schichte des Ministerialenstandes geboten wurde, und wie die Betheiligung
dieses Standes an der Entwicklung der Städte- von den einfachsten Ver
hältnissen einer Domänenverwaltung bis zur Ausbildung eines selbstän digen BürgerthumS vorgeführt wurde.
Nun ist und war die Ministerialenfrage eine überaus verwickelte. Wenn der Verfasser deS Sachsenspiegels es ablehnt, von dem Recht der Dienstleute zu handeln, da eS so mannigfaltig sei, daß niemand zu Ende
kommen könne, denn unter jedem Bischof,
Abt und Aebttssin hätten die
Dienstleute sonderliches Recht, so wird uns die Schwierigkeit über die
Entwicklung dieses Standes Licht zu erhalten und gar zusammenfassend das Gemeinsame und Charakteristische in seiner Umbildung erkennen zu
wollen, deutlich vorgeführt, soweit es die Verhältnisse selbst betrifft. Aber die Ueberlieferung über diese Verhältnisse leistet durch das Schwanken der
Ausdrücke zur Bezeichnung der rechtlichen, persönlichen, ständischen Ver hältnisse der Ministerialen ein weiteres, um die Sache verwickelt und fast unlösbar zu machen.
Und damit war begründet, daß, wenn das vorlie
gende Werk lebhaft die Kritik durch seine Gesammtergebnisse herausfor
derte,
diese
Kritik sicherlich Anhaltepunkte zu Angriffen
im Einzelnen
finden mußte. Die Kritik trat nun ein, lebhafter als es der Verfasser vielleicht ge dacht, polemischer alS eS für die Sache gut war, ablehnender als das
Werk eS verdiente, und leider einseitiger als es das Interesse der Wissen
schaft erforderte.
ES ist nun wohl klar, aber es mag erlaubt sein, diesem
Gedanken Ausdruck zu geben, der
fast als Gemeinplatz zu erscheinen
fürchten muß, daß unzweifelhaft die Kritik einem Werke wie dem vorlie genden gegenüber zweierlei zu erfüllen hatte, die Beurtheilung aus dem
Material und dann die aus der Methode heraus, die der Verfasser an gewandt hatte.
Das Eine bringt Berichtigungen im Einzelresultat, daS
Andre mehr Beurtheilung in den Gesammtergebnissen, und beides zusammen
berechtigt erst eine definitive Stellungnahme.
Und eS hat den Anschein,
daß die Kritik im vorliegenden Fall auch beide Seiten deS Buches beachtet habe.
Waitz
brachte Berichtigungen im Einzelnen an der Hand eines
reicheren Materials, und
zugleich äußerte er sich anerkennend über die
Methode des Verfassers.
Hegel widersprach an der Hand deS Materials
in einzelnen Hauptpunkten,
dann aber verwarf er daS ganze Gefammt-
ergebniß, weil er ausdrücklich die Methode als verfehlte verwerfen müsse.
Nun liegt auf der Hand, daß Waitz dem Verfasser auf daS Gebiet von dessen Methode nicht folgen wollte, weil seine innerlich geschlossne Ansicht
über die Ziele und letzten Grenzen kritischer Forschung ihn hinderte, über
diese Grenzen hinaus mit einer andern Methode zu operiren.
Er ver
warf nicht die Methode an und für sich, er hatte vielmehr deutliche Ein
sicht davon, waS damit fein jüngerer ehemaliger Kieler Kollege für die
römische und holsteinische Geschichte fruchtbares geleistet. bleibt bestehn,
Aber daS Faktum
über eine höfliche Anerkennung der Eigenart von Nitzsch
ging der große Kenner unserer deutschen Verfassungsgeschichte nicht heraus.
In Hegels Recension dagegen erkennt man deutlich, daß er auf die Me thode von Nitzsch überhaupt nicht einging, weil die letzten oder ersten Ge-
danken derselben, jene innere Kritik an den Dingen selbst, jene lebendige
Intuition von den Einflüssen geographischer Verhältnisse auf wirthschaft-
liche Entwicklungen und jene positive Anschauung von der Abhängigkeit poli tischer Institute gerade von wirthschaftlichen Prozessen, sich seiner Einsicht entzogen.
Man darf daher wohl die Kritik, die daS Buch über Mtniste-
rialität und Bürgerthum erfuhr, eine einseitige nennen.
Und daS ist zu
bedauern, denn in den Augen der jüngeren Fachgenossen erschien sie zu
gleich völlig ablehnend. der Methode von Nitzsch
nehme
und in
Jene reservirte Stellung von Waitz gegenüber mußte den Jüngeren eben nur als eine vor
Weise
verbindlichster
gehaltene
Ablehnung
erscheinen.
Und deutete schon Hegel mit keinem Worte an, daß er von der wissen schaftlichen Eigenart von Nitzsch mehr wisse, als was sich in diesem Buche selbst offenbarte, so lag eS den jüngeren Mitgliedern der Göttinger histo rischen Schule erst recht fern, sich an andern Arbeiten von Nitzsch auf dem
Gebiet der alten Geschichte daS Mittel des VerstLndniffeS und den Maß stab der kritischen Beurtheilung
für dieses Werk zur deutschen Geschichte
zu holen.
Denn eS liegt doch eben in der Eigenart,
um
großen Meister der Wissenschaft, der eine streng durchdachte
einen
Methode auf einem bestimmten
wie sich allmälig
Gebiet dieser seiner Wissenschaft nach
einem festen und klar präcisirten Ziel hin zur Anwendung bringt, eine Schule bildet, daß die Schüler das Specialgebiet für die Wissenschaft
selbst, das mit weiser Einsicht im gegenwärtigen Moment fixirte Ziel als
das für alle Zeiten allerletzte Ziel der Forschung hinstellen, und die Me
thode, die der Lehrer für seine Zwecke ausgebildet, als diejenige betrachten, die für alle Zwecke überhaupt anzuwenden sei.
Und je schwierigere An
forderungen diese Richtung des Lehrers an die Arbeitskraft, den Scharf sinn, den Fleiß der Schüler stellt, je mehr sie den ganzen wissenschaftlichen
Eifer der Studienzeit absorbirt, je überraschender im Hinblick auf das vorgesteckte Ziel die gewonnenen Resultate sind, je genialer Meister und
Schüler eben ihre Methode handhaben, desto mehr wird sich eben jene Ein
seitigkeit der Schule entwickeln.
Und zwar wird die Schule nicht einseitig,
wie man so allgemein hin sagt, weil das Wissen des Lehrers einseitig wäre, auch nicht einseitig in dem Sinne, daß nur eine Methode für die
Forschung angewendet wird, denn eS giebt für die bestimmten Ziele, die sich eine Schule steckt, nur eine Methode, sondern einseitig darin, daß die Anhänger der Schule die letzten Ziele ihrer Arbeiten auf einem enger
begrenzten Gebiet als die letzten Aufgaben ihrer Wissenschaft überhaupt ansahen.
Es mußten sich daher die jüngeren hervorragenden Historiker
schon ihrer ganzen Richtung nach dem passiven Verhalten
von Waitz
zuwenden, was die Methode des Werkes von Nitzsch anbetraf, und sie
Karl Wilhelm Nitzsch.
440
wandten sich in dem Urtheil über das Werk überhaupt darum dann den Ansichten Hegels zu.
Nun würde freilich weder Hegel sich so ablehnend gegen das Ganze verhalten haben, noch würden ihm die Mitglieder der hervorragendsten
historischen Schule in diesem Urtheil so unbedingt HeereSfolge geleistet haben,
wäre die Form des BucheS eine andere gewesen.
Die Form
ist eben unzweifelhaft Hauptgrund für den Mißerfolg auch dieses genialen Buches wie sie den wissenschaftlichen Erfolg des BucheS über die Gracchen
beeinträchtigte, und wir müssen darum auch bei ihr wieder ein wenig verweilen und um so mehr als hier der Formfehler noch ein andrer ist als dort.
Man macht tat Allgemeinen an Werke wissenschaftlichen Inhaltes, die
durch und durch sich als Forschung geben, nicht allzuviele Ansprüche in der Form. muß.
Man läßt eben gelten, daß die Form sich dem Stoffe unterordnen
Weder jene mosaikartigen Zusammenstellungen noch ganz systemlose
Vorführungen der Forschung schrecken uns Leser ab.
Aber eS gibt eben auch
hier eine Grenze. Ich erinnere an das bekannte Buch DanzelS über Lessing, eine Biographie ernsten wissenschaftlichen Gepräges, und über eine Persön
lichkeit, die als Zunftgenossen doch auch dem pedantischen Gelehrten inter essant war, wie sie den Literaturkenner und den Literaturfreund anzog.
DaS Buch fand keine Leser.
Jürgen Bona Meyer meinte von seinen
Schulamtskandtdaten, die dieses Buch nicht kannten, es wäre ein Zeichen
der Interesselosigkeit für unsere deutsche Literatur, ich möchte dem wider
sprechen und behaupten die Form, nur die Form war es, waS DanzelS Buch so wenige Freunde erwarb.
Und dieser Formmangel lag in dem
schreienden Widerspruch seiner schwerfälligen, geschraubten, unklaren Aus drucksweise zu den schriftstellerischen Aufgaben, die ihm gerade als Lessing
biographen gestellt waren.
ES ist an dem Buche von Nitzsch ein ähnlicher
Fehler zu beobachten; eS tritt seine unklare, gewundene Ausdrucksweise in Widerspruch mit den Zielen lebendiger Veranschaulichung geschichtlicher
Dinge, die ihm vorschweben; waS er sagt, deckt nicht das was er sagen will; der Ausdruck des Gedankens steht in keinem Verhältniß zu der Klar heit deS Gedankens selbst, den er sich gebildet.
ES erweckt daS aber tat
Leser die Vorstellung, eS mit unklaren Auffassungen zu thun zu haben. Und dazu kommt, daß Nitzsch, wo er an der Hand seiner Methode von den Quellengeschichten sich bis zur lebendigen Intuition einer Sache durch
gearbeitet, dann die breite Erörterung alles in Betracht kommenden Ma
terials für überflüssig hält und eS bei Seite schiebt.
Dieses ruft leicht
den Verdacht wach, daß er mit den Beweisstellen nicht erschöpfend ver fahren.
Und beides, jene unklare Ausdrucksweise dort, dieser Verzicht
auf Quellenerörterungen breitester Art hier lenkten den Leser von dem
tieferen Eindringen in die Grundlagen des ganzen Werkes ab, und riefen indem die Leser nun sich gewissermaßen mit der Oberfläche der Sache
einer Fülle zerstreuter und zerstückelter Einzelforschungen abzugeben genSthigt sahen, daS absolute Mißbehagen hervor, das unS bei Studium einer verfehlten, weil unklaren und verwirrten Arbeit überschleicht.
Nun
toiffen wir freilich aus der Uebersicht, die wir über den wissenschaftlichen Entwicklungsgang des Gelehrten bieten konnten, daß er zu der Intuition über die wissenschaftlichen Dinge, auf denen er sein Urtheil wiederholt auf baute, völlig berechtigt war; daS Schlußkapttel der Gracchen, sein Aufsatz:
Ueber die
ersten Anfänge der neueren deutschen agrarischen Literatur
(Kieler Monatsschrift 1851) möge hier noch besonders erwähnt werden.
ES war nicht Vernachlässigung deS Quellenmaterials, sondern die Ansicht,
daß die Erörterung überflüssig sei, wenn er die breite Verarbeitung aller Quellenstellen bei Seite schob.
ES war auch nicht Unklarheit, weshalb
der Ausdruck so gewunden wurde.
Er scheute sich eben nur die Dinge,
die ihm lebendig vor Augen standen, einfach zu bezeichnen, weil er sich vor modernen Ausdrücken scheute, da er fürchtete, bei dem Leser durch daS
moderne Wort auch moderne Vorstellungen hervorzurufen.
Aber eS liegt
auch auf der Hand, daß wer nicht aus der Gesammtheit aller bisherigen
Leistungen heraus an die Beurtheilung des Buches über Ministerialität
und Bürgerthum heranzutreten vermochte, eben da Fehler finden mußte, wo sie nicht vorhanden waren.
Und so ist die Form des Buches vor
Allem Ursache seines Mißerfolges.
Sie hat Hegel abgehalten, tiefer in
das Werk einzudringen, sie ist der Grund, warum mancher der jüngeren
Forscher an eindringlicherem Studium des Werkes vorübergegangen ist.
Die Arbeiten zur Erkenntniß unserer deutschen Vergangenheit gingen indessen in den sechziger Jahren eifrig vorwärts.
Sie mußten sich oft
mit dem Material beschäftigen, daS Nitzsch verwerthet hatte, und so kam
manche Einzelheit deS Buches unter kritische Betrachtung. Ende der sechziger Jahre versuchte Heusler nochmals die Lösung der Frage nach dem Ur
sprung der deutschen Stadtverfassung.
formalen Kritik.
Seine Methode war die der rein
Seine Arbeit aber ergab positive Resultate auch auf
diesem Wege, die Kritik, von der wir eben sprachen, hatte manche Unter
suchung überflüssig gemacht, andererseits hatten Fortschritte einzelner histori
scher Disciplinen ein besseres Operiren mit dem vorhandenen Material ermöglicht; ich erinnere an Sickels Diplomatik der Karolinger und wie
dadurch das Verständniß hochwichtiger Angaben in den Karolingerurkunden gefördert wurde.
Und als Heusler 1872 feine Untersuchungen veröffent
lichte, konnte er erklären, daß seine Auffassung sich der von Nitzsch sehr Preußische Jahrbücher
Bd. XLVIII. Hefe
32
Karl Wilhelm Nitzsch.
442
nähere.
Und da zugleich HeuSler sich bemühte, überall das Verdienst
liche der Arbeit dieses Gelehrten ins rechte Licht zu setzen,
so wurde
nun die Aufmerksamkeit auf das Werk eine lebhaftere, und als Nitzsch
selbst dann durch einen Aufsatz, der in diese Frage über den Charakter der
älteren deutschen Städte sehr einschlug, die eigentlichen Grlmdanschauungen die ihn schon 1859 geleitet, darlegte und deren Richtigkeit überzeugend
vorführte, gewann das Urtheil auch über seine Methode ein anderes An
sehen, man wurde dem Gelehrten gerecht, seine Leistung für die deutsche Geschichte fand Lob, seine Methode Anerkennung, seine letzten Ziele Zu stimmung. — Der Aufsatz, der diese Wirkung errang, war der über die
oberrheinische Tiefebene und daS deutsche Reich im Mittelalter. Jahrb. 1872.
(Preuß.
Bd. 30.)
Früh war die oberrheinische Ebene mit Dörfern bedeckt worden, und
von alterSher fanden sich in diesen gesegneten Fluren Königssitze.
Uralt
ist da die Königspfalz zu WormS, der Sitz der burgundischen Könige in der Heldensage, und unter Karl dem Großen wiederholt Stätte wichtiger
Versammlungen und Ausgangspunkt großer Heerfahrten.
Es war eben
die überaus günstige Lage, was diese Gegend um WormS lange Zeit im
fränkischen Reiche zum Mittelpunkte der königlichen Hofverwaltungen in dem Fruchtland deS Oberrheins machte.
Aber gegen AuSgang des achten
Jahrhunderts traten die nördlicher gelegenen Königspfalzen zu Frankfurt
und zu Tribur mehr in den Vordergrund.
Der Main war nun nach
Unterwerfung der Sachsen die Berbindungsstraße für den friedlichen Ver
kehr der alten Centren der königlichen Verwaltung am Oberrhein mit den neuen Bezirken geworden.
Daher mußten die Sitze der Centralverwaltung
in der Rheinebene sich nach Norden verschieben.
So blieb
eS unter
Ludwig dem Frommen, so unter Ludwig dem Deutschen und auch später hin, denn wenn diese Ebene von Basel bis Bingen die Kornkammer des
Ostreiches war, so waren diese beiden nördlich in seiner Ebene gelegenen Pfalzen die eigentlichen Knotenpunkte für Vermittlung der südwestlichen Ueberfülle nach Nordosten, sie waren die hervorragenden Etappen für die
Heeresversorgung, sie waren die Mittelpunkte für den Austausch der Ueberschüsse der einzelnen Hofverwaltungen
unter sich und die Märkte
für Abgabe der Gesammtüberschüsse dieser Verwaltungen in den Verkehr.
— Und vor allen lag Tribur für diese Zwecke außerordentlich bevorzugt.
Die bequeme lange Wasserstraße des Rheins eignete sich zum Transport
großer Gütermassen und führte ihm dieselben auf der Thalfahrt zu.
Von
der Rheinfähre bei Mainz wie derjenigen bei Oppenheim nahm der Weg
nach Frankfurt seine Richtung über Tribur.
Wasierreiche Wiesenstrecken
gaben letzterem außerdem von zwei Seiten militärische Deckung.
Es war
daher durchaus geeignet, eine Centralstelle für den wirthschastltchen leb
haften Verkehr und ein fester Stützpunkt politischer Unternehmungen zu
werden, wie eS dieser Ort denn auch factisch geworden und zwei und ein halbe- Jahrhundert geblieben ist.
Da muß aber, so meint Nitzsch, eS
Wunder nehmen, daß dieser in Allem so bevorzugte Mittelpunkt wirth-
schaftlichen Lebens während der langen Zeit von mehr denn zwei Jahr hunderten nicht den geringsten Ansatz zu einer städtischen Entwicklung ge macht hat.
An der Thatsache selbst ist nicht zu rütteln, und so ist sie ihm
ein Beweis, daß sich in dieser oberrheinischen Ebene lange die einfachsten wrrthschaftlichen Zustände erhalten haben.
Und wenn eine solche hervor
ragende Pfalz Jahrhunderte lang den Charakter einer Domäne bewahrt
hat und wenn ihre Verwaltung ganz die einer einfachen GutSwirthschast geblieben ist, dann, so schloß Nitzsch weiter, dürfen wir solche Verhältnisse
auch als die grundlegenden für andere Mittelpunkte des Verkehrs am
Oberrhein zu Bafel, Straßburg, WormS annehmen, und sehen wir uns daselbst die alten Stadtrechte in der Weise nun an, daß wir ihrem for
mellen Inhalt diesen realen Untergrund leihen,
wie es die vorliegende
Betrachtung erlaubt, so paßt in ihnen alles überraschend auf Zustände, tote wir sie auf einer königlichen Domäne finden.
Auf des Bischofs Hof
sind Hörige ansässig, die für den Herrnhof frohnden, in der Bestellung
der Felder und auch in den Leistungen des Handwerks, unter Aussicht und
Leitung von Ministerialen des Stadtherrn.
So sind diese ältesten Städte
„durchaus Sitze einer ackerbauenden Bevölkerung von Grundbesitzern".
Mit dieser glücklichen Ausführung
einer tiefen Beobachtung
gab
Nitzsch nun deutlich und klar, und erfreulicherweise in einer freieren Form bekannt, welches denn die seinem Buche über Ministerialität und Bürger thum zu Grunde liegende reale Anschauung unserer wirthschastltchen Ver
gangenheit in der ersten Hälfte des Mittelalters gewesen.
Und eS lag
eben so klar die Richtigkeit dieser Anschauung vor Augen, namentlich wenn
man seinen ganzen Aufsatz genau verfolgte, wo sich noch mancher andere Beweis für diese Anschauung fand.
Daher erlangte Nitzsch für diese Dar
legung lebhafte Anerkennung, und der vorzüglichste Vertreter jener histori schen Richtung, die vornehmlich daS wirthschaftliche und gewerbliche Leben der Vergangenheit zu erkennen sich bemühte, war zugleich der, welcher Nitzsch
daS meiste Lob spendete. Und seitdem eben Schmöller sein Urtheil über diesen
Aufsatz wie über daS Buch von „Ministerialität und Bürgerthum" dahin auSsprach, daß seines Erachtens Nitzsch unter allen Gelehrten sich allein ein
klares Bild des ganzen wirthschaftlichen Entwicklungsprozesses im Mittelalter gemacht habe, bekam das Verhältniß der gelehrten Fachgenossen zu der ge nialen Arbeit von Nitzsch einen andern Charakter.
Man überwand die 32*
Karl Wilhelm Nitzsch.
444
Form, man suchte die eigentlichen Beweise seiner Untersuchung nochmals auf, und trotzdem die formale Kritik mit großer Bestimmtheit seinen Ergebnissen
manche Grundlage entzogen, manche Worterklärung anders gab, manches Einzelresultat definitiv umstieß, — ich erinnere an die Fragen über das
Kölner Weisthum von
der Rigirzegheide,
an
die Interpretation des
Jmmunitätsbegriffs, an die Hypothese über das Burggrafenamt und an
deres, — so näherte man sich in den wichtigsten Ergebnissen, denen über die
Umbildung der Stände unseres Volkes, über die wirthschaftlichen Grund lagen unserer Reichsverfassung, über den Ursprung der Städte und über den
Charakter der Städteverfassungen seinen realen Anschauungen immer mehr, so daß er in einem Aufsatz, den er etwa im Jahre 1874 entwarf (jetzt
unter dem Titel „Das deutsche Reich und Heinrich IV.", aus dem Nach
lasse von Karl Wilhelm Nitzsch, gedruckt in Sybel's Zeitschrift Bd. 45. 1881) sagen konnte: eS ist so weit ich sehe, jetzt allgemein zugegeben, daß alle deutschen Bischofstädte sich am Schlüsse deS 11. und während des
12. Jahrhunderts unter der hofrechtlichen Verwaltung
fanden. Und nicht allein diese Anerkennung
in
einzelnen
ihrer Herrn be
allerdings sehr
wichtigen Fragen unserer Verfassungsgeschichte wurde ihm zu Theil, eS
lag in der Anerkennung der Resultate doch eben auch gleich eine solche der Methode, mit der sie gewonnen waren. — Und der Gang unserer historischen Literatur über unsere mittelalterliche Geschichte in den sechziger
Jahren bewies durch das, was sie in Darstellungen über unsere Kaiser zeit und in Erörterungen über den Charakter des deutschen Königthums leistete und nicht leistete, denn auch die Nothwendigkeit, mit derselben zu
operiren. ES war ja doch von vornherein der weitere Gesichtspunkt des Ver
ständnisses unserer früheren politischen Geschichte überhaupt gewesen, unter dem Nitzsch an die Ausarbeitung seines Buches über die Ministerialität herangetreten, und ganz bestimmte Gründe hatten ihn zu der uns nun bekannten eigenartigen Methode hingeführt.
Bei tieferem Eindringen in
unsere mittelalterliche Geschichtschreibung hatten sich ihm eben ganz eigen
thümliche Betrachtungen aufgedrängt, von deren Richtigkeit er sich bei weiterem Studium immer mehr durchdrungen fühlte, und welche in dem
Satze gipfelten, daß jeder Versuch, auf diesem Material, das wir be
sitzen, die Geschichte unserer sächsischen, fränkischen, staufischen Kaiser zu schreiben,
mißglücken
müsse.
Die gejammte
Masse der vorhandenen
Quellen und Denkmäler, so urtheilte Nitzsch, ist überwiegend geistlichen Ursprunges, diese Geistlichen ferner sind, wenn sie Verfasser hervorragen derer Werke, fast immer in der Umgebung des Regenten selbst zl>m Theil
in den Besitz des Materials gelangt, sicher haben sie daher ihre An
schauungen, und so ist die doppelte Einseitigkeit der Auffassung In diesen Geschichtswerken offenbar.
Und diese Einseitigkeit ist nicht die einzige,
eS kommt dazu die Einseitigkeit der Mittheilung respective der Beob
achtung.
Die Fülle der WeiSthümer und die Sammlungen der Rechts
bücher lassen in Gemeinsamkeit mit
der
offen vorliegenden
schnellen
Städteentwicklung des 13. Jahrhunderts und zugleich andrerseits mit den
großen dichterischen Denkmälern von der Grenzscheide deS 12. und 13. Jahr hunderts erkennen, daß in dem 10., 11. und 12. Jahrhundert eine sociale
wirthschaftliche und rechtliche Entwicklung deS niedern Laienstandes sich voll zogen, daß dabei große Reste nationalen LebenS, eine Fülle rechtlicher und
sittlicher Vorstellungen in diesen Klassen sich erhalten, von welchem allen
jene Geschichtschreibung keine Spur, auch nicht andeutungsweise, uns mit«
theilt.
ES fehlt also in ihr ein sehr wesentliches Stück unseres geschicht
lichen LebenS, ein Stück ohne dessen Kenntniß uns ebenso der blühende
wirthschaftliche Zustand des deutschen Reiches in den Decennien der Ver wirrung unter Philipp und Otto unverständlich, wie die anziehenden und
wunderbaren Bildungen der Städterepubliken, die Richtung ihres Bürger-
thums auf politische Selbsthülfe im Interesse deS Reiches, das mächtige Emporsteigen dieser Pläne und ihr schnelles Niedersinken in der zweiten
Hälfte deS 13. Jahrhunderts unbegreiflich
erscheinen müffen. — Und
nicht nur der geschichtliche Bildungsproceß deS bäuerlichen und bürger lichen Laienelements fehlt in den Geschichtsbüchern, eS fehlt ebenso in ihnen an jeder Beobachtung der Ideen, Bestrebungen deS Menschlichen und Eigenartigen für die Laienaristokratie,
so daß die Welt, in welche
unS Nibelungenlied und Gudrun versetzen, für uns, wenn wir glauben,
aus unseren Geschichtschreibern unsere Vorfahren und ihre historischen
Leistungen und menschlichen Eigenschaften zu kennen, geradezu etwas 'über
raschendes hat.
Und wiederum ist eS dieser Mangel an Interesse gegen
über dem sittlichen Jdeenkreise dieser Laienaristokratie nicht allein, was
man als einen wesentlichen Mangel dieser Historiographie zu bezeichnen hat, es muß da eben doch auch nicht übersehen werden, daß hier bereits
diese geistliche Geschichtschreibung zu fälschen beginne; denn nichts als
Fälschung ist es, wenn in dieser Ueberlieferung der weltliche Herrenstand
konsequent als Unterdrücker der Kirche dargestellt wird. — AuS allen diesen Gründen kam eben Nitzsch zu der Ueberzeugung, die
wir schon oben dargelegt, daß eine Geschichtsdarstellung nach diesen Quellen nimmermehr die Wirklichkeit deS geschichtlichen LebenS unserer Nation zu
erschließen im Stande wäre.
Als Nitzsch einen Theil dieser Gedanken zum ersten Male au^sprach
Karl Wilhelm Nitzsch.
446
(in der Einleitung zu dem Buche über Ministerialität, 1859), exempltfizirte
er dabei ausdrücklich auf GiesebrechtS Kaiserzeit, deren erster Band 1855
erschienen war.
AIS er dann wieder einen Theil jener allgemeinen Be
merkungen aussprach (in dem Aufsatz über Heinrich IV., 1874), exemplt fizirte er auf die weiteren Bände der Arbeit GiesebrochtS und zugleich auf
jene Versuche, ein allgemeines Urtheil über die Kaiserpolitik deS 10. bis 12. Jahrhunderts festzustellen, die von Sybel und Ficker unternommen,
durch den scharfen Widerspruch ihrer Meinungen, der sich in Replik und
Duplik verschärfte,
wie durch die hervorragende Bedeutung der Frage
selbst und die wissenschaftlich bedeutsame Stellung der Vorkämpfer, und nicht minder durch die Gunst der Zeitgeschichte eine Zeit lang den Vorder grund der literarischen Debatte einnahmen und aus derselben überhaupt nicht verschwunden sind und
in
absehbarer Zeit wohl auch nicht ver
schwinden werden.
Und man konnte den Exemplifikationen nicht
stimmten.
Diese Debatte über die Kaiserpolitik der
bestreiten, daß sie deutschen Könige,
warum kam sie zu keinem Schluß? warum nahm sie eine Wendung, in
welcher der
politische Geschichtschreiber den Rechtshistoriker und dieser
jenen nicht mehr zu verstehen schien? Man hat da eine Reihe von Gründen für diese Erscheinung beigebracht, sie sind bekannt, und manche sind treffend;
aber man muß als den vornehmsten Grund doch immer den anführen,
daß dieses reiche Material, mit dem diese großen Gelehrten ihr Urtheil zu bilden unternahmen, eben seinem oben dargelegten Charakter nach doch gerade für diese Frage zu mangelhaft war, um ein abschließendes Urtheil, das auf Allgemeingültigkeit Anspruch zu erheben berechtigt gewesen, darauf
zu begründen.
Und GiesebrechtS vortreffliche und von Band zu Band vollkommnere Arbeit, als Wiedergabe dessen, was in den Quellen und Documenten be richtet worden, war sie doch vorzüglich; woher denn nun das Unbefriedigte
des Lesers bei der Lectüre, woher das Gefühl beim Studium dieses Buches, es oft nur mit dem Schein der Dinge und nicht mit ihrem Wesen zu thun zu haben?
An dem Verfasser lag eS nicht.
Ein nicht
unbedeutendes Talent zur Darstellung und ein von reifer Kenntniß un serer geschichtlichen Vergangenheit und Gegenwart und lebendiger Hoff
nung auf eine bessere nationale Zukunft getragener ächter Patriotismus
einten sich in ihm mit einem reichen Wissen, mit vollständiger Beherr schung des Quellenstoffes und einem eminenten kritischen Talent, und er hatte von allen seinen Fähigkeiten fleißigen und energischen Gebrauch ge macht.
Woher also nochmals das Unvollkommne seiner Leistung in Hin
sicht auf den erstrebten Zweck, unS vom Werden und Sein unserer Nation
bis zum Wendepunkt des ersten Jahrtausend und darüber hinaus zu er
zählen?
ES lag doch eben wieder nur an dem Charakter der Quellen.
Aber wenn nun unsere gesammte geschichtliche Ueberlieferung bis zum
13. Jahrhundert eben wirklich alle jene so scharf hervorgehobenen Mängel besitzt, waS wird dann aus unserer deutschen Geschichte? Sollen wir uns
mit dem begnügen, was die kritische Schule an geordnetem und gesich tetem Material zusammengebracht hat?
Sollen wir über „Jahrbücher"
unserer Geschichte nicht hinaus kommen? Nein, meinte Nitzsch bereits
1859, der Versuch,
darüber hinaus zu kommen, müsse gemacht werden,
und eS gelte nun, bei dieser Lage der Dinge einen andern Weg der historischen Betrachtung einzuschlagen, als man bisher beliebt.
ES heiße,
um die treffende Bezeichnung von Waitz für diese Ziele der Betrachtung
durch Nitzsch zu gebrauchen, sich bemühen, den Quellennachrichten mehr
abzugewinnen, als sie dem gewöhnlichen Auge darzubieten scheinen.
Den Versuch in dieser Methode der Betrachtung machte Nitzsch, wie wir schon wissen, in der Arbeit über den Charakter unserer älteren Städteverfassungen; er glückte, wenn auch langsam sich erst die Zustimmung
der betreffenden Fachkenner zu den Resultaten und zu der Methode einsand; eS war eben das Ergebniß zu umstürzend für das bisherige Wissen
und diese Methode zu eigenartig.
Kein Wunder aber, daß Nitzsch, als
er Zustimmung fand, mit dieser Art der Betrachtung an das Totale un
seres geschichtlichen Lebens in der Vergangenheit sich heranwagte, zumal ihm die Resultate jener Arbeit über die Ministerialität ein sicherer Halt für Beurtheilung der staufischen Politik geworden und zugleich der lebendige
Inhalt, mit dem er anschaulich sich das Wormser und noch mehr das
Straßburger Stadtrecht ausfüllte, ihn für das Anlegen eines wirthfchaft-
lichen Gesichtspunktes
an geschichtliche Prozesse unserer Nation überaus
befähigten und berechtigten. Die Betrachtungen die Nitzsch über den Charakter des Kaiserreichs deutscher Nation angestellt hat, liegen
sonderen Arbeit vor.
uns leider nicht in einer be
Von seiner Auffassung
der deutschen Geschichte
überhaupt zu sprechen, werden wir unS daher versagen müssen, bis die etwaige Veröffentlichung
seiner Vorlesungen hiefür festeren Anhalt der
Mittheilung und Beurtheilung bietet.
Aber er hat einige Bemerkungen
dem Papier anvertraut die allerdings offenbar nicht mehr von ihm selbst für den Druck redigirt, nun als der wiederholt erwähnte Aufsatz „über
daS deutsche Reich und Heinrich IV."
auS seinem Nachlasse vorliegen.
Und diese Bemerkungen nebst den Aufsätzen „staufische Studien" und „die oberrheinische Tiefebene
und
daS deutsche Reich im Mittelalter"
und
„deutsche Stände und Parteien sonst und jetzt" lassen doch einige Haupt-
448
Karl Wilhelm Nitzsch.
Momente seiner Auffassung unserer nationalen Vergangenheit sehr klar er
kennen.
Und da in diesem Wenigen wir bereits erfüllt sehn, was dieser
eigenartige tiefe Denker zu erreichen bestrebt war, mehr über unsere Ge schichte zu erfahren, als gemeinhin uns aus den Quellen ersichtlich, da
in diesem Wenigen ferner uns mit das Geistvollste vorliegt, was Nitzsch
je gedacht, und in dieser geistvollen Aeußerung über unsere Geschichte sich die ganze wunderbare historische Begabung dieses
eminenten Talentes
wieder offenbart, so darf dieses Wenige, auch wenn wir es nur eben wie
eS vorliegt, fragmentarisch vorführen können, an dieser Stelle nicht fehlen.
Philosophie und Naturwissenschaft. „Feindschaft sei zwischen euch, noch kommt daS Bündniß zu frühe. Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst
so
suchte Schiller in einem
die Wahrheit erkannt" —
bekannten Xenion dem fruchtlosen Kampfe
vorzubeugen, in welchen TranScendentalphilosophen und Naturforscher in
seinen Tagen zu gerathen drohten.
Und man könnte mit vollem Recht
diese Warnung bestätigt finden in dem gesammten Verlaufe, welchen die Entwicklungsgeschichte deS
menschlichen Erkennens durchgemacht hat; be
stand doch auch die griechische Philosophie in einem vergeblichen Ringen, apriorischen und
und
empirischen Principien gleichmäßig
gerecht zu werden,
in seltsamer Weise kreuzten hier die willkürlichsten Behauptungen,
welche je ein subjektiver Idealismus ersonnen hat, die angeblich gesicherten
Aussprüche inductiven Denkens.
Aus keinem anderen Grunde eben ist
die Geschichte der antiken Philosophie überhaupt unserer Aufmerksamkeit so werth, als weil sie uns höchst lehrreich die mannigfaltigen Versuche zeigt,
in welchen das menschliche Nachdenken die Widersprüche der Wirklichkeit zu enträthseln sich bemühte, und dabei häufig der Täuschung verfiel, diese
seine subjectiven Anstrengungen für die thatsächlichen Eigenschaften und Beziehungen der Dinge zu halten. der einzig mögliche Standpunkt,
(ES ist dies beiläufig bemerkt,
um die Entstehung und philosophische
Durcharbeitung der platonischen Ideen zu verstehen.)
hin in der Entwicklung der Fortschritt entdecken, so
Mag man immer
ionischen Naturphilosophie einen gewissen
bleiben doch bei Allen,
ja selbst bei dem von
Aristoteles so hoch gepriesenen AnaxagoraS die schreiendsten Widersprüche schon in der methodologischen Behandlung und ein völliger Mangel an
Consequenz in der Ausbildung einer einheitlichen Weltanschauung. Reductionen deS Geschehens auf ein Princip,
sei
Jene
es nun Wasser, Luft
oder irgend ein unqualificirbareS Unbegrenztes, find doch Hypostastrungen
der gröbsten Art, die an Stelle eines wirklichen Mechanismus irgend einen beliebigen Faktor, der vielleicht für eine beschränkte Gruppe der Er
scheinungen eine zureichende Erklärung bietet, einsetzen.
Umgekehrt krankte
die idealistische Methode eines Platon an der ungenügenden Verarbeitung
des Wirklichen, das gegenüber dem transcendentalen Reich der für sich feienden Ideen nur
eine sehr bescheidene Werthschätzung beanspruchen
Durchweg sehen wir, wie das eine Princip auf Kosten des an
konnte.
deren verfolgt wird, wie hier ein Weltbild entsteht auf einseitig mecha dort auf exclusiv idealistischer Grundlage, und wie trotz aller
nischer,
gegenseitigen Feindschaft beide Momente noch heute unlösbar aneinander
gekettet sind. Woher Ueberblick
Vielleicht wird uns ein
nun diese seltsame Abhängigkeit?
über die Beziehungen,
neueren Zeit aneinander
welche beide
Wissenschaften in der
gefesselt haben, die nöthigen Aufschlüsse ver
schaffen.
Triumphirend hatte die Hegel'sche Philosophie als der Abschluß und die Vollendung jeglichen metaphysischen Erkennens ihre unumschränkte
Herrschaft in der Republik der Wissenschaften errichtet und lange genug hatte die leichtgläubige Menge den Kunststücken andächtig gelauscht, mit
welchen die dialektische Entwicklung den ganzen Inhalt deS Seienden aus dem sogenannten reinen Sein hervorzauberte.
Mit dem wohlfeilen Macht
spruch: das Wirkliche ist das Vernünftige und das Vernünftige ist das
Wirkliche, begann man alle Erscheinungen in den wohlabgestuften RhthmuS einer in sich zusammenhängenden Idee aufzulösen und alle als Ma
nifestationen deS einen Weltgeistes aufzufassen, welcher sich in diesem
unendlichen Processe mit sich selbst entzweite, um dann sich in dem ein zelnen Individuum wieder zu finden.
Angeblich mittelst spekulativer Vor
stellungen, die in der reinen Aetherhöhe deS an und für sich seienden Ge
dankens mit dem Staube gemeiner Wirklichkeit nichts zu schaffen hatten, meinte man den Verlauf deS Geschehens rein apriorisch und schematisch
seststellen zu können und in der kurzsichtigen Jdentificirung deS Seins mit dem Erkennen wurde jenes aus diesem heraus construirt.
Freilich sah
man sich genöthigt, doch verstohlene Blicke auf die so verachtete Erfahrung zu werfen, um aus ihr das thatsächliche Material zu entnehmen, das
schließlich war;
mit dem
besten Willen den Ideen doch
die reine apriorische
Methode zeigte
sich
nicht abzugewinnen
unfähig
mit
eigenen
Mitteln irgend welche Resultate in den exacten Disciplinen zu erzeugen und reducirte
sich auf ziemlich werthlose formale Spielereien, in denen
eine schematische Dialektik eine bedenklich an die Antike erinnernde Ge
wandtheit zeigte.
Der totale Bankerott konnte nicht auSbleiben und je zu
versichtlicher und hochmüthiger die Haltung des spekulativen Verfahrens gewesen war, desto kläglicher gestaltete sich der AuSgang; endlich rächte
sich die gewöhnliche Bildung an der erlittenen Vergewaltigung durch die
vollständige Jgnortrung Alles dessen, waS irgend nach Philosophie auSsah.
Nachdrücklicher wie die bissige Polemik Schopenhauer'S, wirksamer,
wie die wohlberechneten Angriffe Herbart'S hat die Verachtung, mit der das Publikum jede metaphysische Richtung nichtungSprozeß befördert.
behandelte, diesen Ber-
Ja selbst bis in unsere Tage zieht dies da
mals entstandene Vorurtheil sich fort, das die sogenannten exacten Beob
achter der Philosophie und überhaupt jeglichem systematischen Gedanken
ein eigenthümliches Mißtrauen entgegen bringen läßt.
die Fluth des Materialismus herein, philosophischen Denkens und
die Stelle der
Sodann brauste
der mit scheinbarer Vereinigung
empirischer Methode sich berufen fühlte,
vertriebenen Königin der
Wissenschaften
einzunehmen.
Eine seltsame Ironie des Schicksals liegt aber in der Contmuität des Inhalts oder mindestens der formellen Behandlung, welche verschiedene Probleme sowohl in der materialistischen, wie in der rein spekulativen Disciplin erfahren haben.
So finden wir z. B. bei Moleschott vollständig
die Idealität und Subjectivität der Empfindungen anerkannt und damit
im weiteren Sinne auch die vollständige Jncommensurabilität des Welt bildes, das sich jedes Individuum je nach seinen physischen und psychi schen Anlagen verschieden entwirft.
Thatsache
einen
falschen
Schluß;
Freilich zieht unser Autor aus dieser
weil
ein
Gegenstand,
wie
er
sich
ausdrückt, nur ist durch seine Beziehung zu anderen Gegenständen, zum
Beispiel durch sein Verhältniß zum Beobachter, deshalb ist die Scheide wand durchbrochen zwischen dem Ding für uns und dem Ding an sich. Als ob nicht grade umgekehrt diese subjektive Beziehung zur Ergänzung
eine objektive Qualität erfordere, eben weil sie den freilich gänzlich un vorstellbaren,
aber nichtsdestoweniger logisch
erzwungenen Zustand des
Dinges darstellt, wie es sich an und für sich verhält ohne Rücksicht auf
ein empfindendes Bewußtsein?
Doch diese Kritik im Einzelnen zu ver
folgen, ist hier nicht unsere Sache (vgl. übrigens Lange, Geschichte des
Materialismus II, 100ff.), wir regtstriren nur das Fortwirken idealisti scher Momente, die an sich dem krassen Materialismus fern liegen.
Eine
spätere Richtung, die jenem Impulse mehr fremd war, benahm sich denn auch nicht so vorsichtig, sondern operirte mit Kraft und Stoff so ver
trauensselig, als ob sie Beide von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt hätte, zog auS der physiologischen Bedingtheit aller seelischen Processe den
kühnen Schluß, daß die Psyche überhaupt nur eine Function des Körpers
sei und brachte endlich in dem allein selig machenden Schoß der Materie die vielen unnützen Fragen zur Ruhe, welche so ungebührlich seit Jahr hunderten die Menschen aufgeregt.
Die Harmlosigkeit,
mit
der die
Thatsachen gruppirt und aus ihrer Anordnung irgend welche Schlüsse
Philosophie und Naturwissenschaft.
452
gezogen werden, ist so überwältigend, daß man die Worte eines scharf sinnigen Denkers wohl begreift:
wußtseins, jede Regung
„Jede einzelne Aeußerung unseres Be
unseres Gefühls, jeder keimende Entschluß ruft
unS zu, daß mit unüberwindlicher und unleugbarer Wirklichkeit Ereigniffe
in der That geschehen, die nach keinem Maße naturwisienschaftlicher Be
griffe meßbar sind.
So lange wir dies Alles in uns erleben, wird der
Materialismus zwar im Bereich der Schule, die so viele vom Leben sich
abwendende Gedanken einschließt, sein Dasein fristen und seine Triumphe
feiern,
aber seine eigenen Bekenner werden durch ihr lebendiges Thun
ihrem falschen Meinen widersprechen.
Denn sie werden alle fortfahren,
zu lieben und zu hassen, zu hoffen und zu fürchten, zu träumen und zu forschen, und sie werden sich vergeblich bemühen uns zu überreden, daß
dies mannigfaltige Spiel der geistigen Thätigkeiten, welches selbst die ab sichtliche Abwendung vom
Uebersinnlichen nicht zu zerstören vermag, ein
Erzeugniß ihrer körperlichen Organisation sei, oder daß das Interesse für
Wahrheit, welches die einen, die ehrgeizige Empfindlichkeit, welche andere verrathen, aus den Verrichtungen ihrer Gehirnfasern entspringe.
Unter
allen Verirrungen des menschlichen Geistes ist diese mir immer als die seltsamste erschienen, daß er dahin kommen konnte, sein eigenes Wesen,
welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln oder es sich als Crzeugniß einer äußeren Natur wiederschenken zu lassen, die wir nur
auS zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wissen eben deS Geistes kennen, den wir leugneten."
Alle diese Kämpfe,
(Lotze, Mikrokosmus I, 295, II. Ausl.)
die übrigens nur aus dem scharfen Gegensatz
gegen die überspannten Forderungen, resp. auS den argen Unterlassungs
sünden der transcendentalen Philosophie verständlich erscheinen, liegen jetzt schon weit hinter unS und haben nur noch ein historisches, kein persön
liches Interesse mehr, das die Entwicklung unseres eigenen Denkens beein flußt hätte.
Der Materialismus, diese Spottgeburt auS Dreck und Feuer,
hat bald zum Styx fahren müssen, wenigstens bet jedem leidlich wissen schaftlich Gebildeten; die völlige Unmöglichkeit, die Entstehung der Em
pfindung und jeglicher psychischen That zu erklären, also daS Fehlen jeder
Erkenntnißtheorie, schnitt von vorne herein die Aussicht ab, eine irgend wie einheitliche Weltanschauung auszubilden, die nicht von den gröbsten
Phantasmen und Fiktionen
wimmelte.
Damit war aber der Materia
lismus gerichtet, und anstatt der Philosophie überhaupt den Krieg zu er
klären, wie eS bis dahin Mode war, handelte eS sich vielmehr jetzt um eine kritische Ausgestaltung deS empirisch Gewonnenen.
Je mächtiger der
Riesenbau der Naturwissenschaft anwuchs, je complicirter das Detail wurde,
je schwieriger der innere Zusammenhang aller Theile zu entdecken war,
desto lebhafter mußte der Wunsch entstehen, einen verständlichen Ueberblick
über das Ganze zu erhalten,
über dem Einzelnen nicht das Allgemeine
zu vergessen, mit anderen Worten aus der bloßen Anhäufung von That
sachen einen gesetzmäßig
gegliederten Organismus oder wenigstens eine
Reihe innerlich verknüpfter Erscheinungen zu schaffen.
Obgleich durch diese
emsige Arbeit der Naturforscher erst das solide Fundament für jede meta
physische Ueberlegung gelegt wurde, so vergaß man häufig diesen Gesichts punkt und
mit der Durchforschung
beruhigte sich
eines möglichst be
schränkten Gebietes, das zum Specialstudium sich darbot.
Je mehr sich
die Kenntniß auf diesem kleinen Terrain vertiefte, desto dürftiger wurde die Behandlung deS Ganzen, und derjenige, welcher sich in seinem Fache als unumschränkter Meister, als anerkannte Autorität bewies, gerieth in
die größte Verlegenheit, wenn eS galt, den Beitrag zu formuliren, welchen die Naturwissenschaft insgesammt zur Bildung einer Weltanschauung zu leisten vermöge.
Aus der anderen Seite verstanden eS die herrschenden
philosophischen Richtungen nicht, diesen Einseitigkeiten der empirischen
Forschungen die Spitze abzubrechen, um mit ihnen ein für beide Theile
fruchtbares Bündniß einzugehen.
So
klar und eindringlich der Haupt
gedanke Schopenhauer's in allen Schriften ausgeführt ist, so wenig
glückte es ihm, die physiologischen Forschungen als Grundlage für meta
physische Perspectiven zu benutzen; ja er, der rücksichtlos die willkürlichen Erdichtungen des subjektiven Idealismus entlarvte, verfiel in dem Ausbau
seiner eigenen
Weltanschauung denselben mystischen Neigungen, die ihn
von dem gesicherten Boden der Erfahrung weit abführten.
Mag man
über die Priorität des JntellectS und des Willens streiten und gern zu
geben,
daß
auf Kosten anderer psychischer Prozesse die allmächtige Ver
nunft in früheren Systemen eine ungebührliche Werthschätzung erfahren
hatte, soviel ist gewiß, daß daS Fundament der Schopenhauer'schen Phi losophie völlig nichtig und unterhöhlt ist.
Oder ist eS nicht etwa eine
Hypostasirung der schlimmsten scholastischen Art, wenn mit einem kühnen
Decket ex cathedra der Wille für das wahre Wesen, für daS bis dahin
immer als unbekannt und unzugänglich gegoltene Ding an sich constituirt wird?
Woher wissen wir denn überall Etwas von dieser angeblich welt
beherrschenden
Funktion?
Doch wohl nur durch Beobachtung entweder
anderer oder unserer selbst, also in beiden Fällen von Erscheinungen,
die eben dem
auffassenden
Bewußtsein als Objekte der Zergliederung
dienen; man müßte denn, um diesem Schluß zu entgehen, das eigene Ich,
welches
sich selbst zum Gegenstände seines Studiums nimmt,
an sich hinstellen:
als Ding
Eine Ungeheuerlichkeit, die Jedem sofort einleuchtet.
Ebenso nichtig ist die weitere Beschreibung dieses Weltprincips, das
in
seiner transcendentalen Souveränetät jeglicher causalen Verknüpfung ent zogen ist und sofern es in den Bereich der wahrnehmbaren Welt hinein
reicht, ebenfalls mit absoluter Freiheit sich manifestirt.
Diese ganze Rich
tung trägt einen offenbar mystischen Charakter, der jeder nüchternen Er
fahrung schnurstracks zuwiderläuft; denn solange die Meinung Kant'S von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich, d. h. der wahren und eigentlichen Natur deS Seienden überhaupt eine wissenschaftlich begründete ist, sind die Versuche des Denkens, über diese klar gezogene Grenze des Erkennens in eine terra incognita zu fliegen, lediglich Ausgeburten einer phantastischen
Neigung, die wohl mit religiösen Motiven zusammenhängen mag, niemals
aber eine kritische Beurtheilung verträgt.
ES ist deshalb geradezu unbe
greiflich, wenn in neuerer Zeit der sogenannte MoniSmuS, wie ihn z. B. L. Noirä vertritt, den Gedanken Schopenhauer'S über die Zwei theilung der Wirklichkeit in Wille
und Vorstellung
als ein erlösendes
Wort feiert, das im Anschluß an die Darwin'sche Theorie endlich eine wissenschaftliche Philosophie ermögliche.
„Der tiefsinnige Fortsetzer der
Kant'schen Philosophie, Schopenhauer, fand in dem unmittelbar (sie!) be
kanntesten Wesen unseres eigenen Seins, dem Willen, die Brücke,
auf
welcher er über diese Kluft (die nämlich die reale und ideale Welt scheidet) hinüber in das Gebiet der Dinge an sich gelangen konnte.
Er erklärte
die Welt als einen Makranthropos, während man bisher den Menschen
als einen Mikrokosmos verstehen zu lernen sich bemühte."
leitung
und Begründung
einer
(Noirä, Ein
monistischen Erkenntnißtheorie S. 44.)
Gegenüber den neueren Forschungen, die als die primäre That der mensch lichen Psyche, die Empfindung als unbewußtes Schlußverfahren
haben, verlohnt
es
entdeckt
sich nicht mehr, diesen axiomatischen Behauptungen
eine längere Aufmerksamkeit zu schenken: Wir wollen nur als letzte Be
merkung hinzufügen, daß uns die innere Wahrnehmung durchaus die völlige Zusammengehörigkeit von Wollen und Denken zeigt, daß der Wille
einer Handlung als psychologischer Vorgang in der Apperception derselben besteht, als äußere Handlung aber ein Geschehen darstellt, das nach den gewöhnlichen Causalgesetzen verläuft: Einen unbewußten Willen kennen wir aber schlechterdings nicht. Wir überzeugten uns, daß die theoretischen Erwägungen Schopen
hauer'S, dessen practische Philosophie wir hier wohl außer Acht lassen
durften, zu sehr des unmittelbaren Zusammenhangs mit den empirischen Forschungen entbehrten, um eine befriedigende Welterklärung zu ermög
lichen.
Oder besser ausgedrückt, trotzdem unser Philosoph vielfach richtige
Ansichten auf dem Gebiete der Physiologie aufstellte, verführte ihn sein
mystischer Hang
dazu auf metaphysischem Boden die willkürlichsten Be-
Hauptungen zu wagen, die eben durchaus nicht mit den früheren Prä
missen zusammenhingen.
Zöllner hat eS unternommen in seinem Buche
„Ueber die Natur der Kometen" (S. 345ff.), die hervorragenden Ver dienste Schopenhauer'- um die Theorie der Gesichtswahrnehmungen, des CausalitütSgesetzeS u. f. f.
durch eingehende Vergleichung mit anderen
Autoren, wie z. B. Helmholtz zu erweisen,
und wir sind weit entfernt,
diese irgend wie schmälern zu wollen: Aber wir kommen auf unsere ftühere
Aeußerung zurück, daß physiologische Vorarbeiten und philosophische An
schauungen zweierlei sind, daß jene für sich betrachtet trefflich und exact geführt sein mögen, während diese völlig haltlos im Leeren schweben.
Daß eben die wirkliche Ausdeutung des Weltinhaltes bei Schopenhauer
so dürftig ausfiel und sich die Auflösung in das Nirwana zum Ziel setzte, lag wesentlich an der Abneigung desselben gegen jede Entwicklungstheorie, die ihm über die thatsächliche Gestaltung irgend eines Seienden hätte Be
lehrung verschaffen können.
Allein die Ansicht über die künstliche und
natürliche Züchtung der Formen, die Anthropologie mit ihren Bestim
mungen über das allmählige Wachsthum sittlicher und religiöser Vor
stellungen schien ihm eine Verunstaltung des reinen und unveränderlichen Seins zu enthalten, an dem er nach dem Muster der Eleaten starr fest
hielt.
Er selbst, nachdem er die Thorheiten des absoluten Idealismus
scharf gerügt, kennzeichnet treffend seinen eigenen Standpunkt: Wir sind
der Meinung, daß Jeder noch himmelweit von einer philosophischen Er kenntniß der Welt entfernt ist, der vermeint, das Wesen derselben irgend wie, und sei es noch so fein bemäntelt, historisch fassen zu können: wel
ches aber der Fall ist, sobald in seiner Ansicht des Wesens an sich der der Welt irgend ein Werden, oder Gewordensein, oder Werdenwerden sich
vorfindet,
irgend ein Früher oder Später die mindeste Bedeutung hat
und folglich deutlich oder versteckt, ein Anfangs- und ein Endpunkt der Welt nebst dem Wege zwischen beiden gesucht und gefunden wird und daS
philosophirende Individuum wohl noch gar seine eigene Stelle auf diesem
Wege erkennt.
Solches historisches Philosophiren liefert in den meisten
Fällen eine Kosmogonie, die viele Varietäten zuläßt, sonst aber auch ein Emanationssystem (anders möchte man übrigens die Weltentwicklung aus
dem unbewußten Willen unter dem Bestreben ihn möglichst zu ertödten,
ebenfalls kaum nennen), Abfallslehre, oder endlich, wenn aus Verzweiflung über fruchtlose Versuche auf jenen Wegen, auf den letzten Weg getrieben, umgekehrt eine Lehre vom steten Werden, Entsprießen, Entstehen, Hervor
treten anS Licht aus dem Dunkeln, dem finsteren Grund, Urgrund, Un grund (offenbar eine Persifflage Schelling'S) und was dergleichen Gefasels mehr ist, welches man übrigens am kürzesten abfertigt durch die Bemer-
hing, daß eine ganze Ewigkeit, d. h. eine unendliche Zeit bis zum jetzigen
Augenblick bereits abgelaufen ist,
weshalb Alles,
und soll, schon geworden sein muß.
was
da werden kann
Denn alle solche historische Philo
sophie, sie mag auch noch so vornehm thun, nimmt,
als wäre Kant nie
dagewesen, die Zeit für eine Bestimmung der Dinge an sich, und bleibt daher bei dem stehen, was Kant die Erscheinung
(doch eben das einzig
erfaßbare Objekt für die Erkenntniß), int Gegensatz des Dinges an sich, und Platon das Werdende, nie Seiende, im Gegensatz deS Seienden, nie Werdenden nennt,
oder endlich was bei den Indern daS Gewebe der
ist eben die dem Satze vom Grunde anheim gegebene
Maja heißt: es
Erkenntniß, mit dem
man nie zum inneren Wesen der Dinge gelangt,
sondern nur Erscheinungen
Die ächt
bis ins Unendliche verfolgt ....
philosophische Betrachtungsweise der Welt, d. h. diejenige, welche unS ihr
inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinausführt, ist gerade die,
sondern
welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum,
überall nur nach dem WaS der Welt frägt, d. h.
immer und
welche die Dinge nicht nach irgend einer Relation, nicht als werdend und vergehend betrachtet, sondern umgekehrt, das in allen Relationen erschei
nende, selbst aber ihnen nicht unterworfene, immer sich gleiche Wesen der Welt, die Ideen derselben zum Gegenstände hat."
IV. Aust. I, 322.)
(Welt als Wille rc.
Ueberall scholastische und dogmatische Vorstellungen,
trotz der fortwährenden Berufung auf Kant daS hoffnungslose Unterfangen daS Wesen der Dinge zu erkennen, während wir nur ihre Erscheinungen
zu begreifen vermögen.
Daher auch die Hinneigung Schopenhauer's zum
Mysticismus, weil er selbstredend dem Inneren der Natur nicht auf dem
gewöhnlichen Wege wissenschaftlicher Forschung nahen konnte, sondern nur vermöge irgend welcher instinctiven Intuition, ähnlich der berüchtigten in-
tellektualen Anschauung weilen in leeren
deS subjectiven Idealismus.
ontologischen
Hartnäckiges Ver
Voruntersuchungen, die noch außerdem
höchst einseitig gefaßt sind; deshalb der Wahn, daß die Gestaltung deS
Seienden, falls überhaupt möglich, jedenfalls gänzlich werthloS sei, da sie die Unveränderlichkeit und Erhabenheit der Idee, also des reinen Seins
Mit anderen Worten liegt hier eine völlige Verkehrung
beeinträchtige.
des Kant'schen Standpunktes
vor;
anstatt
aus
den
verschiedenartigen
Formen, welche das Wirkliche im Verlauf seiner Entwicklung annimmt, eine Geschichte
seines
Wesens
zu
construiren,
wird
ächt
scholastisch
das Wesen als solches jeglicher Eigenschaft schlechthin entgegen gestellt, geschieden in einen unversöhnlichen Gegensatz, wie Substanz und Attribut, als wenn man überhaupt etwas von jener wüßte ohne dieses!
das Seiende
Anstatt
in dem Geschehenden, in den verschiedenen Modificationen
seiner Natur zu erfassen, wird dies uns einzig zugängige Gebiet der Er fahrung zu Gunsten einer ganz leeren und haltlosen Begriffsspielerei ver
laffen, durch die wir niemals in der Erkenntniß der Wirklichkeit weiter kommen. (die
Nicht die eleatische Berschnörkelung des Begriffs vom Seienden
übrigens in anderer Form wieder bei Herbart auftaucht), sondern
grade die verpönte historische oder wie wir unS auSdrücken würden, die
genetische und ethnologische Philosophie vermag unS überhaupt Aufklärung über daS Welträthsel zu verschaffen.
Zwar muß man nicht verlangen,
daß diese in allerlei Aufschlüssen über das Absolute und Unendliche, über die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt, über die Beschaffenheit deS reinen Geistes und der reinen Materie besteht: DaS sind Aufgaben für einen schwärmenden Dilettantismus oder für eine mit höheren Functionen
ausgerüstete Theologie.
Aber wollen wir übör die Probleme orientirt
fein, die sowohl unserem theoretischen Verständniß deS Geschehens im
Wege stehen, als auch unser sittliches Gefühl bedrängen,
so müssen wir
vor Allem den gesetzmäßigen Entwicklungsgang klar legen, den jeder
thatsächliche Verlauf irgend eines Ereignisses in der Welt befolgt; dieser Construktion des Mechanismus,
psychische Geschehen etngeschlossen ist,
aus
in welchem Alles physische und
ergiebt sich dann in aufsteigender
Linie daS Bild deS Kosmos, in dem Alles »ach gleichen Gesetzen eben mäßig verläuft,
und
hierin
liegen implicite diejenigen Forderungen,
welche wir an den Charakter des
Seienden stellen müssen, d. h.
um eS gleich hier möglichst allgemein und verständlich auözusprechey, die
Fähigkeit zu wirken und zu leiden.
Ohne diese Qualität giebt eS
überhaupt kein Reales und keine Entwicklung,
und daher reicht die
Schopenhauer'sche Philosophie, welche jene Merkmale von der starren Un veränderlichkeit deS Seienden fern halten will, für eine wirkliche Welter
klärung nicht zu. Einen ungleich größeren Wirkungskreis als Schopenhauer, dessen Be deutung erst die Nachwelt erkannte, übte zu seiner Zett Herbart, dessen Gedanken hier um so mehr Beachtung verdienen, als er unmittelbar an
die Naturwissenschaft anknüpft.
Ihm war bekanntlich die Philosophie die
Bearbeitung und Verbesserung der Widersprüche, welche in der gewöhn
lichen Erfahrung lägen; nur ist gleich hier zu bemerken, daß hierbei häufig
durch einen Kunstgriff dieser Widerspruch in die alltägliche Meinung erst hineingebracht wurde, um dann einen philosophisch geläuterten Begriff zu
produciren, der wohl schulmäßige Geltung beanspruchen konnte, aber im Uebrigen nicht die gesuchte Anerkennung fand.
So wurde die landläufige
Vorstellung vom Seienden als behaftet mit Widersprüchen verworfen, da
sie eine Veränderung zulasse und Etwas, das sei, brauche doch nicht erst Preußische Jahrbücher. Bb. XLV1II. Heft 5.
33
Philosophie und Naturwissenschaft.
458
zu werden, resp, wenn eS sich entwickele, sei eS noch nicht.
Anstatt nun
zu überlegen, wie für ein Seiendes das Prädicat der Veränderlichkeit ge rettet werden könne, werden auf Grund einiger ontologischer Spitzfindig
keiten
die bisherigen Meinungen über Bord geworfen und dafür
Begriff des Seienden geschaffen,
sei.
ein
das jeglicher Veränderung entzogen
Scheine nun dennoch einer unphilosophischen Auffassung dieser Proceß
Statt zu finden, so sei das eine Täuschung und eine zufällige Ansicht, die mit dem wahren Wesen der Sache Nichts zu thun habe.
Es ist schon
verschiedentlich zur Genüge hervorgehoben, wie wenig Herbart seine Pflicht erfüllt habe, eben die Entstehung dieses Scheines einer Veränderung in
irgend einem Bewußtsein zu erklären; denn zugegeben, daß überall that
sächlich die Unveränderlichkeit des Wirklichen nachgewiesen sei, so bestände sie um so gewisser in dem Geiste desjenigen fort, der diesen Schein einer Veränderung, und zwar diese als Modification seines Wesens in sich ver
spürte (vergl. Lotze Mikrokosm. I, 207).
Ebenso unhaltbar ist die For-
mulirung, welche Herbart dem Seienden als absoluter Qualität giebt, die
völlig für sich bestehe, ohne je in Beziehungen eintreten zu müssen; denn
eine Qualität als solche giebt es für unser Denken gar nicht, das, es mag noch so menschlich bornirt sein, eben deshalb um so mehr ein Recht
hat, die Qualität als Zustand oder Eigenschaft irgend eines Subjects
aufzufassen, als dessen That sie erscheint.
Nicht minder ist eS vergeblich
von dem Seienden die Nothwendigkeit einer Beziehung zu anderen abzu wehren, als ob damit seine souveräne Natur geschwächt würde, und dann doch hinterher die Thatsache zuzugestehen, daß allerdings vielfach die realen Wesen in gegenseitige Berührung zueinander träten:
Hierdurch entstehe
aber durchaus keine Wechselwirkung, vielmehr sei jedes Seiende so sehr
auf der Hut, daß eS jeden fremden Angriff von sich fernzuhalten im Stande sei.
Wie wenig diese bekannte Theorie der Selbsterhaltung
sich mit der Unveränderlichkeit des Seienden vereinigen lasse, liegt klar
auf der Hand @. 59ff.).
und
hat zuletzt Lotze einleuchtend erörtert (Metaphysik
Herbart hat aus dem Gebiete der Psychologie die großen
Erwartungen nicht gerechtfertigt, welche feine Anhänger von ihm hegten; freilich sollte sie eine mathematische Gestalt erhalten, ihr also der sicherste
Unterbau gegeben werden, der sich in der Welt auffinden ließ.
anstatt die Erfahrung, d. h. die Thatsachen
Allein
der Naturwissenschaft im
weiteren Umfange zur Grundlage zu nehmen, versuchte unser Philosoph das -Princip
für
eine Statik und Mechanik der Vorstellungen durch
Speculation zu finden.
Mit Recht nennt Lange dies ein merkwürdiges
Denkmal der philosophischen Gährung in Deutschland, daß ein so feiner
Kopf wie Herbart, ein Mann von einer bewunderungswürdigen Schärfe
der Kritik und von großer mathematischer Bildung auf einen so aben teuerlichen Gedanken kommen konnte (Gesch. d. Material. II. S. 377).
Jene Selbsterhaltungen, mit welchen die Seele ihr Wesen gegen fremde Einflüsse sichert, sind nach dieser Darstellung die Vorstellungen, die in
dem genau geregelten Mechanismus ihres Verlaufs (dies eben sollte die
Mathematik überwachen) die ganze Fülle des seelischen Lebens ausmachen. Abgesehen von den theilweis schon früher erwähnten logischen Wider sprüchen, diese Actionen der Seele sich zu denken ohne Fähigkeit der Ver
änderung, ist vor Allem gewaltsam die Reduktion des gesammten psychi schen Geschehens auf einen Theil desselben, auf daS Vorstellen.
mag über die Gleichberechtigung der
gewöhnlich
Man
angenommenen Trias
von seelischen Kräften streiten, jedenfalls ist dies Verfahren ein höchst un
gerechtes, da es sich um die wirkliche Untersuchung der einschlägigen Verhältnisie gar nicht kümmert.
ES versteht sich darnach von selbst, daß in
den neueren Darstellungen der Psychologie, beispielsweise bei Wundt jener einseitige Weg längst verlassen ist, weil er eben den Thatsachen der Er
fahrung widerspricht. Also auch hier finden wir nicht den gehofften Fortschritt; anstatt werthvoller Beobachtungen über daS Verhältniß der Empfindung zum
Reize, über das Minimum und Maximum der erfahrbaren Eindrücke sei
tens der Außenwelt, immer und immer wieder metaphysische Ueberlegungen, Versuche die Widersprüche deS gewöhnlichen Denkens zu eliminiren, und dabei als Resultat, neue Widersprüche.
Und wurzeln diese Verlegenheiten
schon so tief in den grundlegenden Lehren der Psychologie, so ergiebt sich
leicht, wie wenig ein allgemein verständliches Weltbild auf streng empirischer Grundlage gelingen wollte.
Die Naturwissenschaft selbst, allerdings
philosophisch regenerirt brachte den Aufschwung, in deffen weiteren Stadien wir uns noch heutzutage befinden.
Wir brauchen nur die Namen Müller,
Helmholtz, Weber, Dove, Fechner, Lotze, Wundt zu nennen, um für den sich vollziehenden Proceß die schöpferischen Factoren zu bezeichnen.
WaS
war es nun, daS jetzt einen neuen Entwicklungspunkt begründete und die Anfänge zu einer auf sichere Grundlagen basirenden Weltanschauung legte?
Zunächst entsagte man allen hochmüthigen Ansprüchen, über die Natur deS Dinges an sich irgend Etwas aussagen und wissen zu wollen und
bestimmte im Gegensatz zu diesem hochfliegenden Problem als nächste und
unmittelbarste Aufgabe der Philosophie
Erkenntnißtheorie zu schaffen.
eine wissenschaftlich begründete
Dasjenige was Kant mehr apriorisch
und deduktiv erwiesen hatte, wollte man auf empirischem Wege erhärten, und so entstanden
alle jene werthvollen Untersuchungen, die uns über
unser Verhalten zur Außenwelt aufllären.
In rastloser Arbeit wurden
33*
unsere Wahrnehmungen immer auf'S Neue wieder zergliedert und auf ge
naue Bedingungen unseres psychischen Verhaltens sowohl, als des uns
treffenden Reizes zurückgeführt:
Mit einem Worte, es entstand nunmehr,
waS Herbart auf deduktivem Wege schaffen wollte,
Geistes.
eine Mechanik des
ES würde hier zu weit führen, den Verlauf dieser Entwicklung
im Einzelnen zu verfolgen, wir begnügen uns mit der Hervorhebung des jenigen Resultates, daS alle jene Untersuchungen belohnte.
Nicht kürzer
wüßten wir unS auszudrücken, als wenn wir eS als die völlige Un
vergleichbarkeit deS Reizes mit der Empfindung bezeichneten.
Wie für daS bewaffnete Auge eine anscheinend ganz continuirliche Masse
sich auflöste in eine Reihe einzelner, durch Cohäsion zusammenhängender Theilchen, so verschwanden auch für den philosophischen Blick diese letzten
Reste materieller Existenz und wurden zu punktuellen Trägern von auS-
und eingehenden Wirkungen.
Rastlos in der Welt schwingend treffen diese
untheilbaren Einheiten oder Atome unsere Sinneswerkzeuge und veranlaffen unsere Seele zu Rückwirkungen, die wir Empfindungen nennen. Aber wie eine bestimmte Anzahl von ActheroScillationerr an sich Nichts
mit jener bestimmten Farbe zu schaffen hat, welche schließlich auf Grund
jenes Reizes als qualitative Erregung der Seele entsteht, so unvermittelt stehen sich Empfindung und Bewegung, diese beiden Endglieder des Pro
cesses einander gegenüber.
Nie giebt es einen Augenblick, wo eS sich von
selbst verstünde, daß irgend eine Schwingung der Luft nun aufhörte als
solche zu existiren, um dann als Klang neu geboren zu werden; vielmehr sind hier zwei Erscheinungen aneinander gekettet, die innerlich nicht aus
einander
ableitbar
sind.
Wer die Empfindung als selbstverständliches
Product aus der sie veranlassenden Bewegung deducirt, begeht den hand
greiflichen Fehler des Materialismus; wer umgekehrt die Bewegung aus der Empfindung entstehen läßt, verfällt einem völlig haltlosen TraumidealismuS.
Wir sehen also am Anfangspunkte unseres psychischen Da
seins zwei, einander fremde Welten zusammenstoßen, die beide einander (wenigstens scheinbar) entgegengesetzt, dennoch in ihrem Bestehen auf ein ander angewiesen sind.
Die eine Seite ist die mechanische, daS Sen-
sorium für alle Bewegungömodalitäten, die andere ist die psychische, als Agens für das gefammte Reich der Empfindungen.
Wie die Seele
genöthigt ist durch die Art ihrer Organisation jede Empfindung zu localisiren, so nähert sie umgekehrt jeden Act der Bewegung einer inneren Er
regung, d. h. einer Empfindungsqualität.
Also auf diesen Grundstufen
organischer Existenz sehen wir eine anscheinend unüberwindliche Kluft sich aufthun, welche unser ganzes Wesen in zwei heterogene Elemente zu zer reißen droht.
Diesem Dualismus dadurch entgehen zu wollen, daß man
die Atome selbst mit Empfindung und Bewegung ausgerüstet denkt, wäre nur eine Hinausschiebung der Lösung; denn nun würde sich ja offenbar auf'S Neue die Frage erheben, wie dann diese beiden Momente, die also
auch in diesem letzten Residuum deS Wirklichen nicht in Eins verschmelzen, nebeneinander bestehen können, während sie sich doch gegenseitig auf
zuheben bemüht sein müssen?
Auch hier würden wir den Zwiespalt nicht
beseitigen, der für jede innere Bewegung als Aequivalent eine äußere Expansion erfordert und umgekehrt, für jede Intensität eine Extensität,
für jede innere Welt ein äußere.
Und nun, wenn man sich an diesem
unentrinnbaren Gedanken recht müde gedacht hat, wird man endlich wohl einsehen, daß hier eine widersinnige Zumuthung an unseren Intellekt ge
macht wird; denn eben, um jenen Dualismus zu überwinden, müßten wir
ja im Stande sein, unS für einen Augenblick auS unS selbst zu versetzen und von
allen Bedingungen
menschlicher Existenz zu abstrahiren.
So
lange wir aber zufolge unserer Organisation diesen Lustsprung (dem ge
genüber das horazische, „naturam expellas furca, tarnen usque recurret“ übrigens ein Kinderspiel wäre) nicht auszuführen im Stande sind, so lange ist eö vergeblich diese Thatsache zu Gunsten eines verschwommenen MoniSmuS hinwegzuleugnen.
Auf Grund also jener diametralen Verschiedenheit, welche die Reihe der Bewegungen von den Empfindungen trennt, hat die moderne Psycho
logie mit Recht geschlossen, daß ein AgenS vorhanden sein müsse, welches
auS den Schwingungen der Atome die färben- und klangreiche Welt der inneren Erregungen hervorriefe.
Dieses nenne man nach dem Vorgehen
der Sprache bei den verschiedenen Völkern Seele, einerlei, welches im
Uebrigen die Eigenschaften desselben seien.
Ein hinzukommender Grund
für die Bildung jener Vorstellung liege aber in dem psychischen Processe
der Reproduktion verschiedener Vorstellungen in ein und dem
selben Individuum; falls diese nicht als gänzlich neue jedesmal aus
der Tiefe des Bewußtseins auftauchen sollten, so sei die Einheit der sie
hegenden und erzeugenden Factoren nothwendig.
Diese Einheit, welche den
inneren Zusammenhang aller psychischen Erlebnisse verbürge, werde mit dem Namen
des „Ich"
oder auch des „Selbstbewußtseins" bezeichnet.
Das etwa sind die Grundlinien und Umrisse, welche die experimentelle
Psychologie an der Hand ihrer Beobachtungen gewonnen und ihren wei teren Folgerungen zu Grunde gelegt hat.
Und damit kommen wir auf
die zweite Errungenschaft, welche wir der jüngsten Epoche dieser Forschung
verdanken.
Bestand daS erste Merkmal derselben in der vorsichtigen Ab
grenzung deS zu behandelnden Stoffes, desjenigen, was nach Kant „mög liche Erfahrung" genannt wird, so sehen wir die zweite Eigenthümlichkeit
in der Anwendung der Methode.
theil- mit der Speculation,
Während die bisherige Untersuchung
theils mit der Selbstbeobachtung arbeitete
(vor der übrigens Kant als vielen unbewußten Täuschungen unterworfen dringend warnte), erlangte die moderne Psychologie in dem Experiment
Durch die eingehende
ein vorzügliches Hilfsmittel für ihre Analysen.
Zergliederung der psychischen Processe wird der Nachweis geliefert, daß
der eigentliche vorbereitende Hintergrund für die Erscheinungen des be wußten Seelenlebens im Unbewußten liege, und schon die Thatsache der einfachen Empfindung ist nach der Ansicht der hervorragendsten Autoritäten,
wie Helmholtz, Wundt u. A. nicht ohne die Annahme eines unbewußten
Schlusses zu begreifen.
Wie kommen wir dazu, die Seele selbst in ihrem
unmittelbaren Schaffen gleichsam zu belauschen? dermaßen über diesen Punkt auS:
Wundt läßt sich folgen
„Hier stellt sich nun der Forschung
die Frage, wie- eS möglich gemacht werden könne, in jene geheime Werk
stätte hinab zu
steigen,
wo der Gedanke ungesehen seinen
Ursprung
nimmt, und ihn dort wieder in die tausend Fäden zu zerlegen, aus denen
er zusammengewebt ist.
Ich werde in den nachfolgenden Untersuchungen
zeigen, daß das Experiment in der Psychologie das Haupthülfsmittel ist, welches uns von den Thatsachen des Bewußtseins auf jene Vorgänge hin leitet, die im dunkeln Hintergrund der Seele das bewußte Leben vorbe
reiten.
Die Selbstbeobachtung liefert uns, wie die Beobachtung über
haupt, nur die zusammengesetzte Erscheinung.
In dem Experiment erst
entkleiden wir die Erscheinung aller der zufälligen Umstände, an die sie in der Natur gebunden ist.
Durch das Experiment erzeugen wir die Er
scheinung künstlich aus den Bedingungen heraus, die wir in der Hand
halten.
Wir verändern diese Bedingungen und verändern dadurch in
meßbarer Weise auch die Erscheinung.
So leitet uns immer und überall
erst das Experiment zu bin Naturgesetzen, weil wir im Experiment gleich
zeitig die Ursachen und die Erfolge zu überschauen." die Menschen- und Thierseele I. Vorrede S. VI.)
(Vorlesungen über
Daß nicht der kind
liche Versuch gemacht werden soll, das immaterielle Wesen der Seele experimentell zu erfassen, sondern nur die psychischen Functionen, daß mithin auS einem Rückschluß von der Wirkung die Ursache erkannt wird,
bedarf keiner ausführlichen Erläuterung.
Es wäre aber eine unverzeih
liche Einseitigkeit, diese kritischen Untersuchungen nur auf die menschliche Seele einschränken und nicht mit auf die Thierseele auSdehnen zu wollen;
während früher
es
freilich für eine poetische Schwärmerei galt, von
einem derartigen Problem im Ernst zu reden, hat man endlich, namentlich auf Grund der Darwin'schen Forschungen eingesehen, welche trefflichen Analogien zu unseren psychischen Erlebnissen sich hier bieten.
Bis dahin
war stillschweigend der Standpunkt Chr. Wolff'S wirksam, der über diesen höchst irrelevanten Gegenstand mit vornehmer Geringschätzung zur Tages
ordnung überging: nicht,
ist
„die Frage, ob die Thiere eine Seele haben oder daher wäre eS
eine
wenn man darüber viel Streit anfangen wollte;
mir
von keinem sonderlichen Nutzen,
große Thorheit,
und
zu Gefallen mag es Einer behaupten oder nicht, ich werde einem Jeden
bei
lassen."
feinen Gedanken
(Vernünftige Gedanken von Gott, der
Welt rc. I. 438 in Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie I.
137.)
Schon jetzt lassen sich auf Grund eingehender Beobachtungen über
mannigfache Erscheinungen des thierischen Lebens allgemeine Gesetze auf
stellen, die leidlich gesichert sind.
Aber nicht nur der einzelne Mensch
und das einzelne Thier geben der Psychologie in ihrem experimentellen Verfahren die werthvollsten Aufschlüsse, sondern der Blick erweitert sich vom Individuum auf die Gesammtheit, die sich von denselben Gesetzen
gelenkt zeigt, welche das Leben des Einzelnen beherrschen. danke einer allgemeinen Psychologie,
um
Dieser Ge
eS zunächst so zu benennen,
war zuerst von Herbart gefaßt, aber er litt an der einseitigen Ueber-
schätzung, welche in seinem System dem einzelnen Realen überhaupt zu Theil wird.
So suchte er aus den Hemmungen und Störungen der
Jndviduen allein die Völkergeschichte zu construiren und vermeinte, daß
das Gewebe des gesellschaftlichen Daseins aus denselben Fäden bestände,
welche das Leben der Einzelnen ausmachten, ja daß überhaupt der ganze Mechanismus der socialen Association lediglich ein Werk der Individuen wäre.
Daher müßten eben wie für die individuelle, so auch für diese
allgemeine Psychologie dieselben Gesetze gelten.
Diese Einseitigkeiten sind
dann späterhin von Lazarus und Steinthal mehr ausgeglichen und zu der Idee einer Völkerpsychologie erweitert worden.
„Die Psychologie
lehrt, daß der Mensch durchaus und seinem Wesen nach gesellschaftlich ist; d. h. daß er zum gesellschaftlichen Leben bestimmt ist, weil er nur im
Zusammenhang mit seines Gleichen daö leisten und werden kann, wie er zu sein und zu wirken durch sein eigenstes Wesen bestimmt ist.
Auch ist
in der That kein Mensch, daS was er ist, rein aus sich geworden, son dern nur unter dem bestimmenden Einfluß der Gesellschaft, in der er lebt.
Jene unglücklichen Beispiele von Menschen, welche in der Einsamkeit deS
Waldes wild aufgewachsen waren, hatten vom Menschen Nichts als den Leib, dessen sie sich nicht einmal menschlich bedienten: sie schrien wie daS Thier
und gingen weniger, als sie kletterten und
traurige Erfahrung
selbst,
daß
wahrhaft
krochen.
menschliches
So lehrt
Leben, geistige
Thätigkeit nur möglich ist durch das Zusammen- und Jneinander-Wirken
der
Menschen.
Der
Geist
ist
daS
gemeinschaftliche
Erzeugniß
der
menschlichen Gesellschaft.
Hervorbringung des Geistes aber ist das wahre
Leben und die Bestimmung» des Menschen; also ist dieser zum gemein samen Leben bestimmt, und der Einzelne ist Mensch nur in der Gemein samkeit, durch die Theilnahme am Leben der Gattung." Völkerpsychologie I. 3.)
(Zeitschrift für
„ES verbleibe also der Mensch als
seelisches
Individuum Gegenstand der individuellen Psychologie, wie eine solche die bisherige Psychologie war; eS stelle sich aber als Fortsetzung neben sie
die Psychologie deS gesellschaftlichen Menschen
oder der menschlichen Ge
sellschaft, die wir Völkerpsychologie nennen, weil für jeden Einzelnen die
jenige Gemeinschaft, welche eben ein Volk bildet,
historisch gegebene als auch,
im Unterschied von
sowohl die jederzeit
freien
allen anderen
Culturgesellschaften, die absolut nothwendige und im Vergleich mit ihnen
die allerwesentlichste ist.
Einerseits nämlich gehört der Mensch niemals
bloß dem Menschengeschlechte als der allgemeinen Art an, und anderseits
ist alle sonstige Gemeinschaft, in der er etwa noch steht, durch die deS Volkes
gegeben.
Die Form
eben ihre Trennung
des Zusammenlebens der Menschheit ist
in Völker
und
die Entwicklung des Menschenge
schlechts ist an die Verschiedenheit der Völker gebunden."
(S. 5.)
ES
erhellt aus diesen Anführungen, daß das Gebiet dieser neuen Wissenschaft daS Gesammtleben der Menschheit ist, sofern eS sich schon bis zu bestimmten
Völkergruppen mit staatlicher Organisation differenzirt hat.
Und zwar
muß es daS Ziel dieser Untersuchungen sein, die einzelnen Ursachen festzu stellen, aus welchen nach Angabe sämmtlicher Bedingungen eine bestimmte
Wirkung als mechanisches Product sich ableiten läßt; mit anderen Worten
den gesetzmäßigen Zusammenhang
in den Thatsachen des Völkerlebens
durch eingehende Vergleichung des bezüglichen Materials klar zu legen. Natürlich handelt es sich hier nicht nur um die geschichtlichen Erlebnisse
im engeren Sinne (sonst würde sich schwerlich ein erheblicher Unterschied von der Historiographie aufzeigen lassen), sondern um die ganze Fülle deS Volksgeistes, wie er sich in seinen verschiedenen Aeußerungen, sei eS
Religion, Sprache, Kunst, Recht, Sitte u. s. f. manifestirt.
Es ist also
eine umfassende Culturgeschichte im idealen Stil, nur mit dem Unterschied,
daß hier aus den psychischen Processen die Gesetze entwickelt werden, die dem ganzen Verlauf zu Grunde liegen.
Die Völker werden betrachtet
als Organismen, und an ihnen, ihren Sitten und Rechten die psycholo
gischen Eigenthümlichkeiten studirt, die sich in ihnen als specifisch unter scheidende Merkmale kundgeben.
„Die Völkerpsychologie wäre
zu be
stimmen als die Erforschung der geistigen Natur des Menschengeschlechts,
der Völker, wie dieselbe die Grllndlage zur Geschichte oder dem eigentlich
geistigen Leben des Volkes wird."
(S. 13.)
Unleugbar schon ein bedeutender Fortschritt gegen früher; denn wäh
rend die rationalistische Ansicht Rousseau'S z. B. die Sitten und Gesetze auS einer ad hoc geschehenden vertragsmäßigen Verabredung (Contrat
social) hervorgehen ließ oder eine andere weit verbreitete Ansicht, wie sie Kant vertrat, die ethischen Ideen dem Menschen als ursprünglich an
geborenen Besitz zuschrieb, unternahm eS die Völkerpsychologie zuerst an
der Hand der vergleichenden Wissenschaften den Entwicklungsgang nach zuweisen, welchen irgend eine Vorstellung im wirklichen Verlauf des so
cialen Lebens genommen hatte.
Man wollte nicht mehr speculativ Gesetze
decretiren, welche nun hinterher die Erschetnungrn des geschichtlichen Wer dens zu befolgen hätten, sondern man suchte umgekehrt burch sorgfältiges Studium der Wirklichkeit diejenigen Verhaltungsweisen abzulauschen, die, falls sie in regelmäßiger Succession bei denselben Ereignisien sich wieder
holten, Gesetze benannt wurden.
Es zeigte sich, daß weder bestimmte
Verabredungen, noch fertige Anlagen den ganzen Inhalt des BölkerlebenS producirt hätten, daß vielmehr auf Grund innerer und äußerer Bedin
gungen aus einem ursprünglich minimalen Element (das man Jnstinct,
Empfindung oder sonst wie nennen mag) sich in fortdauernden Differen-
cirungen das geistige Leben der Menschheit entwickelte.
Dies eben empirisch
nachzuweisen auf den verschiedenen Gebieten menschlichen Denkens, war
Sache der Specialwissenschaften; namentlich griff hier die aus kleinen
Anfängen mächtig emporgewachsene vergleichende Sprachwissenschaft hülfreich ein.
So warfen die Forschungen von Lazarus Geiger ein ganz
neues Licht in die dunkeln Striche, welche bislang die vorhistorische Zett umhüllt hatten.
Er suchte in der Entwicklungsgeschichte der Worte und
Begriffe die Entwicklung der menschlichen Vernunft selbst zu erfassen, und sein Panier war:
Die Sprache hat die Vernunft erschaffen, vor der
In ähnlicher Weise gewann Max
Sprache war der Mensch vernunstloS.
Müller durch die vergleichende Zusammenstellung der zu ein und dem
selben Sprachstamm gehörenden Wörter höchst interessante Aufschlüsse so
wohl über den Zusammenhang der Racen unter sich, als auch über ihre geistigen Zustände in Zeiten, von denen keine Ueberlieferung uns Berichte
erhalten hat.
Aus der Bedeutung einzelner Wörter erschloß er mit voll
kommener Sicherheit das Vorhandensein bestimmter religiöser und sittlicher
Vorstellungen, konnte er z. B. das Institut der Ehe, die Ueberwindung der nomadisirenden Lebensweise durch die Stufe des Ackerbaus bei den Ariern, den Vorfahren der Jndogermanen erweisen, also in Zeiten zurück greifen, die sonst für immer dem wissenschaftlichen Forschen verhüllt ge
blieben wären.
Die alten Schranken,
historischen Perioden getrennt hatten,
welche bislang die
Völker
in
stürzten ein, an der Hand der
Sprachwissenschaft ergab sich, daß die alten Bewohner der iranischen Hoch ebene sowohl die Ahnen der jetzigen Ansiedler in den Gangesniederungen,
als auch der deutschen Volksstämme gewesen sein müßten; immer weiter
öffnete sich die Perspective,
um wenigstens Material für eine Entwick
lungsgeschichte des menschlichen Geschlechts anzuhäufen, sofern sprachliche und
damit zusammenhängende religiöse Studien einen wissenschaftlichen
Aufbau ermöglichten.
Im Verlauf dieser Skizze, die selbstredend nur die gewichtigsteil Momente des geschilderten Prozesses herausgreifen konnte, waren wir schon
genöthigt, mit Vorstellungen zu operiren, welche wesentlich und bahn brechend
der
durch
Wissenschaft
die
Eh. Darwin übermittelt wurden.
epochemachende
Entdeckung
von
Der vielfachen Angriffe, der Lücken
in dem Beweismaterial, der phantastischen Ausschreitungen, zu welchen
jene Lehre von der natürlichen Zuchtwahl Veranlassung gegeben hat, hier
ausführlich zu gedenken, liegt kein Grund vor; handelt es sich für unsere ganze Untersuchung doch
nicht um die möglichst vollständig« Einsicht in
den Plan und die Tendenz einer Specialwissenschaft, also hier der Bio logie, sondern vielmehr nur darum, die schöpferischen Antriebe kennen zu
lernen, welche im Lauf der Jahrzehnte Philosophie und Naturwissenschaft mit einander ausgetauscht
haben.
War mithin der schon von Lamarck
geäußerte, von Darwin aber besonders durch die Selectionötheorie im Kampfe ums Dasein erweiterte Gedanke von der allmählichen Entwick
lung der Organismen aus irgend einem structurlosen Urwesen (in dem aber schon, wenn auch völlig dunkel,
die beiden primären Eigenschaften
der Bewegung und Empfindung sich vorfanden) ein durch die empirische
Forschung bestätigter, so fragte es sich, in wiefern sich dieses Prinzip der Dtfferenzirung methodologisch für andere Wissenschaften verwerthen ließ.
Sollte es sich nicht als möglich erweisen, daß in derselben Weise, wie in
dem äonenlangen Prozesse
durch stetige Theilung und anderseits Verer
bung derselben psychischen Funktionen, so auch in der Völkergeschichte durch Anpassung an die Bedingungen des Klimas, der Nahrung und der all
gemeinen Bodenverhältnisse eine ununterbrochene Umwandlung der Racen sowohl, als der in ihrem socialen Dasein erwachsenen rechtlichen und sitt
lichen Institute sich nachweisen ließe,
von denen dann
immer dasjenige
Produkt sich am lebensfähigsten zeigen mußte, daS im Stande war, übrigen die Spitze zu bieten und sie zu absorbiren?
den
In der That hat
die Geschichte die Anwendung dieser Hypothese vertragen; schon Buckle
versuchte bekanntlich mit umfassender Gelehrsamkeit die Gesetze aus den
empirisch gegebenen Bedingungen zu. construiren, welche den Verlauf der geschichtlichen Entwicklung beherrschen: nur freilich betonte er zu einseitig
die
mechanische Sette, und
ließ
die psychische, d. h. die unvertilgbare
Eigenart des Volkes selbst zu sehr außer Acht.
Dies aber müssen wir
von vorneherein als principielle Forderung aufstellen, daß gegenüber der rein mechanischen Betrachtung (die sich also in der Angabe der wirksamen Existenzbedingungen für irgend einen Organismus erschöpft) das correlate
Kehrbild, die psychische nicht vergessen wird; denn — um bei dem einfachsten Vorgänge stehen zu bleiben, wenn irgend ein Element sich an seine Um gebung so weit anpassen soll, daß eS erhalten bleibt, so muß eS offenbar schon eine bestimmte Natur besitzen, muß ein Quäle sein, um zu diesem
Entschluß gelangen zu können.
Sonst würde man sonst zu der ungeheuer
lichen Vorstellung genöthigt, daß jenes Element,
früher völlig
eigen-
schaftSloS, nun plötzlich erst ein unterscheidbares Naturell erhielte, ähnlich wie die tabula rasa der Sensualisten, welche sie durch die wechselnden
Eindrücke der Erfahrung allmählig beschrieben dachten.
Sehen wir aber
von diesen Einseitigkeiten ab, so fragt eö sich, ob uns die Entwicklungs lehre ähnliche Rückschlüsse
auf dem Gebiete des Völkerlebens gestattet,
wie wir sie beispielsweise in der Geologie aus den verschiedenen Schichten
der Erdrinde auf frühere Perioden tellurischer Existenz unbedenklich uns
erlauben.
Daß
dieß thatsächlich der Fall
ist, gehört zu den
frucht
barsten Errungenschaften jener Theorie, die leider noch viel zu wenig ge
würdigt wird. „ES ist
Treffend charakterisirt diesen Punkt ein moderner Forscher:
eine der größten und folgenreichsten Entdeckungen der Wissen
schaft unserer Tage, daß jedes kosmische Gebilde alle Phasen seiner Ent
wicklung noch an sich trägt und aus Allem, was ist, die unendliche Ge schichte seines Werdens
in ihren Grundzügen
erschlossen werden kann.
Wie sich auS der Struktur deS gestirnten Himmels von heute dessen welt geschichtliche Entstehung erschließen läßt,
wie die Schichten der Erdober
fläche unS die Geschichte unseres Planeten entrollen, wie die Morphologie uns gelehrt hat, auS der organischen Struktur irgend einer Pflanze oder
eines Thieres auf die Stufen zurückzuschließen, welche es dereinst durch laufen hat, bis es zu seiner jetzigen Entwicklungshöhe gelangte, und wie wir in den Phasen des fötalen Lebens die wesentlichen Phasen des RassenlebenS wiederfinden, wie aus der Struktur des menschlichen Gehirns die
Geschichte seiner Entwicklung
durch denjenigen entziffert werden kann,
welcher diese Runen zu lesen versteht, wie der Sprachforscher auS der Sprache eine Geschichte der menschlichen Vernunft zu Tage fördern kann,
wie sogar, wenn man Geiger'S interessanten sprachwissenschaftlichen For
schungen trauen
darf, das Farbenspectrum zugleich die Geschichte des
menschlichen Sehens bedeutet, so
giebt unS auch das Gesammtbild der
menschlichen Rasse und der Zustand jede« einzelnen Organismus, welchen
Philosophie und Naturwissenschaft.
468
wir im menschlichen Gattungsleben antreffen,
ein sicheres Material für
Rückschlüsse auf die Geschichte der Organisation der menschlichen Rasse (Post, Ursprung des Rechts S. 8.)
und des einzelnen Organismus."
Auf diesen
Ideen beruht die Wissenschaft der Ethnologie, die
jüngste unter ihren sämmtlichen Geschwistern; unser nächstes Augenmerk würde also sein, uns mit der Aufgabe, Methode und den bezüglichen Re
sultaten bekannt zu machen, die wir von jener Disciplin erwarten dürfen. Die
Ethnologie will
eine
Geschichte der Entwicklung der menschlichen
Rasse liefern von ihren dürftigsten Anfängen bis zu ihren höchsten Culminationspunkten, und indem sie dieses Gemälde vor unseren Blicken auf
rollt, zeigt sie zugleich die wirksamen Triebfedern auf, welche diesen ganzen
Proceß in den Gang setzen.
Während sie also die ununterbrochene und
innerlich zusammenhängende Folge von Entwicklungsphasen entwirft, in denen die menschliche Geschichte sich bewegt hat, giebt sie zu diesem bunten
d. h. die Ge
Gewühl des Geschehens zugleich die abstrakten Schemata,
setze hinzu, welche jenen Verlauf beherrschen: Sie ist gleichsam Geschichts
Aber zugegeben, daß dies der ideale
schreibung und Philosophie zugleich.
Plan jener Wissenschaft sei, wie soll es möglich sein, uns über alle jene Perioden der menschlichen Geschichte auch nur annähernd aufzuklären, die
ewige Nacht bedeckt und wo die kritische Historiographie mit allen ihren
Hülfsmitteln der Paläontologie u. s. f. sich verzweifelnd abwendet?
Oder
ist etwa unsere Kenntniß unseres eigenen Lebens auf diesem Erdball auch nur einigermaßen zusammenhängend?
Oder finden wir nicht außer jenen,
mit undurchdringlichem Dunkel bedeckten Lücken völlig entwickelte Cultttren vor uns, deren Vorgeschichte uns durchaus verschlossen ist?
Können wir
also auch nur mit einem gewissen Rechte von einer Weltgeschichte reden,
oder löst sich nicht vielmehr dies anscheinende Continuum in eine Menge disparater Theilchen auf, die noch dazu häufig meteorhaft aus dem Nichts
empor zu tauchen scheinen und in ihrer ferneren Gestaltung ebenfalls in pfadlose Nacht verschwinden?
verworrenen
Zustand
ES wäre thörichte Vermessenheit, diesen
unserer
geschichtlichen
Kenntnisse
in
imaginärer
Selbsttäuschung uns vorenthalten zu wollen, sobald wir den Kinderschuhen entwachsen sind.
Um so dringender wiederholt sich die Frage, wie eS der
Ethnologie gelingen solle, diesen Schleier zu lüften? vornherein das
Bedenken nicht
zu
überwinden,
Wir vermögen von
daß unsere
Antwort
schwerlich den Historiker befriedigen wird; allein um so mehr möchten
wir den einen Punkt zur Beachtung empfehlen, daß eS unserer Wissen
schaft durchaus nicht auf einen
fraglichen Verhältnisse
ankommt,
chronologischen Zusammenhang sondern nur
auf
einen
der
causalen.
Darin liegt freilich das Verletzende für die rein geschichtliche Auffassung,
daß in dieser Perspective die
zeitliche Folge irrelevant
erscheint,
da
wir gewöhnt sind, nicht grade in der Zeit als solcher, aber wohl in den Zeitströmungen und in den sie anscheinend producirenden Individuen
die realen Träger dieser ganzen Entwicklung zu verehren.
Diese absolute
Werthschätzung der Individuen wird allerdings durch die Ethnologie er heblich gekränkt; denn in ihr erscheint das Einzelne nicht wie in der iso-
lirten geschichtlichen oder psychologisch biographischen Betrachtung als ein
Wesen mit unendlicher Spannkraft und Spontaneität ausgerüstet, dem eS gleich seinen Voreltern, den Titanen erlaubt sei den Himmel zu stürmen: Vielmehr
erscheint eS hier als Product der psychischen Verhältnisse und
der psychischen Vorbedingungen (Individualität, Stammescharakter u. s. f.) und
eingepreßt in die ihm zugewiesene Umgebung, welche eben sowohl
seine Freiheit einengt,
als
ihm anderseits den einzig möglichen Schau
liefert.
Daß wir diese individuelle Kraft nun
niedriger anschlagen als billig
scheinen möchte, hat darin seinen zwin
platz seiner Thätigkeit
genden Grund, daß wir zunächst hier Stufen der menschlichen Entwicklung im Auge haben, auf denen der Einzelne noch nicht so unvergleichbar ver schieden sein konnte, wie auf den Höhepunkten einer entwickelten Cultur.
Und das
ist nicht nur eine bloße Vermuthung, vielleicht durch allerlei
deductive Gründe gestützt,
sondern unabweisbares Resultat der ethnolo
gischen Vergleichung selbst.
Diese ergibt nämlich unwiderleglich, daß in
den ersten Phasen menschlicher Association (denn vom isolirten Menschen
ist überhaupt keine Rede) bei den verschiedensten und geographisch ent legensten Völkerschaften sich genau dieselben Formen der Organisation
zeigen.
So wiederholt sich die Entwicklung der Ehe von der Genossen-
schaftSehe bis zur rein monogamischen Form durch alle Phasen, wie Raub, Erdienen, Kaufen der Braut u. s. f in den verschiedenen Stadien bei fast allen Völkern, nur daß uns häufig nur noch Rudimente dieses Processes
aufbewahrt sind,
zu denen wir die fehlenden Glieder ergänzen müssen.
In derselben Weise läßt sich die Entstehung der patria potestas gegen
über einer früheren gynäkokratischen Periode in den genauesten Abstufungen verfolgen.
Während
nun der Historiker der Geschichte eines Volkes für
sich nachgeht, resp, so weit es mit anderen in Berührung gekommen ist, verläßt der Ethnologe diesen engeren Rahmen, und indem er die ver schiedenen Organisationsformen, wie sie sich auseinander entwickelt haben,
zu einem zusammenhängenden Processe aneinander fügt, gewinnt er die Grundzüge für die Geschichte nicht eines oder mehrerer Völker, sondern
der ganzen menschlichen Rasse. welchem Jahrzehnt
Daher kann es ihm gleichgültig sein, auS
oder Jahrhundert irgend ein Recht oder eine Insti
tution ihm überliefert wird; denn jene Signatur ist nur bedeutsam für
die Geschichte eine« bestimmten ethnischen ComplexeS, irrelevant da
gegen für die des gestimmten Menschengeschlechts.
Das einzig entschei
dende Merkmal für die ethnologische Behandlung ist vielmehr die innere Zusammengehörigkeit zweier
ob sie denselben Ursachen ent
Ereignisse,
sprungen sind; diese aber können, wie wir sahen, an verschiedenen Orten
und in verschiedenen Zeiten dieselben sein.
Sollte es uns wider Erwarten gelungen sein, die Bedenken des Hi storikers wenigstens für den Augenblick hinsichtlich dieses Punktes zu be
schwichtigen, so wird uns ein anderer Einwurf um so lebhafter erwarten, auf welche Sicherheit sich denn überhaupt dies ganze Verfahren der Eth
nologie stütze, wo die Denkmäler, Urkunden und Berichte seien, die über alle jene Perioden Auskunft gäben, die doch sonst der wissenschaftlichen
Kenntnißnahme verschlossen seien?
Abgesehen von den literarischen Nach
richten, mit denen natürlich unsere Disciplin grade so andere geschichtliche arbeitet,
gut
wie jede
ist eS dasjenige Mittel, welches überhaupt
den Aufschwung der Wissenschaften in neuerer Zeit begründet hat:
DaS
Experiment oder in diesem Falle die Vergleichung, die nichts weiter ist als eine andere Form des ersteren.
Wie die Psychologie nicht eher
wirklich nennenswerthe Resultate erzielte, als bis sie sich des Experiments
bediente, wie die
Sprachwissenschaft nicht
eher auS
dem
beschränkten
Rahmen einer philologisch-exegetischen Disciplin herauStrat, als sie durch möglichst umfassende Vergleichung die ähnlichen und gleichartigen Erschei nungen auS der wirren Masse Gesetzen der
der
übrigen auSsonderte und so zu den
Sprache gelangte, wie überhaupt jede Wissenschaft durch
diese comparative Methode erst wahrhaft synthetisch, d. h. wissenschaftlich
wird, so versucht auch die Ethnologie die verschiedenartigen Fälle unter einem Princip zu subsumiren.
Durch die massenhaften Berichte aller Art
sind wir nunmehr in den Stand gesetzt, über die ersten Zeiten der mensch
lichen Gesittung eine leidlich festbegründete
wissenschaftliche
Ansicht zu
haben, wie eS die Werke von Bastian, Fr. Müller, Tylor, Lubbock u. A. beweisen.
An diesem soliden Fundament wird mithin jede Notiz eines
Reisenden gemessen und sofern sie mit den allgemeinen Bezügen stimmt,
angenommen; wo nicht, verworfen.
Natürlich wird in den Einzelheiten
noch immer viel Unsicherheit herrschen, wie ein Blick in jede detaillirte
Beschreibung der Völker deS
Erdballs zur Genüge zeigt:
Allein
die
Grundlinien für die Entwicklung der primitiven menschlichen Organisationen sind jedem ScepticiSmuS entzogen; und außerdem werden durch das täglich
anwachsende Material die Fehler thunlichst auSgeschieden, so daß wirklich
unglaubwürdige, d. h. in sich unbegründete Nachrichten über irgend eine wichtigere Erscheinung des Völkerlebens schwerlich mehr auftauchen können.
Eine gänzlich falsche Folgerung würde eS sein, wenn man meinte,
durch ein solches Verfahren die Geschichtschreibung verdrängen zu wollen; durchaus nicht: Immer,
wo eS sich um die Erforschung eines ganz be
stimmten localisirten und chronologisch fixirten ethnischen Gebildes handelt,
muß dies Detail der Raffengeschichte von dem exacten Historiker festgestellt und untersucht werden.
einer
Aber überall wo dieser Gesichtspunkt zu Gunsten
weiteren Perspective aufgegeben wird, wo von den allgemeinen
AffociationSformen die Rede ist, wie sie sich auf den nämlichen Entwick lungsstufen immer und überall identisch zeigen, da reicht die Arbeit des, nur den specifischen
Abschnitt der universalen
Geschichte
verfolgenden
Forschers nicht aus, sondern da beginnt die Thätigkeit des Ethnologen. Viele Thatsachen sind vom historischen Standpunkt einfach unlösbar und
erscheinen als capriciöse BolkSlaunen, die unser Lächeln hervorrufen; die ethnologische Forschung aber lehrt diese für sich unverständlichen Rudi
mente als EntwicklungSglteder eines gesetzmäßig sich vollziehenden ProzeffeS kennen, den wir auS Vergleichung mit anderen Quellen ergänzen.
In diesem Sinne wird man begreifen, welche unendliche Wichtigkeit die Sitten, Gewohnheiten, Rechte und Institute der sogenannten Naturvölker besitzen; denn ohne ihr Vorhandensein (wozu selbst die Gegenwart immer fort noch manch werthvolles
Supplement liefern kann) wäre
es uns
schlechterdings unmöglich, die Entstehung der Cultur zu verstehen.
Wie
diese nicht gleich der Minerva gewappnet und ausgebildet ans Tageslicht
treten kann, sondern unendlicher Vorbereitungen bedarf, wie also auch hier wie auf dem biologischen Gebiete durch stetige Differenzirung immer
neue Formen sich entwickeln,
so kann unsere Weltanschauung nicht eher
eine leidlich umfassende werden,
als bis sie diese Geschichte des mensch
lichen Geistes einigermaaßen verstehen lernt.
Es ist demnach unseres Er
achtens kein Zeichen besonders tiefer Bildung, auf diese Bemühungen verächtlich herabzusehen von der Höhe beneidenswerther Civilisation, als
seien sie nur ein würdiger Gegenstand romanhafter Neugier oder dilettan tischer Spielerei:
Vielmehr ist in ihnen das Material für eine künftige
großartige Weltanschauung enthalten. Wie aber steht es mit den Resultaten dieser jungen Wissenschaft? Oder muß man Alles auf den guten Glauben an eine segensreiche Zu
kunft setzen?
Wir meinen nicht; außer dem thatsächlichen Material, das
unsere empirische Kenntniß erheblich erweitert, lassen sich nach zwei Rich
tungen hin schon die Antriebe verfolgen, welche der Philosophie von dieser
Seite aus zugeführt werden.
Zunächst in rein theoretischer Beziehung;
die vergleichende Ethnologie zeigt unwiderleglich die Einseitigkeit und wissenschaftliche Unhaltbarkeit der extremen Materialisten und Spiritus-
Philosophie und Naturwiffeuschast.
472
So weit wir organisches Leben zurückverfolgen mögen, überall
listen.
finden wir jene schon früher erörterten Eigenschaften der Bewegung und
Empfindung beieinander, nie die eine durch die andere aufgehoben und ineinander übergegangen.
ES wäre daher ein grober Mißgriff, bei jener
Construction der allgemeinen Geschichte lediglich den einen der beiden
wirksamen Factoren betonen zu wollen auf Kosten des anderen;
d. h.
entweder die rein mechanische Seite zu berücksichtigen, wie sie sich überall gleichmäßig darstellt in den Existenzbedingungen wie Klima, Nahrung,
Fortpflanzung u. s. f., und darüber die psychische Beziehung vergessen zu wollen.
Aus jenen mechanischen Gründen geht an sich Nichts hervor,
wie wir uns früher schon bei dem Darwinschen Princip der Anpassung
überzeugten; immer muß
auf
(obgleich
den
in den Individuen
ersten
Stufen
sehr
das eigenartige Subjekt
gleichförmig)
durch dessen Afficirung seitens der Außenwelt schehen
entsteht.
gesucht
werden,
überhaupt erst ein Ge
An der Pforte also der Weltentwicklung
steht schon
das Individuum mit bestimmten Eigenschaften, mit einer äußeren und inneren, einer mechanischen und psychischen Welt, und dies Individuum
ist nicht etwa erst allmählig im Lauf irgend
eines irdischen Prozesses
entstanden, etwa im Kampfe ums Dasein oder sonst wie. düng
Die Bil-.
des Individuum liegt vielmehr über alle Grenzen möglicher Er
fahrung hinaus im Gebiete des Uebersinnlichen
und ist nur als die
That eines Weltschöpfers, Absoluten, Kosmos oder wie man sonst will, zu begreifen (vergl. Post, Bausteine zu einer allgemeinen Rechtswissen schaft S. 25 ff.).
Ebenso einseitig wäre es, die mechanische Seite zu ver
nachlässigen, den weitgreifenden Einfluß zu vergessen, den die äußeren Bedingungen auf diese Entwicklung auSgeübt haben, und damit in einen verschwommenen, haltlosen Spiritualismus zu verfallen.
Um das zu ver
deutlichen, was wir hiermit meinen, führen wir die Worte eines in dieser
Zeitschrift vielfach erwähnten Mannes an: „Ausnahmslos universell ist die Ausdehnung des Mechanismus und zugleich völlig untergeordnet die
Bedeutung der Sendung, welche der Mechanismus in dem Bau der Welt zu erfüllen hat."
(Lotze, Mikrok. I Vorr. S. 15.)
Also Sinnenwelt und
Empfindungswelt gehören unmittelbar zu einander und kein« kann ohne
das andere bestehen.
„Die mechanische Welt regelt unser Empfindungs
leben zu einem Ich,
unser Ich regelt das kosmische Bewegungsleben zu
einer Welt.
Ohne unser Sinnenleben würde unsere Seele ein psychisches
Chaos, ohne unser Ich unsere Sinnenwelt ein mechanisches Chaos sein. Der einzelne Mensch, wenn
sich daher
auch
er zum bewußten Wesen heranwächst, baut
in stetiger Correspondenz und in gleichmäßigem Fort
schreiten ein Ich und eine sinnliche Welt.
AuS der gegebenen Scheidung
Philosophie und Naturwissenschaft.
473
der EmpfindungS- und BewegungSthätigkeiten erwachen hier Vorstellungen,
dort Eigenschaften, hier Begriffe, dort Dinge.
Nur für ein Menschliche-
Bewußtsein existiren Farbe, Schall, Wärme, Druck, nur für ein mensch
liche- Bewußtsein Gestirne, Pflanzen, Thiere, Menschen. Bewegung-leben ist
anderes.
ohne da-
Da- kosmische
menschliche Bewußtsein etwa- durchaus
Andrerseits werden nur durch das kosmische Bewegungsleben
Vorstellungen und Begriffe in der menschlichen Seele erzeugt:
ohne den
Einfluß der Welt der Bewegungen würde sie nur eine schlummernde
Potenz der Empfindung sein.
So trägt alles Psychische den Gegensatz
des Mechanischen schon in sich; keinS kann ohne das Andere sein, und
(Post a. a. O. S. 24.)
beide sind durcheinander bedingt."
Blicken wir zurück auf unsere anfängliche Frage, woher das selt same, bald feindselige, bald freundschaftliche Verhältniß zwischen Philo sophie und Naturwissenschaft komme, so wird uns die vorliegende Erwä
gung die Antwort übermitteln.
Bisweilen verband eine, meist freilich
schnell erlöschende Neigung jene beiden Wissenschaften, weil Beide
ein
gleich großes Interesse daran hatten, die Wirklichkeit zu erklären und sich
dennoch außer Stande sahen, ganz ohne Hülfe der anderen dies schwere Werk zu vollführen.
Bei weitem häufiger aber entbrannte bittere und
heftige Fehde zwischen ihnen, weil Jede glaubte, des Beistandes der an deren cntrathen zu können, die eine sich auf ihren himmlischen Ursprung verließ und mit kühner Speculation das Welträthsel zu lösen vermeinte, die andere mit klarer Erkenntniß bescheidenere Fragen richtig auffaßte und
zerlegte, um dann in ungerechtfertigter Verallgemeinerung überall dasselbe Princip auch in Sachen anzuwenden, die nicht vor ihr Forum gehörten.
Hierfür liefern die letzten Decennien in der Geschichte unserer Wissen^ schäften ein ebenso lehrreiches, wie trauriges Beispiel; die gesunden An
fänge der jüngsten Zeit führen darauf hin, daß die Naturwissenschaft für die Bearbeitung
der Philosophie einen
möglichst breiten Unterbau zu
liefern hat, während die Philosophie, freilich ohne Borurthetle und etwaige Abneigung gegen die Aussagen der Erfahrung, methodologisch sowohl als
metaphysisch, d. h. in der Verwerthung aller bezüglichen Gesichtspunkte nach einer einheitlichen Weltanschauung hin, das letzte Wort zu reden hat.
Th. Achelis.
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 5.
34
Der Boer im Transvaal*). Von
H. d. G.
Noch vor Kurzem beschäftigten sich nur Wenige mit dem Transvaal und seinen Bewohnern.
Die am 12. April 1877 Seitens England er
folgte Annexion dieses Landes, das doch immerhin ungefähr eben so groß wie Frankreich ist, hat nicht einmal vermocht die allgemeine Aufmerksam
keit dahin zu lenken.
ES hat der in den letzten Monaten erfolgten Ereig
nisse**), der Niederlagen der Engländer, des Todes eines ihrer Generale und des den Boers günstigen Friedens bedurft, um das Interesse, sowohl
deS Militärs wie auch des Politikers diesen Landstrich, seine Bewohner,
und deS Handelstreibenden für
deren
Schicksale und Leben wach
zurufen.
DaS Land selbst ist seit noch gar nicht langer Zeit von Weißen be wohnt, die ersten die dahin kamen, mögen wohl die mit der Annexion
der Kapkolonie von 1806 Unzufriedenen gewesen sein.
Die Folge dieser
Annexion und der daraus entstehenden fortwährenden Reibereien zwischen
der englischen Regierung
und dem „dutch Boer“, wie diese Leute deS
Berufes wegen, dem die Meisten oblagen, hießen, war daß die BoerS bald den Oranje-Fluß überschritten.
Als dann im Jahre 1834 England
für feine sämmtlichen Kolonien das Sklaven-Emancipationö-Gesetz verkündete
*) Zur Schilderung sind benutzt worden:
1.
The Transvaal of to day, by Alfred Aylward 2. edition 1881.
2.
Der Unabhängigkeitskampf der niederdeutschen Bauern von Ernst von Weber. 1881. Neue militärische Blätter, Märzheft 1881.
3.
4. Englands Verantwoording in de Transvaalsche Kwestie, doof Sir Bartle Frere, exgouverneur van de Kaap Kolonie. 5. De Transvaal Republik en de Hollandsche Boeren, 1876. 6. De Zuid Africaansche Kwestie. Dortrag gehalten im Frühjahr 1881 zu Arnheim in Holland. 7. Het Handelsblad. ** ) Der Aufsatz ist Anfang Mai geschrieben.
und dieses in der Kapkolonie ohne Rücksicht auf den ungeheuren Schaden, den die Besitzer dadurch erlitten, einführte, begann tat Jahre 1835 daS
sogenannte trekken — d. h. Wetterziehen der BoerS derartig um sich zu greifen, daß binnen kurzem gegen 10000 die Kapkolonie verließen, ihre ausgedehnten, gut cultivirten Besitzungen für einen Spottpreis ver kauften und sich eine neue Hetmath suchten.
Die Anführer dieser Be
wegung — die Voortrekkers — waren vorsichtig genug die englische Regierung zu fragen,
ob ihnen daS „trekken“ erlaubt wäre, worauf
ihnm das Kap-Gouvernement antwortete, daß sie jenseits des OranjeFluffeS thun und lassen könnten, was sie wollten.
Die Voortrekkers
— auch Voorloopers genannt — glaubten somit ihr Ziel: ein freies selbständiges Volk zu sein, erreicht zu haben, ein Theil von ihnen zog nach Norden in den jetzigen Transvaal, ein größerer Theil wandte sich von hier auS durch die Pässe des DrachengebtrgeS nach Westen und er
reichte ein fruchtbares, heutige Natal.
aber fast vollständig entvölkertes Land — das
Hier hatte Moselekatze, der Attila des Südens, gehaust
und fast alle Eingeborenen die trekkende BoerS
gemordet.
Erst am Tugela-Fluffe fanden
einen Kaffernstamm,
die ZuluS,
deren Ober
haupt Dingaan ihnen einen erheblichen Landstrich abtrat, ihre Deputation
jedoch an einem Sonntage des Jahres 1838, kurz nachdem der Vertrag über diese Gebietsabtretung
unterzeichnet war,
ermorden ließ.
Dieses
hinterlistige Verfahren entstammte natürlich die BoerS zur höchsten Wuth
und obgleich bedeutend in der Minderzahl,
überschritten sie dennoch den
Tugelafluß und richteten in der Schlacht von „Veehtkop" irn Januar 1840
ein ungeheures Blutbad an zur Rache für den „blutigen Sonntag" von
1838.
Darauf kehrten sie nach Natal zurück und gründeten hier die
Batavische Republik, verließen daS Land jedoch wiederum als England 1844 Natal feinen Kolonien einverleibte.
Die „Voortrekkers“ gingen
wieder über das Drachengebirge zurück und errichteten den Oranje-Frei
staat, doch auch hier wurden sie durch die Annexion von 1848, nachdem
sie jedoch erst noch die brittische Macht bei BoomplaatS geschlagen halten, vertrieben.
Unter Führung vort Andreas Pretorius ging der — trek —
diesmal über den Vaalfluß herüber bis zu den Gegenden, wo ihre Väter 1836 bereits vorgedrungen waren.
Republik entstand hieraus.
Die Süd-Afrikanische oder Transvaal-
Da jedoch die englische Regierung wohl ein
sah, daß sie zu weit gegangen war, so schloß sie mit den emigrirten Boers am 2. Januar 1852 die Convention von Sandriver oder Zandrivier, in welcher allen nördlich des Vaal wohnenden BoerS volle Selbst
ständigkeit zugesichert wurde.
Dieser Convention folgte am 8. April 1854
die Ungültigkeitserklärung der Annexion des Oranje-FreistaateS.
34*
Durch
diese Convention hat der Oranje-Freistaat seine Freiheit ununterbrochen bewahrt, der TranSvaal-Republik ist sie jedoch nach 25 jährigem Bestehen
durch die Annexionserklärung vom
12. April 1877 wieder genommen
und erst durch den letzten Friedensschluß zurückgegeben worden.
Mit richtigem Blicke hatten die „Voorloopers“ von 1836 und 1848
die Fruchtbarkeit der von ihnen besetzten Gegenden erkannt,
denn der
Transvaal ist ein der Entwickelung sehr fähiges Land, dessen Produkte nur augenblicklich noch nicht leicht zu verwerthen sind, da eS keine Eisen
bahnen oder
andere bequeme Verbindungen mit dem Welthandel hat.
Die Folge hiervon ist, daß nur ein verhältnißmäßig geringer Theil deS Landes zum Getreideanbau verwerthet wird, und daß weite Flächen frucht
baren und ergiebigen Bodens nur als Weide heerden benutzt werden.
für die zahlreichen Vieh-
Der Staat zählt jetzt 1804 Regierungsfarmen
mit einem Areal von 11,447,000 engl. Acres und 10485 Privatfarmen mit 54,526,000 engl. Acres.
Auf diesen letzteren ist nur
ein Areal
von etwa 52420 Acres angebaut; das Uebrige wird nicht vom Pfluge berührt! Trotz der vielen Kämpfe die der „Voortrekker“ mit den Einge
borenen, mit dem Klima und mit der Natur zu bestehen hatte,
es doch auch unter den Weißen drei streng
giebt
von einander geschiedene
und sich bekämpfende Parteien.
Die Minorität, aber trotzdem die am Meisten Lärm machende Partei ist die der sogenannten Annexionisten, die zuerst die Annexion wollte in der
Hoffnung unter der englischen Herrschaft Aemter, Concessionen und dergl.
zu bekommen, dann aber als sie diese Begünstigungen nicht erhielt, ein ebenso unruhiges und verderbliches Element unter der neuen Regierung
wurde, wie sie eS vor der Annexion gewesen war. die Radikalen nennen, die stets
Man kann
sie
unzufrieden fein werden unter welcher
Form auch eine Regierung ihre Ausschreitungen zügelt. — Einen wesent lich anderen Charakter trägt die „Eisenbahnpartei".
Ihre Mitglieder be
klagen auf daS Bitterste, daß der Entwickelung des Transvaal noch nicht mehr Spielraum durch den Bau einer Eisenbahn gegeben ist, daß Eng
land alle Maßregeln, die irgendwie
eine Schädigung
der
Interessen
Natals Hervorrufen könnten, auf jede Weise zu hintertreiben suchte und
darum auch trotz des § 15 der AnnexionS-Proclamation in den Jahren
1877—1880 nie die Eisenbahnprojecte einer ernstlichen Erwägung unterzogen hat.
Diese Partei repräsentirt entschieden die Intelligenz und den Unter
nehmungsgeist des Landes, sie wünscht Eisenbahnen, Fortschritt und Self
government, war unter diesen Bedingungen jedoch mit der englischen Ober-
Hoheit einverstanden. — Die dritte Partei, die der „BoerS" ist die ent schiedene Gegnerin der englischen Annexionsgelüste.
Nach 1877 pflegten
sie zu sagen: „Ohne jeden Grund hat man unS unsere Freiheit genommen
und unser Land annektirt, nicht nur gegen den Willen der Majorität, sondern
sogar im Widerspruch mit der von Lord Carnavon dem Sir
Theophilus Shepstone gegebenen Instruktion, in welcher es heißt: „eine
Proclamirung der Annexion darf nur dann stattfinden, wenn Sie sich davon
überzeugt haben, daß das Land oder wenigstens die Mehrzahl seiner Be
wohner oder endlich seine Regierung es wünschen unsere Unterthanen zu werden."
Die BoerS waren umsomehr empört über diese Annexion als
sie beweisen konnten, daß die gegen sie vorgebrachten Anschuldigungen,
auf Grund deren die Annexion für nöthig befunden wurde,
auf falschen
Grundlagen basirt und größtentheilS Verläumdungen waren, auSgestreut
von Annexionisten, die in den Städten wohnend, ihre Klagen in die Oeffentlichkeit bringen konnten,
ohne befürchten zu müssen, daß der auf
dem Lande lebende Boer sobald etwas davon erfahren würde.
Was nun diese BoerS betrifft,
so sind sie ein kräftiger schönge
wachsener Menschenschlag, bedeutend über Mittelgröße, deren Aussehen sofort verräth, daß sie an Strapazen gewöhnt, aber auch befähigt sind
dieselben zu ertragen.
Sie sind Kolonisten d. h. sie sind nicht nach
Afrika gekommen um Vermögen zu machen und dann zurückzukehren,
sondern sie haben dort
eine neue Heimath für sich und ihre Nach
kommen gründen wollen.
Die Frauen haben durch das viele „trekken“,
durch die Theilnahme an den Strapazen, den Wanderungen und den blutigen Kämpfen viel von der weiblichen Anmuth verloren, sind jedoch nach dem einstimmigen Urtheil objektiver Beobachter treue und tüchtige
Hausfrauen, deren Pflichten sie sehr bald kennen lernen, da Männer
und Frauen kaum erwachsen, sich bereits verheirathen und einen eigenen Hausstand gründen.
Der
Charakter des „BoerS"
ist überlegt und besonnen, frei von
Leidenschaftlichkeit, den Gefahren, die ihm entgegentreten und an die er seit seiner ersten Jugend gewohnt ist, mit Ruhe inS Auge sehend.
DaS
Nomadenleben jedoch, welches der Boer während mehr als vierzig Jahre zu führen gezwungen war — wenn er sich der nach ihm gekommenen englischen Herrschaft nicht unterwerfen wollte — hat ihm ein ganz eigen
thümliches Gepräge von Unstätheit gegeben und man kann annehmen, daß nur wenige BoerS nicht jeden Augenblick bereit sein würden in neue Ge
genden zu „trekken“
um neue
Weide- und Wohnplätze aufzusuchen.
Durch dieses fortwährende „trekken“ sind die Boers zu dem unleugbaren Mißgriff gekommen, ihre eigene Thätigkeit zu weit auSzudehnen und sich
zu vereinzelt niederzulassen.
Die natürlichen Verhältnisse spielten hierbei
auch eine Rolle, denn der Boer, der vom Cap kam, wo er Holz, Wasser und ergiebige Weideplätze im Ueberfluß gehabt hatte, wollte sich erst dort wieder
niederlassen,
fand.
wo er AehnlicheS
Auf
dem
kahlen Plateau des
„hoogveldes“ — der Wasserscheide des Transvaal — war dies nicht zu
finden, darum zog er in die nördlich und östlich desselben gelegenen, frucht bar auSsehenden Ebenen. ungesund
und
Diese Strecken sind jedoch im höchsten Maaße
von tödtlichen,
Fiebern heimgesucht.
Menschen
und Thiere htnwegraffenden
kehrte der Boer nach jahrelangem An
Darum
kämpfen gegen diese Ungunst der Natur wieder zurück zu dem zwar rauheren, aber desto gesunderen „hoogvelde“.
der Transportschwierigkeiten der
„Buschgegenden" dem
sich
„hoogvelde“.
bedeutend Nicht
Ortschaften sind aus
weniger rentirt als die Viehzucht auf
allein
diesem
Hierzu kommt noch, daß in Folge
Getreideanbau in den tiefer gelegenen sondern ganze
einzelne Wohnplätze,
Grunde wieder von den BoerS verlassen
und ist ihnen dieses von den Annexionisten als ein Zurückweichen vor den Eingeborenen
auSgelegt worden.
Dieses „nie zur Ruhe kommen"
wird von dem Boer selbst bitter empfunden und er giebt diesem Gefühl manchmal in der Bezeichnung seiner Wohnplätze Ausdruck.
Weenen (Weinen) und Lhdenberg
Die Orte
(Berg der Leiden) verdanken
ihm
ihre Namen.
Die BoerS sprechen im Allgemeinen unter sich nur Holländisch, das jedoch in einzelnen Gegenden
sehr an daS Plattdeutsche streift und mit
portugiesischen,
malayischen und Hottentottischen Brocken
Auffallend
der
und
den
andrerseits.
ist
Unterschied
im
Sprachgebrauche
vermischt ist.
zwischen
Natal
übrigen englischen Colonien einerseits, und dem Transvaal Dort müssen die Ausländer die Sprache der Eingeborenen
lernen und können nur in dieser mit ihnen unterhandeln, hier sprechen die Eingeborenen dagegen holländisch, also die Sprache der Ausländer; nur
die Ortschaften machen eine Ausnahme.
Da in diesen das englische Ele
ment vorherrschend ist, so wird auch hier mehr englisch als holländisch
gesprochen.
Läßt sich eine englische Familie im Boerlande nieder,
so
wird sie ihren Kindern erst holländisch, dann die Kaffernsprache und dann erst englisch beibringen und wenn dieselbe Ansiedlerfamilie auch noch durch Generationen hindurch von England, als von ihrer Heimath spricht,
so
wird sie sich doch in wenigen Jahren als „AfricanderS," d. h. ächte Be wohner Süd-AsricaS fühlen. —
Wer ein gewisses Ansehen unter den
muß einen Grundbesitz von mindestens 6000 engl. Acres nachweisen können; wer auf der Besitzung eines Anderen wohnt Boers haben will,
und „Beiwohner" genannt wird, genießt kein Ansehen.
Nichtsdestoweniger
sind aber die Boers nur Bauern in vollem Sinne, vielleicht die größten
BauergutSbesttzer der Welt, sie sind und wollen nichts als Bauern sein. Wer im Transvaal etwa Gutsbesitzer zu finden meint, würde darum
sehr enttäuscht sein.
Er wird eS vielleicht unbegreiflich finden, daß Be
sitzer von so ausgedehnten Strecken Landes und von so zahlreichen Heerden so einfach leben können und da er um sich her keine Spuren der von dem
Boer erlittenen Mühen und Drangsalen sieht, wird er demselben leicht
Mangel an Unternehmungsgeist vorwerfen. — DaS Wohnhaus des BoerS
steht meist in einem durch eine dichte Hecke umgebenen Raume, am Ufer
eines kleinen Baches, von Trauerweiden beschattet. wenigen WirthschaftSgebäude.
Daran schließen sich die
Vor dem Wohnhause liegt das Ackerland,
der Gemüse- und Obstgarten, dessen Ernten nie mißglücken, und schon an dem Aeußeren deS Hauses kann man erkennen, ob dafielbe bereits feit lange bewohnt ist, ob der Besitzer wohlhabend, ob er fleißig oder
faul ist.
Bedenkt man,
unter
welchen schwierigen Verhältntffen die
BoerS ihre Wohnhäuser haben errichten müssen, ohne Hülfe eines Tech nikers, ohne Balken, Bretter, Zimmerholz oder Fensterrahmen beschaffen zu können, nur aus dem an Ort und Stelle sich vorfindenden Material,
man sich über das traurige Aussehen vieler dieser auS Lehm,
so wird
Rohr und Baumstämmen aufgebauten Häuser nicht wundern.
Dort wo
der Besitzer jedoch bereits längere Zeit weilt, steht meist ein ansehnliches HauS aus Fachwerk, dessen Wände mit weißem Kalk gestrichen sind und
dessen Dach mit dem langen Grase deS Landes gedeckt ist. Die einzelnen Besitzungen liegen meist 7—9 engl. Meilen von ein ander entfernt.
Bet solchen Entfernungen und in der Erinnerung an be
standene Leiden und Gefahren ist eS erklärlich, daß der Boer, wenn er nur auf einige Stunden sein HauS verläßt, seinen Angehörigen ebenso Lebe wohl sagt, als wenn Europäer zu einer Reise von mehreren Wochen auf brechen.
Analog wird Jeder, der eine Boerfamilie besucht, er mag Rei
sender,
Fremder, Nachbar oder Verwandter sein, mit lautem Zurufe
und Händedruck von dem sofort herauskommenden Hausherrn begrüßt und aufgefordert vom Pferde zu steigen um gastlich bewirthet zu werden.
Die Wohnstube nimmt die Mitte deS Hauses ein, ein oder zwei Tische und einige Stühle machen das ganze Ameublement auS.
Auf einem
Brettchen an der Wand steht die Bibel und ein Gesangbuch, auf einem
anderen die unentbehrlichsten Arzneien.
Neben der Wohnstube, dessen
Thür nach außen führt, liegen ein oder mehrere Schlafkammern, deren
Eingänge
meist nur verhangen sind.
Die Küche ist nicht immer sehr
sauber, da in diesem Theile des Hauses die Dienstboten — die Schwarzen — wohnen.
Durch die Pflege der Vtehheerden ist der Boer zum frühen Aufstehen, durch den Umstand, daß er bei seinem „trek“ kein Beleuchtungsmaterial
auf lange Zeit im Voraus mitnehmen konnte, zum zeitigen sich schlafen Sobald die Sonne untergegangen und die Heerde in
legen gezwungen.
die Kraals getrieben ist, folgt auf das ohnehin kurze Zwielicht des Abends eine Mahlzeit, die Mittag- und Abendessen vereinigt.
Wenn der Tisch ge
deckt ist, versammelt sich die Familie zum gemeinsamen Gebet und begiebt sich nach dem Essen zur Ruhe, meist ohne sich auSzukletden.
Diese Ange
wohnheit erklärt sich auS den Gefahren und Störungen die der Boer
während seiner vielen „treks“ in der Nacht zu gewärtigen hatte.
Seine
Waffen legt er beim Schlafengehen in Handbereich.
Ist der Boer irgendwie gut
gestellt, dann ißt er täglich dreimal
Fleisch, die Gemüse werden durch Mais oder Weizenbrod ersetzt. Verbrauch an Kaffee ist groß,
Der
man kann daraus rechnen, daß manche
Boerfamilie bis zu 100 Kilogr. Kaffee in einem Jahre verbraucht.
Die Tracht des Boers ist europäischer Art, dazu ein Hut mit breitem' umgeschlagenem Rand.
Die Frauen und Mädchen tragen wollene Röcke
und Helgoländer Hüte.
ES wäre unbillig
an die BoerS,
die keine zahlreichen Schulen
haben können, da sie zu weit von einander entfernt wohnen, die Anfor derung zu stellen, daß sie alle eine gründliche Schulbildung haben müßten.
Dennoch wird auch nach dieser Richtung hin viel gethan.
Die Eltern
leiten selbst den ersten Unterricht der Kinder, später nehmen fast alle Fa
milien auf kürzere oder längere Zeit einen „Hauslehrer" an, der den Kindern hauptsächlich Lesen, Schreiben, Rechnen, biblische Geschichte und
den Katechismus
In den Dörfern und
beibringt.
vor Allem in dem
Oranje-Freistaat finden sich fast immer Schulhäuser, die nicht selten mit
einem Kostenaufwande von 3—400 Livres Sterling erbaut sind und deren Lehrkräften ein vollkommen ausreichendes Einkommen gesichert ist.
Die Religiosität ist ein hervorstechender Zug im Leben der BoerS, sie sind sogar
meist streng
orthodox.
Da
eS nur wenige Prediger
giebt, so reisen diese vielfach im Lande umher und halten dort, wo eine-
Kirche erbaut ist, den Gottesdienst ab.
Jede Boerfamilie auS der Um
gegend kommt dahin und bringt Zelt und HauSgeräth mit, um solange wie die „Kirchtage" dauern, dort zu wohnen.
Gleichzeitig dienen diese
Zusammenkünfte auch zu den nothwendigen Besprechungen, HandelSab-
schlüssen und Einkäufen.
Sie tragen somit etwas den Charakter der in
Deutschland früher so zahlreichen Messen.
Wie sehr die BoerS
ihren ernsten und glaubenstreuen Charakter
bewahrt haben, zeigt beispielsweise der Wortlaut des BundeSeideS, den
im Jahre 1879, zwei Jahre nach der Annexion, eine Versammlung der angesehensten BoerS in Wonderfontein einstimmig beschwor: „In der Gegenwart des allmächtigen GotteS, des ErgründerS der
dessen gnädigen Beistand wir erflehen, haben wir Bürger der
Herzen,
süd-afrikanischen Republik feierlich beschlossen für uns und unsere Kinder zu einem heiligen Bunde uns zu einen,
Eide bekräftigen.
den
wir mit einem feierlichen
ES sind jetzt vierzig Jahre her, daß unsere Väter die
Capkolonie verließen um ein freies unabhängiges Volk zu werden.
Wir
haben Natal gegründet, den Oranje-Freistaat und die südafrikanische Re publik und dreimal hat die englische Regierung unsere Freiheit unter die
Füße getreten.
unserer
Unsere Flagge, getauft mit dem Blute und den Thränen
Väter, ist ntedergerissen worden.
Diese vierzig Jahre waren
vierzig Jahre der Sorge und des Leidens.
Wie durch einen Dieb in der
Nacht, ist unsere freie Republik uns gestohlen worden. wollen dies nicht dulden.
Wir können und
ES ist der Wille Gottes, daß die Einigkeit
unserer Väter und die Liebe zu unseren Kindern uns verpflichte, unseren
Kindern unbefleckt das Erbe unserer Väter zu überliefern. Grunde vereinigen wir uns hier
Männer und Brüder,
und
AuS diesem
geben einander die Hände als
feierlich versprechend, unserem Lande und Volke
treu zu bleiben und auf Gott blickend bis in den Tod zusammenzuwirken
für die Wiederherstellung unserer Republik.
So wahr uns der allmächtige
Gott helfe."
So spricht nicht ein zusammengelaufener Haufe verschiedener Natio nalitäten, so sprechen nicht Elemente, die sich keinem Gesetz fügen wollen;
diese Elemente
liefert nicht der Boerstand sondern jener wilde Haufen
von Abenteurern und untergegangenen Menschen, die zur Ausbeutung der
Diamant- und Goldgegenden nach dem Transvaal kommen, dort wohnen, dort nie den Namen „Boer" führen dürfen, ihn aber in den Augen der
Außenwelt, die leicht geneigt ist, sämmtliche Bewohner des Transvaal
mit dem
Kollecttvnamen die „BoerS" zu bezeichnen, diScreditiren. —
Die Hauptbeschäftigungen des Boers sind Landbau, Viehzucht und die
Jagd.
Der Landbau liegt, wie bereits erwähnt, etwas im Argen, sowohl
der inneren Transportschwierigkeiten und somit des geringen Verdienstes, als auch des nicht zu leugnenden Umstandes wegen, daß der frühere
Sklavenbesitzer sich und seine Söhne für zu gut hält, um den ganzen Tag
den Acker zu
bestellen.
Es ist dies die Aufgabe der ungefähr 300000
Köpfe zählenden schwarzen Bevölkerung.
wollen — wie
Hieraus
jedoch
schließen
zu
es vielfach geschehen ist — daß der Schwarze auch jetzt
noch der Sklave deS „BoerS"
sei, wäre grundfalsch.
und
einer harten Behandlung ausgesetzt
Wohl sind die Eingeborenen weder wahlberechtigt
noch auch wählbar, wohl dürfen sie sich keinen eigenen Grund und Boden
in den Boerdistricten kaufen, dort
niederzulassen
auf
sondern müssen für die Erlaubniß sich
einen Monat oder ein
Jahr
einen
Contrakt
mit dem Boer abschließen, wonach sie ihm seine Feldbestellung besorgen; sie sind jedoch durchaus nicht
an die Scholle gebunden, wie früher der
Leibeigene, sondern sie dürfen nach Ablauf ihrer Contracte wandern wohin sie wollen, nur müssen sie an dem neuen Platze, wo sie sich niederlassen,
sich zur Arbeit für den Farmer verpflichten.
Dies wird man aber nicht
als Sklaverei bezeichnen können, vor Allem wenn man das LooS bedenkt,
das der Schwarze unter seinen eigenen Häuptlingen hat.
In den englischen Niederlassungen ist das Verhältniß ein anderes. Dort
wird
allerdings
den
Schwarzen
volle Freiheit gewährt,
dafür
überschwemmen sie jedoch Natal in einer gefahrdrohenden Weise und er
geben sich dort ebenso wie im Basutolande und in Kaffrarien den heid nischen Gebräuchen der Polygamie und Frauensclaverei.
Die Folge dieser
beiden verschiedenen Systeme ist nach dem übereinstimmenden Urtheil ob jektiver Beobachter diese: daß wirkliche Treue und Anhänglichkeit an ihre weiße Lohnherrn viel häufiger bei den schwarzen Dienstboten in den Boerstaaten zu finden ist, als in den englischen Kolonien,
deren ver
zogene und in ihrer gesellschaftlichen Stellung über ihre Fähigkeit künstlich
emporgeschraubte schwarze Bevölkerung rasch in alle die Untugenden ver fallen ist, die eine unbeschränkte Freiheit einem unmündigen Volke zu
geben pflegt. Aeußerlich giebt sich das zwischen Herrn und Dienstboten bestehende Verhältniß leicht zu erkennen. selbe Schwarze,
DaS jüngste Kind eines BoerS wird der
der einem erwachsenen Menschen anderer Nationalität
vielleicht mit Unverschämtheit entgegentritt, immer mit einem gewissen
Respect behandeln.
In jedem Boerhause finden sich weibliche schwarze
Dienstboten, deren Männer und Väter bereits seit einer Reihe von Jahren
in der unmittelbaren Nähe der Farm wohnen und das dazu gehörige Land bestellen, während
englische Hausfrauen meist vergebens schwarze
weibliche Dienstboten zu bekommen suchen und ihre Kinder der Obhut von
Kaffernknaben anvertrauen müssen.
Selten wird der Boer oder ein Mit
glied seiner Familie von einer der erwähnten „Messen" zurückkehren, ohne einige kleine Geschenke für das „Volk", wie die Eingeborenen genannt
werden, mitzubringen.
In fast jeder Hütte solcher zahmen Kaffern im
Boerlande findet man Gewehr und Munition, die der Schwarze auch keinen Augenblick anstehen würde zur Vertheidigung seines Herrn zu ge
brauchen, denn der Pflege und medicinischen Einsicht der Boerfamilie
verdankt mancher Schwarze sein Leben und dieses Gefühl der Dankbarkeit,
der Zusammengehörigkeit, aber auch der geistigen Ueberlegenheit seines Herrn kettet ihn an den Boer und nicht die Furcht und die Zwangsmittel der Sklaverei.
Ueberläßt der Boer die Bestellung des Ackers meist den Schwarzen, so kümmert er sich desto mehr um seine Heerden.
Man trifft nicht selten
BoerS, die Heerden von 5—700 Stück Hornvieh und 2—3000 Schafen
haben.
Die Viehzucht bringt denn auch vielmehr ein als der Ackerbau,
da die Unterhaltung des Viehs durch die vorzüglichen Weiden nichtkoftet und
es nur der Gefahr der Lungenseuche und in den „Busch
gegenden" deS tödtlichen Stichs der „tsetse“ Fliege ausgesetzt ist.
Da
jedoch im Winter die Weideplätze nicht so ergiebig sind wie im Sommer, so „trekken“ viele Boers, sobald der Winter naht, mit ihren Heerden in die Ebene und kommen erst gegen Sommer-Anfang wieder in ihre
alte Wohnungen zurück.
Der Boer hält ungemein viel darauf eine
reine Heerde zu haben und stets dieselbe Art weiter zu züchten, darum
sieht er es nicht gerne, wenn Engländer, die das Vieh meist des Handels wegen aufkaufen und dabei weniger Gewicht daraus legen, wo daffelbe
her ist, somit auch leicht Seuchen und bergt, etnschleppen können, sich in
seiner Nähe niederlaffen.
Geschieht dies doch, dann bleiben Streitig
keiten wegen Ueberschreitens der Grenzen, Pfänden und ähnliche Plagereien nicht aus.
Da der Boer solche Mühe auf die Reinhaltung seiner
Heerde verwandt hat, will er auch dieselbe Heerde behalten und eher wird
er auf den beim Tode eines Familienoberhauptes eintretenden Auktionen
das Doppelte von dem bieten, was ein Stück Vieh werth ist, als daß er zugiebt, daß eine rein und gut erhaltene Heerde seiner Familie oder
seiner Gegend in alle Winde zerstreut wird. Nicht denselben guten Erfolg hat die Pferdezucht, so nöthig der Boer auch Pferde hat, da er gerne und gut reitet und seine Jagden und Kämpfe
nie anders als zu Pferde abmachen kann. Die Pferdezucht gedeiht eigentlich nur auf dein „hoogvelde“, aber auch die hier aufgezogenen Thiere sind,
sobald sie in die Ebene kommen, einem bösartigen, meist
tödtlichen Fieber, einer Art Pleuritis und einer heftigen Entzündung des Unterkiefers ausgesetzt. Sobald der Boer es kaun, giebt er sich seiner Lieblingsbeschäftigung,
der Jagd hin.
Die ergiebigsten Jagdgründe sind die „Buschgegenden"
in denen das Jagen jedoch in der Zeit von September bis Juni durch
ein todtbringendes Fieber verwehrt ist.
Nur in der Zeit von Ende Mai
bis September ist dieses Fieber nicht gefährlich und dann widmet sich der Boer und auch mancher europäische Nimrod der Jagd auf Elephanten,
Buffalo's, Bären, Löwen, Strauße und dergleichen. Auf dem „hoogvelde“
Der Boer im Transvaal.
484
muß sich dagegen der Jäger mit Gnu's, Elend's, Antilopen, einzelnen
Wölfen und Schakal'S begnügen. Es dürste nicht ohne Interesse sein zu erwähnen, wie eine Jagdexpedttion nach den Buschgegenden ausgerüstet sein muß.
Ein Süd-Afrika-
Jäger, schreibt Capitain Aylward, muß einen starken mit guten Ochsen bespannten Wagen mit sich führen,
dazu einige Reitpferde.
Sowohl
Ochsen wie Pferde müssen die gefährlichsten Krankheiten d. h. Lungen
seuche und Pleuritis überstanden haben.
Als die besten Pferde sind die
jenigen zu empfehlen, die ein dem Maulthiere ähnelndes Aussehen und
auch dessen längs deS Rückens bis zur Kruppe lausenden dunkeln „Aal strich" haben.
Für solche Pferde zahlt man 75 —150 LivreS Sterling,
während ein Wagen, wie der oben erwähnte, mit 12 Ochsen bespannt und dem nöthigen Reservematerial an Ketten, Stricken, Rädern rc. nicht unter
230 LivreS Sterling zu haben ist.
Thee, Caffee, Zucker, Zwieback, Pfeffer,
Salz, kurz alles was zum täglicheil Leben gehört, muß der Jäger mit sich führen.
Sehr unpractisch würde eS sein sich vom AuSlande theure, edle
Hunde mitzllbringen, da diese fast stete dem Klima erliegen.
Der ge
meine transvaalsche Hund ist von bedeutend größerem Nutzen und man zahlt gern für einen solchen guten Hund bis zu 30 LiverS Sterling. Zur Ausrüstung gehören eine gute Büchse mit schwerem Geschoß und einige Gewehre mit etwa 4000 Patronen pro Lauf, ferner natürlich Decken und
dergleichen.
Hierzu kommt dann noch die unentbehrliche Dienerschaft wie
Wagenaufseher, Ochsentreiber, Koch u. s. w.
Wenden wir uns nun zu dem politischen Leben deS BoerstaateS, der bis zum Jahre 1858 aus den drei, nach den gleichnamigen Haupt
dörfern benannten Republiken Patchefstroom, Lydenberg und ZuntpanS-
berg bestand und erst seit jenem Jahre den gemeinsamen Namen SüdAfricanische
oder TranSvaal-Republik angenommen hat.
Gemäß dem
noch in demselben Jahre proclamirten Verfassung'Sstatute steht ein auf
fünf Jahre zu wählender und wieder wählbarer Präsident an der Spitze deS Ausführenden Rathes (uitvoerende Raad), der die Regierung reprä-
fentirt.
Ihm zur Seite stehen die Landdroste der 10 Distrikte in welche
daS Land administrativ eingetheilt wird.
Diese meist nach dem darin
gelegenen Hauptdorfe benannten Distrikte sind:
1) Patchefstrom, dessen
gleichnamiges Städtchen von 3000 Einwohnern wohl der größte und be deutendste Ort im Lande ist.
ES besitzt z. B. eine Druckerei, wo der
„Transvaal Advocate" wöchentlich erscheint, verschiedene Kaufläden, drei holländische und zwei englische Kirchen, eine Freimaurer Loge, daS portu giesische Consulat, eine kleine Tabakfabrik,
eine Filiale der Feuerver-
sicherungsgesellschaft, eine Schule in welcher in holländischer und englischer
Sprache Lesezirkel,
unterrichtet
wird,
verschiedene
ein Stadthaus und
ein
englische
Privatschulen,
Postgebäude rc. rc.
einen
2) Heidelberg,
3) Wakerstroom, 4) Utrecht, 5) Rustenburg, 6) Pretoria das seiner günstigen geographischen Lage wegen jetzt Sitz der Regierung geworden ist, endlich
7) WaterSberg, 8) Lhdenberg, 9) ZuntpanSberg ftnb 10) ein kleiner abge
schloffener schottischer District: Nova-Scottia. Die legislative Gesetzgebungs gewalt wird durch den „BolkSraad" repräsentirt, der aus 50 bis 60 Mit
gliedern besteht, welche aus den Städten und den Verbänden von Grundeigenthümern, die den Namen Feldkornetschaften führen, gewählt werden.
DaS Bürgerrecht erwirbt sich nur der Weiße und auch nur wenn er bereits 1—3 Jahre im Lande wohnt und ein Minimal-Einkommen von 150 Livres Sterling hat.
Als Grundsteuer, aus der das StaatSein-
kommen besteht, wird je nach der Güte des Landes 30— 60 Mark pro
6000 englische Acres gezahlt, jedoch ist es nicht immer leicht dieselbe ein zuziehen.
Die Ursache hiervon liegt in der ganzen Art und Weise wie
die Gesetze gehandhabt werden.
geschlagen ist,
Sobald im VolkSraad ein Gesetz vor
wird eS drei Monate lang in dem RegierungS-Organ
publicirt damit die Bevölkerung sich dafür oder dagegen aussprechen könne. Widerspruch findet sich leicht, und so liegt eS auf der Hand, daß ein Gesetz
schwer in Anwendung zu bringen und daS Amt eines Präsidenten oft kein
sehr beneidenSwertheS ist.
Irgend ein Mittel um Zwang anzuwenden,
giebt es nicht, da die Republik kein Militär hat.
Die Landdroste der
Districte haben ebensowenig irgend welche Macht, außer der ihres per sönlichen Ansehens, somit hängt denn die Regierung vollständig von dem guten Willen der Bürger ab und nur mit deren Unterstützung können Feldkornet, Landdrost und Präsident irgend eine Bestimmung durchführen.
Nur einem Gesetz leisten die Boers willig und gerne Folge sobald kein allzulangeS Fortbleiben von Hause damit verbunden ist.
Es
ist
dies die Einberufung zu einem Kampfe, eS sei mit den Schwarzen, eS
sei mit den Engländern.
Ohne diese Eigenthümlichkeit der BoerS wäre
eS auch nicht möglich, daß die Regierung bei ihrer traditionellen Ohn macht sich irgendwie feindlicher Einfälle erwehren könnte.
Jeder weiße Bürger ist vom Jünglings- bis zum Greisenalter dienst pflichtig, solange er gesund und noch kräftig genug ist.
Er hat sich be
waffnet (Enfield. Büchse) dahin zu begeben wohin eS bestimmt wird. Ein Theil erscheint mit Ochsenwagen
auf denen die Verpflegung für
welche sie selbst zu sorgen haben, mitgeführt wird, ein anderer Theil
kommt zu Pferde.
Ein solches Volksheer ist natürlich ohne jede militärische
Ausbildung und
entbehrt vollständig der militärisch geschulten Führer.
Selbstverständlich müssen sie in offener Feldschlacht den Engländern stet-
unterliegen, da sie aber alle ohne Ausnahme ausgezeichnete Schützen und gute Reiter sind, so wählen sie als Kriegsweise eine Art recht erfolg
reichen Guerilla-Krieges, wobei ihnen die Natur deS Landes trefflich zu Hülfe kommt.
Die von den Engländern erlittenen Niederlagen recht
fertigen es wohl wenn auf die Vertheidigung des Transvaal gegen einen
Angriff derselben etwas näher eingegangen wird. Die schwachen Besatzungen der einzelnen Posten im Inneren des Landes vermochten nicht viel, da sie sofort von den BoerS eingeschlossen
und von jeder Zufuhr abgeschnitten wurden, so daß sie sich theilweise sogar zur Uebergabe gezwungen sahen.
Die Stärke der Vertheidigung deS Transvaal liegt jedoch in seinen
Grenzen.
Zwischen Natal und Transvaal liegt ein hohes, nur sehr spär
liche und schwierige Uebergänge aufweisendeS Gebirge, dessen Uebersteigen
den Engländern ungeheure Verluste gekostet haben würde.
Die Ostgrenze
ist ebenfalls durch einen GebirgSkamm und die Südgrenze durch den
neutralen Oranje-Freistaat geschützt.
England konnte
allerdings diese
Neutralität verletzen, um in den Transvaal vom Cap aus einzudringen,
dann würde jedoch sofort die mühsam erhaltene Neutralität deS OranjeFreistaates sich in einen engen Anschluß an die Stammgenossen deS Trans
vaal verwandelt haben.
ES hätten dann 10,000 waffenfähige Männer,
die sogar eine theilweise militärische Ausbildung und vor Allem etwas geschulte Artillerie haben, die etwa 8000 Mann starke Macht der BoerS
verstärkt,
ein gewiß nicht zu verachtender Factor.
Wenn auch
diese
18,000 Mann gering erschienen gegenüber derjenigen Macht die England hätte aufstellen können, so wären sie doch immer nur mit schweren Opfern zu vernichten gewesen.
Von Kindheit an durch ihre Jagden an das Reiten
gewöhnt, auf acclimatisirten Pferden sitzend, die so abgerichtet sind, daß
sie auf der Stelle bleiben wo der Reiter abgesessen ist, würde es Ab theilungen solcher BoerS wohl leicht geworden sein, den in ihr Land vordringenden englischen Kolonnen jede Proviant- und Munitionszufuhr abzuschneiden und ihnen fortwährend Verluste beizubrigen.
weise ist den BoerS durchaus nichts Neues.
Diese KriegS-
In den Kriegen mit den
Eingeborenen pflegen sie vom Pferde zu steigen, wenn
sie ein Paar
Schuß abgeben wollen, dann im Nu wieder im Sattel zu sein um nach
wenigen Augenblicken an einer ganz anderen Stelle wieder aufzutauchen.
Dieser Kampfesweise verdanken sie zum großen Theile ihre Erfolge den
Schwarzen gegenüber, die wohl tapferen Widerstand leisten auch gelegentlich selbst angreifen, denen jedoch das Gefühl, nie an keiner Stelle sicher zu
sein vor den plötzlich auftauchenden kleinen Abtheilungen berittener BoerS
und deren selten fehlenden Kugeln, so unangenehm ist, daß sie in letzter Zeit stets die Farmen der BoerS verschont haben und nur die der Eng
länder zu überfallen pflegten.
Da jedoch der Boer nie lange von seiner
Besitzung wegbletben will und eS natürlich dringend geboten war an den Grenzen zum Schutze sämmtlicher Bewohner eine stehende Truppenmacht
zu haben, so schritt der „BolkSraad" zur Bildung von Freiwilligen-CorpS
von denen das Fort Burger und das Fort Weeber errichtet wurden und die 1877 Secocoeni, den gefährlichsten Grenznachbar, dazu brachten um Frieden zu bitten. Einige charakertstische Verse aus einem Schlachtgesange der BoerS
mögen hier Erwähnung finden: Du List UNS eigen, theures Land; ES hat der Däter fleiß'ge Hand Die Wüste und die Wildniß dort Gemacht -u einem trauten Ort. Wir wollen eS, als freies Vaterland Als unser Erbtheil, dieses schöne Land. Und heiliger Boden ist'S durch Väter Blut, Durch theurer Mütter Thränenflut, Geweint auö tiefstem Herzensgrund. WaS wird aus uns zu dieser Stunb'? Wir werden wie die Väter-gehen Und für die Republik einsteh'n. Der Däter Erbtheil ist kein Traum; Tief wurzelt unser Freiheitsbaum, Den fällt ihr nie und nimmermehr. Er wächst zu einem Blättermeer,
Er wird nicht rasten, nicht ermüden, Bis er gedeckt einst Africa'S Süden.
Zerschmettert unö, wenn'S euer Will, Ihr habt die Macht — wer todt, ist still — Macht nur zur Wüste unser Land Wie Natal einst — wie'S ja bekannt. Doch hütet euch, daß nicht einmal erwache Für LandSlawana'ö *) Mord — die Rache! Dom Joch bestell — für alle Zeit Uns steht zur Seit' Gott selbst im Streit.
Abgesehen von den auf kurze Kriegszüge
hinzielenden
oder auf
Regelung des Grundbesitzes bezüglichen Maßnahmen ist eS dem Präsi-
*) In der Schlacht von LandSlawana ließen sich die englischen Soldaten auch nach der bereits erfolgten Uebergabe große Grausamkeiten zu Schulden kommen.
denten nicht leicht dem Boer verständlich zu machen, daß es Gesammt-
interessen giebt bei denen das Interesse des der
dies
schwere Amt
Einzelnen vielleicht nur
Darum fand sich auch 1872 keiner
geringe Berücksichtigung finden kann. übernehmen
wollte,
außer
Thomas
Franyois
Bürgers, der jedoch kein Transvaler sondern Prediger in her Kap-Kolonie war.
Bei seinem Antritte fand er daS Finanzwesen, das seit 1863 be
reits sich allmählig verschlechtert hatte, in einem höchst traurigen Zustande.
Die Gehälter und Verpflichtungen deS Staates konnten aus Mangel an Geld nicht bezahlt werden, die Steuern blieben aus, die Staatsschuld stieg allmählig auf 213000 LivreS Sterling; das als Nothbehelf auSgegebene Papiergeld sank immer mehr, so daß an manchen Stellen sogar
der Tauschhandel wieder aufkam.
Dennoch machte sich
Bürgers
mit
aller Energie an die Durchführung großartiger Pläne, wie Eisenbahn bau, trigonometrische Aufnahmen, Anerkennung und Schutz durch fremde
Mächte.
Eine jede dieser Maßregeln war an und für sich vorzüglich,
nur paßte sie nicht dahin in dem Augenblicke, in welchem Bürgers nur
darauf hätte bedacht
sein
dürfen,
seine Autorität
und
die der
Regierung durchzusetzen um geordnetere innere Zustände zu erlangen.
Durch, sein Eisenbahnproject brachte er sämmtliche Annexionisten gegen sich auf, da diese wohl eine Eisenbahn Pretoria-Natal aber nicht Pretoria-
Delagoa Bai wollten.
Während nun seine Anwesenheit im Lande drin
gend nöthig war, um erst den Umtrieben dieser Partei ein Gegengewicht
zu bieten, ging Bürgers auf 1'/, Jahre nach Europa, um eine Anleihe zum Bau der Bahn durchzusetzen.
Natürlich benutzten seine Feinde diese
Abwesenheit um den BoerS begreiflich zu machen, daß Bürgers das Land
vollständig ruinire.
Bei seiner endlich erfolgenden Rückkehr fand Bürgers bereits die Mehrzahl der BoerS gegen sich eingenommen, diesen mußte er nun noch mittheilen, daß er die Anleihe von 300,000 Livres Sterling nicht zu Stande gebracht hätte, und daß ihm nur 90,000 LivreS Sterling auSge-
zahlt wären, wofür denn auch Eisenbahnmaterial gekauft sei.
Hierzu kam
ein nothwendiger Krieg mit dem Grenznachbar Secocoeni, den Bürgers
entgegen den Gewohnheiten der BoerS mit einer verhältnißmäßig großen
Macht (2600 Mann) und mit „einem" Schlage zu Ende bringen wollte. Als dies jedoch nicht gelang und der Krieg sich in die Länge zu ziehen
drohte, verlangten die BoerS ungestüm nach Hause und eS mußte ihnen nach
gegeben und zur Errichtung jener bereits erwähnten Freiwilligen Corps ge
schritten worden, die dann im Februar 1877 Secocoeni um Frieden zwangen. Das Fehlschlagen dieses ersten Kriegszuges, die Vermehrung
der
Staatsschuld um die 90000 Livres Sterling die eigentlich nichts nutzen
konnten und um die Kosten des letzten Krieges brachte die BoerS so gegen den Präsidenten auf, daß dieser abdankte.
Ein Zustand allgemeiner Verwirrung riß ein, überall verbreiteten sich Gerüchte von einer Intervention Englands, von Truppenansamm
von StaatSbankerott und dergleichen.
lungen an den Grenzen,
Keiner
wollte unter diesen schwierigen Umständen den Präsidentensitz einnehmen. In dieser höchsten Krisis erschien dann plötzlich Sir Theophilus Shepstone
mit einem kleinen Stabe, als „Berather", „Helfer in der Noth" und als
Freund wie er sagte.
Ehe noch die Boers diesen „Freund" recht schätzen
gelernt hatten, hißte derselbe am 12. April 1877 in Pretoria die brittische
Flagge aus. Kein Schuß fiel, kein Tropfen Blut wurde vergossen, ein großer
Theil der Bevölkerung war froh von dem unsicheren Gefühle einer un bestimmten, drohenden Gefahr befreit zu sein und hoffte auf geordnete Zustände, nur der „VolkSraad" unh 400 zur Stelle befindliche Boers pro-
testirten und erwählten P. Krüger zum Präsidenten.
Dieses Shmpathi-
stren mit der Annexion dauerte jedoch nicht lange, denn bereits im August
desielben Jahres, als die BoerS Gelegenheit gehabt hatten diese Verän derungen und vor Allem die Seitens der Engländer vorgebrachten Gründe
der Annexion zu prüfen, erwachte die Reaction. Im August desselben
Beeren nach
England
JahreS (1877) wurde eine Deputation der
geschickt,
um
von
stdllung ihrer Unabhängigkeit zu erbitten.
der
Regierung Wiederher-
Alle Vorstellungen, die sie dem
„colonial office“ machten, waren vergebens und so entschlossen sich die Boeren 1878 eine neue Deputation hinzuschtcken, welche in der „Letter to Sir M. Hicks-Beach, Secretary of State for the Colonies, from
the Transvaal
delegates, dated 10. Juli 1878“, gegen die Annexion
protestirten und als Beweis der allgemeinen Bolksstimmung „a memo ria! in Support of the protest,
signed by 6591 out of a possible
8000 electors and dated 7. January 1878“ einreichten.
Alle diese Petitionen waren jedoch erfolglos, die Delegirten kehrten unverrichteter
Sache nach Afrika zurück und die Zustände wurden so
traurig, daß sogar Sir T. Shepstone darüber berichtet:
„die Lage der
Farmer ist augenblicklich ungünstiger als je zuvor unter der Republik*)." Ein tiefer Haß bemächtigte sich der Boers und mehr denn eine
stürmische Versammlung steigerte denselben.
Als äußeres Merkmal der
Stimmung dienten die Steuerzettel, auf deren Rückseite bei Einzahlung
*j Blue Book C 2079. Despatch dated Utrecht January 29. 1878 from Sir T. Shepstone to Sir EL Bulwer: „and their position ie for the time worse under Her Majeaty’s Government, than ever it was ander the Republic“. Pnußischc Jahrbücher. Bb. XLVIIL Heft 5
35
der Steuern fast jedesmal jeder einzelne Boer seinen Protest gegen die englische Herrschaft schriftlich wiederholte.
Die glimmende Gluth der Unzufriedenheit brach endlich am 11. No
vember 1880 zur lodernden Flamme aus, als ein großer Holzvorrath
zweier Bürger in Potchefstroom, die sich geweigert hatten die Steuern zu
zahlen, mit Beschlag
belegt und verkauft wurde.
Holz wegholen wollte,
widersetzten sich 300 junge Boeren diesem Vor
haben.
Als der Käufer das
Die hierüber zwischen dem damaligen Gouverneur des Transvaal
und den Leitern des aus jenen 300 Boeren zuerst gebildeten, allmählig
aber bedeutend anwachsenden Meetings in Paardekraal entstandenen Ver
handlungen endeten damit, daß die Boerenversammlung am 15. December zu Heidelberg ihre Unabhängigkeit proclamirte und ein Triumvirat, be
stehend aus Krüger, Pretorius und Joubert erwählte.
Am 16. wurden in Potchefstroom die ersten Schüsse gewechselt,
am
26. die von Middelburg nach Pretoria marschirenden englischen Truppen (259 Mann)
am Meadderspruit
vernichtet
oder gefangen
genommen.
Auch den sofort von der Capcolonie, von Natal und von auswärts her gegen die Transvaalgrenze in Bewegung gesetzten Truppen erging es
nicht besser.
Am 28. Januar erlitt General Colley die erste Niederlage
am LaingS-Neck Paß, worauf er von den Boeren vollständig eingeschlossen
wurde; am 8. Februar wiesen sie einen Ausfall am Jngogoflusse unter großen Verlusten der Engländer zurück und brachten ihnen am 26. Fe
bruar, trotz der inzwischen unter General Wood herangekommenen Ver stärkungen am „Majubahügel" eine entscheidende Niederlage bei, wobei General Colley fiel*).
Bei all diesen Erfolgen war
das Boerentriumvirat jedoch
blind gegen die ihm drohende Gefahr.
nicht
ES erkannte ganz richtig, daß
endlich die Truppenmassen, welche England in Bewegung setzen konnte,
ihre nur 8000 Mann zählende Schaar überwältigen müßten.
Sie ver
suchten daher durch Vermittelung des Präsidenten des Oranje-FreistaateS,
Brandt, unter annehmbaren Bedingungen Frieden zu schließen**).
Da
nun auch bereits am 13. Februar die englische Regierung an den Gou
verneur von Natal folgende Depesche geschickt hatte: „Ohne Ihre diskre tionäre Gewalt einschränken zu wollen, möchte die Regierung doch, daß Ihrerseits Unterhandlungen angebahnt würden,
um dem Blutvergießen
ein Ende zu machen", so führten die Besprechungen bereits am 6. März *) Die Ereignisse des Krieges sind, soweit sie bis jetzt bekannt waren, von demselben Verfasser in Nr. 57 des Militär. Wochenblattes ausführlich geschildert.
**) Petitie voor Rechten gericht van Z. H. Ed. den President van de OranjeVryStadt, d. d. 17. 2. 1881.
zu einem Waffenstillstände, dem am 14. desselben Monates ein vorläufiger
Friedensschluß folgte, der folgende Bestimmungen enthält: 1. Die Souveränetät der Königin von England wird anerkannt. 2. Den Boeren wird ein „Selfgovernment" gestattet. 3.
Die Aufsicht über die Beziehungen mit dem Auslande behält sich
die englische Regierung vor. 4. Ein englischer Resident wird in der zukünftigen Hauptstadt deS
Transvaal angestellt. 5. ES wird eine Königliche Kommission bestehend aus Str H. Ro binson, General Sir E. Wood und Sir I. H. de Villiers ernannt. 6. Die Kommission wird die nöthigen Beschlüsse fassen zum Schutze der Eingeborenen und zur Regelung der Grenzangelegenheiten. 7. Sie wird in Erwägung ziehen, ob und welcher Theil des östlichen Transvaal den Brittischen Besitzungen« einzuverleiben ist. 8. Die Boeren werden sich von LaingS-Neck zurückziehen und sich in ihre Heimath begeben. 9. Die Brittischen Garnisonen im Transvaal verbleiben dort bis
zur endgültigen Regelung aller Punkte. 10. Da die Boeren sich zurückziehen wollen, verspricht General Sir E. Wood, daß seine Truppen weder weiter vorwärts marschiren, noch auch daß MunitionSvorräthe zu den Garnisonen im Transvaal gesandt werden. Dieser Präliminar-Friede läßt der individuellen Auffassung einen ungemein weiten Spielraum, einzelne Paragraphen sind den Engländern
so günstig, daß zu befürchten steht, daß wenn die nur aus Engländern zusammengesetzte Kommission nicht sehr maaßvoll ist, die Boeren von Neuem
zu den Waffen greifen. Punkt 7 z. B. bedroht den Transvaal mit der Trennung von dem portugiesischen Territorium an der Delagoa-Bai, Punkt 8 stellt den Eng ländern den Einmarsch in die Republik frei, sobald etwa die FrtedenS-
verhandlungen scheitern.
Die augenblickliche Lage im Transvaal ist daher noch durchaus keine befriedigende, überall herrscht eine gewisse Gährung und eine unbestimmte Angst, ob nicht die englische Kommission ihre Rechte mißbrauchen und ob
der Leiter deS Triumvirates P. Joubert wohl genug Autorität besitzen wird, um die endgültigen Bestimmungen durchzuführen. Faßt man die gesammte Lage der Republik ins Auge, so sind die beiden Hauptbedingungen, die durchaus erfüllt werden Missen, wenn der jetzige Boerenstaat Bestand und einige Aussicht auf eine günstige Entwicklung haben soll: 1. ein energischer Präsident zur Hebung der politischen und 2. eine Eisenbahn Pretoria-Delagoa-Bai zur Hebung der materiellen Lage deS Landes. 35*
Ob Ersteres sich erreichen läßt, hängt natürlich von den Persönlich keiten ab, Letzteres ist möglich, da die Entfernung der projectirten Bahn Pretoria-Delagoa-Bai nur 300 englische Meilen beträgt.
Diese Bahn
würde den besten Hafen der Africanischen Südost-Küste mit der Mitte der Republik verbinden, würde leicht zu bauen sein, da sie zu Vierfünftel durch
Flachland führt, aber die Interessen Natals ungemein schädigen und findet darum den heftigsten Widerstand von England auS.
Die andere in Vor
schlag gebrachte Bahn-Pretoria-Natal'wäre viel schwieriger zu bauen da
sie u. A. das Drachengebirge zu überwinden hätte, würde keinen sehr guten Hafen als Ausgangspunkt haben, vor Allem nicht die reichsten Gegenden
des Transvaal durchschneiden und wegen der hohen Zölle in Natal keinen so großen Vortheil gewähren, immerhin wäre aber auch sie eine wesent
liche Verbesserung gegenüber den jetzigen Zuständen. Die unermeßlichen unterirdischen Schätze des Transvaal, die jetzt wegen Mangels an Arbeitskräften und Transportmitteln noch nicht ausgebeutet werden können, wie z. B. Gold, Silber, Eisen, Blei, Kupfer,
Zinn, Quecksilber, Kobalt und vor Allem die mächtigen Steinkohlenlager
würden durch den Bau einer Eisenbahn der Industrie erschlossen und ebenso würde dem Getreideanbau im Flachlande ein großer Aufschwung
gegeben werden.
Wäre es England gelungen sich den Transvaal zu er
halten und hätte seine Regierung eS verstanden der Bevölkerung einiger
maßen entgegenzukommen, dann hätte dieses Land nach einer Reihe von Jahren leicht mit dem Reichthume der anderen englischen Kolonieen konkurriren, eS hätte die künftige Kornkammer Süd-Africa'S und vermöge der
geographischen Lage der Schlüssel zu den ungeheuren Territorien werden
können, die sich vom Limpopo und vom Zambesi bis zum Congo und
den centralafricanischen Seen erstrecken. Diese Aussichten mögen denn wohl auch der Hauptbeweggrund zur
Annexion gewesen sein, aber Sir Bartle Fröre, der vormalige Gouverneur der Kap-Kolonie, urtheilte weise, als er schrieb: „wie groß die Gefahr auch
war, die BoerS baten uns nicht um unseren Schutz und darum mußten wir warten bis sie es thaten." — So paradox es auch klingen mag, die BoerS müssen in gewisser Weise den Engländern für die Annexion von 1877 dankbar sein, denn erst durch die Folgen derselben ist eS den BoerS möglich gewor
den, die durch Berichte oberflächlicher und voreingenommener Beobachter
gemachten Anschuldigungen zu widerlegen und das allgemeine Interesse der
Außenwelt zu erwecken.
Verfolgen die BoerS ihre bisher errungenen Vor
theile mit Mäßigung, dann ist zu erwarten, daß aus dem Transvaal eine ebenso gut geordnete Republik, wie auS dem Oranje-Freistaat entstehen wird.
R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807-1815*). DaS vorstehende Werk bildet eine sehr werthvolle Ergänzung zu den
Werken von Pertz (Leben Steins) und Duncker (Abhandlungen aus der
Zeit Friedrichs d. Gr. und Friedrich Wilhelms III.), sowohl durch die
vorzügliche und lichtvolle Darstellung des einleitenden Theils,
als na
mentlich durch die Masse deS beigegebenen urkundlichen Materials.
Das
selbe stammt zum größten Theil aus dem Berliner Geheimen SlaatS-
Archiv;
daneben ist auch
herangezogen worden.
das Wiener Archiv
fleißig durchforscht und
Von bisher unbenutzten Quellen kommen na
mentlich die diplomatischen Papiere deS Grafen Hardenberg, der bis zum
Februar 1808 hannoverscher Gesandter in Wien war, in Betracht.
Auch
die handschriftliche Hinterlassenschaft deS Obersten Grafen Götzen hat
reiche Ausbeute gewährt.
Wir wollen versuchen, unsern Lesern die gewonnenen Resultate in
knappen Zügen vorzuführen.
Am 9. Juli 1807 war zwischen Frankreich und Preußen der Friede von Tilsit abgeschlossen worden.
Der preußische Staat wurde dadurch
auf die Hälfte seines bisherigen Besitzstandes beschränkt; daS dem König belassene Gebiet sank von 5570 aus 2877 Quadratmeilen, die Unter thanenzahl von 9,743,000 auf noch nicht völlig 5 Millionen herab.
Alle
Besitzungen zwischen Rhein und Elbe gingen verloren, ebenso die Erwer
bungen aus der zweiten und dritten Theilung Polens, auS dem ReichSdeputationShauptschluß von 1803, die fränkischen Fürstenthümer, OstfrieSland u. a.
Und auch die Länder, die Preußen noch verblieben, verdankte
eS lediglich der Rücksichtnahme, die Napoleon seinem neuen Verbündeten Alexander von Rußland schuldete, der schon auS Pflichten der Selbster
haltung die Niederreißung auch noch deS letzten Dammes, der das Ost*) Publikationen au» den K. Preuß. Staatsarchiven. Bd. VI. Leipzig, Hirzel, 1881.
R- Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.
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reich von dem Westreich trennte, nicht dulden konnte.
Wäre Alexander
nicht gewesen, so würde Napoleon auch Schlesien und Ostpreußen von der
preußischen Monarchie abgetrennt,
ja vielleicht den
ganzen preußischen
Staat aufgelöst und die einzelnen Stücke desselben an die beutelüsternen Nachbarn vertheilt haben.
Aber auch so schien die Zukunft deS preußischen Staatswesens ver
nichtet zu sein.
Denn was ihm noch übrig blieb, bildete so wenig ein
consoltdtrtes Ganzes, daß auch der ärgste Widersacher mit dem schlimmsten
Willen keine ungünstigere Gestaltung der Grenzen hätte auösinnen können.
Die noch verbliebenen Gebiete (Ostpreußen, Schlesien, Brandenburg und Pommern) „lagen wie die drei Blätter eines Kleeblatts durch schmale
Streifen verbunden; jeden Augenblick konnten, auf einen Wink des Im perators, die Polen vom Osten, die Sachsen vom Süden her, die West falen auö Magdeburg, die Franzosen auS Mecklenburg und Hamburg gleichzeitig gegen Berlin vorbrechen und das Netz über dem Haupte des
Hohenzollern zusammenziehen".
Schlimmer noch als die Bestimmungen des Friedens selbst war die von Napoleons Seite geübte Auslegung, bezieh. Ausdehnung derselben. Er selbst hatte als preußischen Unterhändler, im Widerspruch mit Friedrich
Wilhelm III., der Hardenberg zu dem Friedensgeschäft delegirt hatte, den
Feldmarschall Grafen Kalkreuth gefordert, der, so tapfer er sich bei der Vertheidigung Danzigs gezeigt hatte, doch keineswegs den politischen und
diplomatischen Künsten Napoleons und seiner Helfershelfer einen erfolg reichen Widerstand entgegenzusetzen im Stande war.
Ein Hauptfehler der Redaction der Friedensbestimmungen bestand
darin, daß über die Höhe und den Zahlungstermin der Kriegskostenent
schädigungsgelder keine bestimmten Abmachungen getroffen worden waren. Trotzdem war aber in der Königsberger Convention vom 12. Juli die militärische Räumung
des Landes von der vorherigen Zahlung dieser
Kriegsschulden oder ihrer worden.
genügenden Sicherstellung
abhängig
gemacht
Bis zum 1. August sollten die französischen Truppen über die
Passarge, bis zum 20. August über die Weichsel, bis zum 5. September
über die Oder und bis zum 1. Oktober über die Elbe zurückgezogen werden.
Das Verfahren Kalkreuths war um so unbegreiflicher, als er
durch den französischen General-Intendanten Grafen Daru über die Höhe der von Napoleon geforderten Kriegskostenentschädigung (100 Mill. Frcs.) unterrichtet worden war.
Die Bemühungen
Friedrich Wilhelms III.,
nachträglich durch persönliche Verhandlung mit Napoleon nicht nur eine bestimmte Festsetzung, sondern auch eine Ermäßigung der geforderten Summe herbeizuführen, blieben fruchtlos.
Bald sollte es sich erweisen,
daß jener französischer SeitS beliebten Verschleppung der FriedenSauSführung ein fester, vorberechneter Plan zu Grunde lag, der nichts Anderes bezweckte, alö das unglückliche Land finanziell auSzusaugen und so zum völligen Untergang reif zu machen.
AlS der für das Zurückgehen der
französischen Truppen hinter die Weichsel festgesetzte Termin heranrückte, erklärte Berthier als Stabschef der Großen Armee, daß er den Befehl
habe, mit seiner Avantgarde in Ostpreußen stehen zu bleiben, bis die
Ausführung
des Friedens in allen Punkten bewerkstelligt fein werde.
Wenige Tage später überreichte Dar», der in Berlin mit der FriedenS-
vollziehungS-Commission die finanziellen Fragen der Auseinandersetzung zu behandeln hatte, seine berüchtigten Tableaux über die Abrechnung mit
Preußen, in denen u. a. im schnödesten Widerspruch mit den Tilsiter Ab machungen und den hergebrachten Anschauungen des Kriegsvölkerrechts,
sämmtliche Staatseinkünfte Preußens vom 1. November 1806 an bis zum Tage des Friedensschlusses nachträglich für Frankreich beansprucht und da
durch die Kriegskosten zu einer Höhe von 154'/, Millionen Francs htnaufgeschraubt wurden.
Zu gleicher Zeit warf sich Daru eigenmächtig zum Vermittler aller derjenigen auf,
welche in irgend einer der vormaligen, jetzt durch den
Tilsiter Frieden abgetretenen preußischen Provinzen GeldentschädigungsAnsprüche an die preußische StaatSkasie hatten oder zu haben glaubten.
Nicht eher — so erklärte er am 1. September — würden die französischen Truppen die Passarge verlassen, als bis der letzte dieser Ansprüche be
glichen worden sei.
Bei der Schwierigkeit, alle diese Forderungen rasch
zusammen zu bekommen, bedeutete diese neueste Erklärung des findigen
Franzosen nichts Anderes als die unabsehbare Hinauszögerung der für die ganze künftige Wohlfahrt Preußens nicht rasch genug herbeizuführenden
Räumung des Landes von den französischen Truppen. Diesen maßlosen Forderungen Daru's gegenüber suchte die in Berlin unter dem Vorsitz des Geheimen Oberfinanzraths Sack tagende FriedenS-
commission als billig hinzustellen, daß von der verlangten Summe vorerst
die in Geld veranschlagten, den einzelnen Provinzen, Kreisen und Com
munen auferlegten Naturallieferungen abgezogen werden müßten; auf diese Weise würde nur noch ein Rest von 19—20 Millionen zu erlegen sein.
In Anbetracht jedoch der Schwierigkeit der genauen Ermittlung dieser ein zelnen Lieferungsposten proponirte die Commission die Zahlung einer Ent schädigung von 30 Millionen, wenn dadurch jeder fernere Anspruch fallen gelassen würde.
Allein Daru wies nicht nur diesen Vorschlag aufs unzweideutigste
zurück, sondern erklärte noch weiter geradezu, daß er die gesammte Civil-
Verwaltung so lange festhalten würde, bis der letzte SouS der geforderten
Entschädigung bezahlt sei.
Und daß dies nicht blos eine leere Drohung
bleiben werde, konnten die preußischen Staatsmänner schon aus manchen früheren Maßnahmen Darus abnehmen.
So hatte er beispielsweise den
Berliner Zeitungen die Veröffentlichung der königlichen OrdreS untersagt,
welche die Einsetzung der Friedenscommission und die Abgrenzung ihres
Geschäftskreises verfügten, so daß der Commission nichts erübrigte, als sich ausländischer Zeitungen (so namentlich deS damals in Handelskreisen viel gelesenen Hamburger Couriers) zu bedienen.
Auch sonst suchte Daru
der Friedenscommission in der Ausübung ihrer Amtsgewalt die peinlichsten Schwierigkeiten zu bereiten.
ES würde die größte Thorheit sein —
äußerte er einmal ganz unverhohlen gegen Sack — wenn das französische
Gouvernement sich von seiner bisherigen Gewalt auch nur den geringsten Theil entziehen lassen wollte.
„Im Besitze der Civilverwaltung", fügte
er hinzu, „regiert man daS Land aus dem Tintenfaß, im andern Falle
müßte man
alle Tage die Soldaten
marschiren lassen."
Sämmtliche
öffentlichen Kassen wurden zuerst beschlagnahmt, dann ganz in französische Verwaltung genommen, die Verbindung der Provinzialbehörden mit der eine Art von oberster Aufsichtsbehörde bildenden FriedenScommission durch
Verbot jeder direkten Correspondenz unterbunden und namentlich denjenigen
Behörden, die der Staatskasse reichliche Einkünfte lieferten, französische Controlleure mit weitreichenden Vollmachten an die Seite gesetzt. Aehnliche Schwierigkeiten wurden den zur GrenzregulirungScommission nach Elbing abgeordneten preußischen Commiffaren bereitet.
Der fran
zösische General-Kommandant Marschall Soult erhob bezüglich der Ab
grenzung des neu geschaffenen Herzogthums Warschau die ungemessensten Forderungen.
Der durch den Tilsiter Frieden zu einem unter preußischem
und sächsischem Schutze stehenden Freistaat erklärten Stadt Danzig mußte
von Seite Preußens ein Gebiet von zwei deutschen Meilen (von der Enceinte aus gerechnet) bewilligt werden, obgleich der Friedensvertrag nur von Heues sprach.
Empfindlicher für Preußen war das ihm abgepreßte
Zugeständniß einer durch Schlesien gehenden Militärstraße für Sachsen.
Und wenn diese Straße wenigstens nur für den Transport der sächsischen Truppen aus dem Stammlande nach den neu acquirirten polnischen Ge
bieten benützt worden wäre: aber so wurde sie auch für die mi,t Sachsen verbündeten Armeen, also namentlich für die Große Armee in Anspruch genommen und diente nebenbei auch noch zur massenhaften Einschleppung sächsischer und polnischer Handelsartikel in preußisches Gebiet. Friedrich Wilhelm III. war über alle diese Demüthigungen tief em
pört.
Eine letzte Hoffnung setzte er noch auf die Sendung Knobelsdorffs
an Napoleon, da so vielleicht der Gewaltige zur Milderung der von seinen
Beamten geübten grausamen Härte sich bewegen lassen würde.
Der un
glückliche-Fürst schien nicht zu wissen, daß Daru und Bignon, Berthier
und Sack und wie sie alle hießen die Blutsauger und Dränger, nur Werkzeuge des einen dämonisch gewaltigen Willens waren, und daß alles,
was sie forderten und thaten, sich ausschließlich innerhalb der ihnen von diesem ertheilten Instruktionen bewegte.
Und dieser eine Wille war auf
die gänzliche Vernichtung Preußens gerichtet.
Darauf deuten nicht blos
die Bestimmungen des Tilsiter Friedens hin: die Zerreißung des Landes,
die Ausstattung des rivalisirenden Hauses Wettin mit wichtigen Stücken
dieser Länderbeute, sondern namentlich jetzt noch weiter die militärische Besetzthaltung des preußischen Staatsgebiets, die planmäßige finanzielle Aussaugung desselben, die den völligen Zusammenbruch des Staates noth
wendig nach sich ziehen mußte.
Schon im November 1807 erklärte sich
Napoleon bereit, die Donauprovinzen an Rußland zu überlassen, wenn er
dafür Schlesien erhielte und dem Könige von Preußen nur noch ein Ge biet von zwei Millionen Köpfen übrig bliebe.
Dazu die unablässigen
Rüstungen in Magdeburg, die französischen ArmeecorpS in SchwedischPommern, in Warschau,
überall in den Landen diesseits der Weichsel,
und die wiederholte Versicherung, der Imperator werde es als ein Zeichen
des Vertrauens betrachten, wenn der König bald aus dem sichern Königs berg nach Berlin übersiedle.
Unter solchen Umständen durfte man sich auch von einer directen Anrufung des obersten Machthabers keinen Erfolg versprechen.
Und in
der That, noch ehe KnobelSdorff zu einer Audienz bei Napoleon gekommen
war, ließ dieser ihm durch Tallehrand bedeuten, daß von einer Er mäßigung der Kriegssteuer unter keinen Umständen die Rede sein könne, da jene der Armee, nicht ihm gehöre.
DaS Handschreiben des Königs
blieb unbeantwortet.
Noch ein letzter Ausweg blieb dem Könige offen: die Anrufung der Intervention seines Verbündeten Alexander von Rußland.
DaS freund
schaftliche Verhältniß zu diesem hatte durch die Tilsiter Abmachungen — auch nicht durch jene selbstsüchtige Annexion preußischen Gebiets seitens
des Czaren — keine Einbuße erlitten.
Unmittelbar nach der Unterzeich
nung deS Friedensvertrags hatte Friedrich Wilhelm III. dem russischen
Kaiser Abschrift des Vertrags mitgetheilt und eine solche deS russisch französischen Tractats erhalten — allerdings nur was den eigentlichen
Friedensvertrag und die geheimen Nebenartikel desselben anlangte.
Außer
diesen war zwischen den beiden Machthabern noch ein geheimer Tractat
abgeschlossen worden, und von diesem erhielt Friedrich Wilhelm III. keine
Man hat später überhaupt die Existenz eines solchen geheimen
Kenntniß.
Vertrags geläugnet und konnte sich zum Beweise dieser Ntchtexistenz dar auf berufen, daß nie etwas Bestimmteres darüber in die Oeffentlichkeit
gelangt ist.
Aber daß trotzdem solche geheimen Abmachungen zwischen
Napoleon und Alexander getroffen worden sind, geht aus zahlreichen An deutungen
gleichzeitiger Beobachter mit genügender
Sicherheit hervor.
Die Grundlage des Geheimvertrags war ein Schutzbündniß der beiden Mächte.
Alexander erbot
sich, auf England zur Herbeiführung eines
Friedens mit Frankreich zu wirken: gelang diese Vermittlung nicht bis
zum 1. November, dann sollte Rußland gemeinsam mit Frankreich zum Kriege gegen den Inselstaat vorgehen.
Ebenso machte sich Napoleon an
seinem neuen Alliirten einen vortheilhaften Frieden
heischig,
Pforte zu verschaffen:
mit der
weigerte die letztere die Annahme dieser Inter
vention, dann wollten die Verbündeten die europäischen Lande der Türkei mit einziger Ausnahme RumelienS
meers
mit Constaniinopel unter sich auf
Portugal, Spanien, Schweden, Dänemark, die Inseln des Mittel
theilen.
wurden in willkührlich-abenteuerliche Kriegs- und Eroberungö-
Combinattonen hineingezogen — Abmachungen, die nur zum kleinsten Theil praktische Folgen hatten,
aber von der stolzen Ueberhebung, der
schrankenlosen Willkür und den riesigen Plänen der beiden Autokraten
Zeugniß
ablegten.
In einem
Spiel kühnster, zügellosester Phantasie
wurde hier über die Länder Europas und selbst über Indien verhandelt, als ob sie eine völlig wehrlose Beute wären.
„Niemals", sagt Lanfrey,
„war die Freiheit Europas ernstlicher bedroht gewesen, niemals schien der naturwidrige Cäsarismus,
den Napoleon in wahnsinniger Verkennung
wieder heraufzubeschwören suchte, so nahe daran, sich fest zu begründen, als in diesem Augenblicke, wo er sich einerseits auf den moSkowitischen
Koloß, andererseits auf eine Militärmacht ohne gleichen stützte.
Damals
sah eS aus, als ob Alles verloren sei, und doch waren diese großartigen Pläne, diese glänzenden Berechnungen, dies gewaltige Bündniß nur ein
Schreckbild, eine Vision, eine Täuschung." Den
ehrenhaften, streng
gerechten Sinn Friedrich Wilhelms III.
mußten solche Abmachungen und Pläne aufs tiefste kränken.
WaS half
es, wenn gegenüber dieser PreiSgebung zahlreicher alter legitimer Herr
scherfamilien, Preußen für den Fall, daß Hannover mit dem Königreich Westfalen vereinigt werden würde, eine Länderentschädigung auf dem linken Elbufer mit einer Seelenzahl von 3—400000 in Aussicht gestellt wurde?
Denn abgesehen davon,
daß diese Entschädigung noch nicht annähernd
einen Ersatz für das Verlorne schuf, so war es so gut wie ausgeschlossen,
daß Georg III. jemals seine Hand zur Aufgabe seines Stammlandes an
Und über Freundschafts
ein Glied des Hauses Bonaparte bieten würde.
versicherungen und mitleidiges Bedauern der doch nicht ohne seine Schuld
geschaffenen Lage seines alten Verbündeten kam Alexanders Eitelkeit und Selbstsucht nicht hinaus.
Ende September 1807 ging der während des letztverflossenen JahreS bereit- mehrmals zu diplomatischen Sendungen an Kaiser Alexander ver wendete Major von Schöler als vertrauter Bevollmächtigter Friedrich Wllhelms III.
— die
offizielle
Gesandtschaft war durch
von Schladen vertreten — nach Petersburg ab.
richtige Mann für diesen schwierigen Posten:
den Baron
Schöler war ganz der
das
geht schon aus den
Worten hervor, mit denen ihm Alexander bei seiner Antrittsaudienz entgegen
„ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich mich freue, daß der König
trat:
gerade Sie gewählt hat.
rede."
Sie wissen, daß ich zu Ihnen ohne Rückhalt
Bis zum Ausbruch des russisch-französischen Krieges ist Schöler
in Petersburg geblieben und hat dabei erreicht, was bei einem so schwan
kenden Charakter, wie derjenige Alexanders war, überhaupt zu erreichen
war.
„Nicht immer hat Alexander sein faltenreiches Herz mit unbe
grenzter Offenheit vor Schöler erschlossen; im großen Ganzen aber trat
er ihm ohne Rückhalt entgegen, und ost genug ward dem Gesandten Ge
legenheit gegeben, einen tiefen Blick in das Innere des Kaisers zu thun; gerade für die persönliche Charakteristik Alexanders bilden die Depeschen
Schölers eine Quelle ersten Ranges."
In einem eigenhändigen EinführungSbrlef, den Friedrich Wilhelm III. seinem Vertrauten mitgab, glaubte er dem Verbündeten das Dilemma
seiner Lage in folgender Frage vorlegen zu müssen: „soll man festhalten und gegen jeden widerrechtlichen Anspruch Protest erheben, in der Hoff
nung, daß die guten Dienste E. M. einen glücklichen Erfolg zu Wege bringen werden?
Oder aber soll man in allen Punkten nachgeben, alles
zugestehen, im Hinblick auf eine Entschädigung, zu der Ihre Intervention
mir verhelfen wird?
Die Freimüthigkeit, die in unserm Briefwechsel
vorherrschen soll, gestattet mir offenherzig zu sprechen, und ich weiß, daß Sie mir gegenüber ebenso verfahren werden."
Alexander ließ eS nicht
an Betheurungen seiner dienstwilligen Gesinnungen fehlen, aber dem Kern
der Frage wich er vorsichtig aus.
„Daß ich eS nicht an freundschaftlichen
Vorstellungen fehlen laffen werde", sagte er zu Schöler, „davon kann der König, der meine Gesinnungen kennt, ebenso überzeugt sein, als er über
zeugt ist, daß mich nur die absolute Nothwendigkeit dazu gebracht hat, seine Vertheidigung durch die Gewalt aufzugeben.
Allein welche Garantie
kann ich für den Erfolg gewähren, da wir eS nicht mit Gefühlen besserer
Art, sondern mit der kalten Entschlossenheit zu thun haben, die Uebermacht
R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.
500
gelten zu lassen, der wir nichts entgegensetzen können.
Ich kann, glaube
ich, dem Könige keinen stärkeren Beweis der Aufrichtigkeit meiner Ge sinnungen geben, als daß ich, anstatt ans meine Verwendungen bet Na
poleon einen Werth zu legen, ihm gerade heraus gestehe, daß ich mir wenig oder gar nichts davon verspreche, daß ich ihm anrathe, sich ganz
allein an Napoleon zu wenden, in seine Ideen, soweit eS der König nur immer für rathsam hält, einzugehen und dadurch wenigstens seiner Eitel keit zu schmeicheln."
Im Uebrigen empfahl er dem Könige Nachgiebigkeit
und ließ sich in dieser seiner Weichmüthigkeit auch durch die offene Er
klärung SchölerS nicht beirren, daß die fortgesetzte schwere Bedrückung Preußens durch Napoleon nothwendig auch Rußlands fernere Sicherheit
bedrohen müsse.
Alexander mußte dies zugestehen, ohne sich jedoch des
halb aus seiner auf die Aufrechthaltung eines bestmöglichen Einverständ
nisses mit Napoleon gerichteten Politik aufrütteln zu lassen.
„Sie wissen"
— sagte er zu Schöler — „daß ich nicht im Stande bin, einen Krieg gegen Frankreich zu unternehmen, und ohne die Hoffnung eines vorzüglich glücklichen Erfolgs wäre, sicher nach des Königs eigener Ueberzeugung, dieser Krieg das größte Uebel, welches Preußen begegnen könnte. Drohen
— und jede sogenannte kräftige Vorstellung muß doch wenigstens eine
Drohung verstecken — enthüllt aber, wenn man diesen Drohungen keine Folge geben kann, die Schwäche nur noch mehr und könnte also nur das
Uebel ärger machen."
Unter solchen Umständen erübrigte dem Könige nichts anderes, als sich schweigend der brutalen Gewalt zu fügen.
Und wohl noch niemals
ist ein gebildetes Volk in gleichem Maße gemartert worden, wie das preußische in den Jahren 1807—1812.
Am 21. September erklärte Daru
der Friedenscommission, daß er von Napoleon beauftragt worden sei,
sämmtliche 1. Oktober
Staatseinkünfte nicht
mit Beschlag zu belegen,
eine Einigung
über
wenn bis zum
die Schuldzahlung
erfolgt sei.
Völlig rathloS fand diese neue Drohung die Mitglieder der Commission.
Glücklicherweise weilte gerade in jenen Tagen auf der Durchreise nach Memel der Freiherr vom Stein in Berlin.
Aus einer Unterredung mit
Daru hatte er die Ueberzeugung gewonnen, daß diesem eine weitere Ver schleppung der Kriegskostenangelegenheit durchaus nicht unerwünscht kommen
würde,
da ihm dadurch die Möglichkeit gegeben würde, Preußen noch
länger die Daumschrauben seiner AuSsaugungSpolitik aufsetzen zu können.
Steins Rath ging daher, in Berlin wie in Memel, dahin, ungesäumt
eine Ausgleichung mit dem
Feinde zu suchen und diesen dadurch zu
zwingen, das zu thun, ohne was eine Regeneration des tief gesunkenen Staatswesens
überhaupt nicht gedacht werden konnte:
das preußische
So entschloß sich denn der König, dem
Staatsgebiet völlig zu räumen.
französischen General-Intendanten eine Zahlung von 60—100 Millionen anbieten zu lassen, von denen etwa die Hälfte sofort entrichtet werden könnte.
Auch hiesür hatte Steins weitreichende Umsicht Mittel und Wege Seine Vorschläge gingen dahin, die öffentlichen
zu beschaffen gewußt.
Gelder, die nach der dritten Theilung Polens auf die Güter des Groß-
herzogthums Warschau hypothekarisch eingetragen
deren Gesammtwerth auf
18 Millionen Thaler
französischen Regierung zu überlassen.
worden waren, und
berechnet wurde, der
ES waren dies dieselben Capitalien,
die Napoleon später durch die Convention von Bayonne Preußen in so schmählicher Weise entrissen hat.
Die andere Hälfte gedachte man durch
Theilzahlungen von 4—5 Millionen Thaler ungefähr in einem Zeitraum
von 3, höchstens 4 Jahren zu tilgen.
nur verbindlich machen,
Dagegen sollte Frankreich sich nicht
in einer neuen Convention einen
bestimmten
Termin für den Rückzug seiner Armee festzusetzen, sondern sammt allen denjenigen Staaten, welche mit ihm sich in die durch den Tilsiter Frieden abgetretenen Gebiete theilten, auf alle weiteren auS demselben gefolgerten Forderungen verzichten.
Allein Daru war nicht gewillt, seine Beute so leichten Kaufs fahren zu lassen.
Zu Anfang Oktober wurden sämmtliche Behörden Berlins
von ihm angewiesen, die öffentlichen Einnahmen fortan ohne jeden Abzug
an die französischen Staatskassen abzuliefern.
Wenig später erschien einer
seiner Agenten in Elbing, um die Civilverwaltung West- und Ostpreußens bis zur Paffarge an sich zu nehmen.
Die preußischen Beamten mußten
der Gewalt weichen. Gegenüber der völlig-hoffnungslosen Lage, in die Preußen durch die
sich immer mehr steigernden Forderungen der französischen Gewalthaber gerathen war, tauchte der Gedanke auf, den König zur Absendung eines
preußischen Prinzen nach Paris behufs direkter Verständigung mit Na
poleon zu bestimmen. Mission Knobelsdorffs
Schon gleich nach dem Scheitern der diplomatischen war von seinem Civilbegleiter, dem Geheimen
LegationSrath Le Coq, die Idee einer solchen Entsendung angeregt worden.
Namentlich aber war eS Sack, der Vorsitzende der Berliner FriedenS-
Commission, niemand
in
der diesen Gedanken lebhaft verfolgte; freilich hatte auch
gleichem
Maße
wie
er
unter
den
Schwierigkeiten
der
Situation zu leiden, wie er auch aus dem Verkehr mit einigen höheren französischen Offizieren der Berliner Garnison, denen eine rasche Erledi gung des Friedensgeschäfts am Herzen lag, zur Verfolgung feines Plans
bei dem König lebhaft ermuntert wurde.
Vielleicht, daß der wie alle
Parvenus eitle Napoleon durch die Aufmerksamkeit der Entsendung eines
502
R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.
Prinzen aus einem der ältesten und erlauchtetsten Herrschergeschlechter ge
schmeichelt, demselben Concessionen bewilligte, die tat offiziellen Verkehr Dazu kam noch, daß der bald nach dem
niemals zu erlangen waren.
Friedensschluß zum bevollmächtigten Minister Preußens bei den Tuilerien ernannte
Baron von
Brockhausen vermöge seiner
streng ablehnenden
Haltung gegen das napoleonische Regime nicht der Mann war, von dem man eine erfolgreiche Wiederaufnahme der durch Knobelsdorff versuchten, von Napoleon abgelehnten Unterhandlungen hoffen konnte.
An Präcedenz-
fällen einer solchen höchst persönlichen und unmittelbaren Verhandlung
mit Napoleon fehlte eS nicht.
Der Erbgroßherzog von Baden, der Erz
herzog Ferdinand von Oesterreich, der Herzog Leopold von Anhalt, der
Herzog Ernst I. von Sachsen-Coburg und mehrere jüngere Mitglieder
der vornehmsten deutschen Fürstenhäuser, darunter nahe Anverwandte der königlichen Familie, weilten derzeit in Paris zur Verfolgung politischer
und dynastischer Interessen:
der Bruder der Königin Luise,
Georg von Mecklenburg-Strelitz,
mit seinem
Friedrich von Mecklenburg-Schwerin,
Vetter,
Erbprinz
dem Erbprinzen
ferner eine ältere Schwester der
Königin, Fürstin Therese von Thurn und Taxis,
die nach Paris ge
kommen war, um die Rückgabe der mit Beschlag belegten holländischen
Güter ihres Gemahls bei Napoleon durchzusetzen, was ihr auch gelang.
Inzwischen hatte Napoleon in einem Ultimatum seine Forderungen an Daru gelangen lassen.
Darin waren 150 Mill. Kriegsschuld, zahlbar
in comptanten Wechseln, festgesetzt.
Sollte letzteres in Anbetracht der
trostlosen Lage der preußischen Finanzen unangänglich sein, so wollte er sich mit Schuldanweisungen auf den preußischen Staat begnügen, wenn
ihm als Unterpfand für die Einlösung derselben die Besetzung der preußi
Glogau und Cüstrin zugestanden würde.
schen Festungen Stettin,
Und
zwar sollte die französische Besatzung einer jeden Festung 6000 Mann
betragen, welche von Preußen vollständig verpflegt und besoldet werden
mußten.
Sollte Preußen
auf dieses Ultimatum nicht eingehen, dann
sollte der von der Räumung des preußischen Staatsgebiets handelnde Ar tikel des
Tilsiter Friedens-Vertrags
hinfällig sein.
„Sie müssen ein
dringlich mit den Ministern des Königs von Preußen reden" — schrieb Napoleon an Daru — „es scheint mir,
als
ob man in Memel Scherz
treibt, wozu die Dinge wahrlich nicht angethan sind.
Sie müssen er
klären, daß man die Mittel zum Zahlen schon finden wird, wenn man nur will.
unterhalten;
Der König
von Preußen hat nicht nöthig, eine Armee zu
er ist mit Niemandem im Kriege."
Von der genannten
Summe sollten lediglich die seit dem 12. Juli erhobenen Contributionen und eingezogenen StaatSgelder im Betrage von 42 Millionen — soviel
hatte man in nicht viel mehr als drei Monaten aus dem ohnedies schon
erschöpften Lande herauSgesogen — in Abzug kommen, von dem Rest — so priicisirte Daru später die Zahlungsweise — sollten
12 Millionen
baar, 50 Millionen in Pfandbriefen unter Verpfändung deutscher Festungen,
daS Uebrige durch Abtretung von Domänen bezahlt werden.
Die völlig neue Forderung preußischer Festungen und Domänen rief
am königlichen Hoflager in Memel die schmerzlichste Aufregung hervor. „Gott, wo sind wir?" — schrieb damals die Königin an Stein — „wo hin ist eS gekommen?
Unser TodeSurtheil ist gesprochen!"
Wie bei der
Forderung preußischer Festungen die einstweilige Besitzeinräumung dreier
der wichtigsten Plätze der Monarchie nur eine Etappe der dauernden und
umfassenden militärischen Besetzung deS preußischen Landes war, so zweckte auch der Antrag auf Ueberlaflung von Staatsdomänen offenbar nur dahin einen festen Stützpunkt zu schaffen, von dem aus die all-
ab, Napoleon
mählige Untergrabung
der territorialen Selbständigkeit Preußens ange
strengt werden konnte.
Denn wenn auch Daru Preußen ein Rückkaufs
recht einräumen wollte, so war man doch von ihm den Widerruf oder die direkte Ableugnung ertheilter Zusagen schon so sehr gewöhnt, daß man
seinen Worten kein Gewicht beilegen konnte, wie er denn wirklich auch diesmal seine ursprüngliche Erklärung im Laufe der Verhandlung einfach
zurücknahm. Gegenüber der Frage, ob man die letzten Propositionen Daru'S ein fach verwerfen und damit jede weitere Unterhandlung abbrechen, oder noch
einmal eine Gegenvorstellung
anbringen
sollte,
entschied man
sich in
Memel — zumeist in Rücksichtnahme auf die beabsichtigte Sendung des
Prinzen Wilhelm,
welche bei einem Abbruch der Verhandlungen völlig
gegenstandslos geworden wäre — für einen nochmaligen Gegenvorschlag. In einer von Stein verfaßten Denkschrift vom 30. Oktober wird die von
Daru festgesetzte Summe von 112 Millionen im Principe angenommen, dagegen
gegen
die Herausgabe von Domänen aufs entfchiedendste pro-
testirt und dem Könige vielmehr gerathen, die eine Hälfte der Schuld summe in eine Hypothekenschuld zu verwandeln, die auf die Gesammtmaffe
der Domänen eingetragen werden sollte, jedoch so, daß der Besitz und-die
Verwaltung derselben ausschließlich dem preußischen Staate verblieben.
Zur Deckung der andern Hälfte sollten der Wechsel der
französischen Staatskasse
angesehensten Kaufmannshäuser Preußens und Pfandbriefe
der landständischen Creditinstitute überliefert werden.
Binnen eines Zeit
raums von zwei Jahren hoffte Stein durch Ersparnisse und außerordent liche Finanzmaßregeln jene Werthdokumente wieder einlösen zu können. Aufs bereitwilligste ging der König auf Steins Vorschläge ein.
Er
R. Hassel, Geschichte der preußische» Politik 1807—1815.
504
sandte sogleich Niebuhr
nach Berlin,
damit derselbe mit der FriedmS-
commission wegen einer in Holland und Hamburg aufzubringenden An leihe Rücksprache nehme, und stellte selbst in der hochherzigsten Weise das überflüssige Silbergeräthe und das goldene Tafelgeschirr seines HofhrltS
als Beisteuer zur Abfindung Frankreichs zur Verfügung.
Hinsichtlich der
Einräumung von Festungen hatte Stein gerathen, im äußersten Nothfall
eine solche noch eher zuzugestehen als die Abtretung von Domänen. Der König befahl demgemäß der FriedenScommission, in diesem Punkte event,
nachzugeben, nur sollte die Wahl der von den Franzosen zu besetzenden
Festungen dem Ermessen des Königs anheimgestellt bleiben.
Friedrich
Wilhelm III. beabsichtigte damals, seine Residenz nach Berlin zurückzu verlegen, und es mußte ihm daher daran gelegen sein, in seinem Rücken
keine französische Besatzung zurückzulassen. Aber schon wieder waren die Zugeständnisse des Königs von neuen
Forderungen der Gegner überholt worden.
Am 24. October hatte Daru
der Friedenscommission eine Sommation überreicht, in der von den früheren
Forderungen nichts als die Höhe der Summe herübergenommen war.
Dagegen verlangte er jetzt,
neben der Cession der Domänen, statt drei
fünf Festungen, und zwar die wichtigsten:
Cüstrin, Glogau.
Graudenz, Colberg, Stettin,
In jedem dieser Plätze sollte eine französische Besatzung
von 8000 Mann zu liegen kommen und Preußen die gesammten Unter haltungskosten tragen, was
Francs erforderte.
einen Aufwand von jährlich 40 Millionen
Nun betrugen die Gefammteinnahmen des StaateS
damals knapp 60 Millionen Francs.
„ES ergab sich also, daß Preußen
durch Annahme der Convention vom 23. Oktober in die Nothwendigkeit
versetzt worden wäre, mehr als zwei Drittel seiner Revenüen auf die Er
haltung der in den Festungen verbleibenden fremden Truppen zu ver wenden.
Von
einer preußischen
Finanzverwaltung
hätte unter solchen
Verhältnissen überhaupt keine Rede mehr sein können.
Wenn man sich
selbst entschloß, zu dem Mittel des Domänenverkaufs zu greifen, um mit
dem Erlös die eine Hälfte der regulären Kriegsschuld zu decken, so würden die restirenden fünfzehn bis zwanzig Millionen der jährlichen Einnahmen noch immer kaum ausgereicht haben, um die andere Hälfte der Contri-
bution in einer Frist von drei Jahren abzutragen.
öffentlichen
Die Mittel für die
Ausgaben, für die Civilliste, für die gesammte Verwaltung
des StaateS, für das Heer, für die Verzinsung der Staatsschuld und was noch etwa an Schuldposten für die Forderungen aus den abgetretenen Provinzen nach dem bekannten System Daru's zusammengerechnet wurde, — alle diese Summen hätten nicht anders beschafft werden können, als
durch neue Anleihen.
Das Resultat wäre also gewesen,
daß
der preu-
ßische Staat bei
einer Verminderung des DömänenbesitzeS um fünfzig
Millionen, drei Jahre hindurch mit einem Deficit von mindestens glei
chem, wahrscheinlich weit höherem Betrage hätte wirthschaften müssen." Jetzt mußten dem Könige die letzten Zweifel über die Nothwendigkeit der Sendung des Prinzen Wilhelm schwinden.
„Die Domänen in der
Gewalt der Franzosen" — schrieb er — „und 40,000 Mann französischer
Truppen im Lande, — dies würde heißen, den preußischen Staat in
Augenblick der Gnade und
jedem geben."
Barmherzigkeit Napoleons Preis zu
Der Prinz erhielt Befehl, sich zur sofortigen Abreise nach Paris
zu rüsten, der noch in Paris weilende Knobelsdorff genaue Instruktion. „Urtheilen Sie über mein Erstaunen" — schreibt der König an ihn —
„als ich zweimal vierundzwanzig Stunden nach dem Abgang des Couriers gestern früh das Projekt einer Convention erhielt, das Herr von Daru
vorgelegt hatte.
Mit aller nur erdenkbaren Entsagung, mit den nach
giebigsten Gesinnungen der Welt, ist eS unmöglich, sich solchen Geboten zu unterwerfen.
Man
würde in dem ganzen Umfange der preußischen
Monarchie von einem Ende zum andern die französische Herrschaft be
gründen,
seine eigene Knechtung, seinen Untergang vollenden, — man
würde Verpflichtungen eingehen, die ich nie erfüllen kann, — denn der Unterhalt der fremden Truppen im Verein mit der allmäligen Abzahlung der Kriegssteuer würde die Gesammtheit meiner künftigen Staatseinnahmen
verschlingen, für die Bestreitung der Ausgaben und der Civilliste würde nichts mehr übrig bleiben.
Man braucht nur ein guter Patriot und ein
pflichteifriger Diener zu sein wie Sie, zu empfinden.
Der Schmerz, den
um das Entsetzliche dieser Lage
sie mir bereitet, übersteigt alle Be
schreibung, da sie mit einem Schlage die Unterbrechung der Unterhandlung
in Berlin bedingt und die Unmöglichkeit einer Verständigung mit Daru
in das klarste Licht setzt.
Unter so traurigen Umständen bleibt mir nichts
weiter übrig, als mich ganz in die Arme Napoleons zu werfen und einen
letzten Versuch zu machen,
um
ihn zu einer endlichen und kategorischen
Erklärung über das Schicksal Preußens zu veranlassen.
Ich habe Ihnen
schon Mittheilung gemacht von dem Entschluß, meinen Bruder, den Prinzen Wilhelm, nach Paris zu
schicken und ich habe Sie beauftragt, seinem
Erscheinen die Wege vorzubereiten. lieren ist, liegt
Jetzt, wo kein Moment mehr zu ver
eS Ihnen ob, die directe Meldung von seinem bevor
stehenden Besuche zu machen und Pässe für ihn zu erbitten." Prinz Wilhelm sollte sich vorerst nach Homburg zu seinem Schwieger
vater, dem Landgrafen Friedrich von Hessen-Homburg, begeben, um hier die Ankunft seiner Reiselegitimationen zu erwarten. in Frankfurt a. M. mit Alexander
Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 5.
Alsdann sollte er
von Humboldt, den ihm der König 36
506
R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.
zum Reisebegleiter
bestimmt
zusammentreffen.
hatte,
Naturforscher lebte damals in Berlin,
Der
berühmte
mit der wissenschaftlichen Verar
beitung seiner mit Aimö Bonpland unternommenen amerikanischen Reisen beschäftigt.
Er zählte in der französischen Hauptstadt zahlreiche Freunde
und Gönner, und diese seine persönlichen Verbindungen wie seine Welt
gewandtheit konnten nur vom günstigsten Einfluß auf die Sendung des
Prinzen sein.
Trotz der äußerst knappen Finanzverhältnisse war er von
Friedrich Wilhelm III. auch während der letzten Jahre in seinen Studien aufs freigebigste unterstützt worden;
er empfand jetzt eine freudige Ge
nugthuung, seinem königlichen Gönner einen kleinen Theil seiner Schuld
abtragen zu können.
„Es steht mir nicht zu", sagt er, „über den Erfolg
dieser Mission ein entscheidendes Urtheil auszusprechen, aber inmitten bet beschaulichen Einsamkeit, in der ich seit einem Jahre gelebt, habe ich be
ständig an dem Glaubenssätze festgehalten, daß endlich, nachdem so lange
das Unheil gewüthet,
die Tugend wieder in ihre Rechte treten wird."
Als diplomatischer Begleiter wurde auf Stein's Rath der Geh. LegationS-
rath Le Roux, der von 1796—1806 der Pariser Gesandtschaft zugetheilt gewesen war,
als militärische Begleiter der Major Graf Heinrich von
Goltz vom Stabe Blüchers und der Adjutant Lieutenant von Hedemann bestimmt.
Die dem Prinzen ertheilten Instruktionen betrafen einmal die Kriegs schuld, sodann einige andere Punkte, durch welche Napoleons Mißtrauen
gegen Preußen beseitigt werden sollte.
Bezüglich der Kriegskosten blieb
der König bei seinem letzten Angebot stehen: Zahlung von 12 Millionen in baar, von 50 Millionen in Wechseln, Creirung einer Hypothekenschuld
auf die Domänen von ebenfalls 50 Millionen, die durch den Verkauf
von Domänen an Einheimische gedeckt werden sollte,
und Einräumung
dreier Festungen bis zu dem Zeitpunkt, wo die preußischen Verpflichtungen vollständig erfüllt sein würden.
Nur hinsichtlich der Zahlungsfrist wurde
der Prinz autorisirt, einen noch kürzeren Termin anzubieten. jetzt Napoleon ein Offensiv- und Defensiv-Bündniß
seine künftigen Kriege ein preußisches HülfScorpS in 30—40,000 Mann in Aussicht gestellt.
Dazu wurde
angeboten und für
der
Stärke von
Sollte Napoleon ein solches
Bündniß ablehnen, so war der Prinz ermächtigt, noch einen Schritt weiter
zu gehen und die Bereitwilligkeit Preußens zum Eintritt in den Rhein bund zu erklären.
Aber — so Lage
wird
man erstaunt fragen — war denn wirklich die
des preußischen Staates eine so hoffnungslose, daß man sich so
gänzlich dem Gutdünken des übermüthigen Siegers überliefern mußte?
In der That boten am Ausgang des Jahres 1807 die allgemeinen euro-
päischen Verhältnisse das Bild einer völligen Auflösung der alten histo
dar.
rischen Verbindungen
Alle Mächte, mit einziger Ausnahme Eng
lands, gehorchten willenlos dem Manne der Revolution.
Bon Rußland
war keine Unterstützung zu hoffen: es war selbst an Händen und Füßen
gebunden, und wo es hätte helfen können, ließ Selbstsucht seines Herrschers daran behindern.
es sich durch die eitle England war wohl be
fähigt, dem Eroberer ungeheuren Schaden zur See und in seinen außer
europäischen Colonien zuzufügen, ihm nicht zu erwarten.
aber eine positive Hilfe war auch von
Trotzdem blieb daS Verhältniß Preußens zu dem
Mit voller Aufrichtigkeit hatte Friedrich Wilhelm III.
Jnfelreich daS beste.
die englische Regierung alsbald nach dem Abschluß des Tilsiter Friedens
von den einzelnen Bestimmungen desselben in Kenntniß setzen lassen, na mentlich von jenem Separatartikel, nach welchem Preußen vom 1. De
zember 1807 an mit Frankreich gemeinsame Sache gegen die Engländer
zu machen habe, wenn die Annahme des Friedens bis dahin nicht erfolgt war, und von jenem Artikel des Hauptvertrags, verpflichtet wurde, die Häfen feines
gemäß dem der König
Landes schon jetzt den englischen
Schiffen zu verschließen und überhaupt jeden Verkehr mit England abzu
brechen.
Allein gleichzeitig hatte Friedrich Wilhelm III. durch seinen Ge
sandten in London die Versicherung aussprechen lassen,
er werde dieser
letztgenannten Verpflichtung nur im Falle der äußersten Noth nachkommen.
Und in der Thal dauerte der Seehandelsverkehr Englands mit den preußi schen Küstenstädten ungestört fort, bis die namentlich durch das Bombar
dement Kopenhagens und die Wegführung der dänischen Flotte seitens Eng lands herbeigeführte Kriegserklärung Rußlands auch Preußen zum Abbruch
der diplomatischen und commerztellen Beziehungen mit England nöthigte.
Wenn Daru einmal gegen Sack die Aeußerung fallen ließ, die Räu
mung Preußens seitens der französischen Truppen sei mehr eine Frage der politischen Erwägung als der Sicherung der Kriegsentschädigungsan
sprüche Frankreichs, so hatte er damit den innersten Gedanken der napo
leonischen Politik ausgesprochen.
Nicht um die Zahlung der Kriegskosten
war es Napoleon bei der Besetzthaltung Preußens zu thun, in erster
Linie wollte er sich damit eine feste militärische Position schaffen, falls er mit Rußland über kurz oder lang in einen neuen Krieg verwickelt wer den würde.
Und noch eine andere Möglichkeit schwebte dem Imperator
dabei vor Augen.
Wenn Rußland aus der Erwerbung der Donaufürsten
thümer bestehen blieb, dann hielt sich Napoleon genöthigt und berechtigt, auch
seinerseits nach
Schlesien sein.
einer neuen Beute auszusehen.
Und diese sollte
Nun ließen sich aber die Verhältnisse der Balkan-Halb
insel keineswegs zum Frieden an.
Kaiser Alexander hatte die unter fran36*
zösischer Vermittlung zu Stande gekommenen Friedenspräliminarien von Robohia als mit der militärischen Würde seines Reiches unvereinbar ver
worfen und beharrte nun fester als
fürstenthümer.
je auf der Erwerbung der Donau
Jene geheime Absicht Napoleons hatte ihren Ausdruck ge
funden bei der ersten Audienz des neuen russischen Gesandten Grafen
Tolstoi, eines scharfen Gegners des russisch-französischen Bündnisses, der da gegen aufs eifrigste die freundschaftlichen Beziehungen seines Staates mit Preußen zu pflegen bemüht war und daher sich aufs engste an seinen preußischen Collegen in Paris, Baron Brockhausen, anschloß.
Zwar ver
hehlte er demselben aus Schonung den neuesten Plan Napoleons, suchte
dagegen auf jede andere Weise auf ihn in einer die Haltung der preußi schen Regierung
gegenüber den
ungemessenen Forderungen Napoleons
und seines General-Intendanten festigenden Weise einzuwirken.
Brock
hausen stand wieder in direktem Verkehr mit Sack, der meist früher als der König selbst von den neuesten Wendungen der Tuilerien-Politik Kennt niß erhielt und in seiner ablehnenden Haltung Berichte BrockhausenS gestärkt wurde.
Napoleon ernste Vorstellungen
nicht wenig durch jene
Graf Tolstoi hatte nicht verfehlt,
über die fortdauernde Besetzthaltung des
preußischen Staatsgebietes, durch welche am Ende auch Rußlands Sicher
heit bedroht werde, zu machen.
Darauf hin hatte es Napoleon vorge
zogen, um den unbequemen Vermittler, den er jetzt, wo er ihn zur Durch
führung einer das ganze europäische Festland umfassenden Handelssperre gegen England nothwendig gebrauchte, bei gutem Willen erhalten mußte,
zu beschwichtigen,
über Rußland hinweg
direkt mit Preußen einen Ab
schluß zu versuchen; hinterher konnte man dann immerhin diesen Abschluß wieder verleugnen oder sich nicht an ihn halten. Diese mildere Auffassung begegnet uns in den Vergleichsvorschlägen,
welche Daru der Friedenscommission am 15. November unterbreitete: Fixirung der Kriegsschuld auf 108 Millionen, Abtragung derselben inner
halb eines Jahres und
zwar der einen Hälfte durch Ueberlaffung von
Domänen, der andern durch Wechsel, Pfandbriefe und Anleihen.
Von
den früher geforderten Sicherheitsplätzen waren Graudenz und Colberg fortgelassen und nur Glogau,
Stettin und Cüstrin beibehalten.
Auch
hinsichtlich der Besatzungsmannschaft sollte eine bedeutende Reduction ein treten, so daß die Unterhaltungskosten sich höchstens auf die Hälfte der
früher geforderten belaufen sollten.
Aber Sack rieth dem Könige nicht
zur Annahme dieser Propositionen, namentlich im Vertrauen auf die Ver-
heißungm Tolstojs,
der
ein baldiges Engagement Napoleons auf der
phrenäifchen Halbinsel ankündigte, durch welches dieser genöthigt werden
würde, feine Truppen aus den preußischen Landen zurückzuziehen.
Die Antwort der preußischen Regierung verhält sich demnach ziemlich ablehnend auch gegen diese mildere Fassung der französischen Forderung. Die Schuldsumme wurde um 7 Millionen niedriger angesetzt.
51 Mill,
sollten in Wechseln der angesehensten Kaufmannshäuser in den größeren
Handelsplätzen, zahlbar nach 3 Monaten, der Rest in Obligationen der
landständischen Creditinstitute, sowie in Pfandbriefen auf die Domänen gezahlt werden, mit der Verpflichtung, die letzteren während der Frist eineJahres
in baarem Gelde einzulösen.
Die Festungen Stettin,
Cüstrin
und Glogau sollten vorläufig französische Besatzungen aufnehmen, doch soll
Glogau geräumt werden, sobald 7„ Cüstrin, wenn */, und Stettin, wenn die ganze Summe gezahlt sei.
Sold und Ausrüstung der Besatzungs
truppen habe Frankreich, die Verpflegung Preußen zu tragen.
Eine ungeheure Anstrengung aller Kräfte mußte bet diesen preußischen Gegenvorschlägen
die
rasche
Beschaffung
der
Geldmittel
hervorrufen.
Aber Steins energischer Geist wußte auch hier Rath und Hülfe.
In
erster Linie sollte die Veräußerung und Verpfändung der Domänen die nöthigen Mittel beschaffen.
Dabei wollte Stein Staatsgut und ritter-
schaftliches Gut derartig in Connex bringen, daß innerhalb jeder Provinz
der FiSkuS und die ritterschaftlichen Besitzer sich zu einer solidarischen Ge noffenschaft vereinigten,
welche unter gegenseitiger Haftpflicht aller Be
theiligten für die pünktliche Verzinsung und Wiedereinlösung der Pfand
briefe Bürgschaft zu übernehmen hätte.
Aus diese Weise durste man zu
gleich hoffen, daS Sinken der ritterschaftlichen Pfandbriefe gegenüber den
neu auszugebenden Domänenpfandbriefen zu verhindern.
Mit dem von
Napoleon seines Landes beraubten Kurfürsten von Hessen, der sein großes Privatvermögen bei der englischen Bank sicher geborgen hatte, ließ der
König durch den Fürsten Wittgenstein und den vormaligen Münsterer Kammerpräsidenten Frh. v. Vincke Unterhandlungen wegen eines AnlehenS
von 6—8 Millionen Thaler anknüpfen.
Einen größeren Erfolg versprach
er sich von der Ankunft seines Bruders in Paris, die endlich, nach manchen Aufhaltungen, am 3. Januar 1808, zwei Tage nach der Rückkehr Napo
Chr. Meyer.
leons aus Italien, statthatte. (Schluß folgt.)
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres. Im gegenwärtigen Augenblick ist Frankreich genöthigt einen größeren
Theil seiner HcereSmacht auf afrikanischem Boden zu verwenden, um da selbst eine Bewegung niederzuwerfen, welche sich im Lauf einiger Monate
über Algier und Tunis auSgebreitet, und die namentlich Dank dem mit
fremder Hülfe angefachten Fanatismus der eingebornen Bevölkerung, den Charakter eines Religionskrieges angenommen hat.
Von den Gränzen
Marocco'S bis zum Shrte-Meerbusen und bis zu dem Gebiet von Tripolis reichend, hat dieser Aufstand die Welt deS Jslam's in ganz Nordafrika
mit Abneigung und Feindseligkeit gegen daS Europäerthum und gegen die Sitten mildernde Macht abendländischer Civilisation erfüllt, und damit den Fortgang eines großen CulturunternehmenS gehemmt, an dessen Durch
führung die französische Staatsleitung in neuerer Zeit mit regem Sinn gegangen war.
Solches durchaus auf den Boden der praktischen Politik
gestellte Unternehmen, bestand in dem mit Eifer verfolgten Projekt von
den beiden Colonien, Algerien im Norden und Senegambien im Westen, Schienenwege nach den Sudanländern zu führen,
auf diese Weise die
Gränzen der europäischen Culturwelt bis weit in das Innere des dunklen Continentes vorzuschieben und europäische Ideen und französischen Einfluß mittelst deS Dampfes und der Elektrizität bis in die Mitte deS am we
nigsten bekannten und sich am hartnäckigsten verschließenden ErdtheileS zu tragen.
Abgesehen von dem, diesem Projekt zu Grunde liegenden politi
schen Gedanken, der Invasion der andern Völker in Afrika gegenüber, sich
wenigstens im Norden des WelttheileS ein Feld unbestrittenen Einflusseis
zu sichern, führten nicht minder Erwägungen wirthschaftlicher Art darauf
hin eine Action einzuleiten mit der Tendenz, der Machtsphäre Frankreichs bisher ferner gelegene Länder in nähere Verbindung mit den afrikanischen
Colonialbesitzungen zu
bringen,
Mutterlande zu verknüpfen.
und dieselben dadurch enger mit dem
Grade auf wirthschaftlichem Gebiet,
und
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.
511
zwar namentlich in der Anknüpfung von Handelsverbindungen, in dem Abschluß von Verträgen mit Nachbarreichen,
in der Gewinnung neuer
Absatzgebiete für die französische Industrie, und Erschließung von europäi schen Märkten für die eingeborne Bevölkerung schien ein weites Feld ge
geben, nicht allein um das civilisatorische Prestige Frankreichs zu heben,
sondern auch einen weiten Kreis von Ländern in seinen Interessenbereich zu ziehen.
Das Vorgehen auf der Linie von Algier nach dem Süden
begann im Jahre 1877, zunächst mit Explorationen und Recognoscirungen
von Land und Leuten.
Da die Ergebnisse der von dem
Ingenieur
Duponchel geleiteten Arbeiten nicht ungünstig waren, so veranlaßte der damalige Minister der öffentlichen Bauten Frehcinet die Einsetzung einer
Commission welcher die Aufgabe ertheilt wurde Forschungen vorzubereiten,
zu letten und zu unterstützen,
die darauf gerichtet wären, die praktische
Möglichkeit einer solchen Eisenbahn, und die beste ihr zu gebende Rich
tung festzustellen.
Auf Vorschlag dieser Commission ward dann mit der
Verwirklichung des Vorhabens begonnen.
Anfang Januar 1880 verließ
eine unter den Befehl des Obrist Flatters gestellte Mission Paris, um den Weg für eine die Sahara durchschneidende Bahn ausfindig zu machen. Der Ausgang dieser Expedition war ziemlich resultatlos.
Nachdem man
bis zum See Menkurt gekommen, verweigerte der räuberische Beduinen
stamm der Tuareg'S der Mission die Beschaffung von Lebensmitteln und
zwang
dieselbe zur Umkehr.
Ziemlich gleichzeitig mit Obrist FlatterS
traten im Frühjahr 1880 zwei andre RecognoscirungScolonnen den Marsch
an, die eine derselben wandte sich den Landschaften südöstlich Algerien'-
zu; sie sollte auf den beiden Linien Saghonat-Goleah und BiSkra-Ouargla vorgehen; die andre sollte mehr die westliche Richtung einschlagen und
von Saida aus den Rand der Sahara zu erreichen suchen. — Hand in Hand mit den von Norden her eingeleiteten Expeditionen geschah auch das Vorrücken vom Senegal aus.
Die Senegalländer haben
durch die längere Zeitdauer ihrer Zugehörigkeit zu Frankreich in mancher
Beziehung ein näheres Verhältniß zum Mutterland
als Algier.
Seit
mehr als zwei Jahrhunderten herrscht hier französische Sitte und Sprache; wohlhabende französische Kauf- und Geschäftshäuser, seit jener Zeit existirend,
stehen in regelmäßigem und regem Verkehr mit den Mittelmeerplätzen, sowie mit Bordeaux.
Die Länge der Zeit hat ein Band des Vertrauens zwischen
Franzosen und Eingeborne» geknüpft; ohne Scheu kommen dieselben aus dem Innern des Landes nach den Küstenstädten St. LouiS und Dakkar
mit Waaren, die sich für den überseeischen Export eignen.
der einheimischen Bevölkerung zu den Europäern,
DaS Zutrauen
der Wohlstand,
die
Bildung welche jene im Lande verbreitet, hat den Franzosen hier eine
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.
512
gute Operationsbasis geschaffen von der aus das Vorschieben des fran
zösischen Einflusses bereits mehrere mal mit Erfolg unternommen worden ist.
Bis zu dem Punkt, wo die Schiffbarkeit des Senegal aufhört d. h.
bis 700 Kilometer von seiner Mündung aufwärts, ist die Herrschaft über
das Land durch kleine Forts, die mit Besatzungen versehen sind, gesichert.
Zwischen der am weitesten nach Osten vorgeschobenen Ortschaft (Bakel) und dem obern Niger liegt eine Strecke von etwa 500 Kilometer, welcher die Wissenschaft bis jetzt nur vereinzelte geographische Daten abgerungen
und die der Handel noch gar nicht in seinen Bereich gezogen hat.
Gegen
wärtig gilt eS diesen Landstrich der französischen Autorität zu unterwerfen. Sobald dieses Ziel erreicht, hat man die Absicht einen Schienenweg nach dem oberen Niger herzustellen.
Der Anfang zur Durchführung dieses
Projektes ist insofern gemacht als die Kammern im Februar dieses Jahres die Concession zum Bau einer Linie zur Verbindung der beiden Küsten
plätze St. Louis (Hauptstadt der Colonie) und Dakkar
ertheilt
haben.
Beide Städte kommen deßhalb namentlich in Betracht, weil sie vermöge ihrer Lage die Träger und Vermittler des überseeischen Binnen- und des
Geschäftsverkehrs nach Frankreich und den andren Mittelmeerländern sind.
Auch noch
andre Umstände tragen dazu bei,
sie zu Mittel- und zu
Stationspunkten der interoceanischen Schiffahrt zu machen.
Zu solchen
Umständen gehört die gute Rhedebeschaffenheit von Dakkar, welche einen
geräumigen und geschützten Ankerplatz bietet, und die Möglichkeit der ge fahrlosen Ansegelung des Cap Verde.
Die weit vorspringende Spitze
desselben zieht schon jetzt die Navigation immer mehr an, und begünstigt
das Anlaufen der von Europa nach Süd-Amerika und nach Guinea resp, dem Caplande bestimmten Dampfer, welche dort immer lohnende Fracht
aus dem afrikanischen Hinlerlande finden. Niger verbindende Bahn,
Eine Dakkar und den obern
würde daher zu einem
directen Bindeglied
zwischen Europa und den Landschaften des oberen Nigerthales werden.
Man hat ferner in Erwägung gezogen, daß der Unterschied der Fracht
kosten zwischen Dakkar und Bordeaux, dem Havre oder Liverpool einer seits,
und zwischen Algier und Bordeaux, dem Havre und Liverpool
andererseits sehr geringfügig ist. zwischen
Algier
und
Marseille
Zwischen Dakkar und Marseille, und wird
sich
etwa
20 Francs pro Tonne Transportkosten ergeben.
ein
Unterschied
von
Diese Differenz wird
immer noch sehr hinter der Ausgabe zurückbleiben, welche der Waaren-
Transport auf dem Landweg von Timbuctu nach Algier erheischen würde der ungefähr 1000 Kilometer weiter ist, als die Strecke Timbuctu-Dakkar. Die Gesammtkosten einer den
Senegal und den Niger verbindenden
Bahn sind auf 54 Millionen Francs veranschlagt, und zur Herstellung
der ersten Sektion derselben 1,300,000 Fr. bewilligt. — Die Regierung hat mit Interesse und Lebhaftigkeit die Frage des Eisenbahnbaues in Senegambien vertreten, und durch den Mund des Marineministers er klären lassen, Frankreich müsse eS als eine Ehrensache betrachten, die erste
Nation zu sein,
die festen Fuß am Niger fasse; außerdem würde eine
Besitzergreifung des Landes wegen des Reichthums an Baumwolle lukrativ fein, und dem Handel wie der Marine noch manche andre Vortheile
bieten.
Um für die Anlage und den Betrieb von Eisenbahnen den Boden
zu ebnen und vorzubereiten, sind drei Missionen speciell innerhalb des letzten Jahres mit Aufträgen in das Innere entsendet worden, die sich darauf bezogen Stütz- und Anknüpfungspunkte für eine weitere Ausbrei tung nach Osten hin ausfindig zu machen.
Die bedeutsamste und er
folgreichste derselben, unter die Leitung deS Capitain Gallieni von den Marinetruppen gestellt, brach im Januar 1880 von St. LouiS auf, und
begab sich in südöstlicher Richtung in die Sudanländer, um namentlich mit dem Beherrscher von Segu, dem König Ahmadu, einem der ange sehensten und mächtigsten Fürsten jener Gegend, einen Freundschaftsver trag und ein Schutzbündniß abzuschließen und ihn durch das Ueberreichen
von Geschenken und Auszeichnungen dem französischen Etsenbahnunternehmen
nach dem oberen Niger hin günstig zu stimmen.
Capitain Gallieni ist
nach mehr als einjähriger Abwesenheit von seiner Mission in Mai dieses
Jahres zurückgekehrt, und hat dieselbe mit vollem Erfolge zu Ende ge führt.
Dank der von diesem Offizier mit Geschick und Ausdauer gelei
teten Unterhandlungen, hat der König Ahmadou einen Vertrag unter zeichnet, kraft dessen den Franzosen das Recht eingeräumt ist, sich in dem
Reich Segu niederzulassen und Handelsniederlassungen zu gründen, Han delsstraßen nach dem oberen Niger anzulegen, auf dem ganzen Nigerstrom bis Timbuctu das Protektorat zu üben,
ihren Schiffen zu befahren,
legen,
endlich in der Hauptstadt Segu einen Vertreter zu unterhalten,
welcher
im
diesen Strom ausschließlich mit
und Niederlassungen an demselben anzu
völkerrechtlichen
Laufe
Derrien,
des
letzten
Schutz Jahres
genießt.
—
entsandten
Auch
die
Missionen
beiden
andren
DeSbordeS
und
von denen der erstere am Fluß selbst und nördlich desselben,
der letztere im oberen Flußthal vordrang, und ausführliche Terrainstudten
machte, sind in diesem Frühjahr mit günstig lautenden Nachrichten zurück
gekehrt. Da der Senegal nur bis 700 Kilometer von der Mündung auf
wärts während 4 Monat im Jahr schiffbar ist, so kann der seinem Laufe folgende Schienenweg eine große CommunicationSlinie bilden, welche dem europäischen Import »in Vordringen bis fast zu den Küstenregionen ge-
514
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit deS MeereS.
stattet und andrerseits die Produkte der Sudanlandschaften und deS oberen Nigerthales dem Meere zuzuführen erlauben wird.
Die aufständische Bewegung welche seit einigen Monaten einen großen Theil der, den Gränzen deS französischen Machtbereiches zunächst domici-
lirenden Araberbevölkerungen zum Ergreifen der Waffen veranlaßt, hat sich bis jetzt in den Senegalländern' wenig bemerkbar gemacht.
Um so
schwerer sind diese Länder so eben von der Plage deS gelben Fiebers be troffen worden, welches unter der Einwirkung des heißen Klima'S und der
ungesunden Ausdünstungen deS Bodens, ganz besonders bösartig aufge
treten ist, und die Reihen der Europäer in selten dagewesenem Umfang
decimirt hat.
Die mit Beginn dieses Jahres wieder aufgenommenen Versuche, von Südalgerien aus eine Eisenbahnlinie durch die Sahara nach den Sudan-
landschaften zu führen, waren von keinem Erfolge gekrönt.
mit dem Befehl über die wohlausgerüstete Expedition FlatterS, der von Ouargla die Richtung
Der wiederum
betraute Obrist
über Hasst Mineghem und
Amdjid eingeschlagen, erklärte In seinen Berichten die östlich deS JgargarflusseS hinlaufende Linie für die dem Bahnbau Vortheilhafteste.
Am
28. Januar erreichte die Mission die Residenz des Königs der Hogar, (Jtarem) welche den räuberischen Tuareg'S angehören; nach dem ihm hier
in zuvorkommender Weise zu Theil gewordenen Empfang wurde die Reise
unter der Leitung von mitgegebenen Führern fortgesetzt.
Seitdem hörte
man nichts mehr von der Expedition, bis einige Monate später deren Ermordung gemeldet ward. ES wird angenommen, daß das Blutbad welches die grausamen und
heimtückischen Tuareg'S unter der französischen Colonne anrichteten, am 16. Februar d. I. einige Tagemärsche von Assiun
stattgefunden habe.
in dem Lande Aird
Mit dem Eintritt dieses erschütternden Trauerfalles,
war allen weiteren Unternehmungen Stillstand geboten. zum
Ausgangspunkt
eines ferneren Vorgehens
nach
Zur Basis und Süden
beabsich
tigt man die Stadt Ouargla, als den am weitesten nach Süden vorge
schobenen Posten der französischen Machtsphäre, zu nehmen, und daselbst das Hauptquartier aller auf die Durchforschung der zu recognoscirenden Saharagebiete zu verwendenden
militärischen Streitkräfte und
HülfS- und Nebendienstzweigen einzurichten.
anderen
Die ziemlich an der äußersten
Gränze deS colonialen Gebietes gelegene Stadt hat telegraphische Ver
bindung mit Biskra und Laghouat nach Norden, und ziemlich regelmäßige Verkehrsbeziehungen zu den politisch und commerziell bedeutendem Plätzen
der Sahara. WaS den Bau der Saharabahn selbst betrifft, welcher durchaus nicht
aufgegeben, so Ist die Länge derselben vorläufig auf etwa 2500 Kilometer
veranschlagt.
DaS ganze Gebiet, welches die Bahn durchschneiden soll,
ist etwa 16 Mal so groß als Deutschland.
Zumeist sind eS sanft ge
wellte felsige Hochplateaux, die mit Kiesel bedeckt, des vegetabilischen LebenS völlig zu entbehren scheinen.
welche die Oasen bilden.
Zwischen diesen Plateaux liegen Tiefebenen,
DaS von den atmosphärischen Einflüssen zer
störte Material wird zu Sand, der von den Passatwinden weiter getragen
wird.
WaS die Wasserverhältnisse betrifft, so ist die Sahara nicht ganz
so regenlos, wie man oft annimmt.
birgsgegenden.
Der meiste Regen fällt an den Ge
Doch verliert sich das Wasser rasch in der Tiefe.
artesischen Brunnen von denen die bedeutendsten
Mit
100, die mittleren
50—70 Meter Tiefe haben, gelingt eS fast immer Wasser zu erreichen.
AIS erste Station der projectirten Bahn würde sich Laguat empfehlen,
das von Algier 400 Kilometer entfernt ist. die Dünenketten dem Bau entgegensetzen. Schwierigkeit
wäre die Wasierbeschaffung
Ein großes Hinderniß werden
Eine zweite sehr erhebliche
für die Arbeiter.
Der In
genieur Dupouchel, der Urheber des ganzen Planes, will den Wasser
bedarf täglich durch drei Züge herbeischaffen.
Südlich von Laguat ist die
Gegend von den Ingenieuren noch absolut nicht erforscht, nach den ein
gezogenen Erkundigungen glaubt man, daß dort eine für den Schienenweg geeignete Ebene sei, und hofft man, das nöthige Wasser im Boden zu
finden.
Tuat soll die zweite Station der Bahn bilden.
Tuat auSsieht, weiß man gar nicht.
Wie es jenseit
ES soll sich dort eine tiefe Ebene
befinden, die aber für die Beschaffung des Wasserbedarfs die größten
Schwierigkeiten
bieten würde.
Auf eine Gesammtlänge von mehr als
2500 Kilometern ist die Bahn projectirt und die Kosten deS Baues sind
auf 400 Millionen Francs veranschlagt worden.
Diese Zahlen sind zu
niedrig gegriffen; daS Dreifache jener Summe wäre nicht zu viel, wenn daS Project sich wirklich ausführbar zeigen sollte.
Aber die gehoffte Aus
führbarkeit beruht auf manchen irrthümlichen Vorstellungen, die schwer in
positiver Weise zu widerlegen sind.
Die Arbeiter würden nur mit Mühe
zu beschaffen sein, für die Europäer würde sich daS Klima vielleicht nicht gerade schädlich erweisen, wohl aber die eingeborene Bevölkerung, die
dem Einwandern der Fremden den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzt.
Ehe sie einsieht, daß eine Eisenbahn auch in ihrem Interesse liegt, würden
die Arbeiten zerstört, die Arbeiter getödtet und Alles vernichtet sein.
Und
ließe sich auch der Bau noch schützen, der Bestand der Bahn wäre stets
gefährdet und in Frage gestellt durch die Liebe der Eingeborenen zur Un
gebundenheit und durch ihren religiösen Fanatismus. Den wirthschaftlichen Erwägungen auf welche sich der Calcul einer
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit deS Meeres.
516
Rentabilität der Saharabahn stützt, lag die Annahme zu Grund, daß die
Ausfuhr einer Reihe von afrikanischen Naturprodukten durch welche der Anstoß zu lebhaften kommerziellen Verbindungen mit dem Mutterland gegeben werden könnte sowie der Import von Salz aus den Sahara
ländern in das Nigerbecken, den Träger einer genügenden Frequenz ab
zugeben vermöchte. Bahn nur
In ersterer Beziehung rechnete man, daß wenn der
zwei Drittel
der
bisherigen Güterbewegung
zufielen,
sie
sogleich einen Exportverkehr von 50,000 Tonnen Alfa (eine Faserpflanze zu Gespinnsten) 20,000 Tonnen Datteln und Südfrüchte, 20,000 Tonnen Körner und Oelfrüchte, 20,000 Tonnen Baumwolle, Indigo, Federn, Harze,
zusammen 140,000 Tonnen — einen Einfuhrverkehr von 30,000 Tonnen Provisionen für die französischen Militärposten in der Wüste unb am
Senegal, 30,000 Tonnen Getreid'e für die Oasenbewohner, 50,000 Tonnen
Salz für den Sudan, 30,000 Tonnen europäische Manufacturwaaren,
zusammen ebenfalls 140,000 Tonnen, (waS einen Gesammtverkehr von 280,000 Tonnen Fracht für den Beginn darstellt) zu bewältigen haben
würde.
Hierzu eine Personen-Frequenz von jährlich 50,000 Reisenden
gerechnet, ergäbe eine Jahreseinnahme von 40—45 Millionen Franks.
Da die Sudanlandschaften ebenso wie Indien häufig von der Calamitat einer Mißernte und von Hungersnoth bedroht sind, sollte die neue Bahn
dazu beitragen zwischen den Bevölkerungen von Südalgier und denen der Sahara und Sudangegenden, ein Culturvermittler zu fein, und ihnen die Möglichkeit geben ihre Produkte, namentlich Vieh, in schlechten trockenen
Jahren, wo die Ernährung desselben mit großen Kosten verknüpft wäre, nach dem Norden zu senden.
Die vorstehend in den allgemeinsten Berichten skizzirte französische
Expansionspolitik in Afrika findet, wie die Ereignisse dieses Sommers in der Provinz Oran und auf anderen Punkten Südalgiers gezeigt haben,
ein Hemmniß ernster Art in dem schroffen und feindseligen Verhältniß, daS seit langer Zeit zwischen den Bewohnern der Gränzzone d. h. jener
Landstriche besteht,
in welchen sich die seßhafte europäische Ansiedlerbe
völkerung mit den nomadisirenden Araberstämmen des Gebirges und der
Wüste berührt.
ES ist dies das Gebiet, das ziemlich parallel mit der
Küstenlandschaft Tell, in 15 bis 30 Meilen Breite mehr im Innern hin ziehend, durch den kleinen und großen Atlas in drei Hochebenen gegliedert wird und an welches sich dann, landeinwärts die Küste mit ihren Oasen und einigen mit Gras bewachsenen Strichen die einige Zeit im Jahre den
Heerden etwas Nahrung bieten, anschließt.
Die Nomaden welche den herrschenden Stämmen Algeriens angehörten, behaupteten von jeher das Recht, ihre Heerden überall weiden zu lassen,
wenn während der sommerlichen Dürre in der Wüste oder während des
Winterschnees in dem Gebirge für dieselben keine Nahrungsmittel zu
finden waren.
Die seßhafte Einwohnerschaft jener Gegenden legte ihnen
dabei kein Hinderniß in den Weg.
Dies Verhältniß erfuhr nach der Er
So wenig Euro
oberung Algiers durch die Franzosen eine Wandlung.
päer sich auch dort ansiedelten und auf den Ackerbau verlegten, ihre Zahl
war doch groß genug, um die Nomaden ganz auS dem Tell zu verdrängen. Allmählig griff diese Bewegung aber noch weiter vor.
In dem letzten
Jahrzehnt wurde durch den Bergbau und noch mehr durch die Anpflan zung deS AlfagraseS auch die niedere Hochebene den Nomadenstämmen
als Weideplatz immer mehr entzogen, und zwar grade an den Stellen, wo der Boden am ertragreichsten und am culturfähigsten.
Die Kinder
der Wüste wurden zwar durch Geld in vielen Fällen entschädigt, allein diese Art der Compensation behagte ihnen wenig, sie wußten nicht recht,
waS sie mit baarer Münze anfangen sollten.
Die Verminderung der
Beschränkung der Weideplätze wirkte indeß in immer fühlbarerer Weise auf den Viehstand zurück, und trug wesentlich dazu bei denselben zu verrin
gern, wodurch
daS Vermögen der Stämme geschädigt wurde.
Diese
Beeinträchtigung wichtiger Lebensinteressen steigerte den, durch die Ver
schiedenheit deS Glaubens stets bestehenden Haß gegen die Europäer; von
den Nomaden der Wüste übertrug sich derselbe auch auf die andern un abhängigen Stämme.
DaS mit der zunehmenden Bevölkerung Hand in
Hand gehende Weitervorschieben der europäischen Cultur bedeutet daher
eine immer weiter gehende Verkürzung und Schädigung deS Lebensunter haltes und Erwerbs einer nach Hunderttausenden zählenden Bevölkerung
bei der es, angesichts des reich vorhandenen Zündstoffes, nur eine- leisen Anstoßes bedurfte, um eine Explosion herbeizuführen.
Es war daher eine
leicht zu erklärende Erscheinung, daß da wo gewaltsame Ausbrüche von
Haß zum Vorschein kamen, und wo Gewaltthätigkeiten stattfanden, dieselben sich vornämlich gegen die Alfaanpflanzungen richteten, um diese,
Arabern den Boden entziehenden verhaßten Culturen zu vernichten.
den Der
grausame Ueberfall bei Saida am 11. Juni d. I. unter dem nicht nur
die in den Alfaanlagen beschäftigten Arbeiter, sondern auch deren Frauen und Kinder zu leiden hatten, lieferte ein deutliches Beispiel von der Er
bitterung, welche in den Reihen der arabischen Bevölkerung jener Gränz
gegenden Herrschte, und die sogar so weit ging,
auch die Bediensteten
spanischer Nationialität mit dem Tode zu bedrohen. — Die französischen
Verwaltungsbehörden wissen sehr wohl, daß ein dauernder Friede mit
den Nomaden an der Südgränze nur dadurch zu erreichen ist, daß man den ersteren wieder die im Lauf der Zeit verloren gegangenen Weideplätze
518
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.
einräumt.
Als Aequivalent für das damit abzugebende Culturland, würde
die Beschaffung neuer, der Ansiedelung Nutzen gewährender Culturgebiete
nothwendig sein.
Die großen Kosten mit denen derartige Meliorationen
verbunden wären, haben die Durchführung der bis jetzt in dieser Richtung zu Tage getretenen Projekte immer wieder in die Ferne gerückt und theil
weise ganz von denselben absehetl lassen. Nicht in Afrika allein, auch in Asien und in der Südsee hat Frank reich in neuerer Zeit seinem Einfluß und seiner Macht weitere Ausdehnung
zu geben gesucht; in Asien handelte es sich dabei um eine Verstärkung seiner politischen und kommerziellen Position in Hinterindien, deren Basis
wie bekannt, die Colonie Cochinchina bildet:
Den äußeren Anlaß dazu
gab nicht nur das Streben dem Mutterlande nach dieser Seite hin
lukrativere Verbindungen zu eröffnen, reich
ausgestatteter,
und die Schätze von der Natur
aber bisher von dem Weltverkehr
völlig
auSge-
schloffener Colonialgebiete mehr als bisher auf die breite Handelsbahn
des MeereS zu lenken, sondern auch der Gedanke, dem Vordrängen Eng lands auf die Märkte des südlichen China'S entgegenzutreten, und eine
mit Erfolg begonnene Concurrenz auf dem chinesischen Weltmarkt siegreich weiter zu
behaupten.
DaS
heißfeuchte Klima Cochinchina'S
regt den
Boden des innern wie des Küstenlandes zu großer Ertragfähigkeit an;
das Hauptprodukt ist der Reis, der in großen Quantitäten gewonnen und
exportirt wird.
China, Australien, Calisornien sind die Hauptabnehmer
desselben, und zahlen gute Preise.
Außerdem wird Baumwolle, Pfeffer,
Indigo mit gutem Erfolg von den Eingeborenen gepflegt, und auch die Seide ist ein lohnender Erwerbsartikel, da sie acht Monat hindurch ge
nügende Ernten liefert.
Nächst dem Reis geben Zuckerrohr und Pfeffer
die höchsten Erträge und könnte die Cultur derselben sehr lohnend sein,
wenn es nicht an europäischem Capital und namentlich an europäischer
Intelligenz zur Ausnutzung der Arbeitskräfte fehlte. Die Bevölkerung
Anamiten.
Cochinchina'S besteht
zum
größeren Theil aus
Die Anamiten haben gemeinsame Abstammung mit den Süd
chinesen, den sogenannten Punti'S, soweit dieselben nicht daS Hochgebirge
bewohnen; dennoch unterscheiden sie sich ihrer Sprache und namentlich ihren Sitten und Gebräuchen nach von jenen.
Ihre Bildung und Civili
sation ist jedoch chinesisch geblieben, wie der Charakter der Anamiten überhaupt wenig Originalität und Selbstständigkeit bekundet.
Cochinchina hat sich in den zwanzig Jahren in denen es unter fran zösischer Hoheit steht, erfreulich entwickelt.
Bon einer Million ist die
Bevölkerung auf zwei Millionen angewachsen, die Bodenkultur hat be
deutend an Umfang zugenommen; während vor 16 Jahren der Export
519
Frankreichs diplomatische und militSrisch« Händel jenseit des Meeres.
eine Million PikulS Reis betrug, beläuft sich derselbe gegenwärtig auf mehr als fünf Millionen; den früher im Lande üblichen Culturen hat man außerdem diejenigen des Kaffee, deS Cacäo und der Vanille mit großem Erfolg hinzugesellt.
Mit der Herrschaft über Cochinchina ist daS Protectorat über den
Staat Cambodja verbunden worden, dessen vegetabilische Naturerzeugnisse und mineralische Schätze einen Theil seiner reichen Beträge an Cochinchina abgeben, und der Holz, Gummi, Gewürze und Elfenbein in tadelloser
Qualität und genügender Masse auf die Märkte der Colonte liefert.
Die
Zahl der europäischen Ansiedler hat sich von 200 im Jahre 1870 auf 820 gehoben,
und seitdem das Land von
einem Civilgouverneur verwaltet
wird, ist der.Zuzug noch stärker geworden. Die Finanzen der Colonie sind in blühendem Zustand, dieselbe trägt nicht nur die Kosten ihrer gesammten Verwaltung, sondern liefert noch
einen jährlichen Ueberschuß von zwei Millionen Francs durchschnittlich an
das Mutterland ab.
Bon Cochinchina ist der Blick und die Unterneh
mungslust der Republik in neuerer Zeit
auf ein Nachbarland gelenkt
worden, das, seiner Lage und Zugänglichkeit, der Tüchtigkeit seiner Be
wohner und seinen reichen HülfSquellen nach, Frankreich einen werthvollen Machtzuwachs innerhalb seiner asiatischen Besitzsphäre zu versprechen scheint.
DaS Gebiet, um welches es sich dabei handelt, ist die Provinz Tonkin deS Königreichs
Anam,
an
deren gleichnamigem Meerbusen
gelegen.
Die Beziehungen Frankreichs zu Tonkin reichen in das Jahr 1873 zurück und erhielten ihren Anknüpfungspunkt durch einen Conflict, in den ein in
China ansässiger französischer Lieferant, M. I. Dupuiö, wegen der Waffenund MunitionStranSporte, die er im Auftrag der chinesischen Regierung
dem in der rebellischen Provinz Iünnan die Truppen befehligenden Ge neral auf dem Songkoi oder rothen Fluß zuführte, mit dem Königreiche
Annam gerieth.
ES war daS erstemal, daß eine von einem Europäer
geführte Flotille in das Innere von Anam vordrang, dessen Argwohn
und feindselige Gesinnung dadurch geweckt wurde.
Der der DupuiS'schen
Mission entgegengesetzte Widerstand gab die Veranlassung zur Absendung einer kleinen militärischen Expedition,
welche Genugthuung für die er
littene Unbill fordern und sich dieselbe nöthigenfallS mit den Waffen in
der Hand erzwingen sollte.
Dem kaum hundert Bewaffnete zählenden
kleinen CorpS, das den Songkoifluß hinauf gesendet wurde, gelang es in kurzer Zeit alle Positionen in seine Gewalt zu
bekommen.
DaS
aüS
diesen Zwistigkeiten und den auf dieselben folgenden Unterhandlungen sich
ergebende Resultat war ein im Jahre 1874 zwischen der Republik und
Anam abgeschlossener Vertrag, kraft dessen den französischen Schiffen und
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.
520
ihrem Handel der Songkoi oder rothe Fluß erschlossen, dagegen französi schen Ansiedlern das Verbleiben im Lande untersagt wurde.
der Abneigung
und Feindseligkeit
gegen das Europäerthum,
Der Geist
der das
Staatswesen Anam's beherrscht, machte indeß daS Einhalten der über
nommenen Verbindlichkeiten seitens Anam's illusorisch.
Zu dieser Oppo
sition trug wesentlich der Umstand bei, daß zwischen den Bevölkerungen
beider Länder ein scharfer Zwiespalt besteht, der aus der Zeit herrührt, wo die
benachbarten chinesischen Gränzstämme die Waffen gegen ihre
rechtmäßigen Regierung und gegen Anam erhoben, und wo Tonkin zum Schauplatz verheerender Kämpfe wurde.
Die Grausamkeit und Hinterlist
mit welcher der König Tu-duk von Anam die Tonkinesen bei Unterdrückung
der Empörung behandelte, führte eine völlige Entfremdung zwischen beiden Ländern herbei.
Grade dieses Moment war
Sympathien für die französische Macht erfüllte.
eS, welches Tonkin mit
Sowohl einzelne Rei
sende und Forscher, wie militärische RecognoscirungS- und HandelSexpe-
ditionen fanden stets eine freundliche Aufnahme; dadurch entstanden mit
der Zeit nähere Beziehungen zwischen beiden Ländern, die in der franzö sischen Colonie angesichts der Kraft- und Energielosigkeit Anam's, den
Wunsch rege werden ließen, direkteren Einfluß auf Tonkin zu gewinnen,
und namentlich Handelsvortheile daselbst zu erlangen. ledigung des
ersten,
Schon vor Er
durch den Munitions- und Waffentransport des
Unternehmers Dupuis herbeigeführten Streitfalles, welcher in thatkräftiger und umsichtiger Weife innerhalb 6 Wochen von einem französischen Ma
rinedetachement geregelt wurde, schrieb der Gouverneur von Cochinchina
unter dem 16. Mai 1873 an den Marineminister: daß seiner Ansicht nach
mit der Besetzung des productenreichen und vermöge einer großen Wasser ader bequem zugänglichen Landes, welches daS natürliche Sammelbecken
der aus den südchinesischen Landestheilen auszuführenden Bodenerzeugnisse wäre, nicht gezögert werden dürfe, und daß dessen Inbesitznahme eine
Lebensfrage für die Fortdauer des französischen Einflusses im östlichen Asien sei.
Man müsse dort entweder als Verbündeter des Königs Tu-Duc
von Anam festen Fuß fassen, unter dem Vorwande die Autorität dieses Fürsten zu befestigen und sein Ansehen zur Geltung zu bringen, oder bei
der geringsten Gelegenheit,
bei welcher der König Beweise von Uebel
wollen gäbe, oder sich weigere auf ein Vertragsverhältniß einzugehen, zur
militärischen Occupation schreiten.
Das damals von einem sachgemäßen
und richtigen Urtheil eingegebene Verbiet scheint nunmehr nach 8 Jahren der Verwirklichung entgegenzugehen.
Die zukünftige neue französische Colonie hat ein gesünderes, besseres
Klima als Cochinchina; ein netzförmig entwickeltes Kanal- und Flußshstem
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.
521
verbreitet Feuchtigkeit und Frische über den Boden, und giebt dem Lande
den Charakter einer sich zum Meere hinabsenkenden Niederung.
Auf den
ausgedehnten Flächen derselben gedeihen der ReiS, der Mais, das Zucker rohr in überreichem Maße; die Cultur des Bodens würde eine besser entwickelte seine, wenn König Tu-Duc nicht, in der Absicht jeden Außen
handel zu verhindern, seit langer Zeit die Ausfuhr von Waaren verboten
hätte.
Alle Früchte und Gemüse der tropischen Natur, auch der Oelbaum,
sowie die Erträge deS Meeres, ernähren in wohlfeiler Weife eine dicht gedrängt wohnende Bevölkerung. staude kommen vielfach vor.
Auch Seide, Baumwolle, die Ricinuö-
Am meisten exportirt werden Zinn, Lack, Der breite Rücken des SongkoistromeS trägt
Firnißöl, feine Baumwolle.
diese Artikel in großen Massen dem Ocean zu, da der Fluß ungefähr 414 MileS von seiner Mündung aufwärts schiffbar ist. —
Dieser Fluß, welcher bis tief in das Innere von gut bevölkerten,
von der Natur reich ausgestatteten, durch die Erzeugniffe ihres GewerbfleißeS hervorragenden Binnenlandschaften reicht, ist der Vermittler der
Ein- und Ausfuhr Tonkins.
In seinem oberen Laufe durchfließt er die chinesische Provinz Aünna deren Märkte sich durch eine große Reichhaltigkeit auSzeichnen.
Metalle
aller Art, als Eisen, Kupfer, Zinn, Zink, Silber bilden den einen Theil dieser natü'rlichen Schätze; die Theestaude und der Maulbeerbaum einen
anderen.
Der Waarenreichthum der vorstehend genannten
chinesischen
Märkte übt seit langer Zeit große Anziehungskraft auf die englischen in
Birma ansässigen Handelsagenten. Nachdem die indobrittische Regierung Birma die Stadt Pugon ab
genommen hatte, glaubten die englischen Händler, eS würde möglich sein,
auf dem Jrawaddi oder dem Salüen-Fluß das ertragreiche Aünnan und
die Provinz Sjö-Tschuen zu erreichen.
In dieser Hoffnung sahen sie sich
indeß durch den Umstand getäuscht, daß die beiden genannten Ströme nicht bis auf chinesisches Gebiet hin, auf welchem sie ihren Ursprung haben,
schiffbar sind, und der Landweg über hohe Gebirgsrücken und durch steil
etngeschntttene Querthäler führt. Einen werthvollen mineralischen Schatz besitzt Tonkin auch in fast
unerschöpflich reichen Kohlenbecken, die sich in der Nähe der Uferland schaften des oberen Singkoilaufes vorfinden, und deren Borräthe mühelos auf dem genannten Fluß zum Meere hinab geführt werden können. —
Die Aussicht auf eine Erweiterung des ostasiatischen Besitzstandes, und auf eine einflußreichere handelspolitische Stellung innerhalb der indo chinesischen BerkehrSzone,
hat der französischen Colonialverwaltung
den
Impuls gegeben, der Ergänzung und Weiterentwicklung deS noch sehr Preußische Jahrbücher. Bd. XI.VIII. Heft 5.
37
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.
522
lückenhaften Verkehrsnetzes daselbst ein reges Interesse zu widmen.
In
dieser Beziehung ist namentlich daS Project zur Herstellung einer Bahn zwischen Saigon und Puom Peng, der Hauptstadt von Cambodja günstig
ausgenommen worden.
Durch ein solches Schienenband würde das Haupt
emporium deS unter französischer Oberhoheit stehenden Reiches Cambodja
erreicht, und eine bessere Verwerthung der LandeSproducte desselben er möglicht werden.
Nach neuern Nachrichten liegt außerdem eine Regulirung
der Schiffbarkeit deS Mekongstrom sowie der Bau von Zweigbahnen die vom oberen Flußthal nach Aünnan lind nach Tonkin geführt werden sollten
in der Absicht, dadurch würde einmal die bessere Ausnutzung der wald
reichen Ufer deS mit tiefer und breiter Strombahn weit in das Hinter land eindringenden Mekongflusses möglich sein, andrerseits könnte Saigon dadurch zu einem Depot- und Siapelplatz für die, namentlich in Mine
ralien und Lackholz bestehenden sehr werthvollen Produkte des benachbarten Binnenlandes, sowie zu einem Stationspunkt des französischen überseei
schen Handels werden.
Auch in der Südsee hat, wie schon gesagt worden, die Republik in neuerer Zett eine Politik der Expansion etngeschlagen, und sich bemüht, dem dortigen Colonialbesitz, dem es wegen seiner Zersplitterung und seiner isofirten Lage
an den Bedingungen eines kräftigen Gedeihens fehlte,
mehr Ausdehnung und zugleich auch mehr innern Zusammenhang zu geben.
Einen äußern Ausdruck erhielt dieses Streben zunächst in der im Juni 1880 erfolgten Annexion der Gesellschaftsinseln, über welche Frankreich seit dem
Jahre 1840 ein Protektorat ausgeübt, das ihm zwar das Recht zu manchen Einmischungen in innere staatliche und wirthschaftliche Verhältnisse der
genannten Inselgruppe gegeben, dagegen ihm nach außen manche Reserve
auferlegte.
Nachdem die Königin Pomare am 20. Juni 1880 das bis
dahin von ihr beherrschte Land für einen Theil deS französischen Staats
gebietes erklärt hatte, war ein Mittel gegeben um den ernsten Unzuträglichkeiten die das ProtectoratSverhältniß nach sich gezogen, ein Ende zu
machen. In Folge der Anordnung, daß innerhalb der ProtectoratSgränzen nur solche Schiffe Handel treiben sollten, die ganz oder theilweise französisches
Eigenthum, und von französischen Kapitänen geführt würden, war das
kaufmännische Geschäft in jenen MeereStheilen fast vollständig erlahmt. Auch die kleinen Zugeständnisse zu denen man sich dann entschlossen,
änderten an diesem Zustande nichts.
Die französischen Kapitalisten und
Unternehmer, denen zu Liebe die genannte Bestimmung getroffen war und welchen dadurch der Handel reservirt werden sollte, blieben aus.
Das
selbe war in Folge der beengenden und drückenden Beschränkungen und
Besteuerungen die der fremden Kauffahrteiflagge auferlegt waren,
nichtfranzösischen Fahrzeugen der Fall. Regierung Nachtheile und Verluste.
mit
Dadurch erwuchsen der Colontal-
In diesem Dilemma empfahl eS
sich, an Stelle der Schutzherrschaft die Annexion treten zu lassen; damit war das Land direct unter die französischen Gesetze gestellt, und waren die Bewohner des letzteren zu französischen Unterthanen erklärt, während
das staatsrechtliche Band bei dem Protectorat nur darin bestand, daß die Bevölkerung Tahtti'S das Staatsoberhaupt Frankreichs auch als ihr Ober haupt anerkannte.
Von außen wirkte auf die Umwandlung des Pro-
tectoratS in ein direktes Abhängigkeitöverhältniß die kräftigere Entwickelung des DeutfchthumS auf den benachbarten Samoa-Jnfeln, und die Verbrei tung des deutschen Handels über die weniger bekannten Inselgruppen des Südsee-Archipels.
Die Besuche welche deutsche Kriegs- und Kauffahrtei
schiffe in letzter Zeit den King Mill- oder Gilbert-Inseln abstatteten, die
Verhandlungen deutscher Agenten mit Regierungsvertretern auf der Ellice-
Gruppe, den Marschall- und Duke of Aork-Jnseln zeigten, daß es opportun
sei, die französische Machtsphäre räumlich zu erweitern und fester zu consolidiren.
Noch mehr war durch daS bestimmte Auftreten Englands in
Polynesien der Anlaß zu entschiedenem Vorgehen für Frankreich geboten.
Nachdem sich die Engländer auf den 1874 occupirten Fidschi-Inseln voll
ständig eingerichtet, drangen ihre großen Plantageneigenthümer und Grund besitzer auf die Besitzergreifung der günstig innerhalb der BerkehrSzone gelegenen „Neuen Hebriden" sowie auf Okkupation von Neu-Guinea und
der daran grenzenden Jnselgebiete, Neu Britannien und der GilbertInseln, vornehmlich um daS dortige Arbeiterfeld für brittische Interessen zu monopolisiren.
Der Ausbreitung des deutschen und des englischen
Elements in jenen Meeren konnte nur durch die förmliche Einverleibung
eines Theils des französischen ProtectoratsgebietS ein Gegengewicht ge
geben werden, welche, wie schon gesagt, im Juni vergangenen JahreS Thatsache ward.
Bon demselben Schicksal wie die GesellschaftS- oder Tahiti-Inseln ist
vor einigen Monaten auch die Gruppe der Gambier- oder Mangareva-
Eilande betroffen worden. Neuesten Meldungen zufolge hat der AnnexionSact
selbst im März stattgefunden.
Wie üblich, wurde bet demselben die Form
beobachtet, daß in einer Erklärung ausgesprochen ward: die gegenwärtige Regierung habe um den Anschluß an das französische Staatsgebiet nach
gesucht. In der letzten Zeit hat sich auch mehrfach von Neu-Caledonien, der
bekannten französischen Verbrechercolonie aus, der Ruf nach einer Einver leibung der Gruppe der Neuen Hebriden in den Colonialbesitz der Re-
Frankreichs diplomatische und militärische Händel jenseit des Meeres.
524
publik vernehmen
lassen.
Motivirt wurde dieses Verlangen mit dem
Hinweis darauf, daß das Verbrecher-Element in Numea vollständig die
Oberhand gewonnen habe, so daß der freie Ansiedler verschmähe dort sein Glück zu suchen.
Wollte man die Cultur und Anbaufähigkeit von Neu-
Caledonien weiter auSnützen, dann müßte, so wurde gesagt, dasselbe zu
nächst von den schwersten Verbrechern befreit werden.
Für dieselben gäben
die „Neuen Hebriden" eine geeignete Strafanstalt ab, ebenso wie diese
Inseln andererseits dadurch Werth fßr die Caledonier hätte, daß sie den selben, in ihren Bewohnern billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellen könnten.
Vorläufig scheint man nicht an eine Acquisition der genannten Gruppe zu denken; das wenig versprechende Klima, die Sterilität, der sehr geringe
Grad von Civilisation ihrer Bewohner, würden dieselbe zu einem sehr kostspieligen Unternehmen machen, dagegen darf die Einverleibung des
ebenfalls unter französischer Oberhoheit stehenden, etwa 80 kleine länglich
geformte Eilande umfassenden Paumotu-ArchipelS, der den südöstlichsten
Arm Polynesiens bildet, wohl als in naher Zeit bevorstehend angesehen werden.
Die Lage nach den Wahlen. Selten in unserer neuesten Geschichte hat sich die Macht der Trägheit so wirksam erwiesen wie bei dem Wahlkampfe, der soeben zu Ende geht.
Wie es oft geschieht, daß eine regierende Klasse allein durch die Macht
des Beharrens noch Jahrzehnte hindurch eine Herrscherstellung behauptet, welcher ihre sittlichen und wirthschaftlichen Kräfte nicht mehr entsprechen,
so werden auch zuweilen veraltete, von den lebendigen Mächten der Ge schichte längst überholte Parteigegensätze durch die Kraft der Gewohnheit noch eine Weile auftechterhalten, und solche im Grunde ideenlose Parteikämpfe pflegen dann durch ein Uebermaß gehässiger Erbitterung zu er
setzen was ihnen an Sinn und Gehalt abgeht.
Die Parteinamen Liberal
und Conservativ haben im Verlaufe der letzten Jahre ihren alten Sinn
verloren.
Was die alten liberalen Parteien an berechtigten politischen
Gedanken erstrebten, ist durch die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes
und des Deutschen Reichs tut Wesentlichen verwirklicht und steht so fest, daß eigentlich Niemand mehr daran zu rütteln wagt.
Alle Parteien ohne
Ausnahme benutzen im Wetteifer die Freiheit der Presse und der Redner
bühne, die ihnen der Liberalismus erobert hat; in keinem Lande Europas kann der Bürger seine persönliche Kraft so schrankenlos nach freiem Be lieben bethätigen wie in dem vtelverleumdeten deutschen Militärstaate.
Das Programm des Liberalismus ist erfüllt; und unterdessen hat die
wachsende Zeit dem deutschen Staate eine Reihe neuer Aufgaben gestellt, welche mit den alten Parteilehren nichts gemein haben und früher oder später unser FraktionStretben umbilden müssen: die dreifache Aufgabe der finanziellen, der volkSwirthschaftlichen und der socialpolitischen Reform.
Von dem ParticulariSmus der Regierungen steht für die Einheit des Reichs zunächst nichts zu fürchten; sie Alle haben, mehr oder minder willig,
aber mit ehrenhafter Treue sich in die neuen Verhältnisse gefügt.
Um
so bedrohlicher regt sich im Volke wieder jener Sondergeist, der in Jahr hunderten der nationalen Schwäche aufgewachsen, durch die wundervollen
Erlebnisse des französischen Krieges wohl zurückgedrängt doch nicht be-
wältigt werden konnte, und er nährt sich vornehmlich an der Klage über
die materielle Noth.
Die Masse des Volks in den kleinen Staaten be
merkt wenig oder nichts von Allem, was den Gebildeten den deutschen Staat theuer und ehrwürdig macht; sie weiß nicht, welche ruhmvolle Rolle die friedliche Macht des einigen Deutschlands in den europäischen Händeln
diese« Jahrzehnts gespielt hat.
Sie empfindet von der neuen Ordnung
der Dinge nur die harte Wehrpflicht und die Erhöhung der Steuern; sie trägt diese Lasten um so unwilliger, da sie von den Anforderungen, welche
ein großer Staat an seine Bürger stellen muß, keinen Begriff hat und von AlterSher gewöhnt ist die Wohlfeilheit des Regiments als das höchste politische Ideal zu betrachten.
Die Feinde Deutschlands kennen diese Ge
sinnung wohl und werden nicht müde durch beharrliches Aufzählen der
unerschwinglichen neuen Lasten den Haß gegen das Reich
zu
schüren.
Längst schon hört man in Württemberg und Baiern, wie einst unter dem
alten Zollverein, wieder die Klage: Preußen braucht uns um seine Taschen zu füllen, wir können Preußens gern entbehren!
Solchen Gesinnungen den Boden zu entziehen, die nationale Einheit auch den Massen des Volks erträglich zu machen ist der eigentliche Zweck
der in den jüngsten Jahren begonnenen Finanzreform.
Da das Finanz
wesen kleiner Staaten den Ansprüchen einer Großmacht schlechterdings nicht zu genügen vermag, so bleibt nur übrig, den Haushalt der Reichs
gewalt so selbständig zu gestalten und mit eigenen Einnahmen so reich
auSzustatten, daß sie selber die Einzelstaaten unterstützen und sie durch
eine wohlthätige, willig ertragene Feffel unzertrennlich mit dem Reiche verbinden kann.
Dieser Gedanke ergiebt sich so unabweisbar auS den
Lebensbedürfnissen deS Reichs, daß man seine Ausführung wohl ver schieben, aber nicht verhindern kann.
Darum wird auch der Plan des
Tabaksmonopols, trotz so vieler berechtigter Bedenken und unberechtigter Vorurtheile, die ihm entgegenstehen, immer von Neuem auftauchen — so lange Niemand ein andere- Mittel anzugeben weiß, daS ohne Schädigung
des Volkswohlstandes die Einnahmen des Reichs ebenso nachhaltig ver mehren kann. ES ist und bleibt ein unnatürliches Verhältniß, daß die wenig
rauchenden Engländer von einem Genusse, der sich wie kein anderer für ergiebige Besteuerung eignet, dem Staate 4,86 Mark auf den Kopf zahlen, die rauchlusttgen Deutschen bisher 35 Pfennig und erst nach vollständiger
Durchführung der neuen Gewichtssteuer etwa 1 Mark. Die Stärkung der Reichsfinanzen erscheint aber um so dringender,
weil der unerfreuliche Zustand unserer Volkswirthschaft eine Steigerung
der productiven StaatSauSgaben gebieterisch fordert.
Man kann sich nicht
mehr darüber täuschen, unser Wohlstand bleibt nicht nur weit hinter der
politischen Machtstellung des Reichs zurück, er hält auch nicht mehr gleichen
Schritt mit dem raschen Wachsthum unserer Bevölkerung und dem Gedeihen unserer westlichen Nachbaren.
Wer aber überholt wird, der schreitet zurück
— das gilt im Völkerleben noch mehr als im Geschäftsleben der Einzelnen. Wie oft haben wir uns gerühmt den ersten Hafen des ContinentS zu be
sitzen; heute bemerken wir mit Beschämung, daß der Handel Antwerpens, gefördert durch die einsichtige Freigebigkeit seines Staates, den Hamburgischen
Wir
in der Tonncnzahl der Schiffe bereits um 36 Procent übertrifft.
sehen unsere Flagge aus den Gewässern HinterasienS Schritt für Schritt zurückweichen, weil Deutschland allein unter allen großen Culturvölkern
den oceanischen Dampferverbindungen die Staatöhilfe versagt, welche selbst England, das classische Land des Voluntarismus, mit offenen Händen gewährt.
Wir haben drei Jahrhunderte in trauriger Schwäche verbracht,
während die anderen Völker die transatlantische Welt unter sich auftheilten,
und mußten jetzt erleben, daß der erste bescheidene Versuch der ReichS-
regicrung, der deutschen Schifffahrt
eine selbständige Position
in der
Südsee zu sichern, an dem Widerspruche deö Reichstags zu Schanden
wurde.
Wir besitzen kaum die
eines CanalnetzeS, während
Anfänge
Frankreich für Hafenbauten, Kanäle, Flußregulirungen und dergleichen in einem Jahre 460 Mill. Fr. aufwendet.
Wir sehen alle wissenschaftlichen
Berufe bedenklich überfüllt und bieten, etwa mit Ausnahme Württembergs,
unseren jungen Gewerbtreibenden einen so mangelhaften technischen Unter richt, daß wir vor Frankreich erröthen müssen.
Wohin wir blicken, überall
stoßen wir auf die Unterlassungssünden deutscher VolkswirthschaftSpolitik. Der neue Zolltarif — dies läßt sich jetzt schon erkennen — hat unsere Producenten etwas ermuthigt, und die Ehrlichkeit gebietet das Eingeständ-
niß, daß namentlich der Getreidezoll die erwarteten üblen Folgen nicht
gehabt hat.
Eine wesentliche Veränderung des Tarifs erscheint in den
nächsten Jahren schon darum unmöglich,
weil sich inzwischen in allen
unseren Nachbarstaaten die Schutzzollpolitik immer schärfer ausgebildet hat
und wir in dem allgemeinen Zollkriege nicht waffenlos bleiben können.
Aber mit Alledem ist nur ein erster Schritt geschehen. Aufnahme unserer beiden
Wir brauchen die
ersten Häfen in das nationale Marktgebiet,
große Aufwendungen des Staats für Kanäle, Häfen und Schifffahrt und vor Allem eine Neugestaltung unseres veralteten Steuersystems, das in einer Zeit bescheidener wirthschaftlicher Verhältnisse entstanden, heutzutage
den Grundbesitz wie die großen Städte gleich schwer bedrückt.
Und dazu endlich die drohende Gefahr der socialen Revolution.
Die
Socialdemokratie ist durch das Ausnahmegesetz zwar in ihrer Ausbreitung etwas behindert, aber keineswegs vernichtet worden.
Wer den
Proceß
gegen die Frankfurter Verschwörer vor dem Reichsgerichte aufmerksam
verfolgt hat, muß den Eindruck gewinnen, daß die Fäden dieses Unter
nehmens sehr weit reichten und nur ein kleiner Theil der verbrecherischen Pläne an den Tag gekommen ist.
Dämonische Kräfte nagen und bohren
an den Grundlagen der Gesellschaft, und der deutsche Revolutionär ver fährt in der Wahl seiner Mittel ganz ebenso unbefangen wie der russische Nihilist.
ES wird die höchste Zeit, daß der Staat den berechtigten Klagen
der Arbeiter die so oft,
von allen Parteien im Wetteifed, verheißene
Abhilfe endlich gewährt und der Masse das Vertrauen zu seiner Gerech tigkeit wieder erweckt.
Die Aufgabe zählt zu den schwersten der StaatS-
kunst und jeder Fehlgriff kann verhängnißvoll wirken, denn überall droht die Gefahr, daß durch das Eingreifen der Staatsgewalt das Gefühl der
persönlichen Verantwortlichkeit, der feste Grund aller socialen Ordnung, zerstört werde.
Doch der deutsche Staat hat seiner Thätigkeit schon so
oft neue, hohe Ziele gestellt, welche der übrigen Welt unerreichbar schienen, und sie wirklich erreicht; er hat einst unter dem Gelächter deS Auslands
den Schulzwang und die allgemeine Wehrpflicht durchgesetzt und soeben wieder, zuerst unter allen Großmächten, das StaatSeisenbahnshstem in großem Stile eingeführt — ein Wagniß, das trotz mancher noch nicht be
seitigter Uebelstände zuletzt doch gelingen wird.
Er hat auch zu allen
Zeiten den Grundsatz der öffentlichen Armenpflege festgehalten, und Nie
mand darf ihn eines radikalen Bruchs mit der Vergangenheit beschuldigen, wenn er sich jetzt die Frage vorlegt: inwieweit ist eS möglich, die oftmals
ungenügenden und immer demüthigenden öffentlichen Almosen durch ein vom Staate geleitetes Versicherungswesen zu ergänzen?
In diesem dreifachen Gedankenkreise hat sich die innere Politik des Reichskanzlers bisher bewegt.
Man mag ihr vorwerfen, wie es auch in
diesen Blättern oftmals beklagt wurde, daß sie hastig, unstet, sprungweise
vorging, daß sie manche unreife oder ganz verfehlte Entwürfe, wie den unseligen Wehrsteuerplan, zu Tage förderte.
Aber ihre Grundgedanken
sind nicht die willkürlichen Einfälle eine- genialen Kopfes, sondern daS
nothwendige Ergebniß unserer wirthschaftlichen Lage.
Mag der Reichs
kanzler bleiben oder ausscheiden, die deutsche Politik wird die Lösung dieser
socialpolitischen Probleme nicht mehr umgehen können, und eS gereicht den konservativen Parteien zur Ehre, daß sie diese Nothwendigkeit früher und
klarer begriffen haben als die Liberalen. Die alten Rollen sind vertauscht. Die sogenannten Conservativen erscheinen heute als die Träger der Re
formpolitik; darum folgt ihnen auch die Jugend, die immer und überall
liberaler denkt als die Erwachsenen. Liberalen
In den Kreisen der sogenannten
überwiegt ein doktrinärer Optimismus, der,
froh deS Be-
sitzeS, die vorhandenen Mißstände hinwegzuleugnen sucht und sich alle
Neuerungen vom Leibe hält mit dem wohlbekannten reaktionären Angstrufe: „wir wollen endlich Ruhe haben!" Gleichwohl hat der Wahlkampf nicht dazu geführt, daß die Parteien
je nach ihrer Stellung zu den praktischen Aufgaben der nächsten Zukunft sich neu gruppirt hätten. Obwohl einzelne Schlagworte aus dem Programm
des Reichskanzlers, die Arbciterversicherung, das Tabaksmonopol, die Bör
sensteuer, hüben und drüben als willkommene Agitationsmittel benutzt wurden, so zog doch jede der zehn alten Fraktionen als eine geschlossene Heerschaar ins Gefecht, eine jede eifrig bemüht den anderen, und wenn
sie auch nur um eines Fingers Breite weiter nach links oder rechts standen,
den Boden streitig zu machen.
So enstand ein Krieg Aller gegen Alle,
der selbst in der wtrrenreichen Geschichte des deutschen Parteiwesens nicht seines gleichen findet.
Mit weniger als drei oder auch vier ja sechs
Candidaten scheint ein deutscher Wahlkreis bald nicht mehr auskommen zu können.
Ein volles Viertel der Wahlkämpfe mußte durch Stichwahlen
entschieden werden, und bei diesen offenbarte sich die Verwilderung des Parteihasses in den unnatürlichsten Coalitionen.
Daß der rohe, zuerst
von der Socialdemokratie und der Fortschrittspartei angeschlagene Ton des
Schimpfens und Verleumdens jetzt auch die anderen Parteien anzustecken beginnt, erscheint nur als eine natürliche Folge des unglücklichen allge-
Ulkinen Stimmrechts, und wir müssen in der Zukunft auf noch lieblichere Proben deutscher Höflichkeit gefaßt sein.
Völlig neu, unerhört in der Ge
schichte unseres strengmonarchischen Staates war aber die Verunglimpfung
des kaiserlichen Thrones selber, die von der Fortschrittspartei und ihren Genoffen nicht für unziemlich gehalten wurde.
Dieselbe Partei, welche
einst das Königthum von Gottes Gnaden für eine bankrotte Firma er
klärte, warf sich zum Kronenwächter deS Haufes Hohenzollern auf und versicherte den Thron gegen die HauSmeier-Gewalt deS neuen Richelieu
beschützen zu wollen — als ob nicht jedes Kind wüßte, daß ein Richelieu ohne einen Ludwig XIII. nicht möglich ist!
Die beiden Mittelparteien
zeigten sich dem Ansturm der Extreme nicht gewachsen.
Wenn eS nur
darauf ankommt die Pfeife deS armen Mannes zu rauchen und den alt
germanischen Abscheu gegen die Steuerzahlung durch die lockende Ver heißung „freien BroteS und freien Lichts" aufzustacheln, dann werden die Männer, welche daö Mögliche in der Politik erstreben, niemals mit der
Lungenkraft der Radikalen wetteifern können.
Die nationalliberale Partei
half überdies noch in unbegreiflicher Verblendung ihr eigenes Grab graben
und leistete in vielen Wahlkreisen der Fortschrittspartei HeereSfolge um zum Danke aus ihren alten Stammsitzen verdrängt zu werden. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIIL Heft 5.
38
DaS Ergebniß des verworrenen Kampfes ist in der That, wie eS im
Junihefte dieser Jahrbücher vorhergesagt wurde, ein Nebeneinander von
drei scharf geschiedenen Gruppen, und unter diesen ist die Schaar der zuverlässigen Anhänger des Kanzlers die schwächste.
Daö Centrum geht
als der eigentliche Sieger auS dem Wahlkampfe hervor.
Eine confervativ-
liberale Mehrheit, wie sie den Reichskanzler jahrelang unterstützte, ist vorderhand unmöglich, und die Regierung selbst trägt einige Schuld an
ihrer Niederlage; denn während sie der europäischen Diplomatie mit be wunderungswürdigem Scharfblick bis in Herz und Nieren schaut, versteht
sie den
so viel einfacheren Charakter des deutschen Bürgerthums noch
immer nicht richtig zu behandeln.
Der schlichte Mann will zunächst wissen,
wohin daS Boot segelt, bevor er sich dem Steuermann anvertraut; er verlangt nach einem klaren, festen Programme und wird unwirsch, wenn
er kein Ende absieht.
Der unerfreuliche AuSgang der Wahlen war wesent
lich daS Werk deS wild gewordenen PhilisterthumS.
DaS Volk konnte
sich schon in dem verwickelten Steuerresormplane kaum zurechtfinden und wurde dann während deS Sommers immer von Neuem beunruhigt durch die dunkele Ankündigung noch anderer, noch kühnerer Entwürfe, die sich in so unklarer Fassung jedem sicheren Urtheil entzogen.
DaS eine un
glückliche Wort von dem „Patrimonium der Enterbten" hat der Oppo sition tausende von Stimmen geworben;
denn eS war unleugbar dem
Wörterbuche der Socialdemokratie entlehnt und arbeitete den gesinnungStüchttgen Anklägern deS „StaatSsocialiSmuS" geradeswegs in die Hände.
Durch solche Mißgriffe der Regierung wird freilich der ungeheure Rückschritt, den der deutsche Liberalismus soeben vollzogen hat, in keiner
Weise entschuldigt. Die große Mehrheit der alten nationalliberalen Partei
kehrt wieder zurück auf den abschüssigen Weg, den sie im Jahre 1867 zu ihrem und deS Landes Heil verließ; sie sagt sich loS von jener posi
tiven, alifbauenden Politik, welcher das Reich die zehn besten Jahre seiner Gesetzgebung verdankt, und schließt von Neuem daS Bündniß mit der
Partei der reinen Negation, daS ihr im Jahre 1866 eine so schmach volle Demüthigung bereitete.
Mit einem Worte, der neue Reichstag be
sitzt zwei Fortschrittsparteien, statt der einen alten, und die Trümmer deS
vormaligen rechten Flügels, die sich unter Herrn v. Bennigsen wieder zusammenfinden, können schon wegen ihrer numerischen Schwäche nicht hoffen die Haltung dieser „großen liberalen Partei" zu bestimmen, selbst
wenn sie sich ihr anschließen wollten.
Es liegt nicht in den Gewohnheiten
deS Radikalismus, nach einem unverhofften Erfolge sich zu mäßigen. Wer dürfte den Reichskanzler schelten, wenn er jetzt von seinem Amte zurückträte?
Er hat übermenschlich gearbeitet für sein Volk und über-
menschlich gelitten unter einer Fluth des UnglimpfS, die einer ruhigeren Zukunft ebenso unbegreiflich erscheinen wird wie unS heute der Undank
der Briten gegen Wilhelm III.
Es wäre für die Liberalen eine heil
same Lektion, wenn sie einmal den Unterschied zwischen dem Regiment des Fürsten Bismarck und einer wirklichen conservativ-clerlcalen Regierung handgreiflich kennen lernten; denn nur ein solches Ministerium bliebe
dann noch
möglich, da die Partei, welche die Legende vom deutschen
Richelieu erfunden hat, sich offenbar selber noch nicht für regierungsfähig Nichts würde das Volk über die Segnungen der großen liberalen
hält.
Partei so
Daran ist ja kein Zweifel,
gründlich belehren.
an dem
Rücktritt deS Kanzlers hat die ungeheure Mehrzahl der liberalen Wähler
nicht von ferne gedacht.
Manche der liberalen Candidaten betheuerten in
aller Unschuld: „den hält der Kaiser auf jeden Fall, meiner Unterstützung
bedarf er nicht"; und nur auS Furcht vor den Wählern ließ die Fort
schrittspartei ihr Feldgeschrei „fort mit Biömarck" stummen.
alsbald wieder ver
Der kindliche Wunsch der liberalen Wählerschaft ging vielmehr
dahin: der Fürst soll unsere auswärtigen Angelegenheiten nach wie vor
allein leiten, aber er soll in der inneren Politik daS Gegentheil dessen thun, waS er für recht und nothwendig hält!
Welche Zumuthung an
einen ehrenhaften Mann! Und welche kühne Auslegung des ReichSrechtS,
das den Kanzler ausdrücklich geschäfte auferlegt!
die verantwortliche Leitung aller Reichs
Radikalkuren sind aber nicht zu jeder Zeit anwend
bar, und wir hoffen,
der Kanzler wird dem Publicum jene allerdings
wünschenSwerthe Belehrung nicht
ertheilen, sondern bedenken, welches
Unheil sein Rücktritt eben jetzt, da die Verhandlungen mit dem römischen
Stuhle noch schweben, über unser Land bringen kann. Bleibt der Reichskanzler im Amte, so kann er selbst unternehmen,
eine conservativ-clericale Regierung zu bilden.
Aber auch dieser Weg er
scheint schwierig, ja, zum Glück für Deutschland, fast ungangbar.
Auf
die Beseitigung der Maigesetze wird ihr Urheber nie eingehen, nur um
diesen Preis ist die Unterstützung der Clericalen. zu erlangen; und selbst
dann noch verspräche der unnatürliche Bund keine Dauer, da ein Drittel deS Centrums aus Männern besteht, welche mit dem preußischen Staate
und seinem protestantischen Herrscherhaus« sich niemals ernstlich versöhnen können.
So scheint nur noch ein dritter Weg offen zu stehen.
Man mag
versuchen, bis auf Weiteres ohne eine sichere Dkehrheit auszukommen, da eine parlamentarische Regierung unter deutschen Parteiverhältnifsen doch
unmöglich bleibt.
Die Stärke der neuen liberalen Opposition liegt in
der souveränen Kritik; wenn man diese nicht ohne Noth herausfordert
und nur wenige, vollkommen ausgereifte Gesetzentwürfe vorlegt, so mag
532
Die Lage nach den Wahlen.
man vielleicht einige bescheidene Erfolge erreichen, zumal da das Centrum
auf keinen Fall die Rolle einer systematischen Opposition spielen wird. Die ersehnte „Ruhe" freilich kann den Liberalen nicht zu theil werden,
denn daS einmal begonnene Reformwerk läßt sich nicht mehr zum Stillstand bringen.
Schon in den nächsten Wochen wird der Reichstag vor der Frage
stehen, ob er es verantworten darf den verfassungsmäßigen Eintritt Ham burgs in den Zollverein zu verhindern; und obgleich dem Deutschen nichts
schwerer fällt als daS Eingeständniß eines Irrthums, so
kann doch in
diesem Falle mindestens die Störung der gewohnten Ruhe kaum umgangen
werden. Die Zukunft wird lehren, ob eine Versammlung, welcher die Mittel
und Bindeglieder fast gänzlich fehlen, überhaupt lebensfähig ist.
Nur so
viel scheint sicher: eine reiche, fruchtbare Thätigkeit ist von diesem Reichs tage nicht zu erwarten, und je weniger die Nation von seinem Dasein erfährt, um so wohler wird sie sich befinden. — 10. November.
Heinrich von Treitschke.
Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G Reimer in Berlin.
Ueber das Wesen und die Bedeutung der mensch lichen Freiheit und deren moderne Widersacher. Daß der Mensch frei und deßhalb für sein Handeln verantwortlich
sei, wurde Im praktischen Verlause deS Lebens niemals ernstlich
bezweifelt.
Alle Einrichtungen deS geselligen und staatlichen Leben», alle
Moral- und Rechtsbildungen beruhen auf dieser Ueberzeugung.
Ja, die
menschliche Freiheit galt von jeher als der specifische Ausdruck des wahren Menschwesens, und ihre Bedeutung wurde deßhalb stets um so höher geschätzt, je mehr die Entwickelung und individuelle Ausgestaltung
deS wahren Menschwesens als höchstes Ziel des Strebens und der Bildung anerkannt wurde, das heißt: je mehr die Humanität überhaupt im Laufe
der Zeiten erstarkte und wuchs.
In den Anfängen der Cultur, wo das
Interesse deS Lebens blos mit der Sorge um dessen Erhaltung erfüllt
war, sehen wir den Werth deS Lebens und der Freiheit der Einzelindi viduen gering geachtet.
Das FreiheitSbedürfniß wuchs bei allen Völkern
mit dem Steigen der Cultur, eS wächst noch jetzt innerhalb der Staaten bei allen Einzelindividuen mit dem Grade ihrer Bildung.
Humanität
und FreiheitSbedürfniß sind Correlate, die man nicht trennen kann, ohne
das Wesen der ersteren zu zerstören. Diesen Sachverhalt offenbaren unS die Erfahrung deS täglichen
Lebens
und die Geschichte so unwiderleglich, daß eS trivial erscheinen
müßte, wollte ich ihn hier noch näher begründen oder beleuchten.
Hätten
wir eS mit der Geschichte und mit dem Leben allein zu thun, so könnte die Frage nach dem Wesen und nach der Bedeutung
der Menschlichen
Freiheit nicht in einem Zeitalter wie das gegenwärtige noch als „Streit
frage" behandelt werden; in einem Zeitalter, welches das Banner der Humanität nicht blos dem Namen nach hochhält, sondern die Principalen Forderungen derselben thatsächlich in den Haupteinrichtungen deS geselligen
und staatlichen LebenS bereits zur Geltung gebracht hat. Proipischk Jahrbuch«». Bd.Xl.VIlI.
6.
39
Aber wir haben eS in diesem Zeitalter der Humanität nicht blos mit dem Leben, sondern auch mit der Wissenschaft zu thun, welche die
Erscheinungen des Lebens ihrem wahren Wesen und ihrem Ursprünge nach zu begreifen, und
die scheinbar widersprechenden zu dem Ganzen
einer systematischen Weltansicht zu vereinigen sucht. Die Wissenschaft hat viele Erscheinungen, welche wissenschaftlich un
entwickeltere Zeiten im Laufe deö praktischen LebenS unbesehen und auf gut Glück wie Realitäten behandelten und verwendeten, als bloßen Schein Sie hat die wahren Sachverhalte aufgedeckt, welche jenen
aufgewiesen.
Schein warfen und dadurch der Entfaltung deS Lebens selbst Grundlagen gegeben und neue Bahnen eröffnet.
festere
Wir leben anders auf
dem Planeten, der sich mit den ewigen Sternen nach festen Gesetzen durch den Weltraum bewegt, wie die Alten auf der vom OceanoS umflossenen
Erdscheibe.
Unsere ganze Weltansicht hat durch den Einfluß deS philo
sophischen Nachdenkens, in letzter Zeit insbesondere durch die Reformbe wegung deS Kant'schen KriticiSmuS, durch die Einsicht in die Subjektivität
alles Erkennens tiefeinschneidende Veränderung sehender Tragweite erfahren.
von noch nicht
abzu
ES bedarf keiner weiteren Beispiele, um
den Satz zu begründen, daß heutzutage die Wissenschaft, und zwar nicht blos die Naturwissenschaft, sondern auch die Philosophie eine respektable
Macht
ist, mit der man
rechnen
muß,
deren Ergebnisse nicht ohne
Weiteres durch Berufung auf den Augenschein unmittelbarer Lebenser fahrung zu widerlegen sind. Wir haben eS daher bei der Erörterung unserer Frage nicht blos
mit den Erscheinungen unmittelbarer Lebenserfahrung sondern auch mit den Einwendungen zu thun, welche sich von Seiten der Wissenschaft auS
rein theoretischen Erwägungen gegen das Vorhandensein und die Bedeu tung der menschlichen Freiheit erheben.
ob die auf dem Boden des
DaS heißt, wir haben zu prüfen,
praktischen Lebens und
der Ge
schichtsbetrachtung erwachsene Ansicht, welche das Vorhanden sein der menschlichen Freiheit als unabweiöliche Forderung
der Humanität htnstellt,
auch vor dem Forum der strengen
Wissenschaft als gerechtfertigt erscheint;
sich selbst widerspruchsvoller Begriff
ob Freiheit kein in
ist, und ob daS Vor
handensein der Freiheit nicht in Widerspruch
steht
mit den
theoretischen Anforderungen der Vernunft und mit denjenigen Thatsachen,
welche
nach
dem
heutigen Stande
der Wissen
schaft als zweifellose Ergebnisse der Untersuchung über daS wahre Wesen der Dinge betrachtet werden müssen? Die Einwendungen dieser Art beruhen nun in der That, wie ich
zum Voraus bemerke, theils auf einem Mißverständnisse des wahren Wesens der menschlichen Freiheit, theils auf einer verkehrten Auffassung derjenigen Bernunfterwägungen und Thatsachen, respective auf der Un haltbarkeit derjenigen systematischen Feststellungen, auf Grund deren sie erhoben sind.
Es ist meine Absicht, dieselben zu widerlegen, indem ich
zunächst daS wahre Wesen und die wahre Bedeutung der menschlichen
Freiheit jenen mißverständlichen Auffassungen gegenüber darlegen und so dann die Unhaltbarkeit der dagegen erhobenen thatsächlichen, systematischen und Vernunftbedenken nachweisen werde.
I.
Wesen und Bedeutung der menschlichen Freiheit.
Freiheit im ursprünglichen positiven Sinne bedeutet die Fähigkeit,
sich
nach
inneren
Motiven
selbst
zu
bestimmen,
unter mehreren sich dem Bewußtsein gleichzeitig darbietenden Motiven zu wählen, das heißt, überhaupt etwas Bestimmtes
zu wollen.
Freiheit im positiven Sinne ist der allgemeine specisischc
Charakter des Wollens überhaupt.
Wollen können wir nur, was uns im
Gefühl und in der Vorstellung bewußt geworden ist, und durch den Werth,
den wir ihm beilegen, Motiv zur Bestimmung unseres Willens wird. Der positive Begriff der Freiheit bedeutet also ein Wollen nach inneren Motiven, nicht ein grundloses Wollen.
Die Freiheit, die Fähigkeit
zur Selbstbestimmung nach inneren Motiven, setzt also ein Wesen voraus,
welches irgendwie für sich ist und eigene LebenSintereffen hat, nach welchen
es die relativen Werthe der sich ihm gleichzeitig im Gefühl und in der Vorstellung darbietenden Motive zu schätzen und abzuwägen vermag.
Die praktischen Bedürfnisse des Lebens bieten keine Veranlassung dar, jenen positiven Allgemeinbegriff.der Freiheit auS den concreten WillenS-
acten zu abstrahiren und zum gesonderten Gegenstände der Reflexion zu machen, wohl aber nöthigten dieselben, wie sich aus dem Folgenden er
geben wird, sehr bald zur Aufstellung eines negativen FreiheitSbegrtffS. Die Menschen lassen sich nämlich bekanntermaßen thatsächlich durch
Motive der verschiedensten Art zum Wollen bestimmen, und zwar nicht immer durch solche, welche ihrem wahren wohlverstandenen bleibenden Lebensinteresse entsprechen, sondern häufig durch
solche Motive,
deren
Werth sie blos nach vorübergehenden Neigungen und Bedürfnissen be messen, welche ihrem wahrem Lebensinteresse vielfach widerstreiten.
In
Anbetracht der nachtheiligen Folgen solches unüberlegten Wollens mußte
daher das
praktische
Lebensbedürfniß schon
sehr
früh
dazu anleiten,
zwischen der Selbstbestimmung nach solchen inneren Motiven, welche 39*
dem wahren bleibenden Lebensinteresse
des Wollenden ent
sprechen und der Selbstbestimmung nach solchen Motiven zu unter scheiden, welche nur auf vorübergehenden, dem wahren LebenSinteresse deS Wollenden widerstreitenden Neigungen und Affecten beruhen. Auch die letzteren machen wir zwar zu unseren Motiven, indem wir unS durch sie zum Wollen bestimmen lassen, sie sind aber nicht unsere Motive im wahren Sinne des Worts, d. h. nicht
solche, welche unserem wahren Wesen entsprechen, wenn wir dieses mit dem Soll in uns, mit unserer sittlichen Bestimmung identificiren. Jene unsittlichen Motive entfremden uns unserem wahren Wesen, sie stören und beeinträchtigen uns in dem Bestreben der Erreichung unserer sittlichen Lebensbestimmung; wir suchen unS von ihnen frei zu machen und nennen im Hinblick auf dieses praktische Bedürfniß nur den wahr haft frei, der sich in seinem Wollen nicht durch Motive dieser Art be stimmen läßt. So führt das praktische Lebensbedürfniß zuerst zur Auf stellung eines negativen Freiheitsbegriffs. Freiheit in diesem Sinne bedeutet die Fähigkeit, sich in seinem Wollen von Mo tiven frei zu halten, welche unserem wahren Wesen, d. h. un serer sittlichen Bestimmung widerstreiten.
Bedeutet der durch theoretische Abstraction gebildete Allgemetnbegriff: Freiheit die Selbstbestimmung nach inneren Motiven überhaupt, ohne
Rücksicht darauf, ob die entscheidenden Motive unserer wahren Natur entsprechen oder nicht, so verstand man doch im praktischen Leben unter
Freiheit sehr bald nur die sittliche Freiheit, d. h. die Selbstbestimmung nach Motiven, welche unserer wahren Natur gemäß sind. Unfrei in diesem
Sinne pflegt man nicht blos den. zu nennen, welcher durch physischen oder psychischen Zwang, sondern auch ben„ welcher durch Sinnenlust, Furcht, Bosheit oder ähnliche der wahren Menschennatur widerstreitende Motive zum Wollen bestimmt wird. Wenn wir nun erwägen, daß die Menschen, wie die tägliche Er
fahrung lehrt, in ihrem Wollen leider sehr vielfach durch Motive der letzteren Art beeinflußt werden, so ist es erklärlich, daß eine gedankenlose Erweiterung jenes negativen Freiheitsbegriffs ganz allgemein dazu ver leiten konnte, unter Freiheit schlechthin die Freiheit von allen Mo
tiven zu verstehen, wodurch denn die eigentliche positive Bedeutung der Freiheit ganz aufgehoben, und die Erinnerung daran ganz in den Hinter grund gedrängt wurde.
Auf diese Weise bildete sich ein total falscher Allgemein begriff der Freiheit, derjenige des sogenannten liberum arbitrium indifferentiae, der Unbegriff einer Freiheit ur-
sachloser Selbstbestimmung, welcher
als
mehr
alles andere dazu
beigetragen hat, die theoretische Erörterung der großen Frage nach dem Vorhandensein und der Bedeutung der menschlichen Freiheit zu verwirren und in ganz verkehrte Bahnen zu lenken.
Der thatsächliche Boden, auf dem sich die wissenschaftliche Erörterung dieser Frage bewegen muß, wenn sie nicht in reine Gedankenspeculation
ausarten soll, sind die einzelnen Acte des Wollens, welche wir unmittelbar in uns erleben.
Kein einziger dieser Acte des Wollens besteht in ursach
loser Selbstbestimmung.
Nur durch etwas, was uns wünschenSwerth er
scheint, also im Gefühl oder der Vorstellung uns gegenwärtig und bewußt geworden ist, werden wir zum Wollen angeregt, und der größere oder ge
ringere Werth, den wir der Vorstellung deS Gewollten beilegen, ist daS einzige denkbare Motiv des Wollens.
Die menschliche Freiheit besteht
daher erfahrungsmäßig nur in der durch das Gefühl der sittlichen Ver
antwortung charakterisirten Fähigkeit zur selbständigen Entscheidung über mehrere solche dem Bewußtsein sich gleichzeitig darbietende Motive, welche
nie grundlos, sondern stets durch den höheren Werth motivirt ist, welchen wir der Vorstellung deS Gewollten im Momente der Entscheidung bei legen.
Jeder dieser Acte des freien Wollens ist ein ursprüng
liches Factum, welches eben deßhalb deS Beweises nicht be
darf, welches seinem inneren Wesen, seiner Natur und Ent stehung nach nicht weiter beschrieben und nur erlebt werden kann.
deftnirt,
sondern
Es verhält sich damit nicht anders, wie mit
allen ursprünglichen Erlebnissen, welche der letzte factische Grund aller
unseren Gesichtskreis erfüllender Vorstellungen und Begriffsbildungen sind,
aus denen sich die Vorstellung unseres eigenen Wesens und daS Bild der uns umgebenden Außenwelt zusammensetzen.
Wir können diese ursprüng
lichen Erlebnisse wohl mit Namen bezeichnen, aber nicht erschöpfend definiren, sondern nur dadurch zum Gegenstände der Mittheilung an Andere
machen, daß wir diese durch Nennung des NamenS auffordern, jene Er lebnisse in sich selbst nachzuerzeugen.
Wollen.
So ist eS insbesondere mit dem
Denken wir uns jemand, dem die
Fähigkeit
des
Wollens
mangelte, so würde einem solchen nie begreiflich zu machen sein, was
Wollen sei und bedeute. Wir setzen bei unsern Lesern diese Fähigkeit voraus und fordern sie auf, sich den Inhalt dessen zu vergegenwärtigen, was sie in sich erleben,
indem sie wollen.
Jeder, der diesen Versuch macht, wird unmittelbar inne
werden, daß er dann nicht mehr will und nichts mehr wollen kann, wenn es ihm gelingen sollte, alle Motive aus seinem Innern auszutilgen, die ihn zum Wollen anregen könnten.
Wir zerstören vielmehr den Begriff
deS Wollens von Grund aus,
wenn wir uns eine Freiheit ursachl»ser
Selbstbestimmung vorzustellen suchen.
Eine solche ist ein in sich selbst
widerspruchsvoller Begriff, denn wir können unS in der That auch für nichts entscheiden, wenn wir durch nichts zum Wollen angeregt werden. Wir würden auch nach der gewöhnlichen Borstellungsweise lediglich ge
dankenlos in den Tag hinein aber nicht frei handeln, wenn wir unS einmal ernstlich den Fall auSdenken, wir würden dabei durch gar keine Motive bestimmt.
Bestände in Wahrheit das Wesen der Freiheit in ur
sachloser Selbstbestimmung, und wären alle Menschen in diesem Sinne frei, so würde sofort ein Wirrwarr ohne Ende entstehen, alle Ordnung,
alle Sittlichkeit, alle Vernunft aus dem Leben schwinden. hat eö sich nie und nirgends so verhalten.
Thatsächlich
Immer haben die Menschen,
wenn sie überhaupt gewollt haben, irgend etwas gewollt, stets wurden sie durch Motive zum Wollen bestimmt, niemals haben sie bedingungslos
frei gehandelt.
Der Begriff der bedingungslosen absolliten Freiheit hat daher In
der unmittelbaren Lebenserfahrung gar keine Wurzeln.
Er ist auf die
angegebene Weise durch einseitige und falsche Uebertreibung der negativen
Bedeutung der Freiheit unter Beiseilesetzung jeder Erinnerung an die eigentliche positive Bedeutung derselben entstanden, sein Wesen beruht auf der gedankenlosen Verwechselung einer Bedingung zur zweckentsprechenden
Ausübung des freien Wollens, nämlich der Negation des Zwanges und AffectS, mit dem wahren positiven Inhalte des Freiheitsbegriffes selbst. Jene negative Bedingung der gedeihlichen Freiheitsausübung läßt aber,
wie jedermann einsieht, den positiven Inhalt dieser völlig unberührt, sie schafft gewissermaßen nur Platz für die Stelle, wo der Begriff der wahren sittlichen Freiheit stehen soll, ohne diese Stelle selbst auszufüllen.
Wo
kein Zwang herrscht, kann man sich frei entschließen, wo kein Affect den
Menschen beeinflußt, kann er sich frei seiner wahren sittlichen Natur gemäß
entfalten.
Die Hauptsache ist hier, daß der Mensch sich über
haupt zu irgend etwas entschließen, daß er überhaupt irgend
etwas wollen könne, und eine specifisch bestimmte Natur habe, eine innere Norm in sich trage, welcher gemäß er sich ent falten kann.
Diese specifisch bestimmte Natur des Menschen allein kann
uns über die eigentliche positive Bedeutung der Freiheit aufklären. Ich hoffe, durch diese scharfe Trennung der negativen und positiven
Bedeutung deS Freiheitsbegriffs
und die
gänzliche Ausscheidung des
liberum arbitrium indifferentiae, dessen Hereinzi'ehung diese hochwichtige Frage so sehr verwirrt hat, endlich einiges Licht in den Wirrwarr der
widerstreitenden Ansichten zu bringen und den wahren einfachen Kern der
Sache, wie die durch theoretische Vorurtheile unbeirrte unmittelbare Lebens erfahrung ihn der Beobachtung darbietet, klar und sicher herauszuschälen. Die
unmittelbare
Lebenserfahrung
offenbart uns
mit
zweifelloser Evidenz, daß wir frei sind in unseren WtllenSentschließungen, daß wir uns in
all unserem Wollen selbst
bestimmen können nach inneren Motiven, welche sich unserem
Bewußtsein
gleichzeitig,
wenn auch
in verschiedenen
Klar-
heitSgraden, sei eS im Gefühl, sei eS in der Vorstellung dar bieten.
Dies erleben wir unmittelbar, dies ist die gegebene faktische
AuSgangSbasiS aller wissenschaftlichen Untersuchungen über das Wesen der
Freiheit,
der zuerst gewisse Punkt, welcher nicht erwiesen zu werden
braucht, weil er als unmittelbar gewiß erlebt wird.
Die weitere Unter
suchung kann nur den Zweck haben, durch Verdeutlichung der in diesem ursprünglich gegebenen Sachverhalte stillschweigend enthaltenen Voraus
setzungen sich daS wahre Wesen und die wahre Bedeutung der Freiheit nach allen Richtungen hin klar zu veranschaulichen und senen zuerst ge
wissen Punkt mit den scheinbar widersprechenden sonstigen Thatsachen der Erfahrung in Einklang zu bringen.
Um diese manchem Leser bei ihrem Beginn vielleicht überflüssig er scheinende und doch, wie sich bald herausstellen wird, so hochwichtige Untersuchung im vollen Umfange sachgemäß erledigen zu können, muß ich
mit einer kurzen Uebersicht des ganzen Gebiets unmittelbarer Lebenser
fahrung beginnen.
Es erscheint mir dies um so nöthiger, als die leider
noch wenig bekannten und doch so sehr wichtigen Untersuchungen Lotze'S
in der Auffassung und rechten Würdigung jenes Gebiets jetzt eine funda mentale Umgestaltung herbeigeführt haben, deren Ergebnisse über unsere
Frage ein Helles Licht verbreiten.
Den ersten Anstoß zu dieser heilsamen Umgestaltung gab Kant, indem er auf den subjektiven Ursprung aller den menschlichen Gesichtskreis
erfüllenden Erscheinungen und Vorstellungen hinwies, und die Sondirung dieser subjektiven Erkenntnißquelle als das Hauptproblem aller Philosophie
hinstellte.
Aber Kant konnte sich von den Irrungen der alten Metaphysik
noch nicht vollständig loSmachen.
Sein Denken war von dem, mit einer
der wahren Sachlage nicht entsprechenden Wichtigkeit behandelten Gegen satze zwischen „Erscheinung" und „Ding an sich" und von dem Vorur
theile, daß das Wesen des letzteren das eigentliche Ziel des Erkennens,
und die innere Welt der Erscheinung lediglich zum Abbilden jenes be stimmt sei, noch zu sehr beherrscht, als daß er auf den Gedanken hätte kommen können, der Thatbestand der inneren Erlebnisse repräsentire an
sich selbst schon einen so bedeutsamen Inhalt und so bedeutsame Momente
deS Geschehens, daß daraus allein schon der Werth des Wirklichen und das Ziel des Weltprocesses erkannt werden könne, und daß die Verdeut
lichung dieses Ziels und die rechte Würdigung jenes Werthes überhaupt den vornehmsten und letzten Zweck alles Erkennens und Wissens bilden
müsse.
Er betrachtet die von ihm zuerst in vollem Umfange constatirte
Subjectivität alles Erkennens vielmehr als einen Mangel, der alle Meta
physik unmöglich machen soll.
Lotze steht,
wie ich kürzlich an anderer
Stelle ausführlicher dargelegt habe*), zu Kant in eiyem ähnlichen Ver hältniß wie Newton zu Kepler.
Wie jener durch die Entdeckung
GravitationSgefetzeS den Entstehungsgrund und
des
inneren Zusammenhang
der von diesem alS thatsächlich vorhanden entdeckten Bewegungsgesetze der Himmelskörper darlegte, so gelang es Lotze, den von Kant hervorgehobenen
Thatbestand der Subjectivität alles Erkennens in seiner gesetzlichen Noth wendigkeit als eine Folge deS allgemeinen Gedankens der Wechselwirkung
zu erklären, von welcher das Erkennen, insoweit eS durch äußere Anreize bedingt ist, nur einen Specialfall bildet. Während Kant die Unerkennbarkeit deS
eigenen Ich deßhalb be
hauptete, weil er im Ich etwas suchte, was der menschlichen Einsicht aller
dings ewig verschlossen bleiben wird, nämlich einen substantiellen Kern,
vermöge dessen eS dem Ich gelinge, überhaupt dazusein, und weil er nur
durch die Erkenntniß dieses eigentlichen Was im Ich das wahre Wesen deS letzteren verstehen zu können wähnte, hat Lotze überzeugend entwickelt,
daß diese Erkenntniß zum Verständniß unseres wahren Wesens in der That nichts beitrage, sondern nur die Frage betreffe, wie Sein und Da
sein überhaupt gemacht werde, wie eS dem schaffenden Weltgeiste gelinge, unser und
alles Leben in der Wirklichkeit zu befestigen, und daß die
Beantwortung
dieser Frage nur
dann unabweisbares Bedürfniß
der
Metaphysik fein würde, wenn eS unsere Aufgabe wäre, die Welt zu schaffen, anstatt Werth und Bedeutung der Geschaffenen zu würdigen und zu verstehen.
Nur ein altes,
in seinen Consequenzen-sehr verhängniß-
volleS Borurtheil hat daher Lotze beseitigt, indem er darauf hinwieS, daß
unS in dem, was wir unmittelbar erleben, bereits der volle Inhalt und das wahre Wesen unseres Ich in allen denjenigen Beziehungen offenbar
und anschaulich wird, welche für das wahre Ziel deS menschlichen Lebens und Wissens überhaupt in Frage kommen.
Lotze hat uns zuerst das
wahre Verständniß deS Unmittelbaren
eröffnet und dadurch
die Reformbewegung des KriticiSmuS vollendet. Während Kant,
noch mitten auf dem Oceane metaphysischer Vorurtheile schwimmend nur *) Preußische Jahrbücher Bd. XL VII. S. 177—195.
den Compaß richtete und mit zwingenden Gründen die Gegend bezeichnete, wo daS gesuchte Land, welches die Grundlage aller späteren metaphysischen
Forschung bilden sollte, zu finden sei, hat Lotze dieses Land wirklich ent
deckt.
DaS Land lag nicht in der Ferne, wo man eö vergeblich suchte;
eS lag fest unter uns, wir standen längst darauf; der unabsehbare Ocean nur, auf dem wir zu schwimmen schienen und doch nicht schwammen, war ein Meer von Borurtheilen und Irrlehren, welches uns scheinbar empor gehoben und von dem Boden des Wirklichen getrennt hatte.
Lotze hat
diese Borurtheile beseitigt und uns klar und offen dargelegt, daß das jenige, was wir unmittelbar in uns erleben, die einzige und ganze ur
sprünglich gegebene thatsächliche Basis
alles unseres WiflenS und Er
kennens sei und daß wir keine Wissenschaft anders und tiefer begründen
können, als dadurch, daß wir ihre Wurzeln in dem Gebiete der unmittel
baren Lebenserfahrung aufsuchen. Alle inneren Erlebniffe sind Formen des Geschehens, nicht Ausdrücke eines veränderungslosen ruhenden Seins; sie sind Erlebnisse, Momente
deS Lebens, Zustände unseres lebendigen Ich, nicht Qualitäten einer be harrenden Substanz.
Soweit unsere Erfahrung reicht, ist nur daS Leben
dige wirklich, das Todte,
Unlebendige kann für
uns nur in der Vor
stellung erscheinen, nicht unmittelbar von unS als wirklich erlebt werden.
Gegenstand der Wahrnehmung und Reflexion können ferner nur solche Zustandsänderungen unseres Wesens werden, welche uns direct oder in direkt zum Bewußtsein kommen, und
bewußte Zustandsänderungen
kann nur ein Wesen erleiden, welches in irgend welcher Weise für sich ist.
Alle unsere Zustandsänderungen haben daher das Gemeinsame, daß
sie Momente des Fürsichseins ein und desselben Wesens sind,
eines Wesens, dessen Realität eben deßhalb, so wett unsere Erfahrung
unser Nachdenken reicht, nur im Fürsichsein
und
bestehen kann.
Wir würden ferner die nacheinander erlebten Zustände
nicht als unsere Zustände bezeichnen, wir würden sie nicht von einander unterscheiden, mit einander vergleichen können, wenn wir sie nicht in der
Erinnerung festzuhalten und in der Einheit ein und desselben Be wußtseins mit einander verknüpfen könnten.
Wenn wir alle diese charakteristischen Dierkmale unserer inneren Er lebnisse zusammenfassen, so werden wir uns unmittelbar bewußt, daß wir
einheitliche Wesen sind, daß mithin jede erlebte Zustandsänderung eine
Aenderung
unseres ganzen Wesens ist, denn wenn sie sich
blos gleichsam auf einzelne Provinzen unseres Wesens erstreckte, andere dagegen ganz unberührt ließe, so zerfiele unser Wesen in einzelne Theile,
welche nichts von einander wüßten; wir wären dann nicht ein, sondern
eine Vielheit von Wesen, und die verschiedenen Erlebnisse der letzteren
würden sich nicht, wie eS doch die Beobachtung thatsächlich lehrt, in der Einheit ein und desselben Bewußtseins verknüpfen lassen.
Eine einfache Selbstbeobachtung lehrt nun, daß alle unsere inneren
Erlebnisse sich vorwiegend als Momente des Fühlens, Vorstellens und Wollens darstellen.
Der Inhalt dessen, waS mit diesen Begriffen
gemeint ist, läßt sich, da er etwas rein thatsächliches bedeutet, welches die
ursprüngliche Basis aller Vorstellungen und Begriffsbildungen ist, nicht beschreiben,
sondern nur erleben.
Es
ist die ursprüngliche specifische
Natur unseres Wesens, welche sich in diesen Formen des Fühlens, VorstellenS und Wollens offenbart.
Der oft gemachte Versuch, dieselben auf
einander zurückzuführen und aus einander abzuleiten, scheiterte stets an der Eigenartigkeit ihres specifischen Charakters, der das wahre Wesen des
Geistes in jeder dieser Formen auf eine ganz besondere Weise zum Aus druck bringt.
Ich darf mir die nähere Darlegung dieser Verschiedenheiten
wohl ersparen, nachdem Lotze dieselbe
(Band I Buch 2 Cap. 2) so
bereits
in seinem Mikrokosmus
meisterhaft entwickelt hat.
Verhalten sich
diese Grundsunktionen alleö individuellen Geisteslebens nun auch inkom mensurabel zu einander, so folgt doch aus obiger Betrachtung, daß sie nicht von einander unabhängige Seelenvermögen sein können, welche be
ziehungslos unter einander mit getrennten Wurzeln verlaufend fick in den
Boden der Seele nach gesonderten Provinzen theilen könnten.
Alle Acte
des Fühlens, Vorstellens nnb Wollens sind vielmehr lebendige Erregungen unseres ganzen Wesens, die nur vorwiegend einen besonderen specifischen Charakter in einer der drei bezeichneten Richtungen an sich tragen.
Keine
Vorstellung verläuft ohne alle Theilnahme des Gemüths oder des BeKein Gefühl bewegt uns, ohne die intellectuelle
gehrungsvermögenö.
Sphäre irgendwie zu berühren und sich in einem wenn auch noch so un
bestimmten Vorstellungskreise gedanklich oder bildlich zu formuliren. können endlich, und
nicht durch den
Wir
das ist hier die Hauptsache, nichts wollen, was
gefühlten Werth, den wir seiner Vorstellung
beilegen, uns eben zum Wollen angeregt hätte. Also auch im Wollen tritt die ganze Natur des wahren MenschwesenS in bestimmter Form hervor.
Zwei Momente sind eS besonders, in denen der specifisch menschliche Charakter deS Wollens offenbar wird und sich von dem bloßen Geschehen nach rein mechanischer Abfolge, welches wir in den Vorgängen der äußeren
Natur beobachten, in höchst bedeutsamer Weise unterscheidet. Alle Vorgänge der letzteren Art erscheinen determinirt, das heißt
alle Factoren, welche zu den Erscheinungen des äußeren Naturlebens zu-
sammenwirken, erscheinen ihrer qualitativen und quantitativen Natur nach
unwandelbar fest bestimmt, und die Art, Form und Gestalt ihres Wirkenist durch ausnahmslos geltende Gesetze geregelt.
Letzteres gilt nun zwar
auch von allem psychischen Geschehen, aber die Faktoren, welche die Er
eignisse desselben bedingen, erscheinen hier in einer ganz eigenthümlichen
Weise variabel, in einer Weise, welche eben durch die specifische Natur
deS Lebendigen charakterisirt und nur erlebbar aber nicht weiter definirbar ist.
Während bei dem Zustandekommen der rein physischen Ereigniffe
alle Faktoren für das Zustandekommen deS Enderfolges gleichwerthig und
durch die einfache Natur einfacher Wesen bedingt erscheinen, ist bei allem
Wollen der eine Factor,
die Entschließung deS Wollenden,
stets von
mehreren verschiedenen gleichzeitig einwirkenden Motiven beeinflußt und der freien Wahl
deS Wollenden unter diesen
gleichzeitig
einwirkenden
Motiven anheimgestellt. In dieser freien Wahl zwischen mehreren dem
Bewußt
sein sich gleichzeitig darbietenden Motiven besteht der specifische
Charakter deS Wollens, welcher sich eben dadurch von der strengen Determi nation aller Factoren in den Vorgängen der äußeren Natur unterscheidet.
Eö unterscheidet sich dadurch von dieser Determination, daß dieser eine Factor, der Wille des Wollenden sich selbst itt dem Mo
ment der Entschließung das Gesetz giebt, während die Mitwirkung aller übrigen Factoren, wie diejenige aller Factoren beim rein physischen
Geschehen, durch die unwandelbare Natur der letzteren vorher bestimmt ist. ES ist aber die specifische Natur des Meusche», welche in der Variabilität jenes einen ausgezeichneten Factors beim
Willensentschlusse zu Tage tritt, eS ist der freie Wille eines Wesen-,
dem die Fähigkeit inne wohnt,
sich selbst daS Gesetz zu geben und der
ausgezeichnete Charakter, nicht blos, wie die willenlosen Geschöpfe, dem Zwange einer festbestimmten Natur seines Wesens
blind zu gehorchen,
sondern selbständig einzugreifen in den Lauf der Ereignisse. Soll daS wollende Wesen sich selbst daS Gesetz geben, nach welchem
eS auf Anregungen reagirt, die es von anderen Wesen empfängt, so muß eS eine für sich seiende eigenartige Natur besitzen, eine innere Norm, welche ihm die Richtung seines Wollens giebt.
Soll eS selbsthandelnd
in den Lauf der Dinge eingreifen, selbständig mitwirken zu dem Ziele
deS Weltprozesses,
so muß jene Norm in dem umfassenden Plane deS
Ganzen mitvorgesehen sein, so
muß dieselbe durch daS Ziel des Welt-
prozesseS selbst mitbestimmt sein — vorausgesetzt natürlich, daß überhaupt
alles Geschehen zu dem einheitlichen Ziele eines einheitlichen Weltpro
cesses zusammenwirkt. Umgekehrt: Giebt eS in uns, dem wollenden Wesen,
eine solche Norm, deren Gebote sich uns als unbedingt verpflichtend bar« stellen, so kann solche Unbedingtheit nur darin begründet sein, daß der Weltproceß ein einheitlicher, und jene Norm durch ihn
selbst als ein Moment seiner selbst'mitbestimmt ist.
WaS zunächst die eigenartige Natur der wollenden Wesen betrifft, so ist solche allerdings vorhanden, und ihr Vorhandensein wird un
mittelbar und unwiderleglich bezeugt durch das Gefühl der Ver
antwortlichkeit, welches bei allen Willensentscheidungen mehr oder weniger stark empfunden wird und in seiner Totalität den Grundcharakter unseres specifischen Menschwesens bildet. Ver suchen wir daS, was wir bei allem Wollen unmittelbar erleben und was
den gemeinsamen specifischen Grundcharakter alles Wollens auSmacht und, wie gesagt,
seinem vollen
wahren Wesen nach als letztes thatsächliches
Moment der Wirklichkeit nur erlebt werden kann, nichts destoweniger auf Begriffe zu ziehen, in Begriffsform zu übersetzen, so müssen wir es eben als jenes Gefühl der Verantwortlichkeit bezeichnen, das zweite der beiden
Momente, welche alles Wollen von der blos mechanischen Abfolge des Geschehens in den Naturvorgängen specifisch und charakteristisch unter
scheidet. DaS Gefühl der Verantwortlichkeit bezeugt uns unwiderleglich, daß
wir frei sind in unseren Willensentschlüssen, denn wären wir nicht frei, so könnten wir unS eben nicht für das, was wir wollen, verantwortlich
fühlen.
Freiheit und Gefühl der Verantwortlichkeit sind Correlate, die
sich gegenseitig bedingen.
Wollen wir das wahre Wesen und die
wahre Bedeutung der Freiheit verstehen, so müssen wir unS
vor Allem das Gefühl der Verantwortlichkeit näher betrachten, wir müssen uns dessen wahres Wesen, dessen wahre Bedeutung und die
in diesem Gefühle seiner specifischen Art und Gestaltung nach enthaltenen
und mit ihm gegebenen und als unmittelbar gewiß bezeugten Voraus
setzungen klar und deutlich zu veranschaulichen und zu entwickeln suchen. Eine Voraussetzung ist es besonders, welche sich sogleich als unabweiSlich aufdrängt und den Begriff der Verantwortlichkeit selbst erst zum
Abschluß bringt.
Verantwortlich für unser Wollen können wir nur dann
sein, wenn wir nicht blos frei sind, sondern zugleich eine innere
Norm von unbedingt verpflichtendem Charakter in unS tragen.
Solche Norm ist nun in der That vorhanden und jedermann in der
Stimme des Gewissens offenbar.
Das Gewissen galt von jeher als der hervorstechende Charakterzug des wahren Menschwesens.
Dasselbe charakterisirt zwar daS ganze Mensch
wesen nach allen Richtungen hin, findet aber seinen bedeutsamsten und
wichtigsten Ausdruck in der Gefühlssphäre, im Gefühl des Sollens.
DaS Gefühl ist die eigentliche Geburtsstätte des Gewissens, welches erst von hier aus die Gebiete des Vorstellens und Wollens beherrscht.
Der
klarste Beweis hierfür ist, daß das Gefühl des Sollens längst in uns lebendig zu sein pflegt, bevor wir das, waS wir sollen, uns klar zum
Bewußtsein gebracht haben, bevor wir entschloffen find, eS zu wollen.
DaS Gefühl des Sollens ist als solches von jeher in der Menschheit
lebendig gewesen, die Vorstellung dessen, was wir sollen, hat im
Laufe der geschichtlichen Entwickelung vielfach gewechselt, indem es in ge-
wtffen Grenzen von den wechselnden Bedingungen und Umständen ab hängig war, unter denen das individuelle Leben sich entfaltet.
Seine
allgemeine Formulirung ist in mancher Beziehung noch immer Gegenstand
des Streits und des Zweifels.
Das Gefühl des Sollens bleibt selbst
dann noch lebendig, wenn der Wille durch die Gewohnheit des Lasters in ganz andere Bahnen gelenkt ist, eS läßt sich selbst in der Seele des hartgesottensten Sünders nicht völlig ertödten. WaS verleiht nun der Stimme des Gewissens diese wunderbare ver
bindliche Kraft, welche eS im Leben der Menschen thatsächlich auSübt, welche den sittlichen Menschen in den Stand setzt, selbst den stärksten Ver lockungen der Sinnlichkeit oder anderer Gelüste rein aus Pflichtgefühl zu widerstehen? Wie kommt eS, daß die Nichtbeachtung jener Stimme uns
mit bitterer Reue erfüllt, unser ganzes Wesen bis in das Innerste hinein aufregt und verstört, uns intensivere Pein verursacht, als alle anderen
Arten des Weh, unser besseres Ich gleichsam auö den Angeln hebt? Es kann nur daher kommen, weil das eingeborene Gefühl des Sollens der wahre und volle Grundcharacter unseres Wesens
ist, weil unser Wesen sich in dem Soll erfüllt, weil wir so veranlagt
sind, daß unser ganzes Leben,
Dichten und Trachten nur aus diesem
Mittelpunkte unserer Existenz begreiflich ist, nur aus ihm seinen specifischen Inhalt, seine Richtung und Kraft schöpfen kann, weil die Verwirklichung
des sittlichen Ideals unsere ganze und wahre Bestimmung ist.
Nur weil
der Schwerpunkt unserer ganzen Lebenswirklichkeit sich im Gefühle des Soll
concentrirt, deßhalb
gerathen wir außer uns selbst, deßhalb
kommen wir in Widerspruch mit unserem eignen Wesen, wenn wir un
sittlich handeln. Darin scheint zunächst die verbindliche Kraft der Gebote deS Gewissens zu bestehen, daß wir sittliche Wesen sind. Erinnern wir uns jedoch sorgfältiger, waS wir eigentlich'im Gewissen erleben, so wird die ganz eigenthümliche, über alle anderen Empfindungen
weit erhabene Hoheit deS Pflichtgefühls, welche der wahre leuchtende
Kern der im Gewissen offenbarten Norm des Handelns ist, uns doch nicht entfernt daraus allein erklärlich scheinen, daß das Sittliche einfach der Grundcharacter unserer Natur ist.
Wir fühlen, es bleibt der Erklärung
noch ein Rest übrig, welcher uns erst darüber aufklären muß, daß jener eigenthümliche Grundcharacter unseres Wesens eben ein sittlicher sei.
Wir fühlen, daß dieser Rest der Erklärung uns erst die ganze Hauptsache begreiflich machen müsse.' Wäre unser Leben inhaltlos, oder unser Gesichts
kreis nur mit nichtigen Dingen
erfüllt,
wäre der Pessimismus eines
Schopenhauer oder Hartmann eine Wahrheit und es gäbe in der That
keine achtbaren Ziele, für welche wir uns begeistern könnten, was würde
unsere Jammerseele dann viel Aufhebens davon machen, wenn sie wirklich einmal mit ihrem elenden Selbst in Conflict geriethe?
Was könnte sie
so außer sich gerathen lassen, wenn sie ihre nichtigen Ziele auch wirklich verfehlte? ES ist ganz offenbar, daß daS, was wir sollen, uns nur durch seinen inneren Werth so bedeutungsvoll und wichtig erscheinen kann.
Erwägen wir die unvergleichliche und unbedingte Heiligkeit und Würde
deS Sittlichen, so kann jener Werth auch nicht ein relativer, er muß viel mehr ein absoluter, ganz unbedingter Werth sein.
Wäre er daS
nicht, so wäre die unbedingt verpflichtende Kraft der Gebote des Gewissens durch ihn nicht erklärt, so gäbe eS keine Sittlichkeit, sondern nur Utili tarismus oder Eudämonismus.
Darin besteht also die verbindliche Kraft der Gebote deS
Gewissens, daß
der Eigenwerth dessen, was wir sollen, ein ganz
unbedingter ist. Etwas unbedingt Werthvolles kann eS aber nur dann geben, wenn
alles Geschehen in der Welt zu einem einheitlichen Ziele zusammenzuwirken
bestimmt ist, denn wenn eS unberechenbare Momente des Geschehens gäbe, welche den thatsächlichen Lauf der Welt beeinflussen und seine Richtung verändern, seine Ziele zweckwidrig durchkreuzen könnten, so wären alle denkbaren Werthe nur von relativer Geltung und Bedeutung.
Unbedingt
was den Inhalt des Weltzwecks selbst ausmacht oder ihn zu fördern bestimmt und ge eignet ist. Soll daher die im Gewissen thatsächlich gegebene werthvoll kann ferner nur dasjenige sein,
Norm unseres Handelns durch ihren unbedingten Werth ver
bindliche Kraft erlangen, so muß die Erfüllung unserer indi viduellen Lebensbestimmung auch den einheitlichen Zweck des Weltprocesses zu ihrem Theile zu fördern bestimmt und ge
eignet sein. Freiheit und Gewissen, die specifischen Grundthatsachen deS wahren
Menschwesens enthalten daher höchst bedeutsame Aufschlüsse über unsere
eigene WesenSnatur, über das Ganze der Welt und unsere Bestimmung
in derselben, Voraussetzungen theils metaphysisch formaler, theils specifisch inhaltlicher Natur, welche die Grundzüge unserer gesammten Weltansicht
in den wichtigsten Beziehungen unwiderleglich bestimmen; Voraussetzungen, deren Verdeutlichung uns auch umgekehrt erst über die wahre Bedeutung der Freiheit und des Gewissens aufzuklären vermögen. ES ist daher für die Beantwortung der letzteren Frage von der höchsten Bedeutung, daß
wir uns jener Aufschlüsse und Voraussetzungen ihrem vollen Umfange nach bewußt werden, daß wir uns ihren Inhalt verdeutlichen und eine klare Einsicht in die Unbedingtheit ihrer Geltung erlangen. Ich will dieselben zunächst hier in der Reihenfolge aufführen, wie
sie sich zwanglos aus der obigen Untersuchung ergeben, und sodann näher auf die Betrachtung der einzelnen eingehen:
1. Wir selbst sind fürfichseiende einheitliche Wesen von eigen artiger Natur und eigenen Lebensinteressen, durch welche wir uns die Ziele unseres Wollens selbst bestimmen. 2. Unser Leben steht mit allem übrigen Geschehen, mit der Gesammtheit des ganzen Weltprocesses, in einem nnmittelbare»
Zusammenhänge. 3. Der ganze Weltproceß ist ein einheitlicher, zweckbe stimmter, dessen Einheitlichkeit eben durch die Richtung auf
einen einheitlichen Endzweck bestimmt und bedingt ist. 4.
Der einheitliche Endzweck des Weltprocesses ist auf
Herstellmng eines Guts von unbedingtem Werthe gerichtet. 5. Die specifische Natur unseres Wesens besteht darin, daß totr durch unser Leben eine Bestimmung zu erfüllen haben, deren Erreichung von uns selbst als höchstes Gut gefühlt wird, und deßhalb von unbedingtem Werth ist, weil sie bestimmt
und geeignet ist, de« einheitlichen Zweck des ganzen Weltprocefses
zu ihrem Theile zu fördern. Alle diese Aufschlüsse sind, ich wiederhole eS, und darin beruht der Schwerpunkt der ganzen Ansicht, nicht Hypothesen von problematischer Geltung, oder Voraussetzungen, welche noch deS Beweises durch Ableitung ihrer Geltung aus der Gewißheit anderer Thatsachen bedürften, sondern sie find Offenbarungen rein thatsächlicher Natur, welche in und mit den unmittelbar als wahr und gewiß erlebten Grundthat sachen unseres specifischen Menschwesens, mit dem Vorhanden sein der Freiheit und des Gewissens selbst schon gegeben und
deßhalb unmittelbar von uns als wahr und gewiß erlebtwerden. Sie werden ihrem wahren und vollen Wesen nach nur durch Verdeut-
lichung dessen gewonnen, was wir thatsächlich in unS erleben, durch
Verdeutlichung und Schlußfolgerung
auS Thatsachen, welche in ihrer
Gesammtheit die alleinige faktische Grundlage alles Wissens und Erkennens bilden.
ES ist der erste und wichtigste Schritt aller wissenschaftlichen Unter suchung, sich die ursprünglich gegebenen faktischen Daten rein und unver
fälscht von theoretischen Voreingenommenheiten zum Bewußtsein zu bringen
deren
wahre Bedeutung klar zu
und sich
deren wahren Inhalt und
machen.
Diesem ersten Schritte gehören die obigen Betrachtungen an,
indem sie unS die in den Thatsachen der menschlichen Freiheit und des
davon unzertrennlichen Gefühls der sittlichen Verantwortung unmittelbar gegebenen Aufschlüsse über unser eigenes Wesen und die Gesammtheit alles Geschehens klar zum Bewußtsein bringen.
Der zweite Schritt besteht dann darin, daß wir die in jenen Sätzen
niedergelegten thatsächlichen Aufschlüsse unter einander und mit unseren übrigen Erkenntnissen in Einklang zu bringen suchen und zusammen mit
diesen zu einer systematischen Weltansicht auf ethischer Basis erweitern. Erst dadurch wird eS uns gelingen, den in jenen Sätzen verborgenen
Wahrheitsschatz voll zu heben, und umgekehrt auch die volle Einsicht in das wahre Wesen und die wahre Bedeutung der menschlichen Freiheit zu
gewinnen.
Das Ergebniß dieser weiteren Untersuchung wird dann meine
Behauptung wahren
rechtfertigen,
daß
die
großen Grundthatsachen deS
specifischen Menschwesens, Freiheit und Gewissen,
die lebendigen Keime sind, deren Ausgestaltung und Entfal tung die Grundlinien und
den festen Rahmen unserer ge-
sammten Weltansicht unwiderleglich
feststellen, daß Stamm,
Wurzel und festes Gezweig des gesammten ErkenntnißbaumS auS jenen Keimen hervorwachsen und aus ihnen Leben, Festigkeit und Inhalt schöpfen,
welche durch keine Zweifelsstürme zerstört werden können, da die that
sächliche Grundlage, der sie entstammen, über alle Zweifel erhaben ist. Bevor ich jedoch zu diesem zweiten Schritt übergehe, schalte ich, theils
zur Rechtfertigung des Gesagten, theils zur Abwehr sich leicht zudrängender Einwendungen noch einige Bemerkungen über
das Kriterium der
Wahrheit all unseres Wissens und Erkennens ein, welche sich direkt an die vorhin gegebene Uebersicht des Gebiets unserer unmittelbaren Lebens
erfahrungen anschließen und die Wichtigkeit des dort Gesagten in das
rechte Licht setzen sollen. Schon damals erwähnte ich, der gemeinsame Charakter aller inneren Erlebnisse bestehe darin, daß sie Momente des Fürsichseins eines für sich seienden Wesens seien.
Unmittelbar erleben können wir daher nur
das, was wir selbst sind, was in unS selbst vorgeht: die wechselnden Zustände unseres eigenen Wesens.
Nur auS der specifischen Natur,
auS der Art des Auftretens und dem Wechsel dieser inneren ZustandS-
änderungen unseres eigenen Wesens schließen wir auf das Vorhanden sein anderer Wesen außer unS, auf das Vorhandensein einer Außenwelt
und das Geschehen anderer Ereignisse, welche mit unseren eigenen Erlebnifien nicht identisch sind.
All unser Misten von dem Dasein und der
Natur der Dinge und von dem Geschehen der Ereignisse außer unS ist durch Schlußfolgerungen aus der Art und Reihenfolge unserer inneren
Erlebnisse vermittelt.
Diese bilden den thatsächlich gegebenen Bestandtheil,
die faktische Basis, das einzig und allein Wirkliche in unserer Erkenntniß. Was wir nicht selbst unmittelbar erleben, kann nur als Vorstellung
Gegenstand und Bestandtheil unseres Wissens sein.
Alle anderen Wesen,
die ganze Welt der Außendinge können unS nur insoweit zur Wahrnehmung gelangen, als sie auf unS einwirken, d. h. als sie Veranlassung von Zustand-änderungen unseres eigenen Wesens werden und als wir vermöge
unserer inneren Geistesanlage aus diesen erlittenen Zustandsänderungen unseres eigenen Wesens Bilder jener Außendinge und der in ihnen vor
gehenden Veränderungen in unS erzeugen können.
Ob die auf solche
Art in uns erzeugten Vorstellungen von Dingen und Vorgängen in der
Außenwelt diesen selbst kongruent, oder auch uur ähnlich, ob sie nach der gewöhnlichen Vorstellung wahr, oder nur Trugbilder und Fiktionen sind, welche mV der wirklichen Beschaffenheit der vorgestellten Dinge gar nichts
gemein haben, können wir jedenfalls nicht durch eine Vergleichung beider, der Vorstellungen von den Dingen einerseits und dieser selbst andererseits, erfahren, denn wir können den Act solcher Vergleichung nicht vollziehen, da wir der Dinge selbst nicht habhaft werden können.
Wäre eS daher Aufgabe unseres Erkennens, die Dinge und Vor gänge außer uns nur noch einmal in uns abzubilden, sie genau so ab zubilden, wie sie außer unS an sich wirklich sind, wären also
unsere Vorstellungen jener Dinge und Vorgänge nur dann wahr, wenn sie diesen genau kongruent wären, so würde eS überhaupt kein Kriterium
der Wahrheit geben können, eS bliebe dann ewig in der Schwebe und wäre gar nicht zu entscheiden, ob überhaupt und in wie weit die solcher
gestalt formulirte Aufgabe unseres
Erkennens
ihr Ziel
erreicht hätte.
Wirklich erreicht werden könnte solches Ziel in der That auch nur dann, wenn die Dinge und Vorgänge außer uns auch in Wirklichkeit an sich
selbst weiter nichts wären als Vorstellungen, denn nur dann könnten sie sich mit unseren Vorstellungen von ihnen vollständig decken.
In diesem Falle würde es dann aber wieder völlig unbegreiflich sein. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft t>.
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wie die Dinge außer uns als Vorstellungen wirklich existiren könnten, denn Vorsteyungen können doch nur wirklich sein als innere Vorgänge in
den lebendigen Wesen, welche sie haben.
Die Consequenz eines solchen
Idealismus würde mithin doch nur zu der Annahme führen, daß nur die
lebendigen Wesen an sich selbst wirklich wären, alle sonstigen außer uns
vorgestellten Dinge und Ereignisse aber nur als Vorstellungen in den lebendigen Wesen existiren könnten.
Nehmen wir einmal an, die Sache
verhalte sich wirklich so, eS existirten nur lebendige Wesen, welche einander
gegenseitig vorstellten, so würden dieselben stets doch nur ihre eigenen Zustandsänderungen unmittelbar in sich selbst erleben,
die Zustands
änderungen in allen übrigen Wesen aber nur vorstellen können, und die vorzestellten Zustandsänderungen in diesen
anderen Wesen würden
mit diesen Zustandsänderungen selbst niemals zusammengehalten-und ver glichen werden können.
Selbst die Annahme der Geltung eines solchen
Idealismus würde daher kein Kriterium der Wahrheit als möglich er
scheinen lassen, wenn die Aufgabe des Erkennens blos auf Uebersetzung dessen, was außer uns geschieht, in die Welt unserer Vorstellung ge
richtet wäre. In der That ist dieses letztere die gewöhnliche Ansicht, alber eine kurze Ueberlegung schon genügt, uns von der Verkehrtheit derselben zu überzeugen.
„Könnte eS der menschlichen Forschung", sagt Lotze (Mikrokosmus Bd. I Vorrede VII), „nur darauf ankommeu, den Bestand der vorhandenen
Welt erkennend abzubilden, welchen Werth hätte dann doch ihre ganze Mühe, die mit der öden Wiederholung schlöffe, daß, was außerhalb der
Seele vorhanden war, Welche Bedeutung
nun nachgebildet in ihr noch einmal vorkäme?
hätte das leere Spiel dieser Verdoppelung,
welche
Pflicht der denkende Geist, ein Spiegel zu sein für das, was nicht denkt,
wäre nicht die-Auffindung der Wahrheit überall zugleich die Erzeugung
eines Gutes, dessen Werth die Mühe seiner Gewinnung rechtfertigt?" Darauf kommt es in der That bei allem Erkennen in letzter Instanz
allein an, den Werth und die Bedeutung dessen zu erkennen, was wir in uns erleben,, respective durch diese Erlebnisse ange
regt werden, außerdem noch in der Welt als vorhanden anzu nehmen. Dieses Ziel können wir aber schon durch bloße Ueberlegung und Verknüpfung alles -dessen erreichen, was in uns selbst vor
geht, ohne dazu nothwendig einer Congruenz unserer Vorstellungen-mit
den vorgestellten Dingen zu bedürfen.
Darauf wird eS daher bei allem
Erkennen in erster Linie ankommen, daß wir die inneren Erlebnisse richtig
auffassen, ihrer wahren Bedeutung nach verstehen und würdigen, sie richtig
verbinden und die in ihnen enthaltenen Voraussetzungen unS klar zum
Bewußtsein bringen; nicht darauf, ob unsere Vorstellungen von den Dingen und Vorgängen außer unS mit diesen selbst kongruent oder ähnlich seien?
DaS letztere ist eine Nebenfrage, welche an Bedeutung weit hinter der ersteren zurücksteht, weil der Werth dessen, waS wir erkennen, nicht noth
wendig durch eine bestimmte Art der Beantwortung jener Frage be
dingt ist. Die gewöhnliche Ansicht, daß daS Erkennen blos zum Abbilden einer
Wirklichkeit außer uns bestimmt sei, beruht auf der Naiven,
vor dem
Beginn alles PhilofophirenS durch daS bisherige Leben in unS entwickelten
Vorstellungsweise, wonach unS die Produkte unserer eigenen GeisteSthätigkeit wie fertige selbständige Realitäten, als Dinge in einer uns ringS
umgebenden Außenwelt entgegentreten.
ES erscheint nicht wunderbar, daß
auf dieser Stufe der geistigen Entwickelung sich daS nächste Interesse darauf richtet, die Dinge kennen zu lernen, welche unS anscheinend so
plastisch und klar entgegentreten; daß wir über diesem nächsten praktischen Ziele unS selbst vergessen und nicht bedenken, daß wir selbst eS gewesen
sind, welche die Bilder aller jener Dinge in unö hervorgebracht haben, daß mithin unser eigenes Leben, unsere eigene Thätigkeit bei der Her
stellung jener Bilder, mit zu dem Ganzen der Wirklichkeit gehören, deren Anschauung sich aus jenen Bildern zusammensetzt; ja:, daß diese unsere eigene Thätigkeit den Hauptfactor bei der Herstellung jener Bilder
und der ganzen unS scheinbar umgebenden Außenwelt bildete, und daß die subjektiven Verfahrungsweisen bei der Zusammenfaffung der Erschei
nungen zu fertigen Bildern, bei der Gruppirung und Verbindung dieser
zu dem Ganzen unserer Weltansicht die ersten Grundlinien und Theil striche in die unabsehbare Menge unserer Empfindungen und Gefühle bringen halfen und dadurch zu Keimen unserer Begriffe über die letzten wirkenden
Principien alles Seins und Geschehens wurden.
Je mehr die Erkenntniß
dieses wahren Sachverhalts wächst, je mehr wir einsehen lernen, daß eS
nur Principien und Bedürfnisse unserer eigenen erkennenden Vernunft
find, welche uns antreiben, einzelne Empfindungen gruppenweis zu Vor
stellungen gesonderter Dinge zusammenzufassen, diese in gegenseitige Re
lation zu setzen, das Gemeinsame in den Dingen zu übergeordneten Be
griffen auSzusondern und alle Dinge und Ereignisse zu dem Ganzen eines
einheitlichen Weltprocesses zusammenzufassen,
daß
mithin alle
Dinge,
welche unseren Gesichtskreis erfüllen, alle Eintheilungen, alle Gesetze und Beziehungen zwischen jenen Dingen,
die wirksamen Keime ihrer Ent
stehung in Bedürfnissen und ursprünglichen Veranlagungen unseres eigenen
Wesens haben, um so mehr tritt die Bedeutung und der Werth dieser
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ursprünglichen Grundzüge unseres subjektiven Geisteslebens für die Ge
staltung unserer gesammten Weltansicht hervor; um so mehr werden wir inne, daß das Ziel alles Erkennens wesentlich und in erster Linie auf
daS
genaue Verständniß
und
die Verdeutlichung dessen
gerichtet sein
müsse, waS wir sollen, wozu wir überhaupt da seien, welcher Werth und welche Bedeutung dem Dasein überhaupt und un
serer Bestimmung in demselben beizumessen sei. Je mehr wir uns dieses Alles zur Klarheit bringen, um so mehr werden wir einsehen, daß die in den Formen des Fühlens, Wollens und
Borstellens erlebten inneren Vorgänge in den lebendigen Wesen nicht nur
mit zu dem Ganzen des Weltprocesses gehören, sondern, daß sie in der That daS allein wahrhaft und an sich Wirkliche sind, die leben
dige Grundlage,
aus der alle Formen, Gestalten, Bilder, Gesetze und
Verhältnisse unserer ganzen Weltansicht, der ganzen Weltwirklichkeit über haupt hervorwachsen, daß die subjektiven Erscheinungen und Vor
stellungen der realen Processe des Geschehens außer uns nicht bloße Nebenproducte dieser sind, welche nur bestimmt wären, uns begreiflich zu machen, was um uns her in einer uns.umgebenden Außenwelt vor
gehe, daß wir nicht deshalb sehen, hören, riechen und schmecken, um nach
den Ursachen dieser subjektiven Erscheinungen in
einer vorausgesetzten
Außenwelt zu forschen, sondern um unser Herz an dem Gesehenen und Gehörten zu erfreuen und diese Eindrücke zur Erreichung unserer indi viduellen Lebensbestimmung zu verwenden. Die Erscheinungen des Wirk lichen in der Vorstellungswelt lebendiger Wesen sind daher nicht als
gleichgültige Nebenproducte, sondern eher als Hauptproducte derjenigen realen Processe zu betrachten, welche dieselben in uns anregen; in ihnen entfalten sich jene realen Processe erst zu voller Blüthe und Frucht.
Processe der
Die
äußeren Natur erscheinen nur als Vorbedingungen und
Mittel zur Entfaltung und Erhaltung des geistigen Lebens, in welchem
das wahre Wesen, die wahre Bedeutung, der wahre Werth
und die wahren Ziele alles Geschehens erst wirklich und offenbar werden. Wir erleben unmittelbar in uns, was Sein, Wirken, Leiden, Fühlen, Denken und Wollen in Wahrheit sei und bedeute, welchen Sinn, Inhalt
und Zweck das Leben habe,
und diese Selbstoffenbarung des eigenen
Wesens, welche sich durch die fortschreitende Arbeit deS Lebens und Er
kennens zu einer mehr oder weniger umfassenden Weltansicht in uns er weitert, ist nicht blos Erscheinung, welche auf ein Sein hindeutet, welche
zur Abbildung und Reproduktion eines hinter der Erscheinung belegenen noch wahreren Seins bestimmt wäre, sondern offenbart unS das Wirk-
liche
selbst in seiner Blüthe und höchsten Potenz, in seiner
wahren an sich seienden Gestalt, wie eS in unserem Fürstchsein unmittelbar zur Realität gelangt.
Die Aufgabe des Er
kennens ist daher nicht, aus dem innerlich Erlebten als einem Scheine das wahre Sein eines solchen Schein erregenden Wirklichen mittelst irgend
welcher Erkenntntßtheorte zu enträthseln, sondern das innerlich Erlebte
seinem wahren Werthe und Zusammenhänge nach zu würdigen, um von
ihm zum Zwecke unseres Lebens Gebrauch zu machen.
Wenn das Wirk
liche sich uns in Farben, Klängen und Gerüchen offenbart, so sind diese
nicht etwa ein bloßer Schein, der unS das Wirkliche in verkürzter und verstümmelter Weise zur Anschauung brächte, so sind sie eben die Art,
wie daS Wirkliche in uns offenbar und wirklich wird, wie es in uns
aufblüht zu wahrem vollem' Leben.
In diesem wahren vollen Leben erst
werden die Werthe des Wirklichen offenbar und wirklich, sie werden als
solche von unS gefühlt und in diesem Gefühl besteht ihr wahres Wesen.
Entfaltung der in unserer Naturanlage enthaltenen Keime ist der Zweck des Lebens und diesem Zwecke ist auch die Aufgabe des Erkennens unter
geordnet.
Erkennen ist Verdeutlichen dessen, was wir unmittel
bar in unS erleben, waS in unserer Naturanlage gegeben ist
und durch Einwirkungen anderer Wesen in unS angeregt wird,
Verdeutlichung und consequente Ausgestaltung der faktisch ge gebenen Grundlage unmittelbarer Lebenswirklichkeit.
Da wir mit zu dem Ganzen der Welt gehören und durch die Er füllung Mserer Lebensbestimmung den Zweck des Weltprocesses fördern sollen, so können wir unsere Lebensaufgabe nicht verstehen, ohne eine be stimmte Ansicht über die Welt im Ganzen und daS Ziel deS WeltproceffeS
in unö zu bilden.
Diese Weltansicht wird sich in den verschiedenen Wesen
verschieden gestalten, je nach dem Grade und der Art ihrer individuellen Entwickelung und nach dem Standpunkte, auf welchem sie sich in den ver schiedenen Stadien ihrer Entwickelung befinden. Da jedenfalls die letzteren für alle verschieden sein werden, so können die Weltbilder in der Auffassung
der verschiedenen Wesen sich nie vollständig decken, wohl aber kann
in allen der wesentliche Sinn der Wirklichkeit in mehr oder weniger vollständiger, individuell gefärbter Weise zum Aus druck gelangen; sie können alle zu einander und zum Ganzen
in
einem
bestimmten
gesetzlich
geregelten
Zusammenhänge
stehen.
Daß dieses letztere wirklich der Fall sei, lehren die Aufschlüsse, welche wir oben aus der näheren Betrachtung der in uns vorhandenen sittlichen
Norm unseres Wollens erhielten.
Soll der ganze Weltproceß ein ein-
heitlicher, zweckbestimmter sein, so müssen die einzelnen dazu mitwirkenden
Factoren, die lebendigen Wesen, deren Gesammtheit das Universum constituirt, sich unter einander verständigen, auf einander wirken, sie müssen
überhaupt die Erfolge ihres Wollens
können.
und Handelns vorausberechnen
Dieses ist nur möglich, wenn alles Geschehen überhaupt in einem
ausnahmslosen gesetzlichen Zusammenhänge steht.
Erwägen wir nun, daß
die Naturanlage aller das Weltall constituirenden Wesen mitinbegriffen
ist in die Einheitlichkeit deS teleologisch bestimmten WeltprocesseS, so er« giebt sich als weitere Consequenz, daß alle Vorgänge in allen Wesen, also auch alle Erscheinungen in ihnen unter einander in einem
ganz bestimmten gesetzlichen Zusammenhänge
stehen müssen.
Ist dieses aber der Fall, so leisten die Mittel unseres Erkennens in der That alles, was wir billigerweise von ihnen verlangen können, so reichen
sie vollkommen aus, um die Aufgabe des Erkennens zu ermöglichen, wenn
wir die letztere in dem angegebenen Sinne richtig verstehen.
Sie reichen
aus, uns eine Ansicht der Welt im Ganzen zu verschaffen, welche unserem individuellem Standpunkte, unserem individuellem Gesichtskreise und unserer individuellen LebenSbesttmmung entspricht, sie reichen aus, die Erfolge
unseres Wollens in beschränktem
aber doch zureichendem Maße zu be
stimmen. Berücksichtigen wir alle diese Erwägungen, um uns klar zu machen,
was Wahrheit sei und bedeute? worin das Kriterium der Wahr heit bestehen könne?
Da der Zweck deS Erkennens nicht auf ein bloßes Abbilden dessen gerichtet ist, was außer unS geschieht, so kann die Wahrheit unserer Vor stellungen der außer unS gesetzten Dinge und Ereignisse nicht darin be
stehen, daß jene diesen in allen Beziehungen kongruent oder auch nur im
mathematischen Sinne ähnlich seien.
„Nichts ist einfacher*) als die Ueber
zeugung, daß jeder erkennende Geist Alles nur so zu Gesicht bekommen kann, wie eS für ihn aussieht, wenn er es sieht, aber nicht so wie eS
auSsieht, wenn eS Niemand sieht; wer eine Erkenntniß verlangt, welche
auf mehr als ein lückenlos in sich zusammenhängendes Ganze von Vor stellungen über die Sache wäre, welche vielmehr die Sache selbst erschöpfte,
der verlangt keine Erkenntniß mehr, sondern etwas völlig Unverständ
liches.
Man kann nicht einmal sagen, er wünsche die Dinge nicht zu
erkennen, sondern geradezu sie selber zu sein; er würde vielmehr auch so sein Ziel nicht erreichen; könnte er es dahin bringen, das Metall etwa
selbst zu sein, dessen Erkenntniß durch Vorstellungen ihm nicht genügt, nun *) So sagt Lotze: Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen und vom Er kennen. Leipzig. Hirzel 1874. S. 485.
so würde er eS zwar sein, aber um so weniger sich, als nunmehriges
Metall, erkennen; beseelte aber eine höhere Macht ihn wieder, während er Metall bliebe, so würde er auch als dies Metall sich gerade nur so erkennen, wie er sich in seinen Vorstellungen vorkommen würde, aber nicht so, wie er dmn Metall wäre, wenn er sich nicht vorstellte."
Wahr sind unsere Vorstellungen vielmehr dann, wenn sie das, was
in uns vorgeht, seinem Inhalte und seinen Consequenzen nach adäquat zum Ausdruck bringen, wenn sie folgerecht das zusammenfaffen, waS zu sammen gehört und eS mit dem Ganzen unserer Weltansicht in consequente
Uebereinstimmung bringen. Congruenz
Wahrheit besteht daher nicht in einer
unserer Vorstellungen
von Dingen
nissen außer uns mit diesen selbst,
und
Ereig
sondern in der sachge
mäßen Auffassung des unmittelbar Gegebenen, in der inneren Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit unserer Vorstellungen und
deren Verhältnissen zu einander.
DaS einzige Mittel, die Wahrheit unserer Vorstellungen und Schluß
folgerungen zu constatiren, besteht in ihrer Zurückführung auf einfache
Thatsachen, welche wir unmittelbar erleben und auf Axiome von zwetfe^ loser Geltung.
Die Wahrheit dieser Axiome läßt sich freilich nicht mehr
beweisen, sondern nur durch ein Gefühl unmittelbarer Evidenz als richtig constatiren, welches in dem Jnnewerden ihrer Allgemeinheit und Noth wendigkeit besteht.
DaS
Gefühl der Allgemeinheit und Noth
wendigkeit, welches unS die letzten Axiome alles Wissens und Erkennens als apriorisches Besitzthum des Geistes,
als un
mittelbar-gewiß und selbstverständlich erscheinen läßt, ist das letzte und einzige Kriterium aller Wahrheit. Wie es eine sittliche Norm in unS giebt, welche den charakteristischen Grundzug unseres Wesens in ethischer Beziehung bildet, so finden wir
in unS gewisse apriorische Wahrheiten, deren Gewißheit wir ebenso un
mittelbar mit dem Gefühle der Allgemeinheit und Nothwendigkeit in uns erleben, wie das Vorhandensein jener sittlichen Norm.
Wie diese ist die
Selbstverständlichkeit des Inhalts jener apriorischen Wahrheiten ein letztes
gegebenes thatsächliches Moment, welches nur erlebbar aber nicht
weiter beweisbar ist und die Grundvoraussetzung alles Erkennens bildet. Ich wende mich nun zu dem zweiten Schritte meiner Untersuchung,
zu dem Versuche, die mit dem Vorhandensein der verantwortlichen Frei
heit deS Wollens unmittelbar gegebenen Aufschlüsse, welche ich in den früher aufgestellten Sätzen zusammengefaßt habe, unter einander und
mit unseren übrigen Erkenntnissen in Einklang zu bringen und mit diesen zu der Einheit einer sittlichen Weltansicht auszugestalten.
Alle jene Sätze verhalten sich, wenn man sie genauer betrachtet, zu einander wie Radien eine- Kreise-, die alle nach demselben Mittelpunkte gerichtet sind.
E- gilt nur, diesen Mittelpunkt zu bestimmen, um deren
innere Zusammengehörigkeit und da- Gesetz ihrer Bildung zu begreifen. Dieses Centrum ist das absolute Weltwesen, der reale Grund alles Bestehenden, durch dessen richtige und sachgemäße Auffassung sich die Welt
anschauung, deren
Grundlinien jene Sätze vorzeichnen, vollständig zu
einem einheitlichen Ganzen zusammenschließt.
Erst die richtige Auffassung
jenes höchsten Wesen- kann der ganzen Weltansicht inneren Halt geben, sie erst kann die in jenen Sätzen nur dürftig skizzirten Grundgedanken
durch Offenbarung de- wahren Inhalt- dessen ergänzen, was jene nur
in formaler und abstrakter Weise ausdrücken.
Die gemeinsame Richtung
auf den gesuchten Mittelpunkt ist in jenen Sätzen schon so deutlich aus geprägt, dieselben enthalten so deutliche Hinweisungen auf das, waö wir
unter jenem höchsten Wesen zu denken haben, daß wir nur die dort ge
zogenen Linien zu verlängern, daS in jenen Sätzen Gedachte nur consequent bis zu Ende zu denken haben, um das gesuchte Centrum zu finden und einznsehen, daß nur die
Idee Gottes, das ist die Idee einer
alle Weltwirklichkeit in sich schließenden leb endigen Persön
lichkeit von absolutem Charakter dem Begriffe jenes höch Nur die Idee Gottes genügt den meta
sten Wesens genügen könne.
physischen und ethischen Anforderungen, welche in jenen Sätzen enthalten sind.
In dieser Idee finden jene Sätze ihren Schlußpunkt, der ihren
gegenseitigen Zusammenhang erklärt und die formalen Anforderungen der selben mit den erwärmenden Strahlen eines positiven Inhalts von über
irdischem Glanze erfüllt. Um diese wichtige und höchste Consequenz unserer bisherigen Be
trachtungen gegen alle Einwendungen sicher zu stellen, will ich die Gründe,
welche mit zwingender Nothwendigkeit zu ihr hinleiten, jetzt entwickeln. Ich habe bereits erwähnt, daß wir die letzten metaphysischen Grund begriffe alles Seins und Geschehens nur aus dem schöpfen können, was
wir unmittelbar in uns als wirklich erleben, nicht aus anderen Begriffen, welche erst aus diesen Erlebnissen abstrahirt sind und an sich
nichts Wirkliches mehr bedeuten.
Der allgemeine wesentliche Grund
zug aller inneren Erlebnisse ist die lebendige Rückbeziehung auf uns selbst im Bewußtsein.
wahre Wesen aller Realität.
Das Fürsichsetn ist daher das
Realität ist Fürsichsetn. Fürsichsein
in diesem Sinne ist aber nur ein anderer Ausdruck für das, was wir unter Lebendigkeit und Geistigkeit verstehen.
Nur das Lebendige
kann für sich wirklich, real sein, alles Todte, Unlebendige, alles ruhende
unbewegte Sein kann nur als Vorstellung in den lebendigen Wesen, nicht aber für sich selbst irgendwie wirklich sein. Giebt eS daher ein einziges höchstes Wesen, welches der wahre und
letzte Grund aller Realität ist, von dem alle Einzelwesen, welche das Uni versum constituiren, ihr eigenes Dasein gleichsam zu Lehen tragen, so kann auch dieses höchste Wesen nicht als todte Substanz oder gar als Be
griff, sondern nur als lebendiges fürsichseiendeS geistiges Wesen gedacht
werden. Betrachten wir nun den Verlauf unserer inneren Erlebnisse näher,
so werden wir alsbald inne, daß dieselben zum großen Theile durch Ver anlassungen angeregt werden, welche nicht spontan in unS selbst entstehen
oder durch vorangegangene Zustände unseres eigenen Wesens allein be dingt und hervorgerufen sind.
Wir müssen daher jene Veranlassungen
als Einwirkungen anderer Wesen auf unS betrachten und der Verlauf des
Lebens überzeugt uns bald, daß auch wir unsererseits auf andere Wesen cinzuwtrken vermögen.
Unser Leben verläuft in steten Wechsel
wirkungen mit unzähligen anderen Wesen und diese Wechselwir kungen erscheinen als das einzige Band, welches unS mit jenen anderen Wesen und der Welt überhaupt verbindet.
Den Hergang und die Denkbarkeit dieser Wechselwirkungen zu er klären, war das vornehmste Problem der neueren Philosophie seit Car-
tesiuS, dessen Wichtigkeit um so mehr erkannt wurde, je mehr sich das
philosophische Nachdenken auf Anregung der Naturforschung der Erklärung der thatsächlich beobachteten Vorgänge des Lebens überhaupt zuwandte. Lotze hat dieses Problem zuerst scharf präcisirt und in einer Weise
gelöst, welche die höchste Beachtung verdient.
Die Wechselwirkung kann,
wie Lotze sehr scharfsinnig und klar entwickelt, nicht darin bestehen, daß die Zustandsänderung des einen Wesens a auf das andere b unmittelbar
übergeht, denn ein Zustand des Wefenö a kann sich nicht von diesem loslösen und losgelöst von a für sich sein, er könnte, selbst wenn dies
denkbar wäre, nicht die Richtung auf b finden und dort eine correspon-
dirende Zustandsänderung des anderen Wesens b werden. nannte influxus
Der soge
physicus ist eine den metaphysischen Begriffen deS
Wesens und Geschehens widersprechende Vorstellung.
Ebensowenig genügt
die occasionalistische Erklärung, daß dem Zustande deS a der correspondtrende Zustand in b nach einem das Geschehen in beiden Wesen für den
besonderen Fall oder nach einer allgemein verbindlichen Regel ordnendem göttlichem Machtgebote blos thatsächlich folge.
Nur dadurch kann die
Thatsache der Wechselwirkung erklärt werden, daß alle durch sie verbun
denen Wesen als Momente deS FürsichseinS einer einzigen einheitlichen
Substanz betrachtet werden, welche den alleinigen wesenhaften Kern der
Wirklichkeit aller Einzelwesen bildet.
Jede Zustandsänderung des einen
Wesens a ist dann zugleich eine Bewegung jenes ganzen einheitlichen
substantiellen Weltgrundes, welcher in allen übrigen Wesen, das ist in
allen
übrigen
Momenten
des FürsichseinS
jener
einen
Weltsubstanz,
schwächer oder stärker wiederklingt und mithin zugleich als correspondirende
Zustandsänderung des Wesens b hervortritt, welches auf solche Art die Einwirkung von a erleidet.
Diese Erklärung beseitigt nicht nur alle Schwierigkeiten, welche das Problem der Wechselwirkung bisher zu einer crux philosophorum machten, sondern erweitert und erleuchtet zugleich unsere theoretische Einsicht in die Verhältnisse der Einzelwesen zu einander und zu dem absoluten Weltwesen
und unsere ganze Auffassung des letzteren und aller Einzelwesen in einer Weise,
wie
es
keiner früheren Philosophie auch
nur annähernd ge
lungen ist.
Wir begreifen nun auS der unleugbaren Thatsache der Wechselwirkung, einer Thatsache, worauf aller Weltzusammen
hang und die Möglichkeit alles Erkennens beruht, daß nur ein einziges
einheitliches lebendiges Wesen den realen sub
stantiellen Grund aller Weltwirklichkeit bilden könne, daß die Realität aller daS Weltall constituirenden Einzelwesen nur
in Arten des Fürsichseins jenes einen Wesens bestehen könne. Wir begreifen nun mit einem Schlage, wie zwischen allem Geschehen in
allen Wesen ein ausnahmsloser gesetzlicher Zusammenhang bestehen, wie der ganze Weltproceß ein einheitlicher, auf ein einheitliches Ziel gerichteter, wie die Natur und Bestimmung aller Einzelwesen auf die Mitwirkung
zu diesem einheitlichen Ziele berechnet und veranlagt sein könne, wie end lich in den Einzelwesen, indem das eine absolute Weltwesen in ihnen
allen auf eine gewisse,
wenn auch noch so beschränkte Weise doch mit
seinem ganzen Wesen für sich ist, durch fortschreitende Verdeutlichung der
in ihrer thatsächlichen Naturanlage offenbarten Daseillsmomente eine Er kenntniß jenes einheitlichen Ziels des ganzen Weltprocesses entstehen könne.
Ich habe in der letzteren Beziehung bereits entwickelt, wie sich aus einer zwanglosen Deutung der Grundthatsachen des wahren Menschwesens,
aus den Thatsachen der Freiheit und des Gewissens, die Grundzüge einer Weltansicht ergeben, welche den wesentlichsten bedeutsamsten Inhalt alles
Geschehens wenigstens in allgemeiner Begriffsform zum Ausdruck bringt. Diese allgemeine Begriffsform ist allerdings noch zu abstrakt, um auf
eigenen Füßen stehen zu können.
Sie erfüllt sich erst in dem Maße mit
concretem Inhalt, als eS uns gelingt, den Begriff jenes höchsten ein heitlichen
Wesens, welcher den Schlußstein unserer Weltansicht
bildet,
durch fortschreitende Erkenntniß zu vervollständigen und — wie ich der
späteren Darstellung vorgreifend zur vorläufigen Orientirung einschalte — durch Erfüllung mit dem, waS uns das religiöse Gefühl offenbart, abzu schließen und zu der Idee des lebendigen Gottes zu steigern. Erwägen wir nur die wichtigsten jener vorangeführten Thatsachen, da- Gelten einer ausnahmslosen Gesetzlichkeit alles Geschehens und das
Vorhandensein eines einheitlichen Weltzwecks von unbedingtem Werthe, so betzarf eS gar keiner weiteren Umwege mehr, um zu begreifen, daß
Zwecke und Werthe nur in einer lebendigen Persönlichkeit existent werden können. bei,
Persönlichkeit legen wir einem lebendigen Wesen dann
wenn eS seine wechslenden Zustände in der Erinnerung ein und
desselben Bewußtseins zusammenzufassen, wenn eS daher eigene LebenSintereffen zu hegen, selbständige Ziele zu verfolgen, Ueberlegungen anzu stellen und sein Wollen und Handeln wechslenden Umständen anzupaffen vermag.
Durch die zusammenfassende
Erinnerung
knüpft ein
solches
Wesen die Einzelmomente seines Daseins erst zu einer Einheit von höherer
Bedeutung zusammen.
Die vergangenen Phasen seines Daseins gehen
dann nicht mehr verloren, sondern werden in der Erinnerung erhalten
und bilden in dieser Gestalt mitwirkende Factoren seines ferneren Lebens,
während auch die in der Zukunft erwarteten Erlebnisse bestimmend auf die Gestaltung der gegenwärtigen einwirken.
Nur in einem lebendigen
Wesen, welchem Persönlichkeit eignet, kann der Begriff der Zeit entstehen.
Es unterscheidet sich dadurch von allen Wesen, welchen jene höhere Form
der Einheit nicht zukommt, welche nur dem Augenblicke leben und daher ein unzeitliches Leben führen.
Nur ein persönliches Wesen kann daher
auch den Begriff der Zukunft und Vergangenheit bilden, nur ein solches
kann Zwecke verfolgen und seinem Leben eine bestimmte Direktion geben,
selbsthandelnd nach eigenen Interessen und Principien in den Lauf der Ereignisse eingreifen.
Es wird dieses alles in um so höherem und inten
siverem Maße vermögen, je weiter eS in seiner Erinnerung zurückgreifen,
je erfolgreicher eS die zukünftigen Ereignisse zu berechnen vermag, je um fassender, weitgreifender und fester sich die wechselnden Zustände seines Lebens zur Einheit bewußter persönlicher Existenz zusammenschließen, in
je höherem Grade ihm Einheit und Persönlichkeit eignet.
Denken wir
unS endlich ein höchstes Wesen, welches allen Phasen seiner
ganzen Existenz, sowohl denen, die eS bereits realisirte, als auch den confequenl aus dem gegenwärtigen Zustande zu er wartenden zukünftigen, gleich mehr wäre, so würde für ein
560
Ueber da« Wesen und die Bedeutung der menschlichen Freiheit
solche- der Begriff der Zeit wiederum aufgehoben werden
und verschwinden, alle Momente seines Lebens würden sich
zu
einer Einheit höchster Potenz, zum Begriffe einer abso
luten, vollkommenen Persönlichkeit zusammenschließen. Nur diese höchste denkbare Form der Wirklichkeit, dieser umfassendste
und doch zugleich concentrirteste Ausdruck des EinheitSbegriffs, nur der Begriff absoluter, vollkommener Persönlich
keit erscheint geeignet, uns eine Vorstellung von dem wahren
Wesen Gottes zu machen. ES ist einer der verhängnißvollsten Irrwege in der Geschichte der Philosophie, daß
man das Wesen Gottes,
um diesem vor Allem den
Charakter der Schrankenlosigkeit und Absolutheit zu wahren, stets nur aus
den durch Abstraction von allen concreten Erscheinungen des Lebens ge
wonnenen letzten Allgemeinbegriffen zusammensetzen zu müssen glaubte.
Man bedachte nicht, daß jene obersten und allgemeinsten Begriffe zugleich die inhaltlosesten und leersten sind, wenn man nicht die concrete Fülle
deS Wirklichen stets ergänzend hinzudenkt, von denen sie abstrahirt worden sind.
Man verwechselte hier, wie so häufig, die Umwege, welche das
Denken braucht, um sich eine Uebersicht über die Inhalte des Wirklichen zu verschaffen, indem dasselbe die gemeinsamen Merkmale der Dinge abstrahirte, diese zu Allgemeinbegriffen formulirte und in Gattungen und
Arten systematisch zusammenstellte, um ihnen dann die Vorstellungen der concreten Einzeldinge nach verschiedenen Gesichtspunkten wieder zu sub-
sumiren, mit den Entstehungsprocessen deS Wirklichen selbst und ließ sich dadurch verleiten, die höchsten Allgemeinbegriffe als das erste und ursprünglich Wirkliche zu denken, aus dem dann die concrete Fülle der Dinge und Ereignisse hervorgegangen fei.
Aber jene Allgemetnbe-
griffe sind in der That weiter nichts als Geschöpfe der Abstraction, sie haben nirgends Wirklichkeit, als in dem Geiste dessen,
der sie gebildet
hat und sind völlig ungeeignet, den Inhalt dessen, was wir unter dem höchsten Weltwesen zu denken haben, entsprechend auszudrücken.
Man
ließ sich durch jene gedankenlose Verwechselung zu dem verhängnißvollen Irrthume verleiten, daß alle concreten Bestimmungen des höchsten Wirk
lichen nur ebensoviele Schranken desselben bedeuten würden und machte,
um Gott den Charakter der absoluten Schrankenlosigkeit zu wahren, ihn
zu dem inhaltärmsten und dürftigsten Geschöpfe der Abstraction, indem man sein Wesen durch die leeren Begriffe einer absoluten unbeweglichen Substanz, einer regungslosen höchsten Idee u. s. w. auszudrücken suchte.
Die negativen Begriffe der Schrankenlosigkeit und Unendlichkeit enthalten an sich noch gar keine positive Inhaltsbestimmung des
höchsten Wesens, welches doch nur durch den specifischen positiven Inhalt seiner Natur, durch seine eigene Würde und Erhabenheit allem Endlichen
gegenüber den Charakter der Unendlichkeit erlangen könnte.
Jene negativen
Bestimmungen machen nur die Stelle frei, wo der positive Begriff Gott stehen soll, ohne diese Stelle selbst auszufüllen.
Irgend welche positive
Inhaltsbestimmungen müssen wir Gott doch beilegen, wenn er nicht zur
leeren Unendlichkeit, zum reinen Nichts werden sdll.
Wir müssen ihm
solche Inhaltsbestimmungen beilegen, welche ihn geeignet machen,
als
Grund alles Wirklichen, als erhaben über alles Endliche gelten zu können. Sind wir daher auf dem angegebenen Wege durch Verdeutlichung
der in der Freiheit und im Gewissen gegebenen Voraussetzungen zu der
Ueberzeugung gelangt, daß der ganze Weltproceß auf ein einheitliches Ziel von unbedingtem Werthe gerichtet fei, so muß Gott, der Grund jenes Processes, in einer Form der Wirklichkeit gedacht werden, welche begreiflich macht, daß er Zwecke hegen und Werthe em
pfinden könne, wir müssen ihn in der höchsten denkbaren Form aller Wirklichkeit als absolute vollkommene Persönlichkeit auffassen, und dieser Begriff enthält nicht eine Beschränkung, sondern lediglich eine adäquate
Bestimmung des wahren Wesens Gottes, dessen vorausgesetzte Unend
lichkeit dadurch keineswegs alterirt, sondern insoweit, als dieses Prädicat überhaupt vernünftigen Sinn hat, nur näher präcisirt und begreiflich ge macht wird.
DaS Wort unendlich bedeutet streng genommen etwas, das
kein Ende hat, im gewöhnlichen Sprachgebrauche versteht man jedoch
darunter nur etwas, dessen Ende man nicht sieht, etwas für uns Un ermeßliches und verbindet damit den Nebenbegriff des Erhabenen, deS im
höchsten Grade Jmponirenden.
Die erstere eigentliche aber negative Be
deutung des Wortes ist lediglich den Anschauungen des Raumes und der
Zeit entlehnt, und trägt wie diese einen blos phänomenalen Charakter, vermöge dessen das Wort in diesem Sinne sich nur auf Objekte der
Vorstellungswelt in den
lebendigen Wesen, nicht auf die an sich
seiende wahre Natur dieser selbst anwenden läßt, welche wir unauSgcdehnt denken müssen.
Nur die tropische und uneigentliche aber positive
Bedeutung deS Wortes beruht auf einer Werthschätzung des Gefühls
und kann auf die wahre Natur des Wirklichen angewendet werden.
Nur
im letzteren positiven Sinne können wir daher von Gott als einem un
endlichen Wesen reden, das sich uns nicht sowohl wegen seiner Unerforschlichkeit und Unermeßlichkeit, als vielmehr wegen der sonstigen positiven, nur im Gefühl erlebbaren Werthbestimmungen, welche wir ihm beilegen, als über alle Maßen groß und erhaben darstellt.
Object der Werth
schätzung und Verehrung in diesem Sinne kann Gott aber selbstverständ-
lich nur dann werden, wenn er als lebendige Persönlichkeit und nicht als
abstracte Substanz oder leblose Idee gedacht wird.
Nur der Begriff
der lebendigen Persönlichkeit genügt daher dem Prädicate der
Unendlichkeit,
welches
Gott
wir
beizulegen uns
gedrungen
fühlen. Nichts ist daher verkehrter als der leider so oft gehörte Einwand,
daß Gott in seiner über alles Menschliche unendlich erhabenen Würde dadurch herabgesetzt und vermenschlicht werde, daß man ihn als persön
liches Wesen betrachte, weil Persönlichkeit eine Schranke sei, welche nur dem Endlichen zukomme.
Es ist zwar richtig,
der Persönlichkeit überhaupt
daß wir den Begriff
nicht fassen könnten, wenn wir
nicht selbst Personen wären und unmittelbar in uns erlebten, was Persönlichkeit sei und bedeute.
Aber das charakteristische Moment,
welches uns zur Persönlichkeit macht, die Fähigkeit, erlebte Eindrücke fest zuhalten, in demselben Bewußtsein mit einander zu verbinden und mit
gegenwärtigen und in der Zukunft erwarteten Erlebnissen zu der Einheit
unseres Wesens zusammenzuschließen, dieses charakteristische Moment der Persönlichkeit ist bei uns doch nur in sehr unvollkommenem Maße
entwickelt.
Viele Erlebnisse vergessen wir ganz, der übrigen können wir
unS nur in abgestllften KlarheitSgraden entsinnen; selbst der gegenwärtigen
Erlebnisse können wir je nach unserer momentanen Stimmung und Auf merksamkeit bald stärker, bald schwächer und immer nur in dem Rahmen
eines engbegrenzten Horizonts uns
bewußt werden; die Consequenzen,
welche auS den erlebten und gegenwärtigen Eindrücken folgen, können wir nur in sehr mangelhafter Weise voraussehen.
Unsere Persönlichkeit ist
daher eine höchst beschränkte und höchst unvollkommene SpecieS deS All
gemeinbegriffs Persönlichkeit, weil wir das, was in uns vorgeht, nur in sehr mangelhafter und unvollkommener Weise zur Einheit unseres Be
wußtseins, zu dem eigentlichen einheitlichen Kerne unserer wahren Natur, worin das Wesen unserer Persönlichkeit besteht, zusammenzuschließen ver
mögen.
Diese Mängel sind aber nur Mängel, die derjenigen Art von
Persönlichkeit anhaften, welche unS zu Theil geworden ist,
Mängel,
welche den Begriff der Persönlichkeit in uns beeinträchtigen, nicht aber constituirende Momente dieses Begriffes.
Die End
lichkeit und die Unvollkommenheiten des MenfchwefenS beruhen nicht in
dem, was den Begriff der Persönlichkeit im Bkenschen constituirt, sondern
allein in der mangelhaften Entwickelung dieser die Persönlichkeit in unS bedingenden Eigenschaften, welche mangelhafte Entwickelung bewirkt, daß unser Wesen nicht ganz Einheit und Persönlichkeit, sondern zum großen Theil Zerfahrenheit ist, daß der Persönlichkeitsleim in lins nicht
voll zur Reife gelangt.
Eine konsequente Steigerung des Begriffs der
Persönlichkeit hilft jene Mängel und Unvollkommenheiten, welche nur den menschlichen Persönlichkeiten
anhaften, schrittweise beseitigen und die
höchste denkbare Stufe der Entfaltung dessen, was das Wesen der Per
sönlichkeit ausmacht, führt zu dem Begriffe der vollkommenen Persönlich keit, welche von allen jenen Mängeln frei ist und nur Gott eignet.
Ein Blick in das Leben wird sofort die Richtigkeit dieser Behauptung wenigstens für die unteren Stufen des Persönlichkeitsbegriffs bestätigen.
Je mehr es einem Menschen gelingt, alle Vorerlebnisse festzuhalten, je weiter sich seine Erfahrungen ausbreiten und je konsequenter er alle er
lebten Eindrücke fach- und zweckgemäß mit einander zu verbinden, je fester
er mithin alle Phasen seines Lebens im Bewußtsein zur Einheit seiner Persönlichkeit zusammenzuschließen vermag, um so höher steigert und ent wickelt sich in ihm der Begriff der Persönlichkeit, um so mehr wird er
befähigt sein, die menschlichen Schwächen zu meiden,
sein Wollen und
Handeln seiner wahren Bestimmung gemäß einzurichten, um so geschickter wird er sein, alle Nach- und Borgedanken, welche die Bedürfnisse der
Gegenwart erfordern, fehlloS und sicher zu erreichen und bei seinen Ent schließungen zu berücksichtigen, um so mehr wird er die Schranken von
Zett und Raum überwinden und daS Vergangene und Zukünftige in eine
concentrirtere, inhaltreichere Auffassung der Gegenwart vereinigen. Ein Blick ferner auf den Gedankenkreis, den wir in unS anregen,
wenn wir uns die Idee Gottes veranschaulichen wollen, wird daS Gesagte auch von oben her ergänzend bestätigen.
DaS Bedürfniß der Erklärung der Wechselwirkungen aller Einzel wesen führte zuerst von theoretischer Seite her mit Nothwendigkeit zur
Aufstellung des Begriffs eines höchsten Wesens, welches als der reale Grund
aller Einzelwesen gedacht werden mußte.
Die Wechselwirkung
konnte nur darin bestehen, daß jede Veränderung deS einen Wesens a zu
gleich als eine Bewegung des ganzen WeltgrundeS gedacht wurde, welche
vermöge der Einheitlichkeit dieses in allen übrigen Momenten dessen FürsichseinS schwächer oder stärker wiederklingend die correspondirende Veränderung in b bewirken mußte.
Diese Annahme hat zur Voraus
setzung, daß daS höchste Wesen sich nicht nur aller Momente seines Für sichseinS, gleichzeitig bewußt, sondern, daß ihm auch alle kausalen und
teleologischen Beziehungen aller gleich offenbar und gegenwärtig seien, denn nur daraus ist erklärlich, daß jedem Grunde seine Folge, jeder Ur sache ihre Wirkung in den wechselwirkenden Einzelwesen folge, nur daraus
ist ein kausaler und teleologischer Zusammenhang alles Geschehens über
haupt erklärlich.
Nur dadurch kann Gott über Zeit und Raum erhaben
gedacht werden, daß er alle Momente deS Geschehens für sich im Ganzen und in allen Einzelwesen in der Einheit seines Bewußtseins zusammen
schließt, allen gleich nahe und in allen gegenwärtig.
Nur daraus ist seine
Allgegenwart, seine Allmacht, seine Allwissenheit und Allweisheit erklärlich,
nur daraus seine Allgüte und Allliebe, durch welche Prädicate man sich
gewöhnlich das Wesen Gottes zu veranschaulichen sucht, nur daraus die
Einheit deS Weltzwecks und dessen unbedingter Werth.
Also auch von
oben herab kommen alle Anhaltspunkte, welche das Leben und die Wissen
schaft zur Feststellung des Gottesbegriffs liefern, darin überein, daß nur die Idee vollkommener Persönlichkeit den Anforderungen, welche wir an jenen Begriff stellen, genügen können.
Aber alle die bisher erwähnten Anhaltspunkte zur Feststellung deS Gottesbegriffs bilden in ihrer Gesammtheit doch nur ein dürftiges Ge
rippe, sie enthalten eine Reihe formaler Anforderungen, welche sich zwar in dem EinheilSgedanken absoluter Persönlichkeit Gottes theoretisch zu
sammenschließen und zu einem selbständigen Begriffe abrunden, diesem Begriffe fehlt doch
aber
die ganze Hauptsache, der lebendige Inhalt, welcher die Heiligkeit Gottes und den unbe noch
dingten Werth deS Weltzwecks begründen soll, vermöge deren
Gott
für
uns
erst zum
Gegenstände
der Verehrung
und
Anbetung
werden kann.
Ich habe schon erwähnt, daß die letzten Inhalte der Begriffe, in
denen sich unser Denken bewegt, nur im Gefühl erlebt werden, nicht aber sich vollständig in Begriffsform übersetzen lassen können.
fühl erst offenbaren sich die Inhalte, die Werthe deS Lebens.
Im Ge
Das Denken
dient nur dazu, diese Inhalte in daS richtige gegenseitige Verhältniß zu setzen, dieselben zu vergleichen, zu verbinden, und durch diese und alle
sonstigen Denkprocesse die relative Bedeutung jener zu ermessen, und zu den Zwecken unseres Lebens den richtigen Gebrauch von ihnen zu machen.
Die nur erlebbaren Inhalte selbst, alle Momente deS Empfindens, Füh lens und Wollens können nur dadurch Gegenstand der Mittheilung werden,
daß wir den Anderen durch Nennung der Namen, mit denen sie bezeichnet werden, auffordern, jene inhaltlichen Momente deS Lebens selbst in sich nachzuerzeugen
oder sich ihrer zu
erinnern und dadurch
werden, waS wir mit jenen Namen meinen.
erst inne zu
So ist eS mit den einfachen
sinnlichen Empfindungen, so mit all den unabsehbar verschiedenen stets für sich specifisch bestimmten Gefühlen, welche in den mannigfaltigsten
Combinationen und Formen, meist verbunden mit sinnlichen Empfindurigen und Bildern, und gleichsam in daS Gewand dieser gehüllt, die wahren
Inhalte aller unserer Begriffe von Dingen und Ereignissen und unserer
wechselnden Beziehungen zu diesen bilden, welche eben durch ihre specifisch
bestimmte inhaltliche Natur all unseren Vorstellungen erst Leben und Farbe
geben.
Stellen wir un- z. B. eine geliebte Person vor und überlegen,
worin unser Interesse an derselben besteht, so ist eS nicht die Begriffs form, in der wir sie auffaffen, nicht das System der Linien, in das wir
ihre Gestalt zusammenfassen, waS uns zu derselben hinzieht; eS sind viel mehr die mannigfachen Gefühle der Werthschätzung und Theilnahme, welche
ihr eigenartig specifisches Leben in uns erweckt, daS wir unter der Hülle
jener Begriffsform und Gestalt voraussetzen.
Es ist das eigenartig spe
cifische Leben, welches alle einzelnen Merkmale des Begriffs Mensch grade in diesem Individuum auf besondere Art bestimmt und in den Linien
seiner äußeren Gestalt nur wiedererscheint, welche- alle Lebensmomente grade dieses Individuums, all sein Fühlen, Wollen und Denken, die Art
seines Benehmens nach
allen Richtungen hin charakteristisch bestimmt.
Die Totalität dieser Gefühle, unzertrennbar freilich verknüpft mit
den Formen der Begriffe und Vorstellungen, welche daS Bild jener Person constiluiren und gehüllt in daS Gewand der sinnlichen Empfindungen, in
denen jenes Bild uns äußerlich erscheint, ist der lebendige Inhalt dessen, was die Erscheinung jener Person belebt, wenn sie uns begegnet, was
den wahren, nur erlebbaren Inhalt ihrer Vorstellung bildet, wenn wir sie unS in der Erinnerung vergegenwärtigen. So verhält sichS nicht nur mit den Personen, mit denen wir ver
kehren, sondern mit allen Dingen, welche unS umgeben und daS Bild einer uns umgebenden Außenwelt zusammensetzen, so mit allen BegriffS-
complexen, in welche wir jene Dinge und die Ereignisse des Lebens zu
sammenfassen, so auch mit unserer Auffassung des Weltganzen, des Welt-
zweckS, so endlich mit unserer Idee des höchsten Wesens. Der Begriff dieses höchsten Wesens
würde leer und in
haltlos bleiben wie die Begriffsform und Gestalt eines uns
gleichgültigen fremden Menschen, wenn wir nicht den Inhalt
dessen, waS wir in ihm vorstellen, bestimmte Art erleben könnten.
im Gefühl auf specifisch
In der That ist dieser Inhalt und
solches Gefühl mehr oder weniger ausgeprägt in jeder Menschenbrust vor
handen; eS ist vorhanden nicht nur gleichwerthig neben den sonstigen Gefühlen und Empfindungen, welche unseren Gesichtskreis füllen, sondern
eS überstrahlt alle anderen, eS ist die wahre Lebenssonne, welche
allen anderen Inhalten unseres Gesichtskreises erst Licht, Leben und Farbe giebt; eS ist der concentrirteste Inhalt unseres Lebens, der wahre JnhaltS-
stamm, aus dem alle anderen Lebensinhalte hervorwachsen, von dem sie gewissermaßen ihre Jnhaltlichkeit zu Lehen tragen. Preußische Jahrbücher. Bd. XLVIII. Heft 6.
41
Um den specifischen Charakter dieses Gefühls, oder vielmehr dieses
ComplexeS von Gefühlen, welcher den Begriff des höchsten Wesens in uns erst belebt und
zu der Idee deS lebendigen Gottes steigert,
näher zu bestimmen, knüpfe ich an die Aufschlüsse an, welche uns die Ver deutlichung des wahren Wesens der verantwortlichen Freiheit offenbarte. Wir fanden, daß die unbedingt verpflichtende Kraft der Gebote des
Gewissens in letzter Instanz nur in dem unbedingten Werthe des durch
die Erreichung unserer sittlichen Bestimmung zu fördernden Endziels des gesammten Weltprocesses beruhen könne.
Ueberlegen wir nun, wie eS
möglich fei, daß jenes uns scheinbar so fernliegende Endziel von uns
überhaupt als Werth, wie es möglich sei, daß dieser Werth uns sogar als unbedingter, absoluter Werth gefühlt werden könne?
Suchen wir
uns den specifischen Inhalt dessen zn verdeutlichen, was wir als Unbe dingtheit jenes Werthes eigentlich in uns fühlen und erleben?
Indem
wir diese Frage erwägen und uns das soeben Gesagte vergegenwärtigen, werden wir inne, daß
jene früher zusammengestellten BorauSsetzlingen
der verantwortlichen Freiheit in der That noch weiter nichts als blos
formale Anforderungen dessen zum Ausdruck gebracht haben, was das Gefühl deS Soll in uns begründet.
Wir forderten die Voraussetzung
eine- unbedingten Werthes, ohne anzugeben, worin er bestehe, ohne den
Inhalt dessen anders als nur andeutungsweise zu bezeichnen, was wir eigentlich damit meinten.
Jetzt erst, riachdem wir eine bestimmte Vor
stellung darüber gewonnen haben, wie und wo überhaupt ein letzter End
zweck deS Weltprocesses existent werden könne; jetzt erst, nachdem wir ein gesehen haben, wie ein solcher Endzweck nur in einem lebendigen persön lichen Wesen existent werden könne,
welches den realen Grund aller
Weltwirklichkeit ausmacht, jetzt erst fällt ein Helles Licht in jenen VorstellungSkreiS, der bis dahin nur unklar ausdrückte, was wir nichts beste«
weniger deutlich empfanden.
Wahrhafte Theilnahme können wir nur für das empfinden, was in lebendigen Wesen vor sich geht und von unS als bedeutungsvoll, erhaben und heilig im Gefühl erlebt wird, nicht für die Herstellung irgend welcher
blos factischer Thatbestände von blos formaler Geltung und Bedeutung. Dadurch, daß wir genöthigt wurden, das höchste Wesen, welches den End zweck deS WeltprvcesseS setzt, alö lebendiges persönliches Wesen zu be
greifen, wird eS Licht in unserem Innern.
Ein anderes Gefühl, welches
längst in unS lebendig und wirksam war, kommt uns nun mit einem
Schlage als der noch fehlende Schlußstein unserer ganzen Ansicht ins
Bewußtsein.
Wir erinnern uns des religiösen Gefühls, welches noch
über dem sittlichen Gefühl steht und die Quelle dieses ist, welches dem
bis dahin unklaren und unbestimmten Gefühle deS Soll nun mit einem
Mal feste Richtung, festen Inhalt, Leben und Wärme giebt.
ligiösen Gefühl
Im re
erleben wir den wahren vollen Inhalt dessen,
waS wir mit der Idee des höchsten Wesens meinen, durch das religiöse Gefühl erst verklärt sich der Begriff eines höchsten Wesens zur Idee des lebendigen Gottes. Wir erleben im reli giösen Gefühl, wenn auch nur ahnungsvoll und unbestimmt, so doch in
gewaltiger, erhabener, unser Innerstes mit heiligem Schauer durchdrin gender Tiefe das wahre Wesen des Höchsten, den Inhalt und die Be deutung des Göttlichen.
Wenn auch das Jnnewerden dieses Höchsten uns
blendet wie der Anblick der Sonne, so erfahren wir doch in unsagbarer Seligkeit die belebende und erneuernde Kraft dieses Urquells alles Lichts
und alles Lebens.
Die theoretischen Begriffsradien, welche sich concentrisch
in den aufgestellten Sätzen zum Jnnewerden dieses höchsten Lebensinhaltes vereinigen, beleben sich nun rückwärts durch das nur im Gefühl religiöser
Begeisterung sich vollendende Bewußtwerden jenes Inhalts; es wird Licht in allen Sphären unseres Daseins, der Eigenwerth aller Dinge und Er
eignisse tritt leuchtend hervor in dem Maße, als er durch das Verständniß des Zusammenhangs dieser mit jenem Endzweck alles Lebens erhellt und aufgeklärt wird.
Jetzt erst verstehen wir das Leben, Zweck und Dasein
der Welt, den unendlichen Werth unserer sittlichen Bestimmung, durch
welche wir zu dem Endzweck des Ganzen mitzuwirken bestimmt und ge würdigt sind. Erlebten wir im Gewissen, daß wir moralische Wesen seien, so erleben wir nun im religiösen Gefühl, daß wir göttlichen Wesens sind.
Offenbarte uns das Gewissen die Hoheit deS Sittengesetzes, so lehrt unS das religiöse Gefühl den tieferen wahren Grund jener Hoheit erkennen,
indem es unS die Heiligkeit und Erhabenheit Gottes zum Bewußtsein bringt.
ES offenbart uns, daß wir Gott und dem Ganzen der Welt
nicht kalt und theilnahmlos gegenüberstehen, sondern daß wir in unend licher Liebe mit ihm verbunden sind, der unser ganzes Wesen und das
jenige aller Weltwesen bedingt.
Wir verstehen dies in um so höherem
Maße, je mehr wir unser wahres Dienschwesen erkennen; je edler und
vollendeter wir unser Leben gestalten, um so voller und tiefer durchklingt unS daS religiöse Gefühl, der heilige Born aller Sittlichkeit und Hu
manität, aller wahren Werthe deS Lebens.
Es offenbart uns, daß
der Inhalt deS Weltzwecks die Liebe ist, und daß alle übrigen
Werthe nur diesem göttlichen Urquell alles Lebens entspringen
können, denn nur die Liebe kann als das Gute an sich betrachtet werden.
„Die Liebe indem sie Wirklichkeit hat alS eine Bewegung deS
41*
ganzen lebendigen Geistes, welche sich selbst weiß, sich fühlt und sich will, ist eben deswegen nicht nur eine formale allgemeine Bedingung, unter der irgend einem Anderen, das sie erfüllte, zukäme gut zu sein, ohne daß
sie cS selbst wäre; sondern sie ist das Einzige, das im eigentlichen Sinne diesen Werth hat. oder dieser Werth ist, und alles Andere, Entschlüsse, Gesinnungen, Handlungen und besondere Richtungen des Willens, alles
dies trägt nur abgeleiteter Weise mit ihr denselben Namen des Guten.
Wir, die endlichen Wesen, in einer Welt befaßt, deren Plan unserer Ein sicht nicht offen liegt, können die wohlwollende Liebe nicht unmittelbar in der Hoffnung wirken lassen, daß jede Richtung, die unsere mangelhafte
Voraussicht ihr gäbe, zu dem Gute führen werde, daö sie erstrebt; unS
hält unser Gewissen in einer Mehrheit sittlicher Gebote die allgemeinen
Gesetze vor, nach denen geleitet unser Handeln unter den verschiedenartigen Veranlassungen, die ihm gegeben werden, des rechten Weges sicher ist:
dem göttlichen Wesen steht nicht in gleicher Weise ein an sich Gutes als
ein auch ihm geltendes Gebot gegenüber.
Keinerlei wesenlose, unwirkliche
und dennoch an sich ewig giltige Nothwendigkeit, weder ein Reich der Wahrheiten, noch ein Reich der Werthe, ist früher als das erste Wirk
liche, sondern das Wirkliche, welches die lebendige Liebe ist, entfaltet sich in eine Bewegung, die dem endlichen Erkennen sich in die drei Seiten kräfte des Guten, welches ihr Ziel ist, des Gestaltungstriebes, der eS
verwirklicht, und der Gesetzlichkeit zerlegt, mit welcher dieser die Richtung nach seinem Zwecke innehält*)."
Blicken wir noch einmal auf das Gesägte zurück, so begreifen wir jetzt erst in vollem Umfange, was es heißt: frei zu sein, d. h. mit dem
Gefühle der sittlichen Verantwortung sich nach inneren Motiven zum Wollen bestimmen zu können.
Die wissenschaftliche Analyse dessen, waS
in und mit der Thatsache der menschlichen Freiheit unmittelbar gegeben ist, hat unS darüber aufgeklärt, daß wir es hier in der That mit einer
Grundthatsache alle- Lebens und Erkennens zu thun haben, welche ihre
Wurzeln tief in den Boden deS Allerheiligsten der gesammten Welt wirklichkeit hinabsenkt, mit einer Thatsache, in welcher die Grundlinien unserer sittlich-religiösen Weltansicht fest und
sicher vorgezeichnet
sind.
Wir haben gesehen, daß Freiheit so, wie sie in uns wirklich ist, nur dadurch in uns wirklich sei, daß der ganze Weltproceß auf ein einheitliches Ziel von unbedingtem Werthe gerichtet
ist, und daß wir selbst zur Mitwirkung an diesem Ziele be rufensind, daß ein lebendiger persönlicher Gott, dessen Wesen
*) Lotze: Mikrokosmus Bd. III S- 608.
die Liebe ist, der Grund aller Weltwirklichkeit und also auch unseres eigenen Lebens ist und daß ein aus dem Grunde des
Merheiligsten aller Weltwirklichkeit entspringendes Lebensintereffe von unbedingtem Werthe die normgebeitde höchste treibende Kraft unseres Wesens ist, denn nur daraus kann der characteristische Grund zug unseres freien Wollens, das Gefühl der Verantwortlichkeit,
erklärt
werden.
Die wissenschaftliche Analyse zerstörte nicht, sondern bestätigte und befestigte nur in allen wesentlichen Punkten jene auf dem Boden deS
practischen Lebens und der Geschichtsbetrachtung erwachsene Ansicht, welche daS Vorhandensein der menschlichen Freiheit von jeher als unabweiSliche
Forderung der Humanität hinstellt.
Anstatt das wahre Wesen der Frei
heit zu alteriren, führte sie unS erst zum vollen Verständnisse desselben und überzeugte unS zugleich, daß in der Thatsache der menschlichen Frei heit eine sichere Bürgschaft für die Realität der höchsten Güter deö Lebens, tine Bürgschaft für die Wahrheit derjenigen Vor
aussetzungen gegeben sei,
welche die sittliche und religiöse
Grundlage unseres Lebens bilden.
Im Wollen besteht die active progressive Seite unseres Lebens, im freien Wollen tritt unser wahres
specifisches autonomes Menschwesen
hervor, in ihm entwickelt sich unser Leben, schreitet eS vorwärts, greift eS
selbstthätig ein in den Lauf der Ereignisse, auf ihm beruhen alle positiven
Werthe des Lebens, alle Moral, alles Recht, alle Religion, weil alle durch die freie Selbstentwickelung des Individuums, durch die
selbständige, verantwortliche Lebensführung bedingt sind. Wären wir in all unserem Handeln determinirt, so wären wir nicht Merischen, sondern Automaten.
Wir wären dann nur passive Zuschauer
eines Lebens, welches in uns und nicht von unS gelebt würde — oder
vielmehr, nicht eines Lebens, sondern eines blinden mechanischen Processes. Unerklärt blieben das Gewissen, die Reue, alle Gefühle der Befriedigung,
Hoffnung und Sorge, welche durch den activen Lebensproceß deS verant wortlichen Wollens bedingt sind.
Alle Religion, alle Moral, alles Recht
würden zu bloßen Namen ohne Inhalt, denn eS ist vergeblich, diese Grund pfeiler aller menschlichen Ordnung auf ein anderes Fundament zu stellen als auf die menschliche Freiheit. (Fortsetzung folgt.)
Hugo Sommer.
R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807-1815. (Schluß.) Am 8. Januar fand die Antrittsaudienz bei Napoleon statt.
„Im
Allgemeinen hat mich der Kaiser" — schreibt der Prinz Tags darauf an
seinen königlichen Bruder — „mit Güte ausgenommen und mir im Laufe der Unterredung mehr als ein Zeichen seiner persönlichen Gunst gegeben." Von einer mehr als höflichen Aufnahme konnte freilich keine Rede sein.
Für die patriotische Begeisterung, mit der der lebhaft erregte preußische
Prinz die Leiden seines Vaterlandes schilderte und Napoleon beschwor denselben ein Ende zu machen, hatte der
ein Verständniß.
letztere kein Mitgefühl, kaum
Und als der Prinz schließlich, in einem letzten Versuch
an die Großmuth des Kaisers appellircnd, sich selbst als Geißel für die getreue Erfüllung der von seinem Lande übernommenen Pflichten anbot,
schien allerdings Napoleon einen Augenblick von so viel Heroismus be
troffen, an dem endlichen Resultat der Unterredung wurde dadurch nichts
geändert.
Die Mission, an welche
Friedrich Wilhelm III.
und
seine
Räthe so große Erwartungen geknüpft hatten, konnte als gescheitert be trachtet werden.
Denn die Verweisung des Prinzen an den Minister des
Aeußern Champagny war völlig nichtssagend, da dieser nur wieder an
Daru in Berlin als
den eigentlichen Bevollmächtigten und Vertrallten
Napoleons in der Kriegsentschädigungs-Angelegenheit verwies.
Weitere
Audienz bei Napoleon zu
erlangen,
Versuche des Prinzen, eine neue blieben erfolglos.
Nur daS eine glaubte Prinz Wilhelm aus all den
halben Andeutungen und versteckten Winkelzügen der französischen Mi nister entnehmen zu dürfen, daß nämlich dem Verhalten Napoleons Preußen
gegenüber eine ganz bestimmte Absicht zu Grunde lag und zwar die be
reits
oben erwähnte Rücksichtnahme auf die von Rußland der Türkei
gegenüber befolgte Politik, namentlich soweit dabei die dauernde Besetzt haltung der Donaufürstenthümer in Frage kam.
Es war deutlich: Na-
poleon wollte sich Preußens, wenigstens eines Theils desselben als ComprnsationsmittelS bedienen, falls Rußland seine orientalische Politik eigen
mächtig durchkreuzen wollte.
Noch ein anderer Umstand trat hinzu, ihn
in seinem Hasse gegen Preußen zu bestärken: die Sympathie, welche sein
Todfeind England der unglücklichen Lage des preußischen StaateS in zahl reichen Aeußerungen der Presse entgegentrug,
obschon der letztere die
diplomatischen Beziehungen mit dem Jnselreich vollständig abgebrochen
hatte.
Gerade an dem Tage, an dem Prinz Wilhelms erste Audienz in
den Tuilerien statthatte, war in dem Journal de l’Empire die Uebersetzung der Declaration erschienen, die das Cabinet von S. JameS, unter Bezeugung tiefer Sympathie für daS von Rußland aufgeopferte Preußen,
als Antwort auf die russische Kriegserklärung veröffentlicht hatte.
In
zornigen Worten machte Napoleon gegenüber dem Prinzen seinen Haß
gegen England, seinem Mißtrauen gegen Preußen Luft.
„Er werde sich
nie auf Preußen verlassen können, er wisse sehr gut, daß alle Preußen
ihn haßten; allenthalben breche diese Empfindung durch, jedekl Tag er halte er davon neue Beweise aus aufgefangenen Briefen.
Eine Regie
rung, die nicht einmal Herr der öffentlichen Meinung zu werden und sich
im eigenen Staate nicht Gehorsam zu verschaffen wisse, könne ihm nie mals Zutrauen einflößen: immer werde er gezwungen sein, gegen Preußen
unter den Waffen zu stehen und eine hinreichende Truppenmacht in der
Nähe von Berlin in Bereitschaft zu halten." wieS
Mit ähnlichen Argumenten
er auch das Bündniß Preußens zurück:
die Allianz
mit einem
schwachen Staate sei ohne Nutzen für ihn.
Die hinhaltende Politik Napoleons äußerte sich namentlich auch in
der Frage der militärischen Räumung der preußischen Provinzen.
Am
7. Dezember war endlich die letzte der Elbinger Conventionen unterzeichnet worden, ber Vertrag wegen der Grenzen des neuen Freistaats Danzig. Auch hier ließen eS Napoleon und seine Creaturen natürlich nicht an Akten
der brutalsten Gewaltthätigkeit fehlen.
Schon früher hatte es Soult
durchzusetzen gewußt, daß das Wort Heu nicht in französischem, sondern
in deutschem Sinne gefaßt und für den französischen Schutzstaat dadurch
ein doppelt so großes Territorium, worden war, gewonnen wurde.
als im Tilsiter Frieden festgesetzt
Jetzt wurde diese Grenzlinie noch einmal
um ein bedeutendes dadurch weiter hinausgeschoben, daß nicht die Enceinte,
wie dies der Frtedensvertrag wollte, sondern die Außenwerke als Aus
gangspunkt der Berechnung angenommen wurden.
Die Räumung des
rechten Weichselufers machte Soult von der sofortigen Zustimmung Preu
ßens zu diesem neuen Gewaltakt abhängig, ja — setzte er drohend hinzu
— er toejbe bte Leiben Preußens wie einen Schneeball anwachsen laffen.
R. Hassel, Geschichte der preußische» Politik 1807—1815.
572
wenn ihm der König nicht rasch zu Willen handele. nach.
Und der König gab
Trotzdem aber blieben noch mehrere französische Regimenter auf
dem rechten Weichselufer zurück.
Doch wurde die Räumung Ostpreußens
jetzt wenigstens soweit bewerkstelligt, daß der König seine Residenz Mitte Januar von Memel nach Königsberg verlegen konnte.
Im Uebrigen stockten die Verhandlungen mit Frankreich.
Napoleon
wollte erst einmal abwarten, welchen Eindruck sein neuester Plan eines Eintausches Schlesiens gegen die Ueberlassung der Donaufürstenthümer an Rußland auf Alexander machen würde.
Er hatte die bezüglichen Eröff
nungen bereits in Paris gegen den neuernannten russischen Gesandten
Tolstoi gemacht;
jetzt
ließ er sie durch seinen Botschafter Savary in
Petersburg wiederholen.
Wie vorauszusehen war, lehnte Alexander das
Angebot weit ab; mit einer Art von sittlichen Entrüstung, die seine ohne
dies sympathische Persönlichkeit gut kleidete, erklärte er dem französischen Gesandten, daß er lieber die türkischen Provinzen niemals besitzen wolle, als daß er dulde, daß dem preußischen Staate auch nur ein Dorf ent
rissen werde.
In doppelter Beziehung wird man berechtigt sein, dieser
Aeußerung Alexanders keinen allzu großen Werth beizulegen.
Einmal
dachte er nicht an eine Aufgabe seines Plans einer Erwerbung der Donau
fürstenthümer, ja dieser Gedanke ist einer der wenigen festen Punkte in der unruh- und wechselvollen Politik dieses Fürsten, der hauptsächlichste Kitt gewesen, der ihn an Napoleon festhielt;
andererseits lag der Ab
lehnung einer neuen Beraubung Preußens weit weniger ein wirkliches
Mitgefühl für die unglückliche Lage des ehemaligen Bundesgenossen, als vielmehr die sehr reelle Befürchtung vor
einer dadurch herbeigeführten
nächsten Nachbarschaft mit dem gefährlichen Gegner zu Grunde.
Schon
die Errichtung eines selbständigen HerzogthumS Warschau hatte Alexander
mit tiefem Unbehagen erfüllt: denn dachte Napoleon dabei auch nicht an eine politische Restauration des alten Polenreichs — wie alle Menschen
und Völker, die jemals ein Gegenstand seines CalculS gewesen sind, war
ihm auch Polen und die phantastisch-leidenschaftlichen Bestrebungen seiner Führer lediglich eine Rechnungsziffer in seinen gigantischen Weltumstür
zungstheorien, ein Werkzeug, daS man bei Seite warf, wenn man seiner nicht mehr bedurfte — so lag doch die Gefahr nahe, daß dieser künstlich geschaffene Popanz eines Staatswesens aus sich selbst heraus die Mittel
fand, sich zu einer festeren und dadurch Rußland jedenfalls gefährlichen Gestaltung fortzubilden.
Und wenn nun gar dieses Herzogthum Warschau
durch Zulegung Schlesiens noch einen weiteren Zuwachs nach Westen er
hielt, so lag darin nicht blos eine unmittelbare Bedrohung des russischen Ostreichs, das ja nur dadurch groß geworden ist, daß es ihm gelang,
Polen nach und nach von seiner alten Höhe herabzustoßen und schließlich
zu vernichten, sondern auch eine weitere Stärkung des französischen Ein flusses in den Angelegenheiten des Ostens, deren Leitung Rußland eifer
süchtig zu wahren bemüht war.
„Davoust in Warschau und Schlesien
sind zu starke Bedrohungen für Rußland", hat Alexander später einmal dem französischen Gesandten gesagt.
So hatte Rußland allerdings ein
starkes Interesse daran, daß die Stipulationen deS Tilsiter Friedens auch Preußen gegenüber endlich einmal ihre Verwirklichung fanden, nur daß
dieses Interesse weit weniger von einem Mitgefühl für den unglücklichen
Nachbarstaat, wie Alexander gerne die Welt glauben machen wollte, als vielmehr von der Rücksichtnahme auf die eigene Selbsterhaltung dictirt
Gerade deshalb, weil Alexander bei seinen JnterventionSversuchen
wurde.
für seinen früheren Verbündeten egoistische Nebenzwecke verfolgte, lag die Gefahr eines Scheiterns derselben näher, als wenn er sie mit derselben vertrauensvollen Offenheit und Uneigennützigkeit, die Friedrich Wilhelm III.
ihm stets entgegentrug, betrieben hätte; indem er den Freund an die Fort dauer seines guten Einvernehmens mit Napoleon, ihrer
Interessen glauben ließ, hat
er dem
an die Solidarität
preußischen Staate einen
schweren Schaden beigefügt: die Politik desselben gegenüber dem französi schen Machthaber würde eine völlig andere gewesen sein, wenn seinen Staatsmännern die wahre Stimmung des Petersburger Hofs gegen Na
poleon bekannt gewesen wäre.
Inzwischen war der Stand der Verhandlungen zwischen Daru und der Friedenscommission dadurch ein noch verwickelterer geworden, daß gleichzeitig mit den Kriegsentschädigungsansprüchen Frankreichs auch die
verschiedenartigsten Forderungen anderer Dritter an die preußische Staats kasse von Daru gleichsam unter die Fittiche deö französischen Adlers ge
nommen und wie die eigenen Forderungen behandelt wurden.
Napoleon
hatte durch Daru in Berlin erklären lassen, daß seine Truppen nicht eher
das preußische Staatsgebiet räumen würden, als bis, außer den eigenen Forderungen, auch diejenigen der dermaligen Landesherren in den Preußen
entrissenen Gebietstheilen und ihrer Unterthanen ihre Befriedigung ge funden hätten.
ES waren die fränkischen Fürstenthümer, die zu dem
Königreich Westfalen geschlagenen Gebiete jenseits der Elbe und vor allem
die Landestheile polnischer Nationalität, die jetzt das Herzogthum Warschau bildeten,
auf welche die Reclamationen des Intendanten sich
bezogen.
Friedrich Wilhelm III. hatte aus letchtbegreiflichen Gründen eine getrennte Behandlung dieser beiden Kategorien von Forderungen gewünscht, aber nur die fränkischen Fürstenthümer hatten noch so viel alte Anhänglichkeit bewahrt, daß sie in eine direkte Verhandlung mit der preußischen Re-
574
R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.
gierung eintraten; alle übrigen hatten ihre Ansprüche unter französischen
Schutz und Vermittlung gestellt.
Allen voran die Polen.
Es ist kaum
zu glauben, welche Rechtstitel, Ansprüche und Vorwände jetzt hervorge
sucht wurden, um dem ohnedies schon völlig erschöpften Staatssäckel die Daumschrauben aufzusetzen.
Da kamen z. B. die Theilnehmer des Auf
standes von 1794 und verlangten von ihrem früheren Souverain die Wiederherausgabe nicht nur ihrer confiscinen Güter, sondern auch der
durch richterlichen Spruch verwirkten Strafgelder.
Da verlangten die
polnischen Grundbesitzer die theilweise Wiedervergütung der von ihnen gezahlten Steuern, indem sie bchaupreten, daß ihnen die preußische Re
gierung bei der Besitzergreifung Südprcußens 1793 und 1-795 die Nicht erhöhung der altpolnischen Ofiara feierlich gewährleistet habe, während
in Wirklichkeit ein solches Versprechen nicht bei der Besitzergreifung, son dern erst später und nur mit dem Vorbehalt gegeben worden war, daß zuvor eine Regulirung der Ofiara nach stattgehabter Aufstellung eines
neuen Katasters vorgenommen worden sei, da jene ein Hohn auf jede billige Ausgleichung der Steuerlast sei.
Jetzt stellte Daru Namens seiner
polnischen Committenten die ungeheure Forderung, daß Preußen denjenigen Steuerbetrag, der sich aus der Differenz der Ofiara und des preußischen
Katasters ergab, herausgeben solle.
Die sächsische Regierung in Warschau
reclamirte die beim Ausbruch des Krieges von 1806 in den öffentlichen
Kassen deS jetzigen Herzogthums Warschau befindlich gewesenen Bestände, die städtischen und ländlichen Communen forderten Ersatz für die von der
preußischen Regierung während des Krieges
ausgeschriebenen Natural
lieferungen; selbst für die Requisitionen deS russischen HeereS, von denen ein Theil unbezahlt geblieben war, verlangten sie nachträglich Schadlos haltung von Preußen.
Mehr als hundert Millionen wurden auf diese
Weise allein auS Polen von Daru der preußischen Schuld zur Last ge schrieben.
Nach den preußischen Forderungen an die im Tilsiter Frieden
abgetretenen Gebietstheile fragte Niemand.
Die preußische Bank, die
Seehandlung, die allgemeine Wittwenkasse, das Potsdamer Waisenhaus und zahlreiche andere weltliche und geistliche Institute,
die theils vom
Staate ressortirten, theils selbständige Korporationen waren, hatten vielfach Capitalien ans den polnischen Gütern hypothekarisch eingetragen, und wir werden sehen, wie Napoleon späterhin, ohne nur einen Augenblick darüber Gewiffenöscrupel zu
hegen,
mit einem
Federstrich diese Forderungen
wenigstens für die berechtigten Inhaber aus der Welt schaffte und dadurch zahllose Existenzen vernichtete oder an den Bettelstab brachte.
Und gerade jetzt mußte ein von Canning dem neuzusammengetretenen
Parlament vorgelegtes Exposs über die auswärtige Politik, in dem Preußens
mit warmer Sympathie gedacht ward, neues Oel in das Feuer des Hasses gießen, den der Imperator gegen den preußischen Staat hegte.
Preußen
sollte — so drohte Napoleon in einer im Moniteur abgedruckten Antwort — die ihm von seinem Todfeinde
entgegengebrachte Theilnahme und
Hochachtung schmerzlich büßen.
Und dem Erbprinzen von Mecklenburg-
Strelitz sagte er tiefergrimmt:
„wie kann ich mich auf das preußische
Gouvernement verlassen, nach allem, waö ich gesehen habe! seinen Sitz wieder in Berlin nimmt,
Wenn eS
wird eS Intriguen gegen mich
spinnen, seine Häfen werden den Engländern geöffnet werden, und ich kann nicht immer eine Armee dagegen in Bereitschaft halten."
ES war
in jenen Tagen, wo er zum ersten Male von einer Reduction der Armee
sprach, die er dem König auferlegen werde:
denn solange Preußen eine
starke Truppenmacht unter den Waffen habe, werde immer die Neigung
zum Kriege gegen Frankreich vorhanden sein. Gegenüber einer solchen Sachlage ließ eS sich Prinz Wilhelm aufs eifrigste angelegen sein,
langen.
eine nochmalige Audienz bei Napoleon zu er
Der Kaiser hatte nach dem resultatlosen Verlauf der
ersten
Audienz eS geflissentlich vermieden, mit dem Prinzen persönlich zusammen zutreffen,
obschon er ihn sonst mit ausgezeichneter Aufmerksamkeit be
handelte.
Nicht nur zu den großen Hoffestlichkeiten, sondern auch zu den
kleinern Gesellschaften, unter denen namentlich die Soireen bei der Königin Hortense und der Großherzogin von Berg die Elite der Pariser vor
nehmen Welt vereinigten, hatte er Einladungen erhalten, allerdings mit
dem Vorbehalt, daß er unaufgefordert sich jedes politischen Gesprächs zu enthalten habe.
Seine ernste, gemessene Haltung, der schwermüthige Aus
druck, der sein jugendlich schönes Antlitz überschattete, trugen ihm in den
Gesellschaftskreisen der französischen Hauptstadt allenthalben die lebhaftesten Sympathien ein.
das ihm
Jetzt ertrug seine Vaterlandsliebe nicht länger mehr
auferlegte Schweigen.
Aus der Heimath waren Nachrichten
neuer arger Bedrückungen seitens der französischen OccupationStruppen
angelangt.
Ganze Wälder waren für die französische Marine devastirt,
der Pferdestand auf den ländlichen Gütern durch zwangsweise Aushebung der Remontepferde für die französische Cavallerie furchtbar herabgebracht worden.
Endlich, am 23. Februar, glückte eS dem Prinzen, eine zweite
Audienz bei Napoleon zu erlangen.
Ganz im Gegensatz zu seiner bei
der ersten Audienz beobachteten Reserve erging sich Napoleon diesmal über seine Pläne und Absichten Preußen gegenüber.
„Die Erledigung Eurer
Angelegenheiten" — äußerte er sich auf die lebhaften Klagen des Prinzen über die trostlose Lage seines Vaterlandes — „hat ihren Platz unter den
großen Combinationen der allgemeinen Politik, die sich demnächst entfalten
R Hassel, Geschichte der preußische» Politik 1807—1815.
576 werden.
ES handelt sich nicht um eine Geldfrage, sondern um eine Frage
so
der Politik; und
beruht die Schwierigkeit auch nicht auf
Millionen mehr oder weniger.
einigen
Ich will meine Versprechungen erfüllen,
daß auch die Anderen die ihrigen erfüllen.
— da ist es billig,
Der
Tilsiter Friedensvertrag mit Preußen ist abhängig von dem Vertrage, der mit Rußland unterzeichnet wurde.
Die Russen aber fahren
fort, die
Moldau und Wallachei besetzt zu halten; ihr Friede mit den Türken ist
Hiervon sowie von der Gestaltung der allgemeinen
noch nicht geschlossen.
Die einzige Con
Angelegenheiten hängt die Räumung Preußens ab."
cession, die Napoleon machen wollte, bestand in der Erklärung, er werde seine Truppen aus den preußischen Landen zurückziehen,
Alexander seinen
Verzicht
sobald Kaiser
auf die Donaufürstenthümer ausspreche
—
woran freilich bei den bekannten Gesinnungen desselben nicht zu denken war.
Am Hofe zu Königsberg einer optimistischeren Auffassung
gab
man sich trotz alledem noch immer
der Dinge hin.
Namentlich war es
Stein, der merkwürdig genug von dem Aufenthalt des Prinzen Wilhelm in Paris das Beste erwartete und daher nicht müde wurde, den möglichst
engen Anschluß
an Frankreich
künftige bessere
Gestaltung
als den einzig richtigen Weg für eine
der Verhältnisse anzupreisen.
Die ganze
Staatsverwaltung sollte nach seiner Meinung nach französischem Muster umgestaltet werden, um dadurch auch äußerlich das freundschaftliche Ein vernehmen mit dem westlichen Kaiserstaate anzudeuten.
Als solche noth
wendigen Reformen benennt er die Bildung eines Staatsraths neben den
Ministern, für die Provinzen Departementalräthe und Umgestaltung der alten Landstände,
Monarchie.
endlich
eine Repräsentativverfassung
für die ganze
Um die gute Meinung des Imperators auch durch persön
liche Aufmerksamkeiten zu gewinnen, schlägt er dem Könige vor, bei der bevorstehenden Entbindung der Königin dem Kaiser oder der Kaiserin die
Pathenstelle anzutragen.
Hier aber stieß er auf deu hartnäckigen Wider
spruch Friedrich Wilhelms III.
Wie dieser Fürst überhaupt mit seltener
Zähigkeit an den traditionellen Anschauungen der alten Zeit mit ihrer Auffassung von den Begriffen deS Rechts und der guten Sitte festhielt, so war er namentlich niemals auch nur zu der leisesten Nachgiebigkeit in
dem zu bewegen, was er unter fürstlicher Würde verstand.
Angesichts des Stillstands, der in den Verhandlungen zwischen Daru
und der Berliner Friedenßcommission herrschte, rieth Sack — und es ist dies gewiß ein glänzendes Zeugniß für seine opferbereite, uneigennützige
Vaterlandsliebe
—
Berlin zu entsenden.
zur Weiterführung der Unterhandlung Stein nach Der gleiche Patriotismus ließ den letzteren ohne
langes Schwanken sich einer der dornenvollsten und schwierigsten Aufgaben
unterziehen, die jemals den Fähigkeiten und dem Charakter eines Staats mannes gestellt worden sind.
Eine Schreckensnachricht aus Petersburg
brachte noch jede etwa vorhandene Bedenklichkeit zum Schweigen.
Durch
irgend eine Indiskretion war der von französischer Seite trotz der energi
schen Abweisung durch Kaiser Alexander noch immer in Vorschlag gebrachte Plan einer Erwerbung Schlesiens gegen die Ueberlieferung der Donau
fürstenthümer an Rußland zur Kenntniß des preußischen Gesandten Grafen Lehndorf gelangt, der natürlich nicht säumte, seinem königlichen Herrn
unverzüglich weitere Mittheilung zu machen.
So rasch wie möglich mußte
man jetzt in Berlin zum Abschluß zu gelangen suchen, man mußte na
mentlich dort sondiren, was Napoleon im Schilde führe.
Stein die geeignetste Persönlichkeit.
Und dazu war
Mit den weitreichendsten Vollmachten
versehen — der König hatte sich verpflichtet, allen Abmachungen seines
Ministers, beträfen dieselben die Kriegscontribution oder irgend welche andere streitigen Punkte, ohne alle und jede Beanstandung die königliche
Sanction zu ertheilen
— reiste Stein am 29. Februar aus Königs
berg ab. Schon am 9. März wurde von Stein und Daru ein Vertragsent wurf unterzeichnet.
Derselbe enthielt im Wesentlichen die preußischen Vor
schläge vom 2. Dezember 1807.
Die Gesammtschuld wird auf 101 Mill,
festgesetzt, abzüglich der seit dem 12. Juli zurückbehaltenen Revenüen und
der auf Abschlag geleisteten Zahlungen oder Naturallieferungen, und sollte mit Baargeld, Wechsel und Pfandbriefe bezahlt werden.
Bis zur Ein
lösung der Pfandbriefe bleiben die Festungen Stettin, Cüstrin und Glogau
im Besitz der französischen Armee, doch wird die Stärke der OccupationS-
truppen nicht mehr als 9000 Mann betragen; nach Zahlung deS ersten Drittels der Contribution soll Glogau, nach Zahlung des zweiten Drittels Cüstrin geräumt werden; binnen 30 Tagen nach erfolgter Ratification des
Vertragsentwurfs räumt die französische Armee daS preußische Staats gebiet.
Freilich war man — wie sich sofort zeigen sollte — noch lange
nicht am Ziele.
Napoleon war weit entfernt, seinerseits die Ratification
rasch zu vollziehen, während man in Königsberg unverzüglich daran ging,
die nothwendigen Geldmittel herbeizuschaffen, damit, wenn erst in Paris die Ratification erfolgt sei, der Perfektibilität deS Vertrags von preußi
scher Seite nichts im Wege stehe. Die wichtigste Finanzmaßregel war die Verpfandbriefung der Do
mänen.
Wir haben bereits oben den Plan SteinS kennen gelernt, durch
Vereinigung der Domänen mit den ritterschaftlichen Kreditverbänden in den Provinzen zu einer solidarischen Genossenschaft dem Staate die Theil
nahme an den Rechten jener Affociationen zu ermöglichen.
Denn wenn
R. Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.
578
auch die zu creirenden Pfandbriefe auf die einzelnen Domänen eingetragen
wurden, so sollten doch jene Kreditvereine neben dem Staate eine Haft pflicht übernehmen.
Hiezu sowie überhaupt zu der hypothekarischen Be
lastung der Domänen war nun aber die Zustimmung der einzelnen Pro
vinzialstände nothwendig.
Mit opferfreudiger Bereitwilligkeit wurde jene
denn auch allerseits gegeben.
Der ostpreußische Landtag, zu dem zum
ersten Male die Vertreter des nicht adeligen Grundbesitzes (die sogenannten bewilligte 7 Millionen Thaler,
Kölmer) zugezogen worden waren,
die
Stände der Kur- und Neumark 8, die von Pommern etwas über 3, die Schlesiens etwas über 1 Million Thaler.
Zu diesen 19 Millionen Thlr.
kamen noch 8 Millionen Franken, über die man an baarem Gelde ver
fügte.
Die noch restirenden 22 Millionen Franken hoffte Stein zuver
sichtlich durch
weitere Emission von Pfandbriefen oder durch
größerer kaufmännischer Firmen aufbringen zu können.
Wechsel
Der Kurfürst
von Hessen, von dem man — wie wir gesehen haben — einige Millionen Thaler leihweise erhalten zu können geglaubt hatte, machte das Zustande kommen dieses Geschäfts
von einer
dahin gehenden Zusage Friedrich
Wilhelms III. abhängig, bei den künftigen Verhandlungen des allgemeinen Friedens für die Wiederherstellung Hessens eintreten zu wollen, wie er ein Gleiches auch von Kaiser Alexander erwartete.
Der König seinerseits
zeigte sich nicht abgeneigt, dem Verlangen nachzukommen, und bewirkte auch bei dem Czaren die nöthigen Schritte, dieser aber weigerte die Ueber
nahme irgend welcher für die Zukunft verbindenden Verpflichtungen.
Was halfen freilich alle Abmachungen, so lange dkapoleon der zwischen Dar» und Stein vereinbarten Stipulation seine Genehmigung nicht er theilte.
Und gerade jetzt, wo man am Ende der schweren Trübsal ange
langt zu sein wähnte, erfolgte wie ein Blitz aus heiterer Luft zu Bayonne,
wohin sich Napoleon begeben hatte, um der Entwicklung der spanischen
Angelegenheiten nahe zu sein, der Abschluß jener berüchtigten Convention,
durch welche Napoleon die preußischen Geldforderungen im Herzogthum Warschau in einem Betrage von 18 — 20 Millionen Thalern, nachdem diese schon im Januar unter Sequester gelegt worden waren, dem Könige
von Sachsen gegen eine Abfindungssumme von 20 Millionen Franken zum Eigenthum überwies.
Und damit war eö noch nicht genug.
Am 6. April kündigte Bignon,
der Generaladministrator der Finanzen in Berlin, der Kriegs- und Do
mänenkammer an, daß das französische Gouvernement die Absicht hege, in der Nähe von Berlin ein festes Lager für 25,000 Mann zu errichten,
dessen Bau und Fouragirung die Kammer im Verein mit den märkischen Ständen auf sich zu nehmen habe.
Nicht daß diese Zusammenziehung der
Truppen in ein festes Lager an und für sich gegenüber der bestehenden
Bedrängung als eine weitere Verschlimmerung angesehen worden wäre —
sie mußte sogar im Vergleich mit der bisherigen Verstreuung der fremden Truppen über das ganze Land, namentlich auch mit Rücksicht auf die jetzt einfacher und billiger werdende Verpflegung als ein Vortheil be
trachtet werden —, aber einmal sollte nicht die Gesammtmasse der Truppen, sondern nur die Infanterie und ein Theil der Artillerie die Garnisonen verlassen, der Rest dagegen,
namentlich
die
ganze Cavallerie in den
CantonnementS verbleiben; sodann stand zu befürchten, daß bei der Nähe
der Hauptstadt die Officiere und Beamten der Armee eS vorziehen würden,
ihre bequemen Stadtquartiere nicht mit den Baracken des Lagers zu ver tauschen.
Der Widerstand der Kammer und der Stände gegen die
drohende neue Bedrückung mußte noch dadurch neue Nahrung bekommen, daß gerade in jenen Tagen die erste Aeußerung des französischen Kaisers
auf die Bertragöstipulationen vom 8. März bekannt wurde, die nicht nur
jeden Gedanken an die Wiedererstattung der eingezogenen StaatSrevenuen weit von sich wieS, sondern auch die gesammten Unterhaltungskosten der
französischen Truppen bis zum Tage ihres Abmarsches den preußischen
Kassen aufbürdete.
Demgegenüber blieb den preußischen Behörden Ange
sichts der völligen Erschöpfung des Landes nichts übrig, als den französi schen Forderungen einen zähen passiven Widerstand entgegenzusetzen.
Daru und Bignon ließen sich dadurch nicht irre machen. die Kammer das Ansinnen,
Aber
Sie stellten an
die Erfordernisse im AuSlande anzukaufen.
Die Contracte mit den Lieferanten sollten von den Vertretern der Stände
unterschrieben und der Betrag auf die Provinz vertheilt werden.
Aber
hiezu waren wieder größere Geldmittel oder wenigstens Credit nothwendig, und beide waren nicht vorhanden. drungen, daß
Ganz von der Nothwendigkeit durch
nur noch ein vorsichtiger, aber fester und konsequenter
Widerstand Preußen vom Untergang retten könne, erließ Sack am 12. April
ein Reskript an Kammer und Stände der Mark, worin er sie bei ihrer eigenen Verantwortlichkeit zu unerschütterlichem Festhalten ermahnte.
Er
hatte zu diesem Schritte vorher die Zustimmung SteinS und Gerlachs,
des Präsidenten der Berliner Kammer, eingeholt.
Aber nur
um so
drohender gestaltete sich die Haltung der französischen Machthaber. Am 18. April veröffentlichte Bignon ein neues Dekret, worin er die zwangs weise Ausschreibung der Lieferungen ankündigte, wenn ihm nicht binnen drei Tagen eine willfährige Erklärung von Kammer und Ständen zuge
gangen sein werde.
Im Falle der Weigerung drohte er mit dem Ein
schreiten der Militärmacht.
Aber die Ausschüsse blieben standhaft.
Jetzt
erschien das Publicandum, durch welches die Lieferungen öffentlich auSge-
R. Haffcl, Geschichte der preußischen Politik 1807 -1815.
580
boten wurden, in den Zeitungen.
Auch dies blieb wirkungslos.
Die
Franzosen versuchten nun den Weg einer Verständigung mit einzelnen an gesehenen Fremden.
Die Kammer wurde aufgefordert, eine Liste von fünf
undzwanzig der reichsten Grundbesitzer der Provinz aufzustellen.
wurden nach Berlin berufen und vor die Alternative gestellt,
Diese
entweder
Bürgschaft für die Aufbringung der Lagerkosten zu stellen oder mit ihrem
Vermögen zu büßen.
Die Versammlung lehnte jedes Eingehen auf die
Dar» sah sich zu einer Art Nachgiebigkeit,
französischen Forderungen ab.
allerdings sehr verfänglicher Art, genöthigt.
Er schlug der Versammlung
vor, die Lagerkosten auf ihren Credit zu übernehmen, wohingegen die
Vorschüsse den einzelnen Gläubigern von der Provinz wieder vergütigt
Bei Ablehnung dieses Vorschlags werde er sich an die
werden sollten.
Person der Notablen halten, daS Geld von ihnen eintreiben, eventuell
ihre Güter mit Beschlag belegen. Ein Theil derselben unterzeichnete
Die Versammlung wurde schwankend. allerdings
eine protocollarische Er
klärung, in der der ganze alte Widerstand aufrecht erhalten wurde, ein
anderer aber enthielt sich der Unterzeichnung und suchte behufs einer Ver ständigung mit Dar» die Intervention des den französischen Kreisen nahe stehenden
Fürsten Hatzfeld
zu
gewinnen.
Inzwischen war aber jenes
Schreiben Sacks an Kammer und Stände, worin diese zum zähen Wider
stand gegen die französischen Zumuthungen aufgefordert wurden, in einer Abschrift zur Kenntniß DaruS gelangt.
Seine Wuth gegen den Urheber
desselben kannte keine Schranken, er forderte von Stein die sofortige Ent
lassung Sacks und Stein, der gerade jetzt jede Ungelegenheit mit den
französischen Behörden im Hinblick auf die diplomatische Thätigkeit des Prinzen Wilhelm in Paris möglichst zu vermeiden trachtete, entschloß sich,
wenn auch schweren Herzens, dem Könige die Rückberufung Sacks nach
Königsberg zu empfehlen.
Durch den Abgang Sacks wurde auch das
Haupthinderniß einer Verständigung in der Lagerunterhaltungsfrage be seitigt, um so eher, als Napoleon darin keineswegs das Vorgehen seiner
Beamten billigte.
„Ich bin ganz und gar nicht zufrieden mit dem, was
man in Berlin macht", schreibt er am 21. Mai an Dar».
„Wozu be
durfte eS so vieler Ceremonien, um wenige Divisionen inS Feldlager zu
bringen?
Das Publicum brauchte davon erst zu erfahren, nachdem eS
Ich habe bereits kundgethan, daß eS meine Absicht ist,
geschehen war.
die ArmeecorpS nicht im Ganzen, sondern nach Divisionen ihre Lager be ziehen zu lassen.
Ich wollte daS so, um Europa nicht in Alarm zu setzen
und so wenig Aufsehen wie möglich zu machen.
Kaufcontracte abzuschließen,
Kindereien?"
Wozu war eS nöthig,
Magazine anzulegen und Tausend ähnliche
Freilich bedeutete diese Rüge noch keine Billigung deS
Vorgehens der preußischen Behörden.
Im Gegentheil, in einer Note an
Brockhausen macht Napoleon wieder einmal seinem tiefen Groll gegen Preußen Luft.
Man habe die märkischen Stände verleitet,
mit allen
Kräften dem ftanzösischen Gouvernement entgegenzutreten, indem man ihnen den Widerstand als einen Act der Unterthanentreue hinstellte.
Eine solche
Aufreizung zur Revolte könne dem preußischen Hofe nicht unbekannt ge blieben sein.
Die Regierung
möge
ihre Beamten im Zaume halten,
wenn sie nicht Gefahr laufen wolle, durch herausfordernde Handlungen ähnlicher Art die Dinge soweit zu treiben, daß Napoleon den Friedens vertrag von Tilsit für aufgehobm erkläre.
In
der Lagerversorgungsangelegenheit
war
Steins folgendes Abkommen getroffen worden.
nach
den Weisungen
Aus Mitgliedern der
Kammer, der Ritterschaft und des städtischen BerwaltungSrathS bildete sich eine Commission, welche den Ankauf des Proviants und die Herbeischaffung
der Geldmittel übernahm.
Beinahe sämmtliche Lebensmittel mußten von
Lieferanten besorgt werden;
nur den Bedarf an Fleisch vermochte die
Provinz noch aus ihren eigenen Vorräthen zu decken.
Zur Aufbringung
der Kosten diente eine besondere Lagersteuer, zu welcher die Städte von jeder Feuerstelle, das Land von jedem Gute, jedem Gehöfte, nach dem
Werth des lebenden Inventars oder dem Betrage der jährlichen Aussaat, eine gewtffe Quote zu entrichten hatten.
Statt der Zusammenziehung
der Armeekorps bei Berlin verfügte Napoleon eine Vertheilung in drei
CampementS: zwischen Charlottenburg
und Spandau, bei Neu-Ruppin
und in der Gegend von Havelberg. Inzwischen hatten auch die Constellattonen des politischen Himmels
eine für Preußen günstigere Gestalt angenommen.
Die Zusammenkunft
der beiden verbündeten Kaiser stand in sicherer Aussicht, und von einer
solchen glaubte Friedrich Wilhelm III. die endliche Beilegung der KrtegSkostenentschädigungSfrage und
damit die Befreiung seines unglücklichen
Landes von den französischen OccupationStruppen hoffen zu dürfen.
Dazu
schien eS jetzt, als würde Napoleon ohnedem baldigst genöthigt sein, seine Armee aus dem preußischen Staatsgebiet zurückzuziehen.
Dir Verhältnisse
in Spanien, wo jetzt die bourbonische Dynastie des Thrones
entsetzt
worden war, ließen sich keineswegs nach den Wünschen und Erwartungen
Napoleons an.
Man erwartete allgemein den Ausbruch eines großen
Kampfes auf der Halbinsel und hielt dafür, daß alsdann Napoleon alle feine Streitkräfte nach diesem Punkte werde werfen müssen.
Auch aus
Oesterreich kam Kunde von neuen Zerwürfnissen mit dem französischen Imperator, von der Wahrscheinlichkeit eines neuen Krieges mit demselben.
Der König, Stein, die Minister, alle Patrioten schöpften neue Hoffnung. Preußische Jahrbücher. Bd. XLV1II. Heft 6.
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R. Hassel, Geschichte der Preußischen Politik 1807—1815.
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Die österreichische Regierung suchte, nachdem sie seit dem Tilsiter Frieden
gegen Preußen eine sehr teferbitte Haltung eingenommen hatte, jetzt wieder nähere Fühlung mit dem Königsberger Hofe zu gewinnen.
Die Haltung
Preußens bei einem etwa ausbrechenden Kriege mit Frankreich war schon wegen der schlesischen Festungen, die im Besitz des Königs geblieben waren,
von höchster Wichtigkeit für den Ausgang desselben.
ES war kein Zweifel,
daß die in Schlesien stehenden französischen Truppen
alsbald sich der
Festungen bemächtigen und durch sie gedeckt in Mähren und Böhmen ein Friedrich Wilhelm III. hielt auch die Situation für ernst
brechen würden.
genug,
einen
seiner vertrauten Offtciere, den
Flügeladjutanten
Graf
Götzen, der sich im letzten Kriege durch die Vertheidigung Schlesiens aus gezeichnet hatte, nach Oberschlesien zu entsenden, um hier von Cudowa
aus, wo er sich angeblich der Bäder wegen aufhielt, das Commando über die Festungstruppen zu führen.
Für den Kriegsfall lautete jeine In
struction dahin, die Festungen an keinen der kriegführenden Theile zu
übergeben.
Strikte Neutralität erschien dem Könige Angesichts des trost
losen Zustandes seiner Lande als das einzig Richtige.
Er hielt daran
fest trotz der Lockungen, die an ihn seitens der auf den engsten militäri schen Anschluß an Frankreich hindrängenden französischen Partei in seiner
Umgebung ergingen.
Ihren Wortführer fand diese in dem General von
Zastrow, der im November 1806 gemeinschaftlich mit Lucchesini die vom Könige nachmals verworfenen Charlottenburger Waffenstillstandsbedingungen
ausgearbeitet hatte und der, später mit der interimistischen Führung der auswärtigen Geschäfte betraut, durch seine Unentschlossenheit und Schwäche einen großen Theil der Schuld daran trug, daß die befreundeten Höfe kein
rechtes Vertrauen zu der Politik Preußens zu fassen vermochten.
der König blieb dem einmal erfaßten Princip treu.
Aber
Zu seinen Vorzügen
gehörte ein stilles Sichbescheiden gegenüber dem von ihm als überlegen
anerkannten Verstand und Willen Anderer.
So sehr unter den Männern
der patriotischen Partei ihm gerade die Führer, vor allem Stein, wenig sympathisch waren, er horchte im entscheidenden Augenblicke doch immer nur auf ihre Stimme.
Nun waren allerdings auch diese für einen engen
Anschluß an Frankreich, aber lediglich im Drange des Augenblicks, in der
dadurch ermöglichten Hoffnung besserer Zeiten, für französisches
Wesen, auS
Selbständigkeit des Vaterlandes.
einem
nicht aus Bewunderung
feigen Preisgeben
der Ehre und
In einem Jmmediatbericht Scharnhorsts
vom 13. Mai wird der König gebeten, sich an Napoleon anzuschließen, so sehr dies auch die Gefühle, zumal in einem Kriege mit Oesterreich,
empören würde.
Aber wie sehr würde es der Wahrheit widersprechen,
wenn man im Hinblick auf diese Ausführungen den Vorwurf der Jncon-
sequenz
gegen Scharnhorst erheben wollte.
Seine Thätigkeit in der
Reorganisationscommission für die Armee zeigte, worauf sein unablässiges
Sinnen gerichtet war: jeder neue Entwurf, den er der Commission unter breitete, legte Zeugniß dafür ab, wie sich die monumentalen Grundzüge der preußischen Wehrverfassung in seinem Geiste immer reifer und ziel
bewußter gestalteten, — die Ideen des VolkSheereS, die unter dem ersten Frühlingshauch der Bölkerbefretung zu unvergänglichem Leben erblühen
sollten.
Allein seitdem Napoleon dem Prinzen Wilhelm gegenüber daS
drohende Wort von der Reduction dev Armee, die er dem König aufer legen werde, hatte fallen lassen, seitdem er ihm in maßlosem Hochmuth
die Frage entgegengeschleudert hatte:
wozu braucht der König ein Heer?
lebte man in steter Sorge, daß ein solches Gebot erlassen werden würde,
dem man sich widerstandslos hätte fügen muffen.
Die Armee war der
letzte Rettungsanker des SlaateS: sie mußte man um jeden Preis zu er
halten suchen, selbst wenn man mit zusammengepreßtem Herzen, bis einst
die Stunde der Vergeltung schlüge, die Truppen unter das Joch des ver haßten Siegers gehen ließ.
Nur dürfe — meint Scharnhorst — diese
Verbindung mit dem Sieger keine feste und dauernde sein.
„Geht man
in der Ausführung dieser Allianz zu weit, tritt man mit dem Franzosen in eine engere und nähere Verbindung, so bemächtigt sich Napoleon höchst
wahrscheinlich unserer inneren Angelegenheiten durch seinen Einfluß auf eine Menge feiger, schlechter, oder doch halb schlechter Menschen, die da
durch an'S Ruder zu kommen hoffen, und dann wird so wenig auf die Nation, als auf die Armee gerechnet werden können.
Kommt ein Antrag
von französischer Seite, so bleibt freilich nichts übrig, als ihm in aller Hinsicht entgegenzukommen, sich zu stellen, als wenn man sich glücklich halte, um womöglick unsere wahren Gesinnungen so zu verschleiern, daß sie selbst den auSgelernten Betrügern eine Zeit lang verborgen bleiben."
Und wohin diese Gesinnungen drängten, das zeigen die Worte Scharn
horst'-:
„durch Ströme von Blut haben unsere Vorgänger dem preußi
schen Staat Eigenthümlichkeit und der Nation Ruhm
erworben; wir
würden unwürdige Nachfolger sein, wenn wir das erworbene Eigenthum
muthloS hingeben wollten."
Wir eilen über die nächsten Begebenheiten hinweg, um mit unserm Herausgeber einen vorläufigen Abschluß der Untersuchung zu gewinnen. DaS endliche Zustandekommen der Convention vom 8. September 1808
war in erster Linie durch den Verlauf deS spanischen Krieges bedingt.
Die französischen Truppen hatten weder Saragossa noch Valencia zu be zwingen vermocht, vielmehr bet Bahlen die Waffen strecken müssen;
Madrid hatte geräumt, die französische Armee hinter den Ebro zurückge42*
R- Hassel, Geschichte der preußischen Politik 1807—1815.
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zogen werden müssen.
Nach solchen Unfällen blieb Napoleon nichts übrig,
als seine gestimmten Streitkräfte nach Spanien zu werfen, d. h. Preußen
zu räumen.
Jetzt endlich, am 11. August, wurde dem Prinzen Wilhelm
Aber Napoleon war weit entfernt,
ein Vertragsentwurf vorgelegt.
in
demselben irgend welche Zugeständnisse zu machen, im Gegentheile, die Forderungen wurden jetzt noch um ein beträchtliches erhöht.
194 Mill.
Francs sollten entrichtet, die Oderfestungen Stettin, Cüstrin und Glogau
in der Hand Frankreichs bleiben, die preußische Armee auf 42,000 Mann reducirt werden und die Staatseinkünfte Preußens bis zum Tage des
Abschlusses dieses Vertrags Frankreich zustehen.
Für
den Fall eines
Krieges zwischen Oesterreich und Frankreich habe Preußen Napoleon ein
HülfScorps von 8000,
späterhin
von 16,000 Mann zu stellen.
Alle
Einwendungen des Prinzen und des preußischen Gesandten Brockhausen blieben fruchtlos.
Am 3. September sagte
ihnen Champagny':
„der
Kaiser müsse wissen, ob Preußen Freund oder Feind sei, um dadurch die Bewegungen seiner Armeen regeln zu können.
Nach dieser Correspondenz
— hier legte er einen von Soult aufgefangenen Brief Steins an den Fürsten Wittgenstein vom 15. August vor — sei Preußen Frankreichs
Feind.
Der Kaiser bedürfe hiernach Gewißheit, eines einfachen Ja oder
Nein unter dem Vertrage."
Kaum daß noch einige Tage für die Unter
handlungen, die Herabsetzung der Geldforderung auf 140 Millionen und die Beseitigung eines Steins Entlassung fordernden Artikels durchgesetzt
wurde.
Da Alexanders Zustimmung zu der von Napoleon vorgeschlagenen
Zusammenkunft in Erfurt in Paris bereits eingelangt und bekannt ge
worden war, anderseits Oesterreich sichtbarlich wieder abrüstete, so blieb
dem Prinzen nichts übrig als zu unterzeichnen.
„Es sind sechs Monate"
— schrieb er dem Könige am Tage nach der Unterzeichnung — „daß die Ausfangung der Briefe des Freiherrn vom Stein, von deren Authenticität
ich unglücklicher Weise nur zu sehr Ursache gehabt habe mich zu über zeugen, fast den Untergang der Monarchie zur Folge gehabt hätte.
Heut
vermindern die gegenwärtigen Conjuncturen vielleicht diese Gefahr, aber
sie beseitigen sie nicht.
Bei der ungeheuren Truppenzahl, über welche der
Kaiser verfügt, bleiben ihm immer noch genug, die gewaltsamsten Maß
regeln gegen Preußen ins Werk zu setzen, und der Inhalt der aufgefan
genen Briefe gab ihm sehr ausreichende Mittel, deren Ungerechtigkeit in den Augen seiner Nation, seiner Armee und der Alliirten Frankreichs, ja sogar in denen Rußlands zu beschönigen.
Indem er diesen Briefen einen
officiellen Charakter gab, hätte er sich darauf gestützt, den Vertrag von Tilsit für gebrochen zu erklären.
entfernen hatte."
DaS, Sire, war die Gefahr, die ich zu
Jedenfalls sei durch die Unterhandlung Zeit gewonnen.
die Gefahr zu beschwören.
neue Vorschläge machen.
Der König möge entscheiden, ratificiren. oder Brockhausen fügte hinzu:
„der Kaiser ist auf
daS äußerste erbittert und entschlossen. Alle- an Alles zu setzen.
Ich
hatte die heftigsten Angriffe zu bestehen, um einen Artikel abzuwehren,
der den König zwingen sollte, Stein zu entfernen.
Stein muß Deutsch
land auf einige Zeit verlassen; er darf sich der Gefahr nicht auSsetzen, den Franzosen in die Hände zu fallen."
„Ich habe Briefe aufgefangen;
ich werde schnell sein wie der Blitz", sagte Napoleon einige Tage nach der Unterzeichnung zu Brockhausen,
ersticken.
„jeden AuSbruch bösen Willens zu
Aus den Briefen eines Eurer Minister weiß ich, mit welchen
Gedanken man umgeht, welche Hoffnungen man auf die spanischen Er eignisse setzt.
Man irrt sich; Frankreich besitzt eine so ungeheure Macht,
daß eS überall die Stirn bieten kann.
Ich weiß Alles, ich kenne die
Denkungsart Eurer Minister; eS ist unmöglich mich zu täuschen." Vergebens, daß Friedrich Wilhelm III. den Kaiser Alexander auf seiner Durchreise nach Erfurt in Königsberg um seine kräftige Intervention
bei Napoleon zu Gunsten Preußens anging.
Alexander glaubte lediglich
zu möglichster Nachgiebigkeit gegen Frankreich, zum Anschluß an daS fran zösische System rathen zu müssen.
Mit genauer Noth ließ sich Napoleon
noch zu einem Nachlaß von 20 Millionen von der geforderten KriegScon-
tribution bereden, verweigerte dagegen jede Verlängerung der Zahlungs fristen, die Belassung der Oderfestungen und der Aufhebung der Be schränkung der Stärke der preußischen Armee.
Ebenso hielt Napoleon
SteinS Entlassung fest, und Friedrich Wilhelm III. genehmigte dieselbe,
wenn auch erst nach längerem Zögern und schweren Herzens. Mit der Entlassung SteinS schließt der erste Band unserer Publi
kation.
Posen.
Chr. Meher.
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein. Die Armee, welche König Philipp II. von Spanien im Frühjahr des
Jahres 1567 unter Führung des Herzogs Alba in die Niederlande schickte
war keineswegs bloß dazu bestimmt, den Widerstand der Opposition in
den spanischen Erblanden zu brechen, sondern sie hatte auch die Aufgabe, die tief erschütterte Herrschaft der römischen Kirche in den benachbarten
deutschen Ländern wieder zur Geltung zu bringen.
Wie viel der spanischen Regierung
an der Aufrechterhaltung der
katholischen Kirche gerade an den Gränzen ihrer niederländischen Herr
schaft gelegen war hatte der Krieg Karls V. gegen den Herzog Wilhelm
von Cleve im Jahre 1543 gezeigt.
Der Friedensvertrag von Venlo vom
7. September d. I. legte dem besiegten Herzog
ausdrücklich die Ver
pflichtung auf,
daß er der katholischen Kirche treu bleiben solle.
jülich-clevischen
Territorien
lagen,
nach
Die
dem Ausdruck Herzog Albas,
welchen dieser in einem Brief an den Herzog von Cleve gebrauchte, „derart
gedrängt und vermengt mit den Niederlanden, daß zutragende Gefährlich keiten ohne Eines und des Andern Schaden nicht wohl ablaufen konnten"*).
In der That hatte Herzog Wilhelm, welcher auch im I. 1567 noch regierte, das Versprechen, welches Karl V. ihm abgenommen hatte, inso fern gehalten, als er die neue Lehre nicht formell angenommen und in feinen Ländern publicirt hatte.
Indessen stand er persönlich durchaus
nicht auf dem religiösen Standpunkt, welchen die römische Kirche als den
rechtgläubigen ansah, sondern er billigte nach seinen eigenen Aeußerungen die Augsburgische Confession in manchen Punkten und war von dem
Streben nach einer angemessenen Reform der Kirche, wie sie damals auch *) Die Briefe und Akten, welchen diese Aeußerung sowie das übrige Material zu vor liegendem Aufsatz entnommen ist, werden demnächst als Neunter Band der „Publi kationen aus den K. Preuß. Staats-Archiven" unter dem Titel: „Die Gegenre formation in Westfalen und am Niederrhein, Aktenstücke und Erläuterungen, zusammengestellt von Ludwig Keller" in Leipzig bei S- Hirzel erscheinen.
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
587
von Kaiser Maximilian II. und anderen Reichsfürsten geplant und erhofft wurde, tief durchdrungen.
Er wollte bis zur völligen Trennung von der
alten Gemeinschaft, wie eS Seitens des. LutherthumS geschehen war, nicht vorgehen, vielmehr glaubte er, daß eS möglich sein werde, auf legalem und geordnetem Wege zu einzelnen wichtigen Reformen zu gelangen. Als
Papst PiuS IV. durch die Bulle vom 16. April 1564 dem Kaiser die
Einführung deö LaienkelcheS zugestand, schien eS, als ob die Reform, wie
der clevische Hof sie sich dachte, sogar mit Zustimmung deS Papste- zu erreichen sein werde.
In dieser Hoffnung hatte sich der Herzog dazu bestimmen lassen, für sich und seinen Hof (noch bevor er für seine Länder allgemeine Anordnungen
erlassen hatte) in der Verwaltung deS Gottesdienste- gewisse Neuerungen einzuführen.
Das Sakrament deS Altars wurde
sub utraque specie
ausgetheilt und dem Hofprediger Gerhard VeltiuS gestattet, sich zu ver-
hetrathen.
Dieser Geistliche vermochte die feinen Unterschiede, welche dem
Herzog in Bezug auf die gemäßigte Reformation vorschwebten, nicht ebenso
deutlich zu erfassen und eS wird uns berichtet, daß er bei Hofe ganz im
Sinne der evangelischen Partei.gepredigt habe.
Ja, er setzte eS zuletzt
durch, daß auch die Messe bei Hofe nicht mehr gehalten wurde. ES steht fest, daß der Herzog damals die Absicht hegte, die An
ordnungen wie er sie für sich getroffen hatte, auch für seine Unterthanen inS Leben zu rufen.
Er schreibt darüber am 19. Sept. 1558 an den
Landgrafen Philipp von Hessen, daß er schon längst dasjenige gern habe
ins Werk bringen wollen, „was zur Beförderung der Ehre Gottes dienlich
fei".
Er finde aber leider, daß „der Teufel und die Pfaffen dasselbe nicht
erleiden können", sondern sie sprächen, „solches solle ihm (dem Landesherrn)
nicht gebühren".
Trotzdem wolle er bedacht sein, daß „Gottes Ehre ge
wahrt werde und die Gewissen seiner Unterthanen nicht beschwert würden". Sobald diese Verhältnisse im Lande bekannt wurden, erhob die evan gelisch gesinnte Partei im Lande ermuthigt das Haupt, und da sie die
Majorität der Landstände, deren Einfluß hier ein größerer war alS in den meisten anderen deutschen Territorien, für sich hatte, so ergriff der
Wunsch nach Reformen alsbald die weitesten Schichten der Bevölkerung. Die Form, unter welcher die Unterthanen sich die Vollziehung der Neu gestaltung dachten, war natürlich fast überall nicht mit den Plänen deS
Herzogs, sondern mit den evangelischen Grundsätzen übereinstimmend und wenn auch in den Gemeinden deS Landes einstweilen der vollständige
Uebergang zu dem Ritus der neuen Lehre noch nicht stattfand, so vollzog sich doch langsam der Austritt aus
der katholischen Kirche im
Gebiet der niederrheinischen Gegenden.
ganzen
588
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
ES lag in der Natur der Dinge, daß beim Ausbruch der religiösen
Kämpfe in den Niederlanden sich rasch eine Art von Cooperation der kirchlichen Opposition diesseits wie jenseits der spanischen Grenze gegen
die Unterdrücker des Evangeliums einstellte.
Die Hauptstädte der cleve
märkischen Länder, besonders Wesel und Duisburg, aber auch Emmerich, ReeS, Xanten u. A. empfingen
die spanischen Flüchtlinge mit offenen
Armen, unterstützten die Bewegung, an deren siegreichem Vordringen sie ja selbst lebhaft betheiligt waren, mit Geld und Gut, stellten den Führern
ihre junge Mannschaft zur Verfügung und waren mit einem Wort die Stützpunkte der Aufständischen.
ES hieß damals ganz allgemein in den
Niederlanden, daß Herzog Wilhelm von Cleve die Anhänger der neuen
Lehre beschütze und es war eine allgemein bekannte Thatsache, daß er der persönliche Freund Wilhelms von Oranien war*).
Auch stand soviel fest,
daß der Durchzug von Landsknechten, welche in den deutschen evangelischen Territorien, besonders in Westfalen, in Hessen und in Nassau für die
Aufständischen angeworben wurden, durch das clevtsche Gebiet seitens der herzoglichen Beamten nicht immer verhindert worden war.
Unter diesen Umständen mußte dem neuen Oberbefehlshaber in den
Niederlanden, welcher um die Mitte August 1567 dort angekommen war,
sehr viel daran gelegen sein, den Herzog von Cleve in den Gehorsam Spaniens und der Römischen Kirche zurückzubringen und das Verhältniß wiederherzustellen, welches im Jahre 1543 zwischen den beiden benachbarten
Reichen begründet worden war. Mark und Jülich-Berg
umfaßten
Die vereinigten Herzogthümer Cleveum
jene Zett einen Ländercomplex,
welcher denjenigen der meisten übrigen selbständigen Reichsgebiete Bevölkerungszahl und Reichthum wett übertraf.
an
Innerhalb des Nieder-
rheintsch-Westfälifchen Kreises, dessen „ausschreibender Stand" der Herzog von Cleve war, war die Stimme dieses Fürsten die ausschlaggebende und an der Spitze dieser kleinen deutschen Gemeinwesen würde Cleve ein ge fährlicher Gegner gewesen sein, wenn das Regiment in der Hand einer
klugen und energischen Persönlichkeit lag, welche die Schwierigkeiten, die
der niederländische Aufstand der spanischen Monarchie bereitete, in ge schickter Weise zum Vortheile der Nachbarländer zu benutzen wußte.
Ein
Bund Cleves mit Oranten würde — das kann man mit Sicherheit sagen — nicht nur den raschen Sieg der Opposition, sondern die Verdrängung des
aus dem deutschen Nordwesten
zur Folge gehabt
Die nachfolgenden Zeilen haben den Zweck,
die Ereignisse zu
spanischen Einflusses
haben.
*) Wilhelm von Oranien war Taufpathe des clevischen Prinzen Johann Wilhelm, welcher am 28. Mai 1562 geboren worden war.
schildern, welche die Wendung der Dinge zu Gunsten der katholischen Kirche herbeigeführt haben.
ES war ein besonderes Unglück, daß der körperlich leidende Zustand,
in welchem Herzog Wilhelm seit langen Jahren sich befand (er litt an
einer Art von epileptischen Anfällen) allmählich seine Wirkungen auch auf
daS geistige Gebiet geltend machte.
Bereits im Jahre 1558 baten die
cleve-märkifchen Landstände ihren Landesherrn in einer amtlichen Eingabe auf daS dringendste, daß er „auf seines Leibs Gesundheit bester als bisher
geschehen, Acht haben möge".
„Denn", fügten sie hinzu, „eS sei daran
nicht nur dem Fürsten selbst, sondern auch den Unterthanen merklich ge legen" — eine Wendung, in welcher die Besorgniß vor den Ereignissen
wie sie später wirklich eintraten, sich deutlich ausspricht.
In den folgenden
acht Jahren war der Herzog, wie uns berichtet wird, fünfmal tödtlich
krank, so daß er mehrmals sein Testament machte, indem er in jedem
späteren Falle daS ftühere widerrief. Trotz seiner erschütterten Kräfte wagte eS der Fürst, sich im Jahr 1566
der schwierigen und langwierigen Reise nach Augsburg auszusetzen, wohin er eine Einladung zum Reichstag erhalten hatte.
Die Beschwerden der
Reise äußerten sofort ihre verderblichen Wirkungen, gleich am Tage des
Einritts bekam er einen schweren Anfall, der sich von da an in wenigen Monaten 11 mal wiederholte.
Die Folge davon war, daß er, nach Hause
zurückgekehrt, nicht nur an einer einseitigen Lähmung daniederlag, sondern
auch deS freien Gebrauchs der Sprache sich beraubt sah. Unter diesen Umständen gerieth der Fürst in eine solche Abhängig
keit von seiner Umgebung, daß er fast nur noch dem Namen nach Regent war und wenn er auch in einzelnen Augenblicken sich zur selbständigen Leitung der öffentlichen Angelegenheiten aufzuraffen suchte, so hemmten doch die stets wiederkehrenden Anfälle, die ihn für ganze Tage unzurech nungsfähig machten, jede dauernde Durchführung seiner Vorsätze.
Bet Hofe gab eS damals zwei Parteien, eine evangelische und eine katholische, welche sich schroff gegenüberstanden.
Die unmittelbare Umge
bung deS Herzogs, zumal die weiblichen Familien-Mitglieder standen auf
der Seile deS Evangeliums.
Der einflußreichste Beschützer deS Letzteren
war der Leibarzt deS Fürsten, Dr. Weier, welcher seiner Instruktion ge
mäß fortwährend in der Umgebung deS Herzogs sich aufhielt.
Die Her
zogin scheint sich im Ganzen mit den Anschauungen ihres Gemahls in Uebereinstimmung
befunden zu haben, denn sie ließ eS zu, daß ihre
Kinder, zumal ihre Töchter, in der evangelischen Lehre auferzogen wurden.
Der evangelische Geistliche Walther von OS hatte die Prinzessinnen Maria
Eleonora, Anna und Magdalena in dem neuen Glauben unterrichtet und
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
590
eS dahin gebracht, daß die jungen Mädchen demselben leidenschaftlich an
hingen.
Auch ein Theil der Hofdamen bekannte sich zu protestantischen ES scheint, daß des Herzogs evangelische Schwestern, be
Auffassungen.
sonders die Gemahlin des Churfürsten Johann Friedrich von Sachsen, Sibylle, sowie die unglückliche Gemahlin Heinrichs VIII., Anna, auf ihre
Verwandten bei Hofe einen großen Einfluß auSgeübt haben.
Jedenfalls
steht soviel fest, daß des Herzogs dritte, unverheirathete Schwester Amalie,
welche bei Hof weilte, auf die Erziehung ihrer Nichten eingewirkt hat.
Unter den Herren von Adel aus des Herzogs Umgebung ist besonders Johann von Ketteler zu nennen, welcher für die Sache des Evangeliums thätig war. Neben diesen reformfreundlichen Elementen existirte von jeher bei Hofe, besonders unter den fürstlichen Räthen, eine streng katholische Partei,
welche die allmähliche Abwendung deS Fürsten und seiner Kinder von der alten Kirche zu verhindern bestrebt war. Einer der
entschiedensten Vorkämpfer derselben war der clevische
Landhofmeister Heinrich von der Recke, ein Mann, dessen Bedeutung für die geschichtliche Entwicklung der niederrheinischen Länder noch nicht ge nügend bekannt geworden ist.
Er hatte seine Ausbildung (er war Doctor
beider Rechte) zu Rom erhalten und nachdem er in sein Vaterland zurück
gekehrt war verschafften ihm seine Kenntnisse und sein Eifer die Beachtung der maßgebenden Persönlichkeiten.
Der Herzog zog den jungen Adligen
an seinen Hof und verwandte ihn seit 1559 häufig in diplomatischen
Missionen.
Die auswärtigen Angelegenheiten des mächtigen Fürsten
hauses lagen damals in der Hand Heinrich OlislägerS, welcher den Titel
eines clevischen Kanzlers führte. Frage ziemlich reservirt,
Derselbe verhielt sich in der religiösen
da aber der erste Zielpunkt seiner Politik die
Aufrechterhaltung des Einvernehmens mit Spanien-Burgund
war, so
konnte er sich nicht für die weitgehenden Reformen, welche der Herzog
So kam es, daß er auf die Intentionen Reckes all
plante, erwärmen.
mählich einging und vor Allem die Annäherung zwischen dem Herzog und
Wilhelm von Oranien, welche sich seit dem Jahre 1562 vollzog zu hinter treiben bemüht war.
Die beiden Männer erreichten auch in der That
soviel, daß jedes Zusammenwirken unterblieb. Wenn nun
auch in dieser Thatsache für Herzog Alba, der
den
clevischen Staat in seinem schwankenden, isolirten Zustand im Jahr 1567 vorfand, bereits ein wesentlicher Vortheil lag, so war ihm doch sehr viel daran gelegen, die Gefahr, welche in einer plötzlichen Schwenkung Cleves
zu Gunsten OranienS gelegen haben würde, endgültig zu beseitigen.
Die
Erwägung, daß bei dem jederzeit zu erwartenden Ableben des alten Her-
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
591
zogS sein bis dahin evangelisch erzogener Sohn Carl Friedrich zur Re
gierung gelangen würde, gab zu ernsten Bedenken Veranlassung.
Kurz nach seiner Ankunft trat Alba mit den Absichten, die er Cleve gegenüber hegte, hervor.
Wir erhalten Kenntniß von denselben aus einem
Schreiben der Jülichschen Räthe vom 21. September 1567.
Darin heißt
eS, am clevischen Hoflager sei von zuverlässiger Seite die vertrauliche Mittheilung eingegangen, daß Se. Majestät der König von Spanien mit
Vorwissen und Zustimmung des Kaisers
entschlossen sei, den Herzog
Wilhelm wegen seiner geistigen und körperlichen Unzurechnungsfähigkeit, welche ihn zur ferneren Regierung seiner Länder unbrauchbar mache, in spanische
„Tutel"
ES werde spantscherseitS als beson
aufzunehmen.
derer Grund außerdem angegeben, daß der Herzog in der Zett seiner
„vernünftigen
Regierung"
sich
zu
habe, jetzt aber davon abgefallen
der sei
katholischen und
Religion gehalten
seine Kinder,
namentlich
den Erbprinzen und seine älteste Tochter tot evangelischen Glauben er
ziehen laste. ES ist sehr wahrscheinlich, daß diese oder eine ähnliche Drohung in
der That von Brüssel aus nach Cleve übermittelt worden ist und die fürstlichen Räthe entschloflen sich, dem Herzog in schonender Weise davon
Mittheilung zu machen.
Die Wirkung, welche Herzog Alba beabsichtigte,
trat denn auch sofort insofern ein als toi CabinetSrath beschlossen wurde,
daß, um zu Unruhen keine Ursache zu geben, allenthalben den „Pastoren und Prädikanten aufzulegen und zu befehlen sei, keine Neuerungen in
Religionssachen oder Ceremonien der Kirche vorzunehmen noch zu ge statten, sondern alle Dinge in jetzigem Stand und Wesen beruhen zu
lasten".
Gleichzeitig wurde die strenge Ausweisung der niederländischen
Flüchtlinge tnS Auge gefaßt.
Indem die clevtsche Regierung in dieser Art einerseits den Wünschen AlbaS entgegenkam, ergriff sie doch auf der anderen Seite Vorsichtsmaß
regeln, um einer eventuellen spanischen Occupation wie sie der Ausdruck
„Tutel" anzudeuten schien, entgegenzuwirken.
Hierzu war vor Allem der
Beistand und die Intervention deS Kaisers nöthig und da der Herzog demselben als Schwager nahe stand, so war zu erwarten, daß trotz der
angeblichen Uebereinstimmung zwischen dem König Philipp und dem Kaiser Letzterer keine Maßregel billigen werde, welche zur Einverleibung CleveS in die spanische Monarchie und damit zur Thronentsetzung seines Neffen führen konnte.
Deßhalb
ward vom clevischen Hoflager aus Heinrich
von der Recke, welcher beim Kaiser in besonderem Ansehn stand, nach Wien geschickt und
beauftragt für die Aufrechterhaltung
Selbständigkeit zu wirken.
der clevischen
ES schien um so mehr Gefahr im Verzüge,
592
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
als sich das Albasche Kriegsvolk in drohender Haltung unmittelbar an
den clevischen Gränzen eingelagert hatte. Zu Ende September (also wenige Wochen nach dem Eintreffen AlbaS
in den Niederlanden) erschien am clevischen Hof Franz von Halewhn als
Gesandter des Herzogs Alba und der Regentin Margaretha.
Er hatte
den Auftrag, im Namen deS neuen Oberbefehlshabers der spanischen
Armee in den Erblanden an den Herzog Wilhelm „das Begehren und die Bitte" zu stellen, daß „Ihre fürstl. Gnaden die vorigen vor Venlo
und sonst aufgerichteten Verträge und Einigungen halten und sich den selben allenthalben gemäß erzeigen möchte".
Ferner sei eS AlbaS und
der Regentin Verlangen, daß der Herzog den niederländischen Flüchtlingen
den Aufenthalt in seinen Ländern nicht gestatte und ihnen auch keinen
Beistand leiste.
Besonders lasse die burgundische Regierung um die Er
greifung und Auslieferung mehrere Häupter der Bewegung bitten. Auf diese Werbung erfolgte am 2. October seitens der herzoglichen
Regierung die Antwort, daß der Fürst seiner Pflicht gemäß durchaus auf dem Boden des Venloer Vertrags stehe und sich danach richte.
Die Aus
lieferung der spanischen Unterthanen aber müsse er verweigern und könne nur soviel zugestehen, daß sie nach den clevischen Gesetzen bestraft werden
sollten.
Wegen der Grafen Egmont und Horn, deren Gefangensetzung
Halewhn hatte erläutern müssen, sprach der Herzog die Hoffnung aus,
daß Alba denselben Gelegenheit geben werde, sich zu rechtfertigen; man erwarte, daß Alba nach Recht und Billigkeit gegen sie verfahren werde. Wenn demnach die spanische Gesandtschaft ihr Ziel auch nicht voll
ständig erreicht hatte, so bewirkten die Forderungen AlbaS doch soviel,
daß ein CabinetSrath, welcher am 4. October am clevischen Hoflager ab
gehalten wurde,
beschloß,
in der Beobachtung
deS Venloer Vertrags
„etwas mehr Ernst zu gebrauchen" und besonders die früher ergangenen
Befehle wegen Ausweisung der Flüchtlinge mit Strenge zu exekutiren. Da bei dieser Gelegenheit deS Gerüchtes Erwähnung geschah, daß Alba sich
womöglich der Person deS Herzogs und des Erbprinzen bemächtigen wolle, so wurde den Letzteren besondere Vorsicht beim Ausreiten u. s. w. anem
pfohlen.
Endlich ward der Beschluß gefaßt,
daß „in ReligionSsachen,
welche die vornehmste Ursache zu solcher und dergleichen Gefährlichkeit
geben, die Bescheidenheit gebraucht werde, daß alle Dinge in vorigem
Stand und Wesen beruhen bleiben".
In der That erging unter dem
7. October ein verschärftes Edict gegen die kirchlichen Neuerungen. In der Voraussetzung, daß man sich trotz dieser Concessionen Seitens
AlbaS auf das Schlimmste gefaßt machen müßte, erfolgte unter dem 1. No vember 1567 der Befehl zur Mobilmachung des Landesaufgebots.
593
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
Die Lehnsleute, heißt es, sollen sich „einheimisch und in guter Rüstung
halten, um auf fernere- Ersuchen stracks auf zu sein".
In der That war Alba von den Zugeständnissen CleveS so wenig befriedigt, daß er sich entschloß, mit Gewaltmaßregeln vorzugehen.
Am
14. Mai 1568 überschritten spanische Truppen die clevischen Gränzen und bemächtigten sich einer größeren Anzahl clevischer Unterthanen, die sie in
Gefangenschaft schleppten.
Man beabsichtigte, dieselben so
lange al-
Geißeln zu behalten, bis der Herzog in allen Dingen gehorcht habe.
An
den deutschen Höfen erzählte man sich damals die Aeußerung AlbaS, „Spanien werde feine Widerwärtigen nicht allein in des Herzogs Land,
sondern auch an dessen Hoflager, ja an des Fürsten Tafel verhaften und wegführen lassen".
ES ist nach den Nachrichten, welche sonst vorltegen,
sehr wohl möglich, daß Alba eine ähnliche Bemerkung gemacht hat.
In Brüssel erkannte man indesien wohl, daß man so lange nicht weiter kommen werde, als eS nicht gelungen sei, die Gegner der spani
schen Politik auS der Umgebung des Herzogs Wilhelm zu entfernen und andere Elemente an deren Stelle zu setzen. In dieser Richtung ward bereits im Herbst des Jahres 1567 inso fern ein wichtiger Erfolg erzielt, als es gelang, das HauShofmeisteramt
im spanischen Sinne durch den bisherigen Hofmeister Schwarzenberg zu
besetzen.
Die Befugnisse dieses Beamten waren auf Grund der damals
neu entworfenen Dienstinstruktion ziemlich ausgedehnter Art.
Er hatte
vor Allem die Aufsicht und Disciplinargewalt über das gefammte untere
Hofpersonal und seine Instruktion schrieb ihm ausdrücklich vor, dafür zu sorgen,
komme.
daß keine „unchristliche Handlung" bei einem Hofbeamten vor
Dieser
allgemeine Ausdruck gab dem Schwarzenberg für die
Erreichung der verschiedensten Zwecke eine passende Handhabe;
in dem
Zustande, in welchem sich der Herzog befand, waren es gerade dke unteren
Hofchargen, die Kammerdiener und Sekretäre, welche gefährlich werden
konnten und nachmals wirklich einen großen Einfluß ausgeübt haben.
Schwarzenberg gehörte zu der streng katholischen Partei bei Hofe, die wir schon erwähnt haben.
Dieselbe hatte sich seit dem Jahre 1565
in ostentativer Weise von der evangelischen Partei losgesagt und über die Vorgänge, welche zur offenen Trennung der beiden Gruppen führten, sind
wir zufällig durch die Erzählung eines Augenzeugen genauer unterrichtet.
Der Hofprediger Gerhard Veltius, der in diesen Kämpfen insofern sehr stark betheiligt war, als sie zum Theil wegen seiner Person geführt wur den, berichtet, daß die Umgebung deS Herzogs zwar bis zum Jahre 1565
einmüthig mit ihrem Fürsten sub utraque specie communicirt habe, von da an aber seien einzelne, wie der Marschall Hardenberg, der Hofmeister
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischeu Kirche am Rhein.
594
Schwarzenberg, der Kanzler OliSläger und Werner v. Gymnich, abge fallen.
Eines Tages habe Gymnich „über Tisch" sich wegwerfend über
die evangelische Form der Communion ausgesprochen; darauf sei eS zu
einem Wortwechsel gekommen und der Hofprediger, welcher sich das Ver
halten Gymnichs nicht gefallen lassen wollte, habe lebhaft Partei ergriffen. „Da that Gymnich wie Lucifer", sagt VeltiuS, „und nahm etliche Junker
mit sich und gingen zur Communion ins Kloster zu Düsseldorf". war das erste Schisma bei Hofe."
„DaS
Der Herzog nahm die Partei feines
Predigers und ließ die Herren vom Adel einstweilen ihren eigenen Weg gehen.
Die Schwenkung, welche ein Theil des Hofstaates hiermit vollzogen
hatte, konnte indessen um so weniger ohne Rückwirkung auf den Herzog bleiben, als gerade Werner v. Gymnich dem Letzteren persönlich sehr nahe stand.
Er war Altersgenosse und ehemaliger Studiengefährte seines
Fürsten und hatte von Kind auf am Hofe gelebt.
Conrad von Heresbach
hatte die beiden Jünglinge zusammen erzogen; nach Absolvirung der Studien war Gymnich in die Welt hinausgezogen und hatte am Hofe
Kaiser Karls V. einige Jahre verlebt.
Die Anschauungen und Neigungen,
welche hier vorherrschten, blieben nicht ohne Einfluß auf ihn und während
Herzog Wilhelm sich in den späteren Jahren mehr zur evangelischen Con fessio» neigte, scheint sich in Gymnich eine entschiedene Hingabe zum ka
tholischen Glauben angebahnt zu haben.
Als er an den clevischen Hof
zurückkehrte, war er besonders auch deßhalb ein ausgezeichneter Anwalt
der spanischen Wünsche, weil ihn enge Beziehungen mit den einflußreicheren
Personen des spanisch-burgundischen HofeS verbanden. ES lag in der Natur der Dinge, daß in der Zeit, wo der Einfluß
Herzog AlbaS sich am clevischen Hofe mächtig geltend machte, auch ein so
zuverlässiger Parteigänger wie Gymnich zu wichtiger Mithülfe herange zogen wurde und eS gelang in der That, es durchzusetzen, daß er zum
Haushofmeister und Erzieher der Prinzen Karl Friedrich und Johann
Wilhelm befördert wurde.
Dieser Posten war im damaligen Moment
insofern der bedeutsamste bei Hofe,
als von der katholischen Erziehung
des Erbprinzen die ganze zukünftige Haltung des StaatS abhtng; zugleich aber brachte diese Stellung den Gymnich in eine nahe Berührung mit
dem Herzog selbst, dem die Erziehung seiner Kinder außerordentlich am Herzen lag. Dem steigenden Einfluß der katholischen Gruppe gelang eS zwar, die Entfernung des VeltiuS dnrchzusetzen — derselbe wurde evangelischer Pre diger in Wesel —, aber der Herzog selbst war einstweilen nicht zu ge
winnen.
Noch im Jahre 1569 äußerte er sich in einer Unterhaltung,
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
595
welche er zu Büderich mit VeltiuS hatte, in Gegenwart des Hofmeister-
Schwarzenberg und anderer katholischer Räthe sehr heftig gegen die Messe, indem er sagte, daß da-, was der Pfaffe in der Messe aufhebe, der Teufel
sei, worauf VeltiuS bestätigend antwortete, die Messe sei eine „schändliche Abgötterei".
Auch in politischer Beziehung war er nicht zu bewegen, allen
Anforderungen AlbaS Genüge zu thun und Letzterer sah sich genöthigt,
auf wettere Maßregeln zu denken. Herzog Alba glaubte seinen Freunden in Düsseldorf eine besondere Stütze verschaffen zu können, wenn er einen spanischen Bevollmächtigten
zu dauerndem Aufenthalt an den dortigen Hof sende.
Er hoffte zugleich
durch die regelmäßigen Berichte eines solchen Gesandten seine Freunde und seine Feinde besser kennen zu lernen und auf die Letzteren eine wirk
same Pression auSzuüben.
Auch
mußte der Vertreter einer so großen
Macht beim Herzog selbst eine Aufmerksamkeit und Beachtung finden, die einen direkten Einfluß auf die Entschließungen des Fürsten hoffen ließ.
AuS diesen Gründen wurde im Jahre 1568 der spanische Edelmann Jo
hann Baptista de TaxiS nach Düffeldorf geschickt und ihm vom Herzog Alba der Auftrag ertheilt, am clevischen Hoflager dauernden Aufenthalt
zu nehmen.
In jener Zeit, wo man in Deutschland ständige Gesandt
schaften an den Höfen noch nicht kannte, befremdete dies Vorgehen AlbaS
die deutschen Fürsten weit und breit und nicht am wenigsten war Herzog Wilhelm selbst hierüber verwundert.
Er sandte deßhalb im Juni 1568
seinen Rath Andreas Masius nach Brüssel, um Vorstellungen zu erheben.
Der Präsident VigliuS, welcher den MasiuS zuerst empfing, erklärte die
Sendung deS Taxis mit den Worten: Herzog Alba sei „in gewisse Er fahrung gekommen, daß, sobald er etwas Schriftliches an den Herzog
Wilhelm habe gelangen taffen, solches von Stund an den Geusen und des Königs von Spanien Widerwärtigen mitgetheilt werde".
Um dies zu
verhindern, sei Taxis abgeordnet worden. Der Erfolg der clevischen Sendung
war in jeder Richtung ein negativer; die Informationen, welche Masius sich in Brüssel verschaffte, hatten nur die Wirkung, die spanische Partei, zu welcher MasiuS selbst gehörte, in ihren Tendenzen zu bestärken.
Die letzten Ziele der albaschen Politik erhellen deutlich auS den Vor
schlägen, welche der Präsident VigliuS dem MasiuS machte.
Letzterer
machte in der erwähnten Conferenz, die am 15. Juni 1568 stattfand,
darauf aufmerksam, daß die clevische Regierung, selbst wenn sie den besten
Willen habe, außer Staude sei, die Städte, welche eine große Selbständig keit besäßen und die Landsassen vom Adel in derselben Weise zum Ge horsam zu zwingen, wie Spanien eS bei seinen Unterthanen thue.
Darauf
antwortete VigliuS „Laßt uns Euch helfen, wir wollen sie Euch wohl ge-
596
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
horsam machen" und wiederholte diese Worte mehrere Mal.
denken, daß MasiuS
Man sollte
ein derartiges Anerbieten weit von sich gewiesen
hätte; aber so sehr war die Leitung der auswärtigen Politik bereits im
Fahrwasser Spaniens angelangt, daß Masius diesen Vorschlag im Auf trag OliSlägerS mit einem anderen erwiderte, welcher etwa denselben
Effect gehabt haben würde.
Er proponirte nämlich, nachdem er seiner
Instruction gemäß betont hatte, daß dies seine Privatmeinung sei, „der
König von Spanien möge einige Regimenter Reiterei besolden und in Cleve-Mark aufstellen; diese sollten zwar clevische Unterthanen sein, aber
dem König Philipp den Fahneneid leisten.
Viglius schien Gefallen hieran
zu haben, allein er war vorläufig ebensowenig ermächtigt, eine bestimmte
Zusage zu machen wie MasiuS und man ging auseinander, indem man sich die weitere Erwägung der Sache vorbehielt. MasiuS, der sich die Gesichtspunkte des Brüsseler Gouvernements in jeder Richtung aneignete, begann schon von dort aus durch ein vertrau liches Schreiben an OliSläger vom 19. Juni die Agitation gegen die
evangelische Umgebung des Herzogs.
Besonders erbittert war er gegen
den Leibarzt Dr. Weier, der allerdings die vornehmste Stütze der antikatholischen Partei war.
Er habe bereits wiederholt darauf hingewieseu,
sagt er, daß „der Arzt" mit Drohungen in seine Schranken zurückgewiesen
werden müsse.
Dies sei die Aufgabe derer, welche die politischen Ange
legenheiten leiteten. licher Dinge.
Aber man sei zu milde bei der Behandlung öffent
Viglius habe ihm vertraulich gesagt, daß die spanische Re
gierung besonders die Beseitigung dieses Dr. Weier wünsche und haupt
sächlich seinetwegen sei Taxis an den Hof geschickt.
OliSläger müsse den
letzteren Umstand beim Herzog geltend machen, um dadurch auf ihn zu
wirken. handeln.
Wenn OliSläger nicht zu reden wage, so werde MasiuS selbst
In solchen Sachen dürfe man auch den eigenen Bruder nicht
schonen.
Während man sich auf diese Weise bemühte, den Herzog von seinen Gesinnungsgenossen
Neigung
zu trennen, war vorläufig des Fürsten persönliche
eine den Wünschen Herzog AlbaS durchaus zuwiderlaufende.
Herzog Wihelm blieb dabei, daß er die Flüchtlinge, welche bei ihm ein Asyl gesucht hatten, ihren Verfolgern nicht ausliefern wollte.
Er hatte
sie freilich gefangen gesetzt und der burgundischen Regierung anheimge stellt, vor clevischen Richtern gegen sie Klage zu erheben.
Aber hierzu
konnte sich Alba nicht entschließen, indem er sagte, daß die clevischen
Richter sie schwerlich verurtheilen würden. war,
Wie erregt Alba hierdurch
ersieht man aus der Drohung, welche Masius seiner Regierung
übermittelte, daß die Spanier sich ihrer Feinde, wenn man sie nicht aus-
liefere, in deS Herzogs Landen bemächttgen würden.
Auch hierdurch in
dessen ließ sich Herzog Wilhelm nicht einschüchtern und die Rüstungen, welche Wilhelm von Oranien im Jahre 1568 betrieb, fanden unter den
Augen deS Herzogs seitens der clevischen Städte lebhafte Unterstützung.
Auch in anderen Beziehungen ließ sich der Fürst vorläufig noch nicht von der spanischen Politik ins Schlepptau nehmen.
Seit dem Jahre 1569
bemühten sich die katholischen Mächte die nordwestdeutschen Fürsten zum Eintritt in den sogenannten „Landsberger Bund" zu bewegen, welcher eineStheilS zur Aufrechterhaltung deS ReligionS- und Landfriedens, be
sonders aber zur Förderung katholischer Zwecke gegründet worden war. Die Verhandlungen wurden im größten Geheimniß geführt und die ersten Anträge gelangten im August 1569 durch den Bischof von Würzburg an
dm Bischof von Münster, Johann v. Hoya.
Dieser machte seinen Ein
tritt von demjenigen CleveS abhängig und im September wurden darüber
am clevischen Hofe Berathungen gepflogen.
Allein unter dem 13. October
mußte der Würzburgische Kanzler, Balthasar von Hellu, welcher die Ver
handlungen führte, dem Bischof Johann melden, „daß er die Sache auf diesmal nicht habe fertig machen können".
Dies möge wohl daran liegen,
fügt er hinzu, daß „er seine Männer, welche ihm in diesem Anliegen hätten dienen sollen, nicht habe können bestätigt und zur Stelle erhalten".
„Aber", heißt es am Schluß, „die Sache stehe doch auf solchen Wegen, daß er sich keines Abschlags versehen könne; es werde auch von Bielen
dafür gehalten, wenn der Herzog Wilhelm über alles menschliche Versehen
nicht
wolle, daß
„der Mann da"
Paaren bringen".
(Herzog Alba)
ihn wohl könne zu
Mehr taffe sich auf diesmal nicht schreiben.
Die Antwort, welche Herzog Wilhelm auf die Bündniß-Anträge er theilte, lautete dahin,
daß er einen neuen Bund zur Aufrechterhaltung
deS ReligionS- urd Landfriedens nicht nothwendig halte.
Der letztere sei
von den deutschen Fürsten „so stattlich verfaßt und betheuert, daß man
sich billig darauf zu verlassen habe".
Separatbündnisse einzelner Fürsten
hätten selten im heiligen Reich gute Frucht oder Nutzen geschaffen. Auf diese Ablehnung hin wandten sich die süddeutschen katholischen
Mächte wirklich an Alba in der Hoffnung, daß dessen Machtwort den Herzog gefügig machen werde.
In der That erließ Ersterer am 22. Mat
1570 ein Schreiben nach Düsseldorf, worin er auseinandersetzte, daß der
Landsberger Bund eine heilsame Einrichtung sei, welche vorrzehmlich zur Erhaltung der Kaiserlichen Autorität dienen solle.
Er (Alba) wolle mit
den Burgundischen Provinzen dem Bunde gleichfalls beitreten.
Da nun
des Herzogs Wilhelm Gebiet und das spanische so nahe an einander gränzten und das eine von des anderen Zufällen mitberührt werde, so PrruKische Jahrbücher. Bd. XLVIIL Heft 6.
43
598
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
wünsche er nichts mehr,
als daß auch Herzog Wilhelm Mitglied des
Bundes werde.
AIS dieses Schreiben in Düsseldorf anlangte, hatte der Herzog die Bündnißfrage gerade vor die Landstände gebracht und ihnen mit Bezug auf die Rechte, welche ihnen in solchen Fällen zustanden, die Frage vor
gelegt, ob sie geneigt seien, darauf einzugehen.
Sowohl der Jülich-Ber
gische Landtag, welcher in Düsseldorf versammelt war, wie der clevtschmärkische, der in Essen tagte, verneinte diese Frage und am 14. Juli 1570
wußte Herzog Albrecht von Baiern, der sich besonders für den Eintritt seines Schwagers in den Bund intereffirte, daß alle Bemühungen umsonst
gewesen seien. Er schrieb damals an den Würzburgischen Kanzler, die clevische Regierung habe einen Beschluß gefaßt, den sie zu bereuen haben werde.
Diese Ablehnung war indessen die letzte selbständige politische That, zu welcher sich der Herzog im Gegensatz zu Spanien und den katholischen
Mächten aufraffte.
Gerade in den Monaten, wo die Verhandlungen über
diese Frage schwebten,
erreichte die katholische Umgebung des Fürsten
dadurch einen großen Erfolg, daß sie den Herzog in der Frage des AltarSakramentS, welche dem Fürsten bis dahin am meisten Anstoß gegeben
hatte, zu Gunsten der katholischen Auffassung umzustimmen wußte. DeS Herzogs Stimmungen waren unter dem Einfluß seiner Krank heit, die ihre Wirkungen auf den ganzen geistigen und körperlichen Or
ganismus immer unheilvoller geltend machte, einem fortwährenden Wechsel unterworfen.
Je mehr er in Folge der stets repetirenden Anfälle sich
hinfällig fühlte, um so mehr war er der Beeinflussung derer zugänglich,
welche ihn im rechten Augenblick von der richtigen Seite zu fassen wußten.
ES war bekannt, daß er seine Krankheit häufig als einen Ausfluß der göttlichen Strafe für fein Verhalten in den kirchlichen Fragen ansah und früher nicht selten sich eingeredet hatte, Gott züchtige ihn, weil er nicht
den Muth habe, die neue Lehre, die er doch in wesentlichen Punkten als die bessere ansah, in seinen Ländern einzuführen.
Natürlich war er von
dieser Seite her auch vom umgekehrten Standpunkt aus zugänglich.
Wie
dem nun auch sei — jedenfalls gelang es Gymnich, in der Zeit, wo
die erste Communion seines Zöglings, des Erbprinzen Karl Friedrich, herannahte, den alten Herzog von der Ueberzeugung abzubringen, daß
der evangelische Gebrauch des Abendmahls der Einsetzung Christi gemäß sei und zu £)ftern 1570 erlebte Gymnich den Triumph, daß Vater und
Sohn mü ihm zusammen das Abendmahl nach der Vorschrift der katho lischen Kirche nahmen und der Messe beiwohnten.
Ja, der Fürst war
plötzlich so sehr für diese Form deS Gottesdienstes eingenommen, daß er
nach Art der Convertiten mit Leidenschaft die neue Weise ergriff und nun
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
599
auch von seiner ganzen Umgebung, besonder- von seinen Angehörigen, die Befolgung der katholischen Vorschriften verlangte.
Der Widerstand,
auf welchen er bet seiner Schwester und seinen Töchtern stieß, zeigte sich
freilich bald als unüberwindlich. Wenn es gelang, den Fürsten auf dieser Bahn zu erhalten, so war der Wendepunkt der clevischen ReligionSpolitik und Geschichte gekommen. In der Umkehr deS Herzogs lag zugleich ein Symptom für die Thatsache, daß die katholische Partei vollständig die Oberhand besaß und wenn man eS durchsetzte, den Fürsten standhaft zu erhalten, so bedeutete dies zugleich
die Fortdauer ihrer Herrschaft.
Gymnich, welcher wohl erkannte, daß die
Möglichkeit eines abermaligen Umschlags nicht ausgeschlossen war, setzte sofort alle Mittel in Bewegung, um auch von anderer Seite her auf den
Herzog in katholischem Sinne einzuwirken und faßte hierbei namentlich die Mitwirkung der katholischen Verwandten, deS Kaisers und des Herzogs Albrecht sowie diejenige des Königs von Spanien ins Auge.
Zu dem soeben in Speier zusammentretenden Reichstag hatte auch
Herzog Wilhelm seine Gesandten geschickt.
Dieselben hatten von einigen
katholischen Hofrüthen, namentlich von Gymnich, eine geheime Nebenin struction empfangen, welche sie beauftragte, den Kaiser zu bitten, daß er
sobald als möglich einen Botschafter nach Düsseldorf abordne, um den
Herzog wegen seiner guten Gesinnungen zu beglückwünschen und ihn zu bitten, daß er auf dem eingeschlagenen Wege beharre.
Wirklich erklärte
sich der Kaiser bereit und versprach, den Freiherr» von Winnenberg zu
senden.
Da sich dessen Ankunft indessen länger, als man am clevischen
Hofe für gut hielt, verzögerte, so schrieb Johann Baptista de TaxiS, der an der Entwicklung der Dinge fortwährend thätigen Antheil nahm, an
den König Philipp, daß Letzterer schleunigst seinerseits eine Botschaft mit
gleichem Auftrag an den Herzog senden möge.
Man wußte wohl, daß der
Fürst auf Aufmerksamkeiten so hoher Potentaten einen großen Werth legte. Ganz besonders war Werner v. Gymnich bestrebt, die abgebrochenen Beziehungen zur Partei der Landsberger Verbündeten wiederaufzunehmen
und ihren Beistand für seine Zwecke zu gewinnen.
Unter dem 15. Sep
tember 1570 schrieb er an den bisherigen Agenten dieses Bunde-, den
Würzburgischen Kanzler Hellu einen langen Brief, in welchem er die Ver hältnisse bei Hofe eingehend schilderte und den Wunsch au-sprach, Baiern
und
„alles was daran hinge",
möge den Herzog nicht verloren geben,
sondern die katholischen Hofräthe unterstützen.
Der Kanzler, sagt er, habe
ihm seiner Zeit erklärt, daß die clevische Ablehnung dem Herzog von Baiern
alles Vertrauen
in
den Fürsten raube.
Schon damals habe
Gymnich erwidert, die Schuld davon liege nicht am Hofe, sondern daran,
43*
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
600
daß man hier wie anderwärts in deutschen Landen mehr zum Schlimmen als zum Guten geneigt sei.
Deßwegen möge man aber doch „bad Kind
nicht mit dem Bade ausgießen"; er „trage keinen Zweifel, wenn Kaiser
liche Majestät und der Herzog von Baiern dessen berichtet wären, wie es mit Herzog Wilhelm, den zwei jungen Herrn und in diesen Landen eine
Gestalt der Religion hätte, so würden Ihre Majestät und seine fürstliche Gnaden den Sachen auf anderen Wegen nachdenken".
Allerdings hätten
einige „unftiedsame und unerfahrene Leute es dahin getrieben", daß die Messe eine Zeit lang bei Hof abgeschafft gewesen sei; jetzt aber habe der
Fürst selbst die Messe wieder gehört und er habe nebst seinem Sohn,
dem Erbprinzen, letztvergangene Ostern das Sakrament des Altars unter der Form einer katholischen Messe empfangett.
Augenblicklich ständen die
Sachen so, daß, wenn der Kaiser und Baiern sich den Handel zu Herzen
gehn ließen, die Religion bald wieder auf die alten Wege zu richten sein werde. Er könne sich nicht genugsam verwundern, daß die genannten katholi
schen Mächte bei der Bedeutung, welche Cleve für ganz Westfalen und den Niederrhein
besitze, sich
des Herzogs nicht sorgfältiger annähmen.
Der Würzburgische Kanzler möge bei Baiern interveniren, daß dieses den
Kaiser zur Abordnung der bereits in Speier erbetenen Gesandtschaft be wege.
Dieser Bevollmächtigte müsse Befehl haben, bei Herzog Wilhelm
fleißig anzuhalten, daß letzterer mit seinem „guten Vorhaben fortfahre"
und darauf dringen, daß in seiner Gegenwart die Messe bei Hofe wieder
feierlich eingeführt werde. Gymnich bitte dringend um Hülfe und Beistand.
„Ew. Gunsten
werden meines Verhoffens fleißig sein, daß der Herzog von Baiern sich
diese Sache will anliegen lassen, denn wenn man die katholische Religion diesen Orten erhalten kann, so soll sich keiner von all unsern Nachbarn einiger anderer Religion unternehmen dürfen." Dieses Schreiben, welches der Würzburgische Kanzler sofort abschrift
lich nach München gelangen ließ, hatte denn in der That die bedeutsame
Wirkung, daß Baiern von nun an seinen ganzen Einfluß aufbot, um den
Herzog in der katholischen Religion zu erhalten — ein Bestreben, welches
von um so rascherem Erfolge gekrönt wurde, als der Herzog selbst unter der Leitung Gymnichs den Wünschen seiner Verwandten auf halbem Wege
entgegenkam. Die wichtigste Concession, welche er gleich vom Jahre 1570 an
machte, war die streng katholische Erziehung seiner Söhne, besonders des
Erbprinzen Carl Friedrich.
Bis zu. seinem 16. Jahre hatte dieser (er
war am 24. April 1555 geboren) in Matth. Venraidt aus Broichhuysen
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
601
(PaludanuS) einen Lehrer gehabt, welcher die vermittelnde Richtung des Herzogs theilte und von den beiden sich bekämpfenden Hofparteien bisher
wegen seiner geistigen Inferiorität als unschädlich angesehen worden war.
Jetzt, nachdem die katholische Partei ein entschiedenes Uebergewicht erlangt hatte, mußte er nicht nur weichen, sondern man faßte den Plan, den
Prinzen ganz und gar auS einer Umgebung zu entfernen, welche soviel
akatholtsche Elemente zählte, daß leicht von irgend
einer Seite uner
wünschte Einwirkungen stattfinden konnten.
DaS Bestreben der römischen Partei,
die deutschen Prinzen und
Thronerben an katholischen Höfen erziehen zu kaffen war ein ganz allge meines; am liebsten sah eS die Curie, daß die jungen Fürsten nach Rom kamen und eS ist kein Zweifel, daß schon damals die Absicht bestand, den
clevischen Jungherzog nach Rom zu bringen, allein vorläufig schien die
Zustimmung deS Vaters zweifelhaft und man schlug deßhalb dem Herzog Wilhelm vor, daß Carl Friedrich zunächst nur eine größere Reise unter nehmen solle und zwar in erster Linie zu seinem Onkel, dem Kaiser
Maximiltän.
ES scheint,
als ob man hierbei im Einverständniß mit
letzterem gehandelt habe und eS gelang, den Herzog für den Plan zu ge
winnen.
Schon am 23. Januar 1571 erfahren wir aus einer spanischen
Relation, daß eS beschlossene Sache sei, den Erbprinzen nach Wien zu senden.
Man habe zugleich die Absicht, den jungen Herrn mit einer
katholischen Frau zu verheirathen und man hege die Hoffnung, daß er alSdann ein treuer Anhänger der katholischen Kirche sein und bleiben werde.
Natürlich kam hierbei sehr viel auf die Begleitung an, welche man dem jungen Manne mitgab.
Gymnich ließ eS sich nicht nehmen, als
Haushofmeister mitzuziehen; als Erzieher trat an die Stelle des PaludanuS Stephon Winands aus Camven in Overyffel, welcher seine Bildung in
Italien erhalten hatte, wo er acht Jahre lang gewesen war.
Ehe man
ihn nach Cleve berief war er in burgundischen Diensten gewesen.
Sein
Verwandter, der Cardinal Granvella hatte ihn als Sekretär der lateini
schen Correspondenz im niederländischen StaatSrath beschäftigt und diese
Thätigkeit, welcher er vierzehn Jahre lang obgelegen, hatte ihm nicht nur eine große Erfahrung in der Behandlung politischer Geschäfte, sondern auch eine genaue Kenntniß der Ziele der spanisch-römischen Partei ver
schafft.
Da er außerdem Priester war so schien er die geeignete Persön
lichkeit, um
einen jungen Fürsten in Hingebung für den katholischen
Glauben zu erziehen.
ES war im Sinne der römischen Partei gewiß ein
Zeichen von guter Gesinnung,
daß Herzog Wilhelm
die Wahl dieses
Mannes zum Erzieher seines Sohnes bestätigte und nachdem man um
dieselbe Zeit dem Fürsten in der Person deS Winand Thomasius StralensiS
602
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
einen Hofprediger gegeben hatte, in dessen katholische Haltung man Ver
trauen setzen zu können glaubte, durfte Gymnich den Hof in der Ueber zeugung verlassen, daß der Herzog auf der eingeschlagenen Bahn beharren
werde.
Den wichtigen Posten deS Haushofmeisters
bei dem jüngeren
Sohn Johann Wilhelm, welchen er bisher gleichfalls inne gehabt hatte,
legte er in die Hände seines treuen Gesinnungsgenossen Rauschenberg nieder und so durfte er um so mehr von dieser Reise gute Früchte hoffen als seine persönliche Intervention bei den fremden Höfen den Zwecken,
die er verfolgte, nur förderlich sein konnte.
Am 15. October 1571 ward
die Reise nach Wien angetreten und unter dem 8. Januar 1572 schreibt
Ghmnich an Godfried von Schwartzenberg, daß die Angelegenheiten am
kaiserlichen Hofe nach Wunsch verliefen und giebt seiner Freude Ausdruck, daß der Herzog „sich so beständig erzeige". In der That hatte die katholische Partei von nun an den Fürsten vollständig an sich gefesselt und sie konnte nunmehr auch daran denken, die Wiederherstellung der alten Kirche in den jülich-clevischen Ländern zu beginnen.
Hier befand man sich freilich einer sehr schwierigen Aufgabe gegen
über.
Nahezu der einzige feste Halt, welchen die strenge römisch-katholische
Richtung inne hatte war die fürstliche Autorität und einzelne einflußreiche Hofämter.
Die überwiegende Majorität
der Unterthanen
stand
den
Tendenzen des spanischen Katholicismus, der durch die Strenge, mit
welcher er seine Gegner in den Niederlanden verfolgte, soeben überall in
den Nachbargebieten Schrecken verbreitet, halte, in heftigem Gegensatz. Selbst diejenigen Gegenden, welche sich von der alten Kirche bisher nicht formell getrennt hatten, wollten von den „Hispanisirten", wie man die
strengen Katholiken zu nennen pflegte, nichts wissen und der Wille deS Einzelnen, selbst deS Fürsten, war einstweilen wirkungslos gegenüber der entschlossenen Opposition deS Landes.
Vorläufig mußte das Streben der
Regierung dahin gerichtet sein, sich eine Partei zu schaffen und hierzu war eS nothwendig, daß man die Mittel, welche die landesfürstliche Autorität
an die Hand gab, mit Energie und Geschick zur Anwendung brachte.
AlS der Herzog plötzlich von der Richtung abschwenkte, die er Jahre
lang eingehalten hatte, lag eS in der Natur der Sache, daß feine Beamten, welche bisher sich mit ihrem Fürsten ein» gewußt hatten, nicht sofort zur gleichen Umkehr sich entschließen konnten und so kam eS, daß bet Beginn deS Kampfes die Majorität sowohl der weltlichen wie der geistlichen
Beamten und Organe die neuen Anschauungen der Regierung nicht theilte.
So hatte, um nur einzelne Beispiele anzuführen, der fürstliche Amt mann zu Elberfeld, Johannes Ketteler, den katholischen Pastor daselbst
zur Niederlegung seines Amtes gezwungen und einen
evangelischen an
dessen Stelle gesetzt. Der Amtmann von Solingen, Wilhelm von Bernsau,
gehörte zu den offenen Anhängern der neuen Lehre und als PetniS Lo wegen seiner religiösen Anschauungen von der herzoglichen Regierung ge
fangen gesetzt worden war, bewirkte er dessen Freilassung.
Der Amt
mann zu Brüggen, Franz von Holtmullen, zog die protestantischen Prediger, welche auf Befehl der Regierung vertrieben worden waren, an sich und
gewährte ihnen Unterkunft.
Ein Spezialbefehl mußte ihn darauf auf
merksam machen, daß fürstliche Beamten sich nicht in Gegensatz zu ihrer Obrigkeit zu setzen hätten. Auch die Mehrzahl der Geistlichen wirkte einstweilen, wenn nicht in
evangelischem, so doch in jenem vermittelnden Sinne, welcher seit dem Augsburger ReligionSfrieden unter fürstlicher Begünstigung allmählich
das ganze Land durchzogen hatte, fort.
Besonders war die Ordination,
wie die katholische Kirche sie vorschrieb, ganz und gar vernachlässigt worden.
Die katholischen Hofräthe
erkannten
sofort, daß
gerade bei den
Pastoren zuerst der Hebel angesetzt werden müsse und eine der ersten
Maßregeln, welche nach der Wiederaufnahme der Messe bei Hofe er folgte, war das Edikt vom 18. Juli 1570, welches an die Landdechanten
gerichtet war.
Die Letzteren sollen, heißt es darin, die Geistlichen ihres
Sprengels Vorbescheiden und sich von jedem Einzelnen „das Dokumentum oder den Beweis, wonach er zum priesterlichen Stande ordinirt fei" vor
zeigen
lassen.
Der Herzog habe vernommen, daß viele Priester den
Kirchendienst ohne ordnungsmäßige Ordination versähen;
Willens, dies nicht länger zu dulden.
er sei
aber
Daher solle Allen, welche genügende
Legitimationspapiere nicht besitzen, die Kirche verboten werden.
Ueber
die Anordnungen, die zur Ausführung des Mandats von den Dechanten
gemacht worden seien, verlangt der Herzog eingehenden Bericht.
Wie sehr der Fürst sich persönlich für diese Maßnahmen interessirte, geht daraus hervor, daß er das uns erhaltene Concept der Verordnung eigenhändig
corrigirt und mit verschärfenden Zusätzen versehen hat.
In der That konnte vermittelst der Landdechanten, welche die geistliche
Gerichtsbarkeit (die sogenannten Archidtakonalrechte) in ihrem Bezirk auS-
übten im Sinne der Restauration vieles erreicht werden und das Streben
der katholischen Räthe ging dahin, diese wichtigen Posten mit zuverlässigen Personen zu besetzen. Um dieser geistlichen Aufsichtsinstanz die Mitwirkung des weltlichen
ArmS zu sicheren, erschien einige Tage später, am 16. Juli 1570, eine
entsprechende Verordnung an die herzoglichen Amtleute.
Die Letzteren
sollen auf die Beobachtung der alten Ceremonien in den Kirchen halten
604
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
und diejenigen Geistlichen der Regierung namhaft machen,
welche sich
ander- erzeigen. Der Herzog hatte neben seiner Sympathie für eine kirchliche Reform
von jeher einen großen Widerwillen gegen alles dasjenige besessen, was er „Sekten" nannte, besonders gegen die Calvinisten („Sakramentirer")
und Baptisten.
AuS dieser Antipathie war schon int Jahre 1565 ein
Edikt hervorgegangen, welches die schärfsten Strafen allen denjenigen Re ligionsparteien
androhte,
einbegriffen waren.
welche nicht im Augsburger Religionsfrieden
Die märkischen Städte, welche wohl einsahen, daß um sie gegen jede kirchliche
die Bestimmungen dehnbar genug waren,
Neuerung anzuwenden, hatten sofort nach dem Erlaß ihren Besorgnissen Ausdruck gegeben und die Entwicklung der Dinge sollte bestätigen, daß
ihre Furcht begründet war.
Seit der Umkehr des Fürsten hatte sich sein
Haß gegen die Sekten natürlich noch mehr gesteigert und es hielt nicht
schwer, ihn davon zu überzeugen, daß auch diejenigen Gemeinschaften, die er früher nicht dafür gehalten hatte, unter jenes Strafgesetz fielen. der That erfolgten denn auf Grund desselben Pönalmandate,
sungen u. s. w.
In
Auswei
Sobald diese Maßregeln in den benachbarten deutschen
Territorien bekannt wurden säumten die evangelischen Fürsten nicht, für ihre Glaubensgenossen Fürbitte einzulegen.
Am
5. September
schrieb Churfürst Friedrich von der Pfalz an unseren Herzog,
1571
er habe
von Mandaten vernommen, in welchen den clevischen Unterthanen, die sich zur Augsburgischen Konfession bekennen, entweder von der
ganz ernstlich geboten sei,
erkannten Wahrheit abzustehen oder aber innerhalb
ganz kurz bemessener Zeit „beneben Berlassung und Confiscirung ihrer
Hab und Güter" daS Land zu räumen.
Da durch dieses Edict die An
gehörigen der „wahren christlichen Religion" vornehmlich getroffen würden,
so wolle der Churfürst, ohne dem Herzog in seine obrigkeitlichen Rechte einzugreifen, freundliche Fürbitte für jene einlegen.
Die Antwort, welche
unter dem 20. September erging, lautete durchaus ablehnend.
Die her
zoglichen Mandate, hieß eS, seien vornehmlich „auf die verdammten Sekten gestellt, die dem Religionsfrieden nicht einverleibt seien". kümmere sich der Herzog nicht um daS,
Im Uebrigen
was der Churfürst in seinen
Landen bezüglich der Religion thue und er hoffe, daß „auch ihm sein
Bedenken hierin freistehe".
Trotz dieser Abweisung erließen die drei Churfürsten von der Pfalz,
von Sachsen und von Brandenburg sowie die Herzöge von Braunschweig und Pommern nebst den Landgrafen Wilhelm und Ludwig von Hessen am 20. November desselben Jahres ein weiteres Gesuch an den Herzog,
worin sie sich sowohl für die niederländischen Flüchtlinge wie für alle An-
gehörigen ihrer Confession angelegentlich verwendeten.
Die Fürsten könnten
nicht unterlassen, heißt es darin, dem Herzog zu Gemüth zu führen, daß
eine Reihe von Jahren hindurch die christlichen Religionsverwandten in
Cleve den obrigkeitlichen Schutz genossen hätten und als treue und gehor
same Unterthanen erkannt worden seien.
Jetzt werde über dieselben großer
Jammer, Angst und Bedrängniß verhängt, welche sie auS ihrem natür lichen Vaterland und ihren Wohnungen vertreibe.
Die Fürsten bitten,
der Herzog möge zu solchem Unheil keine Ursache geben und sich so gegen
die Armen erweisen wie er eS am jüngsten Tag von der Wiedervergeltung
GotteS für sich erwarte.
Doch blieben alle Vorstellungen unwirksam und
der Herzog beharrte mit Ernst auf dem Wege, den er eingeschlagen hatte. Am 29. März 1572 wurde das Edikt vom 16. Juli 1571 erneuert und
den Amtleuten streng befohlen, daß sie bei dem» bevorstehenden Osterfest auf die katholische Feier deS Gottesdienstes in allen Kirchen Aufsicht haben
sollten.
„Das hochwürdige Sakrament des Altars solle mit vorgehender
Beichte und Absolution unter dem Amt der katholischen Messe" gehalten werden.
geben.
Nur die Communio sub utraque wurde nach tote vor frei ge Diejenigen Kirchendiener und Geistlichen, welche den Gehorsam
weigern, sollen namhaft gemacht und alsdann ihres Amtes entsetzt werden.
Dabei blieb man aber nicht stehen; eine ganze Fluth von Verord nungen schloß sich im Laufe desselben JahreS an.
Am 17. Mai erging
ein Befehl ay den Amtmann zu Goch, worin ihm aufgetragen ward, die Versammlungen von Sektirern, welche angeblich dort gehalten wurden, zu
verhindern; am 22. desselben MonatS ward ein Edikt wegen Aufrechter haltung der hergebrachten Festtage erlassen und am 17. November wurden
die bisherigen Edikte sowohl gegen die fremden Flüchtlinge wie gegen die
ungehorsamen Unterthanen unter verschärfenden Bestimmungen erneuert. Gerade in den Tagen deS November zeigte sich die Regierung ent
schlossen, die äußersten Mittel anzutoenden, um sich den Wünschen Herzog AlbaS gemäß der Fremden zu entledigen.
Der Drost Heinrich v. d. Recke,
dessen Eifer für die katholische Sache bekannt war, erhielt Befehl gegen diejenigen Emigranten Gewalt zu gebrauchen, welche in der Stadt Emmerich
eine Zuflucht gefunden hatten.
Eine kleine HeereSabtheilung ward beor
dert, die Execution in der Stadt zu vollstrecken.
Gleichzeitig wurden an
anderen Orten (z. B. in der Stadt Rees) die früher verbotenen Pro
zessionen auf Befehl der Obrigkeit wieder eingeführt, denjenigen, welche nicht im Glauben der katholischen Kirche gestorben waren, wurde das Be-
gräbniß auf geweihten Friedhöfen verweigert und die Geistlichen, deren
Ungehorsam fortdauerte, auS dem Lande vertrieben.
Alle diese Maßregeln erfolgten unter den
Augen Herzogs Alba,
606
Herzog Alba und die Wiederherstellung der katholischen Kirche am Rhein.
welcher der Entwicklung der clevischen Dinge fortdauernd die größte Beachtung schenkte.
ES war ihm gelungen, den Herzog Wilhelm in die
Interessen der spanischen Politik htneinzuziehen, indem er ihm die Erwer
bung deS HochstiftS Münster für seinen zweiten Sohn Johann Wilhelm in Aussicht stellte.
Da gerade hieran dem Herzog Wilhelm sehr viel ge
legen war, daS Ziel aber ohne die Unterstützung AlbaS und der römischen
Curie nicht
erreicht werden konnte, so hielt diese Aussicht den Herzog
ebensosehr im Gehorsam deS Königs von Spanien wie die Drohungen
AlbaS, dessen Truppen fortwährend an den clevischen Gränzen in starken
Abtheilungen concentrirt waren.
Die Beziehungen zwischen dem Hof zu
Düsseldorf und dem spanischen Gouvernement in Brüssel wurden seit dem Jahre 1570 immer intimer; mehr als einmal ging Andreas MasiuS mit vertraulichen Werbungen hin und her und er konnte jetzt dem Herzog Alba mit besserem Gewissen als früher versichern, daß sein Fürst ein be sonderes Wohlwollen für den König von Spanien und die katholische
Kirche hege.
Allmählich wagte eS Herzog Alba sogar auf die Familien-
Angelegenheiten deS fürstlichen Hauses einzuwirken.
Im Frühjahr 1572
hatte er vom Wiener Hofe die Nachricht bekommen, daß der clevische Erb prinz Carl Friedrich, der eben dort weilte, zu Weihnachten daS Abend
mahl sub utraque specie genommen habe.
Sofort ließ der Herzog den
MasiuS nach Brüssel kommen und eröffnete ihm, daß er verlange, Herzog Wilhelm solle seinem Sohne derartige Dinge untersagen.
Er wünsche
eine schriftliche Erklärung deS Herzogs, daß er seine beiden Söhne nach den Vorschriften der römisch-katholischen Kirche unweigerlich erziehen lassen wolle.
MasiuS, der tief bestürzt diese Forderungen seinem Fürsten über
brachte, wurde alsbald darauf abermals nach Brüssel abgefertigt, um die verlangte schriftliche Erklärung dem spanischen Gouverneur zu überreichen.
In und mit diesem Schritte gab die clevische Regierung zu erkennen, daß sie sich den Befehlen Herzog AlbaS rückhaltlos unterordne und der Letztere war somit am Ziele der Politik, die er Cleve gegenüber mit Klug
heit und Energie seit der Uebernahme deS Oberbefehls in den Nieder landen zur Geltung gebracht hatte.
Als er im Jahre 1573 die burgundi
schen Länder verließ, war zwar der Aufstand der Provinzen keineswegs
bezwungen, aber das mächtigste der deutschen Nachbarländer, welches die Haltung der kleineren Territorier durchaus bestimmte, war in den Ge horsam Spaniens und unter den Einfluß der römischen Curie vollständig
zurückgebracht und die Nachwirkungen dieses Erfolgs find von weittragender historischer Bedeutung geworden.
Münster i. W.
Ludwig Keller.
Melchior von Diepenbrock. Stahl hat es beklagt, daß der Protestantismus dem Katholizismus
gegenüber fast nur die Stellung des borghesifchen Fechters einnehme. Diese Klage war damals unbegründet, sie ist es gegenwärtig noch mehr. Der Kirche deS unfehlbaren Papstes, die in Marpingen und DtetrichSwalde die Absurditäten auf Bäumen thronender Madonnen und Wunder
wirkenden Wassers dem katholischen Volk als Seelenspetse bietet, kann der Protestantismus nur die entschiedenste Antipathie entgegen bringen, und Kampf auf Tod und Leben ist für ihn daS einzige pflichtmäßige Verhalten.
ES war nicht immer so.
Es hat Zeiten gegeben, in denen auch der
Katholizismus, oder doch wenigstens kräftige Strömungen in der katholi
schen Kirche, vor allem für evangelische Frömmigkeit etntraten und in der Predigt der christlichen Heilswahrheit ihre wichtigste Aufgabe erkannten.
In diesem Sinne wirkte am Ende des vorigen, in den Anfängen dieses Jahrhunderts der ausgezeichnete Bischof Sailer und seine Schule.
das ist schon lange, lange her. ein
andres
Ziel gesteckt:
Aber
Der gegenwärtige Katholizismus hat sich
Die unbedingte Herrschaft der hierarchischen
Autorität, die Erstickung jeder selbständigen Regung des Geistes und Ge
wissens.
Wie diese Wandlung stattgefunden hat, zeigt uns das Lebensbild
Melchior von DiepenbrockS, dessen eingehende Biographie, mit Sorgfalt
und großer Liebe verfaßt, jüngst erschienen ist, ein Werk deS altkatholischen Bischofs Reinkens*).
Wenn wir im Anschluß an dasselbe das Lebensbild DiepenbrockS zeichnen, kommt eS uns vor allem darauf an, eS als einen Spiegel der allgemeinen kirchlichen Bewegungen darzustellen, und beschränken wir uns
daher in Bezug auf die äußeren Erlebnisse und Beziehungen auf die Mittheilung der wesentlichsten Thatsachen und Verhältnisse.
*) Melchior von Diepenbrock. Ein Zeit- nnd Lebensbild von Dr. Joseph Hubert ReinkenS, kath. Bischof. Mit dem Portrait DiepenbrockS in Original-Radirung. Leipzig. Verlag von L. Fernau. S. 499.
Melchior von Diepenbrock, einer westphälischen ÄdelSfamilie ent stammend, wurde am 6. Januar 1798 geboren.
Seine Erziehung bot
viele Schwierigkeiten. Eine sittlich reine, tief angelegte, phantasievolle Natur war in ihm mit einer Unstetigkeit, Wildheit und Zügellosigkeit
verbunden, welche es ihm sehr erschwerte, in fest geordneten Verhältnissen auszuhalten. Mancherlei pädagogische Versuche endeten mit einem Miß erfolg. Als Jüngling trat er in die Armee, aber nur, um sie bald wieder zu verlassen. Aller Subordination widerstreitend, gerieth er bald in Collisionen, die seinen Abschied aus dem Dienst herbeisührten. Es folgte nun eine Zeit ländlichen Stilllebens auf dem älterlichen Gut. In Folge
des lebhaften kirchlichen Interesses, von welchem beide Eltern erfüllt waren, fanden sich hier unter ihrem gastlichen Dach häufig Männer und Frauen ein, welche für eine geist- und gemüthvolle Wiederherstellung katholischer Frömmigkeit wirksam waren, die Fürstin Gallitzin, Luise Hensel, die Brüder Brentano. So kam im Herbst 1818 auch Sailer hierhin zum Besuch. Er sollte für Melchior Diepenbrock entscheidend
werden. Sailer gelang eS, des unsteten, mit sich und der Welt zer fallenen Jünglings Herz für eine harmonische Lebensgestaltung nach Maßgabe christlicher Frömmigkeit zu gewinnen. Die Innigkeit, Heiter keit, Milde, die schöne Vereinigung von Glaubenskraft und Liebesfülle, welche Sailers ganzes Wesen durchdrang, fesselte Diepenbrock mit un widerstehlicher Gewalt. Er glaubte, von ihm sich nicht trennen zu können, und folgte ihm nach Landshut, um dort unter seinen Augen Kameralia zu studieren. Aber bald vertauschte er dies Studium mit dem theologi schen; sein Entschluß, Priester zu werden, stand fest. Ging derselbe we sentlich aus Innern Drange hervor, vor allem vermöge der unmittebaren,
aber von diesem nicht beabsichtigten Einwirkung der idealen Priestergestalt
SailerS, so ist doch auch Clemens Brentano'S und der ekstatischen Dülmener Nonne, Katharina Emmerichs Einfluß darin spürbar. In Re
gensburg, wohin er Sailer, der dorthin als Domkapitular übergesiedelt, nachgezogen war, absolvirte er seine theologischen Studien. Am 27. De
cember 1824 wurde er von Sailer, der inzwischen Weihbischof und Coad jutor geworden war, zum Priester geweiht. Er zog nun in das Haus SailerS, um in verehrungsvoller, kindlicher Liebe ihm bis zu seinem Tode zur Seite zu stehen, wie er auch von diesem mit väterlicher Zärtlichkeit
geliebt wurde. Vergegenwärtigen wir uns,
bevor wir Diepenbrock- LebenSgang
weiter verfolgen, die religiöse und theologische Grundrichtung deS jungen
Priesters. Den größten Einfluß auf dieselbe übte Sailer. Dieser aus gezeichnete Christ, Priester und Theologe hat oft seine Weisheit in dem
Dreifachen „Licht, Leben und Liebe" zusammengefaßt.
Grunde.
Und dies mit gutem
Unter seinen Händen verwandelte sich alles Todte in Leben, er
wandte der Scholastik den Rücken und gestaltete das Dogma zum Aus
druck unmittelbarer, persönlicher Heilserfahrung; sein System — wenn wir dies Wort auf seine Gesammtanschauung anwenden dürfen — war durchaus ethisch; an der allgemeinen wissenschaftlichen Bewegung nahm
er unbefangen Theil und suchte ihre Ergebnisse für die Theologie zu verwerthen.
Seine Darstellung war warm, innig, geistreich; ein feiner
Humor gab ihr einen eigenthümlichen Reiz.
Schriften an Matthias Claudius.
Mitunter erinnern uns seine
Aber auch mit Lavaters Gesammtan
schauung und Schreibweise haben sie eine gewisse Verwandtschaft*). ES war kein Wunder, daß
ein so wenig
mancherlei Anfeindungen ausgesetzt war.
ultramontaner Mann
Es widerfuhr ihm sogar die
Ehre, in Folge der Denunziationen eines borntrten Fanatismus als Freund der Jlluminaten zeitweise — 1794—1799 — entsetzt zu werden.
Diepenbrock hat nun mit voller Hingebung dem Geist Sailers sich
erschlossen und denselben soweit in sich ausgenommen, als er vermöge seiner Individualität eö vermochte. Aber diese schloß allerdings gewisse Schranken in sich, die ihn von Sailer trennen mußten.
Diepenbrock war
Romantiker und Mystiker; Sailer stand der Romantik fern und kann nur in weiterem Sinn als Mystiker bezeichnet werden.
Diepenbrock trug einen
mönchischen Zug in sich, die Neigung zur Weltverneinung war oft so stark
in ihm, daß er in Schwermuth verfiel; Sailer dagegen war eine kind
liche, heitere, Welt offene Natur.
Diepenbrock mußte stets gegen die
Disharmonie seines Wesens streiten, Sailer dagegen war ein klarer,
harmonisch geschaffener Geist.
Für Sailer erwuchs das Priesterthum auf
dem Boden des allgemeinen Christenthums, für Diepenbrock trug es einen
ganz spezifischen Charakter; und so war auch für beide die Werthschätzung der Hierarchie nicht dieselbe.
Indessen trotz dieses Unterschiedes zwischen
beiden Männern war, was sie vereinigte, stark genug, um daS Siegel
des Geistes SatlerS Diepenbrock aufzuprägen und diesen für alle Zeit, wenn auch nicht von den Bahnen, so doch von dem Geiste deS Ultra-
montanismuS fern zu halten. Wir werden eö begreifen, daß bei dieser Eigenthümlichkeit Diepen
brock keine Neigung hatte, die Staffel der Hierarchie zu erklimmen, der Zug seines Herzens trieb ihn vielmehr in die Stille einer Landpfarrei,
und es kostete viel Mühe, ihn zur Annahme einer Domherrnstelle zu be wegen.
Dieser Gemüthsstimmung entsprach
auch die Richtung seiner
*) Bgl. des Referenten Biographie Sailers in „Zwei evangelische Lebensbilder aus der katholischen Kirche". Bielefeld 1864, besonders S. 110—147.
literarischen Studien, er gab die Schriften Heinrich Suso'S, des Mystikers aus dem vierzehnten Jahrhundert, heraus, die, mit einer Einleitung von GörreS versehen,
1830 erschienen; ein Jahr früher veröffentlichte er den
„Geistlichen Blumenstrauß aus spanischen und deutschen Dichtergärten",
deren größten Theil Uebersetzungen und Nachbildungen spanischer Dichtungen
von DiepenbrockS Hand bildeten; daran schlossen sich Gedichte von Eduard von Schenk und von Luise Hensel.
Inzwischen war Sailer wirklicher Bischof von Regensburg geworden
und sein Einfluß in allen Angelegenheiten der katholischen Kirche Bayerns
entscheidend.
Auch als er am 20. Mai 1832 gestorben war, blieb seine
Autorität maßgebend.
Sailers Nachfolger Wittmann und Schwäbl leiteten
die Diözese in seinem Geist; und Diepenbrock, 1835 Domdechant geworden,
übte in demselben Sinne segensreichen Einfluß. In der Mitte der dreißiger
Jahre aber erhob der UltramontaniSmuS auch in Bayern das Haupt und suchte mit Erfolg sich der Herrschaft zu bemächtigen.
Die Schule SatlerS
war ihm anstößig, Diepenbrock wurde ihm ein Gegenstand deS Aerger nisses.
Der Ernst, mit welchem dieser auf die sittliche Reinigung und
geistige Belebung deS Klerus drang, erweckte ihm Feinde.
Man konnte
ihm so manche Worte nicht verzeihen, welche er von der Kanzel aus ge
sprochen hatte.
Einige derselben theilen wir mit.
In der Sylvester-
Predigt deS Jahres 1840 „Die Zeichen der Zeit" hatte er die prophetische
Mahnung an den Klerus gerichtet:
„Ihr Hirten und Priester christlicher
Völker! seid wahrhaft das Salz der Erde, das ihrer Fäulniß wehrt; selb
eS durch innere geistige Belebung, nicht bloß durch euer Sitzen auf MosiS Stühlen!
Lernet unterscheiden
die Geister und widerstrebet nicht dem
Geiste aus Gott, der auch in der Geschichte weht.
Thuet hinweg aus
dem Heiligthume allen Anstoß, alles Aergerniß, allen Gräuel.
Mischet
euch weder herrschsüchtig in die Dinge dieser Welt, noch schleichet mit
gekrümmtem Rücken auf ihren Wegen, sondern schreitet aufrechten Hauptes
und festen, reinen Fußes durch sie hindurch, unbemakelt von dem Kothe ihrer schimmernden Pfützen; in demüthigem Herzen das Bewußtsein eurer überirdischen Sendung bewahrend."
In derselben Predigt gedachte Diepen
brock auch in versöhnlichem Sinne deS Gegensatzes der Confessionen:
„Ihr Christen insgesammt endlich, sagte er, die ihr in unseliger Span nung und Zerrissenheit einander anfeindet und lästert, bedenket, daß die Liebe der Brüder das höchste Gesetz und seine Erfüllung das alleinige
Zeichen des wahren Jüngers Christi ist.
Um der Sünden eurer Väter
willen hat Gott die unselige Trennung zugelassen; um eurer Sünden
willen dauert sie fort.
Tilget daher unter euch alles Böse, allen Hader-
geist, alle Feindseligkeit, alles Aergerniß, allen Gräuel und wähnet nicht,
daß die Rechtgläubigkeit oder vermeinte Reinheit eures BekenntnisieS euch retten wird am Tage des Zornes, wenn euer Wandel euer Bekmntniß
Lügen straft.
Schaffet hinweg
aus eurer Mitte allen Sauerteig deS
Pharisäismus und des SadducäiSmuS, dessen faule Gährung den Himmel
mit Qualm und Dunst bedeckt; dann erst dürfet ihr hoffen, daß euch die Sonne des ersehnten schönen TageS scheine, da Ein Hirt sein wird und
Eine Heerde."
DaS war allerdings ein andrer Geist, als ihn die Münchener histo
risch-politischen Blätter verkündeten und die in ihrem Geiste thättgen Prediger.
Der erste Feldzug deS UltramontaniSmuS war gegen die ge
mischten Ehen gerichtet; in München war es der Hofprediger Anton Eber hard, der ihn von der Kanzel aus in einem CycluS von Predigten über
die Ehe unternahm.
Die maßlosesten und gemeinsten Schmähungen gegen
den Protestantismus und die Reformatoren durchzogen diese Predigten, unsere Feder sträubt sich, sie zu wiederholen.
Um aber den Geist zu
charakterisiren, den diese Predigten athmen, theilen wir einige Apostrophen
an die Frauen mit, welche eine gemischte Ehe etngehen, ohne die Erziehung
aller Kinder in.der katholischen Confession zu sichern.
„Unnatürliches
Weib!" ruft er, also soviel an Dir liegt, hast Du Dein Kind, noch eh' eS geboren wurde, dem ewigen Verderben verkauft.
Du verdienst den
Namen einer Mutter nicht, da Dir nicht einmal die Gefühle der Natur
heilig sind."
„DaS Gesetz der Natur verbietet sogar in der Thierwelt
der Mutter, ihre Jungen freiwillig einer Gefahr preiszugeben; um so
mehr verbietet daS Gesetz der Natur dem Katholiken eine Ehe zu schließen,
durch die er seiner eignen Seele und der Seele seiner Kinder Gefahr be reitet, die ewige Seligkeit zu verlieren."
„Katholik, der Fluch wird auf
Deiner Ehe sein und nicht der Segen! Denn Du fügest zu jener furcht baren Sünde, durch die Du Deiner Kinder Seele und Seligkeit verkauft
hast, noch die Sünde eines Sacrilegiums hinzu, indem Du das Sakrament
der Ehe im Zustande einer Todsünde empfängst." Die Erregung, welche diese auf daS zahlreichste besuchten Predigten
hervorbrachten, war eine große.
Mitglieder der protestantischen Gemeinde
Münchens wandten sich, Beschwerde führend, an den König.
Dieser be
auftragte darauf, wie eS scheint, daS Ministerium, den Bischof Schwäbl,
der früher Domkapitular in München gewesen war und allgemeine Ver
ehrung genossen hatte, vertraulich aufzufordern, er möge Eberhard von dieser
maßlosen Polemik
abzulenken suchen.
folgte dieser Aufforderung.
Schwäbl,
Leider wurde aber
Todes
sein Schreiben,
krank,
sehr
gegen seinen Willen und ohne seine Schuld, in die Oeffentlichkeit gebracht. Eberhard antwortete mit triumphirender Selbstgerechtigkeit.
Acht Wochen
darauf starb Schwäbl.
Diepenbrock hielt ihm die Trauerrede.
Er sprach
hier als Apologet Schwäbls und der Sailerschen Schule und wurde des
halb von den Gegnern derselben verdächtigt.
Sie konnten eö ihm nicht
verzeihen, daß er Sailers Wort citirt hatte:
„Der Geistliche, der das
Evangelium in der Hand und im Herzen hat, Liebe predigt und Liebe
übt, Gottesfurcht mit Worten lehrt und Gottesfurcht mit Thaten beweiset, wird aber nicht nur von den rohen, sinnlichen Menschen und von den
selbstsüchtigen denkenden Köpfen zu leiden haben; das Meiste wird er
leiden müssen von seinen Mitgeistlichen, die ihn entweder auS Unkenntniß
verfolgen werden, weil sie seinen Geist nicht haben, also auch nicht richten können, oder, auS eigennützigen oder ehrgeizigen Absichten, sein Licht in
den Schatten und die Finsterniß auf den Leuchter setzen werden."
Sie
konnten ihm nicht vergeben, daß er von neuem gegen den konfessionellen Fanatismus seine Stimme erhoben hatte:
„Vergiftet nicht die traurige
Wunde, die seit drei Jahrhunderten durch daS Herz der Christenheit und
durch daS Herz eines feden wahren Christen klafft, vergiftet sie nicht aus'S
Neue durch leidenschaftlichen Streit und geifernden Hader; streuet nicht, in dem Wahn, sie zu heilen, den ätzenden Höllenstein des Fanatismus
hinein, und holet nicht auS der Rüstkammer der Vergangenheit die schar tigen Waffen ergrimmter Polemik hervor, damit sie nicht noch einmal in
euern Händen sich in blutige Mordwaffen verkehren und, in den eigenen Eingeweiden deS Vaterlandes wühlend, mit neuem dreißigjährigem Blut
bade und Feuermeere Deutschland, Europa verwüsteni
Nur im Frieden,
in der Liebe ist Verständigung möglich, nur in der Verständigung Eini gung, nur in der Einigung Heil; der Hauch der Leidenschaft aber raubt
dem Worte der Wahrheit die überzeugende Kraft.
Um diesen Frieden,
diese Einigung fleht ja täglich die katholische Kirche in ihren heiligsten Gebeten; die edelsten Geister haben darnach gerungen, indem sie, von der
gemeinsamen Grundlage deS Christenthums ausgehend, durch friedliche
Beseitigung der Mißverständnisse und Irrthümer den Riß zu heilen sich
bemühten.
WaS vergangener Zeit nicht gelungen, eS kann, eS soll, es
muß der künftigen aufbehalten fein, alles mahnet zu dem großen Werke." Diese Rede besiegelte die Jsoltrung DiepenbrockS in Bayern.
Die
Schule Sailers war auf den Aussterbeetat gesetzt worden, König Ludwig, bis dahin derselben mit htngebender Begeisterung zugethan, hatte sich von
ihr ab und der neuen kurtalistischen Strömung zugewandt.
SchwäblS
Nachfolger, Riedl, gehörte nicht mehr der Sailerschen Schule an, wenn
er auch nicht aus der Zelotenpartei hervorgegangen war.
Denn die Ge
fahren, die von dieser letzteren drohten, erkannte auch der König und selbst
der Minister Abel, ihr Protektor.
DaS Ministerium erließ ein Reskript
— vom 23. Juni 1842 —, in welchem es erklärte, nicht dulden zu wollen „daß auf der Kanzel oder in öffentlichen Druckschriften der Religions friede unter den im Königreiche bestehenden christlichen Kirchengesellschaften
durch böswillige Angriffe gestört, Haß gegen Andersgläubige aufgeregt
oder genährt, durch Schmähungen gegen die eine oder andere der erwähnten Kirchengesellschaften
oder in
irgend einer sonstigen Beziehung den be
stehenden Gesetzen und Verordnungen zuwider gehandelt, der Streit über
abweichende Glaubenslehren in das Gebiet der Parteiwuth und der Lei
denschaft herabgezogen und auf solche Weise unchristliche Gesinnung ge pflanzt und gefördert, der unter dem Schirme der Gesetze stehende RechtSzustand verletzt und die innere Eintracht untergraben werde." charakteristischer
für den Geist,
Nichts ist
der daS erzbischhöfliche Ordinariat in
München erfüllte, als die Antwort, mit der es dieses Reskript erwiederte.
Die „Andersgläubigen" deS Reskripts werden hier zu „Irrgläubigen", die Annahme, daß Protestanten und
Katholiken die Grundlehren deS
Christenthums gemeinsam haben, erscheint als gefährlichster JndifferentiS-
Am empörendsten ist die Beurtheilung der Reformatoren.
muS.
„Man
könnte nämlich, heißt eS, protestantischer Seit» fordern, daß die Per sonen der sogenannten Reformatoren geschont,
ihre Widersprüche,
sittlichkeiten und endlosen Zwiste nicht erwähnt werden sollen.
Un
So sehr
nun auch die oberhirtliche Stelle wünscht, daß die persönliche Bekämpfung der Urheber der Glaubenstrennung nicht allzu oft vorkomme, so kann sie doch den Predigern dieselbe nicht unbedingt verbieten, denn abgesehen
davon, daß diese Personen der Geschichte und ihrem strengen Urtheil an gehören, ist ihr sittliches Nichtbesähigtsein zu Reformatoren gerade einer
der schlagendsten Beweise für die Unrechtmäßigkeit ihres Unternehmens und somit für die Wahrheit der katholischen Kirche." Es ist begreiflich, daß, als die geistige Strömung, die unS in dieser
Aeußerung der höchsten geistlichen Autorität Bayerns entgegen tritt, maß
gebend wurde, die Stellung Diepenbrockö eine immer peinlichere werden mußte.
Aber
auch schon hatte sich auf ihn der Blick König Friedrich
Wilhelm IV. gerichtet, ihn für Preußen zu gewinnen.
Wenn auch die
vertraulichen durch Radowitz geführten Unterhandlungen, Diepenbrock zum
Coadjutor deS Erzbischofs von Köln zu ernennen, zuerst an der eignen entschiednen Abneigung deS letzteren, dann aber auch an den Diepenbrock feindlichen Münchener Einflüssen scheiterten, so sollten doch bald darauf neue Beziehungen mit ihm von derselben Seite aus angeknüpft worden,
welche schließlich zum Ziele führten.
Er wurde Fürstbischof von Breslau.
Um die Aufgaben, die hier seiner warteten, zu würdigen, müssen wir der letzten Vorgänger Diepenbrockö gedenken. Pnuiische Jahrbücher. $b. XLV1II. Heft 6.
Im Jahre
1836 hatte den
44
fürstbtschöflichen Stuhl Graf Leopold Sedlnttzkh von Choltitz bestiegen
ein tieffrommer, auch im katholischen Sinne tieffrommer Mann, vielseitig Von ganzem Herzen seiner Kirche
gebildet und freien, offenen Geistes.
zugethan, stand er doch der ultramontanen Richtung fern.
liche Natur, war
Eine inner
er vielmehr jenen Männern verwandt, die in den
großen Conzilien des fünfzehnten Jahrhunderts an einer Reformation der
Kirche gearbeitet hatten; fühlte er sich vielmehr zu den geistigen Bestre bungen, durch innere Vertiefung die Kirche zu reinigen, hingezogen, wie wir sie bei einem Pascal, Fenelon, Sailer, Overberg und anderen finden.
Und so sehr er auch die katholische Kirche als die Kirche der Zukunft
ansah, war er doch zu fromm, um sich nicht auch in den Schriften der Protestanten Claudius, Lavater, Stilling, Moser, Tersteegen, Hamann
zu erbauen, und in Folge dessen auch wohlwollender über den Protestan
tismus zu urtheilen.
Von diesem Standpunkt aus sah er mit Betrübniß
auf die Ziele, welche die herrschende kirchliche Richtung verfolgte, auf die
Uebertreibung des Heiligen- und Bilderkultus, das Ablaßwesen, die Wall fahrten, die Bibelverbote.
Als werthvolle Reformen erschienen ihm die
Einführung der deutschen Sprache bei dem Gottesdienste und die Auf hebung des CölibatS.
Doch wünschte er, bevor an diese Reformen ge
gangen werde, Vorbereitung der Gemüther, und trat daher, als einige
katholische Geistlichen den Fürstbischof von SchtmonSkh um Einführung dieser Reformen baten, diesem Verlangen entgegen, daS übrigens auch
von der preußischen Regierung sehr energisch
abgelehnt wurde.
Ministerialreskript vom 13. Februar 1827 erklärte:
Ein
„solchen Neuerungs
versuchen müsse mit dem größten Nachdruck begegnet werden;
von Ab
schaffung der lateinischen Sprache bet der Messe und Einführung neuer Ceremonien dürfe gar keine Rede fein."
Ueberhaupt war das Verhalten
der Regierung in Angelegenheiten der katholischen Kirche mitunter schwer
begreiflich.
Gleich nach AntrUt seines Amts wurde von den Ultramon
tanen eine Anklage gegen Sedlnitzkh erhoben, daß er in seinem AmtStitel sich nur auf GotteS Gnade, nicht
Stuhles Gnade bezogen habe. Verantwortung.
aber zugleich auf des apostolischen
Das Ministerium zog ihn deshalb zur
Sedlnitzkh entgegnete, daß die Gleichordnung des Papstes
mit Gott hinsichtlich der Gnadenquelle seiner Würde ihm nicht schicklich erscheine, auch die meisten seiner Vorgänger, weil sie ihr Amt unmittelbar
von
den Aposteln
herleiteten,
die Beziehung
auf
die Autorität
deS
Papstes unterlassen hätten; daß er endlich seine bischöfliche Stellung auch der Wahl deö Kapitels und der Bestätigung deS Landesherr» verdanke. ES folgte nun eine Zeit friedlichen Wirkens, der größte Theil des Klerus
war dem neuen Fürstbischof zugethan.
Aber er selbst sollte, wenn auch
schlildlos, seine Stellung erschüttern.
Da seine Kränklichkeit ihn am Pre
digen hinderte, wünschte er einen homiletisch begabten Mann nach BreStou zu ziehen.
Förster.
Sein Auge fiel auf den Pfarrer in Landshut, Heinrich
Es empfahl ihn feine friedfertige Stellung zu den Protestanten.
Der Pfarrer Falk, Vater des späteren Ministers, war mit ihm durch
nahe Freundschaft verbunden.
Als dessen Vater, der Superintendent Falk,
starb, nahm Förster am Begräbniß im Talar Theil und hielt auch eine
hemach gedruckte Trauerrede, die dem Gedanken Ausdruck gab: Wo der Glaube trennt, einigt die Liebe. evangelische Bischof Dräseke.
Sein homiletisches Vorbild war der
So berief Sedlnitzkh Förster zum Domherr.
Er hatte sich in ihm getäuscht.
Der neue Domherr wurde bald eine
Säule der ultramontanen Bewegung.
Die milde Praxis bei gemischten
Ehen, die er selbst befolgt hatte, verurtheilte er jetzt, forderte vom Dom
kapitel und dem Fürstbischof ein gleiches, und erklärte, er werde zur Auf rechthaltung der alten Praxis nicht mitwirken, man möge ihn seiner RathS-
stelle entbinden.
Weder daö eine noch das andere geschah.
auf andere Weise operirt.
Jetzt wurde
Der Jesuitenpater Beckx, der jetzige General
der Jesuiten, erschien in BreSlau, logirte inkognito bei Förster und ver
faßte hier eine Anklage gegen den Fürstbischof, die er in Rom übergab.
Bald darauf erhielt letzterer eine päpstliche Anklageschrift auf geheimem
Wege; ebenso empfing das Domkapitel unter Försters Adresse ein päpst
liches, gegen Sedlnitzkh gerichtetes Schreiben. den Inhalt.
Die Anklage hatte folgen
Erstens, der Fürstbischof habe seit zwei Jahren noch keinen
Hirtenbrief erlassen; er begünstige die Hermesianer; er verfolge eine un gesetzliche Praxis
bei gemischten Ehen.
Um den Ton des päpstlichen
Schreibens zu charakterisiren, theilen wir mit, daß es Sedlnitzkh vorwarf,
er sei faul und gähne.
Dieser Ton fand in der Behauptung der histo
risch-politischen Blätter einen Wiederhall: „Die Diözese regiert sich selber, da das Haupt in geistiger Erstorbenheit liegt; und die Glieder müssen sich nothgedrungen vom Haupte lossagen, damit sie nicht die gleiche Krank heit erfasse." Hören wir nun die Vertheidigung SedlnitzkyS.
Da der Inhalt seines
ersten Hirtenbriefs, noch bevor ihn jemand gesehen haben konnte, in Par
teischriften auf daS gehässigste beurtheilt sei, habe er den Erlaß eines zweiten Hirtenbriefs nicht für heilsam erachtet.
Den HermesianiSmuS
habe er immer bekämpft, wenn er sich auch bemüht habe, in den Personen fragen gerecht zu verfahren.
Was endlich die gemischten Ehen anlange,
so befolge er die seit mehr als hundert und zwanzig Jahren in Schlesien
übliche und zwar mit Vorwissen und ohne Einspruch deS Papstes übliche
Praxis.
„Kaiser Karl VI. hat ausdrücklich verordnet, daß in Schlesien 44*
Melchior voll Diepeabrock.
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nach dem Muster des heiligen Römischen Reichs in gemischten Ehen die
Söhne der Confession des Vaters, die Töchter jener der Mutter folgen
sollen.
Hiernach ist auch in der Regel verfahren worden, und es haben
eine Menge solcher Ehen, welche jederzeit von katholischen Geistlichen etngesegnet worden, stattgefunden.
Im Jahre 1750 verordnete Friedrich II.,
daß der schlesische Minister mit der geistlichen Behörde zusammentreten und ein Gesetz über die kirchlichen Verhältnisse zur Vermeidung aller Collisionen entwerfen solle.
Nach einer monatelangen Berathung ist im Ein-
verständniß mit dem Bischof und Capitel daS bekannte Gesetz (durch daS Landrecht) publicirt worden, in welchem dieselben Grundsätze festgehalten werden, nach welchen schon lange Zeit unter Kaiserlicher (Landes-) Hoheit
verfahren werden mußte.
Ueber dieses Gesetz hat der Ordinarius (Bischof)
der Diözese dem römischen Stuhle Mittheilung gemacht, und von letzterem ist
So sind seit mehr als hun
erwiedert worden, daß er conniviren wolle.
dert Jahren die gemischten Ehen mit Borwissen des römischen Stuhls von allen Geistlichen--------- eingesegnet worden, ohne ein vorhergehendes
Versprechen zu fordern, und ohne eine bloße assistentia passiva anzu wenden."
Die Berufung auf die päpstliche Zustimmung war durchaus
begründet.
Benedict XIV. hatte erklärt, daß er das Edikt des Landrechts
vom 8. August 1750 nicht positiv approbiren, aber doch dissimuliren könne.
„Dieses unser Wissen muß genügen, um Dein Gewissen sicher zu stellen, da ja in der Materie, um die es sich handelt, ein Widerspruch mit dem
göttlichen oder natürlichen Rechte nicht eintritt, sondern nur mit dem kirch lichen Rechte." Nach zehn Monaten antwortete der Papst in einem Schreiben „voll Jetzt war der Entschluß
Leidenschaft, Unwahrhaftigkeit, Ungerechtigkeit".
des Fürstbischofs gefaßt; er resignirte und legte am 10. Mai 1840 sein Amt nieder.
Wie bekannt, ist Sedlnitzkh 1863 zur evangelischen Kirche
übergetreten; damals aber war er noch von ganzem Herzen Katholik, wenn auch nicht im Sinne des UltramontaniSmuS.
Dieser letztere suchte jetzt
vergeblich, seinen Candidaten Förster auf den erledigten bischöflichen Stuhl zu setzen.
Der König strich seinen Namen und setzte es durch, daß der
sieben und siebenzig Jahre alte Großdechant Joseph Knauer aus der Graf
schaft Glatz gewählt wurde.
Am 23. April 1843 wurde er konsekrirt,
aber schon nach dreizehn Monaten starb er.
Jetzt trat der König für die
Wahl DiepenbrockS ein, und am 15. Januar 1845 erwählte ihn das Dom kapitel.
Aber Diepenbrock lehnte ab. ES fanden neue Verhandlungen statt,
endlich erklärte Diepenbrock, daß er nur die Wahl annehmen werde, wenn
der Papst es ausdrücklich wünsche. ES unterliegt keinem Zweifel, daß Diepen
brockS Sträuben durchaus ehrlich gemeint war,
daß er keine Komödie
spielte.
An seine Freundin, die Malerin Emilie Linder, eine Schweizerin,
die von der reformirten zur katholischen Confessio« übergetreten war, schrieb er:
„Die Stellung in Breslau ist so grandios; der Bischof müßte sich
fortwährend wahren, nicht von dem Fürsten verschlungen zu werden.
Das
Äußerliche überwuchert nur zu leicht mit Dornengestrüppe den inneren Acker des Lebens.
Denken Sie sich nur den Anfang.
Etwa hier oder
in München oder in Bamberg geweiht, müßte ich nach Berlin an Hof
zum Könige, allen Prinzen, Ministern u. s. w.; nach
acht Tagen am
in die Kathedrale und Jnthronisirung in
Hoflager feierlicher Einzug
Breslau; dann ein paar Tage Diners u. f. w. dann nach Oesterreich, zuerst zum Gouverneur nach Brünn, dann an's Wiener Hoflager, Huldi
gung, Aufwartungen u. f. w.
Ist das nicht ein erbaulicher Anfang des
Apostolats für einen kaum geweihten Bischof?
Und wie der Anfang so
auch nach Verhältniß der fernere Verlauf deS HirtenlebenS.
Der Pastor
fido von Guarini gleicht kaum weniger dem Hirtenleben Ihrer Schweizer berge als ein solches fürstbischöfliches Leben dem Apostolate."
An eine
andre Freundin, Charlotte von Neumaher, schrieb er: „Ich gestehe Ihnen,
daß allerdings der Drahtzug der g6ne, der Conventen; und äußern Re präsentation, durch den mein ganzes Wesen, und jeden Tag, jede Stunde
meines Lebens aufs neue, hätte hindurch passiren müssen, daß dieser
Drahtzug mir wohl als eine Art von Folter erschien; allein um eines großen, hohen Zweckes willen hätte ich mich darein gefügt, auf die Macht
der Gewohnheit und auf den Umstand zählend, daß doch in jedem Augen
blicke nur ein Opfer zu bringen sei.
Aber die Ueberzeugung konnte ich
nicht gewinnen, daß zur Erreichung des hohen Zweckes selbst, zur Lösung
der schweren Aufgabe, der erforderliche Stoff in mir stecke, daß sohin der Ruf wirklich als ein hoher, göttlicher, und nicht als ein bloßes Resultat
menschlicher Abkartung, an mich ergehe; konnte den Glauben nicht fassen,
daß Gott mich dorthin sende und mir also auch die erforderliche Mitgift von Kraft und Weisheit nicht versagen werde."
ES war der Zug zu pastoralem Stillleben, zu beschaulich literarischer Thätigkeit, der Diepenbrock vom BreSlauer Bischofsstuhl zurückhielt; er war eine zu innerlich angelegte Natur,
schaft und Glanz ihn hätte reizen können.
mayer erkennen wir aber
als daß die Aussicht auf Herr
AuS dem Brief an Ch. v. Neu
auch, weshalb er sich
Wunsche des Papstes folgen zu wollen.
bereit erklärte, dem
„Hätte man mich, schreibt er,
als Soldaten der Linie einfach hinkommandirt, dann wäre ich gegangen; als Volontair hingehen, erschien mir im gewissenhaften Ueberblick meiner
Munition als eine Vermesfenheit."
Hier tritt uns die Gestalt spezifisch
katholischer Frömmigkeit entgegen.
Ueber die lebhaftesten Zweifel an
seinem inneren Beruf hebt ihn der gehorsame Glaube an die kirchliche
Im Gehorsam gegen das Wort des Papstes gewinnt
Autorität hinweg.
er einen Muth und eine Freudigkeit, welche ihm aus inneren Quellen nicht entspringen wällten.
Und dies Wort des Papstes wurde gesprochen.
Da man in Rom mit einer gewissen Besorgniß auf die deutsch-katholische
Bewegung sah, die damals begonnen hatte, glaubte man, daß jetzt ein ultramontaner Bischof in BreSlau nicht opportun sei; und da man des
Gehorsams DiepenbrockS gegen Rom gewiß sein konnte, so wie auf seine sittliche Energie
vertrauen,
so erschien Diepenbrock als
der geeignete
Candidat.
Der Papst sprach sich in diesem Sinne aus, und Diepenbrock
gehorchte.
Am 27. Juli 1845 trat er sein bischöfliches Amt in BreSlau an.
Diepenbrock hat die große Aufgabe, die ihm hier gestellt war, mit
hingebender Treue und Gewissenhaftigkeit zu lösen gesucht, und der ge
hoffte Erfolg ist nicht auSgeblieben.
In der Herrschaft, die ihm anver
traut war, hat er eifrig für den Wohlstand seiner Untergebenen gesorgt; besonders hat er durch Errichtung von Spinnschulen die bis dahin dar
nieder liegende Garnfabrikation gehoben.
Als Bischof
hat er
durch
Gründung von EnthaltsamkeitS- und Mäßigkeitsvereinen daS körperlich
und moralisch zerrüttete oberschlesische Volk gerettet. dem römischen sich anschließendes Ritual hergestellt.
Er hat ein neues,
In demselben, gemäß
der von Anfang an in Schlesien bestehenden Sitte, ist für die Taufe,
Krankenkommunion, Einsegnung der Ehe, Aussegnung der Wöchnerinnen, Ertheilung der letzten Oelung,
diktionen
Begräbnißgebete und mancherlei Bene
der Gebrauch der Muttersprache, also neben der lateinischen,
der deutschen und polnischen Sprache, gestaltet.
Erloschne Kirchen wurden
wieder hergestellt, die Pfarreien neu organisirt.
Diepenbrock erwarb sich
durch die Treue in seinem Wirken, durch den sittlichen Adel seiner Per sönlichkeit bald
die
allgemeine Sympathie des katholischen Volks und
Klerus; und auch die Protestanten konnten ihm ihre Hochachtung nicht
versagen.
In den politischen und kirchlichen Stürmen, die während seiner
Verwaltung über Deutschland hinbrausten, hat er sich als einen mannhaften
und umsichtigen Kämpfer bewährt, der auch da, wo er Widerstand leistete, für die Forderungen der Zeit Verständniß zeigte.
Zuerst war es der Deutsch-Katholizismus, den er bestreiten mußte, und
über den er auch leicht den Sieg davon trug.
Der Anlaß zur
deutsch-katholischen Bewegung, die Wallfahrt zum heiligen Rock in Trier,
war ihm
aber durchaus nicht sympathisch.
schreibt er an seine Freundin, lassen gesehen.
„Die Trierer Wallfahrt,
Frau Tiedemann, hätte ich lieber unter
JstS auch erfreulich, daß Hunderttausende ihren Glauben
an JesuS Christus durch die Wallfahrt zu seinem angeblichen Rock kund
geben, zumal in unserer gldubenskalten Zett, so wäre doch ein würdigerer,
wesentlicherer Anlaß und Grund zu solcher Manifestation zu wünschen, als diese Reliquie, deren Echtheit zweifelhaft, wenigstens nie historisch zu
Und die Reliquienverehrung, so menschlich, so rein und edel
erweisen ist.
sie an sich ist, liegt doch zu sehr an der Peripherie des wahren Katholi zismus, als daß sie für das Centrum, für die Hauptsache je gelten könnte. Die Ronge'sche und Czeröki'sche Erscheinung ekelt mich an.
Da ist kein
Hauch wahrer Religiosität; nur burschikoses, rationalistisches, radikales
Lärmschlagen.--------- Für die Uebel, woran wir leiden, ist daS kein Hei lungsprozeß: eS ist wildes Fleisch in unseren Wunden." Schmerzlich bewegte Diepenbrock daS zu öffentlichem Aergerniß ge
wordene Verhältniß König Ludwigs I. von Bayern zur spanischen Tänzerin
Lola Montez.
Diepenbrock hatte dem König seiner Zeit nahe gestanden,
hatte früher mit ihm gemeinsam verehrungsvoll zu Sailer emporgeblickt und glaubte deshalb berechtigt zu sein, ein ernstes Wort an den Fürsten
zu richten.
AuS der Antwort des Königs theilen wir die wichtigste Stelle
„Auf Schreiben des Gegenstandes, von welchem das Ihrige vom
mit.
29. Jänner handelt, pflege ich nicht zu antworten, mache jedoch hinsichtlich
Diepenbrocks, an deffen guter Meinung mir gelegen, eine Ausnahme. Der Schein trügt.
Maitresfenwtrthfchaft mochte ich nie und mag sie nicht;
Bekanntschaften hatte ich aber fast immer, welche meine Phantasie ange regt; und gerade sie waren mein bester Schutz gegen Sinnlichkeit.
Ich
besitze ein poetisches Gemüth, was nicht mit dem gewöhnlichen Maßstabe gemessen werden darf.
Wie der Schein trügt, will ich Ihnen sagen, in
dem ich hiermit mein Ehrenwort gebe, daß ich ... .--------- Brechen kann ich nicht, vermöchte nicht mehr, mich selbst zu achten, man begehre
von mir nicht das Unmögliche."
Bon neuem schrieb Diepenbrock an den
König, erinnerte ihn an die Vergangenheit jenes Weibes und legte ihm die Frage an das Herz, wie die Welt an ein reines Verhältniß zu einer
Person glauben könne, die in aller Welt als Buhlerin bekannt und be rüchtigt sei. König.
Auch noch ein drittes Schreiben richtete Diepenbrock an den
ES ist bekannt, daß erst im Februar 1848 Lola Montez aus
Bayern ausgewiesen wurde.
Bald darauf legte König Ludwig seine Krone
nieder.
Das Jahr 1848 brach herein, die Throne wankten, ein Umsturz aller Verhältnisse drohte.
In einem Hirtenbrief mahnte Diepenbrock zur Treue
gegen den König, zur Achtung gegen Obrigkeit und Gesetz.
Bor allem
trat er den sozialistischen Elementen in der Bewegung entgegen.
Im
Sommer 1848 nahm er als Deputirter an den Arbeiten des deutschen Parlaments Theil; mißgestimmt, von schwerer Krankheit sich langsam er-
Melchior von Diepenbrock.
620
Von der Unhaltbarkert der durch
holend, kehrte er nach Breslau zurück.
die Revolution beseitigten Verhältnisse war Diepenbrock überzeugt.
„Wie
fest und sicher, schrieb er an Charlotte von Neumaher, wähnte man sich in diesem mit Protokollen und Bayonnetten aufgerichteten und gestützten europäischen Staalenbau!
Da fliegen einige Zeitungsblätter über den
Rhein, und der ganze Bau stürzt zusammen wie ein Kartenhaus.
Es
hätte ganz so ohne den Verlust eines Menschenlebens vor sich gehen
können; denn die Straßenkämpfe in Berlin und Wien waren doch eigentlich nur eine zufällige Zugabe; die Dinge wären auch ohne sie so geworden,
sie waren schon so gut wie geworden."
wartete er mit Bestimmtheit,
Die Einigung Deutschlands er
aber er hielt ein Erbreich für unwahr
scheinlich; einer Hegemonie Preußens sah er freudig entgegen, nachdem
er der katholischen Träumerei, Bayern an der Spitze Deutschlands zu sehen, entsagt hatte. Die schwersten Tage sollten noch kommen. hatte die Nationalversammlung
Am 15. November 1848
in Berlin die Steuerverweigerung
be
schlossen; ein Schritt, der von den verhängnißvollsten Folgen sein konnte.
In BreSlau erklärte sich der Magistrat, ja selbst der Oberpräsident Pinder Da war es Diepenbrock, der am
für den Beschluß der Abgeordneten.
18. November durch einen Erlaß an die Katholiken mit aller Bestimmt
heit für die Autorität des Königs als der von Gott gesetzten Obrigkeit
eintrat und die Steuerentrichtung
als unerläßliche Pflicht bezeichnete.
Dieser Erlaß hatte durchschlagenden Erfolg.
Das Ministerium ließ sofort
30000 Abdrücke in allen Provinzen verbreiten.
Diepenbrock war
der
einzige Bischof, der mit solcher Entschiedenheit die Revolution bekämpfte
und für daS Königthum eintrat.
Der UltramontaniSmuS, der gern im
Trüben fischt und, wenn es ihm oppertun scheint, auch mit Liberalismus und Revolution liebäugelt, fühlte sich nicht veranlaßt, Diepenbrocks Be
strebungen zu unterstützen.
lotte von Neumayer:
Am 27. Dezember schrieb letzterer an Char
„Leider hat keiner der andern Bischöfe ein Gleiches
gethan; am Rheine wäre es fast wohl eben so nothwendig gewesen wie
hier, und, wie ich höre, haben die Wohlgesinnten den Erzbischof Geißel
förmlich, selbst in Zeitungen, zu einer ähnlichen Erklärung aufgefordert, allein ohne Erfolg
Die Herren mögen mir nun nicht besonders hold
sein; allein ich habe meine Pflicht gethan, und mein Domcapitel, das ich zu Rathe zog, war vollkommen einverstanden und dankte mir sehr für den
Schritt."
Die größten Sympathien gewann Diepenbrock jetzt bei König
Friedrich Wilhelm IV., der ihm mit bewegtem Herzen dankte und seitdem
eine unveränderte Freundschaft bewies. Kein größerer Gegensatz war denkbar, als zwischen dem Erlaß Diepen-
brocks und dem Hirtenbrief, den Geißel am 30. November erließ.
In
diesem kritischen Momente hatte er kein Herz für die Noth des StaatS,
der fein Vaterland geworden war; kein Wort, in dem er gegen den Auf ruhr, der hier drohte, gesprochen und zum Gehorsam gemahnt hätte. ist ausschließlich der römische Aufstand, dessen er gedenkt.
ES
Diepenbrock
that beides, der Hirtenbrief des WethnachtSfesteS 1848 ist ebensowohl den römischen Wirren wie den Interessen seines Vaterlandes gewidmet.
Vermöge der Loyalität und des Patriotismus, die ihm eigen waren, mußten sich DiepenbrockS Wege von denen des UltramontaniSmuS auf dem politischen Gebiet im engern Sinne trennen.
Dagegen ging er mit
dem UltramontaniSmuS in kirchenpolitischer Beziehung Hand in Hand. Diepenbrock war Idealist. Staat.
Er schwärmte für die freie Kirche im freien
Beide sollten volle Selbständigkeit genießen und selbständig zu
sammen wirken.
Rom und das Papstthum erschienen ihm im idealen
So gingen seine Bestrebungen dahin, allen Einfluß des StaatS
Licht.
auf die Gestaltung des katholischen KirchenthumS zu beseitigen, und be
nutzte er alle ihm zu Gebote stehenden Mittel, dies Ziel zu erreichen. Es zeigte sich dies auch in seinem Verhalten zu der theologischen Fakultät
in BreSlau.
Er forderte die Mitwirkung bei der Ernennung der Pro
fessoren, er forderte und erlangte, daß den Professoren nur ein bedingter
Eid auf die Verfassung abgenommen werde.
Sie hatten schriftlich zu er
klären, daß der neue Eid die Rechte der Kirche und ihre Verpflichtungen
gegen dieselbe nicht beeinträchtigen, folglich auch ihre kirchliche Stellung in nichts ändern könne.
In innerlicheren, das Glaubensleben betreffenden Fragen
blieben
aber nach wie vor DiepenbrockS und des UltramontaniSmuS Wege ge trennt.
Als am 2. Februar 1849 der Papst Bericht erforderte,
„von
welcher Andacht der Klerus und daSj gläubige Volk zu der Empfängniß der unbefleckten Jungfrau beseelt sei, und von welcher Sehnsucht brenne,
daß diese Angelegenheit vom apostolischen Stuhle entschieden werde", beauf tragte Diepenbrock Professor Baltzer, der als Güntherianer in heterodoxem
Rufe stand, das Gutachten abzufassen, das verneinend lautete. Und bald trat
er zugleich mit Cardinal Schwarzenberg für Günther ein. dies nicht seinem Renommö bei der Curie.
Doch schadete
Sein erfolgreiches Wirken
für die Selbständigkeit der katholischen Kirche, für ihre Unabhängigkeit vom Staat, seine hingebende Verehrung für den Papst, von dem er nur die besten Entschließungen erwartete, machten seine dogmatische Abweichung vom UltramontaniSmuS verzeihlich; und der Papst trug daher kein Be denken, die Anerkennung seiner Verdienste durch die Verleihung der Car-
dinalSwürde, die gleichzeitig Erzbischof Geißel von Köln zu Theil wurde,
Melchior von Diepenbrock.
622
Am 4. November 1850 überreichte ihm der Wiener Nuntius
zu besiegeln.
den CardinalShut.
Gewiß, Diepenbrock war kein Ultramontaner geworden, aber manche innere Wandlungen hatten in ihm stattgefunden.
Der weite Blick, der
den Regensburger Domherrn auszeichnete, der weite Blick über die Grenzen der eignen Confession, er fehlte dem Auge des Fürstbischofs.
Das römische
Element des Katholizismus, daS früher zurückgetreten war, hatte immer mehr Macht über ihn gewonnen.
Seine Gefammtanfchauung hatte sich
verengt und vergröbert, die Impulse der Sailerschen Theologie waren im Lauf der Jahre immer schwächer geworden. dazu entschließen,
Konnte er sich doch sogar
im Frühjahr 1852 Jesuitenmissionen zu veranlassen,
wenn auch mit der Weisung, „von aller Polemik sich fern zu halten, und nur die sittlichen und dogmatischen Grundlehren des Christenthums zu predigen".
Diepenbrock war vor allem eine poetisch und mystisch ange
legte Natur, entbehrte zu sehr der Schärfe des Gedankens, der Klarheit
des Blicks, um der Zeitströmung dauernd Widerstand zu leisten.
Ein
asketischer Zug, der ihn in Passivität und Resignation daS Wesen christ
licher Frömmigkeit erkennen ließ, steigerte seine Neigung, im Gehorsam
gegen die päpstliche Autorität die Selbstverleugnung zu bewähren.
Und
eS ist kein Zweifel, Diepenbrock würde auch den neuen Dogmen RomS sich gefügt haben, er hätte nicht die Energie gehabt, sie anhaltend zu be
kämpfen.
Durch einen frühen Tod — er starb am 20. Januar 1853 —
ist Diepenbrock vor dem
worden, dem
trüben und
Siegeswagen des
Herzen zu folgen.
demüthigenden Geschick bewahrt
UltramontaniSmus
mit zwiespältigem
BiS an die Pforten des Sieges hat er die ultra
montanen Schaaren geleitet, ohne es zu wollen, ihren SiegeSzug fördernd;
die letzten Triumphe derselben hat er nicht erlebt.
So umfließt noch seine
Gestalt der Jugendglanz des Sailerschen Geistes; und nur eine schärfere Beobachtung zeigt uns, daß dieser Glanz im Schwinden war und die
dunklen Schatten einer andern Zeit ihn schon umhüllten.
Diepenbrocks
Lebensbild zeigt uns den Gang des Katholizismus von evangelischer Ver tiefung und Innerlichkeit zu römischer Veräußerlichung und Verflachung.
Wann wird der Katholizismus den entgegengesetzten Weg gehen? Königsberg i. P.
H. Jacoby.
A n t i n o u s. Der historische Roman „AntinouS", dessen Verfasser sich Georg Taylor nennt, ist dem Publikum bereits hinlänglich bekannt und von
der Kritik mit Wohlwollen ausgenommen; über seinen Inhalt etwas mttzutheilen, ist deshalb nicht mehr nöthig, und da ich mich dem allgemeinen
Urtheil mit Vergnügen anschließe, bleibt mir nur übrig, an die Aufgabe, die sich der Verfasser gestellt, und die Art, wie er sie zu lösen gesucht,
einige allgemeine Betrachtungen anzuknüpfcn.
ES war ein Zufall, daß gleichzeitig der berühmte Aeghptolog Georg EberS denselben Gegenstand wählte.
Wenn man die beiden Romane
mit einander vergleicht, so wird man dem letzteren in mancher Beziehung
den Vorzug geben müssen.
EberS mit seiner geschickten und sehr geübten
Hand weiß seinen Figurm Platz zu schaffen, sie bewegen sich bequem, ich möchte sagen geräumig; die Gruppen ordnen sich um so klarer und sinn
licher, da EberS mit seinen Studien in der Gegend zu Hause ist.
ES
ist wieder eine ägyptische Landschaftsstudie von kräftigem Colorit, mit breitem Pinsel auSgeführt.
Taylor stellt unS nur wenig Personen vor,
trotzdem kommen sie zuweilen inS Gedränge.
Sieht man indessen von diesem Aeußerlichen ab, so verdient die
Arbeit Taylors in weit höherem Sinn die Bezeichnung eines historischen Romanö als das Werk von EberS.
EberS hat sich daran gewöhnt, uns
Zeiten vorzuführen, von denen Niemand anders etwas weiß als er selbst
und ein Dutzend Fachgelehrte.
Mit welchem Geschick er diese höchst un
bekannten Zeiten geschildert hat, würde feine Romane
das zeigt der Erfolg: das Publikum
nicht verschlingen,
wenn
sie nicht unterhielten.
Aber die Genremalerei, die er sich bei diesen fernliegenden Gegenständen angewöhnt hat, überträgt er nun auch auf eine wirklich historische Zeit:
wir werden durch belebte Gruppen anmuthig unterhalten, aber wir dringen
nicht in die Tiefe der Charaktere ein. Taylor faßt seine Aufgabe emster und strenger.
Hinter diesem
Pseudonym versteckt sich, wie man wohl als ziemlich ausgemacht annehmen
kann, ein berühmter Kirchenhistoriker; ich halte es indessen nicht für er
laubt, den Namen, den er sich selbst beigelegt, zu ändern; doch glaube ich
den Umstand erwähnen zu sollen, da er die Zuverlässigkeit deS Romans erhöht, der sich, freilich nur für einen beschränkten Zeitraum, die Frage stellt: wie ging eS zu, daß die christliche Lehre sich in einem fremden
Boden
auSbreiten und gedeihen konnte?
Der Dichter kann hier den
Historiker ergänzen, der nur das mittheilen darf, was ihm feine Quellen überliefern oder was sich aus der Zusammenstellung und Vergleichung
seiner Quellen ergiebt: dem Dichter ist eS erlaubt, sich mit seiner Seele in die Zeit zu vertiefen und was dabei in der Seele vorgeht, in die
Außenwelt zu projieiren. DaS Christenthum ist von allen Wundern der Weltgeschichte daS größte.
Die beiden andern modernen Weltreligionen, der Buddhismus
und der Islam, sind verhältnißmäßig viel einfacher: sie gingen ursprüng lich, wenn auch als Reaction, aus einer nationalen Richtung hervor und
waren in dieser Besonderheit bereits eine geschlossene Macht geworden,
ehe sie sich andern Völkern mittheilten. DaS Christenthum dagegen trat zuerst auf alS Ausdruck der Empfin
dungsweise eines kleinen und von den großen Culturvölkern verachteten Volks; es wandte die Verheißungen, die sich ursprünglich nur auf eine
bestimmte Nationalität zu beziehen schienen, auf die großen Weltverhält nisse an, und die Anwendung erwies sich als möglich.
Erst hauptsächlich
nur von geringen Leuten bekannt, drang eS mehr und mehr in die Kreise
der Gebildeten ein, machte sich ihr Denken und Empfinden dienstbar, und
bereicherte sich mit demselben.
AlS daS römische Weltreich zerbröckelte,
hatte daS Christenthum alles was von der alten Culturwelt übrig war, in sich zusammengefaßt und trat als Träger dieser Cultur den nordischen
Barbaren gegenüber.
Auch diese wußte eS nicht blos zu bezwingen, nicht
blos als fremde Macht zu belehren und zu bilden, sondern eS verstand in einem gewissen Sinn sich ihrer sittlichen Bildung. anzubequemen und
sie in sich aufzunehmen.
Die christlich-römische Cultur war den germani
schen Sitten nicht weniger entgegengesetzt als früher die christlich-jüdische Messiasverheißung der griechisch-römischen Cultur: — aber man soll ein
mal versuchen, in der Blüthezeit des Mittelalters daS eine Element vom andern zu scheiden!
Freilich fahren sie fort einander zu bekämpfen, aber
nur wie zwei Principien, die eigentlich zusammen gehören und ihre Zu sammengehörigkeit fühlen. Auch damit war daS Wunder noch nicht erschöpft.
AlS nun die
reinen griechischen Formen wieder aufgegraben wurden, wußte daS Christen
thum sich ihrer zu bemächtigen, sich mit ihnen zu schmücken und ihnen
dadurch einen höheren Adel zu verleihn.
Dante bekannte den Virgil als
feinen Meister, und Rafael wäre ohne die Antike nicht denkbar: und doch
erscheinen uns beide heut mit Recht als eine Metamorphose des christ lichen Wesens.
Und weiter.
AIS das alt-germanische Blut wieder in Gährung kam
und gegen die römische Herrschaft aufschäumte, kleideten sich seine dunklen sittlichen Volksgestalten in die alt-testamentllchen Formen, die daS Christen
thum überliefert hatte: Luther, Milton, Cromwell sind ebenso gewiß Typen der germanischen Bildung als Typen deS Christenthums.
DaS sind Wunder, deren sich keine der andern Weltreligionen rühmen Buddhismus unb. Islam sind nicht im Stande gewesen andere
kann.
BildungS-Motive in sich aufzunehmen oder neue Bildungs-Formen In sich zu erzeugen, sie suchten eine Zeit lang sich mit dem Wissen wohl oder übel abzufinden, bald aber erwiesen sie sich als kulturfeindlich.
Der Sieg
der abendländischen Bildung über die deS Morgens ist erfolgt unter der
Signatur deS Christenthums. Diesem Wunder nachzugehn und wenn nicht gerade es zu begreifen doch eS wenigstens zur sinnlichen Anschauung zu bringen, ist eine Auf gabe, die den Dichter wohl ebenso reizen darf als den Geschichtschreiber.
Sie zerfällt in zwei kleinere; die erste:
wie muß die Zeit beschaffen
fein, die einer Lehre wie das Christenthum war, bedarf und sie gleichsam provocirt? die zweite: waS für Elemente waren im Christenthum vor handen,
die sich dem Gemüth der Zeit verständlich machten und auf
drängten?
Beides hat sich Taylor in seinem Roman vorgesetzt.
In der
ersten Ausgabe hat er Befriedigendes geleistet, in der zweiten nicht. Für die Charakteristik der Zeit, in welcher der Roman spielt, konnten kaum
zwei
AntinouS.
so sprechende Typen
gefunden werden als Hadrian und
Ob sie streng der Geschichte entsprechen, ob namentlich bei
der Zeichnung deS Kaisers, der Hofklatsch, den Taylor ganz richtig beur
theilt, nicht mehr als billig mitgewirkt hat, lasse ich dahingestellt sein. Soweit der Dichter zur historischen Treue verpflichtet ist, hat Taylor seine
Schuldigkeit gethan.
Hadrian ist wirklich eine poetisch gedachte und künst
lerisch ausgeführte Figur.
Ein starker nach allen Seiten umschauender
Geist, Ueberschuß an Lebenskraft, die sich freilich früh verbraucht hat; Ueber-
legenheit der äußern Macht und Ueberlegenheit deS Verstandes, der sich eben deswegen überhebt, sich nicht weiter fortbildet und in sich selbst ver
trocknet; maßlose Verachtung aller Menschen und zugleich Mißtrauen gegen alle, Sehnsucht nach dem Tode, in dem die Mühsal des Lebens endlich
aufhören soll, und doch das krankhafte Verlangen, bis zum letzten Augen blick willkührlich zu herrschen; lucianischer Hohn und Spott gegen jede
Ueberlieferung religiöser Art, und doch daS tiefe Bedürfniß nach religiösen
Bestimmungen, vermeintlich aus Gründen der StaatSklugheit, in der That aber durch einen geheimen Aberglauben zu erklären, dem in bestimmten
historischen Zeiten
auch der Hochgebildete ausgesetzt ist:
—
daS sind
Elemente, deren Combination mit Geist und Scharfsinn erdacht und mit einem wirklich poetischen Geschick durchgeführt ist. Noch größeres Lob verdient die Figur deS AntinouS, die dem Dichter
besonders am Herzen zu liegen scheint.
leicht gemacht.
Er hat sich die Aufgabe nicht
AntinouS ist nach ihm ein beschränkter Kopf, eine schläfrige
gewissermaßen umschleierte Natur, gutartig aber schwerfällig zum Ent
schluß, persönlich dem Kaiser gegenüber in einer Lage, die, durch die sitt
lichen Vorstellungen deS Alterthums nicht gerade verdammt, ihn doch dem Spott und bis zu einem gewissen Grade der Verachtung der andern auSsetzt; vom Gefühl dieser Lage niedergedrückt, dem Kaiser grollend und doch
ihm innig ergeben.
Daß Taylor diese Elemente zu einer anschaulichen
und interessanten Figur verwebt hat, ist keine Kleinigkeit.
AntinouS begeht seinen Selbstmord auS Aberglauben, aus Liebe, aber auch aus stiller Verzweiflung.
Man hat ihm eingeredet, der Kaiser sei
zu retten, wenn Jemand sich freiwillig für ihn opfere; er will dies Opfer bringen, aus Liebe, aber auch weil er des Lebens satt ist.
Man hat ihm
seinen Glauben geraubt, an die Menschen, an die Götter, und in der
glaubenlosen Einöde zu leben kann er nicht ertragen.
Der TodeSgang ist
meisterhaft auSgeführt.
Um sich nun dankbar zu erweisen, läßt der Kaiser seinen Liebling
unter die Götter
versetzen.
Warum sollte er auch nicht?
Ihm selbst
werden längst göttliche Ehren erwiesen, und im Publikum wird der neue schöne Gott mit Beifall ausgenommen, er wird Mode.
Der Kaiser lacht
im Stillen über seinen eigenen Einfall, aber er ist böse, wenn ein an
derer zweifelt, und bildet sich ein, selber zu glauben.
So hat er eö be
reits mit den andern Culten gemacht, mit dem ägyptischen, mit dem griechi Er wacht streng ja pedantisch über die äußerste Correctheit, daß
schen.
die fremden Götter so erscheinen wie sie sind; er freut sich aber, wenn
er
die Betrügereien der Priester entdeckt, und betrügt selber gern die
Andern. So, will der Verfasser sagen, war die Zeit beschaffen, welche dem Christenthum Zugang verstattete: von dem tiefen Bedürfniß verzehrt, an
irgend Etwas zu glauben, und unfähig an etwas UeberlieferteS zu glau ben oder sich selbst einen lebendigen Glauben zu schaffen.
So
gründlich
unsere Gelehrten das Alterthum durchstöbert haben
und so nah uns namentlich die römische Zeit zu liegen scheint, so bekenne
ich doch, daß ich mir von dem religiösen Leben der Römer keine rechte
Vorstellung machen kann.
Bei den Griechen ist es anders.
Wir haben den
Homer, den sie lasen wie wir die Bibel lesen, und die Homerischen Götter bilder waren ihrer leicht beweglichen Phantasie Wirklichkeiten, wobei sie
keinen Anstand nahmen, mit freier Willkühr weiter zu erfinden.
Wir haben
die Tragiker, die auf diesen Götterglauben gestützt in ihrem Gemüth tief sinnig daS allgemeine Menschenschicksal durchdachten.
Wir lesen in den
platonischen Dialogen, wie die gebildete Gesellschaft auf eigene Hand nach
dem Göttlichen suchte und sich darüber unterhielt, immer aber mit hoher
Achtung vor der Religion der Väter.
Wir lesen im Aristophanes, wie
dreist ja chnisch man mit dieser Religion zu spielen wagte, und doch nicht
von ihr abfiel.
Der Marmor endlich zeigt unS, wie das höchste künst
lerische Bedürfniß sich an die Religion anlehnte, und wie bei allen Wider
sprüchen die idealen Vorstellungen deS Volks eine schöne Harmonie der
Farben fanden. WaS aber wissen wir von den Römern?
fahren wir gar nichts.
Aus ihren Dichtern er
Die griechischen Götterbilder, die Ovid oder Pro
per; anführen, waren dem Römer wohl gerade so verständlich, wie unS unser Schiller verständlich ist, wenn er erzählt: „AuS der Ströme klarem
Spiegel lacht der unumwölkte Zeus!" Die Gebildeten glaubten nicht blos nicht mehr, sondern was in ihrem Gemüth noch Idealistisches lebte, suchte die Nahrung anderwärts. Wir find hauptsächlich auf die Inschriften an gewiesen, aus denen sich ergibt, daß alle bürgerlichen Verrichtungen mit
religiösen Ceremonien begleitet waren, daß also in diesem Sinne die Römer fromm blieben bis ans Ende ihrer Tage. in ihnen vorging, wissen wir nicht.
zeigt
sich schon
früh:
wenn
Was innerlich dabei
Ihre Toleranz gegen fremde Culte
auf Senatsbeschluß neue Götter recipirt
wurden, hatte man nicht leicht etwas dawider, die Widerstandsfähigkeit
ihres religiösen Lebens lag in den Staatseinrichtungen, sie mußte immer
schwächer werden, je mehr diese auseinander fielen.
Das erklärt bis zu
einem gewissen Grade den Eingang, den daS Christenthum in Rom fand. ES kommt noch ein anderer Umstand dazu.
Nur im römischen Welt
reich konnte die Idee der Menschheit, zu deren Erlösung der Sohn GotteS in die Welt kam, Verständniß finden.
Die Idee der Menschheit war den
Griechen gerade so unbekannt wie den Juden: jenen waren die Nicht
griechen Barbaren, diese waren überzeugt, daß nur für den Saamen Abra hams Gott die Vorsehung sei.
DaS römische Reich bei seiner ungeheuern
Ausdehnung konnte sich dem Begriff der einheitlichen Gattung wenigstens
nähern. Aber damit, daß der Widerstand gegen daS Wunder gering war, ist
das Wunder des Christenthums noch lange nicht erklärt.
Der Glaube ist
nicht die Aeußerung einer Schwäche, sondern einer Kraft: das verkennt
der Dichter des „AntinouS" gerade so wie eS die meisten Historiker ver kannt haben.
Dem Historiker wird eS freilich schwer werden, einen Tag von Damas kus so zu schildern, daß man ihn mit fühlt, denn darin lassen ihn die
Quellen im Stich; aber der Dichter ist eS im Stande, vorausgesetzt daß er in seiner eigenen Seele eine Analogie findet.
Und das scheint bei
G. Taylor nicht der Fall zu sein. Er erschwert sich seine Aufgabe, indem er in den Mittelpunkt seiner
Gemeinde eine halb verrückte Greisin und verschiedene ausgemachte Hal lunken stellt.
DaS konnte Absicht sein: wenn es ihm gelang ein kräftiges
Gegengewicht zu finden, so war ja der Sieg der Idee über die zufällige
Erscheinung desto glänzender.
Aber das gelingt ihm nicht.
Sein Bischof
von Rom ist ein schlichter Biedermann, so wacker wie eS die Bieder
männer unserer Zeit zu sein Pflegen, aber gewiß nicht im Stande, einer
aufgeregten Menge zu imponiren.
Dessen Bruder HermaS, halb Phantast,
halb Spaßvogel, der nur durch einen wunderbaren Zufall Märtyrer wird, ist wiederum kein Typus: dergleichen Figuren gab eS wohl damals in
der Gemeinde, aber unmöglich konnten sie dieselbe repräsentiren, noch weniger sie leiten.
Die Hauptaufgabe, die sich also Taylor stellt, ist
eine nüchterne, eine Verstandesaufgabe: er schildert einengebildeten wohl
gesinnten an Character nicht gerade tactfesten Griechen, der ursprünglich daS Christenthum für gerade so einen Aberglauben hält wie das Heiden
thum, allmälig aber durch verschiedene Umstände, Beispiele, LebenSgewohnheiten, Enttäuschungen, auch etwas Studium u. s. w. sich bekehrt.
Auch
das war gewiß ein häufig sich wiederholender Vorgang, namentlich wenn erst die Sache in Gang gekommen war, aber nicht das, worauf es unS
zum Verständniß des Wunders ankommt. Man mißverstehe mich nicht. zumuthen, die er nicht lösen kann.
Man darf dem Dichter keine Aufgabe Der Dichter so wenig als der Ge
schichtschreiber und Philosoph kann nachweisen, wie in diesem bestimmten
Individuum Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken sich erzeugen.
In
den dunkeln Zeiten versuchten so etwas die Astrologen, in dem sie dem
Neugebornen die Nativität stellten, in unseren Tagen hat eS ein höchst talentvoller aber einer falschen Doctrin verfallener Dichter versucht: in
dem er, um daS Individuum zu erklären, den ZeugungSact belauschen wollte, gerieth er ins Absurde.
Individuum est ineffabile!
Erklären kann der Dichter das Individuum nicht, aber er muß eS anschaulich machen.
Wenn der Dichter eine Zeit darstellen will, in der
Pwpheten vorkommen, und er kann
einen Propheten nicht so schildern,
daß man ihn vor sich sieht, daß ihm eine Resonanz antwortet, so verfehlt er seine Aufgabe.
Alles Große in der Geschichte wird nicht von Nüchter
nen gemacht, sondern von dämonischen Naturen oder von Menschen, die der Dämon ergriffen hat.
Die mächtigsten Factoren für die Emwtckelung
des Christenthums sind die Menschen, welche die Kraft besaßen, zu glau ben und bei Andern Glauben zu
erregen.
Die Art wie Taylor die
chrfftliche Gemeinde schildert, ist nicht Historienmalerei sonderen Genre; dämm fehlt seinem Gemälde die richtige Perspective.
Die eine Gruppe ist vortrefflich ausgeführt,und man versteht auch wol, welchen Sinn sie im Zusammenhang haben sollen: der Schuldlose
der sich
opfert, der dann dafür zum Gott erhoben wird.
Aber diese
Fratze des christlichen Gedankens verlangte ein starkes Gegenspiel.
Auf der
einen Seite die Willkühr, die im Reich der sittlichen Kräfte keine Schranke
kennt und daher im Uebermuth oder gar aus Langeweile nach dem Un glaublichen greift, ohne doch je das Gefühl der innern Leere betäuben zu
können; auf der andern eine zwingende Gewalt: die Hingebung an ein Höheres, die dem Individuum Kraft, Gehalt und Frieden giebt.
ES ist nicht leicht, in unserer Zeit einen Tag von Damaskus zur Anschauung zu bringen, aber unmöglich ist es nicht.
Die Quellen des
ersten, zweiten Jahrhunderts bieten freilich nicht viel, den frommen Vätern
kam eS mehr darauf an, sich
durch Raifonnement mit ihren Gegnern
auSetnanderzufetzen als ihre eigenen Erfahrnugen mitzutheilen.
Aber wir
haben höchst sprechende Erfahrungen aus späterer Zeit, wir Deutsche na
mentlich auS der Zeit deS aufblühenden Pietismus, aus dem Uebergang des 17. zum 18. Jahrhundert.
Ich erwähne nur zwei Beispiele:
August Herrmann Francke
und Johann Jacob Moser, beides Männer von unerschütterlicher Wahr
heitsliebe und Aufrichtigkeit, nichts weniger als phantastisch angelegt, nicht schlecht gebildet von einer eisernen Energie deS Willens.
Beide hahen
die Geschichte ihrer Erweckung und Wiedergeburt mit einer Anschaulichkeit
dargestellt, daß der Leser nicht gerade mit geht, aber mit Erstaunen sich
sagen muß: das ist wirklich Etwas! schwächter
das ist eine Existenz!
In abge
gebildeter Form hat es Goethe in den Bekenntnissen einer
schönen Seele nachgebildet.
In dieser Weise hat eS der historische Roman, der eS unternimmt den Leser in die ersten Zeiten deS Christenthums einzuführen, gleichfalls zu machen. Er muß unS das Phänomen des Glaubens zeigen, nicht des lammfrom men nüchternen Glaubens, der mitgeht weil auch andere mttgehen, sondern deS Glaubens der stark ist wie der Tod, und der sich nicht scheut, an die Preußisch« Jahrbücher. Bb. XLVIU. Heft «.
45
630
Antinou«.
Pforten der Hölle zu klopfen.
Freilich wird der Gläubige des zweiten
Jahrhunderts, den ein großes wenn auch sehr krankes Leben berührte und gewaltsam in seine Kreise zog, für seine Empfindungen andere Bilder
suchen als der verkümmerte Spießbürger aus Deutschlands jämmerlichster
Zeit: die stolzen Töne der alttestamentarischen Propheten, der Apokalypse werden in ihm nachklingen.
Aber der Vorgang in seinem Innern wird
sich nach ähnlichen Gesetzen vollziehen wie bei Francke und Moser. Erst so wird das Bild des alten Christenthums Blut und Knochen
gewinnen; die Masse der nüchternen Leute, die bloß dem allgemeinen Zuge folgen, geben lediglich die äußere Hülle.
Julian Schmidt.
Das neue Exil von Avignon.
DaS häßliche Schauspiel der Lügen und Verhetzungen deS jüngsten
Wahlkampfs mag ängstliche Gemüther wohl zu der Frage veranlassen: ob nicht auch in Deutschland dereinst, wie schon längst in Amerika, die
Zeit kommen wird, da die anständigen Männer sich angeekelt von dem
parlamentarischen Leben zurückziehen?
wir doch sehr
Inzwischen sind
fühlbar daran erinnert worden, daß Deutschland vor der Republik des
Westens noch eine lebendige politische Kraft voraus hat,
die von dem
Verfalle unseres Parlamentarismus ganz unberührt geblieben nationale Monarchie.
ist: die
Wie ein reinigendes Gewitter fuhr die kaiserliche
Botschaft vom 17. November in den Dunst und Stank deS Parteistreites. Sie schlug wieder jene stolzen, kräftigen Töne an, die uns Allen noch von
den ersten glücklichen Zeiten des Deutschen Reiche- her in der Seele widerhallen; sie zerstörte mit einem Schlage das Lügengewebe, das be flissene Demagogen, über die Absichten der deutschen Krone gebreitet hatten;
sie gab der Nation die Gewißheit, daß der deutsche Reichskanzler niemals
eine andere Politik treiben kann als die Politik deS Kaisers, daß diese Staatökunst, unbekümmert um den Mißerfolg deS Augenblicks, ihre Ziele fest im Auge behält, und daß sie frei ist von reaktionären Hinterge danken.
Im nämlichen Sinne sprach Fürst BiSmarck vor dem Reichs
tage; er warnte zwar, und mit Recht, vor der Unersättlichkeit des modenien Radikalismus, aber er erklärte auch unumwunden, daß er nicht gesonnen sei sich zum Werkzeuge einer reaktionär-clericalen Reaktion zu erniedrigen.
Seine Absicht ist offenbar, diesen Reichstag, von dem sich
doch kaum etwas Heilsames erwarten läßt, kurz zu halten, ihm nur wenige, schwer abzuweisende Entwürfe vorzulegen und dann von Fall zu Fall die
Bundesgenossen da zu nehmen, wo sie sich finden. In einer ruhigeren Zeit würde diese Haltung der Regierung vollauf
genügen um alle die wunderbaren Parteimärchen von der nahenden großen Reaktion zu beseitigen.
Aber unser Volk hat sich schon allzu sehr an die
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tägliche Wiederkehr einer künstlichen politischen Aufregung gewöhnt; die
einfachen Worte der kaiserlichen Botschaft sind bereits vergessen über den unheimlichen Gerüchten, welche die Presse der Opposition beharrlich auSsprengt.
Immer wieder wird an die Wahlbündnisse der Hochconservativen
und deS Centrums erinnert; und doch sind auch tausende von national
liberalen und fortschrittlichen Stimmen bei den Stichwahlen dem Centrum
zugefallen; und doch ist es leider nur zu natürlich, daß die Zerklüftung der
politischen Parteien allein der kirchlichen Partei zu gute kam, die von allen
verschieden und mit allen verwandt mitteninne zwischen ihnen steht.
In
den Zuständen unserer Verwaltung läßt sich schlechterdings nichts entdecken,
was an die Zeiten HinckeldehS erinnerte; so
bleibt denn nur übrig ge
heimnißvolle finstere Andeutungen über die kirchenpolitischen Pläne deS Reichskanzlers zu geben, da das Schelten und Lästern nun einmal als das Kennzeichen liberaler Gesinnungstüchtigkeit gilt.
WaS an Thatsachen vorliegt berechtigt freilich nicht zu der Vermuthung,
daß der tausendmal mit Schadenfreude angekündigte Gang nach Canossa be reits angetreten sei.
Die allerdings zu weit bemessenen Vollmachten, welche
die Krone im Sommer vorigen Jahres für ihre kirchenpolitischen Verhand lungen forderte, haben durch den Landtag eine genügende Einschränkung er halten, und wer den Kampf wider Rom nicht gradezu als Selbstzweck betrachtet,
muß zngestehen, daß die Regierung diese Befugnisse klug und behutsam gebraucht hat.
Zwei der verwaisten BiSthümer sind durch das Etnver-
ständniß der Krone und der Curie mit neuen Bischöfen besetzt, deren ge setzlicher Sinn bisher noch nirgends angezweifelt werden konnte; die viel
gescholtene Erhebung des Prinzen Radziwill dagegen erweist sich, wie jeder Unbefangene vorher wissen mußte, als ein boshaftes Parteimärchen. Doch
daS patriotische Bedürfniß der Lästerung deS Vaterlandes muß um jeden Preis befriedigt werden; in Ermangelung von Thatsachen greift die Presse
der Opposition daher zur Weissagung und verkündet, daß der Papst dem nächst in Fulda sein Asyl aufschlagen und mit Deutschlands Hilfe sein
Patrimonium zurückerobern würde — worauf denn Jeder im Voraus verflucht wird, der an solchen Gräueln theilnehmen könnte, möchte, dürfte. Da alle diese Gerüchte unverkennbar den zweifachen Zweck verfolgen, nicht
blos das Mißtrauen gegen den Reichskanzler zu nähren, sondern auch die öffentliche Meinung festzunageln, ein „liberales" Vorurtheil über mögliche
Ereignisse der Zukunft zu bilden, so lohnen sich vielleicht einige Worte ruhiger Prüfung.
Der römische Stuhl hat bekanntlich allezeit die Kunst verstanden
seine Gegner zu isoliren; er pflegte seine Kämpfe gegen die weltliche Staatsgewalt immer auf einen Staat zu beschränken, und er ist diesem
Brauche auch unter dem gegenwärtigen Papste treu geblieben.
Während
der ersten Monate der Regierung Leo'S XIII. schien eS noch zweifelhaft,
ob der neue Papst sich nicht wie sein Vorgänger gegen Deutschland wen
den würde.
Seitdem ist längst ein Umschwung eingetreten.
Die Curie
sucht, wie es dem friedfertigen Sinne Leo'S XIII. entspricht, mit allen großen Mächten auf gutem Fuße zu stehen lind richtet ihre ganze Kraft auf die Bekämpfung deS Königreichs Italien, auf die Wiedergewinnung
drS Patrimonium Petri. Die Auseinandersetzung zwischen Papstthum und Königthum ist in anderer, radikalerer Weise erfolgt als Cavour sie sich dachte, und eben
darum erscheint die römische Frage noch heute als eine Frage.
Cavour
erstrebte, wie alle italienischen Patrioten, die Vereinigung der ewigen
Stadt mit dem nationalen Staate, aber er wollte den König nur als
Bicar des Papstes über das Patrimonium Petri regieren lassen; er er hob den Ruf Roma Capitale! nur um der radikalen Partei eine furcht
bare Waffe aus den Händen zu winden,
und
soweit seine behutsamen
Aeußerungen einen klaren Schluß gestatten, läßt sich mit Sicherheit sagen,
daß der große Staatsmann das dauernde Nebeneinanderwohnen der bei den Höfe in einer Stadt niemals wünschte.
Gegen die einfache Annexion
hat freilich nur ein Staat, die Republik Ecuador, protestirt; aber das italienische Garantiegesetz, das die neuen Verhältnisse ordnen sollte, ist auch noch von keiner auswärtigen Macht anerkannt worden, obgleich die Krone
Italien selbst bei der Besitzergreifung ausdrücklich erklärte, daß die römische
Frage eine europäische, eine allgemeine Frage sei und nur durch Verstän
digung mit den andern Mächten gelöst werden könne.
Eine solche Ver
ständigung ward nie versucht, und die neue Ordnung erscheint leider noch
immer als
ein
Provisorium,
deffen Mißstände mit jedem Tage
wachsen.
Alle Sicherheit des Völkerrechts beruht auf der klaren, scharfen Unter
Ein Souverän, der in allen Ländern
scheidung von Krieg und Frieden.
Steuern erhebt, über ein Heer von Diplomaten und tausende ergebener Priester gebietet, der sich jederzeit wirksame Feindseligkeiten gegen andere
Staatsgewalten erlauben kann und gleichwohl nicht nach den Regeln des Völkerverkehrs zur Rechenschaft gezogen werden darf — ein solcher Souverän ist eine völkerrechtliche Unmöglichkeit, zumal da er den Schutz einer welt
lichen Macht genießt, welche ihrerseits jede Verantwortung Thaten ablehnt.
für
seine
Und sollten die Italiener jemals das Schwert eines
mst dem Vatikan verbündeten Siegers über ihrem Nacken sehen, würden
sie
die
bösen
Folgen
dieser
Alle die ernsten Bedenken, welche
Unwahrheit
schwer
so
empfinden.
einst Massimo d'Azeglio gegen die
Hauptstadt Rom
aufführte, sind durch die Erfahrung von elf Jahren
durchaus bestätigt worden.
Kein Unbefangener kann heute noch leugnen,
daß Florenz mit seiner hochgebildeten und
damals noch wohlhabenden
Bevölkerung eine bessere Hauptstadt für Italien war als dies Rom, das
seit Cäsars Tagen immer einen weltbürgerlichen Charakter trug und ein
selbständiges Bürgerthum
weder besitzt noch je besitzen kann.
den grandiosen Erinnerungen
Neben
einer die Welt umspannenden Geschichte
erscheint das neue Königthum hier so klein wie der Quirinal und daS Parlamentshaus auf Monte Citorio neben dem Vatikan und der Peters kirche, oder richtiger, wie der anspruchsvolle und doch so jämmerliche Palast
deS
neuen Finanzministeriums,
der sich heute über den gigantischen
Trümmern der diokletianischen Thermen
erhebt.
Durch
die rathlose
Schwäche der weltlichen Gewalt ward das peinliche Verhältniß zwischen den beiden Kronen nur verschlimmert.
Die Regierung that
nichts um
die auswärtigen Mächte gegen die Aufwiegelungsversuche PiuS des Neunten
zu schützen, und sie that ebenso wenig um dem Papste die ihm nach dem Garantiegesetze gebührenden königlichen Ehren zu erweisen. Ferne
AuS der
läßt sich nicht beurtheilen, ob die pöbelhafte Beschimpfung der
Leiche Pius XI. in der Nacht deS 13. Juli wirklich durch die herausfor dernde Haltung deS Leichengefolges hervorgerufen wurde; unbestreitbar
bleibt doch, daß eine starke, ihres Ansehens sichere Regierung ihre Ehre darein hätte setzen müssen, den Sarg eines von ihr anerkannten Souveräns selber mit fürstlichem Pomp zu umgeben.
Leere Erfindung ist es nicht,
wenn die Clericalen heute behaupten, der Papst sei nicht sicher vor per
sönlicher Beleidigung, falls er wagen sollte nach altem Brauche von der Loggia von St. Peter herab den Segen zu ertheilen. Allerdings besitzt der römische Stuhl ein Mittel um ohne Kampf
seine heutige widerwärtige Lage allmählich zu bessern.
Wenn er das
Garantiegesetz stillschweigend anerkennt, wenn er zu dem Hose des Quirinals in ein leidliches Verhältniß tritt und seinen Anhängern gestattet als
Wähler und Gewählte an dem parlamentarischen Leben der Nation theil
zunehmen, dann kann die Bildung einer starken clericalen Partei, die mit den Jahren wachsen würde, kaum ausbleiben,
und vielleicht gelingt es
dem Papst im Laufe der Zeit den weltlichen Hof unter seinen Einfluß zu bringen, so daß er in Wahrheit die Halbinsel beherrschte, während dem
Könige nur der Name bliebe.
Dies war es, was Cavour immer be
fürchtete; auf diesen Weg der versöhnlichen Klugheit hat noch neuerdings Pater Curci mehrmals hingewiesen. danken weit von sich.
Aber der Vatikan stößt solche Ge
ES liegt im Wesen jeder großen Macht, daß sie
ihre Niederlagen zu sühnen sucht, und Rom am Wenigsten versteht zu ver-
DaS drohende Dernier mot sur la question romaine, das so
geffen.
eben an die europäische Presse vertheilt wird,, fordert kurz und gut die
Herrschaft über Rom und den Hafen von Civita Becchia. würdige Schrift verfährt nach der bekannten Methode der
Die merk vatikanischen
Publtctstik; sie setzt kurzerhand voraus was zu beweisen ist und zieht dann mit Geschick und Feinheit ihre Schlüsse.
Sie deutet an, daß dem Papste
noch zwei Bundesgenossen bleiben, die Schrecken deS Exils und die
wachsende Macht des Radikalismus.
Wenn die Anarchie über Italien
hereinbricht — so scheint sich der Verfosser die Zukunft vorzustellen — dann wird der Papst als Friedensstifter aus dem Exile heimkehren in
das Erbe des heiligen Petrus. Daß die italienische Krone mit solchen Gesinnungen nicht verhandeln kann, bedarf keines Beweises.
ES wäre einfach ein Selbstmord, wenn
sie die schlechteste Regierung, welche außerhalb der Türkei je bestanden, wtederherstellen wollte, wenn sie inmitten deS nationalen Staates eine kosmopolitische Macht wieder aufrichtete, die beim besten wie beim schlech testen Willen auf auswärtige Hilfe nie verzichten kann.
Aber selbst die
Rückverlegung der Hauptstadt nach Florenz, dergestalt, daß Rom eine ita
lienische Stadt bliebe und nur die leidige Nachbarschaft der beiden Höfe beseitigt würde, selbst dies scheinbar so nahe liegende Compromiß ist,
nach Allem was geschehen, für Italien jetzt unannehmbar.
Eine starke
Krone mag einen falschen Schritt gelassen zurückthun, eine schwache kann Ein solcher Rückzug würde einen Sturm der Entrüstung in
eS nicht.
der Nation hervorrufen und am letzten Ende nur den Boden ebnen für
die Herrschaft deS Radikalismus, der mit seinem Garibaldi ruft: „nieder mit den Garantien und mit dem Garantirten!" Ohne jede Möglichkeit der
Versöhnung stehen die beiden Kronen einander gegenüber.
Der Gegensatz
verschärft sich von Tag zu Tag, und unmöglich ist es nicht mehr, daß
der Papst doch noch zu dem letzten Mittel greift, daS seine Vorgänger
nach dem Verluste der weltlichen Herrschaft bisher regelmäßig gebraucht haben, zum freiwilligen Exile.
Tritt eine solche Wendung ein, so werden alle Mächte mit katholi schen Unterthanen sich der Thatsache erinnern, daß Italien selbst im Jahre
1870 eine gemeinsame Verständigung über die römische Frage als noth
wendig anerkannt hat, und auch Deutschland wird dem Oberhaupte der
katholischen Kirche seine Vermittlung nicht versagen können.
einem
Kreuzzuge
nationale
Politik,
für die
die Legitimität für die
deS
Papstes wird
orientalische Frage
nicht
Aber zu
unsere rein einmal die
Knochen eines pommerschen Grenadiers opfern wollte, sich gewiß nicht herbetlasscn.
Schwieriger erscheint die Frage: ob Deutschlaud dem Papste
DaS neue Exil von Avignon.
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seine Bitte abschlagen kann, falls er in dem berufenen Lande der diokle-
tianischen Kirchenverfolgung sein Asyl aufzuschlagen wünscht?
Fanatismus wird hier kurzweg mit einem päpstlich antworten.
Nur der
non possumus
Die ernsten Bedenken springen in die Augen. Wir brauchen
den confessionellen Frieden wie die Luft zum Athmen; der Aufenthalt deS
Papstes auf deutschem Boden würde von dem strengprotestantischen Volke deS Nordens mit dem höchsten Unwillen ausgenommen werden und die
Verwirrung unserer inneren Lage nur vergrößern. ist nicht leicht für ein Reich,
Doch auch das Nein
das über fünfzehn Millionen katholischer
Unterthanen zählt und den Streit zwischen Staat und Kirche endlich bei zulegen wünscht.
Ob diese möglichen Vortheile oder jene sicheren Nach
theile überwiegen, darüber läßt sich nicht a priori entscheiden, sondern nur nach
genauer Prüfung der
augenblicklichen Weltlage und — erst
wenn die Frage wirklich gestellt sein wird. Zum Glück sind wir noch nicht so weit.
Die Waffe deS Exils hat
im Verlaufe der Jahrhunderte viel von ihrer Schärfe verloren.
Schon
unter Napoleon I. wurde der Papst in Rom kaum noch vermißt, und nur eine europäische Coaliiion, wie sie heute ganz außer Frage steht, konnte
seine weltliche Herrschaft wieder aufrichten.
Seitdem ist die Schaar der
offenen Feinde und der gleichgiltigen Verächter des Papstthums in Italien
unzweifelhaft gewachsen.
Auf dem
großen Kirchhofe von San Lorenzo
steht noch das häßliche Denkmal, das Pius IX. den bei Mentana ge
fallenen fremden Söldnern errichtete; nach dem Einzuge der königlichen Truppen ließ der römische Stadterath dies Grab mitsammt seinen auf
reizenden Inschriften unberührt und setzte nur eine Marmortafel darunter,
worauf geschrieben steht: das befreite Rom erhalte dies Werk als eine
ewige Erinnerung an die unheilvollen Zeiten der theokratischen Regierung.
Die kalte Geringschätzung, die aus diesen Worten spricht, wird von un
zähligen Italienern getheilt, und nichts erscheint unsicherer als die Erwar tung, daß die Abreise deS Papstes das Signal zu einem Bürgerkriege
geben müsse.
Gewiß vermag die Halbinsel der alten gloria italiana,
deS Papstthums, nicht leicht zu entbehren; aber auch die Curie ist so fest mit dem italienischen Leben verwachsen, daß sie außerhalb ihres heimath
lichen Bodens kaum bestehen kann.
Und unter allen möglichen Asylen
ist sicherlich keines den Monsignoren deS Vatikans so ein
deutsches
Avignon.
Martin Luthers.
Die
Luft
weht
scharf
in
furchtbar, wie
dem
Vaterlande
Eine wohlwollende und feste Regierung kann der Curie
vielleicht auf einige Zeit
eine Zufluchtstätte in Deutschland gewähren;
aber eine bleibende Niederlassung deS römischen Stuhles in diesem Lande
der Parität ist schlechthin unzulässig.
Darüber wird man sich im Vatikan
DaS neue Exil von Evignon.
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nicht täuschen; und wer bürgt dafür, daß ein neues Exil nothwendig mit einer neuen Heimkehr endigen muß? Die Presse übt nur ihr gutes Recht, wenn sie ihre Leser auf das wahrscheinliche Wiederaufleben der römischen Frage vorbereitet. Aber gegen entfernte Möglichkeiten, die vielleicht niemals wirklich werden, im Voraus ein Veto einlegen, das heißt die öffentliche Meinung verwirren, nicht sie belehren. 10. December. Heinrich von Treitschke.
Notizen. (Altpreußische Geschichten. — Wanderungen durch die Mark Brandenburg.)
Unter verschiedenen Neuigkeiten deS Büchermarkts erregten die
„Alt
preußischen Geschichten" meine Aufmerksamkeit, weil sie mich in eine Ge
gend führten, die von erster Jugend her mir wohlbekannt, lieb und werth, aber
jetzt durch eine Entfernung von vielen vielen Jahren auS den Augen gerückt Ich blätterte erst, dann las ich mit inimev steigendem Interesse fort, und
war.
darf jetzt die Ueberzeugung aussprechen, daß diesen Geschichten inmitten un serer Tagesliteratur ein recht bedeutender Rang gebührt. Ich glaube nicht, daß bei diesem Urtheil das landsmannschaftliche Jntereffe zu stark in Anschlag kommt.
Freilich werden die Feinheiten der Darstellung
nur von demjenigen gewürdigt werden, der die Copie mit der Erinnerung an
das Urbild vergleichen kann.
Grade weil der Verfasser nie auf eigentliche
Naturschilderung ausgehl, aber mit allen seinen Sinnen in der eigenartigen Natur unserer Provinz lebt, regt er den Leser an ihm mit eigenen Erinnerungen
zu Hilfe zu kommen, und alles voller und farbiger zu sehn.
Wir haben Gott sei Dank seit Errichtung des Deutschen Reichs die poli
tischen Sondergelüste
möglichst niedergekämpft,
aber ich halte es für höchst
wünschenswerth, daß die Eigenart der Provinzen mehr und mehr zur Geltnng
komme.
Wie viel Eigenes wir Altpreußen haben, das merken wir erst, wenn
wir unsere Provinz verlassen.
Ein Bekannter meinte einmal: wenn sich zwei
Preußen treffen, auch ohne sich zu kennen, werden sie nicht müde sich von ihrer
Heimath zu unterhalten.
Merkwürdigerweise ist das in der belletristischen Lite
ratur im Ganzen wenig zur Anschauung gekommen.
Der Erste, der meines
Mistens unsere provinziellen Eigenthümlichkeiten zum Gegenstand nahm, Lenz im „Hofmeister", (auch die Schwänke, die er nach Halle verlegt, spielen in der That in Königsberg), war ein Livländer.
Hippel, ein enormes realistisches Ta
lent, verlegte den Hauptbestand seiner „Lebensläufe" nach Kurland, Hoffmann hat sich nur sehr selten mit seiner Heimath abgegeben.
In späterer Zeit haben
zwei geborene Schlesier unserer Provinz ihre Thellnahme zugewandt, Willibald
Alexis in einer Novelle, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts spielt, und Gustav Freytag im „Markus König".
Die „Allpreußischen Geschichten",
ohne Zweifel von einem geborenen Preußen geschrieben, füllen eine merkliche
Lücke aus.
Es sind zwei Geschichten „An der Passarge" und „Die Treue".
Beide
spielen in der Zeit, die für unsere Provinz die schwerste, drückendste, aber auch
die ruhmvollste war; die Zeit, an die jeder Preuße mit Stolz zurückdenkt und
von der uns Allen noch durch Familientradition die sinnlich bestimmtesten Bilder vorschweben, die Zeit von 1807 — 1813.
Der bittere furchtbare Ernst dieser
Zeit tritt uns hauptsächlich in der ersten Geschichte entgegen, die in ihren Einzel
heiten sicher auf Ueberlieferungen beruht, vielleicht auf Aufzeichnungen.
Der
Berfaffer erzählt mit strengem Ernst, ohne alles Aufgebot belletristischer Mittel; er scheint mitunter mit einer ungeübten Hand zu schreiben; aber da er ganz in seinem Gegenstand lebt, so tritt das Gefühl des Gewaltigen, was vorgeht, dem
Leser in voller Kraft entgegen.
Es handelt sich um kein Kinderspiel, es handelt
sich um das Wohl und Wehe eines Volks, das sich männlich gegen den drohenden Untergang wehrt. Die zweite Geschichte, „Die Treue", ist leichter in ihrem Gehalt, aber in der Darstellung runder, künstlerisch freier ausgearbeitet; ich würde dem Leser rathen, mit ihr anzufangen.
Ein Humor, wie ich ihn liebe, ohne alle Osten
tation, ruhig und gelaflen, aber aus dem innersten Behagen am Leben hervor gehend.
Den Inhalt der Geschichte bilden die Abenteuer eines kleinen Kriegs
fahrzeugs, das 1807 zur Deckung des frischen Haffs ausgerüstet war.
kommen nur ein paar Figuren vor,
ES
aber Figuren von einer unglaublichen
Drolligkeit, die man lieb gewinnt und von denen man sich ungern trennt. —
Ich glaube, die Leser werden es mir Dank wissen, sie auf dies anziehende Buch
aufmerksam gemacht zu haben. DaS zweite Buch.
„Spreeland" — Beeskow-Storkow und Barnim-
Teltow, der vierte Band der Wanderungen durch die Mark Branden burg von Theodor Fontane bedarf meiner Empfehlung nicht; die drei
ersten Bände sind in alle Kreise unserer Gesellschaft eingedrungen; diesmal haben sick die Märker wirklich dankbar erwiesen,
Und sie haben allen Grund
dazu, denn sie kommen sehr gut heraus. Das ganze Buch hintereinander durch
zulesen ist freilich unmöglich, es ist eben eine Reihe beschreibender FeuilletonArtikel, aber jeder einzelne derselben ist ebenso anziehend wie belehrend.
dem vorliegenden Band nimmt
Mit
der Wanderer von seinen treu ergebenen
Freunden Abschied.
Beide Bücher sind in der Besserschen Buchhandlung erschienen.
Julian Schmidt.
Verantwortlicher Redacteur: H. v. Treitschke. Druck und Verlag von G. Reimer in Berlin.